Von der Wahrheit: Zweisprachige Ausgabe 9783787323050, 9783787306695

Die Quaestiones disputatae de veritate entstanden zwischen 1256 und 1259 und zeigen Thomas' Auseinandersetzung mit

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Von der Wahrheit: Zweisprachige Ausgabe
 9783787323050, 9783787306695

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THOMAS VON AQUIN

Von der Wahrheit De veritate (Quaestio I)

Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von

ALBERT ZIMMERMANN

Lateinisch -deutsch

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 384 Der lateinische Text der Ausgabe basiert auf der Ausgabe „S. Thomae de Aquino Opera Omnia, iussu Leonis XIII P. M. edita, Tomus XXII, Quae­ stiones disputatae de veritate, Volumen I, Fasc. 2, Qq 1 – 7 Rom 1970“. Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüngli­ chen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unver­ meidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung ge­ schuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­ sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0669-5 ISBN eBook: 978-3-7873-2305-0

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1986. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Ingrid, Andreas, Markus, Angela zugeeignet

INHALT

Einleitung. Von Albert Zimmermann . . . . . . . . . . IX 1. Zum Verfasser der "Quaestiones disputatae" IX 2. Zur "Quaestio disputata" . . . . . . . . . . . . . . . XI 3. übersieht über die zwölf Artikel der Quaestio I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV 4. Zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . XXXVII

THOMAS VON AQUIN Von der Wahrheit· De veritate Quaestio I Text und Übersetzung

Erster Artikel Zweiter Artikel. . Dritter Artikel . . Vierter Artikel . . Fünfter Artikel . . Sechster Artikel . Siebenter Artikel Achter Artikel . . Neunter Artikel . Zehnter Artikel . Elfter Artikel . . . Zwölfter Artikel .

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3 13 19 25 31 43 53 57 63 67 73 79

Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von Thomas benutzte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis lateinischer Termini . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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EINLEITUNG

Der vorliegende Band enthält die wichtigen Texte aus der Quaestio I der "Quaestiones disputatae de veritate" des Thomas von Aquin. Er soll als Grundlage eines Studiums der Gedanken "über die Wahrheit" dienen, die dieser Denker vor mehr als 700 Jahren niedergeschrieben hat. Die Einleitung mit einer übersieht über die zwölf Artikel der Quaestio prima und die Erläuterungen sollen das Verständnis der Argumente des Aquinaten, die dem heutigen Leser manchmal fremdartig erscheinen und stellenweise auch sehr knapp gehalten sind, erleichtern. In den "Quaestiones disputatae" erörtert Thomas Fragen, denen damals die besondere Aufmerksamkeit der gelehrten Kreise der Universität von Paris, sowohl der Professoren wie auch der Studenten, galt. Diese Abhandlungen geben Einblick in die geistige Situation an den europäischen Hochschulen des 13. Jahrhunderts. Wie Thomas von Aquin in den "Quaestiones disputatae" fragen nachdenkliche Menschen auch heute, was "Wahrheit", "Erkennen", "Wissen", was "Übel", "Schuld", "Sünde" sind, wie sich menschliches Leben und Verhalten begreifen läßt. Natürlich sind manche Fragestellungen und Antworten des Thomas sehr eng mit der wissenschaftlichen Diskussion, in die er eingreift, verflochten, und vieles ist ohne eine genauere Kenntnis der zeitbedingten Anlässe und Motive nicht recht verständlich. Aber ein gründliches Studium der Texte führt schließlich immer wieder auch zu der Einsicht, daß das philosophische Gespräch die Menschen über die Abstände von Zeiten, Nationen und Zivilisationen hinweg miteinander verbinden kann. 1. Zum Verfasser der "Quaestiones disputatae"

Thomas von Aquin lebte von 1224/5 bis 1274. Sein Wirken, vor allem als Professor an der damals wichtigsten

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europäischen Universität in Paris, fiel in eine Zeit, als durch die Begegnung der traditionsreichen christlichen Schulgelehrsamkeit mit der arabischen und jüdischen Theologie und Philosophie, insbesondere mit vielen bis dahin nicht bekannten Werken des griechischen Denkens, und hier in erster Linie des Aristoteles, eine stürmische Entwicklung der Wissenschaften einsetzte. Thomas, als Student in Neapel in den (noch jungen) Orden der Dominikaner eingetreten und einige Jahre lang in Paris und Köln von Albertus Coloniensis, später "Magnus" genannt, ausgebildet, sah wie sein Lehrer eine wichtige Aufgabe darin, die gegensätzlichen Positionen, die sich aus einer starr an traditionellem Lehrgut festhaltenden Theologie einerseits und dem nun auf neue Quellen gestützten Rationalismus andererseits ergaben, gründlich zu durchdenken, miteinander ins Gespräch zu bringen und für den Fortgang der menschlichen Wahrheitssuche fruchtbar zu machen. Er hinterließ ein erstaunlich umfangreiches Opus, darunter die großen theologischen Summen, Kommentare zu den meisten Werken des Aristoteles und systematische philosophische Abhandlungen. Sein Einfluß sowohl auf Zeitgenossen wie auf das philosophische und theologische Denken späterer Jahrhunderte war groß. Seine Lehren fanden ebenso nachdrückliche Zustimmung wie scharfe Kritik. Auch in der Gegenwart wird Thomas - inzwischen in aller Welt - studiert, und es gibt viele Zeugnisse der Wirksamkeit seiner Gedanken bis in die jüngste Zeit. - Als allgemeine Einführungen in Leben und Werk seien genannt: G. M. Manser, Das Wesen des Thomismus, Fribourg 3 1949 M. Grabmann, Thomas von Aquin, Eine Einführung, München 1949 A. Walz, Thomas von Aquin, Basel1953 A. D. Sertillanges, Der hl. Thomas von Aquin, Köln-Oiten 2 1954 E. Gilson, The Christian Philosophy of St. Thomas Aquinas, New York 1956 J. Pieper, Hinführung zu Thomas von Aquin, München 1958 M. D. Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, Deut-

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sehe Thomas-Ausgabe, 2- Ergänzungsband, Graz- Wien -Köln, 1960 -, Thomas von Aquin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Harnburg 1960 G. K. Chesterton, Der hl. Thomas von Aquin, Freiburg 2 1960 H. Meyer, Thomas von Aquin. Sein System und seine geistesgeschichtliche Stellung, Paderborn 2 1961 F. C. Copleston, Aquinas, Penguin Books, Baltimore 1970 R. Mc Inerny, St. Thomas Aquinas, Boston 1974 Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, hrsg. von W. Kluxen, Freiburg-München 1975 J. Weisheipl, Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie, Graz 1980 Thomas von Aquin, hrsg. von K. Bernath, Bd. 1: Chronologie und Werkanalyse, Darmstadt 1978, Bd. 2: Philosophische Fragen, Darmstadt 1981. A. Zimmermann, Thomas von Aquin, in: Klassiker des philosophischen Denkens, Bd. 1, München 2 1983, S . .109155

2. Zur "Quaestio disputata" Die Eigenart der unter dem Titel: "Quaestiones disputatae" zusammengestellten Texte wird verständlich, wenn man sich deren Entstehung im Lehrbetrieb an Hochschulen des 13. Jahrhunderts vergegenwärtigt. Während eines langen Zeitraums hatte der Unterricht vorwiegend in der "lectio", der Vorlesung eines Schultextes durch einen Professor, bestanden. Dieser versuchte dabei seinen Hörern alle schwierigen Passagen zu erläutern. Er formulierte Fragen, die mit dem Ziel, das vom jeweiligen Autor des Textes Gemeinte zu erschließen, erörtert wurden. Zur einfachen "lectio" gesellte sich somit ganz von selbst die "Quaestio", die "Frage", wobei der im Buch enthaltene Lehrstoff und das, was dessen Verfasser mitteilen wollte, wichtigster Maßstab der Beantwortung waren. Im Laufe des 13. Jahrhunderts, und zwar unter dem Einfluß der aristotelischen Logik und Wissenschaftslehre, gewann die Quaestio als eine

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Form des Unterrichts immer größere Bedeutung neben der Vorlesung im engeren Sinne. Die Zahl der Kommentare, in denen ein Text durch "Quaestiones" erklärt wird, nahm beständig zu. Sie waren in den meisten Fällen der literari· sehe Niederschlag dieser Lehrveranstaltungen. Natürlich waren solche Kommentare an das Werk gebunden, das verständlich gemacht werden sollte. Bei der systematischen Untersuchung einer klar umrissenen Frage lockerte sich aber die Bindung an den Text, selbst wenn dieser die Frage veranlaßte. Sehr oft erforderte die methodisch einwandfreie Beantwortung es ja, andere Lehrstücke und andere Texte - sei es desselben Autors, sei es weiterer Autoritäten - zu berücksichtigen und sich mit bereits bekannten Interpretationen auseinanderzusetzen. Sicherlich warfen auch die Studenten Fragen auf, die über das Schulbuch hinausführten und den Professor zwangen, eine Antwort zu geben, die er aufgrund eigener Einsicht für richtig hielt. Diese Entwicklung brachte es mit sich, daß nach und nach die Quaestio, also die systematische Erörterung von mehr oder weniger allgemein interessierenden Fragen, eine eigenständige Form des akademischen Unterrichts wurde. Diese neue Lehrveranstaltung war die "Quaestio disputata". Mit ihr verfolgte man die Absicht, möglichst viele Gelehrte, die sich mit den anstehenden Problemen befaßten, zusammenzubringen und miteinander diskutieren zu lassen. Zugleich bot sie den fortgeschrittenen Studenten die Gelegenheit, sich in der Kunst der wissenschaftlichen Diskussion zu üben. In erster Linie erhoffte man sich von einer derartigen öffentlichen Disputation aber einen Beitrag zum Fortschritt der Erkenntnis. Deshalb wurde schließlich auch jeder Professor verpflichtet, in regelmäßigen Abständen eine "Quaestio disputata" zu veranstalten. Er hatte das Thema vorher bekanntzugeben. Während der Disputation fielen die Lehrveranstaltungen der Kollegen aus. Als Zuhörer waren nicht nur Universitätsangehörige zugelassen, sondern auch interessierte Bürger von außerhalb. Die endgültige schriftliche Fassung einer "Quaestio disputata" mußte der verantwortliche Professor anband der Aufzeichnungen, die während der Diskussion gemacht wor-

