Gefährliche Maskulinitäten: Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen [1. Aufl.] 9783839417676

Die Dominanz des westlichen, weißen, heteronormativen Verständnisses von Männlichkeit verhindert allzu oft den subversiv

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German Pages 308 Year 2014

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Gefährliche Maskulinitäten: Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen [1. Aufl.]
 9783839417676

Table of contents :
Inhalt
Vorwort: Gefährliche Männer – gefährdete Männer
TRANSATLANTISCHE ÜBERQUERUNGEN: WILDE SCHÖNHEIT UND VERBOTENE KUNST
»Apollo Among Satyrs«: Der schöne Finne im Wilden Westen
»Palimpsest und Kassiber«: Hubert Fichtes New Yorker Kunst-Ethnographie Die Schwarze Stadt
WHITE AMERICA: WEISSE MUSKELN UND DUNKLE GEHEIMNISSE
Männer im Pelz: Entblößungen und Verhüllungen des natürlichen Körpers um 1900
»Southern Gothic Updated«: Zerrbilder verstörter Männlichkeit im white-trash-Roman um 2000
QUEER CANNIBALS: DOUBLES UND ZOMBIES
Tourniers Anal/yse von Defoes Robinson Crusoe
Zerleiben und Zerschreiben: Von der nekrophagen Lustanhäufung zur seriellen Lektüresucht
PERFORMATIVE RÄUME: RUINEN UND TOILETTEN
»The Ruined City Under My Skin«: Der gemarterte Körper im Theater Reza Abdohs
Wenn in tearooms nicht mehr Damen verkehren: Deviante Raumordnungen in der Popkultur

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Ralph J. Poole Gefährliche Maskulinitäten

Gender Studies

for Wolfgang at long last

Ralph J. Poole lehrt Amerikanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Paris Lodron Universität Salzburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gender und Queer Studies, Theater-, Film- und Fernsehstudien, Populärkultur sowie Transkulturalität.

Ralph J. Poole

Gefährliche Maskulinitäten Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien und der Stiftungs- und Fördergesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Wolfgang Schulz 2011 Lektorat & Satz: Ralph J. Poole Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1767-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort: Gefährliche Männer – gefährdete Männer | 7

T RANSATLANTISCHE ÜBERQUERUNGEN: WILDE S CHÖNHEIT UND VERBOTENE KUNST »Apollo Among Satyrs«: Der schöne Finne im Wilden Westen | 23 »Palimpsest und Kassiber«: Hubert Fichtes New Yorker Kunst-Ethnographie Die Schwarze Stadt | 63

W HITE AMERICA: WEISSE M USKELN UND DUNKLE GEHEIMNISSE Männer im Pelz: Entblößungen und Verhüllungen des natürlichen Körpers um 1900 | 93 »Southern Gothic Updated«: Zerrbilder verstörter Männlichkeit im white-trash-Roman um 2000 | 123

Q UEER CANNIBALS : DOUBLES UND Z OMBIES Tourniers Anal/yse von Defoes Robinson Crusoe | 163 Zerleiben und Zerschreiben: Von der nekrophagen Lustanhäufung zur seriellen Lektüresucht | 203

PERFORMATIVE RÄUME: RUINEN UND TOILETTEN »The Ruined City Under My Skin«: Der gemarterte Körper im Theater Reza Abdohs | 243 Wenn in tearooms nicht mehr Damen verkehren: Deviante Raumordnungen in der Popkultur | 271

Vorwort: Gefährliche Männer – gefährdete Männer

Als ich im Winter 1991 erfuhr, dass ich für das gerade bewilligte und nun einzurichtende Graduiertenkolleg »Geschlechterdifferenz & Literatur« an der Ludwig-Maximilians Universität München als Teilnehmer ausgewählt worden war, konnte ich noch nicht ahnen, welche weitreichenden Folgen das für mich und meine erst beginnende akademische Laufbahn haben würde. Ich hatte mein Studium gerade beendet mit einer Magisterarbeit über Essstörungen im Werk Margaret Atwoods, die bereits Zeugnis eines fundamentalen Paradigmenwechsels während meiner Studienzeit war. Ich kam als zwar fortgeschrittener, aber theoretisch ziemlich unbedarfter Student nach München und musste mich im Crashkurs der Postmoderne und dem Poststrukturalismus à la Lyotard, Derrida, Lacan und Deleuze/Guattari annähern, nur um allmählich festzustellen, dass dieser wie mir schien dominante Theoriediskurs in der avancierten Amerikanistik gerade dabei war, von einem anderen Paradigma abgelöst zu werden: die Gender Studies erschienen am Horizont der Wissenschaft. Ich wurde geleitet durch Seminare über écriture feminine und weibliche Literaturgeschichtsschreibung, stritt mich mit Kommilitoninnen über Christa Wolf versus Audre Lorde, erfuhr, warum es eine Madwoman in the Attic gab und wie es um Shakespeare’s Sisters bestellt war, und überhaupt, warum die Anxiety of Influence eine notwendig männliche ist, die die Schwierigkeiten einer weiblichen Autorschaft gänzlich unberücksichtigt lässt. Meine Mentorin damals war Renate Hof, die in dieser Zeit mit ihrer Berufung an die Humboldt Universität zu Berlin eine der ersten Gender-Professuren in Deutschland erhielt. Da stand ich nun ziemlich ratlos mit meinem Dissertati-

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onsprojekt zum experimentellen amerikanischen Theater der 1960er Jahre, einer Dekade des Umbruchs mit dem Civil Rights Movement, der Frauenbewegung und nicht zuletzt der Gay Liberation und dem Vietnamkrieg. Was hatte ich zu sagen über ein Aktions-Theater, das von den institutionalisierten Räumen des Broadways auf die Straße und an die Öffentlichkeit strebte? Wiewohl durchaus politisiert und sensibilisiert für eine Literaturwissenschaft, die gewillt war, ihre Grenzen deutlich zu erweitern und sich zaghaft zu öffnen beispielsweise für Pop Culture, war ich doch nicht gefasst auf den Schock, den Judith Butlers Publikation Gender Trouble (1990) auslöste. Dieser trouble zog auch auf direktem Wege in unser Graduiertenkolleg ein und spaltete die nun plötzlich ›ältere‹ Generation feministischer Literaturwissenschaftlerinnen von den ›jungen Wilden‹, die alles – einschließlich den Feminismus – dekonstruiert, subvertiert und verqueert haben wollten. Für mich bedeutete dies, dass sich mein Dissertationsprojekt zu einer Arbeit über Performativität, eine der zentralen Leitideen der Dekonstruktion, ausgestaltete und für mich statt der sozialen theatralen Räume die darin agierenden geschlechtlichen Körper zentral wurden. War ich dort noch vor allem an der Markierungslinie Mann-Frau beschäftigt, so hat sich mit den sich auch immer weiter diversifizierenden Analysekategorien mein Interesse stetig erweitert. Es blieb beim Körper, mich interessierte in den Folgejahren aber, wie sich andere Intersektionen von Klasse, Rasse, Ethnizität, Alter, Religion, Nation, usw. in und auf diese geschlechtlich kodierten Körper einschreiben. Und: es kristallisierte sich immer mehr heraus, dass der männliche Körper zum Brennpunkt meiner Betrachtungen wurde. Voreilig hatte ich bereits 1991/92 als eines meiner ersten Seminare überhaupt eine »Einführung in die Men’s Studies« angeboten. Robert Blys Iron John war gerade erschienen und läutete die zweite, sogenannte ›mythopoetische‹ Welle der Männerbewegung ein, die vielerorts als backlash gegen den Feminismus verstanden wurde. Davor aber gab es schon das »Berkeley’s Men Center Manifesto« (1973) und erste einschlägige Publikationen wie Joseph Plecks und Jack Sawyers Men and Masculinity (1974, ein wichtiger Sammelband, der wie das Berkeley-Manifest die »first wave of the men’s movement« [Adams und Savran 5] dokumentiert), Michael Kimmels Changing Men (1987), Harry Brods The Making of Masculinities (1987), Michael Kaufmans Beyond Patriarchy (1987), Alice Jardines Men in Feminism (1987) und Lynne Segals Changing Men (1990), und es schien sich

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mir anzubieten, mit einer Gruppe von Studenten und Studentinnen, die interessiert genug und kaum jünger als ich waren, über diese und andere ›Männer-Texte‹ zu diskutieren. Die Gruppe erwies sich als interessierter als mir zeitweise lieb war, und ich sah mich unvorbereitet konfrontiert mit hitzigen Disputen, die nicht selten feuchtfröhlich im Biergarten fortgesetzt wurden, und Selbstoffenbarungsansinnen, die teilweise weit intimer waren, als ich ahnen wollte. Leider habe ich – verschreckt von dem Gefühl, ein literaturwissenschaftliches mit einem Selbsterfahrungsseminar verwechselt zu haben – diesen Kurs nie wiederholt. Akademische Mühlen mahlen bekanntlich langsam, aber dass sich auch hier die Zeiten allmählich ändern, erkannte ich am Verlauf des besagten Graduiertenkollegs. Gab es in der Gruppe der ersten dreijährigen Phase lediglich zwei männliche Doktoranden, wovon ich selbst einer war, so machten in der dritten und letzten Phase die Männer nun ein Drittel aus und sie schrieben über Themen wie »Performing Gay Communities in Post-AIDS Drama«, »Hombres con hombres con hombres: Männlichkeit im Spannungsfeld zwischen Macho und ›marica‹ in der argentinischen Erzählliteratur (1839-1999)« und »Der schöne Mann: Zur Ästhetik eines unmöglichen Körpers«. Ich begleitete in dieser Phase das Kolleg als Postdoktorand und ließ mich sehr von den entstehenden Arbeiten und den Gesprächen mit den Schreibenden inspirieren (meinen Dank an dieser Stelle vor allem an Torsten Graff, Jörg Köppke, Peter Teltscher und Wilhelm Trapp, aber nicht minder an deren Kolleginnen Sylvia Mieszkowski, Maren Möhring, Nicole Soost und Heide Volkening). Viele Teilnehmer sind mittlerweile fest an Universitäten etabliert und damit könnte man vorschnell von einem großartigen Erfolg nicht nur des Kollegs, sondern auch seiner Thematik sprechen (siehe zur Dokumentation des Kollegs ). Aus eigener Erfahrung muss ich aber leider einräumen, dass genderforschende Frauen allzu gerne und immer noch in eine akademische Schublade verräumt werden, die man/n süffisant lächelnd dann am liebsten verschlossen sähe, während für genderforschende Männer selbst diese Schublade normalerweise erst gar nicht geöffnet wird. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen fanden die meisten männlichen Teilnehmer des Kollegs daher keinen Eingang in die hehren Räume der Universitäten. Genderforschung kann gefährlich sein, auch dies will das vorliegende Buch bekunden.

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Die folgenden Essays entstanden vor diesem persönlichen wie akademischen Hintergrund über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahrzehnt. Sie versuchen eine kulturelle Verortung der Spezies ›Mann‹ diesseits und jenseits des Atlantiks von 1800 bis 2000 in Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur und in Texten, Filmen, Fernsehserien, Bildern, Anekdoten und Gerüchten. Die Texte sind daher nicht zuletzt Zeugnis davon, wie sich die Gender/Masculinity/ Queer Studies der letzten Jahre entwickelt und verändert haben. Es wurden daher nur geringfügige Änderungen an den Texten vorgenommen, der jeweilige Kontext, in dem sie geschrieben wurden, sollte beibehalten werden. Es ist ein Buch, das zurückschaut, von der Situation des Schreibenden auf historische Vergangenheiten. Es ist aber auch ein Buch, das immer wieder zur Gegenwart zurückkehrt und danach Ausschau hält, ob und wie sich Bestimmungen und Darstellungen des ›Mannes‹ verändert haben. Aus soziologischer Sicht meinen hier zwar Stephen Whitehead und Frank Barrett, dass »no matter how definitions of masculinity change, they are always in contrast to some definition of femininity and always elevated over this« (23), doch scheint mir eine solche Behauptung nicht überall und jederzeit in dieser Auschließlichkeit zuzutreffen. Und doch räumen auch diese Autoren ein, dass »masculinities exist as discourses – dominant and subordinated ways of thinking, talking and acting as males, and as such provide the very means by which males ›become‹ men (ebd. 21). Teil dieses ›becoming‹ ist sicherlich das rasant steigende Forschungsinteresse und die wenngleich zögerlich anlaufende Institutionalisierung der Männerstudien an Universitäten. bell hooks, immer bereit für eine streitbare Meinung, hat in ihrem ›Männerbuch‹ The Will to Change: Men, Masculinity, and Love (2004) beklagt, dass es (immer noch) nicht genügend Feministinnen gäbe, die sich konstruktiv der Männerfrage widmeten. »Sleeping with the enemy« war der Vorwurf von anderen Feministinnen an solche wie hooks, die über Männer schrieb. »We were the feminists who could not be trusted because we cared about the fate of men« (xiii), meint sie und glaubt, dass sich das immer noch nicht wesentlich geändert habe: »Acknowledging that there needed to be more feminist focus on men did not lead to the production of a body of writing by women about men. The lack of such writing intensifies my sense that women cannot fully talk about men

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because we have been so well socialized in patriarchal culture to be silent on the subject of men.« (Ebd.)

