Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918 [First ed.]

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Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918 [First ed.]

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ERNST BLOCH · GESAMTAUSGABE

BAND

GEIST DER UTOPIE FAKSIMILE DER AUSGABE VON 1918

ERNST

BLOCH

GEIST DER UTOPIE Faksimile der Ausgabe von 1918

©

Suhrkamp VerlagFrankfurt am Main 1971

Oeist der Utopie

ERNST BLOCH

GEISTDERUTOPIE

MONOHENUND LEIPZIG VERLAG VON DUNOKER& HUMBLOT 19}8 By

Alle Rech te vorbehalten.

Altenburg Pienneh• Bofbuohdraokeni Btepbau O.lhel & Co.

Else Bloch·von Stritzky zugeeignet

begonen Aprii 1915,&bgeachlossenMai 1911.

lnhalt Soite

Absicht .... Die Selbstbegegnung t. Ein alter Krù.g . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Erzeugung des Ornaments . . . . . . 3. Der komische Held . . . . . . . . . . . . 4. Philosophie der Musik . . . . . . . . . . . 5. Ober die Gedankenatmosphire dieser Zeit . 6. Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage .

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. 13 . 17 . 53 . 79 . 235 343

Karl Marx, der Tod und die Apokalypse . . . . . . 391

Absicht. Wie nun? Ee ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hinde ist das Leben gegeben. Fur sich selber ist es llngst sehon Ieer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden. Was jetzt war, wird wahrscheinlich bald vergessen sein. Nur eme Ieere, grausige Erinnerung bleibt in der Luft stehen. Wer wurde verteidigt? DieFaulen, die Elenden, die Wuchererwurden verteidigt. Was jung war, muJlte fallen, aber die Erblrmlichen sind gerettet und sitzen in der warmen Stube. Von ihnen ist keiner verloren gegangen, aber die andere Fahnen geschwungen haben, sind tot. Die Maler haben die Zwischenhindler verteidigt und den SeJlhaften das Hinterland warm gehalten. Es lohnt sich nicht mebr, darilber zu reden. Ein stickiger Zwang, von MittelmiJligen verhingt, von MittelmlBigen ertragen; der Triumph der Dummheit, beschiltzt vom Gendarm, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht Gehirn genug aoft.reiben konnten, um Phrasen zu liefern. Und dieses allein iat wichtig. Wes Brot ich eB, des Lied ich sing. Aber dieses Venagen vor dem Kalbsfell war doch ilberraachend. Dasmacht, wirhabenkeinensozialistiachenGedanken. Sondern wir sind lrmer als die warmen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem i&t der Staat sein Gott, alles andere ist zum SpaB und zur Unterhaltnng herabgesunken. Wir bringen der Gemeinde nicht mit, weswegen sie sein soll, und desbalb k6nnen wir sie nieht bilden. Wir haben Sehnancht und kurzes Wiuen, aher wenig Tat und was deren Fehlen mit erklirt, keine Weite, keine Auuicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt tlberschritten, keinen ntopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zn leben, organisiert zn sein, Zeit zn haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konatitutiven Wege, rofen was nicht ist, banen ins Blaue hinein, banen una ins Blaue hinein und snchen dort daa Wahre, Wirkllche, wo daa bloB Tatslchliche verschwindet - incipit vita nova.