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den waren, vornehmen. Er hatte dabei die wichtigsten Argumente, die von den disputierenden Parteien vorgebracht wurden, wiederzugeben, seine eigenen Antworten zu formulieren und zu begründen und schließlich die Einwände, die dagegen erhoben worden waren, zu widerlegen. über den Verlauf einer öffentlichen Disputation und die Entstehung der "Quaestiones disputatae" des Thomas von Aquin informieren: M. D. Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, S. 83103, 317-324. R.-W. Mulligan, Trilth. St. Thomas Aquinas, I. Chicago 1952, S. XIV-XVII. Der Text einer "Quaestio disputata" läßt deutlich den gedanklichen Verlauf der Diskussion über die anstehende Frage erkennen. Er ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - folgendermaßen aufgebaut: Zunächst wird der Gegenstand allgemein angegeben. Dies reicht jedoch nicht als Grundlage einer geordneten Diskussion aus; denn man weiß ja noch nicht, was im einzelnen hinsichtlich des Gegenstandes fragwürdig ist und Meinungsverschiedenheiten verursacht. Die Quaestio ist demnach in bestimmte einzelne Fragen aufzugliedern. Die präzisierte Frage bildet dann den Ausgangspunkt eines Artikels. Eine Quaestio zerfällt somit meistens in mehrere Artikel, die fortlaufend numeriert sind. So ist im vorliegenden Text als Gegenstand der Quaestio "Die Wahrheit" angegeben. Aber erst in den insgesamt 12 Artikeln werden die Probleme verdeutlicht, die im einzelnen zu erörtern sind, und erst die Antworten aller Artikel geben Aufschluß über das, was der Verfasser über den Gegenstand der Quaestio lehrt. Jeder Artikel wiederum ist so aufgebaut, wie es der Ablauf einer wissenschaftlichen Diskussion erfordert. Zuerst wird die Frage genau formuliert. Es werden dann Antworten gegeben, die jedoch nur vorläufig sind, hauptsächlich um durch deren Begründungen die Diskussion in Gang zu setzen. Der erste Teil dieser Antworten wird eingeleitet mit den Worten: "Videtur quod". Der zweite Teil, eingeleitet mit: "Sed contra", enthält Argumente für die entgegengesetzte Meinung. Bei den Begründungen spielen häufig Au-

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toritäten eine Rolle. Nachdem auf diese Weise der Sinn und das Gewicht der Frage und die zu bewältigenden Schwierigkeiten einer Entscheidung deutlich herausgearbei· tet sind, gibt der Professor seine Antwort, die mit den Wor· ten: "Dicendum quod" eingeleitet wird. Diesen wichtig· sten Teil eines Artikels nennt man "corpus articuli". Er gibt Auskunft über die Lehrmeinung des Autors und vor allem über die Beweise, auf welche sie sich stützt. Den Abschluß bilden die Erwiderungen auf die Argumente, die für die vorläufigen Antworten ins Feld geführt wurden. Thomas von Aquin hat, soweit man den auf uns gekommenen Texten entnehmen kann, sehr zahlreiche öffentliche Disputationen veranstaltet. Was er dabei als Ziel vor Augen hatte, beschrieb er selbst einmal so: "Gewisse Disputationen durch einen Magister in den Schulen dienen nicht der Zurückweisung eines Irrtums, sondern der Belehrung der Hörer, so daß diese dahin gelangen, die Wahrheit, auf die sich die Disputation richtet, zu verstehen; und dann muß man sich auf Beweise stützen, welche die Wurzel dieser Wahrheit aufspüren und bewirken, daß gewußt wird, inwiefern das Gesagte wahr ist" (Quaestiones quodlibetales, IV, 9, 18,c).

3. Obersicht über die zwölf Artikel der Quaestio I Diese übersieht dient der Einführung in die wichtigsten Lehrstücke, die sich in den corpora der zwölf Artikel der Quaestio I finden. In den drei ersten Artikeln wird schrittweise erarbeitet, worin die mittels des Wortes "Wahrheit" bezeichnete Seinsweise besteht. In den folgenden drei Artikeln untersucht Thomas Eigenschaften der Wahrheit. Gegenstand des Artikels 7 ist ein rein theologisches Problem. Eine Klärung des Verhältnisses zwischen der ersten Wahrheit und den von ihr herrührenden Wahrheiten erfolgt im Artikel 8. Während im Artikel 9 erörtert wird, was man unter der Wahrheit der Sinnesvermögen zu verstehen hat, betreffen die drei letzten Artikel den Begriff der Falschheit.

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Erster Artikel: Was ist Wahrheit? Ziel des Artikels ist es, die Bedeutung des Wortes "Wahrheit" und der mit diesem verwandten Wörter zu erschließen. Vorausgesetzt ist dabei, daß diese Wörter nicht sinnlos sind. Sie werden ja auch ganz selbstverständlich mit dem Anspruch verwendet, daß sie einen Sinn haben. Dieser Sinngehalt muß jedoch genauer in den Blick gerückt werden. Das geschieht hier durch Rückgang auf die grundlegenden Inhalte des menschlichen Verstehens. Es gibt solche "Grund-Begriffe", ebenso wie es "Grund-Sätze" gibt, die das Beweisen und Schlußfolgern möglich machen und regeln. Die Grundlage unseres Erkennens ist dasjenige Verstehen der Wirklichkeit, das seinen sprachlichen Ausdruck im Wort "Seiendes" findet. Eine systematische Rekonstruktion der Erkenntnis muß also hieran anknüpfen. Jeder Begriff fügt nun zum grundlegenden Inhalt "Seiendes" etwas hinzu, aber zugleich ist das, was hinzugefügt ist, selbst etwas Seiendes und also als ein solches irgendwie auch schon immer miterfaßt. Es kann sich demnach nicht um eine Hinzufügung "von außen" handeln, sondern sie muß auf einer Ent- oder Ausfaltung des Ersterkannten beruhen, welches mittels des Wortes "Seiendes" nicht schon erschöpfend bezeichnet ist. Die Entfaltung führt einmal auf "sondernde" Seinsweisen, die eine kategoriale Einteilung der Wirklichkeit begründen, und sie führt zweitens auf Seinsweisen, die jedwedem Seienden eignen und insofern "allgemeine" genannt werden, als die inhaltliche Vielfalt dessen, was ist, dabei außer Betracht bleibt. Mit der grundlegenden Erkenntnis ist allerdings unmittelbar diejenige einer Vielheit von Seienden verknüpft. Sie bildet gewissermaßen das Netz, an dem sich eine Entfaltung der allgemeinen Seinsweisen orientiert. Es kann nämlich erwogen werden, was ein Seiendes ohne den Hinblick auf irgendetwas von ihm Verschiedenes prägt, und es kann erwogen werden, was ihm im Hinblick auf das, was von ihm getrennt ist, zukommt. Ferner ist zu beachten, daß wir einer Erkenntnis Ausdruck geben, indem wir einem Gegenstand etwas zusprechen oder absprechen, indem wir also etwas von ihm bejahen oder verneinen.

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Die Benennung "Seiendes" rührt daher, daß dem Benannten Sein zukommt, daß es "ist". Sie bezieht sich strenggenommen auf dieses Wirklichsein. Aber jedes Seiende ist bestimmte, geprägte Wirklichkeit, jedem ist ein "Wassein" zuzusprechen. Das Wort, welches diesen bejahenden Gedanken bezeichnet, ist "Wesen" ("res", "Ding"). Ferner ist jedes Seiende schon immer verstanden als etwas, dem als solchem das Geteiltsein abzusprechen ist. Diese Verneinung des Geteiltseins ist gemeint mit dem Wort "Eines" ("unum "). Wird ein Seiendes im Hinblick auf das, was es nicht selbst ist, verstanden, dann wird dabei ein Getrenntsein erfaßt. Dieses wird durch das Wort "anderes" (aliquid = aliud quid) benannt. Es kann auch das Gegenteil des Getrenntseins in den Blick kommen: das übereinkommen oder übereinstimmen. Eine allgemeine, jedwedem Seienden eignende Seinsweise kann dies jedoch nur sein, wenn es etwas gibt, das für jedes Seiende offen ist, so daß es mit ihm zusammenkommen oder übereinstimmen kann. Thomas führt im Anschluß an Aristoteles diese Bedingung an, nämlich die Existenz einer Seele. Als Ziel einer Strebebewegung der Seele wird ein Seiendes benannt, wenn man es als ein "Gutes" ("bonum") bezeichnet. Jedes Seiende ist nun mögliches Ziel eines solchen Strebens und heißt also zu Recht ein Gutes. Die Seele kann auch als erkennende das Getrenntsein von einem Seienden überwinden. In dieser Übereinstimmung eines Seienden mit der erkennenden Seele liegt der Kern der Bedeutung des Wortes "Wahres" ("verum"). Diese kann schon jetzt etwas genauer bestimmt werden, und zwar durch eine Besinnung auf das Erkennen. Jedem Erkennen liegt eine Anpassung des Erkennenden an das Erkannte zugrunde. Letzteres geht also der Sache nach dieser Anpassung vorauf, die wiederum die Erkenntnis zur Folge hat. So erleidet unter dem Einfluß eines farbigen Gegenstandes der Gesichtssinn eine Zustandsänderung, durch die er auf eine ihm gemäße Weise der Farbe angepaßt wird. Diese Anpassung ruft dann eine Wahrnehmung hervor. Je vollständiger die Anpassung ist, um so deutlicher ist die Wahrnehmung. Die Begegnungeines Seiendenmit dem Ver-

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stand, die zu verstehendem Erkennen führt, ist entsprechend eine Angleichung beider. Diese bildet den Sinn des Wortes "Wahres", der durch das Wort "Seiendes" noch nicht ausgedrückt ist und der als grundlegendes Verhältnis des Seienden zum Verstand deren Zusammenstimmen (concordia) enthält. Das Erkennen ist die von jedermann bewußt erlebte Wirkung der Angleichung. Diese erste Erschließung des Sinnes des Wortes "Wahres" bringt demnach dreierlei vor den Blick: Als Grundlage das, wodurch ein Seiendes ist und wodurch es ein Was ist, zusammenfas~end "Seiendheit" genannt. In ihr kommt der Sinn von "Wahres" allerdings noch nicht zum Ausdruck. Zweitens die Seinsweise, die in der Angleichung von Ding und Verstand besteht. Drittens die unmittelbare Wirkung dieser Angleichung, nämlich die Erkenntnis. Der Zusammenhang von Seiendheit, Wahrheit und Erkennen ist so eng, daß die Erläuterung des Begriffs der Wahrheit bei jedem ansetzen kann. Das zeigen die überlieferten Beschreibungen und Erklärungen durch Augustinus, Avicenna, Isaak Israeli, Anselm von Canterbury, Aristoteles und Hilarius von Poitiers.

