Geldströme: Ökonomie im Romanwerk Thomas Manns 9783110288773, 9783110288490

With the exception of Buddenbrooks, money has only occasionally aroused the interest of scholars as a subject of study i

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Geldströme: Ökonomie im Romanwerk Thomas Manns
 9783110288773, 9783110288490

Table of contents :
Dank
1 Einleitung
1.1 Zur Herangehensweise
1.2 Geldströme: Die motivische Ebene der Untersuchung
1.3 Geldtheoretische Grundlagen: Der Kern moderner Geldwirtschaft
1.4 Forschungsstand und -literatur
2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Über Geld und Glauben
2.1 Das Geld der Buddenbrooks
2.2 Die Wirtschaftsweise der Buddenbrooks
2.3 Der Glaube der Buddenbrooks
2.4 Die Psyche der Buddenbrooks
3 Königliche Hoheit. Das Wunder der Geldschöpfung
3.1 Die wirtschaftliche Krise im Großherzogtum
3.1.1 Die ökonomische Lage des Landes
3.1.2 Falsche Geldschöpfungspolitik
3.1.3 Romantischer Luxus und Repräsentationswahnsinn
3.2 Ein Wunder, schien es, sei nötig: Samuel Spoelmann
3.2.1 Aus Geld immer mehr Geld: Das Wunder der Geldschöpfung
3.2.2 Das moderne, liquide Kapital
3.2.3 Die belebende Wirkung des Geldes
3.3 Geld und Glück
3.3.1 Das repräsentative Dasein
3.3.2 Privater und öffentlicher Kredit
4 Der Zauberberg. Zeit und Geld
4.1 Stromsphäre und Zauberberg: Zwei divergierende Zeitmodelle
4.2 Geld und Zeit
4.3 Zinsen: Die Ausbeutung der Zeit?
4.4 Das Heckgeld: Theorie und Praxis in Der Erwählte
5 Joseph und seine Brüder. Die medialen Qualitäten des Geldes
5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben. Die Patriarchensphäre
5.1.1 Das mobile Kapital. Jaakobs Hab und Gut
5.1.2 Die Härten des Wirtschaftslebens. Jaakob und Laban
5.1.3 Das mythische Muster
5.1.4 Tauschen und Täuschen
5.1.5 Kot und Gold. Die kapitalistische Unterwelt
5.1.6 Abgrenzungsstrategien
5.2 Ägypten. Das Land der Ströme
5.2.1 Brunnen- vs. Stromsphäre
5.2.2 Die Wasser-, Menschen- und Geldströme Ägyptens
5.2.3 Das streng verwaltete Unterland. Ägyptische Buchführung
5.2.4 Das Land im Zeichen der Vermittlung
5.2.5 Amun vs. Atôn. Religion und Wirtschaft
5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme
5.3.1 Joseph und das Kapital
5.3.2 Joseph als homo oeconomicus?
5.3.3 Joseph als Stromheld
5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung
5.4.1 Oben und Unten. Geist und Geld
5.4.2 Josephs Mittler-Rollen
5.4.3 Die Heilsökonomie
6 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Die Referenzlosigkeit des Geldes
6.1 Die Welt als kapitalistische Schaubühne. (Geld-)Schein und Sein
6.1.1 Die Großstadt des Felix Krull
6.1.2 Die Gesellschaft und ihr Glaube
6.1.3 Die vertauschbare Aristokratie des Geldes
6.2 Tausch und Täuschung. Felix Krulls Hochstaplerlaufbahn
6.2.1 Das kulturelle und ökonomische Kapital des Felix Krull
6.2.2 Das Leben auf Kredit
7 Schlussbetrachtung
8 Literaturverzeichnis
Primärtexte Thomas Mann
Sekundärliteratur
9 Namenregister

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Anna Kinder Geldströme

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

76 ( 310 )

De Gruyter

Geldströme Ökonomie im Romanwerk Thomas Manns

von

Anna Kinder

De Gruyter

Zugl. Diss. Universität Heidelberg: Geldströme. Das Thema Geld im Romanwerk Thomas Manns.

ISBN 978-3-11-028849-0 e-ISBN 978-3-11-028877-3 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Dank Herzlichst danke ich Professor Dieter Borchmeyer für die Betreuung dieser Arbeit, für seine Unterstützung, seine Begeisterung und sein Interesse. Ebenso danke ich Professor Helmuth Kiesel für die Übernahme des Zweitgutachtens und die Anregungen, die ich in seinem Kolloquium bekommen habe. Ernst Osterkamp und Werner Röcke danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Mein Dank gilt ebenso der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, mit deren Förderpreis meine Dissertation 2012 ausgezeichnet wurde. Des Weiteren danke ich den Kolleginnen des Interdisziplinären Doktorandinnenkolloquiums der Universität Heidelberg, besonders Stephanie Marchal, dem Kreis der Jungen Thomas Mann-Forscher sowie Marcel Lepper herzlich für Anregungen, Diskussionen und Präsentationsmöglichkeiten. Ganz besonders bedanke ich mich bei Mark Albert, meiner Familie und all denen, die mich im Laufe der letzten Jahre mit Rat und Tat unterstützt haben. Im Oktober 2012 Anna Kinder

Inhalt Dank .................................................................................................................................V 1 Einleitung ...................................................................................................................1 1.1 Zur Herangehensweise....................................................................................3 1.2 Geldströme: Die motivische Ebene der Untersuchung..............................4 1.3 Geldtheoretische Grundlagen: Der Kern moderner Geldwirtschaft......13 1.4 Forschungsstand und -literatur ....................................................................16 2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben ...............................25 2.1 Das Geld der Buddenbrooks........................................................................25 2.2 Die Wirtschaftsweise der Buddenbrooks ...................................................30 2.3 Der Glaube der Buddenbrooks....................................................................37 2.4 Die Psyche der Buddenbrooks.....................................................................51 3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung..............................................57 3.1 Die wirtschaftliche Krise im Großherzogtum ...........................................58 3.1.1 Die ökonomische Lage des Landes ................................................58 3.1.2 Falsche Geldschöpfungspolitik .......................................................60 3.1.3 Romantischer Luxus und Repräsentationswahnsinn....................65 3.2 Ein Wunder, schien es, sei nötig: Samuel Spoelmann...............................68 3.2.1 Aus Geld immer mehr Geld: Das Wunder der Geldschöpfung ..................................................................................68 3.2.2 Das moderne, liquide Kapital ..........................................................71 3.2.3 Die belebende Wirkung des Geldes................................................75 3.3 Geld und Glück..............................................................................................81 3.3.1 Das repräsentative Dasein................................................................82 3.3.2 Privater und öffentlicher Kredit......................................................85 4 Der Zauberberg: Zeit und Geld.................................................................................93 4.1 Stromsphäre und Zauberberg: Zwei divergierende Zeitmodelle.............93 4.2 Geld und Zeit ...............................................................................................100 4.3 Zinsen: Die Ausbeutung der Zeit? ............................................................103 4.4 Das Heckgeld: Theorie und Praxis in Der Erwählte.....................................109

VIII

Inhalt

5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes .............................113 5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben: Die Patriarchensphäre ....................114 5.1.1 Das mobile Kapital: Jaakobs Hab und Gut .................................114 5.1.2 Die Härten des Wirtschaftslebens: Jaakob und Laban...............118 5.1.3 Das mythische Muster ....................................................................120 5.1.4 Tauschen und Täuschen.................................................................122 5.1.5 Kot und Gold: Die kapitalistische Unterwelt..............................125 5.1.6 Abgrenzungsstrategien ...................................................................131 5.2 Ägypten: Das Land der Ströme..................................................................135 5.2.1 Brunnen- vs. Stromsphäre .............................................................135 5.2.2 Die Wasser-, Menschen- und Geldströme Ägyptens .................138 5.2.3 Das streng verwaltete Unterland: Ägyptische Buchführung .....144 5.2.4 Das Land im Zeichen der Vermittlung ........................................147 5.2.5 Amun vs. Atôn: Religion und Wirtschaft ....................................152 5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme ....................................................156 5.3.1 Joseph und das Kapital...................................................................156 5.3.2 Joseph als homo oeconomicus? ....................................................162 5.3.3 Joseph als Stromheld ......................................................................167 5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung .............................................................171 5.4.1 Oben und Unten: Geist und Geld ................................................171 5.4.2 Josephs Mittler-Rollen....................................................................174 5.4.3 Die Heilsökonomie .........................................................................181 6 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: Die Referenzlosigkeit des Geldes ......187 6.1 Die Welt als kapitalistische Schaubühne: (Geld-)Schein und Sein ........188 6.1.1 Die Großstadt des Felix Krull .......................................................188 6.1.2 Die Gesellschaft und ihr Glaube...................................................202 6.1.3 Die vertauschbare Aristokratie des Geldes..................................206 6.2 Tausch und Täuschung: Felix Krulls Hochstaplerlaufbahn...................209 6.2.1 Das kulturelle und ökonomische Kapital des Felix Krull..........211 6.2.2 Das Leben auf Kredit .....................................................................215 7 Schlussbetrachtung................................................................................................223 8 Literaturverzeichnis...............................................................................................227 Primärtexte Thomas Mann ..................................................................................227 Sekundärliteratur....................................................................................................227 9 Namenregister........................................................................................................249

1 Einleitung Zum Wintersemester 1894/1895 schrieb sich der junge Thomas Mann an der Königlich Bayerischen Technischen Hochschule in München ein und besuchte einige Vorlesungen, darunter auch eine zur Nationalökonomie,1 die ihm, wie er seinem Freund Otto Grautoff schon im November 1894 brieflich mitteilte, unerwartet gut gefiel: Fast am interessantesten von allem ist – sollte man’s glauben! – die Nationalökonomie, die der berühmte Professor Haushofer liest. Er faßt sie als moderne und moralische Wissenschaft auf, und seine Vorträge haben oft sehr philosophischtiefe Momente.2

Der Spross einer hanseatischen Kaufmannsfamilie war in ökonomischen Fragen und Gelddingen alles andere als unbewandert oder schlecht informiert. Dies bestätigt ein Blick in die Arbeitsnotizen, Tagebucheinträge und das Quellenmaterial des Autors. So hat er sich etwa bei den Vorarbeiten zu seinem ersten Roman Buddenbrooks (1901) sorgfältig über die wirtschaftliche Situation in Lübeck informiert und bei einem Verwandten briefliche Erkundigungen zu „allerlei geschäftlichen, städtischen, wirtschaftsgeschichtlichen, politischen Fragen“ (XI, 380)3 eingeholt. Die Arbeitsunterlagen des Autors verraten, dass er detaillierte Berechnungen angestellt und die finanziellen Details der Kaufmannsfamilie Buddenbrook mit Genauig-

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Vgl. dazu die Einführung von Thomas Sprecher zu Thomas Manns Vorlesungsmitschriften in: Schmidlin, Yvonne / Sprecher, Thomas (Hg.): Thomas Mann. Collegheft 1894–1895. Frankfurt am Main 2001 (Thomas-Mann-Studien 24), S. 7–29. Zitate Thomas Manns aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit dem Kurzhinweis „Mann, Collegheft“ gekennzeichnet. Thomas Mann an Otto Grautoff, 13./14. November 1894. In: Mann, Thomas: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1975 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle BrGR), S. 22. Da zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe (GkFA) der Werke Thomas Manns noch nicht vollständig erschienen ist, wird aus Gründen der Einheitlichkeit nach der Ausgabe Gesammelte Werke in dreizehn Bänden unter Angabe der Band- (römische Ziffer) und Seitenzahl (arabische Ziffer) zitiert. Die Angabe erfolgt in Klammern gesetzt direkt im laufenden Text. Die GkFA wurde, soweit erschienen, natürlich registriert und wird im Folgenden mit dem Kürzel GkFA und unter der Angabe der Band- und Seitenzahl (arabische Ziffern) zitiert.

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1 Einleitung

keit bedacht hat.4 Ähnliche Notizen und Einträge finden sich auch zu den anderen Romanen. Wie der Tagebucheintrag vom 25. Oktober 1951 belegt, behinderte unter anderem die Frage nach der „Technik der Creditbriefe“5 das Vorankommen an den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, und schon 1920 war das Interesse Thomas Manns an einem Gespräch über die mittelalterliche Zinsverbotsthematik so groß, dass dieses Eingang in sein Tagebuch fand.6 Dass auch bei seinem Quellenstudium ökonomische Fragen eine Rolle spielten, ist in zahlreichen Studien bereits nachgewiesen worden. So zählen beispielsweise Andrew Carnegies Kaufmanns Herrschgewalt, Gertrude Athertons Roman Rulers of Kings und George Horace Lorimers Briefe eines Dollarkönigs an seinen Sohn zu den zentralen Referenztexten von Königliche Hoheit,7 und die ökonomische Diskussion zwischen Naphta und Settembrini im Zauberberg (1924) ist, wie Hans Wißkirchen dargelegt hat, dem Studium von Heinrich von Eickens Geschichte und System der Mittelalterlichen Weltanschauung zu verdanken.8 Es besteht also kaum Zweifel, dass Thomas Mann auch in Geldangelegenheiten Wert auf Genauigkeit legte und, wie er selbst seine Arbeitsweise beschreibt, „nicht leichtfertig zu Werke gegangen“ (XI, 568) ist. Schon im September 1894 riet er seinem Freund Otto Grautoff, „etwas zu lernen“, wie er selbst es tue, denn: „wir haben ja eigentlich alle beide noch garnichts gelernt, und zu der intellectuellsten der Künste, der Wortkunst, gehört nicht nur Gefühl und Technik, sondern auch Wissen“9. Die „souveräne Beherrschung der Materie“ durch den Künstler ist für Thomas Mann die „Voraussetzung aller Kunst“ (XII, 301); und so zählt zur 4

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Vgl. GkFA 1.2, besonders die Kapitel „Buddenbrooksmaterialien“ (ebd., S. 421–495) sowie „Materialien und Dokumente“ (ebd., S. 569–682). So hat sich Thomas Mann beispielsweise auch über die Währung, die im Roman historisch korrekt in Mark Kurant angegeben wird, informiert, findet sich doch unter dem Punkt der zu klärenden „Fragen“ der folgende Eintrag: „Die alte Geldwährung (Courantmark, Silbergroschen, Schilling) Wann wurde die neue eingeführt.“ (Ebd., S. 463). Tb, 25. Oktober 1951. Die Tagebucheinträge Thomas Manns werden nach der folgenden Ausgabe mit dem Kürzel Tb und unter Angabe des Eintragsdatums zitiert: Thomas Mann. Tagebücher. 10 Bände. Hg. v. Peter de Mendelssohn (5 Bände, 1919–1943) und Inge Jens (5 Bände, 1943–1955). Frankfurt am Main 2003. Am 6. Juni 1920 findet sich der folgende Tagebucheintrag: Geheimrat Marcks „sprach bei Tisch interessant über das prinzipielle Verbot des Zinswesens im Mittelalter, das aber nicht durchzuführen gewesen.“ Vgl. Schößler, Franziska: „Aneignungsgeschäfte“. Zu Thomas Manns Umgang mit Quellen in dem Roman Königliche Hoheit. In: Thomas Mann Jahrbuch 14 (2001), S. 249–267 sowie das Kapitel zur „Quellenlage“ in GkFA 4.2, S. 95–155, besonders S. 116 ff. Vgl. Wißkirchen, Hans: „Gegensätze mögen sich reimen“. Quellenkritische und entstehungsgeschichtliche Untersuchungen zu Thomas Manns Naphta-Figur. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 426–454. Thomas Mann an Otto Grautoff, 27. September 1894. In: BrGR, S. 14.

1.1 Zur Herangehensweise

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Meisterschaft des Romanautors auch die Fähigkeit, „wenn’s ihm die Komposition zu stärken scheint, ein ganzes Kapitel über Nationalökonomie“ niederzuschreiben, „das aussieht, als habe er nie etwas andres getrieben“ (XII, 302).

1.1 Zur Herangehensweise Allein die ‚Geld-Quellen‘, das heißt die ökonomischen Referenzen, der Romane Thomas Manns zu identifizieren und das Vorkommen des Lemmas ‚Geld‘ in ihnen zu diagnostizieren und zu inventarisieren reicht nicht aus, den zahlreichen Geldfigurationen in den Werken gerecht zu werden oder die These zu bestätigen, dass „Ökonomie und Geld […] eben die Hauptthemen von Thomas Manns Romankunst“10 sind. Vielmehr müssen die Texte, losgelöst von diesem Kontext, für sich sprechend ernst genommen und auf ihr ökonomisches Potential hin geprüft werden. Es gilt, das ökonomische Wissen, das sie bereithalten, freizulegen und die zahlreichen Gelddiskurse im „Milieu ihrer Geschichtlichkeit“11 zu rekonstruieren. Es ist das Anliegen dieser Arbeit, die ökonomischen (geldbezogenen) Denkmuster und Wahrnehmungsweisen in den Texten zu identifizieren und vor ihrem wirtschaftswissenschaftlichen Wissenskontext zu profilieren. Die Texte werden somit als Teil von ökonomischen, geldtheoretischen Wissensordnungen angesehen, jedoch mit eigenem Potential. Die Romane werden weniger als Mittel zur Reproduktion geldthematischer Zusammenhänge, sondern vielmehr als eigenständige Wissenslieferanten mit eigenen Erkenntnis- und Darstellungsmöglichkeiten behandelt. Im Mittelpunkt steht somit nicht die Frage nach der Reflexion oder ästhetischen Transformation wirtschaftlicher Kontexte und Theoreme im Sinne eines Nachgeordnet-Seins der Literatur – vielmehr soll Ökonomie hier auch als poetisches Problem verhandelt werden. Davon ausgehend nähert sich die vorliegende Arbeit der Frage nach ‚Geld‘ in den Romanen Thomas Manns mithilfe einer sehr textnahen, werkchronologischen Lektüre seiner großen Geldromane (Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Königliche Hoheit, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder,

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So Jochen Hörisch in einer Fußnote in: Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt am Main 1996, S. 341, Anm. 4. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002, S. 14.

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1 Einleitung

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil )12. Dabei sind zwei Leitmomente von Bedeutung, die sich – romanübergreifend und -verbindend – durch die Analyse ziehen. Zum einen ist dies die Geldstrommetaphorik, die die Untersuchung auf motivischer Ebene rahmt. Zum anderen kann in allen Romanen eine Diskussion geldtheoretischer Fragen und deren Engführung mit psychisch-privaten Konstellationen ausgemacht werden. Diese beiden Punkte werden im Folgenden einleitend näher erläutert.

1.2 Geldströme: Die motivische Ebene der Untersuchung13 Wenn Imma Spoelmann in Königliche Hoheit (1909) ins Leben Klaus Heinrichs tritt, so geschieht dies nicht still und heimlich, sondern gewissermaßen mit Vollgas. Denn wann immer die Tochter des Milliardärs Samuel Spoelmann erscheint, tut sie das mit Schwung. Eines der Attribute der jungen Frau ist ihre Geschwindigkeit, sowohl im Reden als auch in der Fortbewegung. Gleich die erste Begegnung Klaus Heinrichs mit Immas Temperament gestaltet sich, so erfährt man, „unter lebhaften Umständen“ (II, 199). Der junge Prinz wird Zeuge von Immas ungestümem Marsch durch die sich gerade in ihrem Weg formierende Wachablösung. Die Studentin, die sich „sputete […], die Universität zu erreichen“ (II, 201), denkt gar nicht daran, einen Umweg zu nehmen oder gar zu warten, sondern fegt den soldatischen Widerstand schlicht mit den Worten „Was fällt Ihnen ein! […] Ich habe Eile!!“ (II, 201) beiseite. Und während Klaus Heinrich noch gemütlich mit der Kutsche reist, ist die Milliardärstochter bereits mit einem Automobil unterwegs. Von Interesse ist dies vor allem deshalb, weil Imma und ihr Vater mit ihrem „Schnelligkeitsbedürfnis“ (II, 272) nicht nur eine neue Geschwindigkeit in das Großherzogtum bringen, sondern auch eine Menge Geld. Denn der hochliquide amerikanische Milliardär pumpt sein Geld in das wirtschaftlich brachliegende Land und päppelt es mit einer kräftigen Finanzspritze wieder auf. Hierbei ist das Attribut ‚liquide‘ nicht nur im Hinblick auf Spoelmanns ökonomisches Potential zu 12

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Diese fünf Romane stehen im Mittelpunkt der Untersuchung und bilden deren chronologischen Rahmen. Thomas Manns Roman Der Erwählte wird aufgrund seiner thematischen Nähe im Kapitel zu Der Zauberberg behandelt. Die Erzählungen werden, wo es sich anbietet, zur Stützung einzelner Argumente herangezogen. Vgl. dazu auch: Kinder, Anna: Reflexe der kapitalistischen Moderne. Die Geldströme in den Romanen Thomas Manns. In: literaturkritik.de 6 (2009) (http://www.literaturkritik.de/ public/rezension.php?rez_id=12894&ausgabe=200906; 30.3.2009).

1.2 Geldströme: Die motivische Ebene der Untersuchung

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verstehen, sondern durchaus auch im wörtlichen Sinne, denn, wie der assoziative Name schon verrät, sind Spoelmanns von einem dichten Netz aus Wassermetaphorik umsponnen. Dieser kurze Blick auf Thomas Manns zweiten Roman zeigt eine Verknüpfung dreier Bereiche, nämlich derjenigen von Geld, Geschwindigkeit und einer Wassermetaphorik, die den ganzen Roman durchzieht. Dieser Motivkomplex, der sich, wie sich zeigen wird, mit je unterschiedlicher Gewichtung auch in den anderen untersuchten Romanen findet, diese Verbindung von Geld, Bewegung und Liquidität wird im Folgenden mit dem Begriff der „Geldströme“ gefasst. Diese können, so die These, als Ausdruck der kapitalistischen Modernisierung angesehen werden, wie sie sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt ihren Weg bahnte. Der Modernisierungsbegriff, der diesen Überlegungen zugrunde liegt, bezieht sich also auf Prozesse der gesellschaftlichen und zivilisatorischen Modernisierung, die sich pauschal mit Begriffen wie Urbanisierung, Industrialisierung, Technisierung, Säkularisierung usw. fassen lassen und sich im Aufkommen der modernen industrialisierten und dynamisierten Massengesellschaft manifestiert haben.14 Mit dem Begriff der „kapitalistischen Modernisierung“ wird der Fokus auf Transformationsprozesse der gesellschaftlichen Modernisierung gerichtet, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten. Das Bild des Stromes als allgemeines Zeichen für Fluss, Bewegung und Nicht-Stillstand findet sich in der Geistesgeschichte seit der Antike. Als frühestes Dokument gilt wohl die Heraklit zugesprochene Feststellung panta rhei – alles fließt. Seitdem geistert das Bild des Fließens, wie Werner Stegmaier in seinem Artikel über „die wohl einprägsamste und berühmteste philosophische Metapher überhaupt“15 aufzeigt, durch die Geschichte der Philosophie. Ob als Bild für den Fluss der Dinge, der Zeit, des Lebens oder als Ausdruck für Vorgänge des menschlichen Bewusstseins, der Erkenntnis und des Denkens – die Verwendung des Bildes des fließenden 14

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Vgl. die Einführung von Sabina Becker und Helmuth Kiesel, die einen Überblick über die Moderne-Diskussion gibt und das Spannungsfeld von zivilisatorischer und ästhetischer, von avantgardistischer und klassischer Moderne vermisst: Becker, Sabina / Kiesel, Helmuth: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. In: Dies. (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin / New York 2007, S. 9–35 sowie Werner, Renate: Das Wilhelminische Zeitalter als literarhistorische Epoche. Ein Forschungsbericht. In: Kolkenbrock-Netz, Jutta / Plumpe, Gerhard / Schrimpf, Hans Joachim (Hg.): Wege der Literaturwissenschaft. Bonn 1985, S. 211–231, hier S. 221 f. Vgl. dazu auch Anz, Thomas: Kämpfe um die Moderne. Hinweise zu einem nach wie vor umstrittenen Begriff und zu neueren Beiträgen der Forschung. In: literaturkritik.de 1 (2009) (http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=12637; 5.3.2009). Stegmaier, Werner: Fließen. In: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. 2. unveränderte Auflage. Darmstadt 2008, S. 102–121.

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1 Einleitung

Stroms rekurriert immer auf einen Kern, und zwar auf den gerade nicht zu fassenden der Bewegung, der Veränderung, der Flüchtigkeit, ja auf die Unmöglichkeit von Stillstand und Fixierung. Auf diesen gemeinsamen Nenner weist auch die Definition des Stichwortes ‚Strom‘ im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm hin. Auch hier wird die eigentliche Bedeutung mithilfe der zentralen Kategorie der Bewegung erläutert. Als Erklärung für das Lemma Strom wird an erster Stelle die „dauernd gleichsinnige bewegung des wassers auf der erdoberfläche“16 im Sinne des lateinischen motus aquarum angegeben. Aber auch die Übertragung des Begriffs auf andere konkrete Stoffe sowie die metaphorische Anwendung auf geistig-seelische Vorgänge finden ihre Erwähnung. Die im vorliegenden Kontext interessierende Transition auf den Bereich des Geldes ist im Grimm’schen Wörterbuch ebenfalls verzeichnet. Zwar ist unter dem Lemma Strom lediglich die Übertragung auf das Gold vermerkt, jedoch finden sich eigene Einträge zu den Stichworten Geldstrom, Geldwoge, Geldzufluss und Geldabfluss.17 Als früheste Belegstelle wird hier ein Auszug aus Martin Luthers Schrift Von Kaufshandlung und Wucher angegeben, in der dieser 1524 den Geldstrom explizit erwähnt. Die Verbindung von Geld und Strom, Geld und Wasser ist also keine ganz neue und hat sich auch im alltäglichen Sprachgebrauch niedergeschlagen, wenn von internationalen Geldströmen, vom Geldfluss und von einer Geldquelle, die sprudeln, aber auch versiegen kann, die Rede ist. Jemand, der reich ist, hat Geld im Überfluss, schwimmt im Geld und ist liquide bzw. flüssig. Im Gegenzug kann man aber auch auf dem Trockenen sitzen und sich nach einem Geldregen sehnen. Kapital kann eingefroren, ein Geldhahn zugedreht werden. Und wenn Ebbe in der Kasse herrscht, pumpt man seinen Nächsten an oder wartet auf die kommende Kapitalausschüttung. Über Ursache und Herkunft der Übertragung der Wassermetaphorik auf den Bereich des Geldes kann man unterschiedliche Vermutungen anstellen. Die vielleicht naheliegendste Herleitung besteht in der Parallelsetzung von Wasser und Geld als existenzsichernde, lebensnotwendige Mittel. Diesen Ansatz verfolgt Wolf-Andreas Liebert in seiner Untersuchung zur Emergenz des Metaphernfeldes, wobei er das Aufkommen an Verände-

16 17

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Zehnter Band. IV. Abteilung. Leipzig 1942, Sp. 2. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Vierter Band. I. Abteilung. Leipzig 1897.

1.2 Geldströme: Die motivische Ebene der Untersuchung

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rungen in der Wasserversorgung im 19. Jahrhundert koppelt.18 So habe die zunehmende Zentralisierung der Wasserversorgung neue Interaktionsformen und Strukturen gesellschaftlicher Wirklichkeit hervorgebracht, die dann die kognitive Übertragung von Wassereigenschaften auf das Geld zur Folge hatten. Liebert setzt hier die Zentralisierung von Wasserversorgung und Geldversorgung parallel. Diese Erklärung scheint zunächst recht einleuchtend, greift aber zu kurz.19 Denn die Gleichsetzung von Flüssigkeit und Geld lässt sich schon vor dem 19. Jahrhundert nachweisen, wie anhand des Grimm’schen Wörterbuches veranschaulicht wurde. Einleuchtender scheint es daher, die Übertragung des Strombildes auf das Geld aus einer nicht bloß wertbetonenden, sondern dynamischen Beschreibung von Geldfunktionen herzuleiten. Denn gerade die zentralen Eigenschaften der Größe Geld lassen sich mit der Metapher des Stromes gut fassen. Im Fokus steht hier das Geld als fungible Größe, die selbst im zirkulären Umlauf ist – und somit stets in Bewegung. Dies mag ein Blick auf Georg Simmels Philosophie des Geldes, die erstmals 1900 erschien, verdeutlichen.20 Für Georg Simmel liegt die Bedeutung des Geldes gerade darin, dass es stets im Umlauf und in Bewegung ist, dass es „fortgegeben“21 wird. Doch nicht nur das Geld selbst ist in ständiger Fluktuation, sondern es ist auch Ausdruck der relationalen Beschaffenheit der Welt: Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun gibt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld. […] Es ist nichts als der Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus; es lebt in kontinuierlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Fürsichseins.22

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Vgl. Liebert, Wolf-Andreas: Zur soziohistorischen Dynamik von Sprache und Kognition. Die Emergenz des Metaphernmodells ‚Geld ist Wasser‘ im 19. Jahrhundert. In: Papiere zur Linguistik 49 (1993), S. 151–157 sowie Liebert, Wolf-Andreas: Metaphernbereiche der deutschen Alltagssprache. Kognitive Linguistik und die Perspektiven einer kognitiven Lexikographie. Frankfurt am Main u.a. 1992. Liebert sieht seine These dadurch bestätigt, dass sich in einschlägigen Wörterbüchern keine Einträge zu dem, wie mir scheint etwas willkürlich gewählten, Lemma Geldquelle vor dem von ihm datierten Auftauchen der Metapher finden lassen (vgl. Liebert, Metaphernbereiche, S. 223 f.). Dass das Grimm’sche Wörterbuch aber beispielsweise das Lemma Geldstrom bereits für das 16. Jahrhundert nachweist, wird ignoriert. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Hg. v. David P. Frisby u. Christian Köhnke. Frankfurt am Main 1989 (Georg Simmel Gesamtausgabe 6). Vgl. dazu grundlegend auch: Rammstedt, Otthein: Geld und Philosophie – Überlegungen mit und zu Georg Simmels Philosophie des Geldes. In: Geld. Sammelband der Vorträge des Studium Generale der RuprechtKarls-Universität Heidelberg im Sommersemester 2001. Heidelberg 2002, S. 71–96. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 714. Ebd.

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1 Einleitung

Das Geld ist also nicht nur selbst in Bewegung, sondern auch Ausdruck einer Bewegung. Dies veranschaulicht ein Blick auf die Kategorie des Tausches, der die zentrale Größe in Simmels Werk darstellt. Im Tausch, so Simmel, konstituiert sich erst der wirtschaftliche Wert der Dinge, der an sich nicht a priori fest steht. Denn erst in dem Moment, in dem der Mensch ein Ding, das er subjektiv begehrt, im Tausch gegen etwas anderes erwirbt, erhält der Tauschgegenstand auch einen objektiven Wert. Dieser ist also der Ausdruck des relationalen, sich im Austausch konstituierenden Verhältnisses, „die wirtschaftsgeschichtliche Verwirklichung der Relativität der Dinge“23. Und dieser so entstandene Wert kann dann in der Größe Geld gemessen und ausgedrückt werden. Im Geld „hat der Wert der Dinge, als ihre wirtschaftliche Wechselwirkung verstanden, seinen reinsten Ausdruck und Gipfel gefunden.“24 Das Geld veranschaulicht also nichts anderes als „die Relativität der Dinge“25, ja für Simmel ist es das „Sublimat der Relativität der Dinge“26. Dabei kommt dem Geld eine sehr zentrale Eigenschaft zugute, nämlich seine Indifferenz und Unindividualität. Als „absolut fungible[r] Gegenstand“, als „die Fungibilität der Dinge in Person“27 ist es für alle Zwecke einsetzbar. Die Zweckbedeutung des Geldes liegt somit nicht in ihm selbst, sondern in seiner Umsetzbarkeit in andere Werte.28 Dieses Bild der Relativität der Dinge, der Fluidizität und Liquidität, wird von Simmel als Ausdruck für den Zustand der Welt, als „Formel des allgemeinen Seins“29 gedeutet. Diese Verflüssigungs-Diagnose der Welt, die „zeitgeschichtliche Auflösung alles Substantiellen, Absoluten, Ewigen in den Fluß der Dinge“30, wird im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert fast schon zum Allgemeinplatz31 und auf allen Ebenen des menschlichen Lebens gestellt. So reiht sich Simmel in die „Grundrichtung der modernen Wissenschaft“ ein, die ihre Gegenstände nicht mehr als Erscheinungen behandelt, sondern als „Bewegungen“; die Konzentra23 24 25 26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 91. Ebd., S. 121. Ebd., S. 124. Ebd. Ebd., S. 128. Vgl. ebd., S. 12. Ebd., S. 136. Simmel, Georg: Fragment einer Einleitung. In: Ders.: Postume Veröffentlichungen, Ungedrucktes, Schulpädagogik. Hg. v. Torge Karlsruhen u. Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 2004 (Georg Simmel Gesamtausgabe 20), S. 304–305, hier S. 304. Auch Hartmut Rosa weist darauf hin, dass es in den Sozialwissenschaften ein Allgemeinplatz ist, dass alle Ereignisse, Objekte und Zustände in der sozialen Welt dynamischer oder prozessualer Natur sind. Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005, S. 19.

1.2 Geldströme: Die motivische Ebene der Untersuchung

9

tion liegt auf der „Feststellung der Beziehungen“ und nicht auf dem „an sich seienden Wesen der Dinge“.32 Im Mittelpunkt stehen „Bewegungen und Relationen.“33 Der Fokus der Aufmerksamkeit lag also auf den empirisch beobachteten zunehmenden Verflüssigungs- und Auflösungstendenzen, die sich in allen Bereichen des menschlichen Lebens bemerkbar machten – ob im Bereich der Übertragungsmedien und der aufkommenden neuen Technologien, des Verkehrs, der Strom-, Gas- und Wasserversorgung oder der kapitalistischen Dynamisierung. Komplexe Netzwerke entstanden und das Strömen wurde „zum Ideal des Verkehrs“34. Als zentraler Motor dieser Entwicklung können die massiven Veränderungen im ökonomischen Bereich angesehen werden, die unter dem Schlagwort der kapitalistischen ‚Industrialisierung‘35 verhandelt werden, die sich im 19. Jahrhundert ausgehend von England, wo sie bereits im 18. Jahrhundert Fuß gefasst hatte, in ganz Europa ihren Weg bahnte. Die Entwicklung neuer Technologien, der naturwissenschaftliche Fortschritt und die massenhafte Nutzung von Rohstoffen wie Kohle und Eisen unterstützten das Aufkommen neuer Produktionsmöglichkeiten. Das Entstehen neuer Industrien und Fabriken, verbunden mit den Möglichkeiten der modernen Massenproduktion, führte zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung und zu einer kapitalistischen Beschleunigung in bisher nicht gekanntem Maße. Das moderne kapitalistische Wirtschaftssystem, mit zunehmend internationalen Märkten und freiem Handel, setzte sich durch. Banken und Aktienunternehmen traten aufs Parkett und die Entwicklung in den Bereichen Verkehr und Kommunikation machte große Sprünge. Thomas Mann selbst hat diese Entwicklungen in seinem Vortrag Meine Zeit (1950) rückblickend festgehalten als „das neue Zeitalter, das Goethe mit tiefem Mißtrauen heraufkommen sah und das er mit einem 32 33 34

35

Simmel, Philosophie des Geldes, S. 95. Ebd. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 142. Auf die einschneidenden Veränderungen der Zirkulationsweise vor allem sozialer Energien, wie sie bereits im 18. Jahrhundert in den Körperströmen und im Schriftverkehr, mithin der Verknüpfung des „Wandels der Gefühlskultur“ mit „der bis dahin unerreichten Wirkungstiefe schriftkultureller Standards“ (Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des achtzehnten Jahrhunderts. München 1999, S. 12), sichtbar werden, hat Albrecht Koschorke in seiner Mediologie des 18. Jahrhunderts hingewiesen. Der Begriff der Industrialisierung schließt sich hier der Verwendung Thomas Manns an, der in Musik in München konstatiert: „Jene Entwicklung, – nennen wir sie kurz und roh die Industrialisierung Deutschlands“ (XI, 344). Zum Phänomen der Industrialisierung aus globaler Perspektive vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 909 ff.

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1 Einleitung

sehr besorgten, sehr zweifelnden Wort das Zeitalter der ‚Fazilitäten‘ nannte: die Epoche der Technik, des Fortschritts und der Massen“ (XI, 304). Gleichzeitig brachten diese Innovationen natürlich große gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Mit dem Aufkommen der modernen Massenproduktion in den Fabriken hielt auch die so genannte Arbeiterklasse Einzug in die Geschichte, während sich zeitgleich ein neuer (meist industrieller) Geldadel etablierte. Die sozialen Gegensätze verschärften sich, und vor allem die enorm wachsenden Großstädte, die sich zu modernen Metropolen entwickelten, wurden zum Schauplatz der sozialen Differenz, aber auch zur modernen Erfahrungswelt schlechthin.36 Das oben identifizierte Zusammenspiel von Bewegung, Auflösung und Relativität kann als symptomatisch für den Diskurs über die (gesellschaftliche, kapitalistische) Moderne angesehen werden. So beschreibt Hartmut Böhme in seiner Anderen Theorie der Moderne die Moderne als Zeitalter, das sich durch die Auflösung des Festen, Substantiellen in Dynamik, Mobilität, Fluktuation und Ströme kennzeichnet: Wirtschaft wie Kultur verließen die Epoche der Substanz und traten in das neue Zeitalter der Funktionen, der mobilen Relationen, der Energien, Kräfte und Netzwerke ein, in denen Dinge wie Körper einem zunehmenden Tempo der Zirkulation, des Austauschs und der Durchdringung unterworfen wurden. Die Rhythmen der großen Städte, der Industrieanlagen und die Systeme der Logistik und des Verkehrs sind die paradigmatischen Signaturen dieser dynamischen Mobilisierung und Verflüssigung.37

Reflektiert werden diese Veränderungen in den Kunstströmungen der Zeit, in der bildenden Kunst38 ebenso wie in der Literatur. Prominentes Bild der literarischen Verarbeitung ist die Schilderung der sich wandelnden Großstädte, wie sie sich beispielsweise im ersten Kapitel von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften findet. Hier wird die Stadt, die Schauplatz der Handlung ist, als pulsierendes und instabiles Konglomerat beschrieben, das keine Fixierung zulässt:

36 37 38

Vgl. dazu die Studie von Becker, Sabina: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930. St. Ingbert 1993 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 39) sowie das Kapitel 6.1.1 der vorliegenden Arbeit. Böhme, Fetischismus und Kultur, S. 143. Vgl. dazu die Arbeiten von Christoph Asendorf: Im Zeichen der Zirkulation. Verkehrsströme, Kraftflüsse und die Bilder der Elektrizität. In: Beneke, Sabine / Ottomayer, Hans (Hg.): Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wolfratshausen 2002, S. 94–99 und Ders.: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Gießen 1989 (Werkbund-Archiv 18).

1.2 Geldströme: Die motivische Ebene der Untersuchung

11

Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dauerhaftem Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.39

Und mit zunehmender Verengung des erzählerischen Fokus wird im zweiten Kapitel dann eine einzelne Straße als „einer jener langen, gewundenen Verkehrsflüsse, die strahlenförmig am Kern der Stadt entspringen, die äußeren Bezirke durchziehn und in die Vorstädte münden“40, beschrieben. Hier zeigt sich in dem Bild der Straßen als Flüsse, die entspringen und münden, deutlich die Liquidität des Straßennetzes der Stadt. Niedergeschlagen hat sich diese Vorstellung in Musils Werk auch in der Dystopie einer „Art überamerikanische[n] Stadt“41, die durch Geschwindigkeit, Funktionalität, Menschenmassen und Verkehrsströme gekennzeichnet wird. Hand in Hand mit der Größe Strom geht die Kategorie der Geschwindigkeit. Die zunehmende Verflüssigung begünstigt einen reibungsloseren Verkehr und bringt daher auch eine Erhöhung des allgemeinen Tempos mit sich. Neben die Auflösung tritt somit die Beschleunigung als zentrales Moment der Moderneerfahrung. So prangert Marinetti im Manifest des Futurismus, 1909 und damit im selben Jahr wie Königliche Hoheit erschienen, die „gedankenschwere Unbeweglichkeit der Literatur“ an und fordert u.a. nicht nur „die angriffslustige Bewegung“, sondern auch „den Laufschritt“42. Die Moderne steht also auch im Zeichen sich wandelnder Temporalstrukturen, wobei die Veränderungsrichtung, wie Hartmut Rosa es formuliert, „am angemessensten mit dem Begriff der Beschleunigung zu erfassen“43 ist. Für Rosa ist die Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft und Ausdruck für deren Dynamisierung und Verflüssigung.

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Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Reinbek bei Hamburg 1978 (Robert Musil. Gesammelte Werke I), S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 31. Vgl. dazu auch Böhme, Fetischismus und Kultur, S. 146 f. Marinetti, Filippo Tommaso: Gründung und Manifest des Futurismus. In: Asholt, Wolfgang / Fähnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart / Weimar 1995, S. 3–7, hier S. 4. Rosa, Beschleunigung, S. 24. Diese „Beschleunigungszumutungen der Moderne“ (ebd., S. 78) zeigen in allen Bereichen der modernen Kultur ihre Wirkung, wie Rosa anhand von Beispielen ausführt. Zur Reflektion in der Literatur vgl. besonders ebd., S. 77 f.

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1 Einleitung

Um den Bogen zum Geld zu schließen, sei noch einmal Simmel angeführt, der im Geld bzw. in der Form der modernen Geldwirtschaft die Erhöhung des Lebenstempos widergespiegelt wie auch verursacht sieht:44 Aus all diesem ergibt sich, in wie hohem Maße das Geld die Steigerung des Lebenstempos bezeichnet, wie es sich an der Zahl und Mannigfaltigkeit der einströmenden und einander ablösenden Eindrücke und Anregungen mißt. Die Tendenz des Geldes, zusammenzufließen und sich, wenn auch nicht in der Hand eines Einzelnen, so doch in lokal eng begrenzten Zentren zu akkumulieren, die Interessen der Individuen und damit sie selbst an solchen zusammenzuführen, sie auf einem gemeinsamen Boden in Berührung zu bringen, und so – wie es auch in der von ihm dargestellten Wertform liegt – das Mannigfaltigste in den kleinsten Umfang zu konzentrieren – diese Tendenz und Fähigkeit des Geldes hat den psychischen Erfolg, die Buntheit und Fülle des Lebens, das heißt also sein Tempo zu steigern.45

Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, lassen sich die untersuchten Romane mit dem Motiv der Geldströme in diesem Diskurs über die kapitalistische Modernisierung – verstanden als Prozess der Beschleunigung und Bewegung – verorten. Mit der Geldstrommetaphorik werden Modernisierungsprozesse poetisch verhandelt und in ihrer Wirkung wahrgenommen. Durch die am strömenden Wasser ausgerichteten Geldbeschreibungen erlangen die dynamischen, mehr in ihrer Wirkung denn in ihrem tatsächlichen Vorhandensein wahrzunehmenden Geldflüsse Evidenz. Unter dem Rückgriff auf die beobachtbaren Zirkulationen des Wassers erhält auch das (unsichtbar) zirkulierende Geld die Suggestion von Sichtbarkeit. Die Geldströme finden ihren Ausdruck vor allem, wie eingangs schon skizziert, in drei Bereichen, die in den Texten immer wieder aktualisiert werden und als Markierung der kapitalistischen Moderne angesehen werden können. Das sind einmal die Geldmetaphorik des Stromes bzw. Wassers, dann die Kategorie der Geschwindigkeit und Bewegung und drittens die mit der Dynamisierung einhergehenden zeittypischen Phänomene und Errungenschaften, wie neue Technologien (man denke beispielsweise an das Automobil von Imma Spoelmann oder die Gasbeleuchtung in Buddenbrooks), neue Schaufenster- und Warenwelten (Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull) und neue Geschäftsmethoden (wie beispielsweise die Kreditund Spekulationsgeschäfte in Buddenbrooks). Anliegen der folgenden Textanalysen muss es dabei immer sein, diese Figurationen nicht nur aufzuspüren, sondern als spezifische Schreibweisen zu profilieren. 44 45

Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 696 ff. und Rosa, Beschleunigung, S. 98 f. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 706 f.

1.3 Geldtheoretische Grundlagen: Der Kern moderner Geldwirtschaft

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1.3 Geldtheoretische Grundlagen: Der Kern moderner Geldwirtschaft Im Jahr 1846 schreibt Jean Buddenbrook einen Brief an seinen Sohn Thomas in Amsterdam, in dem er diesem gut gemeinte geschäftliche Ratschläge erteilt. Unter Hinweis auf den alten Firmengrundsatz „Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können!“ (I, 176) ermahnt er seinen zukünftigen Nachfolger zu Vorsicht und Risikovermeidung. Dass er seinem Sohn mit diesem Beharren auf Sicherheit gerade zu einer Geschäftshaltung rät, mit der man in den beschleunigten Zeiten der Buddenbrooks ins Hintertreffen gerät, führt der Roman in der Folge vor Augen. Denn wirklich große Gewinne sind ohne ein gewisses Kreditrisiko nicht mehr zu machen. Das Festhalten an einer ausschließlich durch Eigenkapital gedeckten Warenwirtschaft und die Verweigerung der Aneignung moderner, auf Kredit basierender Wirtschaftsweisen läuten den Verfall der Getreidefirma Buddenbrook ein. Mit den Anpassungsproblemen an die moderne Kreditwirtschaft – mit der Ablehnung einer Lösung vom Gedanken der substanziellen Deckung von Geld- und Warenbestand – ist hier ein grundsätzliches werttheoretisches Problem angesprochen, das die geldtheoretische Diskussion ab 1900 dominiert. Denn etwa um diese Zeit setzt sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion um die Frage, wie Geld zu seinem Wert kommt, endgültig die Antwort durch: durch Akkreditierung, durch Zeit und Vertrag. Geld wird nicht mehr als Ausdruck oder Repräsentation eines bereits vorhandenen Wertes angesehen, die Wertsubstanz ist nicht mehr real, sondern Glaubensakt und Fiktion. Dieses Umdenken ist vor dem Hintergrund einer grundlegenden werttheoretischen Debatte zu sehen, die auch an Georg Simmels oben angeführte Überlegungen anknüpft. Wie dargelegt, stehen im Zentrum seiner Philosophie des Geldes werttheoretische Fragen, ja baut Simmels Theorie auf einer Werttheorie auf.46 Zentraler Gedanke ist dabei, wie gezeigt wurde, dass der Wert nicht per se feststeht, sondern sich in Abgrenzung zu anderen (im Tauschakt) erst konstituiert. Das Geld symbolisiert somit keinen konkreten, substanziellen Inhalt, sondern ein Verhältnis, eine Relation. Damit kann Simmel in die werttheoretische Diskussion um 1900 eingeordnet werden, sein Wertrelativismus als Ausdruck für ein allgemeines 46

Vgl. dazu auch Rammstedt, Otthein: Wert, Geld und Individualität. In: Ders. (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien. Frankfurt am Main 2003, S. 27–41, hier S. 28 f.

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1 Einleitung

Umdenken von objektiven hin zu subjektiven Werttheorien angesehen werden.47 Während seit Adam Smith’ 1776 erschienener Abhandlung Wealth of nations die klassische Arbeitswerttheorie die Werttheorie für das gesamte 19. Jahrhundert bestimmte, kommt es um 1900 zu einer Ablösung dieser objektiven durch die subjektive Werttheorie der Grenznutzenschule. Der wirtschaftliche Wert wird nun nicht mehr auf feste Größen wie etwa die Arbeit zurückgeführt, sondern zu einer subjektiven Größe erklärt. Wie auch bei Simmel ist hierbei jedoch eine strikte Trennung zwischen Wert- und Geldtheorie auszumachen, die die Wirtschaftstheorie seit Aristoteles’ Unterscheidung einer natürlichen und einer künstlichen Erwerbsform durchzieht. Die Geldtheorie wird der Werttheorie nachgeordnet, die Realanalyse48 geht der monetären Analyse stets voraus. Dies ändert sich erst mit der Ablösung der Werttheorien durch die Preistheorie und einer Aufwertung der Geldtheorie ab Beginn des 20. Jahrhunderts: „Die Wirtschaftstheorie dringt zu der Erkenntnis durch, daß dem Geld nicht nur repräsentative und sekundäre Funktionen zugebilligt werden können.“49 Geld und Preise erscheinen nicht länger „als Ausdrücke […] von Austauschrelationen“ – wie noch bei Simmel –, sondern „erlangen eigenes Leben und eigene Bedeutung.“50 Für die Geldtheorie bedeutet dies, dass der Wert des Geldes für fiktional erklärt wird. Geld erhält einen Wert nicht durch den Rekurs auf eine feststehende Größe; Wertakkumulation wird zu einem Effekt von Temporalisierung. Exemplarisch lässt sich das an dem Gegensatz von nominalistischer und metallistischer Geldtheorie nachvollziehen. Während letztere Geld nur dann einen Wert zuschreibt, wenn dieser als Edelmetall vorliegt oder auf einen Goldstandard bezogen ist, funktioniert Geld nach der nominalistischen Theorie, indem es per Konvention institutionalisiert 47

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Vgl. dazu und zum Folgenden v.a. die werttheoretischen Exkurse bei Gernalzick, Nadia: Kredit und Kultur. Ökonomie- und Geldbegriff bei Jacques Derrida und in der amerikanischen Literaturtheorie der Postmoderne. Heidelberg 2000 (American Studies 80) und das Kapitel „Geld und Wert“ bei Schumpeter, Joseph A.: Geschichte der ökonomischen Analyse. Nach dem Manuskript hg. v. Elisabeth Schumpeter. Mit einem Vorwort v. Fritz Karl Mann u. einer Einführung v. Alexander Ebner. Erster Teilband. Göttingen 2007, S. 353–422. Die Realanalyse „geht von dem Grundsatz aus, daß alle wesentlichen Phänomene des Wirtschaftslebens in Form von Gütern und Dienstleistungen und in Entscheidungen über sie bzw. in Beziehungen zwischen ihnen ausgedrückt werden. Das Geld tritt lediglich in der bescheidenen Rolle einer technischen Erfindung auf, die zur Erleichterung von Transaktionen übernommen wurde.“ (Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, S. 354). Gernalzick, Kredit und Kultur, S. 151. Wie auch Schumpeter aufzeigt, setzt sich also zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Geldtheorie, nachdem diese mit dem Sieg der Realanalyse seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein „Schattendasein“ (Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, S. 360) geführt hatte, wieder durch. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, S. 355; vgl. auch Gernalzick, Kredit und Kultur, S. 151.

1.3 Geldtheoretische Grundlagen: Der Kern moderner Geldwirtschaft

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wird. Der Gedanke der Wertrepräsentation wird hier durch den der Konventionalisierung abgelöst. Geld ist demnach kein Gut mit bestimmten Eigenschaften, sondern wird dadurch zu Geld, dass es „von einer Institution als Geld inthronisiert“51 und von den Benutzern als solches anerkannt und akkreditiert wird.52 Geld entsteht in diesem Sinne aus einem Kredit, und es sind vielmehr Schuldverhältnisse und Einlösungsversprechungen und nicht Tauschakte, die die Geldfunktion begründen. Kredit, Vertrauen und Temporalisierung sind damit zentrale Größen moderner Geldwirtschaft und der geldtheoretischen Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts.53 Diese geldtheoretischen Überlegungen sind für das Verstehen der Romane von entscheidender Bedeutung und werden im Zuge der einzelnen Romananalysen theoretisch ausgeweitet und verdichtet.54 Wie sich zeigen wird, befinden sich die untersuchten Romane insgesamt ‚geldtheoretisch‘ auf der Höhe ihrer Zeit und legen die fundamentalen Fragen, die bis heute die Faszinationskraft der modernen Geldwirtschaft ausmachen, offen. So spielt nicht nur in Buddenbrooks, sondern auch in Königliche Hoheit die hier skizzierte werttheoretische Diskussion eine Rolle, liegt die Ursache für den desperaten Zustand der Volkswirtschaft in Thomas Manns zweitem Roman doch in hohem Maße in einer falschen Geldschöpfungspolitik. Statt auf kreditäre Wertschöpfung und eine Kapitalisierung des Geldes zu setzen, beharren die großherzoglichen Wirtschaftshäupter auf einer substantiellen Deckung und können sich nur schwer vom zeichentheoretischen Repräsentationsgedanken verabschieden. Dass unter geldtheoretischer Prämisse der Kreditgedanke eng mit dem Gedanken des temporalen

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Riese, Hajo: Geld: Das letzte Rätsel der Nationalökonomie. In: Schelkle, Waltraud / Nitsch, Manfred (Hg.): Rätsel Geld. Annäherungen aus ökonomischer, soziologischer und historischer Sicht. Marburg 1995, S. 45–62, hier S. 56. Als Auslöser für dieses Umdenken gilt vor allem der britische Ökonom John Maynard Keynes, der in seinen Studien der 1920er-Jahre On Ancient Currencies die Meinung vertritt, „dass für die Erklärung des Geldes nur der in Kontrakten vereinbarte Geldstandard von Interesse ist.“ (Heinsohn, Gunnar: Muß die abendländische Zivilisation auf immer unerklärbar bleiben? Patriarchat und Geldwirtschaft. In: Schelkle, Waltraud / Nitsch, Manfred (Hg.): Rätsel Geld. Annäherungen aus ökonomischer, soziologischer und historischer Sicht. Marburg 1995, S. 209–270, hier S. 238) Diese Überzeugung wird dann in A Treatise of Money 1930 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Vgl. Heinsohn, Patriarchat und Geldwirtschaft, S. 238 ff. und Gernalzick, Kredit und Kultur, S. 164. Wie auch im Rahmen der Romananalysen gezeigt werden wird, sind die Fragen nach dem Zusammenhang von Geld und Kredit jedoch nicht erst im 20. Jahrhundert aufgekommen, sondern haben eine lange Tradition. Da die theoretische Vertiefung von den in den Texten vorgefundenen geldtheoretischen Figurationen ausgehen wird – und nicht umgekehrt die Theorie an den Romanen ‚erprobt‘ oder exemplifiziert wird –, soll dieser kurze, skizzenhafte Abriss zur Einführung genügen.

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1 Einleitung

Aufschubs verbunden ist, führen sowohl Der Zauberberg als auch Joseph und seine Brüder vor. Mit den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull wird schließlich das Glaubens- und Vertrauensfundament der modernen Geldwirtschaft in Reinform vor Augen geführt, ja, deren Substanzlosigkeit wird in der Figur des Protagonisten manifest. Dabei ist eine Engführung von geldtheoretischen Zusammenhängen mit psychischen Handlungsmustern und persönlichen Dispositionen der Protagonisten zu beobachten: Die untersuchten Romane weisen eine auffallende Parallelisierung von ökonomischen und psychisch-privaten Konstellationen auf, zwischen der Psyche sowie dem Handeln der Protagonisten und dem jeweiligen geldtheoretischen Diskurs besteht eine enge, semantische Korrelation. So gehen beispielsweise die Probleme, die die Buddenbrooks mit der modernen Kreditwirtschaft und deren Unsicherheiten haben, Hand in Hand mit religiösen und säkularen Glaubenskrisen, und in Königliche Hoheit ist das Lösen der staatlichen Kreditkrise eng mit privaten Vertrauensfragen verknüpft. Mit Joseph und Felix Krull rücken sodann Protagonisten in den Mittelpunkt, die sich – im Gegensatz zu ihren Vorgängern – virtuos der funktionslogischen Mechanismen moderner Geldwirtschaft bedienen: Joseph versteht es als der große Vermittler, die medialen und temporalen Qualitäten moderner Geldwirtschaft nach seinen Wünschen einzusetzen, und Felix Krull legt mit seinem Leben auf Kredit das Glaubens- und Vertrauensfundament derselben radikal bloß. Mit dieser Parallelisierung von ökonomischen und psychischen Konstellationen wird der Kern der modernen Geldwirtschaft – ihre Abhängigkeit von so ‚irrationalen‘ Größen wie Kredit und Vertrauen – als anthropologisches Grundproblem entlarvt und diskutiert. Diese Gleichsetzung und Parallelisierung gilt es, wie auch die Geldstrommetaphorik, im Zuge der Romananalysen nicht nur herauszuarbeiten, sondern auch in ihrer spezifischen Schreibweise zu fassen. Die textnahe Untersuchung vermag es, ökonomische Inhalte und Fragen als poetische zu konturieren.

1.4 Forschungsstand und -literatur In der Thomas Mann-Forschung ist die Beschäftigung mit ökonomischen und geldthematischen Fragestellungen insgesamt ein lange vernachlässigtes Forschungsfeld.55 Die Ausnahme ist der Romanerstling Thomas Manns, 55

Als Indiz dafür mag der Umstand gelten, dass in dem über 1000 Seiten starken ThomasMann-Handbuch kein gesondertes Kapitel zu Geld oder Ökonomie zu finden ist. Vgl.

1.4 Forschungsstand und -literatur

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der Roman über die Kaufmannsfamilie Buddenbrook, der unter zahlreichen Aspekten auf seine Geld- und Wirtschaftsthematik untersucht wurde. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Erforschung der Quellenlage sowie darauf, das Geldvorkommen der Romane – auch in Form übersichtlicher Vermögenstabellen56 – zu inventarisieren.57 Paradigmatisch ist hierfür Georg Potempas Studie Über das Vermögen der Buddenbrooks, die den finanziellen Verfall der Familie nachzeichnet und den Mann’schen Quellen gegenüberstellt.58 Zudem finden sich zahlreiche Studien, die die Buddenbrooks vor dem Hintergrund der Wirtschaftsgeschichte, speziell der der Hansestadt Lübeck, profilieren.59 Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Erforschung der Figur des Thomas Buddenbrook,60 der auch im Zentrum der zahlreichen Analysen steht, die den Roman vor dem Hintergrund von

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Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. Ungekürzte Ausgabe der 3., aktualisierten Auflage. Frankfurt am Main 2005. Zur Problematik des Geldes in biografischer Hinsicht vgl.: Kinder, Anna: „Ich habe ein Recht auf Comfort, zum Donnerwetter“. Thomas Mann und das Geld. In: Kehnel, Annette (Hg.): Geist und Geld. Frankfurt 2009 (Wirtschaft und Kultur im Gespräch 1), S. 233–257 sowie Schröter, Klaus: Thomas Mann. In: Corino, Karl (Hg.): Genie und Geld. Vom Auskommen deutscher Schriftsteller. Mit 34 Portraitzeichnungen v. Peter Anders. Nördlingen 1987. S. 411–423. So bei Eickhölter, Manfred: Das Geld in Thomas Manns Buddenbrooks. Lübeck 2003 (Handel, Geld und Politik 8), S. 5. Eickhölter, Manfred: Senator Mann und Thomas Buddenbrook als Lübecker Kaufleute. Historische Quellen und literarische Gestaltung. In: Ders./ Wißkirchen, Hans (Hg.): „Buddenbrooks“. Neue Blicke in ein altes Buch. Begleitband zur neuen ständigen Ausstellung Die ‚Buddenbrooks‘ – ein Jahrhundertroman im Buddenbrookhaus. Lübeck 2000, S. 74–99; Kommer, Björn R.: Kleiner Beitrag zur Geschichte der Familie Mann und zu Thomas Manns Buddenbrooks. In: Thomas Mann Jahrbuch 3 (1990), S. 255–267 und Holbeche, Yvonne: Die Firma Buddenbrook. In: Moulden, Ken / Wilpert, Gero von (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 229–244. Ebenso liest Adolf-Friedrich Jacob die Buddenbrooks aus betriebswirtschaftlicher Sicht als Geschichte von Soll und Haben (Jacob, Adolf-Friedrich: Thomas Mann: Die Buddenbrooks – Verfall einer Familie aus betriebswirtschaftlicher Sicht. In: Literatur und Wirtschaftswissenschaft. Hg. v. der WHU Koblenz, Otto-Beisheim-Hochschule. Koblenz 1998), S. 34–47. Potempa, Georg: Über das Vermögen der Buddenbrooks. In: Ders.: Geld – „Blüte des Bösen“? Drei Aufsätze über literarisch-finanzielle Themen bei Dante, Goethe und Thomas Mann. Oldenburg 1978, S. 41–83. Vogt, Jochen: Thomas Mann: „Buddenbrooks“. 2., revidierte u. ergänzte Auflage. München 1995, S. 52 ff. und Kuczynski, Jürgen: Thomas Mann. Drei Studien über die Entwicklung des historischen Bewusstseins eines Humanisten des deutschen Bürgertums. In: Ders.: Gestalten und Werke. Soziologische Studien zur deutschen Literatur. Berlin /Weimar 1969, S. 245–316. Matt, Peter von: Der Chef in der Krise. Zur Inszenierung des Unternehmers in der Literatur. In: Ders.: Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München 2007, S. 226–238 und Meincke, Jens Peter: Thomas Buddenbrook – eine Unternehmerpersönlichkeit aus der Feder Thomas Manns. In: Schulz, Günther (Hg.): Von der Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Henning zum 65. Geburtstag. Paderborn u.a. 1996, S. 107–120.

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1 Einleitung

Max Webers Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) lesen; Eigenaussagen des Autors regten dazu an, Thomas Buddenbrook als Leistungsethiker im Weber’schen Sinne zu identifizieren.61 In gleichem Maße hat sich die Forschung mit der Frage der Bürgerlichkeit der Buddenbrooks und dem von Werner Sombart aufgemachten Gegensatz von Bürger und Bourgeois und einer möglichen Konturierung ebendieses Gegensatzes in den Antagonisten Thomas Buddenbrook und Hermann Hagenström beschäftigt.62 Im Mittelpunkt der Untersuchung von Ehrhard Bahr steht hingegen die Figur der Tony Buddenbrook, an der sich die Verschränkung von Firma und Familie exemplarisch nachzeichnen lässt.63 Dieser „Firmenimperativ der Vermögensoptimierung“64, der für alle Familienmitglieder gilt und als handlungsbestimmende Größe entlarvt wird, steht auch im Zentrum der Untersuchungen, die sich mit 61

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Vgl. Weiller, Edith: Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen. Stuttgart / Weimar 1994; Sommer, Andreas Urs: Der Bankrott ‚protestantischer Ethik‘: Thomas Manns Buddenbrooks. Prolegomena einer religionsphilosophischen Romaninterpretation. In: Wirkendes Wort 44 (1994), S. 88–110; Lepenies, Wolf: Motive Max Webers im Werk von Thomas Mann. In: Ders.: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München / Wien 1985, S. 357–375; Brennan, Joseph Gerard: Thomas Mann and the Business Ethic. In: Journal of Business Ethics 4 (1985), S. 401–407 sowie jüngst: Hamacher, Bernd: Ökonomie und Religion – Goethe, Thomas Mann und die „protestantische Ethik“. In: Hempel, Dirk / Künzel, Christine (Hg.): „Denn wovon lebt der Mensch?“ Literatur und Wirtschaft. Frankfurt am Main u.a. 2009, S. 117– 135. Auch von theologischer Seite liegen hierzu Studien vor: Schwöbel, Christoph: „Buddenbrooks“. Die protestantische Ethik und der Geist des Bürgertums. In: Rohls, Jan / Wenz, Gunther (Hg.): Protestantismus und deutsche Literatur. Göttingen 2004 (Münchener Theologische Forschungen 2), S. 253–270 und Rohls, Jan: Thomas Mann und der Protestantismus. 100 Jahre „Buddenbrooks“. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S. 351–378. Vgl. zudem: Kinder, Anna: Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ (1901) im Lichte von Max Webers Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. Magisterarbeit. Heidelberg 2005. Pikulik, Lothar: Leistungsethik contra Gefühlskultur. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland. Göttingen 1984; Sagave, Pierre-Paul: Zur Geschichtlichkeit von Thomas Manns Jugendroman: Bürgerliches Klassenbewußtsein und kapitalistische Praxis in „Buddenbrooks“. In: Arntzen, Helmut u.a. (Hg.): Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Berlin / New York 1975, S. 436–452; Zeller, Michael: Bürger oder Bourgeois? Eine literatursoziologische Studie zu Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 22 (1975), S. 11–23. Bahr, Ehrhard: Geld und Liebe bei Thomas Mann und Bertolt Brecht. In: Mundt, Hannelore / Schwarz, Egon / Lillyman, William J. (Hg.): Horizonte. Festschrift für Herbert Lehnert zum 65. Geburtstag. Tübingen 1990, S. 142–160. Gutjahr, Ortrud: Die Wonnen der Bürgerlichkeit? Eine Einführung in Thomas Manns Buddenbrooks und John von Düffels Bühnenfassung. In: Dies. (Hg.): Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg 2006 (Theater und Universität im Gespräch 4), S. 21–44, hier S. 27.

1.4 Forschungsstand und -literatur

19

dem Roman und dessen Bühnenadaption durch John von Düffel befassen.65 Des Weiteren hat in den letzten Jahren vor allem Manfred Dierks verschiedentlich die Frage nach dem Zusammenhang des psychischen Verfalls der Familie und einer kapitalistischen Modernisierung gestellt.66 Erwähnenswert sind zudem die beiden Studien von Franziska Schößler,67 die mit ihrem kulturwissenschaftlichen Ansatz das Augenmerk auf „wirtschaftliche Innovationen, die sich im letzen Drittel des 19. Jahrhunderts durchsetzten und Wahrnehmungen einer radikalen Modernisierung maßgeblich mitbestimmten“68, richtet; mit dem Fokus auf wirtschafts- und kulturgeschichtliche Phänomene wie die Börse und den Kredit liest sie die Romane Buddenbrooks und Königliche Hoheit im Hinblick auf ihre geschlechtlichen und antisemitischen Markierungen. Neben Franziska Schößler69 befasst sich allein Jochen Hörisch in seiner Poesie des Geldes70 mit der Geldthematik in Köngliche Hoheit. Zu den übrigen Romanen Thomas Manns gibt es lediglich sporadische Einzeluntersuchungen. Zu erwähnen sind hier eine Studie von Georg Potempa, die den finanziellen Werdegang des Hochstaplers Felix Krull nachzeichnet, ein Aufsatz von Thomas Sprecher zur Kapitalismuskritik im Zauberberg sowie die werkübergreifende Untersuchung von Eckhard

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66

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Vgl. den Sammelband von Gutjahr, Ortrud: Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg 2006 (Theater und Universität im Gespräch 4); Gutjahr, Ortrud: Doppelte Buchhaltung in der Familien-Firma. Thomas Manns Buddenbrooks in der Bühnenfassung John von Düffels mit einem Blick auf Heinrich Breloers Verfilmung. In: Schößler, Franziska / Bähr, Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009, S. 279–297 und Kinder, Anna: Die Kollateralschäden der Gewinnmaximierung. Das Drama der Buddenbrooks. In: Schößler, Franziska / Bähr, Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009, S. 299–309. Vgl. exemplarisch: Dierks, Manfred: Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne. In: Sprecher, Thomas (Hg.): „Was war das Leben? Man wusste es nicht!“ Thomas Mann und die Wissenschaften vom Menschen. Die Davoser Literaturtage 2006. Frankfurt am Main 2008 (Thomas-Mann-Studien 39), S. 111–126 sowie Ders.: Arbeite! – Wenn ich aber nicht kann? Thomas Manns Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1 (2008), S. 105–111. Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld 2009 (Figurationen des Anderen 1) und Dies.: Glauben, Schreiben, Verdienen: Kreditwesen und Poetik in Thomas Manns Romanen „Buddenbrooks“ und „Königliche Hoheit“. In: Börnchen, Stefan / Liebrand, Claudia (Hg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. München 2008, S. 117–138. Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch, S. 10 f. Vgl. auch die eingangs erwähnte Studie: Schößler, Aneignungsgeschäfte. Vgl. Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 338 ff.

20

1 Einleitung

Heftrich zum homo oeconomicus.71 In Bezug auf die Josephtetralogie hat die Forschung ihr Augenmerk auf Josephs Wirtschaftspolitik und dessen Nähe zu Roosevelts New Deal gelegt und sich damit ausschließlich auf den letzten Romanteil konzentriert.72 Insgesamt ist in den letzten Jahren jedoch eine Sensibilisierung der Thomas Mann-Forschung für ökonomische Fragestellungen festzustellen,73 die einer allgemeinen Tendenz innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft entspricht. Während in den angelsächsischen Ländern seit den 1960er Jahren eine umfassende Forschung zum Verhältnis von Wirt71

72

73

Vgl. Potempa, Georg: Über die Finanzen des Hochstaplers Felix Krull. In: Deutsche Sparkassenzeitung 36 (1974), Hefte 35, 37, 39; Sprecher, Thomas: Kur-, Kultur- und Kapitalismuskritik im Zauberberg. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Auf dem Weg zum „Zauberberg“. Die Davoser Literaturtage 1996. Frankfurt am Main 1997 (Thomas-Mann-Studien 16), S. 187–249 und Heftrich, Eckhard: Der Homo oeconomicus im Werk von Thomas Mann. In: Wunderlich, Werner (Hg.): Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur. Bern / Stuttgart 1989 (Facetten deutscher Literatur 2), S. 153–169. Vgl. Siehoff, John-Thomas: Josephs „New Deal“. Präsident Franklin Delano Roosevelts Politik in Thomas Manns Joseph der Ernährer. In: New German Review 11 (1995), S. 74– 88; Middell, Eike: Sozialutopie und „Gottessorge“ in „Joseph, der Ernährer“. In: Brandt, Helmut / Kaufmann, Hans (Hg.): Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche. Ein internationaler Dialog. Berlin / Weimar 1978, S. 229–248, v.a. S. 229–241, und Heftrich, Der Homo oeconomicus, S. 166 ff. Ein Überblick ist zu finden bei Schöll, Julia: Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruktion in Thomas Manns Exil-Tagebüchern und -Briefen sowie im Roman Joseph und seine Brüder. Würzburg 2004 (Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 18), S. 314 ff. Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch der Aufsatz von Jacob, Adolf-Friedrich: Thomas Mann und die Nationalökonomie am Beispiel des 4. Bandes der Joseph-Tetralogie „Joseph der Ernährer“. In: Literatur und Wirtschaftswissenschaft. Hg. v. der WHU Koblenz, Otto-Beisheim-Hochschule. Koblenz 1998, S. 17–33, der – unter Rekurs auf Thomas Manns Quellen – die nationalökonomischen Passagen der Tetralogie, v.a. des letzten Bandes, zusammenstellt. Vgl. dazu jüngst auch: Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952. Frankfurt am Main 2011, S. 149–156. Im März 2009 hat sich die Tagung der Jungforscher der deutschen Thomas Mann-Gesellschaft dem Thema „Thomas Mann und die Ökonomie“ gewidmet (Die Beiträge sind im Anschluss an die Tagung bei literaturkritik.de erschienen: http://www.literaturkritik.de/ public/rezension.php?rez_id=12886&ausgabe=200905; 30.3.2009). Die Jahrestagung der Thomas Mann Gesellschaft Zürich fand im Juni 2009 unter der Überschrift „Geld und Geist. Thomas Mann als Unternehmer“ statt. Letztere hatte ihren Schwerpunkt allerdings, wie der Titel schon verrät, weniger auf das Werk als auf den Autor gelegt. Dieser Tendenz entspricht auch der jüngst erschienene Aufsatz von Wilhelm Haefs: Geist, Geld und Buch. Thomas Manns Aufstieg zum Erfolgsautor im S. Fischer Verlag in der Weimarer Republik. In: Ansel, Michael u.a. (Hg.): Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin / New York 2009, S. 123–159. Insgesamt ist, sicher nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Finanzkrise, eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kultur, Kunst und Wissenschaft zu Geld und Wirtschaft zu konstatieren, die in dem Gegensatzpaar von ‚Geist und Geld‘ ihren Ausdruck findet. Vgl. beispielsweise auch den von Annette Kehnel herausgegebenen Sammelband: Geist und Geld. Frankfurt am Main 2009 (Wirtschaft und Kultur im Gespräch 1).

1.4 Forschungsstand und -literatur

21

schaft und Literatur zu beobachten ist, spielt diese in der deutschen Literaturwissenschaft bis Ende der 1990er Jahre keine große Rolle.74 Erste Aufmerksamkeit für das Forschungsfeld ist dem Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch zu verdanken, der in verschiedenen Aufsätzen und dann, diese in überarbeiteter Fassung vereinend, in seiner Poesie des Geldes dafür warb.75 Initiiert durch den New Economic Criticism76 zeichnet sich in der deutschen Literaturwissenschaft aber erst in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme an Studien im Forschungsfeld von Literatur und Wirtschaft – das Sandra Richter noch 2004 zu den wenig erforschten Gebieten zählte – ab.77 Vorrangig handelt es sich dabei um Studien, die den Wechselwirkungen, den Analogien und einer gegenseitigen Durchdringung von Ökonomie und Literatur bzw. Ästhetik nachspüren. Die literarischen Texte werden dann, wie beispielsweise in Joseph Vogls Studie,78 als 74

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78

Vgl. Hempel, Dirk / Künzel, Christine: Einleitung. In: Dies. (Hg.): „Denn wovon lebt der Mensch?“ Literatur und Wirtschaft. Frankfurt am Main u.a. 2009, S. 9–18. Vgl. auch Richter, Sandra: Wirtschaftliches Wissen in der Literatur um 1900 und die Tragfähigkeit ökonomischer Interpretationsansätze. In: Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin / New York 2011 (linguae & litterae 4), S. 214–238. Hörisch, Kopf oder Zahl; Ders.: Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt am Main 2004, Ders.: Das Geld (in) der Literatur. In: Geld. Sammelband der Vorträge des Studium Generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 2001. Heidelberg 2002, S. 25–39. Vgl. dazu die Einleitung von Osteen, Mark / Woodmansee, Martha: Taking account of the new economic criticism. An historical introduction. In: Dies. (Hg.): The New Economic Criticism. Studies at the intersection of literature and economics. London u.a. 1999, S. 3– 50. Vgl. auch: Saller, Reinhard: Schöne Ökonomie. Die poetische Reflexion der Ökonomie in frühromantischer Literatur. Würzburg 2007 (Epistemata 592), S. 78 ff. Der New economic criticism, der in Nordamerika im Anschluss an die Cultural Studies entstanden ist, richtet sein Augenmerk auf die zahlreichen Beziehungen von Literatur, Kultur und Ökonomie. Dabei ist zum einen eine Tendenz zur Untersuchung von Parallelen und Analogien zwischen Sprache und Geld sowie eine Rückkehr zu historisierenden Methoden zu konstatieren. Die (in- und externen) ökonomischen Organisationsprinzipien von literarischen Texten (verstanden als Austauschsysteme) interessieren ebenso wie die ökonomische Kontextualisierung des Werkes (sowohl was die Sphäre der Produktion, z.B. die ökonomische Marktposition und das finanzielle Potential des Autors, betrifft als auch den jeweils vorgefundenen Literaturmarkt) und die intertextuelle Einbindung des jeweiligen Werkes. Vgl. Pott, Sandra: Wirtschaft in Literatur. ‚Ökonomische Subjekte‘ im Wirtschaftsroman der Gegenwart. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 4 (2004), S. 202–217, hier S. 203. Als früher Beleg für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Fragen kann der 1989 in der Schweiz erschienene Sammelband zum literarischen Homo oeconomicus gelten; in diesem Band geht es weniger um das wirtschaftswissenschaftliche Erklärungsmodell für ein auf Nutzenmaximierung ausgerichtetes Handeln, als um die Motive, Formen und Auswirkungen von wirtschaftlicher Tätigkeit und ökonomischem Verhalten literarischer Figuren. Vgl. Wunderlich, Werner (Hg.): Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur. Bern / Stuttgart 1989 (Facetten deutscher Literatur 2). Vogl, Kalkül und Leidenschaft.

22

1 Einleitung

Teil einer Wissensordnung angesehen, die sich in literarischen wie auch in ökonomischen Schriften niederschlägt. Im Zentrum von Vogls Untersuchung stehen dabei grundlegende Veränderungen im ökonomischen Wissen um 1800, die die Geburt des ökonomischen Menschen mit sich führen, dessen „Darstellung schließlich bestimmte Grenzen der literarischen Repräsentation selbst hervor treibt.“79 Thomas Wegmann konzentriert sich in seiner Untersuchung auf das Phänomen des Tausches als grundlegendes anthropologisches und kulturelles Muster, an dem auch die Literatur partizipiert.80 Dem Tausch in diversen Wissensfeldern geht auch der 2005 erschienene Sammelband von Georg Mein und Franziska Schößler nach.81 Zu erwähnen ist ferner die Studie von Bernd Blaschke, die nicht nur in einem umfangreichen „Service-Kapitel“ einen Überblick über die Forschung zu Literatur und Ökonomie bietet, sondern vielmehr auch anhand der Leitkategorien des homo oeconomicus und des Kredits eine textnahe Lektüre fünf modernistischer Romane unternimmt.82 Generell ist in letzter Zeit auch eine verstärkte Fokussierung der Forschung auf das zeitgenössische Theater und dessen Ökonomieverhandlungen wie auch eine Zunahme an Untersuchungen zu zeitgenössischen Romanen festzustellen.83 Als repräsentativ für die interdisziplinäre Annäherung an das Thema Geld seien ein 2001 erschienener Band, der aus einer fächerübergreifenden Vortragsreihe der Universität Heidelberg hervorgegangen ist, sowie der Sammelband von Dirk Hempel und Christine Künzel erwähnt.84

79 80 81 82 83

84

Ebd., S. 17. Wegmann, Thomas: Tauschverhältnisse. Zur Ökonomie des Literarischen und zum Ökonomischen in der Literatur von Gellert bis Goethe. Würzburg 2002 (Epistemata 386). Mein, Georg / Schößler, Franziska (Hg.): Tauschprozesse. Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen. Bielefeld 2005. Blaschke, Bernd: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München 2004. Vgl. Pott, Wirtschaft in Literatur; Dies.: Die Wirtschaft der Literatur. Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2002) im Rückblick auf Fall (1997). In: Hagestedt, Lutz / Unseld, Joachim (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt am Main 2006, S. 220–244; Polt-Heinzl, Evelyne: Einstürzende Finanzwelten. Markt, Gesellschaft und Literatur. Mit einem Nachwort v. Wolfgang Polt u. 7 Illustrationen v. Thomas Kussin. Wien 2009; Deupmann, Christoph: Narrating (New) Economy. Literatur und Wirtschaft um 2000. In: Zemanek, Evi / Krones, Susanne (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 151– 161 und Schößler, Franziska / Bähr, Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009. Geld. Sammelband der Vorträge des Studium Generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 2001. Heidelberg 2002; Hempel / Künzel, Literatur und Wirtschaft.

1.4 Forschungsstand und -literatur

23

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Forschung bisher stärker auf die ökonomischen Wissensordungen, an denen die Texte partizipieren, abstellt, als die Spezifik der literarischen Schreibweisen in den Mittelpunkt der Ausführungen zu stellen.85 Die vorliegende Untersuchung beschreitet also, mit Ausnahme des Kapitels zu Buddenbrooks, in den meisten Teilen Forschungsneuland, wobei sie an die Thomas Mann-Forschung anknüpft und diese – unter geldtheoretischen Aspekten – ergänzt und neu akzentuiert.

85

Vgl. dazu auch Richter, Wirtschaftliches Wissen in der Literatur um 1900, bes. S. 217.

2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben Es ist längst ein Allgemeinplatz, dass Geld in Buddenbrooks (1901) eine zentrale Rolle spielt. Im Zuge der wirtschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre, die sich unter dem Schlagwort einer weltweiten Finanzkrise zusammenfassen lassen, hat auch Thomas Manns Roman erneut große Aufmerksamkeit erfahren. John von Düffels dramatische Bearbeitung des Stoffes kam auf zahlreichen deutschen Bühnen zur Aufführung und wurde, nicht zuletzt aufgrund der Nähe zu aktuellen ökonomischen Problemzusammenhängen, zu einem großen Erfolg.1 Auch die deutsche Presse hat sich im Zuge der wirtschaftlichen Krisenphänomene Thomas Manns Roman erinnert und diesen, fast schon inflationär, zum literarischen Referenzpunkt in Fragen des wirtschaftlichen Niedergangs erkoren.2 Und in der Tat hat eine am Geld interessierte Lektüre der Buddenbrooks, wie sie im Folgenden ausführlich unternommen wird, bis heute nichts an Brisanz verloren. Die Einsichten in das Funktionieren moderner Ökonomien, die fundamentalen Kreditproblematiken und deren (auch psychische) Risiken und Nebenwirkungen, denen jeder wirtschaftende Mensch ausgesetzt ist, haben in dem Jahrhundert seit dem Erscheinen des Romans nichts an Aktualität eingebüßt.

2.1 Das Geld der Buddenbrooks Thomas Buddenbrooks Worte „Verdienen wird groß geschrieben“ (I, 118) können als das Motto des Romans ausgegeben werden, der den Verfall einer Familie schildert, der sich am sichtbarsten in deren finanziellem Niedergang manifestiert. Die Verfallsgeschichte der Buddenbrooks ist in hohem 1 2

Vgl. dazu den Aufsatz: Kinder, Das Drama der Buddenbrooks. Vgl. exemplarisch das Spiegel-Gespräch „Eine Kultur der Sprachlosigkeit“. Philipp Daniel Merckle, 42, über den Suizid seines Vaters und Lehren aus dem Niedergang des schwäbischen Milliardenimperiums. In: Der Spiegel 19 (2009), S. 78–82 und den folgenden Artikel aus der Rubrik „Reden wir über Geld“: „Die dritte Generation haut oft das Vermögen auf den Kopf.“ Finanzberater Christian von Bechtholsheim über Unternehmerfamilien, den Umgang des Adels mit Geld und darüber, warum sich Manager früher erschossen. In: Süddeutsche Zeitung, 15.5.2009, S. 26.

26

2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

Maße Finanzgeschichte. Der Leser kann den ökonomischen Abstieg der Kaufmannsfamilie vom Höhepunkt des Erfolges – zu Beginn des Romans weiht man gerade, anno 1835, das neu erworbene Haus ein – bis zur Liquidierung der Firma 1875/76 und zum Wegzug Gerdas im Herbst 1877 mitverfolgen; zu diesem Zeitpunkt ist der lebens- und arbeitsunwillige Hanno gestorben und die Familie nach patrilinearer Erbfolge am Ende.3 Der Roman informiert kontinuierlich über den Stand der ‚Aktie Buddenbrook‘ und man kann den schwankenden, aber doch stetigen Abwärtstrend des Kursverlaufs notieren.4 Besonders aufschlussreich sind hier die präzisen Finanzüberblicke, die jeweils nach dem Tode der Firmenchefs gegeben werden (vgl. I, 79 f. und 255 ff.) und die Einnahmen – Geschäftsgewinne, Erbschaften, Mitgiften – und Ausgaben – Geschäftsverluste, Hauskäufe, Erbanteilsauszahlungen, Entschädigungen – detailliert auflisten. Firmen- und Familienvermögen werden als eine Größe behandelt. So klärt Jean seine Frau Bethsy „[k]urz und gut“ über die „Verhältnisse“ (I, 79) auf und Thomas präsentiert nach dem Tode seines Vaters „einen kleinen Überschlag“ (I, 255). Während das Kapital der Firma zur Zeit von Johann Buddenbrook senior noch einen Umfang von 900.000 Mark Courant umfasste, wohlgemerkt ohne den Grund- und Firmenbesitz, kann sein Sohn Jean nur mehr 750.000 Courantmark hinterlassen. Mit dem Ableben des letzten aktiven Firmenchefs Thomas findet dann auch die exakte Buchführung der Buddenbrooks ihr Ende. Man erfährt, dass Thomas „auf dem Papiere ein Vermögen von sechsmalhundertundfünzigtausend Mark“ (I, 696) hinterlässt, wobei es sich nun um das Bar- und Festvermögen insgesamt handelt. Differenzierte Angaben über Einnahmen und Ausgaben werden nicht mehr gegeben. Diese Summe, die auch in ausgeschriebener Form nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass das Vermögen erheblich reduziert ist, wird jedoch bei der Liquidierung, die vor allem in ungünstigen und unvorteilhaften Verkäufen und Verlusten vonstattengeht, nicht einmal „im entferntesten“ (I, 696) erreicht. Ein genauer Betrag wird nicht mehr genannt; über das „bedenkliche Zusammenschmelzen des Buddenbrook’schen Vermögens“ (I, 697) kann nur spekuliert werden.

3 4

Vgl. dazu die Zeittafel im Buddenbrooks-Handbuch: Moulden, Ken: Die Zeittafel der Familie Buddenbrook. In: Ders. / Wilpert, Gero von (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 31–35. Wer einen genauen Blick auf den finanziellen Werdegang der Getreidefirma Johann Buddenbrook werfen will, kann sich der in der Forschungsliteratur bereits mehrfach erstellten Tabellen und schematischen Übersichten bedienen. Vgl. dazu Eickhölter, Das Geld in Thomas Manns Buddenbrooks, S. 5; Holbeche, Die Firma Buddenbrook, S. 234–244 und Potempa, Über das Vermögen der Buddenbrooks.

2.1 Das Geld der Buddenbrooks

27

Das Geld5 rahmt und besiegelt jedoch nicht nur den gesellschaftlichen Niedergang der Familie Buddenbrook, es stellt vielmehr die Komponente dar, die in alle Ebenen vordringt und alle Lebensbereiche dirigiert. Als gesellschaftlicher Wertmesser ist es die zentrale Größe in der hanseatischen Handelsstadt. Der gesellschaftliche Status einer Person oder Familie errechnet sich allein aus deren finanziellem Potential. Beispielsweise stellt Thomas klar, dass es bei der Bewertung der Familie Hagenström allein darauf ankomme, dass diese sich „geschäftlich“ herausmache, denn „das ist die Hauptsache“. Persönliche Abneigungen hingegen sind „einerlei“ (I, 118) und fallen nicht ins Gewicht. So verkehrt Weinhändler Köppen noch nicht lange in den ersten gesellschaftlichen Kreisen, da er „noch nicht lange reich“ (I, 23) ist. Personen werden häufig mit ihrem finanziellen Hintergrund eingeführt, so dass unmittelbar evident wird, wie sie in der gesellschaftlichen Hierarchie zu verorten sind. Von Madame Kethelsen erfährt man sogleich, dass sie „von ihrem verstorbenen Gatten mittellos im Leben zurückgelassen“ (I, 86) wurde, und Bendix Grünlich wird von Tony als „ein Geschäftsfreund meines Vaters, ein wohlsituierter Kaufmann aus Hamburg“ (I, 144) vorgestellt, bevor sie erwähnt, dass er zudem um ihre Hand angehalten hat. Besonders deutlich zeigt sich die Bedeutung des finanziellen Status als gesellschaftsin- bzw. exkludierender Maßstab bei der Schilderung des Empfangs zum hundertjährigen Firmenjubiläum der Firma Buddenbrook, die sich wie ein Who is Who? der ersten Familien liest (vgl. I, 488 ff.). Dass ihre Welt dem Diktat des Geldes unterworfen ist, bekommen die Protagonisten alltäglich zu spüren. Die ökonomischen Koordinaten der Geldvermehrung und -bewahrung bestimmen ihr Handeln, und sämtliche Beziehungen unterliegen einem ökonomischen Imperativ. Für die Mitglieder der Familie Buddenbrook bedeutet dies konkret, dass das Firmen- und Familienvermögen zu jedem Zeitpunkt im Vordergrund steht und der Einzelne sein Leben in den Dienst von Firma und Familie zu stellen hat. Jeder hat seine Handlungen am Gewinnmaximierungsgebot auszurichten, er unterliegt, wie Ortrud Gutjahr es formuliert, dem „Firmenimperativ der Vermögensoptimierung“6. Vorstellungen von autonomer, selbstbestimm5

6

Die Geldbeträge im Roman werden historisch korrekt in ‚Courantmark‘ angegeben. Sehr häufig ist aber auch nur von ‚Summen‘ die Rede, meist dann, wenn es gilt, die Größe eines Verlustes zu benennen. So erfährt Tony lediglich, dass es sich bei Grünlichs Schulden „um eine große, große Summe“ (I, 220) handelt, und der Firmenverlust des Jahres 1866 wird als „eine große Summe Geldes“ (I, 469) angegeben. Für den Fortgang der Verfallsgeschichte ist eine konkrete Angabe unerheblich, entscheidend ist die Markierung des geschäftlichen Misserfolges als solcher. Gutjahr, Die Wonnen der Bürgerlichkeit, S. 27.