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DIE SELBSTBEGEGNUNG

EI.N ALTER KRUG Ich sehe ihm geme zu. Fremd filhrt er hinein. Die Wand istgriln, der Spiegelgolden, das Fenste-r schwarz, die Lampe brennt hell. Aber er ist nicht nur einfach warm oder gar so fraglos schon wie die anderen edlen alten Dinge. Man hat ihn jetzt vielfach nachgeahmt. Das ist ungefahrlich, aber es gibt auch kostbare antike Exemplare, glanzend erhalten, enghalsig, bewuflt modelliert, mit vielen Rillen, schon frisiertem Kopf auf dem Hals und einem Wappen auf dem Bauch, und diese stellen den einfachen Krug in den Schatten. Doch wer ihn Iiebt, der erkennt, wie oberflachlich die kostbaren Kriige sind, und er zieht das braune, ungeschlachte Gerat, fast ohne Hals, mit wildem Mannergesicht und einem bedeutenden, schneckenartigen, sonnenhaften Zeichen auf der Wolbung, diesen Briidem vor. Sie stammen zumeist aus der rheinfrankischen Gegend. Vielleicht sind sie schon romisch. Wenigstens erinnert der Ton, aus dem sie gebrannt sind, an billige romische StQcke. Auch klingt irgendwie eine italische Form in ihnen an, wenn auch noch so kraftig, zuerst soldatenhaft und dann nordisch vergrobert. Und nun sind sie weiter gewandert, aus der Taverne in die reichsstiidtische Schenke, weingefiillt ringsum auf Regalen stehend, die Teniersschen Bauem mit den groflen Nasen halten sie noch hie und da in den Fausten, bis sie mit dem anderen verschwinden muflten, als alle gute bodenstandige Handal'beit verschwand. W as an ihnen am meisten auffallt, das ist der Mann, der wilde Bartmann auf dem Bauch des soliden nordischen Gebildes. Damit spinnt sich ein seltsames Gam zu uns heriiber. Denn die Toten sind trocken und mude, das mitgegebene Kriiglein im Grab ist bald versiegt. Aber driiben verwahren wilde Manner neue Kriige, magische Kriige mit Lebenswasser. Sie sind zumeist an einsamen Hiigeln zu treffen; noch beute heiflen, vermf enerweise, einige solcher Stellen, vor allem in niederdeutschen Gegenden, Nobiskrug, und das Totenwirtshaus soli nicht weit davon gelegen sein. Die Manner weiden eine Herde, unfem dem Brunnen der Urd, dem das goldene Wa:sserent.1pringt, und gehen au~h wohl dem fragenden Toten

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Bescheid. damit er den Weg zur Heimat nicht verfehle. Derart ist der wilde Mann mit dem entwurzelten Tannenbaum in der Hand noch auf Gasthausschildern, desgleichen, da er die Geheimnisse des ewigen Schatzes behiitet und kennt, auf Miinzen und Geldscheinen, vor allem aber als Schildhalter niederdeutscher Fiirstenwappen, auch des preu.Bischen, allegorisch sichtbar geblieben. Doch hier, auf unserem Krug, blickt das Bartige der Waldschratte noch unmittelbar heraus, die feuchten und dunklen Urwalder altester Zeiten sind ganz nahe herangeriickt, der Kopf des riesigen Troll spendet seinen faunischen, amuletthaften, alchimistischen Anhlick. Sie sprechen aus der Zeit, die alten Kriige, da noch der Schlappohr und der feurige Manu auf den abendlichen Feldern der rheinfrankischen Gegend gesehen worden sein sollen und hahen das Alte baurisch, buchstablich, unallegorisch bewahrt. Es ist schwer zu ergriinden, wie es im dunklen, weitraumigen Bauch dieser Kriige aussieht. Das mochte man hier wohl geme inne haben. Die dauemde, neugierige Kinderfrage _geht wieder auf. Denn der Krug ist dem Kindlichen nahe verwandt. Und zudem, hier geht das lnnere mit, der Krug fa.Bt und hat sein Ma.B. Aber nur noch der Geruch vermag einen feinen Duft von langst vergessenen Getranken mehr zu erraten als zu empfinden. Und dennoch, wer den alten Krug lange genug ansieht, triigt seine Farbe und Form mit sich herum. lch werde nicht mit jeder Pfiitze grau und nicht von jeder Schiene mitgebogen, um die Ecke gebogen. Wohl aber kann ich krugma.Big geformt werden, sehe mir als einem Braunen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorahaften entgegen, und dieses nicht nur nachahmend oder einfach einfiihlend, sondem so, da.B ich darum als mein Teil reicher, gegenwartiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mi"rteilhaftigen Gebilde. Das ist bei allen Dingen so, die gewachsen sind, und hier hat das Volk daran gearbeitet, seine Lust und tiefere Behaglichkeit in einem Trinkkrug auszupragen, sich auf dieses Haus- und Schenkengerat aufzutragen. Alles, was derart jemals liebevoll und notwendig gemacht wurde, fiihrt sein eigenes Leben, ragt in ein fTemdes, neues Gebiet hinein und komint mit uns, wie wir lebend nicht sein konnten, geformt zuriick, beladen mit einem gewissen, wenn auch noch so schwachen Symholwe.rt. Aueh hier ffihlt man sfoh, in e.inen 14

langen sonnenbeschienenen Gang mit einer Tttr am Ende hineinzusehen, wie bei einem Kunstwerk. Das ist keines, der alte Krug hat nichts Kiin~tlerisches an sich, aber mindestens so milBte ein Kunstwerk aussehen, um eines zu sein,.und das ware allerdings schon viel.

