Vom Geist der Gesetze. Eine Auswahl

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German Pages 203 [204] Year 1950

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Vom Geist der Gesetze. Eine Auswahl

Table of contents :
Frankreich 1715–1748
England 1689–1748
Die Anfänge der liberalen Staatslehre in England 1644–1748
Wegbereiter einer liberalen Staatstheorie auf dem Kontinent 1670–1748
Die Persönlichkeit Montesquieus und seine Werke
VOM GEIST DER GESETZE
Aus dem Vorwort
1. Buch: Von den Gesetzen im Allgemeinen
2. Buch: Von den Gesetzen, die sich unmittelbar aus dem Wesen der jeweiligen Staatsführung ableiten lassen
3. Buch: Von den Grundgedanken der drei Formen der Staatsführung
4. Buch: Die Normen der Erziehung müssen dem Grundgedanken der Staatsform entsprechen
5. Buch: Die Gesetze, die der Gesetzgeber erläßt, müssen dem Grundgedanken der Staatsform entsprechen
6. und 7. Buch: Auswirkungen der Grundgedanken der verschiedenen Staatsformen auf dem Gebiet des bürgerlichen und des Strafrechts, des richterlichen Verfahrens und der Strafvollstreckung, sowie hinsichtlich der Gesetzgebung zur Beschränkung des Aufwands und der Stellung der Frau
8. Buch: Von der Verfälschung der Grundgedanken der drei Staatsformen
9. Buch: Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zur Landesverteidigung
10. Buch: Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zur Angriffskraft des Staates
11. Buch: Von den Gesetzen, die die Freiheit des politischen Lebens gestalten
12. und 13. Buch: Von den Gesetzen, die die politische Freiheit im Leben des einzelnen Bürgers gewährleisten, und von dem Zusammenhang zwischen Steuergesetzgebung und Freiheit
14. bis 19. Buch: Von den Beziehungen zwischen den Gesetzen einerseits, dem Klima und der Bodenbeschaffenheit eines Landes und den Sitten und der Lebensweise eines Volkes andererseits
20. bis 22. Buch: Von den Gesetzen in ihren Beziehungen zum Handel und zum Geldwesen
23. bis 25. Buch: Bevölkerungs- und sozialpolitische Betrachtungen; staatliche Rechtsordnung und Religion
26. Buch: Die Zuständigkeit der einzelnen Normenordnungen und ihr Verhältnis zueinander
27. bis 31. Buch: Rechtsgeschichtliche Untersuchungen; von der Art und Weise, Gesetze zu formulieren
Sachverzeichnis
Literaturnachweis

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Von der

Heydts

CHARLES B A R O N DE M O N T E S Q U I E U VOM GEIST DER GESETZE

C H A R L E S BARON DE M O N T E S Q U I E U

VOM GEIST DER GESETZE EINE AUSWAHL

übersetzt und erläutert von

FRIEDRICH AUGUST FREIHERR V O N DER H E Y D T E Privatdozent an der Universität München

BERLIN

1950

WALTER DE G R U Y T E R & C O . vormals G . J . Gösdien'sdie Verlagshindlung - J . Guttentag, Verlagsbudihandlung Georg Reimer - Karl J . Trübner - Veit U Comp.

Arduv-Nr. 45 58 50 Dnidt: Kastner & Callwey, München

ERICH KAUFMANN IN ERINNERUNG AN DEN SOMMER 193 j IN DANKBARKEIT ZUGEEIGNET.

INHALTSVERZEICHNIS Einführung Frankreich 1715—1748 England 1689—1748 Die Anfänge der liberalen Staatslehre in England 1644—1748 A. Harrington B. Milton und Sidney C. John Locke D. Auswirkungen def englischen liberalen Staatstheorie auf die Verfassungen der englischen Kolonien in Nordamerika Wegbereiter einer liberalen Staatstheorie auf dem Kontinent 1670—1748 A. Spinoza B. Pufendorf und Thomasins C. Leibniz D. Fenelon und Gravina Die Persönlichkeit Montesquieus und seine Werke . . . A. Jugend; die „Persischen Briefe" B. Reisen; die „Gründe für die Größe und den Niedergang der Römer" C. Reife; „vom Geist der Gesetze" D. Versöhnung; schweigender Ausklang . . . . E. Lehrmeister des modernen Rechtsstaats . . . .

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VOM GEIST DER GESETZE Aus dem Vorwort

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1. Buch: Von den Gesetzen im Allgemeinen . . . . 2. Buch: Von den Gesetzen, die sich unmittelbar aus demWeSen der jeweiligen Staatsführung ableiten lassen 3. Buch: Von den Grundgedanken der drei Formen der Staats führung 4. Buch: Die Normen der Erziehung müssen dem Grundgedan ken der Staatsform entsprechen

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Vin

INHALTSVERZEICHNIS

5. Buch: Die Gesetze, die der Gesetzgeber erläßt, müssen dem Grundgedanken der Staatsform entsprechen . . . . A. Die Gleichheit Grundlage der Demokratie; ihre Verwirklichung B. Die Verwirklichung der staatstragenden Idee in der Aristokratie, der Monarchie und den despotisch geführten Staaten 6. imd 7. Buch: Auswirkungen der Grundgedanken der verschiedenen Staatsformen auf dem Gebiet des bürgerlichen und des Strafrechts, des richterlichen Verfahrens und der Strafvollstreckung, sowie hinsichtlich der Gesetzgebung zur Beschränkung des Aufwands und der Stellung der Frau 8. Buch: Von der Verfälschung der Grundgedanken der drei Staatsformen 9. Buch: Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zur Landesverteidigung 10. Buch: Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zur Angriffskraft des Staates 11. Buch: Von den Gesetzen, die die Freiheit des politischen Lebens gestalten A. Das Wesen der Freiheit des politischen Lebens; die Gewaltenteilung B. Die richterliche Gewalt C. Die gesetzgebende Gewalt D. Die vollziehende Gewalt E. Das Verhältnis der drei Gewalten zueinander . . 12. und 13. Buch: Von den Gesetzen, die die politische Freiheit im Leben des einzelnen Bürgers gewährleisten, und von dem Zusammenhang zwischen Steuergesetzgebung und Freiheit 14. bis 19. Buch: Von den Beziehungen zwischen den Gesetzen einerseits, dem Klima und der Bodenbeschaffenheit eines Landes und den Sitten und der Lebensweise eines Volkes andererseits 20. bis 22. Buch: Von den Gesetzen in ihren Beziehungen zum Handel und zum Geldwesen 23. bis 25. Buch: Bevölkerungs- und sozialpolitische Betrachtungen; staatliche Rechtsordnung und Religion . . . 26. Buch: Die Zuständigkeit der einzelnen Normenordnungen und ihr Verhältnis zueinander 27. bis 31. Buch: Rechtsgeschiditliche Untersuchungen; von der Art und Weise, Gesetze zu formulieren . . . . Sachverzeichnis . . Literaturnachweis