28

2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

ter Glücksfindung wird schnell ein Riegel vorgeschoben, denn, so erklärt es Jean seiner Tochter Tony: Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette […]. (I, 148)

Familienverhältnisse sind primär ‚Geldverhältnisse‘, was sich besonders deutlich an der Heiratspraxis der Buddenbrooks zeigt, geht es hierbei doch vor allem darum, der Firma einen „Kapitalzufluß“ (I, 290) zu erobern. Im Zentrum stehen finanzielle Überlegungen, und Eheschließungen, die für die Familie unvorteilhaft sein könnten, werden kategorisch abgelehnt. Thomas stellt sich den Hochzeitsplänen seines Bruders Christian unter Hinweis auf den finanziellen Verlust, den diese bedeuten würden, entgegen und warnt ihn davor, die Geldströme der Buddenbrooks mit „den Ersparnissen dieser Dame zu vermischen“ (I, 580). Und auch Tony hat bei ihrer Vermählung mit Grünlich primär ihre „Verpflichtungen gegen die Familie und die Firma“ (I, 107) im Kopf. Dass alle familiären Entscheidungen vom ökonomischen Diskurs überlagert werden, äußert sich auch im kaufmännischen Fachjargon, in dem diese Transaktionen verhandelt werden. Die Besprechung eigentlich privater Angelegenheiten zeichnet sich in hohem Maße durch die Verwendung eines wirtschaftlichen Wortschatzes aus. So bedient sich Jean bei der Bewertung seines zukünftigen Schwiegersohnes Grünlich einer „kaufmännische[n] Phrase“ und redet „wieder kaufmännisch“, wenn er äußert, dass man „am Ende nicht fünf Beine auf ein Schaf verlangen“ (I, 113) könne. Die Eheschließung wird als Geschäft betrachtet, das es unter Abwägung des „Risiko[s]“ (I, 113) und in zähen Verhandlungen über die Mitgift zwischen Geschäftsmännern – Vater und Bräutigam – zu schließen gilt. Aus Tonys Perspektive stellen sich ihre wenig erfolgreichen Ehen dem Vokabular nach als missglückte berufliche Karriere dar. Die Heirat mit Grünlich wird als Stellenangebot verhandelt, als „Lebensstellung […], die man [ihr] anbietet“ (I, 104) und als Chance „mitzuarbeiten“ (I, 160) und der Firma „dienstlich zu sein“ (I, 457). Nach der zweiten gescheiterten ehelichen Verbindung gibt Tony ihren Rückzug aus dem Berufsleben bekannt und verabschiedet sich mit dem Hinweis darauf, nun „abgewirtschaftet“ (I, 390) zu haben, quasi in den Ruhestand. Die Protagonisten geben ihren Gesprächspartnern teilweise explizit zu verstehen, dass der familiäre, private Bereich von geschäftlichen Interessen dominiert wird. Jeans Verhalten seinem Halbbruder Gotthold gegenüber ist nicht von geschwisterlichen Gefühlen diktiert, sondern – wie er

2.1 Das Geld der Buddenbrooks

29

selbst feststellt – von seiner Position als „Associé“ (I, 21) und „künftiger alleiniger Inhaber“ (I, 50) der Firma. Nach dem Tod des gemeinsamen Vaters steht er seinem Bruder, was „geschäftliche Dinge betrifft“, ausschließlich als „Chef der ehrwürdigen Firma“ (I, 74) zur Verfügung. Eine ähnliche Haltung zeigt sich bei Thomas, der seiner Familie gegenüber mehr „im Sinne der Firma […] und wenig familiär“ (I, 256) spricht. Besonders prägnant bringt er seine Position auf den Punkt, wenn er in einem Streit über das Geld der Firma seiner Mutter erklärt: Und ich entgegne dir, meine liebe Mutter, […] daß aber meine Eigenschaft als Sohn zu Null wird, sobald ich dir in Sachen der Firma und der Familie als männliches Oberhaupt und an der Stelle meines Vaters gegenüberstehe…! (I, 432)

Der in den Buddenbrooks vorherrschende Geist entspricht ganz dem von Max Weber7 identifizierten Geist des modernen Kapitalismus, der den Gelderwerb zum Daseinszweck schlechthin stilisiert. Im Mittelpunkt steht eine Ethik, die die Gewinnmaximierung zu ihrem essentiellen Wert erklärt und alle Lebensführungsimperative von diesem höheren Ziel ableitet. Als Ideal wird ein streng organisierter und rationalisierter Modus der Lebensführung proklamiert, der mit dem Begriff der innerweltlichen Askese zusammengefasst werden kann. Als zentrale Tugenden gelten hierbei Fleiß, Tüchtigkeit, Arbeitswille und Sparsamkeit; verachtet werden hingegen Faulheit, Untätigkeit und Geldverschwendung. Thomas Buddenbrook kann als Prototyp des Leistungsethikers im Sinne Max Webers betrachtet werden.8 Er entspricht ganz dem von Weber identifizierten modernen, kapitalistischen Berufsmenschen, der sein Leben nach den Werten der protestantischen Leistungsethik führt. Er ordnet seine persönlichen Belange bereitwillig dem Interesse von Firma und Familie unter und richtet seine Lebensführung an den Idealen von Arbeit und Gewinnmaximierung aus. Im Zentrum steht für Thomas der Begriff der Leistung, in der er das Mittel schlechthin sieht, um Erfolg und Reichtum zu erlangen. Durch Anstrengung und persönlichen Einsatz

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8

Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920. Hg. u. eingeleitet v. Klaus Lichtblau u. Johannes Weiß. Weinheim 2000. Vgl. dazu auch das Kapitel „Gesichter der Askese: Max Weber und Thomas Mann“ bei Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, S. 257–298, besonders S. 263; vgl. auch das Kapitel „Literarische und soziologische Rationalisierungskritik: Thomas Mann und Max Weber – Auf den Schultern von Nietzsche“ bei Kiesel, Helmuth: Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der Moderne. Max Weber und Ernst Jünger. Heidelberg 1994, S. 19–27.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

glaubt er geschäftlich voranzukommen. Dieser Haltung verleiht er Tony gegenüber Ausdruck, wenn er feststellt: Ach, wir sollen uns hinsetzen, zum Teufel, und etwas leisten, wie unsere Vorfahren etwas geleistet haben… (I, 266)

Seinen Bruder Christian fordert er wiederholt dazu auf, sich aktiv einzusetzen und es ihm gleichzutun. Paradigmatisch äußert sich das, wenn er ihm in einem Streit zuruft: „Arbeite!“ (I, 578). Als erfolgsorientierter Nachfolger steht Thomas seinem Bruder antagonistisch gegenüber. Christian ist arbeitsunfähig, hypochondrisch veranlagt und vertritt einen Wertkanon ganz anderer Art. Anstatt die Zeit an seinem Schreibtisch im Comptoir zu verbringen, versucht er das Leben zu genießen und hält sich bevorzugt in Herrenklubs und im Theater auf. Sehr zum Zorn seines Bruders spricht er verächtlich von der Arbeit des Kaufmanns und ist zudem bereit, eine nicht standesgemäße Verbindung einzugehen. Mit den beiden Brüdern werden zwei gegensätzliche Umgangsweisen mit dem Gewinnmaximierungsgebot vorgeführt, die in der Auseinandersetzung um die Größe ‚Arbeit‘ kulminierend aufeinandertreffen (vgl. I, 578 ff.). Es gilt somit zunächst festzuhalten, dass sich die Protagonisten in einem Handlungsfeld bewegen, das von Gewinnmaximierung und Geldvermehrung als alleinigen Handlungsimperativen bestimmt wird – und somit also vom Geist des modernen Kapitalismus durchdrungen ist. Dass diese Maxime allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz findet, lässt sich daran ablesen, dass sie mit Begriffen aus den Wortfeldbereichen von ‚Vernunft‘ und ‚Ordnung‘ attribuiert wird. Jegliches Verhalten, das dem Geldbeutel von Firma und Familie zuträglich ist, wird als vernünftig und der Ordnung entsprechend angesehen.9

2.2 Die Wirtschaftsweise der Buddenbrooks10 Der Handlungsrahmen der Buddenbrooks erstreckt sich von 1835 bis 1877 und fällt wirtschaftshistorisch in die Zeit der Industrialisierung, die sich im 19. Jahrhundert in Etappen ihren Weg bahnte. Diese wird von wirtschaftsgeschichtlicher Seite in drei Phasen eingeteilt, in eine Phase der Frühindustrialisierung (Ende 18. Jhd. bis ca. 1840), in eine Phase des take off, die mit dem ersten Eisenbahnboom einsetzt und der Reichsgründung 9 10

Vgl. auch Dierks, Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne, S. 120 ff. Einige Überlegungen aus dem folgenden Absatz finden sich auch in: Kinder, Reflexe der kapitalistischen Moderne.

2.2 Die Wirtschaftsweise der Buddenbrooks

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1871 endet, und die Phase der Hochindustrialisierung, die mit dem Gründerkrach 1873 beginnt.11 Die Handlung der Buddenbrooks ist also hauptsächlich in der take off-Phase und der Hochphase der Industrialisierung in Deutschland zu verorten.12 Die Folgen des wirtschaftlichen Aufschwungs und der damit verbundenen kapitalistischen Dynamisierung fegten, wie schon im Einleitungsteil ausgeführt, durch sämtliche Lebensbereiche und werden auch in den Buddenbrooks wahrgenommen. So finden dort nicht nur zeithistorische Ereignisse wie beispielsweise die Revolution von 1848 ihren Ausdruck, sondern auch wirtschaftshistorisch bedeutsame Faktoren. Johann senior charakterisiert gleich zu Beginn des Romans seine Zeit – man schreibt das Jahr 1835, das Jahr, in dem in Deutschland die erste Eisenbahn fährt – als eine, da „alle Welt […] an nichts als Bergwerke … und Industrie … und Geldverdienen …“ (I, 30) denkt. Zudem wird über den 1834 gegründeten Zollverein und die Vor- und Nachteile eines Beitritts diskutiert. Jean zeigt sich als begeisterter Befürworter (vgl. I, 41) und auch sein Sohn Thomas wird sich später, in seinem morgendlichen Gespräch mit dem Barbier Wenzel, für den Zollverein aussprechen (vgl. I, 361). Im Verlauf dieser Unterhaltung präsentiert sich Thomas fortschrittlich und führt allerlei zeittypische Tendenzen und Neuerungen, teils schon erfolgte, teils erwünschte, an. Neben dem Zollverein finden hier das Postwesen, das Eisenbahnnetz – „direkte Fahrt nach Hamburg müssen wir haben“ (I, 359) – sowie „die telegraphischen Verbindungen mit Berlin und Travemünde“ (I, 360) Erwähnung. Auch das beständige Wachstum der Stadt mit ihren sich ausdehnenden Randbezirken (vgl. I, 360 f.) wird registriert. Denn, so Thomas, „die Zeiten ändern sich, und wir haben eine Menge von Verpflichtungen gegen die neue Zeit.“ (I, 361) Nach erfolgtem Eintritt in den Zollverein – Lübeck, um das es sich bei der fiktionalen Handelsstadt zweifelsohne

11

12

Vgl. Ziegler, Dieter: Das Zeitalter der Industrialisierung (1815–1914). In: North, Michael (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick. 2., völlig überarbeitete u. aktualisierte Auflage. München 2005, S. 197–286, hier S. 197. Wie Jürgen Osterhammel aufzeigt, geht die lehrbuchübliche Darstellung der Industrialisierung „mit Walt W. Rostow davon aus, dass in einer Nationalökonomie nach der anderen ein Abhebepunkt, eine Schwelle des take-off, erreicht worden sei, von der an sich die jeweilige Volkswirtschaft auf einem stabilen, in die Zukunft gerichteten Pfad eines ‚sich selbst tragenden‘ Wachstums bewegt habe.“ (Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 912) Diese Periodisierung scheint für den vorliegenden Kontext ausreichend. Osterhammel selbst richtet den Fokus in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts auf globale, transnationale und -kulturelle Prozesse. Zum historischen Kontext vgl. z.B. Beaton, Kenneth B.: Die Zeitgeschichte und ihre Integrierung im Roman. In: Moulden, Ken / Wilpert, Gero von (Hg.): BuddenbrooksHandbuch. Stuttgart 1988, S. 201–211 und das Kapitel „Eine der ältesten Handelsstädte. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Lübecks“ bei Vogt, Buddenbrooks, S. 52–60.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

handelt13, ist erst spät, 1868, beigetreten – werden dann auch die positiven Konsequenzen festgehalten. Denn „seit dem Eintritt der Stadt in den Zollverband“ sind selbst „kleine Krämergeschäfte imstande […], sich binnen weniger Jahre zu angesehenen Großhandlungen zu entwickeln“ (I, 610 f.). Ähnlich positive Auswirkungen hat auch der Krieg von 1871, dessen „Ausbruch […] den Verkehr in Getreide von Rußland zu großem Aufschwung gebracht habe“ (I, 558). Diese im Roman verstreuten Hinweise bilden die historische Kulisse, vor der sich das Geschehen der Buddenbrooks abspielt. Im Vordergrund steht dabei jedoch nicht, wie schon mehrfach belegt wurde, eine genaue historische Analyse;14 der erzählerische Fokus liegt weniger auf den geschichtlichen Details als vielmehr darauf, wie sich der Erfolg und die Geschäftsweise der Buddenbrooks vor diesem Hintergrund ausnehmen. Die Aufmerksamkeit bleibt stets auf die „Vorgänge im familiären Binnenraum gerichtet“15, wie Jochen Vogt es formuliert. Der Zeitkontext fungiert als eine Art Folie, vor der die Wirtschaftsweise der Buddenbrooks, besonders die von Thomas, dargestellt wird. Der Verfallstendenz entsprechend nimmt sich die Entwicklung der Getreidefirma dabei meist negativ aus. Prägnant zeigt dies die folgende Textpassage, in der die Trends der Zeit dem Buddenbrook’schen Firmenerfolg zuwiderlaufen: […] und jetzt, in einer Zeit, da alles sich frisch und siegesfroh regte, da seit dem Eintritt der Stadt in den Zollverband kleine Krämergeschäfte imstande waren, sich binnen weniger Jahre zu angesehenen Großhandlungen zu entwickeln, jetzt ruhte die Firma ‚Johann Buddenbrook‘, ohne irgendeinen Vorteil aus den Errungenschaften der Zeit zu ziehen, und über den Gang der Geschäfte befragt, antwortete der Chef mit matt abwehrender Handbewegung: „Ach, dabei ist nicht viel Freude …“ (I, 610 f.)

Ein genauer Blick auf das Zitat legt offen, dass ökonomisches Handeln an einer Kategorie gemessen wird, nämlich an der der Bewegung. Während die allgemeine Lage frisch ist und man sich regt, ruht das Buddenbrook’sche Geschäft. Diese Opposition von Bewegung, Dynamik und Aufschwung auf der einen Seite und Stillstand, Stagnation und Niedergang auf der anderen zieht sich durch den gesamten Roman. Geschäftlich und finanziell erfolgreich ist stets ein Geschäftsgebaren, das dynamisch, energisch und schnell erfolgt. Um es in den beschleunigten Zeiten – in „Zeiten des 13

14 15

In Lübeck als geistige Lebensform spricht Thomas Mann selbst davon, dass Lübeck den „unverleugneten Hintergrund“ (XI, 388) des Romans bildet und Buddenbrooks in Lübeck „lokalisiert[…]“ (XI, 393) sind. Zudem entsprechen die Gebäude- und Straßennamen im Roman alle der Stadtgeografie Lübecks. Vgl. Vogt, Buddenbrooks, S. 54, und Beaton, der der Zeitgeschichte eine „gewisse, aber stark untergeordnete Bedeutung“ (Beaton, Die Zeitgeschichte, S. 201) zuschreibt. Vogt, Buddenbrooks, S. 54.

2.2 Die Wirtschaftsweise der Buddenbrooks

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Sturmes und der Bewegung“ (I, 183), wie Makler Gosch es formuliert – zu etwas zu bringen, muss man sich dem neuen Tempo anpassen. Die beschleunigte Zeit verlangt auch beschleunigte Gemüter. Die ideale Wirtschaftsweise, die viel Geld einbringt, ist eine schnelle, flexible und dynamische. Darüber ist sich auch Bendix Grünlich im Klaren, wenn er, bei seiner Einführung in den Familienkreis, sein Geschäft als ein „außerordentlich reges“ beschreibt und „[r]astlose Tätigkeit“16 als seine „Lebensbedingung“ (I, 96) angibt. Deutlich kommt das Geschwindigkeitsideal auch bei Buddenbrooks größten Widersachern zum Tragen, die nicht umsonst den dynamischen und liquiden Namen Hagenström führen. Denn während die Buddenbrook’schen Geschäfte „einen allzu ruhigen Gang gehen“ (I, 176), ist die Firma Strunck & Hagenström mit einer „frappierende[n] Schnelligkeit“ (I, 409) emporgeblüht. Der Konkurrent Hermann Hagenström legt ein frisches Tempo an den Tag und verhilft seiner Firma „frei von hemmenden Fesseln“ (I, 409) zum Erfolg. Er passt sich dem geforderten Rhythmus an, wenn er der Erste ist – „absolut in der ganzen Stadt der erste“! –, „der seine Wohnräume und seine Comptoirs mit Gas beleuchtet“ (I, 410). Nach dem Kauf des Buddenbrook-Hauses, bei dem er seine Konkurrenz „unverzüglich überboten“ hatte, beginnt er – „[k]aum aber stand das Haus […] leer“ (I, 608) – mit den notwendigen Neuerungen, so dass er es schon „im Frühjahr“ (I, 608 f.) beziehen kann. Die neuen Läden, zu denen er das verfallene Rückgebäude hat umbauen lassen, sind natürlich „rasch aufs vorteilhafteste“ (I, 609) vermietet. Und so müssen Buddenbrooks zugestehen: „[W]ir sind überholt worden“ (I, 348), und zwar nicht nur beim Spazierengehen. Dieser Geschwindigkeitslogik entsprechend zeichnen sich erfolglose Geschäftsleute dadurch aus, dass ihnen der rechte Schwung fehlt. So erfährt man im ersten Teil des Romans, dass die „verarmt[e], heruntergekommen[e], davongezogen[e]“ (I, 24) Familie Ratenkamp vor allem deshalb abgewirtschaftet habe, weil der Firmenchef „wie gelähmt“ (I, 24) und „erstarrt“ (I, 25) war. Und Alois Permaneder17 – auch hier lässt der Name Rückschlüsse auf das Temperament seines Trägers zu – erregt bei Tony vor allem deshalb Anstoß, weil er Ruhe und „G’müatlichkeit“ (I, 366) hektischem Treiben vorzieht. Er ist „bequem“ und bevorzugt es, „sich gehenzulassen und so weiterzuwursteln“ (I, 339). Entsprechend mangelt es ihm auch an geschäftlichem Ehrgeiz, und dass er freiwillig Tonys Mit16 17

Radkau zählt das Adjektiv rastlos in seiner Studie zum Zeitalter der Nervosität zu den „Modeadjektiven jener Zeit“ (Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München / Wien 1998, S. 190), also der Zeit um 1900. Vgl. dazu auch Keller, Ernst: Die Figuren und ihre Stellung im „Verfall“. In: Moulden, Ken / Wilpert, Gero von (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 173–200, hier S. 193.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

gift zurückerstattet, kann keiner der Buddenbrooks so recht nachvollziehen (vgl. I, 392 f.). Besonders gut lässt sich die Bedeutung der Geschwindigkeit für den geschäftlichen Erfolg an der Entwicklung der Firma Buddenbrook nachvollziehen. So konnte zur Zeit von Thomas’ Großvater Johann senior ein Geschäftsmann noch mit gemächlichem Tempo erfolgreich sein. Thomas beschreibt diese Generation, die zur Beleuchtung noch Kerzen verwendete, die „langsam, langsam“ (I, 31) brennen, als eine „behäbige und glückliche“, während er gleichzeitig erkennt, dass es nicht „beständig so weiter“ (I, 361) gehen kann und eine neue Dynamik von Nöten ist: „Ja, kurz und gut, wir müssen uns regen!“ (I, 360). Bereit sich den Erfordernissen der Zeit anzupassen, legt Thomas bei der Übernahme der Geschäfte einen Gang zu. Die „allzu ruhige[…]“ (I, 176) und „solide[…]“ (I, 267) Gangart wird zugunsten eines frischeren und unternehmenderen Geistes (vgl. I, 267) aufgegeben. Thomas widmet sich mit Elan der Firma und bringt damit auch zunächst neuen Schwung in die Geschäfte, die dem „Erdgeschoß Leben und Bewegung“ (I, 305) verleihen. Er wird als fixer Kerl (vgl. I, 415) wahrgenommen, der seine Begabung „rasch“ (I, 363) unter Beweis stellt. Seine Tage, die als die „lebhaftesten und tätigsten“ (I, 362) beschrieben werden, sind dabei so ausgefüllt, dass ihm nur Zeit für ein „flüchtiges Frühstück“ (I, 363) bleibt. Dass Eile bei Thomas gewohnheitsmäßig ist, zeigt sich auch auf formaler Ebene. So ist sein Erzählfluss nicht ruhig und einheitlich, sondern vielmehr kurz und hektisch. Seine Sätze enden oft nicht korrekt mit einem Punkt, sondern laufen aus und werden quasi abgebrochen, so dass sein Sprachrhythmus sein Arbeitstempo widerspiegelt. Deutlich zeigt sich das, wenn er seinem Freund Stephan Kistenmaker seine Arbeitshaltung erklärt (vgl. I, 268). Damit steht Thomas in genauem Gegensatz zu seinem Bruder Christian, dessen Arbeitsrhythmus – soweit er denn überhaupt arbeitet – sich durch Gemütlichkeit und Gemächlichkeit auszeichnet. Statt hektischen Stresses bevorzugt er es, „mal eben ein bißchen“ (I, 270) zu arbeiten. Dieser Haltung korrespondiert denn auch seine Sprechweise, wenn er über seinen Arbeitsalltag schwadroniert (vgl. I, 270 f.). Auffallend ist vor allem, dass Christian sich dabei fast durchgängig des Indefinitpronomens man bedient, was seinem Sprachfluss einen monotonen und trägen Charakter verleiht und seine Distanz zu den geschilderten Tätigkeiten verdeutlicht. Auch seine körperliche Disposition – eine „gewisse Steifheit der Glieder“ (I, 442), seine „steifen Gelenke[…]“ (I, 443) sowie andere „Lähmungserscheinungen“ (I, 442) – weisen darauf hin, dass bei ihm nicht alles wie am Schnürchen läuft. Dementsprechend erfolglos ist er letztlich auch in seinen beruflichen Unternehmungen. Mit einem Blick zurück auf die Getreidefirma lässt sich festhalten, dass diese nach der Übernahme der Geschäfte durch Thomas „vortreffli-

2.2 Die Wirtschaftsweise der Buddenbrooks

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che Jahre“ (I, 364) verbuchen kann. Doch in dem Maße, in dem Thomas’ Elan nachlässt, geht es auch mit der Firma bergab.18 Die Verlangsamung des Geschäftsführers geht einher mit einer Reduzierung der Geschäfte. „Verluste“ (I, 467) und das „freudlose Tempo, das der Geschäftsgang angenommen hatte“ (I, 468), spiegeln sich in der zunehmenden Ermüdung und Erschlaffung Thomas Buddenbrooks wider. Er wird nicht mehr als energischer Macher beschrieben, sondern als „ermatteter Mann“ (I, 466), der „still“ (I, 476), „müde und verdrossen“ (I, 610) und „gelähmt“ (I, 611) ist. Dass auch von seinem Kompagnon, Herrn Marcus, hier keine Energiezufuhr zu erwarten ist, ist schon von Anfang an klar, wird dieser doch als das „retardierende Moment im Gang der Geschäfte“ und als eine „Bleikugel am Fuße“ (I, 267) eingeführt. Die Verbindung von Geschwindigkeit und Geldzufluss zeigt sich exemplarisch beim Tode Thomas Buddenbrooks, der das Ende und damit den absoluten Stillstand der Geschäfte bedeutet. Während, und hier wird erneut das allgemeine Tempo ins Verhältnis zum Buddenbrook’schen gesetzt, es in der Stadt „lebendig“ zugeht und ein „reger Verkehr“ (I, 673) herrscht, bewegt sich Thomas bereits „langsam“ (I, 679) durch die Straßen, bis er dann kollabiert und niederstürzt. Interessant ist, dass sein Zusammenbruch durch eine Kraft hervorgerufen wird, die „mit wachsender, fürchterlich wachsender Geschwindigkeit“ (I, 680) in konzentrischen Kreisen über ihn hereinbricht, bis er „gegen den steinharten Mittelpunkt dieser Kreise geschmettert“ (I, 680) zum absoluten Stillstand kommt. Die Geschwindigkeit fordert hier zum letzten Male schonungslos von Thomas ihren Tribut. Bei der Schilderung des Geschäftsalltags wird also mehr auf das Wie als das genaue Was gesetzt. Im Vordergrund steht nicht eine exakte Darstellung von Geschäftsabläufen oder des Comptoiralltags des einzelnen Kaufmanns, sondern vielmehr die jeweilige Geschwindigkeit und der damit korrespondierende finanzielle Erfolg. Über die genauen geschäftlichen Details erfährt man relativ wenig,19 meist nur das Ergebnis, so zum Beispiel wenn die Firma durch einen „Bankerotte in Bremen“ (I, 211) auf einen Schlag achtzigtausend Mark verliert. Einzig das Verlustgeschäft mit der ‚Pöppenrader Ernte‘, die Thomas, entgegen seiner überlieferten Prinzipien, auf dem Halm gekauft hat, wird ein wenig detaillierter beschrieben (vgl. I, 453 ff.). Dass man nicht in allen Einzelheiten über die tatsächlichen 18

19

Auch Michael Zeller weist darauf hin, dass Thomas „der Dynamisierung des Kaufmannsberufs, die seit seinem Geschäftsantritt noch ständig zunimmt, auf Dauer nicht gewachsen ist.“ (Zeller, Michael: Seele und Saldo. Ein texttreuer Gang durch Buddenbrooks. In: Wolff, Rudolf (Hg.): Thomas Manns „Buddenbrooks“ und die Wirkung. 2. Teil. Bonn 1986 (Sammlung Profile 23), S. 9–42, hier S. 22). Thomas Mann selbst gibt in einem Brief an Ida Boy-Ed als „schwache Seite“ seines Kaufmannsromans an, „daß das Kaufmännische darin auf eine fast ärmliche Weise zu kurz kommt.“ (Thomas Mann an Ida Boy-Ed, 28. Juni 1910. In: BwGR, S. 170).

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

Vorgänge informiert wird, stellt auch Peter von Matt fest und verweist darauf, dass den Lesenden nur die Möglichkeit bleibt, zu „glauben“ – was wir, wie er fortfährt, gerne tun, „weil es so hinreißend erzählt ist“20. In der qualitativen Schilderung der kaufmännischen Tätigkeit wird also auf ein zeitgemäßes Tempo gesetzt. Wer in den kapitalistisch dynamisierten Geldströmen mitschwimmen will, so zeigt der Roman, der muss sich anstrengen, um in den Stromschnellen nicht ans trockene Land gespült zu werden. Gefordert sind schnelles und energisches Handeln und Reagieren. Dass es sich bei diesem dynamischen Ideal auch um ein strömendes, fließendes handelt, wird bei einem Blick auf die Strommetaphorik und die Wasser-Semantik des Romans deutlich. Die Zirkulation der einzelnen Protagonisten korrespondiert mit ihrem geschäftlichen Eifer und Erfolg. Tony ist davon überzeugt, dass Alois Permaneder, der sich „mit der Mitgift seiner Frau ganz einfach zur Ruhe setzt“, „statt des Blutes einen dickflüssigen Malz- und Hopfenbrei in den Adern hat“ (I, 377). Und nicht nur die Firmenbilanz, sondern auch Thomas’ „Blutzirkulation“ lassen gegen Ende „ein wenig zu wünschen übrig“ (I, 662). Wenig flüssig ist auch die Situation des Kreditbetrügers Bendix Grünlich, steckt dieser doch in einem „Morast“ (I, 353) fest. Während hier also die Fließdynamik den Geldströmen entspricht, laufen die genannten konkreten Wasserströme den geschäftlichen Erfolgsquoten in der Regel zuwider. So versucht Herr Marcus seinen Mangel an personaler Dynamik damit zu kompensieren, dass er regelmäßig seinen „Kopf unter den Strahl der Wasserleitung“ (I, 268) hält. Die steigende Frequenz dieser Tätigkeit – anfangs noch „fünf- oder sechsmal während der Kontorzeit“ (I, 268), später dann nach „jeder halben Stunde“ (I, 468) – steht quasi in indirekt proportionalem Verhältnis zu den sinkenden Einnahmen der Firma. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wird besonders an einem Motiv – den wiederholten Regenschauern – evident. Alle wichtigen Entscheidungen und Ereignisse, die sich im Gesamtbild negativ auf die Familien- und Firmenbilanz auswirken, werden von heftigen Regengüssen gerahmt und begleitet. Es regnet bei Grünlichs Besuch in Travemünde „in Strömen“ (I, 149), und auch als der Konsul seinem bankrotten Schwiegersohn die Abschiedsvisite macht, wird der Regen erwähnt, der „draußen […] zugenommen“ (I, 222) hat. Ebenso erweist es sich als schlechtes Omen, dass es, kaum hat Tony zum zweiten Male einen Heiratsantrag angenommen – man hat dafür extra einen Ausflug zu einer „Quelle“ (I, 350) unternommen – zu regnen beginnt (vgl. I, 355). Des Weiteren plätschert, prasselt und trommelt der Regen beim 20

Matt, Der Chef in der Krise. S. 237.

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks

37

Tod des Konsuls (vgl. I, 248) wie auch bei dem seiner Frau (vgl. I, 565) und bei deren Beerdigung (vgl. I, 591). Ombrografisch messen ließe sich auch die Sinnlosigkeit von Thomas’ Erholungsaufenthalt in Travemünde, regnet es dort doch ständig (vgl. I, 665, 666, 669). In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, dass Thomas’ Spaziergänge im Buddenbrook’schen Garten, bei denen er, letztlich erfolglos, geschäftliche Dinge und die Lage der Firma reflektiert, stets vom Plätschern des Springbrunnens begleitet werden (vgl. I, 428 f., 472). Geld, Geschwindigkeit und Strommetaphorik stellen, wie die Ausführungen gezeigt haben, kontingente Größen dar, die im Roman in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, wobei letztere als Indikatoren für die erste dienen. Persönliche Geschwindigkeit und allgemeine Wetterlage geben Auskunft über den ökonomischen Erfolg einer Person und den Gang ihrer Geschäfte.

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks Wenn im vorangegangenen Abschnitt davon die Rede war, dass der Leser in die alltäglichen Kaufmannsgeschäfte der Buddenbrooks nur einen relativ beschränkten Einblick erhält und vielmehr dem Erzähler, wie Peter von Matt es in diesem Zusammenhang formuliert hat, glauben und vertrauen muss, so ist damit ein zentrales Thema angesprochen, das im Roman verhandelt wird, nämlich der Kredit.21 Denn so wie wir als Lesende im Bereich der literarischen Fiktionalität mit Problemen des Glaubens und der Glaubwürdigkeit konfrontiert sind, so die Protagonisten des Romans im ökonomischen Bereich.22 Das verdeutlicht die Darstellung der Kredit21 22

Vgl. zu diesem Abschnitt den Aufsatz von Schößler, Glauben, Schreiben, Verdienen sowie das Kapitel zu den Buddenbrooks („Spekulation und die Willkür der Zeichen: Buddenbrooks von Thomas Mann“) in: Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch, S. 103–134. Dass die grundsätzliche Problemkonstellation literaturtheoretisch wie ökonomisch dieselbe ist, ist bereits vielfach aufgezeigt worden. Literatur wie Geldwirtschaft sind in hohem Maße von Akkreditierung abhängig, vom selben „acte de foi et du crédit“, wie Jacques Derrida es in Donner le temps 1: La fausse monnaie formuliert (Derrida, Jacques: Donner le temps 1. La fausse monnaie. Paris 1991, S. 159). Vgl. hierzu auch: Gernalzick, Kredit und Kultur. Zur literaturtheoretisch-narratologischen Kreditproblematik siehe den Aufsatz von Allrath, Gaby / Nünning, Ansgar: (Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Textuelle Signale, lebensweltliche Bezugsrahmen und Kriterien für die Zuschreibung von (Un-)Glaubwürdigkeit in fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen. In: Dernbach, Beatrice / Meyer, Michael (Hg.): Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden 2005, S. 173–193, der einen guten Überblick über die, vor allem in der anglistischen Literaturwissenschaft geführte Diskussion über den (un)reliable narrator bietet. Vgl. ferner auch: Blaschke, Der homo oeconomicus, S. 25 ff.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

und Spekulationsgeschäfte, wird hier doch die zentrale, dem Kredit immanente Grundproblematik offen gelegt, nämlich seine Deckung. Der Kredit ist als Akt des Glaubens eine in sich höchst unsichere und fragile Angelegenheit. Sein großes Dilemma – und damit das jeglicher Beziehung, die auf ihm beruht – ist, wie sein Name schon verrät, dass er von einer Größe abhängt, die stets hintergehbar ist, nämlich dem Glauben – dem Glauben daran, dass man als Gläubiger von seinem Schuldner einen eingeräumten Kredit, möglichst mit Profit, zurückbekommen wird. Dass Kreditgeben immer mit einem Risiko verbunden ist, weiß schon Jean Buddenbrook und steht deshalb Kredit- und Spekulationsgeschäften grundsätzlich kritisch gegenüber. Als Mann der ordentlichen Buchführung handelt er nach dem überlieferten familiären Geschäftsprinzip: „Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können.“ (I, 58). Er warnt seinen Sohn vor der Expansion des Unternehmens mit dem Hinweis auf den „gefährlichen Charakter, welchen die Exportgeschäfte dorthin an sich trugen“ (I, 175), und führt den zitierten Grundsatz an. Dass es aber gerade die risikoreichen Geschäfte sind, die besonders hohe Gewinne einzubringen vermögen, muss er einsehen und so auch der Konkurrenz zugestehen, dass sie „ohne solche Prinzipien scheinbar besser“ (I, 176) fährt. Dass hohes Risiko hohen Gewinn bedeuten kann, erkennt auch Thomas und versucht sich dies, leider erfolglos, zunutze zu machen. Das Geschäft mit der Pöppenrader Ernte, ein Deal, mit dem er sich eigentlich gerade gegenüber der Konkurrenz und sich selbst beweisen will, zeigt die Unsicherheiten, die das Geschäft gegen die althergebrachten „Überlieferungen“ (I, 455) mit sich führt. Das Einräumen des Kredits erweist sich als folgenschwerer Fehler, der teuer bezahlt werden muss. Denn Thomas’ Glaube an eine ertragreiche Ernte erfüllt sich nicht. Dem spekulativen Kauf der Ernte auf dem Halm, also einer fiktiven, zum Kaufzeitpunkt nicht existenten Ernte, folgt nicht der materiell erhoffte Warenwert, da die Ernte durch Hagel zerstört wird. Hier hätte Thomas besser seiner „Vorsicht und ängstliche[n] Gewissenhaftigkeit“ (I, 456) vertraut, als der Hoffnung auf den großen „Coup“ (I, 475). Denn auch wenn Tony „positiv“ weiß, dass das Gut Pöppenrade „mehr als tausend Sack Weizen bringt“ (I, 457), so geht Thomas den Handel doch ohne jede Sicherheit und Rückversicherung ein, und seine Spekulation, also seine hypothetische Annahme und auf reiner Mutmaßung beruhende Erwartung, erfüllt sich nicht.23 23

Jochen Vogt weist darauf hin, dass das Geschäft mit der Pöppenrader Ernte nicht als spezifisch modernes Spekulationsgeschäft zu betrachten ist, sondern vielmehr als Usance, da „das Spekulationsrisiko in diesem Falle nicht in den (gar manipulierbaren) Bewegungsgesetzen des Marktes liegt, sondern ‚nur‘ in der Unberechenbarkeit der Natur.“ (Vogt,

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks

39

Grundsätzlich zählt das Geschäftemachen mit Kredit in Buddenbrooks zu den progressiven, neuen Geschäftsmethoden, die schnellen und großen finanziellen Erfolg bringen (können). Während Jean noch eine vorsichtige, risikovermeidende Haltung gegenüber Spekulations- und Kreditgeschäften an den Tag legt, wagt Thomas bereits „hie und da“ (I, 267) etwas. Nach Übernahme der Firmenleitung „ward der Kredit des Hauses, der unter dem früheren régime eigentlich bloß ein Begriff, eine Theorie, ein Luxus gewesen war, mit Selbstbewußstsein angespannt und ausgenützt“ (I, 267) – doch auch dies eben nur hie und da. Im Großen und Ganzen steht die Familie Buddenbrook für eine vorsichtige Haltung gegenüber den Spekulations- und Kreditgeschäften und damit im Gegensatz zum Firmenstil von Hermann Hagenström, dem Erzrivalen aus Buddenbrook’scher Sicht.24 Denn wenn Buddenbrooks das Für und Wider eines möglichen Risikogeschäfts abwägen, wird regelmäßig der Familie Hagenström gedacht, die gerade in riskanterem Fahrwasser erstaunlich sicher unterwegs ist (vgl. I, 176, 457, 474). So zweifelt Thomas keine Sekunde daran, dass, sollte er das Pöppenrader Angebot ablehnen, Hagenströms sicher sofort zur Stelle wären. Als „großstädtische Figur“ und „imposanter Börsentypus“ (I, 601) ist Hermann Hagenström, im Gegensatz zu Thomas, „frei von den hemmenden Fesseln der Tradition“ und allem „Altmodische[n]“ (I, 409) und kann, ohne Rücksicht auf überlieferte Geschäftsgrundsätze, dem Fortschritt frönen. So wundert es nicht, dass der Erfolg der Firma Strunck & Hagenström in einem „glänzend gehende[n] Exportgeschäft“ (I, 239) besteht, also gerade in dem Geschäftszweig, der Jean Schlafprobleme bereiten würde. Mit den beiden rivalisierenden Familien stehen sich somit zwei Geschäftspraktiken antagonistisch gegenüber. Während Hagenströms sich den Erfordernissen der Zeit anpassen, halten Buddenbrooks an dem veralteten kaufmännischen Handel ohne Kredit fest und verweigern sich, wie Franziska Schößler es formuliert, „der Transformation des spezialisierten Großhändlers zum Kapitalisten“25. Sie verpassen den Anschluss an die moderne, kapitalistische Wirtschaftsweise, indem sie sich dem Trend der Zeit entziehen und den Schritt von der durch Eigenkapital gedeckten Warenwirtschaft zur Kreditwirtschaft nicht vollziehen. Sie verkennen damit die Anforderungen ihrer Zeit, denn:

24 25

Buddenbrooks, S. 71) Dies ändert jedoch nichts an dem symbolischen Wert, den das Geschäft für Thomas hat, und an dem spekulativen Risiko, das es exemplarisch verkörpert. Zu dieser Einschätzung kommt auch Swales, Martin: Buddenbrooks. Family Life as the Mirror of Social Change. Boston 1991 (Twayne’s Masterwork Studies 79), S. 96. Das eindeutig negative Bild der Familie Hagenström wird v.a. durch Äußerungen der Familie Buddenbrook, allen voran Tonys, aufgebaut. Schößler, Glauben, Schreiben, Verdienen, S. 121.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

[d]iese Geschäftsform gerät bei erhöhtem Warenbedarf hoffnungslos ins Hintertreffen. Kreditbanken treten deshalb als Finanzierungsinstitute zwischen den Händler und den Warenproduzenten. Der Crédit mobilier setzt sich in Deutschland seit 1852 durch, in Lübeck wird 1856 die erste Kreditbank eröffnet (ein Jahr nach Thomas Buddenbrooks Geschäftsübernahme).26

Buddenbrooks wagen nicht den Schritt hin zu einer Temporalisierung der Geschäfte. Sie wenden sich nicht von der Deckung und Bindung an etwas Vorhandenes hin zu einer Fiktionalisierung des Wertes und misstrauen einer Einlösung in der Zukunft und dem Wertversprechen, das jedem Kredit eingeschrieben ist. Kredit auf etwas noch nicht Vorhandenes zu geben oder zu nehmen, widerstrebt ihnen. Vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten werttheoretischen Diskussion lässt sich somit feststellen, dass Buddenbrooks an einem objektiven Wertbegriff festhalten. Die Firma Buddenbrook lehnt Kreditgeschäfte jedoch nicht nur als zu riskant ab; die Darstellung von Kredit- und Spekulationsgeschäften ist eindeutig negativ markiert und wird „konsequent diffamiert“27, wie Franziska Schößler herausgearbeitet hat. So blicken Buddenbrooks auf die Erfolge der Familie Hagenström herab und stufen deren Geschäftsmethoden als unlauter ein, was angesichts der drohenden Gefahr, finanziell überholt zu werden, nicht weiter verwundert. Wie Yahya Elsaghe in seinen Untersuchungen aufzeigt, wird der feindliche Blick auf die Familie Hagenström darüber hinaus von einer latent antisemitischen Konnotation begleitet,28 wie auch Kreditgeschäfte und Spekulationen überhaupt als spezifisch jüdische Geschäftsmethode abgelehnt werden.29 So weist auch 26

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Zeller, Seele und Saldo, S. 21. Vgl. dazu auch das Kapitel zu „Kreditwesen und Aktiengesellschaften“ in Kellenbenz, Hermann: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Band II. Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. München 1981, S. 142–144, bes. S. 143. Schößler, Glauben, Schreiben, Verdienen, S. 118. Vgl. hierzu die Studie von Elsaghe, Yahya: Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen. Köln u.a. 2004 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 27), besonders das Kapitel zu Hermann Hagenströms Nase, S. 185–195, und den Aufsatz Elsaghe, Yahya: Die „Judennase“ in Thomas Manns Erzählwerk. In: JEPG 102 (2003), S. 88–104. Vgl. auch das Kapitel ‚Die Hagenström‘ in Elsaghe, Yahya: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ‚Deutsche‘. München 2000, S. 188 ff. Hugh Ridley weist darauf hin, dass bereits die frühe Buddenbrooks-Rezeption auf diese Verbindung aufmerksam gemacht hat: „[T]here was an obvious literary referencepoint in the tradition started by Gustav Freytag’s Soll und Haben (Debit and Credit, 1855) for an account of the contrast between traditional (and therefore German) business practices and the innovative, increasingly speculative, finance capitalism which became dominant in the nineteenth century and which conservative opinion associated with Jews.“ (Ridley, Hugh: The Problematic Bourgeois. Twentieth-Century Criticism on Thomas Mann’s Buddenbrooks and The Magic Mountain. Columbia 1994, S. 21). Auf die „rassenbiologisch zu entziffernde Markierung“ (Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 193) der Differenz der beiden Familien weist auch Elsaghe hin, und verweist auf die ebenfalls „antisemitisch unterlegte Begriffsopposition“ (ebd.) von Werner Sombarts Unterscheidung zwischen Bürger und Bourgeois,

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks

41

Thomas das in höchstem Grade spekulative Geschäft mit der Pöppenrader Ernte zunächst als unsaubere Methode des Geldverdienens, als „unreinliche[…] Manipulation[…]“, von sich; sein moralisches Gewissen verbiete es ihm, wie er Tony gegenüber äußert, auf Kosten eines anderen Menschen einen „Wucherprofit“ (I, 455) einzustreichen. Thomas perpetuiert hier explizit ein antisemitisches Bild, wenn er dies als Praxis von „Juden“ und „Halsabschneider[n]“ (I, 454) ansieht. Mit Blick auf die Größe ‚Kredit‘ fällt in Buddenbrooks vor allem die Episode um den betrügerischen Schwiegersohn Bendix Grünlich ins Auge, die das Vertrauensproblem, mit dem sich jeder wirtschaftende Mensch konfrontiert sieht, anschaulich verhandelt. Die Begebenheit kann als mehrfaches Kredit-Desaster bezeichnet werden, haben hier doch sowohl Buddenbrooks, allen voran der Konsul, als auch Bendix Grünlich Probleme mit der Deckung ihrer Kredite. Der Unsicherheit und Täuschungsanfälligkeit, die jedem Kreditieren eingeschrieben ist, sieht sich auch Jean bei der Suche nach dem geeigneten Ehemann für seine Tochter Tony ausgesetzt. Als vorsichtiger Geschäftsmann versucht er das Risiko einer Fehlinvestition der Mitgift, immerhin „Achtzigtausend“ (I, 162), zu minimieren, indem er sich vor Abschluss des Geschäfts umfangreiche Informationen über seinen Schwiegersohn in spe beschafft. Er kontrolliert dessen Geschäftsbücher – sein Urteil: „zum Einrahmen!“ (I, 113) – und informiert sich bei Geschäftspartnern und Bekannten über Grünlich. Aufgrund des Fehlens konkreter Kenntnisse muss Jean sich auf die Auskünfte, die er erhält, verlassen, um sein Urteil über die Kreditwürdigkeit Grünlichs zu fällen. Er verfährt hier nach dem Prinzip, das John Locke im vierten Buch seines Versuchs über den menschlichen Verstand skizziert,30 indem er aus Ermangelung eines gesicherten Wissens versucht, diese Lücke mit Wahrscheinlichkeiten zu füllen. Sein Urteil beruht auf den von Locke angegebenen Gründen für eine solche Wahrscheinlichkeit: Erstens, die Übereinstimmung irgendeines Dinges mit unserer eigenen Kenntnis, Beobachtung oder Erfahrung. Zweitens, das Zeugnis anderer, die sich auf ihre Beobachtung und Erfahrung berufen. Bei dem Zeugnis anderer sind zu berücksichtigen: 1. die Anzahl, 2. die Redlichkeit, 3. die Befähigung der Zeugen, 4. die Meinung des Verfassers, wo es sich um ein Zeugnis aus einem angeführten Buche handelt, 5. die innere Übereinstimmung der Teile und die einzelnen Umstände der Darstellung, 6. entgegengesetzte Zeugnisse.31

30 31

die Thomas Mann mit der Darstellung von Thomas Buddenbrook und Hermann Hagenström antizipiert habe (vgl. auch Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 190 ff.). Zur Rezeption von Sombart in den Buddenbrooks und die Diskussion der Forschung darüber vgl. Pikulik, Leistungsethik contra Gefühlskultur, bes. S. 27 ff. und Zeller, Bürger oder Bourgeois. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band II: Buch III und IV. 4., durchgesehene Auflage. Hamburg 1981 (Philosophische Bibliothek 76). Ebd., S. 345.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

Wie Jean später bei der Unterredung mit Grünlich und dem Bankier Kesselmeyer erfahren wird, schätzt er die Befähigung und Redlichkeit seiner Zeugnisgeber falsch ein, sind die Auskunftgebenden doch „ganz ungeheuer“ an der Eheschließung interessiert und, wie Kesselmeyer dem geprellten Konsul mitteilt, „ungemein froh, daß sie durch die Heirat sichergestellt wurden“. Und auch Grünlichs „allerliebste, reinliche Bücher“ mögen vor dem kaufmännischen Auge des Konsuls vielleicht bestehen, zu einem verlässlichen Urteil tragen sie jedoch nicht bei, stimmen sie doch mit der „rauhen Wirklichkeit“ (I, 229) nicht überein. Zu mehr als zum Einrahmen sind die höchst artifiziellen Kunstwerke also tatsächlich nicht gut. Grünlich legt dem Konsul jedoch nicht nur gefälschte Geschäftspapiere vor, sein gesamtes Auftreten gleicht einer Inszenierung, wobei ihm primär seine Eloquenz zugutekommt. Seinem Vornamen entsprechend tritt Bendix – zusammengesetzt aus lateinisch bene und dix, dem Präteritumstamm von dicere – als Schönredner auf, der genau weiß, was er sagen muss. Beeindruckt von den falschen Zeugnissen und dem schönen Schein gewährt der Konsul ihm Kredit und fädelt die Hochzeit mit Tony ein. Jean muss erfahren, dass die „sichere[n] Erkundigungen“ (I, 229), die er eingeholt zu haben glaubt, letztlich höchst unsichere sind. Auch wenn er sich bemüht, sein Kreditrisiko anhand von Tatsachen32 abzuschätzen, so handelt es sich bei seinen Informationen letztlich doch immer nur um deduzierte Wahrscheinlichkeiten, von denen er glaubt, dass sie einer ‚Wirklichkeit‘ möglichst nahe kommen. Jean erliegt einer, wie der radikallibertäre Wirtschaftstheoretiker Friedrich August von Hayek es formuliert, „Anmaßung von Wissen“33 und sitzt letztlich einem Kreditbetrüger auf; er muss erkennen, dass er da geglaubt und vertraut hat, wo die Fiktion nicht mit den Fakten übereinstimmte. Dieser Mangel an Deckung kommt ihn teuer zu stehen, hat er doch die Mitgift seiner Tochter fehlinvestiert und verspekuliert. 32

33

Vgl. dazu den Eintrag Thomas Manns in seinem Collegheft zu einer der Haushofer’schen Vorlesungen, in dem unter dem Stichwort „Der Credit“ festgehalten wird: „Man muß von demjenigen, dem man Credit gewährt, überzeugt sein, daß er den guten Willen hat, wieder zu zahlen, dabei kann man sich natürlich auf Psychologie nicht einlassen, sondern muß nach früheren Thatsachen urteilen“ (Mann, Collegheft, S. 132). So der Titel seiner Rede aus Anlass der Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften 1974. Hayek führt aus, dass es im Marktgeschehen nicht möglich sei, bei allem rationalen Kalkül den vollen Durchblick zu haben; kein homo oeconomicus könne alle Faktoren kennen und richtig einschätzen, denn: „bei der Untersuchung komplexer Phänomene wie des Marktes, die von der Handlung vieler Individuen abhängen, [werden] alle die Umstände, die das Resultat des Prozesses bestimmen, […] kaum je voll bekannt oder messbar sein.“ (Hayek, Friedrich August von: Die Anmaßung von Wissen. In: Ders.: Wirtschaftstheorie und Wissen. Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenslehre. Hg. v. Viktor Vanberg. Tübingen 2007 (Gesammelte Schriften in deutscher Sprache 1), S. 87–98, hier S. 88).

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks

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In welchem Maße ein Kredit von Glaubwürdigkeit und Vertrauen abhängt, erfährt auch Grünlich, den das schwindende Vertrauen seiner Gläubiger in seine Zahlungsfähigkeit in den Ruin treibt. Ausgelöst durch den Bankrott einer einzelnen Firma setzt sich eine Misstrauenslawine in Bewegung, die auch Grünlich mitreißt. Nachdem die Firma Buddenbrook bei „diesem Bankerotte in Bremen […] achtzigtausend Mark“ (I, 211) verloren hat – Buddenbrooks hatten auf besagte Firma bezogene Wechsel in Umlauf gebracht, die nicht eingelöst werden konnten – kommen Zweifel an Grünlichs Deckung auf, hängt diese doch „so vollkommen, so eklatant, so ausschließlich“ (I, 224) von der Firma Buddenbrook ab. Solange diese als hochliquide und vertrauenswürdig galt, wurde auch Grünlich „unerschöpflich“ (I, 224) Kredit gewährt. Da nun aber das fragile Gebäude der Buddenbrook’schen Glaubwürdigkeit angekratzt ist – und dazu reicht trotz ausreichend vorhandener „Deckung“ ein nicht einlösbarer Wechsel – herrscht allgemeines „Mißtrauen“ (I, 211) und jeder versucht, seine ausstehenden Zahlungen von der Firma Buddenbrook zu bekommen und „sich sicherzustellen“ (I, 208). Bankier Kesselmeyer fasst diese Kausalkette Grünlich gegenüber in folgenden Worten zusammen: Verläßt sich noch irgend jemand auf die bewußte Firma, mit der Ihr Kredit steht und fällt, mein Lieber? Wieviel hat sie verloren bei dem Bankerott in Bremen? Fünfzigtausend? Siebzigtausend? Hunderttausend? Noch mehr? Daß sie engagiert war, ganz ungeheuer engagiert war, das wissen die Spatzen auf den Dächern … Dergleichen ist Stimmungssache. Gestern war … schön, keinen Namen! Gestern war die bewußte Firma gut und schützte Sie unbewußt vollkommen vor Bedrängnis … Heute ist sie flau, und ‚B. Grünlich‘ ist fläuer-am-fläuesten … das ist doch klar? (I, 207).

Das „totale Zurückziehen alles Vertrauens wie auf Verabredung“ (I, 224) ist die Folge, mit der Grünlich nicht gerechnet hat. Die „Kreditbank tobt“ (I, 208) und Grünlich, nicht mehr gesichert durch Tony, die bisher als etwas höchst „Reelles“ (I, 152) für seine Deckung indirekt verantwortlich war, macht Bankrott. So ist Tonys ‚Börsengang‘ – immerhin wurde ihre Verlobung „noch bevor sie wirklich stattgefunden hatte“ (I, 228) an der Börse ausgerufen und hatte Grünlichs Aktien zweifelsohne stabilisiert – ein Scheitern für alle Beteiligten. Was bleibt, sind ein ruinierter Grünlich, eine um 80.000 Mark geprellte Firma Buddenbrook und eine Tony, die nur mehr in ihr mit dem „Monogramm AG“34 (I, 216) besticktes Batisttüchlein schniefen kann. Die hier wirksame Vertrauenslogik zeigt sich, wenn auch nicht in dieser Ausführlichkeit, auch an anderer Stelle. So kann Christian allein „auf 34

Auf die Übereinstimmung zwischen den Initialen von Antonie Grünlich und der Abkürzung für Aktiengesellschaft weist schon Jochen Hörisch hin. Vgl. Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 328.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

seinen gut klingenden Namen hin“ (I, 391 f.) Schulden machen, solange sein Familienname als Garant für Zahlungsfähigkeit angesehen wird.35 Was passiert, wenn dies nicht mehr der Fall ist, bekommt Thomas zu spüren. Man begegnet ihm, nachdem er eine große Summe verloren hat, nicht mit „Teilnahme“ oder „Mitgefühl“, sondern mit Diskreditierung. Sein „erlittenes Unglück“ ruft bei seiner Umwelt „‚Mißtrauen‘, kaltes, ablehnendes Mißtrauen“ (I, 470) hervor – ein Unglück, das in der harten Geschäftswelt allemal der Anführungszeichen wert ist. Bezeichnend ist in allen Fällen, dass die Frage der Kreditwürdigkeit nicht nach dem tatsächlich vorhandenen ökonomischen Kapital entschieden wird, sondern anhand des Vertrauenskapitals. Und wenn dieses verspielt ist, können auch die Geldreserven das nicht ersetzen:36 Nicht als ob Deckung gefehlt hätte; die Firma hatte gezeigt, was sie vermochte, sofort, ohne Zögern und Verlegenheit vermochte. Dies aber war kein Hindernis dafür gewesen, daß der Konsul all die plötzliche Kälte, die Zurückhaltung, das Mißtrauen auszukosten bekommen hatte, welches ein solcher Unglücksfall, eine solche Schwächung des Betriebskapitals bei Banken, bei ‚Freunden‘, bei Firmen im Auslande hervorzurufen pflegt… (I, 211)

Es bestätigt sich hier das, was der britische Ökonom Walter Bagehot 1873 festgestellt hat: Every banker knows that if he has to prove that he is worthy of credit, however good may be his arguments, in fact his credit is gone: but what we have requires no proof.37

Das Glaubens- und Vertrauensfundament, auf dem die Bonität und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der wirtschaftenden Menschen beruhen, ist also eine höchst störungsanfällige Größe, die nur schwer an eine Realität gekoppelt werden kann. Denn gerade das zeichnet ja den Glauben aus, dass man eben glaubt und vertraut und nicht weiß. Wie die Episode um den Betrüger Grünlich verdeutlicht, basiert das Handeln wirtschaftender 35

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Die Kreditwürdigkeit seines Namens führt auch der Großkaufmann Klöterjahn in der Erzählung Tristan in der Auseinandersetzung mit Detlev Spinell ins Feld, wenn er sich gegen dessen Vorwurf, sein Name sei „ordinär[…]“ (VIII, 254), zur Wehr setzt: „Mein Name ist gut, mein Herr, und zwar durch mein Verdienst. Ob Ihnen jemand auf den Ihren auch nur einen Silbergroschen borgt, diese Frage mögen Sie mit sich selbst erörtern, Sie hergelaufener Bummler!“ (VIII, 258 f.). Vgl. dazu Robert Boschs Aussage aus dem Jahr 1919: „Immer habe ich nach dem Grundsatz gehandelt: ‚ L i e b e r G e l d v e r l i e r e n , a l s V e r t r a u e n . ‘ Die Unantastbarkeit meiner Versprechungen, der Glaube an den Wert meiner Ware und den an mein Wort standen mir stets höher als ein vorübergehender Gewinn.“ (Bosch, Robert: „Lieber Geld verlieren als Vertrauen“. In: Der Bosch-Zünder 2 (1919)). Bagehot, Walter: Lombard Street, a description of the money market. New and revised edition with notes by E. Johnstone. London 1900, S. 71.

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks

45

Menschen, wenn es, wie Kesselmeyer im oben zitierten Ausspruch feststellt, „Stimmungssache“ (I, 207) ist, auf höchst irrationalen Faktoren. Vertrauen, Stimmungen und Erfahrungen prägen das Verhalten der Geschäftsleute und deren ökonomische Entscheidungen.38 Diese Diagnose zielt in den Kern jeder Geldwirtschaft, ist diese doch – um funktionieren zu können – von der höchst irrationalen Größe des Glaubens abhängig. Denn ohne die Akkreditierung des Geldes ist das Funktionieren moderner Ökonomien nicht zu denken. Dass das Geld an sich in hohem Maße von seiner Beglaubigung durch die Benutzer abhängig ist, weiß schon Goethes Mephistopheles, wenn er im ersten Akt des zweiten Teils des Faust den maroden Staat durch die Einführung von Assignaten – vom Kaiser gezeichnetes Papiergeld – wieder in Schwung bringen will.39 Damit dieses Unterfangen von Erfolg gekrönt ist, müssen die ausgegebenen Scheine durch eine gesicherte, tatsächlich aber lediglich zugesicherte Wertsubstanz gedeckt werden. Als „gewisses Pfand“40 verweist Faust auf die Bodenschätze des Landes, die rechtmäßig dem Kaiser gehören – „Das alles liegt im Boden still begraben, / Der Boden ist des Kaisers, der soll’s haben.“41 – und als deren „Ersatz“42 das Papiergeld, beglaubigt durch die Signatur des Kaisers, kursieren kann. 38

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40 41 42

Diese Erkenntnis hat sich auch in der Wirtschaftswissenschaft durchgesetzt. Die Forschungsrichtung der Verhaltensökonomie (behavioral economics) hat bei der Erklärung des Verhaltens des wirtschaftenden Menschen längst erkannt, dass das Modell des homo oeconomicus der neoklassischen Theorie viel zu kurz greift, zeichnet sich der ökonomisch handelnde Mensch, wie empirisch belegt werden kann, doch in hohem Maße durch irrationales Verhalten aus. Vgl. dazu beispielsweise die folgenden Einführungen: Pelzmann, Linda: Wirtschaftspsychologie. Behavioral Economics, Behavioral Finance, Arbeitswelt. Mit einer Einführung v. Jan Tinbergen. 5., aktualisierte u. erweiterte Auflage. Wien / New York 2010 und Wilkinson, Nick: An introduction to behavioral economics. Basingstoke / New York 2008. Vgl. auch Ariely, Dan: Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen. Aus dem Amerikanischen v. Maria Zybak u. Gabriele Gockel. München 2009. Vgl. ferner die Studie von Axel Ockenfels, der altruistische Momente wie Fairness und Reziprozität in ökonomischen Entscheidungsprozessen untersucht (Ockenfels, Axel: Fairneß, Reziprozität und Eigennutz. Ökonomische Theorie und experimentelle Evidenz. Tübingen 1999 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 108)). Vgl. hierzu den Aufsatz von Hamacher, Werner: Faust, Geld. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), S. 131–187, sowie Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust. 2., vollständig überarbeitete Ausgabe. Hamburg 2009. Vgl. zudem Borchmeyer, Dieter: Gold und Geld in Goethes Faust und Wagners Ring des Nibelungen. In: Geld. Sammelband der Vorträge des Studium Generale der RuprechtKarls-Universität Heidelberg im Sommersemester 2001. Heidelberg 2002, S. 49–70. Zur Frage der Wertentstehung des Geldes vgl. auch das Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit. Goethes Werke. Band III. Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchgesehen u. kommentiert v. Erich Trunz. München 1981 (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden), V. 6059. Ebd., V. 4937 f. Ebd., V. 6062.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

Dass die Schätze tatsächlich gar nicht gehoben werden, interessiert im Hinblick auf die Funktionslogik des Geldes nicht, denn: Die Substanz des gesellschaftlichen Verkehrs, die Wertsubstanz, die von den Assignaten dargestellt wird, ist also nicht etwa gesellschaftlicher Reichtum an Bodenschätzen, sondern deren nichtverifizierbare Fiktion, sie ist ein Glaubensakt, Kredit.43

Mephisto tritt also als früher Apologet einer nominalistischen Geldtheorie auf, die im Gegensatz zur einer materialistischen oder metallistischen die Funktionsversprechen des Geldes nicht an einen real vorhandenen (metallischen) Gegenwert knüpft, sondern auf Vertrauen und Konventionalisierung basiert.44 Allein der Glaube daran, dass man den Zettel jederzeit einlösen könnte, dieses „Gefühl der Sicherheit“45, wie Binswanger es nennt, genügt. In den Worten Jacques Derridas nimmt sich dies, gute eineinhalb Jahrhunderte später, so aus: Geld und das Monetäre sind vom Kredit abhängig, den man den Konventionen gibt, den technischen Artefakten, den Gesetzen. Bevor noch Kredite selbst ins Spiel kommen, die treuhänderische Dimension, sind beide (Geld ebenso wie das Monetäre) Phänomene des Kredits und der Konvention, sie gehören nicht zu dem, was man gängigerweise die Natur nennt, sondern zur symbolischen Erfahrung der „öffentlichen Glaubwürdigkeit“ (fides publica), bei der sich sofort die Frage des Vertrauens und des „Treueid“ stellt. Sie erzwingen eine Beschäftigung mit dem Rätsel dieser fremden und vertrauten Erfahrung, die man „Glauben“ nennt: das Unerschöpfliche für die Philosophie.46

Mephisto erkennt das, was Georg Simmel 1901 in seiner Philosophie des Geldes ausführt, nämlich, dass „ohne ein Vertrauen des Publikums“47 kein Geldverkehr möglich ist. Jedes Geld, egal ob Papier-, Metall- oder Kreditgeld, ist per se als ein (Wert-)Versprechen anzusehen, als Versprechen, dass es ausgegeben und eingelöst werden kann. Und dieses Versprechen ist nur dann von Wert, wenn der „Glaube vorhanden“ ist, „daß das Geld, das man jetzt einnimmt, auch zu dem gleichen Wert wieder auszugeben ist.“48 Von Nöten ist also ein Kredit nach zwei Seiten. Der Kredit, verstanden als grundsätzliche, gesamtgesellschaftliche Akkreditierung, bildet also die Basis für das Funktionieren moderner Ökonomien. In seiner Abhängigkeit vom Glauben der Gemeinschaft teilt das 43 44 45 46 47 48

Hamacher, Werner, Faust, S. 140. Vgl. Gernalzick, Kredit und Kultur, S. 155 f. Vgl. dazu allgemein auch Schnaas, Dieter: Kleine Kulturgeschichte des Geldes. München / Paderborn 2010, bes. S. 12 ff. Binswanger, Geld und Magie, S. 28. Derrida, Jacques: Über das ‚Preislose‘ oder The Price is Right in der Transaktion. Berlin 1999, S. 7 f. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 215. Simmel hält an dieser Stelle auch als das „Unentbehrliche und Entscheidende“ fest: „non aes sed fides“ (ebd.). Ebd., S. 215.

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks

47

Wirtschaftssystem mit der Religion gerade deren fundamentalen Wesenskern – ist beiden Systemen doch gemeinsam, dass sie keine letzte, nachweisbare Sicherheit geben können. So wie man an Gott eben nur glauben kann, so auch an das Funktionieren von Geld. Deutlich wird die Verwendung derselben Vertrauenssemantik in Geldwirtschaft und Religion bei einem Blick auf die amerikanische Dollarnote, ist diese doch mit dem Hinweis in god we trust versehen, und ermahnt den Nutzer, dem Geld den gleichen Vertrauensvorschuss wie Gott zu gewähren: Denn, so der implizierte Appell, wenn es in einem Bereich funktioniert, warum dann nicht auch in einem anderen? Mit der modernen Geldwirtschaft geht ein säkularisierter Kredit-Glaube einher, der die religiöse Glaubens-Logik kopiert.49 Die Glaubensmatrix, die nun die zwischenmenschlichen Beziehungen dominiert, ist die der Geldwirtschaft. Der transzendente Bezugspunkt hat sich in einen immanenten gewandelt, seine fundamentale Glaubenslogik bleibt jedoch bestehen. So beginnt auch Émile Zolas 1891 erschienener Roman Das Geld mit den symptomatischen Worten: „An der Börse hatte es gerade elf Uhr geschlagen, als […]“50, und macht damit sofort klar, welchem Kreditsystem die Protagonisten des Romans verpflichtet sind. Die Börse bestimmt nun den Rhythmus der Menschen, nicht mehr die Kirche. Jochen Hörisch vertritt in seiner als Trilogie angelegten Untersuchung zu den ontosemiologischen Leitmedien des sogenannten christlich-abendländischen Kulturkreises – also den Medien, die es vermögen, das menschliche Dasein an einen ‚Sinn‘ zu binden51 – die Ansicht, dass Geld als Leitmedium die Größe Religion abgelöst hat: 49

50 51

Vgl. dazu auch Urs Stäheli, der festhält, dass die „Fiktionalisierung der Ökonomie“, die Ökonomie „in die Nähe der Religion [rückt], da es Glaube und Vertrauen in das Unsichtbare sind, welche zum Prinzip des fortgeschrittensten Teils der Ökonomie werden.“ (Stäheli, Urs: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie. Frankfurt am Main 2007, hier S. 110). Auch Klaus Mann greift in Der Wendepunkt bei der Beschreibung des „Jux der Inflation“ die Parallelen zwischen religiösem und ökonomischem Glaubenssystem auf, wenn er festhält: „Statt dessen erlebten wir nun die totale Entwertung des einzigen Wertes, an den eine entgötterte Epoche wahrhaft geglaubt hatte, des Geldes.“ (Mann, Klaus: Der Wendepunkt, S. 131). Zola, Émile: Das Geld. Ins Deutsche übertragen v. Wolfgang Günther nach der v. Maurice Le Blond besorgten Gesamtausgabe. München 1977, S. 5. Hörisch identifiziert drei ontosemiologische Leitmedien, „die unsere sog. christlich-abendländische Kultur mit einem intersubjektiv verbindlichen Geltungsrahmen und einer Tiefenstruktur versahen“ (Hörisch, Jochen: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien. Frankfurt am Main 1999, S. 15), nämlich Eucharistie (Hörisch, Jochen: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt am Main 1992), Geld (Hörisch, Kopf oder Zahl) und neue Medien (Hörisch, Das Ende der Vorstellung). Geld ist dabei das „ontosemiologische Leitmedium von Neuzeit und Moderne“, das es vermag, eine funktionale Korrespondenz zwischen Sein und Sinn herzustellen (Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 214).

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

Geld avanciert im 19. Jahrhundert endgültig zum god term der Moderne und zum primären Medium der sozialen Synthesis (in kleinen und größten Kontexten: personale, institutionelle und interkulturelle Kontakte und Kontaktzwänge sind seitdem samt und sonders geldvermittelt). Die Bindungs- und Beziehungskraft des Geldes ersetzt fortan funktional die der Religion. Aus schuldigen Gläubigen werden Gläubiger und Schuldner.52

Auf die Übertragung religiöser Grundmuster auf den Bereich der Ökonomie hat schon Heinrich Heine hingewiesen:53 Der Kaufmann hat in der ganzen Welt dieselbe Religion. Sein Komptoir ist seine Kirche, sein Schreibtisch ist sein Betstuhl, sein Memorial ist seine Bibel, sein Waarenlager ist sein Allerheiligstes, die Börsenglocke ist seine Betglocke, sein Gold ist sein Gott, der Credit ist sein Glauben.54

Wir haben es also mit einem Säkularisierungsprozess zu tun, der vormals religiöse Funktionen auf den Bereich der Geldwirtschaft überträgt.55 Ursprünglich religiös gefüllte Leerstellen werden geldwirtschaftlich neu besetzt. Eine Verknüpfung des Wirtschaftlichen mit Glaubensfragen ist auch bei Jean und Thomas Buddenbrook zu beobachten, unterlegen sie doch beide ihr ökonomisches Handeln mit einer Glaubens- und Vertrauenssemantik. Während Jean diese noch religiös ausrichtet, setzt Thomas auf den Glauben an sich selbst. Bei Jean gehen Religiosität und Geldverdienen eine Symbiose ein. Er stellt sein geschäftliches Handeln auf ein religiöses Fundament und betrachtet den Gang seiner Geschäfte als Ausdruck von „Gottes Wille[n]“ (I, 229); Erfolg und Nichterfolg hängen von Gottes Vorsehung und „gnädiger Hilfe“ (I, 50) ab. Getreu dem Leitspruch „Dominus providebit“ (I, 44), der das Eingangsportal des Hauses der Familie Buddenbrook ziert, verlässt er sich ganz auf die Vorsehung des Herrn: [I]ch meinesteils verlasse mich in der Hauptsache darauf, daß der Herr mir meine Arbeitskraft erhalten wird, damit ich mit seiner gnädigen Hilfe das Vermögen der Firma auf die ehemalige Höhe zurückführen kann… (I, 81)

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Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 99 f. Vgl. dazu auch Blaschke, Der homo oeconomicus, S. 25. So Heinrich Heine 1822 in seinem zweiten Brief aus Berlin: Heine, Heinrich: Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder I/II (Prosa). Bearbeitet v. Jost Hermand. Hamburg 1973 (DHA VI), S. 30. In diesen Kontext ist auch der Ausspruch Le Chiffres einzuordnen, des ‚Bösewichts‘ und passionierten Glückspielers in der James Bond-Verfilmung Casino Royal, der auf die Frage „Glauben Sie an Gott, Mr. Le Chiffre?“ antwortet: „Nein, ich glaube vielmehr an eine vernünftige Verzinsung.“ (Campbell, Martin: Casino Royal. DVD. Sony Pictures Home Entertainment 2007).

2.3 Der Glaube der Buddenbrooks

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Er vertraut in wirtschaftlichen Fragen auf seinen himmlischen Kredit, dessen Sicherheit sein Vater in einem kurzen abendlichen Dialog anzweifelt: „Noch nicht müde? Ich gehe hier und horche auf den Wind … verflixtes Wetter! Kapitän Kloot ist von Riga unterwegs…“ „O Vater, mit Gottes Hilfe wird alles gut gehen!“ „Kann ich mich darauf verlassen? Zugegeben, daß du mit dem Herrgott auf du und du stehst…“ (I, 45)

In diesen Zusammenhang lässt sich auch Jeans Familienbuchführung einordnen, dient ihm diese doch vor allem zur Quittierung seines göttlichen Kreditrahmens. Die von ihm notierten „Daten und Betrachtungen“ fungieren als konkrete Beweise dafür, „wie immer und in aller Gefahr Gottes Hand ihn sichtbar gesegnet“ (I, 54) habe. In den Notizen finden, wie Elsaghe es ausdrückt, „die religiöse und die profane Sphäre zu einer Symbiose zusammen.“56 Entsprechend dem Motto „Arbeite, bete und spare!“ (I, 176) gehen Frömmigkeit und kapitalistische Geschäftspraxis Hand in Hand. Jean kann damit als bestätigende Vorwegnahme von Max Webers These der Genese des modernen kapitalistischen Geistes aus einem spezifisch protestantischen Leistungsethos gelesen werden.57 Es gilt jedoch einschränkend festzuhalten, dass Jean zwar die einschlägige Kombination von Geld und Glauben verkörpert, aber nicht der calvinistischen Prädestinationslogik folgt, die Weber als bezeichnend ausmacht. Es geht ihm nicht darum, den eigenen Gnadenstand zu protokollieren und Gottes Ruhm auf Erden finanziell Ausdruck zu verleihen und diesen zu vermehren, sondern darum, sich Gottes Vorsehung zu vergewissern.58 Im Gegensatz zu seinem Vater vertritt Thomas ein säkularisiertes Arbeitsethos.59 Er vertraut nicht auf Gott, sondern baut auf seine eigene 56 57 58 59

Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 152. Vgl. Weber, Die protestantische Ethik, z.B. S. 152 ff. Vgl. dazu die Arbeiten von Rohls, Thomas Mann und der Protestantismus, S. 354 und Schwöbel, Buddenbrooks, S. 256, die damit der Einschätzung von Andreas Urs Sommer (Sommer, Der Bankrott ‚protestantischer Ethik‘, S. 93) widersprechen. In der Forschungsliteratur wird diese Einschätzung einheitlich vertreten. So spricht Christoph Schwöbel von Thomas’ „säkulare[m] Zutrauen in den eigenen Erfolg, der erarbeitet sein will“ (Schwöbel, Buddenbrooks, S. 268) und Edith Weiller von einer „Säkularisierung ökonomischen Handelns“ (Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, S. 262). Vgl. auch Vogt, Buddenbrooks, S. 64; Sagave, Bürgerliches Klassenbewußtsein und kapitalistische Praxis, S. 444 und Lepenies, Motive Max Webers im Werk von Thomas Mann, S. 374. Thomas Mann selbst hat in einem Brief an Pierre-Paul Sagave auf die „ethisch säkularisierte Form“ von Thomas’ Arbeitshaltung hingewiesen. Der Brief vom 23.2.1937 ist bisher unveröffentlicht und befindet sich im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich (vgl. Bürgin, Hans / Mayer, Hans-Otto: Register und Regesten. Band II. Die Briefe von 1934 bis 1943. Frankfurt am Main 1980, S. 152). Zitiert wird hier nach Wolf Lepenies, der einen Auszug des Briefes abgedruckt hat (Lepenies, Motive Max Webers im Werk von Thomas Mann, S. 374).

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

Leistung. Die Verantwortung für den Erfolg der Geschäfte sieht er bei sich, es liegt an ihm, „das Glück auf die Knie zu zwingen“ (I, 257). Im „täglichen Kampf um den Erfolg“ gilt es, „seine Person einzusetzen“ (I, 268), und entsprechend verbucht er gute Geschäfte auch als Ergebnis der eigenen Arbeit. Sein eigener, nicht mehr Gottes Wille zählt. So empfindet er eine „Erschütterung des eigenen Glaubens an sein Glück, seine Macht, seine Zukunft“ (I, 435) als seine Mutter den „Erbschleicher“ (I, 434) Sievert Tiburtius auszahlt. Mit der Übernahme der Geschäfte durch Thomas übernimmt eine Generation das Ruder, die ihr ökonomisches Handeln nicht mehr an eine religiöse Instanz koppelt. Wirtschaftlicher Erfolg ist eine immanente Größe, die keiner religiösen Rückbindung und Rechtfertigung mehr bedarf.60 Der Glaube an Gott und dessen Vorsehung hat sich in den Glauben an die eigene Stärke profaniert. „Glück und Erfolg“ sind, so Thomas, „in uns“ (I, 430). Die innere Disposition des Einzelnen steht nun in einem Bedingungsverhältnis zum geschäftlichen Erfolg, wie Thomas in einer Art profaniertem Glaubensbekenntnis konstatiert: „Falsch, Tony“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Meine Stimmung ist nicht unter Null, weil ich Mißerfolg habe. Umgekehrt. Das ist mein Glaube, und darum trifft es auch zu.“ (I, 429)

Wirtschaftlicher Erfolg hängt, so erklärt Thomas seiner Schwester, vom Glauben an sich selbst, vom eigenen Selbstvertrauen ab. Ist dieser Kredit erschöpft, stellen sich auch ökonomische Misserfolge ein. Sowohl bei Thomas wie auch bei seinem Vater laufen Glaubens- und Kreditprobleme im ökonomischen wie im psychischen bzw. religiösen Leben parallel. Glauben und Vertrauen sind ökonomisch unabdingbar und bilden die Grundlage des Handelns der Protagonisten. Als konsequente Fortführung lässt sich dann auch Hannos Credo lesen, das er seinem Vater gegenüber formuliert, als dieser ihn wegen seines eigenmächtigen Eintrags des „schönen, sauberen Doppelstrich[s]“ in die Familienpapiere zur Rede stellt. Hanno quittiert hier seine Unfähigkeit und seinen Unwillen, das sinnlose und sinnentleerte Lebenskonzept seine Vaters fortzuführen, und sein Glaubensbekenntnis mutet geradezu nihilistisch an: „Ich glaubte… ich glaubte… es käme nichts mehr…“ (I, 523).

60

Vgl. hierzu auch Dierks, Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne, S. 118.

2.4 Die Psyche der Buddenbrooks

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2.4 Die Psyche der Buddenbrooks Mit dem Wegfall des Glaubens an Gottes Vorsehung, auf die Jean Buddenbrook noch seine Geschäfte gründete, wird das moderne Individuum auf sich selbst zurückgeworfen. In der nun gottverlassenen Welt ist das transzendental obdachlose Subjekt ganz auf sich gestellt und muss alle Leistungsmotivation aus sich selbst schöpfen. Um in der beschleunigten kapitalistischen Moderne nicht unterzugehen, bedarf es eines Höchstmaßes an Eigenmotivation, für die jeder selbst verantwortlich ist. Die diagnostizierte Allianz aus Vermögensoptimierung und Leistungsethos stellt die Protagonisten vor Herausforderungen, auf die sie unterschiedlich reagieren. So entzieht sich Christian dem Leistungsdruck durch Flucht in seine hypochondrischen Zustände, während Thomas als Erfüllungsgehilfe sein Bestes gibt. Gemeinsam ist den Brüdern, dass sie beide letztlich scheitern. Christian endet in der Psychiatrie und Thomas stirbt an Erschöpfung. In der Figur des Thomas wird das von ihm selbst so vehement vertretene kapitalistische Leistungsethos seiner Unsinnigkeit und Menschenfeindlichkeit überführt. Denn das, was Thomas in jungen Jahren noch so leicht von der Hand geht, erweist sich zunehmend als ungesunder und erschöpfender Modus der Lebensführung. Die Ausrichtung allen Handelns am Familienimperativ der Vermögensoptimierung ist für ihn mit einem enormen Kraftaufwand verbunden, der ihn letztlich zu Grunde richtet. Sein Leben entwickelt sich zu „einer einzigen Produktion“ (I, 614), die ihn all seiner Vitalkräfte beraubt. Thomas’ Leben verkommt „zu einer anstrengenden und aufreibenden Schauspielerei“, die lediglich „Müdigkeit und Überdruß“ (I, 615) hervorbringt. Am Ende seiner Kräfte muss er sich eingestehen, dass sein Leben, ausgerichtet am Leistungsprinzip der Gewinnmaximierung, letztlich jedes höheren Sinnes entbehrt. „[A]ufgerieben und hoffnungslos“ (I, 619) muss er eine „Verarmung und Verödung seines Inneren“ (I, 614), einen Mangel an „Freude und Befriedigung“ (I, 612) erkennen. Thomas verkommt letztlich zum zweifelhaften und verzweifelten Helden einer Gesellschaft, deren einziger Wert im Geld besteht. Er findet, wie Fritz Breithaupt diagnostiziert, „keinen Rückhalt seiner Identität außerhalb des Ökonomischen wie noch seine heiteren oder religiösen Vorfahren.“61 Die aufgegebene göttliche Rückversicherungsinstanz findet 61

Breithaupt, Fritz: Der Ich-Effekt des Geldes. Zur Geschichte einer Legitimationsfigur. Frankfurt am Main 2008, S. 185. Breithaupt führt den horror vacui der Ich-Losigkeit, der hinter Thomas’ Maske lauert, auf die alles in Tausch und Unfixierbarkeit versetzende Macht des Geldes zurück.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

keinen vergleichbaren säkularen Nachfolger, der das ökonomische Handeln des Einzelnen mit einem höheren Sinn unterfüttern könnte. Die Übernahme der funktionalen Erfüllungskraft des Glaubens an Gott durch den Glauben an das Geld schlägt, zumindest bei Buddenbrooks, fehl. So liest auch Manfred Dierks Christians wiederholte Appelle an Gott als […] eine leere Erinnerung an Zeiten, als auch irdische Ausweglosigkeit noch durch göttliche Vorsehung abgedeckt wurde. Jetzt, zu Christians Zeit, aber ist sie säkularisiert und tritt als ein Wert des Wirtschaftsliberalismus auf: Übernimm selbst die Verantwortung für dich, indem du arbeitest.62

Mit Buddenbrooks wird das kapitalistische Leistungsethos, das den Handlungsrahmen der Protagonisten definiert, einer kritischen Revision unterzogen.63 Im Mittelpunkt stehen dabei die Protagonisten als „Invaliden der aufgerüsteten Moderne“64, die sich im Strudel von Arbeit und wirtschaftsliberaler Selbstbestimmung verlieren. Der Mensch, so die Botschaft, bleibt angesichts der Anforderungen der kapitalistischen Moderne auf der Strecke. Stellt man mit Dierks an den Roman die Frage, „wie es dem westlichen Selbst in der Zeit der Moderne ergeht und warum“65, so fällt die Antwort recht negativ aus: Es ergeht ihm schlecht, es leidet an Überforderung und findet keine Erfüllung. Im Zentrum der Betrachtungen befinden sich also der Mensch und dessen Reaktion auf die beschleunigten Rahmenbedingungen, auf die Schnelllebigkeit der Zeit und deren Herausforderungen. Der Fokus der Kapitalismus- und Geldkritik ist ein psychologischer, stehen doch die Auswirkungen auf den Menschen im Vordergrund. Thomas und Christian reagieren dabei nicht untypisch auf die Anforderungen der kapitalistischen Moderne, sondern weisen die charakteristischen Symptome einer Krankheit auf, die mit den beschleunigten Lebensbedingungen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in hohem Maße

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Dierks, Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne, S. 114. Vgl. hierzu auch Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, S. 265 ff. Dierks, Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne, S. 124. Ebd., S. 112; Dierks geht es in seiner Untersuchung v.a. um bestimmte Konstitutionsmuster der kapitalistischen Moderne, die, so die These, unerschütterlich immer wieder ihre Wirkung auf den Menschen entfalten. Im Zentrum steht dabei die ‚Arbeit‘ als Rahmenbedingung des modernen Selbst. Während die Buddenbrooks noch mit den Auswirkungen einer ersten Beschleunigungswelle kämpfen, haben die Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts mit einem erneuten Modernisierungsschub zu ringen, der sich in den Bereichen von „Arbeit und Selbstverantwortung“ (ebd., S. 116) aber vergleichbar bemerkbar mache. Während jene die Folgen der Industrialisierung zu spüren bekommen, sehen wir uns heute mit den Auswirkungen der Globalisierung konfrontiert (ebd., S. 111 f.). Vgl. dazu auch Dierks, Manfred: Arbeite! – Wenn ich aber nicht kann? Thomas Manns Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1 (2008), S. 105–111.

2.4 Die Psyche der Buddenbrooks

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in Erscheinung trat, nämlich der Neurasthenie.66 Dass Thomas und Christian mit ihren Leiden – von den rheumatischen Beschwerden, über das Zahnleiden bis hin zur Arbeitsunfähigkeit – „Neurastheniker-Karrieren“67 par excellence machen, hat in den letzten Jahren vor allem Manfred Dierks in zahlreichen Aufsätzen nachgewiesen.68 Was für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang nun von Bedeutung ist, ist weniger die medizinische Diagnose per se als die Frage nach deren Ursachen. Denn wie der Roman zeigt, sind diese in der beschleunigten kapitalistischen Modernisierung zu suchen. Als „Antwort auf moderne Überforderungsprobleme“69 ist die Neurasthenie gerade als Reaktion auf die sich verändernden Rahmenbedingungen zu verstehen. Wie Michael Cowan in seiner 2009 erschienenen Untersuchung zu Nervousness and German Modernity am Romantext belegt, stehen die nervösen Zustände von Thomas und Christian in Zusammenhang mit der Unsicherheit moderner Geschäftsmethoden: „From the start, their nervousness bears a direct relation to the insecurity connected with modern enterprise.“70 Cowan stützt sich in seiner Untersuchung vor allem auf die 1902 erschienenen Studien von Karl Lamprecht (Zur jüngsten deutschen Vergangenheit) und Willy Hellpach (Nervosität und Kultur), die beide eine Verbindung von Nervosität, moderner ökonomischer Unsicherheit und impressionistischer Kunst ziehen, die, wie Cowan nachzeichnet, auch für Buddenbrooks ihre Gültigkeit hat.71 Der Fokus der Buddenbrooks liegt auf den ökonomischen Determinanten, die exemplarisch für die Neuerungen einer kapitalistischen und zivilisatorischen Modernisierung und deren nervenreizenden Folgen stehen. Dass ein Zusammenhang zwischen menschlichem Nervenleiden und kapitalistischer Modernisierung besteht, kann auch ein Blick in die Literatur zur und über die Neurasthenie-Forschung bestätigen, die deren Aufkommen „als Resultat der 66

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Vgl. dazu allgemein Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, der dem Zusammenhang von Moderne und Nerven(leiden) ausführlich nachspürt. Vgl. auch: Ders.: Neugier der Nerven. Thomas Mann als Interpret des „nervösen Zeitalters“. In: Thomas Mann Jahrbuch 9 (1996), S. 29–53. Dierks, Manfred: Buddenbrooks als europäischer Nervenroman. In: Thomas Mann Jahrbuch 15 (2002), S. 135–151, hier S. 143. Vgl.: Dierks, Manfred: Zu kurze Nerven. „Buddenbrooks“ als Neurasthenie-Roman. In: Neue Rundschau 112 (2001), Heft 3, S. 62–71; Ders.: „Das sind die Nerven“. Die Krankheit der Buddenbrooks. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg 2006 (Theater und Universität im Gespräch 4), S. 47–57. Dierks, Das sind die Nerven, S. 51. Cowan, Michael: Cult of the will. Nervousness and German Modernity. University Park, PA 2008, S. 41. Vgl. hierzu das Kapitel „Capitalism and Abulia“ bei Cowan, Cult of the will, S. 21–64.

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2 Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Über Geld und Glauben

Lebensbedingungen in einer technischen Welt, die durch die überbordende Fülle neuer Verkehrs-, Kommunikations- und Beleuchtungsrevolutionen immer mehr Isolation, Verwirrung und Verdunkelung in die überlasteten Hirne der sich doch gleich gebliebenen Menschen zu bringen drohte“72, liest. Exemplarisch sei hier auf die Rede Über die wachsende Nervosität unserer Zeit des Heidelberger Internisten Wilhelm Erb aus dem Jahre 1893 verwiesen, in der dieser die Gründe dafür, „dass die Nervosität gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausserordentlich zugenommen hat und dem vielberufenen fin de siècle ein eigenartiges Gepräge verleiht“73, klar benennt. Diese lassen sich, so Erb, „aus den modernen Lebensverhältnissen unschwer“74 erklären, ja liegen „in unseren Zeitverhältnissen, in den modernen Lebensgewohnheiten, in den Fortschritten und der Verfeinerung unserer Cultur, in den neuen Gestaltungen des modernen Daseins und Verkehrs“75. Neurasthenische Leiden sind, wie Wolfgang Eckart die Erb’sche Ursachenforschung treffend zusammenfasst, die „menschliche Reaktion auf die technische, politische und kulturelle Schnellebigkeit der Zeit“76. Und in der Tat bilden die Faktoren, die Erb anführt, eine treffende Auswahl an Indikatoren einer beschleunigten Moderne: „Ausserordentliche Errungenschaften der Neuzeit, die Entdeckungen und Erfindungen auf allen Gebieten“, „das rapide Anwachsen der Großstädte“, „Hast und Unruhe in den Bewegungen und bei der Arbeit“, das (hier zunächst bei den „modernen Amerikanern“ diagnostizierte) „rastlose und aufreibende Erwerbsleben, das ohne alle Ruhepausen nur der Jagd nach Gewinn und Genuss gewidmet ist“. Und so sei gerade in „Kreisen der Handelswelt, der Börsianer und Speculanten“ – also durchaus in Buddenbrook’scher Sphäre – „durch die rapid gesteigerten Verkehrsverhältnisse, durch die Jagd nach Reichthum und Gewinn, durch die rasch wechselnden Conjuncturen, durch die Aufregungen des Börsenspiels, durch ermüdende Reisen und dergleichen die überaus weite Verbreitung der Neurasthenie nur allzu begreiflich“77.

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So Eckart, Wolfgang U.: Nervös in den Untergang. Zu einem medizinisch-kulturellen Diskurs um 1900. In: ZIG 1 (2009), S. 64–79, hier S. 65. Erb, Wilhelm: Über die wachsende Nervosität unserer Zeit. Heidelberg 1893, S. 17. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Kühlmann, Wilhelm: „Nervosität“ als Epochensyndrom: Zur Pathographie und Therapie der ‚Moderne‘ in einer Heidelberger Rede (1893) des Neurologen Wilhelm Erb. In: Dutt, Carsten / Luckscheiter, Roman (Hg.): Figurationen der literarischen Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2007, S. 191–201. Ebd., S. 8. Ebd., S. 17. Eckart, Nervös in den Untergang, S. 69. Erb, Über die wachsende Nervosität unserer Zeit, S. 27 f.

2.4 Die Psyche der Buddenbrooks

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Mit dieser Ursachenanalyse ist der Mediziner Erb hier hellsichtiger als so mancher Buddenbrooks-Interpret, der die Frage nach der Wirkung von der nach der Ursache nicht klar trennt. So sieht beispielsweise Jürgen Kuczynski den Zusammenbruch von Thomas Buddenbrook rein „psychologisch! Und damit ganz unkapitalistisch“78 motiviert. Für ihn „völlig unbegreiflicherweise, gesellschaftlich ganz unbegründet, nur medizinisch zu erklären, bricht die Familie psychisch zusammen.“79 Dass der Roman die Ursachen für diesen medizinisch indizierten psychischen und physischen Zusammenbruch recht genau benennt, und dass diese in hohem Maße mit der beschleunigten kapitalistischen Moderne zusammenhängen, scheint ihm zu entgehen. Zusammenfassend lässt sich in Buddenbrooks eine Engführung von ökonomischen und psychischen Prozessen feststellen. Die monetären Kreditkonstellationen, die verhandelt werden, laufen parallel zu den psychischen Glaubensdispositionen der Protagonisten. Kreditgeben und Vertrauen werden als für die Wirtschaft wie für das menschliche Leben überhaupt unabdingbare und gleichzeitig höchst unsichere, instabile und störungsanfällige Größen vorgeführt. Die Darstellung von ökonomischen Vorgängen ist eng an die Protagonisten und deren Seelenleben geknüpft. Im Mittelpunkt steht weniger ein Interesse an ökonomischer Präzision denn an den psychischen Implikationen der als kapitalistische Moderne identifizierten Lebenswelt. Thomas Manns Interesse, wie er selbst rückblickend in den Betrachtungen eines Unpolitischen festhält, war „kein politisches, sondern ein biologisches, psychologisches“ (XII, 140); dem „SeelischMenschliche[n]“ (XII, 140) galt seine Aufmerksamkeit. Mit dem Fokus auf den Folgen der Modernisierungstendenzen für den Menschen entfalten Buddenbrooks eine Kapitalismuskritik, die der Entwicklung der kapitalistischen Moderne unter psychologischen Aspekten ein negatives Urteil ausspricht. Im Mittelpunkt der Kritik stehen die Auswirkungen des Kapitalismus auf die menschliche Psyche und das Seelenheil. Festzuhalten ist, dass der Radius dabei ein sehr enger bzw. privilegierter ist, steht im Mittelpunkt des Romans doch eine – im Vergleich zur breiten Masse der Hausarmen und Speicherarbeiter – gesellschaftlich wie finanziell gehobene Personengruppe.

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Kuczynski, Thomas Mann, S. 260. Ebd.