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Dm ERZEUGUNG DES ORNAMENTS.

Wir sìnd plotzlich streng geworden. Jetzt mehr als je. Abér wiehtiger bleibt es zu spielen.

Wir hatten es verlemt, von unten herauf, die Hand hat da5 Basteln verlernt. So ungefahr wurde auch der Feuerstein ge· gliittet. Niemand wagt sich vor, von allen diesen trocken gewordenen, einfallslosen Menschen. Es wird um uns gehammert, gehobelt und geschnitzt, als oh niemals etwas gewerblich gekonnt und zu vererbcn gewesen ware. Aber dafQr malen wir auch wieder wie die Wilden, im bestcn Sinn des Friihen, Unruhigen und Barbarischen genommen. So ungefahr wurde auch die Tanzmaske geschnitzt, so ungefahr baute sich der primitive Mensch seinen Fetisch zurecht, sollte auch nichts als die Not des Aussprechenmiissens wieder dieselbe geworden sein. Derart fallt beides merkwiirdig zusammen, der hoffnungslose Verlust allcs dessen, was friiher am kleinsten Stuck gewerblicher Arbeit selbstverstandlich war, und der ebenso hoffnungsvolle ·Verlust des Geschmacks, des Stilwollens in dem, was die Hand bildet und ausdriickt .

• Nur ist das Erstere, das bloJl Streoge, fast bedingungslos schlecht. Hier ist alles gleich erkaltend und langweilig geworden. Wie konnte es freilich auch anders sein, nachdem niemand mehr das dauernde Wohnen kennt, sein Haus warm und stark zu machen. Aber das ist 11ichtallein au dem Niedergang schuld. Er ist nicht nur darin begriindet, da.O der Auftraggeber unbekannt oder namenlos geworden ist. Denn wenn wir etwa das Arbeitszimmer als Aufgabe nehmen, so ist in dem erwerbstatigen Mann, der nur abends zum Ausruhen, Lesen oder Empfang der Gaste mannlichen Geschlechts sein Zimmer betritt, und in dem Schriftsteller oder Gelehrten als dem angestammten, sozusagen faustisch vorstellbaren Bewohner des Arbeits- und Bibliothekszimmers zum mindesten eine Doppelreihe des Bedlrfnisses, Auftrags und zeichnerischen Problems gegeben. Aber was nun zum Verkauf angeboten wird, bleibt unrettbar in dem Generai· nenner des sogenannten Herrenzimmers befangen. Man kann 2*