Ist dies aber anders mit Blick auf männliche Feministen und Männerforscher? Simone de Beauvoir prägte vor über einem halben Jahrhundert das bonmot: »Ein Mann fängt niemals damit an, sich erst einmal als Individuum eines bestimmten Geschlechts vorzustellen: dass er ein Mann ist, versteht sich von selbst« (10). Whitehead und Barrett schrieben hingegen 50 Jahre später, dass nicht nur in den USA, sondern auch in Europa eine feministisch-inspirierte Männerforschung sichtbar wird: »Whereas only two decades ago critical insights into masculinities were relatively few, today there are no areas of men’s activities that have not been subject to some research and debate by both women and men« (Whitehead und Barrett 1) und es sind besonders die Männer, »[who] recognize they have a gender, rather than perceive gender to be about women« (ebd. 3). Ob es sich nun um feministische Forscherinnen oder feministisch geleitete Forscher handelt, offensichtlich stimmen nicht alle dieser positiven Einschätzung zu und behaupten im Gegenteil, dass »the historical centrality of malestream writing« (ebd. 4) auch heute nach wie vor Gültigkeit besitzt. In seiner Rückschau auf das Klima der 1980er Jahre schreibt Peter Lehman aus Anlass einer Neuedition seines Buches Running Scared: Masculinity and the Representation of the Male Body (orig. 1993) im Jahre 2007: »The previous decade seemed to never get tired of talking about the phallus, always mentioning, of course, that the phallus was not to be confused with the penis. End of story. It was, to the [sic] say the least a lonely enterprise to be working on the male body, especially the sexual representation of the male body, in the mid-1980s, all the more so if you were a heterosexual male.« (ix)

Wiewohl ein »einsames Unterfangen« für den/die einzelne/n Männerforscher/in, arbeiteten doch gleichzeitig viele andere – Frauen wie Männer – an ähnlichen Themen, was sich in der zeitnahen Publikationswelle von Lehmans Studie (über Repräsentationen des Penis vor allem im Film) mit weiteren bahnbrechenden Arbeiten über Männlichkeit und Maskulinität manifestierte, darunter Kaja Silvermans Male Subjectivity at the Margins (1992), Steve Craigs Men, Masculinity, and the Media (1992), Susan Jeffords’ Hard Bodies (1993), E. Anthony Rotundos American Manhood (1993), William G. Dotys

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Myths of Masculinity (1993), Dennis Binghams Acting Male (1994) und die Bände von Steven Cohan und Ina Rae Har, Screening the Male (1993), und von Constance Penley und Sharon Willis, Male Trouble (1993). Ganz anders als bell hooks meint Lehman aus heutiger Perspektive zum gegenwärtigen Stand der Forschung: »Now the situation is nearly reversed, and essays, books, and journals devoted to masculinity and the male body flood the field« (x). Und auch Michael Kimmel konstatiert: »For decades, wave after wave of the women’s movement, a movement that reshaped every aspect of American life, produced nary a ripple among men. But suddenly men are in the spotlight« (1). Die Vielfalt der Männerforschung zeichnete jüngst Todd W. Reeser in Masculinities in Theory (2010) nach, wobei er zunächst die grundlegende Frage nach Sinn und Zweck von Maskulinitäts-Studien stellt, die auch für meine eigene Beschäftigung relevant ist: »It might seem odd to some to devote an entire book to the study of masculinity. After all, masculinity seems like an obvious thing, something we can and do take for granted. We know what it is when we see it: it is commonsensical, produced by testosterone or by nature.« (1)

Wie andere Forscher auch, besteht Reeser auf dem Plural der Maskulinitäten. Arthur Brittan beispielsweise betont, »[that] we cannot talk of masculinity, only masculinities. […] Those people who speak of masculinity as an essence, as an inborn characteristic, are confusing masculinity with masculinism, the masculine ideology. Masculinism is the ideology that justifies and naturalizes male domination. As such, it is the ideology of patriarchy« (51, 53). Reeser und andere (siehe vor allem Robinson) machen daher gerade auf die Un-Markiertheit von Männlichkeit aufmerksam, ein Umstand, der meinen eigenen Betrachtungen zugrunde liegt. Raewyn Connell hat in der bahnbrechender Studie Masculinities (1995) das hegemoniale Muster von Maskulinität bezeichnet als »the configuration of gender practice which embodies the currently accepted answer to the problem of the legitimacy of patriarchy, which guarantees (or is taken to guarantee) the dominant position of men and the subordination of women« (77). Reeser stellt solche hegemonialen Machtstrukturen nicht in Frage, wohl aber deren Fixiertheit und betont stattdessen die Beweglichkeit und Instabilität solcher Beziehungen, die Bruch- und Sollstellen sowie die erfolgreichen und misslungenen Versuche des hegemonialen Sys-

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tems, sich als dominant zu verbergen. Hegemoniale Maskulinität ist somit nicht nur unauflöslich mit Subordination verknüpft, sondern gründet ihre Definitionsmacht wesentlich darauf (Reeser 14). Eine Leitidee für meine Überlegungen zu hegemonialer wie untergeordneter Männlichkeit ist daher auch das Konzept der Subversion, das nonkonforme Modelle von Maskulinitäten aufzeigt, Momente der Krise, des Umbruchs und der Verkehrung von männlicher Vorherrschaft. »If masculinity’s hegemonic operations can be hidden«, meint Reeser zu Recht, »they can also be subverted, male power can be destabilized, and experiences outside hegemony can be created« (8). Subversion verschreibt sich dem Spiel von Sicht- und Unsichtbarkeit, im politischen Sprachgebrauch bezeichnet sie »meist im Verborgenen betriebene Handlungen als auf die Untergrabung oder den Umsturz der bestehenden [ ] Ordnung zielend« (Strauß 360), in der ästhetischen Praxis »versteckt die subversive Strategie ihr unterminierendes Potenzial. […] Subversion will nicht als solche erkannt werden« (Schäfer und Bernhard 78). Eine in den vorliegenden Erwägungen immer wieder auftauchende Form der Subversion leitet sich dementsprechend aus jener vermeintlichen Unmarkiertheit von Männlichkeit ab. Während »die Weiblichkeit« und »die Frau« unzählige Versuche der Begründung und Beschreibung hervorriefen, zeichnet sich »Männlichkeit« und »der Mann« durch eine Unsichtbarkeit aus, die sich aus einem binären System der Gegensätzlichkeit ergibt. »Mann« als normgebende Instanz gilt gegenüber »Frau« als unsichtbar, unmarkiert, unauffällig, dasselbe gilt für »heterosexuell« gegenüber »homosexuell« oder »weiß« gegenüber »schwarz/farbig«. Sich auf Roland Barthes’ Semiologie beziehend betont Reeser hier, dass der unmarkierte Begriff keineswegs durch eine Absenz von Bedeutung definiert ist, sondern durch eine »signifikante Absenz«: »Precisely because a term is unmarked, its silence speaks. In other words, the fact that masculinity has tended not to be thought of as gendered is a hole that should draw attention to its very absence. Because masculinity has traditionally not been taken to be a gender to be studied, its invisibility can be studied as one of its elements.« (9)

Als Unterscheidungskriterien der semantischen Felder von »masculinity« und »manhood« gibt Reeser daher einen Wegweiser

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vor, der für den englischen Sprachgebrauch strikter als für den deutschen zu sehen ist, weshalb in meinem eigenen Gebrauch die Trennung nur dann aufrechterhalten wird, wenn dies der historisch-geografische Kontext verlangt: »Whereas [ ] the terms ›masculinity‹ and ›male subjectivity‹ imply instability and a whole host of tensions and complications [ ], terms such as ›manhood‹, ›male identity‹, ›masculine identity‹, and ›male gender role‹ tend to connote a more stable approach to gender, and perhaps even a biologically based one (it is no accident, for instance, that ›manhood‹ can also refer to the male member).« (Ebd. 13)

Ein Buch über Männer, über ihre immer wieder bewiesene Gefährlichkeit für die Gesellschaft, aber auch über den gefährdeten Status derjenigen Männer, die als kulturell nonkonform und daher randständig wahrgenommen werden, ein solches Buch möchte nicht notwendig als Feminism without Women verstanden werden, wie Tania Modleski schon vor geraumer Zeit warnte und damit auf die Ambivalenzen eines »post-feministischen Zeitalters« aufmerksam machte. »Does masculinity studies represent a beneficial extension of feminist analysis or does it represent a hijacking of feminism?«, fragen daher auch die Herausgeber des Masculinity Studies Reader (2002) Rachel Adamas und David Savran (7). Ob sich die Männlichkeitsstudien in den akademischen Curricula etablieren werden, ob in – zu vermeidender – Konkurrenz zu oder – wünschenswerter – Kollaboration mit den Gender Studies, das wird sich erst in Zukunft erweisen (für deutsche, europäische und nordamerikanische Perspektiven diesbezüglich siehe Lenz, Hearn und Pringle sowie Gardiner). Mein eigener Beitrag hierzu will einige dieser Forschungsfelder und Problemzonen aufzeigen und widerständige Lektüren über Repräsentationen ›gefährlicher‹ Maskulinitäten bereitstellen. Besonders sollen die ›weiße‹ Männlichkeit auf den Prüfstand gestellt und signifikante Momente vergessener, ignorierter, diskriminierter und marginalisierter Männlichkeiten ins Zentrum gerückt werden. Der erotische männliche Körper und der homoerotisch begehrende Blick vor dem Hintergrund hegemonialer Strukturen und dem Ineinandergreifen von Männlichkeit, Ethnizität, Sexualität, Nationalität und Klasse sind Leitfiguren meiner Betrachtungen.

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Der erste Teil betrachtet Männer, die von Europa nach Amerika reisten. Gespiegelt werden diese transatlantischen Überquerungen in Literatur und Kunst, so bei James Kirke Pauldings Roman Koningsmarke, the Long Finne, in den Zeichnungen von Tom of Finland und in Hubert Fichtes Glossensammlung Die Schwarze Stadt. Ist Pauldings Roman um einen schönen finnischen Helden als ein Gründungstext der amerikanischen Nationalliteratur um 1800 zu verstehen, so geben die Essays und Interviews Fichtes ungewöhnliche Einblicke eines kulturellen Außenseiters in die Stadt New York des späten 20. Jahrhunderts. Ungewöhnlich an Pauldings Roman ist, dass sich ein Finne zu einem Nationalhelden entwickeln kann, während gerade die Einwanderungsgruppe der Finnen über Jahrhunderte in Amerika misstrauisch beäugt wurden und als nicht integrierbar galten. Fichte wiederum ist besonders an zwei Gruppen von New Yorker Künstlern interessiert, die ihrerseits zum Teil bis heute ambivalente Reaktionen hervorrufen: Juden und Schwarze. Im zweiten Teil geht es im Unterschied zu den markierten Minderheiten des ersten Teils um die unmarkierte Mehrheit des weißen Mannes. Dem nationalen Projekt des natürlichen – sprich: starken, gesunden, weißen – Körpers, wie es von Theodore Roosevelt und anderen um 1900 vorangetrieben wurde, steht der verworfene, weil als unnatürlich, degeneriert und pervers deklarierte Körper des white-trash-Mannes gegenüber. Wieder ist es ein schöner Mann, hier der ostpreußische Immigrant Eugen Sandow, der als erstes männliches Pin-Up zum Prototyp des neuen, modernen Amerikaners stilisiert wird. Auch Jack Londons schöner Mann, der Titelheld aus The Sea-Wolf, ist Immigrant (in diesem Fall nordeuropäischer Herkunft), er wird allerdings als Leitfigur der Zukunft von einem Abkömmling der allerersten protestantisch-angelsächsischen Einwanderergeneration abgelöst. Dass auch der perhorreszierte arme weiße Mann zum literarischen Helden erhöht werden kann, zeigen etliche Romane der jüngsten Zeit. Hier werden gängige Rollenbilder auf den Kopf gestellt, nicht zuletzt der wirtschaftliche Erfolgsmythos vom American Dream. Diese Trashhelden sind deshalb so ›gefährlich‹, weil sie dem amerikanischen Mainstream einen Zerrspiegel vor Augen halten und von völlig anderen Realitäten erzählen. Im dritten Teil werden Variationen des uralten Topos vom gefährlichen Kannibalen durchgespielt von Daniel Defoes edlem Wilden Friday und dessen Umschreibung durch Michel Tournier bis hin zu

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Jeffrey Dahmer und dessen literarische Spiegelungen in den Romanen von Bret Easton Ellis, Joyce Carol Oates und Dennis Cooper. An allen Beispielen wird deutlich, dass sich eine Fremdzuschreibung (Wilder/Kannibale) gerne mit einer weiteren (Homosexualität) verknüpft. Durch die doppelte Stigmatisierung wird die Ambivalenz der ›gefährlichen‹ Männer, die in ihren jeweiligen Lebenswelten diversen Bedrohungen ausgesetzt sind, besonders deutlich. Der vierte Teil fokussiert Räume, in denen Männer subversiv agieren. Der Theaterraum Reza Abdohs zeichnet ein ruinöses Bild der amerikanischen Gegenwart, das von Gewalt, Kriegen und Krankheit geprägt ist und nur wenig Liebe zulässt. Diese Darstellung wird darüber hinaus in eine historische und transnationale Perspektivierung gebracht. Die tearooms des letzten Kapitels wiederum sind nicht nur Orte der Notdurft, sondern der homosozialen wie -sexuellen Begegnung. An Beispielen vor allem aus der Populärkultur (von Hart Cranes The Bridge, John Rechys The Sexual Outlaw über Ally McBeal und Sex and the City bis hin zu George Michaels Video Outside) wird der subversive Umgang mit diesem prekären Raum, der Toilette, verdeutlicht. Wie bei Abdohs Theater spielen Gefährdungen wie Staatsmacht oder AIDS eine Rolle, moralische Kodizes werden hinterfragt und ein gesellschaftlicher Randort rückt ins Zentrum signifikanter Begegnungen. Auch hier werden maskuline Identitäten performativ konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert, und die handelnden Männer agieren in einem multivalenten Spannungsfeld, das sie gleichermaßen schützt und gefährdet. Die einzelnen Essays wie auch das daraus entstandene Buch wären undenkbar ohne unzählige WeggefährtInnen, die ich hier nicht alle nennen kann. Stellvertretend möchte ich daher jenen danken, die mich nicht nur zur Zeit der Entstehung der Essays, sondern auch heute noch freundschaftlich, beratend, unterstützend, kritisierend und liebevoll begleiten. Die Höhen und vor allem die Tiefen meines wissenschaftlichen Werdegangs hat wohl niemand so nahe mit-leidend verfolgt wie Annette Keck; besonders in Erinnerung bleibt für mich der tearoomBeitrag, der größtenteils in eindringlicher kommunikativer Atmosphäre mit ebenso intensiven Wellness-Unterbrechungen in Köln geschrieben wurde und für unzählige Rosé-Sessions in München, Köln, Istanbul und Salzburg steht. Der Dank ist verknüpft mit der Hoffnung, dass es noch viele weitere solcher ›Sitzungen‹ geben wird.