3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung Der Schritt von Buddenbrooks zu Thomas Manns zweitem Roman Königliche Hoheit (1909) ist bei näherer Betrachtung nicht so groß, wie die in frühen Rezensionen stereotype Bewertung der „Geschichte des kleinen einsamen Prinzen, […] der zum Ehemann, Volkswirt und Volksbeglücker“ (XI, 580) wird, als zu seichtes Stück Trivialliteratur zunächst vermitteln könnte.1 Denn gerade die Behandlung der Geldthematik zeigt eine klare Kontinuität und Weiterentwicklung des in Buddenbrooks eröffneten Problemfeldes, und schnell wird klar, dass bürgerliche Kaufmannswelt und feudalistisches Großherzogtum mehr gemein haben, als man zunächst vermuten möchte. Alte und neue Geschäftsmethoden und Wirtschaftsweisen stehen sich in ähnlich kontrastiver Weise wie in Buddenbrooks gegenüber, wobei die Gegensätze – hier das rückständige, völlig verschuldete Land, dort der amerikanische Kapitalist mit seinem Milliardenvermögen – noch deutlicher konturiert werden. Wie in Buddenbrooks wird die Sphäre des Geldes und des Kapitals als Stromsphäre gekennzeichnet, und die Verschränkung von ökonomischen und persönlichen Problemen erfährt mit den Protagonisten Klaus Heinrich und Imma Spoelmann eine Steigerung. Die Größe des ‚Kredits‘ spielt in Fragen der Wirtschaft wie in denen nach dem privaten Glück eine zentrale, parallel entwickelte Rolle. Ebenso ist, wie zu zeigen sein wird, der Repräsentationsgedanke nicht nur unter geldtheoretischem Blickwinkel entscheidend, sondern auch in staatsorganisatorischer und psychologischer Hinsicht.

1

Vgl. dazu das Vorwort zu einer Amerikanischen Ausgabe von „Königliche Hoheit“ (XI, 572–577) sowie das Kapitel „Rezeptionsgeschichte“ in GkFA 4.2, S. 156 ff. Auch die Forschung hat die Frage nach dem „Wertniveau“ des Romans eingehend beschäftigt. Vgl. dazu Spoerhase, Carlos: Eine „Königliche Hoheit“: Das Wertniveau ‚Thomas Mann‘. In: Börnchen, Stefan / Liebrand, Claudia (Hg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. München 2008, S. 139–159.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

3.1 Die wirtschaftliche Krise im Großherzogtum 3.1.1 Die ökonomische Lage des Landes Schon die ersten Sätze des Romans Königliche Hoheit lassen keine Zweifel am Fehlen des wirtschaftlichen Schwungs im Großherzogtum aufkommen. Auch wenn der Schauplatz des „Vorspiels“ – die Albrechtsstraße – als „Verkehrsader“ (II, 9) eingeführt wird, wird eventuell evozierten Metropol-Assoziationen sofort eine Absage auf allen Ebenen erteilt: Das Wetter ist „indifferent“ und „gewöhnlich“, die Beleuchtung stumpf und nüchtern – hier ist noch nichts vom Großstadtglanz der Welt der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull zu spüren2 – und der Verkehr ist nur von „mittlerer Regsamkeit, ohne viel Lärm und Gedränge“ (II, 9). Es ist nicht viel los im Großherzogtum, und dem entspricht auch die finanzielle Situation des Landes. Die Volkswirtschaft ist marode und hoch verschuldet, die Staatskasse ist leer und die Bevölkerung hungrig. Dass diese Zustände mehr als bloße Kulisse für die Romanhandlung sind,3 wird schnell klar, stehen diese doch in den ersten beiden Kapiteln deutlich im Mittelpunkt der Erzählung. Im Kapitel „Die Hemmung“ erfährt man aus dem Gespräch zwischen dem Finanzminister Dr. von Schröder und dem Staatsminister Dr. Baron Knobelsdorff erste Details über die wirtschaftlich katastrophale Lage des Landes und deren Ursachen, die dann im folgenden Kapitel „Das Land“ vertieft werden. Die Situation zeichnet sich vor allem durch Ruhe, Bewegungslosigkeit und Erstarrtheit aus. Das Großherzogtum wird als „stilles, unhastiges Land“ beschrieben, das alles andere als „schwunghaft“ ist. Hektik und geschäftiges Treiben stehen nicht auf der Tagesordnung, ist das Gewerbewesen doch „unentwickelt bis zur Dürftigkeit“ (II, 36). Das Volk wird als „nicht sehr betriebsam[…] und fortgeschritten[…]“ (II, 37) beschrieben, und selbst die Universität des Landes, an der „ein beschauliches und ein wenig altmodisches Gelehrtentum herrschte“, ist „nicht sehr besucht“ (II, 47). Auffallend an diesen Beschreibungen ist, dass sie meist ex negativo – durch die Negationspartikel nicht – erfolgen und damit das erwünschte und (noch) nicht existente Ideal anklingen lassen. Es wird ebenso festgehalten, dass die „Lokalbahnen sich nicht rentierten und die Eisenbahnen 2 3

Vgl. Kapitel 6.1.1 der vorliegenden Arbeit. Hermann Kurzke negiert die Bedeutung der ökonomischen Thematik des Romans zugunsten der Künstlerthematik lapidar: „[D]as Politisch-Ökonomische ist nur der Vordergrund. In Wahrheit handelt es sich um einen Künstlerroman.“ (Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche, Werk, Wirkung. 3., erneut überarbeitete Auflage. München 1997 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 83).

3.1 Die wirtschaftliche Krise im Großherzogtum

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nichts abwarfen“, „nicht viele Fremde“ zu Besuch kommen, und die finanziellen Ergebnisse der Verkehrsanstalten werden als „‚wenig‘ günstige[…]“ (II, 36) charakterisiert. Das Präfix un- kommt wiederholt zum Einsatz, so wenn von unhastig, ungünstig, unentwickelt (vgl. II, 36) oder unrentabel (vgl. II, 32) die Rede ist. In den nüchternen Beschreibungen der wirtschaftlichen Details finden sich zahlreiche tautologisch anmutende Doppelungen – „nachdrücklichen und hinlänglichen“, „kommerziellen und gewerblichen“, „durchaus und vollständig“ (II, 36) – die den einfachen Sachverhalt der wirtschaftlichen Unterentwicklung scheinbar mystifizieren und zudem sprachlich das Bedrängte der Situation unterstreichen. Die Lage des Landes ist somit alles andere als schwunghaft und liquide. Die Schlösser der großherzoglichen Familie sind dem „Verfall“ anheim gegeben, der Schlossteich ist „von Schlamm starrend[…]“ und auch um das Springbrunnenbecken von Schloss Delphinenort steht es „bejammernswert“ (II, 44). Das einzige, was in dieser Situation noch (aus)strömt, ist der „Moderduft“ (II, 46) des Rosenstocks. Diese Situation des Nicht-Liquiden und Nicht-Schwunghaften wird mit Bildern der Krankheit kombiniert. Nicht nur der Ober-Hofmarschall leidet an „Katalepsie“ (II, 19), auch die „gesundheitlichen Verhältnisse des Landes“ (II, 37) lassen zu wünschen übrig. Der Wald ist zu ungesunden „Krüppelbeständen“ (II, 38) verkommen, und die Minister sind auf der Suche nach einer „Heilmethode gegen das schleichende Leiden“ (II, 40) der Neuverschuldung. Diesen Zuständen entspricht der gesundheitliche Zustand des eigentlich höchsten Vertreters des Landes, Albrecht II. Der Bruder Klaus Heinrichs fällt vor allem dadurch auf, dass er permanent krank ist und ständig friert. Schon als Kind ist er aus gesundheitlichen Gründen mehr ab- als anwesend und man erfährt vom Erzähler wenig mehr über den Knaben, als dass er „viel im Bette lag“ (II, 53). An Klaus Heinrichs 16. Geburtstag (vgl. II, 89 f.) sowie bei seiner eigenen Mündigsprechung (vgl. II, 106) befindet sich Albrecht seiner Gesundheit wegen im wärmeren Süden. Um die Blutzirkulation des ständig frierenden Regenten ist es also ähnlich schlecht bestellt wie um die Geldzirkulation seines Landes. Aktualisiert werden diese Bilder im vorletzten Kapitel, in dem der wirtschaftlichen Lage des Großherzogtums erneut gedacht wird. Die Situation hat sich inzwischen zugespitzt und das Land ist nunmehr zum völligen Stillstand gekommen, es ist „erschöpft“ und „erlahmt“, die „schleichende Krise“ ist „brennend“ und „schreiend“ (II, 290) geworden. Die Sachlage ist „heillos[…]“ (II, 286), und nicht nur der Staat, sondern auch der „Gesundheitszustand des Finanzministers Doktor Krippenreuther“ (II, 285) verlangen nach Heil- und Linderungsmitteln (vgl. II, 290).

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

3.1.2 Falsche Geldschöpfungspolitik Die Ursache all dieser Missstände liegt, wie im Gespräch der beiden Minister zu Beginn des Romans deutlich wird, in der Rückständigkeit der Volkswirtschaft.4 Anstatt auf moderne Finanzmethoden zu setzen, hängt man im maroden Großherzogtum immer noch feudalen Praktiken an, die längst überholt sind. Wie von Knobelsdorff diagnostiziert, hätte der feudale Agrarstaat längst auf einen modernen Kapitalismus umsatteln müssen: Das Übel fängt an damit, daß die Fürsten Bauern sind; ihre Vermögen bestehen aus Grund und Boden, ihre Einkünfte aus landwirtschaftlichen Erträgnissen. Heutzutage… Sie haben sich bis zum heutigen Tage noch nicht entschließen können, Industrielle und Finanzleute zu werden. Sie lassen sich mit bedauerlicher Hartnäckigkeit von gewissen obsoleten und ideologischen Grundbegriffen leiten, wie zum Beispiel den Begriffen der Treue und Würde. Der fürstliche Besitz ist durch Treue – fideikommissarisch – gebunden. Vorteilhafte Veräußerungen sind ausgeschlossen. Hypothekarische Verpfändung, Kreditbeschaffung zum Zwecke wirtschaftlicher Verbesserungen scheint ihnen unzulässig. Die Administration ist in der freien Ausnutzung geschäftlicher Konjunkturen streng gehindert – durch Würde. […] Wer so sehr wie diese Menschenart auf gute Haltung sieht, kann und will mit der Freizügigkeit und ungehemmten Initiative minder eigensinniger und ideell verpflichteter Geschäftsleute natürlich nicht Schritt halten. (II, 19 f.)

Der Fehler, auf den der Staatminister hier aufmerksam macht, besteht im Festhalten an einer feudalen, fiedeikommissarisch gebundenen Nutzung der Ressourcen und somit quasi in einer Industrialisierungsverweigerung.5 Statt die vorhandenen Besitztümer, den Grund und Boden, in Form von Kapital gewinnbringend einzusetzen, werden diese stillgelegt. Dem Fideikommiss entsprechend wird der Besitz nicht als frei verfügbares – und somit beispielsweise auch belastbares – Grundeigentum angesehen und kann in der Folge auch nicht als Instrument für wirtschaftliches Wachstum eingesetzt werden.6 Ebenso wird der Wald nicht als Kapitalbasis 4 5

6

Vgl. dazu Borchmeyer, Dieter: Repräsentation als ästhetische Existenz. Königliche Hoheit und Wilhelm Meister. Thomas Manns Kritik der formalen Existenz. In: Recherches Germaniques 13 (1983), S. 105–136, hierzu besonders S. 121 f. Vgl. Wallinger, Sylvia: „Und es war kalt in dem silbernen Kerzensaal, wie in dem der Schneekönigin, wo die Herzen der Kinder erstarren“. Gesundete Männlichkeit – gezähmte Weiblichkeit in Thomas Manns Königliche Hoheit und Wälsungenblut. In: Dies. / Jonas, Monika (Hg.): Der Widerspenstigen Zähmung. Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Innsbruck 1986, S. 235–257, die festhält: „Die Industrialisierung hat noch nicht stattgefunden“ (ebd., S. 238). Vgl. dazu auch die folgende Notiz in Thomas Manns Arbeitsunterlagen: „Ferner ist die Verwaltung durch Würde in der freien Bewegung in der Ausnutzung der jeweiligen wirtsch. Konjunkturen behindert und kann auch darum mit der uneingeschränkten Initiative großer Aktiengesellschaften, Bankinstitute u. thatkräftiger Privatpersonen nicht Schritt halten.“ (GkFA 4.2, S. 423).

3.1 Die wirtschaftliche Krise im Großherzogtum

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herangezogen, sondern „maßlos und kurzsichtig“ (II, 38) ausgebeutet und verkommt dadurch zum Krüppelbestand. Um das Schuldenloch des Staates, immerhin „sechshundert Millionen“ (II, 40), zu stopfen, vergreift man sich an dem, was bei sinnvoller und zukunftsorientierter Handhabe eigentlich das Problem lösen würde: statt, mit einem Worte, den Schaden, der dem Staatswalde an seinem Kapitalwert erwachsen war, auch an seinem Kapitalwerte wieder gutzumachen, hatte man die flüssig gemachten Gelder zur Deckung laufender Ausgaben und zur Einlösung von Schuldverschreibungen verbraucht. (II, 39)

Das, was eigentlich zukunftsträchtiges Kapital sein sollte, wird nicht als solches behandelt, sondern kurzfristig und kurzsichtig zu schnellem Geld gemacht: Aber obgleich es nicht an Stimmen fehlte, die einen auf die Verwendung von Waldstreu gegründeten Ackerbau für unratsam, ja gefährlich erklärten, so trieb man den Streuhandel auch ohne besonderen Anlaß aus rein fiskalischen Gründen, wie man sagte, aus Gründen also, die bei Lichte betrachtet nur ein Grund und Zweck waren, der nämlich, Geld zu machen. Denn das Geld war’s, woran es fehlte. Aber um welches zu schaffen, vergriff man sich unablässig am Kapital, bis der Tag kam, da man mit Schrecken ersah, daß eine ungeahnte Entwertung dieses Kapitales eingetreten sei. (II, 38)

Die großherzogliche Methode der Geldgewinnung besteht also in einer klaren Deckung von Geld und Gegenwert. Jedes monetäre Zeichen, das geschöpft wird, hat einen klaren Referenten im Grund und Boden des Landes, ist direkt durch einen naturalen Gegenwert gedeckt. Pro Baum Hans Blumenberg kommentiert in einem bisher unveröffentlichten, „Geld und Verstand“ überschriebenen einseitigen Text den folgenden Tagebucheintrag Friedrich Hebbels, in dem dieser die Möglichkeit des unproduktiven Ruhenlassens – also des Nichtkapitalisierens – von Grund und Boden als ethisch nicht vertretbar anprangert: „Rothschild müsste den Gedanken haben, all sein Geld in Landbesitz zu stecken und das Land unbebaut liegen zu lassen. Nach dem in der Welt geltenden Eigenthumsrecht könnte er es thun, wenn auch Millionen darüber verhungerten.“ (Eintrag vom 29. August 1843. In: Hebbel, Friedrich: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe v. R. M. Werner. Zweiter Band 1840–1844. Berlin 1926, S. 269) Blumenberg schließt diese „Fiktion“ Hebbels aus: „Denn nichts ist weniger wahrscheinlich, nichts vergleichbar auszuschließen, wie die erdachte Situation, ein Rothschild könnte den von ihm für ‚all sein Geld‘ erworbenen Boden ungenutzt liegen lassen. Könnte er dies, hätte er die Mittel nie erlangt, es zu tun oder zu unterlassen. Die Bedingung seiner Macht ist unauswechselbar die Bedingung ihres Gebrauchs.“ (Blumenberg, Hans: Geld und Verstand. DLA Marbach, A: Blumenberg, Konvolut Unerlaubte Fragmente, UNF 814 (Typoskript, 1 Seite). Bettina Blumenberg und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach danke ich vielmals für die freundliche Erteilung der Abdruckgenehmigung.) Ein mit Kapital operierender Bankier, so lässt sich Blumenberg auslegen, käme nicht nur nicht auf die Idee, seine Kapitalbasis nicht zu nutzen, vielmehr gäbe es ihn ohne diese sine qua non-Bedingung schlicht erst gar nicht. Produktive Kapitalnutzung wird hier als konstitutives Moment des modernen Kapitalisten ausgegeben.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

eine Münze – auf diese Gleichung ließe sich die Geldpolitik des Großherzogtums, etwas salopp formuliert, bringen. In dem Moment aber, in dem ein Baum in eine Münze verwandelt wird und diese wiederum nicht als Kapital eingesetzt, sondern schlicht ins Schuldenloch geworfen wird, ist der Wert verschwunden, aber kein produktiver Mehrwert entstanden. Damit beraubt sich die Volkswirtschaft selbst jeglicher Option auf einen wirtschaftlichen Aufschwung und damit auch der Möglichkeit der Begleichung der Staatsschulden. Das Kernproblem der feudal gebundenen Wirtschaftspolitik besteht in den (falschen) geldtheoretischen Überlegungen, nämlich darin, dass Geld nicht als eigene Produktivkraft – als Kapital – angesehen wird, sondern lediglich als sekundärer Ausdruck für einen (landwirtschaftlich) hervorgebrachten Wert. Mit dem Festhalten am Repräsentationsgedanken, der jedem Geldstück einen Gegenwert im Grund und Boden des Landes zusichert, wird einer Kapitalisierung des Geldes der Weg versperrt. Dass Geld, verstanden als Kapital – Geld also, das investiert, geliehen, angelegt wird –, Geld ist, das wiederum Geld hervorbringen kann, wird nicht gesehen.7 Denn „Geld wird zum Kapital, wenn diejenigen, die es investieren und einsetzen, ihre Leistung schlicht dem Geld selbst zuschreiben, als wachse es aus eigener Kraft.“8 Statt auf eine Wertschöpfung durch Kredit und Investition zu setzen und somit die Produktivkraft des Kapitals zu nutzen, vergreifen sich die fürstlichen Ökonomen kurzsichtig an dem vorhandenen Besitz und besiegeln so die eigene Krise. Das Konzept einer nicht-referentiellen, nicht-repräsentativen Wertschöpfung hat sich noch nicht durchgesetzt. Gerade das Festhalten an einem Geldbegriff, der auf dem Repräsentationsgedanken beruht, erweist sich hier als der, im wahren Sinne des Wortes, kapitale Fehler. Von Nöten ist eine geldtheoretische Ablösung vom Repräsentationsgedanken, wie sie sich in der ökonomischen Diskussion um 1800 vollzogen hat.9 Die Geldtheorien dieser Zeit 7 8 9

Vgl. Binswanger, Geld und Magie, S. 44 f. Dort heißt es auch: „Geldkapital im weitesten Sinne sind alle Geldmittel, die man entweder sozusagen sich selbst auf Gewinn (als Eigenkapital) oder anderen auf Zins (Fremdkapital) ausleiht.“ (Ebd., S. 44 f.). Breithaupt, Der Ich-Effekt des Geldes, S. 87. Vgl. dazu den Aufsatz von Joseph Vogl, der den Übergang von der repräsentativen hin zur medialen Codierung des monetären Zeichens anhand der Politik der französischen Assignaten und der Papiergeldpolitik der Bank of England nachzeichnet: Vogl, Joseph: 1797 – die Bank von England. In: Barkhoff, Jürgen / Böhme, Hartmut / Riou, Jeanne (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln u.a. 2004 (Literatur – Kultur – Geschlecht 29), S. 37–51. Zusammengfasst auch noch einmal in: Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010, bes. S. 62 ff. Konstitutiv ist dieser Gedanke, wie bereits oben (vgl. Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit) gezeigt wurde, auch in Goethes Faust. Insgesamt ist dieses Umdenken Ausdruck einer tiefgreifenden und allgemeinen Umstellung in der Wissensordnung um 1800, die sich nicht nur im ökonomischen Denken bemerkbar machte.

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zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie „die repräsentative Kraft des Zeichens“10 unterminieren und von „repräsentativen zu funktionalen Qualitäten des Zeichens“11 wechseln. Verabschiedet wird der – auch die großherzogliche Wirtschaftspolitik leitende – Gedanke, dass nämlich die umlaufenden Zeichen, die Wechsel und Banknoten durch ein Äquivalent an edlem Metall gedeckt bleiben müssen, dass also die zirkulierenden Zeichen nur dadurch Werte anzeigen und vertreten, dass sie durch den Schatz der Referenten gebunden und kontrolliert sind.12

Diesen „Epochenwechsel“13 im ökonomischen Zeichengebrauch, die Umstellung zur Wertschöpfung durch Kredit, macht Joseph Vogl in seinen Untersuchungen zum Wissen um 1800 an einem konkreten historischen Datum fest, und zwar am 26. Februar 1797, als mit einem parlamentarischen Beschluss die Bank von England von der Verpflichtung befreit wurde, Banknoten in Münzgeld einzuwechseln und damit die beständige Deckung des Papiergeldes zu gewährleisten: Während für das ökonomische Wissen des 18. Jahrhunderts Papiergeld und Banknote nicht wirklich differenzierbar und beide der repräsentativen Kraft der Zeichen beigeordnet waren, musste das, was schließlich spätestens seit Februar 1797 das Funktionieren moderner Papierwährungen bestimmt – nämlich Verzeitlichung, Aufschub der Deckung und umlaufender Kredit – als Krise erfahren werden, in der sich die Selbstreferenz des Systems als ruinöse Entreferentialisierung bemerkbar macht.14

Die Kapitalisierung des Geldes, die Wertschöpfung durch Kredit hat vor allem auch die ökonomische Theorie der Romantik bestimmt, die Abstand vom Gedanken der Wertrepräsentation nimmt.15 Fritz Breithaupt macht in seiner Studie zum Ich-Effekt des Geldes eine Parallelität zwischen ökono-

10 11 12 13 14 15

Vgl. dazu Vogl, Kalkül und Leidenschaft und: Ders.: Romantische Ökonomie. Regierung und Regulation um 1800. In: Francois, E. u.a. (Hg.): Marianne – Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789–1914. Leipzig 1998 (DeutschFranzösische Kulturbibliothek 10.2), S. 471–489. Wie Albrecht Koschorke nachgezeichnet hat, hat sich dieser tiefgreifende Paradigmenwechsel auch in der Sinneswahrnehmung um 1800 niedergeschlagen: „Allgemein ausgedrückt, wird ein Wechsel von analogischen Relationierungen zwischen Vorstellungen und Sachen zu nichtanalogen, in gewisser Hinsicht arbiträren Perzeptionsabläufen vollzogen.“ (Koschorke, Albrecht: Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800. In: Vogl, Joseph (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 19–52, hier S. 20). Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 252. Ebd., S. 270. Vogl, Die Bank von England, S. 38. Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 271. Ebd., S. 278. Vgl. ebd., S. 279.

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mischer Theorie und Individualitätstheorie der Romantik aus, die im Kern auf eine Kapitaltheorie des Geldes rekurriert, wenn er schreibt: Diese Verzeitlichung und Potenzierung des Ich findet eine Parallele im ökonomischen Denken der Zeit. Die Grundformel des Ich der Romantiker ist zugleich die Formel des Kapitals: Kapital ist Geld, welches auf sich selbst ‚reflektiert‘, das heißt sein Investitionspotential nutzt und dadurch mehr wird, als es ist. Kapital ist die Inkarnation der Selbstbildung.16

Geldtheoretisch bedeutet dies also den Abschied von den repräsentativen und sekundären Funktionen des Geldes hin zu den medialen, selbstreferenziellen. An dieser Stelle ist vor allem auf den romantischen Wirtschafts- und Staatstheoretiker Adam Müller zu verweisen,17 der in seinen Schriften darlegt, dass Geld nicht per se einen Wert darstellt, sondern erst durch den Einsatz im Wirtschaftskreislauf „lebendig und damit wirkliches Kapital“18 wird. Liegt es „aufgespeichert in einer Schatzkammer, so ist es wertlos“19, denn nur „im Moment des Umsatzes oder der Zirkulation sind die Substanzen des Geldes wirklich Geld.“20 Im Zentrum von Müllers Wirtschaftstheorie steht der Gedanke des Kredits, der die Seele des ganzen Wirtschaftens ist. Denn allein durch den Glauben – und „Kredit ist Glaube“21, wie Müller festhält – wird Geld tatsächlich zu Geld und kommt über den Status als bloßes Stück Metall hinaus. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die geldtheoretische Ablösung der direkten Wertdeckung durch den Aufschubgedanken des Kredits, durch das Versprechen und die Fiktion einer potentiellen Einlösung in der Zukunft, im Fürstentum noch nicht stattgefunden hat. Geld wird nicht als reines „Medium ohne eigenen Wert und ohne Repräsentationsfunktion“22 gedacht, man beharrt auf referentiellen Werten und Gütern.

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18 19 20 21 22

Breithaupt, Der Ich-Effekt des Geldes, S. 87. Vgl. dazu ausführlich Groh, Andreas: Die Gesellschaftskritik der Politischen Romantik. Eine Neubewertung ihrer Auseinandersetzung mit den Vorboten von Industrialisierung und Modernisierung. Bochum 2004, besonders das Kapitel zu Adam Müller, S. 141–219. Vgl. auch Vogl, Die Bank von England, S. 48 ff. Groh, Andreas, Gesellschaftskritik, S. 171. Ebd., S. 190. Müller, Adam: Versuche einer neuen Theorie des Geldes (1816). In: Ders.: Nationalökonomische Schriften. Ausgewählt u. eingeleitet v. Albert Josef Klein. Lörrach 1983, S. 43–131, hier S. 67. Müller, Adam: Versuch über den Kredit (1819). In: Ders.: Nationalökonomische Schriften. Ausgewählt u. eingeleitet v. Albert Josef Klein. Lörrach 1983, S. 359–369, hier S. 359. Stäheli, Spektakuläre Spekulation. S. 66.

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Der Preis für diese Art der Wertschöpfung lässt dementsprechend auch nicht lange auf sich warten, wie man den Schilderungen des Kapitels „Die Erfüllung“ entnehmen kann. Denn dort ist der Wald in seinem „Kapitalwerte“ nun „erschüttert“ (II, 290), und die Schulden sind so groß, dass die „wirtschaftliche Krise im Großherzogtum“ (II, 291) ihren Höhepunkt zu erreichen droht. Die Deckung ist erschöpft, und damit sind auch die monetären Zeichen ihres Wertes verlustig gegangen. Die Aufschubtechnik der Neuverschuldung ist an ihr Ende gekommen und der Mangel an Krediten als Garantien für jegliche Zirkulation macht sich eklatant bemerkbar. Es passiert das, was bei wirtschaftlichen Krisen üblich ist: Die ausländischen Gläubiger ziehen ihre Kredite zurück, es kommt zu „Geldabfluß“ in großem Stile und „Bankbrüche in der Geschäftswelt [sind] an der Tagesordnung“ (II, 291). Es folgt genau das, was der Ökonom Karl Menger 1874 in seinen Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre skizziert hat: Durch den Credit wird die Production, oder doch der umfangreichere Betrieb, sehr oft erst ermöglicht, und daher die verderbliche Stockung und Beschränkung der productiven Thätigkeit eines Volkes, wenn der Credit desselben plötzlich versiegt.23

3.1.3 Romantischer Luxus und Repräsentationswahnsinn Dass die im Großherzogtum dominierenden Wirtschaftsformen in Zeiten von Industrie und Kapitalismus nicht mehr zeitgemäß sind, unterstreicht Baron von Knobelsdorff in dem Gespräch mit seinem Ministerkollegen Herrn von Schröder dadurch, dass er sie ins „Reich der Romantik“24 verweist. Ursache der hohen Staatsverschuldung ist für ihn der „romantische[…] Luxus“ (II, 19) des fürstlichen Repräsentierens, an dem festgehalten wird, obwohl er den Staat in den Ruin treibt. Wenn der Minister hier die kostenintensive Aufrechterhaltung des fürstlichen Repräsentationsapparates im Kopf hat, so erweist sich sein Kommentar als sehr hellsichtig und verdeutlicht, dass im maroden Fürstenstaat ein repräsentationslogisches Umdenken nicht nur in geldtheoretischen Dingen von Nöten ist. Denn so problematisch wie sich das Repräsentationsverharren in monetären Fragen, das Festhalten an der Deckung der monetären Zeichen – also am proportionalen Verhältnis von fiktivem Zeichen und realen Reichtümern – erweist, so problematisch erweist es sich auch in Fragen der Staats- und Wirtschaftsorganisation. 23 24

Menger, Carl: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (1871). Tübingen 1968 (Gesammelte Werke I), S. 136. Borchmeyer, Repräsentation als ästhetische Existenz, S. 122.

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Wenn der Staatsminister bemängelt, dass gerade der fürstliche Repräsentationsaufwand – die Instand- und Unterhaltung der zahlreichen Schlösser und Parks, die Unterstützung von kulturellen Einrichtungen und die „regelmäßige Kostenlast einer leidlich würdigen Hofhaltung“ (II, 20) – ein Posten ist, der den Staatshaushalt in seine Notlage bringt, macht er auf einen wirtschaftspolitischen Schwachpunkt aufmerksam, der sich im Rekurs auf das physiokratische25 Zirkulationsmodell erklären lässt und diesem eine Absage erteilt. Als fundamentale Kategorie der Analyse steht die Vorstellung der Wirtschaft als eines geschlossenen Kreislaufs im Zentrum des physiokratischen Wirtschafts- und Staatsmodells. Gleich dem menschlichen Körper und dessen Blutzirkulation wird die Ökonomie als ein in sich geschlossener Kreislauf gedacht, der durch die Mechanik des Geldflusses bewegt und belebt wird. Damit wird das Bild des Geldes als Blut des Staatskörpers aktualisiert, das seit der vollständigen Entdeckung und Beschreibung des menschlichen Blutkreislaufes durch den englischen Arzt Wilhelm Harvey im Jahr 1628 vielfach zum Vergleich herangezogen wurde.26 So ist im Leviathan (1651) von Thomas Hobbes, der mit Harvey befreundet war, die Vorstellung des „Blutkreislauf[s] des Staates“ zu finden sowie die Aufgabe des Blutes, „alle Glieder des Körpers zu beleben und zur Bewegung zu befähigen.“27 Als frühester Beleg können aber wohl die Lezione delle Monete gelten, in denen Bernardo Davanzati bereits 1588 verkündet, „das Geld habe für eine Stadt die gleiche Bedeutung wie das Blut für den menschlichen Organismus“28. Wie Letzteres als Nahrung für den Körper („corpo naturale“) durch die Adern fließe und alles Fleisch bewässere, so halte Ersteres zirkulierend den zivilen Körper der Republik

25

26 27 28

Vgl. dazu besonders Vogl, Romantische Ökonomie. Wenn Milch-, Forst- und Landwirtschaft die Haupteinkommensquellen der maroden Volkswirtschaft bilden, werden Gedanken des physiokratischen Wirtschaftsmodells verwirklicht, wie es im Frankreich des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde. Der Hauptgedanke der physiokratischen Schule, als deren Begründer Françoise Quesnay (1694–1774) gilt, besteht darin, dass allein die landwirtschaftliche Produktion produktiv sei. Der Boden gilt als alleinige Quelle des Reichtums; Handwerk, Industrie und Handel hingegen werden als weiterverarbeitenden und verteilenden Branchen jegliche Produktivkraft abgesprochen. Vgl. Ziegler, Bernd: Geschichte des ökonomischen Denkens. Paradigmenwechsel in der Volkswirtschaftslehre. München 2008, S. 51 ff. Vgl. hierzu auch Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 341 ff., der sich dort der „Geld=Blut-Metapher“ (ebd., S. 342) zuwendet. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. u. eingeleitet v. Iring Fetscher. Übersetzt v. Walter Euchner. Frankfurt am Main 1984, S. 194. So Elisabeth Frenzel, die auf den Text verweist: Frenzel, Elisabeth: Goldgier, Geldgier. In: Dies.: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6., überarbeitete u. ergänzte Auflage. Stuttgart 2008, S. 261–277, hier S. 265.

3.1 Die wirtschaftliche Krise im Großherzogtum

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(„corpo civile della repubblica“) am Leben.29 Noch in der Romantik findet sich die Gleichsetzung von ökonomischem und arteriellem und venösem Fluss, wenn es etwa bei Novalis heißt: Gold und Silber sind das Blut des Staats. Häufungen des Bluts am Herzen und im Kopfe verrathen Schwäche in beiden. Je stärker das Herz ist, desto lebhafter und freigebiger treibt es das Blut nach den äußeren Theilen. Warm und belebt ist jedes Glied, und rasch und mächtig strömt das Blut nach dem Herzen zurück.30

Die Kunst des physiokratischen Kreislaufmodells besteht darin, dafür zu sorgen, dass das Geld tatsächlich auch ungehindert strömen und die einzelnen Landesteile beleben kann. Dass dies gerade das Problem der fürstlichen Ökonomie im Roman Königliche Hoheit ist, wird mit einem Blick auf die oben skizzierte Lage des Landes offensichtlich: Denn strommetaphorisch ausgedrückt zeichnet sich die Misere ja gerade dadurch aus, dass jeglicher Geldstrom und auch sonstiger Fluss ins Stocken geraten sind. Das Funktionieren des ökonomischen Kreislaufes hängt eklatant davon ab, dass ein geschlossener, dauerhafter und vollständiger Umlauf des Geldes garantiert wird. Die Menge des zirkulierenden Geldes muss in gleichbleibender Proportion zu den umlaufenden Gütern stehen: Dies motiviert schließlich jene Quantitätstheoreme, in denen die Wertrepräsentanz von der gleichmäßigen Proportion zwischen Geldzeichen und Gütern abhängig ist. Ob man nun diese Proportion trivial (bezogen auf die absolut verfügbare Geldsumme) oder komplex (bezogen auf das Produkt von Geldquantum und Umlaufgeschwindigkeit) auslegt – die optimale Zirkulation wird durch ein optimales Verhältnis von Geldmenge und Waren gewährleistet, das sich zuletzt an der restlosen Einlösbarkeit der repräsentativen Zeichen durch die Dinge des Bedarfs ausrichtet.31

Eine intakte, vollständige Zirkulation ist also vergleichbar mit einem „Nullsummenspiel, das die verstrichene Zeit in sich selbst zurückkehren läßt und an dessen Ende Überschuß und Verlust ebenso ausgeglichen sind wie Geldzeichen und Güter“32. Und genau das ist im maroden Wirtschaftskreislauf des Fürstentums nicht mehr der Fall. Der Luxus der fürstlichen Repräsentation bringt die Zirkulation ins Schwanken und den Geld29 30

31 32

Davanzati Bostichi, Bernardo: Lezione delle monete [1588]. Con note scelte dell’autore e di Antonio Maria Salvini. Milano 1804 (Scrittori classici italiani di economia politica 2), S. 37 f. Novalis: Glauben und Liebe oder Der König und die Königin. In: Novalis. Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl. München / Wien 1978 (Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2), S. 290–304, hier S. 292. Vogl, Romantische Ökonomie, S. 474. Ebd., S. 475.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

fluss ins Stocken, indem er die umlaufenden Geldzeichen dem Kreislauf quasi entzieht: Denn unter den genannten Bedingungen ist die Anhäufung von Reichtümern gleichbedeutend mit einem Stau in der Zirkulation, mit Blutandrang oder mit der Ansammlung von Gewässern in großen Becken etwa, wo man mit feudalen Wasserspielen und „frivolem Luxus“ zwar die Augen der Zuschauer vergnügt, die wohltätige Verteilung des Wassers über die Länder und Landschaften hinweg aber behindert.33

Jedes Geldzeichen, das in den Rachen des herrscherlichen Repräsentationsapparates – beziehungsweise in den des daraus entstandenen Schuldenloches – geworfen wird, steht für die Zirkulation nicht mehr zur Disposition. Gerade also durch das Festhalten an einem repräsentativen Geldzeichenbegriff wird auch der Luxus der Repräsentation zu einem ökonomischen Problem. Von Nöten ist ein radikales Umdenken im Bereich der Ökonomie, das sich von der repräsentativen Kraft des Geldzeichens verabschiedet und auf dessen vermittelnde Qualitäten setzt. Nur dann ist auch ein Aufbrechen des finanziell nicht mehr tragbaren „Zyklus von Schuld und Tilgung“34, wie er praktiziert wird, durch den kreditären Gedanken des Aufschubs möglich.35

3.2 Ein Wunder, schien es, sei nötig: Samuel Spoelmann 3.2.1 Aus Geld immer mehr Geld: Das Wunder der Geldschöpfung Die Ökonomie des maroden Fürstenstaates muss also, um aus dem Schulden-Kreislauf ausbrechen zu können, ihr ökonomisches und monetäres Wissen grundlegend reformieren. Der Gedanke des Deckungsgleichgewichtes ist zugunsten einer Kapitalisierung – und damit der Möglichkeit zu einem ‚nicht-natürlichen‘ und Überfluss produzierenden Wachstum – zu verabschieden. Das „Wunder“, das man zur Rettung aus der „wirt33 34 35

Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 228. Vogl, Romantische Ökonomie, S. 484. Verwirklicht findet sich diese Idee bei dem romantischen Theoretiker Adam Müller, der den Kredit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt und den organischen Staat als Glaubensgemeinschaft apostrophiert. Das Geld, als „Glaubens-, Kredit-, Wortgeld[…]“ (Müller, Adam, Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 156) – also losgelöst von einer Deckung – sorgt für Vermittlung und Zusammenhalt, ja in ihm liegt das „große gesellschaftliche Verpflichtungs- oder Glaubensband“ (ebd., S. 104).

3.2 Ein Wunder, schien es, sei nötig: Samuel Spoelmann

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schaftliche[n] Beklemmung“ (II, 41) herbeisehnt, kann als das Wunder der Geldschöpfung und Kapitalbildung identifiziert werden. Und in der Tat wird die Geldschöpfung auf Kredit, die Kunst aus Geld noch mehr Geld zu machen, mehrfach in den Bereich des Wunderbaren und Märchenhaften verschoben36. Deutlich lässt sich dies an den im Fürstentum kursierenden Gerüchten und Geschichten über Samuel Spoelmann, den amerikanischen Milliardär und Großmeister der Zunft der Geldvermehrung, ablesen. Über ihn und seinen Reichtum sind „[f]abelhafte Dinge“ (II, 182) im Umlauf und er wird gleich bei seiner ersten Erwähnung durch das Fräulein von Isenschnibbe wiederholt als „Leviathan und Vogel Roch“ (II, 152) apostrophiert, als ein merkwürdiges „Wesen […], das täglich so gegen eine halbe Million zu verzehren hat“ (II, 151). Seine Tochter Imma wird zu „Leviathans Tochter“ (II, 356), „Bergkönigs Töchterlein“ (II, 332) und zu einem „Fürsten- oder Feenkind aus Fabelland“ (II, 295) und teilt mit ihm das „Wundertier-Dasein“ (II, 345). Asyndetisch wird „der große Spoelmann, der Riesen-Spoelmann, der ungeheure Samuel N. Spoelmann aus Amerika“ (II, 149) im Bereich des Ungeheuren angesiedelt. Als „gewaltige[r] Mann“ mit einer „ungeheuerlichen Existenz“ (II, 185) streicht der Milliardär mit seiner „Vogel Roch-Firma“, wie sollte es anders sein, „fürchterliche[…] Dividenden“ (II, 153) ein. Aus Sicht des Volkes werden Spoelmanns ökonomische Fähigkeiten zu übermenschlichen und wunderbaren; die enorme Geldvermehrung durch modernes Wirtschaften, durch Kredit und Investition, die sozusagen nicht-natürliche Wertentstehung, hat etwas Zauberhaftes an sich. Geld, das sich quasi selbst vermehrt, erscheint dem Volk nicht ganz geheuer. Deutlich wird dies in der wundersamen Erzählung „von der abenteuerlichen Entstehung des Spoelmann’schen Besitzstandes“ (II, 185), die einem mythischen Schöpfungsbericht gleicht. Der „Urbeginn im Lande Victoria“ (II, 185) hebt mit einem „Klumpen Reingold“37 an, den Spoelmanns Vater findet und als Kapitalbasis zu nutzen versteht. Den Erlös des Verkaufs dieses „Paradise Nugget“ – der erst „der 36

37

Zu den Märchenmotiven im Roman vgl. den Abschnitt „Märchen“ im Kapitel „Quellenlage“ im Kommentar der GkFA (GkFA 4.2, S. 138 ff.) sowie Petersen, Jürgen H.: Die Märchenmotive und ihre Behandlung in Thomas Manns Roman „Königliche Hoheit“. In: Sprachkunst 4 (1973), S. 216–230. Vgl. ferner auch: Hamacher, Bernd: Poetologische Funktionen des Märchens bei Thomas Mann. In: Eicher, Thomas (Hg.): Märchen und Moderne. Fallbeispiele einer intertextuellen Relation. Münster 1996 (Literatur im Kontext 2), S. 69–113. Vgl. dazu Schößler, Aneignungsgeschäfte, S. 261 ff., die auf die hier anklingenden intertextuellen Bezüge zu Richard Wagners Rheingold aufmerksam macht. Vgl. dazu auch das Kapitel „Hypotexte in Thomas Manns Roman Königliche Hoheit“ in: Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Unter Mitarbeit v. Christine Bähr. Tübingen / Basel 2006, S. 225–229, besonders S. 229.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

Anfang gewesen“ war – investiert Spoelmann senior in weitere Unternehmungen und vermehrt damit sein Kapital auf „unerhörte Art“ (II, 186). Mit dem Kauf eines Stückchen Landes, das durch seine „Steinölquelle binnen kurzem das Hundert- und Aberhundertfache seines Kaufpreises wert war“, avanciert er zum quasi-biblischen Schöpfer, denn: „Er hatte Stahlwerke geschaffen, hatte Gesellschaften gebildet“ (II, 187). Diese Beschreibung der Wirtschaft als Schöpfungsakt38 kulminiert im Bild des Milliardärs als Großmeister der Kapitalschöpfung, der die „Kunst“ beherrscht, „mit Geld mehr Geld und endlich überschwenglich viel Geld hervorzubringen“ (II, 187), und es damit auch seinem Sohn ermöglicht, „immer reicher und reicher“ (II, 153) zu werden. Und in der Tat hat Spoelmann senior ja das Wunder vorgeführt, wie man aus einem Klumpen Reingold ein Vermögen, das sich auf „eine runde Milliarde“ (II, 187) beläuft, zaubert. Mit der Kapitalisierung des Goldfundes ist es ihm gelungen, sein Vermögen ins Maßlose zu steigern und einen nicht-endlichen Schöpfungsprozess in Gang zu setzen. Damit beherrscht er genau das, was dem maroden Fürstenstaat fehlt, wenn der kranke Finanzminister Dr. Krippenreuther verzweifelt (und die eigene Fehlqualifizierung richtig diagnostizierend) feststellen muss: „ich habe nicht Goldmachen gelernt“ (II, 289). Die Methoden modernen Wirtschaftens und moderner Kapitalschöpfung werden aus Sicht des rückständigen Fürstentums also als wunderbarer, ja alchemistischer Prozess angesehen. Diese Diagnose der modernen Wirtschaft als „Alchemie mit anderen Mitteln“39, die, wie Hans Christoph Binswanger ausführlich dargestellt hat, auch der Lektüre von Goethes Faust entnommen werden kann, trifft im Kern die Frage nach der monetären Wertentstehung. Wenn der Wert des Geldes nicht mehr an einen objektiven Referenzwert gebunden ist – also beispielsweise an einen Baum aus den Wäldern des Fürstenstaates – sondern durch Kredit und Investition im wirtschaftlichen Prozess entsteht und sich vermehrt, so kann dies ja tatsächlich als wunderbar angesehen werden:

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39

Auch Samuel Spoelmanns Wirtschaftshilfe wird als biblische Schöpfungstat apostrophiert. Bei der Beschreibung der großen Spoelmann’schen Tat – „Das tat Spoelmann“ (II, 353) heißt es im Roman – wird wiederholt auf biblisches Vokabular und biblische Wendungen zurückgegriffen (vgl. dazu den Kommentar der GkFA von Heinrich Detering, GkFA 4.2, S. 323). Schöpfergleich „winkt[…]“ der allgewaltige Spoelmann einmal mit der Hand und schon zucken „seine gewaltigen Weisungen […] unter den Wogen des Ozeans hin zum Festland der westlichen Hemisphäre“ (II, 352). Binswanger, Geld und Magie, S. 51.

3.2 Ein Wunder, schien es, sei nötig: Samuel Spoelmann

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Wir können den Wirtschaftsprozess als Alchemie deuten, wenn man zu wertvollem Geld kommen kann, ohne es vorher durch eine entsprechende Anstrengung verdient zu haben, wenn also eine echte Wertschöpfung möglich ist, die das Gesetz der Erhaltung von Energie und Masse außer Kraft setzt, die ein ständiges Wachstum der Wirtschaft möglich macht, das an keine Begrenzung gebunden ist, das schnell und immer schneller vor sich geht und in diesem Sinne Zauberei oder Magie ist.40

Als Meister der künstlichen, fiktiven Wertschöpfung ist der amerikanische Milliardär also genau die Person, die im Fürstentum von Nöten ist. Wenn angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage der Ruf nach einem Wunder laut wird, ist der Weg für den „Goldesel“41 Spoelmann geebnet. Die Märchenmotive, die die Sicht des Volkes auf den amerikanischen Kapitalisten bestimmen, stehen also nicht in Kontrast zum Bereich der Ökonomie, sondern treffen in deren Kern. 3.2.2 Das moderne, liquide Kapital Auch wenn im Duodezfürstentum die Sicht auf den amerikanischen Kapitalisten von dichten Schleiern der Mystifizierung umgeben ist, handelt es sich bei diesem, bei Licht besehen, doch um einen „Prototypen des Aufsteigers“42, den Thomas Mann aus diversen, teils realen Vorbildern zusammengesetzt hat.43 Wie der Blick in die Quellen verrät, sind sowohl die Entstehung wie auch die Vermehrung des Spoelmann’schen Reichtums in ihrem Kern ganz im Bereich des Realen anzusiedeln. Der rasante Aufstieg von Spoelmann senior entspricht den Erfolgsgeschichten amerikanischer Emporkömmlinge, die ihr Geld mit „Petroleum und Stahl und Eisenbahnen“ (II, 153) machten, und sein Sohn tritt mit seinem Milliardenvermögen, das er in diversen Trusts investiert hat, bei denen er „Großaktionär und Hauptkontrolleur“ (II, 152) ist, als die Verkörperung des modernen, beschleunigten Kapitalismus auf. Als amerikanischer Protokapitalist steht er für den modernen, neuen Typus des Unternehmers, wie er sich im Zuge der Industrialisierung weltweit durchsetzte und damit das alte, feudale 40 41 42 43

Ebd., S. 23. Hinck, Walter: Frischzellenkur für die Monarchie. Der Schmelz der Ironie. Thomas Mann: „Königliche Hoheit“ (1909). In: Ders.: Romanchronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. Köln 2006, S. 38–45, hier S. 44. Schößler, Aneignungsgeschäfte, S. 259. Vgl. Schößler, Aneignungsgeschäfte oder auch Frey, Erich A.: An American Prototype in Thomas Mann’s Königliche Hoheit. In: Kentucky foreign language quarterly 13 (1966), S. 125–129, der in John D. Rockefeller Jr. und dessen Vorfahren Johann Peter Rockefeller Prototypen für Samuel Spoelmann und seinen Vater sieht. Im Kommentar der GkFA weist Detering auf Thomas Manns „Interesse für die Biographien einzelner Kapitalisten“ hin (GkFA 4.2, S. 45). Vgl. dort auch das Kapitel zur Quellenlage (ebd., S. 116 ff.).

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

Wertesystem gründlich auf den Kopf stellte. Nicht mehr Abstammung und Geburt bestimmten die Zugehörigkeit zur führenden Klasse, sondern das entsprechende Bankkonto. Der Adel, der nun zum Zuge kommt, ist der Adel des Geldes; die neuen Könige sind die reichen Unternehmer von Spoelmann’schem Format. Die Durchsetzung eines neuen, am souveränen Geld orientierten Bezugssystems lässt auch der Roman erkennen, wenn die Attribute der souveränen, monarchischen Herrschaft auf den Geldmann übertragen werden. Spoelmann, der „Eisenbahnkönig“, verfügt über eine eigene „Dienerschaft“, einen „Leibarzt“ (II, 152) und später auch einen „Haushofmeister“ (II, 225), ebenso wie Imma, das „auf königlicher Höhe lebende Wesen“ (II, 293), eine Gräfin zur Gesellschaftsdame hat. Standesgemäß bezieht Spoelmann die „Fürstenzimmer im ‚Quellenhof‘“ (II, 151), um sich dann „fürstlich“ (II, 293) im eigenen Schloss – natürlich übernimmt er eines der großherzoglichen Anwesen – niederzulassen. Seine Außenwirkung gleicht ganz der der fürstlichen Familie, denn: Man sah und kannte seine weißgoldenen Bedienten in der Stadt, wie man die braungoldenen großherzoglichen Lakaien sah und kannte. (II, 197)

Auch die Presse hat an den beiden Familien ein identisches Interesse, widmet sie sich Spoelmanns doch „mit nicht geringerer Aufmerksamkeit“ (II, 198) als den Mitgliedern des großherzoglichen Hauses. Die Anteilnahme des Volkes an Spoelmanns steht der an der großherzoglichen Familie in nichts nach, und so verwundert es nicht, dass sich unter der Flut von Bittgesuchen, die den Milliardär tagtäglich erreicht, auch ein Brief mit der Anrede „Seiner Königlichen Hoheit Herrn Samuel Spoelmann“ (II, 269) befindet. Und mag sich Ditlinde noch so sehr darüber ärgern, muss doch ihr empörtes Urteil über Spoelmann „Er ist doch kein König“ (II, 152) revidiert werden. Denn mit dem „Geldfürsten“ (II, 339) hat der „souveräne[…] Reichtum“ (II, 342) Einzug gehalten, den das geschwächte Großherzogtum, wie Herr von Knobelsdorff richtig feststellt, nötig hat, um nicht die Herrschaft zu verlieren. Mit seinem enormen Vermögen und seinen modernen Investitionen steht Spoelmann als Sinnbild der kapitalistischen Moderne in deutlichem Kontrast zum rückständigen Großherzogtum. Diese Dichotomie wird entsprechend der eingangs skizzierten Geldstrommetaphorik gestaltet. Die Sphäre des Geldes wird als lebhafte, lebendige, schnelle und strömende Sphäre gezeichnet, und die Motivtrias von Geld, Wasser und Beschleunigung, wie sie schon für Buddenbrooks nachgewiesen wurde, wird hier erneut aktualisiert und ausgestaltet. Neben einer deutlichen Wassermotivik, die die finanziell hoch liquide Familie geradezu umflutet, fallen Spoelmanns durch eine neue Geschwindigkeit und neue technologische Errungen-

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schaften auf und markieren damit, wie im Folgenden ausführlicher nachgezeichnet wird, ihre Herkunft aus einer fortschrittlicheren Sphäre. Mit dem Eintreffen der Familie im Großherzogtum entfaltet die Wassermotivik ihre volle Wirksamkeit.44 Spoelmanns, die mit einem „Riesendampfer“, einem „schwimmende[n] Hotel“ (II, 233) über den Ozean gekommen sind, verfügen nicht nur über einen liquide klingenden Namen, sondern werden auch von einem dem Wasser nahe stehenden Arzt – Dr. Watercloose – begleitet. Nach ihrer Ankunft nehmen sie zunächst Quartier im Quellenhof, um dann später das nach einem Wassertier benannte Schloss Delphinenort zu beziehen. Anlass für den Aufenthalt im Großherzogtum ist das Heilwasser der Ditlindenquelle, das gegen das ebenfalls in den Motivbereich passende Leiden des Milliardärs – „[e]r hat den Nierenstein“ (II, 150), wie Jettchen Isenschnibbe wohlunterrichtet zu berichten weiß – helfen soll.45 Hatte er das gute und vortreffliche „Wasser“ zunächst in Flaschen bezogen, so will er es nun „an Ort und Stelle“ (II, 150) trinken. Begleitet wird er bei seinen Besuchen des Quellengartens von seiner Tochter, deren Äußeres Andersens kleiner Seejungfrau gleicht. Wiederholt, „bis an den Rand der Aufdringlichkeit“46, wie Detering festhält, wird auf die „fließende Sprache“ (so II, 182, 184, 201, 209, 284, 327, 360) von Immas Augen hingewiesen, und auch ihre Kleidung – „aus seegrüner, glänzender Seide“ (II, 203) oder in der „Farbe angerauchten Meerschaums“ (II, 224) – verweist in ozeanische Sphären. Ihr Morgenkleid besteht aus einem „taillenlosen Fluß von schillernder Seide“ (II, 242) und harmoniert mit ihrem Haar, von dem es heißt: „[b]lauschwarz und glänzend floß es zu beiden Seiten von ihrem Scheitel hinab“ (II, 240 f.). Das neu erworbene und renovierte Schloss der Spoelmanns erweist sich nicht nur dem Namen nach als liquider Wohnsitz,47 sondern verfügt auch über einen „schön-gemeißelten Brunnen“, aus dem „silberne Quellen in ein marmornes Becken“ rieseln, auf dem „Enten von seltsam künstlich gefiederter Art schwammen“ (II, 220). Vor diesem „rieselnden Brunnen und dem Wasserbecken“ (II, 240), dessen sanftes „Plätschern“ (II, 219) man schon von Weitem hören kann, trifft Klaus Heinrich Imma auch bei einem Besuch auf dem Schloss an. 44 45

46 47

Vgl. dazu auch Schößler, Aneignungsgeschäfte, S. 263 ff. und Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 341. Für den Hinweis auf das in der Wassermotivik zu verortende Nierenleiden danke ich Alke Brockmeier (Göttingen). Dass die Steine in ihrer festen Materialität dem Liquiden gerade entgegenstehen und somit auch der hochliquide Spoelmann ein Leiden hat, wird im weiteren Verlauf (siehe Kapitel 3.3.1 dieser Arbeit) noch von Bedeutung sein. GkFA 4.2, S. 144. Vgl. GkFA 4.2, S. 301: Der Wohnsitz gleicht dem Meerschloss, in dem der Vater von Andersens kleiner Seejungfrau residiert.

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Diese hochliquide Sphäre wird zudem als lebendige und freundliche gezeichnet. Das viele Wasser in Kombination mit der „hell erleuchtete[n] und lind durchwärmte[n] Halle“ (II, 219) und dem „durchsonnten“ (II, 240) Wintergarten von Schloss Delphinenort bietet den idealen Lebensraum für „Palmen aller Art“ und „zahllose[…]“ Blumentöpfe, die „die Luft mit Wohlgeruch“ (II, 220) erfüllen. Der „Pflanzenduft“ (II, 240), der in der Spoelmann’schen Sphäre vorherrscht, steht damit in starkem Kontrast zum großherzoglichen Rosenstock – übrigens die einzige Pflanze im Alten Schloss (vgl. II, 136) –, dessen Rosen, wie Imma entsetzt feststellen muss, nicht duften, sondern „nach Moder“ (II, 281) riechen. Gemäß der Strommetaphorik gehen finanzielle wie metaphorische Liquidität bei Spoelmanns Hand in Hand mit der entsprechenden Dynamik und Geschwindigkeit. Denn Imma und ihr Vater bringen, wie schon in der Einleitung ausgeführt wurde,48 nicht nur eine Menge Geld, sondern auch neuen Schwung in das langsame, verschlafene Großherzogtum. Imma fällt von Anfang an durch ihre Eile, ihre rasche – wiederholt fällt dieses Adjektiv – Redeweise und ihr Tempo in der Fortbewegung auf. Ihre Vorliebe für die Benutzung eines Automobils hat sie von ihrem Vater übernommen, der stets „auf außerordentliche Fahrgeschwindigkeit, die fast der eines Eilzuges gleichgekommen sei, gehalten“ (II, 271) habe.49 Dieses „Schnelligkeitsbedürfnis“ (II, 272) äußert sich auch bei Imma, die wiederholt eine „rasche Automobilfahrt“ (II, 271, vgl. II, 256, 269) unternimmt und selbst wenn sie auf das herkömmliche, im Großherzogtum übliche Fortbewegungsmittel von einer Pferdestärke zurückgreift, im „ausgelassenen Galopp“ (II, 272) unterwegs ist. Schließlich ist sie auch 48 49

Vgl. die Einleitung (Kapitel 1.2) dieser Arbeit. Hier wird auch der gesundheitsgefährdenden Auswirkungen der hohen Geschwindigkeit für den Chauffeur gedacht, der den ungeheuren Anforderungen „auf die Dauer nicht gewachsen“ gewesen sei, und nach der Ausübung seiner „todesgefährlichen Pflicht“ (II, 271) schon mal „ohnmächtig“ (II, 272) geworden sei. Damit aktualisiert der Roman den Nervendiskurs seiner Zeit, der, wie schon nach Aufkommen der Eisenbahn, die nervenschädigende Wirkung hoher Geschwindigkeit zum Thema hatte. Vgl. Müller, Dorit: „…herrliche Fahrzeuge, von Riesenkräften mit zart metallischem Rauschen dahingetrieben“: Die Bedeutung des Automobils in Thomas Manns Roman Königliche Hoheit. In: Dies.: Gefährliche Fahrten. Das Automobil in Literatur und Film um 1900. Würzburg 2004 (Epistemata Literaturwissenschaft 486), S. 45–51, hier S. 50, und auch Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität, S. 206 ff. Radkau weist auf die ambivalente Bewertung der Wirkung des Autofahrens auf neurasthenische Leiden hin. So stehen hier die Warnung vor der „Nervenbelastung am Steuer des Automobils“ (ebd., S. 207) und die „wohltuende Wirkung des Autofahrens auf die Nerven“ nebeneinander. Die beiden Positionen finden sich im Roman vertreten in der Person des Chauffeurs, der mit den Nerven am Ende ist, und der Gräfin Löwenjoul, die nach der Autofahrt „mit frischen Bewegungen einige richtige und klare Dinge“ (II, 272) von sich gibt.

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Besitzerin einer temperamentvollen, arabischen Stute und von „geschwinden ungarischen Füchsen“, während Klaus Heinrich seinen „gutmütige[n] Braunen Florian“ (II, 225) reitet. Es ist kein Zufall, dass der Milliardär und seine Tochter eine Vorliebe für hohe Geschwindigkeiten und Automobile, „herrliche Fahrzeuge, von Riesenkräften mit zart metallischem Rauschen dahingetrieben“ (II, 197), haben, sondern Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zur Sphäre des schnellen, dynamischen Kapitalismus.50 Ähnlich wie in Buddenbrooks zeichnen sich die dem Fortschritt und der kapitalistischen Moderne nahe stehenden Personen also nicht nur durch ihre Schnelligkeit aus – Spoelmann erinnert mit seiner „Windeseile“, mit der die Renovierung des Schlosses „schnell, schnell“ (II, 195) vonstattengeht, nicht zufällig an Hermann Hagenström und dessen Tempo beim Umbau des Buddenbrook’schen Hauses51 –, sondern auch durch ihre Vorliebe für neue Technologien, wie eben beispielsweise das Automobil. So wie Hagenström mit der Einführung der Gasbeleuchtung als progressiv markiert wird, stattet Spoelmann das „aus Geldmangel rettungslos verkommende[…] Lustschloß“ (II, 192) mit modernen „Heizungsanlagen“ (II, 195) und „goldig strahlenden Glühlampen“ (II, 227) aus. Elektrische Kerzen (vgl. II, 236), eine „über das Weltmeer dahergesandte kostbare Orgel mit elektrischem Triebwerk“ (II, 195) sowie der mehrfach hervorgehobene und auch von der Presse erwähnte elektrische Teekessel (vgl. II, 199, 227, 299) halten Einzug in Schloss Delphinenort. Wo das Geld in ausreichendem Maße vorhanden ist, ist auch der elektrische Strom in Fluss, und das „Erneuerungswerk[…]“ (II, 195) von Samuel Spoelmann reflektiert in seinem Inventar den technologischen Modernisierungsschub des beginnenden 20. Jahrhunderts. 3.2.3 Die belebende Wirkung des Geldes Die Sphäre des Geldes und des Kapitals, wie sie exemplarisch durch Spoelmanns vertreten wird, ist also mit dem Motivarsenal der Geldströme gestaltet. Liquidität und Beschleunigung gehen mit modernen Geschäftsmethoden Hand in Hand und sorgen für ein angenehmes, komfortables Leben in blumigen und sonnigen Sphären. Geld zeigt dort, wo es vorhanden ist, eine deutlich positive Wirkung, indem es sich belebend, erwär50

51

Vgl. Reinecke, Siegfried: Zwang zur Mobilität. In: Ders.: Mobile Zeiten. Eine Geschichte der Auto-Dichtung. Bochum 1986, S. 83–88, der das Automobil als Symbol für die „zeitgemäße Mobilität“ der Familie Spoelmann ansieht, das „in Opposition zur feudalen Kutsche“ (ebd., S. 88) steht. Vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit.

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mend und verflüssigend auf den Menschen und sein Umfeld auswirkt. Verdeutlicht wird dies durch einige Motive, die die Sphäre des Geldes als lebendige und lebensfördernde kennzeichnen und damit den Kontrast zum verschuldeten Großherzogtum hervorheben. Zusammengefasst und komprimiert finden sich diese zuerst im Zusammenhang mit Klaus Heinrichs Schwester Ditlinde, wenn deren Lebensweise an der Seite ihres unternehmerisch aktiven Mannes geschildert wird. In einer Art Präfiguration treten hier die positiven Effekte des Geldes auf und nehmen die Auswirkungen der Spoelmann’schen Finanzspritze vorweg, die sich landesweit entfalten werden. Denn Ditlinde hat dem kalten Leben im Alten Schloss, vor dem es ihr nun „graust“ (II, 140), den Rücken gekehrt und sich in freundlichere Gefilde begeben, indem sie einen Mann geheiratet hat, der „Geschäftsmann und Gewerbetreibender in großem Maßstabe“ (II, 131) ist. Als „Herr[…] von vorgeschrittenen Anschauungen“ (II, 130) investiert dieser sein Kapital gewinnbringend in neue „Unternehmungen“ und nutzt, frei von alten, fideikommissarischen Verpflichtungen, „seinen Privatstand wirtschaftlich ungezwungen“ (II, 131). Er hat, so Peter Hasubek, „den Pulsschlag der Zeit erkannt und weiß, wie man das feudale Wirtschaftssystem abwandeln und […] sanieren kann“52 – und bietet seiner Frau damit „behaglich reiche und heitere Verhältnisse“ (II, 131), die zu denen im Alten Schloss unterschiedlicher nicht sein könnten. Entsprechend der Bewegungslogik, die schon in Buddenbrooks dominiert, ist Ditlindes Mann ständig „unterwegs“ und hat „viel zu tun“ (II, 138). Die positive und belebende Wirkung dieser finanziell wesentlich liquideren Sphäre macht sich dann auch auf anderen Ebenen bemerkbar. So herrscht in der Wohngegend des wohlhabenden Ehepaares – im Gegensatz zum übrigen Großherzogtum – immerhin „ziemlich lebhafter Verkehr“ und sie verfügt bereits über eine „Trambahnlinie“ (II, 134). Auffallend sind auch die vielen Blumen, die bei Ditlinde blühen. Der Saal, in dem sie ihren Bruder empfängt, ist „ganz und gar mit Palmen, Blumenstöcken in Metallkübeln und farbig prangenden Blumentischen angefüllt“, und Klaus Heinrich begrüßt seine Schwester dementsprechend mit den Worten: „Guten Tag, Ditlinde, mit deinen Blumen!“. Und diese selbst hält fest, dass sie sich immer danach gesehnt habe, „unter recht vielen Blumen wohnen zu können, lebenden, duftenden Blumen“ (II, 135). Diesen Wunsch hat sie sich, vielleicht den Blumenmangel im Alten Schloss etwas überkompensierend, mehr als erfüllt, denn: 52

Hasubek, Peter: Die geschlossene Form des Romans. Thomas Manns „Königliche Hoheit“. In: Ders.: Finis coronat opus. Studien zur Typologie des Romanschlusses am Beispiel von Romanen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u.a. 2007, S. 40–54, hier S. 48.

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überall, in den Vasen auf dem Schreibtisch, dem Teetisch, dem Spiegeltisch, dem Glasschrank voll Porzellanfiguretten, dem Tischchen neben der weißen Chaiselongue waren Blumen, und ein Blumentisch voller Topfgewächse stand zum Überfluß auch hier vor dem Fenster. (II, 137)

Nicht nur die vielen Blumen mit ihrem Wohlgeruch erinnern an Spoelmanns Inneneinrichtung, sondern auch die Lichtverhältnisse, ist es doch auch bei Ditlinde freundlich und hell. Besonders Philipps zahlreiche „Bilder[…] mit all ihrer Sonne“ (II, 140, vgl. auch II, 136) sorgen für ein behagliches Ambiente. Neben der Pflanzendichte äußert sich der Unterschied zwischen der geldlosen und der geldreichen Sphäre in einem enormen Temperaturunterschied. So hat es Ditlinde dorthin gezogen, wo es „ein bißchen wärmer und freundlicher“ ist, und sie selbst erklärt, Philipps Hand genommen zu haben, weil diese „warm und gut war“ (II, 140). Damit steht sie in deutlichem Kontrast zu ihrem permafrostigen und „Pulswärmer“ (II, 346) tragenden Bruder Albrecht, der seinen Wärmemangel mit „heiße[r] Milch“ (II, 142) auszugleichen sucht. Die unternehmerische Beschäftigung „erwärmt[…]“ (II, 138) Ditlinde und verleiht ihr einen „frischen Ausdruck“ (II, 139). Nicht nur die Verkehrs-, sondern auch die menschlichen Blutströme kommen durch vorhandenes Geld also in Fluss. Ditlindes Mann ist, seit er sich seinen Unternehmungen widmet, „viel gesünder geworden“ (II, 138) und hat „rote Backen bekommen“ (II, 139, vgl. auch II, 278). Und auch Klaus Heinrich muss die hoch „anregend[e]“ (II, 139) Wirkung des Geldes konstatieren. Die hier angeschnittenen Motivbereiche der positiven Wirkung des strömenden Geldes – das Belebende, Heilende und Wärmende – finden sich, wie nun zu zeigen sein wird, im Romanganzen wieder, und konturieren den Unterschied zwischen rückständigem Großherzogtum und modernem Kapital(ismus). Die vitalisierende und dynamisierende Wirkung des Spoelmann’schen Geldes entfaltet mit der Ankunft des Milliardärs im Großherzogtum – der „Flaschenversand nahm zu“ (II, 185) – ihre Kraft und steigert sich dann kontinuierlich bis zur Rettung des Staatshaushaltes. Nachdem bereits der Kauf von Schloss Delphinenort das einheimische Gewerbe gestärkt und „Getümmel“ (II, 192), „ein Gewimmel und eine Geschäftigkeit“ (II, 194) ausgelöst hat, beleben sich nach der Spoelmann’schen Finanzspritze Handel, Verkehr und Wirtschaft im großen Stile.53 Die Volkswirtschaft erholt sich und das „ganze Leben des Fürstentums [gerät] in stürmische Bewe53

Vgl. Trapp, Frithjof: Artistische Verklärung der Wirklichkeit. Thomas Manns Roman „Königliche Hoheit“ vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Presserezeption. In: Arntzen, Helmut u.a. (Hg.): Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Berlin / New York 1975, S. 453–469, hier S. 466.

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gung“54. „Geld, Geld“ (II, 354) ist vorhanden, die Steuerlast wird gesenkt, Besoldungen und Gehälter werden erhöht, stillgelegte Anlagen wieder in Betrieb genommen und Land und Leute können aufatmen. Wäre Finanzminister Dr. Krippenreuther ein belesener Mann, würde er vielleicht das Diktum seines faustischen Kollegen, des kaiserlichen Schatzmeisters im Faust II, zitieren, das lautet: „Seht eure Stadt, sonst halb im Tod verschimmelt, / Wie alles lebt und lustgenießend wimmelt!“55 Vorbereitet wird der in seiner Wirkung so belebende Liquidisierungsschub durch vereinzelte und strategisch geschickt eingestreute Hinweise auf die allgemeine Wetterlage. Das feuchte, regnerische Wetter läutet geradezu die Kehrtwende ein und kündigt die Neuorientierung hin zur liquiden Sphäre des kapitalistischen Großkapitals an. Der Beginn von Klaus Heinrichs Werbefeldzug ist davon begleitet, dass „große Tropfen fielen“ (II, 280), als er sich mit der nach Moder riechenden Rose auf den Weg zu Imma macht. Und der Herbst, in dem die großen Veränderungen ins Rollen kommen, ist „wässerig“ (II, 324) und von „nasse[r] Witterung“ (II, 325), so dass der Prinz auf dem Weg zu seiner Auserwählten „durch den feuchten Stadtgarten“ (II, 327) reiten muss. Wenn das Großherzogtum sich dem Medium des Geldes zuwendet – das macht die Wettersemantik des Romans deutlich – begibt es sich in feuchtere Gebiete, was sich belebend auswirkt. In der Tat lassen die Wirkungen des Spoelmann’schen Geldregens nicht lange auf sich warten. Kaum ist das amerikanische Kapital im Fürstenstaate angekommen, geschieht es auch schon, dass „über uns die Himmel sich erhellten und all unsere Not sich in Lust und Wonne verwandelte“. Sofort, „von heute auf morgen“, hat es ein Ende mit „quälende[n] Staatschulden“, „Angstverkäufen“ und dem „kummervolle[n] Stande“ (II, 353) der Anlagepapiere. Ein „ungemessene[r] Segen“ (II, 354) kommt über das Land, befreit es vom Druck des „jahrzehntelange[n] Alp[s]“ (II, 353) und zieht eine heilende und belebende Spur durch das gesamte Fürstentum, deren Auswirkungen der von Bertolt Brecht besungenen belebenden Wirkung des Geldes entsprechen: Niedrig gilt das Geld auf dieser Erden / Und doch ist sie, wenn es mangelt, kalt. Und sie kann sehr gastlich werden / Plötzlich durch des Gelds Gewalt. Eben war noch alles voll Beschwerden / Jetzt ist alles golden überhaucht Was gefroren hat, das sonnt sich / Jeder hat das, was er braucht. Rosig färbt der Horizont sich / Blicket hinan: der Schornstein raucht!56 54 55 56

Borchmeyer, Repräsentation als ästhetische Existenz, S. 133. Goethe, Faust, V. 6077 f. Auszug aus der ersten Strophe von Brecht, Bertolt: Lied von der belebenden Wirkung des Geldes. In: Ders.: Gedichte 1930–1933: Lieder, Gedichte, Chöre. Die drei Soldaten. Die

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Dank des Bündnisses mit dem zeitgemäßen Souverän wird, entsprechend einer klaren Vorher-nachher-Dichotomie, aus krank gesund, aus alt neu und aus kalt warm. Nicht nur das Land wird von seinem Albdruck befreit und die „Gesundung“ (II, 340) der Staatswirtschaft in die Wege geleitet, sondern auch der mit-leidende Finanzminister blüht wieder auf: Er trug sich aufrecht und frei, sein Gang ward schwebend, die gelbe Farbe verschwand aus seinem Antlitz, es ward weiß und rot, seine Augen blitzten, und so völlig kam in wenigen Monaten sein Magen zu Kräften, daß der Minister […] sich ungestraft dem Genusse von Blaukraut und Gurkensalat überlassen durfte. (II, 353)

Die Anzeichen der Genesung zeigen sich nicht nur bei Dr. Krippenreuther, sondern auch bei den übrigen Protagonisten. Auffallendstes Merkmal sind die roten Backen, die schon von Ditlindes Mann bekannt sind und die geradezu epidemieartig auftreten, sobald ihre Träger sich mit geschäftlichen bzw. finanziellen Dingen befassen. So bekommen Klaus Heinrich und Imma bei ihrer nicht nur den Kreislauf anregenden Lektüre finanzwissenschaftlicher Lehrbücher „beide heiße Gesichter“. Immas Antlitz, „sonst von der Blässe der Perlen“, wird von einem „Hauch von Röte“ überzogen, ihre meist nur fließenden Augen werden auch zu „flammend[en]“ (II, 327). Und bei Klaus Heinrich zeigen sich die gleichen Symptome wie bei dem unternehmerisch aktiven Philipp, denn er „fühlte, daß er rote Backen bekam vor Eifer, wie sein Schwager zu Ried-Hohenried von seinem Torf“ (II, 324). Sogar Spoelmann selbst, der sich für das Glück seiner Tochter nachhaltig einsetzt, bekommt „fast rote Backen vor lauter Geschäftigkeit“ (II, 356). Am deutlichsten zeigt sich die belebende Wirkung des strömenden Geldes jedoch in seiner wärmenden Kraft, und der Gegensatz von kalt und warm ist sicherlich (vor allem quantitativ) am nachdrücklichsten herausgearbeitet. Während es, wie oben ausgeführt, bei Spoelmanns und Ditlinde wohltemperiert ist, fällt die Sphäre Klaus Heinrichs durch ihre Kälte auf. Symptomatisch wird das am Alten Schloss aufgezeigt, das „mit kaltem Verzicht der luftigen und warm durchsonnten Welt da draußen entgegen“ (II, 109 f.) steht. Die Fenster, durch die es „empfindlich zog“ (II, 155), sind schlecht isoliert, und Albrechts Arbeitszimmer ist „zugig[…]“ (II, 338). Entsprechend unterkühlt geht es in Klaus Heinrichs Kindheit zu, wird seine Mutter doch mit ihrem „Lächeln kühler Vollkommenheit“

sieben Todsünden der Kleinbürger. Unveröffentlichte und nicht in Sammlungen enthaltene Gedichte. Gedichte und Lieder aus Stücken. Frankfurt am Main 1961 (Gedichte III), S. 237–238, hier S. 237.

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(II, 59 f.), ihren „kühlen Worten“ (II, 60), ihrem kalten Blick (vgl. II, 59) und ihrer „kühl“ (II, 62) gepflegten Schönheit alles andere als warmherzig beschrieben. Sie harmoniert temperaturmäßig mit ihrem Mann, der „fremd und kalt“ (II, 58) ist. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Szene im Silbersaal des Schlosses zu nennen (vgl. II, 56 ff.), in der das ‚kalte‘ Vokabular dominiert; alles ist dort beispielsweise in den kühlen Farben Silber57 und Weiß gehalten. In dem Saal mit der „kalte[n] Feuerstelle“ (II, 56), in dem es so kalt ist „wie in dem der Schneekönigin“ (II, 57), ergreift den 13-jährigen Klaus Heinrich „eine Ahnung, eine ungefähre und wortlose Erkenntnis dessen, was seine Angelegenheit war“ (II, 63), und er wird sich der Kälte seiner Sphäre bewusst. Mit der Bindung an Imma verlässt Klaus Heinrich, den bereits das Studium der Finanzbücher „warm und froh“ (II, 324) macht, die kalten Gefilde und begibt sich in „wärmere[…] Sphären“ (II, 355). Als zentrales Symbol für die wärmende Wirkung des Geldes ist die Zentralheizung anzusehen, auf die wiederholt hingewiesen wird. Sie kann als Ausdruck für die kapitalistische Moderne par excellence angesehen werden, vereint sie als zeitgemäße technologische Errungenschaft mit ihrer strömenden, liquiden Funktionsweise und wärmenden Wirkung in sich doch alles, was die Geldstrommetapher ausmacht. Mit der Lösung von den unmodernen Wirtschaftweisen und dem Bündnis mit dem amerikanischen Kapital wird eine Kehrtwende im Großherzogtum eingeläutet, von deren liquiden Folgen der Roman zeugt. Immas enorme Mitgift wird nicht nur kurzfristig zur Schuldendeckung herangezogen, sondern auch als Kapital investiert. Stillgelegte Betriebe werden reaktiviert und der Wald, der in seinem Kapitalwerte erschüttert war, wird wieder aufgeforstet (vgl. II, 354). Ob der rückständigen Volkswirtschaft aber letztlich die Umstellung auf eine moderne kapitalistische Wirtschaftweise – wie Jochen Hörisch es formuliert: die Umstellung von Moder auf Moderne58 – vollständig und dauerhaft gelingen wird, ist, gerade auch in der Forschung, umstritten.59 Auch wenn sich die positive, wärmende Wirkung des Kapitals schnell entfaltet, so ist doch die Frage zu stellen, ob letztlich nur das amerikanische Kapital importiert wird oder 57 58 59

Das Lexem silbern wird auf knapp zwei Seiten in diversen Wortformen allein 14-mal verwendet. Vgl. Hörisch, Kopf der Zahl, S. 340. So stellt auch Thomas Sprecher in einer Fußnote fest: „Ob aber die Krippenreuther und Knobelsdorff aus all dem Segen ihre Lehren ziehen und über Nacht zur Verwaltung der Staatsfinanzen tauglich werden, steht dahin.“ (Sprecher, Thomas: Ehe als Erlösung? In: Ders. (Hg.): Vom „Zauberberg“ zum „Doktor Faustus“. Die Davoser Literaturtage 1998. Frankfurt am Main 2000 (Thomas-Mann-Studien 23), S. 185–236, hier S. 213, Anm. 62).

3.3 Geld und Glück

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auch tatsächlich die dahinter stehende kapitalistische Wirtschaftsweise.60 Als Bild für diese Unentschiedenheit kann die gemeinsame Automobilfahrt von Imma und Klaus Heinrich dienen, bei der die Kräfte des modernen und schnellen Automobils für die Repräsentationsfahrt gedrosselt werden müssen (vgl. II, 355). Es bleibt offen, ob es sich um eine gelungene Verschmelzung und gegenseitige Anpassung von alt und neu handelt oder ob die Modernisierung vom rückständigen, romantischen Großherzogtum ausgebremst wird. Auch der modrige Rosenstock unterstreicht diese Problematik. So wie dessen Umpflanzung aus dem Alten Schloss „in Luft und Sonne“ (II, 357) noch keine Garantie für eine bessere Duftnote ist,61 so ist auch die große Schenkung Samuel Spoelmanns ohne Gewähr. Angesichts des gesteigerten Interesses des Herrscherpaares an finanzwirtschaftlichen Themen besteht jedoch die Hoffnung, dass die Umstellung gelingen wird. Als wichtigstes Indiz dafür lassen sich die persönlichen Veränderungen anführen, die Klaus Heinrich und Imma durchlaufen. Denn wie im Folgenden gezeigt wird, läuft die ökonomische Misere, die auf dem Beharren des Repräsentationsgedankens beruht, parallel zur privaten Unzufriedenheit der Protagonisten, die ihre Ursache – man beachte die semantische Kongruenz – in deren repräsentativer Existenz hat. Der Weg zu privatem und ökonomischem Glück verläuft jeweils über die Loslösung vom Gedanken der Repräsentation und so besteht die berechtigte Hoffnung, dass das Umdenken in beiden Bereichen von Dauer sein wird.

3.3 Geld und Glück Wie die vorangehenden Ausführungen zeigen, wird der Roman Königliche Hoheit von einer deutlich konturierten Vorher-nachher-Polarität bestimmt, die die Sphäre des modernen Kapitals der Sphäre des rückständigen Großherzogtums kontrastiv gegenüber stellt. Auf textlicher Ebene wird diese Dichotomie durch die Verwendung der deutlich an der Geldstrommetaphorik orientierten semantischen Gegensatzpaare reich/arm, liquide/ unliquide, modern/unmodern, schnell/langsam, warm/kalt, gesund/krank und lebendig/unlebendig realisiert. 60

61

So meint beispielsweise Peter Hasubek: „Denn tatsächlich geht es um die wirtschaftliche Sanierung des durch unzeitgemäße Formen herabgewirtschafteten feudalistischen Systems mit Hilfe des Kapitals (weniger mit kapitalistischen Wirtschaftsformen, die im Roman nicht veranschaulicht werden).“ (Hasubek, Die geschlossene Form des Romans, S. 49). Zum Rosenstock vgl. die ausführliche Untersuchung von Rickes, Joachim: Der sonderbare Rosenstock. Eine werkzentrierte Untersuchung zu Thomas Manns Roman „Königliche Hoheit“. Frankfurt am Main u.a. 1998.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

Erstaunen mag daher die Tatsache, dass diesem schematischen Raster nicht alle Protagonisten uneingeschränkt und eindeutig zugeordnet werden können. Gerade Spoelmanns, die Hauptvertreter der kapitalistischen Sphäre, fallen zunächst deutlich aus diesem Rahmen. Auch wenn sie die äußeren Attribute des Liquiden und Warmen erfüllen, werden sie auf personaler Ebene doch auch eindeutig der Sphäre des Kranken und Kalten zugeordnet. Spoelmann selbst ist, so ist mehrfach zu erfahren, „krank […] vor lauter Reichtum“ (II, 154, vgl. auch II, 203), und Imma wird in einem „kühle[n] und spöttische[n] Reich“ (II, 308) angesiedelt. So uneingeschränkt, wie zunächst zu vermuten, erwärmt und belebt das Medium Geld den, der es besitzt, also anscheinend doch nicht. Seine positive Wirkung scheint es nicht per se, sondern nur eingeschränkt bzw. unter bestimmten Bedingungen zu entfalten. Wie diese aussehen, und was vonnöten ist, um den Einzelnen zu erwärmen und zu beleben, soll im Folgenden mit einem auf Klaus Heinrich und Imma fokussierenden Blick untersucht werden. Die Aufmerksamkeit wird nun von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage auf die Protagonisten und deren Probleme und Entwicklungen gerichtet. Virulent im Hinblick auf das Thema ‚Geld‘ wird also die Frage nach der Lebensführung, dem Umgang und dem Verhältnis des Einzelnen zu dieser Größe. Denn Geld allein, so verrät der Blick auf den kranken Geldfürsten Spoelmann – und bestätigt damit die Diagnose aus Buddenbrooks – scheint nicht die Antwort auf die Frage nach einem erfüllten und glücklichen Leben zu sein. Doch gerade darum ringen die Protagonisten des Romans, wenn sie sich, Klaus Heinrich ebenso wie seine Schwester Ditlinde und Imma Spoelmann, von ihrem kalten Leben abkehren und ihr Glück suchen. Wie und inwieweit ihnen das gelingt, wird nun im Folgenden untersucht. 3.3.1 Das repräsentative Dasein Gleich im „Vorspiel“ wird deutlich, dass das Leben Klaus Heinrichs zunächst alles andere als warm und fröhlich ist, wenn der junge Prinz als „fremd“, „einsam“ und „von einer Leere umgeben“ (II, 11) beschrieben wird. Damit sind die Grundkoordinaten von Klaus Heinrichs Existenz genannt, zeichnet sich dessen Dasein doch vor allem durch den Abstand zum Leben der breiten Masse aus. Als Mitglied des fürstlichen Herrscherhauses führt er seit dem Tag seiner Geburt ein repräsentatives Dasein, das von Unsachlichkeit und Isoliertheit bestimmt ist. Fern „aller menschlichen Wirklichkeit“ (II, 118) wächst er unter der Ägide des Dr. Überbein auf, der dafür sorgt, dass alle „Sachlichkeit […] mehr und mehr aus seinem Dasein“ (II, 90) entweicht. Denn kaum tritt dieser Apologet der Un-Sachlichkeit in Erscheinung, vermindern sich auch schon „in sachlicher Beziehung die

3.3 Geld und Glück

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Ansprüche“, die man an Klaus Heinrich stellt. Dieser lernt „sachlich wesenlose Unterredungen“ (II, 96) zu führen, bei denen man „scheinbar sachliche[…] Beteiligung“ (II, 258) suggeriert, und eine Haltung anzunehmen, die „von keiner sachlichen Beteiligung jemals aufgelöst[…]“ (II, 117 f.) wird. Ganz dem Programm des Mentors folgend, verbringt der Prinz sein Universitätsjahr „ohne sachliches Schwergewicht in jeder Beziehung“ (II, 115) und völlig unbehelligt von jeglicher „gegenständlich wissenschaftliche[n] Richtung“ (II, 116). Entsprechend unsachlich (vgl. II, 238, 270) gestaltet sich auch sein späteres Berufsleben, das primär aus „Unechtheit und Scheinbarkeit“ (II, 159) besteht. Abseits der Welt „sinnreicher Nützlichkeit“ und von „Leben, Arbeit und Tüchtigkeit“ (II, 166) ist Klaus Heinrichs Dasein „[o]hne rechten Alltag […] und ohne rechte Wirklichkeit“ (II, 159). Ausgeschlossen vom gemeinen Leben ist seine Existenz, wie Überbein es formuliert, eine „formale Existenz“, die „kein Recht auf unmittelbare Vertraulichkeit“ (II, 84) hat. Mit seiner auf Repräsentation ausgerichteten Existenz steht er abseits von Leben und Wirklichkeit – und damit auch abseits jedweder menschlichen Wärme, Nähe und Zuwendung. Verdeutlicht wird dies durch die Metapher des starren und kalten Herzens, die wiederholt für das kalte und strenge Dasein (vgl. II, 308) Klaus Heinrichs bemüht wird. So wird der Silbersaal, die räumliche Verkörperung des repräsentativen Daseins der Familie, mit dem der Schneekönigin verglichen, in dem „die Herzen der Kinder erstarren“ (II, 57); die Gefühlskälte und Apathie der Mutter, die ausschließlich an der eigenen Schönheit und ihrem äußeren Schein interessiert ist, findet ihren Ausdruck darin, dass ihr „Herz nicht hochschlug, keineswegs, für nichts und für niemanden“ (II, 60, 129). Auf den heimlichen Streifzügen, die Klaus Heinrich als Kind in die Gefilde des ‚wahren‘ Lebens unternimmt, ist es gerade sein Herz, das „von den wilden und frechen Dingen“ (II, 75) berührt wird. Der Reiz des Verbotenen besteht in dem „Wunsch, sein Herz berühren zu lassen von Dingen, die seine Hoheit ihm vorenthielt“ (II, 64). Als Experte in Sachen Außenseitertum erkennt Klaus Heinrich natürlich sofort, dass es sich bei Imma Spoelmann um eine Leidensgenossin handelt, die ebenso isoliert und einsam ein „einigermaßen langweiliges und einfältiges Leben“ (II, 255 f.) führt.62 Auch sie ist ein „Sonderfall von Geburt, wie er, aufgewachsen in Reinheit und Feinheit, ausgeschlossen von dem Treiben der Leute und unteilhaft der wilden Dinge, die im wirklichen Leben jenen düster großen Wörtern entsprachen“ (II, 237). Ausschlaggebend für Immas Außenseiterposition sind zum einen ihre „Abstammung“ (II, 264) – sie ist mit dem „schweren Makel“ (II, 265) indianischen Blutes 62

Vgl. dazu vor allem Borchmeyer, Repräsentation als ästhetische Existenz, S. 127 ff.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

belegt – zum anderen vor allem aber der Reichtum ihres Vaters, der die Familie ihre exponierte Stellung zu verdanken hat. Als Tochter eines Geldfürsten führt sie ein ähnlich repräsentatives Leben „for show“ (II, 256) wie Klaus Heinrich, jedoch mit dem Unterschied, dass sie im kapitalistischen Amerika nicht nur wohlwollend und interessiert „[b]estaunt“ (II, 266), sondern auch mit „Mordlust in den Augen“ (II, 232) betrachtet wurde. Alle Versuche Samuel Spoelmanns, seinem ererbten Reichtum durch diverse Wohltätigkeitsmaßnahmen die Absolution zu erkaufen, sind kläglich gescheitert. All die „gewaltigen Schenkungen an Kollegien, Konservatorien, Bibliotheken, Wohltätigkeitsanstalten und jene Universität […], die sein Vater gegründet hatte und die seinen Namen führte“ (II, 187 f.), konnten „gesetzliche Anfeindungen und beständige Widerwärtigkeiten“ (II, 264) nicht dauerhaft verhindern. Konfrontiert mit dem „Haß der benachteiligten Menge gegen die aufgehäufte Macht des Geldes“ (II, 187) sucht Samuel Spoelmann Rettung im Großherzogtum, in dem die Volksmasse noch nichts von ausgleichender Gerechtigkeit gehört zu haben scheint und er in Ruhe sein Wasser trinken kann. Die Flucht in vorkapitalistische und vor allem undemokratische Sphären bietet für Vater und Tochter also den großen Vorteil, dass sie hier lediglich bewundert und beobachtet, im Großen und Ganzen aber unbehelligt mit ihrem geerbten, und damit ja tatsächlich ursächlich nicht verdienten Reichtum leben können. Dass Imma, wie auch Klaus Heinrich, „von jeher ein wenig allein und abgesondert gewesen“ (II, 255) ist, äußert sich auch in ihrem Studium der Algebra, das als Spiel „im luftleeren Raume“ (II, 242) als nicht geerdete und ‚wirkliche‘ Beschäftigung apostrophiert wird. Denn wenn Imma ihre Mathematik betreibt, befindet sie sich, wie Klaus Heinrich mit einem Vergleich zum Ausdruck zu bringen versucht, „außerhalb der Luft“ (II, 256) und damit meilenweit von allem Leben entfernt, das ja gerade auf Luft und Atem basiert. Auch Imma selbst verortet ihre Tätigkeit „in den Lüften […] oder schon außerhalb der Luft“ (II, 227), dort, wo man es „so kühl wie in den Adirondacks“ (II, 228) hat. 63 Von Nöten ist also eine Hinwendung zu den Sachen, zum Leben und zur Realität. Samuel Spoelmann ist „krank vor Reichtum“ (KH 203), 63

Es ist also gerade der Mangel an Luft – als Metapher für die Sphäre des Lebens, der Wirklichkeit –, der hier kennzeichnend ist. Entsprechend dieser Textbelege ist Imma also weniger dem Reich der Luft zuzuordnen als dem des Luftmangels. Angesichts der deutlichen Verwendung der Luft-Metapher lässt sich Imma aber dennoch assoziativ als Luftwesen apostrophieren und die Metapher als Bild für Wurzel- und Heimatlosigkeit lesen. Unter Rekurs auf die Metapher der ‚Luftmenschen‘ ließe sich Immas Außenseiterposition – die ja auf der Kombination von Reichtum und falscher Blutzusammensetzung beruht – als spezifisch jüdische lesen. Vgl. dazu Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008 (Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur 3).