Zweiter Artikel: Findet sich Wahrheit ursprünglicher im Verstand als in den Dingen? Wenn Wahrheit in einer Angleichung von Seiendem und Verstand besteht, wenn also von beidem gesagt werden kann, es käme ihm Wahrheit zu, bleibt zu klären, ob es dabei eine Ordnung gibt. Ziel des Artikels ist diese Klärung. Wird ein und dasselbe Prädikat von verschiedenartigen Dingen ausgesagt, ist immer zu untersuchen, ob und wie die Prädikationen miteinander zusammenhängen. Das klassische Beispiel ist seit Aristoteles die Verwendung des Prädikats "gesund". Es zeigt, daß die Ordnung verschiedener Bedeutungen sich nicht nach der Beziehung von Ursache und Wirkung richten muß. Sie richtet sich vielmehr danach, welcher Sinn der Prädikationen der ursprüngliche ist. Ob Wahrheit ursprünglicher eine Seinsweise des Verstandes oder eine solche der Dinge ist, läßt sich mittels einer Besinnung auf den Erkenntnisvorgang klären. Wahres ist

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ein Ding aufgrund seiner Hinordnung auf die erkennende Seele. Erkenntnis vollendet sich nun dadurch, daß das Ding als erkanntes in der Seele ist. Das kann es nur insoweit, als es in die Seele aufgenommen ist, also deren Eigenart annimmt. Somit gibt es die Angleichung zunächst und ursprünglich in der Seele. Das Streben hingegen ist eine Bewegung, die zwar eine Erkenntnis des Erstrebten voraussetzt, die aber nicht auf das Ding als in der Seele anwesendes gerichtet ist, sondern als etwas dem Erkennen Vorgegebenes und davon Unabhängiges. Aristoteles vergleicht den Verlauf der Seelentätigkeiten deshalb mit einem Kreislauf. Es wird auch verständlich, wie er das Wahre und das Gute und ihre Gegensätze der Seele und den Dingen zuordnet. Die Seinsweise des Wahren ist ursprünglich eine solche des Verstandes, während sie von den Dingen aufgrund ihrer Hinordnung auf die wirkliche Angleichung in der Seele ausgesagt wird. Nun ist der Verstand in zwei Weisen tätig, nämlich als theoretischer und als praktischer, je nachdem ob das Ziel eine Erkenntnis um ihrer selbst willen oder das Hervorbringen von etwas ist. Die Rollen, die bei diesen Verstandestätigkeiten Ding und Verstand spielen, werden mittels der Begriffe des Maßes (Maßstabs) und des Gemessenen erläutert. Ein Ding ist insofern etwas Gemessenes, als es durch ein anderes - sein Maß - bestimmt ist. Maß ist etwas insofern, als es bei einem anderen eine Bestimmung bewirkt. Demnach ist der praktische, entwerfende Verstand Maß der Dinge, die durch seinen Entwurf entstehen, während der theoretische Verstand die Dinge, die unabhängig von seiner Tätigkeit bestehen und die er bloß erkennt, zu seinem Maß hat. Nun verdanken alle Dinge der Natur ihr Sein dem schöpferischen Entwurf des göttlichen Verstandes, was hier ohne philosophische Begründung vorausgesetzt ist. Sie sind also im Hinblick auf den göttlichen Verstand etwas Gemessenes, während dieser ihr Maß ist. Da der göttliche Verstand selbst nicht von irgendetwas abhängig ist, ist er ausschließlich maßgebend. Das Verhältnis von Dingen und Verstand läßt sich demnach wie folgt kennzeichnen: 1. Der göttliche Verstand ist

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maßgebend und nicht gemessen. 2. Ein Ding, das vom praktischen menschlichen Verstand unabhängig ist, ist sowohl maßgebend wie gemessen, maßgebend nämlich für die theoretische Erkenntnis durch den menschlichen Verstand, gemessen durch den göttlichen Verstand. 3. Der menschliche Verstand ist sowohl gemessen wie maßgebend, gemessen nämlich durch die Dinge, die er nicht bewirkt, maßgebend für die von ihm entworfenen "künstlichen" Dinge. Somit läßt sich auch Wahrheit als Seinsweise der Dinge genauer bestimmen. Ein Ding der Natur ist sowohl gemessen wie auch maßgebend und darum in zweifachem Sinn ein Wahres: Es ist Wahres als dem göttlichen Verstand angeglichenes. Diese Angleichung rührt vom göttlichen Verstand her und kommt ihm deshalb primär zu. Sie kommt aber auch dem Seienden zu, insofern es dem Entwurf des Schöpfers gemäß ist und wirkt. Die schon erwähnten Erklärungen von Wahrheit, in denen der Hinweis auf ein Verstandesvermögen nicht ausdrücklich enthalten ist, lassen sich nun besser verstehen; denn jedes Seiende ist als solches etwas dem maßgebenden göttlichen Verstand Entsprechendes. Jedes Seiende ist auch maßgebend für den menschlichen Verstand, insofern er theoretisch ist. Die Angleichung liegt darin, daß ein Ding eine Erkenntnis seiner selbst bewirken kann, bei der es also maßgebend ist. Diesem Sinn des Wortes "Wahrheit" entspricht auch ein solcher von "Falschheit". Ein Ding heißt "falsches", insofern es - wie Arjstoteles sagt - "geeignet ist, sehen zu lassen, was es nicht ist oder wie es nicht ist". (Näheres in Art. 10.) Die Wahrheit eines Dinges als Angleichung an den maßgebenden göttlichen Verstand geht der Sache nach der Wahrheit als Angleichung des Dinges an den menschlichen Verstand vorauf, sie ist also sachlich "früher". Ein Ding der Natur ist also ein Wahres zuerst, insofern es in seiner Seiendheit durch den göttlichen Verstand bestimmt ist. Diese Angleichung ist eine mit ihm stets und beständig verwirklichte Seinsweise. In zweiter Linie ist es ein Wahres, insofern es sich dem menschlichen Verstehen erschließen kann. Angleichung an den menschlichen Verstand ist etwas, das als etwas Verwirklichbares mit dem Ding gegeben ist.

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Aus dieser Ordnung ergibt sich eine Folgerung: Gäbe es keinen menschlichen Verstand, dann käme den Dingen die Seinsweise der Wahrheit dennoch zu, da sie ja dem göttlichen Verstand auf jeden Fall entsprechen. Aus der Annahme, es gäbe weder einen menschlichen noch den göttlichen Verstand und es gäbe gleichwohl Dinge (eine Annahme, die allerdings unhaltbar ist, da es ohne Schöpfer gar nichts gäbe), folgte, daß es die Seinsweise der Wahrheit gar nicht mehr gäbe. Dieses "Gedankenexperiment" macht also deutlich, was sich als erstes bei der Erschließung des Sinnes von Wahrheit ergab: Wahrsein ist nicht denkbar und nicht aussagbar, ohne daß dabei die Hinordnung des Seienden auf ein Verstandesvermögen im Blick steht.

Dritter Artikel: Gibt es Wahrheit nur im zusammensetzen-

den und trennenden Verstand? In diesem Artikel wird die Wahrheit als Seinsweise des theoretischen Verstandes genauer bestimmt. Es gibt zwei verschiedene Arten von Akten des theoretischen Verstandes, nämlich das Gewahren oder die Erfassung von etwas und das Urteilen. Das Erkennen findet sein Ende stets in einem Urteil, und dieses besteht in einem Zusammensetzen oder einem Trennen, wie die Struktur seines sprachlichen Zeichens, des Satzes, verrät. Voraussetzung für das Urteilen ist, daß das, was miteinander zusammengesetzt oder voneinander getrennt wird, vom Verstand aufgenommen oder erfaßt ist. Das bloße Erfassen von Inhalten istjedoch nicht hinreichend für den Urteilsakt, der somit vom Akt der Erfassung zu unterscheiden ist. Gefragt wird nun, ob nur dem urteilenden Verstand die Seinsweise der Wahrheit zukommt. Angleichung von Verstand und Ding besagt nicht, beide würden oder seien identisch. Als eine Weise der Gleichheit setzt die Angleichung vielmehr die Verschiedenheit des einander Angeglichenen voraus. Allerdings muß diese Verschiedenheit Raum für Übereinstimmung lassen. Daß Ding und Verstandesvermögen zwei voneinander getrennte Seiende sind, reicht nicht aus, um die Gleichheit, die in der Wahrheit liegt, zu begründen. Der Verstand muß über sein

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bloßes Dasein hinaus als solcher in Erscheinung treten, und zwar dadurch, daß er etwas tut oder hervorbringt, das nur ihm eigen ist. Im Hinblick auf die Gleichheit, die es genauer zu begreifen gilt, muß dieser Vollzug zwei Bedingungen erfüllen: 1. Er darf nicht dem Ding zukommen. 2. Er muß eine Gleichheit von Ding und Verstand ermöglichen. Er muß also derart sein, daß ihm etwas entspricht, was dem Ding eigen ist. Durch eine einfache Erfassung gerät der Verstand in den Zustand einer bloßen Ähnlichkeit zum erfaßten Ding. Was ihm dabei zukommt, rührt also ganz und gar vom Ding her, während er sich selbst als etwas Eigenständiges noch nicht zeigt. Diese Prägung des Verstandes ist derjenigen eines Sinnesvermögens durch einen wahrnehmbaren Gegenstand vergleichbar. Sie kennzeichnet den Akt der Erfassung einer Washeit oder dessen, was irgendein Seiendes ist. Sie erzeugt nicht diejenige Verschiedenheit von Ding und Verstand, die notwendige Bedingung dafür ist, daß eine Angleichung beider zustande kommt. Es liegt vielmehr weder eine Angleichung noch eine Nichtangleichung vor. Erst durch die zweite Tätigkeitsweise, das Urteilen, bringt der Verstand sich so als etwas vom Ding Verschiedenes ins Spiel, daß eine Gleichheit von Verstand und Ding entstehen kann. Der Urteilsakt gehört ganz und gar dem Verstand an, er findet sich nicht auf der Seite des Dinges. In ihm tritt also der Verstand erstmalig in seiner nur ihm zukommenden Eigenart in Erscheinung. Somit kann auch Angleichung an ein Ding oder es kann Ungleichheit von Verstand und Ding erst im Urteilen zustande kommen. Liegt eine Angleichung vor, so ist das Urteil wahr, andernfalls ist es falsch. Im Urteil "sagt" der Verstand, "daß etwas ist oder daß etwas nicht ist". Er bezieht sich also urteilend auf ein Ding, insofern dieses etwas an sich Bestehendes ist, insofern es Sein hat oder insofern es ist. Durch den Akt des Zusammensetzens oder des Trennens erfaßter Inhalte bewirkt der Verstand die Angleichung an das Ding, die als "Wahrheit" bezeichnet wird, oder aber die Ungleichheit, die mit "Unwahrheit" gemeint ist. Dabei ist das Sein des Dinges, über das geurteilt wird, der Maßstab.

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Auch eine Definition, die als das unmittelbare Resultat der Erfassung einer Washeit vom Urteilsakt zu unterscheiden ist, kann als wahr oder falsch bezeichnet werden. Dabei bezieht man sich aber strenggenommen wieder auf die Tätigkeit des Zusammensetzens. Diese nachgeordnete Bedeutung von "wahr" und "falsch" zeigt sich, wenn man überlegt, warum eine Definition "falsch" genannt wird. Stets ist es nämlich ein mit der Definition verbundenes oder in ihr enthaltenes falsches Urteil, auf welches sich deren Bezeichnung als "falsch" stützt. Insgesamt ergibt sich somit folgende Ordnung der Prädikationen von "wahr": In erster Linie kommt Wahrsein dem zusammensetzenden und trennenden, dem urteilenden, Verstand zu. In zweiter Linie sind die Definitionen wahr oder falsch, und zwar insofern sie Urteile enthalten. Die Dinge wiederum werden erst in dritter Linie "wahre" genannt, wobei primär ihr Verhältnis zum göttlichen Verstand und sekundär ihr Verhältnis zum menschlichen Verstand gekennzeichnet wird. Zu Recht kann man auch von einem Menschen sagen, er sei ein wahrer, womit gemeint ist, daß er sich an der Wahrheit orientiert. Schließlich werden sprachliche Gebilde "wahr" genannt entsprechend ihrer Hinordnung auf die Erkenntnisse, welche sie bezeichnen.