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Bei der Manuskript-Erstellung haben mich besonders unterstützt Karin Wohlgemuth und Sophia Kottmayer sowie redaktionell Jörg Burkhard und Kai Reinhardt. Für die Cover-Gestaltung möchte ich mich bei Silke Witzsch, Markus Dineiger und vor allem bei Wolfgang Schulz bedanken, von dem das Konzept und der Entwurf stammen, dem darüber hinaus aber weit mehr Dank gebührt, als ich an dieser Stelle Ausdruck verleihen kann. München/Salzburg, Sommer 2011

L ITERATUR Adams, Rachel, und David Savran, Hg. The Masculinity Studies Reader. Malden: Blackwell, 2002. Beauvoir, Simone de. Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Übers. Eva Rechel-Mertens und Fritz Montfort. 1949. Reinbek: Rowohlt, 1988. Brittan, Arthur. »Masculinities and Masculinism«. The Masculinities Reader. Hg. Stephen M. Whitehead und Frank J. Barrett. Cambridge: Polity, 2001. 51-55. Connell, R. W. Masculinities. Berkeley: U of California P, 1995. Gardiner, Judith Kegan, Hg. Masculinity Studies & Feminist Theory: New Directions. New York: Columbia UP, 2002. Hearn, Jeff, und Keith Pringle, Hg. European Perspectives on Men and Masculinities: National and Transnational Approaches. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2006. hooks, bell. The Will to Change: Men, Masculinity, and Love. New York u. a.: Washington Square Press, 2004. Kimmel, Michael. Misframing Men: The Politics of Contemporary Masculinities. New Brunswick: Rutgers UP, 2010. Lehman, Peter. Running Scared: Masculinity and the Representation of the Male Body. Detroit: Wayne State UP, 2007. Lenz, Hans-Joachim. »Zwischen Men’s Studies und männlicher Verletzungsoffenheit – Zur kurzen Geschichte der Männerforschung in Deutschland«. Freiburger GeschlechterStudien 13.21 (2007).

(04.09.2011)

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Modleski, Tania. Feminism without Women: Culture and Criticism in a ›Post-Feminist‹ Age. New York: Routledge, 1991. Reeser, Todd W. Masculinities in Theory: An Introduction. Chichester: Wiley-Blackwell, 2010. Robinson, Sally. Marked Men: White Masculinity in Crisis. New York: Columbia UP, 2000. Schäfer, Mirko Thomas, und Hans Bernhard. »Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ›Subversiven‹ in Medienproduktionen«. SUBversionen: Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. Hg. Thomas Ernst u. a. Bielefeld: transcript, 2008. 69-87. Strauß, Gerhard u. a., Hg. Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist: Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin: de Gruyter, 1989. Whitehead, Stephen M., und Frank J. Barrett. »The Sociology of Masculinity«. The Masculinities Reader. Hg. Stephen M. Whitehead und Frank J. Barrett. Cambridge: Polity, 2001. 1-26.

D RUCKNACHWEISE Texte in früheren Fassungen wurden publiziert in folgenden Büchern und Zeitschriften: »Southern Gothic Updated: Zerrbilder verstörter Männlichkeit im white-trash-Roman«. Amerikanisches Erzählen nach 2000: Eine Bestandsaufnahme. Hg. Sebastian Domsch. München: edition text + kritik (2008). 256-282; »Männer im Pelz: Entblößungen und Verhüllungen des natürlichen Körpers um 1900«. Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader. Hg. Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz. Bielefeld: transcript, 2007. 159-182; »Wenn in tearooms nicht mehr Damen verkehren: Deviante Raumordnungen und populäre Wissenschaft«. Geschlechter-Revisionen: Zur Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Hg. Sabine Schülting und Sabine Müller. Königstein: Ulrike Helmer, 2006. 133161; »›Apollo among satyrs‹: Der schöne Finne im Wilden Westen Amerikas von James Kirke Paulding bis Tom of Finland«. Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 36 (2004): 62-89; »›Palimpsest und Kassiber‹: Zu Hubert Fichtes New Yorker KunstEthnographie Die Schwarze Stadt«. Ethno/Graphie: Reiseformen des

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Wissens. Hg. Peter Braun und Manfred Weinberg. Tübingen: Gunter Narr, 2002. 129-148; »›The Ruined City Under My Skin‹: Der gemarterte Körper im Theater Reza Abdohs«. Theatralität und die Krisen der Repräsentation: das 17. und das 20. Jahrhundert. Hg. Erika Fischer-Lichte. Stuttgart: Metzler, 2001. 508-527; »Michel Tourniers Anal/yse von Daniel Defoes Robinson Crusoe«. Sehen Lesen Begehren: Homosexualität in der französischsprachigen Literatur und Kultur. Hg. Dirk Naguschewski, Sabine Schrader. Berlin: edition tranvia/Verlag Walter Frey, 2001. 121-160; »Zerleiben und Zerschreiben: Von der nekrophagen Lustanhäufung zur seriellen Lektüresucht«. Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften. Hg. Annette Keck, Inka Kording und Anja Prochaska. Tübingen: Gunter Narr, 1999. 175-202.

Transatlantische Überquerungen: Wilde Schönheit und verbotene Kunst

»Apollo Among Satyrs«: Der schöne Finne im Wilden Westen »The capacity of the Finn in fiction for disappearing into thin air is his most disarming quality.« (W. R. Mead, »The Image of the Finn« 264)

Ich möchte den Reigen gefährlicher und gefährdeter Männer eröffnen mit einer für viele Leser und Leserinnen sicherlich überraschenden Figur: dem Finnen. Diese Figur fasziniert (mich), weil sie eine ›flüchtige‹ zu sein scheint, denn zumindest in der englischsprachigen Literatur ist dem Finnen lediglich eine spärliche und sporadische Präsenz vergönnt. Als vorgezogenes Fazit kann dieser Tatbestand allerdings kaum befriedigen und doch lässt sich daran nicht rütteln. Besonders im Hinblick auf den US-amerikanischen Kulturkreis ist dieser Befund umso erstaunlicher, als dort Finnen durchaus bereits in der kolonialen Phase Amerikas zu den frühen Einwanderergruppen zählten und somit eine über Jahrhunderte währende Teilhabe an der historischen Entwicklung der Vereinigten Staaten hatten. Dennoch möchte ich bereits an dieser Stelle W. R. Mead widersprechen, wenn er meint, es gäbe keine nennenswerten finnischen Charaktere in der englischsprachigen Literatur: »Flesh and blood have not been brought together to give birth to any substantial or memorable fictional character. In brief, the Finn in English fiction belongs to the lower orders of artistic effectiveness« (»The Image of the Finn« 261). Ich möchte mit James Kirke Pauldings Koningsmarke, the Long Finne ein literarisches Beispiel hervorheben, das nicht nur einen Finnen aus ›Fleisch und Blut‹ als

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Hauptfigur ins Zentrum des Geschehens stellt, sondern das als einer der ersten wichtigen historischen Romane Amerikas überhaupt gelten muss. Hervorragendes Merkmal dieser literarischen Figur ist ihre ungewöhnliche Schönheit. Allein diese Tatsache ist bedeutungsvoll, da sich in der Literaturgeschichte nicht gerade allzu viele schöne Männer tummeln. Wenn nun doch ein solcher auftritt, so ist er meist eine Krisenfigur, die mit erheblichen Sanktionen zu rechnen hat und oftmals gewaltsam aus dem Text geschrieben wird. Koningsmarke ist, wie sich zeigen wird, zwar eine derartige Krisenfigur, doch nimmt sein Schicksal letztendlich einen unerwarteten, versöhnlichen Lauf. Mit Koningsmarke als Mann am Rande der Zivilisation wird nun wiederum ein urtümlicher amerikanischer Heldenmythos bedient, der sich bis in unsere Gegenwart fortschreibt. Die frühen frontiersmen und späteren Cowboys des Wilden Westens zeugen von einer idealtypischen Männlichkeit, die sich unter verqueren Vorzeichen nicht nur im amerikanischen kulturellen mainstream, sondern auch in der schwulen Subkultur anhaltender Beliebtheit erfreut. Der hypermaskuline und hypersexualisierte Naturbursche in den Zeichnungen von Tom of Finland ist Ausdruck und gleichzeitig Subversion dieser Wertschätzung. Und wieder ist es ein Finne, der durch seine Schönheit in Amerika reüssiert.

S PURENSUCHE Während sich in Finnland seit der 1835 durch Elias Lönnrot besorgten Edition des Nationalepos Kalevala ein nationales literarisches Selbstbewusstsein trotz Jahrhunderte währender schwedischer und dann russischer Obrigkeiten entwickelte, kann von einer eigenständigen finnisch-amerikanischen Literatur kaum die Rede sein.1 Im Gegensatz zu

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Koskenniemi sprach angesichts des hundertjährigen Erinnerungstages von der Erstveröffentlichung des Kalevala als »den Beginn jener neuen nationalen Periode unserer Geschichte […], die während der letzten hundert Jahre dem Leben unseres Landes ihr Gepräge aufgedrückt hat« (225). Siehe zur finnischen Mythologie die ursprünglich 1916 veröffentlichte englischsprachige Studie von Ervast, Joensuu und Jenkins, The Key to the Kalevala, sowie die in der Serie Folklore Studies in Translation erschienene Arbeit von Pentikäinen und Poom, Kalevala Mythology. Grundlegend

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anderen Einwanderergruppen beispielsweise aus West- und Osteuropa oder Asien, die trotz Beibehaltung eigener kultureller Traditionen den Weg in den mainstream amerikanischer Kultur suchten, widersetzten sich die finnischen Immigranten seit der ersten Auswanderungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts weitestgehend einer Integration und Assimilation. An den äußeren ländlichen Rändern der amerikanischen Zivilisation angesiedelt und ihren eigenen, mitgebrachten Gebräuchen verhaftet, blieben die Finnen in Amerika über Generationen hinweg soziale und kulturelle Außenseiter. Anika Aukee Johnson spricht von dem für Finnen besonders schwer zu bewältigenden Transfer von der affektiven und identifikatorischen Verbundenheit mit dem finnischen Heimatland hin zu einem neuen amerikanisierten Bewusstsein, »in fact, the Finns arriving in the last waves of European immigration were among the least likely immigrants to learn English or marry outside their ethnic circle – and the most likely, for a time, to return to the homeland« (243). Ähnliches vermerken ebenfalls die Herausgeber Jarvenpa und Karni in ihrer Einleitung zur auch weiterhin einzigen großangelegten Anthologie finnisch-amerikanischer Literatur Sampo: The Magic Mill: »Isolated from Americans and other ethnic groups in America by their strange language, living in remote rural areas and small mining communities throughout the northern states of America, they avoided being absorbed into the melting pot. They were not shaped by their experience in America as much as they shaped the American environment to fit their perceived needs.« (xi-xii)2

Diese Anthologie steht für das Bemühen der letzten Jahrzehnte, sich eines kulturellen Erbes zu erinnern, welches auf die Anfänge finnischer Besiedlung in den Vereinigten Staaten zurückgeht, und somit eine bislang unerkannte finnisch-amerikanische Literaturtradition zu bezeugen. Die Herausgeber berufen sich zunächst explizit auf die Tradition des Kalevala, indem sie mit dem Titel Sampo auf den am stärksten rezipierten Teil des Kalevala rekurrieren. Gleichzeitig soll die in der Sampo-Symbolik angelegte Polyvalenz (Motivik des Raubs, der Verschleppung, der Fragmentierung, der Dissolution, der Rekon-

weiterhin der Kommentar von Fromm zu der von ihm besorgten deutschen Übertragung des Kalevala. 2

Siehe auch Jarvenpa, »The Flourishing of Finnish-American Literature«.

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struktion, der Vielfarbigkeit, der Kreativität und der Imagination) eine metaphorische Brücke zwischen den vielfältigen und durchaus widerstreitenden Ausdrucksmöglichkeiten finnischer Kultur innerhalb Amerikas bezeugen.3 Nicht nur durch die seit den 1980er Jahren initiierten literarischen Symposia wie die binationale Doppeltagung 1986 und 1987 in St. Paul, Minnesota, und Kuopio, Finnland, sondern auch durch jüngste Drucklegung etlicher Werke finnisch-amerikanischer Autoren und Autorinnen (z. B. durch die North Star Press of St. Cloud in Minnesota)4 wird das kulturelle Erbe gezielt reaktiviert. In vielen dieser Werke steht die Immigrationserfahrung vor allem vorangehender Generationen im Mittelpunkt. So zeichnet Gerald F. Carlson (geb. 1925) vermittels Fotografien, Stammbüchern und mündlicher Überlieferung in Hometown Folks: A Finnish-American

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So verknüpft Paula Erkkila das finnische Sprachverständnis mit der dem Orientalischen ähnelnden Kontingenz von Sampo und markiert damit die Differenz zum Amerikanischen: »Many immigrants like my parents learned to speak rudimentary English. As the years went by and ›Finglish‹ crept in, their Finnish became poorer. I myself have struggled for many years to express myself in English and am still struggling. […] the English language does not always lend itself to the cultural and emotional expressions of the Finnish mind and soul. I believe the Finnish mind works more like a Sampo grinding and churning and considering various possibilities in an attempt to integrate, similar to the oriental mind, whereas the western mind is more immediately goal-directed« (368). Siehe außerdem von Pertti Virtaranta, Amerikansuomen sanakirja.

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Im Verlag der North Star Press of St. Cloud erschienen u. a. Helmi Mavis, A Finnish-American Girlhood (1989) von Mavis Hiltunen Biesanz; In Two Cultures: The Stories of Second Generation Finnish-Americans (1992) von Aili Jarvenpa et al.; Women of the Kalevala: Stories Based on the Great Finnish Epic (1996) von Mary Caraker; Finnish Freedom Fighter (1996) von Leslie W. Wisuri; The Fabulous Family Hölömöläiset: A Minnesota Finnish Family’s Oral Tradition (1996) von Patricia Eilola; Some Like It Hot: The Sauna, Its Lore and Stories (2000) von Nikki Rajala; Children of the Kalevala: Contemporary American Finns Relive Timeless Tales of Kalevala (1997); Misery Bay: And Other Stories from Michigan’s Upper Peninsula (2002) von Lauri Anderson; The Dancing Finn (2006) von Ruth Jutila Chamberlin; Iron Finns (2009) von Michael Resman; Untamola Blues (2009) von Joseph Damrell.

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Saga (1997) die Chronik seiner Familie von der Emigration aus Finnland Mitte des 19. Jahrhunderts ins nördliche Minnesota bis in die Zeit der amerikanischen Great Depression in den 1930er Jahren. Aber auch ältere, vergriffene Texte werden nun neu aufgelegt, wie der einzige Roman des finnisch-amerikanischen Dramatikers Lauri Lemberg (1887-1966) St. Croix Avenue: An Old-Fashioned Story about People Long Ago,5 der in fiktionaler Form die Eindrücke des 17-jährigen Helden Hannes Järvinen erzählt vom Abschied 1903 von der Heimat (Tampere in Finnland) und der Atlantiküberquerung bis zur Ankunft in New York und den Erfahrungen in Duluth, Minnesota.