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FRANKREICH 1715—1748. Es ist das Schicksal jedes Menschenwerks, daß es zeit- und raKmgebunden ist, zeit- und raumbedingt, nur aus der Zeit und dem Raum seiner Entstehung verständlich. Ich muß deshalb den Leser, der mit mir den alten, braunen, goldgepreßten Lederband aufschlagen will, dessen Rücken auf rotem Schild in goldenen Buchstaben die Inschrift trägt „Oeuvres de Montesquieu", bitten, zuerst mit mir sich in die Zeit und das Land zu versetzen, in dem diese Werke entstanden sind: in das Frankreich des 2. Viertels des 18. Jahrhunderts. Am 1. September 1715 starb Ludwig XIV. Das Erbe, das der Sonnenkönig seinem fünfjährigen Urenkel und dem Regentschaftsrat hinterließ, war alles andere als eitel Sonnenschein. Frankreichs größter König hatte den Höhepunkt seiner Macht und seines Ruhmes überlebt. Die großen Minister Frankreichs waren längst gestorben, Colbert 1683, Louvois 1691. Ihre Nachfolger waren ihnen nicht ebenbürtig. Im spanischen Erbfolgekrieg, waren die französischen Heere hei Blenheim (1704) und Ramillies (1706), Oudenarde (1708) und Malplaquet (1709) von Marlborough und Prinz Eugen geschlagen worden. Im Frieden von Utrecht (1713) hatte der Grundsatz des europäischen Gleichgewichts, das die Macht aller europäischen Fürsten sorgsam abwog und ausglich, über den König gesiegt, der einmal geglaubt hatte, die Vorherrschaft in Europa und die römische Kaiserkrone sich als mögliche politische Ziele setzen zu können. Im Inneren des Staats lag die oberste, fast unumschränkte Gewalt beim König. Die Ständevertretung, der eigentlich die Mitwirkung bei der Gesetzgebung zukam, war seit 1614, also 1 1 Von

der

H e y d t e, Montesquieu

FRANKREICH 1715—1748

über ein Jahrhundert lang, nicht mehr einberufen worden. Bis in die Achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts hatte die Gesamtheit der obersten Pairsgerichte, die Korporation der 14 Parlamente Frankreichs, innerhalb der das Parlament von Paris die vornehmste Stelle einnahm, dadurch an der Gesetzgebung teilgenommen, daß Staatsakte — Gesetze, Staatsverträge, Friedensschlüsse — zu ihrer Gültigkeit der Eintragung in das Protokoll dieser Gerichtshöfe des Adels bedurften, die ihre Mitglieder selbst bestimmen, die Mitgliedschaft nach eigenem Gutdünken vergeben und verkaufen konnten; aber auch diese merkwürdige rechtsgeschichtliche Erscheinung war in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Ludwigs XV. nicht mehr zum Tragen gekommen. Mit der vollen Gewalt im Staat ist immer auch die volle Verantwortung für alles verbunden, was im Staate geschieht. Das hieß im Frankreich, das Ludwig XIV. seinem Erben hinterließ, Verantwortung für die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, für den Gegensatz zwischen Arm und Reich, der sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Krieg zu Krieg, vergrößert hatte, Verantwortung für die Steuerlast, die immer drückender vor allem auf den Bürgern in den Städten lastete — 1709 war es zum erstenmal zu einem „Hungermarsch" Pariser Frauen nach Versailles gekommen, die die Herabsetzung der Brotsteuer von ihrem König forderten —, hieß Verantwortung für alle Korruption, alle Sittenverderbnis, alle Verschwendung, alle Not, alle Armut, alle Verzweiflung. Es mag ein Symbol dieser alleinigen Verantwortung des Königs gewesen sein, wenn im Falle einer Weigerung des Parlaments, einen Akt des Königs in seine Protokolle aufzunehmen, der König selbst im Parlament erscheinen und in feierlicher Form vom „Lit de justice" aus durch seinen Kanzler diese Eintragung befehlen lassen mußte, um seinem Akt Rechtsgültigkeit zu geben. Neben und hinter dem König stand ohne politische Macht, ohne Aufgabe und ohne Verantwortung ein Adel, der an Stelle von Rechten nur Vorrechte besaß. Rechte verpflichten, Vorrechte

DAS ERBE L U D W I G S

XIV.