3.3 Geld und Glück

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da er mit seinem „Herz niemals so recht und ganz bei den Transaktionen gewesen war“ (KH 188) und „sogar nie so besondere Lust zu den Geschäften gehabt“ (KH 152) hat. Es wird deutlich, dass ein Leben „ohne sachlichen, ethischen Inhalt zum Bankrott führen muß.“64 Wie man diesen umgehen kann, demonstriert Ditlindes Ehemann, der seinen eigenen Betrieben „mit Sachkenntnis“ vorsteht und daraus „innere Befriedigung“ (KH 131) zieht. Geld alleine erwärmt die Personen noch nicht, so lehrt der Gegensatz Spoelmann – Philipp zu Ried-Hohenried, sondern die aktive Beschäftigung damit. 3.3.2 Privater und öffentlicher Kredit Um sein Glück zu finden, muss sich Klaus Heinrich also von seiner rein formal-repräsentativen Existenz verabschieden und der konkreten Sache zuwenden. Denn das Glück zu finden und gleichzeitig seinem „hohen Beruf“ (II, 275) treu zu bleiben funktioniert, wie Dr. Überbein weiß, leider nicht (vgl. II, 275). Um in wärmere Sphären vorzudringen, gilt es von der Ideologie des Mentors Abschied zu nehmen. Dass dieser damit so überflüssig wird wie die körperliche Bildung, auf die sein Name hinweist, weiß Raoul Überbein selbst am besten und reagiert auf Klaus Heinrichs Hoffnung auf „das erlaubte und innerlich hoffnungsvolle und glückselige Glück“ mit der treffenden Feststellung: „Adieu, Prinz Klaus Heinrich“ (II, 274). Sein Ausscheiden aus der Romanhandlung mit der Bekanntgabe der Verlobung seines ehemaligen Schützlings ist die letzte Konsequenz seiner Überflüssigwerdung; denn, wie Friedhelm Marx formuliert: „die Hochzeitsfeierlichkeiten hätte er vermutlich ohnehin nicht überstanden.“65 Um aus seiner „Unwirklichkeit zur Wirklichkeit und zum Leben erlöst“ (XIII, 146) zu werden, muss Klaus Heinrich also sein „formale[s], unsachliche[s], übersachliche[s]“ (XI, 575) Dasein verlassen. Dies geschieht, wenn er – angeregt durch den hellsichtigen Dr. Krippenreuther – beginnt, sich mit der finanziellen Lage seines Landes zu beschäftigen. Der Finanzminister holt den in unsachlichen Sphären schwebenden Prinzen mit einer ungeschminkten Belehrung über den Stand der Volkswirtschaft „auf den Boden der Wirklichkeit“ (II, 309). In ihrer „massigen und nackten Sachlichkeit“ (II, 319) dringen die wirtschaftlichen Fakten auf den „anfänglich […] von soviel Sachlichkeit“ (II, 315) etwas Befremdeten ein, der sich dann jedoch der „ruhigen Erörterung der Sachlage“ (II, 317) nicht ver64 65

Borchmeyer, Repräsentation als ästhetische Existenz, S. 130. Marx, Friedhelm: Thomas Mann und Nietzsche. Eine Auseinandersetzung in Königliche Hoheit. In: DVJS 62 (1988), S. 326–341, hier S. 336.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

schließt. Auch wenn Klaus Heinrichs „erhabene Bestimmung dem rauhen Getriebe der Wirklichkeit entrückt, durch schöne Vorkehrungen davon geschieden“ (II, 318) ist, wie der Überbringer der schlechten Nachrichten vorsichtig zugesteht, halten ihn die Fakten doch „unnachsichtig im Banne des Gegenständlichen“ (II, 319). Vielmehr noch zeitigt diese Hinwendung zur Sache und zur „wirtschaftliche[n] Lage des Landes“ sogleich eine positive Wirkung, indem sie den Prinzen, der „in vollem Ernst seine Denkkraft in Anspruch“ (II, 319) zu nehmen gezwungen ist, „stark erhitzt“ (II, 317). Die Abweichung vom Protokoll des reinen Repräsentierens und die Hinwendung zur Ökonomie zeigen eine erste wärmende Wirkung: „Und doch war es gut, es erwärmte innerlich, das alles zu hören und sich um der Sache willen darein vertiefen zu müssen.“ (II, 320 f.) Inspiriert wendet sich Klaus Heinrich mit seiner eigenständigen Lektüre volkwirtschaftlicher Lehrbücher der „Wirklichkeit“ (II, 324) seines Landes zu. Er geht „wirklichen Studien“ (II, 325) nach und taucht tief in die Materie ein. „[G]anz seinem Gegenstand“ (II, 326) hingegeben, studiert er „lebendige, nur allzu brennende Tagesfragen“ und geht damit zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlicher Arbeit in Hülle und Fülle (vgl. II, 325) nach. Auch bei der gemeinsamen Lektüre mit Imma entfaltet die eigentlich trockene Materie ihre höchst belebende Wirkung, indem sie das Blut der beiden Lesenden in Wallung bringt. Die Beschäftigung mit den finanziellen Tagesfragen erlöst die beiden von ihrer unsachlichen und leeren Existenz. Klaus Heinrich verabschiedet sich von dem „Bewußstein, daß alle diese Gegenständlichkeit für seinen hohen Beruf unwesentlich und unnötig sei“ (II, 116), und übernimmt die notwendige Verantwortung für Land und Leute. Als Volkswirt macht er nicht nur seine Landeskinder, sondern auch sich selbst glücklich. Das „Glück“ (II, 323) des Fürsten ist „von dem seines Landes unzertrennlich[…]“ (II, 322 f.), wie Dr. Krippenreuther diagnostiziert, und „zur Bedingung der öffentlichen Wohlfahrt geworden“ (II, 323). Klaus Heinrichs Wünsche verlaufen parallel zum „Großen, Ganzen“, ja, wie er Imma erklärt, „öffentliche Wohlfahrt […] und unser Glück, die bedingen sich gegenseitig“ (II, 337). Das „Ringen um Kreditwürdigkeit herrscht […] parallel zur Staatskrise auch im privaten Bereich“66 , was sich daran zeigt, dass Klaus Heinrichs Werbung um Imma explizit als Glaubens- und Vertrauenskampf gezeichnet wird: Es war der Kampf um Imma Spoelmanns Glauben, der Kampf darum, daß sie ihm in dem Grade vertrauen möge, um des Entschlusses fähig zu sein, sich aus der frostigen und reinen Sphäre, darin sie zu spielen gewohnt war, aus dem Reiche der Algebra und der Sprachverspottung mit ihm hinabzuwagen in die fremde Zone, jene wärmere, dunstigere und fruchtbarere, welche er ihr zeigte. (II, 301) 66

Schößler, Glauben, Schreiben, Verdienen, S. 132.

3.3 Geld und Glück

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Angesichts der so auf Schein und Repräsentation beruhenden Existenz Klaus Heinrichs fällt es Imma nachvollziehbar schwer, „an die Wirklichkeit und Lebendigkeit [seiner] Empfindungen zu glauben.“ (II, 298) Denn was er ihr einflößt, „ist nicht Vertrauen, […] sondern Kälte und Befangenheit“ (II, 306). Gerade der Mangel an sachlichem Inhalt steht dem Fundamentalkredit, den Klaus Heinrich bei Imma einzufordern sucht – „Es ist Vertrauen, Imma, – könnten Sie nicht ein wenig Vertrauen zu mir haben?“ (II, 305) –, zunächst im Wege. Imma ist nur bereit, einen Kredit mit einer relativen Deckungsgarantie zu gewähren, und dem steht Klaus Heinrich anfangs mit seiner „ganze[n] erlauchte[n] Persönlichkeit“ (II, 305) entgegen: […] und es ist ganz unmöglich, Vertrauen zu Ihnen zu haben. Ich habe Gelegenheit gehabt, Sie im Verkehr mit anderen Leuten zu beobachten, […], es war immer dasselbe, und immer habe ich Kälte und Angst dabei empfunden. Sie halten sich aufrecht und stellen Fragen, aber nicht aus Teilnahme, es ist Ihnen nicht um den Inhalt der Frage zu tun, nein, um gar nichts ist es Ihnen zu tun, und nichts liegt Ihnen am Herzen. […] denn in Wirklichkeit haben Sie keine Meinung und keinen Glauben, und auf nichts kommt es Ihnen an als auf Ihre Prinzenhaltung. Sie sagen zuweilen, Ihr Beruf sei nicht leicht, aber […] so will ich Ihnen bemerken, daß er Ihnen leichter fallen würde, wenn Sie eine Meinung und einen Glauben hätten, Prinz, – das ist meine Meinung und mein Glaube. (II, 305 f.)

Die Auseinandersetzung zwischen Imma und Klaus Heinrich ist also eine um Glauben und Vertrauen. „Fortschritte“ in Sachen „Vertrauen“ (II, 308) macht Imma erst in dem Moment, in dem sich Klaus Heinrich mit den volkswirtschaftlichen Fragen beschäftigt und damit seine Kreditwürdigkeit unter Beweis stellt. Denn, so Imma, „ohne unsere Studien über die öffentliche Wohlfahrt würde ich mich schwerlich zum Vertrauen zu Ihnen entschlossen haben.“ (II, 337). Bei der gemeinsamen Lektüre kann sie sich von Klaus Heinrichs Substanzgewinn, der sich in der zwischen den beiden entstehenden Wärme unmittelbar ausdrückt, selbst überzeugen und das Kreditrisiko einer Hochzeit eingehen. Dass hier wie auch im finanziellen Bereich letztlich keine hundertprozentige Sicherheit gewährleistet ist, bringt Imma in ihrem gedoppelten Glaubensbekenntnis zum Ausdruck: „Sagen Sie mir… sagen Sie mir heute: Haben Sie nun Vertrauen zu mir?“ „Doch, Prinz, in letzter Zeit habe ich Vertrauen zu Ihnen gefaßt.“ […] „Und so glauben Sie denn nun, daß es mir ernst ist, wirklicher, ernsthafter Ernst um Sie und um uns?“ „Ja, Prinz, in letzter Zeit glaube ich, daß ich es glauben kann.“ (II, 336 f.)

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

Mit diesem Ja-Wort67 besiegelt Imma ihre Konversion vom Unglauben bzw. Glauben an die Substanzlosigkeit hin zum Glauben an Klaus Heinrich und dessen Befähigung, sich auf eine Sache mit dem Herzen einzulassen und tatsächliche Teilnahme für die Nöte seines Landes aufzubringen. Mit dem Ende des Ringens um personalen und finanziellen Kredit finden schließlich „konsolidierter Staatshaushalt, gelingende Geldgeschäfte und privates Glück zusammen.“68 Im privaten Bereich wie in der Ökonomie ist Abstand vom Repräsentationsgedanken geboten und kreditäres Vertrauen gefragt. Der fürstlichen Scheinexistenz wird ebenso eine Absage erteilt wie einer repräsentationslogischen Geldtheorie. Gefordert ist ein Vertrauen auf die Liebe und eine Akkreditierung des Geldes. Wirtschaftlich wie privat muss – um Glück zu erringen – ein Vertrauenskredit auf die Zukunft erteilt werden. Mit ihrem Bekenntnis zum Glauben geht Imma privat den Schritt, den der Staat ökonomisch wagen muss. Der Glaube und der kreditäre Vertrauensvorschuss sind die Grundlagen für das ‚Wunder‘ der Liebe wie für das ‚Wunder‘ der Geldschöpfung aus dem Nichts. Und vielleicht entstammt Immas Einsicht ja ihrer Lektüre volkswirtschaftlicher Lehrbücher, in denen sie den folgenden Satz Adam Müllers gelesen haben mag: Nicht in der Teilung der Arbeit, nicht in den edeln Metallen liegt das Wunder der großen und dauerhaften Wirkungen, welche die Industrie hervorbringt; nicht in der bloßen Allianz der ökonomischen Kräfte, sondern darin, worin alle Wunder der Erde [liegen]: im Glauben aneinander, im Glauben an den Glauben.69

Indem Klaus Heinrich und Imma von der Idee des Herrscherpaares, das ausschließlich repräsentiert, Abstand nehmen, wird auch hier – auf staatsorganisatorischer Ebene sozusagen – eine genuin romantische Idee ins Spiel gebracht, die dem repräsentationslogischen Umdenken um 1800 entspringt. In Abgrenzung zu mechanistischen Staatsvorstellungen wurde in zahlreichen Schriften ein organisches Modell des Staates ins Feld geführt und damit eine neue Form sozialer Synthesis visioniert, die auf autoregulative Prozesse und Steuerungen setzt. Federführend war hier der Wirtschaftstheoretiker Adam Müller, der ein in seinen 1808/09 unter dem

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Vgl. dazu auch Hansel, Beate: ‚Königliche Hoheit‘ – Selbstverwirklichung in der Prinzenloge. In: Dies.: Die Liebesbeziehungen des Helden im deutschen Bildungsroman und ihr Zusammenhang mit der bürgerlichen Konzeption von Individualität. Frankfurt am Main u.a. 1986 (Europäische Hochschulschriften, Deutsche Sprache und Literatur 901), S. 174–203, die Immas Ja-Wort als „Bekenntnis mit beschränkter Haftung“ (ebd., S. 186) bezeichnet. Schößler, Glauben, Schreiben, Verdienen, S. 137. Müller, Adam, Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 162 f.

3.3 Geld und Glück

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Titel „Über das Ganze der Staatswissenschaft“70 gehaltenen Vorlesungen organisch organisiertes Gemeinwesen entwarf. Die darin verwendete Terminologie der „Anatomie des Staates“ und der „Heilmittel für seine Krankheiten“71 erinnert stark an die Wortwahl des Romans. Früher noch als Müller hat sich bereits Novalis zunächst in den Blüthenstaub Fragmenten72 und dann in dem Fragment (mit dem in unserem Zusammenhang bedeutsamen Titel) Glauben und Liebe oder Der König und die Königin von 1798 gegen die „maschinistische Administration“73 im Stile von Friedrich Wilhelm I. und für eine lebendige, organische Organisationsform ausgesprochen. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Herrscherpaar zu,74 das als Ausdruck eines idealen und harmonischen Verhältnisses den Gesamtorganismus verkörpert, und in dem sich das Volk selbst wieder erkennt. Im Königspaar wird, wie Ethel Matala de Mazza Novalis auslegt, „der soziale Körper als lebendiger Körper Fleisch“75. Dem von Novalis’ heraufbeschworenen „Bild dieses glücklichen, innig verbundenen Paars“76 kommen Imma und Klaus Heinrich doch erstaunlich nahe, wenn sie als Brautpaar auf dem Balkon die Träume der Landeskinder erfüllen. Denn das Volk sehnt sich nach einem Herrscherpaar, „in dessen Anblick es hochleben und seiner selbst“ (II, 127) froh sein kann und bei dessen Betrachtung „sich das graue Leben [verklärt] und […] Poesie“ (II, 159) wird. „[I]m Grunde“, heißt es im Roman, „wünschte das Volk, sich stolz und herrlich 70

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Heute unter dem Titel „Die Elemente der Staatskunst“ bekannt: Müller, Adam: Die Elemente der Staatskunst. Mit einem unveröffentlichten Bildnis des Verfassers nach Gerhard von Kügelgen. Mit einer Einführung, erklärenden Anmerkungen u. bisher ungedruckten Originaldokumenten versehen v. Dr. Jakob Baxa. 1. Halbband. Jena 1922. Vgl. Matala de Mazza, Ethel: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg im Breisgau 1999 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 68), S. 265 ff. Müller, Adam, Elemente der Staatskunst, S. 9. So heißt es dort z.B.: „Der Weltstaat ist der Körper, den die schöne Welt, die gesellige Welt beseelt. Er ist ihr nothwendiges Organ.“ (Novalis: Blüthenstaub. In: Novalis. Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl. München / Wien 1978 (Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2), S. 225–285, hier S. 227). Novalis, Glauben und Liebe, S. 300. Wichtig ist festzuhalten, dass es sich bei Novalis’ aphoristischem Sammelsurium weniger um eine systematische Staatskonzeption, wie sie dann z.B. Adam Mülller entwickelt, handelt, sondern viel mehr um einen „ästhetische[n] Entwurf“ (Pikulik, Lothar: Der sanfte Radikalist. Über die Staatsschrift „Glauben und Liebe“ von Novalis. In: Fink, Gonthier-Louis (Hg.): Les Romantiques allemands et la Révolution française. Colloque international organisé par le Centre de Recherches ‚Images de l’Etranger‘. Strasbourg 1989 (Collection Recherches Germaniques 3), S. 147–161, hier S. 156). Novalis hat seine Aphorismen anlässlich der Krönung von Friedrich Wilhelm III. und Luise von Preußen 1797 verfasst. Matala de Mazza, Der verfasste Körper, S. 133. Novalis, Glauben und Liebe, S. 302.

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3 Königliche Hoheit: Das Wunder der Geldschöpfung

dargestellt zu sehen“ (II, 43). Das Bedürfnis nach einer Figur, in der es sich in erhöhter Gestalt wieder finden kann, zeichnet schon Novalis’ Idealvorstellung aus, in der das Herrscherpaar das „gewöhnliche Leben“77 veredelt. Und genau das realisieren Klaus Heinrich und Imma, wenn sie das Volk „über den Wochentag und seine Sachlichkeit“ (II, 363) erheben und Novalis’ Traum der Leibhaftigwerdung wahr werden lassen: In unsern Zeiten haben sich wahre Wunder der Transsubstantiation ereignet. Verwandelt sich nicht ein Hof in eine Familie, ein Thron in ein Heiligthum, eine königliche Vermählung in einen ewigen Herzensbund?78

Entsprechend der romantischen Vorstellung ist ein König also „Souverän nicht weil er herrscht, sondern weil er lebt. Er ist politisch von Bedeutung nicht als ‚Person‘ und Repräsentant ‚im Namen von‘, sondern als ‚reale Gegenwart‘ und ‚ganzer Mensch‘ “79. Und dies gelingt Klaus Heinrich und Imma mit ihrer Hinwendung zum Leben und zu den realen (ökonomischen) Dingen. Damit wird eine deutlich appellative Botschaft ethisch-moralischen Charakters transportiert, die dem Herrschenden „gemeinnützig-sachliche Tugenden“80 ans Herz legt. Mit dieser Hinwendung zum Allgemeinwohl wird aber kein direkter Weg in Richtung Demokratie eingeschlagen; vielmehr wird, wie schon oben angesprochen, das in einem kapitalistisch-demokratischen System verdiente Kapital zunächst in die monarchische Volkswirtschaft inkorporiert – und die Monarchie erhält, wie Hinck es formuliert, in dem Zusammenschluss mit der Geldaristokratie eine stärkende „Frischzellenkur“81. Auch das Volk kann als Indiz dafür gelten, dass sich im politischen System des Landes so schnell nichts ändern wird, bringt es doch nachhaltig Euphorie für seine Herrscher auf. Mit seiner Wendung hin zur Sache und zur sozialen Verantwortung gelingt Klaus Heinrich jedoch das, was Thomas Buddenbrook und auch dem Protagonisten der Erzählung Der Bajazzo (1897) nicht gelingt: die Symbiose von Geld und Glück. Denn auch wenn Letzterer beständig „mit der energischen Überzeugung“ (VIII, 122) bemüht ist, selbst daran zu glauben, „glücklich zu sein“ (VIII, 122 f.), so muss er sich schließlich doch das Gegenteil eingestehen: „ja, ich bin unglücklich“ (VIII, 137). Mit seiner Entscheidung, allein von seinem ererbten Vermögen und dessen Zinserträgen zu leben, erleidet der Bajazzo einen persönlichen Bankrott. Trotz jahre- und seitenlanger Selbstüberzeugungsversuche 77 78 79 80 81

Ebd., S. 299. Ebd., S. 304. Matala de Mazza, Der verfasste Körper, S. 133. Borchmeyer, Repräsentation als ästhetische Existenz, S. 135. Hinck, Frischzellenkur, S. 38.

3.3 Geld und Glück

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– [a]n meiner Zufriedenheit aber damit ist, wie selbstverständlich, in keinem Augenblick zu zweifeln, kann nicht gezweifelt werden, darf nicht gezweifelt werden; – denn, um es zu wiederholen, und zwar mit einem verzweifelten Nachdruck zu wiederholen: Ich will und muß glücklich sein! (VIII, 126) –

erweist sich sein untätiges und unsachliches Leben außerhalb der Gesellschaft als einsames und langweiliges. Allein über die nötigen Mittel zu verfügen reicht für ein glückliches Leben nicht aus, und der Bajazzo der Erzählung zahlt für seinen Irrtum – daß ich zu den Oberen, Reichen, Beneideten gehörte, die nun einmal das Recht haben, mit wohlwollender Verachtung auf die Armen, Unglücklichen und Neider hinabzublicken. Wie sollte ich nicht glücklich sein? (VIII, 115) –

mit Lebensverdruss und einer suizidalen Schwermut. Eine depressive Verstimmung auf finanziell hohem Niveau spürt auch der Protagonist der Studie Die Hungernden (1903), der zu einem repräsentativen Dasein im Stile Klaus Heinrichs verpflichtet ist, das sich durch Einsamkeit und Abgeschiedenheit vom Leben auszeichnet. Er selbst zählt sich zu den „armen Gespenster[n] des Daseins“, die „einen kalten Hauch unbesiegbarer Befremdung“ (VIII, 265) verbreiten, und greift damit den in Königliche Hoheit herrschenden Temperaturdiskurs auf. Wie existenziell und ernstzunehmend dieses Problem des akuten Mangels an einfacher Lebensfreude und Glück ist, bringt der Protagonist dadurch zum Ausdruck, dass er seine eigene Not mit der eines tatsächlich körperlich hungernden Vertreters der darbenden Bevölkerungsschicht gleichsetzt: „dein Jammerbild ist mir keine schreckende und beschämende Mahnung aus einer fremden, furchtbaren Welt. Wir sind ja Brüder!“ (VIII, 269) Ob der Hungernde, ein „sonst fast völlig ausgeblendetes Phänomen“82 im Werk Thomas Manns, dieser Gleichsetzung von sozialem und geistigem Leiden auch zustimmen würde, ist sehr zu bezweifeln. Deutlich zeigt sich hier der elitäre Fokus der Geldthematisierung im Mann’schen Werk, der auch bei Klaus Heinrich nachzuweisen ist. Auch wenn dieser sich schließlich seiner sozialen Verantwortung stellt und damit den Weg ins Leben und zum Glück findet, ist das ausschlaggebende Movens doch ein ganz egoistisches und die positiven sozialen Folgen sind eher ein erfreulicher Nebeneffekt. Denn wie er Imma gesteht: „Und ohne Sie, Imma, die Sie mir das Herz so warm gemacht, würde ich schwerlich auf so wirkliche Studien verfallen sein.“ (II, 337)

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Vaget, Hans Rudolf: Die Erzählungen. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-MannHandbuch. Ungekürzte Ausgabe der 3., aktualisierten Auflage. Frankfurt am Main 2005, S. 534–618, hier S. 568.

4 Der Zauberberg: Zeit und Geld Im 1924 erschienenen Zauberberg wird die Problematik der beiden vorangegangenen Romane Buddenbrooks und Königliche Hoheit wieder aufgegriffen und gleichzeitig einigen Ideen der Josephtetralogie der Weg geebnet. Insofern nimmt der Zauberberg eine Zwischenposition und Übergangsrolle ein. Wie die Brüder Buddenbrook wächst Hans Castorp in großbürgerlichhanseatischer Kaufmannssphäre auf und kann als Kind der kapitalistischen Moderne bezeichnet werden. Sein Arbeitsunwille und sein Hang zum Träumen und Faulenzen lassen an Christian Buddenbrook erinnern, seine Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Daseins an dessen Bruder Thomas. Mit Hans Castorps Flucht aus der kapitalistischen Stromsphäre hinauf auf den Zauberberg werden hingegen Dichotomien eröffnet – man denke an den Gegensatz von oben und unten –, denen in den Josephromanen noch eine zentrale Rolle zukommen wird. Von besonderer Bedeutung sind hier die beiden divergierenden Zeitkonzeptionen, die Flachland- und die Bergzeit, die in der Forschung zwar an sich bereits erschöpfend analysiert worden sind, deren Zusammenhang zu geldtheoretischen Überlegungen jedoch bisher völlig ausgeblendet wurde. Gerade in diesem Punkt will das folgende Kapitel neue Impulse setzen, wenn es den Zusammenhang von Zeit und Geld in den Mittelpunkt rückt.

4.1 Stromsphäre und Zauberberg: Zwei divergierende Zeitmodelle Mit seiner Fahrt auf den Zauberberg verlässt Hans Castorp die Welt der Ordnung und der Arbeit, die Welt des Geldes.1 Der überwiegende Teil der Handlung ist auf dem Zauberberg und damit abseits bzw. hoch über der 1

Wie Thomas Sprecher ausführlich dargestellt hat (Sprecher, Kur-, Kultur- und Kapitalismuskritik, S. 188–199), ist der Betrieb des als Aktiengesellschaft geführten Berghof-Sanatoriums an streng kapitalistischen – an Profit und Mehrwert orientierten – Regeln ausgerichtet, so dass natürlich auch hier Geldverdienen und Arbeiten (zumindest für das Personal des Berghofs) eine Rolle spielen. Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen steht jedoch die Welt des Sanatoriums als die ‚Zauberbergs-Welt‘ Hans Castorps, für den das Dasein ‚dort oben‘ ganz klar ein Dasein jenseits der bürgerlich-kapitalistischen Welt und deren Zwang des Geldverdienens bedeutet.

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

deutlich als Stromsphäre gekennzeichneten Welt des Flachlandes angesiedelt. Diese ist jedoch, nicht zuletzt durch ihren eifrigen Vertreter Ludovico Settembrini, stets als Kontrastfolie präsent. Im Mittelpunkt der Erzählung steht sie vor allem im zweiten Kapitel, das über die Herkunft Hans Castorps informiert. Geboren gegen Ende des 19. Jahrhunderts – er zieht als Dreißigjähriger in den Ersten Weltkrieg – wächst Castorp im kaufmännischen Milieu der Hanse- und Großstadt Hamburg auf, das dem Lübeck der Buddenbrooks vergleichbar ist. Zur Beschreibung der Atmosphäre der „großen Meerstadt“ (III, 47) werden, besonders im Unterkapitel „Bei Tienappels. Und von Hans Castorps sittlichem Befinden“, auch hier die Topoi der Strommetaphorik herangezogen. So „strömen“ die Kaufleute „um Mittag zur Börse“ (III, 47) und an den Werften der Stadt herrscht reges „Gewimmel“ (III, 48). Der kleine Hans wächst nach dem frühen Tod seiner Eltern mit „Wind und Wasserdunst“ und „im gelben Gummimantel“ (III, 46) in „feuchte[r] Atmosphäre“ (III, 47) zunächst bei seinem Großvater und dann bei seinem Onkel Tienappel auf. Während der Onkel als Weinhändler mit „wasserblau vorquellenden“ (III, 46) Augen als Vertreter der kapitalistischen Moderne gekennzeichnet ist, tritt der Großvater Hans Lorenz Castorp als Modernisierungsverweigerer in Erscheinung. Als „Hemmschuh“ (III, 54) steht er allen Neuerungen und dem Fortschritt kritisch gegenüber. Er lehnt den „Geist der Neuzeit“ – „halsbrecherische Hafenerweiterungen und gottlose Großstadt-Alfanzereien“ – ab und „hatte gebremst und abgewiegelt, wo er nur konnte“ (III, 38). Wie auch in Buddenbrooks kennzeichnet die Strommetaphorik die Welt der Arbeit und des Geldes. Die „Denkungsart“ (III, 279) im Flachland ist streng am Geld ausgerichtet, und, wie Hans Castorp, wohlgemerkt wohlversorgt aus der Ferne, feststellt, „hart, kalt“ und „grausam“, denn: „Wer nicht die besten, teuersten Weine servieren läßt bei seinen Diners, zu dem geht man überhaupt nicht, und seine Töchter bleiben sitzen.“ (III, 277) Die Arbeit tritt, wie schon in Buddenbrooks (man denke an die Auseinandersetzung zwischen Christian und Thomas), als zentraler Wert in Erscheinung.2 Auch Hans Castorp weiß, dass die Arbeit „als das unbedingt Achtungswertste gelten“ muss, denn, „es gab im Grunde nichts Achtenswertes außer ihr, sie war das Prinzip, vor dem man bestand oder nicht bestand, das Absolutum der Zeit“ (III, 52). Und gerade damit hat dieser seine Schwierigkeiten. Auch wenn er als Ingenieur, als „Mann des Welt2

Vgl. dazu auch Wißkirchen, Hans: Überwindung des Historismus? Der Zauberberg im Kontext der Geschichtsphilosophie seiner Zeit. In: Engelhardt, Dietrich von / Wißkirchen, Hans (Hg.): „Der Zauberberg“ – Die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur. Stuttgart 2003, S. 162–173, sowie Brennan, Thomas Mann and the Business Ethic, S. 402.

4.1 Stromsphäre und Zauberberg: Zwei divergierende Zeitmodelle

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verkehrs und der Technik“ (III, 54), eigentlich einen dem progressiven Zeitgeist entsprechenden Beruf erlernt hat, scheitert er doch gerade am herrschenden Arbeits-Ethos. „Angestrengte Arbeit zerrte an seinen Nerven“ (III, 53) und erschöpft ihn schnell; er liebt das Nichts-Tun und „die freie Zeit“ (III, 146) und fühlt sich eigentlich nur gut und gesund, „wenn ich gar nichts tue“ (III, 87). Wie Manfred Dierks ausführlich darlegt, hat Castorp also gerade mit „einem zentralen Wert der Moderne, mit der Arbeit“3 seine Schwierigkeiten und kann, wie schon Christian Buddenbrook, als Neurastheniker eingestuft werden und damit auch als ein „Repräsentant der sich modernisierenden Moderne um 1900“4. Hans Castorp flieht jedoch nicht nur vor aufreibender Arbeit an sich, sondern sieht sich, und hierin werden die Parallelen zu Thomas Buddenbrook besonders deutlich, auch mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit des Daseins konfrontiert. Er vermisst „eine irgendwie befriedigende Auskunft“ über „Sinn und Zweck des Lebensdienstes“ (III, 321) und entspricht damit ganz dem Prototyp des transzendental Heimatlosen.5 Der Frage „nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit“ findet er nur ein „hohles Schweigen“ entgegengesetzt und wartet vergeblich auf eine Antwort auf sein „Wozu?“ (III, 50). Am Sinn des Daseins zweifelnd wählt Hans Castorp die Lungenkrankheit als Exit-Option aus der „Welt der Arbeit“ (III, 496) und lässt sich langfristig im Berghof-Sanatorium nieder. Er wird in einen „freien und ursprünglichen Zustand“ versetzt und ist, losgelöst von „Beziehungen“, fern der „Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten“ (III, 12). Der Gegensatz zwischen Stromsphäre und Zauberbergwelt wird durch die klaren Distanzsignale des topographischen Höhenunterschieds und einen abgrenzenden Sprachgebrauch konturiert. Entsprechend der raumsemantischen Opposition des Oben und Unten steigt Hans Castorp „hoch – hoch herauf“ (III, 694) und über seine Alltagswelt „hinaus“ (III, 13). Der Ernst und das Leben werden „drunten“ (III, 85), „in der ‚Ebene‘ oder im ‚Flachlande‘, wie man hier die Welt der Gesunden mit einem leisen, aber deutlichen Akzent von Geringschätzung“ (III, 207) nennt, zurückgelassen. Während sich Hans Castorp, der ursprünglich nur zum Besuch seines Vetters zu „denen hier oben“ (III, 117) reist, zunächst 3 4 5

Dierks, Manfred: Ambivalenz. Die Modernisierung der Moderne bei Thomas Mann. In: Thomas Mann Jahrbuch 20 (2007), S. 155–170, hier S. 162. Ebd., S. 164. Diese Diagnose stellt auch: Ermke, Joseph: „Daß es sich ebensogut anders hätte entscheiden können“. Modernität in Thomas Manns Zauberberg, bei Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin und Zygmunt Baumann. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 39 (1998), S. 165–186, der sich hier auf Benjamins Lukács-Rezeption stützt. Vgl. ebd. S. 175.

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von der Gruppe „Derer hier oben“ (III, 203) noch klar durch das distanzierende Demonstrativpronomen abgrenzt, berichtet er dann in seinem Brief, in dem er seinen längeren Aufenthalt im Sanatorium ankündigt, von „Uns hier oben“ (III, 313). Er wird zunehmend ein „Hiesiger“ (III, 253) und bricht schließlich den Kontakt zum Flachland völlig ab (vgl. III, 848, 984). Mit dem raumsemantischen ‚Oben‘ wird also die Welt jenseits des Geldes bezeichnet, die Sphäre, in der man nicht nur krank ist, sondern auch freie Zeit zur geistigen Beschäftigung und Bildung und zur Diskussion von Ideologien zur Verfügung hat. Damit wird ein Gegensatz aufgemacht, der in Joseph und seine Brüder, wie sich noch zeigen wird, eine verschärfte Konturierung erfährt.6 Besonders hervorgehoben wird der Unterschied zwischen den beiden Sphären durch die divergierenden Zeitmodelle, die jeweils das Leben auf dem Zauberberg beziehungsweise im Flachland bestimmen, durch den Gegensatz zwischen der mythischen Bergzeit und der linearen Zeit der Ebene. In der Forschungsliteratur ist diesen beiden Zeitkonzepten – und deren Wiederaufnahme im Josephroman – bereits ausführlich und zahlreich nachgespürt worden.7 Um ihre Bedeutung für den Zusammenhang von Geld und Zeit in den Mittelpunkt der Überlegungen stellen zu können, sollen die zentralen Momente jedoch kurz zusammenfassend dargelegt werden. Mit seinem Aufstieg auf den Zauberberg verlässt Hans Castorp nicht nur die Sphäre von Geld und Arbeit, sondern steigt auch aus der linear und progressiv verlaufenden Flachlandzeit aus. Die Vergangenheits- und 6

7

Vgl. Kapitel 5.1.5 dieser Arbeit. In Joseph und seine Brüder wird die Welt des Geldes dezidiert an den Topos der ‚Unterwelt‘ gebunden – ein Gedanke, der sich hier bereits in der Figur des Settembrini andeutet, wird dieser als Apologet des Fortschritts und der Flachlandwelt doch (zu unterscheiden von den als Totenrichtern Minos und Radamanth skizzierten Ärzten des Sanatoriums) mit den Attributen des Teufels versehen und als „Satana“ (III, 82) eingeführt. Settembrini selbst verweist auf eine Hymne, die sein „großer Lehrer“ Carducci an den Teufel gerichtet hat, und in der dieser als treibende Kraft der Vernunft und als „mit der Arbeit auf ausgezeichnetem Fuß“ (III, 86) stehend gekennzeichnet wird. Daniela Langer identifiziert in ihrem Kommentar die Hymne als Carduccis Inno a Satana von 1863 (vgl. Langer, Daniela: Thomas Mann. Der Zauberberg. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2009, S. 31); vgl. auch GkFA 5.2, S. 157 sowie Karthaus, Ulrich: ‚Der Zauberberg‘ – Ein Zeitroman (Zeit, Geschichte, Mythos). In: DVJS 44 (1970), S. 269–305, hier S. 290 f. So bereits noch zu Lebzeiten Thomas Manns durch Thieberger, Richard: Der Begriff der Zeit bei Thomas Mann. Vom Zauberberg zum Joseph. Baden-Baden 1952, aber auch beispielsweise durch Heftrich, Eckhard: Zauberbergmusik. Über Thomas Mann. Frankfurt am Main 1975 (Das Abendland, Neue Folge 7), hier S. 41 ff.; vgl. auch Koopmann, Helmut: Die Entwicklung des ‚intellektualen Romans‘ bei Thomas Mann. Untersuchungen zur Struktur von „Buddenbrooks“. „Königliche Hoheit“ und „Der Zauberberg“. 2. verb. u. erw. Auflage. Bonn 1972 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 5), S. 137–146. Vgl. ferner die Überblicksdarstellungen bei Langer, Der Zauberberg, S. 343–348.

4.1 Stromsphäre und Zauberberg: Zwei divergierende Zeitmodelle

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vor allem aber die Zukunftsperspektive, die das lineare Zeitmodell konstitutiv prägen, sind auf dem Berg aufgehoben.8 Gleich nach seiner Ankunft wird Hans Castorp von seinem Vetter Joachim Ziemßen in das alternative Zeitmodell initiiert, wenn dieser ihm von dem „ewigen, grenzenlosen Einerlei“ berichtet und feststellt: „es ist gar keine Zeit“ (III, 26) hier oben. Denn statt der klar eingeteilten und gemessenen Zeit des Flachlandes „verschwimmen“ die Zeitformen und „rinnen ineinander“. Vergangenheit und Zukunft werden zugunsten einer „ausdehnungslosen Gegenwart, in welcher man dir ewig die Suppe bringt“ (III, 258), aufgehoben, sie werden zu einem „Immer“ (III, 754), zur „stehende[n] Ewigkeit“ (III, 508). Die progressive und lineare Richtung des Zeitverlaufs wird von dem Moment der kreisförmigen Wiederholung abgelöst, die „Ewigkeit ist nicht ‚geradeaus, geradeaus‘, sondern ‚Karussell, Karussell‘.“ (III, 515) Die Zeit ist hier nicht, wie Karthaus es zusammenfasst, „ein eindimensionales lineares Kontinuum, sondern zyklische Wiederkehr des Gleichen“9. Sie ist die „Eulenspiegelei des Kreises und der Ewigkeit ohne Richtungsdauer, in der alles wiederkehrt.“ (III, 515) Statt linearer Entwicklung herrschen Wiederholung und ewiges Jetzt. Besonders augenfällig ist dabei die Auflösung einer Zukunftsperspektive, das Fehlen eines Zukunftshorizontes.10 Hans Castorp lässt mit der linearen Zeit alle „Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten“ (III, 12) hinter sich und bricht mit „allen meinen Aussichten“ (III, 848). Gerade zeitstrukturierende Verpflichtungen und Perspektiven, die sich auf die Zukunft beziehen und mit dieser rechnen, werden abgelegt. Die Einteilung der Zeit „von zähneknirschend zu überwindenden Hindernissen“ (III, 53) wird aufgehoben, und damit auch ihre metrische Messung obsolet. Wo keine Erwartungen und keine Aussichten sind, da ist auch keine Einteilung der Zeit notwendig. Die Zeit „zu messen und zu zählen“ wird als „Sache der Kurzfristigen und Anfänger“ (III, 571) abgetan. Hans Castorp selbst legt sukzessive alle flachländischen Zeiterfassungstechnologien ab – er hat keinen Kalender bei sich (vgl. III, 284), liest keine Zeitungen (vgl. III, 349, 527, 985) und entledigt sich schließlich auch seiner „Taschenuhr“ (III, 984) – und gerät so in die „tiefste Unwissenheit über den Zeitverlauf“; er kennt am Ende „allen Ernstes und dauernd“ (III, 751) nicht einmal mehr sein eigenes Alter. 8 9 10

Vgl. Koopmann, Entwicklung des ‚intellektualen Romans‘, der festhält: „Die Modalitäten von Vergangenheit und Zukunft sind aufgehoben“ (ebd., S. 142). Karthaus, Zeitroman, S. 275. Vgl. dazu auch Hick, Christian: Vom Schwindel ewiger Gegenwart. Zur Pathologie der Zeit in Thomas Manns Zauberberg. In: Engelhardt, Dietrich von / Wißkirchen, Hans (Hg.): „Der Zauberberg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur. Stuttgart 2003, S. 71–106, hier besonders S. 79 ff.

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

Der Protagonist findet für diesen Zustand außerhalb der Zeit das passende Gleichnis, wenn er ihn mit den in Weckgläsern eingelegten Konserven in der heimischen Speisekammer vergleicht. In den „hermetisch verschlossene[n] Gläser[n]“ überdauern die Lebensmittel „Jahr und Tag“ ganz ohne sich zu verändern oder gar zu verderben. Das natürliche Verfallsdatum wird, indem „das Eingeweckte der Zeit entzogen war“ – „es war hermetisch von ihr abgesperrt, die Zeit ging daran vorüber, es hatte keine Zeit“ – ausgehebelt. Und das ist in den Augen Hans Castorps das „Zauberhafte daran“; hermetisch wird „ein richtiges Zauberwort“ (III, 706). Denn die Mechanismen des Zeitverlaufes auszuschalten ist in der Tat nur mit Magie und Zauber zu erklären. In diesem Sinne sind auch die Kennzeichnung der Sanatoriumswelt als „Zauberberg“ und die Auskunft des Autors in der Einführung in den ‚Zauberberg‘ für Studenten der Universität Princeton, das Buch schildere „die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose“ (XI, 612), zu verstehen; das nunc stans ist immer ein „magisches“ (XI, 612). Deutlich weniger begeistert von diesem verzauberten Zustand ist der Vetter Joachim Ziemßen. Er vermisst die „Veränderungen und Fortschritte“, die ein Jahr im Leben unten mit sich bringt, und beklagt, zu „stagnieren wie ein Wasserloch, – ja, ganz wie ein fauliger Tümpel“ (III, 28). Der Unterschied in der Zeithandhabung lässt sich also auch strommetaphorisch ausdrücken: Während im Flachland die Zeit stromgleich voranschreitet, fließt oder verändert sich oben am Zauberberg nichts. In seiner Klage hat Joachim den zentralen Gedanken angesprochen, der mit der Zeitrechnung des Flachlandes verbunden ist, den des Fortschritts. Denn, wie Hans Castorp richtig erkennt, „Fortschritt sei nur in der Zeit; in der Ewigkeit sei keiner“ (III, 639). Ohne Zeit – gemeint ist hier der lineare, progressive Zeitverlauf – ist kein Fortschritt möglich. Als Hauptvertreter des Fortschrittsgedankens tritt Settembrini, der „Anwalt von ‚Arbeit und Fortschritt‘“11, in Erscheinung. Er spricht sich vehement für „gärende[…] Bewegung“ (III, 221) aus und erklärt: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß.“ (III, 90) Dementsprechend bemüht ist er auch, Hans Castorp dazu zu bewegen, wieder ins Flachland zurückzukehren und dort „den Fortschritt [zu] fördern, die Zeit [zu] nutzen“ (III, 345). Denn gerade als Ingenieur, als Schiffsbaumeister, hat Castorp ja den Fortschrittsberuf schlechthin gewählt – man denke nur an die Rolle der Schifffahrt als

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Thomas Mann an Paul Amann, 25. März 1917. In: Mann, Thomas: Briefe an Paul Amann. 1915–1952. Hg. v. Herbert Wegener. Mit 3 Abbildungen. Lübeck 1959, S. 53; ebenso GkFA 22, S. 180.

4.1 Stromsphäre und Zauberberg: Zwei divergierende Zeitmodelle

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Motor des Wirtschaftswachstums und des internationalen Handels.12 Entsprechend „großartig“ (III, 85) findet Settembrini die Profession, sind für ihn „Technik und […] Verkehr, Hans Castorps persönliche[s] Arbeitsgebiet“, doch die vorantreibenden und weltverbindenden Kräfte. Die Technik erweise sich, so der Italiener, „als das verlässigste Mittel, die Völker einander nahe zu bringen, ihre gegenseitige Bekanntschaft zu fördern, menschlichen Ausgleich zwischen ihnen anzubahnen“ (III, 219).13 Eng verbunden mit dem Fortschritt ist der Gedanke des Nutzens, der Nutzung der Zeit, so auch in dem eindringlichen Appell Settembrinis an Hans Castorp: Wir [Europäer] haben so wenig Zeit, wie unser edler und zierlich gegliederter Erdteil Raum hat, wir sind auf genaue Bewirtschaftung des einen wie des anderen angewiesen, auf Nutzung, Nutzung, Ingenieur! Nehmen Sie unsere großen Städte als Sinnbild, diese Zentren und Brennpunkte der Zivilisation, diese Mischkessel des Gedankens! In demselben Maße, wie der Boden sich dort verteuert, Raumverschwendung zur Unmöglichkeit wird, in demselben Maße, bemerken Sie das, wird dort auch die Zeit immer kostbarer. Carpe diem! Das sang ein Großstädter. Die Zeit ist eine Göttergabe, dem Menschen verliehen, damit er sie nutze – sie nutze, Ingenieur, im Dienste des Menschheitsfortschritts. (III, 339 f.)

Neben den Fortschritt und den Nutzen, als Umgangsdesiderate mit der linearen Zeit, tritt in Settembrinis Aufforderung die Vokabel der Bewirtschaftung, der „Zeitwirtschaft“ (III, 757) und „Zeitbewirtschaftung“ (III, 538). Hierin ist der Hinweis enthalten, dass Zeit und Ökonomie in einem Zusammenhang stehen, dass sich ökonomischer Wert und lineare Zeit – es ist ja die Rede von kostbarer Zeit – in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden. Dieser Nexus von Zeitablauf und Wertschöpfung findet sich auch – unter negativem Vorzeichen – in den Überlegungen des Erzählers zum Warten. Auch beim Warten, bei dem ja immerhin etwas Zukünftigem entgegengesehen wird, werden „Zeit und Gegenwart nicht als Geschenk“ betrachtet, sondern als Zeitmengen verschlungen, „ohne sie um ihrer selbst willen zu leben und auszunutzen“, „ohne ihre Nähr- und Nutzwerte zu verarbeiten“ (III, 335).

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Gerade im Italien (der Heimat Settembrinis) des 11.–13. Jahrhunderts spielte die Seefahrt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des modernen Bankwesens. Vgl. dazu Traub, Rainer: Die kommerzielle Revolution. In: Jung, Alexander / Pieper, Dietmar / Traub, Rainer (Hg.): Geld macht Geschichte. Kriege, Krisen und die Herrschaft des Kapitals seit dem Mittelalter. München 2010, S. 28–36. Um die Bedeutung der Schifffahrt für den wirtschaftlichen Handel und Aufschwung weiß auch Goethes Faust, wenn er zur Durchführung seiner Kolonialisierungspläne einen Hafen anlegt und ein Schifffahrtsunternehmen gründet. Vgl. Binswanger, Geld und Magie, S. 39 ff. Vgl. dazu auch das Kapitel 5.2.4 dieser Arbeit.

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

4.2 Geld und Zeit Der richtige flachländische Umgang mit der Zeit, den vor allem auch Settembrini propagiert, ist also der der Nutzung und Ausnutzung der linearen Zeit. In diesem Sinne ist das carpe diem als Aufruf zum Erringen eines ökonomischen Wertes, den der Zeitverlauf mit sich bringt, zu verstehen. Unmittelbar verbunden ist dieser Gedanke der Zeitnutzung mit einem anderen zentralen Credo des kapitalistischen Flachlandes, mit dem der Arbeit. Als das „Absolutum der Zeit“ (III, 52) stellt sie eine effektive Möglichkeit dar, durch die aktive Bewirtschaftung und Nutzung der Zeit als Arbeitszeit, einen ökonomischen Wert – Geld in Form von Lohn, Geld in Form von erwirtschaftetem Mehrwert – zu generieren. Jede Minute, die nicht zum Gelderwerb genutzt wird, ist in diesem Sinne eine verschwendete und nicht genutzte Minute. Zeit als Arbeitszeit bedeutet in diesem Sinne unmittelbar Geld, wie bereits Benjamin Franklin in seiner vielzitierten Schrift Advice to a young tradesman dargestellt hat: Remember that Time is Money. He that can earn ten Shillings a Day by His Labour, and goes abroad or fits idle one Half of the Day, though he spends but SixPence during his Diversion or Idleness, ought not to reckon that the only Expense; he has really spent, or rather thrown away, five Shillings besides.14

Zeit als Erwerbszeit und Geld stehen hier also in dem unmittelbaren Konsekutivverhältnis von time is money. In Thomas Manns Roman kommt jedoch noch eine weitere Dimension des Verhältnisses von Zeit und Geld ins Spiel, die eines genaueren Blicks wert und geldtheoretisch hochinteressant ist. Es handelt sich um den Umkehrschluss des Franklin’schen Mottos, darum, dass nicht nur Zeit Geld ist, sondern Geld auch Zeit. Hierbei kommt vor allem die Dimension der Zukunft in den Blick, die unmittelbar mit der Funktionslogik des Geldes zusammenhängt. Dabei sind zwei Gedanken konstitutiv, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen. Zum einen macht es nur dann einen Sinn, Geld als Wertaufbewahrungs- und Zahlungsmittel zu akzeptieren, wenn der Nutzende sich darauf verlassen kann, dass sein Geld auch morgen – oder zu einem anderen Zeitpunkt in der Zukunft – noch einlösbar sein wird. Geld ermöglicht eine Werterhaltung in die Zukunft, die Bewahrung eines Wertes über den Lauf der Zeit hinweg. Gleich dem hermetischen Zauber der Weckgläser 14

Franklin, Benjamin: Advice to a young tradesman. Boston 1762. Auch Max Weber bezieht sich in seiner Protestantischen Ethik auf Franklins Text (vgl. Weber, Die protestantische Ethik, S. 12 ff.). Festzuhalten ist jedoch, dass Settembrini weniger die Bereicherung des Einzelnen im Blick hat als vielmehr den Menschheitsfortschritt an sich. Dies ändert jedoch nichts daran, dass er, wie sich noch zeigen wird, die kapitalistische Ordnung durchaus als den Motor des Menschheitsfortschrittes ansieht.

4.2 Geld und Zeit

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erlaubt das Geld die Konservierung eines Wertes. Veranschaulichen lässt sich dieser Gedanke an einem Beispiel aus einem späteren Roman Thomas Manns, aus Der Erwählte. Dort werden, um die zukünftige Versorgung des Kindes zu sichern, dem kleinen Gregorius zwei „goldgefüllte[…] Brote[…]“ (VII, 57) mit in das Fässchen gelegt. Das Brot – als das Grundnahrungsmittel schlechthin – verdeutlicht die Absicht, mit der Gabe die Versorgung und Ernährung des Findlings sicherzustellen. Zugrunde liegt der Geld-Beigabe jedoch die Einsicht, dass das Brot alleine diesen Zweck schlecht erfüllen würde, wäre es doch nach der mehrtägigen Seereise sicherlich nicht mehr genießbar. Die unverderblichen Goldstücke hingegen garantieren eine Versorgung des Kleinen auf einen unbestimmten Zeitpunkt hinaus. Der Gegenwert des Goldes wird hier „nicht verbraucht, sondern nur gebraucht […], so dass der Zahn der Zeit nicht an ihm nagt und der Mensch somit die Möglichkeit hat, das verbrauchte Material in Form des nicht verbrauchbaren Geldes […] in die Zukunft hineinzutragen und ständig zu vermehren.“15 Mit dem Geld als unverderblichem Gut wird also, und damit sind wir beim zweiten Gedanken, der Griff in die Zukunft möglich. Ein Rechnen mit Fristen, Investitionen in zukünftige Erwartungen und Spekulationen mit Hoffnungen werden mit der Geldwirtschaft denkbar, so wie auch im Umkehrschluss eine Geldwirtschaft ohne Zukunftsdimension nicht vorstellbar ist.16 Aussichten, Sorgen und Hoffnungen gehen mit der linearen Flachlandzeit Hand in Hand und sind für deren Bewirtschaftung konstitutiv; die Geldwirtschaft etabliert geradezu „das Prinzip der Dauersorge um die Sicherung des eigenen Vermögens“17. Im Gegensatz dazu ist das „Leben ohne Zeit“, wie es der Protagonist auf dem Zauberberg erfährt, „das sorg- und hoffnungslose Leben“ (III, 872). Und genau das entspricht seiner seelischen Verfassung, die man – um in der ökonomischen Semantik zu bleiben – als investitionsverdrossen bezeichnen kann. Hans Castorps psychisches Befinden, wenn ihm das 15 16

17

Binswanger, Geld und Magie, S. 116. Auch bei Luhmann gehört der Bezug auf die Zukunft zur grundsätzlichen Bestimmung des Ökonomischen. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1988, der dort festhält: „Geld haben heißt Zukunft haben“ (ebd., S. 268). Vgl. dazu auch den Aufsatz von Tellmann, Ute: Die Zeit und die Konventionen der Ökonomie. In: Langenohl, Andreas / Schmidt-Beck, Kerstin (Hg.): Die Markt-Zeit der Finanzwirtschaft. Soziale, kulturelle und ökonomische Dimensionen. Marburg 2007, S. 239–260, die schreibt: „Der ökonomische Mensch ist durch seine Ausrichtung auf die Zukunft charakterisiert, ebenso wie die Definition der Ökonomie als System selbst an der Zukunft zu hängen scheint.“ (Ebd., S. 241). Baecker, Dirk: Die Unruhe des Geldes, der Einbruch der Frist. In: Schelkle, Waltraud / Nitsch, Manfred (Hg.): Rätsel Geld. Annäherungen aus ökonomischer, soziologischer und historischer Sicht. Marburg 1995, S. 107–123, hier S. 120. Vgl. dazu auch Joseph, bei dem der Begriff der Vorsorge ja eine zentrale Rolle spielt (vgl. Kapitel 5.4.2 dieser Arbeit).

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

Leben im Flachland als bar aller „Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten“ erscheint, läuft semantisch der geldtheoretischen Zukunftspersepktive entgegen, ja prädestiniert ihn geradezu für die zyklische Zeit am Zauberberg. Der geistigen Zeitstimmung, die als „hoffnungslos, aussichtslos“ (III, 50) beschrieben wird, entflieht Hans Castorp dahin, wo auch keine ökonomischen Aussichten, Ziele und Hoffungen nötig bzw. möglich sind. Seine „geistige Zeitbestimmtheit“18 entspricht seinem Umgang mit der realen, ökonomisch bedeutsamen Zeit. Der seelische Zustand des Protagonisten steht also auch im Zauberberg mit den geldtheoretischen Figurationen in einem semantischen Korrelationsverhältnis. Mit dem Geld ist die Wirtschaft auf die Zukunft ausgerichtet, ja Geld macht überhaupt nur dann einen Sinn, wenn es mit der Zukunft rechnet. Denn in einem Hier und Jetzt ohne Morgen wäre ein Brot sicher ergiebiger als ein Stück Gold. Geld beruht also auf der Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft, es ist seiner Natur nach eine Anweisung auf die Zukunft, auf das, was man in der Zukunft kaufen kann, wenn man das Geld ausgibt, oder in Zukunft als Ertrag beziehungsweise Zins gewinnen kann, wenn man es investiert. Man kann geradezu sagen: „Geld ist Zukunft“.19

Geldgeschäfte laufen über eine Strukturierung und Einteilung der Zeit, sie sind an einen verlässlichen und messbaren linearen Ablauf gebunden. Sie ermöglichen „auf der einen Seite die Vorwegnahme von Lebenszeit und eröffnen auf der anderen dem Geldbesitzer Gewinn durch Reinvestition“20. Durch die Aufnahme eines Kredites kann ein Haus schon heute gebaut werden, obwohl es eigentlich erst in etlichen Jahren bezahlbar wäre – und im Gegenzug vermehrt sich dabei zugleich der Kapitalbesitz des Gläubigers mit jedem Jahr, in dem der Schuldner seine Schuld verzinst zahlt. Geld garantiert also nicht nur einen Erhalt des Wertes in die Zukunft, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, es dabei ständig und zeitprogressiv zu vermehren. Auch der Abt in Der Erwählte, der die Brote des Findlings gebrochen und die darin verborgenen Goldstücke gewinnbringend angelegt hat, lässt die siebzehn Jahre von Grigorß’ Aufenthalt auf der Insel nicht nutzlos verstreichen: Die anderen aber vergrub ich nicht und ließ sie nicht schimmeln [wie vielleicht die Brote] noch vom Roste fressen, sondern ich vertraute sie einem vorzüglichen Wucherer an, dem Juden Timon, der hat sie hecken lassen und dir in siebzehn Jahren hundertundfünfzig daraus gemacht. (VII, 115) 18 19 20

Tb, 9. Juni 1919. Binswanger, Geld und Magie, S. 120. Heintel, Peter: „Geld ist Zeit“. In: Kellermann, Paul (Hg.): Die Geldgesellschaft und ihr Glaube. Ein interdisziplinärer Polylog. Wiesbaden 2007, S. 127–138.

4.3 Zinsen: Die Ausbeutung der Zeit?

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Investitionen und Geldanlagen bringen ihren Ertrag in Form von Zinsen also abhängig vom Faktor Zeit.21 Je länger ein Guthaben einer Bank, einem Wucherer, einem Schuldner also, überlassen wird, desto ertragreicher ist der zukünftige Gewinn. Feinsinnigerweise sind es gerade die durch die lineare Flachlandzeit gewährleisteten Zinsen, die das Leben Hans Castorps in der Zauberbergswelt garantieren. Sein Erbe von „ungefähr vierhunderttausend Mark, […] in mündelsicheren Papieren“ (III, 45) ist die Grundlage für sein Auskommen im Sanatorium, und er kann – nach einer vorausgreifenden Berechnung seiner jährlichen Ausgaben auf etwa „12.000 Franken pro Jahr“ – zufrieden feststellen, daß er für seine Person dem Leben hier oben wirtschaftlich mehr als gewachsen sei, da er sich als einen Mann von 18–19.000 Franken [an Zinseinkommen wohlgemerkt] jährlich betrachten durfte. (III, 228)

Nach Abzug seiner monatlichen Ausgaben von 800 Mark (bzw. 1.000 Franken) bleibt Hans Castorp immer noch ein jährlicher Zinszuwachs seines Kapitals von 6–7.000 Franken22 – und das, obwohl er seine Zeit im Liegestuhl und auf der Ruhebank zubringt.23

4.3 Zinsen: Die Ausbeutung der Zeit? Hans Castorps Vermögen vermehrt sich, ohne dass dieser aktiv etwas dafür tun muss, was wohl vor allem Leopold Naphta anficht, der mit seiner 21 22

23

Entsprechend entscheidend ist bei der Zinsberechnung auch der Faktor Zeit, also die Laufzeit eines Kredits. Nach Castorps Rechnung im Kapitel „Das Thermometer“ (vgl. III, 227) entsprechen 800 Mark in etwa 1.000 Franken, so dass er mit der monatlich angewiesenen Summe von 800 Mark auf Ausgaben in Höhe von 12.000 Franken pro Jahr kommt. Damit bleibt ihm von seinem Jahreszinseinkommen von 18.–19.000 Franken immer noch ein Zinszugewinn von 6.–7.000 Franken pro Jahr. Das Sanatoriumsdasein rechnet sich für Hans Castorp finanziell also allemal, wäre doch ein Leben im Flachland allein von den Zinsen seines Vermögens, wie sein Onkel es ausdrückt, „kein Spaß“ (III, 52). Ausgehend von Hans Castorps Angaben (Jahreszinseinkommen von 18.–19.000 Franken / geerbtes Vermögen von 400.000 Mark) kann ein jährlicher Zinssatz von 3,6 bzw. 3,8 % errechnet werden. Bei dieser Rechnung nach der Formel p = (z × 100): K werden die jährlich anfallenden Zinsen nicht der Kapitalgrundlage zugeschlagen. Für Anregungen und Überlegungen zum Thema der Zinsberechnung und zum Zusammenhang von Zeit und Geld gilt mein Dank Helmuth Korth (Quickborn). Voraussetzung dafür sind natürlich eine stabile Wirtschaft, eine „intakte[…] kapitalistische[…] Wirtschaftsform“ (XI, 606), und sichere Investitionen, wie beispielsweise die mündelsicheren Papiere Hans Castorps. Denn dass man sich mit Investitionen in die Zukunft auch verrechnen kann, verdeutlichte bereits Thomas Buddenbrooks Spekulation auf die Pöppenrader Ernte (vgl. Kapitel 2.3 dieser Arbeit).

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

Idee des Gottesstaates auch die mittelalterliche Position des kirchlichen Zinsverbotes propagiert. In der Diskussion mit Settembrini im Kapitel „Vom Gottesstaat und von übler Erlösung“ vertritt er die scholastische Verwerfung des Zinses als Wucher und lehnt das Zinsnehmen als „Ausbeutung“ der Zeit ab. Er empört sich über das Unwesen, sich für den bloßen Zeitverlauf eine Prämie zahlen zu lassen, nämlich den Zins, und auf diese Weise eine allgemein göttliche Einrichtung, die Zeit, zum Vorteil des einen und Schaden des anderen zu mißbrauchen. (III, 558)

Naphta bedient sich hier eines der scholastischen Argumente gegen das Zinsnehmen, das prominent von William von Auxerre (1160–1229) vertreten wurde. Dieser begründet das Zinsverbot u.a. mit dem Hinweis auf die Zeit und lehnt das Zinsnehmen als Verkauf derselben ab: Der Einzelne dürfe sich nicht durch den Verkauf von etwas, das allen gemeinsam gehöre, individuell bereichern.24 Neben dem Zeitargument vertritt Naphta aber auch noch weitere klassische Positionen der kirchlichen Zinsverbotsbegründung im Mittelalter.25 Aufbauend auf dem biblischen und frühkirchlichen Zinsverbot, das sich vor allem auf den Schutz der Notleidenden bezieht und die Ausbeutung der misslichen Lage des Nächsten verurteilt,26 wurde das Verbot des Zinsnehmens ab dem 12. Jahrhundert durch die kirchlichen Autoritäten abgesichert und durch die Scholastik um naturrechtliche Begründungen ergänzt. Wie John T. Noonan in seiner grundlegenden Studie zur Scholastic Analysis of Usury darlegt, führen die einzelnen Scholastiker durchaus unterschiedliche Argumente an, sind sich jedoch im Kern darin einig, dass jeglicher Gewinn aus einem Gelddarlehen gegen die Gerechtigkeit verstößt und als Wucher und Sünde zu be24

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Vgl. dazu (wie auch zum Folgenden) Noonan, John T.: The Scholastic Analysis of Usury. Cambridge 1957, S. 42–44 und Meierewert, Sylvia / Bruns, Klaus N.: Literaturstudien zur Geschichte des ökonomischen Denkens. Regensburg 1996 (Theorie und Forschung 443; Wirtschaftswissenschaften 42), S. 32 f. Vgl. zum Folgenden auch grundlegend: Weiß, Andreas Michael: Zinsen und Wucher. Das kirchliche Zinsverbot und die Hindernisse auf dem Weg zu seiner Korrektur. In: Aichhorn, Ulrike (Hg.): Geld- und Kreditwesen im Spiegel der Wissenschaft. Wien / New York 2005, S. 123–156, der sich auch auf Noonans Studie bezieht, und: Fuhrmann, Horst: Der „schnöde Gewinn“. Über das Zinsverbot im Mittelalter. In: Geld, Musik, Mythos, Macht. Geisteswissenschaft im Dialog. Hg. v. der Konferenz der deutschen Akademie der Wissenschaften. Mainz 1996, S. 9–27. Wie in der Forschung bereits ausführlich dargelegt, hat Thomas Mann bei der Konzeption der Figur des Naphta Heinrich von Eickens Buch zur Mittelalterlichen Weltanschauung (Eicken, Heinrich von: Geschichte und System der Mittelalterlichen Weltanschauung. Stuttgart 1887) als Quelle gedient. Zu den Bezügen und den (teils wortgetreuen) Übernahmen vgl. Wißkirchen, „Gegensätze mögen sich reimen“. Durch direkte Gegenüberstellung wird hier deutlich, dass Naphtas Idee des Gottesstaates mit all seinen ökonomischen und geldtheoretischen Überlegungen auf Eicken zurückgeht (vgl. ebd., S. 444 ff.). Vgl. Weiß, Zinsen und Wucher, S. 126.

4.3 Zinsen: Die Ausbeutung der Zeit?

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trachten ist.27 Zur Begründung der Unrechtmäßigkeit der Geldvermehrung aus einem Darlehen können neben dem oben bereits angeführten Zeitargument drei weitere Begründungsstrategien identifiziert werden, die sich bei den meisten Autoren finden lassen: „das Argument von der Einheit von Eigentümerschaft und Gebrauch, das Argument vom fixen Wert vertretbarer Dinge und das Argument von der natürlichen Unfruchtbarkeit des Geldes.“28 Dem ersten Argument zu Folge sind Eigentum und Gebrauch des Geldes untrennbar miteinander verbunden. In dem Moment, in dem ein Eigentümer seine Eigentumsrechte an seinem Geld, verstanden als verbrauchbares Gut, abgibt, hat er auch keinen Anspruch mehr auf dessen Gebrauch. Demzufolge ist es nicht statthaft, in Form von Zinsen, den Gebrauch separat in Rechnung zu stellen. Zinsen würden in diesem Fall einen Eingriff in die Eigentumsrechte des anderen bedeuten. Nach dem zweiten Argument ist Geld als ein Gut mit einem fixen Wert anzusehen, der in einem Darlehensvertrag als Kaufvertrag übergeben wird. Der vormalige Eigentümer kann als gerechten Preis nur den exakten Gegenwert erwarten, also die Rückerstattung derselben Summe, nicht aber ein Zinsplus. Als drittes Argument wird die Unfruchtbarkeit des Geldes angeführt, dessen sich auch schon Aristoteles bedient hat.29 Hier wird eine Vermehrung des Geldes aus sich selbst heraus als widernatürlich und nicht statthaft angesehen.30 Neben dem Zeitargument und der biblischen Position gegen jegliche „Ausbeutung einer Notlage des Nächsten“ wird von Naphta vor allem auch diese Anschauung der „selbsttätigen Vermehrung des Geldes als ekelhaft“ (III, 558) aufgegriffen. Das Hauptargument, das Naphtas Ausführungen ebenso wie den anderen hier angeführten Argumenten zugrunde liegt, ist der Geldbegriff,

27 28 29

30

Vgl. Noonan, Scholastic Analysis of Usury, S. 80 f. und Weiß, Zinsen und Wucher, S. 129. Weiß, Zinsen und Wucher, S. 129. Aristoteles erklärt die Vorstellung, dass Geld sich fortpflanzt – mit Zinsen also quasi Junge bekommt – für unnatürlich: „[…] so ist erst recht der Wucher hassenswert, der aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat es auch seinen Namen: das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und durch den Zins (Tokos) entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.“ (Aristoteles: Politik. Eingeleitet, übersetzt u. kommentiert v. Olof Gigon. Zürich / Stuttgart 1971, 1258b). Dieses Argument verbirgt sich auch in der Ablehnung von Kredit- und Spekulationsgeschäften der Familie Buddenbrook. So weist der Kommentar von Johann Buddenbrook senior „Dem kalbt der Ochse“ (I, 118) auf das widernatürliche, prokreative Verhalten des Hagenström’schen Kapitals hin. Und Thomas Buddenbrook lehnt den Handel mit der Pöppenrader Ernte zunächst als Wuchergeschäft ab. Vgl. Kapitel 2.3 dieser Arbeit.

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

der zur Anwendung kommt. Denn unabhängig davon, ob die Zeit oder die Unnatürlichkeit der Selbstvermehrung des Geldes angeführt werden, basieren alle Zinsverbotsbegründungen auf einem Geldbegriff, der Geld nicht „als Produktionsfaktor, d.h. als Kapital“31 ansieht, und daher ausblendet, dass Geld als Kapital eben durchaus fruchtbar sein kann. Die Frage, an der sich der Streit entzündet, ist geldtheoretisch die Frage nach der Entstehung des Geldwertes. Naphta vertritt hier eine Position, nach der diese an die Größe Arbeit oder an Grund und Boden gekoppelt sein muss. Wertentstehung durch Handel oder Zins- und Spekulationsgeschäfte – „das Kaufen und Verkaufen unter Einziehung eines Nutzens, aber ohne Bearbeitung, Verbesserung des wirtschaftlichen Gutes“ – wird als „schimpfliches Gewerbe“ verurteilt. „[P]roduktive Werktätigkeit“ wird als „Bedingung wirtschaftlichen Vorteils“ (III, 558) vorausgesetzt. Der „Ackerbauer“ und der „Handwerker“, die durch produktive Arbeit einen Wert erzeugen, werden dem „Händler“ und dem „Industrielle[n]“ (III, 559) entsprechend vorgezogen. Naphta zieht gegen die „Satansherrschaft des Geldes, des Geschäftes“ (III, 561), gegen die „kapitalistische Weltrepublik“ (III, 557) und den „kapitalistischen Reichtum“ (III, 565) – Reichtum also, der auf einer Kapitalisierung des Geldes und auf dessen eigener Produktivkraft beruht – ins Feld und bringt seine Abneigung gegen die „Greuel[…] des modernen Händler- und Spekulantentums“ (III, 561) nachdrücklich zum Ausdruck. Damit wird hier an eine Diskussion angeknüpft, die seit der Antike die Gemüter beschäftigt. Ausgangspunkt ist die aristotelische Unterscheidung zwischen der oikonomia, der natürlichen Wirtschaft der Bedarfsdeckung, und der Chrematistik, der geldwirtschaftlichen Kaufmannskunst, der Geldwirtschaft. Letztere wird als maßlose und unnatürliche Reichtumserzeugung abgelehnt.32 Diesen Gedanken zitiert auch Naphta und verweist auf die Position der Kirchenväter, die „wollten, daß die Produktion sich nach dem Bedürfnis richte, und […] die Massengütererzeugung“ (III, 559) verabscheuten. Die aristotelische Ablehnung der Geldwirtschaft als unnatürliche, künstliche und maßlose Form zieht sich als Topos durch die Jahrhunderte und ist, wie Nadia Gernalzick in ihr Studie aufzeigt, nicht

31 32

Weiß, Zinsen und Wucher, S. 142. Aristoteles unterscheidet in seiner Politik zwischen der „Erwerbskunst der Natur nach“, die als ein „Teil der Hausverwaltungskunst“ für die Güter sorgt, „die in der Gemeinschaft des Staates oder des Hauses für das Leben notwendig und nützlich sind“ (Aristoteles, Politik, 1256b) und der anderen „Art von Erwerbskunst, die man vorzugsweise und mit Recht als die Kunst des Gelderwerbs bezeichnet; im Hinblick auf sie scheint keine Grenze des Reichtums und des Erwerbs zu bestehen.“ (Ebd., 1256b–1257a).

4.3 Zinsen: Die Ausbeutung der Zeit?

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nur in der mittelalterlichen Zinsdiskussion zu finden, sondern auch noch bei Karl Marx: Die Grenzenlosigkeit der Geldwirtschaft, des Geldhandels und der Zinswirtschaft wird auch von Marx noch unter Verweis auf Aristoteles formuliert. […] Seine Beschreibung des Kapitalisten wiederholt die aristotelische Charakterisierung des Erwerbs von unnatürlichem Reichtum im Geldverkehr durch den chrematistos in einigen Wendungen fast wörtlich.33

Naphta ist sich der Nähe seiner Position zur modernen Bewegung des Kommunismus bewusst und weiß als kundiger Leser des Kapitals von Karl Marx (vgl. III, 612) um die Parallelen der scholastischen Argumente zur Position der „internationale[n] Arbeit gegen das internationale Händlerund Spekulantentum“. Es sind somit gerade, wie Naphta erklärt, „alle diese wirtschaftlichen Grundsätze und Maßstäbe“, die nach „jahrhundertelanger Verschüttung ihre Auferstehung in der modernen Bewegung des Kommunismus“ (III, 559) feiern. Naphta setzt ganz auf die moderne kommunistische Gesellschaftslehre, „die die menschliche Überwindung des Ökonomismus bedeutet und deren Grundsätze und Ziele mit denen des christlichen Gottesstaates genau zusammenfallen“ (III, 557). In der Ablehnung des modernen Kapitalismus, des Geldes und des Geldgeschäftes, treffen sich – in der Figur des Jesuiten Naphta – die mittelalterliche und die kommunistische Position. Das von Naphta proklamierte „asketisch-transcendente Grund-Ideal nimmt im Wirtschaftlichen völlig sozialistisch-kommunistischen Charakter an“34. Dies vermag auch ein Blick auf Thomas Manns Quellenstudium zu verdeutlichen. Wie Hans Wißkirchen bereits ausführlich dargestellt hat, fallen bei der Konzeption der NaphtaFigur die Eicken-Lektüre des Autors und die historischen Ereignisse der Münchner Räterepublik zeitlich zusammen, so dass eine Überschneidung und „inhaltliche Durchdringung der beiden Bereiche stattfindet“35. Besonders aufschlussreich ist der Tagebucheintrag vom 19. April 1919, in dem Thomas Mann sich mit einem Artikel aus den Münchener Mitteilungen des Vollzugsrates der Betriebs- und Soldatenräte befasst.36 Er hält dort die „rus33 34 35 36

Gernalzick, Kredit und Kultur, S. 147. Tb, 20. April 1919 [Hervorhebung A.K.]. Wißkirchen, „Gegensätze mögen sich reimen“, S. 442. Es handelt sich bei dem Artikel, der in drei Folgen vom 18.–20. April 1919 publiziert wurde, um die „Thesen über die internationale Lage und die Politik der Entente. Angenommen vom Kongreß der dritten kommunistischen Internationale in Moskau (2.–6. März 1919)“. Der Artikel wurde in den Nummern 5–7 der Mitteilungen des Vollzugsrates der Betriebs- und Soldatenräte, München veröffentlicht, die in insgesamt 15 Nummern vom 15.–29. April 1919 erschienen. Dem im Tagebuch notierten Eintrag zu Folge, hat sich Thomas Mann am 20. April 1919 mit der Nummer des Vortages befasst, also dem zweiten Teil der Artikelserie.

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

sisch-kommunistischen Thesen über die internationale Lage“ als sehr interessant fest und notiert, den Artikel zitierend, das Folgende: Die Rolle Frankreichs: Sein Interesse ist, da das Finanzkapital überwiegend wucherisch gestaltet, die Industrie schwach entwickelt ist und die Produktivkräfte durch den Krieg vollständig zertrümmert sind, auf die Erhaltung des kapitalistischen Regimes mit verzweifelten Mitteln gerichtet […].37

Diesen Auszug kommentiert Thomas Mann dann mit der Feststellung: Hier spricht das russ. Christentum, das Wort „wucherisch“ für das französische Zinsgeschäft ist kennzeichnend. Dieses wird als jüdisch empfunden, was es ja auch ist. Russland empfindet dem Kapitalismus gegenüber mittelalterlich […].38

Gerade also das Zinsnehmen – das von Naphta und der mittelalterlichen Scholastik als Wucher so vehement abgelehnte Prinzip der Geldvermehrung ohne Arbeit oder ohne die Rückbindung des Ertrages an den Grund und Boden – wird hier von kommunistischer Seite als ‚wucherisch‘ verurteilt und deshalb von Thomas Mann als Tertium Comparationis für das kommunistische Russland und die mittelalterliche, christliche Position herangezogen. Die Frage danach, wie und zu welchem Zweck ein ökonomischer Wert entsteht, ist hier das entscheidende Moment.39 Wie Settembrini richtig erkennt, macht sich Naphta mit seinem antikapitalistischen Programm für eine (mittelalterliche) feudalwirtschaftliche Ökonomie stark, wie sie für den bankrotten Staat in Königliche Hoheit kennzeichnend ist.40 Als Anwalt von Aufklärung und Fortschritt mag Settembrini diesen Rückschritt in mittelalterliche Ökonomiekonzepte nicht gutheißen und kritisiert vor allem den Mangel an persönlichen Freiheitsrechten, den eine Wirtschaft, die auf ‚Grund und Boden‘ basiert, zur Folge hat:

37 38 39

40

Tb, 20. April 1919. Ebd. Als weiterer Beleg lässt sich zudem das folgende Tagebuchnotat vom 12. April 1919 anführen: „Gestern Abend beendete ich Hamsuns ‚Segen der Erde‘, ein herrliches Werk und, obgleich völlig unpolitisch, in tiefem Kontakt mit aller neuesten Sehnsucht: die Verherrlichung des Einödbauern, der ländlichen Selbstgenügsamkeit, der Haß auf die Stadt, die Industrie, den Handel, die Ironisierung des Staates, das alles ist dichterisch empfundener Kommunismus oder richtiger menschlich-poetischer Anarchismus, ohne Zweifel.“ Auch hier wird das anti-chrematistische Argument der Eigenbedarfsdeckung (das in Kontrast zur kapitalistischen Industrie gesetzt ist) als kommunistisch begriffen. Zudem klingt hier die Nähe dieser ‚Grund und Boden‘-Idee zu nationalsozialistischem Gedankengut an, vor allem zur sog. Blut und Boden-Ideologie, die den Gegensatz zwischen den selbstgenügsamen Bauern und den Protagonisten des Kapitalismus, den Bankern, Kaufleuten und Börsenspekulanten, stilisiert. Vgl. dazu: Bramwell, Anna: „Blut und Boden“. In: François, Etienne / Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte III. München 2001, S. 380–391. Vgl. Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Untersuchung.

4.4 Das Heckgeld: Theorie und Praxis in Der Erwählte

109

Denn es ist ja klar, es beißt in die Augen, daß dadurch, wie im Mittelalter, alle privaten und öffentlichen Verhältnisse an den Grund und Boden gebunden werden, auch die – es fällt mir nicht eben ganz leicht, es auszusprechen – auch die Persönlichkeit. Kann nur der Boden ernähren, so ist er es allein, der Freiheit verleiht. (III, 560)41

Er wehrt sich gegen diese „Wirtschaftsmoral, an der die Unfreiheit und Würdelosigkeit der menschlichen Persönlichkeit hängt“ (III, 561), und macht sich für die Ablösung dieser an den Grund und Boden gebundenen Abhängigkeitsbeziehungen durch die Beziehungen, die das Geld stiftet, stark. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt schon, wie Dieter Borchmeyer aufgezeigt hat, Lothario in Goethes Wilhelm Meister, der sich u.a. auch für eine Aufhebung der Lehen und Fideikommisse stark macht und damit an Ideen anknüpft, die in der Zeit um die Französische Revolution – und vor allem in der Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum – hoch brisant waren.42 In seiner Abhandlung Über den deutschen Adel von 1803 unterstützt August Wilhelm Rehberg die Position Settembrinis, denn: er fordert die Freigabe der Domänenbauern und empfiehlt eine wirtschaftliche Entwicklung, welche an die Stelle „persönlicher“ Schutz- und Abhängigkeitsverhältnisse sachliche, d.h. Geld-Beziehungen („Realverhältnisse“) setzt – ein Prozeß, der wie die Ideen Lotharios die alten Agrarverhältnisse auf die Dauer lösen muß.43

4.4 Das Heckgeld: Theorie und Praxis in Der Erwählte Naphta mag zwar bedauern, dass die scholastischen wirtschaftlichen Grundsätze und Maßstäbe jahrhundertelang verschüttet lagen – wirklich verwundern dürfte es ihn jedoch nicht. Denn mit der zunehmenden Expansion und Komplexität der Wirtschaft – nicht zuletzt dank der christlichen Kreuzzüge – wurde auch die Geldwirtschaft bzw. das Handeln nach geldwirtschaftlichen Maßstäben immer unvermeidbarer:

41

42 43

Auch diese Gedanken sind bei Eicken zu finden (vgl. Eicken, S. 516 f.). Im Zauberberg werden sie jedoch nicht Naphta, sondern Settembrini in den Mund gelegt. Naphta hingegen sieht Settembrinis Freiheitspostulat gerade als das Problem an, denn „die Sache der Freiheit“ ist für ihn gerade mit der „unmenschlichsten Entartung der Wirtschaftsmoral“ (566) verbunden. Dass Freiheit und Geldwirtschaft korrelieren, erkennt also auch er an. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Ts. 1977, S. 169. Ebd., S. 169.

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

Die Kreuzzüge aber riefen eine wirtschaftliche Produktion und einen handelspolitischen Verkehr hervor, welche die bisherige Naturalwirtschaft nach allen Richtungen durchbrachen. Die Kreuzzüge selber hätten sich auf Grund des alten Systems nicht durchführen lassen. […] Um die Zeit, in welcher die Kreuzzugsbewegung ihre weiteste Ausdehnung gewonnen hatte, in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts, entstand das Wechslergeschäft. […] Denselben Zweck hatten die Banken, welche gleichfalls in Italien ihren Ursprung hatten.44

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren immer weniger mit dem kirchlichen Zinsverbot zu vereinbaren, und dieses setzte in der Folge die „Christen in ein Dilemma zwischen vernünftigem wirtschaftlichem Handeln und religiösem Gehorsam.“45 Das Verbot führte mehr und mehr „zu unvernünftigen Einschränkungen des wirtschaftlichen Lebens und einer zunehmend unverständlichen Belastung des Gewissens der Menschen“46. In diesem Konflikt zwischen der realen Möglichkeit der Geldvermehrung durch den Zins und dem Verbot durch die Kirche sieht sich auch der Abt Gregorius in Thomas Manns Roman Der Erwählte (1951). Im Kapitel mit dem programmatischen Titel „Das Heckgeld“ löst die schriftliche Anweisung des dem Findling beigelegten Täfelchens, „dem Ausgesetzten sein Gut zu mehren“, im Abt so „manchen Skrupel“ aus, ist er sich doch bewusst, dass „Wucher auch wieder des Kristen Sache nicht und […] eine Sünde“ (VII, 84) ist. Während er auf der einen Seite die Münzen als „capitale“ (VII, 85) behandeln und „nicht als Caput mortuum“ (VII, 84) eintruhen, sondern zu Profit machen möchte,47 gehen ihm auf der anderen „so manche Synode und so manches Konzil im Kopf herum, die das Zinsgeschäft“ (VII, 85) untersagten. Die scholastischen Argumente, die hier angeführt werden, sind (bis in den Wortlaut) diejenigen, derer sich auch Naphta im Zauberberg bedient. So werden das Zeitargument und die Unfruchtbarkeit des Geldes als Begründungen genannt. Der Abt hat seine Schwierigkeiten, „sich für Gottes Zeit bezahlen“ (VII, 84) zu lassen, und fühlt sich nicht wohl dabei, „die Zeit zu melken“ (VII, 85). Das Argument

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Eicken, Mittelalterliche Weltanschauung, S. 750 f. Weiß, Zinsen und Wucher, S. 141. Vgl. dazu auch den folgenden Tagebucheintrag Thomas Manns: „Er [= der Historiker Erich Marcks] sprach bei Tisch interessant über das prinzipielle Verbot des Zinswesens im Mittelalter, das aber nicht durchzuführen gewesen.“ (Tb, 6. Juni 1920). Weiß, Zinsen und Wucher, S. 154. Der Abt hat im Gegensatz zu den Finanzkrisen-Verantwortlichen in Königliche Hoheit (vgl. Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit) begriffen, dass Geld, das nicht produktiv investiert wird, totes Kapital ist.

4.4 Das Heckgeld: Theorie und Praxis in Der Erwählte

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der Unfruchtbarkeit klingt bereits im Titel des Kapitels an, ist doch dort von „Heckgeld“ die Rede, von Geld also, das heckt, das sich fortpflanzt.48 Gefangen in seinem „Zwiespalt“ sucht der Abt Rat bei Chrysogonos, dem Säckelmeister des Klosters, dessen Name ihn geradezu als Gold-Erzeuger ausweist. Als Chrysogonos – von gr. chrysos, Gold und gonos, Erzeuger – weiß er Rat und einen Weg, wie die Goldstücke des Abtes, das „Waisengeld in Goldmark“ (VII, 84), sich vermehren können. Und in der Tat, „[d]as ist ganz einfach“: Ihr gebt die Summe dem Juden Timon von Damaskus, im Bart und spitzen Hut, einem genauen und zuverlässigen, im Wuchern wohlerfahrenen Mann. Der handelt mit nichts als Geld auf seiner Wechselbank und hat einen Umblick in der Welt des Geldes, das glaubt Ihr nicht. Er schickt Euere Summe womöglich bis Londinium in Essex, daß sie da werkt und abwirft, schlägt Zins und Zinseszins zum Grundgeld, und laßt Ihr ihm das capitale lang genug, so macht er Euch aus siebzehn Goldmark hundertfünfzig. (VII, 85)

Mit dieser Auslagerung in die Hände eines Dritten, noch dazu eines Juden, dessen Glaube ihm das Zinsnehmen nicht verwehrt,49 kann der Abt das Geld vermehren und zugleich seine eigenen Hände in Unschuld waschen. Zudem versucht er sein schlechtes Gewissen aber auch dadurch zu beruhigen, dass er sich bemüht, die Schuld an Chrysogonus weiterzugeben – was jedoch missglückt: „Chrysogone“, sprach er, „ich, dein Abbot, habe ein umfangreiches Wissen, das zu tragen nicht immer leicht ist, credemi! Es geht mir so manche Synode und so manches Konzil im Kopf herum, die das Zinsgeschäft so Geistlichen wie Laien, oder wenn diesen nicht, so immer doch uns Geistlichen untersagte. Darum, wenn du das Geld dem Juden gegeben hast, so wirst du gut tun, dich in die Geißelkammer hinabzuverfügen und zur Sühne eine mäßige Bestrafung an dir vorzunehmen.“ „Nicht doch“, erwiderte der Bruder. „Ich bin schon sechzig und vertrage Geißelhiebe sehr schlecht, auch wenn ich sie mir schonend selbst versetze. Ihr aber seid um zehn Jahre jünger, und das Geld ist Euer. Darum, wenn es Euch um Buße zu tun ist, müßt Ihr Euch schon selbst in die Kammer hinabbegeben und Euch das Angemessene versetzen.“ „Geh mit Gott!“ sagte der Abt und las wieder in der Tafel. (VII, 85)

48 49

Vgl. mhd. hecken, sich fortpflanzen. Thomas Mann hatte bereits im Wintersemester 1894/1895 in seiner NationalökonomieVorlesung in München gelernt: „Im christlich-germanischen Mittelalter war das Zinsnehmen nur den Juden gestattet, die verachtet waren“ (Mann, Collegheft, S. 132).

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4 Der Zauberberg: Zeit und Geld

Es lässt sich exemplarisch das Dilemma ablesen, in das der Mensch, der zwischen einem vernünftigen, weltlichen Wirtschaften und dem Zinsverbot der Kirche abwägen muss, gerät.50 Die wirtschaftliche Entwicklung und die Möglichkeiten der Geldvermehrung gehen – unberührt von Geißelung und Sünde – ihren Weg.

50

Wie repräsentativ Thomas Manns Roman für den mittelalterlichen Zinsdiskurs und den Umgang mit diesem ist, zeigt die Aufnahme des Gesprächs zwischen dem Abt und Chrysogonus in das Mittelalter-Kapitel in Wolfram Weimers Geschichte des Geldes. In dieser Chronik mit Texten und Bildern ist der Romanauszug unter den „Quellen aus dem Mittelalter“ zu finden, eingeordnet zwischen einem Auszug aus dem „Konzil zu Chalderon“ und dem ersten „Stadtrecht von Strassburg, um 1200“. Vgl. Weimer, Wolfram: Geschichte des Geldes. Eine Chronik mit Texten und Bildern. Frankfurt am Main / Leipzig 1992, S. 94 f.

5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes Wenn Heinrich Mann nach Erscheinen des ersten Bandes der großen Tetralogie Joseph und seine Brüder dieses Werk seines Bruders als „[r]eiche Dichtung, wahrscheinlich Deine reichste“1 bezeichnet, so kann man dieses Lob durchaus auch wörtlich, also ökonomisch, (miss-)verstehen. Denn schon mit dem ersten Band, den Geschichten Jaakobs, wird deutlich, dass es bei dem umfangreichen Episierungsunterfangen der biblischen Josephsgeschichte doch vor allem auch um Geld und Besitz geht und darum, auf welchem Wege die biblischen Segensträger ihren Reichtum erlangen.2 Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern ist in Thomas Manns Romanversion vornehmlich eine ökonomische Geschichte. Nicht zufällig hebt das Kapitel „Wer Jaakob war“ mit der Feststellung an: „Es geschieht durchaus in diesem Zusammenhang, daß man auf die Entstehung von Abrahams Reichtum die Rede bringt.“ (IV, 123) Reichtum und vor allem also dessen Erwerb sind, so die Botschaft, von existenzieller Bedeutung und für die Darstellung der Personen und deren Leben grundlegend. Ökonomisches Handeln und Denken werden in dem „Menschheitslied“ (XI, 670) und dem „Bilder- und Geschichtenbuch vom Menschen“3 als anthropologische Grundkonstante eingeführt und sind zu den „Urvorkommnissen des Menschenlebens“ (XI, 670) zu zählen. Strommetaphorisch ist, wie zu zeigen sein wird, vor allem der Gegensatz zwischen Kanaan, der mythischen Welt von Josephs Vätern, und der 1 2

3

Heinrich Mann an Thomas Mann, 25. Dezember 1933. In: Mann, Thomas / Mann, Heinrich: Briefwechsel 1900–1949. Hg. v. Hans Wysling. Frankfurt am Main 1996, S. 215. Dass es sich bei dem Reichtum, den die jeweiligen Protagonisten erwerben bzw. verwalten, in seiner Materialität nicht um Geld im heutigen Sinne, also um staatlich emittiertes Münzoder Papiergeld handelt, tut der Wirksamkeit und Funktionslogik des jeweiligen Kapitals keinen Abbruch. „‚Geld‘ als geprägte Münze gab es ja gar nicht, und zu den Tauschwerten, die für Korn dahingegeben wurden, gehörten von vornherein auch alle Arten von Vieh“ (V, 1761); aber, wie der Erzähler selbst festhält, „Vieh ist auch Geld; es ist sogar in ganz vorzüglichem Sinne Geld, wie noch aus dem hochmodernen Ausdruck ‚pekuniär‘ hervorgeht“ (V, 1761). Thomas Mann an Eduard Jedidjah Chavkin, 9. August 1934, zitiert nach: Thomas Mann: Selbstkommentare: ‚Joseph und seine Brüder‘. Informationen und Materialien zur Literatur. Hg. v. Hans Wysling unter Mitarbeit v. Marianne Eich-Fischer. Frankfurt am Main 1999, S. 102. Vgl. auch Bürgin / Mayer, Register und Regesten II, S. 35.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

hochzivilisierten, kapitalistischen und fortschrittsorientierten Sphäre Ägyptenlandes von Bedeutung. Im Kontrast zu Kanaan steht Ägypten als modernes, geldorientiertes Stromland ganz im Zeichen der Geldströme und der Vermittlung. Mit seiner linearen Zeitvorstellung, seiner Schriftkultur und geldwirtschaftlichen Praxis stellt das Land am Nil die Sphäre dar, die der Jaakobsstamm für die Verwirklichung der eigenen heilsgeschichtlichen Ziele benötigt. Joseph bewahrt mit dem wirtschaftspolitisch initiierten Nachkommenlassen der Seinen in das Land der Ströme diese nicht nur vor dem Verhungern, sondern eröffnet seinem Stamm die denk- und zeichentheoretische Ägide, die für das Voranschreiten der heilsgeschichtlichen Pläne Gottes unerlässlich ist. Geldtheoretische Vermittlungsleistungen gehen hier mit der Heilsgeschichte Hand in Hand, ja sind für diese von entscheidender Bedeutung. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen im folgenden Kapitel somit also die Vermittlungsleistungen des Geldes. Dabei wird an die im vorangegangenen Abschnitt angestellten Überlegungen zum Zusammenhang von Zeit und Geld unter Einbezug des Gegensatzes von mythischer und heilsgeschichtlicher (linearer) Zeit angeknüpft. Als Volkswirt setzt Joseph auf das Geld als Medium der Verschuldung und macht seinem Namen als Fürst der Vermittlung alle Ehre. Seine persönlichen wie ökonomischen Vermittlungsleistungen spiegeln dabei das Ideal des doppelten Segens wider.