D ER

AMERIKANISCHE

M YTHOS

DES

W ESTENS

Ein auffälliges und den meisten Texten finnisch-amerikanischer Autoren gemeinsames Merkmal ist die Betonung der Landverbundenheit. Wie schon in der zurückgelassenen Heimat Finnland, so suchen auch die Auswanderer zunächst und vor allem den Anschluss an die Natur. Nicht zuletzt deshalb sind die größten finnischen Siedlungen in den Vereinigten Staaten dort zu finden, wo die Landschaft noch am ehesten derjenigen Finnlands entspricht: besonders in den Bundesstaaten Minnesota und Michigan, später dann auch Washington und Wisconsin. Johnson sieht in der autobiographischen wie fiktionalen Evokation möglichst wilder, unkultivierter Natur eine Anerkennung und Zelebrierung der für Finnen habitualisierten Beziehung zwischen Landschaft und menschlicher Gemeinschaft: »Valuation of land and wildness within the literature encourages Finnish Americans to value nature in their politics, economics, and cultural environment« (251). Glen Kartin, ein Amerikaner finnischer Abstammung in dritter Generation, beschreibt in einer memoiristischen Skizze seinen Versuch der Rekonstruktion eines Familienstammbaums nicht nur mit der hortikulturellen Metapher der Verwurzelung, sondern er stellt eine metonymische Kontiguitätsbeziehung zwischen »hacking away at the family tree« (so der Titel seiner Skizze) und dem Bearbeiten des Bodens in der neuen Heimat in Minnesota her: »The farm bore witness

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Seriell wurde St. Croix Avenue in Industrialisti vom 3. August 1967 bis 3. Dezember 1968 publiziert, in Buchform 1992 von der Työmies Society in Superior, Wisconsin. Vgl. den Ausschnitt in Jarvenpa und Karni.

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to Grandfather’s industriousness. He hacked the farm out of the wilderness with nothing but a strong back, his two hands, and an axe« (111). Der Großvater erfüllt hier jenseits der Beibehaltung seiner finnischen Identität auch eines der manifestesten Ideale Amerikas. Im Zuge der westlichen Expansion und der damit sich bis Ende des 19. Jahrhunderts stetig weiter verschiebenden Grenze zwischen dem bereits zivilisierten Osten und dem weiterhin wilden, unbesiedelten Westen generierte sich im Mittleren Westen die Figur des Farmers als ambivalente Mittlergestalt. Er war es, der aus dem rohen und ungezähmten, wilden Land einen neuen ›Garten Eden‹ schuf und damit die Sendungsmission der ersten Pilgerväter Nordamerikas erfüllte: »The master symbol of the garden embraces a cluster of metaphors expressing fecundity, growth, increase, and a blissful labor in the earth, all centering about the heroic figure of the idealized frontier farmer armed with that supreme agrarian weapon, the sacred plow.« (Smith 123)

Eine Ironie der Geschichte nun will es, dass gerade für den Mittleren Westen sich die Erfüllung dieses ur-amerikanischen, agrarischen Ideals vornehmlich über die Einwanderer aus Deutschland, Polen und vor allem aus den nordeuropäischen Ländern gestaltete. Der finnische Immigrant war demnach ein konstitutiver, aber unbeachteter Bestandteil des großen Mythos vom amerikanischen Westen. Dessen ungeachtet bedeutete jene Landnahme für diese Immigrationsgruppen aber auch die Möglichkeit der eigenen gemeinschaftlichen Konsolidierung. Über ihre enge und historische Verbundenheit mit der Landschaft konnte sich für die finnisch-amerikanische Gesellschaftsgruppe so eine ethnische Identität konstituieren, die ein starkes kommunales Bündnis markiert. Dieses Bündnis wiederum mündete durchaus in einem gezielten kommunal-politischen Engagement, beispielsweise im Umweltschutz oder in der sogenannten ›co-op mentality‹, und somit in einer Partizipation an einer amerikanischen Kulturpolitik im weiteren Sinne, wenngleich an deren Rändern und auch durchaus nicht konform zum amerikanischen mainstream. Carlson in seiner Familienchronik spricht daher von einer distinkten ethnischen Andersartigkeit, besonders infolge des durch die ›co-op mentality‹ evozierten Kommunismus- sowie Atheismus-Vorwurfs:

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»Passionately independent and prone to unionism, they [i. e. the Finns] were considered ›different‹ by many in the town. Some members of the Cloquet business community looked askance at the Finns because of their co-operative enterprises. […] Member-owned, they created what their detractors considered unfair competition. More than one disgruntled merchant chomped down heavily on his fat cigar and wheezed, ›Communists!‹ under his breath whenever he thought about the co-ops. […] Finns in America were sometimes accused of being atheists. While I’m certain there were some, I doubt the number exceeded that of any other ethnic group. They did, however, have a healthy distrust of the clergy. […] A great many of the hard-working Finns noted that the clerics expounding the merits of virtual servitude with rewards to come in the hereafter weren’t getting any calluses on their own hands. They gave up the church and sought solace and companionship in the co-operatives […].« (12-13)6

Dieses gruppenspezifische Selbstverständnis und die daraus resultierende, wenngleich marginale Teilhabe am amerikanischen Alltagsleben korrespondiert nun aber keineswegs mit einer reziproken Wahrnehmung durch die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung. Für die Amerikaner finnischer Herkunft bedeutete die Beibehaltung der eigenen nationalen Identität bei gleichzeitiger Partizipation im amerikanischen Alltagsleben einen mühsamen identifikatorischen Spagat. Helmi Mavis Hiltunen Biesanz (geb. 1919) beschreibt ihre finnisch-amerikanische Kindheit mit einer sich schon in der Namensgebung manifestierenden Spaltung: »I was born in a small immigrant farm community in northeastern Minnesota. After four boys, Mother wanted a girl, and chose the name ›Mavis‹ from a story in Women’s World Magazine, and my middle name, ›Helmi‹, after a sister. But ›Helmi‹ is pronounced so badly in English that, following Aunt Pearl’s example, I signed all my school papers ›Mavis Pearl Hiltunen.‹ […] Now that split-level name may symbolize my life. On the one hand, I absorbed the difficult language, the songs, food, customs, traditions, and values of an Old Word culture – and I still treasure them. On the other, I was eager to be a good

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Zur finnisch-amerikanischen Arbeiterbewegung und ihrem Verhältnis zum Kommunismus siehe die Studie von Auvo Kostiainen: The Forging of Finnish-American Communism.

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American, for early in the century the pressure for ›Americanization‹ was very strong, particularly in school. I am Finnish Helmi and American Mavis.« (117)

»W ILD M EN , T OUGH F INNS « – D ER F INNE ALS O RIENTALE Es mag seltsam anmuten, von einer finnischen Ethnie zu sprechen. Und doch wird hier Ethnizität als ein Konzept aufgerufen, das besonders im amerikanischen Gebrauch des Wortes die Zugehörigkeit zu und Identifikation mit nicht nur einer bestimmten Rasse, sondern auch einem Volk oder einer Nation meint. In der vor allem durch Werner Sollors inspirierten Diskussion wird also »Ethnizität« in Abgrenzung zum (historisch belasteten) Begriff »Rasse« konstruiert: »As in the cases of ›Irish race‹ or ›Jewish race‹, the word [race] was […] the eighteenth- and nineteenth-century synonym for what is now, after the fascist abuses of ›race‹ in the 1930s and 1940s, more frequently discussed as ›ethnicity‹ (an obsolete English noun revitalized during World War II, that seems to have served as a more neutral term than the one in the name of which the National Socialists shaped their genocidal policies).« (Sollors 1995, 289)

Die Zuschreibungen ethnischer Andersartigkeit koppeln sich – nicht nur in Amerika – meist an xenophobe wie auch xenophile Befindlichkeiten und gehen oftmals mit einer Exotisierung des Anderen einher. Wenn Christoph Parry über die asymmetrischen Rezeptionsbedingungen zwischen Finnland und Deutschland meint, dass Finnland aus deutscher Perspektive kulturell »an der Peripherie« liege und »von exotischem Reiz« sei (95), so charakterisiert dies durchaus auch das interkulturelle Verhältnis zwischen Finnland und den Vereinigten Staaten bzw. zwischen der finnisch-amerikanischen Gemeinschaft und der übrigen amerikanischen Gesellschaft. Der amerikanische Autor Anthony Powell schreibt in seiner Autobiographie Venusberg (1932), die auch von seinen Kindheitserlebnissen in Finnland handelt, treffend: »big countries do not know what it is to be a little country« (zit. in Mead, »Finland« 52). Generell macht Mead geltend, dass eine finnische Thematik in englischsprachigen Texten gehäuft immer dann auftrat, wenn es zu finnischen Nationalkonflikten mit internationaler politischer Bedeutung kam, also zur Zeit der Napoleonischen Kriege

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um 1800, beim Krimkrieg 1854-56, bei der russischen Herrschaft während des 19. Jahrhunderts, dem Bürgerkrieg 1917-18 und dem Winterkrieg 1939-40 (»The Image of the Finn« 262). Besonders hervorzuheben ist hier das Gedicht des Amerikaners John Greenleaf Whittier »The Conquest of Finland« (1856) als Tribut der Beschwichtigungstaktik der Quäker während des Krimkrieges. Der hier gezeichnete Finne ist keine überdimensionierte Heldenfigur, sondern im Gegenteil ein ganz gewöhnliches Mitglied der europäischen Ökumene, wie beispielsweise die Engländer auch. So heißt es am Ende: »Sit down, old men, together, / Old wives, in quiet spin; / Henceforth the Anglo-Saxon / Is the brother of the Finn!« (Whittier 352).7 Im Gegensatz zu diesem ungewöhnlichen ethischen Normalisierungsanspruch Whittiers stieß Mead ansonsten bei der Spurensuche nach dem »homo finnicus« in der englischsprachigen Literatur immer wieder auf bestimmte Stereotypen, die sich früh ausgebildet haben und sich als unverwüstlich erwiesen. Zum einen begründete Mead diese Stereotypisierungen mit dem generellen Wunsch, Menschen anderer Länder dadurch leichter identifizieren und charakterisieren zu können. Zum anderen führte dies aber unweigerlich zu einer Festschreibung kultureller Merkmale, die allzu oft ins Karikaturistische und Hyperbolische reichte (Mead, »Finland« 42). So taucht die Figur des »warlock Finn« als raue, nicht selten mit ominösen Zauberkräften ausgestattete und daher eher negativ konnotierte Randfigur gerne in Abenteuergeschichten auf, beispielsweise in Rudyard Kiplings »Rhyme of Three Sealers« (1893) oder in etlichen Seefahrererzählungen von Jack London. Diese schablonenhafte, hexenartige Qualität des literarischen

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Das Gedicht ist Teil von Whittiers Sammlung Songs of Labor and Reform. Siehe zur Finnland-Rezeption im Werk Whittiers Moyne. Ganz anders ist jene mythische Geisterfigur zu verstehen, die sich aus der historischen Phase entwickelte zwischen dem finnischen Widerstandskampf gegen die russische Invasion 1808, die den Beginn der Ära Finnlands als Großherzogtum Russlands markierte, und dem Bürgerkrieg von 1917-18, der in Finnlands Unabhängigkeit resultierte. Diese Periode produzierte mit magischen Qualitäten ausgestattete Helden, die eine anhaltende Wirkung auf die finnische Tradition mündlicher und später auch schriftlicher Überlieferung hatten. Vgl. hierzu die neuere finnisch-amerikanische literarische Verarbeitung von Leslie W. Wisuri, Jonas of Kiivijarvi: Finnish Freedom Fighter (1996).

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Finnen tritt besonders deutlich in Sir James Frazers Golden Bough (1922) zu Tage, wo es heißt: »Wild wailing wind of misfortune and sorrow / Wizards of Finland ride by on the blast« (107).8 Ein anderes beliebtes, weltweit literarisch redupliziertes Klischee ist auch der betrunkene Finne, so in Dan Cushmans Wildwest-Roman The Fabulous Finn (1954), wo der Titelheld Machi im Verlauf der Handlung einer langsamen Reform unterzogen wird, oder in Lauri Andersons Children of the Kalevala (1997). Hier spielt Anderson bewusst mit dem Einsatz dieses Stereotyps, indem er die Spezies des »Yooper« wie folgt charakterisiert: »People in Michigan’s Upper Peninsula are called Yoopers. […] The majority of Yoopers are Finns. Yooper Finns come in great variety, but the stereotype of the male is as follows: […] A Yooper’s absolute favourite activity is drinking Old Milwaukee at a local bar. A Yooper lives from one beer to the next.« (iii)

In direktem Bezug zum Kalevala wird der Yooper als mythische Figur finnischer Herkunft in einen amerikanischen Kontext platziert: »A Yooper is defined, at least in part, by his relationship to the Kalevala, the national epic of Finland. The Kalevala is full of heroic backwoods figures who perform great deeds in the pagan world. If a Yooper’s life has taken on mythic proportions within the closed world above the bridge, he dies a happy man.« (Anderson iv)

Die Heldenfigur aus dem finnischen Epos korrespondiert hier auf parodistische Weise mit dem Klischee des Hinterwäldlers im amerikanischen Westen. Auch Carlson spricht in Hometown Folks (1997) – allerdings ohne mythischen Bezug – von den »wilden Männern« in den Bergen und deren Trunk- und Spielsucht: »Wild men, they were tough Finns, and full of jovial hell. They worked hard when employment was available, drank hard […] and played hard« (68). Es stellt sich hier unweigerlich die Frage, ob diese Verhaltens-Klischierungen auch mit körperlich attribuierbaren Stereotypen einhergehen. Mead geht dieser Frage nach, indem er die Ebene literarischer Repräsenta-

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Frazer zitiert hier ein estnisches Volkslied. Vgl. zum Einfluss des finnischen Volksaberglauben auf englische und amerikanische Literatur Moyne Kime, Raising the Wind.