Vierter Artikel: Gibt es nur eine einzige Wahrheit, durch die alles wahr ist? In diesem Artikel wird untersucht, wie sich die Seinsweise "Wahrheit" zur Vielheit der Dinge verhält. Jedes dieser Dinge ist ja ein Wahres. Ist es nun ein und dieselbe Wahrheit, welche die vielen Dinge zu wahren macht? Es kann dies sicherlich jemand sehr leicht annehmen, der sich an der überkommenen Ideenlehre aus dem philosophischen Erbe Platons orientiert. Welchen Sinn hat nun die Redeweise von der einen Wahrheit, und vor allem, welche Mißverständnisse müssen dabei vermieden werden? Um eine Klärung herbeizuführen, ist sorgfältig darauf zu achten, daß das Wort "Wahrheit" nicht bei jeder Verwendung dasselbe bezeichnet. Nimmt man es im strengen Sinn, dann bezeichnet es die Seinsweise der Angleichung von

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Ding und Verstand, die in einem Verstandesvermögen verwirklicht ist. Auf diese Bedeutung sind sämtliche anderen sinnvollen Verwendungen bezogen. Es muß aber auch berücksichtigt werden, daß die Wahrheit des göttlichen Verstandes den Vorrang vor der Wahrheit im menschlichen Verstand hat. Diese Rangordnung ändert nichts daran, daß der menschliche Verstand ebenfalls im strengen und eigentlichen Sinn wahr sein kann, wenn auch nicht wie der göttliche Verstand in erster Linie, sondern nur in zweiter Linie. Jedenfalls gibt es viele Wahrheiten im eigentlichen Sinne, nämlich als Seinsweisen der vielen menschlichen Verstandesvermögen. Diese vielen Wahrheiten sind allerdings geeint in der einen Wahrheit des schöpferischen göttlichen Verstandes, deren vielfache Abbilder sie sind. Auch als Seinsweise der Dinge ist die Wahrheit vervielfältigt. Das gilt sowohl, wenn diese "Dingwahrheit" im Hinblick auf den göttlichen Verstand, wie auch, wenn sie im Hinblick auf den menschlichen Verstand aufgefaßt wird. Der Vorrang der Wahrheit des göttlichen Verstandes hat jedoch für die Wahrheit als Seinsweise der Dinge eine Konsequenz. Ein Ding verliert die Wahrheit, die in seiner Übereinstimmung mit dem schöpferischen Verstand Gottes besteht, nicht, solange es selbst währt. Dieses sein Wahrsein ist auch sachlich früher als das Wahrsein, das ihm im Hinblick auf einen menschlichen Verstand zukommt; denn letzteres wird erst durch das Ding bewirkt, während ersteres in der Ursache desselben gründet. Diese Vielfalt und Vielheit der mit dem Wort "Wahrheit" zu bezeichnenden Seinsweise muß im Auge behalten werden, wenn von der "einen Wahrheit" gesprochen wird, "durch die alles wahr ist". Damit ist die Wahrheit als Seinsweise des göttlichen Verstandes gemeint. Es gibt aber viele Wahrheiten im eigentlichen Sinne in den vielen Verstandesvermögen der Menschen. Dementsprechend müssen Vielheit und Einzigkeit der Wahrheit im abgeleiteten Sinn, also der Wahrheit der Dinge, beurteilt werden. Es wird dann noch erklärt, was jeweils gemeint sein kann, wenn man ein Ding ein "Wahres" nennt. Ist diese Benennung bezogen auf die Wahrheit eines das Ding erken-

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nenden Verstandes, dann ist mit dem Wahrsein des Dinges nicht etwas gemeint, das dem Ding selbst innewohnt. Versteht man jedoch unter "Wahrheit eines Dinges" das, aufgrund dessen es erkannt und erkennbar ist, dann ist etwas ihm selbst unmittelbar Eigenes gemeint, nämlich der Bestand an Wirklichkeit, den es darstellt. Ähnlich ist es mit den verschiedenen Verwendungsweisen des Prädikats "gesund" oder des Substantivs "Gesundheit". Manchmal ist damit die bestimmte ausgewogene Formung der Bestandteile eines Sinnenwesens, also eine diesem innewohnende Form gemeint, manchmal nur eine Beschaffenheit eines Klimas oder einer Speise, insofern diese Beschaffenheit Gesundheit bewirkt. In der Erwiderung auf den ersten Einwand wird die Bedeutung des Wortes "Wahrheit" mit derjenigen des Wortes "Maß" verglichen. Die Wahrheit des göttlichen Verstandes ist wie ein einziges Maß, durch das und an dem alles Seiende gemessen ist. Die Wahrheit des menschlichen Verstandes hingegen ist etwas Gemessenes, und zwar mit den Dingen als Maß. Sie ist somit nicht eine einzige. Die Wahrheit eines Dinges schließlich entspricht dem "inneren Maß" eines ausgedehnten Seienden, also der diesem eigentümlichen bestimmten Ausdehnung oder Größe. Es gibt viele derartige Wahrheiten.

Fünfter Artikel: Ist irgendeine andere Wahrheit außer der ersten Wahrheit ewig? Dieser Artikel verdient Aufmerksamkeit wegen der Rolle, die das Lehrstück von den ewigen Wahrheiten bei vielen hervorragenden Denkern gespielt hat. Die Antwort knüpft an die Ähnlichkeit zwischen Wahrheit und Maßbeziehung an. Man kann das einem Körper innewohnende Maß unterscheiden von einem äußeren Maß oder Maßstab, mit dem der Körper gemessen wird. Ersteres ist die dem Körper eigene Ausdehnung. Wird sie mit Hilfe verschiedener äußerer Maßstäbe gemessen, dann ergeben sich jeweils verschiedene Zahlenwerte. Aber das, was dabei mittels verschiede· ner Zahlen gekennzeichnet wird, ist ein und dasselbe, und

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es hängt insoweit nicht von irgendeinem äußeren Maßstab ab. In der Wahrheit des göttlichen Verstandes wurzelt die Wahrheit der Dinge. Die Dinge wiederum sind maßgebend für die Wahrheit des menschlichen Verstehensund der diesem entsprechenden wahren Aussagen. Insofern sind diese Wahrheiten ebenfalls auf die erste Wahrheit bezogen wie etwas Gemessenes auf einen ihm äußeren Maßstab. Eine Übereinstimmung von Verstand und Ding hat nun nicht zur notwendigen Bedingung, daß das vom Verstand Erkannte etwas ist, das vor oder während des Verstehensvollzugs besteht, das also unabhängig von der Tätigkeit des Verstandes existiert. Wahre Erkenntnis kann sich nämlich auch auf etwas Zukünftiges beziehen. Das ist jedenfalls durch die (aufgrund der hl. Schrift) wahre Aussage über das zukünftige Auftreten des Antichristen verbürgt. Wenn ein derartiger Satz "wahr" genannt wird, dann rührt diese Benennung ja offensichtlich nicht von einem wirklich bestehenden Ding her. Sie kann also nur von der Wahrheit als einer Seinsweise des Verstandes abgeleitet sein. Somit ist es auch denkbar, daß der schöpferische Verstand Gottes die zeitlichen Dinge von Ewigkeit her erkannte. Im Hinblick auf die Wahrheit dieser schöpferischen Erkenntnis, also im Hinblick auf die "erste Wahrheit", kann folglichjedes zeitliche Seiende "von ewig her wahr" genannt werden. Die den erschaffenen Dingen und den erschaffenen Erkenntnisvermögen innewohnenden Wahrheiten sind hingegen nicht ewig, und zwar ebensowenig wie dasjenige, dessen Seinsweise sie sind. Die Rede von "ewigen Wahrheiten" ist irreführend. Eine Vielheit von Wahrheiten gibt es nur im menschlichen Verstandesvermögen, und zwar aufgrund der vielen verschiedenen erkannten Dinge und aufgrundder zeitlichen Struktur des menschlichen Verstehens. Die erste Wahrheit hingegen ist entsprechend der Art göttlichen Erkennens nur eine einzige, und sie ganz allein ist ewig. In der Erwiderung auf den zweiten Einwand wird genauer dargelegt, was unter einer wahren Erkenntnis von etwas Nichtseiendem zu verstehen ist. Die Angleichung, wel-

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ehe die Wahrheit ausmacht, besteht in diesem Fall zwischen dem Verstand und etwas, das er selbst gebildet hat, nämlich dem Begriff eines Nichtseienden. Wird ein Nichtseiendes "wahr" genannt, dann ist diese Benennung ausschließlich von der Verstandeswahrheit abgeleitet, und auch nur diese ist gemeint. Das ist wichtig bei der rechten Beurteilung des Arguments für die Ewigkeit der Wahrheit, das sich darauf stützt, daß eine grundsätzliche Leugnung der Wahrheit selbst wahr sein muß, wenn sie überhaupt sinnvoll sein soll. Ist die Aussage, in der die Wahrheit eines Dinges verneint wird, wahr, dann handelt es sich bei der Wahrheit, die hier zum Ausdruck kommt, um die Seinsweise eines Verstandes. "Ewig" kann eine solche Wahrheit also nur genannt werden, wenn zusätzlich vorausgesetzt wird, daß der Verstand, dessen Seinsweise sie ist, ewig ist. Auch die Erwiderung auf den fünften Einwand enthält eine wichtige Überlegung. Zu denken: "Ich existiere nicht", "Ich denke nicht", ist möglich, weil diese Sätze nicht in sich widersprüchlich sind. Die Erkenntnis des eigenen Denkaktes erfolgt nämlich erst in einer Reflexion auf diesen Akt, dessen Inhalt also zunächst unabhängig von der Reflexion zu beurteilen ist. Entsprechend ist es kein aus logischen Gründen unmöglicher Gedanke, es gebe keine geschaffene Wahrheit, obwohl die Angleichung des eigenen Verstandes an die Wirklichkeit Vorausetzung auch dieses Gedankens ist. Der fünfzehnte Einwand schließlich ist Anlaß für eine Theorie derjenigen Relationen, die auf die Art und Weise des menschlichen Denkens zurückzuführen sind. Die Unterscheidung zwischen sokhen nur im Denken hervorgebrachten Beziehungen und solchen, die eine vom Denken unabhängige Wirklichkeit besitzen, beruht letztlich auf der Unmöglichkeit einer unendlichen Folge wirklicher Relationen. Eine nicht abschließbare Folge von Relationen kann nur durch eine entsprechende Folge von Denkakten erdacht werden.