verleiten. König und Adel wetteiferten im Zeigen äußeren Glanzes; jener zum Zeichen seiner Machte dieser^ um seine Ohnmacht zu vergessen. Mit dem Tod Ludwigs XIV., den das französische Volk als Befreiung vom Joch des Despoten mit Jubel, Lachen und Spottgedichten begrüßt, scheint den Zeitgenossen eine neue Epoche in der Geschichte Frankreichs anzubrechen. Das Parlament erhält wieder einen gewissen Anteil an der Führung des Staats, Es erkennt das Testament des Königs nicht an, macht den Herzog von Orleans ^ zum alleinigen Regenten und erhält das Recht zurück, gegen Handlungen des Königs Vorstellungen zu erheben. Als es freilich von diesem Recht Gehrauch machen will um den Finanzplänen John Law's Einhalt zu gebieten — Finanzplänen, die auf einer Ausweitung des Kredits fußten, der nach Law's Ansicht beim Staat wie beim Privatmann das zehnfache der vorhandenen Mittel betragen durfte, und die deshalb 1720 zur ersten uns bekannten großen Inflationskrise führten — wird es yiach Blois verbannt.^ 1 Vgl. dazu Montesquieu! Bemerkung über den Herzog von Orleans in den „Persischen Briefen", (92. Brief): „Dieser geschickte Fürst war im Parlament, legte ciort alle Rechte dar, die seine Geburt ihm verleiht, und ließ die Verfügung des Monarchen aufheben, der in der Absicht, sich selbst zu überleben, die Herrschaft noch nach seinem T o d zu beanspruchen schien. Die Parlamente gleichen jenen Ruinen, über die man hinwegschreitet, die aber immer noch an irgendeinen Tempel erinnern, der durch den einstigen Glauben des Volkes Berühmtheit erlangt hat. Sie kümmern sich kaum mehr darum Gerechtigkeit walten zu lassen und ihre Autorität schwindet immer mehr und mehr, wenn nidit ein unvorhergesehenes Ereignis ihr wieder K r a f t und Leben verleiht. Diese großen Körperschaften sind dem Schicksal aller menschlichen Dinge gefolgt: Sie sind der Zeit gewichen, die alles zerstört, der Sittenverderbnis, die alles gesdiwächt, und der höchsten Gewalt im Staat, die alles ausgeschaltet hat. Der Regent jedoch, der sich beim Volk beliebt machen wollte, gab sich zuerst den Anschein, als achte er dieses Symbol der öffentlichen Freiheit; und als habe er daran gedacht, Tempel und Sinnbild wieder aus dem Staub zu erheben, bestimmte er, man solle die Parlamente als Stütze der Monarchie und als Grundlage jeder rechtmäßigen H e r r s d i a f t betraditen." Oeuvres de Montesquieu, Paris 1788, 4. Bd., S. 234 f . 2 Montesquieu vergleicht im 13S. Brief seiner „Persisdien Briefe" die Rechenkunst" John Law's mit der Astrologie — „Jedes Volk hat seine Wissensdiaft, von der es seine Politik bestimmen läßt . . .; glaubst Du nicht, d a ß die zufällige

FRANKREICH

1715—1748

Im übrigen ändern der Regent und sein Minister und einstiger Erzieher, der Kardinal Dubois, den Kurs weder nach außen noch im Inneren. Es war dieser Kurs, nicht die Politik, die die beiden genannten Männer im Rahmen dieses Kurses führten, der nach außen die Spannungen nicht löste, im Inneren die soziale und wirtschaftliche Krisenlage verschärfte. Weder der R.egent noch Dubois waren an sich schlechte Politiker; doch nicht ihre Politik hat sie berühmt gemacht, sondern ihr Lehen, von •dem behauptet wird, es sei in einer ununterbrochenen Kette ausschweifender Vergnügungen verlaufen.^ Am 15. Februar 1723 ließ der Regent Ludwig XV. für volljährig erklären und krönen. Ein halbes Jahr darauf starben er und sein Minister Dubois. Dem jungen König stand von 1726 bis 1743 der Kardinal Fleury als Minister und Berater zur Seite. Fleury, der vordem des Königs Erzieher und, wie er selbst scherzte, von Gottes Ungnaden Bischof von Frejus, weit unten am Ufer des Mittelmeers, gewesen war, war ein untadelhafter Priester und Staatsmann, gerecht, friedliebend und sparsam, gebildet und ein Freund der Wissenschaften. Die entscheidende Persönlichkeit nicht nur im Lehen des Königs, sondern auch in der französischen Politik sollten aber nicht er sein, nicht der Herzog von Bourbon, der ihm als Minister vorherging, nicht die Männer, die ihm folgten, sondern eine Frau: Jeanne Antoinette Poisson, die spätere Marquise de Pompadour, die von Madame de Tencin, der Mutter des Philosophen d'Alemhert, dem König als Geliebte zugeführt worden war und die 1745 trotz des Widerstandes des Adels — nicht gegen die Geliebte, sondern gegen Begegnung der Gestirne eine ebenso sidiere N o r m ist wie die sdiönen Erwägungen Euerer Wirtsdiaftstheoretifcer?" — und schildert dann im 138. Brief die Folgen der Inflation: „Der Adel ist ruiniert; welche U n o r d n u n g im Staat! Weldies D u r d i einander der Stände! Man sieht nur Unbekannte ihr Glüdc madien!" 4. Bd., S. 3SS. 1 Vgl. dazu Montesquieus Bemerkung über die Politik in zeit im 138. der „Persisdien Briefe": „Seit der letzte König seine hat, denkt m a n daran, eine neue Verwaltung einzuriditen. Man etwas sdiledit w a r ; aber man wußte nidit, wie es anstellen, madien." 4. Bd., S. 354.