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tion von Stereotypen verlässt und nach einer statistisch nachweisbaren physischen Andersartigkeit ›des Finnen‹ forscht, die wiederum Rückschlüsse auf psychische Schwächen wie den Hang zum Alkoholismus und zur Hexerei zulassen würde. Er nennt vier mögliche Gründe für eine solche finnische Andersartigkeit: (1) Die nahrungsbedingten Einschränkungen und Besonderheiten früherer Zeiten mögen gelegentlich zu halluzinatorischen Erlebnissen geführt haben. (2) Krankheiten, bedingt durch Unterernährung, hätten sicherlich eine beachtliche Anzahl missgestalteter Menschen verursacht. (3) Bis ins 20. Jahrhundert hinein hätte die mangelnde Mobilität der finnischen Bevölkerung in einem ungewöhnlich hohen Maße genetische Homogenität und somit die Herausbildung einer distinkten körperlichen Erscheinung bewirkt, durch die eine disproportional große Anzahl von Finnen aus einer Menge herausstechen würde. (4) Das beharrliche Auftauchen von Zauberkünsten in literarischen Texten führt Mead auf Olof Svebilius’ Katechismus von 1689 zurück, der nicht nur 1875, sondern auch noch 1935 neuaufgelegt wurde und aller Wahrscheinlichkeit nach in stetem Gebrauch war (»Finland« 45). Wie problematisch, weil nicht kritisch hinterfragt, diese Aufzählung ist, erweist sich dann, wenn man jenseits solcher Spekulationen die tatsächliche Geschichte der Rassenlehre betrachtet, die Mead unerwähnt lässt. Der deutsche Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach hatte erstmals 1775 die Welt in fünf distinkte »Rassen«, basierend auf der Farbe der Haut, unterteilt.9 Dabei nahm er eine Hierarchisierung der Rassen nach ästhetischen Gesichtspunkten vor, wobei der Kaukasier als sozusagen der europäische Ur-Mensch an der Spitze stand. Zwar ging er davon aus, dass alle Menschen eine einheitliche Rasse bildeten und nur auf Grund von Umweltfaktoren (z. B. Klima) Unterschiede in Hautfarbe und Gestalt aufwiesen. In seiner Kategorisierung von schön und hässlich besann er sich hierbei auf klassische Schönheitsideale und befand, dass der Kaukasier wegen des gemäßigten Klimas von besonderer Schönheit wäre. Da er die Finnen aber nicht ohne weiteres zuzuordnen vermochte, rechnete er sie den Mongolen, also der »gelben Rasse« aus den kalten Klimazonen zu. Die Rassen-Klassifikation durch Blumenbach hielt sich über die Jahrhun-

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Die entsprechenden Publikationen von Blumenbach lauten: De Generis Humani Varietate Nativa Liber (1776) bzw. Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte (1798).

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derte und wurde als Verweiskette immer neu zitiert. Diese Rasseneinteilung hatte unter anderem in den Vereinigten Staaten die konkrete Folge, dass Finnen im Unterschied zu anderen Nordeuropäern als »Nicht-Weiße« kategorisiert waren und dass ihnen damit auf der Basis der Oriental Exclusion Acts von 1882, 1892 und 1902 die amerikanische Staatsbürgerschaft verweigert wurde. Erst als 1908 der Finne John Svan sowie sechzehn weitere Finnen deshalb vor Gericht gingen, wurde in dem Verfahren John Svan v. the U. S. Government offiziell festgelegt, dass die Finnen nicht zur »gelben Rasse« zählen. Selbst wenn die Finnen in grauer Vergangenheit einmal »Mongolen« gewesen sein mögen, hieß es in der Urteilsbegründung, so wäre ihr Blut durch andere Rassen – besonders aber die teutonische – mittlerweile derart vermischt, dass die Finnen nun zu den »whitest people in Europe« zählten (zit. Väänänen-Jensen 164). Angesichts des anhaltenden rassistischen Stereotyps ist es daher kaum überraschend, dass Inkeri Väänänen-Jensen über ihre Kindheit als Tochter finnischer Einwanderer in den 1920er Jahren schreibt, wie entscheidend es damals noch war, nicht finnisch auszusehen: »I felt honored when someone said, ›But you don’t look Finnish.‹ We hated it when someone remarked, ›She’s got the map of Finland on her face‹« (163). In Zeiten, in denen die Einwanderer stark unter dem Zwang zur Assimilierung standen, konnte noch kaum von einer heute zelebrierten ›Subkultur‹ gesprochen werden; ebenso wenig gab es die mittlerweile in den USA gebräuchlichen Bindestrich-Identitäten wie ›Polish-Americans‹, ›Italian-Americans‹ und ›Finnish-Americans›, die heute von einem zuvor nicht vorhandenen kulturellen Selbstbewusstsein zeugen und wo der Bindestrich als Mittel fungiert »of resisting dominant strategies of erasure and marginalization« (Brody 159). Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein war es eher üblich und erstrebenswert, so unauffällig bzw. so ›amerikanisch‹ wie möglich auszusehen: »We immigrant children learned early that not only were we different but also that we were inferior to the Americans. […] And we did try hard to be what Americans wanted us to be. We knew, of course, that real American kids had handsome, tall, slender, well-dressed, English-speaking mothers and fathers, […]. To us, these were the Native Americans, not the Indians in northern Minnesota, who were, to us, just another displaced group, like us.« (VäänänenJensen 163)

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Die gefühlte Inferiorität gegenüber den ›wahren‹ Amerikanern sowie die assoziierte Verbundenheit mit den Indianern lassen auf ein angestammtes Entfremdungsempfinden schließen, nicht im Sinne von Meads körperlich distinkten Abweichungsmerkmalen, sondern vielmehr als eine sozio-psychisch wahrgenommene kulturelle Aberration. Immer wieder verweisen gerade die autobiographischen Texte finnisch-amerikanischer Autoren auf diese gesellschaftliche Marginalisierung und die damit einhergehenden Identitätsproblematiken. Es scheint, als ob es lange Zeit nicht vereinbar gewesen wäre, die finnische Herkunft zu affirmieren und an einem amerikanischen nationalen Selbstbewusstsein teilzuhaben. Die Randexistenz finnisch-amerikanischer Literatur zeugt noch heute davon. Und doch war es ausgerechnet ein finnischer Held, der in einem der ersten Romane der frühen Republik den amerikanischen Nationalcharakter verkörperte, und dies durchaus im wörtlichen, korporealen, Sinne. In James Kirke Pauldings Roman Koningsmarke, the Long Finne. A Story of the New World von 1823 wird der junge, schöne Finne zur Inkarnation eines neuen amerikanischen Selbstbewusstseins.

K ONINGSMARKE : » RATHER ATTRACTIVE OTHERWISE « – D ER P ROTOTYP DES

THAN

AMERIKANISCHEN FRONTIERSMAN Der Literaturwissenschaftler Rufus Wilmot Griswold schreibt 1847 über James Kirke Paulding: »Mr. Paulding’s writings are distinguished for a decided nationality. […] There is hardly a character in his works who would not in any country be instantly recognised as an American« (144). Und doch betont bereits 1832 ein Rezensent, Paulding zeige in seinen Texten eine »successful though sometimes exaggerated development of the character he wishes to portray« (»Letters on the United States« 602). So widersprüchlich dies auch zunächst klingen mag, es wird sich zeigen, dass die Figur des Finnen Koningsmarke genau dieser Diskrepanz aus amerikanischer Distinktion und narrativer Übertreibung entspricht, die ihrerseits auf Pauldings generischem Pendeln zwischen historischem Roman und burlesker Satire gründet. Obwohl Paulding heute eine nahezu vergessene Figur im Arsenal früher amerikanischer Schriftsteller ist, war er doch in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine der bekanntesten und einfluss-

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reichsten literarischen Größen und sein Ansehen – auch international – war auf demselben Rang wie das Washington Irvings, William Cullen Bryants, James Fenimore Coopers und Edgar Allan Poes.10 Entgegen der in Amerika noch herrschenden literarischen Vormachtstellung Englands behauptete Paulding vehement eine eigene nationale Literatur auf der Basis genuin amerikanischer Geographie und dort gemachter Erlebnisse. Die Erfahrung der Pioniere galt für ihn als vorbildliches Material für gute – einem Neoklassizismus und demokratischen Nationalismus verpflichtete – Fiktion. So schrieb er 1820 in seinem programmatischen Essay »National Literature« an den zukünftigen, jungen Romancier gerichtet: »By freeing himself from a habit of servile imitation; by daring to think and feel, and express his feelings; by dwelling on scenes and events connected with our pride and affections; by indulging in those little peculiarities of thought, feeling, and expression which belong to every nation; by borrowing from nature, and not from those who disfigure or burlesque her, he may and will in time destroy the ascendancy of foreign taste and opinions, and elevate his own in the place of them […].«11

Mit seinem Roman Koningsmarke, der etliche Exkurse über und Seitenhiebe auf zeitgenössische literarische Gepflogenheiten enthält, setzte sich Paulding deutlich von jenem ›modischen‹ Schreiben ab, das sich einer romantisierenden Maschinerie von Geistern und Aberglauben verschrieb und wofür nach Paulding die historischen Romane von Sir Walter Scott und dessen wichtigstem amerikanischen Adepten James Fenimore Cooper, aber auch die englische Schauerromantik

10 So wurde Koningsmarke innerhalb von zwei Dekaden nach Erscheinen dreimal in England neu aufgelegt und auch ins Deutsche übersetzt (Herold 95). 11 »National Literature«, veröffentlicht in Pauldings Salmagundi, Second Series (1819-1820), zit. in Herold 116. 1834 schrieb Paulding in »Advice to Young Authors«: »Give us something new – something characteristic of your native feelings, and I don’t care what it is. I am somewhat tired of licentious love ditties, border legends, affected sorrows, and grumbling misanthropy, I want to see something wholesome, natural and national« (»Advice to Young Authors«, The Southern Literary Messenger (1834), zit. in Owens 45).

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Horace Walpoles und Ann Radcliffes standen. Er unterstrich demgegenüber den Vorzug von Klarheit und Schlichtheit, von einfachen Menschen und ländlichen Szenerien. Paulding löste sich zwar nicht gänzlich aus dem englischen Einflussbereich,12 doch favorisierte er Henry Fielding und dessen satirisch-pikarischen Roman Tom Jones (1749) als Modell für seinen eigenen historischen Roman Koningsmarke und markierte damit das satirische Fundament dieses Textes. Paulding datierte das Geschehen seines Romans, des einzigen amerikanischen Romans, welcher in der am Delaware Fluss gelegenen Kolonie New Sweden spielt, zwar zurück auf die Mitte des 16. Jahrhunderts, als von einer Expansion in Richtung Westen noch kaum die Rede sein konnte. Und doch spielt die Handlung in jenem Grenzbereich zwischen Zivilisation und Wildnis, der später mit dem Begriff der frontier einhergeht. Aus der Sicht des jungen Finnen Koningsmarke charakterisiert Paulding die Neue Welt folgendermaßen: »In casting about where to choose his future lot […] young Koningsmarke, who was called the Long Finne, gentle reader! because he was born in Finland, and nearly six feet high, was attracted by the new world. It was now about the time when the dashing adventurers; the ruined lads, who had wasted their inheritance; the younger brothers, who never had any inheritance at all; the hero, alive to glory; the daring spirit, willing to stake his life on the chance of unbounded wealth; and, lastly, the pious convert, ready to do all, to dare all, and to suffer all, were, each and every one, turning their faces towards the setting sun, as to a region where some might retrieve their fortunes, others enjoy the liberty of their consciences.« (Koningsmarke 251-252)

Wichtige andere Texte, die Paulding in dieser Zeit schrieb, beziehen sich expliziter auf jenen »Wilden Westen« und reflektieren indirekt auch auf den historischen Hintergrund von Koningsmarke, wo sich die zukünftige Westmigration bereits abzeichnet. In seinen Romanen The Backwoodsman (1818) und Westward Ho! (1832) sowie dem Drama The Lion of the West (1831) wird der Westen Amerikas aufgerufen als Hoffnungsträger der jungen Republik. Der kontinuierliche Prozess der Besiedelung und damit der Verwandlung von wilder Natur in eine

12 Aderman und Kime bezeichnen Koningsmarke gar als eine nachahmende Mischung aus Scott und Fielding, »a hybrid of influences from these two masters« (86).

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domestizierte, agrarisch produktive Pastorale zeichnen einerseits die einzigartige Qualität des amerikanischen Lebens aus und markieren andererseits die deutliche Abgrenzung vom schädlichen europäischen Einfluss, der den amerikanischen Charakter zu unterminieren droht. Hervorstechendes Merkmal dieser Texte sind die Helden des Westens (wie beispielsweise Nimrod Wildfire aus dem Drama The Lion of the West, der dem realen frontier-Politiker Davy Crockett nachempfunden ist), deren mannhafte Kraft und unverwüstliche Gesundheit sie zu einer physisch überlegenen Spezies machen. Demgegenüber ist der von Paulding immer wieder konstatierte und beklagte Verfall des amerikanischen Charakters der europainfizierten Ostküste gekennzeichnet durch Effeminierung und dem Vorzug von manners vor morals.13 Die Handlung des Romans Koningsmarke kreist um einen jungen Finnen, der bei seiner Ankunft in der schwedischen Kolonie wegen des Besitzes verbotener, englischer Münzen verhaftet wird. Schauplatz ist Elsingburgh, ein Ort am Delaware, überwiegend bevölkert von Finnen, die jedoch weiterhin unter der Herrschaft der schwedischen Krone stehen. Mit Hilfe der schwarzen Sklavin des Gouverneurs kann sich Koningsmarke schwer verletzt gerade noch aus dem Gefängnis befreien, bevor er einer wilden Feuersbrunst erliegt. Er wird vom Gouverneur aufgenommen und gepflegt; dort verliebt er sich in die Gouverneurstochter Christina, die seine Gefühle zwar erwidert, von der Sklavin aber immer wieder vor Koningsmarkes ›dunklem Geheimnis‹ gewarnt wird. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Kolonie und den Indianern werden Koningsmarke und Christina von den Indianern gefangengenommen, und nach einem misslungenen Befreiungsversuch soll Koningsmarke gefoltert und getötet werden. Durch vermeintlich göttliche Zeichen sowie die Vermittlung von Quäkern wird das Paar jedoch schließlich freigelassen. Infolge politischer Unruhen, die im Verlust der schwedischen Vorherrschaft in der Kolonie münden, wird Koningsmarke als Landesverräter in New York von den Engländern vor Gericht gestellt und kann nur knapp der Brandmarkung und Versklavung entgehen. Der Roman

13 Siehe beispielsweise auch in The Book of Saint Nicholas von 1836, wo Paulding über den Lebensstil New Yorks klagt: »[…] simplicity has given place to the ostentatious, vulgar pride of purse-proud ignorance – the wild Indian to the idle and effeminate beau – politeness to ceremony – comfort to splendour« (zit. in Ratner 48).