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daher durchaus behaupten, dal3 e.s eine vie} breitere Bereitwilligkeit im Einkauf gibt, als sie die Geistlosigkeit der Angebote und Auswahl gestattet. Es ist danach nicht so sehr der Verbraucher als der Erzeuger. auf den all das leblose, unansehn· liche Zeug zurilckfiillt., und auch nicht dieser, sondem die Maschine, die er beschaftigt, hat das Elend und den durchdringenden Phantasiemord auf dem Gewissen, der den kunstgewerblichen Bestand jedes Museums mit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts abzuschlie.Benzwingt. Man soll gewi.Blange genug bewegt und industriell denken. Aber das hat eben seine Grenze und seinen Umschlag, nicht ohne die alten Arbeitsformen wieder zu beleben. Man int, wenn man sozialistischerseits das lndustrievolk als allein wesentlich festsetzt und gleichsam verewigt. Das mag dort erwiinscht, ja taktisch notwendig sein, wo alles noch agrarisch zurechtgeschnitten ist, und der Arbeiter mehr als zu kurz kommt. Es mag auch insofem einen unleugbaren Sinn besitzen, als die alten Meister kaum noch aufzufinden sind. und der schmutzigste kleinbilrgerliche Schuft mit dem Wasser am Hals und allen Eigenschaften des sinkenden Mittelstands, dazu ohne eine Spur der alten Sauberkeit, Bedachtigkeit und Frommigkeit des alten Meisters, den Handwerkerstand oder, wieman zutreffender sagt, den Stand der Kleingewerbetreibenden besetzt halt. Aber man darf nicht vergessen, die Maschine ist eine kapitalistisehe Erfindung. Sie ist, wenigstens im gewerblichen Gebrauch, durchaus nur zu den Zwecken billiger Massenproduktion mit hohem Umsatz und gro.Bem Gewinn und wahrhaftig nicht zur Erleichterung der menschlichen Arbeit oder gar zur Veredlung ihrer Resultate konstruiert. Wir wii.Bten nicht, was so erleichternd wirkte an dem Rasseln der Webstiihle, an der Nachtschicht, an dem furchtbaren Zwang der gleichma.BigenTourenzahl, an der verhinderten Werklust des Mannes, der immer nur Teile zu bearbeiten hat und niemals das GUick der ganzen und Fertigproduktion genie.Benkann -, wir wii.Bten nicht, was hier erleichtemd wirkte gegenuber der fruheren gemachlichen Herstellung (hier Haus, dort Werkstatt danebeo) eines kleinen Quantums ehrlich gefertigter, kunsthafter Handgewirke. Sicherlich, der Bauer und der Handwerker sind fest vorgezeichnete, im Werkwesen selbst vorgedachte Typen der menschlichen 20

Arheit, und sie werden sich in ihrem Apriori wieder herstellen, wenn erst die kapitalistische Abirrung vorilber ist. Den groBen Schwung in allen Ehren, aber alles, was er an Ergebnissen gebracht hat, die nicht selbst wieder wie die Lokomotive oder die Stahlproduktion dienend, funktionell und technisch sind, wird sich eines Morgens wieder einpacken lassen, und der mechanische Webstuhl wird mit der Kanone in dem gleichen sonderbarenMuseum verderblicher Sagazitaten zu stehen haben. Wir wiederholen, man muB bewegt und industriell denken, um nicht nur einfach das Alte zu kopieren; denn hier, in diesem eratmenden Schritt, in dieser Beschleunigung, Unruhe undVergroBerung unseres Aktionskreises liegen groBe seelische und gedankliche W erte verborgen; aber das bezieht sich nur auf die Maschine als einer auBeren Erleichterung und Willensform und nicht auf den feigen Massenkram der Fabriken oder gar auf die letzthinigen Typen und Resultate der heraufkommenden Welt von neuem bauerlicher, frommer, ritterlicher Menschen. Sie verstand es, die Maschine, alles so leblos, technisch und untermenschlich im einzelnen zu machen, wie es die Stra.Ben des Berliner Westens im ganzen sind. lhr eigentliches Ziel ist das Badezimmer und Klosett, die fraglosesten und originalsten Leistungen dieser Zeit, genau so wie die Mobel im Rokoko und die Architektur in der Gotik die eingeborenen Kunstarten dieser Epochen darstellen. Hier regiert die Abwaschbarkeit, irgendwie flieBt iiberall das Wasser von den Wanden herab, und der Zauber der modernen sanitiiren Anlagen mischt sich als das Apriori der Maschinenware unmerklich noch in die entfemtesten und kostbarsten Architekturgebilde dieser Zeit. Daran ist auch durch die voriibergehende Hoffnung einer Wiedergeburt der Form, sei es durch die neuen Stoffe des Glases, Stahls und Betons, sei es vor allem durch die neuen Form- und Konstruktionsmoglichkeiten auf Grund dieser Materialien, nichts gebessert worden. Denn alles, was die modernen Stoffe und Zweckkonstruktionen gebracht haben, um das, wie Ruskin sagt, mit Abkiirzung zu tun, dessen Ehre gerade in seiner Schwieri~keit liegt, geht am Stil, dieser hochst -schmuckfreudigen, fast nur aus Schmucksinn symmetrischen und ,,konstruierten", luxurios symmetrischen Angelegenheit vorbei, um bestenfalls in jener technischen Ahnlichkeit zu landen, die der