der RegentschaftsAugen gesdilosseii spürte wohl, d a ß um es besser zu

DIE POLITISCHE LAGE

die bürgerliche Kaufmannstochter — förmlichen Zutritt zum Ho} erhielt. 12 ]ahre von den ersten 25 Jahren seit der Krönung Ludwig XV. führte Frankreich Krieg; erst den polnischen, dann den österreichischen Erbfolgekrieg. Diese Kriege brachten Frankreich manch militärischen Sieg, aber sie leerten die Kassen, erhöhten die Steuerlast und vermehrten Not, Elend und Armut der unteren Schichten. Die Friedensschlüsse, die diese Kriege beendeten — von Wien 1738 und von Aachen 1748 —, führten, von dem Erwerb Lothringens abgesehen, kaum zu einer sichtbaren Veränderung der außenpolitischen Stellung Frankreichs oder der europäischen Lage überhattpt. Von 1741—1747 leitete der Marquis d'Argenson als Minister des Äußeren Frankreichs Außenpolitik. Er war ein Freund Montesquieu's und seinem Geist verwandt. In seinem nicht verwirklichten Plan eines italienischen Bundes mag man Ideen mitklingen hören, die zu etwa der gleichen Zeit im „Geist der Gesetze" vonMontesquieu ausgesprochen werden} Während in der Außenpolitik Frankreichs Mühen um die Stellung des machtvollen Schiedsrichters der Welt, von der noch d'Argenson für sein Vaterland träumt, immer fruchtloser wird, und im Inneren Hunger, Armut und Not auf weiten Kreisen der Bevölkerung lasten, rüstet sich das geistige FrankreichzudemSie1 D'Argenson trifft sich in vielen Fragen mit Montesquieu. Man glaubt Montesquieu zu hören, wenn man hei d'Argenson von der Freiheit liest, „die die Gesetze denen lassen müssen, die ihnen unterworfen sind, um den natürlichen Geistesflug zu erhalten, der zur Größe führt, einer Freiheit, die aber gleichzeitig jede Zügellosigkeit unterdrückt, die die allgemeine Ordnung stört " Sein Ideal ist die Demokratie in der Monarchie; die Verwaltung durch das Volk unter der Autorität eines Herrschers. In einem so eingerichteten Staat, so führt er aus, halten sich die beiden entsdieidenden politisdoen Kräfte, Volk und Fürst, die Waage, indem in der Führung neben die Beamten des Königs die Beamten des Volks treten, und jede Schicht und jede Gruppe wird in gleicher Weise von den Gesetzen geschützt. Um diesen Staat zu schaffen, stellt d'Argenson schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen Plan weitgehender Selbstverwaltung der Gemeinden auf. Die einzig wahre Demokratie ist für d'Argenson die repräsentative. Er huldigt im übrigen auf dem Gebiet der Staatslehre einem unbedingten Fortschrittsglauben: „Alles ist Revolution auf dieser Welt."

F R A N K R E I C H 1715—1/48

geszug, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Banner der Aufklärung durch ganz Europa Gedanken tragen wird, die, in Frankreich zuerst gedacht oder zuerst in Worte geprägt, Zeugnis gehen werden für die Größe französischen Geists. Diese Gedanken werden, das kennzeichnet sie, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielfach nicht in der Einsamkeit einer Studierstube geboren und entwickelt, sondern im Gespräch gleichdenkender Freunde, im Briefwechsel, in den Salons geistreicher Frauen: Einer Madame de Lambert, de Geoffrin, de Tencin, einer Herzogin von Aiguillon und von Chaulnes. In diesen Salons werden nicht nur politische, sondern weit mehr noch geistige Kämpfe ausgetragen, und das Ergebnis mancher dieser Kämpfe wird ein Menschenalter später nicht nur Frankreich, sondern die ganze Welt erschüttern und verändern. Das geistige Frankreich nach Ludwigs XIV. Tod wird von drei verschiedenen Strömungen beherrscht: von der unerbittlichen, pessimistischen Lehre der Jansenisten von Port Royal, daß Gott seine Gnade nur dem gebe, dem er sie geben will, und daß mit dieser Gnade der Mensch Rettung finden müsse, ohne sie dagegen nicht gerettet werden könne, vom kühlen, selbstgefälligen Skeptizismus des Pierre Bayle, der unter dem Einfluß Descartes'scher Gedanken^ die „Pflicht zumZweifel" als Voraussetzung jeder Erkenntnis und die Absage an das Vorurteil als Vorbedingung jedes Urteils verkündete und dessen Gedanken während der Regentschaft des Herzogs von Orleans in der snobistischen Irreligiosität des Regenten eine die „gute Gesellschaft" beherrschende modische Gestalt erhielten, dadurch an Breite gewinnend, was sie an Tiefe verloren, und von dem feurigen, kämpferischen Glauben des Jesuitenordens, der bei der Abwehr all dessen, was er für verhängnisvollen Unglauben hielt, in einem uns heute nicht mehr voll verständlichen Ausmaß die Hilfe der Staatsgewalt suchte — und, vor allem unter dem Ministerium Fleury, auch erhielt. 1 Der Zweifel

Descartes'

ist methodisch,

der Bayles

metaphysisch.