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Sechster Artikel: Ist eine geschaffene Wahrheit unveränderlich? Neben der Ewigkeit ist die Unveränderlichkeit eine Eigenschaft, welche der Wahrheit häufig wie selbstverständlich zugesprochen wird. Unumstritten ist gewiß, daß die Wahrheit, verstanden als Seinsweise des schöpferischen Verstandes Gottes, keinerlei Wandel zuläßt. Sie ist wie ein unwandelbares äußeres Maß, dem die verschiedenen Dinge in unterschiedlicher Weise entsprechen. Es muß jedoch sorgfältig untersucht werden, ob eine geschaffene Wahrheit als unveränderlich bezeichnet werden darf und welchen Sinn eine solche Benennung haben kann. Zunächst ist zu beachten, daß in der Aussage, eine Wahrheit ändere sich, diese nach Art einer einem Träger innewohnenden Form aufgefaßt wird und daß dieser Form selbst und nicht bloß dem zugrundeliegenden Träger ein Anderswerden zugesprochen wird. Nun hängt aber der Sinn des Ausdrucks "Änderung der einem Ding innewohnenden Form" davon ab, welche Form hier gemeint ist. Das wird anhand eines Beispiels deutlich: Mit dem Satz: "Die Farbe des Körpers A ändert sich von Weiß in Schwarz" ist gemeint, daß die weiße Färbung des Körpers verschwindet und an ihre Stelle eine schwarze Färbung tritt. Innerhalb der Gattung "Farbe" ist dieser Vorgang also der Obergang von einer Art zu einer anderen. Von der zunächst den Körper bestimmenden Artform "Weiße" bleibt nichts erhalten. Die neue Artform "Schwärze" ändert aber nichts daran, daß der Körper nach wie vor der Gattung des Farbigen zuzuordnen ist; denn Farbe ist sowohl die Weiße wie die Schwärze. Man kann also in diesem Fall sagen, daß das gattungsbestimmende Merkmal, da aus beiden Artformen abstrahierbar, seinem begrifflichen Gehalt nach unverändert bleibt, obwohl es eine neue Form ist, aufgrund derer der Körper in dieser Gattung bleibt. Wie ist die Frage des Artikels nun im einzelnen zu beantworten? Die vielfältigen Bedeutungen des Wortes "wahr" machen auch hier erforderlich, daß man stets sein Augenmerk darauf richtet, wie Wahrheit in jedem Fall zu verstehen ist. Es gilt nun: 1. Die Wahrheit als Seinsweise des

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göttlichen Verstandes aufgefaßt ändert sich nicht. 2. Die Wahrheit, die einem Ding in seiner Hinordnung auf diese erste und unveränderliche Wahrheit zukommt, ändert sich mit jedem Wandel, den dieses Ding erfährt. Allerdings wird aus der so verstandenen Dingwahrheit nie Unwahrheit. Die Wahrheit als die Angleichung des Dinges an den göttlichen Verstand überragt in ihrer Allgemeinheit nämlich sogar je· de gattungsbestimmende Eigenart einer Form. 3. Die Wahrheit eines Dinges, die diesem im Hinblick auf den menschlichen Verstand zukommt, ist veränderlich, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie sogar zur Falschheit wird. Eine Entsprechung von Ding und menschlichem Verstand kann nämlich nicht nur zu einer anderen Wahrheit werden, sondern sie kann verloren gehen. 4. Dasselbe gilt auch für die Wahrheit als Angleichung des menschlichen Verstandes an ein Ding. Auch sie ist veränderlich bis hin zur Aufhebung. Dies wird mittels der Begriffe des Gleichen und der Gleichheit verdeutlicht.

Siebter Artikel: Wird Wahrheit in Gott in bezug auf die Wesenheit oder in bezugauf die Personen ausgesagt? Texte aus der hl. Schrift und Äußerungen theologischer Autoritäten machen eine Erklärung der Bedeutungen erforderlich, mit denen das Wort "Wahrheit" vom dreifaltigen Gott gesagt wird. Wird es seinem eigentlichen Sinn gemäß von Gott ausgesagt, dann ist gemeint die Gleichheit von göttlichem Verstand und dem von diesem Verstandenen. Nun ist der angemessene und eigentümliche Gegenstand des göttlichen Erkennens die göttliche Wesenheit. Wegen der Identität von Wesenheit und Erkennen in Gott schließt Wahrheit so verstanden weder eine Beziehung von Maß zu Gemessenem noch eine solche von Ursprung zu Abhängigem ein. Anders ist es mit der Gleichheit von göttlichem Verstand und erschaffenen Dingen: Hier sind zusätzlich die Merkmale von Maß und Ursprung des Geschaffenen mitgemeint. In beiden Fällen handelt es sich um eine Verwendung des Wortes "Wahrheit", die auf die Wesenheit bezogen ist, wenn auch

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eine Zueignung an die Person des Sohnes nicht als sinnlos ausgeschlossen ist. Man kann von Wahrheit in Gott auch in einer anderen Bedeutung sprechen, indem man von der "Dingwahrheit" im Bereich des Geschaffenen ausgeht, die ja darin besteht, daß etwas seinen ersten Ursprung, nämlich den schöpferischen göttlichen Verstand nachahmt. Eine Übertragung dieser Bedeutung auf Gott führt dazu, den Sohn als Wahrheit zu bezeichnen, da er die höchste Nachahmung des Vaters ist. Die Verwendung von Wörtern wie "Wahrheit" und "Gleichheit" in Aussagen über Gott bedarf jedenfalls sehr genauer Auslegung, um deren Sinn richtig zu begreifen.

Achter Artikel: Stammt von der ersten Wahrheit jede andere Wahrheit? In diesem Artikel soll geklärt werden, ob und in welchem Sinn die erste Wahrheit, also die des schöpferischen göttlichen Verstandes, Ursprung der vielen und vielfachen Wahrheiten im Bereich des Geschaffenen ist. Dabei tritt vor allem eine Schwierigkeit auf, die zu lösen ist: Was bedeutet es, wenn Seinsmängel, für die die Blindheit ein Beispiel ist, und andere Sachverhalte, die nur mittels Vemeinungen gekennzeichnet werden können, da sie ein Fehlen von Sein sind, etwas Wahres genannt werden? Derartiges kann ja einem Verstandesvermögen nicht in derselben Weise angeglichen sein wie etwas "positiv" Seiendes, das dem Erkennen eine bestimmte Seinsfülle darbietet und durch seine Bestimmtheit oder seine Form zum Glied einer Angleichungsbeziehung werden kann. Seinsmängel hingegen bestehen im Gegensatz dazu gerade im Fehlen oder im Nichtsein einer Form. Wenn man ihnen rechtens Wahrheit zuspricht, so muß damit zwar eine Angleichung an den Verstand gemeint sein, aber es kann nicht mitgemeint sein eine unabhängigvom Denken vorgegebene positive Realität, welche diese Angleichung mitbewirkt. "Wahrheit eines Seinsmangels" kann also nur bedeuten Angleichung des Verstandes an etwas, das er selbst hervorgebracht hat, indem er einen Begriff bildet, dem nicht ein vorgegebenes positi-

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ves Etwas, sondern das Nichtsein eines solchen entspricht. Der Verstand kann durch solche Begriffsbildungen auch das Nichtsein von etwas erfassen. Die Dinge selbst und ihre eine Angleichung an den Verstand bewirkenden Formen stammen von Gott. Ebenfalls ist klar, daß Wahrheit als Seinsweise eines Verstandes, der etwas positiv Seiendem angeglichen ist, von Gott stammt. Es ist aber auch einzusehen, daß Wahrheit als Seinsweise eines Verstandes, der einen Seinsmangel erkennt, von der ersten Wahrheit herrührt. Diese Angleichung besteht zwar unmittelbar nur zwischen dem Verstand und etwas von ihm Hervorgebrachtem, und sie kann nicht auf ein positiv Seiendes als das sie Bewirkende zurückgeführt werden. Aber es leuchtet ein, daß die Wahrheit, die in der wahren Erkenntnis eines Seinsmangels liegt, ebenso wie jede Erkenntniswahrheit etwas ist, auf das der Verstand seiner Natur nach hingeordnet ist und das infolgedessen als Ziel der Verstandestätigkeit das eigentümliche Gute dieses Vermögens ist. Jedwedes Gute aber stammt von Gott, also auch eine derartige Verstandeswahrheit.

Neunter Artikel: Gibt es Wahrheit im Sinnesvermögen? Durch die Frage, oo es Wahrheit in einem Sinnesvermögen gebe, wird eine weitere Verwendung des Wortes "Wahrheit" in den Blick gerückt. Es kann sich ja nicht um Wahrheit als eine Seinsweise des Verstandes und auch nicht um bloße Dingwahrheit handeln; denn die Sinne sind ja nicht nur etwas, das von einem Verstand erkannt werden kann, sondern sie sind selbst Vermögen der Erkenntnis und werden hier auch als solche aufgefaßt. Da es offensichtlich sachgerecht ist, Sinneserkenntnisse "wahr" ("Wahrnehmungen") und "falsch" zu nennen, muß die damit einem Sinnesvermögen zugesprochene Wahrheit von der Verstandeswahrheit abgegrenzt werden. Zu diesem Zweck ist nun zu beachten, daß Wahrheit im Verstand in doppelter Weise anzutreffen ist: Erstens ist sie mit jedem Urteilsakt, insoweit dieser der beurteilten Sache entspricht, als eine ihm unmittelbar anhaftende Folge gegeben. Jedes wahre Verstandesurteil macht dieses Vermögen

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zum Träger der Seinsweise "Wahrheit". Darüber hinaus können wir - zweitens - mittels des Verstandes auch er· kennen, was ein wahres Urteil zu einem wahren (und ent· sprechend was ein falsches Urteil zu einem falschen) macht. Wodurch ist nun diese Erkenntnis der Wahrheit als Wahrheit möglich? Wenn Wahrheit des Verstandes Folge eines wahren Urteils ist, kann sie als solche nur erkannt werden, wenn der Urteilsakt selbst erkannt wird. Der Verstand muß also den eigenen Akt zum Gegenstand einer Erkenntnis machen. Das vermag er, indem er sich auf diesen Akt zurückbeugt oder "reflektiert". Die Erkenntnis, daß ein Urteilsakt vollzogen wurde, genügt jedoch noch nicht. Es muß auch erkannt werden, wie sich dieser Urteilsakt zu der beurteilten Sache verhält. Bedingung dafür wiederum ist eine Erkenntnis der Natur (des Wesens) des Urteilsaktes, also eine Erkenntnis dessen, was ein Urteil ist und wodurch es sich von anderen Tätigkeiten unterscheidet. Das aber setzt voraus eine Erkenntnis der Natur des Vermögens, welches urteilend tätig ist. Dieses Vermögen ist der Verstand. Insoweit erkannt wird, daß es dem Verstand wesenhaft zukommt, sich den Dingen anzugleichen, ist auch erkannt, worin die Wahrheit eines wahren Urteilsakts besteht. Wahrheit als erkannte ist somit im Verstand insoweit, als er sich mittels einer Reflexion selbst erkennt. In welcher Weise eignet nun dem Sinnesvermögen Wahr· heit? Das sinnliche Erkennen kann dem sinnlich erfaßten Gegenstand entsprechen oder nicht entsprechen. Der Gesichtssinn etwa kann die verschiedenen Farben korrekt wahrnehmen, und er kann uns täuschen. Es gibt jedenfalls im Bereich der Wahrnehmungen insofern sinnliche Urteile, als ein Sinnesvermögen auf seine Art Wirkliches erfaßt und in der Lage ist, in seinem Gegenstandsfeld Unterschiede wahrzunehmen. Es gibt auch eine sinnliche Erkenntnis von Wahrnehmungsakten, die ja organische Vollzüge und als solche selbst etwas Wahrnehmbares sind. Aber kein Sinnesvermögen vermag die Entsprechung, die zwischen seiner Wahrnehmung und dem wahrgenommenen Gegenstand besteht, zu erkennen. Es gelangt nicht über die Wahrnehmung der eigenen Akte hinaus, und somit kann es auch nicht die

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Wahrheit (oder Falschheit) einer Wahrnehmung erkennen. Es gibt also Wahrheit als erkannte im Bereich der Wahrnehmungen nicht. Dieser Unterschied zwischen Verstandes- und Sinneserkenntnis wird mittels eines Überblicks über die Tätigkeitsund Wirkweisen der verschiedenen Arten des Seienden verständlich gemacht. Die vollkommensten Wesen sind die geistigen Substanzen. Ihr Tätigsein zeichnet sich dadurch aus, daß es stets zu seinem Ursprung zurückkehrt, und zwar ist diese Rückkehr eine vollständige. Geistige Akte verlaufen also wie eine Kreisbewegung, und sie sind damit Ausdruck des Selbstbesitzes oder des bei-sich-Seins, der vorzüglichen Seinsart des Geistes. Am Verlauf der menschlichen Verstandeserkenntnis zeigt sich dies: Der Verstand richtet sich auf etwas von ihm Verschiedenes, das "außerhalb" ist, so daß er sich von sich weg bewegt. Indem er nun diesen seinen Akt erkennt, hebt eine Rückkehr an; denn der Akt, in dem ein Ding außerhalb erkannt wird, liegt zwischen Erkennendem und erkanntem Ding. Sich auf ihn zu richten bedeutet also eine Rückwendung in Richtung auf den Ursprung des Erkenntnisvorgangs. Diese Rückkehr vollendet sich schließlich, indem das Wesen des erkennenden Vermögens, also des Verstandes, erkannt wird. I. Erkenntnisakt, der auf das Ding außerhalb zielt. 2. Erkenntnisakt, der auf 1 zielt. 3. Erkenntnisakt, der auf den Verstand zielt. Vollendung der Rückkehr.

