Götterspeise: Mahlzeitenmotivik in der Prosa Thomas Manns und Genealogie des alimentären Opfers [Reprint 2014 ed.] 9783110938951, 9783484320840

The Buddenbrooks may be the biggest eaters but they are not the only ones. All Thomas Mann's novels contain importa

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Götterspeise: Mahlzeitenmotivik in der Prosa Thomas Manns und Genealogie des alimentären Opfers [Reprint 2014 ed.]
 9783110938951, 9783484320840

Table of contents :
Maulbeer-Omelette
Essen und Erfahrung
1. Einleitung
2. Essen und Erkennen
3. Bisse des Eros. Essen und Wahrheit in Platons Symposion
4. »Die Freigebung des Kelches«. Der Streit ums Abendmahl
5. Antike Mysterienkulte ums Essen
5.1. Opferparadigma und Vegetationsgottheiten
5.2. Mit Hölderlin und Hegel von den eleusinischen Mysterien zum Abendmahl
5.3. Die Opfervergessenheit des Dionysos-Kultes
6. Feuerbachs Analyse des Opfers oder »Der Mensch ist, was er ißt«
7. Heinrich Heines Poetisierung des eßbaren Gottes
8. Interpretationen
8.1. Die Natur der Buddenbrooks
8.2. Die industrialisierte Brotvermehrung. Zur Bedeutung der Mahlzeiten in den Buddenbrooks
8.2.1. Vom Wunder zum Wissen
8.2.2. Alter Heiland und neue Feste
8.2.3. Zu Mittag bei den Buddenbrooks
8.2.4. Gott und Karpfen. Rezepte als Wortgottesdienst
8.2.5. Rezeptherkunft
8.2.6. Gottesblut und Fasten. Küchentechnische Sakramente
8.2.7. Essen und Erkennen. Appetit, Selbstreferenz und der leidende Christian
8.3. Himmelscasino
8.3.1. Daseinshunger und Lebensfraß auf dem Zauberberg
8.3.2. Kronos Rache oder von der Essenszeit zum Zeitessen
8.3.3. Exkurs zum Erwählten
8.3.4. »Prophetische Umhertreiber« und frugivores Heil. Kleiner Exkurs zur Lebensreform und zur Geschichte des Vegetarismus
8.3.5. Das Heilige ist ein Eiergericht
8.4. Goethes Gesundheit und Lottes Leiden. Zu Lotte in Weimar
8.5. Leverkühns Verdauungsstörungen Kunst als Buße im Doktor Faustus
8.6. Archäologie des Opfers in Joseph und seine Brüder
8.7. Hermeneutik des Opfers. Thomas Manns literarische Essensdarstellungen als Prototheorie des Austauschs
9. Ausblick: Küchenkyniker und Menschenfresser Thomas Bernhards Armenküche oder: die Geschichten von Behinderungen sind die Behinderungen von Geschichten
Literaturverzeichnis

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 84

Michael Köhler

Götterspeise Mahlzeitenmotivik in der Prosa Thomas Manns und Genealogie des alimentären Opfers

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Köhler, Michael: Götterspeise : Mahlzeitenmotivik in der Prosa Thomas Manns und Genealogie des alimentären Opfers / Michael Köhler. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 84) NE: GT D 180 ISBN 3-484-32084-2

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Williams graphics, Clwyd Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren

Inhalt

Maulbeer-Omelette. Von Walter Benjamin Essen und Erfahrung

VII VIII

1. Einleitung

1

2. Essen und Erkennen

6

3. Bisse des Eros Essen und Wahrheit in Piatons Symposion

14

4. »Die Freigebung des Kelches« Der Streit ums Abendmahl

22

5. Antike Mysterienkulte ums Essen

25

5.1. Opferparadigma und Vegetationsgottheiten 5.2. Mit Hölderlin und Hegel von den eleusinischen Mysterien zum Abendmahl 5.3. Die Opfervergessenheit des Dionysos-Kultes

25 28 33

6. Feuerbachs Analyse des Opfers oder »Der Mensch ist, was er ißt«

41

7. Heinrich Heines Poetisierung des eßbaren Gottes

47

8. Interpretationen

55

8.1. Die Natur der Buddenbrooks 8.2. Die industrialisierte Brotvermehrung Zur Bedeutung der Mahlzeiten in den Buddenbrooks

55 . . 58

8.2.1. Vom Wunder zum Wissen 8.2.2. Alter Heiland und neue Feste 8.2.3. Zu Mittag bei den Buddenbrooks

58 61 63 V

8.2.4. Gott und Karpfen. Rezepte als Wortgottesdienst . . . . 8.2.5. Rezeptherkunft 8.2.6. Gottesblut und Fasten. Küchentechnische Sakramente 8.2.7. Essen und Erkennen. Appetit, Selbstreferenz und der leidende Christian 8.3. Himmelscasino 8.3.1. Daseinshunger und Lebensfraß auf dem Zauberberg 8.3.2. Kronos Rache oder von der Essenszeit zum Zeitessen 8.3.3. Exkurs zum Erwählten 8.3.4. »Prophetische Umhertreiber« und frugivores Heil. Kleiner Exkurs zur Lebensreform und zur Geschichte des Vegetarismus 8.3.5. Das Heilige ist ein Eiergericht

68 73 75 77 86 86 94 97

101 117

8.4. Goethes Gesundheit und Lottes Leiden Zu Lotte in Weimar 8.5. Leverkühns Verdauungsstörungen Kunst als Buße im Doktor Faustus 8.6. Archäologie des Opfers in Joseph und seine Brüder . . 8.7. Hermeneutik des Opfers. Thomas Manns literarische Essensdarstellungen als Prototheorie des Austausche . .

151

9. Ausblick: Küchenkyniker und Menschenfresser Thomas Bernhards Armenküche oder: die Geschichten von Behinderungen sind die Behinderungen von Geschichten . . .

160

Literaturverzeichnis

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VI

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Maulbeer-Omelette Diese alte Geschichte erzähle ich denen, die es nun mit Feigen oder Falerner Borscht oder einem Capreser Bauernessen würden versuchen wollen. Es war einmal ein König, der alle Macht und alle Schätze der Erde sein Eigen nannte, bei alledem aber nicht froh ward, sondern trübsinniger von Jahr zu Jahr. Da ließ er eines Tages seinen Leibkoch kommen und sagte ihm: »Du hast mir lange Zeit treu gedient und meinen Tisch mit den herrlichsten Speisen bestellt, und ich bin dir gewogen. Nun aber begehre ich eine letzte Probe von deiner Kunst. Du sollst mir die Maulbeer-Omelette machen, so wie ich sie vor fünfzig Jahren in meiner frühesten Jugend genossen habe. Damals führte mein Vater Krieg gegen seinen bösen Nachbarn im Osten. Der hatte gesiegt und wir mußten fliehen. Und so flohen wir Tag und Nacht, mein Vater und ich, bis wir in einen finstern Wald gerieten. Den durchirrten wir und waren vor Hunger und Erschöpfung nahe am Verenden, als wir endlich auf eine Hütte stießen. Ein altes Mütterchen hauste drinnen, das hieß uns freundlich rasten, selber aber machte sie sich am Herde zu schaffen und nicht lange, so stand die MaulbeerOmelette vor uns. Kaum aber hatte ich davon den ersten Bissen zum Munde geführt, so war ich wundervoll getröstet und neue H o f f n u n g kam mir ins Herz. Damals war ich ein unmündiges Kind, und lange dachte ich nicht mehr an die Wohltat dieser köstlichen Speise. Als ich aber später in meinem ganzen Reich nach ihr forschen ließ, fand sich weder die Alte noch irgendeiner, der die Maulbeer-Omelette zu bereiten gewußt hätte. Dich will ich nun, wenn du diesen letzten Wunsch mir erfüllst, zu meinem Eidam und zum Erben des Reiches machen. Wirst du mich aber nicht zufriedenstellen, so mußt du sterben.« Da sagte der Koch: »Herr, so möget ihr nur den Henker sogleich rufen. Denn wohl kenne ich das Geheimnis der Maulbeer-Omelette und alle Zutaten, von der gemeinen Kresse bis zum edlen Thymian. Wohl weiß ich den Vers, den man beim Rühren zu sprechen hat und wie der Quirl aus Buchsbaumholz immer nach rechts muß gedreht werden, damit er uns nicht zuletzt um den Lohn aller Mühe bringt. Aber dennoch, ο König, werde ich sterben müssen. Dennoch wird meine Omelette dir nicht munden. Denn wie sollte ich sie mit alledem würzen, was du damals in ihr genossen hast: der Gefahr der Schlacht und der Wachsamkeit des Verfolgten, der Wärme des Herdes und der Süße der Rast, der fremden Gegenwart und der dunklen Zukunft.« So sprach der Koch. Der König aber schwieg eine Weile und soll ihn nicht lange danach, reich mit Geschenken beladen, aus seinen Diensten entlassen haben. Walter Benjamin

VII

Essen und Erfahrung

Maulbeer-Omelette ist das letzte von sechs Denkbildern zum Thema Essen, die Walter Benjamin zwischen 1931 und 1933 geschrieben hat. Illustriert es doch märchenhaft, was kein Vorwort anzudeuten vermag: das Essen ist ein Ort historischer Erfahrung. Ein Jahrhundert zuvor spricht Heinrich Heine auch von Maulbeeren. In der Vorrede zu Salon I nennt Heine den Dichter einen Diener des Wortes, der auserwählt wird und ein künstlerisches Apostolat erfüllt. Als Beispiel für unwillentliche Prophetie führt er den alttestamentarischen Propheten Arnos an, der vom Maulbeerlesen ab- und stattdessen zum Weissagen berufen wird: »Ich bin kein Prophet, noch keines Propheten Sohn, sondern ich bin ein Kuhhirt, der Maulbeeren ablieset; aber der Herr nahm mich von der Schafherde und sprach zu mir: >Gehe hin und weissageErosSelbstbewußtseinen< herstellbar.49 An dem Triumph welterschließender, begründender Subjektivität zweifelt Novalis' frühromantisches Denken ebenso hartnäckig wie die diesen Denkfiguren verpflichtete Neuklassik Thomas Manns. Es vollzieht keinen restaurativ-reaktionären Rückschritt, sondern einen Umtausch, eine mythopoetische Rückerstattung, einen wertäquivalenten Wechsel, weil es erkannt hat, daß es paradox ist, »die Vernunft vor den Richterstuhl der Vernunft zu bringen und so jede Form von heterologer Erfahrung auszuschließen«.50 Auffällig spracharm, ja verweigernd sind die Helden der Mannschen Romane, die musikversessen einem Gott huldigen, der für das Ungedachte einen Weg fand. 51 Der fremde Gott mit den vielen Beinamen, die einen auf kleine Namensmitte reduzierbaren Subjektkern behaupten, ist ein lauter und lärmender, noise produzierender Gott.52 Den sophistischen Zweifel an der Existenz der Götter weiß der Eindringling Dionysos sinnfällig, lauthals und vernunftunterwandernd zu widerlegen. Er argumentiert nicht lange mittels kommunikativer Vernunft, sondern schlägt zu. Wer ihm gehorcht, erntet mit Wein und Wahnsinn Entlastung vom Realitätsdruck und 46 Ebd. 2 , 2 3 . 47 Jochen Hörisch: Das doppelte Subjekt. Die Kontroverse zwischen Hegel und Schelling im Lichte des Neostrukturalismus. In: Die Frage nach dem Subjekt. Hrsg. von Manfred Frank, G. Raulet und W. van Reijen, Frankfurt/Main 1988, S. 160. 48 Vgl. M.Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt/Main 1977. 49 Vgl. Niklas Luhmann: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von H.U.Gumbrecht und K.L.Pfeiffer, Frankfurt/Main 1988, S . 8 8 4 - 9 0 8 . 50 Hörisch, Subjekt, 146. 51 Vgl. die Schlußverse der euripideischen Bakchen: »Unerwartetem, Ungedachtem schuf seinen Weg ein Gott«. 52 Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1984, S.649.

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Zugang zu göttlichem Vergessen.53 Denn Dionysos ist, und das ist das Innovatorische, der trinkbare Gott. 54 Die Möglichkeit, synthetische Urteile a posteriori bilden zu können, erwächst aus der theoretischen Unaushaltbarkeit von Heterogenitätserfahrung. Dies ist der Grund für die wahnsinnige Mutter Agaue, den prominentesten Leichnam der Dramengeschichte, den zerrissenen Pentheus der euripideischen Bakchen zusammenzusetzen und praktisch neu zu schaffen. Jene sakrale Anthropophagie des dionysischen Mythos gibt das Schema für den Schöpfungsablauf ab. Passion und Opfer des Gottessohnes wiederholen sich. Tötung, Teilung, Zerreißung und Verzehr des Stellvertreters eröffnen den Kreislauf. Der Körper Gottes ist irdische Nahrung, Kommunion, Erneuerung und Erlösung in einem. James Frazer schreibt dazu: »Es ist nunmehr leicht zu verstehen, weshalb ein Wilder den Wunsch hat, von dem Fleisch der Tiere oder Menschen zu essen, die er für göttlich hält. Indem er von dem Leib des Gottes ißt, nimmt er Teil an dessen Eigenschaften und Fähigkeiten (...) Demnach ist das Weintrinken bei dem Kult eines Weingottes wie Dionysos nicht etwa ein Akt der Schwelgerei, es ist ein feierliches Sakrament. Dennoch kommt eine Zeit, da vernünftige Menschen es schwer finden, zu begreifen, wie es möglich ist, daß jemand, der bei Verstände ist, annehmen kann, daß er durch den Genuß von Brot und Wein Leib und Blut einer Gottheit zu sich nimmt«. Dieser Aspekt der magisch-homöopathischen Beziehung zwischen dem »Essen als einer der ältesten Anschauungsformen der Einigung mit Geistigem, der Gewinnung geistiger Eigenschaften« und den historischen Riten, einschließlich der christlichen, wird stark betont: »Daß der Mensch sich mit einem Gotte vereinigen kann, dadurch, daß er ihn oder Stücke von ihm ißt, bewährt sich immer wieder als uralter, aus der Tiefe ursprünglichster religiöser Anschauung empordrängender Glaube. Wie der Wilde glaubt, die Kräfte des wilden Tieres zu erlangen, die Klugheit und Zaubermacht des weißen Mannes sich zu eigen zu machen, wenn er von ihm ißt, so gewinnt er göttliche Kraft und Macht, wenn er Göttliches ißt«. 55 Das Christentum mußte, um sich vom Wahnsinn

53 Vgl. Vers 280 der Bakchen. 54 E.R.Dodds: TheBacchae, 2. Aufl., 1957, S.XI: »Auf diese Weise gewann der Wein einen religiösen Wert, derjenige der ihn trinkt wird entheos, er hat die Gottheit getrunken«. 55 Aus: James G. Frazer, Der Goldene Zweig, Kapitel LI. Homöopathische Magie bei der Fleischkost, Leipzig 1928, S.725. 37

bringenden Dionysos abzusetzen, die strukturellen Ähnlichkeiten von Dionysos-Ritus und Abendmahl mildern. Die dionysischen Insignien Thyrsosstab, Wein, Blut und insbesondere das omophagische Essen von rohem Fleisch wurden als Götzendienst und Götzenmahl abgelehnt.56 Christus mußte die dionysische Grauzone inhumaner Selbstlosigkeit unter Strafe stellen, um auch politisch glaubwürdig zu werden. Die medial-massive Technologie des Heiligen,57 wie Dionysos sie vollzog (Lärm, Alkohol, Wahnsinn, Differenzaufhebung, Inversion von Mensch und Gott, von Nähren und Gebären, von Jäger und Gejagtem, von Signifikat und Signifikant), reduziert das Christentum auf Symbolverstehen. Kybele-Kult, eleusinische Mysterien und Demeter-Glaube kulminieren im Dionysos-Kult, der zusammen mit allen vitalen Säften (Wasser, Wein, Milch, Sperma) Wachstum und Erlösung bringt. »Das Weinwunder von Cana war zugleich das Wunder der Dionysostempel, und es hat einen tiefen Sinn, wenn auf dem Damaszener Abendmahlskelch Christus in den Weinranken thront wie ein Dionysos« erkennt auch C.G. Jung. 58 In der christlichen Liturgie wird Geburt, Leben, Passion, Tod und Auferstehung des Gottessohnes in symbolischer Abständigkeit wiederholt. Der christliche Bühnenzauber wiederholt die Opfer des Gottessohnes und wiederholt auch die Verwandlung von Brot und Wein in den Einen, wahren Leib. In der Messe ist Christus in und außerhalb der Zeit, präsent und absent zugleich. Erst priesterliche Worte vereinen und binden das Unvereinbare nun nicht mehr kochtechnisch, sondern sprachtechnisch. Opferer und Geopfertes kondensieren in den Worten: Hoc est enim corpus meum. Der Altar ist beides zugleich: »Grab und Tisch des Abendmahls«. 59 Besonders auffällig wird die Ähnlichkeit von Christus und Dionysos während der Ostermatutin. 60 Dionysos, der ja ein Kind des göttlichen Zeus und der weltlichen Semele war, mußte vor der eifersüchtigen 56 Vgl. 1 Kor. 10,20 und 11,27. 57 Vgl. Mircea Gliade: Mythen, Träume und Mysterien, Salzburg 1961, S. 109: »Es gibt keine religiöse Erfahrung ohne Vermittlung der Sinne«. 58 Aus: C.G. Jung, Das Wandlungssymbol in der Messe. In: ders., Psychologie und Religion, Ölten und Freiburg/Breisgau, 5. Aufl. 1971, S.221; auch R. Bultmann bezieht das Weinwunder auf die Dionysossage. In: ders., Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1950, S. 83, Anm. 3. 59 Jan Kott: Gott-Essen. Interpretationen griechischer Tragödien, München 1975, S.221. 60 Zu den Übereinstimmungen vgl. M. Frank, Gott im Exil, Frankfurt/Main 1988, bes. 14ff.

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Gattin des Zeus, vor Hera, in Sicherheit gebracht werden und wurde von Zeus daher in ein Lamm verwandelt. Nach orphischer Überlieferung wurde Dionysos Zagreus auf Veranlassung Heras von den Titanen zerrissen. »Trotz seiner Lammgestalt rissen sie ihn in Stücke und verschlangen ihn bis auf das Herz, das Athene rettete. Zeus ließ Semele das Herz essen, und so wurde Dionysos erneut empfangen«. 61 Im Exsultet, dem lateinischen Kirchenhymnus der Ostermatutin, den auch Thomas Manns Jakob-Figur im /arepft-Roman versteckt zitiert,62 ist die Herkunft aus dem dionysischen Ritus erkennbar: Haec sunt enim festa paschalia in quibus verus ille Agnus occiditur, cuius sanguine postes fidelium consecrantur. Jenes Osterfest ist endlich, an dem dieses wahre Lamm geschlachtet wird, dessen Blut die Türpfosten des Gläubigen heiligt.

Der Gedanke der Schlachtung Christi (der in der Maktationstheorie des 16. Jahrhunderts auflebt) ist immer mehr zugunsten symbolischer Auffassungen zurückgedrängt worden. Die res sacramenti werden durch geistvolle Worte zur substantiellen Gegenwart eines Gottes verdichtet. In der antiken euphemia tritt mittels beschwörender Priesterworte der Gott in das Opfertier ein. Das anschließende Mahl des Innersten, der Innereien (in Leber und Niere wurde der Sitz des Lebens vermutet) hat bis auf den heutigen Tag Hemmungen beim Verzehr hinterlassen. Aber nicht die »Fülle von Wein und Braten ist es, die uns an den Festen erfreut«, schreibt Plutarch, sondern »eine frohe Hoffnung und der Glaube an die Anwesenheit des Gottes, der uns gnädig ist und das gebotene befriedigt annimmt«.63 Es läßt sich nicht leugnen: »Die christliche Eucharistie steht ihrer Form nach ganz unter antiken Gesetzen«. Jedoch mit dem entscheidenden Verschub »(...) zu einer symbolisch-dramatischen Aufführung der Erlösungstat«. 64 Zum Genossen der Götterspeise, zum koinoos, wird man durch Sprachabtretung im Innenverhältnis der Gläubigen. Lebendige und in Menschgestalt erscheinende Götter wie Dionysos und Christus sind ein Ärgernis.

61 Aus Lex. der antiken Mythen und Gestalten, Hg. von Michael Grant und John Hazel, München, 5. Aufl. 1987, S. 127. 62 T.M. Joseph, Tb-Ausgabe S. 75. 63 Zitiert nach Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 188. 64 O.Casel, Altchristlicher Kult und Antike, In: Jb. für Litwiss. 1923.

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Sie ernten Zweifel und Unglauben, letztlich Tod. Ihr Unterschied liegt in der Kommunion und der Zusammensetzung des zerrissenen Leibes. Der zerstückelte Pentheus wird zwar neu zusammengesetzt, aber er ersteht nicht auf. Der dionysische Taumel ist grausamer Ernüchterung gewichen. Den Sieg des Lebens über den Tod trägt allein das Christentum davon, weil es die wahnsinnige Teilung umging, und einen Kult des Einen, ganzes Leibes betrieb. An ihm jedoch zweifeln die Dichter des Abendmahls von Novalis bis Thomas Mann ungläubig wie Pentheus an Dionysos.

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6. Feuerbachs Analyse des Opfers oder »Der Mensch ist, was er ißt«

In Marxens berühmtem Diktum über Hegel, der vom Kopf auf die Füße gestellt werden müsse, drückt sich junghegelianische Kritik am rein denkerischen Erfassen der Wirklichkeit und zugleich eine radikale Anthropologisierung und Materialisierung der Philosophie aus. Nach der Juli-Revolution von 1830 wollten und konnten die Philosophen der neuen Zeit die Entfaltung des Geistes nicht mehr mit den neuen Zauberworten des »Interesses« und der »Bedürfnisse« in Übereinstimmung bringen. Ein Unbehagen am Staat machte sich breit. Schopenhauer schimpfte (neidisch) auf den »Afterphilosophen« Hegel und zog sich von der Universität zurück. Dühring wurde die Dozentur entzogen. Feuerbach mußte seine Erlanger Dozentur u.a. wegen der anstößigen Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit zurückziehen, und Nietzsche schließlich ließ sich nach kurzer Zeit von der Basler Universität beurlauben, um fortan in Sils Maria zu leben. In Feuerbachs erster Vorlesung über Das Wesen der Religion heißt es kurz und knapp: »wir haben ebenso wie den philosophischen, den politischen Idealismus satt; wir wollen jetzt politische Materialisten sein«.1 Feuerbachs Denken gilt dem Menschen als Gegenstand und Opfer von Theologie und Religion. Er jedoch hält es mit der Philosophie, der das Wahre heilig und nicht wie der Theologie das Heilige wahr ist. Denn die Vernunft habe eine menschheitsumgreifende, universelle Struktur, wogegen der Glaube partikular sei. Kurz: Feuerbachs philosophische Bemühungen gelten dem Opferwesen des religiösen Menschen und seinen gesellschaftlichen Praktiken. »Das erst ist der Kern der Religion: Der Mensch ist kein theoretisches, sondern praktisches Wesen der leibeskräftigen hunger- und kummervollen Wirklichkeit«, faßt er in der letzten Vorlesung zusammen.2 Wonach Feuerbach radikal fragt und was er fordert, ist das in-die-Natur-Setzen des 1 L. Feuerbach: Gesammelte Werke. Hrsg. von Werner Schuffenhauer, Berlin 1972, Bd. 6, S.8. 2 Ebd.

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Menschen. Mit seinem Denken wird die Wohnstätte des Geistes entschieden verweltlicht, und eine Rehabilitierung der Sinne, die bislang als un- oder vorphilosophisch galten, setzt wieder ein. In Feuerbachs Augen hatte Hegel die sinnliche Bedingtheit des Menschen sträflich vernachlässigt. Sein Vorwurf zielt auf das reine »Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können« der Idealisten, als unmittelbaren Philosophiezugang, ab. Diese Voraussetzungslosigkeit beanstandet Feuerbach entschieden und wegweisend. Er optiert jedoch nicht für einen platten Sinnlichkeitskult saint-simonistischer Prägung, sondern für eine Rückeinbindung der Sinne in die Natur, in der die leibliche Existenz als natürliche Sinnlichkeit verstanden wird. Er wendet sich gegen die leibfeindliche, die Körper instrumentalisierende Besitznahme durch den Geist. Was der Philosoph theoretisch vorwegnimmt und sich bei Thomas Mann literarisch vollends entspinnt, ist die Einsicht in eine vorgängige und steuerungslose Organimperialität. Kein Geist kann fünf Meter Dünndarm unterwerfen. Das weiß keiner besser als Thomas Mann. Darum spricht er im Zusammenhang mit seinen diesbezüglich häufigen Beschwerden auch von »Leib-Angst«, die ihn ergreife.3 Feuerbach gibt zu bedenken: wir verstehen uns nicht nur im Lichte heterogener, abhängiger Erfahrung als Ich, unterschieden von einem Du, als Mensch in und versus Natur, als im Dasein Anderer begründet, sondern auch in einem objektivierenden Selbst- und Körperverhältnis. An die Stelle der absoluten Bedeutung des geschichtlichen Christus-Auftritts tritt bei Feuerbach die Erfahrung individueller »Versinnlichung und Verendlichung«.4 Und das ist der politische, öffentliche und dialektische Körper. Er macht das Recht des Unterschieds massiv geltend, und zwar anthropologisch wie ontologisch. Das Sein erschließt sich nicht über das Denken des Allgemeinen, sondern über die Sinnlichkeit. Empfindung und Hunger haben empirische und erkenntnisfähige Qualitäten. Daß Sein und Essen unmittelbarer zusammenhängen als Geist und Sein, hat sich in der folkloristischen Formel, die stets nur verstümmelt wiedergegeben wird, erhalten: »Der Mensch ist, was er ißt.« Nichts weniger als das Rätsel der Religion bindet Feuerbach an diesen Satz. Er ist der Titel einer kleinen Schrift und heißt vollständig: Das Geheimnis des Opfers oder Der Mensch ist, was er ißt.5 Dieser »skurrile Ausspruch der modernen sensualistischen 3 Vgl. Tagebucheintrag vom 11.10.1918. 4 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1988, S. 108. 5 Feuerbach XI, 28.

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Afterweisheit« betreibt respektlos die Gastrosophierung der Theologie und umgekehrt die Theologisierung der Gastrosophie.6 Die Schrift gilt der alles andere als unernsten Frage nach dem wahren Sinn und Anlaß des »Speise- und Trankopfers«. 7 Als Beleg führt er Homer an, der in der Ilias nicht nur von der Kraft spricht, die Speis und Trank geben, sondern auch ganze Völker anhand ihrer Speisegewohnheiten charakterisiert.8 Selbst Homer argumentierte bereits anthropologisch, wenn er nicht nur Völkerbeschreibungen übers Essen vornehme, sondern den Menschen selber als »auf der Erde Brot essenden Sterblichen« beschreibe.9 Mensch und Gott unterscheiden sich, man höre und staune, durchs Essen. Was ersterem im günstigsten Fall Götterspeise ist, ist letzterem Ambrosia. Die Ilias berichtet: »Nicht essen die Götter Brot, noch trinken sie funkelnden Wein, deswegen haben sie kein Blut und heißen Unsterbliche«.10 Sie essen hingegen Ambrosia, unsterbliche Speise. Gott ißt Unsterbliches. Der Mensch ißt Sterbliches. Also ist er ein Sterblicher." Denkbar einfach und phantasielos, aber plausibel ist die Formel: »Wie die Speise, so das Wesen, wie das Wesen, so die Speise«. Nie vorher wurde das Verhältnis von Akzidens und Substanz, von Besonderem und Allgemeinem, von res externa und res cogitans, so einfach zusammengefaßt. Zweifelhaft mußte diesem philosophischen Speisetheoretiker daher jene eucharistische »Ekstase der Inbrunst« des Abendmahls sein, in der das »Bedeutende zum Bedeuteten selbst wird«.12 Auf Erden aber, wo die Götter in Tempeln angebetet werden, wo sie sich als »unverkennbare Erscheinungen der Anthropologie erweisen«, genießen sie andere Speisen.13 Die Götter sind aber vom Menschen ebenso unterschiedene, mängel-, übel- und schrankenlose, wie ununterschiedene »wesensgleiche« Wesen. »Die Offenbarung dieser Wesensgleichheit oder Wesenseinheit ist das Opfer«.14 »Sinn und Kern des Opfers aber ist die Speise«.15 In diesem Punkt ist Feuerbach

6 7 8 9 10 11 12

Ebd. Ebd. Homer, Ilias. XIX., 161f„ 5. Aufl., München 1988. Ebd. Ebd. Vgl. Anm.5. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums. In: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Erich Thies, Frankfurt/Main 1976, 5,287. 13 Ebd. 14 Ebd., S.31. 15 Ebd., S.37.

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religionsgeschichtlich ganz Hegelianer, der im Opfer die »Anerkennung einer allgemeinen Macht« als religionskonstitutiv ansah.16 Durch das Opfer »drückt der Mensch aus, daß er seines Eigenthums, seines Willens (...) sich entäußere«. 17 Was auch immer den Göttern dargebracht wird, »opfern heißt, die Götter speisen«.18 Das Problem des Gottessens wendet Feuerbach ganz unprotestantisch auch aufs Abendmahl an: »Ist es denn aber nur der heidnische, ist es nicht auch der christliche, scheinbar so spiritualisierte Gott - der, auch ganz abgesehen von dem Sakrament des Abendmahls - die Menschen speist und tränkt?« 19 Die verknüpfende Kraft von Essen und Trinken drückt sich nicht nur im Sprichwort aus, demzufolge diese nicht nur Leib und Seele, sondern auch »Gott und Mensch und Ich und Du« zusammenhalten. 20 Beim Essen wird ein Bund mit dem schlechthin Abwesenden (der Geschichte, der genealogischen Kette, den Göttern) geknüpft. Es kann aber auch Ausgrenzungsmittel einer Solidargemeinschaft sein. Besonders die jüdischen Speisevorschriften illustrieren: »wer nicht ißt, was wir essen, der ist auch nicht, was wir sind«.21 Das alimentäre Sein bestimmt offenbar das Bewußtsein. Daß darin auch die Möglichkeit zur Überwindung von völkertrennendem Haß liegt, hat Thomas Mann in seinem Joseph-Roman ebenso antifaschistisch-verbrüdernd und menschheitsutopisch befriedend wie humorvoll, ja gleichsam mit jüdischem Witz, gezeigt. Das Essen bekommt also schnell handgreifliche Dimensionen, nicht nur wo es um Hunger, sondern auch, wo es um soziale Abgrenzung und Distinktion geht. Als um so bedeutungsvoller muß das »Mahl mit den Brüdern« des Joseph-Romans aufgefaßt werden: politisch, ontologisch, religionshistorisch und kulinarisch. Feuerbachs Theoreme erweisen sich für unseren Zusammenhang als philologisch fruchtbar, indem sie die Allegorisierbarkeit und Metapheranfälligkeit des Essens herausstellen. »Küsse und Bisse« können sich wie in Kleists Penthesilea reimen, weil Eros die Tropen des Essens bestimmt.22 Die Rede vom Fraß eignet sich als metaphorisches Medium im Prozeß verschlingender Weltaneignung. Das Kunstwerk, das Epos 16 17 18 19 20 21

Hegel, XVI, 137. Hegel, XI, 83. Ebd. Feuerbach, 11, 35. Feuerbach, 11, 41. Ebd.; vgl. auch die Speisevorschriften des Alten Testaments 1. Mos. 1,29-30; 1.Mos.9,3-4; 3.Mos.3,16-17; 5.Mos. 14,3-21. 22 Vgl. Bataille, Das obszöne Werk, Reinbek b . H b g . 1988. 44

oder der Roman können daher unter Zugabe von halluzinatorischer Seh-, Hör- und Schmeckkraft als »Rohkost der Erfahrung« angesprochen werden.23 Denn das Kunstwerk oder der Roman gibt seine Sinnesbedürftigkeit auf jeder Seite, aufgrund der ihm inhärenten Defizienz, unaufhörlich preis. Gleichermaßen konkurrieren auf dem Boden des Essensmotivs Buch- und Welterfahrung eindringlich. Am Essensmotiv müht die nobelste Aufgabe der Literatur, nämlich Erfahrungen zugänglich zu machen, sich vergeblich. Wer liest, ißt nicht; allenfalls nur innerhalb einer symbolischen Ordnung. Um Irritationen zu vermeiden, sollte man das tunlichst nicht verwechseln. Darum ist der Einsatz dieses Motivs vorwiegend kopflastig, begriffsorientiert. Rede und erst recht Schrift übers Essen erfolgen daher zumeist im uneigentlichen Sinne, um der Anarchie ihrer Eigentlichkeit zu wehren. Um omophagische Assoziationen der Einsetzungsworte zu vermeiden, unterscheiden die christlichen Theologen in »mündliches und fleischliches Essen«, damit der Leib des Herrn auf erstere und nicht letztere Weise genossen wird.24 Abschließend fügt Feuerbach noch eine anthropophagische Spekulation an. Auf die Frage, was die Speise mit dem eigentlichen Wesen des Menschen zu tun habe, gibt er die Antwort, daß der Mensch a priori selbstbewußt, sich also selbst Gegenstand sei: »allein der Mensch ißt nicht nur anderes, er ißt auch sich selbst«.25 Er spielt damit aufs Abendmahl an und deutet auf Nietzsches einladenden ersten Satz der Fröhlichen Wissenschaft voraus, der lautet: »Wagts mit meiner Kost, ihr Esser!« Essen ist demnach ein metaphysisches, intellektuelles und weltliches Selbstverhältnis. Das SichSelbst-Verzehren aus »metaphysischem Bedürfnis« ist in seinen Augen nicht nur ein poetisches Bild. Es hat eine physiologische Grundlage. Der Hungernde, Verkümmernde ißt sich selber auf. Dieses essende Selbstverhältnis ist ein anthropophagisches. Im Essen ist jene Unmittelbarkeit gegeben, von der Hegel sprach. In ihm realisiert sich die reine Reflexion und Selbstbezüglichkeit. »Ein mittelbarer oder indirekter Anthropophag ist jeder Mensch, denn wir essen und verdauen ja nur von einem Tiere oder einer Pflanze, was unseresgleichen, unseres Wesens ist, was mögliches und mittelbares Menschenfleisch und Menschenblut ist«.26 Feuerbach exemplifiziert dies an der Muttermilch. 23 24 25 26

W. Benjamin, Ges. Schriften, hrsg. von R. Tiedemann, Bd. IV, 1, S. 436. Ebd. XI, 47. Ebd. 45

Im Leibe der Mutter ist sie »Menschenblut, außer demselben Menschenmilch«, also unserem Wesen ähnliche, vermittelte, letztlich identische Flüssigkeit, Selbst-Infusion. Die Beschaffenheit des Menschenwesens ist also eins mit der Beschaffenheit seiner Nahrung. Im Zuge der Enkulturation ändert sich die äußerliche Beschaffenheit und geht in pflanzliche und tierische Speise über, wird durch Festes und durch Zähne vermittelt. Es gehört aber zur eigentümlichen (christlichen) Kultur des Menschen in der Sicht Feuerbachs, daß er »Menschenfleisch im Brot und tierisches Fleisch, Menschenblut im Blut des Weinstocks, des Ölbaums (...) genießt und seinen Göttern zur Versöhnung darbringt«. 27

27 Ebd.

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7. Heinrich Heines Poetisierung des eßbaren Gottes

In Hegels Versöhnung von Staat und Religion kann man die Politisierung des Abendmahls als weltgeschichtliche, christliche Realisierung der Vernunft und des Geistes beobachten. Feuerbachs Verweltlichung, seine Mundanisierung der Philosophie, sensualisiert das Abendmahl und erklärt gleichzeitig die Religion zum System der Überwindung einer als schrankenhaft empfundenen Natur. Mit Heine nun tritt das literarische Abendmahl, oder weiter gefaßt, die bedeutungstragende Mahlzeit, in den Zustand endgültiger Poetisierung des Stoffes. Heine, der für Thomas Mann mehr war als nur der literarische »Liebling des Halbwüchsigen«, hatte ein ausgeprägtes religionshistorisches Interesse, an dem Mann sich schulte.1 Auf den konstitutiven Rezeptionsvorgang Heines durch Mann wird hier eingegangen, wo sich Heine ausdrücklich zum Essen im weiteren, und zum Abendmahl im engeren Sinne äußert.2 Liebe, Gerechtigkeit, Geschichte, Tod und Tugend sind selbstverständliche, unhinterfragte Begriffe und Topoi der Poesie sowie der Wissenschaft, die sie zum Gegenstand hat. Nicht so scheint es mit dem Essen zu stehen. Über die Hintertreppe zum Denken der Dichter und Denker vorzudringen, ist ein erprobtes Mittel. Es durch das Schlafzimmer zu tun, ist unanständig. Sich durch Küche und Keller aber einer Person und ihrer Poesie zu nähern, wird als biographistisch verpönt. Heine bot von beidem reichlich. Person und Werk sind dem Weltlichem, seinen Entbehrungen und Schmerzen, besonders aber auch seinen verzehrenden Freuden, aufgeschlossen. Amouren und Alimentationen, und nicht nur Lamentationen, also zu Genüge. Durch Heines Werk (Deutschland. Ein Wintermärchen; Die Memoiren des Herrn von Schnabelewopski; Romanzerot Buch der Lieder, um nur die wichtigsten zu nennen) zieht sich die Motivik des Essens nicht als platte sensualistische Forderung nach mehr Genuß und Freizügigkeit, sondern als 1 Arthur Eloesser: Thomas Mann, Berlin 1925, S.38. 2 Volkmar Hansen: Thomas Manns Heine-Rezeption, Hamburg 1975. 47

Spiegel und Projektionsfläche für menschliche, irdische Bedürfnisse im Allgemeinen und religiöse Erfahrung im Austausch mit Natur, Pflanzen, dem Gewachsenen, Anderen und Göttlichen im Besonderen. Die Erscheinungen der Welt, sich als »dasjenige, was man essen kann, und in dasjenige, was man nicht essen kann« vorzustellen, hat individuellen, gesellschaftlichen und politisch-religiösen Bezug.3 Kurz: es ist ein integral-orales Verhältnis der Zuführung und der Internalisierbarkeit von Welterfahrung. Wenn im Buch Le Grand der Reisebilder erst Apfeltörtchen Heines Passion waren und es späterhin »Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe« sind,4 dann wird Erotik, Philosophie und Politik nicht nur ironisiert, sondern auch eßbar gemacht.5 Terence Reed hat in seinem Aufsatz über Heines Appetit auf den gattungswidrigen Einsatz des Essensmotivs in Heines Prosa hingewiesen,6 wonach »der körperliche Mensch und seine nach Befriedigung strebenden Bedürfnisse in die Komödie gehören«.7 Das Motiv des Essens ist bei Heine ein wichtiger Bestandteil seines ironischen Stils. Seine Reisebilder werden dadurch zur komödiantischen Prosa und sprengen in romantischem und jungdeutschem Geist die alten verbindlichen Gattungen. Heine nimmt in der Verwendung dieses Motivs seinen Ausgang beim Hunger, 8 bei den »Interessen des Suppentopfes«, 9 um endlich das letzte Essen im Sakrament des Abendmahls zu thematisieren. Neben der auffällig politischen Dimension von literarischen Nahrungsbildern wird das Motiv scherzhaft verändert zu einer zunehmend allegorischen, schließlich einer eschatologischen Verwendung: Ma foi, Madame! Ich könnte keine 24 Stunden, viel weniger 9 Jahre aushalten, mein Magen hat wenig Sinn für Unsterblichkeit, ich hab's mir überlegt, ich will nur halb unsterblich und ganz satt werden, und wenn Voltaire 300 Jahre seines ewigen Nachruhmes für eine gute Verdauung des Essens hingeben möchte, so biete ich das Doppelte für das Essen selbst. 10 3 Heinrich Heine: Sämtliche Werke, hrsg.v. O.Walzel, Leipzig 1910-20, Bd. 4, 71. 4 Heine, Buch Le Grand. In: H.H., Sämtl. Schriften, hrsg. von Klaus Briegleb, Bd. 2, S.262, München, 2. Aufl. 1976. 5 Vgl. dazu den brückenschlagenden Aufsatz von Terence Reed: Heines Appetit. In: Heine Jb. 1983, 22. Jg., S . 9 - 2 9 . 6 Ebd. 7 Ebd., 13. 8 Heine 2, 272. 9 H.H.: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Berlin, Paris 1970ff., Bd. 23, S.54. 10 Heine 2, 290.

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Über die Verdaulichkeit und Unsterblichkeit bis zum »großen Versöhnungsmahl«, bei dem einst »alle als gleiche Gäste (...) an einem gut besetzten Tische« zusammen säßen," reicht das bildliche und begriffliche Spektrum des Essensmotivs, das für den sorgfältigen HeineLeser Thomas Mann anziehend und auffällig sein mußte. Das Essen und insbesondere das semantisch aufgeladene Abendmahl ist für Heine und Mann Symbol einer erreichten, emanzipatorischen Zivilisationsstufe. Tafelfreuden, ob in Gestalt ästhetischer Augenlust oder lukullischer Feinschmeckerei, sind Belege kulturellen Fortschritts, nicht zuletzt aber auch Distinktionskriterien weltmännisch-aristokratischer Literaten. Einen Fisch oder eine Ente tafelgerecht (nicht artgerecht) zu (z)erlegen, erfordert mindestens soviel Bildung, Etikette und Kenntnis wie Geschick. Gier allein reicht nicht aus. Heines und Manns Interesse am Essen ist religions- und zivilisationshistorisch begründet. Die Geschichte der Bereicherung des »Einen«, die Reduktion vom Poly- zum Monotheismus, den der Josephsxom&n nachzeichnet, findet Vorlage und Anregung in Heines religionshistorischen Exkursen. Gedacht ist hier an die Ablösung der vielen durch den einen Gott, an die Ablösung des mittelalterlichen Blutglaubens durch Christus sowie die Ersetzung durch funktionsgleiche Alternativen, beispielsweise Geld.'2 Im Vitzliputzli-Gedicht, im Schnabelewopski und Almansor ist am auffälligsten vom Abendmahl die Rede. Aufmerksam verzeichnet Heine das Befremdliche nominalistischer »dies ist« - und realistischer »dies bedeutet« — Interpretationen. Heine wünscht sich, bei aller Bevorzugung des Christentums als der gewaltlosen Religion, eine völkerumspannende, konfessionslose Weltanschauung, in der »nur eine Kirche der Liebe ist die Erde«.13 Nun zur theologischen Dimension des Essensmotivs. Ein Blick auf das beherrschende Wortfeld zeigt, wie Heine ganz feuerbachianisch anthropologisch argumentierend Religionskritik mit Hunger und Abendmahl mit weltlichem Essen in Wettstreit bringt. Die neue Zeit ist eine Zeit der »Interessen« und des »Bedürfnisses«. Novalis hatte bereits die »oeconomische Natur« der Dinge in Anschlag gebracht, die Marx dann philosophisch untermauerte. Heine kritisiert den neuen Geldglauben, die Kapital-Ideologie, den profanen Pragmatismus, das 11 Heine, 2, 377. 12 Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: H.H., Sämtl. Schriften, Bd. 3, 472. 13 Heine, Almansor I, 313.

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»irdische Nützlichkeitssystem«, indem er feststellt, daß die »Menschheit jetzt aller H o s t i e n überdrüssig« ist u n d als einzigen Glauben noch den Glauben ans Geld zuläßt. 14 Mit Feuerbach sucht Heine den Gott nicht in der symbolischen Hostie, sondern im Brot, und beschreibt den Profanisierungssturz der heiligen Speise: Wir befördern das Wohlsein der Materie, das materielle Glück der Völker, nicht weil wir gleich den Materialisten den Geist mißachten, sondern weil wir wissen, daß die Göttlichkeit des Menschen sich auch in seiner leiblichen Erscheinung kundgibt, und das Elend den Leib, das Blut Gottes, zerstört oder aviliert, und der Geist dadurch ebenfalls zugrunde geht. Das große Wort Revolution, das Saint-Just ausgesprochen: le pain est le droit du peuple, lautet bei uns: le pain est le droit divin de l'homme. Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volkes, sondern für die Gottesrechte des Menschen. Hierin (...) unterscheiden wir uns von den Männern der Revolution. Wir wollen keine (...) frugalen Bürger sein (...): wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien - seid deshalb nicht ungehalten, Ihr tugendhafter Republikaner! Auf Eure zensorische Vorwürfe entgegnen wir Euch, was schon ein Narr des Shakespeare sagte: meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf dieser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt mehr geben? 15 D e m konvertierten Juden H e i n e u n d dem Protestanten M a n n mußte das zentrale christliche Sakrament der Eucharistie besonders problematisch erscheinen. D e n n o c h ist es für beide der Ausdruck und das S y m b o l höchster Zivilisation. Nachweislich greift T h o m a s M a n n in seinem Essay Gedanken Vitzliputzli-

im Kriege in Wortwahl und Geist auf Heines

Gedicht zurück, und benutzt es zur Gegenüberstellung der

den Essay tragenden Begriffe von Kultur und Zivilisation: Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Wiederspieles von Geist und Natur. Niemand wird leugnen, daß etwa Mexiko zur Zeit seiner Entdeckung Kultur besaß, aber niemand wird behaupten, daß es damals zivilisiert war. Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei 14 Heine, 3, 568. 15 Reed, Appetit, 20. 50

das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafes, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung - Geist. 16

Nur heidnische, unzivilisierte Völker tragen den blutrünstigen Kriegsgott Vitzliputzli auf ihrem Banner. In Manns Sicht ist »Kultur« auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als »Zivilisation«. »In der christlichen Behandlung ist das Schauspiel nicht so gräßlich«, schreibt Heine im besagten Gedicht.17 Respektlos ironisch und doch im Bewußtsein des besseren Loses fährt es fort: »Denn dem Blute wurde Rotwein und dem Leichnam, welcher vorkam, wurde eine harmlos dünne Mehlbreispeis transsubstantiieret«. 18 Für ein Gedicht nicht gerade ein gelenkiges Prädikat. Es zeigt dennoch zweierlei: erstens die friedvollere, menschenopferlose, gewaltfreie, unblutige Kultur des Christentums; zweitens aber auch den bedenkenswerten Wandlungszauber. Denn Heine spricht nicht von Wein und Brot in der Tradition der Evangelien, sondern analytisch, wie vor ihm sinngemäß schon Hegel von »Rotwein und Mehlbreispeis«. Er spricht sozusagen als Theologe, d.h. Bibelwissenschaftler und Interpret. 19 Heine ist, wie nach ihm Thomas Mann, nicht am Konfessionellen, sondern vorrangig am Religiösen interessiert.20 Und zwar an »ursprünglicher Religiosität (...). Gott war immer Anfang und Ende meiner Gedanken«.21 Als prosaisch fruchtbar hat es sich für beide (ironischen) Dichter erwiesen, den dabei vorfallenden Prozeß der Säkularisierung

16 Th. Mann: Gedanken im Kriege. In: T.M., Essays Bd. 2, Hrsg. von Hermann Kurzke, Frankfurt/Main 1986, S.23. 17 Heine: Vitzliputzli. In: H.H., 6/1, S.68. Zur Frage ob der Mensch nur Besorger, Hausverwalter der Götter ist, der seinen Zehnten wie in Sumer oder sein Blut wie in Mexiko als Nahrung für die Götter gab, vgl. Jost Herbig: Nahrung für die Götter. Die kulturelle Neuerschaffung der Welt durch den Menschen, München 1988. 18 Ebd. 19 Zur Unterscheidung von Religion und Theologie bei Heine vgl. Joseph Kruse: Heine als Theologe. In: H.H. im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft. Hrsg. von Wilhelm Gössmann u. Manfred Windfuhr, Hagen 1990, S . 8 1 - 9 8 . 20 Vgl. Th. Mann, Fragment über das Religiöse; vgl. dazu auch Heine, »Gott ist identisch mit der Welt«, 3, 569. 21 Heine, Geschichte der Religion, 5, 602.