DAS G E I S T I G E

FRANKREICH

Will man diese verschiedenen geistigen Strömungen in ihrer bunten Vielgestalt verstehen, so mag man Bayle lesen, der damals wohl den größten Einfluß hatte, Malebranche, der uns heute als der Größte in dieser Reihe erscheint, oder Fontenelle: Denker, die alle irgendwie die Verbindung darstellen zwischen Descartes und der Aufklärung, den Enzyklopädisten, Voltaire und Rousseau. Aber man muß dann auch — ich zitiere Henry Dwight Sedgwick^ — „zur Kirche von Saint-Sulpice gehen, die wie die steingewordene Theologie der Sorbonne vor uns steht, eindrucksvoll, majestätisch, in schier törichter Äußerlichkeit und Regelmäßigkeit, bis die späte Abendsonne auf ihre Fassade fällt und Säulenhalle, Säulen, Blenden, Türme plötzlich mit einem Strahl göttlicher Erleuchtung erhellt und veredelt, und man wird dann besser, als ich es darzustellen vermag, verstehen, was die Gegner Malebranche's, Fontenelle's und Bayle's — die großen Prediger, die in Steindenkmälern auf dem Platz vor der Kirche sitzen, Bossuet, Fenelon, Massilon und Flechier den Skeptikern und Rationalisten zu erwidern hatten." Glaube und Unglaube, Rationalismus und Mystizismus, Zweifel und Aberglaube wuchern in dieser Frühzeit beginnender Aufklärung ebenso eng verbunden nebeneinander, wie Roheit und Gefühlsüberschwang, bigotte Frömmigkeit und moralische Zügellosigkeit, empirische Naturforschung und geheimnisvolle Alchemie.^ Aus Europa und der Gegenwart flieht der Geist der 1 In: France, a short History of its politics, London 1930, S. 215 3 Montesquieus „Persische Briefe" geben ein farbenfrohes Bild dieser Zeit und ihrer vielen und widerspruchsvollen Strömungen. Vgl. etwa im 58. Brief die Schilderung des Lehens in Paris: „In Paris gibt es viele Berufe. Da kommt ein gefälliger Mann, um Dir für wenig Geld das Geheimnis des Goldmadiens anzuvertrauen; ein anderer verspricht Dir eine Nadit zusammen mit den Geistern der Luft — vorausgesetzt nur, daß Du 30 Jahre alt bist, ohne je eine Frau angesehen zu haben. Du wirst Wahrsager finden, derart gesdiidct, daß sie Dir Dein ganzes Leben voraussagen können, vorausgesetzt, daß sie vorher eine viertel Stunde mit Deinem Dienstboten haben spredien können. Gewandte Frauen machen aus der Jungfräulidikeit eine Blüte, die täglidi welkt und wieder frisch aufblüht und sidi das hundertste Mal mit größerem Weh pflücken läßt als beim ersten Fall. Es gibt andere, die durdi ihre Kunst alle Unbilden der Zeit verwisdien und in einem Gesicht eine bezaubernde

FRANKREICH 1715—1748

Denker und Dichter der Zeit gern in den fernen Osten, nach Persien, Japan und China, und in die Antike, dort bald das abschreckende Beispiel, bald nach Vorbild und Idealen suchend. Dabei kleidet sich die zeitkritische Untersuchung unter der Regentschaft gern in die leichte und spielerische Gestalt des Romans, der erfundenen Briefe und der erdachten Gespräche; in den ersten Regierungsjahren Ludwigs XV. erscheint sie als ernste, historische und wissenschaftliche Arbeit, die die Nutzanwendung aus vergangener Zeit und fernen Landen für Gegenwart und Vaterland dem Leser nahelegt; um die Mitte des Jahrhunderts schließlich beginnt sie auf Allegorie und Analogie zu verzichten; sie tritt offen auf und nennt, wen sie nennen will, beim richtigen Namen. Damit beginnt aber auch eine Periode der Dogmatisierung der zeitkritischen Thesen der Aufklärung. Das ist, mit wenigen groben Strichen umrissen, die Zeit und das Land, in denen Montesquieu lebte und für die Montesquieu schrieb. Um dieses Frankreich zu warnen, — das Frankreich, das von Richelieu's Geist erfüllt ist, von dem Montesquieu einmal sagt, er habe den Despotismus wenn nicht im Herzen, so doch im Kopf getragen, — schiMert er den despotisch geführten Staat in seiner grausigen Wirklichkeit; uns Menschen des 20. Jahrhunderts mag es dabei beim Lesen oft scheinen, als habe er den totalitären Staat unserer Tage prophetisch vorausgeahnt. Um diesem Frankreich ein Vorbild zu geben und ein Ziel, zeichnet er die politische Struktur und die Verfassung Englands. Schönheit T/ieder zu zaubern wissen — die die Frauen v o n der Sdiwelle des Alters 2urüd£rufen können um sie der zartesten Jugend -wiederzugeben. A U diese Leutdien leben oder versudien zu leben in einer Stadt, die die Mutter der Erlindungen ist und in der man sein Einkommen durdi Geist ebenso erwerben kann wie durch Fleiß

....

Eine unendliche Z a h l v o n Fachleuten auf dem Gebiet der Sprathe, der Künste und der Wissenschaften lehren das, was sie selbst nicht wissen — ein recht beaditlidies T a l e n t ; denn um zu zeigen, was man w e i ß , braucht man nur wenig Geist, recht viel dagegen um andern beizubringen, was man selbst nicht w e i ß . " ^^ Bd., S. 14S f .

ENGLAND

1689—1748.

Das England) das für Montesquieu das Vorbild eines Staates schlechthin ist, baut auf der Grundlage der „glorreichen Revolution" von 1689 auf. „Man hat behauptet, diese Revolution sei weder glorreich gewesen noch überhaupt eine Revolution — und in beiden Feststellungen liegt wohl ein Körnchen Wahrheit. Nichtsdestoweniger war sie sicherlich insofern glorreich, als sie unblutig war, und insofern eine Revolution, als sie eine parlamentarische Oligarchie von Grundbesitzern und Kaufleuten an die Stelle einer Monarchie setzte, die zum Despotismus neigte. . .. Vielleicht ist die Bilanz dieser Revolution der Whigs am einfachsten mit der Feststellung gezogen, daß sie England die Vorzüge gab, durch die es Frankreich niederwarf, und die Fehler, um deretwillen es Amerika verlor. ... Die wertvollste Eigenschaft des revolutionären Vergleichs von 1689 liegt jedenfalls darin, daß er ein Vergleich war."'^ Schon die Restauration der Stuarts 1660 war praktisch ein Kompromiß gewesen. Ein Kompromiß, der „nicht in Worten, sondern in Tatsachen seinen Ausdruck fand",^ ein Kompromiß, durch den formell der König die oberste Gewalt im Staat behielt, während sie praktisch auf das Parlament übergegangen war; ein Kompromiß, dessen Inhalt vielleicht am besten und kürzesten von der Formel des englischen Rechts erfaßt wird, die da sagt, die Souveränität liege beim „König im Parlament". 1 LOTCL Elton, Imperial Commonwealth, 2 George Burton Adams, Constitutional S. 335.