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Wolkcnkratzer mit dem Birs Nimrud und die feierlichc Kinofassade mit der Altesten, freillch aus einer anderen Geometrie heraus seometrischen Baukunst aufweist. Nun ist dieses Versagen freiHch nicht an allen Orten bedenklich; es gibt Gelegenheiten, wo man einer geschmackfremden Abstraktheit den expressionistischen Dank abstatten mochte. Denn einmal ist das Auszieren trotz allem wieder e1wacht. Man sucht mit Gewalt aus dem Trockenen heraus zu kommen. Man sieht allmahlich ein, eine Geburtszange muB glatt sein, aber eine Zuckerzange mit nichten. So sucht man wieder farbig aufzulockern, man driingt auch bewu.Bter als je auf das Zeichnen und das Leben der organischen Linie. Zum andern ist das Abhandenkommen aller gewerblichen Fahigkeiten vielleicht doch nicht ohne positive Tiefe. Darauf hat Mare zuerst und mit Gliick hingewiesen. Es kann dieselbe Gottin sein, die hier Not und dort UberfluB schenkt, hier die vollige Unfahigkeit zur schonheitsvoll geschlossenen Form und einen Organzerfall, der in der Geschichte nicht seinesgleichen findet, dort das Aufblitzen f euriger und ratselvoller Zeichen jenseits alles Stilwollens, aller Iuxuriosen Kunstindustrie und aller blo.Beudamonistischen Ausgeglichenheit, Eurythmie und Symmetrik des Stilbegriffs. Man hat gesagt, daB ein russischer Bauer ein Heiliger sein mii.Bte, um iiberhaupt nur ein anstandiger Mensch werden zu konnen. Oder nach Lukllcs, daB ein moderner Architekt, der die Begabung Michelangelos besa.Be, gerade ausreichte, um einen schonen Tisch zu konstruieren. Aber es la.Btsich diesem Satz auch hinzufugen, da.B, wie stets dieKinder oder dieBauern, sojetzt auch ein bedurftiger, von LebensmOhe bedrangter Dilettant, der an Geschicklichkeit nicht mit dem kleinsten alter Maler zu vergleichen ist, trotzdem in der merkwurdigen Luft dieser Zeit Gebilde, unwerkhafte, stillose, aber ausdruckshafte und symbolische Gebilde crzeugen kann, die keinen letzthinigen Vergleich mit den groBartigsten Aussagen der griechischen oder neuzeitlichen Stilepochen zu scheuen brauchen. Das ist der Weg, den derBlauc Reiter zieben wollte, ein verwachsener, unscheinbarer Seitenweg, der die Hauptstralle der Menschheitsentwicklung bildet. Das ist weiterhin, trotz allesFeindlichen, Bosartigen, Negativen, das sich ebenfalls aus dem Stilsterben der Mitte des neunzehnten

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Jahrhunderls ablesen la.Bt, dcr funkt ionelle Zusanuncnhang dieser Stilepidemie mit den positiven Kraften des Expressionismus. Zum Dritten gibt es ein abstraktes Umsetzen tapetenhafter Art. - Man iibt es zwar falsch und diirftig genug. Das" macht, hier wird die Treppe von unten nach oben gekehrt. Darum bleibt alles so unaufgebliiht, da.B sich trotz Farbe und Sehnsucht nach dem Schnorkel, nach der spielenden, iiberschiissigen, organischen kapriziosen Linie samtliche Rippen des Grundrisses zahlen Iassen. Wer aber den Zierrat darf nicht kunstgewerblich auf seine Gewinnung ausgehen. Hier haJt sich kein eigenes Leben, es ist durchaus eine Frucht von unterwegs, das Rudern und Kriechen in einem abgeschnittenen Teich, nachdem sich die Flut verlaufen hat, und im ganzen der unmogliche Versuch einer in die Hande des bewu.Btesten, immanentesten Kunstwollens gelegten Schonheit von unten. Es gibt keine Fruchtbarkeit aus der reinen Form heraus oder mit ihr, diesem blo.BReflexiven des Stilcharakters, als Ziel. Man kann also sagen, da.B weder der organische Zierrat, noch der halb organische, halb anorganische Symmetrieumri.B, wie ihn die Stilmanieren zeigen, irgendwie sind, im Sinn des Bestandes; sie geschehen, und zwar als der Zustand einer unechten Beruhigung, das hei.Bt als Kunstgewerbe und im Gro.Berenals Stil, wie er lediglich als Ausmiinzung eines au.Berhalb alles Schonheitswollens gelegenen Fonds von vordem hellseherischen und nunmehr expressionistischen Beschreibungen exekutierbar wird. Darum hilft hier nur, sich von oben ber bescheinen zu lassen, erst im Oberen das Ungewollte, Unbedenkliche, Organische, Irrationale aufbliihen zu lassen, um derart, wie es zu allen, sogar den ausgepragtesten Stilzeiten geschah, die unwillige Beziehung zum Ornament von dem Bilder-, Formen- und Ausdrucksreichtum der unangewandten Kunst unterstiitzt zu erhalten. Denn wenn auch das Kunstgewerbe Geschmack und ruhevollen Abschlu.Bbraucht, so ist es doch mit Ausnahme des sogleich zu erwahnenden Barock-Kunstgewerbes nicht dazu verpflichtet, diese freilich letzthin nur ihm eigentiimlichen Stil- und Wertkategorien in seinem eigenen Bereiche zu entwickeln. Es geniigt und ist allein durchfiihrbar, sofern der stets abgeleitete Stil zwar