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in ökonomische Begrifflichkeiten und Bilder der Volkswirtschaftslehre zu übersetzen. Den Schwund des Polytheismus, der zur Folge hatte, nur »Einen zu bereichern«,22 das bedauernswerte monotheistische Diktat, übersetzen Heine und Mann in binnenweltliche Funktionsbegriffe. Und dies ist die Sphäre der Ökonomie, wie schon Novalis erkannte. 23 Das universelle Tauschmittel, das den doppelten Warencharakter, Substanz und inkorporierte Arbeit, Sein und Sinn repräsentiert, ist das ökonomische Prinzip, oder kurz, Geld geworden.24 Die alltäglichen, nüchternen Begriffe der Wirtschaftssysteme und ihrer Sprache (des Physiokratismus, Merkantilismus, Kameralismus etc.) überträgt Heine auf das spirituelle Wortfeld der Religion. Daher kann er auch »Gewerbefreiheit der Götter« fordern.25 In gleichem Sinn spricht Mann im Josephsroman, beim »Mahl mit den Brüdern« von einem »Geschäftsfrühstück«. Die Verbrüderung wird so zum Seinskartell, einer Völkerfusion, zum Unternehmenszusammenschluß innerhalb der zivilisierten Menschheit, der die vorherige heterologe Gesellschaftsform unterschiedslos in eine neue, den »Neuen Bund« überführt, aufgehen läßt und historisch aufhebt. Dort hat auch das Opferwesen als Fundamentalprinzip der Besteuerung seinen Platz. 26 Die Sprache der Religion ist zur Sprache der Ökonomie geworden und vice versa. So hat es Tiefsinn, wie alle gute Ironie, wenn Heine auf die Frage seines FranzösischLehrers, des Abbe d'Aulnoi, wie der Glaube auf französisch heiße, mit »Le credit« geantwortet hat.27 Von Glauben und Essen, um nicht zu sagen vom Glauben ans Essen ist auch in den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski ausführlich die Rede. Die Qual der sinnlichen, d.h. weiblichen Lust, die die Vorlage zu Wagners Tannhäuser abgab,28 wird in Bildern des Essens beschworen: »von hohem idealischen Standpunkte betrachtet, haben die Weiber überall eine gewisse Ähnlichkeit mit der Küche des Landes«. Wenig charmant vergleicht er dann die »britischen Schönen« mit Roastbeef, Hammelbraten und Pudding. Die deutsche Küche und die deutsche Frau kommen gar nicht gut weg. Sie, die Küche, ist zu schwer, und

22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Schillers Gedicht, Götter Griechenlands. Novalis: Schriften III, 646. Vgl. K.Marx: Das Kapital I, 86, 32. A u f l . , Berlin 1988. Heine: Die Stadt Lucca, 2, 518. Vgl. Gablers Wirtschaftslexikon, 11. A u f l . , Wiesbaden 1984, S.559. Heine, Le Grand, 2, 270. Hier ist Kap. VII aus Heine, Schnabelewopski gemeint; 1, 5 2 8 - 5 3 2 . 52

Heine bzw. Schnabelewopski bemerkt, »wohl dem, der es verdauen kann«. Ähnlich vermerkte später Nietzsche, daß die Deutschen (Nietzsche liebte wie Thomas Mann die italienische Küche) zuviel — geistig wie kochtechnisch - mit Mehlschwitze arbeiten. Recht hat er! Die Memoiren zeigen eindringlich, daß »Suppenfrage« und »Gottesfrage« eng zusammengehören.29 Ohne gute Suppe kein guter Glaube an Gott, bekennt das Kapitel XIII. Wenn der Braten also schlecht war, »disputierten wir über die Existenz Gottes«. Kein ontologischer, sondern ein ironisch-ökotrophologischer Beweis wird hier angetreten. Schnabelewopski, der in die Welt gezogen war, um auf »wesentliche Existenzfragen eine Antwort zu erhalten«,30 hat das Essen für sich entdeckt, das erotisch-profane und das philosophisch-religiöse. Gerne springt der Erzähler daher vom »weltlichen Gegenstand plötzlich auf den geistlichen über - vom Mittagsmahl zum Abendmahl«. 31 Das Essen, das sakramentale zumal, hat für Heine besondere Attraktivität, weil sein »religiöses Verhältnis gestört ist«,32 es aus den Fugen geraten ist und über keine verbindliche Seinsmitte mehr verfügt. Kirchliches Abendmahl und profanes Mittagsmahl gehören im Prozeß der Verweltlichung Gottes und Vergöttlichung des weltlichen Menschen, der pantheistisch säkularen Identität von Gott und Welt,33 zusammen: Über Religion, Politik und Wissenschaft sind ihre Meinungen (der Hamburger; Anm.d.Verf.) sehr verschieden, aber in betreff des Essens herrscht das schönste Einverständnis. Mögen die christlichen Theologen dort noch so sehr streiten über die Bedeutung des Abendmahls; über die Bedeutung des Mittagsmahls sind sie ganz einig. 34

Deistisch rettet sich Heine aus der strittigen Frage von »dies ist« und »dies bedeutet«,35 indem er eine realpragmatische Interpretation im Sinne der Faust-Übersetzung bevorzugt, nämlich, daß am Anfang die Tat war: Ja, es sei Blasphemie von Gott zu sagen: er ist; das reinste Sein könne nicht ohne sinnliche Beschränkung gedacht werden; wenn man Gott denken 29 Heine, Vorrede William Ratcliff, 1, 340. 30 Manfred Windfuhr: Nachwort zu H.H.: Die Memoiren des Herrn von Schnabelewopski, Stuttgart 1967, S.89. 31 Windfuhr, 90. 32 Ebd. 33 Heine, 3, 569. 34 Heine, Schnabelewopski, 1, 509. 35 Vgl. hierzu auch das Kap. »Höllenfahrt« im Zauberberg. 53

wolle, müsse man von aller Substanz abstrahieren, man müsse ihn nicht denken als eine Form der Ausdehnung, sondern als eine Ordnung der Begebenheiten; Gott sei kein Sein, sondern ein reines Handeln, er sei nur Prinzip einer übersinnlichen Weltordnung. 36

Essen entscheidet gleichsam doppelt über Leben und Tod. Weltlichreproduktiv, als Ermöglichungsgrund für Lebensverlängerung, und religiös-eschatologisch, als Unsterblichkeitszugang. Gespräche über den »Gottesbegriff und die Qualität des Essens halten sich durchaus die Waage«, bemerkt Manfred Windfuhr schon 1967 hierzu. Essen ist also weit mehr als nur willkommenes und breitenwirksames Stilmittel oder glückliche Trope. Daß es realhistorisch verfängt, zeigt allein schon der Umstand, daß Heine sich aufgrund einer Auseinandersetzung übers Essen duelliert haben soll.37 Das falsche Brot zu genießen, im physischen wie metaphysischen Sinne, kann also im Ontischen fatale Folgen haben. 38

36 Heine, 1, 537. 37 Windfuhr, 88. 38 Vgl. Pierro Camporesi, Das Brot der Träume, Frankfurt/Main 1990. 54

8. Interpretationen

8.1 Die Natur der Buddenbrooks In dem »vielleicht einzigen naturalistischen Roman« Thomas Manns,1 den Buddenbrooks, wird der Natur auf unfreiwillige Weise unübersehbare Geltung verschafft. Natur ist romantechnisch um 1900 nicht länger durch omnipotente Erzähler objektivistisch einholbar. Vielmehr verfängt sie leibhaftig. Durch die Vernachlässigung des Naturschönen in der Ästhetik, »dem noch Kant die Kategorie des Erhabenen vorbehielt, während Hegel es verachtete, passiert in der Kunst der Begriff Natur unbesehen«.2 Unbesehen, weil verkannt ist die Natur der Buddenbrooks.3 Die Natur ihrer gesellschaftlichen Organisation, wie insbesondere die ihrer Körper, scheint länger nicht rationalisierbar: Regienahme enträt. Die Organe beginnen unaufgefordert Macht über den Körper auszuüben. Die Unterjochung äußerer Natur als Bedingung für Subjektentfaltung erfolgt um den Preis der Anerkennung der Macht und der Selbstunterjochung der eigenen Natur.4 Verläßliche Außenund auch Binnenkörperordnungen aber beginnen zu schwanken,5 verfallen, um den Untertitel der Buddenbrooks einmal wörtlich, d.h. hier korporell zu nehmen. Doch was verfällt, modert zuvor. Der Abfall aber ist widerständig und rebelliert a-rational gegen seine Abwertung. Jenen Abfällen des bislang Unerhörten, Unbesehenen lieh die Psychoanalyse Aug und Ohr. Sie hat die Abfallwirtschaft der physischen (i.e. Verdauung) und psychischen (i.e. Unbewußtes) Unterwelt systematisiert. Die Buddenbrooks leben in kultivierter Unkenntnis ihrer eigenen Natur. Schopenhauers Kopf-Exkurse befrieden keinen integrations1 Th.Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt/Main 1988. 2 T.W.Adorno: Mahler. Eine musikalische Physiognomik. Ges. Schriften, hrsg. von R.Tiedemann, Bd. 13, Frankfurt/Main 1971, S. 163. 3 Zur Verkennungsleistung von Literaturwissenschaft vgl. Jochen Hörisch: Gott, Geld, Glück. Frankfurt/Main 1983. 4 M. Horkheimer: Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt/Main 1985, S.93ff. 5 Vgl., Das Schwinden der Sinne. Hrsg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt/Main 1984. 55

bedürftigen und gottfernen Leib. Die Buddenbrooks mißachten Feuerbachs Empfehlung einer Anthropologisierung der Theologie, die ja weder ungeistig noch etwas für denkfaule Atheisten ist: Und wer geistig auf den Grund der menschlichen Dinge kommen will, der muß auch sinnlich, körperlich auf den Grund derselben sich stellen. Dieser Grund ist aber die Natur. Nur im unmittelbaren Verkehr mit der Natur genest der Mensch, legt er alle überspannten, alle über- oder widernatürlichen Vorstellungen und Einbildungen ab. 6

Ahnungsvoll verzeichnen die Buddenbrooks die Manifestationen rebellierender Natur, die oktroyierte Tauschformen länger nicht anerkennen kann. Problemlos, linear, gar teleologisch können Ordnungen nicht heißen, die von Zerfall, Auflösung und Scheitern bestimmt sind, höchstens pessimistisch oder nihilistisch. Durch die Entfaltung der historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert und der gleichzeitigen Detranszendentalisierungsschübe kann das neue Verstehen auch auf die unverstandenen Bereiche des Körpers ausgedehnt werden. Die Konjunktur der Lebensphilosophie und die Physiologisierung der Philosophie etwa durch Nietzsche sind hierfür Beleg. Natur vermag also nicht länger als das abständig Erhabene angeschaut zu werden, solange sie korporell anmahnend für Unruhe sorgt. Der bios theoretikos wird undurchführbar. Natur ist nicht mehr anschauungswürdige, in andächtiger Versenkung hymnisch zu besingende Abstraktheit oder göttliche Allgemeinheit, sondern individuell spürbare Affektation der schmerzvollen Ablösung vom Naturkörper. Und das seit dem Übergang von der Naturnachahmung zur modernen Identitätsfrage. Wenn Natur und Dinge rebellieren, spricht der Körper. Was sich im Symbolischen nicht darstellen läßt, dringt ans Reale, befindet der französische Psychoanalytiker Lacan. Das Symbolische kann die Semantik der Körper länger nicht immunisieren. Der Körper wird selber zum mißachteten, lautstarken Organ. Der calvinistisch funktionalisierte Körper, und das ist eine Einsicht »dekadenter« Literatur, wie des frühen Thomas Mann, erleidet Einbrüche. Blähungen sind da noch das harmloseste. Die Buddenbrooks aber sind, wie späterhin Doktor Faustus, krank. Aus der ursprünglich geplanten »Knabennovelle« um Hanno ist ein Herren-Roman geworden, der die Unwägbarkeiten, Fährnisse und krankmachenden Effekte der machtvollen Natur und ihrer 6 L. Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion. Ges. Werke, Hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1967, Bd.6, S. 10.

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Einschreibung in noch zu initiierende Männerleiber seismographisch notiert. Die sensiblen Ausläufer der vormals erfolgreichen HandelsFamilie haben Produktionshemmungen. Ihre künstlerischen Helden (Hanno und Christian zumal) sind »unproduktive Ästheten«. 7 Sie haben Entäußerungs- und Abfallprobleme. Genauer: sie bringen nichts außer sich, weil sie nichts in sich bringen. Sie leiden an ästhetischer und mehr noch physischer Austauschstörung. Produktion ist eben kein reibungsloser Vorgang unproblematischer Entäußerung. An der Permanenz ihrer Aufhebung, der Produktionsverweigerung als Effekt schadhafter Konsumtion, leiden Christian und Hanno. Die Geschichte der Buddenbrooks, die Geschichte eines Verfalls, wird hier lesbar gemacht als eine auf Körper applizierte Geschichte negativer Merkantilität.

7 Viktor 2megai (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Königstein, 2. Aufl. 1985, II, 347.

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8.2. Die industrialisierte Brotvermehrung Zur Bedeutung der Mahlzeiten in den

Buddenbrooks

8.2.1. Vom Wunder zum Wissen Die Buddenbrooks essen. Und das unaufhörlich. Nicht nur ihr individuelles, auch ihr gesellschaftliches Leben gruppiert sich fast ausschließlich in und um Essenssituationen. Das Essen ist dabei nicht nur willkommener Anlaß für die Einführung der dramatis personae, wie es für das Wirtshaus im Drama des 18. Jahrhunderts gilt. Es ist der ausgezeichnete Ereignisort für wesentliche und letzte Dinge. Pädagogische Diskurse, Streitigkeiten, Zukunftspläne und weltanschauliche Fragen werden in zahllosen digressiven Essensszenen geschildert, wie auch sakramentale Essensformationen anläßlich von Einweihung, Taufe, Ehe, Tod und Weihnachten geschildert werden. Alle zusammen sind in ihrer augenfälligen Negativität wie ein großes nicht-exculpatives Bußsakrament: das scheiternde Eingeständnis des Scheiterns. Buße als Vorbereitung zum Rück-Eintritt in die Glaubensgemeinschaft mit Jenseitigkeitsgarantie mißlingt. Von den insgesamt 94 Kapiteln des Romans spielen 92 Kapitel entweder im Eßsaal oder Frühstückszimmer oder sie thematisieren Essen im eigentlichen oder übertragenen Sinne. In Kapitel 111,9 braucht nicht gegessen zu werden, weil es das einzige Kapitel ist, in dem eine Spur von glückender Liebe kurzfristig sichtbar wird. Über Standesgrenzen hinweg wagt es Morten Schwarzkopf, die unglückliche Tony Buddenbrook zu küssen. Ihnen scheint (See-)Luft und Liebe zum Leben auszureichen. Doch auch diese Liebe ist von der »Sympathie mit dem Tode« überschattet. Der Tod symbolisierende Name von Morten Schwarzkopf (lat. mors: der Tod) weist bereits auf die Unmöglichkeit ihrer Beziehung hin und läßt auch ihre Liebe zueinander bald sterben. Die zweite Ausnahme bildet Kapitel X,9. In ihm wird von der Aufbahrung des toten Thomas Buddenbrook erzählt. Ansonsten wird die mangelnde Beziehungssättigung oder Weltlosigkeit der Buddenbrooks durch Essen kompensiert. Zu Tonys bevorstehender unglücklicher Ehe mit Bendix Grünlich rät ihr die Mutter lediglich: »Essen muß man hinlänglich«. Glückende Liebe aber und glückender Tod suspendieren die Vereinzelungserfahrung und -Verpflichtung. Sie heben die Kompensationsbedürftigkeit im utopischen Augenblick des Übergangs vorübergehend auf. Die »geistige Intoxikation« durch 58

die Lehre Schopenhauers,1 die Thomas Buddenbrook befallen hat, verlangt nach einem »Gegengift«.2 Die »metaphysische Bedürftigkeit« des neuzeitlich aufgeklärten Menschen aber ruft aufgrund der Einsicht,3 daß »schwerlich (...) auch ohne den Tod philosophiert« würde, nach Exilierungstechniken ebendesselben. Die eine Technik heißt Feier eines metaphysischen Willens zum Leben, die andere schlicht Verdrängung. In der Psychoanalyse kennt man die Verdrängung als eine Form der Reaktionsbildung. Auf die Furcht vor dem Tod reagieren die jüngeren Buddenbrooks mit der Feier des Lebens. Und das ist ihnen das Essen. Der Tod aber wird unbewußt am Ort der Lebensfeier, beim freudigen Essen, zitiert. Nach der Lektüre Schopenhauers rettet sich Thomas Buddenbrook ins Eßzimmer, und für seinen Sohn Hanno ist es »eine Erlösung, als das Folgemädchen nebenan etwas Essen aufgetragen« hat. Ins Stottern gerät, wer unverblümt mutig die Kühnheit hat, nach Wesen und Wissen zu fragen: »Was ist das?«, »Quid est?«, »ti estin?«. Die Diskurse des Wissens sind die Mythen der Moderne. Verborgen entbergend bringen sie die anonymen Zwänge zu Gehör. Wer, wie zu Beginn der Buddenbrooks, examinierend fragt, »was ist das«, hält für propositional wißbar, was ihn unwissend beherrscht. Die ontologische Struktur von Was-Fragen verstellt den Funktionszugang zu ihnen. »Je den Düwel ook«, ruft der alte Johann Buddenbrook aus. Mit dem Teufel geht es zu, wenn das Wissen die Einbruchsteilen des rätselhaften Lebens verstopft. Die Frage nach der »Washeit« bzw. nach dem »Wesen wird jeweils dann wach, wenn dasjenige, nach dessen Wesen gefragt wird, sich verdunkelt und verwirrt hat, wenn zugleich der Bezug des Menschen zu dem Befragten schwankend geworden ist«.4 Daß neues Wissen alten Glauben bedroht, ist nicht neu. Weil aber spätestens mit der Industrialisierung das Zeitalter der Bedeutungslosigkeit anbricht,5 wird der Glauben ins Private gedrängt, oder es wird an Besitztümer wie »Essen und Trinken, Haus und Hof (...)« geglaubt. So jedenfalls setzt Tony Buddenbrook das lutherische

1 Heinrich Heine über C.D. Grabbe, Zitiert nach: R. Gärtner und M. Köhler (Hrsg.): Düsseldorf. Ansichten und Einsichten, Neuss 1988, S. 140. 2 Arthur Schopenhauer in »Die Welt als Wille und Vorstellung«, WWV1,591. 3 Ebd. 4 Martin Heidegger: Was ist das - die Philosophie? Pfullingen 1955, S. 19. 5 Friedrich Nietzsche: Werke in 3 Bde. Hrsg.v. K. Schlechta, München 1966, III, 424. 59

Glaubensbekenntnis fort, weil sie mit kindlicher Naivität die überdauernden Gewißheiten - unter dem Gelächter des Großvaters - nur dort erkennt. Die Überführung von Glaubens- in Wissensgewißheiten wird erst dann für die Seinsauslegung durch Glauben problematisch, wenn dieser auch als Überrest getilgt, das heißt jene »Formation von Ausgelegtheit des Seins« an Wissen und Codes von Subsystemen abgetreten wird.6 Die »Merkantilisierung des Wissens« wächst in dem Maße an, wie die traditionelle Metaphysik abstirbt.7 Nachmetaphysisches Denken ist auf die Gegenwart bezogenes detranszendentalisiertes Handlungsdenken. Habermas hat auf diese gesellschaftliche Entwicklung hingewiesen und sie unter anderem mit der Erfahrung des historischen Bewußtseins des 19. Jahrhunderts begründet. In diesem Sinne nun »handeln« die Buddenbrooks. Das Brot wird nicht mehr geglaubt, sondern als Massengut verschifft. Die mit Korn handelnden Buddenbrooks betreiben die industrialisierte Brotvermehrung. Die Erkenntnis des Wunders wird in Mengen ausgedrückt und quantifiziert. Für den alten Buddenbrook gibt es noch das konkurrenzlose Nebeneinander von Glauben und Wissen. Für Thomas und erst recht Hanno gibt es das nicht mehr. Ihnen fehlen die großen »Metaerzählungen«, jene von der emanzipatorischen Kraft der Aufklärung, der idealistischen Teleologie des Geistes und der historistischen Hermeneutik des Sinns.8 Ihnen mangelt die »Versammlung« im Sein der Zeichen.9 Die Zeit für katechetischen Glauben steht um 1900 schlecht. Über das Heiligste kann man sich wie Johann Buddenbrook d.Ä. belustigen. Die epistemisch motivierte Frage evoziert die Wiederkehr des durch sie Verdrängten. »C'est la question«. Der verdrängte Tod (Christi) kehrt bei jedem Ma(h)l zurück. Essen aus rein reproduktiven Gründen ist immer auch Tod, Verdrängung, Verschiebung von anderem. Jeder Kühlschrank heute ist auch ein Friedhof, memento mori eisgekühlt. Erst pathologische Essensabweichungen, wie bulimischer Extremismus, der mit planvoller Ernährung nichts, dagegen mit absichtlicher Zerstörung viel zu tun hat, lassen einen auf das Essen als besorgniserregendes Bedeutungsfeld aufmerksam werden. Im notwendig unaufhörlichen Essen manifestiert sich unwillkürlich die Anwesenheit des Todes. Diesen zu ignorieren, verkennt 6 Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt/Main 1985, S. 28. 7 Jean Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Wien 1986, S.26. 8 Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, 2. Aufl., Weinheim 1988, S.32. 9 Heidegger, a.a.O.

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die Häufigkeit seiner Zitation im Mahl. Die Buddenbrooks wollen ihre Todesverfallenheit nicht wahrhaben und feiern daher feste Feste. 8.2.2. Alter Heiland und neue Feste Mit dem alten Heiland geht es nicht und - das ist die beklemmende Einsicht des Buddenbrooks-Romans - mit dem neuen auch nicht. Am Ende des 19. Jahrhunderts besteht durch anthropologische und materialistische Religionskritik ein »Dilemma der Diskussion um das Christentum«. 10 Die ruinöse Abwirtschaftung der alten, griechischen Götter hat den Wunsch nach einem neuen Heiland und damit auch nach einem neuen Menschen wirksam werden lassen. Seit Hegels unbestrittener Verkündigung »daß der Gedanke und die Reflexion (...) die schöne Kunst überflügelt« hätten," fallen neue Erlösungsvorschläge in andere Bereiche, in die Ökonomie nämlich. Unabweisbar drängte sich in das kritische Bewußtsein der Dichter das Alternativsakrament Geld. Für die Buddenbrooks ist es der Fetisch Firma. Bereits 1870 konstatiert Jacob Burckhardt: »Wenn der deutsche Geist noch einmal aus seinen innersten und eigensten Kräften gegen die große Vergewaltigung reagierte, wenn er ihr eine neue Kunst, Poesie und Religion entgegenzustellen imstande ist, dann sind wir gerettet: wo nicht, nicht. Ich sage: Religion, denn ohne ein überweltliches Wollen, das den ganzen Macht- und Geldrummel aufwiegt, geht es nicht«.12 Burckhardt vermißt aus kulturhistorischer Perspektive was die Dichter später sehnsüchtig anrufen: den neuen, nicht monetären Heiland. Fontanes Stechlin von 1897 bringt die Abrechnung: »Es läuft alles darauf hinaus, daß sie mit uns aufräumen wollen, und mit dem alten Christentum auch. Sie haben ein neues und das überlieferte behandeln sie despektierlich.« Die Abwendung von der institutionalisierten christlichen Kirche erzeugt eine Konjunktur alternativer Heilslehren. Zu diesen zählen unter anderem die Programme der Lebensreformer und Sonnenanbeter (an deren Spitze steht der in Lübeck geborene Hugo Höppener, genannt Fidus), der Theosophen und Anthroposophen, der Okkultisten und Anhänger der arisch-christlichen Rassenkulturreligion um die Zeitschrift 10 Helmut Scheuer: Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900. In: Fin de Sifecle. Hrsg.v. Roger Bauer, Frankfurt/Main 1977, S . 3 - 1 8 . 11 G.W.F. Hegel: Ästhetik I ( = WW 13, S.24). 12 Jacob Burckhardts Briefe an seinen Freund Friedrich von Preen (18641893), Berlin 1922, S.18.

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»Ostara«, der Wandervogelbewegung und der »Swastika«-Anhänger des George-Kreises. Sie alle versuchen lebenspraktisch jene schmerzliche Lücke zu füllen, die durch Religionskritik entstanden war. Die Leben-Jesu-Forschung, mit David F. Strauß an der Spitze, die zwischen dem Christus des Glaubens und dem historischen Jesus unterschied, nimmt die Naturwissenschaften, den modernen Materialismus und den Positivismus in ihre Überlegungen auf und betrachtet Christus als bloßen Menschen. Im Anschluß daran kommt es zu sozialistischen Ausformungen der Jesusinterpretation, etwa in Gustav Landauers Roman Jesus und Judas von 1891. Rilkes Gedicht Apostel von 1896 und Thomas Manns Erzählung Gladius Dei von 1902 bemühen sich um Konzeptionen solcher neuen Heilande. Sie entwerfen eine Kunstreligion, die ihrem metaphysischen Bedürfnis gerecht wird. Gleichzeitig sollte die Kunst die als krank empfundene Zeit zu heilen im Stande sein. Sie sollte einen Weg aus dem antichristlichen Nietzscheanismus und neoromantischem Dekadenzgefühl weisen. Georg Lukäcs erkennt darin eine Konstanz: »Aus dieser Auflösung entsteht: eine Religiosität ohne Dogma, ja ohne Gott, die aber inhaltlich alle Gefühlswerte, alle weltanschaulichen Folgen des Christentums aufbewahrt«. 13 In diesem Sinne feiern die Buddenbrooks indifferent Feste, die religiös sein wollen, aber mißlingen. Das Fest zur Einweihung des neuerworbenen Hauses als Taufe des Kapitals, das christliche Mahl, dessen Elemente bzw. Symbole (Salz, Brot, Fisch) in den Stand industrieller Verwertung (Getreidefirma Buddenbrook) getreten sind, oder, snobistisch denaturiert, ihre sakramentale Symbolkraft verdecken, sowie ein Weihnachtsessen, das mehr ein »Leichenbegängnis«, eine todesverfallene Feier des Ekels, Vergessens und Fehlens ist denn eine der Anwesenheit Christi. Die eucharistischen Symbole sind durch ihre kunsthandwerkliche Veredelung um ihren Gebrauchswert, ihren Sinn und ihre Bedeutung gebracht. Sie sind Reminiszenzen, Ausstellungsgegenstände einer alten, heilen, christlich geordneten Zeit. Was geblieben ist, ist der ubiquitäre Ritus. »Ach jede Religiosität ist schön (...) einerlei ob man ein christliches Abendmahl nimmt, oder ob man nach Mekka wallfahrt«, läßt Hermann Hesse seinen Demian sagen. Die Hoffnung auf eine »ganz neue Zeit«, die mit der Geburt des »neuen Heilands«, des Zukunftsträgers Johann (»Hanno«) Buddenbrook anbrechen soll, wird enttäuscht.14 Mit dem alten

13 Georg Lukäcs: G. Hauptmann. In: Linkskurve 4, 1932, H . 1 0 .

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Heiland geht es nicht, mit dem neuen auch nicht. Was bleibt ist die Hülle, die Form des Festes. Durch den Wegfall der rein christlichen Dimension des Festes wird dessen Sinn ein privater und selbstgesetzter. Die »Donnerstagstafelrunde« der Buddenbrooks hat die alten christlichen Sonntage verabschiedet und neue inszeniert. Diese Privatisierung des Sinns im Fest, das als Familienfest nicht länger heilsgeschichtlich verstanden wird, suspendiert nicht den Alltag wie im dionysischen Fest. Stattdessen amplifiziert und beglaubigt es den gewöhnlichen Alltag und setzt ihn nicht entgrenzend außer Kraft. Die Buddenbrooks singen, tanzen und lieben nicht, sie unterjochen ihre Natur noch im Ausnahmezustand des Festes und verweigern die Integration in eine »höhere Gemeinsamkeit«.15 Sie tragen weiter den Schleier der Maja und werden nicht selbst zum Kunstwerk, wie Nietzsche das vom dionysischen Schwärmer forderte. Zu ihrer Subjektivität gehört die diätetische Regel, nicht selbstvergessen zu sein und sich stets der Subjektivität eingedenkend die Folgen zu antizipieren und zu beschränken. Lassen Sie sich dann endlich einmal gehen, wird ihnen »verdammt übel«.

8.2.3. Zu Mittag bei den Buddenbrooks »Man wird sich diesen Namen unbedingt merken müssen«, schrieb Rainer Maria Rilke 1902 im Bremer Tageblatt über den Verfasser der 1901 erschienenen Buddenbrooks. Die Handlung des Romans setzt etwa 1830 ein und führt das Lübeck zur Zeit des Merkantilismus, des monopolisierten Warenhandels vor. Eine Zeit, in der wenige Familien die Geschäfte bestimmten. Die Rückständigkeit der Stadt (erst 1856 wird eine Kreditbank gegründet, erst 1868 tritt Lübeck in den Zollverein ein, und Gewerbefreiheit gibt es auch erst 1866) ist ein Grund dafür, daß die neue »Creme der Gesellschaft« bald die Hagenströms sind. Es ist eine Familie, die nicht durch sittliche und intellektuelle Überfeinerung und Sensibilität der heraufziehenden Decadence gehemmt und gestört ist, sondern an Stelle des alten Monopolismus den neuen Wettbewerb, den Konkurrenzkapitalismus, stellt. Noch 1918, am Ende des Krieges, 18 Jahre nach Erscheinen der Buddenbrooks beurteilt die Frankfurter Zeitung den Roman als den 14 Vgl. hierzu auch Volkmar Hansen: Hanno Buddenbrook soll ein Gedicht aufsagen. In: Thomas Mann Studien. Bd. VIII, Bern 1987, S. 11-30. 15 Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragödie.

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»repräsentativen Roman aus dem alten Deutschland«. Der Verfall einer Familie wurde verstanden als Untergang des 19. Jahrhunderts. Thomas Mann wird geboren, als das 2. Deutsche Reich gerade vier Jahre alt ist, in einem Zeitklima, das von Gründerzeit, Fleiß, Prüderie, Fortschrittsideologie, Verfolgung der Sozialisten und protestantischer Ethik geprägt ist. Rückblickend urteilt Thomas Mann über diese Zeit: »und was das über Europa hingehende Schlagwort, >Fin de siecle< nun immer meinen mochte, Neu-Katholizismus, Satanismus, das geistige Verbrechen, die mürbe Überlieferung des Nervenrausches, auf jeden Fall war es eine Formel des Ausklangs, die allzu modische und etwas geckenhafte Formel für das Gefühl des Endes, des Endes eines Zeitalters, des bürgerlichen«.16 Der junge Thomas Mann macht sich im März 1894 vom holsteinischen Lübeck aus auf den Weg ins bayerische München, um in eine andere Welt und ein anderes Leben zu treten und am 1. April als unbezahlter Volontär bei der Süddeutschen Feuerversicherungsbank AG anzufangen. Er trifft dort auf Sprache, Mentalität und Charakter, wie sie in die Charakterisierung des Hopfenhändlers Permaneder eingegangen sind. Aus Gründen der Authentizität und der Glaubwürdigkeit hat Thomas Mann ihn mit Münchner Heimatlauten reichlich ausgestattet. Zu seinem bayerischen Dialekt hat sich Thomas Mann auch notiert, daß Permaneder nicht von Frikadellen und Blumenkohl, sondern von »Pflanzerln und Karfiol« spricht. Permaneders Dialekt und seine mangelnden Tischsitten kennzeichnen die Unkultiviertheit des Münchner Spießers. An das erste Domizil in München erinnert sich der Sohn Viktor, der beim Einzug vier Jahre alt war, so: »die himmelhohen Wände hingen voller riesiger Bilder, aber ich unterschied sie kaum voneinander. Im Eßzimmer schaute ein Kastell auf mich herunter, das >Büfett< hieß, und die Löwenpranken, die den Tisch trugen, waren so gigantisch, daß jede für sich ein Raubtier sein konnte«. Das Büfett als imponierendes Kastell und bedrohender Schrein entstammt dem gründerzeitlichen Stolz und dem Wunsch nach Präsentation. Die Buddenbrooks feiern häufig, doch letztlich mehr schlecht als recht. Sie kennen nicht die ekstatische Gleichsetzung von Leben und Fest. Ihnen ist das Fest eher ein Ausnahmefall, ein »Moratorium der Alltäglichkeit«,17 das Dissonanzen augenfällig werden läßt. Keine 16 Thomas Mann: Über mich Selbst. S.7. 17 Dazu Odo Marquard, in: Das Fest. Hrsg.v. W. Haug, München 1989.

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Gelegenheit für dionysische Steigerung der Lebensintensität. Exzeptionalität, Abundanz und Entgrenzung, Ingredienzen des heidnischen Festes, die sich bis heute allenfalls noch im Fasching gehalten haben, stellen sich als undurchführbare und falsche Säkularisate heraus. Antiker Sinnenrausch des Festes wird durch bürgerliche Sozialqualität ersetzt, und gesellschaftliche Scheinhaftigkeit, die Alois Wierlacher betont, ist die Umkehrung ekstatischer Fest- und Lebensauffassung.18 Den Mahlnehmern wird schlechterdings übel, allen voran Christian Buddenbrook. Einzig Johann Buddenbrook der Ältere, der von altem Schrot und Korn ist, trägt keinen Schaden davon. Selbst das honorige Ziel des Festes, die Abstraktion von Individualität, mißlingt. Durch Überfluß ein Mehr an Sein zu erreichen oder jene Mangelerfahrung der Vereinzelung zu überwinden, mißlingt. Gegenwartsentgrenzung und Daseinsverdichtung scheitern. Das Gesellige, die Mahlzeit als »Inhalt gemeinsamer Aktionen«, wie Georg Simmel sie 1910 nennt, hilft nicht über die untröstliche Einsicht hinweg, die Nietzsche bereits im Nachlaß der Achtziger Jahre beschrieb, daß man »sein Ich stets auf Kosten der anderen« fördert; »Leben lebt immer auf Unkosten anderen Lebens«. Auf das Essen bezogen bedeutet das: »Was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen«.19 Auf den Vorwurf mangelnder Transzendenz, also eines allzu ernüchternden Realismus, fragt sich Thomas Mann in einem Brief von 1904: »Bin ich nur ein Schilderer guter Mittagessen?« Thomas Mann schätzte »Lunch und Dinner«, »auf großem Fuße leben«, wie er 1905 anläßlich eines Aufenthalts im Hotel »Baur au lac« schreibt, zu sehr, um die Primitivität des Stofflichen anzuerkennen, geschweige denn eine Philosophie des Essens zuzugeben. Gewähr für Transzendenz bieten essende Philosophen wie Schopenhauer und nicht etwa Karpfen. 20 Die Ansicht Thomas Manns: »Es ist wahr, der Dichter versteht sich auf Lebensfeste; er versteht sich sogar auf das Leben als Fest« [IX,478] zeigt, wie geistlastig diese Auffassung vom Fest ist. Die Feste der Buddenbrooks verlieren systematisch an Öffentlichkeit und Außenkontakt. Der feiernde, »allzeit frohe« Gott Dionysos, wie Hölderlin ihn nannte, hat an Autorität verloren. Das Auftreten von analytisch-aufklärerischem 18 Vgl. Ursula Kirchhoff: Die Darstellung des Festes um 1900; Alois Wierlacher: Vom Essen und Trinken in der deutschen Literatur. Stuttgart 1987. 19 Georg Simmel: Soziologie der Mahlzeit (1910), in: Berliner Tageblatt, Beilage Der Zeitgeist Nr. 41 vom 10.10.1910. 20 Siehe dazu den Brief Thomas Manns vom 16.2.1904 an E. Kalkschmidt.

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Geist hat die »Poesie rationalisiert und partikularisiert«.21 Feste wie Dichtung, Produktion wie Konsumtion, werden privat erzeugt und verbraucht. Aufklärung und Ausdifferenzierung vollziehen sich um den Preis des Wegfalls »gesellschaftlicher Synthesis« und rufen Aufsplitterung in konkurrenzkapitalistisch bedingte Teiloperationen hervor. In den alten Festen, den Jahreszeitenfesten oder im Gottesdienst konnte noch eine kultische Erfahrung gemacht werden, die den Buddenbrooks bereits fremd ist. Dieser Verlust kann jedoch nicht über das nach wie vor bestehende »metaphysische Bedürfnis« hinwegtäuschen.22 Daß philosophisches Streben nach dem Höchsten und essender Genuß die Plätze tauschen können, zeigt Heinrich Heines Prosa mehr als einmal. »Apfeltörtchen waren nämlich damals meine Passion - jetzt ist es Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe - « schreibt Heinrich Heine im Buch Le Grand der Reisebilder. Weltgeschichtliche Erlebnisse und lukullische Vorlieben in einem Atemzug zu nennen und sie ins Bild des Essens zu bannen, gehört seit Heinrich Heine zu den heiter ironischen Verfahren der Dichter, um das Allgemeine zum Besonderen, das Sakrale zum Profanen, das Komplizierte zum Einfachen und das Entfernte zum Nahen zu machen. Von Homer bis Heine, von Goethe bis Grass kennen die Dichter die Hochschätzung des Essens als literarischen Stoff. Sie sind sich nicht zu schade, dies zu beschreiben. In den Buddenbrooks ist das Essen nun weitaus mehr als nur anekdotische Zugabe, aphoristische Sentenz, unvermeidbarer Stoff oder dramaturgische Verlegenheit. In den Teilen Eins, Drei und Acht werden größere Mahlzeiten geschildert. Es sind das Einweihungsfest des neu erworbenen Hauses, das Essen mit Bendix Grünlich und das Weihnachtsfest. In jedem Kapitel, mit Ausnahme der zwei erwähnten, sind die Mahlzeiten zeitstrukturierendes, oder ist das Frühstückszimmer ein Raum und Ort strukturierendes Moment der Handlung. Grund genug also, den Buddenbrooks auf die Teller zu sehen. Ihr Essen ist mehr als nur die Abfolge von erlesenen Speisen, weil es seiner Struktur nach auf profane und sakrale Dimensionen hinweist. Die ersten Worte präludieren quasi das religiöse Thema. »Was ist das. - Was - ist das ...«, die Frage nach dem protestantischen Glaubensbekenntnis eröffnet 21 Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt/Main 1988, S. 11 f. 22 Vgl. Elke Emrich: Zum metaphysischen Bedürfnis in Thomas Manns Buddenbrooks und Heinrich Manns Schlaraffenland. In: Heinrich Mann Jahrbuch, Lübeck 1984, S. 1 8 - 3 2 .

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den Roman und läßt ins Stammeln geraten, wer mit der Absicht fragt, letzte Dinge wissen zu wollen. Erste und letzte Dinge werden bei den Mahlzeiten besprochen. So gerät die Einweihung des Hauses in der Mengstraße als Beginn des Endes, als Eintritt in den unausweichlichen Untergang, als letzte aufbäumende Feier des überlebten Aristokratismus des 19. Jahrhunderts zur eschatologischen Endzeitvision. Und am Ende bleibt der kümmerliche Rest einer Familie, bei einem kümmerlichen Mahl versammelt, bei dem kaum noch etwas vorhanden ist, was auferstehenswert oder -fähig wäre. Die christlichen Einweihungssymbole »Salz und Brot« werden ihrer christlichen Tradition beraubt und fungieren als bürgerliche Repräsentationsartikel. Nicht das Allgemeine ihrer Symbolkraft für eine Glaubensgemeinschaft steht im Vordergrund, sondern das Besondere ihres Prunks: »Da man aber sehen sollte, daß die Gaben nicht aus geringen Häusern kommen, bestand das Brot in süßem, gewürztem und schwerem Gebäck und war das Salz von massivem Golde umschlossen.« Salz als das Gold alter Tage wird kunsthandwerklich durch Gefäße nobilitiert, die ihren alten Sinn und Zweck als Schutz-, Konservierungs- und Zahlungsmittel vergessen machen. Zu bewahren gibt es auch bei den Buddenbrooks nichts mehr. Eher zersetzt das Salz die Fundamente der Tradition, und ihr Brot essen sie fortan nur noch mit Tränen. 23 Salz und Brot sind nicht Hoffnungsträger und Glücksbringer, sondern Medien manieriertsnobistischer Denaturiertheit. Max Horkheimer sprach schon in seiner Studie Egoismus und Freiheitsbewegung von der »bedeutenden Rolle des Prunks für alle bürgerliche Ideologie, in dem man vielleicht eine Säkularisierung oder ein Substitut kultisch ritualen Gepränges sehen darf«. 24 Salz und Brot sind neben ihren reinigenden, Unglück abweisenden, antidämonischen Eigenschaften aber auch christlich-symbolischer Prüfstein für Treue und Freundschaft. Das protzige Behältnis des Salzes (schweres Silber) und die manierierte Erscheinung des Brotes (mit süßen Korinthen) raubt den elementaren Nährmitteln des Menschen ihre symbolische Bedeutung. Sie veröden zu bürgerlichem Prunk. Die christlichen Symbole werden von einer Tauschordnung okkupiert, die für die Buddenbrooks verhängnisvoll werden muß. Der Repräsentationswille überlagert die ausgedrückten Glückwünsche. Die gesamte 23 Vgl. hierzu Goethes Gedicht »Wer nie sein Brot mit Tränen aß«, In: J. W. G., Hbg. Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, 11. Aufl., München 1982, 7, 136. 24 Max Horkheimer: Egoismus und Freiheitsbewegung. In: M.H., Ges. Schriften, 4, 9 - 8 8 .

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bürgerliche Prominenz trifft sich, nachdem »auf ein ganz einfaches Mittagsbrot« geladen worden ist, wohl wissend, daß man eines »nahrhaften Bissens gewärtig sein« könne. Überschattet wird der Beginn des Mahls von dem kurz zuvor eingeführten Brief des Sohnes Gotthold, in dem er eine Entschädigungssumme verlangt, die ein Viertel der Summe ausmacht die das ganze Haus gekostet hat. Zwietracht liegt also über dem Fest, das mit einem feudalen Essen beginnt, das Thomas Mann aus dem barocken Bürgerhaus der Großeltern in der Lübecker Mengstraße kannte. Während des ersten Ganges, einer »heißen Kräutersuppe nebst geröstetem Brot«, kommt die Rede auf das Alter des Hauses, die Tradition und die Besitzrechte. Durch Fehlkalkulation und Mißwirtschaft hatten die Vorbesitzer, die Ratenkamps, das immerhin 1682 erbaute Haus verkaufen müssen. Doch nicht sentimentale Erinnerungen stehen im Vordergrund, sondern die unerbittliche Feier der »fröhlichen Gegenwart«. Das Fest verändert sich zur Taufe des Kapitals, zur beglaubigten Gegenwart der monetären Kaufkraft. Anschließend »wurde der Fisch herumgereicht«. Erst kommt das Geld und dann der (symbolische) Gott.

8.2.4. Gott und Karpfen. Rezepte als Wortgottesdienst Tellerwechsel: »Ein kolossaler, ziegelroter panierter Schinken erschien, geräuchert, gekocht nebst brauner, säuerlicher Schalottensauce und solcher Mengen von Gemüsen, daß alle aus einer einzigen Schüssel sich hätten sättigen können.« Um 1900 werden die Menüordnungen stabil und standardisiert. Auguste Escoffier, den Kaiser Wilhelm den »Kaiser der Köche« nannte, teilt die vormals ungeregelte Küche in streng gegliederte, sogenannte Posten ein: Saucier, Poissonier, Entremetier, Garde mange und Patissier arbeiten nun getrennt und doch gemeinsam. Die arbeitsteilige Industrialisierung ergreift somit auch die Küchen. Diese mußten, durch die entstehenden Luxushotels um die Jahrhundertwende, nämlich schneller und besser kochen. Üppig sind die Mahlzeiten der Buddenbrooks nicht nur, weil es deren Stand entspricht vorzusorgen, Lager zu halten, Mangel zu beheben, zu wirtschaften eben. »Man muß Vorsorgen« wird später Thomas Mann seinen Goethe in Lotte in Weimar sagen lassen. Den Buddenbrooks aber entgleitet der Geist des Kornes. Sein entzieht sich aber der Quantifizierung, erlaubt keine Grenzkostenanalyse. Das Prinzip ökonomischer Vorsorge degradiert die existentielle Sorge zur randständigen Betriebsamkeit: copia 68

frumentorum, inopia entis. Schwer vorstellbar, daß die Buddenbrooks sich wie eine Wohngemeinschaft um eine Schüssel setzen und sich ihrer Hände bedienend am Gemüseeintopf berauschen. Konsul Buddenbrook fährt mit Gedanken zu Napoleon, zu Historie, Gewalt und Politik fort. Während mit »schwerem Silbergerät« ebenso »schwere, gute Sachen« getrunken und gegessen werden und die Rede der Männer aufs Geschäft kommt, verfällt das Fest in Kumpanenmentalität und beschränkt die Frauen auf die ausführliche Beschreibung der Kunst, »Karpfen in Rotwein zu kochen«: Wenn sie in ordentliche Stücke zerschnitten sind, Liebe, dann mit Zwiebeln und Nelken und Zwieback in die Kasserole, und dann bringen Sie sie mit etwas Zucker und einem Löffel Butter zu Feuer (...) Aber nicht waschen, Liebste, alles Blut mitnehmen, um Gottes willen (...).