Bei der sinnlichen Erkenntnis gibt es die Rückkehrbewegung nur unvollständig. Zwar werden die Sinnesvermögen ihres eigenen Tätigseins inne, aber damit endet diese Erkenntnisbewegung. Warum bei der sinnlichen Erkenntnis die Rückkehr unvollständig bleibt, ist von Avicenna erklärt: Sinnliche Erkenntnis vollzieht sich stets mittels der Veränderung eines körperlichen Organs. Dieses Organ steht

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also zwischen dem Vermögen und dem Gegenstand. Kein körperliches Organ vermag sich aber zwischen ein in Tätigkeit befindliches Vermögen und das Vermögen als Ursprung dieser Tätigkeit zu schieben. Dies aber müßte geschehen, damit eine Wahrnehmung des Sinnesvermögens selbst zustande käme. Die am wenigsten vollkommenen Wirkweisen schließlich sind diejenigen, bei welchen kein Ansatz von Zirkularität zu erkennen ist, die sich vielmehr in einem einfachen "nach-außen-Wirken" erschöpfen, ohne daß sie in irgendeiner Weise auch auf sich selbst zielen. Als Beispiel dient die Art und Weise, wie das Feuer wirkt: Es erwärmt und verliert sich nach außen, aber kein Indiz spricht dafür, daß das Feuer der eigenen Aktivität wie auch immer gewahr würde.

Zehnter Artikel: Gibt es irgendein falsches Ding? Nachdem den mannigfachen Bedeutungen, die mit dem Wort "Wahrheit" verbunden sind, gründlich nachgegangen wurde, wird in den letzten drei Artikeln dieser Quaestio untersucht, welchen Gebrauch man sinnvollerweise von den Ausdrücken "Falschheit", "Falsches" und "falsch" machen kann. In diesem zehnten Artikel wird erklärt, was gemeint ist, wenn man ein Ding als ein falsches bezeichnet. Falschheit ist das Gegenteil von Wahrheit, wobei der Gegensatz zwischen beidem ein konträrer ist. Da Wahrheit im strengen Sinn Angleichung von Verstand und Ding ist, besteht die Falschheit in einer entsprechenden Ungleichheit. Von einem falschen Ding zu sprechen heißt folglich, eine Ungleichheit zwischen diesem Ding und einem Verstandesvermögen zu behaupten. Es ist also zu untersuchen, ob und wie es eine derartige Ungleichheit eines Dinges im Hinblick auf den göttlichen und im Hinblick auf den menschlichen Verstand geben kann. Im Hinblick auf den göttlichen Verstand kann es nun eine solche Nichtentsprechung nicht geben. Jeder Seinsgehalt entspricht seinem Maß im schöpferischen Wissen Gottes. Insofern ist er wahr. Aber auch die Seinsmängel und die Sachverhalte, die wir mittels Verneinungen erfassen,

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sind etwas Wahres im Hinblick auf den göttlichen Verstand. Das heißt jedoch nicht, der göttliche Verstand sei ihr Maß, so wie er Maß jedes positiven Seinsgehaltes ist, sondern es ist nur gemeint, daß auch sie von Gott erkannt sind. Der menschliche Verstand ist bei seinem Erkennen eines Dinges auf das angewiesen, was mit Hilfe der Sinne von diesem Ding wahrgenommen wird. Nun kommt es vor, daß ein Ding anders erscheint als es seiner Natur entspricht, daß also gewisse wahrnehmbare Eigenschaften eines Dinges über die ihnen zugrundeliegende Natur desselben täuschen. Ist das der Fall, nennt man es zu Recht ein "falsches Ding"; denn es ist durch sein Erscheinungsbild Ursache eines falschen Verstandesurteils. Allerdings wird ein solches falsches Urteil nicht notwendigerweise durch das beurteilte Ding verursacht; denn ein Urteil des Verstandes ist nie ein lediglich passives Bewegtwerden durch etwas Wahrgenommenes. Jedes Urteil ist vielmehr ein eigenständiger von der Seele hervorgebrachter Akt, der insoweit niemals vollständig von den Sinneseindrücken abhängt. Kein Ding führt also das menschliche Erkennen unabänderlich in die Irre. Im übrigen ist zu beachten, daß die so verstandene Falschheit keinem Ding wesenhaft zukommt. Seiner Wesenheit nach ist vielmehr jedes Seiende etwas Wahres, und zwar aufgrund seines wesenhaften Verhältnisses zum göttlichen Verstand.

Elfter Artikel: Gibt es Falschheit in den Sinnen? Das menschliche Erkennen ist Ergebnis eines Zusammenwirkens sinnlicher und geistiger Erkenntniskräfte. Die Sinnesvermögen stehen dabei zwischen den Dingen und dem Verstand. Diese mittlere und vermittelnde Stellung der Sinne ist sorgfältig zu berücksichtigen, wenn man untersucht, wie einem Sinnesvermögen Wahrheit oder Falschheit zugesprochen werden können. In seinem Verhältnis zum Verstand kann ein Sinnesvermögen mit einem erkennbaren Ding verglichen werden. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, kann es keine Falschheit in ihm geben; denn der jeweilige Zustand, in

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dem ein Sinn sich befindet, wird vom Verstand unmittelbar und richtig erfaßt. In dieser Hinsicht haben die Sinnesvermögen eines Menschen unter allen Gegenständen seiner Verstandeserkenntnis eine besondere Stellung. Eine weitere Besonderheit, durch die ein Sinnesvermögen sich von den anderen Verstandesgegenständen unterscheidet, liegt darin, daß es durch seinen jeweiligen Zustand auf etwas anderes, nämlich das Wahrgenommene, verweist. Als derart Verweisendes betrachtet kann einem Sinn nun Falschheit zukommen, und zwar insoweit, als er zu einem falschen Verstandesurteil über das wahrgenommene Ding beiträgt. So etwas kommt vor, aber es ist nicht notwendig. Verwickelter ist eine Analyse des Verhältnisses zwischen Sinnesvermögen und wahrgenommenem Ding. Da sich ein Sinn zu einem Ding ähnlich verhält wie der Verstand, werden sich in ihm auch Wahrheit und Falschheit in ähnlicher Weise wie im Verstand finden. Die unmittelbare Wahrnehmung, die in der Prägung des Sinnes unter dem Einfuß eines Dinges besteht, kann nicht "wahr" und auch nicht "falsch" genannt werden, ebensowenig wie die unmittelbare Erfassung der Washeit eines Dinges durch den Verstand. Erst im Hinblick auf denjenigen Akt des Sinnes, der dem direkten Geprägtwerden folgt und der "Sinnesurteil" genannt wird, kann man von "wahr" und "falsch" sprechen. Dabei wiederum ist zu beachten, worauf sich die sinnliche Erkenntnis jeweils richtet. Jedem Sinnesvermögen entsprechen bestimmte wahrnehmbare Beschaffenheiten der Dinge: Dem Gesichtssinn die Farbe, dem Gehörsinn die Geräusche usw. Im Hinblick auf diese ihm eigentümlichen Gegenstände gibt es normalerweise keinen Irrtum in einem Sinnesvermögen; denn die Beurteilung des Erfaßten ist eine dem Sinnesvermögen ureigene Tätigkeit, die wie alle naturhaften Tätigkeiten richtig abläuft. Eine Täuschung kann sich hier nur einschleichen durch einen Defekt des Wahrnehmungsvermögens selbst oder wegen einer Störung im Medium, das sich zwischen Sinnesorgan und Ding befindet. Eine sinnliche Erkenntnis kann allerdings auch ohne solche Beeinträchtigung fehlgehen, und zwar dann, wenn sie nicht auf den eigentümlichen Gegenstandsbereich eines Sinnes

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bezogen ist. Es gibt Eigenschaften der Dinge, die mehreren Sinnen zugänglich sind. Eine solche Eigenschaft kann durch einen einzelnen Sinn fehlerhaft beurteilt werden; denn die Vergleichung, die zum Sinnesurteil führt, kann falsch sein. Ebenso ist es mit solchem, das selbst nicht unmittelbar wahrgenommen wird, sondern nur beiläufig, also etwa der Träger einer wahrgenommenen Eigenschaft. Das Gesagte gilt von den Vermögen, die das wahrnehmen, was zugleich mit dem Wahrnehmungsakt und von ihm unabhängig anwesend ist. Die Vorstellungskraft (Phantasie) erzeugt sinnenhafte Bilder von Dingen, auch ohne daß diese außerhalb der Vorstellung da sind. Sie täuscht also meistens insofern, als sie Nichtvorhandenes als vorhanden vorstellt.