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endet mit der von Anfang an aufgeschobenen und jetzt endlich vollzogenen Vermählung von Christina und Koningsmarke. Gemeinsam mit dem Vater Christinas, dem nun entmachteten Gouverneur, lässt sich die bald durch Nachkommen gesegnete Familie glücklich auf einem ländlich-idyllischen Fleckchen nieder, fern von Stadt und Politik. Bereits die Handlungsskizze macht deutlich, dass es sich hierbei um eine Mischung aus melodramatischen und abenteuerlichen Ereignissen handelt, die vor allem durch Lokalkolorit und skurrile Charaktere (wie die prophetische Sklavin) etliche komisch-satirische Elemente enthält. Historische Genauigkeit wiederum war Paulding nicht wichtig. Obwohl er über die Kolonialgeschichte Amerikas bestens Bescheid wusste, datierte er die Ankunft der Schweden in Delaware um fast hundert Jahre zurück; es stimmt auch nicht, dass die Schweden vor den Engländern kapitulierten, in Wahrheit gewannen die Holländer die politische Oberhand.14 Tatsächlich aber gab es ein historisches Äquivalent für den Helden. 1669 wurde Conincksmarke, aufgrund seiner Körpergröße »Long Finne« genannt und angeblich der Sohn einer der Generäle von König Gustav Adolph, verhaftet und von den Engländern wegen Verschwörung mit den Indianern zu öffentlichem Auspeitschen, Brandmarkung auf Stirn und Brust sowie zum Verkauf in die Sklaverei nach Barbados verurteilt.15 Nach eigenen Angaben fiel die Wahl Pauldings aber gerade auf eine »obscure colony, whose existence is scarcely known« (Koningsmarke 3), weil er dadurch umso unbelasteter an der Konzipierung eines neuen nationalen Helden basteln konnte. Dieser Held nun bewegt sich zwischen den Kulturen: er stammt zwar aus der Alten Welt, ist zwar finnischer, aber eben doch nicht ganz geklärter Herkunft. Es umgibt ihn eine Aura des Mysteriösen. Nirgends zuhause, kann er besonders gut als Vermittler nicht nur zwischen der Alten und der Neuen Welt, sondern auch zwischen den verschiedenen Lagern und Parteien in der Kolonie fungieren, so bei den Konflikten zwischen den

14 Auch Tom Bevan wählt diese Zeit und Region als Setting für seinen Abenteuerroman A Trooper of the Finns (1905). Hier ist die Hauptfigur ein junger Engländer der Oberschicht, Harry Hampden, der sich als Freiwilliger bei der finnischen Brigade meldet und dort, inmitten all der finnischen Helden, selbst zum Helden reift. 15 Zu nennen sind an historischen Quellen die Sammlung von Linn und Egle; siehe auch Wells x.

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Schweden und ihren diversen Widersachern, besonders den Indianern, den Quäkern und den Engländern. Aber auch innerhalb der Bevölkerung von Elsingburgh wirkt er als beruhigende, friedensstiftende Instanz. Vor allen Dingen aber zeichnet ihn sein Äußeres aus: Er ist schön. Wird er bei seinem ersten Auftritt – bei der Gefangennahme wegen des Besitzes von verbotenen Münzen – noch wertfrei beschrieben was sein Äußeres betrifft (»a tall, straight, light-complexioned, blue-eyed youth«), so mischt sich allerdings von Anbeginn eine gewisse widerständige Natur in die Beschreibungen in Bezug auf sein Verhalten: »[he] signified his contempt for the accusation […] by rubbing his chin on either side with his thumb and fingers, and whistling Yankee Doodle, or any other tune that doth not involve a horrible anachronism« (Koningsmarke 7). Die ironische Anspielung auf mögliche Anachronismen zeigt nicht nur die grundsätzliche satirische Grundhaltung des Autors; indem sich das satirische Moment an die Figur des fremden Finnen knüpft, wird diese sogleich zum Brennpunkt einer krisenhaften kulturellen Situation. Koningsmarke erscheint in dem Moment auf der Bühne der Historie, als die Entwicklung im kolonialen Amerika eine entscheidende Wende von der währenden Fremdzur allmählichen Selbstbestimmung nimmt – und dies sowohl im Hinblick auf die nationale Geschichte wie auch auf die Entwicklung einer nationalen Literatur. Seinen körperlichen Vorzügen wird in einer zweiten, ausführlicheren Beschreibung eine doppelte Differenz eingeschrieben: national und geschlechtlich. Die erste Differenz wird durch den erotisch geleiteten Blick Christinas hergestellt: »She had never yet seen, except in dreams, since she entered her teens, a being like the Long Finne, who, contrasted with the sturdy boors around her, not even excepting her admirer Othman Pfegel, was an Apollo among satyrs. Christina […] had indeed some remote recollection of a species of more polished beings, such as, when a little girl, she had seen in Finland; but the remembrance was so vague as only to enable her in some degree to recognise the vulgarity and want of refinement of the Sunday beaux of Elsingburgh.« (Ebd. 19)

In den Augen Christinas ist Koningsmarke ein Exemplar männlicher Schönheit, das sich mit verschwommenen Erinnerungen an die alte

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Heimat verbindet und deutlich mit den sie umgebenden Männern der neuen Welt kontrastiert. Christinas vages Erinnerungsvermögen wird sich im Verlauf der Handlung allerdings als Problem erweisen, weil es eine unvoreingenommene Hinwendung und Liebe zu Koningsmarke bis zum Schluss verhindert. Koningsmarke war schuldlos – weil unter erzwungener Aufsicht – im Alter von 13 Jahren an einem von militärischen Aufrührern angeführten und tödlich endenden Überfall auf Christinas Mutter beteiligt. Christina hat an dieses Erlebnis lediglich die Erinnerung einer Narbe in Kreuzform, die sie bei einem der Täter gesehen haben will und die sich ausgerechnet auf Koningsmarkes Nacken als Muttermal wiederfindet. Die Sklavin, ihrerseits Zeugin des damaligen Überfalls und damit ebenfalls sich auf ihre trügerische Erinnerungsgabe berufende Instanz, mahnt wie ein Orakel immer wieder an diese Verknüpfung und warnt Christina damit vor einer Ehe mit dem (vermeintlichen) Schänder ihrer Mutter.16 Die Diskrepanz zwischen Koningsmarkes tatsächlicher erotischer Ausstrahlung auf Christina (erhöht durch den Kontrast zu den ›faux beaux‹ von Elsingburgh) und der ein dunkles Geheimnis aufrufenden, aber lückenhaften Erinnerung wird durch den anschließenden autoritativen (»in truth«) Erzählerkommentar jedoch auf eine andere Ebene der Problematisierung verschoben. Zu dem prekären nationalen Außenseiterstatus gesellt sich nun noch eine nicht eindeutig fixierbare Geschlechtsidentität: »Koningsmarke was, in truth, a figure that might have drawn the particular attention of a lady whose eyes were accustomed to the finest forms of mankind. He was nearly, or quite six feet high, straight, and well proportioned, with a complexion almost too fair for a man, and eyes of a light blue. His hair was somewhat too light to suit the taste of the present day, but which, to an eye accustomed to associate it with ideas of manly beauty, was rather attractive than otherwise.« (Ebd. 19)

16 Selbst als sich herausstellt, dass Koningsmarke lediglich 13 Jahre alt war und zudem nicht freiwillig dem Überfall beiwohnte, lässt die Sklavin nicht von ihrem Orakeln ab: »Ah! ha! thou bearest a mark – not the mark of Cain, but one by which I shall know thee, whatever changes time and chance may produce in thee. Thou carriest a sign, which to others may be the emblem of salvation, but which to thee, sooner or later, shall be the signal of disgrace and condemnation. I will remember thee« (250).

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Hier wird zwar unmissverständlich die körperliche Attraktivität des Finnen herausgestellt, doch geschieht dies mit mehreren, paradox anmutenden Verweisen auf eine unterdeterminierte, nicht genormte männliche Schönheit: »too fair«, »too light«, »rather attractive than otherwise«. Diese impliziten Vorbehalte steigern sich noch in dem folgenden Erzählerkommentar, der deutlich machen soll, inwiefern Koningsmarkes »somewhat effeminate« Äußeres durch männlich kodierte Zeichen – Muskeln, Furchtlosigkeit – aufgefangen wird. Dieses Austarieren macht im Gegenteil aber umso deutlicher, dass mit Koningsmarke etwas nicht ›stimmt‹: »With these features, he might have been thought somewhat effeminate in his appearance, were it not that a vigorous, muscular form, and a certain singular expression of his eye, which partook somewhat of a fierce violence, threw around him the port of a hardy and fearless being. This expression of the eye, in after times, when their acquaintance had ripened into intimacy, often gave rise to vague and indefinite suspicions of his character, and fears of its developement [sic], which the fair Christina could never wholly discard from her bosom. The dress of the youth, though not fine nor splendid, was of the better sort, and in excellent taste, except that he wore his ruff higher up in the neck than beseemed.« (Ebd. 19)

Der zu hohe Kragen steht emblematisch für das verhüllte Verborgene. Konkret verdeckt er das verräterische Mal, weitergehend signalisiert er aber die nicht eindeutige nationale und geschlechtliche Identität des Helden, der damit in den Verdacht gerät, sich der täuschenden Maskerade zu bedienen. So, wie die Kleidung sein Stigma kaschiert, so überlagern die erworbenen (maskulinen) Muskeln eine zugrundeliegende (feminine) Schönheit und so verweist der wilde Blick auf ein widerständiges Naturell, das ihn von den berechenbaren Elsingburghern unterscheidet. In dieser Ununterscheidbarkeit von Wesen und Habitus liegt der Kern der Krisenhaftigkeit der apollinischen Figur des schönen Finnen Koningsmarke. Mit dem Epitheton des Apollonischen und dem Kontrast zum Satyrischen wird ein Feld multivalenter Bedeutungen aufgemacht. Mythologisch sind die Satyrn – als Begleiter des Gottes Dionysos – Mischwesen in menschlicher Grundgestalt, wobei der tierische Anteil (Pferdeohren, Bockhörner, Tierbehaarung, Pferdeschwanz, ithyphallisch) auf deren derb-sinnliches, lüsternes und aggressives Gebaren verweist.

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Als alte Fruchtbarkeitsdämonen sind sie naturhafte Wesen, die sich beispielsweise auf der antiken Vasenmalerei »den eklatantesten sexuellen Ausschweifungen« hingeben (Lucie-Smith 23). In der Gegenüberstellung zu Apollo werden jedoch vor allem die körperliche Ungestalt und die aggressive Geilheit prononciert. Apollo hingegen als Gott der Mantik und Musik ist musisch, heilend und weissagend. Diese Eigenschaften zeichnen sich gerade nicht durch Körperlichkeit aus. Weiterhin zählen zu seinen Funktionen der Schutz der Viehzucht, die Förderung des Ackerbaus und der Schutz des Hauses. Und doch zeigt sein Wesen Ambivalenzen: Er ist auch ein Sühnegott, der Krankheit und Tod bringt. Zu einem musikalischen Wettstreit durch den frevlerisch überheblichen Satyr Marsýas aufgefordert unterliegt letzterer und Apollo lässt ihn zur Strafe erhängen und ihm die Haut abziehen. Und er unterhält Liebschaften sowohl zur Nymphe Daphne wie zum schönen Jüngling Hyakinthos. Besonders die Schändung des Satyr und seine geschlechtlich uneindeutigen Vorlieben, aber auch sein prinzipiell helfendes und dem Schöngeistigen verpflichtetes Wesen zeichnen ihn als eine hochgradig hybride Figur. Koningsmarkes krisenhafter männlicher Schönheit ist diese mythische Tradition eingeschrieben. Bis nahe an unsere Gegenwart reichend, wo sich das Bild zusehends ändert, bleiben Darstellungen männlicher Schönheit in der Literatur wie auch in der Kunst eher eine Ausnahmeerscheinung. Tauchen sie aber auf, so sind schöne Männer stets Krisenfiguren. Dem bereits bei Platon im Symposion vorgezeichneten Schönheitsdiskurs zufolge können Männer nicht als schön beschrieben werden, weil der Diskurs die Schönheit als weiblich definiert – und abhängig davon ist nach Platon das Begehren maskulin kodiert. Und da Zuschreibungen von Schönheit nicht nur kulturell und damit zeitlich-räumlich gebunden sind, sondern eben auch immer mit Begehrensstrukturen zusammenhängen, ist Schönheit am Mann monströs, da zum einen weiblich konnotiert und zum anderen und in Folge davon, »weil sie ein für die männlich-heterosexuelle Begehrensökonomie perverses Begehrensobjekt schafft« (Trapp 13). Ein schöner Mann stört die Diskursordnung und ist somit immer eine Figur der Marginalie und der Marginalisierung. Die von Wilhelm Trapp konstatierte Blindheit der literaturwissenschaftlichen Forschung für schöne Männlichkeit ist im Falle von Koningsmarke einmal mehr bestätigt. Wenn man auch in der ohnehin schmalen Forschung zu Paulding gelegentlich über die Titelfigur lesen

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kann, sie stehe in der Tradition der dunklen Helden der Romantik als »archetype of the secret sinner« (Wells xii) oder aber als »a parody of the gloomy Byronic hero haunted by mysterious guilt« (Reynolds 116), so wird nirgends eine Verknüpfung zwischen ihrer Krisenhaftigkeit und der im Text mehrfach und bis zuletzt manifesten Schönheit hergestellt. Liegt es daran, dass, wie Laurence Goldstein in der Einleitung zu dem Sammelband The Male Body meint, »[the] male body simply isn’t as interesting as the female body« (xiv)? Christinas begehrende Blicke auf Koningsmarke zumindest widersprechen dieser Annahme, sie scheint seinen Körper durchaus so interessant zu finden, dass sie ihn sogar mit Apollo vergleicht.

Abbildung 1: Apollo von Belvedere Nun ist seit der Renaissance bis ins frühe 19. Jahrhundert Apollo in der Tat ausgewiesen als die wichtigste schöne männliche Figur. Doch auch hier löst nicht erst seit Johann Joachim Winckelmann, der mit seiner berühmten Beschreibung des Apollo von Belvedere (Abb. 1) als

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Vertreter einer dem Mann den Vorzug gebenden Ästhetik gilt,17 die Annahme schöner Maskulinität Unbehagen aus: »Dem feminisierten neuzeitlichen Schönheitsdiskurs musste eine Kunst verdächtig bleiben, die von fremden Begehrensmodellen kündete, indem sie dem männlichen Körper eine hohe, vielleicht die höhere Schönheit zumaß« (Trapp 102). In Winckelmanns Ästhetik gestaltete sich eine spezifische feminisierte Männlichkeit aus, die aus seiner Begegnung mit der Figur Apollos rührt. Sein Apollo-Text beschreibt »ein ästhetisches Erleben, das narzisstisch-identifikatorisch und erotisch taxierend ist« (ebd. 119), und da sein Ideal nicht der hypermaskuline Herkules, sondern der jugendlich weiche Apollo ist, entsteht eine androgyne Ästhetik, die strikte Gegensätze auflöst. So beschreibt Winckelmann Apollo mit Ausdrücken wie »reizende Männlichkeit«, er ist von »erhabenem Gewächs« und »erfüllender Größe«, er wird aber auch in Verbindung mit »sanften Zärtlichkeiten« gebracht. Es ergibt sich ein männliches Körperbild, das geschlechtlich wie ästhetisch paradox konstruiert ist. Stand Winckelmann mit seinem Schönheitsbegriff seinen Zeitgenossen entgegen, so war sein Einfluss auf den europäischen Klassizismus und für die Etablierung allgemein anerkannter Körperideale doch erheblich, allerdings als Wahrzeichen devianter Männlichkeit. Die zwischen Identifikation und Begehren oszillierende mann-männliche Erlebens-Ästhetik Winckelmanns gewinnt im Verlauf des 19. Jahrhunderts zusehends an Brisanz, denn sein Ideal des feminisierten männlichen Körpers steht nun im Zeichen eines verbotenen – nämlich homoerotischen – Verlangens. Wird Männlichkeit nicht nachdrücklich mit Muskeln und Kraft verknüpft, so gilt die Darstellung männlicher Schönheit als Verweis auf ein verruchtes Geheimnis. Der schöne Mann macht sich verdächtig, solange er sich nicht als der starke Mann ausweisen kann. Genau aus diesem Grunde erscheint Koningsmarkes Schönheit eher als Makel denn als Vorzug, solange er seine ehrbar-mannhafte Gesinnung nicht unter Beweis gestellt hat. Die seriellen, bereits in seine Kindheit zurückreichenden Freiheitsberaubungen zeichnen Koningsmarke nun aber immer wieder als schuldloses Opfer einer ihn übermannenden und entmannenden Macht:

17 »Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind« (Winckelmann 267).