Zum Dessert gibt es dann jenen »Plettenpudding«, an den sich Viktor Mann als das »schönste Festsymbol der Kindheit« erinnert, »jenes schichtweise Gemisch aus Makronen, Himbeeren, Biskuits und Eiercreme.« Es ist die Götterspeise seiner Kindheit und süße Erfahrung unbescholtener Tage. Auch wenn der Konsul Buddenbrook von sich behauptet, ein »christlicher Mann, von religiösem Empfinden« zu sein, reicht dies offenbar nicht aus, um Tischgebete zu sprechen, vielmehr bringt Pastor Wunderlich einen unverbindlichen Toast aus, und der Poet Jean-Jacques Hoffstede trägt ein selbstgefälliges Gedicht auf den Erwerbssinn vor. Christliche Vorsehung, weltlicher Fleiß und antike Mythen werden in diesem Gedicht in Vulcans und Venus' Namen zugleich berufen. In einer auf Fortschritt, Dinglichkeit, Erfolg, Tüchtigkeit, Geschwindigkeit und Zukunft verpflichteten Moderne ist für Tradition und Gebet kein Platz und keine Zeit. Was an Geschichte verlorengeht, kann nur Literatur, hier der Roman die Buddenbrooks, aufbewahren. Kein Mahl kann die Geschichte seiner Genese konservieren. Dies kann nur sein ästhetisches Äquivalent, das Kunstwerk. Kaum ist der Höhepunkt des Festes erreicht, kommen auch schon die ersten Beschwerden. Der Sohn Christian hat sich überfressen: »Mir ist übel, Mann, mir ist verdammt übel!« Christliches Fluchen, Völlerei und Unmäßigkeit sind Anzeichen falschen Bewußtseins und fehlerhaften Überschreitens sinnvoller Grenzen. Doktor Grabow stellt denn vorausdenkend fest: er habe »die Hand manches wackeren Bürgers in der seinen gehalten, der seine letzte Keule Rauchfleisch, seinen letzten gefüllten Puter verzehrt hatte.« Vergnügen und Warnung gehören hier 69

zusammen. Erworbener Luxus vergiftet ihnen das Leben. Ironisch ist es, wenn dann der Hausarzt »Dr. Grabow« zur Diät »ein wenig Taube - ein wenig Franzbrot« empfiehlt. Verlust der Mäßigkeit und Mißachtung sicherer Grenzen sind denn auch Zeichen für beginnende Aushöhlung und Erosion verbindlicher bürgerlicher Werte. Die von Mangelerfahrung heimgesuchte bürgerliche Kultur der Dekadenz versucht ihre Ohnmacht zu kompensieren durch eine geschichtsvergessene Feier des Festes und Genusses. Lebensphilosophie, Reflexion aufs Selbst, Antihistorismus, symbolistische Überwindung des Naturalismus sollen Hilfen in der anbrechenden neuen, heillosen Zeit sein. Gleichwohl nehmen die Darstellungen der Mahlzeiten auch die gastrosophische Kritik des 19. Jahrhundets auf. Empfehlungen von C.R. Rumohr, daß die Hausfrauen mehr auf Gesundheit und Labung achten sollten und weniger auf Völlerei, werden sträflich mißachtet. Ja selbst der disziplinierte Thomas Mann gesteht ein: »Da mein physiologischer locus minoris resistentiae, von dem alles ausgeht, der Magen ist, sollte ich bei intensiver Arbeit nicht so jfut essen, tue es aber doch aus Mangel an hygienischer Disziplin, richtiger: aus mangelnder Liebe zur Weisheit«.25 Auch 150 Jahre Aufklärung ändern nichts an der Feindschaft zwischen Weisheit und gutem Essen. Als wäre ein Mehr an Essen ein Mehr an Genuß oder gar ein Mehr an Sein, als wäre es Teilhabe am verlorenen Seinsgrund. Der Ab-Fall vom Seinsgrund, die Abkehr vom Ursprünglichen wird durch die Geburt begründet. Im Abendmahl wird die Rückkehr in den »Einen Leib« dafür wieder in Aussicht gestellt. Die hedonistische Verkennung der Genußlogik wußte Epikur schon besser einzuschätzen. Die Geschichte seiner Rezeption ist überwiegend vom Mißverständnis geprägt, er predige zügellose Lust. Stattdessen empfahl er den maßvollen Einsatz des Genusses, um Schmerzen und Todesfurcht zu überwinden. Es ist also ein lebenspraktischer Hinweis und weniger Plädoyer für enthemmte Libertinage. Friedrich Nietzsche hatte schon auf die schwere Verdaulichkeit von Gedanken hingewiesen und daher seinem Leser folgende Empfehlung zur Lektüre der Fröhlichen Wissenschaft mit auf den Weg gegeben: »Ein gut Gebiß und einen guten Magen - Dies wünsch ich Dir«. An einem guten Gebiß und einem guten Magen mangelt es aber den jüngeren Buddenbrooks. Zu Beginn des Romans werden Thomas' Zähne als »nicht besonders schön, sondern klein und gelblich«, bei seiner Einführung

25 Aus Thomas Mann, Zur Physiologie des dichterischen Schaffens, 1928.

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in die Firma als »ziemlich mangelhaft« beschrieben. Die Ursache für seinen Tod ist letztlich ein fauler Zahn. Mann illustriert den Familienverfall durch zunehmenden Zahnverfall. Die Zähne und mehr noch das Essen, haben leitmotivische Bedeutung in der Komposition des Romans. Selbst die Existenzängste von Thomas' Bruder Christian werden in ein schreckenvolles Bild des Essens übersetzt: »Ich esse nie wieder einen Pfirsich«, sagt er. »Denkt euch, wenn ich aus Versehen diesen großen Kern verschluckte, und wenn er mir im Halse steckte ... und ich nicht Luft bekommen könnte ... und ich spränge auf und würgte gräßlich ...« Die Worte des Großvaters, »Freet mi nich tau veel«, entstammen einer alten und gesunden Zeit. Christian ißt aber nicht zu viel, sondern gar nichts. Es ist jener Moment, in dem Thomas feststellt, daß der »Tod sich Einlaß geschafft hatte und stumm in den weiten Räumen herrschte.« Bei der Grabrede auf den verstorbenen Johann, »Jean«, Buddenbrook hebt der Pastor das »maßvolle, gottgefällige Leben des Verstorbenen« hervor, um es von dem der »Wollüstigen, Fresser und Säufer« abzugrenzen. Der Roman läßt sich also lesen nicht nur als Verfallsgeschichte, sondern auch als Kritik an zerstörerischer abundanter Ausgelassenheit, als Kritik an Maßlosigkeit, »heiterer Leichtlebigkeit« und als Kritik an einer den Nihilismus beschleunigenden Wertverkümmerung, die letztlich zu opfervollem Ernährungsextremismus führt. Bei der zweiten, umfangreicheren Essensszene stellt sich der Handelsagent Bendix Grünlich als Brautwerber vor. Die Betonung seiner Christlichkeit und die Bewunderung für den »Gottesglauben«, für »Mildherzigkeit« und »innige Frömmigkeit« der Buddenbrooks, sowie die Schmeicheleien gegenüber dem Hausherrn, verraten seine heuchlerische Absicht. Sein Bekenntnis, daß »rastlose Tätigkeit für mich Lebensbedingung« ist, verdeckt nur kurzfristig seine Verlogenheit und künftige Pleite. Er umwirbt Tony Buddenbrook aus niederen Gründen. Wiederum zeigt sich beim darauffolgenden Essen der Charakter des Besuchs. An das delikate Sechs-Gänge-Menü, bestehend aus »Muschelragout, Julienne-Suppe, gebackene(n) Seezungen, Kalbsbraten mit Rahmkartoffeln und Blumenkohl, Maraschinopudding und Pumpernickel und Roquefort«, schließt sich die delikat scheinende Rede des Gastes an. Im Bewußtsein, Opfer des Brauthandels zu sein, verliert die künftige Gattin zunehmend den Appetit. Um dies zu ändern und eine Änderung der Gesinnung herbeizuführen, wird Tony Buddenbrook ans Meer geschickt. Dort erhält sie bei naturverbundenen Menschen »selbstgebackenes Korinthenbrot,

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das, umgeben von Rahm, Zucker, Butter und Scheibenhonig, in dem bootförmigen Brotkorb lag«. Aus Interesse an einfacher Kost fragt sie Morten Schwarzkopf nach dem isodynamen Nährwert von Ei und Fleisch: »Ist es wahr, daß ein Ei so viel wert ist wie ein Viertelpfund Fleisch?« Statt eines erotischen eröffnen sie einen ernährungswissenschaftlich kurrenten Diskurs. Der Aufenthalt am Meer, außerhalb der gewohnten großbürgerlichen Umgebung und der verfeinerten Sitten, läßt sie über Ernährung nachdenken. Dies war um 1900, zur Zeit der Lebensreform, das Thema zur Reformierung der als krank empfundenen Zeit. Durch gesunde, ländliche, natürliche, fleischlose Kost wollte man zu umfassender leiblich-seelischer Gesundheit gelangen. Mit der Reformierung der Ernährung wollte man sich individuell-körperlich von Krankheit, und kollektiv-eschatologisch vom Sündenfall befreien. Städtischer Eßkultur wird die Einfachheit und Naturnähe ländlicher Speisen entgegengehalten. Ungeachtet dieser Erfahrung, und der Aufforderung »zur Mäßigkeit« durch Pastor Kölling trotzend, wird auf dem sich anschließenden Hochzeitsfest »ganz außerordentlich gut und viel gegessen«. Die Mehlschwitzen müssen einem empfindsamen Magen um 1900 in München schon schwergefallen sein: »Es gibt zu wenig Gemüse und zuviel Mehl, zum Beispiel in den Saucen, deren sich Gott erbarmen möge ... und mir fehlen sehr die Fische«, reklamiert Tony Buddenbrook. Ähnlich fühlte auch Friedrich Nietzsche, der von der Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer spricht;26 »und dann ist es doch ein Wahnsinn, beständig Gurken- und Kartoffelsalat mit Bier durcheinander zu schlucken! Mein Magen gibt Töne von sich dabei.« Hanseatische Arroganz alleine ist das nicht. Man muß kein Anthroposoph oder Vegetarier sein, um die schwerverdauliche Kombination aus Katholizismus und Pflanzerln zu verstehen. In der nächsten Generation heiratet Tonys Tochter, Erika Grünlich, den Direktor der Feuerversicherungsgesellschaft, den »Selfmademan« ohne Herkunft, Hugo Weinschenk. Ihr Festmahl wird nicht weiter spezifiziert. Es ist ein »ebenso solennes wie solides Festmahl.« Thomas Buddenbrook, »der mit 42 Jahren ein ermatteter Mann war«, fährt unbekümmert fort, »in angemessener Weise zu repräsentieren und seinen Diners die Anzahl von Gängen zu geben, die seine Gäste von ihm erwarteten.« Das Weihnachtsfest nähert 26 Nietzsche II, 1083.

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sich und steht bereits unter einem schlechten Stern. Der kleine H a n n o hat zunehmende Zahnbeschwerden, die ihn beim Kauen hindern und Verdauungsstörungen hervorrufen. Nicht nur seine Genußfähigkeit, sondern seine ganze Lebenstüchtigkeit ist beeinträchtigt. Dennoch ißt er am Nachmittag »Konfekt, Marzipan, Mandelcreme und Plumcake« und »die ängstliche Beklommenheit, die ein überfüllter Magen verursacht, vermischte sich mit der süßen Erregung des Abends zu einer wehmütigen Glückseligkeit.« Der Weihnachtsabend wird als Erinnerungsmahl zelebriert. Nach dem Tischgebet »setzte man sich mit gutem Gewissen zu einer nachhaltigen Mahlzeit nieder, die alsbald mit Karpfen in aufgelöster Butter und mit altem Rheinwein ihren Anfang nahm.« Daran schließt sich ein »Puter, gefüllt mit einem Brei von Maronen, Rosinen und Äpfeln« an. Es gibt »gebratene Kartoffeln, zweierlei Gemüse, zweierlei Kompott«. Näheres erfährt der Leser nicht. Verkümmerung von Selbst- und Weltvertrauen, mangelnde Religiosität und nachlassende Willensstärke treiben die Familie letztlich zur Liquidation der Firma. Der intellektuelle und moralische Verfall wird in den Essensszenen gespiegelt. Die Weihnachtsfeier gemahnt mehr an ein üppiges »Leichenbegängnis« als an ein Fest der Freude. Auch der mangelnde Grad an Strukturierung, wie er dem Einweihungsfest noch nicht zu eigen war, macht den Untergang deutlich.

8.2.5. Rezeptherkunft D a ß Thomas Mann nicht nur eine gute bürgerliche Küche liebte, sondern selber auch das Mäßigkeitsgebot bereitwillig mißachtete und übertrat, belegt eine Tagebuchnotiz vom 3.XI.1918: »... zu Tische Entenbraten, der mir im Magen lag und mich nachmittags trotz Müdigkeit am Schlafen hinderte... Abends mit K. zu Richter zum Abendessen. Vergnügen a n . . . dem hübschen Silber und Service, dem üppigen Essen nebst vorzüglichem Rotwein, von dem ich reichlich trank und der mir über die Magenbeschwerden hinweghalf.« Auskunft über die alten Rezepte für Menüs, die bei den Mahlzeiten und Festen aufgetragen wurden, erhielt Thomas Mann von seiner Mutter. Besonders wird die Herstellung von »dicken braunen Kuchen«, und die Zubereitung von »Karpfen in rothem Wein« geschildert, die er fast wörtlich so übernommen hat, wie die Mutter es ihm schrieb. 27 Peter de Mendelssohn 27 Paul Scherrer: Thomas Manns Mutter liefert Rezepte für die Buddenbrooks. In: Christian Voigt/Erich Zimmermann (Hrsg.): Libris et Litteris, Hamburg 1959. 73

vertritt in seiner Biographie Der Zauberer die Auffassung, daß es in der Familie Mann zwei ererbte Kochbücher gegeben hat: eines von der Köchin Marie Stuck, begonnen 1780, das in Besitz Heinrich Manns überging und heute bei seinem Nachlaß im Heinrich Mann-Archiv in Berlin ist. Das zweite, auch aus dem 18. Jahrhundert, mit dem Titel »Kochbuch für Charlotte S.«, befand sich im Besitz der Familie Thomas Manns und ist heute im Züricher Archiv. Der »Plettenpudding« jedoch steht in keinem der beiden Kochbücher; er ist frei erinnert und daher auch nur knapp erklärt. Um das Lüb'sche Heimatbild zu komplettieren, holt sich der 21jährige Mann also Rat bei seiner Mutter. Die Buddenbrooks hatte er 1897 in Rom begonnen, wo es sicher keinen Plettenpudding gab. Daher ersucht er seine Mutter, ihm heimatlichoriginale Rezepte mitzuteilen. Vermutlich im Oktober 1897 erhält er einen Antwortbrief der Mutter, der nur unvollständig erhalten ist: »Plettenpudding steht nicht im ererbten Kochbuch; damit du aber eines in der alten Sprache hast, schreibe ich ab.« Es folgt die ausführliche Beschreibung der Karpfenzubereitung. Sie dient erstens dazu, einen Eindruck vom pietistischen Speiseplan Lübecks zu geben. Zweitens bedeutet das Aufnehmen einer Küchentradition auch das Aufnehmen der mit ihr verbundenen historischen Werte, die an sie geknüpft werden. Und drittens ist die Wiedergabe des Rezeptes romantechnisch ein geeignetes Mittel, um impressionistisches Kolorit zu vermitteln. Das Rezept ist als Handlungsanleitung unvollständig, enthält aber das Wesentliche. Sich über Rezepte auszutauschen, ist der einzige Inhalt der Konversation der Konsulin. Die festliche Karpfenzubereitung ist f ür die Küchenkultur der bürgerlichen Gesellschaft eine unverzichtbare Kenntnis. Das intellektuell-prosaische Weltverhältnis in den Salons der ausgehenden Kunstperiode, wie es etwa bei Bettina von Arnim oder Rachel Varnhagen emanzipatorisch eingeübt wurde, reduziert sich bei den Buddenbrooks auf Kochrezepte. Überlieferung und Erneuerung kondensieren in der Begrenzung der Frau auf die Rolle der konservatorischen Wertübermittlerin, Ernährerin und säkularen Küchenmagierin. Die Autonomie (und Autarkie) der Frau, die die romantischen KunstSalons angestrebt hatten, verdampft im Küchenqualm. Einzig rebellierende Angestellte, wie die Köchin und ihr Freund, der Schlachtergeselle, begehren auf und machen »Revoluschon«. Sie kennen nicht das Schlaraffenland der Buddenbrooks. Berlin um 1890 etwa ist ein Moloch aus Hunger und Schmutz. Im Schlaraffenland, so will es das Märchen von Grimm bis Hauff, sind die Gartenzäune aus Bratwürsten,

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und die Spanferkel laufen mit dem Tranchiermesser im Rücken herum. Zucker und Honig regnen vom Himmel, von den Semmelbäumen fallen die Brötchen in den Milchbach, und die Fische springen von selber in die Bratpfanne. Wer in dieses Paradies, das keines ist, hinein will, muß sich durch eine Mauer von Reisbrei essen. Bleiben wir beim Fisch. Er scheint das Wappentier der Pessimisten zu sein. Denn der Fisch verlangt Geduld, Kenntnis, Geschick und Behutsamkeit. Dies sind Tugenden, an denen gierige Esser verzweifeln; Menschen also, die Ehrfurcht vor der Speise und sorgsame Behandlung und Zubereitung mit genußverzögerndem Aufschub verwechseln und beim Gedanken an Gräten in asthmatische Angstzustände verfallen. Müssen es heute Babysteinbutt in Mangold, Seezungenröllchen oder Lachsmousse sein, so genügten den Buddenbrooks noch kapitale Karpfen. Nicht Hummer, Austern oder Krebs, nein, ein Karpfen aus einem alten Kochbuch des 18. Jahrhunderts wird ausführlich beschrieben. Lüb'sche Tradition und Lokalkolorit vermittelt dieses Gericht ebenso wie seine Herkunft aus dem pietistischen Speiseplan des 18. Jahrhunderts.

8.2.6. Gottesblut und Fasten. Küchentechnische Sakramente Wenn Thomas Mann zunächst nur die Absicht hatte »eine städtische Chronik« zu schreiben,28 »ein Bild hanseatischen Lebens aus dem 19. Jahrhundert, kulturgeschichtliches also«,29 so hat er damit nicht nur ein »Stück Seelengeschichte des deutschen Bürgertums« geschrieben,30 sondern auch ein Stück Küchengeschichte. Der Karpfen beispielsweise ist nachweislich ein Stück Realität (aus einem alten Kochbuch nämlich entnommen). Es ermangelte im übrigen Thomas Mann auch an Phantasie, Kochrezepte hinreichend zu erfinden, so daß er auf Zeitgeschichtliches zurückgreifen mußte. Nun ist der Fisch, der Karpfen zumal, von nicht unbeträchtlicher symbolischer Bedeutung: als Glücks- und Lebenssymbol, als Spende, Speise und Opfergabe, auch als Symbol der Eucharistie. Ebenso ist er der erste gezüchtete, kultivierte Fisch, hat also eine lange Karriere als Speisefisch hinter sich. Neben der besonderen Rolle in der Ernährungsgeschichte der Menschheit ist er auch der antiken Venus heilig. Beide, Karpfen und Venus, stehen synonymisch für das lebenspendende Prinzip. Den maßlosen Buddenbrooks hätte 28 Thomas Mann: Lübeck als geistige Lebensform, 11, 376-398. 29 Ebd. 30 Ebd.

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eine Diät, eine Sinnermäßigung, eine Einschränkung ihrer metaphysischen Bedürftigkeit, ein körperliches wie geistiges Fasten gut getan. Der Karpfen ist seit dem Hochmittelalter die bevorzugte Fastenspeise. Im Fasten nun, der rituellen Nahrungsenthaltung oder -begrenzung, wird, was ursprünglich »fasten« hieß, »festgehalten«, was durch Unmaß und Fraß, »üppige Völlerei« eben, abhanden zu kommen droht: Konzentration auf das Jenseits der Speise, auf das Leben als solches, das Göttliche. Dieses jedoch verspielen die Buddenbrooks. Pseudomoralisch hat das Fasten dann, als Diät, jene sonderbare Karriere hinter sich, die über zivilisationsmüde Kulturen bis zur gegenwärtigen Imbißmentalität mit ihren pathologischen Zuständen führt. Qualitative Auswahl, Zulassung nur bestimmter Speisen und Abwendung von primär sinnlichen Genüssen zugunsten spiritueller Konzentration und Kontemplation sind die Ziele des Fastens. Fasten aber als konzentrierende Vorübung ist der bürgerlichen Gesellschaft fremd. Durch die Aufsplitterung des kultischen Rituals in seine Bestandteile aus Dichtung, Gottesdienst und politischer Selbsterfahrung werden diese Elemente in der bürgerlichen Gesellschaft nur noch zusammenhanglos referiert und nicht als »Gesamtkunstwerk« vollzogen. Christlicher Karpfen, Jenseitshoffnung beim Essen und heidnischer Dienst in der Formulierung »alles Blut mitnehmen«, werden kochtechnisch synthetisiert. Saucen werden in der haute cuisine mit kalter Butter - der naturalistischen Romantechnik durchaus vergleichbar - montiert, wie es in der Fachsprache der Köche heißt. Ein »Löffel Butter zu Feuer« bindet, was konkurrierend nebeneinander steht. Nihilistische Separatkulte, alternative Glaubensrichtungen und Ideologien, lebensreformerische Praxis und Kryptotheologie, Theosophie und Alchimie. Hatte der christliche Gott gerade das Blutopfer abgeschafft und unter Strafe gestellt, so holt das liturgische Wort-Rezept es wieder zurück. Bei jedem Kochen vollzieht sich - bei aller Technisierung - jene magische Unwägbarkeit, das Ergebnis doch nie antizipieren zu können. So rettet das kultische Kochen jene archaische Unberechenbarkeit, die der aufklärerisch-analytische Geist verunmöglicht hat. An die Stelle der alten Religion treten strukturgleich das Geld und dessen Repräsentation. Heine sprach schon von der Gottwerdung des Geldes, das an die Stelle getreten sei, an der zuvor das Blutopfer stand. Anlaß für die separatistischen Rezeptgespräche der Damen ist der Gelddiskurs der Männer. Diese sprechen über Börse (Geld), jene über Karpfen (Gott). Da Geld nicht stinkt, seiner Herkunft nach indifferent ist, ist es das reine 76

Medium, die vollkommene Abstraktion. Nicht so der Karpfen. Der stinkt. Er ist unrein: »(...) nicht waschen, Liebste, alles Blut mitnehmen, um Gottes Willen (...).« Das bürgerliche Mahl implementiert technischsynthetisch, was es eucharistisch-konkomitant zu verzehren sich nicht erlaubt: Blut und Gott - Gottesblut.31 Es ist der unbewußte Ort historischer Einholung des selbsterzeugten Traditionsverlustes. Wer Gott abgeschafft hat oder durch Geld substituiert, muß wenigstens göttlich, das heißt teuer essen. Das alimentäre Sein bestimmt das Bewußtsein. Aber kein Gang ohne Opfer.

8.2.7. Essen und Erkennen Appetit, Selbstreferenz und der leidende Christian Wenn nach Schopenhauer die »Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens« sind,32 dann opfert Christian Buddenbrook seine Geschlechtlichkeit, d.h. seinen Willen. Seine Schluckbeschwerden weisen auf seine Zeugungsunfähigkeit hin. Mit ihm und Hanno wird die Generationenfolge unterbrochen. Ihre Oralitätsverweigerung ist die korporelle Reaktionsbildung ihrer Sexualabwehr. Die Furcht vor dem Begehren des Anderen, der verschlingenden Frau etwa, hemmt ihre eigene Internalisierungsfähigkeit. Bei Christian Buddenbrook läßt sich mit Leichtigkeit von einer sekundären Anorexie sprechen, einer hysterischen Nahrungsverweigerung, die von pessimistischer Weltanschauung gespeist wird und deren Antrieb nicht, wie sonst für Magersucht üblich, eine Gewichtsphobie ist. Christian Buddenbrooks ideologisch wie psychomotorisch gestörtes Verhältnis zwischen innen und außen, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Subjekt und Objekt, Ich-Ideal und Über-Ich, macht die Ernährung zu seinem Kampffeld. Goethes Tasso ähnlich stört der Künstler eine »intakte« Gesellschaft und macht deren Befallsstellen kenntlich.33 Er macht sein 31 So war es für Thomas Mann wichtig, die brutal-realistische »Schlachtungsszene« des Karpfens aus dem Kochbuch der Mutter entfallen zu lassen und statt chirurgischer Präzision sich zugunsten impressionistischer Abstraktion zu entschließen. Hier der originale Text: »Soll Blut in etwas Essig, Bier oder Wein aufgefangen werden, so trenne man das Rückgrad vom Kopf durch einen Schnitt und mache noch einen kleinen Querschnitt nach. Oder man steche mit dem Küchenmesser durch den Unterkiefer nach oben in das Maul.« 32 Arthur Schopenhauer: Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe. 33 Stefan Hardt sieht darin nicht mehr als »tiefe Angst« und »gesellschaftliche Desintegration«. Vgl. St.H.: Tod und Eros beim Essen. Frankfurt/Main 1987, S.46.

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Stören symbolisch wie real kenntlich, indem er seinem Namen gerecht wird: er leidet. Heilige und auch Magersüchtige, sowie Eßgestörte im Sinne der oben erwähnten sekundären Anorexie entsagen der Sexualität, machen sich unattraktiv und nahezu geschlechtslos bei gleichzeitiger Wahrung ihres Aktivitätsniveaus. Ihren Hunger und ihren Appetit behandeln sie wie (verwerfliche) Lust schlechthin. Christian organisiert seine asketischen Handlungen und fällt auf. Sein Appetit ist ein Hunger nach Appetitlosigkeit, nach göttlicher Unabhängigkeit. Christian kann nicht nur nicht schlucken, sondern bemerkt auch objektivierend: »Ja, die Sache ist: ich wage nicht einmal, es ordentlich zu wollen.« Schopenhauer schreibt zu solch einem Phänomen: Vom gewöhnlichen Selbstmorde gänzlich verschieden scheint eine besondere Art desselben zu sein, welche jedoch vielleicht noch nicht genugsam konstatiert ist. Es ist der aus dem höchsten Grade der Askese freiwillig gewählte Hungertod, (...) Es scheint jedoch, daß die gänzliche Verneinung des Willens den Grad erreichen könne, wo selbst der zur Erhaltung der Vegetation des Leibes durch Aufnahme von Nahrung nötige Wille wegfällt. Weit entfernt, daß diese Art des Selbstmordes aus dem Willen zum Leben entstände, hört ein solcher völlig resignierter Asket bloß darum auf zu leben, weil er ganz und gar aufgehört hat zu wollen. (WWV I, §69)

Christian steht in einem Willenskonflikt. Im Appetit drückt sich aber nichts anderes aus als die Übersetzung von Appetit (lat. appetitus = Streben nach etwas) bereitstellt, nämlich ein selbstobjektivierendes Streben nach etwas (anderem). Dieses Streben ist der schopenhauersche Wille, der »im Stein den schwächsten, im Menschen den stärksten Grad Sichtbarkeit, Objektität hat. - Dieses im Streben aller Dinge mit unserm Wollen Identische hat sogar der heilige Augustinus mit richtigem Gefühl erkannt« und appetitus genannt. 34 Mit Pflanze, Tier, Stein, Wind und Flamme teilen wir nach Schopenhauer das Streben. Nur, daß der Mensch bemüht ist, sie sinnvoll einzurichten und demnach zielvoll strebt. Mit dem Satz »Die Welt ist meine Vorstellung« greift Schopenhauer Kants Phänomenalismus auf, um ihn anschließend auszuweiten. 35 Es genügt uns nicht, daß wir Vorstellungen haben, »wir wollen die Bedeutung jener Vorstellung wissen: wir fragen, ob diese Welt nichts weiter, als Vorstellung sei«.36 Schopenhauer vertraut nicht nur auf die kantischen Vorstellungen, sondern stellt die semantische 34 Schopenhauer, WWV, §24, S. 191. 35 Schopenhauer, WWV, §1. 36 Schopenhauer, WWV, §17.

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Frage. Er erkennt, daß man nicht aus der Welt der Erscheinungen herauskommt, wenn man sich nur an sie hält. Zu Referenzobjekten unserer Sprache, zur Bedeutung der Worte, ihrem semantischen Gehalt, kommt man nicht, indem man sich nur an sie hält. Man muß ihren Funktionszusammenhang ausweisen. Schopenhauer versucht nicht nur den kantischen Phänomenalismus, sondern auch den »linguistischen Phänomenalismus« von Worten und Namen zu sprengen:37 »wie immer man auch forschen mag, so gewinnt man nichts als Bilder und Namen«. 38 Von außen ist dem »Wesen der Dinge nimmermehr beizukommen«. 39 Hier nun folgt die für das nachidealistische 19. Jahrhundert und für Christian Buddenbrook wichtige Wende: In der That würde die nachgeforschte Bedeutung der mir lediglich als meine Vorstellung gegenüberstehenden Welt, oder der Übergang von ihr, als bloßer Vorstellung des erkennenden Subjekts, zu dem, was sie noch außerdem seyn mag, nimmermehr zu finden seyn, wenn der Forscher selbst nichts weiter als das rein erkennende Subjekt (geflügelter Engelskopf ohne Leib) wäre. Nun aber wurzelt er selbst in jener Welt, findet sich nämlich in ihr als Individuum, d.h. sein Erkennen, welches der bedingende Träger der ganzen Welt als Vorstellung ist, ist dennoch durchaus vermittelt durch einen Leib, dessen Affektionen, wie gezeigt, dem Verstände der Ausgangspunkt der Anschauung jener Welt sind. 40

Es ist die radikale Wende zum Leib. Kant hatte zwar indirekt auch vom Leib gesprochen, indem er »apparatfreie« Erkenntnis in Abrede stellt und resümierte: Wir können nur erkennen, was wir erkennen können. Wendet man Schopenhauers Leib- bzw. Willensphilosophie auf Christian Buddenbrook an, so gilt: Wir können nur essen, was wir essen können. Hier wird neben der physiologischen Disposition der Organe der Wille in Rechnung gestellt. Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen: sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet. Jeder wahre Akt seines

37 Wolfram Hogrebe: Deutsche Philosophie im 19. Jahrhundert. München 1987, S.25. 38 Schopenhauer, WWV, §17. 39 Ebd. 40 Schopenhauer, WWV, I, §18.

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Willens ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes: er kann den Akt nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzunehmen, daß er als Bewegung des Leibes erscheint. Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: ein Mal ganz unmittelbar und ein Mal in der Anschauung für den Verstand. Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens. (...) Ich werde daher den Leib ... die Objektität des Willens nennen (...) Jeder wahre, ächte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes: und diesem entsprechend ist andererseits jede Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch Einwirkung auf den Willen: sie heißt als solche Schmerz, wenn sie dem Willen zuwider; Wohlbehagen, Wollust, wenn sie ihm gemäß ist.41

Christian Buddenbrook sehnt sich nicht wie Tannhäuser nach Schmerzen, er hat sie. Und zwar Christus gleich am stärksten, das heißt am lebensverhinderndsten, in seinem 33. Lebensjahr. »Ich kann es nun nicht mehr«, bekennt er seinem Bruder Thomas im profanen Abendmahl-Saal der Buddenbrooks, im Speisesaal natürlich. Seine Schmerzen sind es, die seinem Willen zuwiderlaufen. Jedes Ding wird in ein Verhältnis zu seinem Körper gesetzt. Christian leidet für unterbliebenes Wollen. Aus Schopenhauers semantozentrischer Fixierung, der Frage nach der Bedeutung der Erscheinungen und ihrer Grundlegung im Willen, klinkt sich Christian aus. Er erkennt den Willen, das im »Streben aller Dinge mit unserm Wollen Identische« nicht an. Er hat keinen augustinischen appetitus. Wenn es zur Offenheit des schopenhauerschen Willens gehört, richtungslos, gleichwohl aber bedeutungskonstitutiv zu sein, so nimmt Christian ersteres für sich in Anspruch. Er korporalisiert den schopenhauerschen Willen. »In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist«.42 Christian ist exzentrisch, sein Zentrum ist nicht nur abwesend, er hat keines. Er will keines wollen können. Er durchkreuzt die identitätsfixierte Symbolordnung, die sich ihrer beim Mahl stets erneut versichert. Er ißt, spricht und »sieht die Dinge von so einer fremdartigen Seite an.« Christians gestörtes Körper-Ding-Verhältnis, die Überwertigkeit der Dingwelt, als gleichsame Kritik an der Verdinglichung des Bewußtseins, 41 Schopenhauer, WWV, I, §18, S. 119, 120. 42 Schopenhauer, WWV, I, §29.

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machen ihn zum Exzentriker, der die kognitive wie semantozentrische Symbolordnung unterläuft. Der Teufel ist nicht in ihm, sondern in den Dingen. Christian ist unverständlich. »Manchmal ergreift ihn eine wahre Manie, die kleinsten und tiefsten dieser Vorgänge ans Licht zu ziehen und auszusprechen ... Vorgänge, um die ein verständiger Mensch sich gar nicht bekümmert, von denen er gar nichts wissen will.« Christian ist von einer manischen Selbstreferentialität beim Essen, die Erkennen fortan nicht an das »Individuationsmedium Sprache« koppelt, 43 sondern an den nichtsprachlichen, selbstreferentiellen Zustand des Essens. Er ist in den Augen der anderen daher »ein bißchen sonderbar« und sie fragen sich »wie spricht er eigentlich?«. Christian hat die verbindliche »Contenance« verloren. Er ist außer sich, weil er nichts in sich bringt. Die Organe des Verdauens verweigern den Verzehr. Der Bissen siegt, das Wollen unterliegt. Christian anerkennt die Gewalt des Objektiven, das über ihn herrscht und nicht unter seinen Willen zu bringen ist. Er zweifelt an der sinnvollen Einrichtung der Welt und der Einsehbarkeit des Absoluten. Für ihn gilt mit Schopenhauer: »(...) so werden wir nichts weniger nöthig haben, als zu inhaltsleeren, negativen Begriffen unsere Zuflucht zu nehmen, und dann etwa gar uns selbst glauben zu machen, wir sagten etwas, wenn wir, mit hohen Augenbrauen, vom Absoluten, vom Unendlichen, vom U ebersinnlichen, und was dergleichen bloße Negationen mehr sind (...), statt deren man kürzer Wolkenkukuksheim sagen könnte, redeten: zugedeckte, leere Schüsseln dieser Art werden wir nicht aufzutischen brauchen«. 44 Christian will Willenlosigkeit, um der Sinnverpflichtung der Dingwelt zu entgehen. Doch zurück zum Leiden und seiner Opferleistung. Erwähnt wurde bereits, daß Heilige, d.h. religiös motivierte Asketen und Magersüchtige der Sexualität entsagen, sich willentlich desexualisieren und unattraktiv machen. Auch »Christian hatte sich durchaus nicht verschönt. Er war hager und bleich.« Der Wille zur Unabhängigkeit von Körperfunktionen hat, wie auch das christliche Asketentum, einen nicht zu unterschätzenden selbstbestrafenden Aspekt. Umgekehrt ist es Ziel, das Leiden zu maximieren, zu möglichst »inhaltsleeren Begriffen« zu kommen. Es handelt sich dabei nicht um einen erotischen Masochismus, aus dem Befriedigung zu gewinnen wäre, sondern um einen moralischen Masochismus (vgl. Freud 1924).

43 Jochen Hörisch: Gott, Geld und Glück. Frankfurt/Main 1983, S. 102,182. 44 Schopenhauer, WWV, §53. 81

Buße legt man sich auf, um Schuldgefühle und metaphysische Straferwartung zu mildern. Offensichtlich spielt hier die christliche Idee der Erlösung durch Leiden hinein. Christian, der »sich zuviel mit sich beschäftigt«, wird darin seinem Namen gerecht. Durch Leiden vollzieht er eine narzißtische imitatio christi. Sein Heil sieht er fortan in der Kunst. »Ja es ist wahrhaftig wunderschön, ein Künstler zu sein«, sagt Christian und denkt dabei mit Schopenhauer bevorzugt an »Konzerte«, an Musik. Die Musik steht in der romantischen Kunstreligion als entmythologisiertes Gebet der meinenden Sprache gegenüber. Musik ist eine Philosophie, »eine unbewußte Übung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, daß er philosophiert«.45 In Schopenhauers Metaphysik der absoluten Musik ist die »Musik die Melodie, zu der die Welt der Text ist«, weil allein sie Abbild des Willens selbst ist. In ihr ist der Künstler oder der Komponist »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis«. 46 Der Anschauende ist nicht mehr von der Anschauung zu trennen. Christian Buddenbrook vollzieht also masochistische Abwehr oraler Lust und metaphysische Willensverneinung zugleich. Seine Selbstgefühlsstörung führt zu einer narzißtischen Kompensation hypertrophierter Sinnerwartung. Wie auch seine Enthaltsamkeit (sexuell und alimentär) die leidvolle Opferaneignung und Selbstexculpation bedingt. Christian Buddenbrook leidet an einer doppelten Mangelerscheinung, einer gesundheitlichen und einer metaphysischen. Erstere hat er durch falsche bzw. gar keine Ernährung. Seine Krankheit hat einen symbolischen und realgeschichtlichen Aspekt. Der realgeschichtliche liegt in dem veränderten Ernährungsverhalten. Die Entwicklung mechanischer Verfeinerung der Nahrung sowie mineralarme und kleielose Feinmehle führen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu Mangelerscheinungen und Dysfunktionen des Kauapparates. Die dadurch hervorgerufene Mesotrophie findet ihren weltanschaulichen Niederschlag in der metaphysischen Nahrungsverarmung. Der zunehmende Mangel an weltlichen wie überweltlichen Nährstoffen bzw. deren falscher Einsatz und die systematische Delegierung des Willens an industrielle Sinnproduzenten (Großbäckereien und Kirchen) führen zu Christians Krankheitsbereitschaft. Die individuellen wie kollektiven Entlastungen vom Selbst machen Christian zum Schwundphänomen.

45 Schopenhauer, WWV, 1, S.332. 46 Schopenhauer, WWV, I, S.231, 232.

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Er wird immer weniger, bis hin zur symbolischen Eskalation in der paradigmatischen Anwesenheitsfeier, der Weihnachtsfeier der Buddenbrooks: »Christian fehlte. Wo war Christian? Erst im letzten Augenblick merkte man, daß er noch nicht anwesend sei«. Die aufgeregte Organisation der Festmodalitäten läßt ihr Sinnzentrum vergessen. Auch die stolze Positivität der Frage kann nicht umhin zuzugestehen, daß Christian (hier: der Heiland) absent ist. So kehrt sich das Fest um, und wird zur Abwesenheitsfeier, deren »präsenter Repräsentant der Tod ist«.47 Das Fest wird zum »Leichenbegängnis«. Die »eigentümliche Komplementarität von Absenz und Bedeutung ... verfiel der Verdrängung« und läßt Christian in einem Buch über auffindbare Orte lesen, in einem Reisebuch.48 Die Lektüre läßt ihn vergessen, »daß heut' Weihnacht ist«. Die Strukturale Weisheit der Buddenbrookschen Weihnachtsfeier ist die des Fehlens. Das semontologische Zentrum, die Geburtsreflexion, fehlt. Die Anstrengungen der Konsulin, ein Fest »inbrünstiger Fröhlichkeit« zu erzeugen, schlagen fehl. Friedrich Schleiermachers Weihnachtswunsch, daß »die Stimmung aber, welche unser Fest hervorbringen soll, die Freude« sein soll,49 wird von der Familie verunmöglicht. Das Fest, das »an der nothwendigen Idee eines Erlösers hängt«,50 wird von neuzeitlichen Selbsterlösungsversuchen unterlaufen. Hugo Weinschenk, ein merkantiler Dionysos des Alltags, versucht den Verlauf seiner Geschäfte durch unlautere, strafbare Praktiken zu verbessern. Er macht sich straffällig und wird zum Judas der Feier. Christian dagegen liest in einem Buch, das ihm ferne Welt näher bringt und Ferne lesbar macht. Hanno erhält ein Puppentheater, das seinen Wunsch auf die unabhängige Künstlerexistenz bestärkt und ausgerechnet das Finale der antinapoleonischen Selbstbefreiungsoper Fidelio zeigt. Ernst Bloch meinte von dieser Oper, daß jeder künftige Bastillesturm im »Fidelio« enthalten sei. Selbst der Senator vertraut fremden Erlösern allein nicht und greift auf Volksglauben zurück. Einige Schuppen des bis zu 200 Jahre alt werdenden Fisches sollen dafür Sorge tragen, daß ihm das Geld nicht ausgeht. Schleiermacher hatte, ohne es zu beabsichtigen, das Dilemma schon genannt: die 47 Jochen Hörisch: Sein der Zeichen. (= Vorwort zu Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/Main 1979). 48 Ebd. 49 Friedrich Schleiermacher: Die Weihnachtsfeier 1806. Ein Gespräch. Hrsg.v. Hayo Gerdes, Berlin 1970. 50 Ebd. 83

christologische Privatisierung des Festes, die Verwandlung der Weihnachtsfeier zum Familienfest, bringt um die Erfahrung kollektiver Erneuerung. Sein Wunsch, wonach »das Fest selbst die Verkündigung eines neuen Lebens für die Welt« ist, reduziert die »Wiedergeburt der Welt« auf eine Feier des Endes. Die durch »fromme Geldgier« und Sinnprivatisierung veränderte Weihnachtsfeier der Buddenbrooks dementiert die Hoffnung, die Schleiermacher noch an sie knüpfte. Die Feste sind Totenfeste und keine Geburtsfeiern. Was der Feier an Sinn-Fülle mangelt, müssen sich die Gäste anfressen. Nachdem der Pflichtteil, das Tischgebet »erledigt war«, folgte das Mahl. Nicht die Erfahrung einer feierlichen Gemeinsamkeit oder etwa individuelle Genüsse stehen im Vordergrund, sondern indifferente Mengenbeschreibungen, die nur überfüllte Mägen hinterläßt. Die ausschließlich fleischgewordenen Worte erzeugen Platznot. Nur mit Mühe »verstaute« Hanno ein »Stück Brustfleisch nebst Farce in seinem Magen.« Für Sinn oder gar sakramentales Sein ist da kein Raum. Für die Buddenbrooks trifft zu, was Georg Lukäcs in seiner berühmten Formulierung zur Lehre Schopenhauers, des Ahnherrn des »bürgerlichen Irrationalismus« sagte: »So erhebt sich das - formell architektonisch geistig und übersichtlich aufgebaute - System Schopenhauers wie ein schönes, mit allem Komfort ausgestattetes modernes Hotel am Rande des Abgrundes, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrundes, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.« Behaglich genossene Mahlzeiten nicht als Trost oder Überwindung, sondern als Einlösungen der Verheißungen des Hotels Abgrund. Mahlzeiten als trügerischer Komfort. Auch das rasanteste Verschlingen, jene reproduktive Vereinigungsutopie, läßt ein Unterlaufen des principium individuationis nicht zu. Die Mahlzeiten reproduzieren, wie die Kunstproduktion des Romans, nur raffiniert die Fassade des Täuschungsgeschäftes. Die Ernährung der Buddenbrooks ist so falsch, wie ihre Absichten lauter sind. Aus einer Schüssel zu essen läßt die hoch strukturierte, differenzierte und damit separierte Ordnung ihrer Mahlzeiten nicht zu. Der »formell architektonisch geistvoll und übersichtlich aufgebaute Tisch« verhindert sowohl die communio als auch jede nostalgische Erinnerung an unbeschadetere Zeiten. Der tröstliche Rest der Buddenbrooks ist das indikativisch seinsgewisse Glaubensbekenntnis der Sesemi Weichbrodt: »Es ist so!« 84

Die Frau mit dem sprechenden Namen, der im Zeichen des Brotes »Glöck« verheißt, steht einem übriggebliebenen Frauencorps vor, dem neben dem Glauben nur die vorkarfreitägliche (Grün-)»Donnerstagstafelrunde« als letztes Mahl, als Gedächtnismahl der Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft sowie das symbolisch Verzehrbare der Schrift geblieben ist: »Einmal in der Woche kommt ihr zu mir zum Essen (...) Und dann lesen wir in den alten Familienpapieren - . «

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8.3. Himmelscasino 8.3.1. Daseinshunger und Lebensfraß auf dem Zauberberg* Hans Castorps Einzug in die verzauberte Welt des Gebirges ist zugleich der Austritt aus der entzauberten Welt des Flachlandes. Sein Eintritt in das Refektorium der ungekannten Wünsche des Zauberbergs wird von einer Lehre begleitet. »Man ändert hier seine Begriffe« [III, 16], läßt Joachim Ziemßen ihn kurz nach seiner Ankunft wissen. Bildungsromanwidrig ändert Hans Castorp auf der folgenden Entbildungsreise nicht nur seine alten Begriffe, er hebt sie im hegelschen Sinn auf. Er verändert, erhöht, konserviert und beendet alte Sinnsysteme. Was er erfahren und mit der Seele suchen wird, sind massive, unbegriffliche Affektströme. Hans Castorp betreibt die Verabschiedung des Begrifflichen schlechthin und arbeitet an deren Korporalisierung, an der Somatisierung und Entautonomisierung des Denkens, in der das Begriffliche nur eine ideelle, nicht aktualisierte Kombination semantischer Merkmale ist und steuert hin zu »lebensvollen Wahrnehmungen« [111,39].' Am Rande von Hans Castorps Lebensreise zu neuer Lebensfülle, zu Liebes-, Leibes- und Götterfülle, häufen sich Leichen und Opfer. Sein Programm der Versinnlichung des Sinns geht unvermeidlich auf Kosten anderen Lebens. Darin zeigt sich die unaushaltbare Unterkühlung des Sinns, von der Thomas Mann am 12. März 1920 in sein Tagebuch schreibt: »Der Zauberberg wird das Sinnlichste sein, was ich geschrieben haben werde, aber von kühlem Styl.« Seines eigenen (sinnlichen) Opferdienstes ist er sich im Futurum exactum bewußt. Eros wird also nicht auf Sexualität reduziert, sondern im »kühlen Styl« und nicht heißblütig als Lebenstrieb im freudschen Sinne, als triebökonomische Quelle auf die Sinnesbereiche des Riechens, Sehens, Schmeckens und Hörens verteilt. Hans Castorp wird in den asyndetischen, sinnlosen Satzfragmenten Peeperkorns mehr versinnlichten Sinn, mehr unerhörte Botschaften sehen und hören, als ihm Handbücher, deren letztes »ocean steamships« ist,

* Zitiert wird nach der Frankfurter Ausgabe: Thomas Mann, Gesammelte Werke in 12 Bdn., Frankfurt/Main 1960, Bd. III; Bandzahl in eckigen Klammern mit römischer Zahl, Seitenzahl in arabischer Ziffer. 1 Vgl. Theodor Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch, 4. Aufl., München 1984, 1. Bd., S. 160. 86

zu geben vermögen.2 So ist Peeperkorns Freitod keine »antiintellektuelle Botschaft« oder »Kritik der Lebensphilosophie«,3 sondern konsequente Illustration jener anderen Seite des Lebens, von der her jeder Atemzug Bedeutung erhält.4 Nicht Kritik kurrenter Lebensphilosophie als Feier jubilatorischer Todesvergessenheit, sondern gerade das Gegenteil bezeugt Peeperkorns Tod: das memento mori in jedem Lebensvollzug. Wenn also die Intensivierung des Lebens, die Kultivierung der Sinne als Konzentrierung des Sinns im Vordergrund stehen, dann eignet sich das Essen auf dem Zauberberg zur Veranschaulichung des nur Schmeckbaren und dadurch mit direktem Zugang zu Neuronen, Dendriten und Kapillaren ausgestatteten Sinns vorzüglich. Wer schmeckt, hat - anders als beim körperferneren Riechen, Sehen oder Hören — Kontakt mit der lebenspendenden Speise, der Natur. Speisen haben direkt anmahnende, physiologische Effekte auf die Sinne, die sie nicht wie andere Sinnsysteme, etwa Schrift, symbolisch vermittelt erst voraussetzen müssen. Dessen war sich der Autor des Zauberberg bewußt. Er hat daher Erfahrungen auch mit der Lebensphilosophie, der Lebensreform und ihrer symbolischen Aufladung bzw. Repräsentation im Abendmahl thematisiert. Auf dem Zauberberg wird mit quälender Regelmäßigkeit nicht weniger als fünfmal am Tag gegessen. Ich will dieser eklektischen, christlich-dionysischen Zivilisationsschadenbekämpfung durchs Essen und seiner kultischen Aufladung realgeschichtlich nachgehen und den Weg vom einfachen Abendbrot, vom konventionellen Zeit- und Sinnträger, zum kultisch renovierten Abendmahl als universellem Sinnträger nachzeichnen. Wenn Hegel zufolge philosophieren heißt, die Zeit auf den Begriff zu bringen, sie in Begriffe zu fassen, dann enträt Hans Castorp diesen Begriffen und ihrer Zeit. Wer drei Wochen zu Besuch anreist und schließlich sieben Jahre bleibt, hat nicht nur einen anderen Begriff von der Zeit, er verspätet sich in kaum noch entschuldbarem Ausmaß. Hier ist ein Blick auf den Begriff selbst angezeigt, der dem auf Begriffe verpflichteten Schiffsbauingenieur zunehmend abhanden kommt und zwischen den lexikalisch-begrifflichen Ekstasen von Naphta

2 Jochen Hörisch: Die deutsche Seele up to date. Neue Medien auf dem Zauberberg. In: Arsenale der Seele. Hrsg. von F. A. Kittler, München 1988, S. 13-23. 3 H. Kurzke: Thomas Mann: Epoche-Werk-Wirkung. München 1985, S. 206. 4 Zur Thanatologieals Basisstruktur von Bedeutsamkeit vgl. J.H.: Gott, Geld, Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt/Main 1983, S.216. 87

und Settembrini nur ein indifferentes Rauschen hinterläßt. Hans Castorps Konfusion steigt mit der Flut wortverliebter Explikationen der konkurrierenden Ideologen. »Was eigentlich vermengt und vermischt wurde... das waren die Gefühlsbegriffe« [111,752], bekennt Castorp. Dies ist eine Erfahrung der Konfusion, die er bereits »am ersten Tage hier oben« als »unmoralische Neigung verspürt hatte: nämlich bei den fünf übergewaltigen Mahlzeiten im lustig schablonierten Speisesaal« [752]. Der Speisesaal ist demnach ein Begriffszertrümmerer und Affektquirl, der selbst hoffnungsvolle Schneeträume von der Dispensierung der Zeitverhaftetheit auf seine »sachliche Wirklichkeit« verpflichtet. Nichts ist so sehr Gradmesser von Zeitigung als Essen, Speise und Nahrung, die äußerlich verwesen und innerlich verdaut werden. Die Zeit ist selbst »als hermetische Konserve auf ihrem Wandbord (nicht, Anm. d. Verf.) außer der Zeit« [753].5 Hans Castorps Austritt aus der Zeit und aus der Geschichte sowie sein Bemühen an den unverstellten Naturkörper rückwirkend anzuschließen, wird anhand der Mahlzeiten vom einfachen Abendbrot, bei dem er noch andeutungsweise christlich die Hände faltet, bis zum dionysisch-heidnischen Bacchanale mit Peeperkorn gezeigt. Vorgeführt wird die (Rück-) Entwicklung vom Begriff zum Physiologischen, vom Mittelbaren der Anschauung zum Unmittelbaren des kultischen Erlebens. Die Hinwendung zu »lebensvollen Wahrnehmungen«, läßt sich unter anderem als lebensphilosophisch motivierte Kritik am begrifflichen Positivismus deuten. 6 Denn Begriffe sind abstrakt und allgemein.7 Castorp aber votiert mit seiner Wahl für die »Persönlichkeit« Peeperkorns, für eine Empirie der Tat, für die kultische Handlung. Was Castorp an Peeperkorns Subversion symbolischer Ordnungen und Subversion christlicher Erlösungsversprechen reizt, ist die Aufhebung der logischen Trennung vonphänomenon und noumenon, von Ding und Zeichen, von Signifikat und Signifikant: die Preisgabe nur dianoetischer Relationen von Ideen zugunsten diesseitiger und sinnlicher Bezüge im Namen von Brot und Wein. Seit Kant gilt die Trennung von Anschauung und Begriff.