5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben: Die Patriarchensphäre 5.1.1 Das mobile Kapital: Jaakobs Hab und Gut Im Folgenden soll nun also zunächst ein Blick auf die Sphäre von Josephs Herkunft, auf die Welt der Patriarchen geworfen werden, wie sie vor allem in den ersten zwei Teilen, in Die Geschichten Jaakobs und Der junge Joseph, gestaltet wird. Im Mittelpunkt steht Josephs Vater Jaakob, der als patriarchales Familienoberhaupt, als „Haupte der Sippschaft“ (IV, 69), dem auf Abraham zurückgehenden Stamm vorsteht. Als zentrales Merkmal des Stammes kann dessen Mobilität ausgemacht werden, die sich zunächst unmittelbar in der nicht sesshaften Lebensweise des Hirtenvolkes äußert. Rückgebunden an die Rastlosigkeit und Wanderfreude des Ur- und „Mondwanderer[s]“ (IV, 15) Abraham, macht die Nicht-Seßhaftigkeit

5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben: Die Patriarchensphäre

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einen Großteil der Identität der Jaakobsfamilie aus.4 Denn wer dem von Abraham ‚hervorgedachten‘ Gott dient, „dessen Wesen nicht Ruhe und wohnendes Behagen war“, der muss sich „frei, beweglich und in Bereitschaft halten“ (IV, 52). Dem Muster des Urvaters folgend hat Jaakob eine „unüberwindliche[…] Abneigung gegen ein gegründet seßhaftes Dasein“ und beharrt auf einer „immer nur vorläufigen, beweglich-stegreifmäßigen und halb unbehausten Lebenshaltung“ (IV, 51). Man wohnt „in Zelten vor Hebrons Mauerbereich“ und ist bemüht, sich als nomadenhaftes Hirtenvolk sowohl von dem räuberischen Dasein nach dem Muster der „Bedu und Kainssprosse“ als auch von der Bauern-Existenz abzugrenzen: „Doch war er [Jaakob] auch wieder kein Bauer – mit Bewußtsein und ausdrücklich nicht“ (IV, 396). Die „Abneigung des Mondhirten“ richtet sich „gegen den Schollendienst des roten Ackerbauers“ (IV, 503). Vor allem konstituiert sich die Identität des beweglichen Stammes Israel aber im Kontrast zur Stadt und dem „landbewuchernde[n] Städter“, der „fett“ ward „vom Karawanenhandel, von Stapel-, Umschlags- und Geleitgeldern für Waren“ (IV, 397). Wichtigstes Abgrenzungskriterium ist hierbei die Erwerbsart. Während der Städter sich durch den Warenhandel bereichert und damit seine Existenz fixiert, versucht Jaakob sein Dasein mobil zu gestalten und vor allem zu halten. Denn auch wenn er als Hirte darauf angewiesen ist, mit den Städtern und Bauern in ein „vertragsreiches und vielfach geregeltes Verhältnis“ zu treten, um etwa Weiderechte zu sichern, und dadurch seine „Lockerheit bürgerlich“ festigt, ist seine Existenz durch seinen „beweglich wimmelnde[n] Reichtum“ (IV, 397) immerhin doch noch „halb locker“ (IV, 396). Mit seinen Herden verfügt Jaakob über ein höchst mobiles Kapital, das eine Wanderschaft jederzeit zulässt.5 Überhaupt zeigt eine Inventur von Jaakobs Vermögen, dass sein Reichtum vor allem in beweglichen und transportierbaren Gütern besteht. Er kann sich beispielsweise ohne größere logistische Probleme „mit Troß und Habe“ – und das heißt „mit seinen Herden, von denen allein die Schafe fünfeinhalbtausend Stück ausmachten, mit Weibern und Anwuchs, Sklavinnen, Knechten, Treibern, Hirten, Ziegen, Eseln, Last- und Reitkamelen“ (IV, 154) – auf die Wanderschaft begeben und seinen Onkel Laban verlassen. In dieser Aufzählung zeigt sich, dass neben diversem Vieh das mobile Kapital Jaakobs auch aus Menschen besteht. Wie es sich für einen guten Patriarchen gehört, zählen die Knechte sowie die Frauen der Familie zum beweglichen Reichtum. Besonders Letztere spielen als Handelsge4 5

Vgl. hierzu das Kapitel „Nomaden und Sesshafte“ bei Schöll, Joseph im Exil, S. 214–220. Der Tatsache, dass Israel „beweglich [ist], wie Schafzüchter es sind“ (V, 1723), ermöglicht dann am Ende auch das unproblematische Auswandern des Jaakobsstammes nach Ägypten.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

genstände eine zentrale Rolle, wie „Die Geschichte Dina’s“ (IV, 152 ff.) demonstriert. Als weiblicher Spross der Familie bisher eher wenig beachtet, wird sie für Jaakob und ihre Brüder in dem Moment interessant, in dem Sichem, der Burgsohn, ein Auge auf sie wirft. Aus dem bisher „wenig beachteten Besitz“ wird die „unbezahlbare Dina“, deren Wert durch „das Begehren des Burgsohnes“ (IV, 170) erst entfacht bzw. gesteigert wird. Und auch bei der als Rettungsaktion kaschierten Rückholung der geraubten Dina steht die Frage nach dem „Nutzen“ (IV, 175) für den Jaakobsstamm im Vordergrund. Angesichts der „glänzende[n] Beute“ (IV, 181) werden das Glück Dinas sowie ihr später geborenes Kind getrost geopfert. Nachdem die Schwester als Mittel zur Bereicherung ihren Zweck erfüllt hat – „Israel bricht auf mit allem, was sein ist, und ziehet fort mit den Gütern und Herden, die ihr mit dem Schwerte nahmet für Dina“ (IV, 183) – spielt sie dann im Folgenden keine Rolle mehr. Die Familie hat ihren mobilen Reichtum vermehrt und kann sich davonmachen. Die Dina-Episode stellt, was die Instrumentalisierung des Frauenkapitals durch den Patriarchen betrifft – sieht man vom Grad der Brutalität und Gewalttätigkeit ab – keinen Einzelfall dar. Laban lässt sich den Besitz seiner Töchter Rahel und Lea entlohnen, und auch Abraham hat sich ja nicht gescheut, Sarai gewinnbringend einzusetzen. Aus Angst um sein eigenes leibliches Wohl gibt Abraham diese als seine Schwester aus und verkauft sie „zu einem hohen Preise“ an den Pharao, dessen „erlesenen Bestand“ sie nun bereichern darf. Um einer befürchteten Zwangsenteignung, bei der Abraham wahrscheinlich zu Tode kommen würde, vorzubeugen, gibt dieser seine Frau freiwillig heraus und lässt es sich gefallen, „mit Wohltaten, Geschenken, Entschädigungen fortlaufend überschüttet“ (IV, 124) zu werden. Neben dem wimmelnden Reichtum der Herden und den weiblichen Familienmitgliedern kommt eine dritte Komponente hinzu, die den mobilen Charakter des Stammes-Kapitals bereichert, nämlich die Geschichten, die, wie Julia Schöll formuliert, als „symbolischer Grundbesitz“6 fungieren. Jaakob selbst wird wiederholt als der „Geschichtenreiche[…]“ (V, 1537) und Geschichtenschwere (vgl. V, 1538, 1551) bezeichnet, und es ist zu erfahren, dass er an Geschichten ebenso „schwer und würdig“ war wie von „Hab und Gut“ (IV, 185). Die Mobilität dieses symbolischen Kapitals beruht zu einem Großteil darauf, dass die Geschichten mündlich tradiert und bewahrt werden und nicht schriftlich fixiert sind. Sie bestehen unmittelbar fort in der „mündliche[n] Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht“ (IV, 16), im (immer wieder) Erzählen, und sind damit nicht an 6

Schöll, Joseph im Exil, S. 236.

5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben: Die Patriarchensphäre

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einen Ort oder das vermittelnde Medium der Schrift, sondern an die Personen gebunden.7 Den wohl wichtigsten Teil des mobilen Kapitals des Familienoberhauptes bildet aber der sogenannte Erstgeburtssegen. Er wird wie ein bewegliches Gut behandelt, das durch seinen Träger weitergegeben, diesem aber auch genommen werden kann. So verfügt Jaakob, nachdem er als „Segensdieb“ seinen Bruder Esau übervorteilt hat, über den „Segen Abrahams“ und damit die „Macht […], ihn weiter zu spenden“ (V, 1554). Sich seines Besitzrechtes voll bewusst, nimmt Jaakob seinem Sohn Ruben das explizit als Gut bezeichnete Erstgeburtsrecht ab und bewahrt es zur weiteren Vergabe bei sich auf: Denn mit ausgestreckten Armen entriß er dem Stöhnenden die Erstgeburt – nahm sie freilich nur an sich, ohne das Würdengut vorderhand weiterzuvergeben […]. (IV, 86)

Dass der Segen einem ökonomisch verhandelbaren Gegenstand gleicht, zeigt sich auch darin, dass Jaakob seinen auf nicht ganz lautere Art erworbenen Besitz im Nachhinein dadurch legitimiert, dass er ihn seinem Bruder Esau bei der Wiederbegegnung „noch einmal ab[…]kauft“ (IV, 150). Der Grund für das rege Interesse an dem Segen liegt in dessen ökonomischem Potential selbst begründet, ist das Erstgeburtsrecht doch vor allem deshalb so begehrt, weil es mit dem Versprechen von materiellem Reichtum verbunden ist. Den Segen zu bekommen, heißt reich zu werden. So hat der „Anbruch der Segenszeit“ für Jaakob „eine sehr praktische Bedeutung. Er bedeutete Reichtumssegen.“ (IV, 350) Das Entscheidende an dem „hohe[n] Gut“ (IV, 415) ist also seine ökonomische „Segenswirkung“ (IV, 366). 7

Entsprechend dient auch das „Schöne[…] Gespräch“ zwischen Jaakob und Joseph nicht dem „nützlichen Austausch“, sondern „der bloßen Aufführung und Aussagung des beiderseits Bekannten, der Erinnerung, Bestätigung und Erbauung“ (IV, 116). Aufgrund des Fehlens eines außerkognitiven Wissensspeichers, wie ihn beispielsweise die Schrift zur Verfügung stellen würde, dient das repetitive Gespräch der Erinnerung und Tradierung des gemeinsamen Geschichtenschatzes. Jaakob und Joseph bestätigen damit die ethnologische Diagnose oraler Kulturen, die von Georg Mein folgendermaßen zusammengefasst wird: „Oralität zeichnet sich in diesem Kontext insbesondere durch das Fehlen eines außerkognitiven Speichermediums aus, so dass sich geschichtliches Wissen in der Regel nur über drei bis vier Generationen zurück erstreckt. Darüber hinausgehende Erfahrungen können nur in mythischen Erzählungen tradiert werden.“ (Mein, Georg: Die Abwesenheit des Vaters: Schriftlichkeit als Schwellenraum. In: Geisenhanslüke, Achim / Mein, Georg (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008 (Literalität und Liminalität 1), S. 65–96, hier S. 70). Vgl. zum Gegensatz von Oralität und Literalität auch das Kapitel 5.4.3 dieser Arbeit.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

5.1.2 Die Härten des Wirtschaftslebens: Jaakob und Laban Der Segen als begehrtes und reichtumversprechendes Gut steht von Anfang an auch im Mittelpunkt des Verhältnisses von Jaakob und Laban und strukturiert dieses. Die Beziehung der beiden gestaltet sich während der 25 Jahre, die Jaakob bei Laban zubringt, als eine rein geschäftliche, die ausschließlich über Abkommen und Verträge geregelt wird. Laban, ein „in praktisch geschäftlichem Denken geübter Mann“ (IV, 241), tritt seinem Neffen nicht familiär, sondern rein ökonomisch gegenüber. Der „wirtschaftlich verhärtete Mann“ (IV, 254), dessen Gott das „unerbittliche Wirtschaftsgesetz“ (IV, 368) ist, stellt von Anfang an klar, dass er Jaakob nicht als Gast in seinem Haus, sondern als Knecht ansieht (vgl. IV, 243). Er richtet sein Verhalten streng nach „den Gesetzen des Wirtschaftslebens“ (IV, 242) aus und versucht dementsprechend den größtmöglichen Nutzen aus der Gegenwart des Segensträgers zu ziehen. Wie Herbert Lehnert festgehalten hat, handelt es sich bei diesen „Gesetzen des Wirtschaftslebens“, auf die Laban sich bezieht, um das „Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsform“, um „das Gesetz von Angebot und Nachfrage“8. Dies lässt sich an den Verhandlungen zwischen Jaakob und Laban nachvollziehen, in denen sich die Position der Verhandelnden klar daran ausrichtet, was sie jeweils in die Waagschale zu werfen haben. Dies soll im Folgenden schrittweise an den einzelnen Gesprächen demonstriert werden, bei denen sich das Machtgefüge zwischen Neffe und Onkel allmählich verschiebt. Nach Jaakobs Ankunft versuchen die beiden Männer in einer ersten Verhandlung ihr Verhältnis zu klären und eine Regelung zu finden, nach der dieser bei seinem Onkel unterkommen kann. Auf den größtmöglichen Eigennutz bedacht, trachten beide danach, sich eine möglichst mächtige Verhandlungsposition zu schaffen. Hauptbezugspunkt ist dabei Jaakobs Segen, den dieser, der ansonsten mit leeren Händen vorstellig wird, als „Hauptsache“ (IV, 233) und „die große und entscheidende Tatsache“ (IV, 240) ins Feld führt. Laban, sich des Nutzens, den der Segen verspricht, vollauf bewusst und erpicht darauf, einen „Gesegneten zum Mitarbeiter“ (IV, 250) zu haben, versucht indes, den Wert des „Gut[es]“ zu schmälern, um seine eigene Position zu stärken. So gibt er zu bedenken, dass der „Wert, auf den Jaakob sich stützte, […] mit Schuld belastet“ (IV, 241) sei. Die Tatsache, dass der Neffe den Segen aus ökonomischer Sicht nicht auf legalem Wege erworben hat, führt Laban als Wertminde8

Lehnert, Herbert: Der sozialisierte Narziß: Joseph und seine Brüder. In: Hansen, Volkmar (Hg.): Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Interpretationen. Stuttgart 1993, S. 186–227, hier S. 224.

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rung an. Denn auf dem Eigentum „lag die Grundschuld des Betruges“ (IV, 242). Und auch wenn Jaakob wiederholt „versichert, er [i.e. der Segen] sei vollkommen frei und rein“ (IV, 241), liegt die Gunst des Wirtschaftsgesetzes doch klar bei Laban. Dieser stellt lapidar fest: „Du bist auf mich angewiesen, und daraus habe ich die Folgerungen zu ziehen“ (IV, 243), und legt seinen ökonomischen Handlungsgrundsatz offen: Das sind die natürlichen Härten des Wirtschaftslebens, denen ich gewohnt bin Rechnung zu tragen. Die Bänker in Charran, es sind zwei Brüder, Ischullanu’s Söhne, fordern auch von mir, was sie wollen, weil ich ihr Wasser dringend benötige, und sie wissen, daß ich’s benötige, so fordern sie beliebig, und wenn ich’s nicht leiste, so lassen sie verkaufen mich und meine Habe und streichen ein den Erlös. Daß ich ein Narr wäre in der Welt. Du bist auf mich angewiesen, so will ich dich beuteln. (IV, 243)

Dementsprechend ungünstig gestaltet sich der erste Vertrag für Jaakob, der sich seinem Onkel mit Leib und Seele verschreibt, indem er „alle Kräfte seines Körpers und Geistes“ (IV, 249) in dessen Dienste stellt. Zu einer ersten Verschiebung der Machtpositionen von Neffe und Onkel kommt es mit Eintritt der „Segensbewährung“ (IV, 257). Jaakob kann durch den Wasserfund die „Wirksamkeit des erlisteten Segens“ (IV, 271) unter Beweis stellen und Laban vom „Vollgehalte des Wertes […] durchaus überzeugen“ (IV, 256). Diesem ist in der Folge doppelt daran gelegen, den „Segensträger […] an sich zu fesseln, damit auch fernerhin seine Geschäfte Nutzen zögen aus dem Segen, den jener trug, wohin er kam“. Das „wirtschaftliche Machtverhältnis“ verschiebt sich „zugunsten des Neffen“ (IV, 262), dem mit der Bindung des Segens an seine Person und der damit verbundenen „Weggangsdrohung“ (IV, 264) ein mächtiges „Druckmittel, dem Labans Erdensinn sofort Rechnung zu tragen bereit war“ (IV, 262), zur Verfügung steht. Doch auch dieser steht, wie er zu seiner Freude feststellen kann, nicht mit leeren Händen da, sondern kann seine Tochter Rahel in die Waagschale werfen. Die Gefühle des Neffen in Rechnung stellend kann er sich dessen Anwesenheit mit einem neuen Vertrag auf zunächst sieben Jahre sichern und die Segenswirkung damit „auf lange hinaus in den Dienst seiner wirtschaftlichen Interessen“ (IV, 271) stellen. Diese sieben Jahre gestalten sich auch für Jaakob etwas ertragreicher, beginnt er doch, nicht mehr ausschließlich für den Onkel, sondern auch für die eigene Tasche zu wirtschaften. Entsprechend den „Härten des Wirtschaftslebens“ (IV, 273) nutzt er den Segen als Druckmittel und erklärt Laban:

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Wenn du willst, daß mein Segen dir fromme und ich dir diene mit Lust und Verschmitztheit, so muß eine Belohnung mir winken und ein Anreiz mich stacheln, sonst ist meine Seele schlaff und lahm, und mein Segen tritt nicht in deine Dienste. (IV, 275)

Da es für Laban selbst lohnender ist, Jaakob „nicht den Segen im Leibe [zu] verstimmen“ (IV, 279), erlaubt er diesem schweren Herzens das Fundament für ein eigenes Vermögen zu legen. Als Ausgleich für dieses Zugeständnis führt er ihm in der Hochzeitsnacht die falsche Tochter zu; er betont, dass die schriftliche Vereinbarung sich explizit auf „ein Kind“ (IV, 314) und nicht auf Rahel bezogen habe – und sichert sich dadurch in einem weiteren Vertrag, nun inzwischen der dritte, weitere sieben Dienstjahre. Auch wenn Jaakob bereits damit begonnen hat, für sich selbst zu wirtschaften, so liegt der Vorteil doch immer noch klar bei Laban, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch fortpflanzungsmäßig (seine Frau gebärt endlich die ersehnten Söhne!) den Hauptnutzen des Segens erhält. Nachdem der Neffe aber seine vertraglichen Leistungen erfüllt hat, wendet er das Blatt und die harten Gesetze des Onkels gegen diesen. Er erkennt, dass diesem „nur mit Druck und eherner Ausnützung der Härten des Wirtschaftslebens überhaupt beizukommen war“ und schließt einen neuen „Kontrakt“ (IV, 351). Diesen nutzt er entsprechend der „Wirtschaftsvernunft“ aus, und nimmt, wie sein Onkel zuvor auch, keine „Rücksicht auf verwandtschaftliche Beziehungen“ (IV, 355). Getreu der getroffenen Vereinbarung kann Jaakob durch einen „Meisterstreich geistreicher Hirtenanschlägigkeit“ (IV, 353) den „Maßregeln Labans ein Schnippchen“ (IV, 357) schlagen. Ohne sich am Wirtschaftsgesetz des Onkels zu versündigen, vermag er seinen „Privatbesitz“ (IV, 354) durch die vermehrte Geburt der gesprenkelten Schafe so zu vergrößern, dass er „zuletzt viel reicher als Laban, der Erdenkloß“ (IV, 358), ist. Als er sich endlich auf den Weg macht und seinen Onkel verlässt, hat dieser keine rechtliche Handhabe gegen ihn. Denn Jaakob stiehlt sich nur mit dem davon, was das Seine ist, mit seinem Segen, seinem Vieh und seinen Frauen. Laban kann auch „gegen die Mitnahme der Frauen, seiner Töchter, so gut wie nichts“ einwenden, denn: „Sie waren gekauft, sie waren Jaakobs mit Leib und Seele.“ (IV, 366) 5.1.3 Das mythische Muster Jaakob verlässt Laban als schwerreicher Mann und kehrt der streng kapitalistisch organisierten Welt seines Schwiegervaters den Rücken. Damit handelt er entsprechend dem mythischen Muster, das seit der Erringung

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des Segens durch Abraham in der Welt des Stammes an diesen gebunden ist und sich von Generation zu Generation wiederholt.9 Jaakob kommt seiner Pflicht nach und erfüllt das „mythische[…] Schema, das von den Vätern gegründet wurde, mit Gegenwart“ (IV, 127). Dieses Muster zeichnet einen klaren Handlungsablauf vor, an den der Segensträger gebunden ist und der somit die Handlungen der Patriarchen bestimmt: Der Segensträger begibt sich in die Unterwelt, erwirbt dort großen Reichtum und kehrt schließlich wieder nach ‚oben‘ zurück. Diesen schematischen Ablauf kennen Jaakob und Joseph wie am Schnürchen und erzählen sich den Hergang in ihrem „Zwiegesang“ (IV, 114); sie wissen genau, wie sich das Schema der Reise ins Unterland, des dort Reichwerdens und wieder Auferstehens bei Abraham abspielte: Da ging er vollends unter und zog in das kotige Ägypterland und das Land Amenemhets, des Königs, und ward da silbern und gülden, daß er sehr reich war an Herden und Schätzen. Und ging wieder auf gen Negeb […]. (IV, 117)

Das Kapitel „Wer Jaakob war“ schildert detailliert, wie Abraham in „Unter-Ägypten“ – auch hier geht es topographisch nach unten – reich wird und das Land nach seiner „außerordentlichen Bereicherung“ (IV, 123) wieder verlässt. Dass zunächst die Geschichte von Abrahams Reichtumsentstehung erzählt wird, wenn von Jaakob die Rede sein soll, bestätigt noch einmal, dass es hier um die Darstellung eines immer gültigen Musters geht. Und in der Tat sind die Grundkoordinaten von Jaakobs Geschichte identisch mit denen Abrahams. Auch er zieht in die Unterwelt, „diese[…] Grube und Unterwelt von Labansreich“ (IV, 325), wird dort reich und kann letztlich „der Vorschrift gerecht“ werden, „nach der man die Unterwelt nicht anders verließ als mit den Schätzen beladen, die dort so reichlich neben dem Kote ausgebreitet lagen“ (IV, 357). Neben dieses Schema des Ab- und Aufstiegs tritt noch ein weiteres wichtiges Moment, nämlich das der List. So entspricht es der mythischen Ordnung, sich in der Unterwelt nicht einfach nur zu bereichern, sondern dies auf eine listige Art und Weise zu bewerkstelligen. So wie Abraham 9

Zum Mythos-Begriff in Joseph und seine Brüder vgl. exemplarisch Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum „Tod in Venedig“, zum „Zauberberg“ und zur „Joseph“-Tetralogie. Frankfurt am Main 2003 (Thomas-Mann-Studien 2); Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006 sowie Borchmeyer, Dieter: „Zurück zum Anfang aller Dinge“. Mythos und Religion in Thomas Manns Josephsromanen. In: Thomas Mann Jahrbuch 11 (1998), S. 9–29 und Borchmeyer, Dieter: Mythos und Romanstruktur – Thomas Manns Joseph und seine ästhetischen Brüder. In: Grimminger, Rolf / Hermann, Iris (Hg.): Mythos im Text. Zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 1998 (Bielefelder Schriften zur Linguistik und Literaturwissenschaft 10), S. 197–217.

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„sich eines gelungenen Hirtenstreiches freuen“ (IV, 125) kann, so darf sich Jaakob eines Meisterstreiches „geistreicher Hirtenanschlägigkeit“ (IV, 353) rühmen. Zusammengefasst stellt sich das mythische Muster des Reichwerdens, das auch Jaakob erfüllt, wie folgt dar: Hauptsächlich aber urteilte Jaakob, er habe aus seinem Untergang in die Labanswelt noch nicht genug Nutzen gezogen, sei noch nicht schwer genug in ihr geworden. Die Unterwelt barg zweierlei: Kot und Gold. Den Kot hatte er kennengelernt: in Gestalt grausamer Wartezeit und des noch grausameren Betruges, mit dem Laban, der Teufel, in der Brautnacht ihm die Seele gespalten. Auch mit dem Reichtum hatte er angefangen, sich zu beladen, – aber nicht hinlänglich, nicht ausgiebig; was nur zu tragen war, galt es aufzupacken, und Laban, der Teufel, musste noch Gold lassen, sie waren nicht quitt, er mußte gründlicher betrogen sein: nicht um der Rache Jaakobs willen, sondern schlechthin, weil es sich so gehörte, daß zuletzt der betrügerische Teufel spottgründlich betrogen war, – nur sah unser Jaakob das durchschlagende Mittel noch nicht, das Vorgeschriebene recht zu erfüllen. (IV, 325 f.)

5.1.4 Tauschen und Täuschen Die List gehört also in das mythische Repertoire des Segensträgers, und das durchschlagende Mittel, das Jaakob im eben angeführten Zitat noch sucht, ist die Täuschung. Betrachtet man die Unternehmungen, mit denen die Segensträger zu Reichtum gelangen, so wird deutlich, dass es sich immer um Akte des Täuschens und Vertauschens handelt. Wie dominant dieses Muster ist, wird vom Erzähler an späterer Stelle reflektiert, wenn die Geschichten, die Joseph dem sterbenden Mont-kaw erzählt, wie folgt kommentiert werden: Vertauschung hier und da, Vertauschung der Erstgeburt und des Segens, der Bräute und der Besitztümer. Vertauschung des Sohnes auf dem Schlachtopfertisch mit dem Tiere, des Tieres mit dem ähnelnden Sohn, da er blökend verschied. So viel Vertauschung und Täuschung tat es dem Hörer mit reizender Unterhaltung an und fesselte ihn; denn was ist reizender als die Täuschung? (V, 993)

Um dem mythischen Rollenmuster zu entsprechen und Reichtum zu erlangen, wird in Die Geschichten Jaakobs wiederholt und kreativ das Prinzip des Gabentausches subversiert, unterwandert oder instrumentalisiert. In den Geschichten von Abrahams Reichtumsentstehung und von Jaakobs Tochter Dina werden die Gabentauschangebote zur eigenen Bereicherung ausgenutzt. So täuscht Abraham den Pharao über die Substanz des Tauschgegenstandes, wenn er Sarai als seine Schwester und nicht als seine Frau ausgibt. Die falsche Etikettierung, das Vertauschen der Bezeichnung, ermöglicht ein Tauschgeschäft, das sich für Abraham als sehr profitabel

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erweist. Als Gegenleistung für die Gabe der vermeintlichen Schwester wird er mit „Wohltaten, Geschenken, Entschädigungen fortlaufend überschüttet“ (IV, 124) und zum reichen Mann. Für Pharao hingegen erweist sich das Geschäft in mehr als einer Hinsicht als unbefriedigend, hat er doch keinen Nutzen von dem Tausch, da er bei jedem Ansinnen, „die Neuigkeit zu versuchen“, in Ohnmacht fällt. Was hier letztlich als Beweis für Abrahams Auserwähltheit und als moralische Lektion für die „ägyptische[…] Wollust“ (IV, 125) ausgelegt wird, ist, betrachtet man die nüchternen Fakten des Tauschhandels, ein klarer Akt der Täuschung von Abrahams Seite und ein Beleg für die Großzügigkeit des Pharaos. Denn nach der Enthüllung von Sarais wahrer Identität gibt dieser die unversehrte Frau an Abraham zurück, ohne jedoch seinerseits die gegebenen Tauschwerte einzufordern. Auch Sichem, der Burgsohn von Schekem, der ein Auge auf Dina geworfen hat, geht bei der Werbung um die Auserkorene den korrekten und offiziellen Weg. Im Gegensatz zur Bibelvorlage, in der Sichem Dina zunächst mit Gewalt an sich bringt und vergewaltigt,10 will er sich in Thomas Manns Roman die Auserwählte über das Prinzip des Gabentausches sichern. Der junge Mann, und vor allem sein Vater Hemor, sind bereit, im Tausch für Dina eine „reiche Morgengabe“ (IV, 169) zu bezahlen. Sichem vertraut dabei auf das von Marcel Mauss identifizierte Moment der Reziprozität des Gabentausches11 und gibt „strahlend von Vertrauen“ die geforderte „Vorhaut seines Fleisches“ (IV, 172). Mit der Zuversicht, dass auch der Jaakobsstamm seinen Teil der Abmachung einhalten und Dina als Gegengabe überreichen wird, erhoffen sich Sichem und Hemor nicht nur die Braut und Schwiegertochter zu gewinnen, sondern erwarten auch „die Herstellung verwandtschaftlicher Beziehungen“ (IV, 169). Der „Bund der Freundschaft“ (IV, 176), den Jaakob und Hemor mit der Regelung der Wasser- und Siedlungsrechte geschaffen hatten, soll, so Sichems Wunsch, intensiviert und gefestigt werden. Mit dem Austausch von Gaben sollen hier also die bereits aufgenommenen sozialen Beziehungen bekräftigt und 10 11

Vgl. Gen. 34, 1–2. Nach Marcel Mauss bildet die Reziprozität – der Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern – den zentralen Bestandteil des Systems des Gabentausches, über das sich archaische und vormoderne Gesellschaften reproduzieren. Marcel Mauss’ 1923/24 erschienenes Essay Die Gabe markiert den Beginn mit der Auseinandersetzung der Sozialwissenschaften mit Größen wie Gabe, Tausch und Reziprozität. Vgl. dazu: Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort v. E. E. Evans-Pritchard. Übersetzt v. Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main 1990; sowie allgemein: Adloff, Frank / Mau, Steffen: Zur Theorie der Gabe und Reziprozität. In: Dies. (Hg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt am Main / New York 2005 (Theorie und Gesellschaft 55), S. 9–57.

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– ganz dem von Mauss ausgemachten System entsprechend – symbolisch bestätigt werden. Von diesem Ziel rückt Sichem auch nicht ab, nachdem er sich als „Geprellter“ (IV, 174) seine versprochene Gegengabe gewaltsam angeeignet hat. Auch nach der Entführung Dinas ist er gewillt, den „Preis“ zu zahlen und den Bund zwischen beiden Familien zu besiegeln: Damit aber deshalb nicht Zwietracht werde zwischen Deinem und meinem Gott, möge mein Vater nun eilends ansagen Preis und Ehebedingungen für Dina, die meinem Herzen süß ist, auf daß ein groß Fest angerichtet werde zu Schekem in der Burg und wir die Hochzeit begehen alle miteinander mit Lachen und Liedern. Denn es will ausprägen lassen Hemor, mein Vater, dreihundert Käfersteine mit meinem Namen und Dina’s, meiner Gemahlin, Namen zum Gedenken dieses Tages und ewiger Freundschaft zwischen Schekem und Israel. (IV, 177)

Josephs Brüder, die Verhandlungsführer des Stammes Israel, machen sich erneut die Gutgläubigkeit Sichems zunutze und sorgen mit ihrer neuen Bedingung – dem „allgemeine[n] Opfer“ (IV, 179) der Beschneidung aller männlicher Burgbewohner – für eine Situation der physischen und militärischen Schwächung der Sichemiten. Diese Lage nutzen sie dann gnadenlos zum Überfall auf die Burg aus: Dina wird gegen ihren Willen zurückgeholt, die Burgbewohner fallen einem Gemetzel zum Opfer und der Jaakobsstamm zieht mit einer „glänzende[n] Beute“ (IV, 181) von dannen. Das System der Reziprozität, auf dem Sichem beharrt, wird also permanent unterlaufen und zu eigenen Zwecken instrumentalisiert. Der Kredit, den Sichem den vermeintlichen Tauschpartnern gewährt, wird ausgenutzt; ein gleichberechtigter Tausch findet nicht statt. Indem die Brüder den Ring an Äquivalenzen durchbrechen, können sie den enormen Reichtum der Stadt an sich bringen. Auch in der kapitalistischen Welt Labans bestimmt das Prinzip der Täuschung und des Vertauschens das Zusammenleben von Onkel und Neffe. Während in den bereits angeführten Beispielen die Initiative zur Bereicherung durch den Akt der Täuschung nur auf Seiten des Jaakobsstammes zu finden war, ist die kapitalistische Sphäre Labans, wie oben bereits gezeigt wurde,12 von dem alleinigen Ziel der Ausnutzung der Mechanismen von Angebot und Nachfrage bestimmt; verwandtschaftliche Beziehungen sind sekundär. Die Frage nach dem Gegenwert, der in den Tauschakten von Laban und Jaakob jeweils zu entrichten ist, wird vom wirtschaftlichen Angebotsmechanismus bestimmt; die Äquivalenz wird ausschließlich über die Mechanismen des Marktes festgelegt, was Jaakob, der sich dabei zunächst klar in der Position des Unterlegenen befindet, ungerecht dünkt: 12

Vgl. Kapitel 5.1.2 dieser Arbeit.

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Freilich empfand er tief, wie sehr doch der wirtschaftliche Aspekt hier täusche und daß, wenn es eine gerechte Waage, eine Gotteswaage gegeben hätte, die Schale, in der sieben Lebensjahre lagen, die andere mit der Mine Silbers hoch hätte emporschnellen lassen. (IV, 266)

Auch wenn Neffe und Onkel ihr Verhältnis schriftlich durch Verträge besiegeln, ist dies nicht weniger täuschungsanfällig. Als Laban seine beiden Töchter für die Hochzeitsnacht vertauscht, verstößt er dabei, wie er explizit festhält, nicht gegen das vertragliche Abkommen, das ihn lediglich zur Abgabe einer Tochter verpflichtet. Denn um welche es sich dabei im Speziellen handelt, wird hier nicht näher festgelegt, und Laban erhält damit die Möglichkeit, Rahel durch die ‚falsche‘ Tochter Lea zu ersetzen.13 Dass Jaakob bei der Abmachung an Rahel und nicht an Lea gedacht hat, ist natürlich auch Laban klar, der sich jedoch auf die Verkehrssitten des harten Wirtschaftslebens beruft. Genau auf diese kann sich dann auch Jaakob bei seinem Racheakt an Laban stützen, verfährt er mit den gesprenkelten Schafen doch ebenso vertragstreu wie sein Onkel beim Tausch der Schwestern. Als Fazit lässt sich festhalten, dass der Reichtum der Segensträger primär auf Täuschungs- und Vertauschungsakten beruht. Um ein positives Plus auf dem jeweiligen Konto verbuchen zu können, reichen äquivalente Tausch- und Wirtschaftshandlungen nicht aus; das Vertrauen der Geschäftspartner muss ausgenutzt werden. 5.1.5 Kot und Gold: Die kapitalistische Unterwelt Entsprechend dem mythischen Schema ist das Reichwerden der Segensträger topogen, es ist an einen bestimmten Ort gebunden, nämlich an die Unterwelt. Damit werden hier zwei Topoi bedient, die bereits unzählige Male in diversen Geschichten und Mythen aktualisiert wurden. Zum einen handelt es sich um das Motiv der Unterweltfahrt, das Schema von Abstieg ins Totenreich und Wiederauferstehung, zum anderen um den Topos der Unterwelt als Ort des Reichtums. Beide Spuren lohnt es genauer zu verfolgen.14 13 14

Aus heutiger Sicht verstößt Laban damit klar gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und das deutsche BGB, das vorgibt: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“ (BGB, §157). Zum Motiv der Unterweltreise im Werk Thomas Manns vgl.: Bartl, Andrea: Von geschminkten Greisen und schwarzen Schwänen. Das Motiv der Unterweltfahrt bei Thomas Mann. In: Herzog, Markwart (Hg.): Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos. Stuttgart 2006 (Irseer Dialoge 12), S. 151–166; speziell zum Josephroman vgl. das Kapitel „Grundmuster der Tiefe: Thomas Manns Höllenfahrt“ in: Platthaus, Isabel: Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne. München 2004, S. 212–218. Vgl. allgemein den Artikel „Unterweltsbesuch“ bei Frenzel, Motive der Weltliteratur, S. 700–714 und die Einträge zu „Hölle“ und „Höllenfahrt“ in: Galling, Kurt (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. 3. Band. Tübingen 1959, Sp. 400–407, und 407–408.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Die zeitlich begrenzte Reise in die Unterwelt, das Reich der Toten, findet sich in zahlreichen Mythen, wie dem babylonischen Mythos von Tammuz, dem Gilgamesch-Epos, dem Mythos des griechischen Adonis15, aber auch in der altägyptischen Vorstellung des Sonnengottes Re, der mit seiner Himmelsbarke jede Nacht in die Unterwelt hinabfährt, um dann am nächsten Morgen wieder daraus hervorzugehen. Aus Vergils Äneis, Homers Odyssee oder Dantes Divina Commedia, und nicht zuletzt aus dem Neuen Testament, ist dieses Motiv wohlbekannt. In Joseph und seine Brüder wird auf diese mythischen Vorlagen teilweise explizit angespielt und diese werden von den Figuren zur Handlungsorientierung herangezogen. So weiß sich Jaakob auf seiner Unterweltreise zu Laban in den Spuren von Tammuz, und auch Joseph bezieht sich wiederholt auf mythische Vorbilder.16 Was diesen Vorlagen gemeinsam ist, und was auch den Unterweltbesuch der Segensträger bis hin zu Jaakob auszeichnet, ist, dass es sich bei dem Abstieg ins Totenreich eben tatsächlich nur um einen Besuch handelt, also um eine zeitlich begrenzte Phase, welcher der Aufstieg in die Oberwelt folgt. Während die mythologischen Götter und Helden entweder die Rückholung eines oder einer Geliebten oder einen Gewinn an Erkenntnis bezwecken, dient der Descensus der Segensträger primär der eigenen materiellen Bereicherung. Und dafür gibt es keinen geeigneteren Ort als eben die Unterwelt. Denn dass Reichtum Unterweltssache ist,17 entspricht einer Vorstellung, die sich schon in der altbabylonischen Mythologie findet; auch in der Figur des ägyptischen Totengottes ist diese Verbindung von Totenreich und Reichtum angelegt. In Osiris, der zugleich Gott der Unterwelt und der Vegetation und Fruchtbarkeit ist (und damit eben auch des Reichtums), gehen die beiden Sphären eine Symbiose ein. Diese fin15

16

17

Vgl. Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman. Frankfurt am Main 1993, S. 97 ff. und ausführlich: Schulz, Kerstin: Identitätsfindung und Rollenspiel in Thomas Manns Romanen Joseph und seine Brüder und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Frankfurt a Main u.a. 2000 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 55), S. 97 ff. Vgl. etwa das Kapitel „Der Adonishein“ (IV, 440 ff.). Vgl. ausführlich dazu auch Marx, Friedhelm: „Ich aber sage Ihnen…“. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt am Main 2002 (Thomas-Mann-Studien 25), S. 158 ff. und Schulz, Kerstin, Identitätsfindung, S. 97 ff. Zum Motiv des Descensus als grundlegendem Muster innerhalb des Romans vgl. v.a. Platthaus, Höllenfahrten, S. 212 ff. Diese Vorstellung konnte Thomas Mann bei Alfred Jeremias (Jeremias, Alfred: Das alte Testament im Lichte des alten Orients. 3., völlig neu überarbeitete Auflage. Leipzig 1916), bekanntlich eine seiner Quellen, finden, der festhält: „Die Unterwelt ist Sitz des Reichtums.“ (Ebd., S. 317) Auch Jaakobs Reise zu Laban wird dort explizit als „Höllenfahrt“ (ebd., S. 317 und 360) beschrieben.

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det sich prominent auch in der plutonischen Mythologie, die, wie Michael von Engelhardt in einer Studie ausführlich darlegt, die disparaten Bereiche Totenwelt und Ökonomie synthetisiert.18 Diese Vorstellung geht zurück auf Plutos, den griechischen Gott der Fülle und des Reichtums,19 den Sohn der Demeter, der auf einem Feld gezeugt wurde. Die Forschung geht davon aus, dass diese agrarische Funktion des Reichtumsgottes im Eleusium auf den Gott der Unterwelt, Hades, übertragen wurde, der später den Namen Pluton erhalten hat.20 Die Verquickung von agrarischem Kult und Totenkult findet sich dann auch in der römischen Mythologie bei Pluto, dem „Gott der Hölle, […] aller unterirdischen Dinge […] als auch des in der Erde verborgen liegenden Reichthums“21. Von Osiris über Plutos bis hin zu Pluto lässt sich die Verbindung von Unterwelt und Reichtum also auf die vegetative Fruchtbarkeit der Erde zurückführen, aus der, in Form des verborgenen Samenkorns, aller Wohlstand erwächst. Eng damit verbunden ist die Vorstellung von in der Erde verborgenen Schätzen und schlummerndem Gold. Dieser Konnex von Erden- und Geldschatz dominiert auch Jaakobs „Idee der Unterwelt und des Totenreiches“ (IV, 93): Es war der Ort des Kotes und der Exkremente, aber auch des Goldes und Reichtums; der Schoß, in den man das Samenkorn bettete und aus dem es als nährendes Getreide emporsproßte, das Land des Schwarzmondes, des Winters und verkohlten Sommers, wohin Tammuz, der lenzliche Schäfer, gesunken war […]. (IV, 93 f.)

In Jaakobs Vorstellung wird das prokreative Fruchtbarkeitspotential der Erde durch das Nebeneinander von Geld/Gold und Kot unmittelbar zum Ausdruck gebracht. Verstanden als nährstoffreiches Substrat, als Düngemittel, lassen sich die Exkremente durchaus als reichtumsförderne Substanz begreifen.22 Damit wird hier ein Gedanke ins Spiel gebracht, der sich schon, wie Alfred Jeremias festhält, in der altbabylonischen Lehre findet: 18 19 20 21 22

Vgl. Engelhardt, Michael von: Der plutonische Faust. Eine motivgeschichtliche Studie zur Arbeit am Mythos in der Faust-Tradition. Basel / Frankfurt am Main 1992, S. 11. Vgl. die Einträge „Pluton“ und „Plutos“ in: Ziegler, Konrat / Sontheimer, Walter (Hg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Band 4. München 1979, Sp. 955–958. Vgl. ebd., Sp. 957 und Engelhardt, Der plutonische Faust, S. 99, der die Bezüge und Entwicklungen ausführlich darstellt. Hederich, Benjamin: Pluto. In. Ders.: Gründliches mythologisches Lexikon. Darmstadt 1967, Sp. 2026–2031, hier Sp. 2027. Vgl. dazu Leeuwen-Turnovcocá, Jiőina von: Semantische Besonderheiten einiger Geldbezeichnungen im deutschen und tschechischen Substandard. In: Feldbusch, Elisabeth / Pogarell, Reiner / Weiß, Cornelia (Hg.): Neue Fragen der Linguistik. Akten des 25. Linguistischen Kolloquiums. Paderborn 1990. Band 1: Bestand und Entwicklung. Tübingen 1991, S. 423–428.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

„Das Gold ist nach orientalischem Mythus, der in die Sagen und Märchen der Völker übergegangen ist, der Dreck der Hölle.“23 Gold und Reichtum sind es also, die Jaakob bei seinem Besuch in der Unterwelt Labans zu erringen sucht. Sein Aufenthalt im „Totenreich“, „der Welt Höllenunteres“ (IV, 221), gilt den zahlreichen „Schätzen […], die dort so reichlich neben dem Kote ausgebreitet lagen“ (IV, 357). Auch das Wasser, das die Grundlage von Labans und Jaakobs Reichtum bildet und die Wende im Verhältnis von Onkel und Neffe bringt, entspringt einer „unterirdische[n] Quelle“ (IV, 257) und „schmeckt[…] nach den Schätzen der Unterwelt“ (IV, 259). Die spezifische Gestaltung der Unterwelt des Josephromans zeichnet sich also durchaus durch eine Ambivalenz aus, die Isabel Platthaus als charakteristisch für den Topos der Unterwelt in der Literatur des 20. Jahrhunderts angibt: Als unterirdische Welt ist sie nicht nur das düstere, licht- und freudlose Reich des Todes, sondern auch lebensspendender und schätzebergender Untergrund – wie die Beerdigungsbräuche einen Anlaß geben, das Totenreich in einer Gleichsetzung von Grab und Hades unter der Erde zu lokalisieren, so geben die Fruchtbarkeit der Erde und die unteririschen Edelsteine und -metalle einen Anlaß, der unteren Welt generative Kraft zuzuschreiben.24

Darüber hinaus wird das Totenreich aber nicht nur als Sphäre des Reichwerdens, sondern als dezidiert kapitalistische Sphäre dargestellt. Die Schätze liegen hier nicht einsammelbereit am Wegesrand, sondern wollen auf 23

24

Jeremias, Alfred: Babylonisches im Neuen Testament. Leipzig 1905, S. 96. Auch Sigmund Freud, der in seiner Studie zu Charakter und Analerotik (1908) den Beziehungen nachspürt, „welche sich zwischen den anscheinend so disparaten Komplexen des Geldinteresses und der Defäkation ergeben“ (Freud, Sigmund: Charakter und Analerotik. In: Borneman, Ernest: Psychoanalyse des Geldes. Eine kritische Untersuchung psychoanalytischer Geldtheorien. Frankfurt am Main 1977, S. 87–92, hier S. 89), bezieht sich an dieser Stelle explizit auf Alfred Jeremias’ Schrift (vgl. ebd., S. 90). Zur Gleichsetzung von Geld und Kot vgl. auch das Kapitel „Kot = Geld?“ bei Sprengel, Peter: Innerlichkeit. Jean Paul oder Das Leiden der Gesellschaft. München / Wien 1977, S. 165–182 sowie Borneman, Ernest: Psychoanalyse des Geldes. Eine kritische Untersuchung psychoanalytischer Geldtheorien. Frankfurt am Main 1977. In seiner Einleitung weist Borneman auf die Verbreitung der Geld=KotVorstellung in Märchen und Aberglaube sowie auf ihr Vorkommen in zahlreichen Sprachen und deren Metaphorik hin. Allein für die deutsche Umgangssprache zählt er über hundert Belegstellen für den skatologischen Wortschatz (vgl. ebd., S. 58 ff.). Platthaus, Höllenfahrten, S. 10. Die Stein- und Metallschätze, die die Erde birgt, sowie das Bergwerksmotiv spielen vor allem in der Romantik eine große Rolle. Vgl. die exemplarische Textauswahl in: Frank, Manfred (Hg.): Das kalte Herz. Texte der Romantik. Ausgewählt u. interpretiert von Manfred Frank. Frankfurt am Main / Leipzig 1996. Diese Vorstellung findet sich zudem in der Beschreibung der Entstehung des Spoelmann’schen Reichtums in Königliche Hoheit wieder, hat der Vater von Samuel Spoelmann doch als „Bergwerksunternehmer […] das gelbe Metall ohne Umwege den Flüssen, dem Schoß des Gesteins“ (II, 186) entrissen.

5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben: Die Patriarchensphäre

129

wirtschaftliche Weise erworben werden. Abraham muss einen Handel um seine Frau Sarai abschließen, um „an Habe so viel schwerer als vorher“ (IV, 125) zu werden, und auch Jaakob kommt an „Arbeit in Labans Wirtschaft“ (IV, 256) nicht vorbei. Dass Leben in der Unterwelt primär „Wirtschaftsleben“ (IV, 272) bedeutet, zeigt sich besonders deutlich an der Darstellung der „Grube und Unterwelt von Labansreich“ (IV, 325). Der rein kapitalistisch denkende Laban kann als Prototyp des Unterweltbewohners angesehen werden. Das Gesetz, dem sich der Herrscher der Unterwelt – nicht umsonst wird Laban von Anfang an und wiederholt als Teufel (so z.B. IV, 159, 169, 267, 326, 355, 357, 479) bezeichnet – beugt, ist, wie er selbst betont, das „unerbittliche Wirtschaftsgesetz“ (IV, 368). Unterweltliches Verhalten ist wirtschaftliches, am eigenen Nutzen orientiertes Verhalten; teuflisch ist eine Figur dann, wenn sie „die Verhaltensnorm des Kapitalismus“25 verkörpert. Wer „streng und trocken denkt in wirtschaftlichen Dingen und ohne Rücksicht auf verwandtschaftliche Beziehungen“ (IV, 355), der gehört der Unterwelt an. Dass ökonomisch-utilitaristisches Handeln an ein topographisches ‚Unten‘ gebunden ist, verdeutlicht auch das „Archiv“, das Laban noch „unter dem Fußboden des Erdgeschoßzimmers“ für die Aufbewahrung wirtschaftlich wichtiger Dokumente – „Quittungen, Rechnungen und Verträge“ – angelegt hat. Dieser „Kellerraum“ (IV, 252) bildet quasi eine Unterwelt in der Unterwelt, aus der man „durch das Loch der kleinen Falltür […] in die obere zurückkehrte“ (IV, 253). Das Fundament, auf dem die kapitalistische Welt Labans aufbaut und auf das sie sich verlässt, bilden wirtschaftliche Vorgänge und Vereinbarungen. Reichwerden, Gewinnakkumulation und -vermehrung stehen also in Zusammenhang mit der Unterwelt, mit dem, was weiter unten liegt und, entsprechend dem agrarischen Fruchtbarkeitsursprung, der Erde zugeordnet werden kann. Laban mit seinem „unterweltliche[n] Zug um den Mund“ (IV, 233) wird als chtonische Existenz beschrieben, als „Erdenkloß“ (IV, 231, 358) und „besitzhaltende[r], in düster-erdhafte Gedanken eingeschränkte[r]“ (IV, 233) Mann. Entsprechend materialisiert sich Jaakobs Abneigung gegen das Unterweltliche auch in seiner Abneigung gegen den Ackerbau, der, indem er die Frucht der schwarzen Erde kultiviert, direkt mit der Sphäre des Unteren in Verbindung steht (vgl. IV, 503). Diesem Muster folgend wird auch Ägypten, das als kapitalistisch-dynamisches Land von der Patriarchensphäre abgegrenzt ist,26 aus Sicht des Stammes Israel als Unterweltsland und „Totenreich“ (z.B. IV, 414, 685) be25 26

Hermsdorf, Klaus: Thomas Manns Schelme. Figuren und Strukturen des Komischen. Berlin 1968, S. 168. Ausführlich zu Ägypten, das hier zunächst nur aus der Sicht Israels im Fokus steht, siehe Kapitel 5.2.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

schrieben. Nachdem es zunächst in der „Höllenfahrt“ als „Unterland[…]“ (IV, 10) eingeführt wird, steht es dann im Kapitel „Vom äffischen Ägypterland“ (IV, 96) im Fokus. Dort wird es zum Gegenstand von Jaakobs Vorurteilen, der an dem Land „dort unten“ (IV, 98) kein gutes Haar lässt. Jaakobs „Gewohnheit, Ägypten als Unterweltsland und seine Bewohner als Scheolsleute zu betrachten“ (IV, 685), internalisiert auch sein Sohn Joseph. Für ihn steht außer Zweifel, dass er sich, als die Kaufleute ihn „weiter hinab“ (IV, 693) führen, auf dem direkten Weg ins „Totenreich“ (IV, 669), „ins Diensthaus des Todes“ (IV, 696) befindet. Und selbst als er auf seiner Karriereleiter ganz oben angekommen ist, hält er an dem Gegensatz von oben und unten noch fest, wenn er seine Brüder beauftragt: Wenn ihr hinaufkommt zum Vater, so kündet ihm alles, was ihr gesehen habt, und geizt nicht mit Schilderungen von meiner Pracht hier unten! (V, 1690)

Ägypten, das Land, in das auch Jaakob „herniederkommen soll“ (V, 1690), wird, entsprechend dem agrarischen Fruchtbarkeitsreichtum, der dem Unterland zugeordnet wird, von den Jaakobsleuten mit dem Attribut der Schwärze versehen. Um „der schwarzen Fruchterde willen“ (IV, 685), wird das reiche Land wiederholt „das schwarze geheißen“ (IV, 97), denn es ist „schwarz […] von Fruchtbarkeit und nicht rot wie die elende Wüste.“ (IV, 684). Das Entscheidende an der Apostrophierung Ägyptens als „‚Scheol‘, die Hölle, das Totenreich“ (IV, 414), wie sie vor allem Jaakob vornimmt, ist, dass das Reich am Nil damit das Opfer „streng tendenziöser Schilderungen“ und damit höchst negativ bewertet wird. Als „äffische[s] Ägypterland“ ist es Gegenstand zahlreicher negativer Attribuierungen, die mit dem Begriff des ‚Kotes‘ auf einen Nenner gebracht werden können. Das Land, dem Jaakobs „entschiedenste Abneigung“ (IV, 685) gilt, ist nicht nur das Land des Goldes, sondern auch das des „Kotes“ (V, 1554). Als „kotige[s] Ägypterland“ (IV, 117) birgt die Unterwelt „zweierlei: Kot und Gold“ (IV, 325).27 Jaakobs Vorbehalte beziehen sich dabei vor allem auf zwei Bereiche, einmal auf die „moralischen Schrecken“ (IV, 685), die Ägypten als Land der Totenverehrung und sexuellen Unzucht, also in der Verschränkung von „Tod und Geschlechtslust“28, bereithält, und zum anderen auf die biblische Vorstellung von Ägypten als ‚Diensthaus‘. Es ist für ihn „Heimat der Fronfuchtel und der Unmoralität auf einmal“: 27 28

Jaakobs Sprachgebrauch ist hier eindeutig negativ und abwertend konnotiert; der Bereich des Kotigen wird nicht nährstoffeich-positiv, sondern dreckig-negativ gewertet. Damit nimmt Jaakob einen eindeutig modernen Standpunkt ein. Assmann, Jan, Thomas Mann und Ägypten. S. 86.

5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben: Die Patriarchensphäre

131

Die staatliche Dienstbarkeit, die dort offenbar das Leben bestimmte, beleidigte seinen ererbten Sinn für Unabhängigkeit und Selbstverantwortung, und der Tierund Totenkult, der drunten in Blüte stand, war ihm ein Greuel und eine Narrheit […]. (IV, 413)

Entsprechend diesen Zuschreibungen entwirft Jaakob gewaltige Schreckensszenarien und -bilder der Unterwelt – sowohl von Ägypten als auch von Labans Lebensraum. Das Land der Pharaonen wird zum „Königreich[…] der Schrecken, woher alle üblen Geister und Seuchen stammten“ (IV, 93), apostrophiert, und auf dem Weg zu Laban, wappnet sich Jaakob für die „Drachennot“, die „dort seiner wartete“ (IV, 221). Auch im Nachhinein kann er „nicht umhin, in seinem mesopotamischen Schwiegervater einen Schwarzmonddämon und schlimmen Drachen zu sehen“ (IV, 159). Ganz diesem Bild entsprechend, sind die Unterweltsbewohner in der Sicht Jaakobs hauptsächlich deshalb schwarz, weil sie „schwarz an der Seele“ (IV, 97) sind. 5.1.6 Abgrenzungsstrategien Dieser negative Blick auf Ägypten und alles Unterweltliche dient Jaakob und seinem Stamm zur eigenen Identitätssicherung. Die symbolische Abgrenzung von allem, was ‚dort unten‘ angesiedelt ist, konturiert das Eigene und verleiht eine Stabilität nach innen. Ägypten fungiert, wie Manfred Dierks festgehalten hat, „als Ort der Projektion des ‚Anderen‘, nicht Zugelassenen, in ihnen und als Mittel zur Definition ihrer selbst.“29 Im Zuge dieser bewussten Distinktion setzt sich der Stamm Israel auf verschiedenen Ebenen von der Unterwelt-Sphäre ab. Die Identität des mobilen Hirtenvolkes wird gegen das ägyptische Diensthaus gesetzt, der eigene Monotheismus gegen die polytheistische Welt Ägyptens bzw. die Götzenverehrung und den Aberglauben der Labansleute. Als geschichtenschwerer Verfechter des Wortes grenzt sich Jaakob zudem von der Sphäre der schriftlichen Codierung ab. Zentrale Bezugsgröße ist bei alldem der Glaube an die eigene geistige und damit auch moralisch-sittliche Überlegenheit. Der entscheidende Punkt ist hier aber der klare Abgrenzungsversuch vom nutzenkalkulierenden und ökonomischen Verhalten im Stile Labans. Indem alles Kapitalistische der Sphäre der Unterwelt zugeordnet und ökonomisches Verhalten als teuflisch angeprangert wird, kann die eigene Sphäre davon frei gehalten werden. Die Unterwelt ist der Ort für jedwedes unmoralische Verhalten, und damit auch die Heimat des Kapitalismus. Was nun auf den ersten Blick vielleicht nach Kapitalismuskritik von mora29

Dierks, Manfred: Kultursymbolik und Seelenlandschaft: „Ägypten“ als Projektion. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 113–131, hier S. 114.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

lisch höherem Standpunkt aussehen mag, entpuppt sich schnell als äußerst geschickter Schachzug einer großangelegten Rechtfertigungsstrategie für eigenes am ökonomischen Nutzen interessiertes Verhalten. Denn dass solch ein Vorgehen den Segensträgern bei ihren Ausflügen in die Unterwelt attestiert werden muss, steht außer Zweifel. Sowohl die Geschichte von Abrahams Reichtumserwerb als auch Jaakobs Erlebnisse bei Laban zeigen, dass die Patriarchen mit den Mechanismen, die das Leben in der Unterwelt bestimmen, umzugehen und sie sehr wohl für die eigenen Zwecke zu nutzen wissen. Jaakob stellt sein ökonomisches Interesse gleich nach seiner Ankunft unter Beweis, wenn er seinen Onkel nach dessen Viehbestand befragt und kundig urteilt: „Das müssen mehr werden“ (IV, 235). Auch bei der Demonstration seiner Segenswirkung entpuppt Jaakob sich als strategisch denkender Mann. Durch das Auffinden der Quelle beseitigt er kurzerhand die Schwachstelle in Labans Ökonomie, nämlich die Abhängigkeit bei der Wasserversorgung, und ebnet damit den Weg für neue Investitionen und Expansionen. Jaakob kann dem Unterweltsmann Laban sehr wohl das Wasser reichen, ja er erweist sich im Nachhinein sogar als der geschicktere Teufel, der das Totenreich „viel reicher als Laban, der Erdenkloß, und als alle Wirtschaftshäupter, die dieser einst zur Hochzeit geladen“ (IV, 358), verlässt. Nachdem er durch seinen, Laban in nichts nachstehenden30 Hirtenstreich sein Vermögen gemacht hat, kehrt Jaakob der Unterwelt den Rücken und führt sein gewohntes Hirten- und Nomadenleben in heimatlicher Sphäre. Das Wirtschaften überlässt er fortan seinen Söhnen und konzentriert sich ganz auf das Geistige und auf Glaubensfragen. Das Interesse am Geldverdienen lässt er in der Unterwelt zurück, „Glaubensbeziehungen“ (IV, 71) sind fortan wichtiger als Wirtschaftsbeziehungen. Symptomatisch ist seine „Teilnahme an der Unterhaltung“ mit dem Reisenden aus Schekem in dem Moment „stark herabgesetzt, seit nicht länger von Gott die Rede war“ (IV, 77). Als Patriarch an der Spitze seines Stammes, der die Grundlage seines Reichtums in der Unterwelt gelegt hat, kann er sich ganz den ‚oberen‘, geistigen Dingen zuwenden. So ist er auch nach seiner Ankunft in Schekem „vielfach der Wirtschaft fern“ und widmet sich lieber den „Glaubensverwandten in Stadt und Land“, um in Gesprächen das „Wesen des Einzig-Höchsten“ (IV, 165) zu erörtern. Das Kapitalsammeln, das den Luxus des geistigen Zeitvertreibs ja erst erlaubt, wird kurzerhand in die dunklen und unschönen Gefilde der kotigen Unterwelt verdrängt. Damit 30

Dass auch Jaakobs Mittel der Reichtumsgewinnung alles andere als redliche sind, betont auch der Erzähler, wenn er feststellt: „[…] und mit ‚redlich‘ sind die Mittel, mit denen er dort golden und silbern wurde, mehr als ungenau bezeichnet.“ (V, 1509).

5.1 So geht es zu im Wirtschaftsleben: Die Patriarchensphäre

133

gleicht Jaakob dem von seinem Sohn Joseph entworfenen Bild des Baumes mit den kotigen Wurzeln, das sich des Topos der Unterwelt als kotiger und schwarzer Erdsphäre bedient: Seine Wipfel regen sich funkelnd im Winde, da seine Wurzeln im Stein und Staube haften des Erdreichs, tief im Dunkeln. Weiß wohl auch der heitere Wipfel viel von der kotigen Wurzel? Nein, sondern ist mit dem Herrn hinausgekommen über sie, wiegt sich und denkt nicht ihrer. Also ist’s, meines Bedünkens, mit Brauch und Unflat, und daß die fromme Sitte uns schmecke, bleibe das Unterste nur hübsch zuunterst. (IV, 475)

Wie dieses Vergessen der kotigen Wurzel in Geldangelegenheiten und die Auslagerung von unliebsamem Verhalten in die Unterwelt funktioniert, zeigt par excellence die Episode von Abrahams Reichtumsentstehung (IV, 123 ff.). Denn auch wenn der Handlungsrahmen der Unterwelt in den düstersten Farben und mit den schwersten moralischen Bedenken gegen „des Volkes Sittlichkeit“ (IV, 123) ausgestaltet wird, ist Abraham in der ganzen Geschichte doch der einzige, der sich eines moralisch bedenklichen Verhaltens schuldig macht. Aus Sorge um sein eigenes Wohl verkauft er seine Frau und behält den gezahlten Preis selbst dann noch, als der Betrug aufgeklärt wird und er, anständigerweise, seine Frau unversehrt zurückerhält. Dass die Geschichte sich natürlich wesentlich besser darstellt, wenn Abraham nicht als egoistisch kalkulierender Angsthase, sondern als dem Unterweltsvolk eine Lektion erteilender Schlaufuchs daraus hervorgeht, ist offenbar. Und so wird die Episode in der Stammesgeschichte entsprechend als Triumph des Geistes über das ‚Untere‘ ausgelegt: Denn um so lieber nimmt man an, er habe von vornherein darauf gerechnet, daß Gott die Verunreinigung Sarai’s schon so oder so zu verhindern wissen werde, habe auch nur unter dieser bestimmten Voraussetzung die Geschenke eingesteckt und sei sicher gewesen, auf die Weise, wie er es anfing, der ägyptischen Wollust am besten ein Schnippchen zu schlagen, – als unter diesem Aspekt sein Verhalten, die Verleugnung seines Gattentums und die Aufopferung Sarai’s um seines eigenen Heiles willen, erst in das rechte Licht, und zwar ein sehr geistreiches gerückt wird. (IV, 125)

Mit der Auslagerung von moralisch bedenklichem Verhalten – und dazu zählt nun einmal die Bereicherung auf Kosten anderer, wie Abraham und Jaakob sie praktizieren – in die Sphäre der Unterwelt ist aber nur ein Teil der Rechtfertigungsstrategie des Jaakobsstammes genannt. Neben dem Komplex der Unterwelt berufen sich die Segensträger bei den Erklärungen für ihr ökonomisch-kalkulierendes Verhalten auf eine weitere Größe, nämlich auf den Willen Gottes. Dass das Reichwerden in der kapitalistischen Unterwelt dem Willen Gottes entspricht, daran hegen die Segensträger keinen Zweifel. Jaakob rechtfertigt seinen Streich, den er Laban mit

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

den gescheckten Schafen spielt, damit, dass er seiner „Menschenpflicht“ nachkommt und „Gott dem König beim Erfüllen seiner Wohlstandsverheißung behilflich“ (IV, 357) ist. Die Segensträger sehen ihre Reichtumsbeschaffung als ihre Pflicht gegenüber Gott an, und aus einer Situation nicht auch den eigenen Vorteil zu schlagen, würde bedeuten, sich eines „Fehlers schuldig“ (IV, 273) zu machen. Wie bereits Dietmar Mieth festgestellt hat, kommt hier die Denkfigur des protestantischen Arbeitsethos zum Ausdruck, die finanziellen Erfolg als Ausdruck der Erwähltheit ansieht, und es dem Einzelnen zur Pflicht macht, dieser Erwähltheit auch gerecht zu werden.31 Ergänzt wird der Wille Gottes durch das Moment des Musterhaften, durch das In-Spuren-Gehen. Indem der Einzelne mit seinen Handlungen lediglich ein bekanntes Schema ausfüllt, seiner mythischen Rolle gerecht wird, ist die Verantwortlichkeit für sein Handeln an eine höhere Instanz abgegeben. Jaakob muss Laban schlichtweg hinters Licht führen, „weil es galt, der Vorschrift gerecht zu werden“ (IV, 357), wie er auch schon zuvor entsprechend seiner „Charakterrolle“ Esau um den Segen bringen musste. Hier geht das Erfüllen sogar soweit, dass der Erzähler festhalten kann: „In Wahrheit, niemand wurde betrogen, auch Esau nicht.“ (IV, 201) Mit der Segensentwendung bestätigt sich nur, „wer beide waren, in welchen Spuren sie gingen und auf welchen Geschichten sie fußten“ (IV, 200). Und da nach mythischem Muster nun einmal dem geistig Überlegeneren der ungleichen Brüder die „geistlich wahre Erstgeburt“ (IV, 197) zusteht, so erfüllt Jaakob mit seinem Diebstahl, der somit keiner mehr ist, das „geprägte[…] Urbild“ (IV, 201). Denn aus Sicht des kalkulierenden Gottes wäre es höchst unklug, wenn den Segen nicht der erhielte, der in der Lage ist, sein Volk zu führen. Nur so lässt es sich auch erklären, dass Gott diesen Betrug gutheißt und absegnet.32

31

32

Vgl. Mieth, Dietmar: Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephromane Thomas Manns. Tübingen 1976, S. 59 ff., der auf den „geistesgeschichtlichen Horizont, in dem der Zusammenhang von Muße und Tätigkeit behandelt wird“ (ebd., S. 61) hinweist, und Jaakobs Jonglieren zwischen den Gefühlen für Rahel und seinen wirtschaftlichen Pflichten als das Verhältnis von „Eros und (Arbeits) Ethos“ (ebd., S. 62) liest. Dieses (aus menschlicher Sicht) moralische Dilemma – dass Gott den Betrug absegnet und nicht bestraft – beschäftigt auch Neffe und Onkel in Paul Austers The Brooklyn Follies, und auch hier verweist der Onkel auf die rational nachvollziehbare Wahl Gottes desjenigen zum Anführer seines Volkes, der der Rolle gerecht zu werden vermag: „Jacob had the spark of life in him, and Esau was a dumbbell. Good-hearted, yes, but a dumbbell. If you’re going to choose one of them to lead your people, you’ll want the fighter, the one with cunning and wit, the one with the energy to beat the odds and come out on top. You choose the strong and clever over the weak and kind.“ (Auster, Paul: The Brooklyn Follies. London 2006, S. 53 f.).

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

135

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Jaakob und die Seinen ihre eigene Identität als Hirten- und Nomadenvolk dadurch festigen, dass sie sich deutlich von der Sphäre der ‚Unterwelt‘, die in ihrer Vorstellung alles Verwerfliche und Verachtenswerte umfasst, abgrenzen. Wie gezeigt wurde, heben sie sich damit vor allem suggestiv von der dezidiert kapitalistischen Sphäre des Wirtschaftens und der Reichtumsakkumulation ab. Topographisch äußert sich dieser Antagonismus zunächst im Gegensatz von Hirtensphäre und unterweltlichem Labansreich und dann vor allem in der Opposition von Kanaan und Ägypten, der, wie sich zeigen wird, kapitalistischen Hochzivilisation und globalen Wirtschaftsmacht.

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme Motivisch untermalt wird der Gegensatz von patriarchaler Hirtensphäre auf der einen und kapitalistischen Gefilden auf der anderen Seite durch die bereits bekannte Wasser- und Strommetaphorik. Die Tetralogie Joseph und seine Brüder kann im wahrsten Sinne des Wortes als ein Roman der Ströme bezeichnet werden, in dem die Wasser- und Geldströme ein dichtes Motivnetz bilden. Gleich im „Vorspiel: Höllenfahrt“ klingen, wie es sich für eine Ouvertüre gehört, die liquiden Grundmotive des Romanwerks an: Brunnen, Oasen, Ströme und Quellen treten wiederholt in Erscheinung. Im weiteren Verlauf lassen sich dann, analog des Gegensatzes von Patriarchensphäre und kapitalistischer Unterwelt, zwei Wassersphären differenzieren: die Brunnen- und die Stromsphäre. 5.2.1 Brunnen- vs. Stromsphäre Die Gegenüberstellung von (lokal gebundenem) Brunnen und (fließendem) Strom orientiert sich zunächst an den geographisch und lebensräumlich vorgefundenen Bedingungen in Kanaan und Ägypten. So wie der Nil im Leben der Ägypter eine existenzielle Rolle spielt, hängt das Leben des Hirtenvolkes von „Brunnen und Weiden“ (IV, 396) ab. Denn wie Juda dem midianitischen Kaufmann erklärt: Auch möchte ich wissen, wie man vom Leben der Menschen künden soll, vom Hirtenleben zumal und nun gar von der Reise, und nicht dabei des Brunnens gedenken, ohne den es auf Schritt und Tritt doch nicht abgeht… (IV, 606)

Und in der Tat spielt der Brunnen vor allem in den ersten beiden Bänden, die ja in der Hauptsache in der Sphäre des Jaakobsstammes spielen, eine

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

bedeutende Rolle.33 Dies wird gleich zu Beginn deutlich, hebt der Roman ja schon mit dem vielleicht berühmtesten Brunnen der neueren deutschen Literatur – dem unergründlichen „Brunnen der Vergangenheit“ (IV, 9) – an. Und auch das auf das „Vorspiel: Höllenfahrt“ folgende erste Hauptstück trägt den Titel „Am Brunnen“ (IV, 59), an dem Joseph seinen ersten Auftritt hat. Zentrale Ereignisse des Stammes Israel stehen ganz im Zeichen des Brunnens: Der Wohnsitz von Jaakobs Eltern heißt „Siebenbrunnen“ (IV, 35, 132), Eliezer hat Rebecca für Isaak am Brunnen gefreit (vgl. IV, 19, 122), Jaakob trifft Rahel zum ersten Mal an einem Brunnen (vgl. IV, 223 ff.) – und schließlich ist es ja auch ein Brunnen, der Josephs weiteres Schicksal bestimmt und ihm als Eingang zur ägyptischen Unterwelt dient. Die Omnipräsenz und Bedeutung des Brunnens im Leben der Jaakobsleute, die ja schließlich „Hirten und keine Kauffahrer“ (IV, 604) sind, erkennt der midianitische Kaufmann, nachdem er den Erzählungen der Brüder gelauscht hat: Wenn ich dir lausche und höre dich künden von euerem Geschlecht und seinen Geschichten, so scheint mir, daß in diesen der Brunnen eine ebenso denkwürdige und hervorstechende Rolle spielt wie die Erfahrung im Ziehen und Wandern. […] Du sprichst, und das Wort ‚Brunnen‘ schlägt an mein Ohr jeden Augenblick. Ihr wechselt Weide und Brunnen. Ihr habt des Landes Brunnen am Schnürchen. Euer Vater hat einen Brunnen gebaut, sehr tief und breit. Eures Großvaters Großknecht freite am Brunnen. Euer Vater auch, wie es scheint. Es summt mir wahrhaft im Ohre von Brunnen, die du erwähntest. (IV, 605 f.)

Tatsächlich fällt die Häufigkeit auf, mit der der diversen Gewässerformationen gedacht wird, und gerade die Verbindung von natürlichen Wasserströmen mit den finanziellen Strömen legt eine ökonomische Auslegung der Gewässer, und vor allem des Kontrastes von Brunnen und Strom, nahe.34 33

34

Vgl. dazu auch: Esche, Annemarie: Mythisches und Symbolisches in Thomas Manns Josephsromanen. In: Wenzel, Georg (Hg.): Vollendung und Größe Thomas Manns. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit des Dichters. Halle (Saale) 1962, S. 149–161, besonders S. 159 und Mathes, Marianne: Brunnen und Brunnenheld in Thomas Manns Josephsroman. In: Symbolon. Neue Folge 13 (1997), S. 97–104, die in Joseph einen „Brunnenheld, ein[en] Brunnensucher und -fahrer par excellence“ (ebd., S. 98 f.) sieht. Dem ist insofern, als Josephs Aufstieg in Ägypten ganz im Zeichen von wiederholten Brunnen- bzw. Grubenbesuchen steht, zuzustimmen. Wie die Ausführungen in Kapitel 5.3.3 dieser Arbeit zeigen werden, ist die eigentliche Heimat Josephs aber eher die Sphäre des globalen und fließenden Stromes und dieser somit ein Stromheld. Auch Goethe bedient sich des Brunnens als Bild für Stagnation und ökonomischen Stillstand, wenn er in einem Brief an Frau von Stein schreibt: „Übrigens ist’s in mir so still wie in einem Kästgen voll allerley Schmucks, Gelds und Papiere, das in einem Brunnen versinckt.“ (Johann Wolfgang Goethe an Charlotte von Stein, 10. März 1781. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Das erste Weimarer Jahrzehnt. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 7. November 1775 bis 2. September 1786. Hg. v. Hartmut Reinhardt. Frankfurt am

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

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Schon in den Patriarchenbänden geht eine zunehmende ökonomische mit einer natürlichen Liquidisierung einher und die eingangs vorgestellte Motivkombination von Geld, Wasser und Dynamisierung tritt in Kraft. Dort wo Handel und Geschäfte stattfinden – in den Städten, von denen sich Jaakob fernzuhalten sucht – sind Schwung und Bewegung an der Tageordnung, und auch die vielbefahrenen Reise- und Handelsstraßen liegen nicht „stille“ (IV, 397). Am deutlichsten tritt die Strommetaphorik bei Jaakobs Besuch in Labans kapitalistischer Unterwelt in Kraft. Jaakob verlässt die Sphäre des Brunnens und dringt, „endlich in Schlamm und Schilfe stehend“ (IV, 222), in wesentlich wässrigere Gefilde vor, nämlich in das „stromumschlossene Land“ (IV, 245) seines Onkels. Hier bewähren sich sein Segen und dessen Wirkung in einem Wasserfund, im Aufspüren einer „sprudelnden Grube“ (IV, 260). Das „lebendige[…] Wasser“ (IV, 257) bringt neuen Schwung in die allzu ruhige und unprofitable Wirtschaft und sorgt für einen Liquidisierungsschub in mehr als einer Hinsicht. Indem Jaakob Laban die Wasserautonomie verschafft, sorgt er für enormen wirtschaftlichen Aufschwung, die stockende Wirtschaft kommt in Fluss: War es denn nicht klar und deutlich, daß Rebekka’s Sohn ein Glücksbringer war fast wider seinen Willen und durch seine bloße Gegenwart Zustände belebte, aufregte und in ungeahnten Fluß brachte, denen es scheinbar bestimmt gewesen war, nur immer so weiter zu stocken und sich zu schleppen? Was war das auf einmal für ein Werken und zukunftsreiches Treiben auf Labans Hof und Feld, was für ein Graben, Hämmern, Ackern und Pflanzen! Laban hatte Geld aufgenommen, um der Vergrößerung des Betriebes, den nötigen Einkäufen gewachsen zu sein […]. (IV, 271 f.)

Ähnlich wie schon in Königliche Hoheit beleben sich die Zustände, die Stockungen und Hemmungen werden gelöst und Laban kann, ganz im Geiste progressiv-kapitalistischen Denkens, sogar einen Kredit aufnehmen und in die Zukunft investieren. Ausdruck findet die belebende Wirkung der Liquidisierung auch in Labans wiedererwachter Fruchtbarkeit. Mit zunehmender ökonomischer Potenz stellt sich auch der Kindersegen wieder ein, und Jaakob kann sich rückblickend der Beseitigung von „Unsegen, Fluch und Lähmung“ (IV, 474) rühmen, denn: wäre nicht ich gekommen und hätte ein wenig Leben verbreitet in Haus und Wirtschaft, so hätte alles in Trübsal gestockt, und nie wieder wäre er fruchtbar geworden in seinem Weibe Adina. (IV, 474) Main 1997 (Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche 2. Abt., Band 2), S. 333.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Der Wasserfund sorgt also für wirtschaftlichen und familiären Zuwachs35, dort wo das Wasser fließt, fließt auch das Geld. Die Unterwelt als Ort des Reichwerdens ist in der Bildlichkeit immer auch Stromland. 5.2.2 Die Wasser-, Menschen- und Geldströme Ägyptens Das Ägypten, in das Joseph kommt, ist weit entfernt davon, so todeserstarrt zu sein, wie Jaakob es proklamiert hatte, sondern macht im Gegenteil seinem Namen als „Land[…] der Ströme“ (IV, 604) alle Ehre.36 Das von Jaakob diffamierte Land tritt Joseph, dessen Bild schon auf der Reise hinab in die Unterwelt durch den Kaufmann differenziert und ergänzt wird,37 als bunte, menschengefüllte, fortschrittliche und hochentwickelte „Hochzivilisation“ (IV, 825) entgegen, als ein Land mit politischem und wirtschaftlichem System und von teilweise unglaublichem Reichtum. Der Weg von Kanaan führt, „von Brunnenstation zu Brunnenstation“ (IV, 707), hinunter in das „Zweiströmeland“ (IV, 586) Ägypten und ist damit gleichzeitig, so Thomas Mann selbst, „der Weg aus dem FrommPrimitiven, dem gottschöpferischen, gottbesinnlichen Idyll der Erzväter in eine Hoch-Zivilisation mit ihren Köstlichkeiten und absurden Snobismen“ (XI, 667). Dass es sich bei dem Land am Nil um ein liquides Land handelt, zeigt sich gleich im „Vorspiel“, wo es als „Land[…] der Ströme“ (IV, 10), „Stromlande“ (IV, 29) und „Zweistromland[…]“ (IV, 31) eingeführt wird. Damit sind die zentralen Strom-Komposita genannt, die im Romanverlauf bei der Beschreibung Ägyptens bemüht werden. Wie der Brunnen das Leben der Hirten zu Kanaan bestimmt, so ist der Nil die Grundlage für alles ägyptische Leben; als „barkenreiche[r] Lebensspender[…]“ (IV, 157) ist er die Basis allen Lebens und Wirtschaftens in Ägypten. Denn „ägyptisch sei alles, was aus dem Strome trinke“ (IV, 725) und Ägypten umfasst territorial „alles Land, das der Nil befruchte stromab und stromauf“ (IV, 724 f.). Als „Ernährer-Gott[…]“ ist der Strom mit seiner jahreszeitlich bedingten Zu- und Abnahme für die Fruchtbarkeit des Landes und damit unmittelbar für das leibliche Wohl der „Kinder Ägyptens“ verant35

36 37

Äquivalent dazu kann in den ersten – den fetten – Jahren von Josephs Tätigkeit als Ernährer ein Geburtenzuwachs in Ägypten festgestellt werden; und auch Joseph wird ja, im Gegensatz zu Pharao, der ausschließlich Töchter bekommt, Vater von zwei Söhnen (vgl. V, 1531 f.). Auch Manfred Dierks stellt fest: „Von Erstarrung beispielsweise kann kaum die Rede sein“ (Dierks, Kultursymbolik, S. 122). Zur stufenweisen Initiierung Josephs in die ägyptische Kultur und Lebensweise durch den Vater, den Kaufmann und die Reise nach Theben vgl. das Kapitel „Ägypten: Urteile und Vorurteile“ bei Assmann, Jan, Thomas Mann und Ägypten, S. 84 ff.

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wortlich. Als „der Überwallende, Anschwellende“ (V, 1577) sorgt der eindeutig männlich-potent konnotierte und „schöpferische[…] Strom[…]“ (V, 1578) für Wachstum „zwischen den Wüsten“ (V, 1577): Aber aus dem Unteren geht er hervor zu seiner Stunde, der Wachsende, Schwellende, Schwemmende, der Sichvermehrende, der Herr des Brotes, der alle guten Dinge zeugt und alles leben läßt, mit Namen ‚Ernährer des Landes‘. (IV, 692)

Dass die Bewohner Ägyptens „höchst kindische Vorstellungen“ (V, 1577) von der Beschaffenheit ihres Stromes hegen, die der Erzähler geographisch gut aufgeklärt im Kapitel „Von den wässerigen Dingen“ (V, 1577 ff.) zu korrigieren weiß, tut der wirtschaftlichen Nutzung des Stromes keinen Abbruch: Ist nicht der Strom ein Gott, von Stiergestalt oder auch von der eines bekränzten Mannweibes mit doppelartiger Brust, hat er das Land nicht geschaffen, und nährt er es nicht? Das hindert nicht ein sachliches Verhalten zu seinem Wasser, nüchtern gleich diesem: man trinkt’s, man befährt es, man wäscht sein Leinen darin, und nur das Wohlgefühl, das man empfindet beim Trinken und Baden, mag einer Mahnung an höhere Gesichtspunkte gleichkommen. (IV, 896)

Das An- und Abschwellen des Stromes als Existenzgrundlage strukturiert auch das öffentliche Leben. Der offizielle Kalender ist am Wasser ausgerichtet, und die drei Jahreszeiten – „Überschwemmung, Aussaat und Ernte“ (V, 966) – hängen vom Lauf und Stand des Stromes ab. Das offizielle Neujahrsfest wird „zu Beginn der Überschwemmung“ (V, 964), am Tag „der amtlichen Nilschwelle“ (V, 1246), gefeiert, und Josephs Eintritt in das Land datiert „zur Zeit der Verringerung des Stromes“ (V, 964). Der Wasserstand wird von staatlicher Seite durch eine „Stromwarte“ kontrolliert und vermessen, hängt doch das Einkommen des Staates von einer guten Ernte ab, denn: von erster und letzter Wichtigkeit war es, daß der Strom richtig kam, zu wild nicht und nicht zu schwach, weil’s davon abhing, ob die Kinder Kemes zu essen hätten und es ein ergiebiges Steuerjahr würde, daß Pharao bauen könnte. (V, 965)

Staatliches und öffentliches Leben stehen also ganz im Zeichen des großen Flusses; Geografie, (Arbeits-)Alltag und der staatliche Apparat hängen, vermittelt über den Strom, zusammen: Wo die Ufer steil waren, schöpften Männer an Brunnengerüsten mit Lederbeuteln […] das schlammige Zeugungswasser aus dem Fluß und gossen’s in Rinnen, daß es in die unteren Gräben laufe und sie Korn hätten, wenn Pharao’s Schreiber kämen, es einzuziehen. (IV, 730)

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Das Leben am und vom Nil strukturiert die Landschaft und bestimmt mit den „Bewässerungskanälen“ (IV, 738), „Wasserwege[n]“ (IV, 729) und Schiffslandeplätzen die Infrastruktur Ägyptens. In dem Land der Ströme ist die Reise per Schiff die übliche Fortbewegungsart, der Nil ist die „Verkehrsstraße“ Nummer eins; stromauf und stromab herrscht „bunte[r] Reisetrubel“ (V, 1296) und der Anblick „vieler Schiffe Segel“ (IV, 763) ist alltäglich. „Gemeine Kähne“, „Tempelbarken mit Purpursegeln“ und „hochnoble Reiseschiffe“ (IV, 764) tummeln sich auf dem „großen Reiseweg[…] Ägyptenlandes“ (IV, 763). Ob reich oder arm, privat oder in Geschäften unterwegs: Der Strom dient der Fortbewegung aller. Dabei sorgt der Nil nicht nur für einen reibungslosen Verkehr innerhalb Ägyptens, sondern bindet das Land auch global an, wie Joseph bei seinem „Eintritt in Scheol“ (IV, 720) von dem midianitischen Kaufmann erfährt. Der „schiffbare[…] Süßwassergraben und Hauptkanal“ (IV, 721), an dem entlang Josephs Reise verläuft, verbindet „den Strom mit den Bitterseen“ und diese sind durch einen Kanal mit dem Meere der Roten Erde, kurz gesagt: mit dem Roten Meere verbunden, so daß es dahin vom Nil ununterbrochen durchgehe und man von der Amunsstadt geradewegs bis zum Weihrauchlande Punt segeln mochte, wie es die Schiffe Hatschepsuts gewagt hatten […]. (IV, 721)

Es ihrem Ernährer metaphorisch gleichtuend, strömen in Ägypten nicht nur die Gewässer, sondern auch die Menschen. So herrscht zur Feier des Neujahrstages ein reger „Zudrang stromauf- und -abwärts siedelnder Landleute, die einströmten“ (V, 1241), und beim Anblick Pharaos kann es passieren, dass die begeisterte und „taumelnde Menge“ aus Platzgründen „auf einem Bein“ hüpft und dadurch „in Wellen wogte wie das Meer im Sturm“ (V, 973). Auch von den vielen Wallfahrtsorten „stromauf und stromab“ ist zu berichten, dass dorthin „das Volk in hellen Scharen strömte“ (V, 966), und die Bewohner von Per-Bastet rühmen sich, dass zu ihrem Feste „‚Millionen‘, das hieß ganz gewiß Zehntausende von Leuten stromabwärts auf dem Land- oder Wasserwege daherreisten“ (IV, 726). Das Zusammenströmen der Menschenmassen zu religiösen Feierlichkeiten und Stätten ist dabei unmittelbar die Voraussetzung für ökonomisches Treiben. Denn dort „wo Menschen zahlreich zusammenströmen“, schießt „der Handel aus dem Boden“ (V, 966). Dementsprechend zeichnen sich auch die Städte als Plätze des Handels und Warenaustausches durch reges Treiben aus. Sie sind die Orte, an denen Menschen- und Geldmassen zu finden sind, wo „die Menschen und Schätze zusammenströmten“ (IV, 754). Die Städte, die Joseph auf seiner Reise mit den Kaufleuten kennen lernt, zeichnen sich durch ihre

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141

Dynamik, ihre Menschenmassen und ihren ökonomischen Reichtum aus. Je weiter stromaufwärts (und damit auch näher an Pharaos Machtsitz) sie liegen, desto reicher fließen dort auch die Menschen- und Warenströme. Entsprechend ihrer Lage „außerhalb des Deltas“ (IV, 724) fällt gleich die erste Stadt auf der Reise, das stromferne Per-Sopd, noch durch ihren Mangel an Dynamik und Wohlstand auf, denn ihre „Vorrats- und Schatzkammern standen leer, und nicht viel Volks machte Sopdu, dem Herrn, seine darbringende Aufwartung“; kein Fest „zog heilig erregte Massen stromabwärts in die bröckelnden Mauern“ (IV, 723). Wo keine Wasserströme sind, so die Lehre, dort sind auch keine Waren- und Menschenströme zu finden. Etwas liquider geht es in der Katzenstadt Per-Bastet, der zweiten Station der Reise, zu, die Per-Sopd an „Größe und Menschenmenge“ (IV, 726) weit übertrifft. Obwohl auch sie „so tief im altertümlichen Delta“ – aber immerhin zugestandenermaßen im Delta – liegt, verfügt sie „über ein allgemein gültiges Fest“ (IV, 726), das wenigstens alljährlich für einen „bereichernden Zulauf[…]“ (IV, 727) und geschäftlichen Auftrieb sorgt. Eine neue Dimension an Größe und Reichtum erreicht Josephs Reisegruppe erst, als sie das Gebiet „entlang dem Stromarme“ verlässt und an den Punkt gelangt, „wo sich der Arm mit dem Strom vereinigte, an der Spitze des Dreiecks der Mündungen“. (IV, 729) Hier in On beginnt die eigentliche Sphäre des Stromes, es herrscht buntes und reges Treiben, es finden Handelsgeschäfte statt und das Publikum ist international (vgl. IV, 728 ff.). Hauptmerkmal der Stadt – und eindeutiges Zeichen ihres Reichtums – ist, dass sie „vorwiegend aus Gold gebaut“ (IV, 729) ist. Optisch sticht das goldene On durch sein funkelndes, gleißendes und blitzendes Äußeres hervor; die Stadt „gleißte und blitzte von Sonnengold, dergestalt, daß alle ihre Einwohner entzündlich tränende Augen davon hatten“ (IV, 732). Wie Elisabeth Paefgen festhält, lässt sich das Ausmaß des materiellen Reichtums der Stadt vor allem auch daran ablesen, „daß dieser Reichtum nicht auf Stadt und Tempel beschränkt bleibt, sondern sogar die ländlichen Häuser im Umkreis der Stadt erreicht.“38 In der Tat ist „jedes ihrer Nilziegelhäuser, auch das ärmste noch, mit einem vergoldeten Sonnenzeichen“ oder anderem goldenen Schmuck versehen, ebenso wie die „Wohnstätten, Speicher[…] und Bansen der umliegenden Dörfer“ (IV, 732).

38

Paefgen, Elisabeth K.: Das gelbe New York und das goldene On. Beschriebene und erzählte Städte bei Thomas Mann und Uwe Johnson. In: Klotz, Peter / Lubkoll, Christine (Hg.): Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse. Freiburg im Breisgau 2005 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 130), S. 229–246, hier S. 242 f.