Zwölfter Artikel: Gibt es Falschheit im Verstand? Schließlich ist zu klären, ob man auch sagen kann, es gebe im Verstandesvermögen Falschheit, und wenn ja, was damit genau gemeint ist. Die Überlegung hebt mit einer Erklärung des Wortes "intellectus" (=Verstand, Einsehendes) an, durch die eine Eigenart dieses Tätigkeitsprinzips der Seele deutlich gemacht werden soll. Der Verstand vermag - im Unterschied zu den sinnlichen Erkenntniskräften bis zum wesentlichen Sein eines Dinges vorzudringen. Mittels des Verstandes können wir von Dingen erkennen, was sie ihrem Wesen nach sind. Das einsehende Verstehen erstreckt sich ferner auf die ersten Grundsätze, so auf das Wi· derspruchsprinzip oder den Satz "Jedes Ganze ist größer als jeder seiner Teile". Ihrer Wahrheit stimmt der Verstand naturhaft und unmittelbar zu, sobald die Bedeutungen der Termini, die in ihnen vorkommen, erfaßt sind. Insoweit nun der Verstand derart unmittelbar erfassend und begreifend tätig ist, gibt es keine Falschheit in ihm. Sobald er jedoch erfaßte Inhalte miteinander zusammensetzt oder voneinander trennt, kann er etwas Falsches zustande bringen. Das kommt bereits vor, wenn etwas unmittelbar und damit richtig Erfaßtes mittels einer Definition seinen Ausdruck finden soll. Obwohl nämlich ohne Falschheit erfaßt ist, was irgendein gegebenes Ding ist, kann die damit erfaßte

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und in einer Definition ausgedrückte Washeit auf ein Ding bezogen werden, dem sie nicht entspricht. Es kann aber auch schon bei der Konstruktion der Definition Falsches entstehen, nämlich durch fehlerhaftes Zusammenfügen von richtig begriffenen Inhalten. Diese Falschheit zeigt sich, wenn man prüft, ob es sich überhaupt um die Definition eines Dinges handeln kann. Da eine Definition stets auf etwas bezogen sein muß, schließt sie insofern auch die Behauptung ein, es gebe etwas, auf das sie zutrifft. Ist nun diese Behauptung nicht wahr, dann liegt ein Fehler in der Definition vor. Die Falschheit entsteht in beiden Fällen durch eine nicht wirklichkeitsentsprechende Synthese, die auf den Verstand zurückgeht. Sie darf aber dem ursprünglichen Verstehen, das jegliche weitere Tätigkeit des Verstandes ermöglicht, nicht zugesprochen werden, es sei denn nur als zufällige Eigenschaft, nämlich im Hinblick auf einen Fehler, der durch eine nachfolgende Tätigkeit zustande kommt. Ausgeschlossen sind auch Irrtum und Falschheit bei der Erfassung der ersten Grundsätze. Bei der unmittelbar verstehenden Tätigkeit der Seele gibt es also keine Falschheit. Häufig wird das Wort "Verstand" allerdings in einem weiteren Sinne gebraucht, als es durch die Wortbedeutung von "intellectus" nahegelegt ist. Auch das Nachforschen, Vermuten und vor allem das schlußfolgernde Denken werden dann als Verstandestätigkeiten angesehen. Es liegt nun auf der Hand, daß man bei diesen Aktivitäten auf Falschheit trifft. Die Sicherheit, mit welcher der Verstand die Wahrheit der ersten Grundsätze erkennt, wirkt sich aber auch hier aus; denn es gibt beim schlußfolgernden Denken und somit bei den abgeleiteten Sätzen dann keine Falschheit, wenn der Zusammenhang mit den Grundsätzen den logischen Gesetzen entspricht.

4. Zu Text und Ubersetzung Die "Quaestiones disputatae de veritate" entstanden während Thomas' erster Pariser Lehrtätigkeit, die von Septem-

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her 1256 bis Juli 1259 währte. Sie gehören somit zu seinen frühen Werken. Ihnen vorauf gehen der Kommentar zu den "Sentenzen", dem damals maßgebenden theologischen Schulbuch, und einige kleinere Schriften, von denen "De ente et essentia" erwähnt sei. Die aus zwölf Artikeln bestehende Quaestio I, der die Texte in diesem Band entnommen sind, stammt sehr wahrscheinlich aus den Jahren 1256 und 1257. Die Autorschaft des Thomas ist unumstritten. Das Werk wird ihm in den frühesten Katalogen seiner Schriften und in den ältesten Manuskripten zweifelsfrei zugeschrieben. Die große Zahl von Handschriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert zeigt, daß diese Schrift schon bald sehr geschätzt wurde. Bereits im 13. Jahrhundert wurde sie von namhaften Denkern herangezogen, die sich mit den von Thomas vorgetragenen Lehren auseinandersetzten. Insgesamt sind 66 Handschriften bekannt und hinsichtlich ihrer Bedeutung und Abhängigkeit voneinander genau untersucht. Das Ergebnis dieser Forschungen ist der Text in der kritischen Gesamtausgabe (Leonina), der hier zugrundegelegt ist: S. Thomae de Aquino Opera Omnia, iussu Leonis XIII P. M. edita, Tomus XXII, Quaestiones disputatae de veritate, Volumen I, Fase. 2, Qq. 1-7., Rom 1970. Es gibt mehrere Übersetzungen der "Quaestiones disputatae de veritate" in moderne Sprachen: Deutsch Des hl. Thomas von Aquin Untersuchungen über die Wahrheit, in deutscher Übertragung von Dr. Edith Stein, Löwen-Freiburg 1952, als Sonderausgabe der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft Tübingen. Ein Ausschnitt dieser Übersetzung in: H. G. Gadamer, Philosophisches Lesebuch 1, Fischer Bücherei Frankfurt 1965, s. 300-324. Eine Teilübersetzung: Karl Schulte, Das Wahrheits- und Erkenntnisproblem nach Thomas von Aquin, Paderbom 1977

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Englisch

Italienisch Spanisch

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Truth. St. Thomas Aquinas, Translated by R. W. Mulligan Chicago 1952. Eine Auswahl: R. McKeon, Selections from Medieval Philosophy, New York 1980 (II, 149-234). S. Tommaso, La veritä (Q. 1 de veritate). Traduzione, introduzione, commento; Maurizio Mamiani, Padua 1970. J. G. Lopez, Doctrina de Santo Tomas sobre la verdad. Comentarios a la Cuestion I "De Veritate" y traducci6n castellana de la misma, Pamplona 196 7.

Von dem in der Leonina-Ausgabe vorliegenden Text enthält dieser Band eine Auswahl. Verzichtet wurde auf den kritischen Apparat und auf etliche der Argumente, die in den einzelnen Artikeln zur Expositio der Frage angeführt sind, und auf deren Widerlegungen. Das dient in erster Linie dazu, die Aufmerksamkeit auf den hervorragenden Teil jedes Artikels, das corpus, zu lenken. Die vollständige Rekonstruktion des Pro und Contra bei der damaligen Disputation führt nicht von selbst zu besserer Einsicht in die Lehre des Thomas, ja gerade beim ersten Studium ist sie eher hinderlich. Thomas hat selbst einmal beklagt, dem Anfänger würden allzu häufig durch die große Zahl unnützer Quaestionen, Artikel und Argumente unnötige Schwierigkeiten gemacht. Es ist sicherlich vertretbar, das auch heute noch zu beherzigen. Da in den Ausgaben alle Argumente pro und contra numeriert sind und die hier ausgewählten Argumente diese Numerierung tragen, sind die Lücken erkennbar. Im übrigen wurde darauf geachtet, daß sich die wichtigsten Begründungen für die gegensätzlichen Antworten in diesem Text finden. Die Diskussion ist also zwar verkürzt wiedergegeben, aber ihre gedankliche Struktur bleibt erhalten. Der Text der corpora, in denen Thomas seine Lehre darlegt und begründet, ist vollständig. Die Übersetzung wurde neu angefertigt. Dabei waren die vorliegenden Übersetzungen von großem Nutzen, und zwar

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nicht nur die der "Quaestiones disputatae de veritate", sondern auch diejenigen anderer Schriften des Thomas. Auf einige spezifische Schwierigkeiten bei der Übertragung ins Deutsche sei hingewiesen. Gewisse lateinische Wörter werden sowohl substantivisch wie adjektivisch gebraucht. So kann "ens" bedeuten: "Seiendes", "das Seiende", "seiend", und "verum" entsprechend: "Wahres", "das Wahre", "wahr". Der Infinitiv "esse" kann mit "sein", "Sein", "das Sein" wiedergegeben werden. Hinzu kommen die Eigenarten der Fachsprache, die Thomas verwendet, zu der Ausdrücke wie "entitas", "essentia", "quidditas", "privatio" gehören. Sie einfach mit "Entität", "Essenz", "Quiddität", "Privation" zu übersetzen ist unangemessen, da es zum Verständnis nichts beiträgt. Der Sinn des Textes kann gelegentlich deutlicher werden, wenn der Übersetzer von einer gewissen Freiheit Gebrauch macht. Dazu ein Beispiel: "investigando quid unumquodque" ist statt: "bei der Erforschung dessen, was ein jedes ist" wiedergegeben mit: "bei jeder Erforschung dessen, was etwas ist". Ein und dasselbe lateinische Wort ist nicht immer mit demselben deutschen Wort übersetzt, so etwa "accipere" mit "erfassen", "annehmen". Das besonders wichtige "adaequatio" ist am passendsten sicherlich mit "Angeglichenheit" wiederzugeben, wie dies J osef Pieper durchweg tut. Da es jedoch recht künstlich wirkt, wurde "Angleichung" vorgezogen. An einigen Stellen verwendet Thomas trotz mehrerer Subjekte in einem Satz das Prädikat im Singular. Dies wurde, obwohl im Deutschen unkorrekt, beibehalten. Der Leser wird sicherlich an manchen Stellen mit der Übertragung unzufrieden sein. Verbesserungsvorschläge als Resultat gründlicher Erwägung des Inhalts der Texte sind willkommen. Außer den bereits erwähnten Werken seien als nützliche Hilfen für das Studium der im Text behandelten Probleme empfohlen: M. Baumgartner, Zum thomistischen Wahrheitsbegriff, Festgabe Cl. Baeumker, Münster 1913, S. 241-260 P. Wilpert, Das Urteil als Träger der Wahrheit nach Thomas von Aquin, Philos.Jahrbuch 46, 1933, S. 56-75

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XLI

Mc Call, St. Thomas on Ontological Truth, New Scholasticism XII, 1938, S. 9-29 G. B. Phelan, Verum sequitur esse rerum, Medieval Sturlies 1, Toronto 1939, S. 11-22 J. Vande W~ele, Le problerne deIaverite ontologique dans Ia philosophie de saint Thomas, Revue philos. de Louvain 52, (1954), S. 521-571 K. Ulmer, Erörterung des Begriffs der Wahrheit, Philos. Jahrbuch 73, 1965/6, S. 226-240 M. J. Lapierre, Aquinas Interpretation of Anselms Definition of Truth, Seiences eccles. 18 (1966), S. 413-441 J. Pieper, Wahrheit der Dinge, München 4 1966 F. Ruello, La notion de verite chez Saint Albert Je Grand et Saint Thomas d'Aquin, Löwen-Paris 1969 Tommaso d'Aquino nel suo settimo centenario, Vol. 6, II, Neapel o. J. (Akten des Internationalen Thomas-Kongresses von 1974) J. Owens, Judgment and Truth in Aquinas, in: St. Thomas Aquinas on the Existence of God. Collected Papers ... ed.J. R. Catan, New York 1980, S. 34-51 A. Zimmermann, Bemerkungen zu Thomas von Aquin, Quaest. disp. De veritate I, MiseeiL Mediaevalia, Bd. 15, Berlin 1982, S. 247-261 H. Krings, Was ist Wahrheit? Zum Pluralismus des Wahrheitsbegriffs, Philos. Jahrbuch 90,1, 1983, S. 20-31 G. Pöltner, Veritas est adaequatio intellectus et rei. Der Gesprächsbeitrag des Thomas von Aquin zum Problem der übereinstimmung, Zeitsehr. f. Philos. Forschung 3 7, 1983,H.4,S.563-576 F. M. Leal Carretero, Der aristotelische Wahrheitsbegriff und die Aufgabe der Semantik, Philos. Diss. Köln 1983 J. A. Aertsen, Medieval Reflections on Truth. Adaequatio rei et intellectus.- VU Bockhandel, Amsterdam 1984 Margot Fleischer, Wahrheit und Wahrheitsgrund. Zum Wahrheitsproblem und zu seiner Geschichte, Berlin-New York 1984

XLII

Albert Zimmermann

Für die Hilfe bei der Gestaltung des Quellen- und Anmerkungsteils und der Verzeichnisse schulde ich Frau lvana Znidar MAgroßen Dank. Dankbar erwähnt seien auch die Geduld und die Sorgfalt, mit denen Frau cand. phil. Gudrun Schulz die Korrektur besorgte und die Sekretärin des Thomas-Instituts, Frau Ursula Schüller, die anfallenden Schreibarbeiten erledigte. Am 2. Mai 1885 wurde der Gründer des Thomas-Instituts, Prälat Professor DDr. Josef Koch, geboren. Seiner zu gedenken, ist ein geringer Ausdruck der Dankbarkeit eines Schülers. Thomas·lnstitut der Universität zu Köln, am zweiten Mai 1985

A.Z.