5 Vgl. hierzu den Tagebucheintrag vom 4.XII.1918: »es gab eingewecktes Huhn, und mir fiel ein, daß das Geflügel durch die luftdichte Abgeschlossenheit auch der Zeit entrückt sei, außer ihr de facto.« 6 Kurzke denkt über Hofrat Behrens ähnlich; vgl. H.K.: Wie konservativ ist der Zauberberg? In: T.M. Gedenkschrift 1875-1975, Hrsg. von R. Wicker, Kopenhagen 1975, S.145. 7 S. Anm. 1.

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Er unterscheidet in empirische, d.h. apperceptive Erfahrungsbegriffe und reine, d.h. kategoriale Verstandesbegriffe: »Der Begriff ist der Anschauung entgegengesetzt, denn er ist eine allgemeine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist«.8 Der Begriff wird erst konstituiert durch die Einheit der Regel. Hans Castorp findet zwischen den antinomischen Begriffsekstasen von Naphta und Settembrini keinen Halt und gewinnt dabei eine Vorstellung vom Unbegreifbaren des Begriffs. Ausweis des Begriffs sind Regelhaftigkeit, Gemeinsamkeit von Merkmalen und überdauernde Generalisierung. Das vorzüglich Regelmäßige, das Hans Castorp auf dem Zauberberg aber erfährt, sind der Tod, bzw. das Sterben der anderen, insbesondere aber das fünfmalige Essen am Tag. Tod und Essen sind nicht nur das Gemeinsamste der Menschen, wie Georg Simmel betont hat, sie sind auch das unvermeidbar Regelmäßigste. Da die konstitutiven Bedingungen des Begriffs im Zusammenwirken von Sprache und Kognition bestehen, ist Peeperkorn, der sprachlose und ungrammatische Psychopompos, genau das Gegenteil eines epistemisch geeichten Modernisten. Antirationalistisch predigt er den verlorenen Anschluß an die Natur wiederzugewinnen, indem er Natur nicht instrumentell versprachlicht und blutentleert zum Gegenstand von anbetungsvoller Naturpoesie macht, sondern als »torkelndes Mysterium« [819] nicht- und vorsprachlich beschwört. Mit Krach, Inferno und futuristischem Küchenzauber ä la Marinetti enträt Peeperkorn jeder ordo, die verläßliche Orientierung böte. Torkelnd und schwankend versucht er ausweglos der symbolischen Ordnung zu entgehen, um ihr letztlich selber zu erliegen. Wenn Peeperkorn »Gottesbrot« fordert, hat er keinen extensionalen Begriff im Sinne logischer Erzeugungs- und Gebrauchsregeln. Er rephysiologjsiert den Begriff und entkleidet ihn der »sprachtranszendenten sachlich und logisch gesetzten Ordnungen und Beziehungen«.9 Brot und Wein werden in intensionale Handlungszusammenhänge gerückt und entabstrahiert; die eucharistischen Elemente werden in jedem Akt stets neu bestätigt, weil sie variabel sind. Nur die Regel des Vollzugs garantiert ihre Wirkung. Daraus resultiert, folgt man Cassirer, »daß alles Sein nur vom Sinn her und vermittelst des Sinnes faßbar und zugänglich ist.«.10

8 Kant, Logik I, §1,1. 9 Lewandowski, Wörterbuch, ebd. 10 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil, S.350. 89

Der Bedienung seiner Sinne gilt Castorps Fragen am Ende seines ersten Tages auf dem Zauberberg: »Ißt man denn anständig bei euch hier oben?« [21] Während die übrigen Bewohner an Atemnot leiden, ihnen buchstäblich wie weltanschaulich die Luft auszugehen droht, kümmert der Ingenieur sich einzig um seinen Appetit, genauer um seinen Hunger. Am Anfang steht noch, aus Furcht vor gegebenenfalls drohender Diät, die Frage nach der Versorgung primärer Bedürfnisse. Galt bis hierhin die alte Formel wörtlich, nach der Hunger stillbar ist, Appetit aber nicht, so wird sie sich im Laufe des Romans umkehren. Castorp verliert zunehmend den Appetit im Sinne zielhaften Strebens, und kultiviert einen zunehmend unstillbaren Daseins-Hunger. Fressend wird er die individuell wie kollektiv empfundene ontologische Defizienz seiner Zeit kompensieren. Fressend wird er sich sein Daseinsvertrauen wieder aneignen. Was in jeder Kur üblich ist, nämlich gewogen zu werden, unterbleibt hier. Die Davoser Kurgäste suchen Lebensfülle, finden aber nur sechsgängige Parademahle. Seinsvertrauen aber mißt keine Waage. Nicht »geistlose Völlerei«, sondern fressende Füllung mit Geist, heißt fortan Castorps Projekt. Während Naphta und Settembrini sich um Kopf und Kragen reden und einen philosophischen Disput nach dem anderen vom Zaun brechen, also gelehrt lamentieren, werden Castorp und Peeperkorn später naiv gourmandisieren und sich in Saturnalien ergehen. Es bedarf schon eines Saumagens, um unbeschadet Creme de Vanille, saure Fischfilets, Bier, Likör und petits fours zu überstehen. Peeperkorn ist das lebendige »exaltierte Schwein« Marinettis. Aus gutem Grund hat sich Gerhard Hauptmann mit den Worten beschwert, »diesem idiotischen Schwein soll ich gleichen?«11 Thomas Mann war Hauptmann im Oktober 1923 in Bozen begegnet und hatte ihn samt seines sprichwörtlichen Durstes zur literarischen Vorlage Peeperkorns gemacht. Von Hauptmann war nicht nur bekannt, daß er Wollhemden liebte (Reformkleidung), sondern auch Rotwein auf der Bettdecke verkleckerte, genauso wie Peeperkorn im Roman. »Die fünf übergewaltigen Mahlzeiten« [226] kamen Castorps carnivorischer Selbstachtung und Lebensstärkung entgegen. Wird gewöhnlich im Speisesaal gegessen, der wie der ganze Berghof außer der Welt, »außer der Zeit« zu sein scheint und gleichsam das Casino des Himmels und 11 S.D. Stirk: G. Hauptmann und Mynheer Peeperkorn. In: German Life and Letters, Oxford 1952, Jg. 5, Nr. 3, S. 173; vgl. auch E. Hilscher: Mynheer Peeperkorn. Die 20er Jahre und Begegnung mit T.M. In: ders. G.H., Berlin/DDR 1974, S.377.

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systemgastronomische Betriebsrestaurant der Gipfelstürmer ist, so findet die erste Lehrstunde über die Änderung des Zeitbegriffs im Restaurant statt. Castorp vertilgt ein Sechs-Gänge-Menü. Er »aß sehr stark, obgleich sein Appetit sich nicht als so lebhaft erwies, wie er geglaubt hatte. Aber er war gewohnt, viel zu essen, auch wenn er keinen Hunger hatte, und zwar aus Selbstachtung«. Wenn denn Appetit das Prinzip des Lebens ist, und der Hunger dessen bedarfsmäßige Aktualisierung, dann stellt Castorp seine Lebensenergie vom Appetit auf den Hunger um. »Sein Appetit erwies sich nicht als so lebhaft« und er ißt nur aus »Selbstachtung«, Selbsterhaltung. Joachim Ziemßens erste bedeutungsvolle Botschaft, die Hans Castorp auch bald wörtlich wiederholt, daß auf dem Zauberberg »gar keine Zeit« sei und »auch kein Leben«, also ein Versorgungsvakuum herrsche und die Bewohner des Zauberbergs den fürstlichen Speisen »nicht viel Ehre« antun, sie sich also von Zeit, Leben, Appetit und Körperfunktionen abzukuppeln drohen, hält Castorp einen Hunger aus Selbstachtung entgegen, eine Bioprophylaxe gegen heraufziehende Auszehrung und anämische Zustände. Vielmehr geben Joachim und Hans ihrer Ausgelassenheit Nahrung und füttern ihre Affekte. Ziemßen, der später an Kehlkopfkrebs stirbt, präludiert das Abendmahlthema, wenn er ausschließlich dem doppelten Sinn von »Spiritus« huldigt und hingebungsvoll den Geist des Weines wie die geistvolle Niederkunft der Worte während des Weinkonsums preist. Daß er später an Unterversorgung und Metastasen als karzinogener, anorektischer, künstlich ernährter Offizier stirbt, paßt zu dem Tischgespräch der beiden, die inmitten ihrer Ausgelassenheit von den Leichen sprechen, »die man die Bobbahn hinuntersandte«. Im Restaurant ist also das Thema von Essen und Tod lokalisiert. Ein im Roman weiter vorausliegender Ort für Tod und Essen ist der Eßsaal des großväterlichen Hauses. In ihm lernt der Enkel Castorp von seinem Großvater, Hans Lorenz Castorp, Menü- und Besteckordnung kennen. Es ist eine heile, alte Zeit. An das Essen schließt sich die Erinnerung an. Der kleine Castorp verlangt die alte Familien-Taufschale zu sehen, die die Namen seiner Vorväter trägt. Wenn die Taufschale Symbol der Geschichte und des Todes ist, so ist der Eßsaal die Geschichte und der Tod selber, Ort der Aufbahrung nämlich. Dieser ist nicht nur der Ort, »wo sie so oft am Eßtisch gegenübersaßen« [41], es ist auch der Ort, wo der Großvater »nun auf der von Kränzen umstellten und umlagerten Bahre im silberbeschlagenen Sarge« lag.

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Hans Castorp lernt dort nicht nur den komplizierten Gebrauch von Messer, Gabel und Serviettenring, der im Prozeß der Zivilisation durch Anhebung der Scham- und Peinlichkeitsschwelle dem Essen zunehmende Strukturiertheit verleiht, und die Ästhetisierung des Essens durch kunstvolle Anordnung auf der Gabelspitze kennen. Es ist auch der Ort seiner Erinnerung an die christliche Sozialisation, an den schreienswürdig vorchristlichen Zustand, der erst nach Erteilung des Sakraments der Taufe aufhört. Beim Großvater wird Castorp in jenen »christlichen Dualismus« initiiert,12 den er später mit Peeperkorns Hilfe zugunsten einer konsekrierten »Geist-Leiblichkeit« zu überwinden sucht. Castorp ist noch in Bedeutungsplatonismen verhaftet, die ihm den Leichnam des Großvaters als seine »bildhafte Erscheinung, als seine eigentliche und wirkliche zu empfinden« nahelegen. Castorp ist noch in augustinisch-antinomischer Begrifflichkeit von soma und sema, von Hülle und Wesen, von Leib und Geist verhaftet, so daß er die res externa, die »pomphafte Aufbahrung der Leiche«, die man »weder als schön, noch als sinnlich, noch als fromm« ansehen konnte, lieber als »Hülle« wahrnimmt, in der der »Großvater nun auf immer zu seiner eigentlichen und wahren Gestalt eingegangen war« [43], Eigentlichkeit und Wahrheit, substantia und Veritas sind keine Eigenschaften der Leiche, dessen »was da lag«, des ernüchternd Stofflichen also, sondern in »höhere Wirklichkeit« entrückt. Mit der höheren, geistvollen Wirklichkeit hat der Weinhändler Tienappel professionell zu tun, der bereits am Leichnam zugegen ist und für die weltliche Verbreitung von »Spiritus« Sorge trägt. Bei seinem Vormund Tienappel wird Castorp mit »derben Genüssen« versorgt: »Krabben, Lachs, Aal, Gänsebrust und Tomato Ketchup zum Roastbeef« sind so selbstverständlich wie ein Glas Portwein zum dritten Frühstück; das vollkommene Glück sind warme »Rundstücke mit Rauchfleisch nebst einem Glas Portwein« am Sonntag. Castorps Identität und Echtheit besteht darin, »daß er gern gut lebte ... und wie ein schwelgerischer Säugling an der Mutterbrust an des Lebens derben Genüssen hing.« Dem Waisenkind Castorp ist das öffentliche Essen eine große orale und exhibitionistische Nachstellung und Benutzung der stillgelegten Mutterbrust. Castorp seziert und genießt das weiße Mutterbrustfleisch des Geflügels und der Hummerschere. Hans Castorps reale wie ideelle, ernährungstechnische wie weltanschauliche

12 Vgl. T.M.s Tgb. vom 17.IV.1919.

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Charakterisierung erfolgt übers Essen. Er ist ein Snob des Begehrens, der alles Andere, außer ihm Seiende, will, um seine Lebensmaschine aus »Selbstachtung« am Laufen zu erhalten. Er ist dumm, aber gefräßig. Eros und Thanatos wirken als Motor und Getriebe, als Daseinshunger und Lebensfraß. Im »Frühstück«-Kapitel wird die paradiesische Üppigkeit des Essensangebotes aufgezählt, und weitere Patienten werden über das Essen charakterisiert. Auch der Tod fehlt nicht dabei. Damit es nicht weiter auffällt, werden die Toten zu Zeiten abgeholt, zu denen es keiner merkt, »zum Beispiel während des Essens« [77]. Um so gieriger scheinen die Bewohner des Zauberberg sich mit Leben versorgen zu wollen. Sagt man vom Anorektiker, daß er wenig esse und gleichzeitig einen hohen Aktivitätsspiegel hat, so verhalten sich die Patienten des Zauberbergs umgekehrt. Sie fressen und sind faul. Wie auf Breughels Schlaraffenland-Bild müssen sie nach einem 6-Gänge-Menü die Beine in die Luft strecken. Was ihr »Löwenappetit«, ihr bulimischer »Heißhunger« versucht, ist nicht der Wunsch nur zu konsumieren, 13 nicht zu arbeiten, nichts für ihre Versorgung zu investieren und gleichzeitig opfernd abzugeben. Es ist der Versuch, fressend den Ort reiner Produktion aufzusuchen. »Unheimlich, ja abscheulich« muß es wirken, wenn die Produktion der Produktion herrscht. Doch die negative Ökonomie des Davoser Schlaraffenlandes hat ihren Preis. Was die Patienten durch Erholung und Ernährung wiedererlangen sollen, eine funktionstüchtige Lunge, kommt ihnen beim Essen um so mehr abhanden. Hans Castorp geht »schwer atmend« auf sein Zimmer, holt Luft durch den Mund und hat Nasenbluten. Der Mann mit dem akademisch-vegetarischen, intellektuell-vegetabilen Namen »Dr. Blumenkohl« erleidet einen Anfall von Atemnot und verläßt den Saal, um anschließend unbelehrt »sehr viel« und »von jedem Gericht zweimal« zu essen. Schließlich betritt Claudia Chauchat »beim Fisch« den Saal und läßt die Glastür fallen. Sie verhält sich maßvoll gegen die Unmäßigkeit Castorps, Blumenkohls und der anderen. Ihr Auftritt findet während der klassischen Zweitspeise, beim Fisch, statt. Die Szenerie im Speisesaal deutet bereits auf ein negatives Abendmahl hin. Im Speisesaal des Luxushotels findet ein exklusives, aber erlösungsloses Massen-Mahl statt. An den sieben Tischen des Speisesaals sind »staunende Verstörte« versammelt, 14 dort findet keine 13 So bei D. Richter: Schlaraffenland. Frankfurt/Main 1989. 14 R.M.Rilke: Das Abendmahl. In: R . M . R . Sämtl. Werke, Frankfurt/Main 1955, I, 388.

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Apostelkommunion statt, sondern eine Passionsgeschichte, Saturn frißt seine Kinder. 8.3.2. Kronos Rache oder von der Essenszeit zum Zeitessen Sieben Tage dauern die antiken Saturnalien. Sie fallen in unsere heutige Adventszeit. Vom 17.-23. Dezember werden sie zum Andenken an die Freiheit im Naturzustand, an das goldene Zeitalter unter Saturnus gefeiert. Unserem Karneval ähnlich, steht alles auf dem Kopf. Herr und Knecht tauschen die Rollen, Gefangene werden befreit, Geschäft und Handel ruhen, Fest und Gelage dagegen blühen. Früh wird Saturn mit dem griechischen Kronos identifiziert. Diesem wird durch seine Mutter Gäa (Erde) prophezeit, daß er durch eines seiner Kinder gestürzt werde. Kurzerhand verschlingt er sie gleich nach der Geburt (nämlich Hestia, Demeter, Hera, Pluton und Poseidon). Dank einer List bleibt nur Zeus verschont. Zuvor hatte Kronos, der ein Sohn von Uranos (Himmel) und Gäa (Erde) ist, seinen Vater mit einer Sichel entmannt, weil er bei Gäa schlief. Die Verbindung von Himmel und Erde war von nun an beschnitten. Um sicher zu gehen, daß die, die ihm gefährlich werden können, auch endgültig weg sind, frißt Kronos sie einfach auf, um sein Leben zu retten: die Zeit frißt ihre Kinder. Hans Castorp und die Zauberbergbewohner versuchen nun diesen Prozeß umzukehren. Die lückenlosen Mahlzeitenfolgen lassen ihnen keine Zeit für eigene Geschichte. Sie verbringen ihre Zeit essend, sie essen ihre Zeit auf. Je selbstverständlicher das ungewöhnlich häufige Essen ihnen wird, um so weniger selbstverständlich, unverständlich wird das Leben. Nichts ist unwürdiger als ein Mahl zu zerquatschen. Für Goethes stürmende und drängende Empfehlung, »Rasch ins Leben hinein«, die er im Schwager A>o«oi-Gedicht abgibt, um der Zeit eine gehörige Portion Leben abzujagen, haben die Davoser Patienten kein Ohr. Sie fordern kein Tauschäquivalent für abgegoltene Zeit, sondern suchen diese am Ort der Entwertung, der Verwesung selbst auf: im eigenen Körper. Die Zeitlichkeit des Seins wollen die Patienten aufheben, aber sie übersehen dabei den Differenzcharakter, das »Zwischen von Welt und Ding«.15 Die Welt scheint ihnen oral internalisierbar, eßbar zu sein. Die Körper-Ding-Grenze wird sich ihnen erst anmahnend

15 M.Heidegger: Die Sprache, 8. Aufl., Pfullingen 1986, S.24.

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einschreiben, wenn es schon zu spät ist. Krank werden sie durch die universale Verdinglichung ihrer Umwelt. Die Internalisierung der Produktion ist jedoch immer ein exogener Prozeß. Doch was sie lebenreproduzierend essen, ist immer gekocht, also schon tot. Von der Außen-Zufuhr erhoffen die Mittags- und Abendgäste eine erhöhte Selbstzufuhr, ein Mehr an Innen- und Selbstbewußtsein. Der Schwager Kronos, der Kutscher durch die Zeit, kann gar nicht schnell genug fahren, er kann nur lärmen. Kommt die Rede auf die Zeit, wird auch bald gegessen [118]. Die hypertrophe Nahrungsaufnahme auf dem Zauberberg versetzt nicht nur in Verdauungsnarkosen, sie schränkt auch das Verstehen ein. Hans Castorp mühte sich zu verstehen, »obgleich zur Zeit nicht eben scharf im Kopfe und von einer sechsgängigen Berghof-Mahlzeit organisch stark in Anspruch genommen« [218]. Da es »so richtige Jahreszeiten« auf dem Zauberberg nicht gibt, muß eine verläßliche Ordnung der Tageszeit her. Sie wird durch das Essen garantiert. An die Stelle der Zeitwahrnehmung und des Geschichtsbewußtseins tritt die Essensordnung. Der »Exkurs über den Zeitsinn« beginnt im Roman daher auch im Anschluß an ein Essen. Denken folgt aufs Mahl. Verläßlich scheint nur die Sinnlichkeit des Verzehrs, die kollektive Erlebnisrückstände und Zeiteinholungsversuche individualisiert und kompensiert. Es geht nicht um Zeitgewinn, sondern um die schmerzliche Erfahrung, daß Sein als Zeit verfaßt ist. Das metaphorische Kompositum von der »Ewigkeitssuppe« macht doch nur den begrifflichen Mangel kenntlich, daß es weniger »Signifikanten als Signifikate« gibt.16 Die seiende Suppe kippt früher oder später (was eine Frage der Konservierung ist) um, sie wird schlecht und ist nicht ewig. Die »ausdehnungslose Gegenwart« [258] benennt den Versuch, die reine Bedeutung festzuhalten, den Differenzcharakter des Seins aufzukündigen. Bei aller Zauberei und Tischleindeckdich-Romantik [266] wird stets die inkorporierte Arbeit vergessen. Was das Märchen als Entlastung feiert, nämlich von Arbeit frei zu sein, alles zu haben, »was das menschliche Leben bedarf, die Hülle und die Fülle«,17 geht den Patienten gerade ab. Sie bemühen sich, Lebensfülle durch unreflektierte Leibesfülle zu erlangen. Von einem Refektorium zu sprechen, 16 J.Hörisch: Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Onto-Semiologie. In: J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/Main 1979, S . 7 - 5 0 . 17 Ludwig Bechstein: Märchen, nach der l . A u f l . 1853, Dortmund, 3. Aufl. 1983, S. 142. 95

wie Settembrini es wagt, geht nur ironisch. Der Speisesaal ist nicht Ort frommer Wiederherstellung, sondern kollabierender Verstellung. Dr. Blumenkohl und Frau Magnus klappen zusammen. Es ereignet sich ein Epilepsieanfall, ein Hinfall also. Alles andere als fromme, bescheidene, gleichartige, essende Vorbereitung und Wiedererstarkung für spirituelle Tätigkeit. Gerade im Speisesaal des Berghofs herrscht jene singulär-exklusive Selbstsucht des Essens, von der Georg Simmel spricht, die einzig im klösterlichen Refektorium und vergleichbaren rituellen Essenshandlungen entindividualisiert wird. Thomas Mann treibt die Speisemetaphorik über so anschauliche Namen wie Frau Stöhr und Dr. Blumenkohl noch hinaus. Im Rahmen seiner bereits erwähnten Begriffskritik und der inzwischen erfolgten kulinarischen Versinnlichung des Sinns, in der ihn »nur das Sinnliche berührte« [317], spricht er vom Omelette des Lebens: 18 vom »Omelette en surprise mit Gefrorenem unter heißem Eierschaum«, das seine Empfindungen und sein Zeitbewirtschaftungsverhalten spiegeln sollen. Die Eierspeise, das Omelette zumal, ist die klassische Zwischen-Speise eines Menüs, die den Übergang zum Hauptgericht signalisiert, den Gaumen beruhigt und vorbereitet, es ist das gleichzeitige »Nach« und »Vor« des Hauptganges, das »Zwischen«. Als fragiles Dessert ist es der antinomische Aufenthalt von heiß und kalt, bewegt und starr, schnell und langsam, stillstehend und mobil, fortschrittlich und konservativ, utopisch und eschatologisch zugleich. Endgültig bricht der »Fraß« zur Illustration von Zeitwahrnehmung und »innerem Zeitbewußtseins« im Kapitel »Enzyklopädie« durch. 19 Der enzyklopädische Gesamtbestand des Zeitwissens wird in Bilder des Essens gebannt. »Man könnte sagen, der Nichts-als-Wartende gleicht einem Fresser, dessen Verdauungsapparat die Speisen, ohne ihre Nähr- und Nutzwerte zu verarbeiten, massenhaft durchtriebe« [335]. Zeit und Essen, genauer Warten auf Stuhlgang, hat Thomas Mann stets persönlich Beschwerden bereitet. Er hat es in seinen Tagebüchern oft belegt. Die literarische Makrofäkalanalyse wird im Tagebuch physiologisiert und neurologisiert. Er spricht von »Leib-Angst«, 20 von »Unwohl, Gürtelschmerzen von Dickdarm und Magen«, 21 von der

18 Omelettes aß T.M. übrigens am Karfreitag des Jahres 1919. Und davon gleich zwei! Vgl. Tgb. vom 18.4.1919. 19 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hrsg. v. R. Boehm, Den Haag 1966 ( = Husserliana Bd. X). 2 0 T.M. Tgb. v. 11.10.1918. 21 Tgb., 16. Sept. 1918.

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Furcht eines »Darmanfalls«, 22 vom Mißtrauen gegen seinen Blinddarm, 23 von Blähungen,24 von Hartleibigkeit und von der Beeinträchtigung seines vagus,25 des Gehirnnervs, der die Speiseröhre und die Verdauung beeinflußt (vom vagus als Eingeweidesinn sprach schon Georg Büchner in seiner Probevorlesung über Schädelnerven 1835 in Zürich),26 so daß auf Anraten seines Arztes eine »Speise-Ausnützungsprobe« erforderlich wird, also eine Rezeptionsanalyse des Duodenums. Auffällig ist übrigens die besondere Vorliebe für Geflügel. Die bedingt flugfähigen, nicht in ständigem Bodenkontakt weilenden Fasane, Enten und Gänse werden häufig genannt. Nur werden sie zumeist falsch, d.h. zu fett zubereitet, was naturgemäß Beschwerden bereitet und Thomas Mann oft von »überladenem« Magen sprechen läßt. Überdies fällt die mangelhafte Kaubefähigung und der unausgeprägte Bißwille auf. Oft mußte Thomas Mann zu seinem Zahnarzt Gösch, um sich Kronen machen zu lassen, und er klagt über »Wiederverstärkung der nervösen Schlingbeschwerden verbunden mit Angst und Depression«.27 Psychoanalytisch betrachtet hat er Grund zur Angst. Zahnausfall, Verschlingen und Ausreißen ohne vorherige Zerkleinerung sind Symbolisationen für »Kastration als Bestrafung für die Onanie«. 28

8.3.3. Exkurs zum Erwählten Christian Buddenbrook, Joachim Ziemßen und ihr Autor Thomas Mann haben Schluckbeschwerden. Sie leiden an der Widerständigkeit und Überwertigkeit der Objektwelt. Sie fürchten weniger zu werden. Eine büßerische, selbstexculpative Opferaneignung zeichnet auch Gregorius, den guten Sünder, aus. Er magert bis auf die Knochen ab: »er was so geliche kleine an beinen unde an armen, es möhte got erbarmen« (V. 3433f.), schreibt Hartmann von Aue. Es interessieren hier die systematisch-asketische Nahrungsverweigerung als Bußdienst und das »Wunder« der Überlebenskunst. Aus dem Mittelalter ist ein Fall bekannt, demzufolge ein Mädchen im Jahre 815 bereits drei Jahre ohne Essen gelebt hatte. Als Grund für ihre Unabhängigkeit galt der Empfang der Kommunion. Die Eucharistie funktioniert als Hungerstillegung und

22 24 26 28

Tgb., 16. März 1919. 23 Tgb., 11. Sep. 1919. Tgb., 21. Okt., 27. März 1919. 25 Tgb., 5. Nov. 1919. Tgb., 15. Sep. 1919. 27 Tgb., 26. Juni, 13. Nov. 1919. Freud (1916), Der Traum, S. 166.

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Grund für mystische Bedürfnislosigkeit.29 Gregorius als »christianisierter Ödipus« fällt sowohl bei Hartmann von Aue30 als auch bei Thomas Mann unter den anorektischen Heiligentyp.31 Gregorius übt eine zwanghaft-asketische Praxis des Fastens aus, die ihn (wieder einmal) von allen, auch defäkativen Körperfunktionen ablöst. Wieder steht der passionsgeschichtliche Aspekt der imitatio christi im Vordergrund. Im Buddenbrookskapitel wurde bereits auf die Sexualabwehr durch Nahrungsverweigerung hingewiesen. Erneut wird hier Ernährung zum demonstrativen Austragungsfeld für Buße. Es handelt sich dabei, mit Freud betrachtet, um die Befriedigung eines moralischen Masochismus, bei dem das individuelle Leiden als Milderung der väterlichen Strafandrohung durch vorbeugende Sühne fungiert. Der Büßer erfährt durch ein Selbstopfer eine narzißtisch-anagogische Steigerung mit dem »Zwecke erneuter Teilhabe an der Allmacht«. 32 Der Versorgung und insbesondere dem 17 Jahre dauernden Fastenwunder hat Thomas Mann seine Aufmerksamkeit geschenkt. An diesen Stellen weicht er von Hartmanns Vorlage ab. Die Betrachtung des Körpers als »ein notwendiges Übel« [11] und der Vorrang des »geistlichen Leibes« kommen schon im ersten Kapitel zum Ausdruck. Glaubhaft dagegen wirken die Szenen, in denen festliches Essen geschildert wird. An der Tafel von Grimald und Baduhenna (S. 16) fehlt es an keiner Leckerei, ebensowenig bei der inzestuösen Feier von Gregor und Sybilla (S. 160). Wie bei der Feier der Buddenbrooks wird wiederum ein Fisch zum typologischen Motiv. Diesmal trägt der Wappenrock Gregors das »Symbolum Christi« in »Gestalt eines Fisches«. Leitthema vieler Magersüchtiger und Heiliger im Mittelalter war die »Identifizierung mit dem Leidensweg Christi«.33 Ob Anorektiker oder Heiliger, Künstler oder Wahnsinniger, die Exzeptionalität durch Nahrungsenthaltung und Bußdienst steht im Vordergrund. Daß ihm dann ausgerechnet von der verliebten Fischerin Pfannkuchen angeboten werden, ist eine ironische Reminiszenz an eigene Speisevorlieben Thomas Manns. Als er nämlich am 19. Mai 1919 einen »Darmanfall« einigermaßen glücklich

29 Einhardi Annales (1826), a 7 4 1 - 8 2 9 . In: G . H . P e r t z (Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. 1, Hannover 1826. 30 Kurzke, 285. 31 Vgl. Bell, R.: Holy Anorexia, Chicago 1985. 32 Otto Fenichel, Zwei Fälle von Anorexie. In: O.F., Aufsätze Bd. 2. Hrsg. von Klaus Laermann, Olten/Freiburg 1981, S. 3 3 1 - 3 3 9 . 33 T. Habermas: Heißhunger. Frankfurt/Main 1990, S . 4 5 f .

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überstanden hat, feiert er die wiedererlangte Lebensfreude (am 20. u. 21. Mai) mit dem Verzehr von Pfannkuchen. Als Zeitgenosse psychoanalytischer und positivistischer Geheimniszertrümmerung konnte Mann aber die Frage der Ernährung während der Bußzeit Gregors nicht so lösen, wie Hartmann es getan hatte. Wundersames wird durch die rhetorischen Fragen ausgeschlossen: »Kamen Raben geflogen, ihn zu speisen? Fiel Manna vom Himmel, nur um seinetwillen?« Stattdessen physiologisiert der moderne Erzähler das Problem, löst es auf ernährungstechnische, ökotrophologische Weise. Er mengt dem Wasser, dem »Trank« einfach Stärke, Fenchel und Eisen bei, reichert es also mit Kohlehydraten, Vitaminen und Mineralien an. Wenngleich lebensnotwendiges Eiweiß und Fette fehlen, so klingt es doch glaubhafter nach asketischer Schonkost und bußsakramentaler Diät, als wenn er nur Wasser zu sich nähme. Hinzu kommt die kulturatavistische Erklärung, die Thomas Mann Karl Kerenyis Schrift Urmensch und Mysterium entnommen hat. Am 9. Januar 1950 schreibt Thomas Mann an Theodor Adorno: »Der Büßer ist jetzt auf seinem wilden Stein, und um seine Ernährung zu rationalisieren, nehme ich oder nimmt der Mönch die Idee Epikurs (und des Lukrez) von den uteri der Erde und von der >Milch< zu Hilfe, die sie zur Ernährung der ersten Menschen entwickelt habe.« Der Büßer wird »in den vorzivilisierten Zustand des Menschen, den vordemetrischen, vor Erfindung des Brotund Weinbaues, zurückversetzt und erlangt durch die Aufnahme von Brot und Wein seine frühere Gestalt zurück.« Interessant ist der Vergleich der Versorgung mit der Mutterbrust, die »schwelgerische Säuglinge« beschert und hier wiederkehrt.34 Wenn der Mensch früher »an den Brüsten der Mutter gehangen und kindische Nahrung genossen habe«, muß alles, was danach kommt, eine Nachstellung und Bewältigung der Objekttrennung sein. Das Hauptinteresse des Säuglings ist »auf die Nahrungsaufnahme gerichtet«.35 Eine Formulierung übrigens, die Hofrat Behrens im Zauberberg gerne benutzt [245]. Danach setzt »selige Befriedigung« ein. Diesen Vorgang der Versorgung (auch ohne Hunger) will der Säugling und später der Erwachsene stets wiederholen. Lustfraß ohne Hunger also. Somit ist der Hunger der triebökonomischen Libido analog. Freud hat darauf aufmerksam gemacht, »wie bedeutsam dies erste Objekt für jede spätere Objektfindung ist, welch

34 Vgl. T.M., Zauberberg, S.48. 35 Freud, Allgemeine Neurosenlehre (1917), 309.

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tiefgreifende Wirkungen es in seinen Wandlungen und Ersetzungen noch auf die entlegensten Gebiete unseres Seelenlebens äußert«.36 Von »Nährlymphe« spricht der Erzähler im Erwählten, aber auch schon Hofrat Behrens im Zauberberg. Zu groß ist Thomas Manns Interesse an Fragen moderner Ernährungswissenschaft und Physiologie, um sich nicht auch naturwissenschaftlich der Frage nach dem Ursprung des Lebens zu nähern. Was Hofrat Behrens durch seine tautologische Formel »Reiz ist Reiz« kundgibt, ist reiner Physiologismus. Ob ein Griffel über Glas fährt, ob man bei schöner Musik oder beim Mysterium des Abendmahls eine Gänsehaut bekommt, Reiz ist Reiz, also behavioristisch erklärbar. »Der Inhalt des Reizes kümmert den Körper den Teufel was. Ob Gründlinge oder Abendmahl, die Talgdrüsen richten sich eben auf.« Behrens versachlicht das Problem und verschiebt es vom mittelalterlichen Blutglauben auf den besonderen Saft der Lymphe. Thomas Mann interessierte sich sehr für den naturwissenschaftlichen und geistigen Hintergrund der Lebensphilosophie. Er liest Nietzsche, George, Husserl und auch Rudolf Panwitz' Buch von 1917, DieKrisis der europäischen Kultur.11 Pannwitz war nicht nur Hauslehrer von Georg Simmel, sondern zog sich auch 1948 in die Enklave der Lebensreformer, ins Tessin zurück. Nach der Lektüre von Pannwitz' NietzscheBuch schreibt Thomas Mann am 1. August 1920 in sein Tagebuch: »dann die Physiologie von Herrmann weiter durchgegangen, wobei immer wieder die Ratlosigkeit der Wissenschaft über den eigentlichen Lebensprozeß ins Auge fällt. Man weiß nicht einmal, warum der Magen sich nicht selbst verdaut.« Oben erwähnte Gedanken und Formulierungen des Tagebucheintrags finden sich wörtlich im Zauberberg wieder [392], Ausgehend von der Wahrnehmung, daß »die physiologische Bedeutung offenbar wichtiger Teile des Körpers in Dunkel gehüllt« [392] ist, stellt Castorp die metaphysisch-motivierte Frage: »Was ist der Körper, was ist das Fleisch, was ist der Leib des Menschen?« [370]. Von Behrens erhält er die ernüchternde Antwort: »allergrößtenteils Wasser«. Den philosophischen Aspekt von Castorps Frage beantwortet er kurz mit: »Leben ist Sterben« [371], Dem weltanschaulichen Problem wird sich schrittweise physiologisch genähert. Früh schon bekennt der Erzähler, daß »Beeinträchtigungen des persönlichen Lebens durch die Zeit geradezu 36 Ebd. 37 Tgb. v. 16. Nov. 1919.

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den physischen Organismus des Menschen zu beeinflussen möchten.« Auf die somatischen Infusionen der Zeit, auf die korporellen Anmahnungsverhältnisse der Welt- und Lebenswahrnehmung spielt Thomas Mann an, wenn er die »Selbstverdauung des Magens« für bedenkenswert hält oder über die Funktionslosigkeit des Blinddarms sinniert. Hans Castorp hatte »ocean steamships nichts mehr zu sagen«. Er liest fortan andere Bücher, »solche der Anatomie, Physiologie und Lebenskunde«. Bis zum Zusammentreffen mit Peeperkorn versucht er sich in aristotelisch-wissenschaftlichem Herantreten an das Problem, indem er die diversen Disziplinen befragt. Seine Antwort ist eine pharmakokinetische. Das Pharmakon ist das Essen, die Kinese die Zeit. Beide in ein Verhältnis zueinander zu bringen, bedeutet Leben, denn »Leben beruhte auf Organisation« [394]. Und Organisation dient Ungewißheitsabbau. Im Zuge dieser Versachlichung wird auch das Abendmahlsmysterium physiologisiert. Reiz ist eben Reiz. Daß Thomas Mann Berührung mit der Entwicklung der allgemeinen Gesundheitslehre [633], der Lebensphilosophie und -reform hatte, zeigt nicht nur die Lektüre von Pannwitz, Bertram und Nietzsche, die als geistige Väter dieser Bewegung anzusehen sind. Am 21. Mai 1919 trägt er in sein Tagebuch ein: »Fräulein Stehle, die Köchin, hört theosophische Vorträge, die des Dr. Steiner« und im Zauberberg findet sich die denunziatorische Polemik Naphtas gegen »alles was sich heute von Regeneratoren, Rohköstlern, Freilüftlern und Sonnenbademeistern und so fort prophetisch umhertreibe« [642],

8.3.4. »Prophetische Umhertreiber« und frugivores Heil Kleiner Exkurs zur Lebensreform und zur Geschichte des Vegetarismus I m Sinne der eingangs explizierten Kritik am Begrifflichen kann Thomas Mann »keine systematische Philosophie« haben. 38 Hans Castorp gerät in einen weltanschaulichen Strudel, aus dem ihn erst Peeperkorn befreit, der »das Leben... zur trunkenen Hochzeit mit dem göttlichen Gefühl« erweckt. Hier folgt nun eine kleine Übersicht lebensphilosophisch-konkurrierender Angebote im besonderen Hinblick auf 38 Helmut Koopmann: Philosophischer Roman oder romanhafte Philosophie? Zu T.M.s lebensphilosophischer Orientierung in den 20er Jahren. In: T.M. Aufsätze zum Zauberberg. Hrsg. von Rudolf Wolff, Bonn 1988, S. 61 -88.

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Ernährungsform, um die damalige Konfusion und die Notwendigkeit der Organisation des Lebens zu veranschaulichen. »Ich habe scharf aufgepaßt ... aber klar ist mir die Sache nicht geworden, ich fand im Gegenteil die Konfusion war groß, die herauskam bei ihren Reden«. Diese Worte spricht Hans Castorp als umworbener und irritierter Patient des Lungensanatoriums Berghof. Seine Zeit ist eine Zeit, der buchstäblich wie weltanschaulich die Luft auszugehen droht, in der ideologische Atemnot herrscht. Hin und hergerissen zwischen Settembrinis bürgerlicher Weltrepublik und Naphtas hierarchischem Kosmopolitismus veranschaulichen die Dialoge jene große Verwirrung der Jahre; den Wegfall eines verbindlichen Theorierahmens und einer weltanschaulich stabilen Ideologie in der Weimarer Republik. Der traditionsgesättigte Alleinvertretungsanspruch herkömmlicher Rationalität des historistischen 19. Jahrhunderts verliert an Glaubwürdigkeit und Kraft. Sämtliche heutigen äußeren Machtkämpfe sind Auswirkungen eines inneren Zusammenbruchs. Eingestürzt sind bereits alle Staatssysteme von 1914, ob sie auch teilweise formal noch weiterbestehen. Zusammengebrochen sind aber auch soziale, kirchliche, weltanschauliche Erkenntnisse und Werte. Kein oberster Grundsatz, keine höchste Idee beherrscht unbestritten das Leben der Völker. Gruppe ringt gegen Gruppe, Partei gegen Partei, nationaler Wert gegen internationale Lehrsätze, starrer Imperialismus gegen umsichgreifenden Pazifismus. Die Finanz umschlingt mit goldenen Stricken Staaten und Völker, die Wirtschaft wird nomadisiert, das Leben entwurzelt. 39

Die Bewahrung des deutschen Geistes muß fortan das Kunstwerk, der Roman übernehmen. Erneut wird (125 Jahre nach Novalis beschwörender Einigkeitsschrift Die Christenheit oder Europa) Nationalbewußtsein zur ästhetischen Aufgabe. In der Figur Naphtas wird sie zum politisch-extremistischen, terroristischen Programm. Thomas Mann formuliert die für die Moderne konstitutive Entzweiungserfahrung sowohl ästhetisch als auch ideologisch. Solche Zivilisationskritik formuliert ein geschichtsphilosophisches Credo, das nicht der Kritik an welterschließender Subjektivität schlechthin entspringt, sondern den Wunsch nach (dezisionistischer) Subjektivitätsentlastung zugunsten überdauernder transsubjektiver Mächte (Mythos) erkennen läßt. Die daraus folgende Unverfügbarkeit des Selbst und der Abbau des

3 9 Alfred Rosenberg: Der Mythos des 20. Jh., 171. Aufl., München 1941, S. 1.

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autonomen Subjekts gehören allerdings in den Vorhof totalitärer Ideologien. Das Mißverhältnis zwischen Bewußtseinszustand und Entfaltung der Produktivkräfte (zwischen 1914und 1924) treibt denn auch so radikale wie widersprüchliche Blüten in der Gestalt von Nihilismus und Pazifismus, Expressionismus und Dadaismus, Syndikalismus und Nationalismus. Hegels Diagnose, nach der das »moderne Zeitalter vor allem im Zeichen subjektiver Freiheit steht«, scheint um 1900 am Ende.40 Die »Sinngebung des Sinnlosen« gewinnt die Oberhand. Nietzsches Vernunftkritik sorgt für Erosionen im Gebälk scheinbar zuverlässigen, rationalen Denkens. Sein und Zeit verlieren ihre Komplementarität. Kurz, der schmerzliche Verlust der Totalitätserfahrung, die einst die Religion versprach und die nicht zufällig zerbrochen ist, gilt es nun einzuholen. Das mit historischem Wissen überladene moderne Bewußtsein hat die »plastische Kraft des Lebens« (Nietzsche) verloren und sucht sich nun Äquivalente. Die ungebrochene »metaphysische Bedürftigkeit«, die noch Thomas Buddenbrook kannte, wird von Antimetaphysiken verdrängt. Totalitätsverlust und Heimatlosigkeit drückt denn auch Nietzsches Gedicht Ohne Heimat aus. Es findet sich in Kurt Stavenhagens Buch Heimat als Grundlage menschlicher Existenz aus dem Jahre 1939 als Manifest »kosmischer Verlassenheit des Menschen«, weiterhin in Goebbels Tagebuch unter dem 28. November 1925 und auch in Heideggers Heimatschrift Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? aus dem Jahre 1933. Die übereinstimmenden Zeilen lauten: »Die Krähen schrei'n und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: bald wird es schnei'n, weh dem, der keine Heimat hat.« Mit allen genannten Strömungen teilt die Lebensreformbewegung den festen Willen zur Reform der kranken Gegenwart. Zur Lebensreformbewegung gehören als Filiationen die Bodenreformbewegung, die Wohnreform, dieAntialkoholbewegung, die Diätetik, die Hygiene, insgesamt die »natürliche Lebensweise« und als prominentester Vertreter der Vegetarismus. Mit Naturheilkunde und Nacktkulturbewegung, die allerdings für Vegetarier nicht verbindlich sind, fließen alle diese Bewegungen in eine Ideologie globaler Reformierung der Gegenwart und des Lebens. Ihr oberstes Ziel ist eine naturgemäße Lebensweise. Ihr individuelles Erlösungsziel heißt Befreiung von Krankheit, ihr 40 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/ Main 1988.