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nicht zum Ausdruck steigen, wohl aber der Ausdruck jederzeit zum cudamonistischen Stilgebrauch fallen kann, die Fonnen, das sich in der hohen Kunst ergebende Unterwegs der Formvermittlung, von dieser auf das Kunstgewerbc zu iibertragen. Das ist nun freilich nicht filr alle Falle richtig. Irgendwo gibt es durchaus eine lehrreiche Abstraktheit aus dem GeistderTapete. Denn es lebt noch etwas zwischen Stuhl und Statue, namlich der Teppich, das Allegoriehafte, die echte, nicht abgestandene, sondern probierende, wenn auch ebenfalls nur ,,versetzte", abgeleitete reine Form. Und diese kann allerdings direkt von unten an auf die Ausdruckskunst einwirken, ohne anzuhalten und diirftig oder streng zu machen. Ein Stuhl selbst ist freilich nur dazu da, um besetzt zu werden, er weist sichtbar auf den ruhenden Menschen hin. Und eine Statue ist dazu da, um besehen zu werden, oder vielmehr, da ihr auch dieses, wie alle familiare Beziehung gleichgiiltig ist, sie ruht in sich, ihrer eigenen Herrlichkeit zugewendet. Es ist sehr leicht, dfo derart bestehende, einfache Grenzc zwischen der kunstgewerblichen und der kiinstlerischen Form zu bestimmen. Sie la.Ot sich am schlagendsten dadurch demonstrieren, daB man den DrehungsprozeB des Beschauers als unterscheidendes Merkmal einsetzt. Dann wird sich alles, was gebraucht wird, was Boden und Sessel bleibt, also durch ein sich e r I e bende s lch beherrscht wird, dem Kunstgewerbe zurechnen lassen; wahrend alles, was den Aufblick hervorruft, was sich zum Gebalk und iiber uns gezogenen Bildwerk erhebt, mithin zum Stuhl oder Schrein fiir den Leib Gottes iibergeht, aucb lediglich durch das darin g es eh e ne, sich optisch entgegenkommende Subjekt eines zweiten Stockwerkes beherrscht wird und insofern der hohen Kunst zugehort. Und weil uns die kunstgewerblichen Dingc nur umgeben, so ist es ihnen eigentiimlich, behaglich zu sein, die elegante Vollkommenheit vor allem zu halten und den Stil anzuziehen. Oder genauer gesagt, aus einer dariiber hinausschieBenden Ausdrncksbewegung gewisse Elemente des Schmucks und der Konstruktion anzuhalten und als Takt oder MaB zu stabilisieren, wie sich denn das ganze mittlere Griechenland und die balbe, das heiBt, abgesehen vom Barock, die durch Renaissance und Empire ,,klassisch" eingerahmte Neuzeit die Kunst wesentlich nur als freundliche, un-