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Der progressiven Steigerung entsprechend, die die Reise nilaufwärts von Stadt zu Stadt bedeutet, eröffnet sich mit der Ankunft in Menfe – der „riesigste Menschenpferch“ (IV, 746), den Joseph je zu sehen bekommen hat – eine neue Dimension an Größe und Masse. Die „Großstadt“ (IV, 748) und „Weltstadt“ (IV, 749) von „mehr als hunderttausend Menschen“ bietet ein Bild „wimmelnde[n] Leben[s]“ (IV, 746). Volk „von allerlei Menschengeblüt“ (IV, 747) sorgt für ein internationales Flair in dem „Gewirr hügelauf, hügelab sich windender Enggassen, in denen es kochte und roch von handelndem, wandelndem, sich plackendem und schwatzendem Kleinvolk“ (IV, 746 f.).39 Im Gegensatz zum Herrn von Per-Sopd ist Ptach kein „verarmter Gott“, sondern hat angefüllte „Schatzhäuser, Speicher, Ställe und Scheunen“ (IV, 749).40 Die letzte Etappe der Reise führt Joseph nach Wêse (das heutige Theben), „wo die Menschen und Schätze zusammenströmten“ (IV, 754), und wird auf landesübliche Weise per Boot zurückgelegt; die erste Annäherung an diese prächtige Stadt erfolgt über die „Ehrenstraße“, die der Fluss bildet. Vom Schiff aus bietet sich ein erster Eindruck von Pracht, Macht und Geschäftigkeit. Wie schon in On blitzt es auch in Pharaos Stadt „von Gold und schimmerte fein von Farben des Regenbogens“ (IV, 765), und dass der herrschende Staatsgott, Amun, ein „sehr reicher Gott“ ist, erkennt der Ankömmling sofort. An den „göttlichen Werften“ und diversen weiteren Baustellen sind zahlreiche Arbeiter emsig am Werke und es wimmelt „von sich rührenden, sichtlich noch in Bautätigkeit begriffenen Menschen“ (IV, 766). Die „Hauptstadt am Nilstrom“ (IV, 770) bildet quasi den Knotenpunkt des Stromlandes, hier ist das Zentrum der politischen und religiösen Macht, und auch die Warenströme aus dem In- und Ausland laufen hier zusammen. Vielfach, so ist zu erfahren, machen die „Schiffe der Fremdländer[,] mit denen Pharao Handel trieb“ (IV 775 f.), nicht erst Halt in den Städten im Mündungsgebiet, sondern kommen direkt nach Wêse, um ihre Frachten, Tribute und Tauschwaren an Ort und Stelle zu löschen, wo doch alles zusammenkam, nämlich in Pharao’s Schatzhaus, der damit Amun und seine Freunde reich machte […]. (IV, 776)

39 40

Vgl. weiterführend Manfred Dierks, demzufolge gerade Menfe oder Mempi „Züge des Berlins der 20er Jahre abbekommen“ (Dierks, Kultursymbolik, S. 122) hat. Auffällig häufig finden sich in den Schilderungen von Menge, Masse und Reichtum Alliterationen wie hier, aber auch, häufig alliterierende oder sich reimende, Doppelungen (hügelauf, hügelab (IV, 746) / handelndem, wandelndem (IV, 746 f.) / wimmelte und wallte (IV, 774)), die den Eindruck untermalen.

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

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Alles fließt hier zusammen, und so gilt Wêse nicht umsonst als „Kernpunkt und Fokus der Welt“ und hält sich „für deren Nabel“ (IV, 773). Weit über die Landesgrenzen hinaus ist die Stadt bekannt – vor allem für den Reichtum ihrer Häuser – und „Fremdheit“ ist in den Gassen der Stadt längst „alltäglich“ (IV, 774). Dem Besucher bietet sich ein wahrhaft buntes Bild an Waren- und Menschenmassen: Welche Warenschätze quollen aus den Gewölben, und wie wimmelte und wallte es in den Gassen von den Arten und Schlägen der Adamskinder! (IV, 774)

Wie in jeder modernen Metropole ist der Reichtum in der golden glänzenden Stadt höchst ungleich und unproportional verteilt, so dass die Mehrzahl der Bewohner „durchaus keine Schätze“ in ihren Häusern birgt, sondern „so arm wie die Leute der Inseln und ferneren Küsten“ ist. Im Zentrum des Stromlandes akkumuliert sich das Kapital in einzelnen, mächtigen Häusern und den Tempeln, „wo man das Gold allerdings mit Scheffeln maß“ (IV, 771). Entsprechend beeindruckend treten auch Pharao, der Herr der Ströme, und seine Familie auf. Hauptmerkmal ihrer Erscheinung und Zeichen ihres Reichtums ist – analog zu den Bauwerken in On – die Farbe (bzw. das tatsächliche Material) Gold. Von den Kleidungsstücken des Sohnes, über den Wagen und den Pferdeschmuck bis hin zur Schminke an den Augen der Gemahlin glänzt und erstrahlt alles in blendendem Gold. An diesem Reichtum partizipieren kann eine ausgewählte Elite, die hohe offizielle Ämter innehat und die Gunst des Herrschers genießt. Dazu zählt Peteprê, der als „Wedelträger […] hoch auf der Liste von Pharao’s Zuwendungen“ (V, 930) steht und reichlich für sein Amt entlohnt wird. Wie es sich für das Land der Ströme gehört, sorgt Pharao für die Liquidität seiner Höflinge, indem er sie mit Ehren und Gütern überschüttet (vgl. IV, 845) und die Belohnungen, wie im Falle Peteprês, „reichlich ström[…]en“ (V, 930) lässt. Entsprechend der Strommetaphorik ist dessen Haus „reichlich und überflüssig“ (IV, 849) gebaut und die Innenausstattung des Esszimmers „voll heiteren Schmuckes und Überflusses“ (V, 914). Dank der Zuwendungen, die ihm sein Posten am Hofe einbringt, ist Potiphar „ein sehr reicher Mann – in viel größerem Stile reich, als Jaakob es war zu Hebron“ (V, 927). Er verfügt über ein eigenes Wirtschaftswesen, „in das jene Bezüge beständig hineinflossen und es speisten“ (V, 928) und das dadurch seinen Besitz deutlich vermehrt. Der Handel mit der den Eigenbedarf weit überschreitenden Menge an Produkten – mit dem tatsächlichen Überfluss also, der teils aus Geschenken Pharaos, teils aus der eigenen Wirtschaft stammt – sorgt für enorme Einnahmen und erfordert ein hohes Maß an Organisation und Verwaltungsarbeit:

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Zum großen Teil wurde es [i.e. der Überschuss an Waren] verhandelt, auf Schiffen flußaufwärts und -abwärts den Märkten zugeführt und Kaufleuten gegen andere Waren sowie geformte und ungeformte Metallwerte überlassen, die Potiphars Schatzkammer füllten. Dies Handelsgeschäft, das mit der eigentlichen, hervorbringenden und verzehrenden Wirtschaft verquickt war, ergab viele rechnerische Buchungen und forderte scharfen Überblick. (V, 930)

Die „Vorteile, die ihm erflossen“ (IV, 868), machen sich ökonomisch also mehr als bezahlt, und die durch den Handel am Strom in Metallwerte transponierten Waren können der weiteren Verwendung harren. Wie das Zitat bereits andeutet, ist die Wirtschaft am Strom eine hoch komplexe, die der Verwaltung und Kontrolle bedarf. Dementsprechend hebt sich Ägypten, das sowohl natürlich wie metaphorisch ganz im Zeichen des (Geld-)Stromes steht, auch in seiner politischen und wirtschaftlichen Strukturiertheit von der Hirtensphäre Kanaans ab, in der es noch kein zentral verwaltetes politisches System und auch keine Buchführung gibt. 5.2.3 Das streng verwaltete Unterland: Ägyptische Buchführung Wenn in den ersten beiden Bänden der Tetralogie wiederholt von den Tributen die Rede ist, die die Länder und Städte an Ägypten zu entrichten haben, wird bereits klar, dass es sich im Falle Ägyptens um ein auch global agierendes Land mit einer straffen Organisation handelt. Schon im „Vorspiel“ werden die „Höflichkeitskontributionen“ erwähnt, die zwischen „den Höfen des Landes der Ströme und dem [Hofe] Pharao’s“ (IV, 10) gewechselt werden, und auch der Mann aus Jebsche weiß zu berichten, dass Ägypten einen Kupfertribut aus Zypern erhält sowie syrisches „Tributgeld[…]“ (IV, 77). Auch in Schekem ist die ägyptische Besatzungsmacht präsent und darum bemüht, alljährlich „einige Barren Goldes in Ringform“ (IV, 154) einzutreiben. Spätestens bei der Einreise nach Ägypten, an der Feste Zel, wird es ganz offenkundig, dass es sich beim Land der Ströme um eine Macht mit einer ausgedehnten Infrastruktur handelt. Die „gewaltige[…] und unausweichliche[…] Sperre nämlich, die der Alte ‚die Herrschermauer‘ nannte“ (IV, 709), grenzt das reiche Land nach außen hin „gegen Wüste, Räuberei und östliches Elend“ (IV, 710) ab – und schützt so den eigenen Wohlstand.41 Die Grenze überschreiten darf nur, wer den Nachweis erbringen kann, sich selbst versorgen zu können und so dem Staat nicht zur Last zu

41

Zu Ägyptens Politik der Distinktion vgl. Schöll, Joseph im Exil, S. 254 ff.

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

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fallen; dies gilt es schriftlich zu belegen,42 und wer kein Schriftstück vorlegen kann, dem wird der Zutritt verweigert. Entsprechend werden auch die Midianiter durch den Truppenvorsteher Hor-waz geprüft: Ich meine: habt ihr zu essen und könnt so oder so für euch aufkommen, daß ihr nicht dem Staate zur Last fallt oder zu stehlen gezwungen seid? Ist aber ersteres der Fall, wo ist dann euer Ausweis darüber und das schriftliche Unterpfand, daß ihr zu leben wißt? Habt ihr Briefe an einen Bürger der Länder? Dann her damit. Sonst aber gibt’s nichts als Umkehr. (IV, 716 f.)

Die Eintrittsformalitäten weisen Ägypten als ein Land aus, in dem die wichtigen Angelegenheiten schriftlich geregelt, ja, wie hier, sogar zelebriert werden. Die Personalien des Alten und seiner Gruppe werden von Horwaz „in delikater Vorwärtsneigung, gespitzten Mundes, fein blinzelnd, liebevoll, selbstgefällig und mit offenkundigem Genuß“ (IV, 718) in einem aufwendigen Schreibakt festgehalten, um dann ihren Weg in die ägyptische Bürokratie, „an die Ämter nach Theben“ (IV, 719), anzutreten. Das Land der Ströme präsentiert sich als „Land einer ausgeprägten Bürokratie“43 und der Schrift, und die Einreisemodalitäten lassen einen ersten Einblick in den ägyptischen Verwaltungsapparat zu. Es wird hier deutlich, dass dabei teilweise die Materialität des Zeichens und der Akt des Schreibens an sich wichtiger sind als der eigentliche Gehalt des Geschriebenen. Denn dass die Angaben über die Reisegruppe „sehr unvollständige“ sind, ist nicht entscheidend; die Hauptsache ist, dass sie „auf schönes Papier übertragen“ (IV, 719) und weitergeleitet werden können. Das Verfassen, Empfangen und Weiterleiten von Botschaften steht im Mittelpunkt, ihr Gehalt ist sekundär.44 Diesen Eindruck hat wohl auch der Alte Midianiter, wenn er resümiert:

42

43 44

Die Vorlage eines Schriftstückes erinnert natürlich, worauf auch Klaus Schröter hingewiesen hat (Schröter, Klaus: Vom Roman der Seele zum Staatsroman. Zu Thomas Manns „Joseph“-Tetralogie. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Thomas Mann. München 1976 (Text und Kritik, Sonderband), S. 70–87, hier S. 86) an das Affidavit, das für die Einreise in die USA, gerade für Emigranten, eine zentrale Rolle spielte. Zur Diskussion vgl. Schöll, Joseph im Exil, S. 255 f., die darauf hinweist, dass das Kapitel vor Thomas Manns Exilerfahrung entstanden ist. Stüssel, Kerstin: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart. Tübingen 2004 (Schriften zur deutschen Literatur 171), S. 78 f. Wie Stüssel festhält, wird hier „die ägyptische Bürokratie als sinn- und zweckloses Oberflächenphänomen beschrieben und auf eine ritualisierte, d.h. weniger auf die Vermittlung von Botschaften als auf die Materialität und Performanz des Schreibens bezogene Schriftkultur zurückgeführt.“ (Stüssel, In Vertretung, S. 79) Diese Beobachtung ist zwar zum Teil zutreffend, greift jedoch etwas zu kurz, wenn sie den Akt der Übermittlung, dem hier ja auch zentrale Bedeutung beigemessen wird, in den Hintergrund stellt.

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Nur darauf kommt es an, daß man Geschriebenes vorweisen kann und die Leute Ägyptens wieder etwas zu schreiben haben und können’s irgendwohin schicken, daß es geschrieben werde abermals und diene der Buchführung. Freilich, ohne Schriftliches kommst du nicht durch; kannst du aber eine Scherbe vorweisen oder eine Rolle und Urkunde, so hellen sie sich auf. Denn sie sagen wohl, Amun sei ihnen der Höchste oder Usir, der Sitz des Auges; aber ich kenne sie besser, im Grunde ist’s Tut, der Schreiber. (IV, 710)

Die Einreiseprozedur führt vor Augen, wie Jan Assmann es formuliert, „was eine Schriftkultur wie die altägyptische bedeutet, in der Schreiben, Kontrollieren und Beherrschen gleichbedeutend sind und so gut wie das gesamte Leben von Schrift kontrolliert wird.“45 Und in der Tat tritt die Schrift als das Kontrollinstrument schlechthin in Erscheinung. Die militärische Festung operiert im Zeichen der Schrift, der Truppenvorsteher versieht sein Amt schreibend.46 Dies ist nicht nur an der Feste Zel die übliche Vorgehensweise, auch die anderen staatlichen Angelegenheiten werden primär schriftlich geregelt. Das Steuersystem wird von „einnehmenden Staatsschreiber[n]“ (IV, 730) durchgesetzt, und die „Hafengebühren“, die es in Wêse zu entrichten gilt, werden von „Hafenwächtern und Zollschreibern“ erhoben, die Protokoll über alles und jeden, „über Mann und Maus und jederlei Stückgut“ (IV, 768) führen. Auch Potiphar setzt in der Handhabung seiner Wirtschaft, hierin durch seinen Meier vertreten, ganz auf das Medium der Schrift. Mont-kaw übt seine Verwaltertätigkeit im Prüfen von Rechnungen (vgl. V, 931) aus, und auch Joseph ist als „Lehrling des Überblicks“ (V, 931 f.) bei den Inspektionen mit „Schreibtafel und Binsen“ (V, 932) ausgerüstet. Denn, wie Joseph lernt, „im Worte und nicht in der Hand ist Herrschaft und Überblick.“ (IV, 902) Dass die Kontrolle großer und auch kleinerer Wirtschaften des Mediums der Schrift bedarf, weiß auch der midianitische Kaufmann, wenn er Joseph seine Warenbestände schriftlich inventarisieren lässt. Der bürokratische Verwaltungsapparat Ägyptens ist nach einer strengen Hierarchie aufgebaut, an deren Spitze der Herrscher, nämlich Pharao, steht. Darunter reihen sich die einzelnen Staatsbeamten nach ihrer jeweiligen Position ein. Die alten Gaufürsten dienen als „Beamten- und Schwertadel“, und auch Peteprês Frau ist „keine grundbesitzende Gauprinzessin mehr, sondern eines neuzeitlichen Angestellten Tochter“, gehört doch der meiste Grundbesitz zunehmend der Krone. Denn zu der Zeit von Josephs Aufstieg in Ägypten ist ein Prozess im Gange, der die Ländereien nach und nach in den Besitz von Pharao bringt, der diese wiederum verpachtet oder an „Tempel und Günstlinge“ (V, 1008) ver45 46

Assmann, Jan, Thomas Mann und Ägypten, S. 100. Vgl. Schöll, Joseph im Exil, S. 257.

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

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schenkt. Dadurch verleibt er sich nicht nur den Grund und Boden, sondern auch die Gefolgschaft der vormals autonomen Fürsten ein, denn: die alten Gaufürstengeschlechter wandelten sich in einen Beamten- und Schwertadel, der Pharao Gefolgschaft leistete und Vorsteherposten in seinem Heere oder seiner Verwaltung bekleidete. (V, 1008)

Nicht nur die Günstlinge Pharaos unterstehen der Krone, sondern auch die „Arbeitskraft der Kinder Kemes gehörte dem König“ (V, 1502). Die komplexe Wasserwirtschaft Ägyptens erfordert eine zentrale Verwaltung der Arbeitskräfte: Vor allem aber bedurfte man ihrer zur Versehung all des Hebe- und Grabewerks, das für das Gedeihen des grundsonderbaren Oasenlandes so unentbehrlich war, der Instandhaltung der Wasserstraßen, des Aushebens von Gräben und Kanälen, des Befestigens der Dämme, der Betreuung der Schleusen – lauter Dinge, deren Versorgung man, da das Gesamtwohl davon abhing, nicht der mangelhaften Einsicht und dem zufälligen Privatfleiß der Untertanen überlassen konnte. (V, 1502 f.)

Da sich die Aufrechterhaltung dieser ‚liquiden‘ Infrastruktur sehr kostenintensiv gestaltet, ist auch die Nutzung nicht kostenlos, sondern steuerpflichtig: Sie mußten Steuern entrichten für die Kanäle, Seen und Gräben, die sie benutzten, für die Bewässerungsmaschinen und Schläuche, die ihnen dienten, und selbst für die Sykomoren, die auf ihrem befruchteten Grunde wuchsen. (V, 1503)

Steuern sind in Ägypten also an der Tagesordnung, der Einzelne steht mit seiner Arbeitskraft als „Robot-Bäuerlein und amtlich befuchtelte[r] Wasserschöpfer“ (V, 1140) im Dienst des Staates und ist in das politische und wirtschaftliche System eingebunden. In dieser Hinsicht steht das „ägyptische Diensthaus“ (IV, 730, 740, 852), das Jaakob perhorresziert, der Autonomie und Eigenverantwortlichkeit der Hirtensphäre entgegen. Sein ererbter „Sinn für Unabhängigkeit und Selbstverantwortung“ fühlt sich durch „die staatliche Dienstbarkeit“ (IV, 413) Ägyptens beleidigt. 5.2.4 Das Land im Zeichen der Vermittlung Entsprechend seiner Abneigung gegen die staatlich organisierte Struktur Ägyptens steht Jaakob auch in Opposition zur deren bürokratischem Apparat; der Schriftkultur Ägyptens kontrastiert Jaakobs Hang zur Mündlichkeit, der schriftlichen Mitteilung wird das ‚Schöne Gespräch‘ entgegengehalten. Dieser Gegensatz von Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit ist ein Teilaspekt und repräsentativer Ausdruck der grundlegenden Opposition von Kanaan und Ägypten, die sich auf verschiedenen Ebenen offenbart

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

und sich auf den ‚Meta‘-Gegensatz von Unmittelbarkeit und Vermittlung bringen lässt. Die Hirtensphäre Jaakobs steht ganz im Zeichen der Unmittelbarkeit, während die ägyptische Hochkultur die Sphäre der Mittelbarkeit, der Vermittlung und Medialität ist. Dieser Gegensatz äußert sich in zahlreichen Oppositionen, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Zunächst lohnt ein genauerer Blick auf den Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Jaakob, der Hauptvertreter der Hirtensphäre, steht ganz im Zeichen der Oralität; er lehnt das „Schreibertum“ (IV, 414) Ägyptens ab und setzt auf eine mündliche Tradierung im Schönen Gespräch.47 Eine Vermittlung durch das Medium der Schrift widerspricht seiner unmittelbaren, natürlich-intuitiven Seinsweise. Als Mann „von Eingebung, Traumkühnheit, Gottesunmittelbarkeit“ kann er „eigentlicher Schreibwissenschaft leicht entraten“ (IV, 414). Wer in direktem, unmittelbarem Verhältnis zu seinem Gott steht, der benötigt auch im Bereich der Kommunikation kein vermittelndes schriftliches Zeichen.48 Während Jaakob alles Schrifttum verabscheut, wird die Sphäre der Mündlichkeit im Gegenzug von alphabetisierter Seite als undifferenziert und nicht der Unterscheidung fähig dargestellt. Der Gegensatz von Oralität und Literarität wird hier auf die jeweilige zeichentheoretische Abstraktionsleistung bezogen. Den Nicht-Alphabetisierten wird eine quasi VorSaussure’sche Referenzialität nachgesagt, die Annahme einer Eins-zu-einsEntsprechung von Wort und Wirklichkeit; denn, so Mai-Sachme, sie „nehmen alles wörtlich“ (V, 1311). Als Beispiel führt er hier die Neigung an, Redensarten beim Wort zu nehmen und sich somit der „Verwechslung von Redeweise und Wirklichkeit“ (V, 1312) schuldig zu machen.49 Der Gefängnisvorsteher führt das auf „Unbildung“ (V, 1311) zurück, wie er sie „oft gefunden bei Gummiessern des elenden Kusch und auch bei den Bäuerlein unserer Fluren, doch nicht sowohl in den Städten.“ (V, 1311 f.) 47 48

49

Zur narrativen Konstruktion der Identität des Jaakobsstammes vgl. ausführlich Schöll, Joseph im Exil, S. 230 ff. Die Unmittelbarkeit als Charakteristikum der Kommunikation mit Gott weist auf die Sprache des Heiligen Geistes im Pfingstwunder voraus, die sich, so Aleida Assmann, durch „Immaterialität, Unmittelbarkeit, Direktheit, Vollständigkeit“ (Assmann, Aleida: Schriftspekulation und Sprachutopien in Antike und früher Neuzeit. In: Goodman-Thau, Eveline / Mattenklott, Gert / Schulte, Christoph (Hg.): Kabbala und Romantik. Tübingen 1994 (Conditio Judaica 7), S. 23–41, hier S. 26) auszeichnet. Auch sie ist quasi Sprache ohne Zeichen. Dass in Ägypten, dem Reich der Vermittlung, nicht alles wörtlich zu nehmen ist, macht vor allem ein Blick auf das System der Ehrentitel deutlich. Denn die zahlreichen Titel, die Pharao seinen Höflingen verleiht, erweisen sich als substanzlose „Ehrenfiktion“, als „leere oder fast leere Gnadentitel“. So ist Potiphar zwar dem Titel nach „Vorsteher der Palasttruppen, Oberster der Scharfrichter und Befehlshaber der königlichen Gefängnisse“, in „Wirklichkeit“ aber, „befehligte ein rauher Soldat und Oberst-Hauptmann die Leibwache“ (IV, 843).

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

149

Dieses „Wörtlich-Nehmen der Rede“ steht dem „Geiste des Schreibtums“ entgegen – und entsprechend wehrt sich der Schreiber auch gegen MaiSachmes Vorwurf: „Als Zögling des Bücherhauses […] habe ich keineswegs teil an der Verwechslung von Redeweise und Wirklichkeit“ (V, 1312). Wer der Schrift mächtig ist, der weiß also auch um den vermittelnden Charakter der sprachlichen Zeichen. Für das Funktionieren der komplexen Stromökonomie ist, wie gezeigt wurde, die Schrift unerlässlich. Gerade zur Handhabung großer und kleinerer Wirtschaften ist sie als Medium unersetzlich. Als Mittel der Abstraktion und Repräsentation leistet sie dem Kaufmann gute Dienste, denn: Die Ware ist fettig und harzig; der Kaufmann macht seine Hände nicht mit ihr gemein, er handhabt sie in ihrer Geschriebenheit. Die Dinge sind dort, aber sie sind auch hier, geruchlos, reinlich und übersichtlich. (IV, 680)

Vermittelt über die Schrift kann der Kaufmann seine Ware organisieren und betrachten, ohne sich ihrer direkt anzunehmen; dem Geld vergleichbar hat Schrift hier die angenehme Eigenschaft des non olet. Auch Joseph wird, wie noch zu sehen sein wird, seine Tätigkeiten als Lehrling, als „Herr des Überblicks“ und schließlich als Ernährer ganz Ägyptens mittels der Schrift ausüben.50 Um die komplexen und zahlreichen Wirtschaftsvorgänge überblicken und kontrollieren zu können, ist deren schriftliche Handhabung unerlässlich. Dementsprechend „voll von Zahlen, Dingen und Werten [und] geschäftlichen Sachlichkeiten“ (V, 960) wird denn auch Josephs Kopf sein. Die Sphäre Ägyptens steht also im Zeichen der Schrift und damit ganz im Zeichen der Vermittlung. Der für das Schrifttum zuständige Gott Thot ist, wie Joseph seinem Vater am Brunnen wohlunterrichtet zu berichten weiß, auch ein „Mittler“, nämlich „ein leichter, beweglicher Gott, als welcher zwischen den Dingen zum Guten redet und fördert den Austausch.“ (IV, 108) Folgerichtig ist auch das Nachrichten- bzw. „Naphtaliwesen“ florierend und ausgeprägt: „[G]eschürzte Boten gingen in der Welt herum, Ziegelsteinbriefe in ihren Gewandfalten“, „Kommunikationsmöglichkeiten“ (V, 961) zwischen den entlegensten Stätten sind in Hülle und Fülle vorhanden. Wenn von Vermittlung und Austausch die Rede ist, so lässt sich dies nicht nur auf die Schrift als vermittelnde und übermittelnde Instanz, sondern auch auf den Waren- und Güteraustausch beziehen, der in Ägypten wie auch in den Städten, von denen sich Jaakob fernzuhalten sucht, boomt. Während in der Hirtensphäre das Wirtschaften primär in der 50

Vgl. Kapitel 5.4.2 dieser Arbeit.

150

5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Schafzucht und der Feldbestellung besteht, zeichnet sich die Sphäre des Stromes durch den vermittelnden Tausch aus. Kaufleute, die mit der unmittelbaren Produktion und Konsumtion der Waren nichts zu tun haben, treten als vermittelnde Zwischenhändler auf, die die Güter auf den globalen Märkten verkaufen. Es ist, wie der midiantische Kaufmann Joseph verkündet, „die Zeit des Verkehrs und der Wechselgeschenke, und wir Reisenden sind ihre Diener und Priester“ (IV, 713). Als „ziehende Kaufleute“ (IV, 688) reisen und handeln sie „hin und her“ (IV, 587), sorgen für Austausch und vermitteln zwischen entlegensten Regionen. Dass es gerade der Strom ist, an dem der Handel blüht, ist natürlich kein Zufall. Das fließende Gewässer ermöglicht und fördert, im Gegensatz zum stehenden Brunnen, Verkehr und Austausch und dient als Medium der Vermittlung. Der Strom verbindet verschiedene Punkte auf der Weltkarte und vernetzt Ägypten global. Sinnbildlich findet der Gegensatz von Unmittelbarkeit und Vermittlung seinen Ausdruck in der Opposition von Brunnen und Strom. Auch der nachrichtenaffine Naphtali weiß, dass die natürlichen Gewässer-Bedingungen enorme Auswirkung auf den Austausch, sowohl im ökonomischen wie auch im kommunikativen Sinne, haben, wenn er vom Meer schwärmt, das von seinen durch Jaakob konditionierten Brüdern natürlich gleich als „Unterweltsgebiet, voll von Chaosungeheuern“ verpönt wird. Denn schließlich kann man, wie sein Bruder Sebulun weiß, auf „der Welle und auf der gekrümmten Planke […] zu Leuten gelangen, die einen Schwanz haben und ein leuchtendes Horn auf der Stirn“, und erhält dadurch die Möglichkeit, „Nachrichten zu tauschen“ (IV, 502). Die Sphäre der Vermittlung als die der Wasser-, Schrift- und Handelsströme führt unmittelbar zu der Größe, die im Mittelpunkt der Untersuchung steht, zum Geld. Denn die Eigenschaften von Schrift und Wasserströmen als Vermittlungsinstanzen lassen sich eins zu eins auf das Geld und seine Vermittlungsleistungen übertragen. Thomas Mann selbst hat sich dazu im Wintersemester 1894/95 in sein Collegheft notiert: „Das Geld verbindet die wirtsch. Thätigkeiten der Menschen wie die Sprache ihre Gedanken verbindet.“51 Und bereits in der ersten Haushofer’schen Vorlesung hat er die „große Vermittlerrolle des Geldes“52 festgehalten. Die Gleichsetzung der Übertragungsleistung von Meer53 und Geld findet sich auch in Georg Simmels Philosophie des Geldes, wo es heißt: 51 52 53

Mann, Collegheft, S. 127. Mann, Collegheft, S. 37. Für Hegel ist das Meer das „nach außen belebende natürliche Element“ der industriellen bürgerlichen Gesellschaft. Als das „größte Medium der Verbindung“ setzt es „entfernte Länder in die Beziehung des Verkehrs“, ebenso wie die Flüsse keine „natürlichen Grenzen

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

151

Das Meer ist eine Vermittlung wie das Geld, es ist das ins Geographische gewandte Tauschmittel, gleichsam in sich völlig farblos und deshalb wie Geld dem Ineinanderübergehen des Verschiedenartigsten dienstbar. Seeverkehr und Geldverkehr stehen in enger historischer Verbindung.54

Wie das Meer oder der Strom, so vernetzt auch das Geld „Individuen, Gruppen, Kulturen, Regionen, Religionen, Zeitordnungen und Wirtschaftsformen.“55 Es ist, wie Adalbert Stifter es ausdrückt, „Dinge und Völker mischend in steigendem Verkehr, der feinste Nervengeist der Volksverbindungen“56. Als indifferentes Medium vermittelt Geld zwischen Verschiedenartigem und stiftet Äquivalenzbeziehungen; es macht verrechenbar, was eigentlich nicht verrechenbar ist. In diesem Sinne ist es für Simmel das „absolute Mittel“57: Im Geld aber hat das Mittel seine reinste Wirklichkeit erhalten, es ist dasjenige konkrete Mittel, das sich mit dem abstrakten Begriffe desselben ohne Abzug deckt: es ist das Mittel schlechthin.58

Als das „völlig indifferente Werkzeug der ökonomischen Bewegung“59 stiftet Geld Beziehungen und vermittelt zwischen Ungleichem und Ungleichen. Alle Dinge sind durch das Geld, so Simmel, „miteinander verbunden“ und schwimmen „alle mit gleicher spezifischer Schwere in dem fortwährend bewegten Geldstrom.“60 Nach Simmel beruht die Vermittlungsleistung des Geldes auf seiner Charakterlosigkeit und Indifferenz, auf

54 55 56 57 58 59 60

sind“, sondern „die Menschen verbinden“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts mit eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1955 (Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Sämtliche Werke. Neue kritische Ausgabe XII), § 247, S. 202). Interessanterweise stellt Hegel dabei die progressiven, seefahrenden Nationen ausgerecht den ‚verdumpften‘ Ägyptern gegenüber: „Welches Bildungsmittel aber in dem Zusammenhange mit dem Meere liegt, dafür vergleiche man das Verhältnis der Nationen, in welchen der Kunstfleiß aufgeblüht ist, zum Meere mit denen, die sich die Schiffahrt untersagt [haben], und wie die Ägypter, die Inder, in sich verdumpft und in den fürchterlichsten und schmählichsten Aberglauben versunken sind; – und wie alle großen, in sich strebenden Nationen sich zum Meere drängen.“ (Ebd., S. 203) Vgl. dazu auch: Sprengel, Peter: Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914–1944. Berlin 1996, S. 52 f. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 536. Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 111, im Kapitel „‚Aus der Ferne quälen‘. Der Beziehungswahn des Geldes“. Stifter, Adalbert: Aussicht und Betrachtung von der Spitze des St. Stephansthurmes (Als Einleitung). In: Ders.: Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben. Hg. v. Johann Lachinger. Stuttgart 2005 (Werke und Briefe 9.1), S. VI–XXI, hier S. XII. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 264. Ebd., S. 265. Ebd., S. 272. Ebd., S. 537.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

dem, was Sybille Krämer „Entsubstanzialisierung“61 nennt. Denn als „Medium einer Homogenisierung des Heterogenen“ funktioniert Geld deshalb so fantastisch, weil es selbst „bar aller Inhaltlichkeit, entleert von aller Substanz“62 ist. Wie vorteilhaft Geld als vermittelndes Medium ist und wie mühsam sein stofflicher Mangel sein kann, verdeutlichen die klassischen TauschSzenen von Josephs Kauf und Verkauf durch die reisenden Händler. In beiden Verhandlungen wird zunächst der (Geld-)preis für Joseph festgesetzt, der sich jedoch schnell als fiktiver, rein rechnerischer Wert entpuppt. Denn in Ermangelung einer gültigen Währung muss der vereinbarte Preis in Waren realisiert werden. Joseph wird zwar rechnerisch für „zwanzig Silberlinge“ (IV, 612) von den Brüdern verkauft, tatsächlich wird er aber „für wenig Silber und viele Messer, Balsambrocken, Lampen und Stöcke“ (IV, 614) übergeben. Die „Verwirklichung des gedachten Wertes in Waren“ (IV, 613) verdeutlicht die Homogenisierungsleistung des Geldes und legt die enorme Vermittlungsleistung bloß, die unter dem Deckmantel des Geldes erfolgt. Denn wer sieht schon gerne „Wert und Schätzbarkeit seiner selbst so außen in Tiergestalt sich gegenüber“ und weiß, dass der eigene Tauschwert in alltäglichen Gütern – „ein Panzer aus Rindshaut, mehrere Ballen Schreibpapiers und gemeinen Leinens, ein paar Weinschläuche aus Pantherfell, ein Posten Natron zum Einsalzen von Leichen, ein Gebinde Angelhaken und einige Handbesen“ (IV, 813) – aufrechenbar ist. 5.2.5 Amun vs. Atôn: Religion und Wirtschaft Ägypten als das Land der Geldströme steht also ganz im Zeichen von Handel, Austausch und Vermittlung. Florierende und dynamische Waren-, Nachrichten- und Menschenströme prägen das Bild vom Leben am Nil und verknüpfen das Stromland mit der übrigen Welt. Doch nicht ganz Ägypten ist dieser globalen Öffnung zugetan; vielmehr ist die Tagespolitik des Landes von einem Konflikt zwischen zwei Parteien geprägt, deren Geister sich genau an diesem Punkt scheiden. Es handelt sich um den Machtkampf zwischen den liberalen Anhängern Pharaos und einer konservativen klerikalen Elite, der sich religiös in der Konkurrenz zwischen den Göttern Atum / Atôn und Amun äußert.63 Als Joseph seine Karriere 61 62 63

Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main 2008, S. 174. Zur Übertragungsleistung von Geld vgl. das Kapitel „Geld: die Übertragung von Eigentum durch Entsubstanzialisierung“ (ebd., S. 159–175). Ebd., S. 174. Vgl. dazu Schöll, Joseph im Exil, S. 261 ff.

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

153

in Ägypten beginnt, ist die Auseinandersetzung in vollem Gange. Die konservativen Anhänger des Amun sind bereits zu einer den Hof bedrohenden Macht angewachsen und haben „überall im Lande ihre Stellungen“ (IV, 831). Pharao ist über die „anmaßende Stärke“ (IV, 835) der „Tempelmacht Amuns“ (V, 941) verärgert und versucht diese, auch ökonomisch bedeutende Macht zurückzudrängen. Der Konflikt, der primär als religiöser ausgetragen wird, ist, wie auch der Erzähler betont, vor allem ein politischer Kampf, denn: Es heißt die Einheit der Welt verkennen, wenn man Religion und Politik für grundverschiedene Dinge hält, die nichts miteinander zu schaffen hätten noch haben dürften […]. (V, 1377)

Mit den untereinander verfeindeten Anhängern der beiden Götter stehen sich zwei grundverschiedene politisch-weltanschauliche Konzepte gegenüber, deren jeweilige Vorstellungen in ihrer Konsequenz für die Stromwirtschaft Ägyptens unterschiedlicher nicht sein könnten. In Opposition stehen zwei Gruppen, die man plakativ als Stromanhänger und -gegner bezeichnen kann. Während sich die Parteigänger Pharaos durch eine liberale, globale und dynamische – also, wie zu zeigen ist, stromaffine – Haltung auszeichnen, können die Gefolgsleute Amuns als konservative, nationale und engstirnige Blockierer gekennzeichnet werden. Ihnen ist eine reaktionäre und konservative Haltung eigen, alles Neue und Fortschrittliche ist ihnen verhasst und ihr Fokus richtet sich deutlich in die Vergangenheit, nicht in die Zukunft. Abgelehnt wird „die Mißachtung urfrommer Volksordnung“ (V, 1041), man verharrt „beim heilig Angestammten“ und ist „unbeugsam bewahrend“ (V, 942). Der favorisierte Gott Amun ist ein erhaltender Gott, und Beknechons, seinem ersten Propheten und quasi der Verkörperung des Amun-Kultes, ist die „Verneinung und Verurteilung des gesamten Lebensfortganges seit Jahrhunderten oder auch Jahrtausenden“ (V, 947) förmlich ins Gesicht geschrieben. Er steht für das „heilige Beharren“ (V, 1497) und dementsprechend unbeweglich ist auch die Haltung seiner „starre[n] Person“ (IV, 831). Der Mangel an Dynamik und Bewegung ist charakteristisch für den Kult um Amun, den „Unbeweglichen, Erzstirnigen“ (V, 1043). Potiphar, ein Anhänger des gegnerischen Atums, bringt das auf den Punkt, wenn er das Vokabular Beknechons’ als „störrige[…] Wörterliste“ (V, 1042) verurteilt. Die Rückwärtsgewandtheit und die Bewegungslosigkeit der Amunfraktion werden ergänzt von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Mit deutlichem Fokus auf das eigene Volk – wiederholt ist die Rede von „Völkerbrauch“ (V, 942), „volksfromm“ (V, 956), „Volksordnung“ (V, 1041) und „Volksmark“ (V, 1042) – wird alles Nicht-Ägyptische und also Ausländische abgelehnt. Mit

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Ebräern gemeinsam das Brot zu essen, ist den Anhängern des Amun ein Gräuel, wie Dudû, der „Parteigänger des Guten-Alten“ (IV, 836), nicht müde wird zu betonen; und auch Beknechons’ „Widerwille gegen das Ausland ist unverbrüchlich“ (V, 1041). Das Fremde, das die Gefahr der „Lockerung“ (V, 1041) birgt, wird abgelehnt, der eigene Horizont ist sehr beschränkt, er ist „[e]ng, streng und volksfromm zusammengezogen“ (V, 1497).64 Alles in allem lässt sich Amuns Position also wie folgt bestimmen: Er war starr und streng, ein verbietender Feind jeder ins Allgemeine ausschauenden Spekulation, unhold dem Ausland und unbeweglich beim nicht zu erörternden Völkerbrauch, beim heilig Angestammten verharrend […]. (V, 942)

Damit steht dieser in direktem Gegensatz zu Atum-Rê bzw. Atôn.65 Als „Herr[…] des weiten Horizontes“ (IV, 737) verkörpert Atum-Rê eine Haltung, die „weltweit und weltfreundlich“ (IV, 736), „beweglich und weltfroh“ (V, 942) ist. Wo Amun eng und national denkt, denkt Atum weit und global. Häufen sich bei Ersterem die Volk-Komposita, so bei Letzterem die der Welt, denn er ist nicht nur weltweit, weltfreundlich und weltfroh, sondern auch noch „weltgewohnt-weltlustig“ (V, 961), „weltfreundlich-allgemein“ (V, 942) und setzt sich gerne „in ein weltläufiges Einvernehmen“ (V, 941) mit anderen Göttern. Diesem globalen Sinn entspricht auch die Fremdenfreundlichkeit seiner Anhänger, die sich bei Potiphar darin ausdrückt, dass es sich bei einem Großteil seines Besitzes um Importgüter, um „eingeführte Fremderzeugnisse“ (IV, 833), handelt. Auch 64

65

Dass die Anhänger des Amun-Kults reaktionär-faschistische Züge aufweisen, ist unverkennbar (vgl. Borchmeyer, Dieter: Heiterkeit contra Faschismus. Eine Betrachtung über Thomas Manns Josephsromane. In: Kiedaisch, Petra / Bär, Jochen A. (Hg.): Heiterkeit. Konzepte in Literatur und Geistesgeschichte. München 1997, S. 203–218, hier S. 216). Wie Manfred Dierks diagnostiziert, trägt Beknechons „Züge der völkisch und lebensphilosophisch bestimmten Reaktion gegen die Weimarer Demokratie, die dann in den Faschismus mündete: Er ist Nationalist und fremdenfeindlich, kulturkonservativ und im Grunde seines Sinnes einer barbarischen Urzeit zugewandt.“ (Dierks, Kultursymbolik, S. 124) Auch Raymond Cunningham sieht Parallelen der ägyptischen Gesellschaft des Romans zum Deutschland der Jahre 1918–33 (Cunningham, Raymond: Myth and politics in Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Stuttgart 1985 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 161), S. 212) und setzt den Amun-Kult mit „Nazism“ (ebd., S. 216) gleich. Dabei sieht er die Parallele zwischen beiden Bewegungen gerade in der „youthful energy“ (ebd., S. 217), die man jedoch, wie Julia Schöll schon bemängelt (vgl. Schöll, Joseph im Exil, S. 262), den konservativ-starren Amun-Anhängern nicht gerade attestieren kann. In dem Versuch, die eigene Macht zu stärken, haben die Anhänger Amuns ihren Gott, „auf gewalttätige Weise“ (V, 941) wie zu erfahren ist, mit Atum-Rê gleichgesetzt, indem sie ihrerseits das ‚Rê‘ für sich in Anspruch genommen haben, so dass Amun in der Folge mit vollem Namen Amun-Rê heißt (vgl. auch IV, 736). Um der namentlich verwischten Unterscheidung der beiden Parteien Kraft zu verleihen, nennt sich Atum-Rê dann Atôn, den Echnaton in der Folge zu seinem Staatsgott Nummer Eins erklärt.

5.2 Ägypten: Das Land der Ströme

155

Echnaton setzt mit seinem Lebensstil ein Zeichen gegen Amuns Gesinnung; die Malereien der kretischen Laube zeigen „[f]remde Leute und Sitten“ (V, 1411), und sein global gefärbtes Vokabular – „Lunch“ (V, 1409) und „Merci“ (V, 1410) – zeugt von seinem „Fremdgeschmack“ (V, 1411). Der xenophoben und nationalen Gesinnung wird also eine fremdenfreundliche und globale Haltung entgegengesetzt, dem konservativ-beharrenden Geist ein progressiver und beweglicher, der „Geist der Lockerung“ (V, 955). Beweglichkeit scheint der Leitterminus der Weltanschauung Atum-Rês zu sein, der für „bewegliche[…] Spekulation“ (V, 941) steht und wiederholt als beweglich (vgl. V, 941 f.) charakterisiert wird. Fasst man die Konzepte der beiden verfeindeten Parteien zusammen, so wird deutlich, dass die als beweglich, locker und weit gekennzeichnete Haltung Atum-Rês, im Gegensatz zum beharrenden, starren und engen Geist Amuns, die Haltung ist, die in das Metaphernfeld der dynamischen, vermittelnden und Beziehungen herstellenden Ströme passt. Und in der Tat verdankt das Land der Ströme seinen wirtschaftlichen Wohlstand gerade der Ausdehnung und Weltoffenheit, dem globalen Handel und Austausch – Größen also, die ganz dem Geiste Atum-Rês entsprechen, denn: Als Ägyptenland fromm und volkszüchtig war in seinen Bräuchen, da war es klein und arm, und weder gen Mittag über die Stromschnellen ins Negerland noch gegen Morgen bis vor den Verkehrtfließenden waren seine Grenzsteine so weit gesetzt unter zinsende Völker. Aus der Armut aber ist Reichtum geworden und aus der Enge das Reich. Nun wimmeln die Länder und Wêse, die Große, von Fremden, die Schätze strömen, und alles ist neu worden. (V, 957)

Die hier aktualisierten semantischen Oppositionen – fromm, volkszüchtig, klein, eng, arm auf der einen Seite, weit, ausgedehnt, fremd, strömend, wimmelnd, reich auf der anderen – lassen deutlich erkennen, welcher Haltung der ökonomische Wohlstand Ägyptens zu verdanken ist. Die Öffnung und Abkehr von volkszüchtigen Bräuchen hat den Reichtum nach Ägypten gebracht; die geografische Ausdehnung hat neue Zinsquellen erschlossen und den heimischen Markt global ausgedehnt. Ohne Erweiterung und Lockerung des völkischen Fokus ist also auch kein Reichtum zu haben, so die Botschaft; vielmehr stehen Lockerung und Reichtum, sehr zu Beknechons’ Bedauern, quasi in einem dialektischen Verhältnis, das eine ist ohne das andere nicht zu haben: der Lohn, nämlich das Reich und der Reichtum, […] trägt in sich die Lockerung sowie die Entnervung und den Verlust. (V, 957)66

66

Beknechons schöpft hier unverkennbar aus dem Repertoire faschistischer, völkischer Ideologie, und ist mit seinem Vokabular der ‚Entnervung‘ klar in deren Diskurs zu verorten.

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Was für den einen als Sittenverfall und als Gefahr und Bedrohung für den imaginierten ‚Volkskörper‘ erscheint, ist für den anderen ein Segen. Ohne die globale Öffnung und die fremdenfreundliche und weltoffene Haltung seiner Gönner hätte Josephs Karriere in Ägypten ihren Anfang und ihr Ende wohl in der Feldfron gefunden. Die Lockerung ist, wie in der Forschung bereits mehrfach hervorgehoben wurde,67 die Grundlage für Josephs Vorankommen in dem fremden Land. Die, wie der Erzähler sie nennt, „atmosphärisch alles durchdringenden Verhältnisse“ (IV, 829) sind Joseph wohlgesonnen. Die Hinwendung zu Atôn – für Amun „ein Stirnschlag“ (V, 1377) sondergleichen – ist für Joseph die Chance seines Lebens. Wie sich Josephs Karriere im Land der Ströme gestaltet, soll daher nun im Folgenden näher beleuchtet werden.

5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme 5.3.1 Joseph und das Kapital Nicht nur die gesellschaftlichen Umstände und das politische Klima sind Joseph gewogen; dass er es in Ägypten bis an die Spitze des Staates schafft, zum höchsten Beamten des Landes aufsteigt und eine spektakuläre Karriere macht, hat er auch sich selbst, seinem Geschick und seinen Talenten zu verdanken. Dabei tragen nicht allein seine günstige Veranlagung und seine Schönheit zu seinem in hohem Maße auch ökonomischen Aufstieg bei, vielmehr muss sein Erfolg auch als das Ergebnis einer Kulturkapitalinvestition im Bourdieu’schen Sinne gesehen werden.68 Von früher Kindheit an wird Joseph auf Veranlassung seines Vaters mit kulturellem Kapital ausgestattet, das er später gewinnbringend einsetzen und letztlich (man denke an die Überschüttung) in ökonomisches Kapital verwandeln kann. Das kulturelle Kapital erhält er vor allem in Form von Bildung, also, um Bourdieus Vokabular zu verwenden, in „inkorporiertem Zustand“69. Indem Joseph sich im Unterricht mit Eliezer Kenntnisse aneignet, wird dieses Wissen, sein kulturelles Kapital, an seine Person ge67

68 69

Vgl. beispielsweise Schöll, Joseph im Exil, S. 262; Cunningham, Myth and politics, S. 101; Hamburger, Käte: Der Humor bei Thomas Mann. Zum Joseph-Roman. München 1965, S. 122 sowie Scharfschwerdt, Jürgen: Thomas Mann und der deutsche Bildungsroman. Eine Untersuchung zu den Problemen einer literarischen Tradition. Stuttgart u.a. 1967 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 5), S. 193. Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983 (Soziale Welt, Sonderband 2), S. 183–198. Ebd., S. 185.

5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme

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bunden, es wird zur „dauerhaften Disposition[…] des Organismus“70, zu Josephs persönlichem Besitztum, zu einem „festen Bestandteil der ‚Person‘, zum Habitus“71. Der Aneignungsprozess erfordert dabei vor allem (Lern-)Zeit, die der Schüler persönlich investieren muss. Was das Gut der Bildung so kostbar macht, ist die Zeit, die dafür aufgebracht wird – eine Zeit, die man sich ökonomisch leisten können muss, denn es ist, so Bourdieu, eine Tatsache, daß ein Individuum die Zeit für die Akkumulation von kulturellem Kapital nur so lange ausdehnen kann, wie ihm seine Familie freie, von ökonomischen Zwängen befreite Zeit garantieren kann.72

In diesem Punkt zahlt sich die Bevorzugung Josephs durch Jaakob wohl am meisten aus, gewährt sein Vater ihm doch die Zeit, sich von Eliezer unterrichten zu lassen, während seine Brüder auf dem Feld arbeiten: Die Arbeit nun aber, die Joseph mit den Brüdern auf Feld und Weide leistete, tat er nicht alle Tage, – man darf sie nicht allzu ernst nehmen. Nicht jederzeit war er ein Hirte des Viehs oder öffnete den Acker zur Wintersaat, wenn er weich war vom Regen, sondern nur dann und wann tat er das, zwischendurch, wenn es ihm einfiel, nach seinem Belieben. Jaakob, der Vater, gönnte ihm viel freie Zeit zu höheren Beschäftigungen, die gleich zu kennzeichnen sein werden. (IV, 398)

Das Bildungskapital, das seinen Brüdern vorenthalten wird, hebt Joseph von diesen ab und setzt ihn in „Gegensatz zu allen seinen Geschwistern“ (IV, 26). Er erfährt „Geheimnisse […], die auf Erden nur eine kleine Anzahl verschwiegener Erzgescheiter in Tempeln und Bauhütten wußte, nicht aber der große Haufe.“ (IV, 405) Die Bildung als knappes und rares Gut hebt Joseph aus der Menge heraus und steigert seinen Wert; sie differenziert und sorgt dafür, „dass nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist“73, denn: Wer über eine bestimmte Kulturkompetenz verfügt, z.B. über die Fähigkeit des Lesens in einer Welt von Analphabeten, gewinnt aufgrund seiner Position in der Verteilungsstruktur des kulturellen Kapitals einen Seltenheitswert, aus dem sich Extraprofite ziehen lassen.74

Das skizzierte Szenario verdeutlicht Josephs Position, denn der Hauptunterschied zwischen dem Rahelspross und seinen Brüdern, aber auch seinem Vater, besteht darin, dass er schreiben und lesen kann – und daraus zieht er, wie zu zeigen ist, ökonomischen Profit. 70 71 72 73 74

Ebd. Ebd., S. 187. Ebd., S. 188. Ebd., S. 183. Ebd., S. 187.

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Josephs Bildung durch seinen Lehrer, den „lese- und schreibkundig[en]“ (IV, 400) Eliezer, legt die Grundlage für seine spätere Laufbahn in Ägypten und bereitet ihn auf seine Verwaltertätigkeiten optimal vor.75 Sowohl im Lesen und Schreiben – „selbstverständlich die Grundlage von allem“ (IV, 407) – als auch im Rechnen erfolgt die Unterweisung stets auch unter kaufmännischen Aspekten, wie die beiden folgenden Beispiele verdeutlichen: […] und Joseph lernte die Werte und Zahlungsschweren in Gold, Silber und Kupfer nach der gewöhnlichen und der königlichen, der babylonischen und der phönizischen Norm. Er übte sich in kaufmännischen Berechnungen, verwandelte Kupfer- in Silberwerte, tauschte einen Ochsen gegen die Mengen von Öl, Wein und Weizen ein, die seinem Metallwert entsprachen […]. (IV, 406) Abwechselnd schrieb er die Landes- und Menschenschrift, die zur Befestigung seiner täglichen Redeweise und Mundart taugte und in der sich Handelsbriefe und -aufstellungen nach phönizischem Muster am säuberlichsten zu Blatt bringen ließen, – und auch wieder die Gottesschrift, die amtlich-heilige von Babel, die Schrift des Gesetzes, der Lehre und der Mären, für die es den Ton gab und den Griffel. Eliezer besaß zahlreiche und schöne Muster davon, Schriftstücke, die die Sterne betrafen, Hymnen an Mond und Sonne, Zeittafeln, Wetterchroniken, Steuerlisten […]. (IV, 407 f.)

Joseph wird auf den globalen Handel und Austausch vorbereitet, der Fokus des Unterrichts ist international. Er beherrscht mehrere Sprachen und kann „sowohl in babylonischer wie in phönizischer und chetitischer Schriftart“ (IV, 26) schreiben. Darüber hinaus erfährt er das Nötigste „vom menschlichen Körper“ (IV, 406), erhält Einblick in kosmische Zusammenhänge, in die „Wissenschaft der Sterne“ (IV, 108), ins „Weltall“ (IV, 401), die Sternzeichen und Planeten und wird in Geographie – er lernt „die Völker des Erdkreises“ (IV, 406) – geschult. Auch hier wird kaufmännisches Wissen eingeflochten, denn die Entdeckung ferner Länder erfolgte, so der Lernstoff, primär in dem „Drang, Außensitzende zu besuchen und ihnen ihre Purpurstoffe und künstlichen Stickereien aufzuschwatzen.“ (IV, 407) Zudem erwirbt Joseph einen Grundstock an mythischem und religiösem Wissen, das sich im Laufe seiner Karriere wiederholt als sehr nützlich erweist. Dass ihn seine Ausbildung auf eine verwalterische Tätigkeit vorbereitet, ist auch seinem Lehrer bewusst, wenn er Joseph als hohen Beamten im Staatsdienst, als „Mazkir […] eines Fürsten und eines großen Königs

75

Vgl. dazu auch Pütz, Peter: Joseph and His Brothers. In: Lehnert, Herbert / Wessel, Eva (Hg.): A companion to the works of Thomas Mann. Rochester, NY 2004, S. 159–179, hier S. 167 f.

5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme

159

Erinnerer“ (IV, 409), visioniert.76 Der Unterricht durch Eliezer ist klar auf eine Karriere in einem Staats- und Verwaltungsapparat zugeschnitten und stellt Joseph damit außerhalb der väterlichen Hirtensphäre. Auf seinem Weg an die Spitze von Pharaos Staat ist es zu einem Großteil Josephs kulturelles Kapital, das sein Vorankommen ermöglicht und sichert. Klug und geschickt verfügt er über sein Wissen und setzt es, wo nötig, gewinnbringend ein. Einen ersten Einblick in sein Kapitalaktivierungsgeschick erhält man auf Josephs Reise zu den Brüdern, wenn er unterwegs mit seinen „Sprachkenntnisse glänzen“ kann, „die er mit Hilfe Eliezers erworben“ (IV, 533) hat. Primär sind es seine Sprach- und Schriftkenntnisse, die ihn schon von den Brüdern abgehoben haben, die seinen Weg ebnen. Sich des Wertes seiner Bildung voll bewusst, aktiviert Joseph, kaum befreit aus dem Brunnen, seine letzte Kraftreserve, um seine Retter auf diese aufmerksam zu machen: „Ich kann Steine lesen und Keile schreiben“, sagte Joseph, indem er sich etwas aufrichtete. Danach fiel er wieder beiseite. (IV, 593)

Entsprechend wird er daraufhin auch vom Kaufmann als „schätzbarer Fund“ (IV, 594) gewertet. Wichtigstes Moment zur Demonstration seiner Fähigkeiten sind die Gesprächssituationen, in denen Joseph wiederholt besteht und glänzt. In einer Reihe von Unterhaltungen,77 die in ihrer Funktion Vorstellungsgesprächen gleichen, gelingt es ihm mit seinem Redetalent, sein Können unter Beweis zu stellen und sich dadurch jedes Mal eine höhere Position zu sichern. So verschaffen ihm sein Hinweis „Ich kann Menschenschrift schreiben und Gottesschrift, mit Griffel oder Rohr, je nach Belieben.“ (IV, 673) sowie seine Antwort auf eine mathematische Frage den Posten des Schreibers im Stab des midianitischen Kaufmanns. In dieser Funktion 76

77

Die Amtsbezeichnung des Mazkir ist im Alten Testament zu finden und bezeichnet einen der höchsten Beamten im davidisch-salomonischen Großreich und im Königreich Juda, der im Gebiet der Verwaltung und Regierung tätig ist. Wie Begrich ausführt, wurde das Amt nach ägyptischem Vorbild geschaffen (vgl. Begrich, Joachim: Sofer und Mazkir. Ein Beitrag zur inneren Geschichte des davidisch-salomonischen Großreiches und des Königreiches Juda. In: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 17 (1940 / 1941), S. 1–29). Insgesamt herrscht in der Forschung jedoch keine Einigkeit über das genaue Tätigkeitsfeld des Mazkir. Zur Diskussion vgl. Boecker, Hans Jochen: Erwägungen zum Amt des Mazkir. In: Theologische Zeitschrift 17 (1961), Heft 1, S. 212–216 und den Eintrag zum Stichwort „Kanzler (hebr. mazkir)“ von Henning Graf Reventlow in: Reicke, Bo / Rost, Leonhard (Hg.): Biblisch-historisches Handwörterbuch: Landeskunde, Geschichte, Religion, Kultur, Literatur. Göttingen 1962–1979 (Digitale Bibliothek 96). Zur Parallelität der wichtigen Gesprächssituationen vgl. das Kapitel „Die Gesprächsstruktur“ bei Mieth, Epik und Ethik, S. 82–89.

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ist er dann beim Verkaufsgespräch vor Potiphars Haus anwesend und kann erneut auf sich aufmerksam machen. Mit einer Qualitäts- und Rückgabegarantie – „Sagt er aber nur zweimal dasselbe, so magst du ihn mir zurückgeben gegen Erstattung der Kaufsumme“ (IV, 799) – wird er an Potiphars Haushalt verkauft. Auch hier sichert ihm sein Bildungskapital das Vorankommen, denn sowohl Mont-kaw als auch den Hausherrn kann er mit seinen Gesprächskünsten in Bann schlagen. Mit dem „Prüfungsgespräch[…] im Palmengarten“ (V, 921), in dem er natürlich nicht versäumt herauszustreichen, dass er lesen und schreiben kann (vgl. IV, 887), beginnt Josephs Karriere als Verwalter eines vornehmen und reichen Hauses. Nach dem erneuten Sturz in die Grube unterlässt Joseph es nicht, Mai-Sachme, den Gefängnisvorsteher, auf seine Manager-Qualitäten aufmerksam zu machen und flicht geschickt bei erster Gelegenheit einen Hinweis auf seine Fähigkeiten ins Gespräch ein; auf die Frage, ob er die Geschichte von den zwei Brüdern kenne, antwortet er: Ich kenne sie wohl, mein Hauptmann. […] Nicht nur, daß ich sie meinem Herrn, Pharao’s Freunde, öfters vorlesen mußte – ich hatte sie auch für ihn abzuschreiben in Schönschrift, mit schwarzer und roter Tinte. (V, 1313)

Wo ein einfaches Ja dem Vorsteher vielleicht auch genügt hätte, lässt Joseph es sich nicht nehmen, auf seine exzellenten, an hoher Stelle erprobten Schreib- und Lesefähigkeiten hinzuweisen. Er stellt auch in dieser Unterhaltung sein „ökonomische[s] Denken“ unter Beweis und wird entsprechend seiner „Gaben und nach seinen Erfahrungen“ (V, 1321) in der Gefängnisverwaltung eingesetzt. Diese Gesprächssituationen kulminieren dann in dem alles entscheidenden Gespräch Josephs mit dem jungen Pharao, in dem sich die Bildungsinvestitionen Jaakobs voll auszahlen. Auch hier ist es von Bedeutung, dass Pharao erkennt, „daß du dich auf die Künste des Thot verstehst und ein Schreiber bist.“ (V, 1424) Joseph hat es aber nicht nur seinen Schulkenntnissen und seinem Verhandlungsgeschick zu verdanken, dass er den hohen Posten des Ernährers erhält, sondern auch den Erfahrungen, die er über die Jahre in Ägypten gesammelt hat. Zum einen ist er durch seine Ausbildung in Potiphars Haushalt für die große Verwaltungsaufgabe optimal vorbereitet, zum anderen qualifizieren ihn seine Einblicke in die tagespolitischen Verhältnisse des Stromlandes. Dank seines Wissens kann er das nötige Programm der Vorsorge-Politik einschließlich aller machtstrategischen Implikationen entwerfen. Joseph profitiert auf seinem Weg nach oben also nicht nur von dem in der Kindheit erworbenen Kapital, sondern füllt sein Bildungskonto auch stetig mit neuen Informationen auf, die Zinsen abzuwerfen versprechen. Mit dem Eintritt in das Strom-

5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme

161

reich beginnt er, sich mit den Umständen des Landes vertraut zu machen und sammelt nützliche Informationen. Joseph erweist sich somit nicht nur als geschickter Kapitalverwerter, sondern auch als fleißiger Kapitalsammler. Auf dem Weg nach Theben lauscht er aufmerksam den Ausführungen des alten Kaufmanns78 und nimmt alles, was sich ihm an neuen Eindrücken bietet, gierig auf. Er beobachtet Land und Leute aufs Genaueste und macht sich mit der ägyptischen „Lebensluft“ (IV, 732) vertraut. Mit allen Sinnen ist er bei der Sache und versucht, „von den inneren Geheimnissen und Vertraulichkeiten dieser Welt“ (IV, 775) möglichst viel in Erfahrung zu bringen. Er muss sich, wie er seine Neugierde gegenüber dem Kaufmann rechtfertigt, „nach allem wohl erkundigen, damit er sich in das Leben Ägyptens finde“ (IV, 759). So macht er sich auch, sobald er in Potiphars Haushalt übergegangen ist, an das Sammeln von Informationen und ist bemüht, „sich im Geiste zum Herrn der Umstände zu machen“ (IV, 812); er nimmt von schwebenden Meinungsverschiedenheiten, Strömungen und Gegenströmungen Notiz, mit denen er […] erst in dem Grade besser vertraut wurde, als er in das Leben des Landes hineinwuchs. (IV, 835)

Gleich zu Beginn seiner Laufbahn bei Potiphar, als von einer solchen eigentlich noch nicht die Rede sein kann, da er noch keine wirkliche Beschäftigung versieht, ist er eifrig mit einer Interpretation der sich ihm bietenden Eindrücke beschäftigt und arbeitet quasi an einer hermeneutischen Auslegung der Umstände: – all dies gab dem Sohne Jaakobs aufs angelegentlichste zu denken, zu prüfen, zu raten, er arbeitete im stillen daran, es zu ergründen, zu deuten und zu ergänzen, wie jemand, der sich so schnell wie möglich zum geistigen Herrn der Umstände und Gegebenheiten zu machen sucht, in die er von ungefähr versetzt worden und mit denen er zu rechnen hat. (IV, 810)

Joseph entpuppt sich als Meister des Sammelns von kulturellem Kapital und weiß seine eingefahrenen Gewinne nutzbringend zu investieren. Schon das Wissen über Ägypten, das ihm der alte Kaufmann auf der Reise vermittelt, wendet er umgehend an, wenn er sich in Anbetracht der erhaltenen Information den Namen Osarsiph gibt, der ihn als „EinheimischZugehörigen kennzeichnen“ (IV, 752) soll.79 Als wirklicher Geniestreich der Kapitalinvestition erweist sich sein Umgang mit den hochbrisanten Informationen, die er als stummer Diener 78 79

Wie Jan Assmann ausführt, wird Joseph vom alten Midianiter in die weltlichen Aspekte (Schrift, Bürokratie Königtum und Sitten) wie auch in die religiösen Bewandtnisse des Landes initiiert (vgl. Assmann, Jan, Thomas Mann und Ägypten, S. 89 ff.). Vgl. dazu auch Cunningham, Myth and politics, S. 90 f.

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dem Hutzelpärchen Huji und Tuji ablauscht. Er hält die Ohren „still offen“, als die heiligen Geschwister sich unterhalten, „daß die inneren Bewandtnisse des Hauses [ihm] ihren Namen nennen und [er] Herr über sie werde in [s]einem Geist.“ (IV, 846) Die Kenntnisse über das Verhältnis der beiden Alten und ihre Untat an ihrem gemeinsamen Sohn verschaffen Joseph das Wissen, das er benötigt, um im Baumgartengespräch vor Potiphar glänzen zu können. Joseph erkennt das Potential des Gesprächs und setzt das Gehörte strategisch ein. 5.3.2 Joseph als homo oeconomicus? Joseph genießt also nicht nur den Vorzug einer guten Ausbildung, sondern erweist sich in der Anwendung dieses kulturellen Kapitals als geschickter Stratege; er verhält sich rational und kalkulierend und hat dabei stets den eigenen Nutzen im Auge. Die Einsicht in Potiphars Bewandtnisse führt bei Joseph zwar zu einer Haltung schonender Rücksichtnahme, wird von ihm aber dennoch ausgenützt und für das eigene Vorankommen instrumentalisiert. Hierin gleicht er in hohem Maße dem Verhalten des homo oeconomicus, der als Modell zur Erklärung von menschlichem Verhalten in die klassische Volkswirtschaftslehre eingeführt wurde.80 Während der Fokus zunächst rein auf wirtschaftliche Kontexte gerichtet war und es das Ziel war, Marktverhalten und Kaufentscheidungen zu erklären, dient das Denkmodell des homo oeconomicus nun auch zur Erklärung von menschlichem Verhalten überhaupt, also unabhängig vom Gegenstandsbereich. Ziel einer Ökonomik in diesem Sinne ist es, menschliches Verhalten dadurch zu erklären, „daß man unterstellt, daß sich die einzelnen Individuen ‚rational‘ verhalten.“81 Rational heißt, in einer Situation am eigenen Nutzen orientiert zu handeln und sich aus einer Auswahl an Handlungsmöglichkeiten für die Option zu entscheiden, die sich nach dem Stand des Wissens und unter den gegebenen Handlungs- und Umweltbedingungen als diejenige erweist, die dem eigenen Interesse am meisten nützt. Die Entscheidungssituation des Einzelnen wird also, so das Vokabular Gebhard Kirchgässners, von seinen „Präferenzen“ und den „Restriktionen“ bestimmt, die den Handlungsrahmen abstecken. Das Individuum bewertet „die einzelnen ihm zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten, d.h. es wägt Vor- und Nachteile, Kosten und Nutzen der einzelnen Alternativen 80

81

Vgl. die Ausführungen von Kirchgässner, Gebhard: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 1991 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 74) und den Überblick bei Blaschke, Der homo oeconomicus, S. 17 ff. Ebd., S. 2.

5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme

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gegeneinander ab“ und entscheidet sich dann „für diejenige(n) Möglichkeit(en), die seinen Präferenzen am ehesten entspricht (entsprechen) bzw. von der es sich den höchsten ‚Netto-Nutzen‘ verspricht.“82 Während frühere Erklärungsansätze dabei noch von einem vollinformierten und völlig rational agierenden Agenten ausgegangen sind, berücksichtigt Kirchgässner auch den eingeschränkt rationalen Agenten, der nicht immer vollständig informiert ist, und schließt auch die Altruismusfähigkeit von Agenten in seine Überlegungen ein.83 Beim homo oeconomicus handelt es sich also um eine Denkfigur, um eine „heuristische Fiktion“84, die menschliches Verhalten als rationales, eigennütziges Verhalten erklärt und begreift – und sich damit geradezu als Folie anbietet, vor der Josephs Verhalten und Vorgehensweise beschrieben werden können. Überprüft man seine Handlungsweise anhand der Kriterien, die den homo oeconomicus kennzeichnen, so kann festgehalten werden, dass Joseph ein klares Ziel vor Augen hat und über deutliche Präferenzen verfügt, die sein Verhalten diktieren. Er handelt nach einem erkennbaren Plan, der in dem heilsgeschichtlichen Denkmuster von Entrückung – Erhöhung – Nachkommenlassen besteht. Ziel seiner Bemühungen und zentrales Movens ist „das Motiv des ‚Nachkommenlassens‘“, das „mit denen der ‚Entrückung‘ und der ‚Erhöhung‘“ (IV, 722) verbunden ist. Er folgt von Anfang an einem „Plane“ (IV, 817), dessen Endziel das Nachkommenlassen seiner Familie ist. Bereits bei seiner Einreise wird das Land Gosen als potentielles Weideland für seine Familie betrachtet und über die Erreichbarkeit dieses Ziels nachgedacht: Er betrachtete die Herden, die die Gutsherren des Oberlandes hierher sandten des guten Krautes wegen, und lebhaft empfand er, wie sehr noch und wie vor allem das Entrückungsmotiv der Ergänzung bedürfe durch das der Erhöhung, ehe das Vieh der Herren vom oberen Stromlauf anderem Vieh das Feld räumen würde im Lande Gosen, kurz, ehe das ‚Nachkommenlassen‘ an der Reihe sein würde. (IV, 722)

Das Etappenziel, das Joseph mit seiner Karriere im Land der Ströme anstrebt, ist, „der Erste [zu] werden der Dortigen“ (IV, 690). Er, der schon 82 83

84

Ebd., S. 14. Wie weiter oben (vgl. Anm. 38, Kapitel 2.3 dieser Arbeit) ausgeführt, hat die wirtschaftswissenschaftliche Forschung inzwischen erkannt, dass es rein rationale Agenten wie den homo oeconomicus nicht gibt. Als Folie, vor deren Hintergrund die Beschreibung von Josephs Verhalten profiliert werden kann, bietet sich das Modell jedoch an. Schröder, Frank: Christaller und später – Menschenbilder in der geographischen Handelsforschung. In: Hasse, Jürgen / Helbrecht, Ilsa (Hg.): Menschenbilder in der Humangeographie. Oldenburg 2003 (Wahrnehmungsgeographische Studien 21), S. 89–106, hier S. 93.

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als Kind den Traum von der „Weltherrschaft“ (IV, 516) geträumt hatte, kommt also mit der klaren Präferenz nach Ägypten, dort eine Position zu erreichen, die es ermöglicht, seine Familie nachkommen zu lassen. Mentale Unterstützung erhält er durch das Wissen, dass er damit nicht nur seinen eigenen Willen erfüllt, sondern ganz im Sinne von „Gottes Pläne[n]“ (IV, 697) handelt. Er glaubt an „Gottes heilsweise Zukunftszwecke“ (IV, 575) und setzt alles daran, „sich auf die Höhe zu bringen von Gottes Absichten“ (V, 935): Man muß nur auf den Gedanken kommen, daß Gott es besonders mit einem vorhat und daß man ihm helfen muß: dann spannt sich die Seele, und der Verstand ermannt sich, die Dinge unter sich zu bringen und sich zum Herrn aufzuwerfen über sie […]. (V, 927)

Die adäquate mentale Gestimmtheit ermöglicht es Joseph, die Ereignisse, die ethisch-moralisch etwas heikler zu bewerten sind, ins rechte Licht zu rücken bzw. das doch etwas Anrüchige an die göttliche Instanz abzuschieben. In der Krankheit Mont-kaws, die mit ihrem tödlichen Ausgang eine Aufstiegsmöglichkeit bietet, erkennt Joseph etwas „Planmäßiges“ (V, 982) und sieht Mont-kaw selbst als ein „Opfer der Pläne Gottes“. Die Krankheit wird zur „Veranstaltung zu seinen und seines Wachstums Gunsten“, um derentwillen der Vorsteher „aus dem Wege geräumt“ (V, 990) wird. Joseph ordnet die Begebenheiten um sich herum stets in seinen Plan ein und bewertet sie rational nach ihrer Bedeutung für seinen Weg nach oben. Er lässt sich nicht vom Strudel der Ereignisse mitreißen, sondern agiert stets aufmerksam und reflektierend. Selbst bei dem aufwühlenden und schmerzhaften Zusammenstoß mit den Brüdern, der mit dem Wurf in den Brunnen seinen dramatischen Höhepunkt findet, ist er geistesgegenwärtig und wachsam – „Er hatte achtgegeben vom ersten Augenblick an.“ – und macht „im verstörtesten Trubel der Überrumpelung, im schlimmsten Drange der Angst und Todesnot […] geistig die Augen“ auf. Denn „[k]eine Not des Fleisches und der Seele konnte die Aufmerksamkeit seines Geistes ertöten“ (IV, 582) – und so erkennt er selbstverständlich sogleich, dass mit dem Wurf in den Brunnen seine Reise in die Unterwelt beginnt. Wie es sich für einen guten homo oeconomicus gehört, ist Joseph auch in Ägypten bemüht, sich ein möglichst vollständiges Bild über sein Umfeld zu machen und entsprechend diesen Informationen seinen Plan zu verfolgen. Gleich bei seiner Ankunft in Potiphars Haus hat er sein Ziel vor Augen, und so

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sann er schon zu dieser Stunde, kaum vors Haus gebracht und nach erstem aufmerksam-raschem Überblick über Dinge und Menschen, darauf, wie er wohl, früher oder später, doch ehetunlichst, an die Seite des Herrn gelangen könne, des Höchsten in diesem Kreise, wenn auch des Höchsten nicht in Ägyptenland […]. (IV, 810 f.)

Josephs rationales und kalkulierendes Verhalten wird mit Verben aus dem Bereich des kaufmännischen Rechnens gekennzeichnet. Beim „Überschlagen von Gunst und Ungunst“ wird das Ergebnis „verbucht[…]“ (IV, 835), und Joseph, der Meister der „Rechenkunst“ (V, 926), muss mit den Umständen „rechnen“ (IV, 810) und verarbeitet die Einblicke, die er als stummer Diener gewinnt, in einer „Rechnung“ (IV, 876). Dass er es versteht, sich „klug“ (IV, 764) und strategisch zu verhalten, zeigt sich besonders an den oben erwähnten Gesprächssituationen, in denen es ihm wiederholt gelingt, seinen Aufstieg voranzutreiben; denn als Ergebnis aller wichtigen Unterredungen – sowohl mit dem midianitischen Kaufmann als auch mit Potiphar, Mai-Sachme und schließlich Pharao – kann Joseph eine Statuserhöhung verbuchen. Wie schon angedeutet, geht Joseph dabei versiert vor und nutzt die Gunst jeder Stunde, die sich ihm bietet. Vor dem Gespräch mit Pharao ist er sich darüber im Klaren, dass es sich jetzt um die „Wahrnehmung der herbeigeführten Gelegenheit“ (V, 1405) handelt. Und diese nutzt er, wie auch Pharaos Mutter anerkennen muss: Du hast’s darauf angelegt und dich ihm untergeschoben vom ersten Worte an! Vor mir brauchst du das Kind nicht zu spielen oder das Lamm, wie die dich nannten, die dich verzogen. Ich bin eine politische Frau, es lohnt nicht, Unschuldsmienen vor mir zu ziehen. ‚Süßer Schlaf und Muttermilch‘, nicht wahr, ‚Windelbänder und warme Bäder‘, das sind deine Sorgen. Geh mir doch! Ich habe nichts gegen die Politik, ich schätze sie und mache dir’s nicht zum Vorwurf, daß du deine Stunde nutztest. (V, 1471)

Joseph gelingt es bravourös, sein Wissen strategisch einzusetzen, und er erzielt stets die Wirkung, die er sich erhofft hat. Dabei kommen ihm, wie gezeigt wurde, sowohl sein Fachwissen als auch sein psychologisches Einfühlungsvermögen in die Umstände seines Gegenübers, mit denen er sich zuvor vertraut gemacht hat, zugute. Auch wenn der Erzähler sich bemüht, mit dem Hinweis auf Josephs Einfühlungsvermögen und den Liebesdienst, den dieser Potiphar leistet, den „Vorwurf kalter Spekulation“ (IV, 876) von seinem Helden abzuwenden, so liegt Josephs Augenmerk doch darauf, wie er seine Pläne am besten in die Tat umsetzen kann. Seine Überlegungen sind dominiert von dem Gedanken, dass er „dem planenden Herrn der Träume am besten behilflich sein würde, indem er, nach dem Muster Montkaws, Peteprê, dem Herrn, ‚behilflich‘ war“. Dass Joseph den Gedanken

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des Mitgefühls, dessen Potiphar als Einsamer und Ausgeschlossener bedarf, von der Situation Gottes, der „einsam in seiner Größe“ (IV, 877) war, ableitet, ist weniger Zeugnis seiner Nächstenliebe, denn seines psychologischen Erkennens und richtigen Einschätzens von Potiphars Situation. Josephs „Methode“, wie auch der Erzähler „Josephs Kunst“ explizit bezeichnet, besteht also in der Verbindung von „Berechnung und Herzlichkeit“. Auch wenn er das Vertrauen, das Potiphar ihm entgegenbringt, nicht missbraucht und enttäuscht, so bleibt sein Vorgehen dennoch „Rechenkunst und kluge Technik“, „Berechnung“ und „Methode“ (V, 926). Das zeigt sich deutlich in der Episode mit Potiphars Frau Mut-emenet, die Joseph als rational kalkulierender homo oeconomicus meistert. Von Anfang an setzt der Jüngling in seinem Kampf gegen die körperliche Versuchung auf seinen Geist und bewertet die Situation streng rational. Seine Keuschheit entspringt, wie der Erzähler betont, nicht dem Mangel an potenter Fähigkeit, sondern ist Ausdruck des „Verständnisses und Bedachtes“ (V, 1135), dass ihre Hingabe, „das Tonzeichen des Verbotenen, der Versuchung und des Falles“ (V, 1134) in sich trägt. Joseph ist sich bewusst, was für ihn auf dem Spiel steht, und will unter allen Umständen „den gröbsten und zukunftsschädlichsten Fehler […] meiden, der überhaupt zu begehen war“ (V, 1145). Um „den großen Fehler nicht zu begehen und es um keinen Preis mit Gott zu verderben“ (V, 1155), werden sieben höchst rationale Gründe angeführt, die alle Josephs „Nützlichkeitsspekulation“ (V, 1138) entspringen. Die Bedeutung der Bewahrung der Keuschheit wird eingehend erörtert und abgewogen, sie wird rational im Geiste verhandelt. Seine Betrachtungsweise des Falles, „in dem er sich klug und rücksichtsvoll zu benehmen, sich nichts zu vergeben und nichts zu verderben wünschte“, ist eine „geistig-grundsätzliche[…]“ (V, 1141). Die Keuschheit als das Ergebnis eines rationalen Erwägungsprozesses wird zum „Gedankending“ (V, 1134). Joseph hält also auch in dieser Situation an seinen Präferenzen fest – er will seinen Aufstieg und die Erfüllung von Gottes Plan nicht gefährden – und entscheidet sich, unter Abwägung von höchst rationalen Gründen, für die Keuschheit und gegen Mut-em-enet.85 85

Dass dabei nicht alles nach seinem rationalen Kalkül läuft, zeigen die „Wirtschaftsaudienz[en]“ (V, 1121), unter deren Vorwand Mut-em-enet den Kontakt zu Joseph zu intensivieren sucht. Während Mut-em-enet die Gespräche als Vorwand für den persönlich-privaten Austausch instrumentalisieren möchte, hofft Joseph jene gerade durch den „ökonomische[n] Austausch“ (V, 1109) von ihren Gefühlen zu kurieren. Entsprechend seines „Heilsplan[s]“ versucht er – also in genauer Revision von Muts Plan – ihre Gedanken durch den ökonomischen Gehalt der Gespräche aufs Gegenständliche zu lenken und sie dadurch zu „kühlen, ernüchtern und heilen“ (V, 1107). Während er ihr also „Rechnungsrollen über Verbrauch und Belieferung des Frauenhauses mit den und den Lebens-

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Joseph zeichnet sich auf seinem Weg nach oben also durch ein Verhalten aus, dass sich mit der Denkfigur des homo oeconomicus beschreiben und erklären lässt. Sein Handeln ist von seinen Zielen der Erhöhung und des Nachkommenlassens bestimmt, und er gibt aus „Rücksicht aufs Spätere“ (IV, 839) stets acht, „seine Laufbahn nicht falsch und schief zu beginnen“ (IV, 838). Unter Einsatz seines kulturellen Kapitals – seiner Bildung, seines Redegeschicks sowie der gesammelten Informationen – gelingt es ihm, seine angestrebten Ziele zu verwirklichen. Er erhält die höchste Position, die Pharao zu vergeben hat, und kann in seiner Funktion als Wirtschaftsminister und Ernährer des Landes mit seiner geschickten Vorsorgepolitik seine Familie ins Land locken und dort ansiedeln. Und auch wenn er dabei Ägypten und Pharao gute Dienste erweist und seine Tätigkeit gewissenhaft ausführt, so bleibt dies alles letztlich Mittel zum höheren Zweck, denn: Man darf nicht vergessen, daß des Reiches Herrlichkeit ihn, so sehr er seiner äußeren Gesittung nach zum Ägypter geworden war, im Grunde nichts anging, und daß, so energische Wohltaten er den Dortigen erwies, so umsichtig er dem Öffentlichen diente, sein innerstes Augenmerk doch immer auf Geistlich-Privates und Weltbedeutend-Familiäres, auf die Förderung von Plänen und Absichten gerichtet blieb, die mit dem Wohl und Wehe Mizraims wenig zu tun hatten. (V, 1499)

5.3.3 Joseph als Stromheld Auf seinem Weg an die Spitze macht Joseph eine ökonomische Karriere in doppeltem Sinne, denn sowohl seine Tätigkeit wie auch deren Erträge stehen unter ökonomischem Vorzeichen. Die Ämter, die er innehat, sind von Anfang an im wirtschaftlich-verwalterischen Bereich angesiedelt und seine Laufbahn als Volkswirt bessert, wie zu sehen sein wird, seinen eigenen Kontostand fürstlich auf. Es gelingt Joseph, wie auch schon seinen Vorfahren, sich in der Unterwelt zu bereichern und sich deren Schätze anzueignen. Im Folgenden sollen nun die ökonomischen Aspekte seines und Genußmitteln“ vorlegt und ihr „auch über Entlassungen und Neueinstellungen unter der Dienerschaft einiges vortrug“ (V, 1160) – zum Kummer der Dame alles in „wirklicher wirtschaftlicher Versonnenheit“ (V, 1103) –, konzentriert sich Mut ganz darauf, ihm ihre Liebe anzutragen. Dass gerade ökonomische Gespräche durchaus nicht nur der Ernüchterung dienen, wurde ja schon bei Klaus Heinrich und Imma Spoelmann deutlich, die sich bei der gemeinsamen Lektüre volkswirtschaftlicher Lehrbücher nahe gekommen sind (vgl. Kapitel 3.3.2 dieser Arbeit); und so geht auch Josephs Heilsplan gründlich schief. Muts Gedanken werden nicht „gereinigt und versachlicht“ (V, 1109), sondern zunehmend entflammt, die „kältest-trockensten“ Worte werden durch seine Gegenwart „durchwärmt“ und jedes Gespräch wird für sie zum „Liebesgespräche“ (V, 1111).

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Aufstiegs beleuchtet werden. Josephs Laufbahn findet nicht nur im Land der Ströme statt, sondern steht auch ganz in deren Zeichen. Seine jeweilige Position, vom „Verkauf bis zu seiner Haupterhebung“ (IV, 822), findet auf sprachlicher Ebene ihren Ausdruck in einer parallel geführten, korrespondierenden Wassermetaphorik und -symbolik; sein ökonomisches Potential spiegelt sich in seinem Verhältnis zur ‚Liquidität‘. Josephs „steil aufstrebende Laufbahn“ (IV, 822) beginnt völlig ‚unliquide‘ in einem Brunnen. Denn im wahrsten Sinne des Wortes sitzt er nach dem Streit mit den Brüdern erst einmal auf dem Trockenen: Der Brunnen, in den er geworfen wird, ist eine „leere Zisterne“ (IV, 564) und dementsprechend „trocken und leer“ (IV, 548). Dieser Wassermangel entspricht Josephs finanzieller Situation, ist er doch, abgesehen von seiner zerrissenen Kleidung, ohne jedes Hab und Gut. Dennoch wird der Brunnen seiner mythischen Funktion als „Eingang zur Unterwelt“ (IV, 583) und somit in ‚liquide‘ Sphären gerecht, und Joseph kommt als verkaufter Sklave und „vollkommene Null“ (IV, 822) aus der Sphäre der Brunnen in das Land der Ströme. Es kann als gutes Omen gedeutet werden, dass Joseph einen Teil seiner Reise per Schiff, das den euphemistischen Namen „Glänzend durch Schnelligkeit“ (IV, 761) trägt, auf dem geräumigen Strome zurücklegen darf. Nach seinem Verkauf an Potiphars Haushalt gilt es für Joseph, gemäß dem mythischen Verhaltensgebot für die Unterwelt, reich zu werden. Im Gegensatz zu seinem Vater, der Labans kleine Welt noch mit einem Wasserfund liquidisieren und modernisieren konnte, muss Joseph seinen Weg in einem Haushalt machen, der bereits ganz im Zeichen des Stromes steht und an Wasser keinen Mangel leidet: Es gab Wasser die Hülle und Fülle bei Peteprê, denn nicht allein der Lotusteich im Lustgärtchen war vorhanden, sondern auch zwischen den Pflanzungen des Baum- und des Gemüsegartens noch waren viereckige Becken eingesenkt, die keine Verbindung mit dem Ernährer hatten und dennoch den Garten ernährten, da sie voll Grundwasser waren. An Wasser war keine Not. (IV, 827)

Potiphars Wirtschaft strotzt von Wasserquellen und so auch von „wirtschaftlichem Wohlstande“ (IV, 827). Josephs Ausgangssituation ist also mit der Jaakobs kaum zu vergleichen, und es heißt für ihn zunächst, sich mit dieser Sphäre der Geldströme vertraut zu machen. Ohne selbst aktiv am Stromleben zu partizipieren oder materiellen Profit aus den Strömen zu schöpfen, macht Joseph sich mit seiner Umgebung bekannt. Dabei verhält er sich – wie es sich für einen Stromhelden gehört – wie ein „Fisch im Wasser“ (IV, 835, 836) und achtet auf die „Strömungen und Gegenströmungen“ (IV, 835). Unterstützung findet er bei dem Zwerg Gottlieb-

5.3 Josephs Laufbahn im Land der Ströme

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chen, der sich selbst dazu auserkoren hat, dafür zu sorgen, dass Joseph in den Strömen nicht untergeht und dessen „Schiff vor den Wind kommt“ (IV, 840). Diesen Vorsatz setzt er in die Tat um, indem er seinem Schützling zu dem Gespräch mit Potiphar verhilft, mit dem Josephs Aufstieg seinen Ausgang nimmt. Nach seiner Beschäftigung im Garten steigt Joseph zum Dienst im Inneren des Hauses auf und wird Peteprês Leib- und Lesediener. Von dort aus rückt er dann Stufe für Stufe auf der Karriereleiter nach oben; er erhält zunächst als Mont-kaws „Lehrling und Junggeselle“ (IV, 902) eine fundierte Ausbildung in allen Dingen der Haus- und Wirtschaftsverwaltung und macht sich dabei als „Mont-kaws Gehilfe“ (V, 934) zunehmend unentbehrlich. Wassermetaphorisch findet dieser kontinuierliche Aufstieg seinen Ausdruck darin, dass Joseph „wie an einer Quelle“ (V, 937) wächst. Wirtschaft und Wasser sind aufs Engste miteinander verknüpft, und auch das Kapitel, in dem Josephs Weg zur rechten Hand Mont-kaws geschildert wird – am Ende darf er bereits als „Herr der Barke“ (V, 934) auf Handelsfahrten gehen –, trägt den Titel „Joseph wächst wie an einer Quelle“ (V, 926).86 Nachdem Joseph sich also mit den Strömen vertraut gemacht hat, findet er nun in diese hinein: Das „Wasser des Landes tränkte und schwellte die Zellen seines Körpers“ (V, 963) und er kann schließlich „die Erbfolge […] des Nierenkranken“ (V, 1081) Mont-kaws antreten.87 Vom Stellvertreter steigt er zum „Wirtschaftshaupt und verantwortliche[n] Mann des Überblicks“ (V, 1250) auf und ist in finanzieller Hinsicht mit den Bezügen, die vormals Mont-kaw erhalten hat, „ein gemachter Mann“ (V, 1148). Er hat „ein schönes Stück des ägyptischen Wirtschaftslebens seiner Übersicht und Kontrolle unterworfen“ (V, 1129) und kann schon einmal für das anvisierte „Hausmeiertum[…] größten Maßstabes“ (IV, 822) üben. Als Verwalter weiß er die Ströme zu handhaben und nutzt sie für seine Tätigkeiten. Er ist „geschäftlich stromab oder -aufwärts“ (V, 1111) unterwegs und bringt die „Waren des Hauses flußauf- oder abwärts zu Markte“ (V, 1292); sein Leben läuft ganz im und mit dem Rhythmus des Stromes. Nachdem er es in Potiphars Machtbereich an die Spitze geschafft hat, folgt Josephs zweite Grubenfahrt. Er verliert alles bisher Erreichte und steht erneut mit leeren Händen und nichts als dem „Amulett-Bündelchen an bronzierter Schnur, das er im Lande der Väter getragen“ (V, 1294), da. Die Fallhöhe seines Sturzes verdeutlicht die stromgeographische Lage des 86 87

Nebenbei sei hier angemerkt, dass Thomas Mann selbst dieses Kapitel in seinem Tagebuch als „Wirtschaftskapitel“ bezeichnet hat. Vgl. Tb, 26. Oktober 1934. Mont-kaw leidet also an den gleichen Organen wie auch Samuel Spoelmann in Königliche Hoheit (vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit). Auch hier zeigt das Amt im ‚liquiden‘ Metier höchst ‚unliquide‘ Nebenwirkungen.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Gefängnisses, in das er gebracht wird, liegt dieses doch abseits „in einem Stromarm des Gaues von Mendes“ (V, 1293). Beendet wird dieser Aufenthalt fernab des Hauptstromes metaphorisch folgerichtig durch die Ankunft eines „Eilboot[es] aus Pharao’s Eigen-Flottille“ (V, 1369). Dass er unverzüglich – „sogleich mit enormer Geschwindigkeit“ (V, 1373) – zurück in die Sphäre des Stromes gebracht wird, zeigt, dass Josephs Schicksal nun mit neuer Dynamik vorangehen wird. Und in der Tat dringt Joseph mit seiner Erhöhung in eine neue Stromdimension vor. Er wird von Pharao zum „Herr[n] der Vorsorge und Sättigung“ (V, 1495) ernannt und erhält als „Ernährungs- und Ackerbau-Minister“ (V, 1499) den ökonomisch wichtigsten und höchsten Posten im Land der Ströme. Hat er bisher von und mit dem Strom gelebt, so wird er mit der Erhöhung nun quasi zum Strom selbst. Denn die zahlreichen Einzeltitel, die seine „ausschweifende Titulatur“ (V, 1489) umfasst, lassen sich „in den einen: ‚Der Ernährer‘“ (V, 1491) zusammenfassen. Joseph bekommt also den Namen des Flusses selbst verliehen, sein Amt steht in seiner Bedeutung und Wichtigkeit dem Lebensspender in nichts nach. In den Jahren der Dürre und des Mangels übernimmt er dessen Funktion und wird „selbst wie der Himmel, der gibt, und wie der Nil, der ernährt“ (V, 1583). So erstaunt es auch nicht, dass „große Volksmassen“ in ihm „eine Art von Nil-Gottheit, ja, eine Verkörperung Chapi’s selbst, des Erhalters und Lebensspenders“ (V, 1758) sehen. Joseph wird seinem ‚liquiden‘ Amt gerecht, denn dank seiner geschickten Politik der Vorsorge strömen die Abgaben und Steuern in den Jahren des Überflusses (vgl. V, 1529), und in den Jahren des Mangels können im Gegenzug „gewaltige Kaufwerte für das Korn […] in Pharao’s Schatzhaus strömen“ (V, 1759). Sein Amt als oberster Ökonom des Landes bedeutet jedoch nicht nur Segen für das Land, sondern auch für seine eigene Kasse, die einen enormen Zuwachs erfährt. Im Zuge seiner Amtseinsetzung, seiner Vergoldung, wird Joseph vom königlichen Paar mit „Geldgeschenke[n] von allerlei Gestalt“ (V, 1486) von einem Balkon aus überschüttet und so zum „vermögenden Mann“ (V, 1488): […] und auf der Prunk-Estrade denn also das zarte und lächelnd in matter Distinktion blickende göttliche Paar im Schmuck ihrer hohen, mit Nackenschutz-Tüchern versehenen Mützenkronen, das ohne Unterlaß und mit sichtlichem Vergnügen, recht aus dem vollen schöpfend, einen Regen und Segen von Kostbarkeiten auf den Begünstigten niedergehen ließ: Ketten aus aufgereihten Goldperlen, Gold in Löwengestalt, goldene Armringe, goldene Dolche, Stirnbänder, Halskrägen, Zepter, Vasen und Beile aus gediegenem Gold, – was alles der Beschenkte allein natürlich nicht auffangen konnte, so daß ihm ein paar Auffange-Sklaven beigegeben waren, die einen ganzen Hort von im Sonnenstrahl blitzendem Golde unter den Wunderrufen der Menge am Boden vor ihm aufhäuften […] (V, 1487).