London 194S, S. 86 /. History of England, London

1944,

ENGLAND

1689—1748

Es war der Fehler des Jahres 1660 gewesen, daß dieser Kompromiß nicht gesetzlich verankert worden war. Diesen Fehler gutzumachen, war die wesentliche Aufgabe der „Glorreichen Revolution" von 1689 und der Bill of Rights, die die Frucht dieser Revolution war. So wenig die „Glorreiche Revolution" ein Umsturz im Sinn des Kontinents war, der dem Staat neue Form und neue Richtung geben, staatstragende Schicht und staatstragenden Gedanken ändern sollte — „ihr Ziel war ja nicht, die Nation aus der Bahn zu werfen, der sie in der Vergangenheit gefolgt war, und ihr einen neuen Weg zu weisen, sondern nur, Hindernisse aus diesem alten, seit Jahrhunderten verfolgten Weg zu entfernen"'^ — so wenig kann man die Bill of Rights als Verfassungsgesetz im kontinentalen Sinne bezeichnen. Nicht nur, daß sie, als einfaches Gesetz entstanden, theoretisch durch einfaches Gesetz wieder aufgehoben werden konnte: Sie ist auch ihrem Inhalt nach keine Verfassung. Sie legt nicht eine bestimmte Form der Staatsführung fest, schafft nicht Staatsorgane mit bestimmten Zuständigkeiten; sie formuliert nidjt allgemeine Grundsätze in lapidaren Worten, enthält keine feierliche Erklärung der Grundrechte des Bürgers: Sie ist nichts anderes als eine Aufzählung der Versuche der letzten Stuarts, die königliche Gewalt wieder zur absoluten zu madoen, und die Erklärung der Ungesetzlichkeit solcher Handlungen. „Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man feststellt, daß die angelsächsische Freiheit nur deshalb begründet und gesichert werden konnte, weil der gesunde Menschenverstand des Angelsachsen instinktiv fühlte, daß die noch so nachdrückliche und feierliche Versicherung abstrakter Rechte keinen Schutz gewährt, sondern daß dieses Ziel als praktische Wirklichkeit nur dadurch erreicht werden konnte, daß Mittel geschaffen wurden, um bestimmte Rechte durchzusetzen und bestimmtes Unrecht zu verhindern."'^ 1 Adams, 3 Adams,

10

a. a. O., S. 360. a. a. O., S. 3SS.

D I E BILL O F R I G H T S

Man kann den Inhalt der Bill of Rights — und der 1701 nachfolgenden Act of Settlement — in sechs Grundsätzen zusammenfassen : Der König kann (1) Gesetze nicht aufheben oder ändern, (2) Steuern nicht ohne Genehmigung des Parlaments erheben, (3) ohne diese Genehmigung in Friedenszeit kein stehendes Heer halten, (4) einen Richter nicht absetzen, „solange er sich gut beträgt" und die Absetzung nicht von beiden Häusern des Parlaments gewünscht wird, ohne gerichtliches Urteil niemanden gefangen setzen, und (6) in Verfahren gegen seine Minister nicht durch Gnadenakt eingreifen. Keiner dieser Grundsätze war neu: Neu war lediglich ihre schriftliche Festlegung in einem Vertrag zwischen König und Volk. Ich spreche von einem Vertrag: Denn dieses Gesetz war ein Vertrag. Nicht ganz zu Unrecht hat ein geistreicher englischer Schriftsteller unserer Zeit^ die Bill of Rights den „Anstellungsvertrag" Wilhelms von Oranien als König von England genannt — einen Anstellungsvertrag mit „strengen Bedingungen". Auf dieser Grundlage entsteht in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die für England charakteristische Form der Staatsführung, die England zu einer „Republik mit monarchischer Spitze" macht. Die Gesetzgebung liegt unumschränkt beim Parlament: Der letzte englische König, der in die Gesetzgebung des Parlaments noch einmal eingreift, ist Wilhelms III. Nachfolgerin, Königin Anna, die einmal — 1711 — gegen ein Gesetz ihr Veto einlegt!^ Inhaber der vollziehenden Gewalt ist beim Regierungsantritt des Oraniers fast ebenso ausschließlich der König. Das Parlament kann allerdings auf die vollziehende Gewalt schon durch Steuergesetzgebung und Ministeranklage einwirken. 1665 hat es begonnen, dem König die Steuern nicht allgemein, sondern unter genauer Festlegung des Zwecks, für den sie verwandt werden, zur Verfügung zu stellen. 1679 wird 1 / . C. Brogan. 3 V%1. hierzu unten S. 13S u. S. 140. 11

ENGLAND 1689—I74S

bei der Anklage gegen den Earl of Danby als Rechtssatz festgestellt, daß Minister auch wegen Handlungen belangt werden können, die nicht ihnen, sondern dem König zuzurechnen sind, und daß sie sich zu ihrer Verteidigung nicht auf des Königs Befehl berufen können. Aktive Einwirkung auf die Führung der Politik hat das Parlament jedoch noch nicht. Zwischen König und Parlament steht als Bindeglied eine Gruppe von Beratern und Ministern, die das Vertrauen des Königs und Einfluß im Parlament besitzen — jedoch ohne Bindung der Minister an dem Willen des Parlaments, ohne Bindung des Königs an den Rat der Minister. Dieser Zustand beginnt sich mit dem Regierungsantritt des ersten Königs aus dem Haus Hannover, Georgs L, 1714 zu ändern. Der neue König war kein Engländer, er verstand nicht Englisch; er nahm nur selten an den Beratungen seiner Minister teil; sein Interesse lag auf dem Festland, in Hannover. Dadurch wurden die Minister des Königs gezwungen, die Führung der Tagespolitik selbständig in die Hand zu nehmen. Je selbständiger sie aber wurden, desto mehr mußten sie Rückhalt im Unterhaus suchen. So ging die unmittelbare Gestaltung und Durchsetzung der Politik auf das „Kabinett" der Minister, die grundsätzliche Entscheidung über ihre Richtung und ihr Ziel allmählich auf das Unterhaus über. Der König nahm den „Rat" seiner Minister an, auch wenn er selbst anderer Ansicht war-^ das Kabinett trat zurück, sobald es sah, daß die Mehrheit des Unterhauses seine Politik nicht mehr billigte. Diese Entwicklung erhielt Antrieb und bestimmte Gestalt durch den Politiker, der von 1721 bis 1742 der erste Berater seines Königs und gleichzeitig der Führer der Whigs war-. Sir Robert Walpole. Walpole war kein weitschauender Staatsmann, aber ein mit beiden Füßen in der Wirklichkeit stehender praktischer Politiker mit gesundem Menschenverstand und Blick für das, was das tägliche Leben verlangte. Nicht aus grundsätz1 Vgl. hierzu unten S. 154.