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geistliche Lebensbegleitung, aber nicht als die Beschwichtigung seelischer Notzustlinde, nicht als den Trostgesang einer um Hlisslichkeit und Schglich, oder erfilllbar, das heiJlt objektiv moglich, sondern schlechterdings notwendig, weit entfernt von allen formalen oder realen Belegen, Beweisen, Erlaubnissen, Priimissen seines Daseins, aus der Natur der Sache a priori postuliert und demnach auch wirklich, das hei.Bt von u top isch er, intensiver Neigung genau gegebener, essentieller Realitat. Der Gedanke kann so zum Stichwort werden, mit dem sich die gottestragerische Seele ihre.n Traum, den Traum der Ahnung aufschlie.flt,als welcher zuletzt die Wahrheit der ganzen Welt sein wird. Darum zum Ende, wir selber schreiten derart, indem wir das Leid und die Sehnsucht denken, in unseren inneren Spiegel hinein. Wir verschwinden in der kleinen, gemalten Tiir des fabelhaften Palastes, den Messias zu rufen, und in Explosion fliegt auf das Drau.Ben, in den Weg Gestelltes, Satan der Todesdamon, das krustenhafte Ritardando der Welt, alles, was nicht von uns, von dem vielen Einzelnen, sich Erhoffenden, von unserer himmlischcn Herrlichkeit ist oder sie gar hindert; indes drinnen, in der gotischen Stube der Selbstbegegnung, diese ganze weite und scheinbar so sehr reale Welt dereinst nur selber wie ein Bild unschadlicher Erinnerung an den Wanden hangt. ,,Wisse", sagt ein altes Manuskript des Sohar, ,,wisse, da.fl es einen doppelten Blick fiir alle Welten gibt. Der eine zeigt ihr A.u.fleres,namlich die allgemeinen Gesetze der Welten nach ihrer au.Beren Form. Der andere zeigt das innere Wesen der Wel ten, namlich den lnbegriff · der Menschenseelen. Demzufolge gibt es auch zwei Grade des Tuns, die Werke und die Ordnungen des Gebets; die Werke sind, um die Welten zu vervollkommen in Hinsicht ihres .A.ufleren, die Gebete aber, um die eine Welt in der anderen enthalten zu machen und sie zu erheben nach oben." Dorthin geht es, alles mit uns zu farben, zu beschleunigen, zu entscheiden: bunt, abenteuerlich und heimkehrend, nichts ist fertig, nichts ist bereits geschlossen, nichts ist innen gediegen; - die abgesprengten unteren Teile zu sammeln, unser Haupt aus der Geschichte weiter wachsen zu lassen, den Staat zur Begleitung der Briidergemeinde zu zwingen

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und zuletzt das Korn der Selbstbegegnung zu dem furchtharen Erntefest der Apokalypse zu bringen - nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit, mi t a u f g e d e e k t e m A n g e s i e h t • und wir werden verklart in dasselbc Bild, vou einer Klarheit zu der andercn, als vom Geist des Herrn. Deun wir sind machtig; nur die Bosen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten - da besteht Gott durch sie, und in ihre Hande ist die Heiligung des Namens, ist Gottes Ernennung selber gegeben, der in uns rilhrt und treiht, geahntes Tor, dunkelste Frage, iiberschwangliches Innen, der kein Faktum ist, sondern ein Problem, in die Hande unserer gottbeschworenden Philosophie und der Wahrheit als Gebet.

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GESAMTAUSGABE DER WERKE ERNST BLOCH IN SECHZEHN BANDEN

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Spuren Thomas Miinzer als Theologe der Revolution Geist der Utopie Erbschaft dieser Zeit Das Prinzip Hoffnung Naturrecht und menschliche Wiirde Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz Subjekt - Objekt. Erlauterungen zu Hegel Literarische Aufsatze Philosophische Aufsatze zur objektiven Phantasie Politische Messungen, Pestzeit, Vormarz Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie Ttlbinger Einleitung in die Philosophie Atheismus im Christentum Experimentum mundi Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 191 8 Bisher erschienen die Bande

I

bis 6, 8 bis 1 1, 13, 14 und 16.

Emst Biodi »Geist der Utopie« Faksimile der Ausgabe von 1918 im Verlag Duncker & Humblot, Miindien und Leipzig Photomedianisdier Nadidruck bei der NomosVerlagsgesellsdiaft, Baden-Baden Printed in Germany. Alle Redi te vorbehalten Erstes und zweites Tausend 1971 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main