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kollektives Erlösungsziel heißt (eschatologische) Befreiung vom Sündenfall. Die Rousseausche Forderung »Zurück zur Natur« macht Eduard Baltzer bereits 1873 in seiner Schrift Ideen zur sozialen Reform zum Paradigma der Bewegung, bezieht dieses allerdings auf seine Zeit mit deutlich heilsgeschichtlicher Erwartung. Seine Auffassung von der Naturgesetzlichkeit der Geschichte spiegelt das (irrationale) Absehen von historischen Gründen: »Die Entwicklung der Menschheit kommt aus unbekannten Anfängen und geht unbekannten Zielen der Vervollkommnung unseres Geschlechts entgegen, aber nach Gesetzen, die in der Natur des Menschen und der Dinge selbst liegen.« Er fährt fort: Die bisherige Sozialgeschichte der Menschheit zeigt ein Bestreben sich der unbewußten Einheit mit der Natur zu entziehen, um zu sich selbst zu kommen und dann die bewußte Einheit der Natur zu gewinnen um ihre höchste Entwicklung zu finden: die vorchristliche Zeit, das Christentum und die Zukunft. Unser Zeitalter bildet den Übergang aus der zweiten (dualistischen) Periode in die dritte (einheitliche) und das Begreifen dieses Übergangs ist die Bedingung seines sozialen Vollzugs. 41

Theosophische Anschauung und vegetarische Dogmatik bietet Gustav Schlickeysen, wenn er 1921 in der 2. Auflage von Blut oder Frucht im Kapitel >Obst und Brot< schreibt: »Wie ein unheilbringendes Wetter zog ein grausamer Irrtum durch die Menschheit: die Verleugnung seiner eigenen Natur. An die Stelle göttlichen Gesetzes stellte er seinen schwachen und kindischen Willen. Schwer hatte er im Laufe der Jahrhunderte zu büßen.« 42 Das Erlösungsrezept folgt auf dem Fuße: »Es erstrahlt (...) der armen gequälten Menschheit ein sonniger Strahl der Erlösung, in dem Lichte frugivorer Erkenntnis.« Der Kern des Sündenfalls liegt hiernach nicht in der sexuellen Natur der Gebotsübertretung, sondern in der Mißachtung der diätetischen Regel. Der Austritt aus dem paradiesischen Naturzustand als verhängnisvoller Eintritt in die Geschichte ist das Ergebnis der »Abweichung von der frugivoren Diät«. 43 Ernst Topitsch hat solche Lehren, die die Menschheitsentwicklung als Drama von Fall und Erlösung theologisieren, als gnostisch41 Eduard Baltzer: Ideen zur sozialen Reform, 1 lOf. Vom Einfluß der Lebensreform spricht auch Viktor Zmegac in seiner Literaturgeschichte; vgl. ders.: Gesch. d. dt. Lit., Bd. III, 342. 42 Gustav Schlickeysen: Blut oder Frucht, 249f. 43 Th. Hahn: Das Paradies der Gesundheit.

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eschatologische Erlösungslehren entmythisiert. Doch zurück zu den anfänglichen Forderungen nach naturgemäßer Lebensweise. Das zyklische, überzeitliche Weltbild mit dem Ziel der harmonischen Übereinstimmung mit der Natur und mit der Verteilungsfrage im Hinblick auf Boden, Raum und Ernährung könnte in politischer Hinsicht eine sozialistische Bewegung vermuten lassen. Wenn auch die Lebensreform bzw. der Vegetarismus dem Sozialismus näher standen, so lehnten beide dennoch tiefgreifende Gesellschaftsumwandlungen ab und setzten stattdessen auf einen Sozialismus aus Persönlichkeitswandlung, der sich klammheimlich und nicht revolutionär, dem heteronomen Geschichtsplan unterworfen, von innen heraus durchsetzt. Über Rousseau noch weit hinaus geht Robert Springer (1816-1885) in seiner Dogmengeschichte des Vegetarismus mit dem Titel Enkarpa. Kulturgeschichte im Lichte der pythagoreischen Lehre von 1884. Wie der Titel schon andeutet, geht Springer bis auf die vorsokratischunaufgeklärte Antike zurück und beerbt Pythagoras, der seinerseits durch den altägyptischen Priester Zoroaster beeinflußt ist und an eine Wiedergeburt der Menschheit durch Rückkehr zur naturgemäßen Diät glaubt. Entscheidender Anlaß für die »medizinisch-diätetischen Bemühungen« der Pythagoreer ist die Beeinträchtigung, die Verschmutzung der Seele durch die Unreinheit der Körper.44 Die Materialität des Körpers wird als Schranke des freien Geistes erfahren. Aus ihm erwächst das pythagoreische »Reinigungslied« (katharmoi) des Empedokles zum Beispiel und dessen Selbststilisierung zum Heilsbringer. Mit Pythagoras und Empedokles verbinden die Lebensreformer das Bewußtsein und die Autorität zur Verkündigung geistigen und physischen Heils. Präexistenz der Seele, Wiedereinkörperung und buddhistische Seelenwanderungslehre amalgamieren zu einer eklektizistischen Weltanschauung, die sich zuerst 1847 in der »Vegetarian Society« in Manchester unter dem Priester William Cowherd institutionalisiert, der 1875 in New York die Theosophische Gesellschaft gründet. Gemeinsam fordern sie die Enthaltung von Fleisch und Alkohol und verpflichten sich zum Tierschutz. Wichtig für die Entwicklung des Vegetarismus im »pythagoreischen Lichte« ist die Verknüpfung von Seelenschicksal und Lebensführung, also Lebensorganisation durch Essen. Während das Tötungsverbot und das Verbot des Fleischgenusses

44 Wolfgang Rod: Geschichte der Philosophie. Philosophie der Antike. München 1976, Bd.I, S.53.

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bis hin zum Verbot von Bekanntschaften mit Jägern und Metzgern ausgeweitet und somit dem kathartischen Ziel der pythagoreischen Ethik untergeordnet wird, ist das prominente Verbot des Bohnenessens kaum noch verstehbar. Diogenes Laertius bietet eine Deutung von Aristoteles an, 45 die den Fabismus, eine gesundheitliche Störung nach Bohnenverzehr, die besonders im Mittelmeerraum auftrat, als Grund anführt. Die Präexistenz der Seele hat bei den Pythagoreern, anders als bei Plato, nur ethische, nicht erkenntnistheoretische Bedeutung. Also, wer keine Bohnen ißt, wird zwar ein guter Mensch, aber noch lange kein Weiser. Heilsfähigkeit wird hier bereits lange vor Christus an Ernährungsweisen und Speiseauswahl geknüpft. Die Moralisierung des Essens ist die Präventivmedizin der Seele. Sympathisch mußte den Lebensreformern der Pythagoreismus auch deshalb sein, weil er noch nicht den Unterschied von Allgemeinem und Besonderem (den platonischen chorismos), die ontologische Differenz, kannte. Der Abfall vom Sein wird angesichts nicht einsehbarer Geschichte (Telosverlust) augenfällig. Antik-kosmogonische, modern-theosophische und uneinheitlich ernährungstechnische Auffassungen fließen in die Lebensreformbewegung ein. Gleichzeitig ist sie eine Bewegung der Säkularisierung, wenn darunter verstanden wird, daß »tradierte Normen unter Zugrundelegung eines weltlichen, statt vormals religiösen Motivs innerhalb eines veränderten Bezugssystems erhalten bleiben«.46 Aus dem englischen Puritanismus kommt die Wendung gegen das »unclean life«, das im deutschen Protestantismus durch geordnete Lebensführung, Askese, Diät und kalte Bäder überwunden wird. Entscheidend ist, bei zunehmender Abkoppelung vom Konfessionellen, der Übergang vom transzendenten Antrieb (Gottnähe durch Reinigung der Seele) zur weltimmanenten Notwendigkeit. Nicht ausschließlich der Glaube, sondern »die Pflanzenkost« hatte Gustav Struwe 1869 in Mannheim »die Kraft gegeben, die stärksten Anstrengungen, die anhaltendste Arbeit im Studierzimmer, auf der Rednertribüne und im Felde zu bestehen«.47 Der amerikanische Präsident Benjamin Franklin bekennt sich ebenfalls aus theologischen und medizinisch-anthropologischen Gründen zum Vegetariertum. Zu den theologischen Gründen zählt, daß 45 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Männer, Buch I - X , VIII, 34, 2. Aufl., Hamburg 1967, S. 125. 46 W. Kamiah: Utopie, Eschatologie, Geschichtstheologie, Mannheim 1969, S. 69. 47 Gustav Struwe: Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung.

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Diät die Seele vorteilhaft beeinflußt (der Grundgedanke des Fastens). Zu den medizinisch-anthropologischen Gründen zählt, daß die menschliche Physis auf Pflanzenkost eingestellt sei. Zu den ethischen Gründen schließlich zählt, daß Tiermord zu Menschenmord führe. Rousseau hielt die Carnivoren für wilder und grausamer als die Frugivoren. Zur größeren Verbreitung dieser Auffassung hatte auch Hufelands Makrobiotik beigetragen, deren Intention dem Untertitel zu entnehmen ist: »die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern«. Kein geringerer als Immanuel Kant hatte 1797 in einem Dankschreiben an Hufeland seine Auffassung einer Diätetik ausgeführt. Das Schreiben hat den Titel: »Von der Macht des Gemüts des Menschen über seine krankhaften Gefühle durch den bloßen Vorsatz Meister zu sein«. Im Hinblick auf diese Säkularisierung ist zu erwähnen, daß es häufig dissidente oder abtrünnige Theologen waren, die sich auf der Grundlage einer rationalistisch-liberalen, antiinstitutionellen Haltung von der Kirche abwandten und alternative Vereinigungen gründeten. So Eduard Baltzer (1814-1881), der in Halle kein Pfarrer werden durfte, stattdessen eine freie Gemeinde gründete, die sich wechselweise »protestantische Freunde« oder »Lichtfreunde« nannte. Ein weiterer Reformer war FIDUS, der Lichtmystiker. Dieser suchte den berühmten dritten Weg. FIDUS malte ein Bild, eine Weggabelung mit einem Wegweiser. Links hinunter geht es zum Kommunismus, in eine nebelverhangende Bergregion, rechts hinab zum Kapitalismus, in den Abgrund, geradeaus aber in das hoffnungsfrohe Land der Bodenreform. Der Anarchist und Schriftsteller Erich Mühsam floh 1904 vor der preußischen Polizei nach Ascona. Er war es, der das Wort von der »ethisch-sozial-vegetarisch-kommunistischen Siedlung« schuf. »Zwischen Lichtmessen auf einer Parsifalwiese und den >Zwölf Geboten der Heidelbeere< war hier alles möglich, zwischen dem EgoKult des Elisarions des nordischen Pädophilen Elisar von Kupffer und dem Salatorium (Rohkostsanatorium) des Belgiers Henri van Oedenkoven war eine Spannweite angegeben, in der fast alles vorkommen durfte. Doch eines gewiß nicht: Spießermief. Und die europäische Wirklichkeit auch nicht«.48 In sogenannten Lufthütten, einem Speisesaal neben Obstbepflanzungen und bei Gartenarbeit im Adamskostüm entsteht Kurbetrieb und es entfaltet sich das Ideal einer Gesellschaft des Tauschhandels. 48 Merian: Tessin, Hamburg, o.J. 107

Die Lichtfreunde hatten schon früh erkannt, daß Essen und Glauben enger zusammenhängen, als es die Hostie ahnen läßt. Gänzlich diesseitig sollte das aber erst Friedrich Nietzsche in ECCE HOMO formulieren, wo er »das Heil der Menschheit weit eher an Fragen der Ernährung gebunden sieht, als an irgendwelche Theologen-Kuriositäten«. 49 Die physiologisch-anatomische Prämisse der Vegetarier lautet: Gebiß und Verdauung prädestinieren den Menschen zum Frugivoren. Dies stand natürlich quer zur Schulmedizin, aber es wurde ausführlich diskutiert (etwa in der Zeitschrift »Die vegetarische Warte« von 1900). Dort erklärte die vegetarische Ätiologie die chronischen Krankheiten damit, d a ß beim Essen von Fleisch tierische Giftstoffe wie Kreatin und Kreatinin aufgenommen würden, ferner daß das Fleisch im Magen der Fäulnis unterworfen sei und Gifte freisetze. Dies war für die Schulmedizin aus der Luft gegriffen, da auch in Pflanzen Kreatin enthalten ist. Bis 1914 gab es bei der Landbevölkerung ohnehin nur ein- oder zweimal pro Woche Fleischgerichte, ansonsten naturgemäß fleischlose Kost. Erst mit dem Aufkommen der Eiweißtheorie durch die entstehende Ernährungswissenschaft um die Jahrhundertwende werden Obst und Gemüse zugunsten von Fleisch, Eiern und Milch vernachlässigt. Diese Aufwertung von eiweißhaltiger Nahrung hat in der Mitte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert eine inflationäre Entwicklung des Fleischpreises, die sogenannte »Fleischnot«, zur Folge. Zu den physiologisch-diätetischen Argumenten der Reformer kam die kulturkritische Ideologie einer physiokratischen Agrarromantik, die durch Landbau und Barfußgehen den durch Depravation verlorengegangen »elan vital« zurückzugewinnen glaubte. So wird das erste Reformhaus (»Reformhaus-Jungbrunnen«) 1900 in Barmen gegründet. Programm und Angebot sind mit Einschränkungen bis heute gültig: 1. 2. 3. 4.

Kleidungsangebot (schweißaufsaugende Wäsche) Küchengeräte Literatur zum Vegetarismus Körperpflegemittel

5. Arzneimittel 6. Nahrungsmittel (jedoch kein Fisch und Fleisch)

Z u r Illustration sei erwähnt, daß es bereits 1913 in Deutschland 184 vegetarische Restaurants gibt, im Jahre 1974 sind es nur noch 44. Heute (90er Jahre) sieht es angesichts von Wohlstandskritik und 4 9 Friedrich Nietzsche: Werke in 3 Bde., hrsg. v. K. Schlechte, II, S. 1082.

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Ernährungsbewußtsein wieder besser aus. Hinzu kommt der Antimilitarismus der Vegetarier, die in kriegerischen Auseinandersetzungen eine Verletzung der naturgegebenen Ordnung sahen. Zu einer gewissen eschatologisch-exklusiven Militanz des Vegetarismus hat es dann Gustav Schlickeysen gebracht, indem er die Formel prägt: »Der Vegetarismus ist die Erlösung, der Vegetarismus ist das Heil.«50 Bei ihm wird die Wendung zum Diesseits deutlich. Der Vegetarismus als weltimmanenter Endzustand ist nicht von einer welttranszendenten Verfügungsmacht abhängig. Nach Baltzer ist der Vegetarismus eine »Religion der Tat«, in der das Verbot, Tiere zu töten, seinen Grund in menschlicher Tierliebe hat. Die Moralisierung des Essens aus Mitgefühl (compassio) wird »ethischer Vegetarismus« genannt. In dieser Richtung wird der Tiermord als Vorform von Menschenmord angesehen. Aus ihr gehen Petitionen zur Aufhebung von Vivisektion hervor, die aber keinen Erfolg haben. Da Baltzer und Springer zum weiteren Bayreuther Kreis gehörten,51 der der Degeneration der modernen Zivilisation den Kampf angesagt hatte, konnten sie auch Richard Wagner als Sympathisanten gewinnen, in der Absicht der »Rückkehr zu lebendigen Urkräften reinen Menschentums«. Allerdings war Wagners vorübergehender Vegetarismus mehr Folge der selbsteingestandenen Verdauungsbeschwerden: »Mein Unterleib ist und bleibt doch stets rebellisch«, bekannt er. Seine Fleischabstinenz erfolgte also aus diätetischen Gründen, und weniger aus weltanschaulicher Überzeugung. In Cosimas Brief vom 4. November 1866 an König Ludwig heißt es unter anderem: »nicht allzu üppig und kunstvoll zubereitete Mahlzeit«, abends »sehr leichtes Abendbrot mit Thee«. Die »vegetarische Warte« erhebt jedoch den Vorwurf, daß dies nur gelegentliche Versuche Wagners seien und er stattdessen lukullische Gastmähler und Alkohol liebe. Die gesellschaftliche Kritik der Vegetarier orientierte sich (ähnlich wie Wagner) an Rousseaus Menschenbild, wonach »der Mensch von Natur gut ist, es aber nur die Einrichtungen sind, die ihn schlecht machen«.52 Letztlich gab es noch einen biblischen Vegetarismus, der die Fleischabstinenz mit der Verurteilung des Blutopfers in der Heiligen Schrift begründete.

50 G.Schlickeysen, Blut oder Frucht. 2. Aufl., Freiburg/Br. 1921. 51 Vgl. W. Schuler: Der Bayreuther Kreis, 1971. 52 E.Cassirer: Das Problem J.J. Rousseaus, S. 186.

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Doch zurück zu Lebensreform und Lebensphilosophie.53 Die Lebensphilosophie ist eine uneinheitliche, unterschiedlichen Absichten folgende Philosophie fürs praktische Leben, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts entsteht. Als »eklektische Aufklärungsphilosophie« hat sie ethische und pragmatische Intentionen. 54 Friedrich Schlegel hält 1827 die Vorlesung über die Philosophie des Lebens, die die »Einheit der Gesinnung« stark macht und der Einheit kategorialer Begriffe vorzieht.55 Seit Hamanns Sokratischen Denkwürdigkeiten von 1759 ist ihr die antirationalistische Haltung gemein, die Erfahrung und Erleben den nüchternen Beweisen vorzieht. Die Kongruenz von Leben und Philosophie, von Denken und Dichten wird in Novalis' Fragment von 1802 deutlich: »Wer weiß was philosophieren ist, weiß auch was Leben ist, und umgekehrt.« Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts macht sie sich auf den Weg, um die rationalistische Subjekt-Objekt-Spaltung, den Riß, der durch Subjekt und Objekt geht, zu überwinden.56 Die Lebensphilosophie greift unterschiedliche Strömungen auf und wird von Schopenhauer und Nietzsche, von Goethe und Novalis, William James und Georg Simmel beeinflußt. Neben Kierkegaard und Nietzsche zählen Bergson und Dilthey zu den nachhaltig einflußreichen Denkern der Lebensphilosophie. Die antirationalistische Feier des Lebens trägt schwer an der christlichen Erblast. Ihr zufolge ist das Nicht-Leben Folge von Schuld (Genesis 2,17); bei den Griechen jedoch war die Nichtigkeit des Lebens wie selbstverständlich in der Struktur des Seins verwurzelt.

Zurück zu Thomas Manns Roman Der Zauberberg. Von Peeperkorns selbst- und schuldlosem Umgang mit dem Sein ist Hans Castorp fasziniert. Peeperkorns verschwenderischer Umgang mit dem Leben bleibt nicht ohne Einfluß auf den braven Hans. Castorp beginnt einen anderen, begrifflosen Begriff vom Leben zu entfalten und lernt durch

53 Georg Simmel spricht von »vitaler Logik«. In: ders., Fragmente und Aufsätze (1923), S. 158. 54 G. Pflug, In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hrsg. v. J. Ritter, Bd. 5, Sp. 136, Basel 1980. 5 5 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Hrsg. v. E. Behler, X, 12, München, Paderborn, Wien 1971. 56 Vgl. Lukäcs, Verdinglichung.

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ihn und Claudia Chauchat die Natur der Sinne kennen.57 Leben muß offenbar, wenn es zu sich kommen will, sich separieren: »Um das Leben zu erkennen, muß man sich vom Leben absondern«.58 Erkenntnis ist nach Feuerbach der »Verlust der Unschuld des Lebens«.59 Schopenhauer zufolge stellt sich das Leben nur als »fortgesetzter Betrug« heraus.60 Es ist »stetes Leiden, oder wenigstens (...) ein Geschäfte..)welches die Kosten nicht deckt.« Schopenhauers Gewinn- und Verlustrechnung führt letztlich zu roten Zahlen. Abhilfe schafft erst die »Verneinung des Willens zum Leben«.61 Im sokratischen gnothi seauton vollzieht sich nach Nietzsche nicht nur die Konzeption des theoretischen Menschen, sondern auch die »griechische Heiterkeit«,62 die Kunst und Leben persönlich nebeneinander stellte. Nietzsches Kritik am historistischen Gott der Geschichte, und am positivistischen »Gott der Maschinen und Schmelztiegel«,63 führt ihn dazu, »Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben«.64 Peeperkorn illustriert jenen Lebensrigorismus, den Nietzsche in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben so formulierte: »Gewiß ist ein derartig beherrschtes Leben nicht viel wert, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt, als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben«.65 Für Nietzsche ist die angestrebte Erneuerung der »Lebensfülle« durch dionysische Kunst ein ökonomisches Problem von viel und wenig. Erst in der Fröhlichen Wissenschaft erkennt er, daß es keine unbegrenzte Lebensanhäufung gibt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er auf das falsche Pferd gesetzt, auf die Romantik; genauer, auf das romantische Gesamtkunstwerk Wagners. Nietzsche hatte vernachlässigt, daß das Leben »immer Leiden und Leidende« voraussetzt.66 Dies macht aber die unvermeidbare Basisstruktur von Leben aus: Schwund, Mangel, Entzug. Ökonomisch wird dieser Entzug durch 57 Ludwig Feuerbach: Sämtliche Werke, Hrsg. von W. Bolin: S. 10/139; B/J 444; S. 10, 82. 58 Feuerbach, B/J 1, 271 f.; 1, 285. 59 Ebd. 60 Arthur Schopenhauer: Sämtl. Werke, hrsg. v. J.Fauenstädt/A. Hübscher, 1937-41, 3, 665.656.657.241. 61 Schopenhauer 2, 447f.453; 3, 695f. 62 Nietzsche I, 98f. 63 Ebd. 64 Nietzsche I, 218. 65 Nietzsche II, 254. 66 Nietzsche II, 244.

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diverse Techniken des Anfüllens kompensiert, die man mit Nietzsche und Epikur, dessen »Willen gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden ist«,67 auch eine pharmakokinetische Bioprophylaxe nennen könnte. Eine Altersvorsorge durch geistige Medikation, zu der Furchtlosigkeit vor den Göttern, Ataraxie und Vermeidung von Schmerz zählen. Wo soviel wie auf dem Zauberberg gestorben wird, ist das »Vertrauen zum Leben« dahin.68 Techniken des Ausgleichs müssen her. Nietzsche führt gegen die Biologisten ins Feld, daß nicht der Selbsterhaltungstrieb als kardinaler Trieb eines organischen Wesens anzusehen ist, sondern »vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben ist Wille zur Macht«.69 Leben ist nur möglich auf Kosten anderen Lebens, es ist »Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden«.70 So willkommen diese Lebensunbedingtheit samt ihren Unterwerfungsgesten für Peeperkorn auch zu sein scheint, sie mißachtet in der ausschließlichen Aufmerksamkeit für den indifferenten Lebensstrom die Einzelereignisse und bedeutungsstiftenden, lebenüberspannenden heiligen Handlungen und Fetischisierungen des Alltagslebens (vom »crayon« über »Maria Mancini« oder die Mahlzeitenordnung). Wenn nach Dilthey das Leben das »Prius des Erkennens« ist und außerhalb dessen keine transzendenten Gesichtspunkte anerkannt werden,71 dann muß »das Leben aus ihm selber« und seinen Vollzügen verstanden werden.72 Diltheys Formel vom geisteswissenschaftlichen Verstehen, das dem naturwissenschaftlichen Erklären gegenübersteht, will das Rätsel des Lebens lösen. Weder philosophischer Vitalismus (eines Spencer) noch politische Macht oder diktatorische Erhebung können erklären, was das Leben zusammenhält. Es hat den Drang, sich grenzüberschreitend zu verhalten. Dieser Ökonomie des Überschusses ist es zu verdanken, daß Leben gewillt ist, stets »mehr Leben hervorzubringen, ein Mehr leben zu sein«.73 Sinnfälliger symbolischer Ausdruck des Mehr, des Überschusses und der Erlösung zu ewigem Leben ist das christliche Abendmahl. Das Abendmahl manifestiert die Unumgänglichkeit symbolischer Setzungen von der Diesseits-JenseitsDifferenz her und zeigt symbollogisch jenes Mehr an Leben signifikativ 67 68 69 70 71 72 73

Nietzsche, I, 10. Nietzsche, II, 13. Nietzsche, II, 578. Nietzsche, II, 729. Wilhelm Dilthey, Schriften 7, 334; 8, 264; 5, 83. Dilthey, 5, 4; 5, 398; 7, 93. G. Simmel: Brücke und Tür, Stuttgart 1957, 87.

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an. In der idealistischen Entgrenzung des Zeichens verdichtet sich die paradoxale Realisierung des Unendlichen bzw. Jenseitigen. Das Symbol der Hostie löst sich von jeder sinnlichen Unmittelbarkeit, einer »Kollation Fleisch« [780] etwa, ab. Von Signifikanten wird man nicht satt. Erst kommt das Zeichen, dann der Sinn. Sinn und Hunger schließen sich also aus. Der Hunger nach Sinn macht erpreßbar. Castorp muß den realen Schwund der Persönlichkeit Peeperkorns symbolisch aufhalten. Daher ist für ihn die Leiche mehr »symbolisch als real« [867f.]. Der Lebensbegriff wird für die Literatur um und nach 1900 wichtig,74 weil mit ihm die christliche Vertröstung und »Zentrierung auf Erlösung« subvertierbar wird.75 Glücks versäumnisse, Erlebnisrückstände, Sinndefizite sollen nicht an Symbolordnungen delegiert und damit zeichentechnisch immunisiert werden. Bei aller Anstrengung aber geht das nicht. Der Versuch der Lebensmaximierung kollabiert. Einmal mehr frißt Saturn seine Kinder. Tod, Endlichkeit, Sterben und Aufhören brechen in alle Verrichtungen und Ereignisse als unvermeidbare Bedeutungsgrenze und Sinnsetzung ein, sie verleihen der »symbolischen Ordnung ihre Autorität«. 76 Ansonsten sind »Lebens- und Todesbejahung« identisch.77 Dies ist die romantische Erblast des neuromantischen Lebensbegriffs. Der unumgängliche Überhang an geschichtlicher Herkunft ist nicht mehr verstehbar und verlangt nach symbolischen Entlastungen, die den historischen und semantischen Mehrwert auffangen und konservieren. Die antihistorische und geistfeindliche Feier des Lebens war Thomas Mann insbesondere durch seine Lektüre von Rudolf Pannwitz' Die Krisis der europäischen Kultur von 1917 bekannt. Dieser begrüßt noch jede geschichtliche Katastrophe als »sieg und triumph des lebens im ganzen, seiner macht, seines reichtums«.78 In Nietzsches Sinn betreibt er eine Reantikisierung des Lebensbegriffs. Dieser sieht in den Griechen die »zum Leben verführendste Art der bisherigen Menschen«.79 Erst Adornos Nachrichten aus dem beschädigten Leben machen die endgültige Verspätung deutlich. Die Entwicklung des Privaten in der

74 Vgl. E. Hardt, An den Toren des Lebens (1904); A. Schnitzler, Der Ruf des Lebens (1906); H. Sudermann, Es lebe das Leben (1902). 75 Hörisch, Gott, Geld und Glück, S.231. 76 Ebd., 233. 77 R.M.Rilke, Brief an Hulewicz vom 13. Nov. 1925. 78 Rudolf Pannwitz, Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg 1917, S. 3. 79 Nietzsche, I, 9.

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verwalteten Welt macht den Lebensbegriff zur »Ideologie seiner eigenen Absenz«. Die Falschheit bemißt sich am Grad des Rück- und Auszugs aus der entzauberten Welt. Die diätet(h)ische Begrenzung des Lebens und des Naturschönen, der »konsequent erst von Schiller und Hegel in die Ästhetik transplantierten Begriffe von Freiheit und Menschenwürde, demzufolge nichts in der Welt zu achten sei, als was das autonome Subjekt sich selbst verdankt«,80 haben das Leben individualisiert und die Wahrheit privatisiert. Was Peeperkorn und Castorp deshalb im Massenwahn suchen, ist die verlorene unio mystica mit dem Leben, das »alten Bundes Treue«. Seltsam indifferent und unaufgeregt begeht man daher auf dem Zauberberg das Weihnachtsfest. Das Fest der Menschwerdung und Geburt des Erlösers läßt jene, die doch der Erlösung am bedürftigsten scheinen, merkwürdig unberührt. Auch das Menü wird nicht weiter spezifiziert. Wie ein »gewöhnlicher Sonntag« zieht Weihnachten an den Versammelten vorbei. Kein Wunder. Kaum etwas ereignet sich, das Anlaß böte, den Differenzcharakter des Festes zu erkennen. Kein Kirchgang, kein Gebet, keine Lesung, keine Schlittenfahrt, kein Weihnachtsmann, keine ordentliche Adventszeit. Im Gegenteil, wieder stirbt jemand [405]. Ausgerechnet bei Tische, »noch dazu beim Braten und dazu wieder in Gegenwart des Dr. Blumenkohl, den es täglich ereilen könnte«, hatte Hans Castorp den »Todesfall zur Sprache zu bringen versucht«; aber eben nur versucht. Vehement weigern sich die übrigen Eß- und Sprachteilnehmer, darüber zu reden. Reklamiert doch gerade Castorp, dessen Namensanagramm leicht einen »Pastor« ergibt,81 die Kehrseite exklusiv beschworener Präsenz, nämlich den Tod im Augenblick höchster Lebensversicherung, beim Essen. Seine subversiven, sprachlichen Mahlzeiteninterventionen stoßen auf »verstockte Ablehnung«. Die ohnehin begrenzte Verfügungsgewalt der Patienten über ihr eigenes Leben erschweren sie noch durch das Verschweigen ihrer größten Bedrohung. Wer über den Tod nicht spricht, für den ist er auch nicht existent. Was ihren Aufenthalt doch erst sinnvoll machte, wird präsupponierend verschwiegen. Mit der Bannung der Rede glauben die Berghofbewohner auch den Tod gebannt zu haben,82 weil sich für 80 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main, 4. Aufl. 1984, S.98. 81 Vgl. dazu D. Rümmele: Mikrokosmos im Wort. Namen bei T.M., Diss. 1969. 82 Vgl. Adorno, Noten zur Literatur, Frankfurt/Main 1981, S.343. Ernennt das »List und Aberglaube«.

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sie einzig in der Rede Präsenz ausdrückt und sie damit jenem okzidentalen Logozentrismus verfallen sind, dem noch Wittgenstein in seiner präskriptiven Ohnmachtsgeste zustimmt, wenn er mit dem berühmten Satz 7 des Tractatus schließt. Die Weihnachtsgäste bemühen sich also, essend und schweigend der »Suprematie des Signifikanten im Subjekt«, 83 dessen absentisches Ideal der Tod ist, zu entgehen. Der Suppenkasper des Pädagogen Η ofmann verweigerte nicht nur seine Suppe, er schrie es auch laut hinaus: »Meine Suppe eß' ich nicht.« Je lauter er wurde und je hartnäckiger er blieb, desto weniger wurde er. Er magert bis zum Tod ab. Peeperkorn jedoch schlägt wie »Bromios« - einer der Beinamen des Dionysos - Krach. Er lärmt und gibt die verständnisvolle Rede auf. Pauken und Trompeten, die Dionysos ankünden und begleiten, oder auch laute Wasserfälle lassen vernehmbares Sprechen nicht mehr zu. Dionysos Peeperkorn unterscheidet nicht zwischen propositionalem Gehalt und kommunikativem Aspekt. Seine infantilen Sprechakte haben nur rein ostentativen Wert. Seine Rede läßt sich nur noch in rhetische und phonetische Akte aufteilen. Es ist eine Sprache der Tat, die nicht der Doublierung durch Rede bedarf. Was Thomas Mann an Dionysos und an den häretischen Abendmahlfeiern Peeperkorns schätzt, ist das todeseingedenkende Theater, das sie inaugurieren. Sinnlos schreiend und lärmend verhält sich auch der Lehrer Popow, der mit einem epileptischen Anfall eine Art mystischer Massenhysterie auslöst [417], Die sieben hysterischen Frauen stehen unter dem theatralischen Bann eines »Lehrers«, der an einem Fischgericht Schaden nimmt und kollektive »Erstickungsanfälle« provoziert.84 Diese Szene ließe sich lesen als Illustration zu Lacans Diktum, wonach sich, was sich symbolisch nicht repräsentieren läßt, ans Reale drängt. Die Hyperrealität des christlichen Fischs,85 der länger Ikonogramm nicht heißen kann, bereitet erneut Kau- und Schluckbeschwerden [417],86 Der Leib sperrt sich gegen seinen Verzehr. Epilepsie ist hier nicht Heimsuchung des Teufels, negatives satanisches Abendmahl, sondern »Fallsucht«. Nach der Schwere der eucharistischen Brocken 83 Jacques Lacan: Das Seminar über E.A. Poes »Der entwendete Brief«. In: J.L., Schriften I, Weinheim 1986, S.7-41. 84 Der Fisch ist eines der häufigsten Speisemotive in Th. Manns Romanen; Vgl. Die Buddenbrooks, Der Zauberberg, Der Erwählte. 85 Zur Fischsymbolik vgl. die einschlägigen Artikel. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 2. Bd., 3. Aufl., Tübingen 1958, S.968. 86 Vgl. auch den Akt der Selbstkastration durch Fraß; dazu der Fisch als männliches Sexualsymbol in Freuds Traumdeutung.

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fallen die Befallenen mit »zugekrampften Augen, offenen Mündern und verdrehten Oberkörpern« [417] zu Boden. Überhaupt sind Schluckbeschwerden im Zauberberg ein vielfach verwendetes Motiv, das Lebensschwäche, Siechtum und Sperrigkeit des Objektiven veranschaulicht. Die kriminelle Aneignung des Fremden, die Okkupierung des Äußeren, die Internalisierung des Dinglichen versagt schon im Mund. Die Gäste des Speisesaals avancieren zum »weiblichen Lazarus« [435]; sie unterliegen der Übermacht und Widerständigkeit zu großer Bissen. Wer das Sein mit zu großen Gabeln schaufelt, verschluckt sich nicht nur, er verletzt sich auch. Johannes füttert den weiblichen Lazarus fortan mit »Mittagsbrei«. Eine Ahnung von Castorps Selbststilisierung ins Christologische findet man im Kapitel »Walpurgisnacht«. Zunächst ergehen die Faschingssaturnalien mit dionysischem Tanz und Theater, die während der »Abendmahlzeit an den sieben Tischen (...) den öffentlichen Geist in geschlossenem Kreise« [451] als private communio sammeln, um bald von der szenisch-theatralischen Nachstellung des letzten Abendmahls abgelöst zu werden. Hans Castorp, »das Sorgenkind des Lebens«, entschuldigt sich beim Mentor Settembrini und leert sein Glas auf die »Ausmerzung der menschlichen Leiden«. Und zur Vergebung der Sünden, möchte man ergänzen. So erhält die Szene den Charakter eines eucharistischen Erinnerungsmahles, auf das Settembrini bedeutsam mit den Worten reagiert, »das klingt wie Abschied«. Am Ostersonntag zieht dann letztlich der Humanist Settembrini [497] aus, um an der Enzyklopädisierung des Opfers, der »Soziologie der Leiden«, weiterzuarbeiten. Der Speisesaal, zentraler Schauplatz für Begegnungen, Gespräche und konsumatorische Verausgabungen weist zunehmend »Lücken auf« [499]. Die Veränderung der Zeit fällt besonders am Ort der Reproduktion auf. Wer fehlt, ist tot - so etwa Dr. Blumenkohl. Unmittelbar auf diese Szene wird die Figur des Holländers Peeperkorn eingeführt. An Settembrinis Tisch hatte unterdessen, in »Gesellschaft holländischer Gäste«, Karlowitsch Ferge Platz genommen, der an den ohnehin üppigen Mahlzeiten nicht genug hat und Nachschlag ordert. Die Anwesenheit des Todes beim Essen manifestiert sich in der Episode vom phallischen Morchel-Pilz, dessen »Gestalt an die Liebe, dessen Geruch jedoch an den Tod erinnerte« [506]. Überhaupt fehlen auf dem Berghof erotische Speisesymbole wie Spargel und Auster etc., wie sie für die Mahlzeit im Roman des 19. Jahrhunderts typisch sind.87

87 Vgl. Hartmut Kiltz: Das erotische Mahl, Frankfurt/Main 1983.

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Desto hartnäckiger ist der Tod beim Essen im Spiel. Als Naphta über seine gotische Pietä und über das »signum mortificationis« spricht, kommt auch schon das Essen: »Sie sehen die Pietä auch vom Sofa aus. Eben kommt unser kleines Vespermahl« [546]. Besonderes Interesse gilt den Verwesungsängsten. Ein »Fischragout« ist es,88 das James Tienappel dazu ermuntert, Hofrat Behrens die Frage zu stellen, »wie es sei, wenn der Mensch verwese« [606]. Dieser schildert ihm recht drastisch, wie der Mensch aufplatzt. Aufgrund von Gasen blähe sich der Körper wie ein Ballon auf und zerplatze. Tröstlich ist, daß man sich »merklich erleichtert« fühlt, wie »Judas Ischariot«, der Mann des Trugs, der sich zur Sühne seines Verrats erhängte.89 Hier wird Verwesung und Indigestion als Exculpationsleistung vorgeführt. Das Ausmalen der Opferaneignung während des Essens ist Schuldabtrag. Die »gräßliche Schmach der Verwesung« [631] wird als leibhaftige Strafe für die Sünde verstanden [vgl. auch 706].

8.3.5. Das Heilige ist ein Eiergericht »Durch das Sinnliche ins Wesentliche«, vom Sinnlichen zum Sinn gelangt Naphta, der Sohn eines jüdischen Schlachters. Beim feierlichen Schlachtschnitt, den der Vater ausführt, verbinden sich dem Knaben Frömmigkeit mit Grausamkeit und der Anblick »sprudelnden Blutes« mit der Idee des Heiligen [609]. Thomas Mann verwendet viel Mühe und Sorgfalt auf die realistische Bebilderung der Zeremonie und hebt den Geist der Tat, des Vollzugs und die sinnliche Gewißheit des Blutopfers hervor. Naphtas Vater hat etwas von einem »Zaddik«, einem wundertätigen Führer, der Blut und Sprache zu heiligen Handlungen zu verbinden weiß. Den materialistischen Verwesungsvorgängen steht der Blutglaube totemistischer Opferriten gegenüber. Leben aus »Sauerstoffbrand« setzt Blut als Sauerstoffträger und Organversorger voraus. Zu den Opferriten für die Göttermutter Kybele zählt es, eine Grube auszuheben, über der ein Stier geopfert wird. In der Grube befindet sich der Priester oder der Opfernde und übergießt und trinkt schließlich das Blut. Damit ist er nicht nur getauft und der Gottheit inne, sondern auch renatus in aeternum. Daß die »periodische Tötung und Aufzehrung des Toten

88 Vgl. Freud, I, 165. 89 Vgl. Matth. Ev. 27,5. 117

in Zeiten vor der Verehrung anthropomorpher Gottheiten ein bedeutsames Stück der Totemreligion gewesen sei« und der gemeinsame Verzehr (der Anbetenden und der Gottheit) von Fleisch und Blut des Tieropfers der integrierende Bestandteil im Ritus der alten Religionen gewesen ist, betont Freud in Totem und Tabu schon 1912. Der entscheidende Vorgang ist dabei die Herstellung einer Kommunion der Gläubigen. Der Versöhnungs- oder Entsühnungsgedanke kommt erst später hinzu. Die heilige Handlung bestand also in der Versicherung, nicht allein zu sein. Eß- und trinkbare Opfer werden dargebracht, weil »der dem Gott bestimmte Anteil des Opfers zuerst als seine wirkliche Nahrung angesehen wurde«. 90 Aus diesem Grund malt auch Rilke einen bedürftigen Gott, dem man Trank geben muß.91 Novalis hingegen hat in den von Thomas Mann bewunderten Hymnen an die Nacht etwas ausgesprochen, was später Freud systematisierte. »Zum Vater wollen wir nach Haus« formuliert jene religionsbildende infantile Vatersehnsucht, die Freud als Religionsgrund deklarierte.92 Den Tod als Voraussetzung für Erlösung beschwört Novalis in seinen Geistlichen Liedern. Immer wieder spricht er von neuem Leben, das durch neues Blut gewonnen wird.93 Weil dieser mystische Einigungsgedanke Thomas Mann für den Zauberberg interessierte, strich er sich die berühmte dritte Strophe der siebten Hymne der Geistlichen Lieder an: »Wer hat des irdischen Leibes hohen Sinn erraten? Wer kann sagen, daß er das Blut versteht?« Das sind Fragen, die weder Anatomen noch Hämatologen befriedigend beantworten können. Auf die in den Teplitzer Fragmenten gestellte Frage, »Wer weiß welches erhabene Symbol das Blut ist«, antwortet Novalis mit Vereinigung, Gemeinschaft, Umarmung. 94 Was Thomas Mann vor allem an der Blutmystik interessiert,95 ist die lebens- und nahrungsspendende »Unendliche Fülle« von »Leib und Blut«.96 Noch einmal, wenn Rilkes Christus ein bedürftiger Gott ist und Novalis' Christus ein bedarfdeckender Gott, dann ist Thomas Manns Christus ein theatralischer Gott. Er ist ein Künstler des »symbolischen Formel90 91 92 93 94 95 96

Freud, IX, 418. Rilke, I, 255, 275. Novalis, I, 175. Novalis, I, 183, 185. Vgl. Novalis, II, 385; II, 506; bes. II, 409. Vgl. auch Joh. 6, 53. Novalis, I, 190.

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wesens«,97 der es fertigbringt, mittels der für Christen und Heiden gemeinsamen Riten den sich verflüchtigenden Anteil an Totalitätserfahrung trotz wachsender Sinnangebote und Wissensenzyklopädierungsverfahren semantisch hypertroph zu bannen. Gerade die Komplexitätsreduktion aber produziert jenen semantischen Mehrwert, den einzig kultische Handlungen noch ertragbar, weil rätselhaft machen. Zwischen Blutmahl und Diner ist das Essen im Schneekapitel des Zauberberg angesiedelt. Wie eine Binnenerzählung ist der Schneetraum zwischen Essensszenen situiert. Am Anfang und am Ende des Kapitels wird gegessen. Handelt es sich also um einen Traum während der Liegekur, um einen Verdauungsträum? Ähnlich wie die Frauen des Berghofs ist der Traum »auf Sinnentrug hinlänglich versessen« (648), um die unbewußten Wünsche desto hartnäckiger zu repräsentieren. Das Symbolische, ähnlich der künstlichen HöhenSonne, trägt »Früchte im Wirklichen.« Das märchenhafte Bild des Wesenlosen, Antisubstantiellen, gibt jene »Komplizität mit dem Tod« (98) wieder,98 die eine »Ahnung von der Schuld« beherbergt,99 daß überhaupt Eigenes (Leben) ist und nicht Anderes. Es ist die List der epikuräischen Todesexilierung, die den Tod zwar anerkennt, aber nicht fürchtet und abständig hält. Der Traum von Tod und »weißlicher Transzendenz« trennt ihn, einem Traumgesetz Freuds folgend, vom Alten. Die ethische Empfehlung, dem »Tode keine Herrschaft über seine Gedanken« einzuräumen, greift Freuds Mahnung auf: »das Leben zu ertragen bleibt ja doch die erste Pflicht aller Lebenden«.100 »Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein: Si vis vitam, para mortem«.101 Daß der eigene Tod unvorstellbar, unvorgreifbar ist und nicht in die Bezüglichkeit von Selbsterfahrung fällt, demonstriert jener Imperativ. Wenngleich der eigene Tod ja auch unvorstellbar ist, so ist doch unvermeidbar, »daß jeder von uns der Natur einen Tod schuldet«.102 Verständige, höfliche, freundliche und ehrerbietige Gemeinschaft gibt es nur auf dem Boden und »in stillem Hinblick auf das Blutmahl.« Zwischen Sonnenleuten

97 Thomas Mann, Leiden und Größe der Meister, hrsg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt/Main 1982, S.719. 98 Adorno, Noten, 343. 99 Ebd. 100 Freud, IX, 60. 101 Ebd. 102 Freud, IX, 49.

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und Blutmahl sitzt die ihrer Tochter Persephone beraubte, klagende Mutter Demeter. Kurzum, ohne Opfer geht es nicht. Wer erkannt hat, daß »das Interesse für Tod und Krankheit nichts ist als eine Art von Interesse am Leben«, der weiß, daß er der Natur noch einen Tod schuldet. Die Geschichte des christlichen Abendlandes hebt mit einem paradigmatischen Opfer an. Und das Eingehen in den Einen Leib muß stets erneut, opfernd erbracht werden. Noch bevor die Kehlkopferkrankung Joachim Ziemßens und sein bevorstehender Tod erwähnt werden, werden Nacht- und Liebesmahle beschworen. Sakramentaler Leib- und Blutgenuß und eleusinische Mysterien sollen kollektiv beglaubigen, was den Teilnehmern an Totalitätserfahrung abhanden gekommen ist. Ziemßens zunehmende Erkrankung zwingt ihn, »Suppen, Haschees und Brei« zu essen und sich auf »ausschließlich flüssige Nahrung« umzustellen. Von flüssiger Nahrung, von verdichtetem, konzentriertem, spiritualisiertem Gottesbrot ernährt sich auch das »torkelnde Mysterium« Peeperkorn. Das hochdosierte, demeterferne Brot, nach dem Peeperkorn verlangt, ist das »narkotische Getränk« des dionysischen Rausches [787], in dessen Steigerung nicht nur das »Subjektive zur völliger Selbstvergessenheit« gelangt, sondern auch Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur widerfindet. 103 Zunächst bricht Peeperkorn die hochstrukturierte Ordnung sozialer Distinktion des Speisesaales auf, indem er zur Orgie aufruft. Er macht alsbald deutlich, daß das wenige, was er verstehbar sagt, dem »Sein, nicht Meinen« entspringt. 104 Er entläßt Sprechakte, die keinen Bedarf nach Auslegung erzeugen, weil sie vollständig mit seinen rituellen Handlungen kongruieren. Den Riten kommt auf dem Zauberberg besondere, nicht nur symbolische Bedeutung zu. »So gefaßt aber haben die Riten ursprünglich keinen allegorischen, nachbildenden oder darstellenden, sondern durchaus einen realen Sinn: Sie sind in die Realität des Wirkens derart eingewoben, daß sie einen unentbehrlichen Bestandteil von ihr bilden... Es ist ein durchgängiger Glaube, daß auf der rechten Ausführung der Riten der Fortbestand des menschlichen Lebens, ja, des Daseins der Welt beruht«. 105

103 Nietzsche, I, 24. 104 T.M., Ges. Werke, XII, 491. 105 E.Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, 8. Aufl., Darmstadt 1987, S.51.