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»I am an outcast from my native land – a hunted deer, to whom neither the woods, the waters, nor the air afford a refuge. Whither shall I go? Nor white man nor red men will shield me from that which follows me everywhere.« (Koningsmarke 24-25)

Sein ständiger Kampf um Befreiung aus diversen Verwahrungen steht emblematisch für das Ringen um Erlösung aus den Fesseln einer korrupten, überholten Gesellschaftsform. Er verkörpert damit ein einzelkämpferisches Heroentum, das aber auf einer individualistisch motivierten Getriebenheit basiert. Sein dunkles Geheimnis, das ihn überallhin verfolgt, stellt sich zwar zumindest auf der faktischen Ebene als unbegründet heraus: er hat sich niemals eine moralisch verwerfliche Tat zuschulden kommen lassen. Und doch bedarf es einer langen und verschlungenen Geschichte, um den finnischen ›Apollo‹ auch vom allerletzten Verdacht einer femininen Veranlagung zu befreien. Das ständige Orakeln der Sklavin »I have seen what I have seen – I know what I know« lässt sich diesbezüglich auch als ein Warnruf deuten, dass sich Christina erst Koningsmarkes unzweifelhafter Mannhaftigkeit versichern solle, ehe sie in ein Ehebündnis einwilligt. Ein Apollo mag zwar schön sein, doch haftet ihm aufgrund seiner jugendlichen Weichheit das Stigma einer sexuellen Unmännlichkeit an, die es erst durch geleistete Mannestaten und dem Nachweis sittlicher Reife zu widerlegen gilt. In dem Maße, wie sich Koningsmarke von all diesen ominösen, anrüchigen Zuschreibungen löst, erweist er sich als ein wirklich sozialer Held. Wells bekräftigt hier zurecht die gemeinschaftsstiftende Funktion von Koningsmarke, der sich vermittels einer Abfolge von Initiationen die Werte mehrerer ethnisch und religiös bestimmter Kulturen (Finnen, Quäker, Indianer) zu eigen macht, um daraus als symbolischer Hoffnungsträger einer neuen, pastoral bestimmten Nation hervorzugehen. Gleichermaßen entfernt von den Finnen Elsingburghs, den Quäkern Coaquanocks und den Indianern in den Wäldern ist Koningsmarke nun an der Ziellinie seiner persönlichen Entwicklungsgeschichte angekommen, die ebenso der Startpunkt seiner Arbeit als heroischer Farmer am Aufbau der Nation ist: »[…] they retired to a beautiful farm, on the banks of a little river, about half way between Elsingburgh and Coaquanock, where, in rural ease, rural quiet, the enjoyment of leisure, health, and competency, combined with exercise and

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employment, they passed quietly down the stream of life, with as much content as falls to the lot of this world.« (Ebd. 254)

Mit diesem Ende installiert Paulding seinen Helden Koningsmarke als Prototyp des zukünftigen frontiersman und knüpft damit direkt an die nationale und literarische Situation Anfang des 19. Jahrhunderts – also an die Gegenwart Pauldings – an. Die Zeit der frühen Republik wird auch als Geburt einer Nation gefeiert, die ihrerseits einen Neuen Mann – den amerikanischen Farmer – generiert, den Hector St. John de Crèvecoeur bereits 1782 als eine neue Rasse apostrophierte: »He is an American, who, leaving behind him all his ancient prejudices and manners, receives new ones from the new mode of life he has embraced, the new government he obeys, and the new rank he holds. […] The American is a new man who acts upon new principles […]. Here individuals of all nations are melted into a new race of men, whose labours and posterity will one day cause great changes in the world.« (70)

Pauldings vehemente Ablehnung von allem, was mit England in Verbindung gebracht wird und eine eigene, amerikanische Entwicklung verhindert, erklärt auch zumindest teilweise die im Roman vollzogene historische Ungenauigkeit. Für Paulding stellten die Holländer keine Bedrohung dar, deshalb konnte es dramaturgisch für ihn nicht von Bedeutung sein, dass die schwedische Kolonie von den Holländern erobert wurde. Wohl aber konnte das Feindbild England evoziert werden mit dessen Bestreben, sich die Schweden in Amerika untertan zu machen. Koningsmarke wiederum fungiert hier als entscheidende, emblematische Schaltstelle in diesem kulturellen Krisenszenario. Seine anfänglich problematische Männlichkeit gewinnt aus dieser Perspektive noch eine weitere Dimension, die auf jene durch Christina artikulierte nationale Differenz verweist. In der Abnabelung Amerikas von der politischen und kulturellen Einflussnahme Englands, die in der Amerikanischen Revolution und der Unabhängigkeitserklärung von 1776 ihren Höhepunkt erreichen sollte, ging es darum, das Recht auf Leben, Freiheit und Besitz zu beanspruchen. Während der Amerikanischen Revolution kursierte daher auch die Metapher der Befreiung der Söhne (Amerika) aus der Tyrannei des despotischen Vaters (England). Solange die amerikanischen Söhne nicht ›erwachsen‹ waren im Sinne von Autonomie und Selbstkontrolle,

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mussten sie sich als unmündige Kinder empfinden, abhängig, fremdbestimmt und verantwortungslos. Erwachsensein war synonym mit Männlichkeit und demnach war die »Declaration of Independence […] a declaration of manly adulthood, a manhood that was counterposed to the British version against which American men were revolting« (Kimmel 18-19). Die englische, aristokratische Männlichkeit wurde von Paulding und vielen seiner Zeitgenossen als feminisiert denunziert, ihr mangle es an Entschlusskraft, Tugend und Bescheidenheit. Amerikanische Männlichkeit hingegen zeichnete sich in dieser frühen Phase durch eine über die Naturverbundenheit generierte Tugendhaftigkeit aus, fern von Luxus und Vornehmheit: »In politics and in culture, in both fiction and fact, American men faced a choice between effeminacy and manliness, between aristocracy and republicanism« (ebd. 19). Koningsmarkes Entwicklung vom effeminierten Europäer (wohlgemerkt: nicht-englischer Herkunft) zum mannhaften Amerikaner muss daher folgerichtig in der pastoralen Idylle am Rande der Zivilisation enden. In dem Maße, wie er die ungeklärte, zweifelhafte Identität seiner Jugend abstreift, kann er zum erwachsenen Mann werden. In dem Maße aber auch, wie Koningsmarke zum Amerikaner reift, verschwindet der Finne. Meads Sorge scheint einmal mehr bestätigt zu sein: »The capacity of the Finn in fiction for disappearing into thin air is his most disarming quality« (»The Image of the Finn« 264). Auf der symbolischen Ebene mag dies auch für den Roman von Paulding zutreffen, wenn man sagt, am Ende wurde der ausländische – mit einem Stigma versehene – Finne zum wahren Amerikaner »naturalisiert«. Wäre da nicht die Betonung der Übertreibung in Bezug auf Koningsmarke, angefangen von der sich in der Rückbesinnung als dramatisiert herausstellenden Erinnerung der Sklavin (»who, as her memory became less retentive and connected, substituted the youth with the scar for the principal actor in the death of her beloved mistress« [Koningsmarke 251]) bis hin zum ironischen Zugeständnis des Erzählers, Koningsmarke selbst möge hier und da übertrieben haben: »It is probable that the Long Finne himself may have contributed to mislead our readers, by occasionally indulging in that inflated, romantic style, too common, with those of exalted imaginations – calling himself an outcast to

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whom the elements afforded no refuge; a prey to the worm that never dies – as if for the sole purpose of making himself interesting.« (Ebd. 252-253)

Hier wird die Andersartigkeit des Finnen zurückgenommen und als parodistisches Element des Textes verbucht. Und doch möchte ich Koningsmarkes Qualität als kultureller Außenseiter, der sich zum sozialen Helden – und dadurch zum sozialen Katalysator – eignet, in diesem Text hervorheben und zwar durch den Fokus auf seinen männlichen Körper als Spektakel. Von Anfang an ist es Christina und mit ihr ein erotisches Begehren, das immer wieder – und sei es auch ›nur‹ fantasmatisch – den Blick auf Koningsmarkes Körper lenkt. Kurz vor dem Ende der Handlung, als Koningsmarke die Brandmarkung und Versklavung droht, weist Christina in einem sorgenvoll gequälten Ausruf auf die Problematik seiner prekären Männlichkeit hin: »We shall come too late. Oh! I know him so well! I know that if he is once made a public spectacle – if the lash but once outrages the sacred dignity of manhood – it will be as if he were lost to us for ever« (ebd. 246). Diese seltsame Wendung verrät ein Anliegen des Romans: Denn »verloren« wäre Koningsmarke zunächst in der Tat, aber anders als Christina dies formuliert. Er würde als Sklave nach Barbados verkauft werden, so wie es der historischen Figur Conincksmarke tatsächlich erging. Christinas Sorge scheint aber weniger seine Verschleppung zu betreffen, sondern vielmehr die Verletzung und Zerstörung seiner »sacred dignity of manhood«, die mit der öffentlichen Zur-SchauStellung einherginge. Gleichzeitig verbirgt sich hinter der auf den Körper Koningsmarkes gerichteten Betrachtung durchaus auch die Sorge um den Status seiner Männlichkeit. Denn als potentieller Partner ist Koningsmarke nur in seiner nachweislichen Virilität von Interesse; als degradierter – feminisierter – Sklave kommt er als Gatte und Stammvater nicht mehr in Frage. Ein verletzter, leidender Männerkörper offenbart nun aber etwas passiv Manipulierbares. Der misshandelte Held ist nicht mehr Herr seiner Taten und damit auch nicht mehr Gebieter über seinen Körper. Eine weitere, ebenfalls ob seiner Schönheit an Koningsmarke sexuell interessierte Frau hatte an anderer Stelle – Koningsmarke sollte mit einer indianischen Witwe verheiratet werden, was ihn zur Flucht nötigte und ihm die erneute Gefangenschaft einbrachte – Koningsmarke schon einmal imaginär einer öffentlichen Folterung unterzogen und hier zeigt sich, wie sehr diese letztlich nicht realisierte Fantasie

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dennoch für die imaginäre Visualisierung dieses Spektakels im Text sorgt: »›Look!‹ cried the virago; ›yonder is the stake and the pile; I shall hear thee groan – I shall see the hot brands, the live coals scorch thee – I shall see the knife and the tomahawk enter thy flesh – I shall see thy limbs tremble like a woman – and I shall laugh, when the drops of agony roll down thy forehead.‹« (Ebd. 160)

Wieder verbindet sich mit dieser Fantasie die Problematik der Feminisierung des männlichen Körpers. Kenneth MacKinnon hat in Bezug auf die Darstellung des männlichen Körpers im Kino auf die Mechanismen der Verleugnung hingewiesen, die es erlauben, in bestimmten, regulierten Kontexten das Spektakel der Männlichkeit zu betrachten, ohne diesen Szenen eine erotische Implikation zugestehen zu müssen. So ›dürfen‹ Helden im Kampf ihren Körper zur Schau stellen, sich die Kleider vom Leib reißen und sich verwunden lassen, solange dies vorgeblich die Handlung erfordert und im Kontext von kulturell akzeptierter maskuliner Aktivität (vor allem Krieg und Sport) verbleibt. »By means of it [i. e. the disavowal as a mechanism], photographed, filmed and videoed male bodies may masquerade as deserving of the spectator’s close attention only when they encounter threat or endure torture in something as ›male‹ as the action genre, for example« (MacKinnon 20-21). Hierbei wird die Frage unterdrückt, wer genau denn Gefallen an solchen spektakulären Szenen hat: Sind es die Männer, die sich mit dem Helden identifizieren dürfen? Oder sind es die Frauen, deren Blick auf den entkleideten Männerkörper nur bedeuten kann, dass er erotisch geleitet ist? Oder aber sind es gar diejenigen Männer, die hier die Chance nutzen, einen tabuisiert homoerotisch motivierten Blick auf dieses Spektakel zu richten? Ähnlich problematisch gestaltet sich die Blickökonomie in Pauldings Roman. Koningsmarke, der Apollo unter den Satyrn, unterscheidet sich bis zuletzt von seinen männlichen Artgenossen durch eine prekäre Mischung aus mannhafter Tapferkeit und verstörender Schönheit. Erst in der Abkehr vom Urban-Politischen und im Aufgehen in der Natur scheint Koningsmarke seine katalytische Funktion erfolgreich absolviert zu haben: Die Finnen sind endgültig in Amerika gelandet, frei von schwedischer – oder sonstiger – Herrschaft und nur der eigenen, demokratischen Ethik verpflichtet. Koningsmarke war der

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politischen Instabilität und Fremdbestimmtheit in Finnland entflohen, um in Amerika ein neues, autonomes, auf die Zukunft ausgerichtetes Leben zu beginnen, was ihm nach vielen, vielen Missgeschicken ganz am Ende auch zu gelingen scheint. Hier schiebt sich denn auch jene mythische Funktion in den Vordergrund, wonach Apollo als Heilsbringer und naturverbundener Schutzherr fungiert und die geilen, missratenen Satyrn in ihre Grenzen verweist. Auch wenn ein Text, der unentscheidbar zwischen romantisierender Historie und burlesker Parodie changiert, nur schwerlich ein plausibles closure zu erzeugen vermag, so bleibt doch die nicht zu bestreitende Tatsache, dass der Finne hier keineswegs aus dem Text verschwunden ist, sondern dass er im Gegenteil in einer neuen Nation zu seinem ureigensten Naturell zurückgefunden hat: zur Natur. Der preziöse Apollo ist zum ungezierten Agrarier geworden.