12

A N F Ä N G E DER P A R L A M E N T A R I S C H E N

REGIERUNG

liehen Erwägungen heraus oder nach einem sorgsam erwogenen Plan, sondern einfach, weil es den Forderungen des Augenblicks entspricht, schafft Walpole nicht durch irgend einen gesetzlichen Akt, sondern lediglich durch die Tatsache seiner Tätigkeit und sein Beispiel — man könnte sagen: unabsichtlich — Amt, Stellung und Aufgabenbereich des englischen Primeministers als Führer des Unterhauses und ersten Organs der vollziehenden Gewalt, das die Politik des Gesamtkabinetts bestimmt. Minister, die mit dieser Politik d-es Primeministers nicht einverstanden sind, scheiden — wie Walpole zum ersten Mal bei einer Kabinettskrise des Jahres 1733 es durchsetzt — aus ihrem Amt. Das politische Schwergewicht im Parlament lag schon im 17. Jahrhundert klar beim Unterhaus. Es war dies nur die natürliche Folge des alten, schon 1395 formuliertenGrundsatzes, daß die Steuer- und Budgetgesetzgebung — das wichtigste Mittel der Einflußnahme des Parlaments auf die Politik der Regierung — ausschließlich Sache des Unterhauses war und daß die Lords ein von ihm beschlossenes Gesetz, das Steuern oder Staatsfinanzen in irgend einer Form berührte, zwar ablehnen, aber nicht abändern konnten.^ In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts trat nicht auf Grund irgendwelcher Gesetze, sondern in der Praxis der Politik das Unterhaus immer mehr in den Vordergrund-. Galt es doch als die Volksvertretung schlechthin, und das Volk als der Inhaber der höchsten Gewalt. Aus vielen Symptomen für dieses stetig wachsende Übergewicht des Unterhauses sei nur eines herausgegriffen, weil es Zeit und Persönlichkeit bezeichnet: Bis zu seinem Sturz lehnte Walpole es ab, Mitglied des Oberhauses zu werden. Diese Entwicklung machte es notwendig, die Dauer eines Parlaments und damit den Zeitraum zwischen den Wahlen zum Unterhaus gesetzlich zu bestimmen: 1694 wurde sie auf drei, 1716 auf sieben Jahre festgesetzt. Da Steuern und Heeresvorlage grundsätzlich nur auf ein Jahr genehmigt wurden, mußte 1 Vgl.

hierzu

unten

S. 135.

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das Parlament während dieser seiner Amtszeit jedes Jahr zusammentreten und nach Ablauf dieser Zeit sofort Neuwahlen ausgeschrieben und ein neues Parlament vom König einberufen werden A Hand in Hand mit der Entstehung einer im Parlament verankerten Kabinettsregierung entwickeln sich die Parteien des Unterhauses zu Trägern nicht nur bestimmter politischer Ideologien und Ziele, sondern auch einer bestimmten politischen Verantwortung — sei es als parlamentarische Mehrheit, die in der Regierung verantwortlich handelt, sei es als parlamentarische Opposition, die die Regierung zwingt, die „Ratsamkeit ihrer Politik bei Strafe dej Verlustes ihrer Macht zu beweisen"und sie dadurch vor übereilten Schritten zurückhält, ohne dabei je zu vergessen, daß sie die Mehrheit von morgen sein will — bereit, die Verantwortung für die Politik der Regierung zu übernehmen. Langsam verliert sich dabei die Auffassung, als verträten die Tories grundsätzlich in offenem Gegensatz und stillem Kampf gegen die Ergebnisse der „GloriousRevolution" dieSache der in der Hand des Königs liegenden Exekutive und die Whigs ebenso grundsätzlich die Belange des Unterhauses als der gesetzgebenden Gewalt gegen die Machtansprüche des Königs.^ Wirtschaftliche Interessen des Grundbesitzes bei den Tories, des städtischen Handels bei den Whigs beginnen bei der Parteienbildung eine wesentliche Rolle zu spielen; zudem trennte Tories und Whigs eine verschiedene Auffassung über Wege und Ziele der englischen Außenpolitik. Führende Männer der Tories glaubten, Englands Zukunft liege in Landerwerbungen jenseits der Meere, in Nordamerika, während die meisten Whigs in einer Zusammenfassung der englischen Macht auf dem europäischen Festland und seinen Schlachtfeldern den Weg zur Größe ihres Vaterlands sahen. Beide Parteien hatten begabte 1 Vgl. hierzu unten S. 135 f . 2 Adams, a. a. O., S. 39). 3 für Montesquieu sind die beiden gebenden bzw. der vollziehenden Gewalt;

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Parteien noch die Vertretung vgl. unten S. 153.