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Ernst Cassirer spricht von einem identitätsfixierten Anverwandlungsprozeß. Der Künstler, Schauspieler oder »der Tänzer ist der Gott, wird zum Gott«.106 Also eben keine mimetisch-allegorische Versteinerung des Götzendienstes und »bloße nachahmende Darstellung«.107 Im Gegenteil. Die allegorische Interpretation versperrt nur die theatralische Wahrnehmung, die Sinn und Sein »als ein reales und wirkliches, weil durch und durch wirksames Geschehen« zusammenbringt.108 Cassirer hat ferner hervorgehoben, daß der Mythos bzw. die mythische Handlung die Trennung von Bild und Sache, von Ideellem und Materiellem nicht kannte und für ihn ein Verhältnis der Identität bestand. Nietzsches Übersetzung von »Drama« als »heiliger Handlung«, die Thomas Mann von dem Basler »Philologieprofessor« übernahm,109 macht den Schriftsteller zum Wortprieser, der »Blut geleckt hat«.110 Um das Leitmotiv des Essens nun für den Roman beziehbar zu machen und aus dem sakralen Raum des antiken Theaters zu befreien, erklärt Thomas Mann: »Und ich begreife nicht, wie man im Leitmotiv ein wesentlich dramatisches Mittel erblicken kann. Es ist im Innersten episch, es ist homerischen Ursprungs«.111 Faszination für das Theatralische hegt Thomas Mann aus einem Grund. Weil es Richard Wagner gelungen war, das Theater in seine alte Bedeutungsschwere zu versetzen und zu einem »Haus der Mysterien« zu machen, zu einem »künstlerischen Gottesdienst« mit der »Miene eines Nationalaktes«.112 Damit werden jene Aspekte beschworen, die verlorengegangen sind und im Essen und den Mahlszenen erneut zentriert werden: politische Vergewisserung und Einigung einer zunächst heterogenen Menschengruppe, wertungssolidarische Zeichenkonstituierung und Gemeinschaftsstiftung als Kritik an welterschließender Subjektivität durch kultische Handlungen. Hier wird aber noch kein Gott gegessen. Die Riten und Fleischbestellungen Peeperkorns beweisen, daß das »Bindende an der gemeinsamen Mahlzeit nicht ein religiöses Moment ist, sondern der Akt des Essens selbst«.113 Das Essen ist also nicht auf die Ankunft eines göttlichen nous angewiesen, der von oben hinzustößt, sondern ist selber schon bindend und sakral. »Was aber ist denn das Religiöse?«, fragt Thomas Mann in seinem Fragment über das Religiöse. Er gibt die Antwort: es ist »der Gedanke an den Tod.« Die »Einschläge von 106 108 110 112

Ebd. Ebd. T.M., X, 24. T.M., X, 51.

107 109 Ill 113

Ebd. T.M., X, 47. T.M., X, 27. Freud, IX, 419. 121

Fleischesmystik«, die der Roman enthält,114 machen den Zauberberg zwar auch zu einem »religiösen Buch«,115 das aber an einer gewissen Trägheit leidet. Thomas Mann versucht, in der Figur Peeperkoms zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Gegessen wird der Tod selbst. Der Tod wird zerfressen, um dem Leben, »um der Güte und Liebe willen«, Platz zu machen. Dionysos und Christus, Parsifal und Petrus, die Bewegungen von unten nach oben und von oben nach unten sollen zugleich vollzogen werden. Die »Chiffre, in der das Erdhafte und das Numinose sich treffen, ist Peeperkorn«.116 Die peristaltische Bewegungsfeier der »Brüder im Spiegelbild« führt zu einem kinetischen Stillstand und zur Kraftaufhebung.117 Das Rauf und Runter der Götter, der Wille, »Gottes Hochzeitsorgan« zu sein und in jedem Sinne, im »christlichen wie im heidnischen«, heilig sein zu wollen, lähmt teleologische Möglichkeiten. Dionysos und Christus, Phallus und himmlischer Bräutigam zugleich sein zu wollen, geschlechtlich-anatomisch und geistig-spirituell, Signifikat und Signifikant gleichzeitig zu sein, ist eben »königliche Narretei«. Beängstigend ist ja, daß nicht nur Signifikant und Signifikat getrennt sind, sondern frei flottierend Signifikant neben Signifikant steht. Bald darauf gibt es wieder ein leichtes Zwischengericht, ein KräuterOmelette. Das Heilige, Einfache, die »Gottesgabe« ist ein Eiergericht; Urform des Lebens im symbolischen und im ernährungstechnischen Sinne (tierisches Eiweiß). Die »seelische Hochspannung« der Episode macht aus dem Leben einen elektrischen Darm, eine Transistorverdauung der doppelten Bewegung, zwischen oben und unten, Himmel und Erde, zwischen Diesseits und Jenseits. Dieser scheinbar zeitlose Schwebezustand soll bewahrt und gehalten werden, darum stopfen sich die Patienten des Berghofs voll. Peeperkorn behält bis zuletzt sein Innerstes und gibt als erstes und letztes »Geschenk« sein Leben als Lebenskot.118 Leben ist nicht durch ungezügelte »Nahrungsaufnahme« steigerbar. Das muß auch der rauschhafte Peeperkorn erkennen. Er ist also nicht nur »Präsenz, Dasein, Inkarnation«,119 sondern 114 T.M., XI, 425. 115 Ebd. 116 Oskar Seidlin: Das hohe Spiel der Zahlen. In: ders. Klassische und moderne Klassiker, Göttingen 1972. 117 Ebd. 118 Vgl. Freud, Über Geld und Analcharakter, Studienausgabe I, 534. 119 Seidlin, Zahlen. 122

auch dessen Gegenteil: »Schluß!«120 So wie die Pythagoreer Bohnen als glaubensstörend und hemmend verdammten, verurteilt Peeperkorn die »fetten Leckerbissen«, die der »gespannten Andacht« im Wege stehen [781], Daß Glauben und Essen zusammenhängen, Jenseitshoffnungen eine gute Verdauung voraussetzen, muß Thomas Mann gewußt haben, der am 4. Januar 1920 nach dem Erhalt von »Nietzsches Abschiedszettel >Der Gekreuzigte< ...Abends nur Eier gegessen« hat.121 Die Verbindung von Dionysos und Christus illustriert jenes unaushaltbare »Zuviel« an Götternähe, 122 das in ihrer doppelten Anwesenheit besteht. Alles haben zu wollen, kann die Opfernotwendigkeit nur verstärken. Die »Commensalen« vollziehen so keine compassio,l2i sondern werden nur Zeugen einer vereinzelten passio ohne Bußsakrament. Der unbändigen Daseinsgier ist der leidvolle Untergang eingeschrieben.124 Peeperkorn betreibt die Industrialisierung seiner Organe, die Maschinierung der Erfahrung, indem er ihnen »Zufuhr und Nachschub« zumutet. Er beschreitet den induktiven Weg und versucht über die Intensivierung der Organtätigkeit einen Produktionszuwachs an Heiligkeit zu erzielen. Auch das »Heilige besitzt seine eigene Technologie«.125 »Das religiöse Leben als solches«, schreibt Mircea Eliade in Mythen, Träume und Mysterien,126 »bringt bei den Primitiven wie bei den Zivilisierten eine religiöse Bewertung der gesamten Sinnlichkeit mit sich... Es gibt keine religiöse Erfahrung ohne Vermittlung der Sinne«, sondern nur »religiöse Verpflichtung zum Gefühl« (836). Peeperkorn, dieser »bejahrte Priester eines fremden Kults« hat Spaß an der Heiligkeit und vollzieht einen ziellosen Ritus. Denn im Ritus, der zugleich Wiederbelebung von Tod und Auferstehung eines Gottes ist, fallen antik-kosmische und modern-historische Zeit zusammen. Peeperkorns emporgehaltener Ring (der keinen Anfang und kein Ende hat) ist die »Monstranz«. Peeperkorns wenige, verstehbare Worte übercodieren seine deiktischen Handlungen. Wer nicht verläßlich zu Hause ist in der sprachlich gedeuteten Welt, begründet Mysterien oder weigert sich, ihnen zu entwachsen. Heilig ist Sprachverzicht, der 120 121 122 123 124 125

T.M., XI, 423. Vgl. Tgb. v. 18.4.1919. Vgl. Tannhäusers erste Worte in Richard Wagners gleichnamiger Oper. Freud, IX, 419. Vgl. Nietzsche, I, 93. J.Kott: Gott-Essen. Interpretationen griechischer Tragödien. München 1975, S.214. 126 Mircea Eliade: Mythen, Träume, Mysterien. Salzburg 1961, S.51.

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dem Sein der Zeichen, die er setzt, mehr Wort beimißt als sich sprachpragmatisch ausmessen läßt. Weil »nicht alles auf einmal da ist« [796], hat das wenige was ist, um so mehr Bedeutung. Dessen Horizont aber ist die Geschichte, letztlich also der Tod. Die »Majestät« Peeperkorn, der Kapitän und Rex Regum, der unablässig Wein trinkt, zeigt, daß es sich bei Zeichen und Bedeutung um keine zweistellige Prädikation handelt, sondern um ein Handlungsschema, einen Ritus. Seit der dematerialisierte Gott verlangt, an die Stelle von Blut genießbaren Wein zu setzen, ist das Verhältnis von Heiligem und Profanem nicht länger das der Analogie. An dieser Stelle nistete sich ein Bedeutungsplatonismus ein, den Peeperkorn durch »Sinnenlust« [820] und »Verlangen nach Dinglichkeit« überwinden will. Schon in Aristoteles' Schrift De interpretatione (16a, 3f) wird verhängnisvoll analogisiert. Die Buchstaben sind dort Zeichen für Laute, und diese sind Zeichen für Seelisches, etwa Vorstellungen und Gedanken oder Begriffe. Dadurch erhält man eine Relation von Zeichen und Idee, also etwas symbolisch Abstraktes. »Der Kardinalfehler aller dieser Versuche seit Piaton liegt darin, daß man die Bedeutungen auffaßt als selbständige Gegenstände, die es zunächst einmal unabhängig von dem Zeichen gibt«.127 Peeperkorn versucht der Relation von signum und res zu entraten. Seine vielen imperialen Eigennamen (Kapitän, Majestät, Priester) fungieren als Handlungsschema. Die Bedeutung geht also nicht dem Zeichen voraus. Die Bedeutung eines Zeichens ist aber auch nicht nur sein korrekter Gebrauch, denn der Gebrauch kann gleich bleiben, aber die Bedeutung kann sich ändern. 128 Was Peeperkorn zu unterlaufen versucht, ist die Beschränkung von sakralen, oder schlichter, bedeutsamen Handlungen auf Institutionen verbindlichen Formelwesens. Er prozediert kleine »Mythen des Alltags«. Ein Glas Wein trinken, egal wann und wo, heißt einen kleinen dionysischen Gott trinken. »Demnach ist das Weintrinken bei dem Kult eines Weingottes wie Dionysos nicht etwa ein Akt der Schwelgerei, es ist ein feierliches Sakrament. Dennoch kommt eine Zeit, da vernünftige Menschen es schwer finden, zu begreifen, wie es möglich ist, daß jemand, der bei Verstände ist, annehmen kann, daß er durch den Genuß von Brot und Wein Leib und Blut einer Gottheit zu sich nimmt«.129 Diese Zeit ist gekommen, und zum Tempel 127 W.Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik. Mannheim 1973, S.96. 128 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, I, 138, 561. 129 Frazer: Homöopathische Magie bei der Fleischkost, Kap. LI, 725.

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des Alltags wird so das Wirtshaus. Peeperkorns Religion des »gehobenen Augenblicks« gibt dem Erinnerungsmahl seinen »vollen Sinn« [843]. Die Transsubstantiation und Erhöhung besteht nicht in einer diffusen Erlösungshoffnung, sondern Sakralisierung des berauschenden Lebens schlechthin.

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8.4. Goethes Gesundheit und Lottes Leiden Zu Lotte in Weimar Goethe war nicht nur gut, sondern auch gesund.1 Jedenfalls in Thomas Manns Lotte in Weimar. Der vermeintliche Olympier Goethe bleibt im Roman unberührt von den Dekadenzerfahrungen der Helden aus den frühen Erzählungen Thomas Manns. Künstler und Bürger zugleich sein, ist für ihn kein unversöhnliches Nebeneinander wie noch für Detlev Spinell, Thomas Buddenbrook oder Gustav Aschenbach. Goethe ist der intakte, gesunde, bewunderte und umjubelte Künstler. Als spiritus rector, Impressario, Regisseur, Inaugurator, aufdringlicher Prophet, Arrangeur und chef de rang handelt der mephistophelische Führer und Kellner Mager zu Beginn des Romans. Er ist der Wirt jener Versorgungshöhle, genannt Gasthaus zum »Elephanten«, in der die »Hofrätin Witwe Charlotte Kestner geb. Buff« sich ihm »in die Schrift« offenbart. Dadurch gibt sie sich als reales und nicht nur fiktives Wesen zu erkennen. Die Entmystifizierung des Künstlers Goethe, der das Ästhetische schlechthin symbolisiert, erfolgt über das lebensweltlich allernächste: übers Essen. Lotte in Weimar ist kein so »sentimentalisches Werk« [18] wie der Werther. Der Künstler Goethe und die selbstbewußte Individualistin Lotte handeln bei Thomas Mann keinen >Fall Werther< aus. Goethe, der »auf eine zweifelhafte Weise robust« und auf eine »unheimliche Art von sensueller Natur« [193] ist, und überdies dem »Wein maßlos zuspricht« [193], ist das Gegenteil jener Gestalten aus Manns frühliterarischem Wagnerismus. Lotte, die »unfreiwilliges Opfer« [59] und »Mittel zum Zweck« [16] geworden ist - Mittel zum ästhetischen Zweck, muß man hinzufügen - reist in der Hoffnung auf eine Entschuldigung, Sühne oder Versöhnung an. Die faktisch existente Frau reklamiert ihre Archivierung als Fiktion, ihre Tötung im Buchstaben, der blutentleert überdauert. Sie beanstandet, daß ihr Leben an ein Kunstwerk delegiert, und sie darüber alt geworden ist. Sie hat als Opfer für ein »Höheres«, ein Kunstwerk nämlich, herhalten müssen. Die Kunst als sublimierter Opferritus ist im Leiden, im Entzug an Sein fundiert. Die Kunst bemüht sich, dem Zustand des Mangels Prädikate 1 Vgl. Hans R. Vaget: Goethe oder Wagner. Studien zu Thomas Manns GoetheRezeption 1905-1912. In: H.R. Vaget/Dagmar Barnouw: Thomas Mann. Studien zu Fragen der Rezeption. Bern/Frankfurt 1975, S. 1 - 8 1 .

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des Seins zu verleihen, um die strukturelle Absenz von Substantialität vergessen zu machen. Diesen Erhaltungsversuch des Wesentlichen, der sie nichts weniger als das Leben kostet, mahnt Lotte an. Mit deutlichen Anspielungen auf das Abendmahl, das ja auch im Werther eine Rolle spielt, wo es aber als individualisiertes und privatisiertes Abschiedsmahl mit bürgerlicher Sorgfältigkeit zelebriert wird,2 spricht »Goethe« von der Opferstruktur des Kunstwerks: »Du handelst vom Opfer, aber damit ist's ein Geheimnis und eine große Einheit wie mit Welt, Leben, Personen und Werk, und Wandlung ist alles. Den Göttern opferte man, und zuletzt war das Opfer der Gott. Du brauchtest ein Gleichnis, das mir lieb und verwandt ist vor allen, und vor dem meine Seele besessen seit je: das von der Mücke und der tödlich lockenden Flamme. Willst Du denn, daß ich diese sei, worein sich der Falter begierig stürzt, bin ich im Wandel und Austausch der Dinge die brennende Kerze doch auch, die ihren Leib opfert, damit das Licht leuchte, bin ich auch wieder der trunkene Schmetterling, der der Flamme verfällt, - Gleichnis alles Opfers von Leben und Leib zu geistiger Wandlung. Alte Seele, liebe, kindliche, ich zuerst und zuletzt bin ein Opfer - und bin der, der es bringt.« 3

Zuerst opfert man also den heidnischen, antiken Göttern, und zuletzt ist das Opfer der christliche Gott selbst, das österliche lumen Christi, die »brennende Kerze«. Den kulturgeschichtlichen Prozeß der fortschreitenden Dematerialisierung und Spiritualisierung des Opfers benennt Manns Goethe genau.4 Die Kerze, die abnimmt um zu leuchten, ist das »Gleichnis alles Opfers von Leben und Leib zu geistiger Wandlung«. Genau diese Wandlung, diesen Entzug an Leben klagt Lotte an. Der gottähnliche Künstler Goethe [66] bezieht seine Energie ebenso aus christlichen wie aus heidnischen Quellen. Sie dienen ihm wie das Personal seiner Umwelt als »Wisenslieferanten« [67]. Dies ist zugleich eine Beschreibung der Mannschen Schriftstellertechnik: »Ohne Mysterien kommt offenbar der Mensch nicht aus; hat er an den christlichen den Geschmack verloren, so erbaut er sich an dem heidnischen oder Natur-Geheimnis der Persönlichkeit« [67], Das Mysterium der Poesie, von dem unablässig die Rede ist [107], ist Diebstahl an fremden 2 Vgl. J.W.G. Sämtliche Werke in 14 Bänden, hrsg.v. Erich Trunz, 11. Aufl., Hamburg 1982, Bd. 6, S. 121. 3 Thomas Mann: Lotte in Weimar, hrsg.v. Peter D. Mendelssohn, Frankfurt/ Main 1982, S.406. 4 Vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu, In: Sigmund Freud, Studienausgabe, hrsg.v. A.Mitscherlich u.a., Bd.IX, Frankfurt 1974, S.418.

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Leben. Die Geburt fiktiver Gestalten ist die poetologische Absorbierung anderen Lebens: »Es gibt ein göttliches [hier: künstlerisches, Anm.d. Verf.] Schmarotzertum, ein Sich-Niederlassen der Gottheit auf menschlicher Lebensgründung« [106]. Aus Furcht, in Lotte eine zweite Ottilie zu finden, deren »Mäßigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge mach[t]«, 5 läßt Mann sie durch den aufdringlichen Kellner Mager »sich mit einer Collation wiederherstellen« [117]. Trotz vormittäglicher Anstrengung appetitlos zu sein - so behauptet Lotte - und dennoch im Vollbesitz der Kräfte zu sein, vermögen nur Magersüchtige, die sich von Körperfunktionen unabhängig glauben. Klug und neugierig bietet der Kellner seine Dienste an. »Appetitlosigkeit ist denn noch kein Beweis für Unbedürftigkeit« [117] wendet er umsichtig ein. Da Goethe, das Objekt ihrer Strafe noch nicht greifbar ist, verinnerlicht Lotte ihren Sadismus und wehrt ihren Hunger masochistisch ab. Sie betreibt Selbstsühne, ist also ihrer alten Opferrolle noch nicht entkommen. Mit der nicht »alltäglichen Geläufigkeit« ihres Mundes, der gleichzeitiges Essen ausschließt, halluziniert sie das Objekt ihrer Begierde redend. Denn, »wenn jemand spricht wird es heller«, notiert Freud in der 25. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse unter dem Titel Die Angst. Ganz anders und unängstig dagegen ist der geheime Rat. Von »sensueller Natur« und dem »Weine maßlos« zusprechend, bestellt er sich zu Mittag schweren Gansbraten und Pudding (zwei Gerichte, die Thomas Mann selber sehr liebte, unter denen er aber auch litt; vgl. dazu das Zauberberg-Kap.). Zur Nacht nimmt er dann auch noch Rebhuhn und Madeira zu sich. Einen Vorgeschmack auf die Rolle, die Goethe währen des »formellen Mittagessens« mit Lotte spielt, erhält man bald. 6 Goethe konzipiert fantasierend den zweiten Teil des Faust, in dem »Geist verstärkt« alles noch einmal gelegt und gesteigert wird. Wasser und die »sonnenfeuer-bindende Labe-Gabe des Weins« werden von ihm heilig gesprochen. Er stilisiert sich also zum Dichter-Priester. Goethes Entrückung und Abwesenheit, seine »mangelnde Anteilnahme 5 J.W.G., Hbg. Ausgabe, Bd. 6, S.283; Vgl. dazu auch Jochen Hörisch: Die Himmelfahrt der bösen Lust. Zu Ottilies Anorexie in den Wahlverwandtschaften. In: Norbert Bolz (Hrsg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981. 6 Hermann Kurzke: Thomas Mann, Epoche-Werk-Wirkung, München 1985, S.263. 128

an Menschen und Dingen« [360] weicht, als er zu Tisch geht. Vorbei an antiken Gestalten führt der würdevolle und stimmungsvoll-sakrale Weg zur Tafel. Am römischen Hauptgott Jupiter, zugleich als »Jupiter Hospitalis« der Schutzpatron des Essens, und am als göttlich verehrten Adoptivsohn Kaiser Hadrians, an Antinous vorbei, passieren sie eine Kopie von Tizians »Himmlischer Liebe«. An der festlichen Tafel, die »mit feinem Damast, Blumen, silbernen Armleuchtern, vergoldetem Porzellan und dreierlei Gläsern für jedes Couvert gedeckt« [361] ist und nicht, wie Hermann Kurzke meint, nur formell ist, gibt sich Goethe in doppelter Weise zu erkennen. Als bürgerlicher pater familias und als priesterliche imitatio Christi, als Bürger und KultKünstler. Während die Tischordnung Leonardo da Vincis Abendmahltafel gleicht und Goethe in die »Mitte der einen Längsseite« rückt, steht bereits bürgerliche »Brühe mit Markklößchen« bereit. Mit der christologischen fractio panis eröffnet er das Mahl: »Der Hausvater brach mit einer Bewegung, die etwas Weiheaktartiges hatte, sein Brot über seinem Teller.« Ebenso würde- und weihevoll eröffnet er die Tafel: »So wollen wir den Himmlischen Dank wissen, liebe Freunde, für dieses heitere Beisammensein, das sie uns aus so freudigwertem Anlaß schenken, und uns des bescheidenen, treu bereiteten Mahles erfreuen!« [362] Darauf folgt ein kaum bescheiden zu nennendes fünfgängiges Menü, wie es für das gehobene Bürgertum des 19. Jahrhunderts verbindlich werden sollte. Denn was ein Mahl ist, ist ja gar nicht so selbstverständlich. Erst wenn gegen die inzwischen standardisierten Vorstellungen verstoßen wird, fällt es einem auf. Die hochstrukturierte ästhetische Ordnung sieht vor, daß man sich mit »lieben Freunden« [362] zusammensetzt; also Wertschätzung, Gastfreundschaft und natürlich auch Repräsentationswillen zum Ausdruck bringt; ferner, daß eine geregelte Abfolge von Gängen erlesener Speisen aufgetragen wird, um die Exzeptionalität des Vorgangs zu unterstreichen. Der Zeremonienmeister Goethe ist Herd und Brust zugleich, die Versorgungsinstanz für orale (essen, sprechen) Bedürfnisse schlechthin. Wenn jedes Essen von einer latenten frühkindlichen Furcht vor Versorgungseinstellung und Vers orgungs Verweigerung begleitet wird, dann »überexponiert« sich Goethe beim Mahl. Zur Kunstsinnigkeit der Eingangssituation gehört die Kultiviertheit des Essens, seine Standardisierung und Normierung als soziales Distinktionskriterium. Zum Essen in feiner Gesellschaft gehören Kenntnis und Fertigkeiten. Der »Hochstand der Küche« ist auffällig. Begleitet wird der »bürgerliche Prunk« 129

(Horkheimer) von den »ceremoniellen« Handlungen Goethes, die dem Ε ssen jene säkulare Wohnstubenweihe verleihen und in ein »mythisch gestimmtes Wohlgefallen« [369] münden. Unablässig pantheistisch murmelnd und quatschend, in der Absicht, seinen Gästen »etwas Bedeutendes vorzulegen« [385], bringt sich Goethe abständig um den Gebrauch. In christlich-platonischer Wandlungs- und Erhöhungsmetaphorik gerinnen ihm alle Handlungen nur zum Gleichnis »geistiger Wandlung« [406]. Kultselig, doch schmerzempfindlich zelebriert der furchtsame Goethe ein Gedächtnismahl. Sein Christus ist ein erinnernswerter Künstler. Thomas Mann hat in On myself darauf hingewiesen, daß Lotte in Weimar ein »Joseph-Spiel« ist und der Goethe-Mythos in Lotte eine Geschichte der Bewunderung, aber auch Abrechnung ist. »Er ist der Vater, gegen den man sich verehrungsvoll empört.« Thomas Mann hat eine »imitatio Goethes« vollzogen, »eine Identifizierung und unio mystica mit dem Vater, um der Furcht, vom überragendem Totem tier, vom Vater gefressen zu werden, zuvorzukommen. Diese Angst stammt aus der primitiven, oralen Organisation«.7 Daß die Kunst dem Leiden entstammt, zeigen die redselig Entsagenden im Lotte-Roman.

7 Freud, III, 348.

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8.5. Leverkühns Verdauungsstörungen Kunst als Buße im Doktor Fanstus Als er auf dem tiefsten Stand seiner Gesundheit angekommen ist, wird Serenus Zeitblom gefragt, wie ihm zumute sei. Er antwortet: »Ungefähr wie Johanni Martyr im Ölkessel.« Er vergleicht sich mit einem »Höllenbraten«, der öffentlich übergössen und gebraten wird. Wenn Goethe in Lotte in Weimar den gesunden, hungrigen und verantwortungsvollen, also den positiven Künstler darstellt, finden wir in Adrian Leverkühn den kranken, nahrungsverweigernden, verantwortungslosen, negativen Künstler. Sein Pakt mit dem Teufel kostet ihn nicht nur die Liebesfähigkeit und seine Seele, sondern auch die Gesundheit. »Den Umgang der dämonischen Kräfte erkauft die mythische Menschheit mit Angst.« 1 Und die Angst bleibt nicht in den Kleidern stecken. Durch den Magen geht der Teufel ebenso wie die Liebe. Die karzinogene Einnistung des Unheils als Voraussetzung für Kunstproduktion beschert »Verdauungsfieber«, »Magenkatarrh« und »Erbrechungen« [342, 343]. Die indigestiöse Wandlungsunfähigkeit Leverkühns, die negative Dialektik seiner Verdauung zeigt, daß die Überführung von Konsumtion in Produktion kein reibungsloser Vorgang ist. Sein Darm wird vom Teufel geholt. Leverkühns leere Peristaltik ist gleichsam die korporelle Kritik am »Primat inhaltlichen Denkens«. 2 Peeperkorn darin nicht unähnlich, ist Leverkühn nicht »primitiv stoffgläubig« und beginnt eine antiästhetische, antimetaphysische und atonale Kunst zu konzipieren.3 Den Ausweg aus dem Ästhetizismus der bürgerlichen Kultur weist in Zeitbloms Augen nicht die Barbarei, sondern die Erneuerung des Kultischen, die Erneuerung einer kultischen Gemeinschaft. Doch die Wiederbelebung in einer Zeit schwindenden Seinsvertrauens und der Atomisierungserfahrung der Gemeinschaft ist ein zweifelhaftes Unternehmen: »Die Erneuerung kultischer Musik aus profaner Zeit hat ihre Gefahren« [373]. Nicht nur, daß die Mittel des Kultus einem vorzivilisatorischen Zustand angehören, auch ihre gegenwärtige Wiederbelebung müßte den Gang durch ein profanes Stadium leugnen. Aber hinter einmal erreichte Entwicklungs und Aufklärungsstadien zurückzufallen, ist kaum möglich.

1 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, 1,1,151. 2 Adorno, Negative Dialektik, Vorrede, 6, S. 9. 3 Adorno, 6, 28.

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Zur Entwicklungslogik der bürgerlichen Gesellschaft gehört Geschichtslosigkeit,4 die Leverkühn im Bündnis mit dem Dämonischen durch privilegierten Zugang zum Mythos (als Geschichte) kritisch zu überwinden und erneuern sucht. Thomas Manns musiktheoretischer Berater Theodor Adorno schreibt dazu: Die bürgerliche Gesellschaft steht universal unter dem Gesetz des Tauschs, des >Gleich um Gleich< von Rechnungen, die aufgehen, und bei denen eigentlich nichts zurückbleibt. Tausch ist dem eigenen Wesen nach etwas Zeitloses, so wie ratio selber, wie die Operationen der Mathematik ihrer reinen Form nach das Moment von Zeit aus sich ausscheiden. So verschwindet denn auch die konkrete Zeit aus der industriellen [...]. Das sagt aber nichts weniger, als daß Erinnerungen, Zeit, Gedächtnis selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert werden, ähnlich wie die fortschreitende Rationalisierung der industriellen Produktionsverfahren mit anderen Resten des Handwerklichen auch Kategorien wie die der Lehrzeit, also des sich Erwerbens von Erfahrung, reduziert. Wenn die Menschheit der Erinnerung sich entäußert und sich kurzatmig erschöpft in der Anpassung ans je Gegenwärtige, so spiegelt sich darin ein objektives Entwicklungsgesetz.5

Dem Undurchdringlichen seiner Zeit versucht der Philologe Zeitblom durch Zitation der Antike Herr zu werden. Die real verlorene Tradition ist aber, folgt man Adorno, nicht ästhetisch zu surrogieren. Surrogate aber erzeugt die bürgerliche Gesellschaft.6 Zeitblom erfährt auf der Akropolis die Fülle des Lebensgefühls, welche in der »initiatorischen Andacht des olympischen Griechentums vor den Gottheiten der Tiefe sich ausdrückt, und oft habe ich später meinen Primanern vom Katheder herab erklärt, daß Kultur recht eigentlich die fromme und ordnende, ich möchte sagen begütigende Einbeziehung des Nächtig-Ungeheuren in den Kultus der Götter ist« [13]. Serenus' und Adrians Kindheit werden als unbeschwert beschrieben: sie aßen »kerniges Graubrot mit süßer Butter« und »goldenen Scheibenhonig«. Zutaten, die auch aus den Buddenbrooks bekannt sind und ein idyllisches, einträchtig nahrhaftes, gesättigtes und unbeschwertes Leben illustrieren. Bei aller Frömmigkeit, mit der Adrians Vater die Lutherbibel samt der Randglossen liest, ist ihm doch die Neigung nicht fremd, auf »die elementa zu 4 Vgl. Christa Bürger, Tradition und Subjektivität, Frankfurt/Main 1980, S.8f. 5 T.W.Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/Main 1977, S. 13. 6 T.W. Α., Thesen über Tradition. In: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/Main 1967, S.31.

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spekulieren« [16] und dies mit »mystischem Einschlag«. Zu Adrians Sozialisation gehört also eine gewisse Affinität fürs Magische. Adrians Vater müht sich, in der »unzugänglichen Zeichenschrift auf den Schalen gewisser Muscheln« Zeichen zu lesen, die nie geschrieben wurden, und entdeckt dort mit mantischer Akribie »Hochbedeutendes«. Er wehrt der Magieliquidation in der aufgeklärten Moderne, 7 weil er gemerkt hat, daß die Emanzipation vom Mythos, von mythischer Naturauffassung, auch die Emanzipation von der Natur ist, aber eben keine Emanzipation zu etwas ist. Emanzipation quasi als Prozeß gesteigerter Selbstverleugnung auch mythischer Natur im Menschen. Diesem vakuierenden Verfügungsanspruch der Vernunft setzen Jonathan und Adrian ihren Magiebedarf entgegen. Von Betrachtungen über die »Außenästhetik« der Muscheln führt ihr Gespräch dann zur »Ambivalenz der Anschauung« und signifikativen Offenheit des Gegenstandes. In anderem Zusammenhang wird aus der Muschel oder Schnecke, die bislang bevorzugt in »Hexenküchen« Behältnis für etwas war, der »Muschelschrein für Hostien« oder gar »Abendmahlskelch« [20]. So gerät ein naturgegebener, unbehandelter Gegenstand zum Gerät, das »Zauberei und Liturgie« gleichermaßen beherbergt. Was bleibt, ist ein unverständlicher Rest, der es nicht erlaubt, dem »Sinn dieser Zeichen auf den Grund zu kommen«. Mit dem Willen, zu lesen, was nie geschrieben wurde, läßt sich Jonathans Deutung nicht auf bloße Manier reduzieren. Die numinose Codierung enthält Bedeutungsschichten, allein weil sie ist und lesbar ist. Die Erfahrung, daß »die außerhumane Natur von Grund aus illiterat ist«, hindert nicht, gerade die Exzentrizität vorsprachlicher Zeichen zu deuten. Nur wird die Bedeutung von Abendmahl auf Muscheln nachträglich appliziert. Die Signifikanzzuweisung versucht also, der »Anarchie der Zeichen zu wehren«. 8 Gleichwohl beläßt der Erzähler die Bedeutung nicht im Festgeschriebenen. Er enthebt sie der Identitätsfixierung und rettet sie für das »ahnungsvoll Halbmystische« [21]. Er denkt fabulierend. 9 Die dämonenlose Zeit der Kindheit, der Aufenthalt im »Tale der Unschuld« wird als Früchtegarten geschildert, in dem Johannisbeeren,

7 Vgl. W.Benjamin über das mimetische Vermögen, Bd. 1, S.510 und die Quelle zu T.M. 's Meeresbeschreibung: A. Masarey, Kunstgebilde des Meeres, Schnecken und Muscheln, Bern 1936, S. l l f . 8 J.Hörisch, Sein der Zeichen. In: Derrida, Stimme, Frankfurt/Main 1979,

S.ll. 9 Vgl. Ernst Bloch, Spuren, Frankfurt/Main 1985.

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Nektar und Brombeeren gesammelt werden. Das sind übrigens die Zutaten für eine Ambrosiacreme der haute cuisine. Aus diesem diätetisch-ernährungsreformerischen Tal der Unschuld und Gesundheit führt der Weg auf die teuflischen Höhen ungesunder und schmerzbereitender Kunst. Unter Schmerzen ringt sich Beethoven, in der Schilderung von Musiklehrer Kretzschmar, die Kompositionen ab. Ausgerechnet während der Niederschrift des Credo aus der missa soiemnis ißt Beethoven 1 Vi Tage nichts. Glaube und Essen, Kunst und Appetit scheinen sich auszuschließen. Das Beeindruckende für Leverkühn ist aber nicht die Episode vom cholerischen Beethoven, der nachts nach Essen verlangt, sondern Kretzschmars »Unterscheidung zwischen kultischen und kulturellen Epochen« und »daß die Säkularisierung der Kunst, ihre Trennung vom Gottesdienst, einen nur oberflächlichen und episodischen Charakter« tragen [62],10 Die im Roman erstrebte »Naivetät« [63] ist das Mittel zur Rückanbindung von Kunst an Gottesdienst. Daher ist es verständlich, wenn Leverkühn zunächst Theologie in Halle studiert, wo die Idee der »Freigabe des Kelches« entstanden ist. Dort lernt er systematische Theologie bei einer »wuchtigen Persönlichkeit«. Professor Kumpf ist nicht nur »anti-metaphysisch« gerichtet, sondern auch »weltfromm« und »zu gesundem Genuß erbötig«. Leverkühn beginnt zu verstehen, daß man die Hölle anerkennen muß und sie nicht »symbolischer nehmen sollte, als den Himmel« [98], In Halle lernt Adrian lutherische Realpräsenz ebenso kennen wie essende »Weltfreude und Kulturgenuß«. Aber auch die Restaurierung »sakral imprägnierter Ordnungen«, die das »unmittelbare Seinsvertrauen« zu garantieren scheinen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eine universelle Opfervermeidungsstrategie nicht gibt. Ob mit oder ohne Ganzheitsordnung, der Tribut muß gezahlt werden, denn wir schulden der Natur noch einen Tod." Anders zu sein ist nicht nur interessant, sondern auch widerständig. Leverkühns Musiklehrer weiß nicht, wie recht er hat, wenn er seinem Schüler prophezeit, wer »gegen das Abgeschmackte und alles dem Publikum Bequeme« sei, werde es »schwer haben, äußerlich wie innerlich« [166]. Sein eigener »innerer Kosmopolitismus« [180] zwingt Adrian Leverkühn, sich leer und offen zu halten, weil er sonst Raub am Möglichen und Potentiellen beginge. Leverkühns Hervorkehrung indigestiösen Leidens legt die Tiefenstruktur jener

10 Vgl. T.W.Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main 1973, S.9. 11 Vgl. Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/Main 1974, S.49.

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Arbeit frei, die das schöne Kunstwerk vergessen zu machen sucht. Leverkühn lehnt das einfach nur schöne Kunstwerk wegen seiner Scheinhaftigkeit ab und offenbart den ringenden Prozeßcharakter von Kunst selber. Die Problematisierung der künstlerischen Produktion vollzieht sich bei ihm innerlich, auf 6V2 Metern Darm. 12 Leverkühns Verdauungsstörungen stellen die Homogenität des Werks in Frage und entlarven sie als »Lüge« [181]. Daß der Mensch übers Essen einen bevorzugten Zugang zur Natur hat und ihren Geist auf diese Weise erfahren kann, wissen offenbar nur vorurteilsfreie, zu Animismus und »leicht zum Närrischen geneigte Kinder« [12]. So fragt die Tochter der italienischen Herberge, in der Adrian und Schildknapp ihre Ferien verbringen, nach dem Geschlecht der Speise und dem Geist des Löffels. Dort werden sie nicht nur mit Wild, Schwein, Geflügel, Hammel und Fisch bewirtet, sondern werden zur magischen Wandlung von Wein in Blut aufgefordert: »Trinkt! Trinkt!« »Fa sangue il vino« [214],13 In der italienischen Familie erfahren sie etwas von der lebenstiftenden Gemeinschaft beim Mahl. Die Empfehlung der Padrona könnte auch lauten: »Nehmt vom Wein, wandelt ihn neu zu lebensfeurigem Blute«. 14 Das Auffällige daran ist, daß das Wunder der Wandlung nun in den irdischen Verfügungsbereich des Einzelnen tritt. Bei Wagner wird es zur ethischen Forderung nach diesseitigem Mitleid (compassio). So fordert denn die Tochter der Wirtin erneut auf: »Bevi! Bevi!, Fa sangue il vino!« [219]. Diesen Rat bezweifelt die Padrona sofort mit den Worten: »Spiriti? ... Spiriti? ...«. Der (metaphysische) Geist, so scheint die Kleine zu wissen, ist verderbend. Die musikphilosophische 12 Merke: Im Zwölffingerdarm (der Tonordnung der Zwölftontechnik nicht unähnlich) liegen die sich tief einsenkenden »Lieberkühnschen« (Leverkühnschen?) Drüsen. Durch T.M.'s Physiologiestudium des Magens und der Verdauung kann das eine Quelle für die ungewöhnliche Namensgebung des Titelhelden sein. Trotz des Nachweises eines historischen Dr. A. Leverkühn aus Lübeck durch Jens Carstensen (J.C.: T.M. und der historische A.L. In: Schleswig-Holstein. Monatsheft für Heimat und Volkstum, Neumünster 1967, H.2, S.40-43) hat sich in der Forschung die Auffassung vom sprechenden Namen (d.i. nicht der sprechende Darm) durchgesetzt. Danach wird in der Leverkühnschen Kühnheit »das hochgefährdete Dasein seines Trägers« gesehen. Vgl. dazu Peter de Mendelssohn, Der Zauberer; sowie Eckard Heftrich: Doktor Faustus. Die radikale Biografie. In: T.M. Symposion 1975, Hrsg. von Paul G. Klussmann und J.U. Fechner, Kastellaun 1978, S. 1-20. 13 Vgl. Matth. 26, 7/8; Mark. 14,22-25; Luk. 22,14-20; 1 Kor. 11,23-25. 14 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Hrsg.v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt/Main 1983, Bd. IV. S.301.

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Erklärung für diese berechtigte Vermutung erfolgt im anschließenden Kapitel, nämlich daß einzig eine »Transzendenz der Verzweiflung« noch möglich und erlaubt sei, die alles Werkhafte dementiert. Zulässig ist Kunst nur noch als Buße, die als contritio, confessio und satisfactio in der säkularisierten Welt den »unverklärten Ausdruck des Leides« [241] realisiert und damit ihr Abfallen vom Kultus sühnt. Ans verlorene Kultische anzuknüpfen gewährleistet etwa der Glaube an den alttestamentarischen Elohim, der noch einen Schlachttisch hat und keinen Altar. Dieser symbolisiert eine in heiligen Handlungen gegründete Kultur, die nicht durch Symbolisationen zur »humanen Wassersuppe« [283] verdünnt ist. Echter Ritus scheint da zu sein, wo das »Opfer ausdrücklich als das Brot, also die wirkliche Nahrung Jahwes bezeichnet« wird. Zurück zu Leverkühns Leiden. Er hat das Erniedrigende seiner Übelkeiten, Erbrechungen und Magenbeschwerden als »grundsätzlich Vertrautes« anerkannt. In dem Maße, wie das Kunstwerk für sein Anwachsen Energie und Substanz fordert, verliert Leverkühn. Er nimmt nur noch flüssige Speisen [343] zu sich und »liquidiert« sich so zunehmend, wird selber ungegenständlich und inhaltsleer. Der Prozeß der Desubstantialisierung schreitet irreversibel fort. Leverkühn ist zumute wie »Johanni Martyr im Ölkessel« [354], Der Künstler vergleicht sich selber mit dem Opfer, dem »Höllenbraten«. Die Komposition »Dr. Fausti Weheklag« ist in ihrer programmatischen Trostlosigkeit eine Klage. Sie zeigt die »Negativität des Religiösen«, in der der »Johannistrunk des Scheidenden mit den Fremden« als ein »anderes Abendmahl« gefeiert wird.15 Nicht Ein Leib oder Ein Werk wird hier beschworen, sondern Ein Gedächtnis. Und das büßerische Gedächtnis ist die moderne Kunst von »Dr. Fausti Weheklag«.

15 Die Selbstinterpretation eines »anderen Abendmahls« liefert T.M.: »Die Szene mit den Schülern als eine Art negatives Abendmahl. Er will nicht gerettet werden aus Treue zum Pakt mit dem Teufel und weist sie als Versucher zurück. Mit Recht, weil ihre Positivität die von ihm verachtete Welt vorstellt.« Pag. Arch. Bl. 200; Zitiert nach: Lieselotte Voss, Die Entstehung von T.M.'s Roman Doktor Faustus, Tübingen 1975, S.201. Vgl. auch Doktor Faustus selbst, S.489f.

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8.6. Archäologie des Opfers in Joseph und seine Brüder* Ein Bonmot geht um in Feinschmecker-Magazinen. Es besagt, mit der Speisung der 5000 Hungernden in der Wüste sei die Fast-FoodIndustrie erfunden worden. Christus als Erfinder eines Gerichtes, das überall gleichermaßen berechenbar, Wandlungszauber im Zeichen der Hostie bietet. Wo psychoanalytisch motivierte Philosophiekritik die aporetische Ohnmacht von Wissenschaft in Bildern von Höllenfahrt und bodenloser Brunnentiefe wie im Joseph-Roman entlarvt, setzt sie auf die »rollende Sphäre« von oben und unten;1 sie setzt auf einen vorbewußten Überlieferungssockel und auf den Zyklus von Tod und Auferstehung. Manns opus magnum, Joseph und seine Brüder, bietet die Alternative einer »Versammlung« im universellen und gemeinschaftsstiftenden Zeichen, der Oblate.2 Diese aber ist Dargebrachtes und Opfer zugleich, verdinglichte Entsubjektivierung und gemeinsames Brot. Solange der Traum noch die Deutung selber war und der störenden Interpretation nicht bedurfte, 3 war das tertium datur zulässig, und das träumerische Zusammenziehen der Zeit war »erhaltenderen Sinnes«. Josephs Realitätssinn ist nicht an die operationale Durchführung des Satzes vom Grunde gebunden. Thomas Manns Geschichte von Joseph und seinen Brüdern ist die Nachund Umerzählung des Alten Testaments. Sie ist ein Plädoyer für die »lügenhafte Weisheit« [12] der Literatur, insbesondere der Bibel als Weltliteratur. Die vorwissenschaftliche Teilhabe am Herkunftsüberhang durch Geschichte (Mythos) wird durch Josephs Rationalität, seine Entwicklung vom träumerischen, narzißtischen Lieblingssohn, der den Neid und Haß der Brüder auf sich zieht, zum umsichtigen Volkswirt, Ministerpräsidenten und Vize-Gott nicht beeinträchtigt. Die Entfaltung einer »narrativen Ethik« bleibt im Medium des

* Zitiert wird nach der Taschenbuchausgabe in drei Bänden, Frankfurt/Main 1977. 1 Zur Motivübernahme der »rollenden Sphäre« aus Thomas Manns verpflichtendster mythologiegeschichtlicher Vorlage vgl. A. Jeremias: Das Alte Testament im Lichte des Orients; Herbert Lehnert: T.M.'s Vorstudien zur Josephstetralogie. In: Jahrbuch der Dt. Schillerges., VII, 1963, S. 469. 2 Vgl. Heidegger, Zur Seinsfrage. In: Wegmarken, 2. Aufl., Tübingen 1978, S.380. 3 Hörisch, Die Wut des Verstehens, Frankfurt/Main 1988; darin das Kap. »Auslegen gehört Gott zu«.

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Fabulierens. 4 Der Nil bleibt bis zur naturphilosophischen Wasseraufwertung durch Thaies, eine nur erzählerisch zugängliche Naturmacht, die nicht durch Anfangsgründe zu entzaubern ist. Joseph ist ein poeta doctus. Er kann lesen und schreiben und sich dadurch den Menschen und nicht zuletzt Potiphar angenehm machen. Er mißbraucht jedoch seine Gelehrsamkeit nicht zur Produktion von Datenkolonnen oder Auslegungen. Sein Verstehen von doppeltem »Einst« ist nicht in Vergangenheit oder Zukunft gegründet, sondern im Erzählen. Am Ende des fünften Abschnittes des Roman-Vorspiels mit dem Titel »Höllenfahrt« gibt Thomas Mann eine Erklärung für seine Faszination der Geschichten um Joseph. Er schneidet die entscheidenden Themen an: Was uns beschäftigt, ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung, welche dem Worte »Einst« seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht. Hier hat die Idee der Wiederverkörperung ihre Wurzeln. Die Könige von Babel und beider Ägypten [...] waren Erscheinungen des Sonnengottes im Fleische - das heißt, der Mythos wurde in ihnen zum Mysterium, und zwischen Sein und Bedeuten fehlte es an jedem Unterscheidungsraum. Zeiten in denen man darüber streiten konnte, ob die Oblate der Leib des Opfers »sei« oder ihn nur »bedeute«, sollten erst dreitausend Jahre später sich einstellen: aber auch diese höchst müßigen Erörterungen haben nichts daran zu ändern vermocht, daß das Wesen des Geheimnisses zeitlose Gegenwart ist und bleibt. Das ist der Sinn des Begängnisses des Festes. Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist zu leiden, zu sterben und aufzufahren.