TEXT MIT ÜBERSETZUNG

QUAESTIONES DISPUTATAE DE VERITATE VON DER WAHRHEIT QUAESTIO PRIMA · ERSTE FRAGE

QUAESTIONES DISPUTATAE DE VERITATE

QUAESTIO PRIMA

Articulus primus Quaestio est de veritate. Et primo quaeritur quid est veritas? Videtur autem quod verum sit omnino idem quod ens: Augustinus in libro Soliloquiorum 1 dieit quod nverum est id quod est«; sed id quod est nihil est nisi ens; ergo verum signifieat omnino idem quod ens. 3. Praeterea, quaeeumque differunt ratione ita se habent quod unum illorum potest intelligi sine altero: unde Boetius in libro De hebdomadibus 2 dieit quod potest intelligi Deus esse si separetur per intelleeturn paulisper bonitas eius; ens autem nullo modo potest intelligi si separetur ve· rum quia per hoe intelligitur quod verum est; ergo verum et ens non differunt ratione. 6. Praeterea, quaeeumque non sunt idem aliquo modo differunt; sed verum et ens nullo modo differunt, quia non differunt per essentiam eum omne ens per essentiam suam sit verum, nee differunt per aliquas differentias quia oporteret quod in aliquo eommuni genere eonvenirent; ergo sunt omnino idem. 7. Item, si non sunt omnino idem oportet quod verum aliquid super ens addat; sed nihil addit verum super ens eum sit etiam in plus quam ens. Quod patet per Philosophum in IV Metaphysieae 3 , ubi dieit quod verum diffinientes dieimus, 'quod dicimus esse quod est aut non esse quod non est', et sie verum includit ens et non ens; ergo ve-

I 2

3

II, c. 8, p. 134/19. Quomodo substantiae ... ed. Peiper, p. 171/85. c. 16, 101lb25.

VON DER WAHRHEIT

ERSTE FRAGE

Erster Artikel Gegenstand der Frage ist die Wahrheit. Zuerst wird gefragt: Was ist Wahrheit? Es scheint aber, als sei Wahres ganz dasselbe wie Seiendes. 1. Augustinus 1 sagt in dem Buch "Alleingespräche": "Wahres ist das, was ist". Nur Seiendes ist aber das, was ist. Also bedeutet "Wahres" ganz dasselbe wie "Seiendes". 3. Was sich begrifflich voneinander unterscheidet, verhält sich so zueinander, daß eines davon ohne das andere verstanden werden kann. Daher sagt Boethius2 im Buch "De hebdomadibus", man könne Gottes Sein verstehen, wenn man seine Gutheit einen Augenblick mittels des Verstandes abtrennt. Seiendes aber kann auf keine Weise verstanden werden, indem Wahres abgetrennt wird. Es wird ja nur dadurch verstanden, daß es Wahres ist. Wahres und Seiendes unterscheiden sich also nicht begrifflich voneinander. 6. Was nicht miteinander identisch ist, unterscheidet sich irgendwie voneinander. Wahres und Seiendes aber unterscheiden sich in keiner Weise voneinander; denn sie unterscheiden sich nicht durch die Wesenheit, da jedes Seiende durch seine Wesenheit ein Wahres ist; sie unterscheiden sich auch nicht durch irgendwelche Artunterschiede; denn dann müßten sie in einer gemeinsamen Gattung übereinkommen. Also sind sie ganz und gar dasselbe. 7. Wenn sie nicht ganz und gar dasselbe sind, muß Wahres etwas zu Seiendem hinzufügen. Wahres fügt aber Seiendem nichts hinzu, da es sich sogar weiter erstreckt als Seiendes. Dies erhellt durch den Philosophen 3 , der im 4. Buch der Metaphysik sagt: Wir definieren, was Wahres ist, "indem wir sagen: was ist, ist, oder was nicht ist, ist nicht",

4

Articulus primus

rum non addit aliquid super ens, et sie videtur omnmo idem esse verum quod ens. SED CONTRA, 'nugatio est eiusdem inutilis repetitio'; si ergo verum esset idem quod ens, esset nugatio dum dicitur ens verum, quod falsum est; ergo non sunt idem. RESPONSIO. Dicendum quod sicut in demonstrabilibus oportet fieri reductionem in aliqua principia per se intellec· tui nota ita investigando quid est unumquodque, alias utro· bique in infinitum iretur, et sie periret omnino scientia et cognitio rerum; illud autem quod primo intellectus conci· pit quasi notissimum et in quod conceptiones omnes resolvit est ens, ut Avicenna dicit in principio suae Metaphysi· cae 4 ; unde oportet quod omnes aliae conceptiones intellectus accipiantur ex additione ad ens. Sed enti non possunt addi aliqua quasi extranea per modum quo differentia additur generi vel accidens subiecto, quia quaelibet natura est essentialiter ens, unde probat etiam Philosophus in 111 Metaphysicae5 quod ens non potest esse genus; sed secundum hoc aliqua dicuntur addere super ens in quantum expri· munt modum ipsius entis qui nomine entis non exprimitur, quod dupliciter contingit. Uno modo ut modus expressus sit aliquis specialis modus entis; sunt enim diversi gradus entitatis secundum quos accipiuntur diversi modi essendi et iuxta hos modos accipiuntur diversa rerum genera: sub· stantia enim non addit super ens aliquam differentiam quae designet aliquam naturam superadditam enti sed nomine substantiae exprimitur specialis quidam modus essendi, scilicet per se ens, et ita est in aliis generibus.

4 5

I, c. V, p. 31/2-4. c. 8, 998b22.

Erster Artikel

5

und somit schließt Wahres Seiendes und Nichtseiendes ein. Also fügt Wahres zu Seiendem nicht etwas hinzu, und somit scheint Wahres ganz und gar dasselbe zu sein wie Seiendes. DAGEGEN: Eine Tautologie ist die unnütze Wiederholung desselben. Wäre also Wahres dasselbe wie Seiendes, wäre es eine Tautologie, von wahrem Seienden zu sprechen. Das ist jedoch falsch. Also sind sie nicht dasselbe. ANTWORT. Wie es bei beweisbaren Sätzen ein Zurückführen auf gewisse durch sich dem Verstand bekannte Prinzipien geben muß, so auch bei jeder Erforschung dessen, was etwas ist. Sonst verliefe man sich in beiden Bereichen ins Unbegrenzte, und so verlören Wissenschaft und Erkenntnis der Dinge sich völlig. Seiendes aber ist jenes, was der Verstand zuerst als das ihm Bekannteste begreift und in das er alles Begriffene auflöst, wie Avicenna4 zu Beginn seiner "Metaphysik" sagt. Deshalb müssen sich alle anderen Begriffe des Verstandes aus einer Hinzufügung zu dem des Seienden auffassen lassen. Zu "Seiendes" kann jedoch nicht etwas hinzugefügt werden wie ein außerhalb seiner liegender Gehalt, so wie etwa eine Artbestimmung zur Gattung oder ein Akzidens zu seinem Träger hinzukommt; denn jedwede Wirklichkeit ist wesenhaft Seiendes. Darum beweist auch der Philosoph im 3. Buch der "Metaphysik", daß das Seiende keine Gattung sein kann. Man sagt vielmehr, dem Begriff "Seiendes" werde etwas hinzugefügt, insofern dieses eine Weise des Seienden ausdrückt, die durch das Wort "Seiendes" nicht ausgedrückt ist. Dies ist auf zweifache Art der Fall: Erstens: Es wird eine gewisse besondere Seinsweise ausgedrückt. Es gibt nämlich verschiedene Grade der Seiendheit, denen gemäß man verschiedene Weisen von seiend erfaßt, und entsprechend diesen Weisen werden die verschiedenen Gattungen der Dinge aufgefaßt. Der Begriff der Substanz fügt nämlich zu dem des Seienden nicht irgendein unterscheidendes Merkmal hinzu, das eine zum Seienden hinzukommende Wirklichkeit bedeutet. Vielmehr drückt man mittels des Wortes "Substanz" eine gewisse besondere Weise zu sein aus, nämlich "an sich seiend"; entsprechend ist es mit den anderen Kategorien.

Articulus primus

6

Alio rnodo ita quod rnodus expressus sit rnodus generalis eonsequens ornne ens, et hie rnodus duplieiter aeeipi potest: uno rnodo secundurn quod eonsequitur unurnquodque ens in se, alio rnodo seeundurn quod eonsequitur unurn ens in ordine ad aliud. Si prirno rnodo, hoe est duplieiter quia vel exprirnitur in ente aliquid affirmative vel negative; non autern invenitur aliquid affirmative dieturn absolute quod possit aeeipi in ornni ente nisi essentia eius seeundurn quam esse dieitur, et sie irnponitur hoe nornen res, quod in hoe differt ab ente, seeundurn Avieennam in prineipio Metaphysieae6 , quod ens surnitur ab aetu essendi sed nornen rei exprirnit quiditatern vel essentiam entis; negatio autern eonsequens ornne ens absolute est indivisio, et hane exprirnit hoe nornen unurn: nihil aliud enirn est unurn quam ens indivisurn. Si autern rnodus entis aeeipiatur seeundo rnodo, seilieet seeundurn ordinern unius ad alterurn, hoe potest esse duplieiter. Uno rnodo seeundurn divisionern unius ab altero et hoe exprirnit hoe nornen aliquid: dieitur enirn aliquid quasi aliud quid, unde sieut ens dieitur unurn in quanturn est indivisurn in se ita dieitur aliquid in quanturn est ab aliis divisurn. Alio rnodo seeundurn eonvenientiam unius entis ad aliud, et hoe quidern non potest esse nisi aeeipiatur aliquid quod naturn sit eonvenire eurn ornni ente; hoe autern est anirna, quae »quodam rnodo est ornnia«, ut dieitur in 111 De anirna7 : in anirna autern est vis eognitiva et appetitiva; eonvenientiam ergo entis ad appetiturn exprirnit hoe nornen bonurn, unde in prineipio Ethieorurn 8 dieitur quod »bonurn est quod ornnia appetunt