der

gesetz-

DIE ENGLISCHEN P A R T E I E N ; D I E BILL OF A T T A I N D E R

Führer: Die Whigs Walpole, die Tories den gewandten und gelehrten Harley und den geistvollen, aber intriganten und sittenlosen Bolingbroke, der seine Lust an der politischen Ränke 1715 mit dem Exil in Frankreich büßen mußte und der, von der praktischen Politik ausgeschlossen, in seinem Buch vom „Königlichen Patrioten" (1735) die Politik der Tories staatstheoretisch unterbaute — und dessen größtes Verdienst um England es ist, der politische Lehrmeister des älteren Pitt gewesen zu sein. Um die gleiche Zeit, in der die Mitwirkung des Oberhauses bei der Entstehung der Mehrzahl der Gesetze auf ein bloßes Vetorecht zusammenschrumpfte, in den ersten ]ahrzehnten des 18. Jahrhunderts, erhielt die Zuständigkeit des Oberhauses als oberster Gerichtshof, der über Berufungen gegen Urteile der Chancery Courts, über Verbrechen seiner Mitglieder und über Streit um seine Mitgliedschaft entschied, endgültige, bis heute dauernde Gestalt.^ Außerdem urteilte das Oberhaus in besonderem Verfahren auf Grund einer Anklage des Unterhauses über Verbrechen höchster Staatsbeamter gegen den Staat. In diesem Zusammenhang mag kurz eine eigentümlidoe Rechtseinrichtung Erwähnung finden, die im 17. Jahrhundert in England eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts allmählich außer Gebrauch kommt: Die sogenannte Bill of attainder gegen Staatsverbrechen. Eine Bill of attainder ist ein Gesetzesantrag, der „erklärt, daß eine bestimmte Person eines bestimmten Verbrechens schuldig ist und in bestimmter Weise bestraft werden soll. Wird die Bill vom Parlament angenommen, so wird sie Gesetz und der von ihr Betroffene ist auf Grund Gesetzesrechts schuldig und wird nach diesem Gesetz bestraft. Dieses Verfahren hatte gegenüber der Ministeranklage vor dem Oberhaus den Vorzug der größeren Schärfe und Schnelligkeit und vermied manche von den notwendigen Schwierigkeiten eines Gerichtsver1 Vgl. hierzu unten S. 137, Die Chancery Courts entschieden nach sie hatten die Härten des Common Law — des ^.Gesetzes" — 2« mildern.

Equity;

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fahrens, wenn auch das Parlament manchmal den Angeklagten zu seiner Verteidigung hörte. . . . Attainder war ein Zeichen dafür, daß König und Parlament einer Ansicht waren; den die Bill bedurfte — als Gesetzesantrag — der Unterschrift des Königs.'"^ Die geschichtlich bekannteste Bill of attainder erzwang der Londoner Mob 1641 von Karl I. gegen den Grafen von Strafford; das sogenannte „Lange Parlament" machte sie zum Gesetz.^ Daß diese Einrichtung nach der „Glorreichen Revolution" obsolet wird, ist ein Symptom für den neuen Geist, der sich nach dieser Revolution in England durchzusetzen beginnt: den Geist der Freiheit. Das Bild der englischen Verfassung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wäre unvollständig, ja unrichtig, würde man der Rolle vergessen, die die persönliche Freiheit des einzelnen Bürgers, ihre Sicherung und ihr Schutz, im Leben des Staates gespielt hat. Diese Freiheit des Einzelnen charakterisiert das England der „Glorreichen Revolution" vielleicht mehr, als die Form der Regierung es tun kann. „Einem Ausländer mochte das Leben auf dieser Insel mit seinem Trinken und Spielen, seinen Duellen, Reitjagden und Hahnenkämpfen, selbstsüchtigen Politikern und Flugblättern voll beißenden Gifts ungeordnet, stürmisch, und in mancher Hinsicht gesetzlos erscheinen"aber es war ein Leben in Freiheit — ein Leben, das von der persönlichen Freiheit Gestaltung und Prägung erhielt und sich durch diese Freiheit von dem Leben auf dem Festland ganz wesentlich unterschied. Dieser Gegensatz der Lebensauffassungen diesseits und jenseits des Kanals wird uns heute vielleicht am sichtbarsten, wenn wir, dem Rat eines modernen englischen Historikers folgend,^ 1 Adams, s. a. O.; S. 228; vgl. unten S. 149. 3 Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 über die „Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben', ist ein verspäteter Nachfahre der Bill of attainder. 3 Lord Elton, a. a. O., S. 87. * Lord Elton, a. a. O., S. 87. Man darf dabei allerdings nicht übersehen, Watteau und Gainsborough Uber ein Menschenalter voneinander trennt.

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daß

LIBERTAS

BRITANNICA

„die erlesenen Tändeleien Watteau'scher Liebhaber und Nymphen mit dem Auftreten eines frischen jungen Landedelmanns aus einem Bilde Gainsborough's, das Gewehr unter dem Arm, den Hund bei Fuß, und neben sich seine Lady in steifer blauer Seide", vergleichen — und ein solcher Vergleich läßt uns auch besser als jede andere Erklärung verstehen, was einen Mann wie Montesquieu an England anzog und für England schwärmen ließ. Als Ausdruck und gesetzliche Garanten der Freiheit des Einzelnen in England mag man vor allem die Habeas-Corpus-Act von 1679 ansprechen, die schon bestehende Sicherungen des Bürgers gegen willkürliche Verhaftung ausbaute und erhöhte und dem Verhafteten ein Recht gab, raschestens dem ordentlichen Richter vorgeführt zu werden, und die Einführung der Pressefreiheit durch Nichterneuerung der Licensing Act im Jahre 1695. Man darf dabei aber nie vergessen, daß nicht diese oder andere Gesetze es waren, die den Geist der persönlichen Freiheit in England schufen, sondern, daß umgekehrt dieser Geist der Freiheit es war, der solche Gesetze entstehen ließ. Dieser Geist der Freiheit und das damit verbundene Bewußtsein vom Wert und von der Würde der menschlichen Persönlichkeit waren vielleicht der beste Bundesgenosse und eine der wirksamsten Stützen des Inselreichs in der Auseinandersetzung mit Frankreich, die nicht nur ein Kampf der Waffen, sondern im Schatten der Waffen auch ein Kampf der Staatssysteme war — wenn man überspitzen will, so mag man sagen: Der Kampf eines Systems, in dem jeder mann von si