5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung

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Nachdem er jahrelang an einer Quelle gewachsen ist, schwillt Joseph nun zum großen Strom an. Er ist finanziell hoch liquide und sein Amt steht ganz im Zeichen des Stromes – und damit in hohem Maße im Zeichen der Vermittlung. Denn wie sich zeigen wird, gleicht Joseph dem Strom nicht nur darin, dass er als Ernährer für das Wohl des Landes sorgt, sondern auch darin, dass er seiner Tätigkeit als „Fürst der Vermittlung“ alle Ehre macht.

5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung 5.4.1 Oben und Unten: Geist und Geld Vor allem die Abneigung des jungen Pharao gegenüber den Dingen der Wirtschaft und dessen Unlust zur Verwaltung des Landes bieten die perfekte Vakanz für den verwaltungserfahrenen Joseph. Wie schon bei Potiphar, der sich selbst, wie wiederholt, ja fast schon mantrisch festgestellt wird (vgl. V, 929, 1047, 1077, 1102), keines Dinges annahm, steht Joseph hier einem Arbeitgeber gegenüber, der sich von den sachlichen Belangen seines Zuständigkeitsbereichs fernzuhalten sucht.88 Der labile und praktischen Herrscherpflichten abgeneigte Pharao widmet sich bevorzugt seiner Religion und den geistigen Dingen und steht deutlich im „Widerstreit zwischen der Hingabe an die geliebte Atôn-Theologie und den Aufgaben eines Königs Ägyptenlandes“ (V, 1383 f.). „Schriftrollen mit laufenden Verwaltungsgeschäften […], mit Gerichtsurteilen, Steuerregistern, neuen Kanalanlagen, Fundamentlegungen, Fragen der Bauholzbeschaffung“ (V, 1381) und dergleichen höchst irdische Angelegenheiten setzen ihm 88

Die herrschende Klasse in Ägypten führt ein ähnlich repräsentatives Dasein wie Klaus Heinrich im Roman Königliche Hoheit (vgl. Kapitel 3.3.1 dieser Arbeit). Potiphar hat mit den „Dingen der greifbaren Welt“ (V, 1036) wenig zu tun, denn, wie er selbst es ausdrückt, „reine Förmlichkeit ist meine Sache und Zier ohne Zweck“ (V, 1037). Gegenständliche Sorgen sind ihm fern und werden delegiert. Dass dieses rein repräsentative Leben ein „hohles“ (V, 1087) Dasein ist, spürt vor allem Mut-em-enet, die „im Luxus dahinvegetierende[…] Landesschönheit[…]“. Umgeben vom „bloßen und leeren Luxus“ fühlt sie sich vom wirklichen Leben ausgeschlossen; am „Eigentlichen, dem Leben der Seele und Sinne“ (V, 1013), hat sie keinen Anteil. Wie schon bei Albrecht II. in Königliche Hoheit wird hier das unsachliche, unwirkliche, rein repräsentative Leben mit einer Temperatursemantik unterlegt. Ohne Anteil am wirklichen Leben und den Dingen ist Mut-em-enet von „temperaturloser weiblicher Weltlichkeit“ (V, 1014) und wird wiederholt als „weltkühle Mondnonne“ (V, 1016, 1113) betitelt. Ihre Distanz zur Wirklichkeit drückt sich in ihrer „Weltkälte“ (V, 1015) und der „kühle[n] Leere des Herzens“ (V, 1013) aus. Auch hier zeigt sich, dass ein zu großer Abstand von den sachlichen Dingen der Wirtschaft psychisch ungesunde Konsequenzen zeitigt.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

mächtig zu und hindern ihn daran, „an den Atôn zu denken“ (V, 1382). Für den jungen Pharao sind die Erfordernisse der Ökonomie strikt von den geistigen Belangen zu trennen, wie vor allem im Kapitel „Von Licht und Schwärze“ (V, 1374 ff.) deutlich hervorgehoben wird. Es wird eine klare Opposition zwischen den unteren Dingen der Wirtschaft und Verwaltung und den oberen Dingen des Geistes und der Religion aufgemacht, ein Gegensatz, der sich nicht nur in der semantischen Dichotomie von Oben und Unten, sondern auch in der von Geistig-Hellem und IrdischSchwarzem ausdrückt. Das stoffliche, irdische, natürliche Wohl des Landes, wie es von der Fruchtbarkeit der schwarzen Erde abhängt, steht dem geistig-geistlichen, hellen Wohl der oberen Sphäre entgegen. Entsprechend diesem Schema hat Pharao selbst „kein Verhältnis zur unteren Schwärze, sondern liebte einzig das obere Licht.“ (V, 1385) Im Kontrast zu seiner Mutter, die mit kühlem, pragmatischem Weltverstand und politischem Geschick – und „schwarzglänzenden […] Augen“ (V, 1412), „Augen, die dunkel im Dunklen glänzen[…]“ (V, 1442) – ausgestattet ist, erweist sich Echnaton mit seinen „grau verschleierten Augen“ (V, 1413) fürs politische Tagesgeschäft als untauglich. An der Figur des Pharao wird der Gegensatz von oberer, geistiger Sphäre und unterer, weltlich-ökonomischer Sphäre deutlich konturiert. In dem gedanklich und semantisch konstruierten Oppositionsschema ist der Bereich des Geldes und der Ökonomie an ein Unten gebunden, während das Oben, frei von Geschäftszwängen und anderen sogenannten irdischen Angelegenheiten, den Raum für geistige Betätigung und gedankliche Spekulation bietet. Diese Systematik greift den bereits erwähnten Dualismus von Ober- und Unterwelt, wie er vor allem von Jaakob ausgemalt und instrumentalisiert wird, erneut auf. Während, wie gezeigt wurde, die schwarze, kotige Unterwelt in den Geschichten Jaakobs den Ort zum Reichwerden darstellt, bietet die Oberwelt, in die man mit den Schätzen der Unterwelt zurückkehrt, den Raum für die Pflege von Glaubensangelegenheiten.89 In dieses Oppositionsfeld kann auch, wie bereits ausgeführt,90 Der Zauberberg eingeordnet werden, bietet er doch mit seiner hohen Entrückung den Ort, um über Probleme nachzudenken und zu diskutieren. Auch in biografischen Zeugnissen ist Thomas Mann bemüht, ökonomische und geistige Dinge als gegensätzliche Felder zu konturieren und zu differenzieren. So teilt er Agnes E. Meyer, nachdem diese ihn brieflich versichert hat, dass sie ihm nicht nur mit jeder geistigen, sondern auch 89 90

Vgl. Kapitel 5.1.5 dieser Arbeit. Vgl. Kapitel 4.1 dieser Arbeit.

5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung

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materiellen Ressource zur Seite steht, in einem Antwortschreiben mit, dass bei ihrem anvisierten Treffen „reichlich Zeit sein [werde], das Obere und Untere zu besprechen.“91 Trotz aller Trennungs- und Differenzierungsstrategien zeigt die Lektüre der Romane, dass die beiden Bereiche zwar als gegensätzliche Felder konturiert werden können, dabei jedoch auf das jeweils Andere zur Abgrenzung angewiesen sind. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu denken, und gerade die Muße zur geistigen Betätigung setzt voraus, dass im ökonomischen Unteren alles geregelt ist. Deutlich zeigt sich dies beim jungen Pharao, der auf eine stabile ökonomische Basis angewiesen ist. Denn lägen die unteren Dinge im Argen und wäre die wirtschaftliche Versorgung des Landes nicht gewährleistet, so hätten auch Pharaos Gedankenmuße und Religionsträumerei ein Ende. Eine stabile Ökonomie und ein befriedetes Land sind die Voraussetzung für seine ‚Gedankenfreiheit‘, denn: Ging’s aber nicht glatt und gut mit der nahrhaften Schwärze, so war’s um seine Autorität geschehen als Lehrer des Lichts. (V, 1385)

Dessen ist sich Pharao durchaus bewusst und ordnet seine Träume entsprechend auch als „Königsträume, von Reichsbelang“ (V, 1391) ein. Er erkennt, dass dem „Lichte […] Gefahr von seiten der Schwärze, dem Geistig-Gewichtlosen […] solche vom Stofflichen her“ (V, 1392) droht und er die entsprechenden Konsequenzen einleiten muss. Indem er gerade nicht „vom unstofflichen Sonnenstrahl, sondern von ganz Gegenteiligem“ (V, 1389) träumt, nimmt er seine Verantwortung als der Herrscher Ägyptenlandes wahr92 – und wenn diese darin besteht, die Verantwortung zu delegieren und sich den passenden Mann für die Regelung der unteren Dinge zu suchen. Damit Jung-Pharao „von oben herab auf diese unteren Dinge“ sehen kann, braucht er jemanden, der sich in Stellvertreterfunktion für ihn dieser Dinge annimmt, ohne dabei jedoch die Dialektik zwischen oben und unten aus dem Auge zu verlieren. Was ihm fehlt, ist ein Mittelsmann, der „zwischen Pharao, unserer schönen Sonne, und der unteren Erde“ (V, 1474), zwischen Pharao „und den Menschen“ (V, 1443) steht und für einen Ausgleich sorgt. Verlangt ist, wie Joseph richtig erkennt und vorschlägt, ein „Mittler zwischen Oben und Unten, der die Träume der Sonne kennt“ (V, 1444), aber auch die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Landes im Auge hat.

91 92

Thomas Mann an Agnes E. Meyer, 18. Oktober 1941. In: Thomas Mann / Agnes E. Meyer. Briefwechsel 1937–1955. Hg. v. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt am Main 1992, S. 328. Vgl. dazu auch Pikulik, Lothar: Joseph vor Pharao. Die Traumdeutung in Thomas Manns biblischem Romanwerk Joseph und seine Brüder. In: Thomas Mann Jahrbuch 1 (1988), S. 99–116.

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

Joseph nutzt die Gunst der Stunde und kann, in dem vielleicht erfolgreichsten Bewerbungsgespräch der Weltliteratur, nicht nur Pharao bei der richtigen ökonomischen Auslegung seiner Träume beistehen, sondern diesem auch das geeignete Maßnahmenprogramm und sich selbst als ausführenden Volkswirt, als Mittler, empfehlen. Dass er die richtige Person für diese Aufgabe ist, kann Joseph dem jungen Pharao und dessen Mutter überzeugend darlegen und wird in der Folge zum Ernährer und zum „Fürst[en] der Vermittlung“ (V, 1490) erhöht. 5.4.2 Josephs Mittler-Rollen Wirft man, wie es im Folgenden geschieht, einen Blick auf Josephs Tätigkeiten und Maßnahmen als oberster Volkswirt Ägyptens, scheint gerade der Titel des ‚Fürsten der Vermittlung‘ seine Person und Politik besonders treffend zu bezeichnen. Denn nicht nur seine Position als Bindeglied zwischen Pharao und dessen Land und Volk, sondern auch seine Politik als Ganzes steht, wie es dem Geist des Stromlandes entspricht, im Zeichen der Vermittlung. Das lässt sich an mehreren Punkten festmachen. Zunächst ist Joseph mit seiner Rolle als Fürst der Vermittlung tatsächlich das Oberhaupt aller in Ägypten stattfindenden Vermittlung. Als „Herr[…] des Überblicks“ (V, 1473) ist er der „Vorsteher von allen Dingen im ganzen Lande“ (V, 1488) und dementsprechend für deren Verwaltung zuständig. Er bedient sich erneut des Mediums der Schrift, um die Dinge des gesamten Landes seinem Überblick und seiner Kontrolle zu unterwerfen. Als erste Amtshandlung unternimmt er, „umgeben von einem größeren Schreiberstabe“, eine Inventurreise durch das ganze Land und verschafft sich „über alle Dinge der Schwarzen Erde eine Kenntnis aus erster Hand“ (V, 1500). Die Infrastruktur und Besitzverhältnisse von Ägypten bringt Joseph, indem er sie schriftlich erfassen lässt, unter seine Kontrolle. Er macht sich durch das vermittelnde Medium der Schrift zum Herrn des Überblicks und kann in der Folge sein Amt von seinem Hauptsitz aus führen. Indem alle Dinge schriftlich festgehalten werden, können sie übertragen und an Joseph weitergeleitet werden, denn: Die Kinder Ägyptens hörten niemals auf zu zählen, zu schreiben und Buch zu führen, das lag nicht in ihrer Natur und konnte nicht vorkommen. Mochte die Fülle der Vorsorge sein wie Sand am Meer, so war es der schönste Anlaß dieser Verehrer des weißen Pavians, ihr Papier genußreich mit dichten Additionen zu bedecken, und die genauen Tabellen, die Joseph von seinen Einnehmern und Speicher-Vorstehern verlangte, – er erhielt sie durchaus. (V, 1529)

Josephs Amtssitz in Menfe wird zur Schaltzentrale und zum Knotenpunkt des Schriftverkehrs, alle wirtschaftlichen Vorgänge im Lande fließen dort,

5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung

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im „Schreibpalast“ (V, 1586), in schriftlicher Form zusammen und ermöglichen Joseph deren Handhabung. Das Korngeschäft, versehen von zehntausend Schreibern und Unterschreibern, erstreckte sich über ganz Ober- und Unter-Ägypten, aber alle Fäden liefen in Menfe im Amtspalaste des Schattenspenders und Alleinigen Freundes zusammen, und war keine letzte Entscheidung über Verkauf, Darlehen und Gift, die er nicht sich selber vorbehalten hätte. (V, 1584)

Er ist stets darüber informiert, was sich an den Grenzen seines Machtbereichs abspielt, indem er sich täglich „Grenz-Rapporte“ vorlegen lässt, die er – in Erwartung seiner Brüder – „genauestens“ (V, 1585) und „täglich von oben bis unten“ liest. Dank des Mediums der Schrift kennt Joseph auch in seinem „Geschäftshaus“ (V, 1586) alle Vorgänge des Landes en détail und kann dort Kontrolle ausüben, wo er körperlich nicht präsent ist. Mit seiner Überwachung qua „Buchführung“ (V, 1585) verfügt er über eine, wie Joseph Vogl es nennt, höchst bürgerliche Grundtechnologie. Als „neue raffinierte Form des Rechnens und Verwaltens“93 kann der ‚Bürger‘ durch die doppelte Buchführung – also durch einen rein schriftlichen Akt des Wirtschaftens – von seinem Kontor aus, „mit dem Gekritzel im Rechnungsbuch, Schiffe lenken, Reichtümer dirigieren, die Welt und ihre Wege beherrschen, ohne sie wirklich bereisen zu müssen.“94 Vogl vergleicht die Buchführung – und das lässt sich wunderbar auf Joseph übertragen – mit dem Zauberhut des Fortunatus, der seinen Besitzer jederzeit in alle beliebigen Teile des Globus versetzen kann: Ich sitze zu Hause, im Büro, und kann mich mit einem Federstrich, mit einer Abrechnung oder Buchung in alle möglichen Erdteile versetzen, ich steuere von einem Buch aus, mit Papier, Tinte und Zahlen Geschäfte auf dem ganzen Erdball.95

Nicht nur der Modus von Josephs Verwaltungstätigkeiten ist ein medialer, auch seine Politik kann als eine der Vermittlung bezeichnet werden. Im Hinblick auf seine wirtschaftspolitischen Maßnahmen ist Joseph „ein Handelsmann zwischen den Sphären und ein Mittler zwischen oben und unten“ 93 94 95

Kluge, Alexander / Vogl, Joseph: Soll und Haben. Fernsehgespräche. Zürich / Berlin 2009, S. 212. Ebd. Ebd., S. 213. Dass mit der Buchführung die Beherrschung aus der Ferne möglich wird, verdeutlicht auch Kafkas Prosaskizze Poseidon aus dem Jahre 1920. Anstatt „etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten [zu] kutschiere[n]“ (Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main 1992 (Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 302), sitzt der Gott der Meere „an seinem Arbeitstisch und rechnet[…].“ (Ebd., S. 300) Die „Verwaltung aller Gewässer“ (ebd., S. 301) erfolgt aus der „Tiefe des Weltmeeres“, in der Poseidon sitzt und „ununterbrochen“ rechnet. Dieser hat sein Herrschergebiet somit lediglich qua Buchführung, aber „niemals wirklich durchfahren“ (ebd., S. 302).

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

(V, 1454). Das Wirtschaftsprogramm, das er in seinem Gespräch mit Pharao entwirft und das vor allem im Kapitel „Vom schelmischen Diener“ detailliert dargestellt wird, setzt sich in der Hauptsache aus zwei Komponenten zusammen, nämlich aus der Idee der Vorsorge und dem anschließenden Modus der Verteilung – aus zwei Elementen, die, wie im Folgenden gezeigt wird, in engem Verhältnis zur Idee der Vermittlung stehen. Der Ausgangspunkt von Josephs Wirtschaftspolitik besteht zunächst darin, dass er sich den marktökonomischen Mechanismus von Angebot und Nachfrage nutzbar zu machen weiß.96 Mit den Vorsorgemaßnahmen in den Jahren der Fülle schafft er die Basis dafür, dass er in den Jahren der Dürre und des Nahrungsmangels, in Jahren also, in denen die Nachfrage nach seinem gehorteten Korn ins Unermessliche steigt, als alleiniger Anbieter den Markt monopolistisch bedienen kann. Als Wirtschaftshaupt verfügt er über die Preishoheit und kann den Modus festlegen, nach dem das Korn verteilt wird, und macht dabei seinem Namen als Mittler alle Ehre. Denn er misst mit zweierlei Maß und schafft es, mittels seines Verteilungssystems, sowohl den Reichtum Pharaos zu mehren als auch für einen sozialen Ausgleich zu sorgen.97 Auf der einen Seite schröpft er die 96

97

Mit seiner Wirtschaftspolitik verwirklicht Joseph den vom britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946) geforderten Eingriff des Staates in die Wirtschaft. Angesichts zunehmender wirtschaftlicher Instabilität und wirtschaftlicher Krisen forderte Keynes eine Stärkung und Ausweitung der Staatsaufgaben im wirtschaftspolitischen Bereich und erteilte der Vorstellung einer Selbstregulierung des Marktes eine Absage. So plädiert er beispielsweise 1932 in einer Radioansprache Über staatliche Wirtschaftsplanung für eine „staatliche Planung“, deren „Aufgabe es ist, jene Dinge zu tun, die der Einzelne aufgrund der Natur der Sache unmöglich versuchen kann.“ (Hein, Michael (Hg.): John Maynard Keynes. On Air. Der Weltökonom am Mikrofon der BBC. Mit einer Einführung v. Gerhard Willke. Hamburg 2008, S. 100) Ihr Ziel ist es, so Keynes weiter, „die zentralen Steuerinstrumente in die Hand zu nehmen und sie mit überlegter Vorausschau einzusetzen“ (Ebd., S. 101). Denn: „In Zeiten wie diesen findet sich die hervorragendste Gelegenheit für staatliche Planung auf der ganzen Welt allerdings in der Vermeidung oder Milderung von Depressionen, die einen so enormen Verlust der weltweiten Potenziale zur Wertschöpfung mit sich bringen.“ (Ebd., S. 103). Dass Josephs Wirtschaftspolitik unverkennbar Züge der Roosevelt’schen Politik des New Deal trägt, hat die Forschung in zahlreichen Studien nachgewiesen, auf die an dieser Stelle verwiesen sei. Vgl. dazu: Schöll, Joseph im Exil, S. 314 ff. und Siehoff, Josephs „New Deal“. Vgl. auch: Middell, Sozialutopie und „Gottessorge“, v.a. S. 229–241, und Heftrich, Der Homo oeconomicus, S. 166 ff. Thomas Mann selbst hat auf die Parallelen zwischen Josephs Wirtschaftspolitik und Roosevelts New Deal hingewiesen (so in Sechzehn Jahre. Zur amerikanischen Ausgabe von ‚Joseph und seine Brüder‘ in einem Bande, vgl. XI, 680 ) und auch den amerikanischen Präsidenten als den „geborene[n] Mittler überhaupt“ (Thomas Mann an Anton W. Heinitz, 19. April 1945. In: Mann, Thomas: Briefe. Band II: Briefe 1937–1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt am Main 1963, S. 426) und als eine „Hermesnatur gewandter und heiter-kunstvoller Vermittlung“ (XII, 942) angesehen. Hier soll es jedoch weniger um die realpolitischen Parallelen zum New Deal oder die Maßnahmen an sich gehen als vielmehr um den zentralen Aspekt der Vermittlung.

5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung

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Reichen gemäß der Logik von Angebot und Nachfrage und verkauft das Korn zu „unverfrorenen Konjunkturpreisen“ (V, 1761), auf der anderen Seite überlässt er den Armen die Mittel zur Lebenserhaltung kostenfrei. Als Mittler zwischen arm und reich verkaufte [er] denen, die hatten, zu Preisen, die nicht sie bestimmten, sondern er, der unerhörten Geschäftslage entsprechend, so daß er Pharao golden und silbern machte und dennoch zugleich noch geben konnte in einem anderen Sinn: den Kleinen und Rippenmageren nämlich; denen ließ er austeilen […], damit sie lebten und nicht stürben. (V, 1583)

Er verfährt also nach dem doppelten System von „Ausnutzung und Fürsorge“ (V, 1584), „von Ausnutzung der Geschäftslage und Mildtätigkeit, von Staatswucher und fiskalischer Fürsorge“ (V, 1582). Mit seinen Maßnahmen, „die gleichsam nach zwei Seiten funktionierten“ (V, 1758), mit dieser „Verbindung von Volksfürsorge und Kronpolitik“ (V, 1759) stabilisiert Joseph die Macht Pharaos nach zwei Seiten. Zum einen beugt er mit seiner Politik des sozialen Ausgleichs der Unzufriedenheit der armen Bevölkerung vor,98 zum anderen schafft er es aber auch, den Reichen nicht nur das Geld aus der Tasche zu ziehen, sondern diese auch langfristig an die Staatsmacht zu binden. Hierbei macht sich Joseph die Bindungskraft des Geldes zunutze, indem er ein System der Verschuldung und Belastung aufbaut. Er nimmt nicht einfach das ökonomische Kapital der Wohlhabenden – in diesem Fall deren Vieh und vor allem Land – als Bezahlung für das Korn entgegen, sondern praktiziert ein System der „Lombardierung“. Er macht sich den Besitz, also das Land und Vieh der Gaubarone, zwar rechtlich zu eigen, gibt diesen dann jedoch den ursprünglichen Eigentümern, nun mit einer Schuld belastet, zur Bewirtschaftung zurück. Das Vieh wird für Korn „beliehen oder verpfändet“ (V, 1762) und das Landeigentum in Pachtverhältnisse umgewandelt. Die enteigneten Werte werden mit einer „Zinsverpflichtung“ (V, 1765) und somit „belasteterweise“ (V, 1762) zurückgegeben; die ursprünglichen Eigentümer werden zu Schuldnern des Staates und müssen ihrem Gläubiger fortan Zinsen zahlen. Diese finden ihren Ausdruck darin, dass „die mit Saatfrucht Beliehenen nicht mehr ausschließlich für sich selbst, sondern teilweise für Pharao, das heißt: den Staat, die öffentliche Hand arbeiteten.“ Die Schulden garan98

Denn wie Thomas Mann selbst in seiner Deutschen Ansprache von 1930 festhält: „[…] man braucht nicht materialistischer Marxist zu sein, um zu begreifen, daß das politische Fühlen und Denken der Massen weitgehend von ihrem wirtschaftlichen Befinden bestimmt wird, daß sie diese in politische Kritik umsetzen, wie wenn ein kranker Philosoph seine physiologischen Hemmungen ohne ideelle Korrektur in Lebenskritik umsetzte. Es heißt wohl zuviel verlangen, wenn man von einem wirtschaftlich kranken Volk ein gesundes politisches Denken fordert.“ (XI, 871 f.).

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5 Joseph und seine Brüder: Die medialen Qualitäten des Geldes

tieren die „unverbrüchliche Steuerbindung des Fünften“ (V, 1764) und damit die Bindung an den Staat. Indem Verpflichtungen und Schulden produziert werden, wird die Schuldenlogik des Geldes als Medium der sozialen Synthesis eingesetzt. Doch nicht nur innerhalb des Landes garantiert Josephs geschicktes Mittlertum den Zusammenhalt und die Anbindung an den Staatsapparat, sondern auch nach außen sorgt seine Wirtschaftsweise dafür, „daß Untreue gedämpft und Wankelmut gefesselt werde an Pharao’s Thron“ (V, 1476).99 Die ausländischen Herrscher, denen die starke Stellung Ägyptens missfällt, werden durch ein ausgeklügeltes „Belieferungs- und Pfandsystem“ (V, 1767) zur Treue verpflichtet. Indem sie ihre Kinder als Unterpfand nach Ägypten senden müssen, wird dafür gesorgt, „daß fortan Verlaß ist auf ihre Treue“ (V, 1476). Es gelingt Joseph mit den Gesetzen des freien Marktes und Mitteln der Wirtschaftspolitik eine Abhängigkeit zu schaffen, die über ein höheres Bindungs- und Befriedungspotential verfügt als die militärische Strategie der Härtedemonstration, die man bisher verfolgt hatte. Die „wirtschaftliche[n] Fesseln“ erweisen sich als höchst effektiv und ersparen es dem Herrscher, „sein Schwert zu färben“ (V, 1768). Die durch Joseph im Gespräch angeregte und von Pharao anvisierte Idee, daß wir bald vielleicht solche bösen Könige zur Treue werden anhalten und fest an Pharao’s Stuhl werden binden können ganz ohne Blut, auf dem bloßen Geschäftswege (V, 1477),

wird Wirklichkeit. Was mit den Mitteln der Kriegsführung nicht gelungen ist, glückt hier auf ökonomischem Wege; das Geld stiftet als „unblutigere Form des Wirtschaftens“100 zwischenmenschliche Beziehungen, die stabil und dauerhaft sind, indem es allgemein anerkannte Gläubiger-SchuldnerBeziehungen produziert. Dass auf die Kraft der finanziellen Schuld Verlass ist, weiß auch Mai-Sachme, wenn er Joseph rät, den Brüdern das bezahlte Geld in die Säcke zu schmuggeln, damit „sie nur fester gebunden sind, außer noch durch den Bürgen, ans Wiederkommen.“ (V, 1623)101

99

Vgl. dazu auch Wolters, Dierk: Zwischen Metaphysik und Politik. Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ in seiner Zeit. Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 147), S. 309. 100 Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 111. 101 Auch in Der Erwählte ist die Bindungskraft des Geldes der Androhung von Gewalt überlegen. So lässt sich Mahaute, Grigorß’ Pflegemutter, von ihrem Mann Wiglaf nicht durch die Androhung von Prügeln – „Hältst du es [i.e. das Geheimnis] nicht und twaddelst es aus, daß Grigorß ein Fundkind ist von der See, so schlag ich dich blau und lahm.“ – davon abhalten, das Geheimnis auszuplaudern, sondern vielmehr, „weil sie fürchtete, es möchte geschehen sein um Wurst und Buttermilch, wenn sie nicht schwiege.“ (VII, 83).

5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung

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Mit seiner Verschuldungsstrategie gelingt es Joseph nicht nur, einen friedlichen Weg der Machtsicherung einzuschlagen, sondern diesen auch für die Zukunft abzusichern. Die Fronabgaben, die er einführt, sind als „ewige“ konzipiert, und die Landbesitzer werden den verliehenen Boden und die damit verbundene „Zinsverpflichtung“ (V, 1765) von Generation zu Generation weitervererben. Joseph macht sich hier also gerade die Temporalisierung, die jeder Verschuldung inhärent ist, zunutze. Indem er den Grund und Boden nicht einfach als Gegenwert für die Überlassung von Korn an sich nimmt, sondern diesen beleiht – und die ehemaligen Eigentümer damit zu Schuldnern macht –, sorgt er für die Zukunft vor.102 Damit ist auch der Kerngedanke von Josephs Vorsorgepolitik angesprochen, zeichnet sich die „Landesidee der Vorsicht und sichernden Vorsorge“ (V, 1504) doch eben dadurch aus, dass mit der Temporalität des Vor immer auch die Zukunft mitgedacht wird. Mit der Idee der Vorsorge werden die zukünftigen Ereignisse, in Josephs Fall die Jahre der Dürre, in den Blick genommen; die gegenwärtigen Maßnahmen, das Bauen der riesigen Kornspeicher, richten sich nach der zu erwartenden Zukunft und rechnen mit dieser. Im Grunde handelt es sich bei Josephs Vorsorgepolitik somit um ein klares Spekulationsgeschäft, das alle Karten auf ein wahrscheinlich eintreffendes Ereignis setzt. Die Maßnahmen zeichnen sich als zukunftsträchtige Investitionen und Spekulationen aus, deren Ertrag das Risiko103 rechtfertigt.104 Mit seiner Politik greift er die in Ägypten weit verbreitete und fest etablierte „Landesidee“ der Vorsorge und Vorsicht auf, mit der er selbst längst vertraut ist, denn: 102 Und auch hierfür ist eine ordentliche Buchführung, wie Dirk Baecker festhält, unerlässlich: „Buchführung und Schrift dienen keinem anderen Zweck, als Ergebnisse zu notieren, auf die man noch einmal zurückkommen möchte. Zunächst handelt es sich um das Festhalten von Ereignissen, mit denen eine Verschuldung einherging, an die der Gläubiger den Schuldner erinnern können will. […] Der Überblick über die Warenbestände gilt nicht nur der Verwaltung der Bestände, sondern auch der Erinnerung von Her- und Hinkunft, von Schuld und Vermögen.“ (Baecker, Dirk: Die Beobachtung der Paradoxie des Geldes. In: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt am Main 1991, S. 174–186, hier S. 180). 103 Angesichts der klimatischen Bedingungen (vgl. das Kapitel „Von den wässerigen Dingen“ (V, 1577 ff.)) ist eine Dürreperiode in Ägypten durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen. Dies ist auch Pharao (zumindest unterbewusst) bewusst und findet Ausdruck in seinen Träumen. Das Ausmaß der Dürre spielt Joseph und seinem Pharao natürlich in die Hände, doch auch bei etwas milderen klimatischen Umständen, hätte sich die Vorsorgepolitik sicher ausgezahlt. 104 In die Reihe der „großen Spekulanten“ ordnet auch die Süddeutsche Zeitung Joseph ein, und greift in ihrem Artikel über den allerersten Spekulanten dankbar auf Thomas Manns Schilderungen zurück. Vgl.: Unterstöger, Hermann: Der allererste Spekulant. In: Süddeutsche Zeitung, 9.12.2008, S. 27.

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[e]s war zudem beinahe der herrschende Gedanke des Landes, in dem er gewachsen war wie an einer Quelle, Ägyptenlandes, das ein ängstlich Land war, unaufhörlich im Großen und Kleinen bedacht, all seine Schritte und jegliches Tun mit Zauberzeichen und -spruch lückenlos zu sichern gegen lauerndes Übel. (V, 1297)

Der große Unterschied zwischen der bisherigen Praxis und Josephs Maßnahmen besteht darin, dass dieser, um das Unmögliche möglich zu machen und die Zukunft zu steuern, nicht auf Zauberzeichen, sondern auf die Logik des Geldzeichens setzt. In der Wahrnehmung der Landeskinder haftet Josephs Umgang mit den Unsicherheiten dabei durchaus etwas Zauberhaftes an. Seine Politik erscheint „in zauberischem Lichte“ (V, 1759), die Maßnahmen werden zu „zauberhafte[n] Schutzmaßnahmen“ (V, 1581) und „zauberischer Vorsorge“ (V, 1529) stilisiert. Alles, was auf ökonomischem Wege die Zukunft einkalkuliert, mutet die ägyptische Bevölkerung zauberisch an – und so wird auch Josephs Schachzug der Lombardierung als „Verzauberung des Eigentumsbegriffes“ (V, 1766) gedeutet. Wie schon in Königliche Hoheit105 werden auch hier die Handlungen im Zeichen des Geldes, die auf Temporalisierung, Verschuldung und Kredit setzen, zu zauberischen erklärt – und somit dem Bereich des rational unmittelbar Einsichtigen entzogen. Damit wird auch in Ägypten das irrationale (deshalb aber umso faszinierendere) Moment, das jeder modernen Geldwirtschaft innewohnt, offen gelegt. Im zauberischen Zeichen des Geldes ist es möglich, die Zukunft mitzudenken, auf diese zu setzen und in diese zu investieren. Als Fürst der Vermittlung mediatisiert Joseph also auch zwischen dem Hier und Jetzt und der Zukunft.106 Mit dem Gedanken der Vorsorge baut er die „Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft in die Operationen der Wirtschaft“107 ein. Die Idee der Vorsorge ist, wie auch schon im Zauberberg,108 unmittelbar mit der linearen, auf die Zukunft ausgerichteten Zeit verknüpft. Dieser Gedanke findet sich bereits bei Oswald Spengler, der in seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Zeitmessung und Sorge explizit die Verbindung zur ägyptischen Staatsorganisation und Finanzwirtschaft herstellt:

105 Siehe Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit. 106 Auch Luhmann hält fest, dass das „Geld, wie Wirtschaft schlechthin, der Zukunftsvorsorge“ dient. (Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 268). 107 Baecker, Die Unruhe des Geldes, S. 120. Baecker, der in seinem Aufsatz der Unruhe des Geldes nachspürt, sieht diese in der „Temporalisation der Wirtschaft“ (ebd., S. 120) motiviert: „Die Unruhe des Geldes ist ein unmittelbarer Ausdruck dessen, daß Geld selbst nichts anderes ist als eine Ökonomie der Zeit“ (ebd.). 108 Vgl. Kapitel 4.2 dieser Arbeit.

5.4 Joseph, der Fürst der Vermittlung

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Nichts ist sorgenvoller als der Aspekt der ägyptischen Geschichte, in der die Fürsorge für alles Vergangene, Tempel, Namen und Mumien der Vorsorge für alles Kommende entspricht, ein Gefühl, das schon zur Zeit des Cheops, 3000 v. Chr., zu einem tief durchdachten Staatsorganismus und später zu einer so meisterhaft angelegten Finanzwirtschaft geführt hat […].109

In diesem Licht ist auch Josephs entscheidende, für ihn persönlich auf jeden Fall wichtigste Vermittlungsaufgabe zu sehen, die zwischen der väterlichen Sphäre und dem Unterland Ägypten. Gelingt es ihm doch dank der wirtschaftlichen Not des Jaakobsstammes, diesen nach Ägypten zu locken und letztlich dort anzusiedeln. Die Joseph antreibende Idee des Nachkommenlassens findet – unter wirtschaftlichem Druck – ihre Verwirklichung, und er erfüllt im Herabführen seiner Familie in die Unterwelt die ihm heilsgeschichtlich zugedachte Vermittlerrolle im Plan Gottes.110 5.4.3 Die Heilsökonomie Bei aller Gewitztheit seiner Maßnahmen und den Wohltaten, die er Pharao mit seiner Politik erweist, ist Josephs Augenmerk, wie oben ausgeführt, beständig auf das eine Ziel gerichtet, nämlich auf das Nachkom109 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit. Fünfte, unveränderte Auflage. München 1920, S. 189. Vgl. dazu auch Koopmann, Helmut: Der Untergang des Abendlandes und der Aufgang des Morgenlandes. Thomas Mann, die Josephsromane und Spengler. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 300–331, hier v.a. S. 316 f. 110 Alles in allem entwickelt Joseph mit seiner Politik der Vermittlung einen Geist hermetischen Mittlertums und schlüpft zusehends in die Rolle des Gott-Schalks Hermes. Indem er sich zur Mittlerfigur wandelt, geht er in den Spuren von Hermes, dem alles „Unvermittelte […] zuwider“ (IV, 183) ist. Sowohl Josephs Wirtschaftssystem, das „als Manifestation einer verschlagenen Mittlergottheit empfunden wurde“ (IV, 495), als auch seine Tätigkeit als Führer seiner Familie in die Unterwelt legen eine Identifizierung Josephs mit dem heiteren Gott Hermes, „der alle Formen der Vermittlung umschließt“ (Borchmeyer, Heiterkeit contra Faschismus, S. 213), nahe. Die Parallelen sind bereits mehrfach ausführlich dargestellt, vgl. z.B. Berger, Willy R.: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“. Köln / Wien 1971 (Literatur und Leben, Neue Folge 14), S. 250 ff. und ferner Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns ‚Josephsromanen‘. Tübingen / Basel 2002, S. 21 ff. Burghard Dedner weist darauf hin, dass der Wechsel vom Tammuz-Adonis- zum Hermes-Mythos, wie ihn Joseph vor allem im letzten Band vollzieht, auch ein Ausdruck verschiedener Sozialformen (und hier eben vor allem Wirtschaftsformen) ist: „Ist der eine agrarischen Ursprungs“, so ist der Hermes-Mythos die Schöpfung „einer Kultur von Händlern.“ (Dedner, Burghard: Mitleidsethik und Lachritual. Über die Ambivalenz des Komischen in den Josephs-Romanen. In: Thomas Mann Jahrbuch 1 (1988), S. 27–45, hier S. 28) Thomas Mann selbst hält in einem Brief an Karl Kerényi fest, dass Joseph in dem Band, der ihn „als Staats-Geschäftsmann von reichlicher Durchtriebenheit zeigt“, immer mehr in die Rolle eines Hermes wechselt. (Thomas Mann an Karl Kerényi, 18. Februar 1941. In: Mann, Thomas / Kerényi, Karl: Gespräch in Briefen. Hg. v. Karl Kerényi. Zürich 1960, S. 98).

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menlassen Israels. Josephs Vorsorgepolitik zielt letztlich auf die große Vermittlung zwischen Israel und Ägypten, darauf, seine Familie, wie es die Heilsgeschichte vorsieht, nach Ägypten zu holen und dort anzusiedeln. Darin gleicht er seinem Vater Jaakob, der in der globalen Dürreperiode, in einer so ausgebreiteten, viele Völker bedrückenden und ganze wirtschaftliche Umwälzungen hervorrufenden Kalamität […] nichts sah als eine Maßregel zur Leitung und Beförderung der Geschichte seines eigensten Hauses. (V, 1720)

Für die Entwicklung und das Vorankommen des Hauses Israel ist es notwendig, die Heimat zu verlassen und in die Stromsphäre Ägyptens zu ziehen; ein Verharren in Kanaan würde nicht nur das Überleben in der Zeit der Dürre erschweren, sondern auch dem Voranschreiten der eigenen Geschichte nicht förderlich sein. Was hier in den Worten Jaakobs mitschwingt, ist das Bedürfnis nach einer Temporalisierung der eigenen Stammesgeschichte. Indem die Beförderung der Geschichte gefordert wird, setzt sich Jaakob dezidiert von der ‚rollenden Sphäre‘ des Mythos und der Mondgrammatik ab. Nicht mehr die mythische „Immer-Gegenwart, deren Bewegung die ewige Wiederholung ist“111, sondern ein lineares Voranschreiten wird proklamiert. Indem die heilsgeschichtliche Dimension der Zukunft mitgedacht wird – denn nur eine gerichtete Zeit kann auch eine Erlösung oder einen Erlöser bringen –, wird dem statischen, sich wiederholenden Mythos eine Absage erteilt. Ägypten, als symbolischer Raum der Vermittlung, bietet die Möglichkeit, aus diesem auszusteigen und in eine heilsgeschichtliche Zukunft zu schauen.112 Das Land der Ströme stellt den notwendigen Raum für den monotheistischen „Gott[…] der Zukunftspläne“ (IV, 52), den Herrn „aller ersehnten Zukunft“ (IV, 301) dar, dessen „Erfüllung“ und Apotheose noch ausstehen. Voll „Erwartung und unerfüllter Verheißung“ (IV, 433) und mit einem Leidenszug „des NochNicht“ (IV, 434) ist der Blick auf die Zukunft gerichtet. Die ökonomische Zeiten-Wende, die Josephs Politik der temporalen Vermittlung mit einläutet, schafft ein Klima, das dem monotheistischen Gott der Zukunft günstig ist. Seelische und finanzielle Heilserwartungen setzen auf eine Erlösung, die noch aussteht; Heilsgeschichte ist hier also tatsächlich in hohem Maße Heilsökonomie. Doch nicht nur der Fortschrittsgedanke kommt dem heilsgeschichtlichen Zwischenschritt, als der das Nachkommenlassen des Stammes Israel angesehen werden kann, zugute, sondern auch die Tatsache, dass Ägypten 111 Lehnert, Herbert: Ägypten im Bedeutungssystem des Josephromans. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 93–111, hier S. 96. 112 Vgl. hierzu auch Assmann, Jan, Thomas Mann und Ägypten, besonders S. 174 ff. und 195 ff. und auch: Lehnert, Bedeutungssystem, S. 96 f.

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ganz im vermittelnden Zeichen der Schrift steht. Um vom mythischen Modus des repetitiven Geschichtenerzählens erfolgreich auf eine langfristige, sich linear entwickelnde Erlösungsgeschichte umzustellen, ist auf Dauer ein außerkognitiver Wissensspeicher, wie ihn die Schrift bietet, wohl unerlässlich. Der Gegensatz von Oralität und Literalität kann also auch an den von Mythos und Fortschritt gebunden werden und bedient damit das in der abendländischen Kultur und Wissenschaft weit verbreitete Schema, wonach Schriftlichkeit, Fortschritt und Hochkultur von Mündlichkeit und Barbarei dialektisch unterschieden werden.113 Dabei wird der Mangel an Schrift quasi mit einer Art Zustand der Unrechts- und Gesetzlosigkeit gleichgesetzt, zum „Mangel an Schrift gesellte sich nun die Vorstellung, daß im wilden Klima der Vorzeit auch keine Paragraphen wuchsen. Die barbarische Welt ist unrechtlos und daher gesetzlos.“114 An diesen Topos knüpfen Joseph wie auch Jaakob an, wenn sie moralisches Differenzierungsvermögen und Schriftlichkeit gleichsetzen. Joseph, der ja als einziger Spross des Jaakobsstammes schreiben und lesen kann, blickt auf seine nicht alphabetisierten Brüder herab als auf „Leute, die nicht wissen, was Gut und Böse ist“ (IV, 413) – Leute also, die die Kunst der Unterscheidung nicht beherrschen. In der Schulung der Unterscheidungsfähigkeit durch „Wort und Schriftlichkeit“ (IV, 418) liegt auch ein Grund dafür, dass Jaakob, dem Apologeten der Mündlichkeit, daran gelegen ist, dass Joseph Lesen und Schreiben lernt. Denn gerade zur Abgrenzung von den in Kanaan dominierenden und florierenden heidnischen Kulten und Praktiken, vom „Aulasaukaulala“ (IV, 417), schadet die „Zucht […] durchs Buchstäblich-Vernünftige“ (IV, 418) nicht. Mit der Unterscheidung eines Richtig und Falsch und der Verknüpfung dieser Unterscheidungsfähigkeit mit dem schriftlichen Zeichen wird (religionsgeschichtlich) in die Zukunft gegriffen und das, was Jan Assmann die ‚mosaische Unterscheidung‘ nennt – die „Einführung von wahr und falsch in den Bereich der Religion“115, wie sie durch die schriftlichen Gebote erfolgen wird – zum Thema. Indem der Stamm Israel die Sphäre der Mündlichkeit hinter sich lässt und in die der Schriftkultur eintritt, vollzieht er auch den Schritt, der heilsgeschichtlich vorausgreifend den Weg für den Empfang der schriftlichen Gebotstafeln ebnet. Die Welt des schriftlichen Zeichens bietet die ideale Heimat für ein Volk, dessen Gott „die Unterscheidung“ (IV, 308) ist. Mit der Überwin113 Vgl. dazu Mein, Die Abwesenheit des Vaters, der einen guten Überblick über diese Diskussion bietet. 114 Schneider, Manfred: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München / Wien 1997, S. 170. 115 Assmann, Jan, Thomas Mann und Ägypten, S. 183.

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dung der Sphäre des Mythos verlässt der Stamm Jaakobs nicht nur den Bereich der zyklischen Zeit, sondern auch den der Nicht-Unterscheidung; denn im Mythos, so ist zu erfahren, fehlt es „zwischen Sein und Bedeuten […] an jedem Unterscheidungsraum.“ (IV, 32) Die Abgrenzung der eigenen, monotheistischen Religion von Mythos und Heidentum wird im Text also auf zeichentheoretischer Ebene vollzogen. Die Hinwendung zum Gott der Zukunft bedeutet eine Hinwendung zum sprachlichen Schriftzeichen, das mit seiner Abstraktionsleistung ein Medium der Differenz und Unterscheidung ist. Das Schriftzeichen löst sich von der Unmittelbarkeit direkter Referentialität und setzt einen deutlichen Unterschied zwischen Sein und Bedeuten. Ägypten, das Land, das ganz im Banne der Schriftkultur steht, eröffnet dem Jaakobsstamm also eine Ägide des Denkens der Unterscheidung, eines Denkens, das jenseits von unmittelbaren Deckungsansprüchen steht und in hohem Maße ökonomisches Denken ist. Auf dem heilsgeschichtlichen Weg des Stammes Israel ist Ägypten als Land der vermittelnden Zeichen also ein notwendiger Zwischenhalt, denn ohne die Lösung vom zyklischen Zeitbegriff und der unmittelbaren Beschränktheit sind der Fortschritt und die dauerhafte (auch schriftliche) Durchsetzung der eigenen Religion nicht möglich. Und genau diese Vermittlungsarbeit leistet Joseph, indem er im Land der Ströme zum Volkswirt aufsteigt – denn wer könnte die Medialität der Zeichen besser verstehen als ein Ökonom, ist das Geld doch die Vermittlungsinstanz schlechthin. Im Zeichen des Geldes finden (temporaler) Fortschrittsgedanke und der Gedanke der Unterscheidung zusammen. Als Technologie der Zeit enthält das Geld stets ein Versprechen auf etwas Zukünftiges, das noch der Ein-/Erlösung harrt. Mit seiner Position als Volkswirt erfüllt Joseph also die ihm heilsgeschichtlich zugedachte Rolle, denn seine „Aufgabe im Plan war die des in die große Welt versetzten Bewahrers, Ernährers und Erretters der Seinen“ (V, 1520). Indem er als „Staats- und Handelsmann […] in Ägyptenland“ (V, 1637) agiert, entspricht er den an ihn geknüpften Erwartungen.116 Dafür hat er jedoch den Preis „absprechender Liebe“ (V, 1735) zu zahlen, den Preis des Ausstiegs aus der Heilsgeschichte. In seiner Funktion als Volkswirt ist er „kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils“ (V, 1686), sondern ein rein „weltlicher“ (V, 1745) Herrscher. Indem er „auf weltliche Weise, nicht im Sinne des Heils und der Segenserbschaft“ (V, 1744 f.) erhöht wird, tritt er aus der heilsgeschichtlichen Erbfolge aus. Gerade also die Person, die die Seinigen errettet und bewahrt, wird aus der Segenserbfolge ausgeschlossen. Joseph wird, indem und gerade weil er 116 Vgl. auch Heftrich, Der Homo oeconomicus, S. 164.

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eine ökonomische Rolle übernimmt, aus der Heilssphäre verbannt. Damit distanziert sich der Jaakobs-Clan einmal mehr von den kapitalistischen Gefilden der Unterwelt und betont seinen Abstand zur Welt der Ökonomie. Ohne die Stromsphäre und Josephs ökonomische Vermittlungsleistung wäre die Zukunft Israels zwar deutlich in Gefahr gewesen – eine Inklusion des Volkswirtes in die eigene Heilsgeschichte wird dennoch vehement abgelehnt. Wie entscheidend hier die Grenzziehung ist, zeigt sich deutlich daran, dass Jaakob beim ersten Wiedersehen mit dem geliebten Sohn nicht versäumt, diesen sofort und nachhaltig auf seinen, Josephs, Austritt aus der Heilsgeschichte hinzuweisen (vgl. V, 1744 f.). Joseph erlangt somit zwar nicht den geistlichen Segen, verwirklicht in seiner Person jedoch den seiner Mittlerrolle entsprechenden „doppelte[n] Segen, mit dem er gesegnet war, von oben herab und von der Tiefe, die unten liegt“ (V, 1508). Die von Gott im Vorspiel anvisierte und erhoffte „Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt“ (IV, 49), findet im Ökonomen Joseph ihre Realisierung.

6 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: Die Referenzlosigkeit des Geldes Schon beim Lesen des Titels wird der Leser der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil mit der zentralen Problematik des Romans konfrontiert, handelt es sich doch um einen Erzähler, der sich bereits im Titel selbst diskreditiert. Mit dem Hinweis, dass es sich beim Folgenden um die Bekenntnisse eines Hochstaplers handele, wird der Erzähler sogleich als unzuverlässige Instanz markiert, der zu trauen man sich hüten sollte.1 Die im Titel implizit enthaltene Warnung vor zu viel Vertrauen und Glauben in die folgende Narration gibt einen ersten Hinweis auf die Kreditthematik, die im Mittelpunkt des Romans und der folgenden Ausführungen steht. Bei den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, die 1954 in ihrer letztlich fragmentarisch gebliebenen Form erschienen sind, handelt es sich zwar um Thomas Manns letzte Romanveröffentlichung, doch datiert die Beschäftigung mit dem Stoff, wie Hans Wysling belegt hat, bereits zurück bis ins Jahr 1905.2 Ausführlich wurde die Arbeit erst nach Beendigung von Königliche Hoheit (1909) aufgenommen, so dass, nach einer Unterbrechung durch die Novelle Der Tod in Venedig (1911), im Sommer 1913 eine erste Fassung vorliegt; diese umfasst die Handlung bis zum Rozsa-Kapitel. In den folgenden Jahren veröffentlicht und präsentiert Thomas Mann wieder1

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Vgl. dazu den Aufsatz von Kablitz, Andreas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: Der unreliable narrator und die Struktur der Fiktion. In: Comparatio 1 (2009), S. 113–144, der sich ausführlich mit der Figur des unreliable narrators in Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull befasst und resümierend festhält: „Von allem Anfang an also wird unreliability sozusagen zum Markenzeichen dieses Romans.“ (Ebd., S. 144). Zum Irritations- und Interpretationspotential, das die Erzählinstanz im „Vorsatz“ des Zauberbergs einleitend eröffnet, vgl. jüngst: Lepper, Marcel: Vorsätzlich. Zur Struktur des Zauberberg. In: Börnchen, Stefan / Mein, Georg / Schmidt, Gary (Hg.): Thomas Mann. Neue kulturwissenschaftliche Lektüren. München 2012, S. 369–386. Zur Entstehungsgeschichte vgl. die ausführliche Darstellung bei Wysling, Hans: Archivalisches Gewühle. Zur Entstehungsgeschichte der „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. In: Scherrer, Paul / Wysling, Hans (Hg.): Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Bern / München 1967 (Thomas-Mann-Studien 1), S. 234–257. Zur den nicht in die Tat umgesetzten Fortsetzungsplänen vgl. Wysling, Hans: Thomas Manns Pläne zur Fortsetzung des „Krull“. In: Ders.: Dokumente und Untersuchungen. Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung. Bern / München 1974 (Thomas-Mann-Studien 3), S. 149–166.

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6 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: Die Referenzlosigkeit des Geldes

holt Teile des Manuskripts und erwägt verschiedentlich eine Wiederaufnahme der Arbeit. Letztlich fortgesetzt wird der Roman aber erst ab 1951 und findet dann mit dem Erscheinen des ersten Teils der Memoiren im Jahr 1954 auch sein Ende. Diese lange und unterbrechungsreiche Entstehungsgeschichte führt zu einem Roman, den beinahe ein halbes Jahrhundert und sehr viel Lebens- und Zeitgeschichte rahmt – und der die chronologische Reihung der vorliegenden Untersuchung damit zwar etwas sprengt, gleichzeitig aber auch einem abschließenden Gesamtüberblick den Weg ebnet. Mit der Ansiedlung der Handlung ins ausgehende 19. Jahrhundert führt der Roman zurück in die Hochphase der kapitalistischen Modernisierung und an den geldstrommetaphorischen Ausgangspunkt der Untersuchung. Vor allem in den Schilderungen der modernen Großstadt lassen sich Wahrnehmungsmuster, Motivbestände und Denkfiguren identifizieren, die dem eingangs skizzierten Motivarsenal zugeordnet werden können. Gleichzeitig gehen die geldtheoretischen Überlegungen, die im Roman angestellt werden, in ihrer Konsequenz über die der bereits untersuchten Romane hinaus: Felix Krulls Leben auf Kredit führt die vertrauenslogischen Grundlagen der modernen Geldwirtschaft in ihrer Unsicherheit in nuce vor Augen und lässt sich mit seiner Amoralität, seiner geldgleichen Universalität und seiner zeichentheoretischen Willkürlichkeit fast schon in der Nähe sogenannter postmoderner Theoriebildung verorten. Die Engführung von ökonomischen und persönlich-psychischen Konstellationen, wie sie für alle Romane im Verlauf der Untersuchung ausgemacht werden konnte, kulminiert in der Bloßlegung eines (kreditären) Glaubens- und Vertrauensfundamentes als Grundkonstante der menschlichen Existenz. Ökonomische, gesellschaftliche und narrative Glaubensfragen gehen hier also Hand in Hand.

6.1 Die Welt als kapitalistische Schaubühne: (Geld-)Schein und Sein 6.1.1 Die Großstadt des Felix Krull […] mit Staunen und der wohlgefälligsten Ehrerbietung blickte ich, mein Köfferchen auf den Knien, von dem engen Sitz, den ich im Omnibus erobert, hinaus in den flammenden Glanz dieser Avenuen und Plätze, auf das Getümmel ihrer Wagen, das Gedränge der Fußgänger, diese strahlend alles anbietenden Läden, einladenden Café-Restaurants, mit weißem Glüh- oder Bogenlampenlicht das Auge blendenden Theater-Fassaden […]. Das Getöse, durchschrillt von den Schreien der Zeitungsverkäufer, war betäubend, und sinnverwirrend das Licht. (VII, 392)

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Mit diesen Worten beschreibt Felix Krull seine ersten Eindrücke des Paris der Belle Époque und zieht damit sämtliche Register moderner Großstadtwahrnehmung. Im Zentrum seiner Schilderungen steht die moderne Metropole mit ihren Menschenmassen, ihrem Verkehrsgetümmel und Warenangebot, wie sie im 19. Jahrhundert in Erscheinung tritt und die Menschen in ihren Bann schlägt. Gerade in den rapide anwachsenden Großstädten machten sich die Fortschritte und Veränderungen der modernen, industrialisierten und beschleunigten Lebenswelt besonders deutlich bemerkbar – und damit auch besonders erfahrbar. Längst gilt die moderne Metropole, allen voran Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“3, als Kristallisationspunkt moderner Erfahrungen, als „Produkt, aber auch Paradigma der Moderne“4 schlechthin. Die Veränderungen der modernen Lebenswelt – die Steigerung des Lebenstempos, die Beschleunigung von Kommunikation und Verkehr, die zunehmende Elektrifizierung, die Massenproduktion und -konsumption – sind in der Großstadt physisch wahrnehmbar, und diese kann als spezifisch moderne Wahrnehmungswelt charakterisiert werden. Dass die Erfahrung der modernen Metropole sich primär als sinnliche gestaltet, verdeutlicht auch das Eingangszitat, nimmt Felix Krull die Großstadt doch aus der Position eines Beobachters wahr. Was er beschreibt, sind die Sinneseindrücke, die Bilder und Geräusche, die sich ihm während der Fahrt mit dem Omnibus darbieten. Mit diesem sinnlichen Modus der Großstadtbeschreibung knüpft der Text an eine die Literatur der Moderne kennzeichnende Ästhetik an: Die Großstadt wird, so Sabina Becker in ihrer Studie zu Urbanität und Moderne, „in erster Linie visuell erfahren und demzufolge in der ‚Literatur der Moderne‘ über ihre sinnliche Erfahrbarkeit zum Ausdruck gebracht“5. Die sinnverwirrende Beleuchtung durch die Großstadtlichter, die visuellen Eindrücke der Menschen- und Verkehrsmassen sowie die betäubende Geräuschkulisse der Krull’schen Impressionen lassen sich im Kontext einer spezifisch modernen Ästhetik verorten, die ihre Ausdrucksformen den Eindrücken des urbanen Erlebnisses verdankt. Dass die Erfahrungen, die die moderne Großstadt bietet, „auf die ästhetischen Ausdrucksformen von Kunst und Literatur“6 zurückwirken, hält auch Max Weber 1910 in einer Diskussionsrede fest, und führt dort weiter aus, dass 3 4 5 6

Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Ders.: Das PassagenWerk. Erster Teil. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1982 (Gesammelte Schriften V,I), S. 45–59. Becker, Urbanität und Moderne, S. 10. Ebd., S. 23. Ebd., S. 9.

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ganz bestimmte formale Werte in unserer modernen künstlerischen Kultur allerdings nur durch die Existenz der m o d e r n e n G r o ß s t a d t geboren werden konnten, der modernen Großstadt mit Trambahn, mit Untergrundbahn, mit elektrischen und anderen Laternen, Schaufenstern, Konzert- und Restaurationssälen, Cafés, Schloten, Steinmassen, und all dem wilden Tanz der Ton- und Farbenimpressionen, den auf die Sexualphantasie einwirkenden Eindrücken […].7

Die Großstadterfahrungen Felix Krulls bedienen, wie im Folgenden ausführlich dargelegt wird, verschiedene Topoi moderner Großstadtästhetik, und die Beobachtungen und Erlebnisse des Protagonisten können im Diskursgeflecht der Zeit verortet werden. Der Roman greift nicht nur mit der eingangs zitierten „Aufnahme der äußeren Realität bei der Fahrt mit den städtischen Massentransportmitteln“8 – für Becker das „Sinnbild für die urbane Wahrnehmungsform“9 schlechthin – gängige Modi der Großstadtwahrnehmung auf, vielmehr lassen sich auch zentrale Motivkomplexe und ästhetische Textbausteine aufspüren, die als paradigmatisch für die Erfahrung der modernen Metropole in Texten um die Jahrhundertwende gelten können. Einschränkend ist festzuhalten, dass sich die Eindrücke Felix Krulls dem Lesenden nicht unmittelbar eröffnen, sondern, gefiltert durch das Medium der rückblickenden Bekenntnisse, vermittelt werden. Die narrative Ästhetik passt sich hier also den wahrgenommenen Erlebnissen nicht an; der Modus der Erfahrung und Wahrnehmung wird erzählt und beschrieben, aber nicht in die Darstellungsformen transponiert, wie es beispielsweise in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) geschieht.10 Die Erfahrungen der Moderne werden durch die Erzählung des Hochstaplers gebannt und in ihrer unmittelbaren Wirkung oder Bedrohlichkeit gezähmt; wahrgenommen werden sie aber allemal. Der Text weiß also um das Phänomen der modernen Großstadt und greift auch die gängigen Muster der Wahrnehmung auf, er verweigert oder umgeht jedoch die erzählästhetischen Konsequenzen, wie sie sich in anderen literarischen Texten der Entstehungszeit nachweisen lassen.11 Der für die „Kultur des frühen 20. Jahrhunderts paradigmatischen Verbindung von zivilisatorischer 7 8 9 10 11

Weber, Max: Diskussionsrede zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur. Erste Soziologentagung Frankfurt 1910. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Hg. v. Marianne Weber. Tübingen 1988, S. 449–456, hier S. 453. Becker, Urbanität und Moderne, S. 49. Ebd. Vgl. dazu den Aufsatz von Becker, Sabina: Jenseits der Metropolen. Thomas Manns Romanästhetik in der Weimarer Republik. In: Thomas Mann Jahrbuch 22 (2009), S. 83–97. Vgl. dazu ebd. Zu den ästhetischen Möglichkeiten vgl. auch Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, besonders S. 108–176.

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und literarisch-ästhetischer Moderne“12 schließen sich die Bekenntnisse also nur bedingt an. Den „epischen Möglichkeiten und poetischen Innovationen der Modernebewegungen“ wird hier eine „traditionsbewusste Eigenwilligkeit“13 entgegengesetzt, die sich des Mediums der Bekenntnisse bedient, um klassisch modern erzählen zu können. Die Handlung der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull „spielt gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts“ (XI, 704) und fällt damit in eine Zeit höchsten wirtschaftlichen Aufschwungs. Felix ist „wenige Jahre nur nach der glorreichen Gründung des Deutschen Reiches“ (VII, 266) geboren und seine Kindheit fällt, wie die seines Autors, in die „Glorie des neugegründeten Deutschen Reiches“ (XI, 305). Auf die Einigung Deutschlands folgte, nicht zuletzt dank der französischen Reparationszahlungen, die Phase des Gründerbooms, die einer Reihe von Leuten einen enormen Reichtum und damit einen parvenühaften Aufstieg ermöglichte. Spekulanten, Fabrikbesitzer und Eisenbahnkönige von Spoelmann’schem Zuschnitt betraten das Parkett der großen Welt. Eine Madame Houpflé, die einen „reichen Industriellen“ (VII, 446) geheiratet hat, der sein Vermögen dem ‚liquiden‘ Geschäft mit „Straßburger Klosettschüsseln“ – denn die „braucht jeder“ (VII, 448) – verdankt, kann nun in einem Pariser Grand Hotel absteigen, ebenso wie die Familie Twentyman, die „aus kleinbürgerlicher Sphäre […] aufgestiegen war“ (VII, 474). Eine neue Klasse des Geldadels kommt zum Zuge, die ihren frisch erworbenen Reichtum zur Schau stellt und sich und ihren luxuriösen Lebensstil in ganz Europa zelebriert. Geschmückt mit Brillanten und der neuesten Mode gehört man zur Welt der „feinen Leute“, wie sie Heinrich Mann in seinem Roman Im Schlaraffenland (1900) schildert: „Gutes Essen, feine Weine, Weiber, Witze, Kunst und Vergnügen, es ist alles da.“14 Es ist eben diese „Geld-, Diner- und Lustreise-Gesellschaft“15, die das setting des Felix Krull bildet, und die der Protagonist in Frankfurt, Paris und Lissabon kennenlernt. Schauplatz des Romans ist, nachdem Felix seine „kleine Heimat“ (VII, 335) nach dem Bankrott der väterlichen Schaumweinfabrik verlassen hat, die moderne Metropole mit ihren Menschenmassen, ihrem Verkehrsgetümmel und Warenangebot. Der auf dem 12 13 14 15

Becker, Jenseits der Metropolen, S. 83. Ebd. Mann, Heinrich: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten. Mit einem Nachwort v. Wilfried F. Schoeller u. einem Materialanhang, zusammengestellt v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt am Main 2006 (Heinrich Mann Studienausgabe in Einzelbänden), S. 95. Thomas Mann an Hans H. Biermann-Ratjen, 31. Januar 1952. In: Mann, Thomas: Briefe. Band III: 1948–1955 und Nachlese. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt am Main 1965, S. 244. Thomas Mann trifft diese Aussage im Anschluss an seine Lektüre von Marga Bercks ‚Mädchenbriefen‘ Sommer in Lesmona.

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Land aufgewachsene Felix macht seine Erfahrungen mit der urbanen Welt in der „reichen und prächtigen Handelsstadt“ (VII, 336) Frankfurt – dieser „so großen Stadt“ (VII, 335) – und in der „Mammutsiedelung“ (VII, 421) Paris, der Großstadt des 19. Jahrhunderts par excellence. Zur Beschreibung der Eindrücke werden vor allem Bilder des Massenhaften und der Bewegung herangezogen. Menschen und Verkehr treten en gros auf und befinden sich in einer permanenten Unruhe, die mit dem Bild des Fließens oder Strömens gefasst wird. Felix bewegt sich durch die „menschenreichen Gassen“ (VII, 340), der Verkehr zieht als „bunte[r] und lärmende[r] Zug des Lebens“ (VII, 431) an ihm vorüber und auf dem Boulevard des Italiens herrscht „Welttumult“ (VII, 421). Die Menschen betreten als „Strom der Hineinwallenden“ (VII, 341) die Theaterhäuser und entströmen (vgl. VII, 347) diesen auch wieder, und Felix Krull selbst schaukelt auf dem „Getriebe der Großstadt“ und schwimmt im „Strudel der Welt“ (VII, 372). Die Metropole erscheint als dynamisches Gebilde, das aus sich bewegenden Elementen besteht, aus dem Fluss des Verkehrs und dem Strom der Passanten, dem „Getümmel ihrer Wagen“ und dem „Gedränge der Fußgänger“ (VII, 392). Damit findet sich hier nicht nur das für die Beschreibung der Großstadt in der Literatur Ende des 19. Jahrhunderts so beliebte Bild der Ströme16, sondern auch das, nach Sabina Becker, „wichtigste Kennzeichen städtischer Wahrnehmung um 1900“, die „Bewegung“17. Denn, so Becker weiter, die Stadt steht im Zeichen dieser ständigen Bewegung und unterliegt dem Gesetz der Zirkulation, da sie sich in erster Linie aus fluktuierenden Elementen konstituiert: Verkehrsmittel, Menschenmasse, Ware, Geld und Elektrizität.18

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Vgl. dazu Begemann, Christian: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart / Weimar 1995, S. 9 ff. So findet sich das Bild des Menschenstromes bereits in Edgar Allen Poes 1840 veröffentlichter Erzählung Man of the crowd („dense and contiunous tides of population“, „the tumultuous sea of heads“ (Poe, Edgar Allen: The man of the crowd. In: Collected Works of Edgar Allen Poe. Tales and sketches 1831–1842. Hg. v. Thomas Ollive Mabbott. Cambridge / London 1979 (Collected Works of Edgar Allen Poe 2), S. 506–518, hier S. 507)), aber auch noch in Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Dort erinnert sich der Knabe noch abends im Bett an den „Menschenstrom zurück, der durch die Krumme Straße geflutet war.“ (Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In: Ders.: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972 (Gesammelte Schriften IV,1), S. 235–304, hier S. 297). Auch in Benjamins Baudelaire-Essay ist die Rede von der „vom Strom der Kunden umbrausten Ware“ (Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Ders.: Abhandlungen. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974 (Gesammelte Schriften I, 2), S. 509–653, hier S. 558). Becker, Urbanität und Moderne, S. 49. Ebd., S. 50.

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Gerade den drei letztgenannten Elementen – Ware, Geld und Elektrizität – kommt in den Großstadtimpressionen Felix Krulls im Bild der reklameund warenerleuchteten Stadt ein zentraler Stellenwert zu. Besonders bei Nacht und künstlicher Beleuchtung üben sowohl Paris als auch Frankfurt eine enorme Faszination auf den Protagonisten aus.19 Das Paris Felix Krulls erleuchtet sich „strahlend wie gestern, mit bunten, wechselweise erlöschenden und wiederaufflammenden Werbelichtern winkend“ (VII, 433), und erinnert dabei an das Paris, das Thomas Mann in seiner Pariser Rechenschaft von 1926 beschreibt.20 Neben dem „Gebrodel der Straßen“ (XI, 40) registriert der Autor dort das „lichtschleudernde, reklameflammende Paris“ (XI, 97) und zeigt sich fasziniert vom nächtlich beleuchteten Eiffelturm: Er war elektrisch illuminiert. Und wie! Er war vier- oder fünffach illuminiert, wechselte alle paar Minuten das Feuerkleid von oben bis unten. Flammenarabesken, Flammengirlanden, Flammenblumen, -sterne und -inschriften entbrannten, liefen an ihm herunter, verschlangen sich, standen, erloschen und machten neuen Sensationen Platz. Selbst Abraham hätte es prächtig gefunden und wäre vielleicht nicht ausgewandert, hätte der Turm von Esagil dergleichen zu bieten gehabt. (XI, 58f.)

Der Stadt als „magische[r] Lichterstadt“21 kommt sodann vor allem in Felix’ allabendlichen Streifzügen durch die vornehme Frankfurter Welt zentrale Bedeutung zu. Denn um sich die Zeit zu vertreiben, unternimmt dieser bevorzugt dann, wenn „die Geschäftsauslagen sich prächtig zu erleuchten begannen“ (VII, 340), seine Entdeckungsspaziergänge durch die Welt der Großen und Reichen. Er steht „geblendet in dem ungeheuren Licht, welches die Musikhallen, die Spezialitätentheater hinaus auf die Bürgersteige werfen“, und ist so gebannt, dass die Intensität der Beleuchtung sich nur tautologisch als „weiße[…] Helligkeit“ (VII, 341) einfangen lässt. Eine besonders fesselnde Wirkung üben dabei die erleuchteten Schaufenster und Warenauslagen der Geschäfte aus, die „[ü]bertaghell […] erleuchtet“ (VII, 341) sind und die Passanten anlocken. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf die Beschreibungen der Frankfurter Waren- und Schaufensterwelt, an der sich Felix auf seinen Streifzügen berauscht. In dichten, fast absatzlosen parataktischen Reihun19 20

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Zur Rolle von Licht und Beleuchtung in der modernen Großstadt als Ort der Erfahrung der Moderne vgl. allgemein Schlör, Joachim: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930. München / Zürich 1991. Vgl. dazu den Aufsatz von Eilert, Heide: „[…] das lichtschleudernde, reklameflammende Paris“. Thomas Manns Pariser Rechenschaft im Kontext zeitgenössischer Großstadtwahrnehmung. In: Kaiser, Gerhard R. / Tunner, Erika (Hg.): Paris? Paris! Bilder der französischen Metropole in der nicht-fiktionalen deutschsprachigen Prosa zwischen Hermann Bahr und Joseph Roth. Heidelberg 2002 (Jenaer Germanistische Forschungen, N.F. 11), S. 293–307. Ebd., S. 303.

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gen, die das Massenhafte des Warenangebots sprachlich verdeutlichen, werden hier auf mehreren Seiten sämtliche Accessoires und „Bedürfnisse einer hohen und unterschiedenen Lebensführung“ (VII, 342) aufgelistet.22 Das Panoptikum des Warenangebotes reicht von der Inneneinrichtung über Garderobe, Reisegepäck, Schmuck und Kunst bis hin zu den Angeboten von Papeterieläden, Blumenhandlungen, Parfümerien und Friseuren. Die angebotenen Luxusgegenstände ziehen Felix Krull besonders dadurch in ihren Bann, dass sie glänzen, leuchten und golden schimmern; die Liste der wiederkehrenden und zahlreichen Licht- und Glanzattribute, die die optische Wirkung der ausgestellten Waren beschreiben, ist umfangreich.23 Dieses Glanz-Vokabular kann als paradigmatisch für die Beschreibung der faszinierenden Wirkung der Warenpräsentation gelten und erinnert an das bereits 1841 entstandene Kapitel „Warenauslagen und Ankündigungen“ in Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters.24 Auch dort ist von „Gläserkästen, in denen das Ausgesuchteste funkelt und lockt“25, vom „schimmernden Glaskasten“26, dem „Glänzen der Sachen“27, den „glänzenden, lockenden Gläserkästen“28 und der „glänzende[n] Auslage“29 die Rede. Überhaupt ähneln Stifters Beschreibungen der Wiener Auslagen den Krull’schen Ausführungen. Denn auch dort wird, katalogartig, das Warenangebot der einzelnen Läden – von der Schnittwarenhandlung über die Buchhandlung und den Juwelier bis hin zum Pfeifenladen und zur Kunst22

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Auch Benno von Wiese weist auf Thomas Manns „Meisterschaft in der Schilderung der Ding- und Schaufensterwelt“ hin (Wiese, Benno von: Die ‚Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‘ als utopischer Roman. In: Bludau, Beatrix / Heftrich, Eckhart / Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas Mann 1875–1975. Vorträge in München – Zürich – Lübeck. Frankfurt am Main 1977, S. 189–206, hier S. 191), und Julia Bertschik hält fest, dass die „seitenlangen, selbstbezüglichen Elogen“ mit ihrer mit „synästhetischen Effekten ausgestatteten Detailfülle nahezu lyrisch komponiert wirken.“ (Bertschik, Julia: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln u.a. 2005, S. 149). Zu finden sind auf den Seiten 341–344 die folgenden Lexeme aus dem Wortfeld des Glanzes: glänzend, erleuchtet, schimmerte, glühenden, spiegelnden, Glanz, schimmernd, brillantnen, glitzernd, glattgoldene, glasig, Lichtschein, blitzend. Auch Mataja spricht in seinen Ausführungen von den „funkelnden und farbenschimmernden Schaufenstern“ (Mataja, Victor: Großmagazine und Kleinhandel. Leipzig 1891, S. 70). Stifter, Adalbert: Die Mappe meines Urgroßvaters. Letzte Fassung 1867. In: Ders.: Die Mappe meines Urgroßvaters, Schilderungen, Briefe. München 1995, S. 5–276. Zu Stifters Auseinandersetzung mit der Großstadt vgl. Begemann, Die Welt der Zeichen, besonders das 1. Kapitel, und den Aufsatz von Lachinger, Johann: Wien und die Wiener. Stifters zivilisationskritische Perspektiven auf die Großstadt von oben und von unten. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 11 (2004), S. 47–55. Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 397. Ebd., S. 398. Ebd., S. 399. Ebd., S. 400. Ebd., S. 401.

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handlung – in seiner glänzenden, blitzenden und funkelnden Vielfalt aufgezählt.30 So wie sich in Frankfurt „die brillantnen Geschmeide, auf Sammet gebettet, hart glitzernd in allen Farben des Regenbogens“ (VII, 343) präsentieren, so liegt auch in Wien „auf dunklem Samte in Reihen geschlungen der sanfte Schmelz der Perlen, oder blitzt das weiße Feuer des Brillanten“31. Felix erliegt den „verführerischen Anordnungen“ (VII, 342) der Auslagen, die sein „Verlangen“ (VII, 344) entfachen, und ist von den „Schätzen des Märchenlandes“ (VII, 343) gebannt. Von den „leblose[n] Sachbestände[n]“ (VII, 344) geht eine „zauberhafte[…]“ (VII, 343) Kraft aus, eine Macht und Ausstrahlung, die den Waren eine Aura verleiht, die über den einfachen Gebrauchswert der Dinge hinausgeht. Die Ware erscheint hier nicht als „Produkt von Arbeit, sondern wird zum magischen Attraktor“32. In den faszinierten Schilderungen zeigt sich somit das, was Karl Marx als den „mythische[n] Charakter der Ware“33 bezeichnet, der den Dingen anhaftet, sobald sie als Ware auftreten. Im Prozess der Produktion erfahren die Dinge eine Metamorphose zur Ware, „ein ordinär sinnliches Ding“ verwandelt sich in ein „sinnlich übersinnliches Ding“34. In Felix Krulls Schilderungen tritt der von Marx identifizierte „Mystizismus der Warenwelt, all der Zauber und Spuk, welcher Arbeitsprodukte […] umnebelt“35, auf. Die Dinge treten als Fetische im Marx’schen Sinne in Erscheinung, indem sie einen „seltsamen Doppelstatus“ von „Ding und Symbol, Immanenz und Transzendenz“36 in sich vereinen. Über ihren immanenten Status als Dinge hinaus, transportieren und entfachen sie Suggestionen von Lust, Glück und Partizipation. Dieser „wahrhaft verführerische[…] Geschmack“37, der sich auch laut Adalbert Stifter in der Anordnung der Waren kundtut, ist Felix 30

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Auch Adalbert Stifter verwendet hier (ebd., S. 402–404) viele parataktische, oft asyndetische Reihungen, um die Vielfalt und Dimension des Massenhaften des Warenangebotes darzustellen. Die Ähnlichkeit der beiden Passagen verblüfft; nach Eigenaussagen Thomas Manns war ihm Stifters Text zur Zeit der Entstehung der Passage des Felix Krull nicht bekannt. Im Oktober 1917 schreibt er an Philipp Witkop: „Kürzlich lernte ich Adalbert Stifter kennen, von dem ich, denken Sie, überhaupt noch nichts gelesen hatte.“ (Thomas Mann an Philipp Witkop, 4. Oktober 1917. In: Mann, Thomas: Briefe. Band I: Briefe 1889–1936. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt am Main 1961, S. 140). Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 403. Wegmann, Thomas: Erzählen vor dem Schaufenster. Zu einem literarischen Topos in Thomas Manns Gladius Dei und anderer Prosa um 1900. In: IASL 33 (2008), S. 48–71, hier S. 61. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I. Der Produktionsprozess des Kapitals. Hg. v. Friedrich Engels. Berlin 1953, S. 77. Ebd., S. 76. Ebd., S. 82. Böhme, Fetischismus und Kultur, S. 287. Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 401.

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Krulls Schilderungen der Frankfurter Warenwelt zu entnehmen. Die Begehrlichkeiten, die die ausgestellten Dinge wecken, sind dabei deutlich sexuell konnotiert, wenn sie als „verführerisch“ (VII, 343) und das Verlangen reizend beschrieben werden. Felix’ „Begierde“ (VII, 343) wird so weit stimuliert, dass er sich nach einer Berührung mit den Objekten „einer höheren und gebildeten Augenlust“ (VII, 342) sehnt und nur zu gern „die gestreckten und edlen Leiber liebkosend mit [s]einer Hand umfaßt“ (VII, 343) hätte. Um ihre zauberhafte und glänzende Wirkung entfalten zu können, sind die Dinge vor allem von der optischen Wahrnehmung der Rezipienten abhängig. Das Medium des Schaufensters und die Logik der Warenpräsentation sind primär auf die sichtbare Wirkung ausgerichtet und üben visuellen Reiz auf den Betrachtenden aus. Bei Adalbert Stifter lässt der Verkäufer „die Sache gelassen selber reden“, indem er sie ausstellt und denkt „Jetzt seht“38. Das Neue, Aufregende und Herausfordernde der modernen Metropole ist vor allem der „noch nie in aller Geschichte menschlichen Augen dargebotene Eindruck“, derjenige „eigentümliche[…] Eindruck, den die moderne Großstadt schon am Tag, aber vollendet in überwältigender Weise bei Nacht macht“.39 Auch in den Bekenntnissen ist die Großstadt als visuelles Erlebnis und optisches Abenteuer dargestellt, wenn der Protagonist den ersten Kontakt über die Augen aufnimmt und sich an den „dem schönen Leben abgestohlenen Schaugenüsse[n]“ (VII, 346) delektiert. Er befriedigt seine „Augenlust“ (VII, 342) an den Schaufenstern und Auslagen Frankfurts und erobert sich durch „bloße[s] Schauen“ (VII, 347) die Welt: „er schaut, er genießt, er nimmt auf“. (VII, 341). Aus der Position des Beobachters heraus lernt er die Stadt kennen und drückt seine „Stirn und Nase an große Glasscheiben, um durch den Spalt cremefarbener Vorhänge in das Innere vornehmer Restaurants zu blicken“ (VII, 346). Felix erinnert hierin stark an den von Baudelaire in Der Maler des modernen Lebens (1863) als „leidenschaftlichen Beobachter“40 gelobten französischen Maler Constantin Guys, der seine Bilder des ‚modernen Lebens‘ seinen Streifzügen durch die Pariser Großstadt, „die große Wüste der Menschen“41, zu verdanken hat. Wie Felix sieht er „das strömende Leben in schimmernder Majestät vorüberziehen“

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Ebd., S. 397. Weber, Zu W. Sombarts Vortrag, S. 453 f. Baudelaire, Charles: Der Maler des modernen Lebens. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860. München / Wien 1989 (Sämtliche Werke / Briefe, Band 5), S. 213–258, hier S. 222. Ebd., S. 225.

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und „bewundert die ewige Schönheit und die erstaunliche Harmonie des Großstadtlebens“42. Für die Wahrnehmung der Eindrücke kommt also dem Auge eine wichtige Bedeutung zu.43 Es ist das Sinnesorgan, das die Schaugenüsse begierig aufnimmt, und der Gang durch die moderne Stadt wird, wie Honoré de Balzac es formuliert, zur „gastronomie de l’oeil“44. Um den Wert dieses Organs weiß auch Felix, wenn er es, im Anschluss an seine Frankfurter Schauerlebnisse und -genüsse, geradezu hymnisch lobt als „Juwel aller organischen Bildung“ und als „kostbare[s] Gallert“ (VII, 348). Auf die zentrale Bedeutung des Auges für die Wahrnehmung der modernen Großstadt weist auch schon Balzac in seinen Pariser Novellen hin, 42

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Ebd., S. 223. Felix entspricht auf seinen Streifzügen durchaus der von Baudelaire hier skizzierten Erscheinung des Pariser Flaneurs, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trat. Die zum Flanieren nötigen Qualitäten, wie sie Charles Baudelaire in Les foules schildert, kann das Sonntagskind Felix durchaus aufweisen, ja die folgende Beschreibung Baudelaires scheint geradezu auf ihn zugeschnitten: „Nicht jedem ist es gegeben, ein Bad in der Menge zu nehmen: die Menge zu genießen, ist eine Kunst; und der allein versteht es, auf Kosten des Menschengeschlechts sich Lebenskraft zu erschwelgen, dem in seiner Wiege schon eine Fee die Lust zur Verkleidung und zur Maske, den Abscheu vor der Seßhaftigkeit und einen leidenschaftlichen Reisetrieb eingegeben hat.“ (Baudelaire, Charles: Die Menge. In: Ders.: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa. München / Wien 1985 (Sämtliche Werke / Briefe, Band 8), S. 148–151, hier S. 149) Zur Figur des Flaneurs als spezifische Erscheinung der Moderne vgl.: Neumeyer, Harald: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg 1999 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 252) und Gomolla, Stephanie: Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg 2009 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 46). Mit seiner inneren Distanz zur Menge, seinem „Flanieren“ (VII, 433) durch die Stadt und dem Beobachter-Habitus entspricht Felix der Figur des Flaneurs, in dem sich die „Stadterfahrung, und das heißt in der historischen Situation um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris, die Erfahrung der großstädtischen Masse inkarniert“ (Groh, Dieter: Kompensationsmodell – Historismusbegriff – Flaneurtypus. In: Pfeiffer, Helmut / Jauss, Hans R. / Gaillard, Francoise (Hg.): Art social und art industriel. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus. München 1987 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 77), S. 48–52, hier S. 51). Der Flaneur lässt, wie Felix Krull, die „visuelle, ästhetische Anziehungskraft auf sich wirken“ (Ortheil, Hanns-Josef: Der lange Abschied vom Flaneur. In: Merkur 40 (1986), S. 30–42, hier S. 31) und nimmt die Metropole, an die er gebunden ist, gehend und sehend wahr: „Indem er scheinbar ziellos die Straßen seiner Stadt durchquert, nimmt er sie auch schon in Besitz. Visuelle Teilhabe am Geschehen ist ihm geradezu Lebenselixier. Sie ermöglicht es, der Menschen und Dinge, die da vorüberziehen, gewahr zu werden, ohne selbst behaftbar zu sein.“ (Alt, Peter-André: Flaneure, Voyeure, Lauscher an der Wand. Zur literarischen Phänomenologie des Gehens, Schauens und Horchens bei Kafka. In: Neue Rundschau 98 (1987), S. 121–139, hier S. 121). Felix Krulls Großstadt-Verhalten, das aus Flanieren, Beobachtung und Distanzhalten besteht, entspricht ganz dieser Logik der visuellen Teilhabe ohne Behaftbarmachung. Vgl. dazu auch das Kapitel „Lehrjahre der Blicke“ bei Curtius, Mechthild: Erotische Phantasien bei Thomas Mann. Wälsungenblut, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Der Erwählte, Die vertauschten Köpfe, Joseph in Ägypten. Königstein/Ts. 1984, S. 26 ff. Balzac, Honoré de: Physiologie du mariage ou méditations de philosophie éclectique sur le bonheur et le malheur conjugal. Paris 1891 (oeuvres complètes 39), S. 28.

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wie der folgende Auszug aus Noch ein Gaudissart (1844) zu veranschaulichen vermag, der wie gemünzt auf das Paris des Felix Krull scheint: Es handelt sich doch immer nur darum, dem gierigsten und übersättigtsten Organ zu gefallen, das sich beim Menschen seit der römischen Gesellschaft entwickelt hat, dessen Ansprüche dank den Bemühungen des raffiniertesten Fortschritts grenzenlos geworden sind. Dieses Organ ist das Auge der Pariser! … Es verschlingt Feuerwerke im Wert von hunderttausend Franken, Paläste aus vielfarbigem Glas, die zwei Kilometer lang und sechzig Meter hoch sind, allabendliche Feenschauspiele in vierzehn Theatern, Panoramen, die das Leben selbst vortäuschen, unaufhörliche Ausstellungen von Meisterwerken, Welten von Schmerz und Universen von Freude auf einem einzigen Spaziergang über die Boulevards oder einer Streiferei durch die Straßen. […] Dieses Auge trinkt für fünfzehtausend Franken Gas jeden Abend, und um es zufriedenzustellen, verschwendet die Stadt Paris Jahr für Jahr einige Millionen in Anlagen und Ausblicken.45

Wie Felix’ Schilderungen verdeutlichen, entfalten die Dinge gerade dadurch, dass sie ausgestellt sind, ihre besondere Wirkungsmacht. Es zeigt sich hier das, was Georg Simmel die „Schaufenster-Qualität der Dinge“ nennt, die den „Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende Außenseite“46 gibt. Thomas Wegmann spricht in diesem Zusammenhang vom „Ausstellungswert“47 der Ware, der neben den Tausch- und Produktionswert tritt. Besonderes Gewicht kommt hier also dem Medium des Schaufensters zu, das in den Zeiten des aufkommenden Massenkonsums zunehmend an Bedeutung gewann. Adalbert Stifter hält 1841 in dem bereits oben angeführten Kapitel zu den „Warenauslagen und Ankündigungen“ fest, daß namentlich die Warenauslagkästen immer mehr und mehr werden, so daß an gewissen Plätzen Wiens buchstäblich streckenlang kein einziges Mauerstückchen des Erdgeschoßes zu sehen ist, sondern lauter aneinandergereihte, elegante, hohe Gläserkästen, in denen das Ausgesuchteste funkelt und lockt.48 45 46

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Balzac, Honoré de: Noch ein Gaudissart. In: Ders.: Pariser Novellen. Berlin 1923, S. 149– 163, hier S. 149 f. Simmel, Georg: Berliner Gewerbe-Ausstellung [25.7.1896]. In: Ders.: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918. Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1889–1920. Bearbeitet u. hg. v. Klaus Christian Köhnke unter Mitarbeit v. Cornelia Jaenichen u. Erwin Schullerus. Frankfurt am Main 2004 (Georg Simmel Gesamtausgabe 17), S. 33–38, hier S. 36 f. Wegmann, Erzählen vor dem Schaufenster, S. 53. Vgl. auch Wegmann, Thomas: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000. Göttingen 2011, S. 140. Der Schriftsteller und Volkswirtschaftler Alfons Paquet spricht in seiner Dissertation zum Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft vom „Sehens- oder Schauwert“ der Dinge (Paquet, Alfons: Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft. Jena 1908 (Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena 5), S. 4). Vgl. dazu auch das Kapitel „Der Schauwert der Dinge“ bei König, Gudrun M.: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900. Wien u.a. 2009, S. 183–186. Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 397.

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Das Schaufenster erweist sich als das geeignete Instrument, um die Waren so zu präsentieren, dass sie „unsere Leidenschaft und Begierde reizen“49. Dies stellt auch Felix Krull in seiner Lobrede auf die Institution Schaufenster fest: Welch eine glückliche Einrichtung ist nicht auch das Schaufenster und daß Läden, Basare, Handelssalons, daß die Verkaufsstätten und Stapelplätze des Luxus ihre Schätze nicht engherzig im Innern bergen, sondern sie breit und reichlich, in erschöpfender Auswahl nach außen werfen, hinter prächtigen Glasscheiben auslegen und glänzend anbieten! (VII, 341)

Felix bewegt sich hier ganz im Diskurs seiner Zeit, wie auch ein Blick in die Abhandlung von Paul Göhre über Das Warenhaus belegt, wo anerkennend festgehalten wird, dass die Schaufenster „von den Schätzen [zeigen], die im Hause zu haben sind. Sie locken wohl, aber sie drängen nichts auf.“50 Und an anderer Stelle heißt es, das Schaufenster muss „prunken, muß locken, die Begehrlichkeit reizen.“51 Dem Schaufenster gelingt es, eine magisch-erotische Anziehungskraft der Dinge zu evozieren, die die Begierde des Betrachters entfacht. Dass es dabei vom Theater und dessen Inszenierungs- und Beleuchtungstechniken lernen kann, verdeutlicht das folgende Zitat aus Karl Ernst Osthaus’ Auseinandersetzung mit dem Schaufenster und dem Architekten August Endell, dem „größte[n] Magier unter den Schaufensterkünstlern Berlins“52. Hier zeigt sich zudem, dass nicht nur die literarische Verarbeitung von der poetischen und vor allem erotischen Wirkung des Schaufensters zu berichten weiß: Die verdeckte Beleuchtung, die dem Beschauer die Lichtquelle verbirgt, um die Ware um so heller hervortreten zu lassen, war als Vermächtnis der Bühne schon in die Auslagen eingetreten. In Endells Händen aber gewann das Licht erst seinen mystischen Zauber. Mit funkelnden Flächen tieffarbiger Gläser verschloß es die Beleuchtungskästen gegen die Straße, aus denen das Licht von oben über die Ware herabrieselt. Warenzeichen gleißen, zu magischen Zeichen gewandelt, mit heißen Zügen daraus hervor. […] Was in dem Zauberschreine dargeboten wird, ist allemal etwas Kostbares, und wären es nur Stiefel aus schwarzem Leder. Endell hat es fertig gebracht, aus ihnen ein Ding zu machen, um das ein faszinierendes Leuchten aus Tausend und Einer Nacht flirrt. […] Hier steht der Wandernde gebannt; Kleider aus Seide umrauschen ihn und vor ihm öffnen sich Lippen, die er – in diesen Stiefeln – küssen wird.53

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Ebd., S. 396. Göhre, Paul: Das Warenhaus. Frankfurt am Main 1907 (Die Gesellschaft 12), S. 10. Osthaus, Karl Ernst: Das Schaufenster. In: Die Kunst in Industrie und Handel. Jahrbuch des deutschen Werkbundes 1913, S. 59–69, hier S. 59. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63.