Thomas Mann schildert die geschichtsphilosophische Dimension der Zeit, wie sie sich im doppelten »Einst« Ausdruck verschafft, die psychoanalytische Entdeckung der Wiederholung des Unbewußten, die Gleichartigkeit des religiösen Paradigmas von der Fleischwerdung (i.e. Menschwerdung) der Götter, die Durchführungspraxis des Mythos im Mysterium, den antik-heidnischen und vormodernen Zusammenfall von Sein und Bedeutung, sowie die Hoheit des Festes. Thomas Mann vollendet in seiner Goethe-imitatio, was dieser im ersten Teil des vierten Buches von Dichtung und Wahrheit für dringlich erklärt hatte: eine •/osepAs'-Geschichte.5 Die Josephserzählung ist gewissermaßen die 4 D.Mieth, Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephsromane Thomas Manns, Tübingen 1976. 5 Zur Literatur als Doublierung eines Abwesenden vgl. Johann Wolfgang von

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erzählerische und damit rettende »Nachbildung« des verblassenden »Andenkens des Urgestalten«. 6 Die Überführung des »Mythos ins Humane« ist inszeniert als Mangelbefund für eine operational entzauberte Welt, die Sein und Bedeutung endgültig und unwiderruflich geschieden hat. Die Erfahrung der Entzweiung von individueller Freiheit und Allgemeinem, die Hölderlins Dichtung aufgezeigt hat, stellt sich im Joseph als das Problem, wie »göttliche Herkunft und wesentliche Freiheit« [28] zusammengebracht werden können. Einen Ausweg sieht Thomas Mann in den Zeichen des Mysteriums und dem Mysterium der Zeichen, in der diese Trennung noch ungeschieden ist. Mann folgt Goethes Empfehlung, die »Widersprüche der Überlieferung mit dem Wirklichen und Möglichen« zu glätten und den jahweistischen bzw. christologischen Gehalt gleichzeitig nicht zu leugnen.7 Daher rührt der befremdliche Realismus der Tetralogie. In Dichtung und Wahrheit erzählt Goethe auf einem Dutzend Seiten in Anlehnung an 1. Mose die Geschichte der Erzväter und Patriarchen nach und zeigt dabei besonderes Interesse für die Techniken der Religionsstiftung, insbesondere für die Herstellung eines Bündnisses durch Opfer. 8 Sigmund Freud hat das später analysiert. 9 Der Preis für den Erkenntnisdrang ist das Sühneopfer. Wiederholt spricht Goethe von dem zerteilten Opfer, das sich bis zur Prüfung Isaaks gehalten hat. Was sich hinter der ausführlichen Nacherzählung Goethes verbirgt, ist das Eintreten für eine natürliche Religion, eine in Mysterien gegründete, protestantisch-pantheistische Religion, die die lutherische Institutionenkritik aufnimmt. Goethe votiert für die stille Wirkung der »Versammlung«.10 Angesichts des romantischen Nebeneinander von Fabel, Geschichte, Märchen und Mythologie findet Goethe Sicherheit in der »PatriarchenLuft« der »ersten Bücher Mosis.«11 Die Farben, um diese »natürliche Erzählung (...) ins Einzelne auszumalen« fand erst Thomas Mann. 12

6 7 8 9 10 11 12

Goethe, Dichtung und Wahrheit, Viertes Buch, Erster Teil, Münchner Ausgabe. Sämtl. Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Karl Richter u.a., München 1985, Bd. 16, S. 132. Ebd. Ebd., 137. Ebd., 145ff. S. Freud: Totem und Tabu, Studienausgabe, Bd. IX. Frankfurt/Main 1974. Ebd., 151. Vgl. Goethes Divangedicht Hegire von 1814. Ebd., 152. 139

Das Problem, das an der oben ausführlich zitierten Stelle aufgezeigt wird, ist das der spezifisch modernen Inkongruenz von Sein und Bedeutung, das der Differenz von parmenideischer Seinserfahrung und cartesischer Rationalität, der zunehmenden Verflüchtigung von Sein in einer desubstantialisierten und gleichzeitig expansiv vergegenständlichten Welt.13 Es ist zugleich das zentrale Problem im Abendmahlsstreit, dem »konfessionellen Bürgerkrieg um den absoluten Text«.14 Thomas Mann entscheidet sich für die Auffassung vor dem augustinischen Symbolismus der Transsubstantiation und den Abendmahlsstreitigkeiten des 9. und 11. Jahrhunderts. Er teilt mit Luther die Auffassung von der Konsubstantialität von elementum und sacramentum, von Sein und Zeichen der eucharistischen Elemente, bzw. der Hostie. Angesichts der Maschinisierung der Erfahrung scheint eine pantheistisch oder kosmogenisch gestellte Frage, die von Erlösung absieht [28] und hinter den Sündenfall zurückzutreten versucht, obsolet, gar reaktionär. Wonach Thomas Mann aber im Namen des Abendmahls fragt, ist die humanistisch, zivilisatorische Dimension, der kulturelle Gemeinsamkeitswert, die intersubjektive Verbindlichkeit und universelle Menschheitsverknüpfung im Mysterium von der Eucharistie. Fundamentalontologisch ausgedrückt: er fragt nach dem Kultus des Abendmahls, weil es ihm über das Sein von Dasein Auskunft zu geben scheint. Die literarisierte Genese von Opfer, Totem, Ritual und Kommunion soll die unbefragte Selbstverständlichkeit der »Weltlichkeit von Welt« und insbesondere ihre Bedeutungshaftigkeit illustrieren.15 Hinzu kommt die Einsicht in die opferfordernde Maßgabe von Sein. Mit dem Austritt aus dem Paradies, dem Abfall vom ewigen Sein und mit dem Eintritt in die Geschichte wird die Geburt von Arbeit, Produktion, Tausch, Abstraktion und Opfer eröffnet. Ihr Telos ist Mangelbeseitigung. Dem Sündenfall der Entäußerung im Opfer folgt die Permanenz seiner Aufhebung; der Widerruf stiftet Bedeutung. Die Opferadresse aber ist Bedeutung. Die Genese des Opfers von der Totemmahlzeit bis zur abstrakten Hostie zeichnet die Josephsgeschichte nach. Sie ist gleichsam eine Geschichte des Opfermahls in nuce. Das literarische Abendmahl der Josephstetralogie ist ikonographisch 13 Vgl. Lukäcs, Verdinglichung. 14 O. Marquard: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist. In: O . M . , Abschied vom Prinzipiellen. Philos. Studien. Stuttgart 1981, S. 1 1 7 - 1 4 6 . 15 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, §17.

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zwischen Pietä und Passion situiert. Es ist die Rekapitulation und Wiedererinnerung (Anamnese) des stellvertretenden Leidens. An dieser Stelle seines opus magnum zeigt Thomas Mann ein für die Moderne konstitutives Auseinanderfallen von Sein und Bedeutung auf, das für alte Religionen nicht galt. Mit Absicht spricht er nicht von Sinn und Meinen, sondern von Sein und Bedeutung. Damit weist er auf das komplexe Problem des »Verweisungszusammenhangs« von Sein, Welt und Bedeutung hin. Der Krieg, dies ist der unausgesprochene antifaschistische Impuls des Romans, glaubt sich in seiner gewalthaften Mächtigkeit übers Sein hinwegsetzen zu können, es regieren zu können, selbsternannter »Geschäftsführer des Weltgeistes« zu sein. Die Nationalsozialisten setzten ein eindimensionales Beherrschungsverhältnis aus Gewalt über widerständige und komplizierte Welterfahrung. Die Bedeutung ist aber nicht einfach der außersprachliche Gegenstand einer Sache oder eines Sachverhalts. Die konstitutive subjektbildende Kraft der Bedeutung ist gerade das Unbeherrschbare, das sich einzig in »Sprachspielen« erschließen läßt. Der nicht festgestellten individuellen Bedeutung steht der generalisierende Begriff des Seins gegenüber. Dessen Gegensatz zum Meinen liegt in der überindividuellen Sinnstiftung. Was der Meinung also fehlt, wohl aber der Bedeutung in der Hostie zukommt, ist die Allgemeinheit des Gedankens.16 Und die wird vorzüglich im Fest, bzw. in der Feier der Eucharistie offenbar. Das Kapitel »Höllenfahrt«, die Reise in die bodenlose Tiefe der Vergangenheit, wo ES herrscht und ICH werden soll, wird abgeschlossen mit einem Lob des Festes. Der Dichter als (kongenialer) Priester versteht sich auf das »Lebensfest«. Denn es ist des »Geheimnisses Feierkleid« und erfüllt, was abhanden gekommen war: die Verschmelzung der Zeit, die sinnliche Beziehbarkeit des Festanlasses für die Gemeinde oder das Volk und die solidaritätsstiftende Gottesfurcht. Ob Kybele-Kulte, Bacchanalien, Saturnalien, Dionysien, jüdisches Lichterfest (chanukka), Pessach oder das Sakrament der Eucharistie: im mythischen Fest wird das Geheimnis dem Volke offenbar: als Wiederholung, Wiederverkörperung. Feier bedeutet Anerkennung der eigentlichen metaphysischen Wahrheit, ist weltliche Religiosität.17

16 Vgl. G.W.F.Hegel, Sämtl. Werke, Hrsg.v. H.Glöckner, Bd. 17, S.40. 17 Manfred Dierks: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum Tod in Venedig, Zauberberg und zur Josephs-Tetralogie, Bern 1972, S.94.

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Überhaupt nimmt das Fest, insbesondere wo es sich als Mahlzeit vollzieht, eine bevorzugte Stellung im Mannschen Motivinventar ein. Denn das Fest zeigt über alle konfessionellen und religiösen Grenzen hinweg eine spezifisch menschliche Ausdrucksform der Verbundenheit; der Verbundenheit untereinander, aber auch mit dem Gott bzw. dem Göttlichen. Was Thomas Mann an den antiken, babylonischen und alttestamentarischen Festen fasziniert, ist die Strukturhomologie von Totemmahlzeit und christlichem Abendmahl. 18 Frazer nannte diese Ähnlichkeit »Gott-Essen«. Das Abendmahl bzw. die Hostie ist im Joseph ein Leitmotiv - vergleichbar der Familienchronik in den Buddenbrooks oder der Taufschale im Zauberberg - , das für Tod und Geschichte steht und an die ältesten Schichten der Menschheitsgeschichte, an die abrahamitische Geschichte anknüpfen läßt. Thomas Mann ist mehr am Religiösen denn am Konfessionellen interessiert.19 Die allen Religionen gleichen Fragen nach Tod und Auferstehung interessieren ihn. Insoweit diskutiert er auch nicht, ob es sich beim letzten Abendmahl um ein Passahmahl handelt oder nicht, was es im übrigen wohl auch nicht war.20 Das Religiöse zeigt sich bereits im animistischen Brandopfer. 21 Heilige Zeichen und fromme Handlungen gab es also schon lange vor dem Christentum. 22 Doch erst im Christentum werden sie zur Sakramentaltechnik, in der das Blutopfer durch Wandlungsopfer abgeschafft zu sein scheint. Daß in Manns Sicht in das Abendmahl zahlreiche Traditionen religiöser Praxis eingegangen sind, zeigt sein Rückgriff auf das breite Spektrum der Tammuz-Osiris-Dionysos Mythen.23 Es sind alles Leiber zerrissener Gottessöhne. 24 Thomas Mann hebt die Archetypik der Opfervorgänge hervor. Ein ernüchtertes, unerotisches, platonisches Gastmahl [53] wird ebenso alludiert wie ein exzessives, christliches Fisch- bzw. Gott-Essen 18 Dies hat ihm jüngst die Beurteilung des Joseph als »göttlicher Jokus« eingetragen. Vgl. Werner Frizen: Joseph als Anti-Christus. In: Thomas Mann Handbuch, Hrsg.v. H.Koopmann, Stuttgart 1990, S.319. 19 Vgl. Thomas Mann, Fragment über das Religiöse (1930), XI, 4 2 3 - 2 5 . 20 Vgl. Ev. Theologie 10/1950/51, S.508ff. 21 Vgl. Freud, IX, 366; im Josephsroman, S.42. 22 Vgl. das Frazer-Zitat am Ende von IV, 6. in Freuds Totem und Tabu: »the Christian communion has absorbed within itself a sacrament which is doubtless far older than Christianity.« 23 Vgl. Lehnert, 469; s. Anm. 1. 24 Zum zerrissenen Gott, welcher ja auch Dionysos war, vgl. T.M.: Freud und die Zukunft, S. 584 und T.M.: Briefe I, 262: Joseph ist eine »typhonische Tammuz-Osiris-Dionysos-Form«.

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[53]. Nun soll man nicht hinter jedem Fisch den christlichen Gott wittern, wie hinter jeder Bach'schen Triole die Dreifaltigkeit, aber der bildungsekstatische Thomas Mann überläßt nichts dem Zufall. 25 Was Thomas Mann mit seinen Beispielen aus der Praxis des Brandopfers zuvörderst leistet, ist eine »Analyse des Opferwesens«.26 Dem stets an Leibbeschwerden leidenden Thomas Mann mußte die Heiligkeit der Eingeweide beim Brandopfer besondere Beachtung wert sein.27 Überdies ist es eine vorwissenschaftlich-archaische Weise des Zeichendeutens und -auslegens, die im Prozeß der Zivilisation verloren gegangen ist.28 Von Theologen wird der Joseph-Rom&n gerne belächelt, weil er sich an die »Panbabylonische« Auffassung von A. Jeremias anlehnt, nach der die Abrahamreligion mit »der altorientalischen Religion (...) verbunden war«. 29 »Theologen und Germanisten haben immer wieder darauf hingewiesen, daß Thomas Manns originäres Wissen über das Christentum eher spärlich (vgl. Lehnert 1965), seine exegetische Grundlage einseitig (G. von Rad 1965) und sein Bild vom Christentum immer auch aus zweiter Hand ist«.30 Der Josephtoman will jedoch nicht eine detaillierte, prosaische Nacherzählung der ersten Bücher Mose sein, sondern eine Archäologie des Opfers; eine Hinwendung, Besänftigung und Kommunion mit dem Gott bzw. dem Göttlichen. Freud behauptet (im Anschluß an Robertson Smith), »daß das Opfer am Altar das wesentliche Stück im Ritus der alten Religion gewesen ist«.31 Von der »ältesten Form des Opfers« in diesem Sinne, vom Tier- oder Sühneopfer berichtet der Erzähler des Joseph mehrfach [42, 135].32 Befremdlich für einen streng christlichen Leser des Josephromans ist eine Umdeutung der Genesis, in der Thomas Mann Juda, den Sünder, zum Segensträger macht, gläubige Rede und heidnische Mythologie einebnet und vor allem Joseph als säkularen Messias, als Volkswirt

25 Zur kochtechnischen Synthetisierung von Blut und Gott vgl. das Buddenbrooks-Kap. dieser Arbeit. 26 Freud, IX, 417. 27 Vgl. hierzu die zahlreichen Tagebucheinträge des Jahres 1933. 28 Vgl. W. Benjamin, Das älteste Lesen; ebenso die Kotbeschau auf dem Bild Kinderspiele von Pieter Bruegel d.Ä. In: P.B. Die Kinderspiele, Bern 1961, Tafel 6. 29 A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Orients, 303. 30 W. Frizen, Joseph, 308; s. Anm. 18. 31 Freud, IX, 418. 32 Ebd.

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und Ernährungstechniker beschreibt. Wenn diese biblische Erzählung Thomas Manns also durch ihre Profanität auffällt, könnte man umgekehrt nach der Biblizität der übrigen profanen Erzählungen fragen. 33 Denn sowohl in den frühen Erzählungen (Tristan, GladiusDei...) wie in Buddenbrooks, Zauberberg und Doktor Faustus finden sich christologische Anspielungen und das Religiöse wird thematisiert. Für diese Romane gilt, was Thomas Mann über den Zauberberg gesagt hat: »Da in seinem Zentrum das humane Problem, das Rätsel des Menschen steht, bin ich nicht weit entfernt, ihn ein religiöses Buch zu nennen, worin seine Einschläge in Fleischesmystik mich nur bekräftigen können«. 34 Diese Fleischesmystik ist es, die Thomas Mann unablässig im sakralen wie profanen Sinne thematisiert. Und das nicht nur am Rande, sondern im Zentrum der Romane. Sämtliche Protagonisten (oder »Commensalen«, wie man mit Freud sagen müßte) haben Schwierigkeiten mit ihrem Gott-Essen.35 Denn die Gemeinschaftserfahrung bleibt ihnen aufgrund der radikalen Vereinzelung in der Moderne versagt.36 Der Erzähler ist vom Fest, vom Opfer- und Mahlzeiten-Fest begeistert, weil es eine »öffentliche Zeremonie« und »allgemeine Angelegenheit« ist,37 die die »Zusammengehörigkeit untereinander und mit der Gottheit« feiert und regelmäßig wiederholt. Was Thomas Mann offensichtlich am Opfer fasziniert, ist neben der kultischen Praxis der archaische, insbesondere der vortheoretische Status von Opferhandlung und Opfermotiv. Die alten Religionen überliefern zwar Opferbeschreibungen, 38 haben »aber keine ausgearbeitete Theorie des Opfers«. 39 Seine materielle Evidenz aber gerade ist es, die von den Philosophen kritisiert und zugunsten einer platonisch-christlichen Gesinnung desubstantialisiert worden ist.40 Die löbliche Ablösung des alttestamentarischen

3 3 Beispielsweise von den gourmandisierenden vier Evangelisten in der frühen Erzählung »Gefallen«. 34 T.M., XI, 425. 35 Vgl. Berger, Motive, 170 und T.M., X, 250. 36 Daraus erklären sich Zerstückelungsphantasien, auf die M.Dierks hingewiesen hat. Vgl. M.Dierks: Doktor Faustus unter dem Aspekt der neuen Narzißmustheorie. In: T.M. Jb. 1989, 2. Hrsg. von E.Heftrich und H. Wysling, Frankfurt/Main 1989, S. 2 0 - 4 0 . 37 Freud, ebd. 38 Vgl. Homer, Ilias, I, 447f. 39 Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel/Stuttgart 1984, Bd. 6, Sp. 1223. 40 Vgl. Piaton, Eutyphron 14c; Heraklit VS I 11 - B5 und im Josephsroman S. 355; zur Dematerialisierung des göttlichen Wesens vgl. auch Freud, IX, 418.

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Brandopfers und Opferkultes durch den Opfergedanken wird vermittelt durch symbolische Sinnsysteme und die Verschiebung auf propositionale Gehalte, die der »Anarchie der Zeichen« wehren sollen.41 Das Christentum nun kennt nur noch ein einziges Opfer, und zwar das Opfer im Sakrament der Eucharistie. Für dieses Opfer nun gibt es ein Zeichen, eine »sakramentale Semiotik«:42 die Oblate. Luther hingegen wendet sich gegen den Opfercharakter der Messe, gegen das Meßopfer und betont den Akt des Gedankens: »Wir sollen geystlich opffern«. 43 Der aufklärungskritische Universalpoet Friedrich Schlegel glaubt zu wissen, daß nach der Abschaffung des Menschenopfers »stellvertretende Surrogate« nötig sind.44 In den Zeichen der Eucharistie und ihrer symbolischen Abständigkeit drückt sich eine positive Religion aus, eine »Anerkennung der allgemeinen Macht«.45 Gleichzeitig ist der Opfertod »Rückkehr ins Unendliche«.46 Der Fall in den Brunnen zu Beginn des Romans ist dann ein Bild für den Fall in die Unterwelt, in »heilig Vorheiliges«.47 Die These von der Herkunft der christlichen Kommunion aus der Totemmahlzeit hat Thomas Mann aus Freuds »Totem und Tabu« übernommen. 48 Die »seelisch-sittliche Verfeinerung« unterscheidet die Kommunion von der Totemmahlzeit.49 Beiden ist die »Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gotte« gemein. James Frazer schreibt dazu: »Die Christen essen ihren Gott«. Das Fleisch ihres geopferten Gottes. Das Christentum als Ur-Belebung des Religiösen«.50 Totemmahlzeit, Kronos-Mythe und jüdisches Ritual werden in dem Kapitel »Urgeblök« durcheinandergewürfelt, um ihre Ähnlichkeiten zu demonstrieren. Das christliche Abendmahl wird historisiert und in eine Genealogie von Totemismus und Opfermahlzeit gestellt. In der 41 Hörisch, Zeichen, in: Derrida, Stimme, Frankfurt/Main 1979, S. 11. 42 Vgl. Manfred Schneider: Luther mit Mc Luhan. In: Diskursanalysen 1, Medien. Hrsg. von F.A.Kittler, M.Schneider, S.Weber, Opladen 1987, S. 13-26. 43 Martin Luther, Weimarer Ausgabe, I, 6 (1888), 368. 44 Friedrich Schlegel, Philosophie der Geschichte. 6. Vorl. Krit. Ausg. Hrsg. von Ernst Behler, 9, München, Paderborn, Wien 1971, S. 145f. 45 G.W.F.Hegel, Vorl. über die Philos. der Religion, Jub.A., Hrsg. von H. Glockner, 4.1961, 16, 137. 46 Schlegel, Phil. d. Gesch. 12, 36. 47 Kap. Urgeblök, S.139. 48 Vgl. Lehnert, 481. 49 T.M., IX, 259. 50 Vgl. im Kap. Urgeblök S.259f.: »Aber wahrlich ich sage euch, es wird geschlachtet werden, der Mensch und der Sohn statt des Tieres und an Gottes statt, und aber werdet ihr essen.« 145

Parallelisierung des Opfertods Christi mit dem »Mythologem des stellvertretenden Gott- bzw. Tieropfers« sieht R. Berger den »christologischen Aspekt« hervortreten.51 Mir scheint hingegen bei Mann eher die Unvermeidbarkeit einer universellen Opferstruktur hervorzutreten, und das nicht nur im Hinblick aufs Religiöse, sondern auch aufs Profane. Thomas Manns Romanhelden opfern unablässig. Die Anspielungen auf die Eucharistie erfolgen also keinesfalls in »parodistischer Absicht«.52 Wenn sich auf den Josephsroman die formelartige Charakterisierung Ernst Blochs anwenden läßt, derzufolge der Roman die »Umfunktionierung des Mythos ins Humane« ist,53 dann läuft diese vorzüglich übers Essen. Denn Joseph ist, und das wird von begriffsverpflichteter und auslegungswütiger Literaturwissenschaft hartnäckig mißachtet, 54 seinem Titel und Namen nach: »der Ernährer«. Und das hat schlechterdings mit Essen zu tun. Mann müht sich im Joseph an einer apollinischen Kehre,55 die versucht, »ohne den modischen Antiintellektualismus«,56 ohne »die ultraromantische Verleugnung der Großhirnentwicklung« auszukommen.57 Joseph ist aber immer noch antiintellektuell genug, um als »oberster Mund« [1189] Potiphars bezeichnet zu werden. Der Mund aber ist ein »Weltorgan«.58 Denn über ihn läuft die primäre Form der Weltaneignung, »die Aufnahme von Nahrung«. 59 Zugleich ist er das Differenzorgan, das zwischen einverleibendem Organismus und einverleibter Außenwelt die Grenze zieht. Er ist die institutionalisierte Freßmaschine, die »Mundmaschine«. 60 Je mehr Joseph zur säkularen Versorgungsmaschine wird, tritt seine religiöse Rolle als Heilsträger zurück.61 Oder geht letztere etwa in erstere über, bzw. ist erstere nur in letzterer überhöht worden? Bestimmt

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Berger, 159f. Berger, 171. In einem Brief an T.M. vom 23. Juni 1940. Zur Wut des Verstehens s. Anm. 3. Vgl. dazu Hermann Kurzke: Thomas Mann im Exil. In: V. Zmegac (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur, Bd. III, Königstein/Ts. 1984, 272-87. Ebd. T.M., Lebensabriß, 1930, XI, 98-144. Bazon Brock: Essen als Weltaneignung. In: Essen in der Arbeitswelt. Tatsachen, Ursachen, Hypotheken, Hypothesen. Eine Ausstellung im Int. Designzentrum Berlin, IDZ 3, Berlin 1972, S.38. Ebd.; vgl. auch das Gedicht Mund von H.M.Enzensberger. In: H.M.E., Die Gedichte, Frankfurt/Main 1983, S. 176. Vgl. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, Frankfurt/Main 1974, S.7. Vgl. Kurzke, 285.

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das nutritive Sein etwa nicht nur das gesellschaftliche Bewußtsein, sondern auch das Religiöse? Läßt sich also nur gut essen, was sich gut denken bzw. glauben läßt, wie Levi-Strauss behauptet? Thomas Mann findet dazu eine folkloristische Formel: »Nährst du meinen Bauch/Ehr' ich deinen Brauch« [514], So schwankt die Geschichte Josephs unaufhörlich zwischen profanen Essens-Feiern auf der einen Seite und Opfer- bzw. Tempelmahlen auf der anderen. Aus diesem »Synthesegedanken«62 von bierseligem Gänsebraten [220, 630, 1216] und Ostermahl [353,354], von weltlich-leiblicher Speise und überweltlichem, sprich göttlichem Gemeinschaftsbeweis erwachsen Humor und Ironie des Romans. Individueller Hunger, wie jener, der Joseph im Brunnen quält [431] und der an die Erfahrung des Erwählten erinnert, sowie die gastrointestinalen »Leibesbeschwerden« des Pharao [722, 733, 736, 1028] tun ein übriges, um den Roman mit befremdlichem Realismus auszustatten. Am häufigsten werden Gänse und Enten genannt [220, 595, 630]; Geflügel also, das nicht nur von Thomas Mann bevorzugt verspeist wurde und als besonders festlich galt und immer noch gilt, sondern auch zu den begrenzt flugfähigen Tieren zählt, das, mit anderen Worten, halb dem Himmel und halb der Erde angehört. Das Interessante an Josephs Bildungsgang bis zum Landwirtschaftsminister ist der Wandel, den er im »Prozeß der Zivilisation« durchmacht. Joseph macht sich in Ägypten mit einem fremden Symbol- und Sinnsystem vertraut. Im Geist mantischer Prognostik lernt er das Unlesbare (Unverschriftete) als »Quelle verlässiger Omina« zu deuten. Während die Ägypter sich dem Nil als einer naturmystischen Ernährer Gottheit [1179] ausliefern und die alimentäre Versorgung für unbeeinflußbar halten, plant Joseph hingegen agrartechnisch. Die Erfahrung des Wunders der Speisung überläßt er nicht dem Zufall. Vielmehr schreitet er zum Wissen von der Ernährung voran [821]. Nährwertorientierte Fragen der Ernährungstechnik und der Bevölkerungsversorgung stehen im Zentrum seiner Überlegungen. Doch bevor Joseph zum Landwirtschaftsminister ernannt wird (eine ähnliche Männerkarriere, wie sie Goethe unter Herzog Karl August gemacht hat), hat er Potiphars Traum von der kleinkindlichen Fehlversorgung gedeutet. Kaum von dem Traum unterrichtet, »und seine Gedanken umspielten die Denkbilder der Nahrung, der Hungersnot und der Vorsorge« [1027]. 62 Kurzke, 282.

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Joseph ist nicht nur maieutischer Traumknecht, sondern auch Amme des Pharao. 63 Joseph deutet den Traum vom Versorgungsnotstand und beruhigt den beunruhigten Pharao mütterlich.64 Denn den Pharao quälen Magenbeschwerden und Brechreiz [1028, 29,30, 31]. Er ist ein Herrscher, ein König, ein Gott, der krank ist. Er ist ängstlich. Und er hat allen Grund dazu. Was er träumt, ist beängstigend. Er träumt von Häßlichkeit und Fraß. Die gewohnten Ordnungen sind enthoben. Kühe, gemeinhin wiederkäuende Vegetarier, fressen Kühe. Das Elendsvieh frißt das Prachtvieh. Der Schmutz frißt die Reinlichkeit, der Tod frißt das Leben. In jenen kompensatorischen Fraßphantasien des Traums von der »unausführbaren Gefräßigkeit« [S. 1041] drückt sich die Furcht vor der Mutter, der Frau als dem gefräßigen Fremden aus. Die Übelkeit des Pharaos überrascht nicht. Allzu große Bissen hat er bislang verschluckt. In seinem Traum wird aus den Worten der Verheißung Fleisch.65 Der Pharao sieht sich genötigt, in dem Deuter Joseph ein »inspiriertes Lamm« zu sehen. Dieser aber entzieht sich der Identität durch paradoxe Rede: »Ich bin's und bin's nicht« [1061] In Josephs Worten, in Christus, im Opfer, in der Hostie findet der präsenzphantasmatische Übergang vom Signifikanten zum Signifikat statt, eingedenk der unüberwindlichen Trennung von Symbolischem und Realem. Die »Verleiblichung des Höchsten« [961] findet nicht nur geistig statt. Der göttliche Geist erhält einen Körper, der nicht nur Wort-Körper ist. Verlebendigung des Göttlichen ist zugleich Ablösung vom Naturkörper. In die Erfahrung dieser »lebensvollen« Fülle [961] bricht der Traum als Annonce einer Versorgungsunterbrechung ein.66 Dieser Störung ausschließlich widmet sich Joseph als »Ernährer des Mangels« [1077], Er begründet eine Ökonomie der Fülle und wird zu deren »Zuchtmeister«. Joseph, der zum Synonym von Sättigung im alimentärnutritiven wie im philosophisch-ontologischen Sinn wird, dessen Name zum »Sättigungsnamen« [1114] geworden ist, begründet zwischen Seinssammlung [1074] und Seinsembargo, Sinnanhäufung und Bedeutungszüchtigung einen Merkantilismus des Seins. Joseph macht aus der Seinsverknappung ein Geschäft, ein »Korngeschäft« [1184] und ein Seinsgeschäft. Das atomisierte Opferbrot wird zähl-, wieg-, meß63 Vgl. den ersten Satz der Erzählung Der Kleine Herr Friedemann: »Die Amme hatte die Schuld«. 64 Freud, II, 117, 330f„ 406; s. Anm.3. 65 Joh. 1,14. 66 Vgl. Joh. 1,16.

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und zahlbar. Es wird tauschfähig. Gleichzeitig wird es »Treffpunkt« [1074] von Nicht-Sein, Abstraktion, Begriff, Allgemeinem und Sein (Konkretion, Bedeutung, Besonderem). Joseph ist der Begründer (nicht etwa von appeasement-Politik, oder von New Deal, wie es marxistische Literaturwissenschaft liest, sondern) einer mythisch-merkantilistischen Opfertheorie [1077]. In volkswirtschaftliche Begrifflichkeit übersetzt: Opfer ist das Fundamentalprinzip der Besteuerung, das eine Zwangsabgabe fordert und den Aufschub des Nutzenentgangs im Namen der Seinsverwaltung entschuldigt. 67 In diesem Sinne ist der Mannsche Mythos das Wort, das »wahr« ist und sein wird, als Selbstoffenbarung des Seins in dem altehrwürdigen Sinn, der zwischen Wort und Sein nicht unterscheidet«. 68 Thomas Manns Erzählen kreist unaufhörlich um das Problem der Vermittlung von Zeichen und Bedeutung [471], Sein und Bedeutung [500], soma und symbol, Leib und Leben, zwischen »dies ist« und »dies bedeutet« [500].69 Im Josephroman wird an den Beispielen des Essens, des Opfers und der Oblate, des Dargebrachten, der Verweisungszusammenhang von Signifikat und Signifikant problematisiert. Der Roman teilt die Geschichte des Abfalls vom Seinsgrund mit und versucht zu rekonstruieren, wie es vordem war: »für den primitiven Menschen fällt das Zeichen mit dem Gezeigten zusammen. Das Zeichen selbst kann das Gezeigte vertreten nicht nur im Sinne des Ersetzens, sondern so, daß immer das Zeichen selbst das Gezeigte ist«. 70 Es handelt sich bei diesem Zusammenfall von Zeichen und Gezeigtem nicht um eine erste Objektivierung, sondern um das »gänzliche Fehlen einer solchen«. Es geht Thomas Mann in seinem umfangreichsten Werk um nichts weniger als ums »Ganze« [1029]. So bringt er es fertig, antiken Mythos, römische Götter, heidnische Kulte und christliche Mysterien in einem Zuge aufzurufen: Demeter und Dionysos, Ceres und Bacchus, Oberbäcker und Mundschenk, Osiris und Tammuz, Persephone und Hekate, Kybele-Kult und eleusinische Mysterien [1004ff.]. 71 Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine »religiöse Travestie« (Berger, 173), sondern

67 Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon. 11. Aufl. 4. Bd., Wiesbaden 1984, S.559. 68 W.F.Otto: Gesetz, Urbild, undMythos, Stuttgart 1951; wiederabgedruckt in: Die Gestalt und das Sein, Darmstadt 1955, S. 25ff.; vgl. auch im Joseph S.471, 500. 69 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §17 und 18. 70 Heidegger, Sein und Zeit, S. 82. 71 Vgl. auch R. Berger, 99-103.

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um eine strukturale Archäologie des Opfers. Zeit und Seinsmangel werden im Opfer abgegolten. Das Mahl mit den Brüdern schließlich, die (antifaschistische) Vereinigungsutopie von Fremdem und Eigenem, von Ägyptern und Hebräern, stilisiert der Erzähler einerseits zu einer Friedensszene, andererseits zum politisch-pragmatischen Ereignis. Behutsam äußert Thomas Mann historische Zweifel daran, daß das letzte Abendmahl (in der vorverlegten Typisierung durch den alttestamentarischen Joseph) ein »Herrenmahl«, also das jüdische Pessach bzw. Ostermahl gewesen ist. Denn weder Frauen noch Kinder nahmen am historischen Abendmahl teil, wie es allerdings für Pessach üblich ist, noch wird der obligatorische Segensspruch gesprochen. Auf diese Weise ironisiert Thomas Mann das wichtigste Mahl des christlichen Abendlandes, und er nennt es ein »Geschäftsfrühstück«, einen politischreligiösen Lunch mit kathartisch-anamnestischer Wirkung. Die Botschaft des Brotes aber ist nicht nur die vom berechtigten Vorrang der humanistischen Zivilisation und des »gesitteten Völkerlebens«,72 die sich damit deutlich von Spenglerschen Untergangsvisionen absetzt, sondern auch die Botschaft vom opferarchaischen Paradigma des gegessenen Gottes [1295].

72 Vgl. Heftrich, 472, in: Koopmann, T.M. Handbuch.

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8.7. Hermeneutik des Opfers Thomas Manns literarische Essensdarstellungen als Prototheorie des Austausche Die Romantik, die sich vieles zu Herzen nahm und darum oft vom Herzen sprach, übernahm sich nicht selten daran. 1 Und dies schlug ihr auf den Magen. Ihre Kühnheit, wie die des neuromantischen Schelmen Felix Krull, ergriff schnell »Herz und Magen mit banger Erregung«.2 Die Erfahrung, nichts behalten zu können, alles von sich geben zu müssen, bestimmt ihr Dichten und Denken in nutritiver wie metaphysischer Hinsicht. In dem Maße, wie sich Romantik, insbesondere die frühe, dem Unerhörten, dem Unbewußten widmet, leiht sie auch den Geräuschen und Regungen des Innern, den Körperbinnengeräuschen, ihr Ohr.3 Sie fragt nach den psychologischen und eben auch physiologischen Konditionen des Seins um so mehr, je weniger sie sich im Besitz derselben weiß. »Die Welt ist nichts ohne Leben. Was lebt, ißt«, lautet der erste Aphorismus aus Brillat-Savarins Physiologie des Geschmacks von 1826. Diese gastrosophische Kritik der Urteilskraft, die im Untertitel anspruchsvoll »Gedanken zur transzendentalen Gastronomie« verheißt, steht am vorläufigen Ende romantischen Interesses an der Dialektik von Küssen und Bissen, Daseinshunger und Lebensfraß. Das Essen wird als »Akt unserer Urteilskraft« legitimiert: »was angenehm schmeckt, das wählen wir«. Also nicht interesseloses Wohlgefallen läßt uns wählen. Die Kochkunst »wird eine productive seyn, wenn er (der Mensch) nicht blos dem, was seine Sinne wählen folgt; wenn er auch dem, was seine Gelüste verlangen, Genüge zu leisten sucht«, schreibt Joseph Görres.4 Er psychologisiert die Kochkunst zur mimetischen Technik, zur poiesis, der »Plastik des Flüssigen«.5 C.F.Rumohrs Geist der 1 Vgl. Manfred Frank (Hrsg.): Das kalte Herz. Texte der Romantik. Frankfurt/ Main 1978. 2 T.M., Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt/Main 1989, S.40 ( = Fischer Tb. 9429). 3 Wie sehr T.M. romantischer Fremdheitserfahrung (auch des eigenen Körpers) verhaftet ist, dazu vgl. Jochen Hörisch: »Fremd bin ich eingezogen«. Die Erfahrung des Fremden und die fremde Erfahrung in der »Winterreise«. In: Athenäum. Jb. für Romantik. 1. Jg., Paderborn 1991, 41f. 4 Joseph Görres, Ges. Schriften; Nat.wiss. Sehr. I (1800-1803) hg. von Robert Stein, Köln 1932, S. 161. 5 Görres, a.a.O., 158. 151

Kochkunst von 1822 dagegen ist quasi der küchenpraktische und geistvolle Bildungsroman zur alltagstechnischen Lebensführung. Er empfiehlt Lebensordnung durch Mahlzeitenordnung. »Erziehung zum Essen« heißt daher sein pädagogischer Epilog. Am Ende der Kunstperiode scheint Gott nicht im Exil, sondern in der Küche zu sein.6 Heines Götter im Exil, die alten, durch das Christentum »verteufelten« Götter haben bürgerliche Berufe erlernt. Sie sind Kellermeister (Bacchus), Küchenmeister (Dionysos), oder Kaufmann (Hermes) geworden und fristen unbemerkt ihr profanes Dasein.7 Ist die Kunst am Ende oder der Geist aus ihr entflohen, kommt die Küche: »Mime der Künstler, lernt jetzt kochen«, lautet Siegfrieds Kommentar in Wagners Ring dazu. Die Anschlußrationalität der Amme »Mime« heißt nicht Sieg oder Herrschaft über den »Säugling« Siegfried, sondern Kochen. Seine letzte, listige Chance, doch noch ans Rheingold zu kommen, liegt im Versorgungsbetrug. Am Ende der Kunst bleibt einzig der - gleichsam Mutterschoß okkupierende - Gang in die Küche. Darum lautet der erste gesprochene Satz des musikalischen Inzest-Dramas Walküre·. »Wes Herd dies auch sei, hier muß ich rasten«. Nicht Ruhe vor kriegerischer Verfolgung sucht Siegmund, sondern Ruhe vor den Gläubigern des Seins, der »semantisch entwendeten Leiblichkeit«.8 Amnestie vom philosophischen Systemdruck, von Welterklärungsmodellen und geistvollen Spitzfindigkeiten bieten Herd und Küche als lebensweltliche Amalgamierungsanstalt von Nahem und Fernem, Festem und Flüssigem, Heißem und Kaltem, Fremdem und Eigenem, Besonderem und Allgemeinem. Auf das dialektische Verhältnis des Essens von Mensch und Natur, aber auch von Mensch zu Mensch, hat unsystematisch Novalis in seinen Fragmenten hingewiesen. Und Friedrich Schlegel befand in seiner Lucinde: es liegt »tief in der Natur des Menschen, daß er alles essen will, was er liebt«.9 Wie überhaupt die Frühromantik Einsichten erotischer und metaphysischer Verschlingung vorwegnimmt, die erst die ihr verpflichtete Psychoanalyse systematisieren und logifizieren half. In den Lehrlingen zu Sais des

6 Vgl. Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/Main 1988. 7 H . H e i n e , Sämtliche Werke, hrsg.v. Klaus Briegleb, B d . 6 / 1 , 422. 8 U we C. Steiner: Resonanz und Raisonnement. Skizzen zur Theorie medientechnischer Selbstreferenz im Musikdrama Wagners. In: Athenäum. Jb. für Romantik, Paderborn 1991, S. 163. 9 Friedrich Schlegel, Lucinde, Ditzingen/Stuttgart 1975, Reclam, S.17.

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Novalis nennt der Erzähler die Natur ein »Reich der Gefräßigkeit« und eine »fürchterliche verschlingende Macht«.10 Das Leiden an der objektiven Natur und dessen Begehren verschafft sich hier poetischen Ausdruck. So wie Heine für Manns politischen Essay Gedanken im Kriege unübersehbar thematische Anregungen gab, so Novalis für den Essay Von deutscher Republik. Das universalpoetische Programm der Frühromantiker hilft Thomas Mann, seinen Begriff der »Lebenspoesie« zu entfalten," der in den konstitutiven Begriff des »Lebensdienstes« mündet. Die todestrunkenen und nachtseligen Hymnen des Novalis kennen jedoch auch den Trost der eucharistischen Einsetzungsworte:12 Der herbste Kummer fleucht/ Vor deiner goldnen Schale/ Wenn Erd und Leben weicht/ Im letzten Abendmahle. 13

Novalis verbreitet in seiner Schrift Die Christenheit oder Europa von 1799 nicht nationalistische Hitzigkeit, sondern ruft beschwörend zu katholischer Einigung des ungeeinten europäischen Volkes auf.14 Ebenso fordert Mann in seinem Essay nicht eine partikularistische deutsche Republik, sondern eine humanitäre und demokratische Gesellschaft. Die Kriegserfahrung, und »Krieg ist Romantik« hatte Mann geschrieben, trifft sieht mit der existentiellen Todeserfahrung in Novalis' Geistlichen Liedern.15 Ihr humanitäres und metaphysisches Emblem ist das Abendmahl. Wenn es auch der Tod Christi war, »der dieses Lustgelag/ mit Angst und Schmerz/ und Thränen unterbrach«,16 so ist das Abendmahl doch gerade christlicher Hoffnungsträger für Erlösung. Es ermöglicht, den Tod angstlos anzunehmen: »Im Tod ward das ewge Leben kund/ Du bist der Tod und machst erst gesund«.17 Die Sehnsucht nach dem Tode ist ein romantischer Weg zum ewigen 10 Novalis, Werke in drei Bänden, hrsg.v. R.Samuel, I, 211; dort entfaltet Novalis die Dialektik von Anverwandlung und Vertilgung prosaisch. Die Welt ist quasi Rest eines letzten »schrecklichen Mahls«. 11 T.M., XI, 815. 12 Erinnert sei hier an den frühen Tod von Sophie von Hatzfeldt. 13 Novalis, I, 171. 14 Vgl. H. Siefken: Novalis und die Folgen. In: Deutsche Romantik im 20. Jahrhundert. Ein Londoner Symposion. Hrsg. von Hanne Castein, Stuttgart 1986, S. 121-140. 15 T.M., XI, 816. 16 Novalis, I, 162. 17 Novalis, 167.

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Leben: »Getrost das Leben schreitet, zum ewgen Leben hin«. 18 Leib und Blut Christi versprechen »Unendliche Fülle«. 19 A m Tod mißt sich die bedeutungsstiftende Kraft des Lebens. Im Entzug des Seins, in Entzauberung und Mangelerfahrung bewährt sich Lebensdienst. Frühromantisch orientiertes Denken übers Essen und das Abendmahl zeigt demnach zweierlei. Zum einen die lebensweltliche Verschränkung von Essendem und Gegessenem, von Täter und Opfer, von Signifikant und Signifikat. Zum anderen die Nivellierung des Fremden und Anderen im Vorgang der Vereinigung und Umarmung hin zum Einen Leib. 20 Auf der unbedingten Suche nach dem Innern von Freundschaft, Liebe, Glauben und Natur macht Novalis auch nicht vor den Körpergrenzen halt; so bereitet er jenen animistischen Physis-Zauber vor, der in Volkssagen vom Herzessen oder Märchen Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben popularisiert wurde. Novalis schreibt zur Verschränkung von profanem und sakralem Essen: Das gemeinschaftliche Essen ist eine sinnbildliche Handlung der Vereinigung. Alle Vereinigungen außer der Ehe sind bestimmt gerichtete, durch ein Object bestimmte, und gegenseitig dasselbe bestimmende Handlungen (...) Alles Genießen, zueignen, und assimilieren ist Essen, oder Essen ist vielmehr nichts, als eine Zueignung. Alles Geistige Genießen kann daher durch Essen ausgedrückt werden - . In der Freundschaft ißt man in der That von dem Freunde, oder lebt von ihm. Es ist ein ächter Trope den Körper für den Geist zu substituieren - und bei einem Gedächtnißmahle eines Freundes in jedem Bissen mit kühner, übersinnlicher Einbildungskraft, sein Fleisch, und in jedem Trünke sein Blut zu genießen. Dem weiblichen Geschmack unserer Zeiten kommt dies freylich ganz barbarisch vor - aber wer heißt sie gleich an rohes, verwesliches Blut und Fleisch zu denken. Die körperliche Aneignung ist geheimnißvoll genug, um ein schönes Bild der Geistigen Meinung zu sein - und sind denn Blut und Fleisch in der That etwas so widriges und unedles? Warlich hier ist mehr, als Gold und Diamant und die Zeit ist nicht mehr fern, wo man höhere Begriffe vom organischen Körper haben wird. Wer weiß welches erhabene Symbol das Blut ist? (...) Um aber auf das Gedächtnißmahl zurück zu kommen - ließe sich nicht denken, daß unser Freund jetzt ein Wesen wäre, dessen Fleisch Brodt, und dessen Blut Wein seyn könnte? 18 Novalis, 173. 19 Novalis, 190. 20 Von der erotischen Utopie der Aufhebung des principum individuationis lebt der Wagnersche Tristan; vgl. Hörisch, Ver-rückte Liebe in Wagners Tristan. In: ders. Gott, Geld, Glück. Zur Logik der Liebe. Frankfurt/Main 1983, S. 180-205. 154

So genießen wir den Genius der Natur alle Tage und so wird jedes Mahl zum Gedächtnißmahl - zum Seelennährenden, wie zum Körpererhaltenden Mahl - zum geheimnißvollen Mittel einer Verklärung und Vergötterung auf Erden - eines belebenden Umgangs mit dem Absolut Lebendigen (...)· 21

Der Reiz dieses Fragments liegt in seiner Ausdehnung des Vegetativen auf scheinbar nicht Vegetatives. Bei jedem Mahl ist der Mensch der namenlosen Natur, ihrer repräsentationslosen Allgemeinheit ein Stück näher. Dem Vorrang des Objektiven, der Mächtigkeit von dessen Wirkung, dem unbeherrschbaren Diskurs der Natur in uns, gilt Novalis' Aufmerksamkeit. Ist der Freund oder die Natur erst einmal verschlungen, bleibt nur noch Erinnerung und »Gedächtnis«. Es - und das ist ästhetisches Produktionsgesetz bis zu den Expressionisten beginnt im ICH zu arbeiten. Novalis stellt die dreifache Struktur des Mahls heraus: zu mir, zum anderen und zum Allgemeinen. Die merkwürdige Aneignung des fremden Lebendigen außer mir sieht Novalis im Abendmahl und in der Freundschaft wirken. Dadurch kann die eigene Körperlichkeit zum Kontaktort von Natur und Mensch, von Innerweltlichem und Außerweltlichem werden; sie kann zu »Gottes Hochzeitsorgan« werden, wie es im Zauberberg von dem Kaufmann »Peeperkorn« heißt.22 Novalis mundanisiert die religiöse Struktur des Abendmahls, er läßt Körper und Geist, Mensch und Gott, Konsumtion und Produktion, Arbeit und Erinnerung dort zusammentreffen. Das Essen wird damit zum grenzenlosen Ort universalpoetischer Utopie. In einem früheren Fragment nennt er es »Umarmung«.23 Ontogenetischen Anschluß an die phylogenetische Kette liefert das Essen, weil »Essen und Trinken eine Art Vereinigung - ein Generationsact« ist.24 Im Essen konnte romantisches Denken Gott solange ungehindert finden, bis Darwin ihn 1859 aus jeder Verantwortung entließ und den »Generationsact«, die Entstehung der Arten, durch natürliche Zuchtwahl erklärte. Vereinigung und Umarmung suchen die von Novalis inspirierten Schriftsteller wie Thomas Mann, weil sie der schuld- und opferverpflichteten Erfahrung des vereinzelten Daseins entspringt. Was die

21 Novalis, II, 409; vgl. auch die Märchen: Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben, in: Kinder und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke, Frankfurt/Main 1987; und Herzessen. In: J. Grimm; Dt.Mythologie, 2.Bd., Berlin 1981. 22 T.M., Zauberberg, 867. 23 Novalis, II, 385. 24 Novalis, II, 506. 155

Helden Mannscher Romane, von Christian Buddenbrook bis zu Lord Nectan, der Figur mit dem sprechenden Namen im Felix Krull, der durch Nahrungsverweigerung seine »Selbstverneinung« kundgibt, 25 vom Kleinen Herrn Friedemann bis zur Betrogenen treibt, ist der mühevolle Versuch eines Schuldabtrags beim und durchs Essen. Diese Figuren, die sich einzig in ihrer Rücknahme, ihrem zunehmenden Schwinden, ihrer Negation erfahren, affirmieren sich ans Nichts, weil dieses dem Leben durch Verneinung des Willens näher zu sein scheint.26 Nun ist aber ein »im Persephone-Zagreus-Mythos gedeutetes Leben« von Tod und Wiedergeburt,27 wie Thomas Mann es häufig variiert, nicht nur Ausdruck von »Schuld des Daseyns« und Verpflichtung,28 daß wir »der Natur noch einen Tod schuldig sind«, sondern auch gleichsam eine Theorie des Austauschs. Da die Amme Schuld hatte, wie der erste Satz aus der frühen Erzählung Der kleine Herr Friedemann behauptet, glaubt der Leser den Grund für die Behinderung Friedemanns schnell gefunden zu haben. Doch nicht individuelles Fehlverhalten oder Nachlässigkeit stellt der Autor vordergründig dar. Die Amme ist auch das Urbild alles Mütterlichen. Diese trunkene mater rerum, die vielfach beschworene Demeter, ist in der Erzählung das Schreckbild mißglückter Fremdversorgung und unweigerlich schuldgesättigter Abhängigkeit von solcher Versorgung. Friedemann büßt, ohne strafrechtlich schuldig geworden zu sein, durch seine Behinderung. Eigenes Leben hängt zwangsläufig immer von fremdem Leben ab. Dies nötigt zu Verkehr und Austausch mit jenem fremden Leben und nötigt überdies zu Opfern. Subjekt und Objekt verschränken sich auf ungeahnte Weise beim Essen. Felix Knills Verlangen »nach Ausweitung meines Daseins, nach reicheren Möglichkeiten des Austauschs mit der Welt« findet Genugtuung beim Essen:29 ausgerechnet »zu Ostern trat ich in den Kellnerdienst über«. 30 Krull versteht sich als epiphaner Alkibiades, als österlicher Diener, der seine Arbeit einerseits unter reproduktiven Aspekten, am »Anfang und am Ende der Wiederherstellungsprozedur« begreift,31 andererseits aber auch als »persönlichen 25 T.M., Felix Krull, 222. 26 Vgl. A.Schopenhauer, WWV I, §69, S.544. 27 Herbert Anton, Die Romankunst Thomas Manns. München, 3. Aufl. 1972, S.33. 28 Schopenhauer, WWV I, §51. 29 T.M., Krull, 206. 30 Krull, 207. 31 Krull, 209.

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Liebesdienst«.32 Die appetitlosen Helden Mannscher Romane affirmieren sich ans Nichts um der »Güte und Liebe« willen; Selbstverneinung erhöht ihnen die »Fähigkeit zur Bejahung des Anderen«. 33 Opferdienst ist ihnen nicht fremd. 34 Die »letzten im Speisewagen« zu sein,35 macht den Helden Hoffnung, das »Leben, diese Blüte des Seins«,36 dem Tode abzubringen. Was Thomas Mann in seinen häufigen und konstitutiven Essensdarstellungen leistet, ist eine Hermeneutik des Opfers und eine Prototheorie des Austauschs. Seit dem ersten Satz aus dem Kleinen Herrn Friedemann aus dem Jahr 1897 gibt es im Mannschen Schreiben eine thematische Konstanz, gegen deren unchristliche Interpretation er sich noch 1950 in dem Vortrag Meine Zeit wehrt. Es ist das Thema der Schuld. Im Rückblick bezeichnet er die Schulderfahrung als Auslöser seines Schreibens: Wenn es christlich ist, das Leben, sein eignes Leben, als eine Schuld, Verschuldung, Schuldigkeit zu empfinden, als den Gegenstand religiösen Unbehagens, als etwas, das dringend der Gutmachung, Rettung, Rechtfertigung, bedarf, 37

dann ist Thomas Manns Schreiben diesem Schuldverhältnis gewidmet. Darin liegt nicht weltanschauliche Resignation des Alters, sondern die Einsicht in die strukturelle und unumgängliche Opfernot und Zeitverfaßtheit des Daseins. Nichts weniger als individuell-profanen und kollektiv-eschatologischen Schuldabtrag versuchen die essenden und daran scheiternden Helden der Romane zu vollbringen. Das vollmundige Selbstbewußtsein eines souveränen Künstlers, eines lebensüberschauenden artifex dementieren sie beim Essen; genauer, beim Akt der Assimilierung und Einverleibung. »Lord Nectan«, der geschwächte schottische Adelige, dessen Name doch doppelte Heiligkeit in Aussicht stellt (als christlicher »Lord« und als ewige Jugend repr'sentierender antiker »Nektar«) fehlt es selbst auf die besorgte Frage von Krull an Appetit: »Es fehlt immer daran«. 38 Wenn aber die Amme Schuld hat, dann liegt die Schuldzuweisung in der Fremdversorgung. Die Amme 32 Krull, 213. 33 Krull, 223. 34 Vgl. IgnaceFeuerlicht: Rolle, Dienst und Opfer bei T.M. In: Publications of the Modern Language Association of America (PMLA) 1962, 3, S. 318-27. 35 Krull, 287. 36 Krull, 284. 37 T.M., XI, 302. 38 Krull, 222.

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ist nicht nur rerum mater, sondern auch Bild abhängigen Lebens, bestimmten Seins. Und diesem opfern wir unablässig, bis zur körperlichen Versehrtheit (eines Friedemann). An »Leib-Angst« litt Thomas Mann sehr oft. Die Tagebücher geben reichlich Auskunft davon, daß das Ich nicht Herr im Haus des Körpers ist, am allerwenigsten Herr über Magen und Darm. In diesem Sinne ist opfervolles Leben stets von Verwirklichungsaufschub gekennzeichnet. Zur Dialektik von Herr und Knecht gehört es, daß sie die Rollen tauschen und Opfertransit vollziehen. Der Konsument wird selber zum Konsumtionsstoff und frißt sich auf. Der Schuldabtrag, die Selbstexculpation wird durch Opfer stoffaneignung wiedergutgemacht. Das Subjekt erfährt sich als Unterworfenen (sub-iectum) seiner eigenen Eingabe im Verhältnis zu den Dingen, mit denen es Austausch unterhält. Die Verdinglichung nicht nur der Waren und des Bewußtseins, sondern auch der zwischenmenschlichen Beziehungen,39 bringt uns in ein Körper-Ding-Verhältnis der Schuld und des Opfers. Die Schäden des Körpers und die Störungen bei seiner Reproduktion, beim Essen, sind dann die intrakorporellen Profanisierungsschäden der ausbleibenden öffentlichen Opfer. Auf solche Weise verstandene Kunst ist Dienst am Allgemeinen, »Lebensdienst« durch Entzug.40 Daß sich Thomas Mann ausführlich mit dem Begriff des Opfers, mit den Formen des Brand-, Tier-, Menschen- und Gottesopfers beschäftigt hat, ist bekannt, da er Freuds Totem und Tabu sorgfältig gelesen hat. »Im Dienste von etwas Hohem«, läßt Mann seinen Schiller in der Erzählung Schwere Stunde sagen, die man, auf Körper appliziert, eine Verdauungsstunde nennen könnte, sind wir genötigt, »uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern«.41 Ähnlich gestaltet Mann die Nietzsche-imitatio von Adrian Leverkühn im Doktor Faustus nicht zur Parodie eines religiösen Opfertodes, wie es humanistisch orientierte Literaturwissenschaft gerne liest. Es liegt vielmehr ein ernster Wahnsinn darin, wenn sich Nietzsche in seinen letzten Tagen als »Gekreuzigter« wahrnahm. Krankheit und Opfer sind nicht nur a-rationale Zugangsweisen, »um der Menschheit Erkenntnisse zu gewinnen«,42 sie sind auch sich selber die eigene Theorie, Manifestationen einer Verkennung. Mit Kunst und Religion hat es Philosophie nicht nur gemein, »die ganz allgemeinen Gegenstände zum Inhalt zu 39 40 41 42

Vgl. Lukäcs, Verdinglichung. T.M., III, 321. T.M., IX, 123. T.M., III, 643. 158

haben«, 43 sondern auch »Opferschauspiel« zu sein,44 wie es Nietzsche bot. Das »Selbstopfer« Leverkühns illustriert die Einsicht Nietzsches: »Man opfert immer«; 45 »Opfer bringen wir fortwährend«. 46 Um sich am Leben zu erhalten, muß »das animal rationale, das Hunger auf seinen Gegner hat, einen Grund finden (...) Wut aufs Opfer. Das zu fressende Lebewesen muß böse sein«.47 Die Störungen des Austausches von Welt und Mensch lassen Leiden beredt werden in der Dichtung: »denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet«.48 Die Einsicht in die unvermeidbare Opferstruktur ist zugleich eine Funktionseinsicht der Relativität auf anderes hin. Die daran anschließende Substantialitätseinbuße des Subjekts setzt Konsumtion und Produktion in ihr opferforderndes Recht ein.49 Essen bedeutet so den ständig scheiternden Versuch einer Synthesis des Nichtidentischen. Essen ist ein Vermittlungsort von Sein und Seiendem. Störungsfrei kann kein Austausch, kein Essen sein. Das lehren die kranken und freudlosen, die magenleidenden und gastritischen Helden der Mannschen Romane.

43 Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, hrsg.v. Johannes Hoffmeister, 3. Aufl. Hamburg 1959, S.42. 44 T.M., XII, 620. 45 Nietzsche, Werke, XVI (1911), 323. 46 Nietzsche, XII (1901), 140. 47 T.W.Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1983, Bd.6, S.33. 48 Adorno, Dialektik, 29. 49 Adorno, Dialektik, 73.

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9. Ausblick: Küchenkyniker und Menschenfresser Thomas Bernhards Armenküche oder: die Geschichten von Behinderungen sind die Behinderungen von Geschichten

Thomas Bernhard vermag noch etwas auszurichten, wozu Literatur längst nicht mehr in der Lage zu sein scheint. Er polarisiert die literarische Öffentlichkeit in Freund und Feind, weil er zu bestätigen scheint, was Hans Magnus Enzensberger in dem berühmten Kursbuch von 1968 vermutete: »nach Gewißheit verlangt es die meisten, und wäre es die, daß es aus und vorbei sei mit dem Schreiben«. Thomas Bernhard, der in genau dieser Zeit beginnt, die literarische Öffentlichkeit zu »verstören«, hält sich nicht in konjunktivischem Erzählen auf. Beunruhigt er doch gerade, weil er die Erschöpfung verläßlicher Erkenntnis formadäquat literarisch spiegelt. In der Literaturwissenschaft der siebziger Jahre überwiegen seine Gegner. Sie reagieren auf die schonungslosen Haßtiraden und seinen Pessimismus nur mit Ablehnung und werfen ihm Antiemanzipatorik, Antiaufklärung, fiktionale Plünderung und Phantasielosigkeit vor, schulmeisterlich verkennend, daß dort, wo Moderne oder modernes Schreiben zur legitimen Kultur avanciert, Tradition postmodernistisch zur Avantgarde aufläuft. 1 Bernhard ist ein bedingungsloser Stilist. Ein in höchstem Maße aufdringlich fugierender, stilisierender Manierist; ein Stilizist, der das pflegt, was die nachavantgardistische Moderne (Joyce, Proust) gerade hinter sich gelassen zu haben scheint: einen Stil. Er prozediert jene Spielart unernsten österreichischen Barocks in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Welttheater nur eine schäbige Kneipe erkennt. Doch zunächst zurück zur literaturwissenschaftlichen Position der siebziger Jahre. Sie ist von heftiger Politisierung geprägt, die in den achtziger Jahren einer Philosophierung, einer existentiellen Betrachtung, gewichen ist. Bernhard wird nun, auch angesichts seines unübersehbaren Erfolgs, Gegenstand ausführlicher Untersuchungen 1 Christa Bürger/Peter Bürger (Hrsg.): Postmoderne: Alltag, Allegorie, Avantgarde. Frankfurt/Main 1987, S.38f.

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zum Erzählerstatus in der Moderne. In den hermeneutischen Überbietungskämpfen wurden Schlüssel zu einem Werk ohne Schloß gesucht. Wird sein Werk doch beherrscht von der Aussicht, Leiden an der Welt sei einzig durch Schreiben und bissigen Humor erträglich zu machen.2 Ungleichgewichtig ist die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit zugunsten des ersteren, des Leidens, ausgefallen. Es ist die Dialektik von Leben und Schreiben, von Leben tötendem Buchstaben und Leben ermöglichendem Geist, die seine Romane bestimmt. Den hermeneutischen Zirkelzugang aber erschwert, ja verunmöglicht Bernhard durch die Ort-, Ereignis- und Geschichtenlosigkeit seiner Erzählungen und Protagonisten. Antiromanhaft rasen sie ohne Umweg, vom ersten Satz an, entwicklungslos in die Katastrophe. Den bewegungslosen Krüppeln seiner Erzählungen bleibt einzig aufgeregte Sprachbewegung, Buchstabenmobilität.3 Solche Geschichten von Behinderungen aber gestaltet Bernhard zu Behinderungen von Geschichten. Weder linear teleologisches noch resignatives Geschichtsdenken ist in ihnen möglich. Ihnen bleibt einzig aufgeregte Sprachbewegung und denunziatorischer Lärm. In diesem Sinn ist Bernhard frühromantisch. Nicht was die Favorisierung von Krankheit als Erkenntnismittel angeht, sondern was die Ablösung und den Übergang von Sinnmitten in Schrift anbetrifft. Novalis, der Bernhard beeinflußt hat, schreibt dazu: Alles was wir erfahren ist eine Mittheilung. So ist die Welt in der That eine Mittheilung-Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beim Buchstaben stehen geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren: Formularwesen. 4

Der Verlust des erscheinenden tremendum ist der Erscheinung des fascinosum, dem Formular- und Schriftwesen gewichen. Bernhard, der als Gerichtsreporter anfing, versteht etwas vom »Formularwesen«. Seine Prosa, darin juristischen Schriftsätzen nicht unähnlich, ist vertrackt. Seine Texte sind Anklageschriften, deren Täter die Schrift und deren Opfer das Leben ist. Sie handeln von der Unmöglichkeit, Manuskripte - den Übergang von der lebenden Hand in die tote 2 Vgl. Ch. Bürger: Schreiben als Lebensnotwendigkeit. Zu den autobiographischen Fragmenten Thomas Bernhards. In: Alexander von Bormann (Hrsg.), Sehnsuchtsangst, Amsterdam 1987, S . 4 3 - 6 2 . 3 Vgl. Bernhard Fischer: >Gehen< von Thomas Bernhard. Eine Studie zum Problem der Moderne. Bonn 1985. 4 Novalis, Bd. II, 383, Fragment 316.

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Schrift - zu vollenden. Seine Subjekte konstituieren sich nur scheinbar intersubjektiv. Sie unterlaufen das herrschende, neuzeitliche Kommunikationsparadigma; sie sind Signaturen des Randes, unbedeutende Außenseiter, die in den Mittelpunkt von Traktaten, in und über Schrift gezogen werden. Sie sind Schriftleichen in Prosagräbern. Frühromantik würde mißverstanden, faßte man sie als identitätsphilosophische Nivellierungsideologie auf, die das Disparate von Sprache und Wirklichkeit einzuholen gedenke. Seither ist Identität und Differenz fortan nur noch als Differenz zu denken. 5 Das ist ein Unterschied.6 Insofern kann es strukturell keine reibungslose Versöhnung geben. Der trügerische locus amoenus solch reibungsvoller Versöhnungsversuche ist wen wundert's - das Essen, die Mahlzeit. Der »ideale Ort«, 7 der einzig mögliche Ort von Versöhnung ist ein Tisch in der Wiener Öffentlichen Küche, der »WÖK«. Was die Bernhardschen Helden zur Freude ablehnender Literaturkritik dementieren, die Existenz von ernstzunehmenden Außenwelten, ist hier der Boden der Erzählung: eine öffentliche Küche. Unweigerlich überschneiden sich in ihr individuelles und soziales Erleben. Im Bild von der Armenküche könnte man bei dem Geistesaristokraten Bernhard die Proletarisierung der Kunst vermuten. Existentielle Versorgungsnotstände enden in der Armenküche. Der übergeschnappte Wissenschaftler findet sich als Clochard wieder. Cliche oder Wohlstandsposse? Weder noch. Der Hunger ist wieder Thema. 8 Das ist er seit einer der ersten Veröffentlichungen Bernhards aus dem Jahr 1954, die den Titel Großer, Unbegreiflicher Hunger trägt. Das Essensmotiv durchzieht das Werk Bernhards von Anfang bis Ende. I η seinen letzten Veröffentlichungen, seinen letzten theatralischen und öffentlichen (Abend-)Mahlen, den Dramoletten unter dem bezeichnenden Titel Der deutsche Mittagstisch, wird das Essensmotiv auf die Spitze getrieben. Es wird zum Gegenstand ironischer Allegorisierung, wie sie in Schopenhauers Theorie des Lächerlichen angelegt ist.9 Insofern Bernhard nämlich die »paradoxe und daher unerwartete Subsumtion eines Gegenstandes unter einen ihm übrigens heterogenen Begriff« vollzieht. Das ist im Mittagstisch-Ovamolett der Fall. 5 Vgl. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1976. 6 B. Fischer mißachtet diesen Unterschied; vgl. Fischer, 42ff. 7 Eva Marquardt: Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. Tübingen 1990, S. 113. 8 Was bei Nachkriegsautoren wie Th.Bernhard, E.Fried, M.Scharang und E. Jelinek weiter nicht überrascht. 9 Vgl. A. Schopenhauer, WWV, II, Kap. 8,1, Zur Theorie des Lächerlichen.

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Das Essensmotiv findet sich wirkungsvoll metonymisiert wieder. Politik und Essen tauschen den Platz. Daher findet Bernhard in seiner Suppe kein Haar, sondern einen Nazi. Die deutsche Nudelsuppe wird zum Synonym von Nazismus. Im Land des »Anschlusses« von 1938 ist der Effekt nicht ein ahistorisches, sondern nur noch komisches Unterlaufen von Politik. In den Dramen Ein Fest für Boris und Die Jagdgesellschaft ist das Essen Schauplatz für die Entlarvung einer korrupten und niederträchtigen Gesellschaft.10 In den Billigessern bildet das Essen bzw. die Küche den Hintergrund der gesamten Erzählung. Doch niemals werden opulente Menüfolgen aufgezählt. Im Gegenteil. In der Erzählung Watten von 1969 sind Bier, Brot und Essigwurst die ganze Delikatesse, die von vier Männern in einer Landkneipe verzehrt wird. Während dieses Treffens stellt sich nach und nach heraus, daß fortan nichts mehr so sein wird, wie es bisher war. Einer der Männer, ein Buchhändler, bringt sich um. Thomas Bernhards Mahlzeitendarstellungen schildern keine freudvollen Anlässe. Gegessen wird stets das Einfache und Billige." Den Billigessern ist ein Satz des Novalis vorangestellt. Er lautet: »Zur Welt suchen wir den Entwurf - dieser Entwurf sind wir selbst.« Mit Novalis geht es Bernhard aber gerade um die Kritik an einer »allmächtigen, selbstbewußten Subjektivität« und nicht um deren fragwürdige Einlösung.12 Es macht die Ironie der Erzählung aus, als Entwurfsort der Welt die Küche, genauer den Speisesaal, zu wählen. Der einbeinige Kranke mit Namen »Koller« findet am »einzig möglichen Tisch« vier Männer vor, die ihm als Menschenmaterial für eine Theorie der Äußerlichkeit, für seine »Physiognomik« dienen. »Was lebt, ißt« bevor es dichtet.13 Dichtung ist - darin dem Essen verwandt - das Verschließende, die unterbliebene Freigabe der Produktion. Seit der Romantik virulent haben Dichtung und Dichter Schwierigkeiten, intern Produziertes, sei es Verdautes oder Unverdautes, Gedichtetes und Undichtes herzugeben, zu entäußern.

10 Hans Höller: Kritik einer literarischen Form. Versuch über Thomas Bernhard, Stuttgart 1979, S.23f. 11 Wie Th.B. selber es anspruchslos zu lieben schien; vgl. DIE ZEIT Nr. 32 vom 4. August 1989, »Wenn ihr nicht brav seid, kommt der Bernhard«. Der Realitätenhändler und Nachbar von Bernhard hängte ihm, wenn er sich einschloß, um zu schreiben, nicht nur »ein Sackerl mit Brot, Butter und Wurst« an die Tür, er hielt ihn auch für einen »Kostgänger Gottes«. 12 Fischer, a.a.O. 13 J.A.Brillat-Savarin: Physiologie des Geschmacks. Oder Gedanken zur transzendentalen Gastronomie. Frankfurt/Main 1979, S. 15.

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Wo nicht mehr »Zahlen und Figuren [...] der Schlüssel aller Kreaturen [sind]«,14 rückt Unverdautes oder Transformiertes wie der Traum an die Stelle der Dichtung. Diese ist, im ernsten Sinn von poetischer Arbeit, die strukturelle Problematisierung von reibungsloser Entäußerung selber. Großproduktionen, wie Epen oder Romane, haben denn auch große Probleme. Sind sie doch angewiesen, eine Öffentlichkeit mit Buchstabenketten, im günstigsten Fall realistisch beziehbaren, verstehbaren Sätzen zu versorgen. Zwischen ihnen, zwischen Sender und Empfänger, Produzent und Konsument, besteht ein Mutter-KindVerhältnis, ein Versorgungsverhältnis. Bücher sind überdies die Kinder von Schriftstellern: lib(e)ripoetae. Lust am Text kann aber nur durch Körperhalluzination des Text-Gewebes aufkommen. Zwischen Autor und Leser besteht ein Ammenverhältnis. Davon handelt Thomas Manns Dichtung von der ersten bis zur letzten Zeile: »Die Amme hatte die Schuld« ist der erste Vorwurf des Erzählers aus dem Kleinen Herrn Friedemann, der die Unvermeidbarkeit von Fremdversorgung, den Zustand abhängigen Seins, in alimentärer und metaphysischer Hinsicht festhält. Das Thema bleibt in Manns Schriften von der ersten bis zur letzten Zeile vorhanden. FelixKrull wird Kellner, weil er den »Wiederherstellungsprozeß« von Produktion, Konsumtion und Reproduktion selber in die Hand nehmen will. Er ist ein selbsternannter Austauschdramaturg. Das ausgesonderte Kind Friedemann und das erwählte,15 göttliche Kind Krull16 haben die Not der Versorgung gemeinsam. Was ihnen als tröstlicher Rest bleibt, ist die Einsicht in die Opferstruktur allen Seins, des alimentären, gesellschaftlichen und metaphysischen Seins. Die veränderungsresistente Struktur menschlichen Seins, und dies zeigt Manns Prosa - und unter absurden Vorzeichen auch Bernhards Prosa - ist die des Versorgungsnotstandes. Seinsfülle jedoch ist nicht quantifizierbar. Und das Gegenteil von Versorgungsfurcht, Hypertrophie und Hyperphagie enden in Überversorgung und Übergewicht. Joseph der Ernährer kann der »oberste Mund« Potiphars heißen, weil Versorgungsbegriffe auch eine militärhistorische

14 Freud entfaltet den Gedanken des Lebens als Schuldabtrag gegenüber der Natur bezeichnenderweise an einem Küchentraum. Der Ort der Herstellung des Lebens und der Produktion ist eben auch der Ort der Vernichtung, des Todes und der Negation. Vgl. S.Freud: Studienausgabe, II, 214ff., Frankfurt/Main 1982. 15 Vgl. Stefan Nagel: Aussonderung und Erwählung. Bonn 1990. 16 C.G. Jung/Karl Kerenyi: Das göttliche Kind.

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Verwendungsweise kennen. Im osmanischen Reich hieß der Kommandant einer Truppe »Tschor-badschi-badschi«, oberster Suppenmacher, und die Truppe wurde nach einem Verpflegungssystem gegliedert.17 Auf den einwandfreien Gebrauch von Messer und Gabel, auf Tischsitten und Tischkultur legte Thomas Mann als Autor und Esser viel Wert. Sind sie doch kunstfertiger Ausdruck höchster Zivilisation, Distinktionsfähigkeit und Versorgungsrationalisierung.18 Ganz anders hingegen Thomas Bernhard. Seinen ärmlichen Kunstkrüppeln bleibt nur der Weg in die Isolation. Selbst der öffentliche Platz, das Versorgungsforum der WÖK, bekommt Koller nicht gut. Er ist ein Gebissener. Und zwar vom Hund. Im eigentlichen Sinne verliert er durch diesen Biß ein Bein, im uneigentlichen Sinne verliert er durch diesen Biß den Verstand, die Geistesmobilität. Er steht körperlich und geistig auf einem Bein. Er ist vom Hund der Philosophie, vom kyon, gebissen. Dieser aber hat eine Karriere, den Kynismus. Koller ist Küchenkyniker. Ein zufälliger Unfall, auf dem Weg von der alten Esche zur alten Eiche, setzt ihn dem doppeldeutigen Biß aus. Beide, Mann und Bernhard, haben eine säkulare und ironische Küchen-Eschatologie. Von »Christian Buddenbrook« bis zu den Lazarus-Gestalten Bernhards hat man es mit metonymischen Küchengeschichten und deren säkularen Heiligen zu tun.19 Essen ist nicht nur Motiv und Metapher. Wer bei ihnen in die Küche geht, sucht in Wahrheit die Kirche. Das berühmte Weihnachtsfest der Buddenbrooks ist eine herbe Enttäuschung: Christian - das ist die strukturelle Wahrheit jedes Weihnachtsfestes — fehlt.20 Die Mannschen Essensdarstellungen sind vielmehr Realisation von Passionsgeschichten. Es sind Kreuzwege der Verdauung; der Verdauung schwerer Gedanken und schwerer Speisen.21 Bernhards Komödien stehen im Zeichen der 17 A.J.Storfer: Löffel. Gabel. Aus: A.J.S. Wörter und ihre Schicksale, Berlin 1935. 18 Zur Rationalisierung von Versorgung vgl. T.M.'s Brief über den »Erwählten« an Adorno vom 9.1.1950. 19 Vgl. Gerhard vom Hofe: Ecce Lazarus. Autor-Existenz und Privat-Metaphysik in Thomas Bernhards autobiographischen Schriften. In: Duitse Kroniek, 1982, Nr. 3. 20 W. Jens hat noch einmal auf die Wichtigkeit des Familien- und Weihnachtsfestes der Buddenbrooks hingewiesen. Er bleibt aber im Ephemeren stecken; vgl. W.J.: T.M. und die Pastoren, München 1990. 21 Vgl. F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Werke in 3 Bdn., hrsg.v.

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Zivilisationskritik Nestroys. Häuptling Abendwind, Titelgestalt der indianischen Faschings-Burleske von 1862, die im Untertitel das »greuliche Festmahl« heißt, mißt die »Zivilisationsverbreiter« daran, ob sie eßbar sind. Dieser späten Komödie Nestroys zufolge, und das trifft sich mit Bernhards Misanthropie, leben wir in einer Menschenfressergesellschaft: homo homini lupus. Bei Bernhard gibt es keine großen Menüs mehr, die verläßliche Orientierung im Leben oder im Tagesrhythmus böten, wie es das imponierende Mittagsmahl der Aarenholds im Manns Wälsungenblut noch vermag. Das »künstlerische Abendessen« der Kunst-Schickeria in Holzfällen ist nur noch verlogen und todesselig. Die Billigesser aber essen das Billige, weil es ihnen recht und billig, wert und billig ist. Der Stilizist Bernhard vollzieht, was seinen Helden mißlingt. Er schreibt »kochende« Manuskripte, geschichtenlose Anklageschriften, prosaische Elegien, die von der Unmöglichkeit handeln, Leben in Schrift einholbar zu machen. Seine Künstler vegetieren in einer kunstfeindlichen Welt. Unterschlupf bieten allein die, denen Kunst fern steht: die Armen und Außenseiter. Kynisch sind sie, weil sie Bedürfnislosigkeit bis zur Aufdringlichkeit praktizieren. Reichtum, und sei es der an festlichen Mahlzeiten, macht sie nicht glücklich. Bernhards Helden sind insgesamt Billigesser. Asketen gleich, beschränken sie sich auf das Wesentliche; dies aber ist das Absurde. In Adornos Beckett-Interpretation ist das absurde Theater absurd nicht weil es sinnlos wäre, sondern weil es das Sinnlose verhandelt: »Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt«.22 Thomas Bernhard ist kein »Alpen-Beckett«, als den ihn die Kritik zu exilieren sucht, sondern ein literarisches Fastenwunder. Mit einer handvoll unkomplizierten Worten macht er satt und nachdenklich, und man lacht im günstigsten Fall auch noch dazu. Er ist ein Konstrukteur der metaphysischen Fuge in Prosa. Seine Sprach-Fugen sind polyphon, kontrapunktisch und fliehen. Sie variieren alle ein einziges Thema: den (Küchen-) Kyniker. Denn das Leben als Hund scheint naturgemäßer als

K. Schlechte, Bd. II, 30; eine Empfehlung, die auch dieser Arbeit voranstehen könnte: Meinem Leser Ein gut Gebiß und einen guten Magen Dies wünsch ich dir! Und hast du erst mein Buch vertragen, Verträgst du dich gewiß mit mir! 22 Th.B.: Rede; In: ÜberTh.B. Hrsg. von Anneliese Botond, Frankfurt/Main 1970, S.7.

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das des zivilisierten Menschen. »Koller« ist kynisch a-rational, verliert sich nicht in begrifflichen Ekstasen, philosophischen Spitzfindigkeiten, theologischen Spekulationen oder staatstheoretischen Waghalsigkeiten wie Naphta aus Manns Zauberberg. Er ist heiter und illusionslos, hoffnungslos aber nicht ernst und offenbart darin österreichische Mentalität. Das ist etwas anderes als melancholische Resignation oder gar Nihilismus. Obszön ist der Hund, weil er ungefragt bellt, pißt, scheißt und kopuliert; ein Kyniker eben, wie Diogenes von Sinope, der den Hunger durch Reiben des Bauches abzustellen wünschte. Eine andere triebhafte Regung, der er zuweilen öffentlich nachging,23 hoffte er auf die gleiche Weise abzustellen. Der Kyniker ist ein outlaw, sein Stil die Satire. Das schreckhafte Einfache ist ihm billig. Die Kyniker sind, wie die Billigesser, radikale Individualisten und institutionelle Sonderlinge. Dem Ultimativen, Unmittelbaren, Letzten, jenen Dingen, die in ihrer Sicht die ersten Dinge sind, stets einen Schritt näher. Sie sind vortheoretische, vorprometheische Physiognomiker, die kein Zuhause haben, sondern vagabundieren. Sie kennen keine platonische Akademie und kein aristotelisches Lykeion, noch nicht einmal den epikureischen Garten. Stattdessen aber die Küche. Den Bauch zu reiben braucht nicht, wer dem Herd nahe ist. Nur: die Billigesser essen überhaupt nichts. Die vier Vereinten mit den sprechenden Namen Grill, Einzig, Weninger und Goldschmidt, zu denen sich Koller gesellt, wünschen, wie der Kafkasche Hungerkünstler, unabhängig von Körperfunktionen zu sein. Darum handeln die Billigesser auch nicht vom Essen als Subsistenzmittel, sondern metonymisch von der Versorgung und Entsorgung. »Koller« nimmt aus »sanitärem Grunde« an ihrem Tisch Platz. 24 Die »WÖK« ermöglicht ihnen also nicht nur die »Körperexistenz«, sondern auch die »Geistesexistenz«. In ihr erst ist Koller zur Abfassung seiner »Physiognomik«, einer wissenschaftlichen Schrift, in der Lage. Sie bleibt dem Leser ebenso unbekannt wie der Inhalt ihrer Teller. Dies spiegelt aber nur vermeintliche Substanzlosigkeit der Bernhardschen Prosa. Die Spur des Heiligen ist aber nicht weg, sie ist nur verschoben.25 Sie führt, wenn schon nicht in die Küche, so doch wenigstens durch die Küche. Bernhard karikiert Wissenschaft 23 Vgl. Michel Onfray: Der Philosoph als Hund. Vom Ursprung subversiven Denkens bei den Kynikern. Frankfurt/Main 1991; vgl. auch Diogenes Laertius, VI, 46. 24 Th.B.: Die Billigesser. Frankfurt/Main 1980, S.36. 25 Vgl. Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hrsg.): Das Heilige und seine Spur in der Moderne, Königstein/Taunus 1987.

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als Ersatz für Zauberei, wenn er Wissenschaftler auftreten läßt, die nur aus Andeutungen bestehen. Dennoch gibt er das identifikationslos gewordene Heilige nicht auf. Er sucht es nicht in verläßlichen Außenbegründungen, sondern im Rumpf des Selbst, diesem kummervollen, behinderten Rest. Seine poetischen Fabeln sind nach dem »Schema von Passionsgeschichten« verfaßt.26 Deshalb erinnern seine Lebensgeschichten auch stets mehr an »christliche confessiones«,27 in denen privates Erleben »für Allgemeines interessiert«.28 Selbstbegründung durch Schreiben ist für den Autor wie für seine Helden »existenznotwendige« Bedingung und »soteriologische Energie«.29 Es ist nur schlüssig, wenn der junge Bernhard eine Lehre im Lebensmittelgeschäft gemacht hat, wie man in der autobiographischen Erzählung Der Keller erfährt. Der Keller war für ihn die »größtmögliche Schule der Realität«.30 Bernhards kathartische Krankengeschichten ermöglichen, was ihnen vordergründig gänzlich zu fehlen scheint: Heil. Seine »Krankheit zum Tode« erfährt eine »Kehre« im Lebensmittelgeschäft. Sein Weg in die »entgegengesetzte Richtung« ist der Weg ins Leben. Der Unausweichlichkeit des Todes ist er dabei voll gewärtig. Seine misanthropischen Scheltreden sind in die individualistische Enge getriebene Metaphysik, jedoch keine gültige Kosmologie. In seiner Prosa aber eine solche anzunehmen bzw. ihr Glauben zu schenken, bildet den unschlagbaren Witz seiner Dramen und Romane. Bernhards Prosa, die unablässig Probleme der Kunst oder des Theaters verhandelt oder auf dem Theater spielt, greift einen barock-allegorischen Topos vom großen Welttheater auf. Darum kann in den Billigessern das Verhör über die wissenschaftliche Schrift der »Physiognomik« in einer Kneipe stattfinden, die »Auge Gottes« heißt. Das theatrum mundi ist im Beisl, der Theatermacher, die majestas, der rex regum als Intendant, ist in der Kneipe, im Himmels-Casino gelandet. Indem er Fährten legt und christliche Topoi absurd umdeutet, nimmt Bernhard der Prosa jedes tiefsinnige Deutungspotential. Er anthropologisiert den Entwurf zur Welt, der wir selber sind. Kynisch ist Bernhards Prosa zu nennen, weil sie spöttisch und theorielos ist, ausgelöst durch einen Hundebiß allein. Peter Sloterdijk hat den zynischen Charakter »satirischer 26 27 28 29 30

Vom Hofe, a.a.O. Ebd. Ebd. Ebd. Th.B.: Der Keller, Salzburg 1976, S.67.

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Resistance« an die Absage gegenüber philosophischer Versprachlichung diskursfähiger Wahrheit geknüpft und sieht in ihm die Eröffnung des nicht-platonischen, d.h. physiognomischen Dialogs.31 Genau das macht Bernhards Held »Koller«. Er schreibt eine schrift- und sprachlose »Physiognomik«. Die ist aber nichts Geringeres als eine Charakterologie der Natur. Denn was heißt Physiognomik anderes als Erkenntnis (physis gnomein): »in einer solchen Schrift müsse naturgemäß (...) die ganze Natur abgehandelt sein«.32 Inhalts- und thesenlos bleibt die wissenschaftliche Schrift Kollers, um die Mittelbarkeit von Naturerfahrung zu belegen. Bernhards Technik, diese Wirkung zu erzielen, ist indirektes und konjunktivisches Erzählen. Auf diese Weise folgt die »philosophische Physiognomik der Idee von einer zweiten Sprache«.33 In der Küche, beim Essen, erreicht man eine neue, andere Intimität mit der Natur, ein »konviviales Wissen von den Dingen«.34 Die Kollersche »Physiognomik« steht für die neuzeitlich-sträfliche Ablösung des Prinzips der Naturnachahmung durch die Identitätsfrage.35 Diese hat Natur zum fratzenhaften, zitationsfähigen FolkloreUnrat verkommen lassen, gegen den sich Adornos Ästhetische Theorie ebenso wendet wie die engagierte heimatkritische Prosa des österreichischen Nachkriegsschriftstellers. Physiognomischer kann aber bedeuten, auf das Unerhörte der absichtlich vordergründigen Texte Bernhards zu hören und jener Kunst zu mißtrauen, die prometheisch-selbstschöpferisch Seinsmächtigkeit durch realistische Romane oder andere Hypostasen der Selbstbezüglichkeit demonstriert. Gerade darum sind Bernhards Figuren »weder in einem naturalistischen, noch symbolischen Sinne vorhanden«. 36 Sie geben »Bekanntes nicht noch einmal bekannt«. 37 Daß seine Romane dennoch äußerst real verfangen, jener symbolischen Abständigkeit von Literatur zum Trotz, zeigen der Skandal, das Verbot und der Prozeß um Holzfällen. Wie in Ferdinand Hodlers Bild »Der Holzfäller« hat Bernhard die Parallelität der Sätze, ihre holzfällerische Gewalt und antifiktionalen Gehalt so weit gesteigert, 31 32 33 34 35

Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt/Main 1983. Billigesser, S. 116. Sloterdijk, I, 267. Ebd., 268. Vgl. Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen. In: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S.55-103. 36 K.H. Bohrer: Es gibt keinen Schlußstrich. In: Über Th.B. 113; s. Anm. 22. 37 Ebd.

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daß eine öffentlich-skandalöse Wirkung nicht ausblieb. Eine künstlerische Abend-Mahl-Gesellschaft, der ganze morbide Wiener Kunstbetrieb fühlte sich auf die Füße getreten. Das »künstlerische Abendessen« erlaubt in seiner augenfälligen Künstlichkeit keine communio, weil jeder sich so gut es geht in Szene zu setzen sucht. Anläßlich des Todes von »Jeannie Billroth« war man zusammengekommen. Aber dieses gemeinsame Mahl, das »künstlerische Abendessen« erlaubt keine »Umarmung« in Novalis' Sinne. Von Gedächtnis kann gar keine Rede sein. Dieses Mahl einer Totenfeier-Gesellschaft muß im erzkatholischen Österreich wie ein häretisches Abendmahl wirken. Am Tisch sitzen keine »commensalen«, sondern sich zerfleischende Kunst-Epigonen, die verlernt haben, unverstellter Natur Aug und Ohr zu leihen. Bernhard aber bezweifelt eine ars imitatur «ß/wram-Auffassung und rückt, dem Surrealismus folgend, das Unwirkliche, Nichtvorhandene, ungeschriebene Traktate, Nichtseiendes eben, in den Status von Seiendem. Die sprachlose Sprache Bernhards ist eine ars infinita. Sie ist keine eigenmächtige Nachahmung der Natur, sondern der Versuch, dem Unsagbaren der Natur und ihrer fortlaufenden Schöpfung, als natura naturans, Ausdruck zu verleihen.38 Die Tradition der Disqualifizierung des mimetischen Künstlers seit Piatos Staatstheorie und Ideenlehre greift Bernhard auf, entscheidet sich aber für den methexis-Begriff, der eine Beziehung zwischen Ding und Idee, Speise und Gott, Natur und Mensch ermöglicht. Die identifikationslose Natur seiner Prosa, diese wirtlosen Orte, beschreiben die Uneinholbarkeit von Natur durch mimetische Kunst. Denn im zuviel Befragten und zuviel Besprochenen entzieht sich genau das,39 wovon die »Physiognomik« zu reden beabsichtigt: die Natur. In Kärnten blühen halt nicht nur Enzian und Tourismus, sondern auch die »Phantasien am üppigsten«.40 »Das Ei weich, die Sauce süß, süß die Sauce«, ruft der Bernhardsche Weltverbesserer, anadiplotisch wiederholend, was ihm wichtig ist. Weich, warm, flüssig und süß soll die Speise sein, wie Kinder sie lieben. Wonach der alte Mann aber verlangt, ist »Schonung« Die Welt ist ihm genug verändert und verbessert worden, nun kommt es darauf an, sie zu verschonen.41 Im Weltverbesserer steht das Essensmotiv für die 38 39 40 41

Blumenberg, a.a.O. 59. Blumenberg, 9. Billigesser, 141. Vgl. Odo Marquard: Zur Diätetik der Sinnerwartung. In: O.M., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986, S. 3 3 - 5 3 .

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Sorge, nach der der Alte hungert. Ein Omelett erst verspricht »Rettung«. »Einerseits messen wir der Küche zuviel Bedeutung bei, andererseits, die Köche haben uns in der Hand«, sagt er. Die diätetische Ermäßigung des Sinns seiner Helden wendet Bernhard auch aufs Essensmotiv an. Die erwartete Festgesellschaft erhält nur Nudeln oder Grieß. Am verdorbenen Magen aber ändert das nichts: »alles verdirbt uns den Magen, ist es nicht die Küche, ist es die Philosophie, oder die Sozialfürsorge«. Hunger und Dasein, Versorgungsnot und bestimmtes Sein, Subsistenz und Existenz bringt Bernhard im Speisemotiv seiner Dramen und der Prosa komödiantisch zusammen. Um nur die wichtigsten zu nennen: In den Dramen Der Weltverbesserer (1979), Der Theatermacher (1984), den Dramoletten Der deutsche Mittagstisch (1988), Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen (1990), sowie den Prosatexten Verstörung (1967), Der Italiener (1965), Watten (1969), Die Billigesser (19$0) und Holzfällen (1984), spielt das Essen eine tragende Rolle. Hartnäckig ist die Literaturkritik an den häufig schon im Titel angegebenen Bezügen zum Essensmotiv vorbeigegangen. Essen scheint kein kritikfähiges Thema zu sein. So lag das Augenmerk vorzugsweise auf den Geist- und Kunstproblemen der Protagonisten und nicht auf deren Versorgungsängsten. Ratlosigkeit angesichts solcher manifesten Profanität drückt sich in gewollt intellektuellen Etikettierungen aus: Die Billigesser werden kurzerhand unter Schlagzeilen wie »Der Künstler als Krüppel« zusammengefaßt. Und der Roman Holzfällen ist in den Augen der Kritik ein Roman der »Haßliebe«. Kein Wort fällt über den Ort der Handlung. Dieser ist aber in den genannten Büchern die Kneipe oder eine Gast- oder Abend-Mahl-Gesellschaft. Das theatrum mundi ist das Wirtshaus.42 Wider jeden Begriffsobjektivismus suchen die einfachen Helden der einfachen Stücke und Erzählungen Daseinserhellung beim Essen. Besonders komisch wird es dann, wenn Bernhard seine barocken Kraftkomposita aufs Essen anwendet. Er karikiert Hamlets Seinsfrage und wendet sie aufs Essen an: »Leberknödelsuppe oder Frittatensuppe«, die sozusagen unsere »Existenzsuppe« ist, das ist ihm die auschlaggebende Frage. Auf groteske Weise stößt er damit von der Subsistenzqual zur Existenzqual vor. Eine Karikierung aller kurrenten Existenzphilosophie liegt hier vor, wenn »die Weise, wie ich zu mir selbst und zum Transzendentalen mich verhalte«,43 von der 42 Vgl. Gero v.Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart, 5. Aufl. 1969, S.848. 43 Karl Jaspers: Philos. 2 (1932), Existenzerhellung, 1-23. 171

Suppe abhängt, die wir im »Auge Gottes«, dem gastronomisch-säkularen oculum dei, essen. Der Zauberberg kannte noch eine »Ewigkeitssuppe«, auf Bernhards »deutschem Mittagstisch« gibt es nur noch eine »Nazisuppe«. Die Wahrheit erfährt nur »der Betroffene, will er sie mitteilen, wird er automatisch zum Lügner. Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung sein«, heißt es in der autobiographischen Erzählung Der Keller. Das Essen aber ist fälschungssicher, weil es nicht intersubjektiv überprüfbar ist. Was einer ißt, kann kein anderer essen. Geschmack ist nicht ohne weiteres soziabel zu machen. Statt den Sinn von Sein zu suchen, verlangen Bernhards Helden nach einer billigen und gemäßen Speise. Die Illusionslosigkeit der von Bernhard vielfach berufenen katholischen Glaubenszweifler Pascal, Montaigne oder Kierkegaard lehrt ihn, Zuflucht nicht in hinterwäldlerischer Metaphysik, sondern bei der Rindssuppe zu suchen. Wie Voltaires Candide, der als Ergebnis seines Theodizee-Dementi lieber Gemüse anbaut, so bleibt den Bernhardschen Helden nur die Beschränkung aufs Nötigste. Und weil's mit unserer Erkenntnis ohnehin nicht weit her ist, Aussicht auf Besserung auch nicht abzusehen ist, die »Welt nur eine Umwelt der Hunde« ist,44 wie es kynisch und antiteleologisch heißt, Erlösung schon gar nicht zu erwarten steht, geben sich die Bernhardschen Helden mit dem einfachen Essen zufrieden. Im Refektorium der Bedürfnislosigkeit gibt es eine Suppe der Barmherzigkeit.

44 Otto F. Best: Säkularisierte Eschatologie. ( = Nachwort in Th.B.: Der Wetterfleck. Erzählungen. Stuttgart 1981, S.66.)

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