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Die Logik des Ausstellens, In-Szene-Setzens und die Dialektik von Zeigen und Betrachten entfalten im Schaufenster ihre volle Wirkung.54 Das Schaufenster leistet eine Theatralisierung der Waren und eröffnet mit der trennenden Glasscheibe, die meist eingerahmt ist, eine Art Bühne, auf der die ausgestellten Dinge ihren Auftritt haben. Der Scheibe kommt dabei zum einen die Funktion der Trennung von Bühne und Zuschauer zu und damit zum anderen die der Herstellung von Begehren. Denn gerade dadurch, dass man die ausgestellten Dinge nicht unmittelbar besitzen kann, erhöht sich der Wunsch nach diesen. „Erst die Repulsionen, die wir von Objekten erfahren, die Schwierigkeiten seiner Erlangung, die Warte- und Arbeitszeit, die sich zwischen Wunsch und Erfüllung schieben“55, so Georg Simmel, führen zu dem eigentlichen Begehren: Auch zu dem eigentlichen Begehren der Dinge, […] kommt es erst da, wo Wunsch und Erfüllung nicht zusammenfallen. Die Möglichkeit des Genusses muß sich erst, als ein Zukunftsbild, von unserem augenblicklichen Zustand getrennt haben, damit wir die Dinge begehren, die nun in Distanz von uns stehen.56

Die Spannung zwischen Traum und Realisierung spürt auch Felix, wenn seine „Begierde […] von allen Schätzen des Märchenlandes“ durch „nichts als eine gebrechliche Glasscheibe“ (VII, 343) getrennt ist. Den Schaufenstern mit ihrer „magische[n] Suggestion“ gelingt es also, beim Zuschauer den Gedanken zu wecken: „Dich muß ich besitzen“57; sie präsentieren eine verheißungsvolle, großartige Welt, die angefüllt ist mit den Schätzen des Märchenlandes, und locken mit dem Versprechen von Wunscherfüllung und Partizipation. Sie beschwören die Möglichkeit einer luxuriösen 54 55 56 57

Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Wegmann (Wegmann, Erzählen vom Schaufenster), der sich darin u.a. mit dem Schaufenster in Thomas Manns Novelle Gladius Dei beschäftigt. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 43. Ebd., S. 42. Osthaus, Das Schaufenster, S. 62. Das weiß auch Jaakob in Thomas Manns Romantetralogie Joseph und seine Brüder, wenn er zögert, Joseph das Schleiergewand Rahels zu zeigen, da er befürchtet, das Begehren seines Sohnes damit zu entfachen, denn: „Sehen ist nicht Haben. Aber Sehen ist Habenwollen.“ (IV, 480) Interessant an diesem Gespräch ist, dass auch Joseph hier auf die Logik des Waren-Ausstellens eingeht und vorschlägt, das Kleid-Zeigen als Rollenspiel zu inszenieren, in dem Jaakob die Rolle des Kaufmanns übernehmen soll: „Du aber gehst und weist mir das Festkleid, nimmst es und hältst es vor dich, wie im Gewölbe der Kaufmann zu Hebron dem Käufer die Ware zeigt und läßt an sich hinabhängen das Gewebe vor den Augen des Lüsternen. Der aber ist arm und kann’s nicht kaufen. Da verbirgt der Kaufmann es wieder.“ (IV, 481) Ganz wie Felix erliegt Joseph dann der glitzernden Aura der Ware („Metallstickereien glitzerten“, „Silber- und Goldblitze überblendeten“ (IV, 481)) und macht sich sogleich daran, den „trennenden Raum“ zwischen sich und dem Gewand zu schließen. Mit „Methoden, deren Schlauheit und Anmut man am besten tut ruhig anzuerkennen,“ und dem Appell „Kaufmann, schenk es mir!“ (IV, 482) bringt er es schließlich auch in seinen Besitz.

6.1 Die Welt als kapitalistische Schaubühne: (Geld-)Schein und Sein

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und besseren Welt, jedoch ohne direkte Einlösung. Der Protagonist durchlebt mit dem Vor-dem-Schaufenster-Stehen einen entscheidenden Initiationsritus der Moderne, der, so Thomas Wegmann, ein spezifisches Trennungserlebnis vermittelt und habitualisiert: Wie die Statistik Ereignis und Ursache trennt, weil letztere in ihr gar nicht mehr vorkommt, trennt das Schaufenster Verführung und Erfüllung. Man kann von nun an kaufen, was man nicht haben will, und haben wollen, was man nicht kaufen kann.58

Diese Diskrepanz zwischen Begehren und Erfüllung ist erstmals beim Besuch des jungen Felix im Delikatessenladen zu beobachten.59 Allerdings findet dieser sich hier nicht durch eine Scheibe von den Gegenständen „des Gelobten Landes“ (VII, 307) getrennt, sondern kann – er ist zu seiner Freude ganz allein im Laden – den kindlichen Traum vom Griff ins „Schlaraffenland“, in „gewisse unterirdische Schatzkammern“ (VII, 308) realisieren. Güter, die ihm nach der kapitalistischen Aneignungslogik von Kauf und Verkauf eigentlich verwehrt bleiben müssten, also „Traumgüter“, können „in die Wirklichkeit“ (VII, 310) hinübergerettet werden: Ja, das war ein Märchen oder ein Traum! Ich sah die schwerfällige Ordnung und Gesetzlichkeit des Alltages aufgehoben, die Hindernisse und Umständlichkeiten, die im gemeinen Leben sich der Begierde entgegenstellen, auf schwebende und glückselige Weise beiseite geräumt. (VII, 308)

Mit seinem Diebstahl – euphemistisch als „traumhafte[…] Griffe in die Süßigkeiten des Lebens“ (VII, 310) apostrophiert – umgeht Felix die Schranken, die sich dem Warenbetrachter im Normalfall darbieten. Der evozierte Wunsch nach den Gegenständen des Schlaraffenlandes wird hier erfüllt, das Begehren jenseits der Mechanismen des Kapitalismus befriedigt. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull „die Epoche der Technik, des Fortschritts und der Massen“60 im Medium der Großstadt verarbeitet und wahrgenommen

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Wegmann, Erzählen vor dem Schaufenster, S. 55. In den Schilderungen der dichten „Reihen von Schinken und Würsten“ (VII, 307) jeglicher Form und Couleur, des „prahlerische[n] Überfluß[es]“ der Leckerbissen und der „braunglänzende[n] Honigkuchen“ (VII, 308) findet sich bereits die in der Frankfurter Schaufenster-Schilderung wieder aufgenommene Kombination von Glanz und Masse, und auch schon der junge Felix erliegt der Faszination der „gläsernen Schaukästen“ (VII, 307) und wird von diesen „[v]erzaubert“ (VII, 308). So Thomas Manns rückblickende Diagnose aus dem Jahr 1950 in Meine Zeit auf das „neue Zeitalter, das Goethe mit tiefem Mißtrauen heraufkommen sah und das er mit einem sehr besorgten, sehr zweifelnden Wort das Zeitalter der ‚Fazilitäten‘ nannte: die Epoche der Technik, des Fortschritts und der Massen, diese Epoche, die in unseren geängstigten Tagen, im Laufe von hundertzwanzig Jahren, auf ihren schwindelnden und absolut abenteuerlichen Gipfel gelangt ist.“ (XI, 304).

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wird. Das Bild, das der Hochstapler dabei von der modernen Großstadt entwirft, ist ein glänzendes, faszinierendes und verlockendes. Sein Blick ist affirmativ und positiv, sein Fokus dabei jedoch sehr selektiv. Wahrgenommen wird primär die Welt der Reichen und Schönen, es werden vor allem „Szenen der schönen Welt“ (VII, 344) angeboten. Die Kehrseite von Industrialisierung, Vermassung und Urbanisierung wird weitestgehend ausgeblendet. Armut und soziales Elend spielen kaum eine Rolle, sie haben in den Impressionsbeschreibungen des Hochstaplers keinen Platz und dringen nicht auf diesen ein. Die moderne Großstadt mit ihren Menschenmassen, ihren Verkehrsströmen und ihrem überbordenden Warenangebot wird als verlockende Spielwiese für den Hochstapler und Künstler dargestellt. 6.1.2 Die Gesellschaft und ihr Glaube Die Verbindung von Schaustellung, Theater, Glanz und Verführung, die in Felix’ faszinierten Schilderungen der Frankfurter Schaufensterwelt ihren Ausdruck findet, kann als allgemeines Prinzip angesehen werden, nach dem die Welt in den Bekenntnissen funktioniert. Felix Krull lernt schon als Kind, dass das, worauf es ankommt, der schöne Schein ist: Wahrgenommen und geglaubt wird das, was das Auge sieht und aufnimmt. Entsprechend der Logik der glänzenden Warenausstellungen wird alles, was leuchtet und vornehm schimmert, für wahr und voll genommen. Entscheidend sind die äußere Ausstattung, das Erscheinungsbild und das Auftreten. So täuscht die „blendende[…] Aufmachung“ (VII, 268) der väterlichen Schaumweinflaschen, „das Äußere [der] Flaschen“ (VII, 267),61 über den wenig vorteilhaften Geschmack des Getränks hinweg, ebenso wie Felix’ perfekt inszenierter Auftritt als Geigenwunderkind – er ist „ansprechend ausstaffiert“ (VII, 281) – verschleiert, dass er gar nicht Geige spielen kann. Denn was allein für das Publikum zählt: „Man sah ein Wunderkind.“ (VII, 281) Das wichtigste Initiationserlebnis62 in dieser Hinsicht ist für Felix der Theaterbesuch, den er mit seinem Vater unternimmt und den er selbst zu den „entscheidenden Eindrücken“ (VII, 287) seines Lebens zählt. Im

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Auch hier wird, wie in den Schilderungen der Warenwelt, die blendende Aufmachung mit Glanzattributen („Silberdraht“, „vergoldetem Bindfaden“, „Goldschnur“, „glänzendem Stanniol“ (VII, 268)) beschrieben. Vgl. dazu auch Wysling, Hans: Narzißmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. Bern / München 1982 (Thomas-Mann-Studien 5), S. 120 f.

6.1 Die Welt als kapitalistische Schaubühne: (Geld-)Schein und Sein

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kleinen Rahmen des Wiesbadener Stadttheaters erfährt Felix die Spielregeln des großen Welttheaters. Er muss erkennen, dass das Glänzende, Märchenhafte und Verführerische der Darbietung Müller-Rosés – auch hier werden die immer gleichen Bildbereiche perpetuiert63 – nicht dem tatsächlichen Dasein des Schauspielers entspricht.64 In einer Art Vorhernachher-Dichotomie, die dadurch verstärkt wird, dass der Schauspieler harlekinisch nur zur Hälfte abgeschminkt ist, entpuppt sich die glänzende Bühnenerscheinung als eine Felix’ Ekel erregende Gestalt, der er „eine besondere Belehrung und Aufklärung“ (VII, 293) über sich und die Welt verdankt: Dies also […], dies verschmierte und aussätzige Individuum ist der Herzensdieb, zu dem soeben die graue Menge sehnsüchtig emporträumte! Dieser unappetitliche Erdenwurm ist die wahre Gestalt des seligen Falters, in welchem eben noch tausend betrogene Augen die Verwirklichung ihres heimlichen Traumes von Schönheit, Leichtigkeit und Vollkommenheit zu erblicken glaubten! […] Die erwachsenen und im üblichen Maße lebenskundigen Leute aber, die sich so willig, ja gierig von ihm betören ließen, mußten sie nicht wissen, daß sie betrogen wurden? Oder achteten sie in stillschweigendem Einverständnis den Betrug nicht für Betrug? (VII, 293f.)

Felix lernt auf recht drastische Weise die Welt zu durchschauen und erhält einen Einblick in deren illusionären Charakter. Er begreift, dass der schöne Schein nicht immer mit dem Sein zusammenfällt. Offengelegt wird ein weiterer, wichtiger Aspekt, der Felix in seiner späteren Hochstapler-Laufbahn zu Gute kommen wird, nämlich die Tatsache, dass es bei dem großangelegten Weltschauspiel nicht um eine betrügerisch angelegte Vorspiegelung falscher Wahrheiten geht, sondern um die Befriedigung des Traumes von Schönheit, Leichtigkeit und Vollkommenheit (vgl. VII, 294). Die Menschen sind in der Regel bereit, sich verführen und blenden zu

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Müller-Rosé hat einen „schimmernd frisierten Kopf“, tritt als „Traum- und Musterbild […] mit idealischen Glanzlichtern versehen“ auf, und „Diamantknöpfe“ sowie „Brillanten“ verleihen ihm alles in allem „eine bezaubernde Folie“ (VII, 288 f.). Der Gang hinter die Bühne erweist sich als eine Höllenfahrt, aus der Felix mit einem Zugewinn an Erkenntnis und der Einsicht in die Beschaffenheit der Welt wieder hervorgeht. So führt ihn der Weg fort von der blendenden Bühnendarstellung in die düstere Realität durch eine „finstere Loge“ und „durch eine schmale Eisentür“ einen Gang entlang, „in dessen eingeschlossener Luft offene Gasflammen brannten.“ Begleitet von derben Äußerungen, „Schimpfen, Lachen und Schwatzen“, gelangt Felix mit seinem Vater bis zu Müller-Rosé, der die beiden mit den adäquaten Worten „Was, zum Deibel!“ (VII, 291) in dem „von einem eisernen Ofen überheizten Raum“ (VII, 292) begrüßt. Zudem ist das primäre Kennzeichen des abgeschminkten Schauspielers die Farbe Rot. Mit seinem „rotgelb[en]“ Antlitz, seinen roten Haaren und seinen „abscheuliche[n] Pickel[n], rot umrändert, mit Eiterköpfen versehen, auch blutend zum Teil“ (ebd.) bietet er einen teuflischen Anblick.

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lassen, sie wollen an ihre Träume glauben. Auch der Vater gibt mit seinem schlechten Schaumwein in glänzender Hülle, wie er selbst festhält, dem Publikum, zumindest für eine gewisse Zeit, lediglich „woran es glaubt“ (VII, 268). Getreu dem Motto mundus vult decipi konstatiert Felix bei seiner Umwelt die „Einmütigkeit in dem guten Willen, sich verführen zu lassen“ (VII, 294). Denn, so hält er später, jetzt schon als Marquis de Venosta auf Weltreise, in einem Brief an seine Eltern fest: „Aber die Menschen […] wollen das Sichtbare, den Augenschein, das Sinnbild“ (VII, 615, Hervorhebung A.K.). Er stimmt darin mit seinem Autor überein, der in seinen Notizen festhält: „Die Welt, diese geile und dumme Metze, will geblendet sein – und das ist eine göttliche Einrichtung, denn das Leben selbst beruht auf Betrug und Täuschung, es würde versiegen ohne die Illusion.“65 Zugespitzt findet sich dieser Gedanke in einem Gespräch zwischen Krull und der Tochter des Professor Kuckuck in Lissabon wieder, wenn Felix Zouzous „tückische[s] Verschen“ – „Der Mensch, wie schön er sei, wie Schmuck und blank, / Ist innen doch Gekrös’ nur und Gestank.“ – ablehnt, da es den Glauben zerstören will an Schönheit, Form, Bild und Traum, an jedwede Erscheinung, die natürlich, wie es im Worte liegt, Schein und Traum ist, aber wo bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein nichts mehr gälte und die Sinnenweide der Oberfläche? (VII, 633)

Es ist also auch hier gerade der ‚Glaube‘, der von entscheidender Bedeutung ist und dem gesellschaftlichen Miteinander zugrunde liegt. Aufgedeckt wird eine universale Kreditstruktur, die nicht nur im Wirtschaftlichen die Beziehungen und das Verhalten regelt, sondern als fundamentales, gesellschaftliches Paradigma – „ohne Zweifel eine für den Haushalt des Lebens unentbehrliche Einrichtung“ (VII, 294) – angesehen werden kann. Denn gerade das, wenn auch meist utopische Vertrauen der „graue[n] Menge“ (VII, 294) auf eine Erfüllung ihrer Träume von Schönheit, Reichtum und Luxus, die ihnen die Darbietungen der Welt – sei es auf dem Theater oder eben in den Warenauslagen der Geschäfte – vorgaukeln, tröstet über so manche nicht ganz so glänzende Realität hinweg. Die vorgespielte und vorgespiegelte Möglichkeit einer Realisierung, wie sie auch das Schaufenster leistet, nährt den Glauben an eine tatsächliche Erfüllung der utopischen Wünsche. Der Roman legt hiermit einen zentralen Punkt kapitalistischer Funktionslogik offen, der, wie im letzten Abschnitt ausgeführt, im Warenfetischismus seinen Ausdruck findet: 65

Zitiert bei Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 117.

6.1 Die Welt als kapitalistische Schaubühne: (Geld-)Schein und Sein

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Da der Fetisch immer eine Substitution oder Vertretung ist, die gleichzeitig etwas verleugnet, ist die Frage: Was vertritt der Warenfetisch? Was verleugnet er? Er vertritt (zumeist) das Bild einer Welt, die unsere Bedürfnisse erfüllt, einer Welt, die immer ‚voll‘, ‚reich‘, ‚großartig‘ und ‚schön‘ ist (und wir sind ein Teil von ihr). Das macht die Aura des Warenfetischs aus: Der Warenfetisch winkt mit der Partizipation am Schlaraffenland (in allen Varianten). Die Ware ist also der Code einer Utopie. Das ist ihre systematisch erzeugte Illusion. Verleugnet wird die Fragmentierung, die vielfachen Teilungen, Trennungen, Verluste, Anstrengungen, Demütigungen, Schmerzen, Lasten, Enttäuschungen, die man in der kapitalistischen Warentauschgesellschaft erlebt (die desillusionierte Welt).66

Diese Realität hinter der glänzenden Kulisse findet in den Bekenntnissen vor allem in den ersten beiden Büchern ihre Erwähnung, und Felix bekommt sie zunächst nach dem Bankrott der väterlichen Firma zu spüren. Der vollständige „Zusammenbruch“ (VII, 320), das „Falliment der LorleySchaumwein-Fabrik“ (VII, 318) katapultiert ihn mit einem Schlag in eine Position jenseits der bürgerlichen Gesellschaft. Der Mangel an „Geldmittel[n]“ (VII, 328) versetzt Felix in die Rolle des Außenseiters, der an den verlockenden Angeboten Frankfurts zunächst nur passiv und beobachtend teilhaben kann. Wiederkehrend wird zur Beschreibung seiner Lage das Attribut der Kälte herangezogen. Der „frierende[…] Knabe[…]“ (VII, 343) befindet sich aus Mangel am wärmenden Medium Geld67 in der „kaltherzige[n], der Armut feindlich gesinnte[n] Stadt“ (VII, 337) in der „Kälte“ (VII, 341). Darüber hinaus bewertet Felix die Armut aber vor allem als ein ästhetisches Problem. Er muss seinen einst so schön geschmückten Körper nun in „hässlicher, abgetragener Kleidung“ (VII, 327) präsentieren und aus „Sparsamkeitsrücksichten“ mit einem „schmutzigen Hospiz oder Absteigequartier“ (VII, 336) Vorlieb nehmen. Es ist vor allem die „Häßlichkeit“ (VII, 386) seiner „Mitreisende[n] geringen Schlages“ (VII, 385), die seine Abneigung erregt; sein „durstiger wie verletzlicher Schönheitssinn“ fühlt sich durch den „Anblick menschlichen Kroppzeugs“ beleidigt. Mit der Degradierung seiner Mitreisenden in den Bereich des Hässlichen und Kreatürlichen verfolgt Felix – zu diesem Zeitpunkt selbst noch ein „Fahrtgenosse der Unerquicklichkeit“ – eine klare Strategie der Abgrenzung, die sich auch auf sprachlicher Ebene äußert. Durch die kontinuierliche Verwendung des Demonstrativpronomens distanziert er sich von „diese[n] Leuten“ (VII, 386) und „diese[n] Kleinen“ (VII, 385). Ebenso grenzt er seine im Rotlichtmilieu verankerte berufliche Verbindung zu Rozsa – deren Zimmer ist in „tiefrot gedämpftes Licht“ (VII, 381) ge-

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Böhme, Fetischismus und Kultur, S. 333 f. Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit.

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taucht68 – von der anstößigen Tätigkeit „jener dunklen Galans“ (VII, 383; Hervorhebung A.K.) ab. Ähnlich distanziert sind auch Felix’ Äußerungen über die schlechten Zustände, denen die Angestellten des Pariser Hotels, dieses „ausbeuterischen Kasten[s]“ (VII, 397), ausgesetzt sind. Die Beschreibungen der „Tagesfron“ (VII, 440) lesen sich wie die eines Beobachters und nicht wie die eines unter dieser Leidenden, wenn nicht im persönlichen ich, sondern im unpersönlichen man von den anfallenden Arbeiten – „so viele Stunden also war man ohne ein Niedersitzen […] auf den Beinen“ (VII, 435) – berichtet wird. Es ist nicht Felix selbst, der „einigermaßen gebrochen an Leib und Seele“ einen Arbeitstag beendet, sondern es sind die Abstrakta „der Mensch“ und das „Personal“ (VII, 434). Und die „dunkle[n] Gestalten“, die in den Pariser Straßencafés durchs Bild kriechen, werden zwar ironisch als „stehende und zugelassene Einrichtung der Zivilisation“ (VII, 392) kritisiert, bilden aber dennoch lediglich Beobachtungsmaterial für den im Omnibus sitzenden Felix. Zu Hochform läuft dieser in der Audienz mit dem portugiesischen König auf, wenn er verächtlich von den „abscheulichen Elementen“ und „Wühlmäuse[n]“ (VII, 610) spricht. Der Bereich des Hässlichen und Elenden dient als negatives Gegenbild vor allem der Abgrenzung der vornehmen Sphäre der Reichen und Schönen, zu der es Felix zieht. Der „Zuschauer“, vor dem sich „der reiche Glanz und Schimmer“ ausbreitet, fragt zwar, „wo ist das Elend, das sich neben so vielem Reichtum und so ausgelassener Verschwendung vorfinden muß?“69 – wirkliches Interesse bringt er dafür aber nicht auf. Im Fokus des Protagonisten – und damit auch des Erzählers – steht die vornehme, glänzende und faszinierende Welt, nicht deren Schattenseite. So erstaunt es auch nicht, dass die Schilderungen der niedrigen Gesellschaftsschichten mit Felix’ Aufstieg fast vollständig zum Erliegen kommen. 6.1.3 Die vertauschbare Aristokratie des Geldes Die Welt, so das Ergebnis des vorangegangenen Abschnitts, gleicht einer Schaubühne, auf der der Traum der Partizipation am Schlaraffenland, um Böhmes oben zitierte Worte aufzugreifen, auf dem täglichen Spielplan steht.70 Dabei handelt es sich um eine Bühne kapitalistischen Zuschnitts, 68 69 70

Nicht nur das rote Licht, sondern auch die Hitze des „stark überheizten eisernen Ofens“ (VII, 381) erinnert an die Beschreibung der höllenartigen Garderobe Müller-Rosés (vgl. Anm. 64 dieses Kapitels). Mataja, Großmagazine, S. 66 f. Sprachlich schlägt sich das, wie Donald F. Nelson bereits ausführlich dargestellt hat, in der regen Verwendung einer theatralischen Metaphorik nieder. (Vgl. Nelson, Donald F.: Felix

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um ein theatrum mundi, dessen zentrale Rollenverteilungsinstanz nicht göttlicher, sondern kapitalistischer Provenienz ist. Dem Menschen wird seine Rolle nicht, wie in der barocken Vorstellung der Welt als Theater, von Gott zugeteilt, sondern durch das Geld festgelegt. Dieses allein entscheidet darüber, welchen Platz man in der Gesellschaft einnimmt, ob man zur ‚guten Gesellschaft‘ gehört oder nicht. Ausschlaggebend ist, wie Felix es ausdrückt, „der Zufall des Reichtums“ (VII, 492); die Zugehörigkeit zur Geldaristokratie basiert auf dem glücklichen Zufall, eine Menge des begehrten Mediums Geld zu besitzen – der Besitz an sich qualifiziert hier also den Träger. Das Geld entscheidet darüber, was bzw. wer man ist. Um mit Karl Marx zu sprechen: So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das was ich bin und vermag ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt.71

Darum weiß auch Eleanor Twentyman, wenn sie die Zurückweisung, die Felix ihren Avancen unter Hinweis auf den Klassenunterschied zwischen Kellner und Millionärstochter erteilt, mit den Worten „Daddy […] wird uns sein Geld geben, daß wir reich und glücklich sind“ (VII, 487) nicht gelten lässt. In dem Verteilungsspiel des Geldes sind die Rollen nicht fixiert, sondern jederzeit austauschbar. Hat er nur genug von dem, „was alles verschafft, was alles aufwiegt, was alles ersetzt“72, wie Baudelaire seinem Plutus, dem Gott des Reichtums, in den Mund legt, so kann auch ein einfacher Kellner in der oberen Liga mitspielen. Die „Aristokratie des Geldes“, so erkennt Felix, ist „eine vertauschbare Zufallsaristokratie“ (VII, 492). Aufgrund der „verkehrende[n] Macht“ des Geldes, die den „Knecht in d[en] Herrn, d[en] Herrn in den Knecht“73 verwandeln kann, wie Karl Marx es formuliert, besteht die Option zum „Rollentausch“

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Krull or: „All the world’s a stage“. In: The Germanic Review 45 (1970), S. 41–51, hier S. 45 ff.). Darüber hinaus fällt auf, dass es sich bei der Mehrzahl der Romanschauplätze um öffentliche Räume, wie Hotels, Boulevards, Restaurants und Zugabteile handelt, oder solche – man denke an das Theater, den Zirkus, das Museum oder aber die Stierkampfarena –, denen Theatraliät immanent ist. Die zentralen Orte des Romans sind somit immer Orte des Schauens und Präsentierens. Vgl. dazu auch Lange, Victor: Betrachtungen zur Thematik von Felix Krull. In: The Germanic Review 31 (1956), S. 215–224, der auf die „deutlich abgegrenzten, bühnenbildlich gerahmten Räume[…]“ hinweist, in denen „schlechterdings alles“ (ebd., S. 217) sich ereignet; vgl. auch Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 145. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Mit einer Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie u. Register hg. v. Barbara Zehnpfennig. Hamburg 2005 (Philosophische Bibliothek 559), S. 122. Baudelaire, Charles: Die Versuchungen oder Eros, Plutus und die Göttin des Ruhmes. In: Ders.: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa. München / Wien 1985 (Sämtliche Werke / Briefe, Band 8), S. 186–193, hier S. 191. Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 124.

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(VII, 492). Diesen „Gedanke[n] der Vertauschbarkeit “ (VII, 491) hält auch Felix fest: Den Anzug, die Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebensogut Herrschaft sein und hätte so mancher von denen, welche, die Zigarette im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall, daß es sich umgekehrt verhielt – der Zufall des Reichtums. (VII, 491f.)

Wie das Zitat verdeutlicht, kommt hier der Zurschaustellung des Reichtums, dem Äußeren und der Aufmachung, eine wichtige Rolle zu. Wer es sich leisten kann, stattet sich mit den Attributen des Reichtums aus und markiert so seine Zugehörigkeit zur Klasse des Geldes. Es kommt, da die Einschätzung der schönen Welt, wie gezeigt wurde, meist durch die Optik geschieht, auf die Außenwirkung, auf das Erscheinungsbild an. So entsprechen auch Felix’ „schlechte Hülle“, seine „armselige Kleidung“ und die „Lumpen“ (VII, 373), in die er gehüllt ist, seiner marginalisierten Position in Frankfurt. Seine „Bettelhaftigkeit der Erscheinung“ grenzt ihn von der Welt der „goldenen Abendmäntel[…]“ (VII, 374) ab. Indem die Zutrittsbedingung zur Geldaristokratie also quantitativ und nicht qualitativ bemessen wird, wird diese durchaus in ein kritisches Licht gerückt. Im Fokus steht dabei nicht die Rangordnung per se, sondern ihre Fundierung auf dem Geld.74 Denn dass es eine „wahre und wirkliche Rangordnung“ unter der glänzenden Fassade oder dem „irreführenden Bettlerkleid“ (VII, 356) gibt, daran hat Felix keinen Zweifel. Er sieht die „Nacktheit“ (VII, 355), also das Fehlen von Kleidung, und somit von äußeren, auf dem Erscheinungsbild beruhenden Einordnungsmöglichkeiten, nicht als Zustand natürlicher Gleichheit an, sondern als Ausdruck der „natürlich-ungerechte[n] und adelsfreundliche[n] Verfassung des Menschengeschlechtes“ (VII, 356). Das Geld als Rangverleihungsinstanz erweist sich als perfektes Mittel zur Scheinproduktion, es ist gleichermaßen Ausdruck und Ursache des schönen Scheins. Es ist, um noch einmal Karl Marx zu Wort kommen zu lassen, „das Mittel und Vermögen, die Vorstellung in die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit zu einer bloßen Vorstellung zu machen“75. Das Geld hat die Fähigkeit, den schönen Schein zu simulieren, aber auch zu reflektieren; es ist Symbol einer Welt, die sich durch ihren Bewegungscharakter und ihre Fungibilität – um auf Simmels Vokabular zurückzugreifen – auszeichnet, einer Welt, in der dank des Mediums ‚Geld‘ die Herstellung eines jeglichen Scheins möglich wird, in der soziale Rollen, so sieht es Felix, frei wählbar 74 75

Vgl. dazu auch Hermsdorf, Thomas Manns Schelme, S. 51 und 74 f. Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 124.

6.2 Tausch und Täuschung: Felix Krulls Hochstaplerlaufbahn

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sind. Es steht für eine Welt, in der nichts fixiert, sondern alles vielmehr im Fluss ist. Felix entdeckt mit seinen Beobachtungen der glitzernden Welt der kapitalistischen Scheinproduktion und -präsentation, wie Victor Lange es formuliert, die „Beweglichkeit, […] Verfügbarkeit, ja […] Vertauschbarkeit der Formen“76. Für die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull lässt sich somit eine Engführung von geldtheoretischen und gesellschaftlichen Konstellationen konstatieren. Die Welt wird entlarvt als eine, die, vergleichbar dem referenzlosen Medium des Geldes, auf einem Kreditsystem basiert. So wie der Wert des Geldes in hohem Maße von dessen Beglaubigung abhängt, ist jeglicher Schein vom Akkreditierungswillen der Mitmenschen abhängig – und dieser ist, wie Felix zu seiner Freude feststellt, in hohem Maße vorhanden. In dem auf Glauben und Vertrauen basierenden Miteinander ist – nicht zuletzt dank des Geldes als Medium der Fiktionalität – jede Fiktion möglich. Die Möglichkeit des Tausches führt in hohem Maße die Möglichkeit der Täuschung mit sich. Und diese Einsicht ist es, die der Hochstapler sich auf seinem Weg in höhere Sphären zunutze macht.

6.2 Tausch und Täuschung: Felix Krulls Hochstaplerlaufbahn Felix Krull lässt von Beginn an keinen Zweifel daran aufkommen, dass er eigentlich in die Welt des Geldes, des schönen Scheins gehört. Er sieht sich als „Sonntagskind“ (VII, 271), das „aus edlerem Stoffe gebildet“ (VII, 273) ist, und strebt, wie Thomas Mann selbst festhält, „besonders in die Sphäre der Vornehmheit“ (XI, 704). Unterstützung findet er bei seinem Paten Schimmelpreester, der seine „schiefe[…] Lage“ (VII, 328) nach dem Bankrott des Vaters als Verirrung des Schicksals darstellt, als eine Art Systemfehler, den es zu korrigieren gilt. So komme es „vor allem darauf an, ihm das Leben zu öffnen, zu dem die Oberen ihm mißverständlicherweise keinen ehrenvollen Zugang gewähren zu dürfen glaubten“ (VII, 333). Seine „wahre und eigentliche Bestimmung“ (VII, 271) erreicht Felix mit dem Rollentausch mit dem Marquis de Venosta, wenn seine soziale Stellung endlich seinen Vorstellungen von dem, was ihm zukommt, entspricht. Mit dem Titel und den finanziellen Möglichkeiten des Marquis’ bekommt sein „Sein“ endlich den ihm gebührenden „Schein“ hinzugefügt; der ersehnte „Ausgleich von Sein und Schein“ (VII, 522) wird realisiert. Im Mittelpunkt von Felix’ Aspirationen steht von Anfang 76

Lange, Betrachtungen zur Thematik von Felix Krull, S. 218.

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an die Teilhabe an der glitzernden Welt des schönen Scheins. Es ist festzuhalten, dass er ihm dabei primär nicht um das Erlangen finanzieller Macht oder um reine Kapitalakkumulation geht – lehnt er doch das finanziell, „was seinen sachlichen Inhalt“ (VII, 483) betrifft, durchaus verlockende Angebot Lord Kilmarnocks ab. Im Zentrum steht vielmehr sein Wunsch, als schöner Schein wahrgenommen und bewundert zu werden. Felix’ Laufbahn entspringt weniger dem rationalen Kalkül eines homo oeconomicus als vielmehr der Erfüllung infantiler Träume „von Erhöhung, Vornehmheit und Reichtum.“77 Er akzeptiert, wie Wysling es formuliert, „den Blendwerkcharakter der Welt und macht sich selbst zum schönen Schein.“78 Dass er dabei am Geld, an der kapitalistischen Ordnung nicht vorbei kommt, sondern sich deren Mechanismen bedient, liegt auf der Hand – ist diese doch die Basis, auf der all der schöne Schein beruht. Um in der Welt anerkannt zu werden, muss, wie weiter oben ausgeführt wurde, das äußere Erscheinungsbild Beglaubigung finden, dessen Motor eben das Geld ist. Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg und lebensvolle Wirkung unter den Menschen, der den Namen des Betrugs nicht durchaus verdient, sondern nichts ist als die Ausstattung einer lebendigen, aber nicht völlig ins Reich des Wirklichen eingetretenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, deren sie bedarf, um von der Welt erkannt und gewürdigt zu werden. (VII, 298)

Die kapitalistische Ordnung mit ihren Möglichkeiten zum Rollentausch ist, wie Hermsdorf es formuliert, zwar „die soziale Voraussetzung für Krulls Triumph“79; indem sich Felix ihrer Schein-Mechanismen bedient, umgeht er (zumindest bei seinem Hauptcoup) jedoch den klassischen Weg der Kapitalakkumulation durch Arbeit bzw. ‚Ausbeutung‘. In diesem Sinne ist auch Thomas Manns Notiz zu verstehen, dass Reichtum und Luxus bei seinem Protagonisten „nicht auf kapitalistischer Grundlage“ beruhen, sondern „vielmehr ein glänzendes Bohèmetum, eine Atmosphäre“80 sind. Indem Felix nicht den ‚klassischen‘ kapitalistischen Weg geht, vermeidet er das „soziale[…] Bedenken gegen Reichtum und Luxus“ und das „schlechte[…] Gewissen des Kapitalismus“81. Er positioniert sich jenseits der Parameter der kapitalistischen Welt und verweigert sich einer „Einspannung in ein plump tatsächliches Verhältnis“ (VII, 372). Vielmehr zeichnet er sich durch eine „Ungebundenheit des Geistes und der Phantasie“ (VII, 295f.) aus, die im Rollentausch ihre Freiheit findet. Er schöpft die Möglichkeiten, 77 78 79 80 81

Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 79. Ebd., S. 117. Hermsdorf, Thomas Manns Schelme, S. 74. Zitiert nach Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 472. Ebd., S. 471.

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die sich ihm mit der Scheinhaftigkeit der Welt bieten, voll aus, indem er sich selbst zum Produzenten des schönen Scheins macht. Mit der glänzenden „Vorspiegelung“ (VII, 298, wieder 453) falscher Tatsachen und Eigenschaften blendet er die Menschen und kreiert sich permanent neu. Sein Leben ist das des „freien Traumes und Spieles, selbstgeschaffen und von eigenen Gnaden, will sagen: von Gnaden der Phantasie“, das die Ebene der „schlackenhafte[n] Wirklichkeit“ (VII, 489) verlässt. 6.2.1 Das kulturelle und ökonomische Kapital des Felix Krull Für die Verwirklichung seiner Träume benötigt Felix zunächst eine materielle Basis und kommt somit am Erwerb von Geld nicht vorbei.82 Auf seinem Weg, der ihn zunächst vom Rheingau über Frankfurt nach Paris führt, sind dabei drei Arten der Kapitalakkumulation auszumachen und zu unterscheiden, nämlich der Erwerb von kulturellem, sowie der legale und der illegale Erwerb von ökonomischem Kapital. Felix’ Kindheit und Jugend stehen ganz im Zeichen des Sammelns von kulturellem (Bildungs-) Kapital; im Rahmen seiner kindlichen Sozialisation erhält er Einblick in alle für seine spätere Laufbahn relevanten Bereiche und eine Grundausbildung in Sachen Rollenspiel, Verkleidung, Betrug und Täuschung. Die Verkleidungsspiele mit Schimmelpreester, sein Auftritt als Geigenwunderkind, seine Krankheitssimulationen und der Besuch im Theater tragen zu einem soliden ‚Haben‘ auf seinem Bildungskonto bei, das er, wie sich zeigen wird, später gewinnbringend investieren kann. Auch in Frankfurt weiß Felix seine „Warte- und Mußezeit“ (VII, 339) ertragreich zu nutzen, indem er sich mit der Beschaffenheit der Welt vertraut macht. Sein Gewinn besteht in kulturellem Kapital, das er auf seinen BeobachtungsStreifzügen durch die Großstadt sammelt. Denn „Bildung“, so weiß Felix selbst, „wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßigganges“ (VII, 339).83 Er macht den Tumult der Großstadt „seiner Bildung, seinem begierigen Studium dienstbar“ (VII, 341) und nimmt die Eindrücke, die sich ihm bieten, „mit dem größesten Lerneifer“ (VII, 343) auf. Die Beobachtung der Frankfurter Gesellschaft und das Betrachten des Panoptikums der Luxusgüter verschaffen ihm einen recht genauen Überblick über die Ausrüstungsgegenstände der schönen Welt, der seiner späteren Karriere zuträglich ist. 82 83

Einen Überblick über den finanziellen Werdegang Felix Krulls bietet Potempa, Über die Finanzen des Hochstaplers Felix Krull. Vgl. auch Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 262 f. Vgl. dazu Joseph (Kapitel 5.3.1 dieser Arbeit), der ebenfalls über Zeit verfügt, die in Bildung investiert wird, während seine Brüder auf dem Feld arbeiten müssen.

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Mit dem Studium der Edelsteinauslagen der Juweliere legt er „die erste Grundlage zu [seiner] späteren verläßlichen Kennerschaft auf diesem zauberhaften Gebiete“ (VII, 343). Diesem „Lieblingsstudium“ (VII, 407) verdankt er dann auch die richtige Wertschätzung der Schmuckstücke, die er der Dame am Zoll stehlen wird. Felix selbst rühmt den „Gewinn“ (VII, 384), den er „Rozsa’s schlimme[r] Liebesschule“ (VII, 385) zu verdanken hat und der „für [s]eine Ausbildung von der einschneidendsten Bedeutung war“ (VII, 384). Tatsächlich sind es dann gerade seine Qualitäten als Liebhaber, die ihm in der Episode mit der reichen Schriftstellerin Madame Houpflé zugute kommen. Im Gegensatz zu dem kulturellen Kapital, das Joseph in Form von inkorporierter Bildung im klassischen ‚Schul‘-Sinne erwirbt, handelt es sich bei Felix’ Kapital um ein Wissen im Fach des ‚schönen Scheins‘. Hier ist nicht der übliche Bildungskanon relevant, vielmehr reicht Felix’ Halbwissen – so beispielsweise seine sehr spärlichen Sprachkenntnisse – völlig aus. Denn, wie er vom Marquis belehrt wird: „Gelehrsamkeit, aufdringliche zumal, ist nicht Sache des Gentlemans“, sind die meisten von diesen doch „elegante Trottel“ (VII, 504). Neben diesem Ansammeln an kulturellem Kapital, an Wissen, das er später zusammen mit den Erträgen seiner kindlichen Sozialisation nutzbringend einsetzen kann, legt Felix sich auch einen Grundstock an ökonomischem Kapital zu. Dies geschieht auf zweierlei Arten, auf eine legale und eine illegale. Zu seinen rechtmäßigen Einkommensmethoden sind die Dienste zu zählen, die er der Frankfurter Gesellschaft leistet und die ihm so manchen „willkommene[n] Batzen, silbern nicht selten,“ (VII, 347) einbringen. Des Weiteren bezieht er als ordentlich Angestellter des Pariser Grandhotels84 – zunächst als Liftboy, dann als „Abkratzer“ (VII, 468) der Teller und schließlich als Kellner – ein regelmäßiges Salär. Nachdem er es neben freier Kost und Logis zunächst auf Trinkgeldeinnahmen in Höhe von „zwölf bis fünfzehn Franken […] pro Woche“ (VII, 454) bringt, erhält er dann mit dem Eintritt in den Dienst im Speisesaal – eine vor allem im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen „reichere[…] Möglichkeit[…] des Austausches mit der Welt“ (VII, 466) – „sechshundert pro Jahr“ (VII, 468). Der Wert dieser Beschäftigungen liegt primär im Kontakt mit der großen Welt, bietet die „Hotel-, die Kellnerlaufbahn“, wie Schimmelpreester es formuliert, „die günstigsten Aussichten“ (VII, 333) zur „Entfaltung“ von Felix’ „Gaben“ (VII, 334). Das große Geld aber ist mit 84

Zur Topographie des Grand Hotels in Thomas Manns Romanen Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Der Zauberberg und der Novelle Tod in Venedig vgl. das einschlägige Kapitel bei Seger, Cordula: Grand Hotel. Schauplatz der Literatur. Köln u.a. 2005 (Literatur – Kultur – Geschlecht 32), S. 181 ff.

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dieser Anstellung nicht zu machen. So stellen sich Felix’ illegale Einkünfte auch als wesentlich ertragreicher heraus. So ist es zunächst seine Tätigkeit als Rozsa’s Zuhälter – auch wenn er sich vehement gegen diese gemeine „Etikettierung[…]“ wehrt –, die ihm eine „mäßige Teilhaberschaft an dem Gewinne“ (VII, 383) einbringt. Den Hauptteil seiner finanziellen Basis sichert sich Felix jedoch durch seine Diebes- und Liebesbeziehung zur reichen Madame Houpflé. Dass ein genauer Blick auf diese „außerordentliche[…] Episode“ (VII, 451) lohnt, weiß auch der Chronist selbst, wenn er deren Hervorhebung durch ein eigenes Kapitel zu Beginn es dritten Buches metanarrativ kommentiert.85 Die wahrlich „wunderbare Begegnung“ (VII, 451) sichert Felix nicht nur die Kapitalbasis für seine Scheinexistenz, sondern präsentiert in komplexer Verschränkung die zentralen Punkte seiner Virtuosität in Sachen Kapitaleinsatz und -erwerb. Bereits die erste Begegnung mit der noch nicht näher bekannten Dame am Zoll verhilft Felix zu einem „sehr nach Preziosen aussehende[n] Saffiankästchen“ (VII, 389), das durch „reinen Zufall“ (VII, 406) den Besitzer wechselt und Felix’ „pekuniäre[…] Verhältnisse“ (VII, 390) bedeutend aufbessert.86 Eine seiner ersten Handlungen in Paris besteht darin, die erworbenen Schmuckstücke in bares Geld zu verwandeln. Nach zähen Verhandlungen mit dem ihm von seinem neuen Kollegen Stanko empfohlenen Händler Meister Jean-Pierre, bei denen nicht nur der „Realwert“ (VII, 426) der Dinge, sondern vor allem auch das „Risiko“, das den gestohlenen Stücken anhaftet, in Rechnung gestellt wird, bleiben Felix immerhin noch 4.400 Francs (von denen Stanko dann 2.000 als Vermittlungsgebühr behält), die ihm über seine „momentane[…] Geldverlegenheit“ (VII, 427) hinweghelfen. Wesentlich höher fällt sein Verdienst nach dem erneuten Zusammentreffen der beiden Reisenden, nun als Liftboy und Hotelgast, aus. Bei seinem nächtlichen Besuch kann Felix seine in der Frankfurter Liebesschule erworbene Bildung profitabel einbringen und in ökonomisches 85

86

Zu den zahlreichen Anspielungen und intertextuellen Bezügen der Episode vgl. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 88 und 273 ff., sowie Frizen, Werner: Die Wunschmaid. Zur Houpflé-Episode in Thomas Manns Krull. In: Text und Kontext 9 (1981), S. 56–74. Vgl. ferner die Zusammenstellung bei Schulz, Identitätsfindung, S. 612 ff. Einer der vielen Anklänge an Hermes, der u.a. als Gott der Diebe auch für den „glücklichen Fund (hérmaion) und das Ansichnehmen dieses Fundes (Diebstahl, Raub)“ (Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart. 6., erweiterte Auflage, Wien 1988, S. 223), für den „günstige[n] Augenblick und seine lohnende Nutzung“ (Otto, Walter F.: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes. Bonn 1929, S. 137) zuständig ist.

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Kapital umwandeln, wenn er als „Zögling und Eingeweihte[r] der gestrengen Rozsa“ seine Bettgenossin glücklich macht. Das Liebesspiel, auf das sich Felix hier (zumindest teilweise) einlässt, bietet ihm zudem die Möglichkeit, seine Diebesschuld zu begleichen. Dank der sexuellen Präferenzen Madame Houpflés, die im Bereich des Masochismus liegen,87 wird Felix’ begangene Straftat im Nachhinein quasi legalisiert. Zu seinem Glück zieht Madame Houpflé ihre Befriedigung gerade daraus, von einem „Knecht“ (VII, 438), einem „kleine[n] nackte[n] Lifttreiber“ (VII, 444) im sexuellen Spiel erniedrigt zu werden. Auch wenn dieser von der „Erniedrigungsnarretei“ (VII, 447) der ihm sozial höher gestellten Dame nicht begeistert ist, sondern im Gegenteil missmutig auf die permanente „Betonung [s]eines niedrigen Standes“ (VII, 441) reagiert, weiß er die Situation geschickt für sich zu nutzen. Die doppelt missliche Lage – es droht die Entdeckung des Diebstahls mit entsprechenden Konsequenzen und zudem hat Felix seine Grenze erreicht, was das Eingehen auf die Extravaganzen Madame Houpflés betrifft – wendet er clever ins Gegenteil: Er gesteht den Diebstahl und erfüllt damit den Erniedrigungstraum, den „rêve d’humiliation“ (VII, 448), der Dame. Er kommt ihrem „Liebeswunsch“ (VII, 449), ihn auf frischer Tat zu ertappen, nur zu gerne nach, und macht sich als „ganz gemeiner Dieb“ (VII, 448) ans Werk. Den drohenden Ruin wehrt er geschickt ab, und es wird nicht nur der bereits begangene Diebstahl legalisiert, sondern Felix erwirbt sich auch die Absolution für einen weiteren. Versiert nimmt er die ihm von außen zugeschriebene Rolle des „diebische[n] Gott[es]“ (VII, 448) Hermes an und macht seinem Patron in Sachen Listigkeit alle Ehre. Er geht aus dem nächtlichen Liebesabenteuer mit einem stolzen Gewinn an Schmuckstücken, für die er bei Jean-Pierre 6.000 Franken erhält, und barem Geld, vier „Tausendfranken-Scheine“ (VII, 451f), hervor. Insgesamt ist Felix damit, wie er zu Beginn des dritten Buches überschlägt, „ein Mann von zwölftausenddreihundertfünfzig Francs“ – und „Herr eines Kapitals“ (VII, 452). Dieses Zwischenspiel mit Madame Houpflé zeigt Felix’ Geschick im Umwandeln von kulturellem in ökonomisches Kapital, aber auch seine natürliche Begabung, Situationen zu seinen Gunsten zu wenden. Zudem wird deutlich, wie weit er für die Erfüllung seines Traumes zu gehen bereit ist. Er hat keine Skrupel, seinen Körper gewinnbringend einzusetzen und 87

Zu den Parallelen der Episode mit Sacher-Masochs Roman Venus im Pelz und dem „Spiel mit Motiven des Venus-Romans“ vgl. das Kapitel „Mme Houpflé. Pelzdame und Parodie. Zum Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ bei Rudloff, Holger: Pelzdamen. Weiblichkeitsbilder bei Thomas Mann und Leopold von Sacher-Masoch. Frankfurt am Main 1994, S. 137–150, hier S. 139.

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zu verkaufen – denn dass er sich letztlich, wenn auch „genießend“ (VII, 442), prostituiert, ist offensichtlich.88 Um Herr eines Kapitals zu werden, sind Ausflüge in die Illegalität vonnöten; allein die legalen Einkünfte als Hotelangestellter würden Felix wohl nie die zu seinem Spiel nötige Kapitalbasis verschaffen. Der Weg nach oben erweist sich also als nicht so durchlässig, wie das Diktum der Vertauschbarkeit des Geldes suggeriert. Die Begebenheit mit Madame Houpflé ist im Romangefüge vor allem deshalb als zentrale Stelle zu bewerten, da Felix hier seinen Status als Herr eines Kapitals erlangt und damit die finanzielle Grundlage für die Verwirklichung seiner scheinhaften und illusionären Existenz geschaffen ist. Die Basis seiner Hochstaplerkarriere ist gelegt,89 sein Rollenfach ist nun tatsächlich ins „Alles-Mögliche“90 erweitert. Die Begegnung mit der reichen Fabrikantengattin ist als „eine Schaltstelle für die Entwicklung Krulls wie des Romans überhaupt“91 anzusehen, da Felix hier in seine „mythische Rolle als Hermes“92 initiiert wird. Diane Houpflé macht Felix zum ersten Mal auf seinen mythischen Doppelgänger aufmerksam und verankert Felix Existenz damit auch symbolisch im Bereich von Tausch und Täuschung 6.2.2 Das Leben auf Kredit Als „Inhaber eines Scheckbuches“ (VII, 453) beim „Crédit Lyonnais“ (VII, 452) verfügt Felix nach der Begegnung mit Diane Houpflé über einen „geheimen pekuniären Hintergrund[…]“, der seiner Tätigkeit im Hotel den Zwangscharakter nimmt. Nicht mehr auf sein Gehalt angewiesen, wandelt sich seine soziale Stellung als Angestellter zu einer „Vorspiegelung“ und Rolle, die er freiwillig, und sozusagen tiefstapelnd, spielt. Die Livree des Hotelbediensteten wird zum „Kostüm“ (VII, 453). Einen Teil 88

89

90 91 92

Auf dem Weg zu dem Leben, das ihm seiner Natur nach zusteht, wie er selbst (und auch sein Pate) es sehen, stellt sich der Hochstapler keine Fragen moralisch-ethischer Natur. Wie Theodor Fontane in einem Brief, in dem er seine Pläne für ein Romanvorhaben umreisst, feststellt: „Das Glück besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört; selbst die Tugend- und Moralfrage verblaßt daneben.“ (Theodor Fontane an Gustav Karpeles, 3. April 1879. In: Fontane, Theodor: Briefe. Dritter Band 1879–1889. Hg. v. Otto Drude, Manfred Hellge u. Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung v. Christian Andree. München 1980 (Theodor Fontane. Werke, Schriften und Briefe. Abteilung IV), S. 19). Hierüber herrscht in der Forschung Einigkeit. Vgl. z.B. Nelson, Donald F.: Portrait of the Artist as Hermes. A Study of Myth and Psychology in Thomas Mann’s Felix Krull. Chapel Hill 1971, S. 45 oder Schwarz, Egon: Felix Krull. In: Lehnert, Herbert / Wessell, Eva (Hg.): A Companion to the Works of Thomas Mann. Rochester, NY 2004, S. 257–269, hier S. 265. Tb, 25. November 1950. Frizen, Wunschmaid, S. 57; vgl. auch Nelson, Portrait of the Artist, S. 45. Frizen, Wunschmaid, S. 57.

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des Geldes verwendet er für die Ausstattung einer zweiten, wohlhabenderen Existenz. Er mietet eine kleine „Privatwohnung“, in der er seine „schönen Dinge“ (VII, 498) – „ein Smoking-Anzug, ein Abendmantel mit seidengefütterter Pelerine, […] ein matter Zylinderhut und ein Paar Lackschuhe“ (VII, 497) – wie in der Garderobe eines Schauspielers aufbewahrt. Sein Leben wird zu einer „Art von Doppelleben“ (VII, 498); ein einzelnes ‚Original‘ ist schon nicht mehr auszumachen. Frei von den bindenden Fesseln der Geldlosigkeit beginnt Felix sein Rollenspiel, stets darauf bedacht, sich nicht fixieren zu lassen. Entsprechend lehnt er die finanziell verlockenden Angebote, die sich ihm bieten, wie weiter oben schon festgehalten wurde, ab. Weder Stankos Freundschaftsantrag noch die Verbindungen mit der Familie Twentyman oder dem Lord Kilmarnock bringen ihn dazu, der „Grundbedingung“ seiner Existenz – seinem „inneren Beharren auf Einsamkeit, Abstand, Reserve“ (VII, 464) – abhold zu werden. Felix hält an seiner einmal gewonnenen Unabhängigkeit und Bindungslosigkeit fest und lehnt jedwede Festlegungsversuche ab. Einmal im Fluss, möchte er diesen nicht mehr verlassen: Die Hauptsache war, daß ein Instinkt, seiner selbst sehr sicher, Partei nahm in mir gegen eine mir präsentierte und obendrein schlackenhafte Wirklichkeit – zugunsten des freien Traumes und Spieles, selbstgeschaffen und von eigenen Gnaden, will sagen: von Gnaden der Phantasie. (VII, 489)

Mit seiner neu erlangten Kapitalbasis hat Felix die Grundlage für eine ‚liquide‘ Existenz im doppelten Sinne gelegt, er ist sowohl finanziell wie auch in seiner Rolle als Scheinproduzent unabhängig. In dem folgenden Tausch mit dem Marquis de Venosta, eindeutig sein Hauptcoup, findet Felix das optimale Betätigungsfeld für seine scheinhafte und phantastische Existenz, ohne Gefahr zu laufen, aus dem Spiel geworfen zu werden. Die Gelegenheit, die ihm der reiche Marquis bietet, stellt sich nicht, wie die vorangegangenen Angebote, „als Sackgasse“ dar, sondern als Chance, die „alle [s]eine Gaben zu kühner Bewährung aufrief“ (VII, 515). Und in der Tat verlangt das Problem des Marquis – ich muß nach dem Unvereinbaren trachten, zugleich zu reisen und dazubleiben. Das heißt wiederum: ich muß mich verdoppeln, mich zweiteilen; ein Teil von Louis Venosta muß reisen, während der andere in Paris bei seiner Zaza bleiben darf. (VII, 512) –

geradezu nach Felix und dessen Expertise im „so aussehen, als ob“ (VII, 512). Es gilt vor den „Augen der Welt“ (VII, 514) als Marquis de Venosta zu erscheinen, in „den Augen der Leute“ zu überzeugen. Und damit ist Felix ganz in seinem Element, das, wie der Marquis treffend erkennt, im „Phantastischen“ (VII, 513) liegt.

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In beiderseitigem Interesse und zu beider Zufriedenheit tritt der Marquis den offiziellen Teil seiner Identität an Felix ab, und kann – während seine äußere Hülle in dessen Gestalt auf Weltreise geht – bei seiner Geliebten in Paris bleiben. Denn „wirklich“, so der Marquis, „bin ich dort, wo ich bei Zaza bin.“ (VII, 514) Es handelt sich hier also nicht um einen Rollentausch im eigentlichen Sinne, sondern eher um eine Teilüberlassung. In schizophren anmutender Manier spaltet der Marquis seine Person in einen wirklichen (inneren) und einen unwirklichen (äußeren) Teil, den er an Felix abgibt. Es handelt sich bei ihm fortan also quasi um eine Person mit zwei Manifestationen: „Wir sind ein und derselbe. Armand de Kroullosta ist unser Name.“ (VII, 522), wie das ursprüngliche Original erfreut feststellt. Entsprechend bewertet auch Felix die Visitenkarten, die er vor der Abreise erhält, als „Visitenkarten mit unserem Namen“ (VII, 527; Hervorhebung A.K.). Damit der Hochstapler mit seinem Part auch überzeugen kann, muss er die angemessene äußere, materielle Ausstattung – den entsprechenden Schein – erhalten. Folglich wird er mit den der Position eines Marquis adäquaten Insignien des Reichtums versehen: Er erhält das von den Eltern für die Weltreise vorgesehene Geld von 20.000 Francs „in Form eines sogenannten Zirkular-Kreditbriefes“ (VII, 517), das bereits gebuchte „Eisenbahnbillett“ sowie die „Schiffskarte nach Buenos Aires“, die mit den Initialen versehene Uhr des Marquis und weitere Schmuckstücke, eine „genaue Kopie (!) seines Siegelringes“ (VII, 525), die Visitenkarten sowie schließlich eine „standesgemäße[…] Equipierung“ (VII, 527). Damit steht der Täuschung nichts mehr im Wege; ausgestattet mit diesen Gaben wird Felix auch als Marquis gelten, können die Leute letztlich nur dem vertrauen, was sie sehen. Dies wird sich im Fortgang der Geschichte bestätigen, so etwa wenn er bei seiner Ankunft in Lissabon von einem jungen Kutscher am Bahnhof direkt auf die richtige Unterkunft, das noble „Savoy Palace“ (VII, 551), eingeschätzt wird. Was er mit seiner neuen Rolle als Marquis zudem erhält, ist das, was Georg Simmel das „Superadditum des Reichtums“93 nennt. Dem Reichen wird über ein bestimmtes finanzielles Vermögen hinaus auch ein Plus an gesellschaftlicher Macht und Anerkennung zu eigen. Dabei handelt es sich um eine Art Mehrwert, der dem Geld allein durch seine Potentialität zuwächst, um Vorteile, über die der Geldbesitzende ohne einen Mehraufwand verfügt. In konkreter Konsequenz äußert sich dies darin, so Simmel, dass der Reiche Vorteile genießt, „noch über den Genuß desjenigen hinaus, was er sich für sein Geld kon-

93

Simmel, Philosophie des Geldes, S. 274.

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kret beschaffen kann.“94 In dieser „Sphäre fragloser Bevorzugtheit“95 bewegt sich auch Felix, wenn er in Lissabon das Naturkundemuseum als „Ehrengast“ (VII, 577) besucht und, worauf er explizit wiederholt hinweist, im Gegensatz zur Menge der Besuchenden das „gewiß populäre Eintrittsgeld“ (VII, 574) nicht zu erlegen braucht. Und auch den Genuss des Gesprächs mit Professor Kuckuck wertet Felix als „Vorzug, den ich meiner Vornehmheit verdankte“ (VII, 543). Dass es gerade ein Kreditbrief ist, der ihm das Vertrauen der Leute sichert, ist natürlich besonders feinsinnig. Der Kreditbrief, den er mit der „Kopie“ (VII, 519) der marquisschen Unterschrift beglaubigen muss, verschafft ihm Kreditwürdigkeit im doppelten Sinne. In Lissabon quittiert Felix eine erste Geldabhebung mit der überlieferten Familien-Unterschrift, die der Bankbeamte als „originelle Unterschrift“ (VII, 555) betitelt. Dass es sich dabei gerade nicht um eine originelle Signatur im Sinne von original, also echt und nicht nachgemacht, handelt, sondern um eine eigene Schöpfung Krulls, eine Kopie der originalen „Erb-Überlieferung“ (VII, 555), verleiht der Szene ihren Reiz. Unbestritten ist dies ein Meisterstück Krull’scher Originalität. Felix macht sich – ähnlich wie Bendix Grünlich in Buddenbrooks, nur wesentlich versierter und virtuoser – das Kredit-Prinzip und dessen Hauptproblem, dass es eben auf Glauben und Vertrauen basiert, zunutze.96 Er erkennt früh, dass beinahe alles, was an „Verkehr und Austausch“ (sei es nun auf Ebene des kreditbasierten Geldwesens oder im gesellschaftlichen Umgang) existiert, „durch Förmlichkeit und bürgerliche Übereinkunft bestimmt, bedingt und beschränkt“ (VII, 348) ist. Ohne die bürgerliche Übereinkunft, die darin besteht, Kredit zu geben, also darauf zu vertrauen, dass eine Unterschrift oder ein Geldschein tatsächlich Gültigkeit haben, könnte es Verkehr und Austausch nicht geben. Diese sind deshalb, wie Felix weiß, stets „flau und lau“ (VII, 348), also in hohem Maße für Manipulation und Missbrauch anfällig. Dort, wo lediglich bürgerliche Übereinkunft herrscht – ob es sich dabei um finanziellen Kredit (Geld), den äußeren Schein oder gar die Sprache (das „Wort“ (VII, 348)) handelt –, ist also Vorsicht geboten. Mit der Übernahme der Rolle des Marquis kann sich Felix auf der einen Seite seine Träume von Reichtum und Vornehmheit erfüllen, auf der anderen die von Freiheit und Ungebundenheit. Er selbst hält fest, dass seine „Zufriedenheit“ nicht „allein, oder auch nur vorwiegend, dem Um94 95 96

Ebd. Ebd. Dass der Hochstapler vom Vertrauen seiner Mitmenschen lebt, wird besonders in der englischen Übersetzung des Wortes deutlich, heißt der Hochstapler hier doch confidence man.

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stand gegolten [hat], daß ich nun so sehr vornehm war.“ Entscheidend ist vielmehr „die Veränderung und Erneuerung meines abgetragenen Ich überhaupt, daß ich den alten Adam hatte ausziehen und in einen anderen hatte schlüpfen können“ (VII, 528). Er sieht seine Existenz als „zart Schwebende“ (VII, 584, wieder 632) und umgeht weiterhin jedwede Situation, die ihn aus seiner liquiden und schwebenden Existenz auf den Boden der Wirklichkeit holen könnte. Etwaige Heiratswünsche, wie sie sich in Bezug auf Zouzou in Lissabon einschleichen, können dementsprechend nicht realisiert werden, da: mir doch nur allzu klar und schmerzlich bewußt war, daß das zart Schwebende meiner Existenz, ihr heikles Doppelgängertum mir gänzlich verbot, es solcherart mit der Wirklichkeit aufzunehmen. […] Aber wie froh war ich doch auch wieder, den neuen Freunden in dem gesellschaftlichen Range begegnen zu können, welcher der Feinheit meiner Substanz entsprach! (VII, 584)

Als relativer „Neuling der Beweglichkeit“, wie ihn Professor Kuckuck im Zug nach Lissabon charakterisiert, gleicht er tatsächlich einer „moderne[n] Seelilie“, die sich – dank der entsprechenden finanziellen Ausstattung – „schwimmend“ und „gelöst“ (VII, 534) auf die Reise begeben kann. Und damit geht auch der ‚liquide‘ Wunsch seines Paten Schimmelpreester – „Haben wir ihn nur erst im Freien, so wird die Flut ihn schon tragen und ihn, wie ich zuversichtlich hoffe, zu schönen Küsten leiten.“ (VII, 333, Hervorhebung A.K.) – in Erfüllung. Indem Felix, wie wiederholt betont wird, seiner Wirklichkeit verlustig geht, kulminiert mit seinem Rollentausch auch die Frage nach seiner Identität. Schon mit dem Beginn seines Doppellebens als Kavalier und Kellner wird es für ihn nicht nur ungewiss, „in welcher Gestalt ich eigentlich ich selbst und in welcher ich nur verkleidet war“, sondern er kann bereits selbst „die unmaskierte Wirklichkeit“ und ein „Ich-selber-Sein“ (VII, 498) nicht mehr ausmachen; ein weiteres Indiz für die „Entfremdung vom eigenen Ich“97 ist der häufige Wechsel des Namens. Die Identitätsdiffusion erreicht dann in dem Tausch mit dem Marquis de Venosta ihren Höhepunkt. Bereits im Zug nach Lissabon reflektiert Felix seine Identitätslosigkeit, die in seinen Augen vor allem darauf beruht, dass er mit der Übernahme der äußeren Gestalt des Marquis einen Mangel an entsprechenden Erinnerungen zu verbuchen hat; denn seine ‚eigenen‘ Erinnerungen, „welche meinem ungültig gewordenen Dasein angehörten“ (VII, 528), verbannt er kurzerhand aus seiner Seele. Der alte Datensatz wird gelöscht, ein 97

Cambon, Glauco: Felix Krull oder über die Verwandlung. In: Ders.: Der Kampf mit Proteus. Untersuchungen über Sprache und Sein in der modernen Literatur. München 1970, S. 150–166, hier S. 157.

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neuer ist jedoch noch nicht (oder nur über die vereinzelten Erzählungen des ‚echten‘ Marquis partiell angelegt) vorhanden, so dass Felix eine „gewisse Ausgeblasenheit meines Inneren“, eine „innere Leere“ (VII, 528) diagnostizieren muss. Dieser Mangel an einem stabilen Ich und einer eindeutigen Identität ist in der Forschung schon vielfach hervorgehoben worden. So konstatiert Julia Schöll, dass „ein Ich mit einer stabilen Identität […] nicht mehr zu existieren“98 scheint, und Bernhard Dotzler spricht von „wechselnden Identitäten ohne einen die Selbigkeit garantierenden Kern“99; für ihn ist Felix ein „Simulakrum in Person“100. Thomas Mann selbst hat in seinen Plänen zur Fortsetzung die „Unwirklichkeit und Wesenlosigkeit“101 seines Helden festgehalten, die diesem zu einer enormen Anpassungsfähigkeit verhelfen und gerade in der nicht mehr verwirklichten Zuchthausepisode zugute kommen sollten. Hinzu kommt, dass Felix wie ein „Heimatlose[r]“102 ständig in Bewegung ist und bleibt und keine ihn festlegenden Beziehungen knüpft. Höchst flexibel und anpassungsfähig ist er überall und nirgendwo zu Hause und fühlt sich, völlig indifferent, in jeder Rolle wohl. Er ist absolut bindungs- und beziehungslos103: Krull, der sich jeder gegebenen Form anformen kann, hat kein individuelles Sein, keine solide Realität mehr, er ist nur noch Bild. Er ist nicht mehr Natur, er ist Kunst: eine formale, illusionäre Existenz.104

Damit gleicht er in hohem Maße seinem mythischen Rollenvorbild Hermes, der sich als „Gott der vielen Identitäten“105 gerade durch seine Ungebundenheit und Vielgestaltigkeit auszeichnet. Wohl kaum einem anderen 98 99 100 101 102 103

104 105

Schöll, Julia: „Verkleidet also war ich in jedem Fall“. Zur Identitätskonstruktion in Joseph und seine Brüder und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. In: Thomas Mann Jahrbuch 18 (2005), S. 9–29, hier S. 20. Dotzler, Bernhard J.: Der Hochstapler. Thomas Mann und die Simulakren der Literatur. München 1991 (Materialität der Zeichen A, 5), S. 40. Ebd. Zitiert bei Wysling, Pläne zur Fortsetzung, S. 162. Hirschbach, Frank D.: Götterlieblinge und Hochstapler. In: The German Quarterly 32 (1959), S. 22–33, hier S. 32. Hirschbach stellt Krull in eine Reihe mit Goethe und Joseph, die er alle drei als „Touristen großen Stils, Heimatlose“ (ebd., S. 32) bezeichnet. Thomas Mann selbst bezeichnet Felix Krull in einem Brief an Peter Pringsheim aus dem Jahr 1916 als den „Beziehungslosen“ (Thomas Mann an Peter Pringsheim, 10. Oktober 1916. In: Mann, Thomas: Briefe. Band III, S. 465; ebenso GkFA 22, S. 158). Vgl. dazu auch Koopmann, Helmut: Narziß im Exil. Zu Thomas Manns „Felix Krull“. In: Krummacher, Hans-Henrik / Martini, Fritz / Müller-Seidel, Walter (Hg.): Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Stuttgart 1984, S. 401– 422, der festhält, dass der Protagonist „bei allem Beziehungsreichtum innerlich doch beziehungslos“ (ebd., S. 414) bleibt. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 132. Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt am Main 1988, S. 32.

6.2 Tausch und Täuschung: Felix Krulls Hochstaplerlaufbahn

221

Gott werden derart viele, teils widersprüchliche Funktionen zugeschrieben. In seiner Rollenvielfalt und Ubiquität entzieht sich Felix einer hermeneutisch ermittelbaren oder verstehbaren Einheit, ja er subversiert jegliche Zuschreibungen geradezu. Eine Sinnfrage in jeglicher Form erübrigt sich bei dieser ‚liquiden‘ Existenz, die sich im Rollentausch permanent neu konstituiert und formt. Wie Herbert Anton festhält, verzweifelt Felix Krull nicht an der von Lukacs diagnostizierten Lebensimmanenz des Sinns.106 Das Spannende an diesen Beobachtungen sind die Überschneidungen, die sich zwischen dem tauschenden und sich austauschenden Felix und der Größe Geld ergeben. In seiner mobilen Allbezüglichkeit, seiner Austauschbarkeit, Omnipotenz und „panerotische[n] Unmoralität“107 gleicht er in hohem Maße dem indifferenten Medium Geld. Liest man, was Georg Simmel über das Geld schreibt, so könnte man sich auch in den Ausführungen von Hans Wysling über Felix Krull wähnen. So betont Simmel die „Qualitätslosigkeit oder Unindividualität“108 von Geld, bezeichnet es als „völlig indifferent“109 und sieht im Geld als „Träger und Ausdruck der Tauschbarkeit als solcher, das unindividuellste Gebilde unserer praktischen Welt“110. „Das Geld“, so Simmel weiter, „ist nicht nur der absolut fungible Gegenstand, von dem also jedes Quantum durch beliebig andere Stücke ununterscheidbar ersetzt werden kann, sondern es ist sozusagen die Fungibilität der Dinge in Person.“111 Diese Charakterisierung entspricht durchaus dem Vokabular von Hans Wysling, der von Felix’ „Versalität, ‚Omnipotenz und Ubiquität‘“112 und dessen „absoluter Disponibilität“113 spricht. Und das folgende Urteil Georg Simmels über das Geld trifft auch auf Felix’ schwebende und moralisch völlig indifferente Existenz zu: „Das Geld hat jene sehr positive Eigenschaft, die man mit dem negativen Begriff der Charakterlosigkeit bezeichnet.“114 Denn wie schon Lothar Bornscheuer in 106 Vgl. Anton, Herbert: „Hermeneutisches Doppelgängertum“ in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. In: Hansen, Volker (Hg.): Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 325–348, hier S. 332. 107 Thomas Mann an Theodor W. Adorno, 12. Februar 1952. In: Adorno, Theodor W. / Mann, Thomas: Briefwechsel 1943–1955. Hg. v. Christoph Gödde u. Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2002 (Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel 3), S. 99. 108 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 127. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 128. 111 Ebd. 112 Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 131. Wysling zitiert hier Thomas Mann aus seiner Rede Leiden und Größe Richard Wagners, der dort das „Vermummungsgenie[…] und imitative[…] Allvermögen[…]“ (IX, 384) des dionysischen Schauspielers mit eben diesen Worten rühmt. 113 Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 131. 114 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 273.

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6 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: Die Referenzlosigkeit des Geldes

seiner Untersuchung Zur Geltung des ‚Mythos Geld‘ festgehalten hat, ist es gerade Hermes, in dem die von Simmel diagnostizierte Charakterlosigkeit des Geldes „ihre göttliche Personifikation gefunden“115 hat. Mit seinem Leben auf Kredit bewegt sich Felix Krull also auf geldzeichentheoretischem Niveau. Seine Existenz entspricht der des referenzlosen Geldzeichens; er erhält seinen Wert durch den Kredit, den ihm die Leute geben, nicht durch den Bezug auf eine tatsächlich vorhandene Substanz. Personale Identität erlangt Felix Krull nur mehr in der jeweils gewählten Rolle, die durch den Glauben der Umwelt Gültigkeit erlangt. Felix’ Wert als Marquis steht nicht per se fest, sondern konstituiert sich erst im Akt der Beglaubigung durch die anderen. Der Hochstapler kann somit als Ausdruck für das „postsubstantialistische Funktionieren des Geldwesens und seine Missachtung von Hierarchien“116 angesehen werden; wie schon in Königliche Hoheit, im Zauberberg und in Joseph und seine Brüder wird diese Art der Wertschöpfung auch in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull in den Bereich des Zauberhaften verschoben. Felix’ Fach wird als das der „Menschenbeglückung und -bezauberung“ (VII, 463) ausgegeben, und der ‚echte‘ Marquis nennt ihn zu Recht einen „Zauberer“ (VII, 501). Felix Krull führt mit seinem Leben auf Kredit die Glaubens- und Vertrauensabhängigkeit der modernen Welt vor, die letztlich nur dann funktionieren kann, wenn die Menschen zu einem gegenseitigen Fundamentalkredit bereit sind.

115 Bornscheuer, Lothar: Zur Geltung des ‚Mythos Geld‘ im religiösen, ökonomischen und poetischen Diskurs. In: Grimminger, Rolf / Hermann, Iris (Hg.): Mythos im Text. Zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 1998 (Bielefelder Schriften zur Literaturwissenschaft 10), S. 57–108, hier S. 68. 116 Fulda, Daniel: Falsches Kleid und bare Münze. Tausch und Täuschung als Konstituenten der Komödie, mit zwei Beipsielen aus dem Barock. In: IASL 25 (2000), S. 22–47, hier S. 29, Anm. 32.

7 Schlussbetrachtung Es ist ja nicht so, daß es sich bündeln, mit rosigen Banderolen bändigen, rollen ließe, in die Matratze stopfen, für immer; […] nein, so ist es nicht; es ist ja nicht so, als ob du es haben, nicht haben, fassen, anfassen könntest; es riecht ja nicht, knistert nicht, hat kein Wesen; sondern es tropft psychisch, fehlt, von selber, sammelt sich innen, rinnt, gerinnt; dickflüssig überschwemmt es beim letzten Fixing alles was telephoniert; und zwar dergestalt steigt es, daß nur die Leichen nicht davon trinken; doch dann fällt es wieder, fehlt, verdunstet und tropft, von neuem, wirtschaftlich, und von selber.1

In seinem 1980 veröffentlichten Gedicht Das Geld greift Hans Magnus Enzensberger zur Beschreibung und Fassung der Größe Geld auf die Eigenschaften des Wassers zurück. Wie dieses tropft, überschwemmt und fällt das Geld und lässt sich, trotz aller Versuche, nicht recht fassen. Ohne greifbares Wesen, mit einem Eigenleben – zweimal ist es im Gedicht von selber aktiv – fließt und strömt es und ist in permanenter Bewegung. Damit knüpft Enzensberger an Beschreibungen an, die, wie gezeigt wurde, auch schon um 1900 aktuell waren. Georg Simmel beschreibt in seiner Philosophie des Geldes das Wesen desselben als actus purus, und Thomas Manns Romanpoetik zeichnet sich durch eine rege Verwendung einer Geldstrommetaphorik aus. Dynamik, Auflösung und Verflüssigung lassen sich als konstitutive Beschreibungselemente einer beschleunigten, kapitalisierten modernen Lebenswelt begreifen, als deren Paradigma die Entsubstantialisierungserfahrung und -diagnose angesehen werden kann. Auch die wert- und geldtheoretische Diskussion der Zeit kann in diesen Kon1

Enzensberger, Hans Magnus: Das Geld. In: Ders.: Die Furie des Verschwindens. Gedichte. Frankfurt am Main 1980, S. 83 f.

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7 Schlussbetrachtung

text eingeordnet werden, findet doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein zeichentheoretisches Umdenken auf allen Ebenen statt. Geld wird nicht länger als sekundärer Ausdruck eines vorhandenen Wertes angesehen, sondern erlangt, um Schumpeters in der Einleitung zitierte Worte erneut aufzugreifen, eigenes Leben und eigene Bedeutung. Entkoppelt von einer Wertsubstanz wird es zu einem flottierenden – strömenden – Zeichen mit ungeheurem Vermehrungspotential. Strömen, Fließen und Dynamik werden somit zu Idealen einer Ökonomie, „die mit der Idee der kontinuierlichen Steigerung operiert“2. Geschäftsleute wie Hermann Hagenström in Buddenbrooks oder der Milliardär Samuel Spoelmann in Königliche Hoheit werden mit ihrem Schwung und ihrer Liquidität als Leitfiguren einer beschleunigten und dynamisierten Geschäftswelt gezeichnet. Erfolgreich nutzen sie mit ihren Kredit-, Spekulations- und Investitionsgeschäften die Selbstvermehrungsmechanismen des Geldes und vertrauen auf dessen Deckungsversprechen. Die Protagonisten der untersuchten Romane bewegen sich in einem Kosmos, der nicht mehr sicher und geschlossen ist, sondern auf Kredit und Vertrauen basiert. Glaube und Erwartungen werden zu zentralen und unvermeidbaren Größen, und das nicht nur in der Geldwirtschaft. Durch die auf semantischer Ebene auszumachende Parallelführung von geldtheoretischen und psychisch-privaten Momenten werden die Erfahrungen der Protagonisten vielmehr als anthropologische Grundprobleme diskutiert – und poetisch verhandelt. Gerade mit der Kombination von geldtheoretischen Fragestellungen mit den psychischen Dispositionen der einzelnen Subjekte werden im Romanwerk Thomas Manns nicht ausschließlich nur die Probleme von „Künstlerfiguren, Kranke[n] und Besondere[n]“3 in den Fokus gerückt, sondern das Fundament menschlicher Interaktion und sozialen Handelns überhaupt. Die in den Romanen geldtheoretisch verhandelte Entsubstanzialisierung kann als grundlegende Erfahrung der Moderne angesehen werden: Vertrauen und Glauben sind nicht nur Voraussetzung für effektives Wirtschaften, sondern auch für das soziale Zusammenleben und jede Form der Interaktion. Wenn Felix Krull mit seiner geldgleichen, referenzlosen – völlig unindividuellen und entpersonalisierten – Existenz das Vertrauensfundament der modernen Lebenswelt bloßlegt, so kann damit Dirk Baeckers Einschätzung – „Wenn es so etwas wie

2 3

Behnstedt, Jan u.a.: Einleitung. In: Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer. Medien der Stagnation. Zürich / Berlin 2007, S. 7–25, hier S. 7. Becker, Sabina: Zwischen Klassizität und Moderne. Die Romanpoetik Thomas Manns. In: Ansel, Michael / Friedrich, Hans-Edwin / Lauer, Gerhard (Hg.): Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin / New York 2009, S. 97–121, hier S. 112.

7 Schlussbetrachtung

225

einen primären Akt der Gesellschaft gibt, dann besteht er darin, einen Kredit einzuräumen und anzunehmen.“4 – bestätigt werden. Die Romane Thomas Manns können somit nicht nur in modernen geldtheoretischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Diskursen verortet werden, sondern leisten eine umfassende – den Bereich der einzelnen Wissenschaft transgressierende – Betrachtung. Im Fokus stehen nicht allein geldtheoretische Formationen und Probleme, sondern deren Bedeutung für den Einzelnen. Denn, wie auch Adrian Leverkühn und Serenus Zeitbloom im Doktor Faustus auf ihrer Wanderung mit Studienkollegen bei der gemeinsamen Übernachtung in einer Scheune zu Gehör bekommen: Was aber die soziale [Bindung an den Staat] betrifft, so hat sie den Haken, daß, wenn im ökonomischen Raum alles bestmöglich reguliert ist, die Frage nach der Sinnerfüllung des Daseins und nach würdiger Lebensführung noch genau so offen bleibt wie heute. (VI, 165)

Diesem Diktum würde Thomas Buddenbrook, der an der Immanenz eines Lebenssinnes verzweifelt, sicherlich zustimmen; und auch Klaus Heinrich und Joseph führen vor, dass für ein erfülltes Leben allein die Ökonomie nicht ausreicht, finden sie ihr Glück doch in der Liebe ebenso wie in der Übernahme sozialer Verantwortung. Der Hochstapler Felix Krull hingegen macht mit seiner substanzlosen Existenz die Frage nach dem Zusammenhang von Geld und Sinn per se obsolet. Wie schon im Laufe der Arbeit diagnostiziert, muss zusammenfassend festgestellt werden, dass Thomas Manns Romane mit ihrem Fokus auf anthropologische Grundmuster einen Standpunkt der Kapitalismusbetrachtung einnehmen, der jenseits von Sozialkritik liegt. Thomas Mann selbst hat in einem Brief an Julius Bab zum Zauberberg geschrieben, er sei sich „voll bewußt“, dass „das Soziale meine Schwache Seite ist“5, und wollte auch seinen Roman Königliche Hoheit nicht als „sozialkritisches Buch“6 verstanden wissen. Der Blick auf die kapitalistische Moderne erfolgt hier also jenseits einer Sozial- und Kapitalismuskritik, die Phänomene wie Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit anprangert. Mit dem Festhalten an einer auf das einzelne Subjekt fokussierten Erzählweise stehen die Romane zwar deutlich im Gegensatz zu avantgardistischen Texten, die ihre Erzählweise an die Erfahrungen der urbanen, beschleunigten und dynamisierten Lebenswelt anpassen; im Hinblick auf die Paral4 5 6

Baecker, Dirk: Die Schrift des Kapitals. In: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Schrift. München 1993 (Materialität der Zeichen, Reihe A, 12), S. 258–272, hier S. 269. Thomas Mann an Julius Bab, 23. April 1925. In: Mann, Thomas: Briefe. Band I, S. 238. Thomas Mann an Kurt Martens, 11. Januar 1910. In: Mann, Thomas: Briefe. Band I, S. 80.

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7 Schlussbetrachtung

lelführung von geldtheoretischen und psychischen Konstellationen in den Romanen kann der Vorwurf der Ausblendung einer „Erfahrungsrealität und -struktur von Millionen Menschen (und Lesern) innerhalb einer verstädterten Zivilisation“7 zugunsten von herausgehobenen Einzelsubjekten jedoch zumindest abgemildert werden. Mit Ausnahme von Buddenbrooks, in denen, wie gezeigt wurde, die allein auf das Geld ausgerichtete, beschleunigte moderne Welt als sinnentleert entlarvt wird, wohnt den geldtheoretischen Verhandlungen doch vor allem auch ein Faszinationsmoment inne, etwa wenn die postsubstantialistische Wertschöpfung aus dem Nichts in Königliche Hoheit als wunderbar und märchenhaft beschrieben wird oder Josephs vorsorgende, zukunftssichernde Maßnahmen als zauberische stilisiert werden. In seinen Arbeitsnotizen vergleicht Thomas Mann Felix Krull mit Aladin, der sich „durch den Geist der Lampe ungeheuere Schätze bringen ließ“8, und erfasst damit nicht nur den Kern moderner Geldwirtschaft, sondern erklärt diesen auch zu einem Faszinosum. Und auch in der Erzählung Unordnung und frühes Leid (1925) befindet sich unter den Partygästen ein „Börsenspekulant“, der „in dieser Eigenschaft wie Aladin mit der Wunderlampe“ lebt: „Er hält sich ein Auto, gibt seinen Freunden Champagner-Soupers und liebt es, bei jeder Gelegenheit Geschenke unter sie zu verteilen, kostbare kleine Andenken aus Gold und Perlmutter.“ (VIII, 646) Die Wertschöpfung durch Zeit und Spekulation wird also auch hier ins Märchenhafte verschoben. Es mag tatsächlich wunderbar anmuten, dass ein so eklatant von Glauben und Vertrauen abhängiges System (zumindest meist) funktioniert. Wie die Romane aufzeigen, ist dabei jedoch das Moment der Täuschung stets mitzudenken; das Risiko der Blendung ist der Kreditwirtschaft, wie jedem System, das auf der Akkreditierung seiner Benutzer basiert – man denke an die Sprache –, immanent. Die Einsichten in die höchst unsicheren, deswegen aber auch faszinierenden Grundlagen der Geldwirtschaft werden durch die Korrelierung von geldtheoretischer und persönlich-privater Ebene im Medium der Literatur als anthopologisches – und höchst modernes – Grundproblem verhandelt.

7 8

Becker, Zwischen Klassizität und Moderne, S. 111. Thomas Mann auf einem Notizblatt, zitiert nach Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 472.

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Sekundärliteratur

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WIßKIRCHEN, Hans: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß.“ Quellenkritische Untersuchungen zu Thomas Manns Settembrini-Figur. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos. Frankfurt am Main 1995 (Thomas-Mann-Studien 11), S. 81–116 WIßKIRCHEN, Hans: Überwindung des Historismus? Der Zauberberg im Kontext der Geschichtsphilosophie seiner Zeit. In: Engelhardt, Dietrich von / Wißkirchen, Hans (Hg.): „Der Zauberberg“ – Die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur. Stuttgart 2003, S. 162–173 WOLTERS, Dierk: Zwischen Metaphysik und Politik. Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ in seiner Zeit. Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 147) WUNDERLICH, Werner (Hg.): Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur. Bern / Stuttgart 1989 (Facetten deutscher Literatur 2) WYSLING, Hans: Archivalisches Gewühle. Zur Entstehungsgeschichte der „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. In: Scherrer, Paul / Wysling, Hans (Hg.): Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Bern / München 1967 (Thomas-Mann-Studien 1), S. 234–257 WYSLING, Hans: Thomas Manns Pläne zur Fortsetzung des „Krull“. In: Ders.: Dokumente und Untersuchungen. Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung. Bern / München 1974 (Thomas-Mann-Studien 3), S. 149–166 WYSLING, Hans: Narzißmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. Bern / München 1982 (Thomas-Mann-Studien 5) WYSLING, Hans: Der Zauberberg – als Zauberberg. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos. Frankfurt am Main 1995 (ThomasMann-Studien 11), S. 43–57 WYSLING, Hans (Hg.): Thomas Mann. Selbstkommentare: ‚Joseph und seine Brüder‘. Informationen und Materialien zur Literatur. Unter Mitarbeit v. Marianne EichFischer. Frankfurt am Main 1999 ZELLER, Michael: Bürger oder Bourgeois? Eine literatursoziologische Studie zu Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 22 (1975), S. 11–23 ZELLER, Michael: Seele und Saldo. Ein texttreuer Gang durch Buddenbrooks. In: Wolff, Rudolf (Hg.): Thomas Manns „Buddenbrooks“ und die Wirkung. 2. Teil. Bonn 1986 (Sammlung Profile 23), S. 9–42 ZIEGLER, Bernd: Geschichte des ökonomischen Denkens. Paradigmenwechsel in der Volkswirtschaftslehre. München 2008 ZIEGLER, Dieter: Das Zeitalter der Industrialisierung (1815–1914). In: North, Michael (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick. 2., völlig überarbeitete u. aktualisierte Auflage. München 2005, S. 197–286 ZIEGLER, Konrat / Sontheimer, Walter (Hg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. München 1979 ZOLA, Émile: Das Geld. Ins Deutsche übertragen v. Wolfgang Günther nach der v. Maurice Le Blond besorgten Gesamtausgabe. München 1977

9 Namenregister Andersen, Hans Christian 73 Aristoteles 14, 105 ff. Atherton, Gertrude 2 Auster, Paul 134 Auxerre, William von 104 Bagehot, Walter 44 Balzac, Honoré de 197 f. Baudelaire, Charles 196 f., 207 Benjamin, Walter 95, 189, 192 Blumenberg, Hans 61 Bourdieu, Pierre 156 f. Brecht, Bertolt 78 Carnegie, Andrew 2 Dante 126 Davanzati Bostichi, Bernado 66 f. Derrida, Jacques 37, 46 Eicken, Heinrich von 2, 104, 107, 109, 110 Enzensberger, Hans Magnus 223 Fontane, Theodor 215 Franklin, Benjamin 100 Freud, Sigmund 128 Goethe, Johann Wolfgang von 9, 17, 45, 62, 70, 78, 99, 109, 136 f., 201, 220 Hamsun, Knut 108 Haushofer, Max 1, 42, 150 Hayek, Friedrich August von 42 Hebbel, Friedrich 61 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 150 f.

Heine, Heinrich 48 Hobbes, Thomas 66 Homer 126 Kafka, Franz 175 Keynes, John Maynard 15, 176 Locke, John 41 Lorimer, George Horace 2 Luhmann, Niklas 101, 180 Luther, Martin 6 Mann, Heinrich 113, 191 Mann, Klaus 47 Marinetti, Filippo Tommaso 11 Marx, Karl 85, 107, 126, 195, 207 f. Mauss, Marcel 123 f. Menger, Karl 65 Müller, Adam 64, 68, 74, 88 f. Musil, Robert 10 f. Novalis 67, 89 f. Poe, Edgar Allen 192 Rilke, Rainer Maria 190 Sacher-Masoch, Leopold von 214 Schumpeter, Joseph A. 14, 224 Simmel, Georg 7 ff., 12 ff., 46, 150 f., 198, 200, 208, 217, 221 ff. Smith, Adam 14 Stifter, Adalbert 151, 192, 194 ff., 198 Vergil 126 Weber, Max 18, 29, 49, 52, 100, 189, 190, 196 Zola, Émile 47