T OM OF F INLAND : » MORE THAN BEAUTIFUL « – D IE H YPERTROPHIE › NATÜRLICHER ‹ M ÄNNLICHKEIT »Ist die erotischste Stelle eines Körpers nicht da, wo die Kleidung auseinanderklafft?«, fragt Roland Barthes in Die Lust am Text (16; Hervorhebung im Original). Es sind die Unterbrechungen, die erotisch wirken: »die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt (der Hose und der Bluse), zwischen zwei Säumen (das halb offene Hemd, der Handschuh und der Ärmel); das Glänzen selbst verführt, oder besser noch: die Inszenierung eines Auf- und Abblendens« (ebd. 17). Barthes macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um »die Lust des Striptease oder des erzählerischen Hinauszögerns« handelt. Es kommt hierbei zu keinem »Riss«, es gibt keine zwei Seiten, die ein Vorher und Nachher signalisieren. Es handelt sich vielmehr um eine fortschreitende Enthüllung, wobei sich die Erregung in der Hoffnung ausdrückt, das Ende der Geschichte zu erfahren bzw. das vollständig entblößte Geschlecht zu sehen. Barthes überblendet hier zwei Fantasien der Enthüllung: Das körperliche Ablegen der Kleidung inszeniert ein ebenso Abwesendes und Verborgendes wie die narrative Entschleierung der Wahrheit. In beiden Fällen werden Betrachter und/oder Leser ›verführt‹ durch die Art der Inszenierung, durch das gekonnte Spiel mit Entblößen und Verde-

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cken (»Auf- und Abblenden«). Die fantasmatische literarische Inszenierung von Koningsmarkes ständig unter Gewahrsam beobachtetem, malträtiertem, halb entblößtem Körper sowohl im Handlungsverlauf wie in den Visionen der durch seinen schönen Körper erregten Protagonistinnen funktioniert in der Vorstellungswelt der dafür empfänglichen Leser/innen also durchaus ähnlich wie die rein visuelle Darstellung eines solchen Körpers. Die Problematik des schönen Mannes, die sich bei Paulding noch weitgehend in der Opposition von stereotypisierter Männlichkeit und Weiblichkeit niederschlug, wird ab Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Kontext der Opposition von Hetero- und Homosexualität verschoben. Wie zuvor gilt Schönheit beim Mann als verstörend und wird als Effeminierung wahrgenommen, doch das Krisenmoment manifestiert sich nun in der projizierten Homosexualität eines solchen Mannes. Eine homosexuelle Ikonographie, die durch maskuline – und nicht feminisierte – Ästhetik geprägt ist, kann sich erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablieren. Die in den visuellen Medien dargestellte schwule Männlichkeit bedient sich hierbei gerne tradierter Vorstellungen von Maskulinität aus dem mainstream und implementiert diese in die hochkodierte Bildsprache der schwulen Subkultur. Koningsmarkes hybride Männlichkeit konnte zuletzt noch in eine heterosexuelle Utopie des amerikanischen frontiersman kanalisiert werden. 150 Jahre später werden solche Männlichkeitsentwürfe bewusst und gezielt als Modell (und Parodie) für eine queer Maskulinität herbeizitiert. Wie schon ein finnischer Held im frühen amerikanischen Roman zum Vorläufer des Pioniers im Wilden Westen wurde, so ist es auch wieder der finnische Naturbursche, der zum erotischen Leitbild einer neudefinierten (anti-feminisierten) schwulen Männlichkeit avancieren konnte. Denn kaum ein Künstler hat in den letzten Jahrzehnten eine solch anhaltende Popularität im Bereich schwuler Erotik erzielt wie Tom of Finland. Hinter diesem sich speziell für das amerikanische Publikum zugelegten nom de guerre verbirgt sich der Finne Touko Laaksonen (1920-1991).18 Nicht nur hat sich zu Tom of Finland kaum

18 Bob Mizer, der Herausgeber von Physique Pictorial, hat diesen Namen für Laaksonens ersten Amerikaauftritt erfunden. Tom of Finland sollte hunderte Zeichnungen, oft Titelbilder, zu dieser beafcake-Zeitschrift beitragen. Eine vollständige Neuauflage ist erhältlich als The Complete Reprint of Physique Pictorical, 1951-1990 (1997).

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eine kritische Rezeption entwickelt, auch der transatlantische Kontext eines finnisch-amerikanischen Kulturtransfers blieb bisher unbeachtet. Auffälliges Merkmal seiner Bilder ist die spezifische Kombination von Realismus und Übertreibung, die sich in nahezu jedem seiner Bilder offenbart, gepaart mit der über Jahrzehnte hinweg beinahe gleichbleibenden und völlig homogenen, austauschbaren Darstellung männlicher Körperlichkeit: Alle Männer (mit relativer Ausnahme der in den 1980er Jahren verstärkt auftretenden schwarzen Männer, die ihrerseits wiederum eine homogene Gruppe bilden) sehen sich ähnlich. Und doch basiert der Grundtypus des Idealmannes aus dem Tom-of-Finland-Universum auf dem finnischen Holzfäller (siehe Abb. 2). Mit diesem Typ trat Laaksonen erstmals vor ein großes amerikanisches Publikum, indem er ihn als Titelbild der Bodybuilding-Zeitschrift Physique Pictorial (1957) wählte. So sehr Laaksonens Bilder auch lange Zeit als inakzeptabel in der Kunstwelt gehandelt wurden und so sehr sie sich für eine Diskussion über den Zusammenhang von Pornografie und Kunst sowie Gewalt und Sexualität anbieten, so sehr haben sie sich doch andererseits als weithin sichtbarer populärkultureller Ausdruck und als weltweit erkennbare Ikonographie schwuler Ästhetik erwiesen. Tom of Finland, der erste finnische Künstler, der in der Biennial of American Art des Whitney Museum of American Art in New York 1991 ausstellte und damit seinen langjährigen Erfolg in den USA kürte, hat in seinem Heimatland erst in den 1990er Jahren die Anerkennung der Kunstszene gefunden.19 Wenn Micha Ramakers davon spricht, dass sich Laaksonen mit einer der Wirkungsweise von politischer Propaganda vergleichbaren Methode eines Effektes der Unmittelbarkeit bediente (Dirty Pictures 38), so verwundert es nicht, dass sich seine Bilder als fester Bestandteil der amerikanischen schwulen Subkultur etablieren konnten. Durch exzessiven Realismus (Ramakers spricht von »homophile hyperrealism« [39]) in der Darstellung männlich-sexueller Körperlichkeit wird die Distanz zwischen betrachtendem Subjekt und dargestelltem Objekt durchbrochen und dem Betrachter

19 1990 erhielt er als finnischer Comic-Künstler den Puupäähattu Preis, 1991 wurde sein Werk im renommierten Amos Anderson Kunstmuseum in Helsinki ausgestellt, und zur selben Zeit entstand der weltweit beachtete Film Daddy and the Muscle Academy über sein Leben und Werk mit der Unterstützung des nationalen finnischen Filmrats.

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das Gefühl vermittelt, er sei Teil jener utopischen, bruderschaftlichen Welt von »Tomland«.

Abbildung 2: Tom of Finland, 1957 (The Art of Pleasure 64) Laaksonens Teilhabe an dieser Subkultur beruht aber auch auf den Geschichten, die diese Darstellungen suggerieren. Denn seine Bilder haben eine narrative Qualität, die auf der mythischen Ikonographie beruhen, derer sich Laaksonen bedient. Seine utopischen Welten sind angesiedelt jenseits zivilisierter und technologisierter Urbanität und entwerfen stattdessen alternative Gemeinschaften, die in halbzivilisierten oder gänzlich unzivilisierten Landschaftsräumen situiert sind. Mit seinen ›Holzfäller-Helden‹ wie Kake und Pekka verknüpft er damit archetypische Männlichkeitsentwürfe, die aus Finnland stammen, mit jener traditionslastigen Ikonographie des amerikanischen

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frontiersman.20 Beiden wird aufgrund ihrer Naturverbundenheit und ihres durch schwere körperliche Arbeit gestählten muskulären Körpers eine Hypermaskulinität zugeschrieben: »Until very recently, much of [Finland’s] wealth came from rough outdoor industries such as mining, logging, and fishing. Consequently, there was and is a great deal of ›frontier thinking‹ in Finnish society, just as there is in the United States, so much of which was also rugged frontier until recently. Because such a way of life is so physically oriented, frontier societies tend to hold up oversized images of masculinity for their sons to emulate – namely, the cowboy in America and the lumberjack in Finland. These are those countries’ ›ideal men‹.« (Hooven 11-12)

Laaksonen nun gelingt es, sowohl besagte äußerlich manifeste Hypermaskulinität als Topos aufzugreifen wie auch die der Cowboy-Figur eingeschriebene geschlechtliche Ambiguität in den Vordergrund zu bringen und diese gar bis zur karikierenden Parodie auf die Spitze zu treiben. Er kann sich dabei auf die große Beliebtheit berufen, der sich in Amerika die Figur des Cowboys noch bis in die Gegenwart im kulturellen mainstream wie in der Subkultur erfreut. Die Popularität des Cowboys in Amerika entstand zu einer Zeit, als der Wilde Westen bereits kein wilder mehr war. Um 1900 war auch die Westküste besiedelt und zivilisiert, die Westexpansion hatte ihr Ende erreicht und damit war offiziell auch die frontier verschwunden. Um diese Zeit wurde die Figur des Cowboys mit Wildwest-Romanen wie Owen Wisters The Virginian (1902) und Zane Greys Riders of the Purple Sage (1912) als retrospektiv installierter Mythos ›geboren‹ und damit der Pioniergeist wachgehalten. Die Figur des Cowboys hält gewaltige sexuelle Implikationen bereit, die sich nicht zuletzt über den Lebensund Kleidungsstil kommunizieren. Der Cowboy lebt unter seinesgleichen in naturverbundener Gemeinschaft, fern der Zivilisation, Stadt und Frauen. Was bei Western in Literatur und Film als archetypisches Bild einer männerdominierten Gesellschaft kursierte (man denke an die Cowboyrollen von John Wayne), florierte ab den 1960er Jahren im schwulen, subkulturellen Kontext als idealisierte mann-männliche Fantasie:

20 Laaksonen, der lange Zeit als Werbezeichner tätig war, fertigte ab 1967 eine Reihe von Comics an, so auch den ersten Kake in the Wild West.

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»Like the straight culture, gay culture has evolved a set of public, sexual prototypes. […] The western or cowboy archetype can be seen as derivative of the natural myth. The archetype is recognized by articles of clothing, cowboy or western boots, jeans, flannel shirt, and in some instances hats.« (Fischer 15, 18)21

Abbildung 3: Tom of Finland, 1960 (The Art of Pleasure 85) Die Tom-of-Finland-Cowboys sind Hybride, weil sie sich zwar einer etablierten Tradition bedienen, dieser aber eine zeitgenössische Gestalt geben. Vor allem über Kleidung und Handlung wird ein Szenario entworfen, das sich schwerlich historisch begründen lässt. Wie die Abbildung 3 verdeutlicht, trägt der Cowboy links zwar jene traditionelle Kleidung (Stiefel, Sporen, Jeans, Gürtel, Hemd und Hut); doch die

21 Zum Kleidungscode des Cowboys in der neueren Mode siehe »Giddying Up and Getting It Up«.

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beiden anderen Figuren mit Lederjacke und T-Shirt entstammen eindeutig dem zeitgenössischen Bikermilieu. Ebenso wird das Lasso des Cowboys zwar noch als handlungstragendes Element eingesetzt, nun aber nicht, um Kälber zu fangen und zu brandmarken, sondern um Widersacher (›Sklaven‹ für spätere Sexspiele?) einzufangen und sicherzustellen. Das zerrissene T-Shirt und die halbentblößte Brust der Gefangenen zeugen von dem stattgefundenen Kampf, der hier das Kälberfangen wie auch den Sklavenhandel zitiert und nun umschreibt als Technik erotischer Machtnahme. Gerade das zerrissene Hemd, die dadurch sichtbare Brust, sowie das sich eng um die Beine der gefesselten Männer schlingende Lasso, aber auch die betont schmalen Hüften und der dadurch noch massiver wirkende Oberkörper (hierzu gesellen sich in vielen anderen Bildern noch monströse Penisse) heben den erotischen Charakter dieser Darstellungsweise im Sinne Barthes’ hervor. Laaksonens schöne Männer sind selten völlig nackt. Im Gegensatz zum männlichen Akt, der seiner Meinung nach eher deerotisierend auf den Betrachter wirkt, ist ein schöner Mann erst durch seine – vestimentäre – Inszenierung aufreizend: »I almost never draw a completely naked man. He has to have at least a pair of boots or something on. To me a fully dressed man is more erotic than a naked one. A naked man is, of course, beautiful, but dress him in black leather or a uniform – ah, then he is more than beautiful, then he is sexy!« (zit. in Hooven 62)

Die Holzfäller und Cowboys in den Tom-of-Finland-Bildern rekurrieren – und subvertieren – die Vorstellung einer ›natürlichen‹ Männlichkeit in Affinität zur Natur. Teil dieser ›Natürlichkeit‹ ist das heterosexuelle Begehren eines solchen Mannes. Der Naturbursche, ob als finnischer Holzfäller oder amerikanischer Cowboy, kann kein echter Mann sein, kein natürlicher Mann, wenn er einen anderen Mann begehrt. So schreibt Raewyn Connell über den Entwurf hegemonialer Männlichkeit als Strategie moderner Geschlechterideologie: »True masculinity is almost always thought to proceed from men’s bodies – to be inherent in a male body or to express something about a male body. Either the body drives and directs action (e.g., men are naturally more aggressive than women; rape results from uncontrollable lust or an innate urge to violence), or the body sets limits to action (e.g., men naturally do not take care of infants; homosexuality is unnatural and therefore confined to a perverse minority).« (45)

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Die Bilder von Tom of Finland greifen diese Merkmale hegemonialer Männlichkeit auf und bringen sie in eine dezidiert und unmissverständlich schwule Begehrensökonomie. Dadurch installiert er genau jene »Perversität« des Homosexuellen als zentrales – und somit nicht mehr marginales – Kennzeichen in seiner Repräsentation von Männlichkeit. Die unnatürliche, unreine, »hybride« Rasse der Homosexuellen, über die der Autor Owen Wister schreibt, ist bei Laaksonen zur einzig natürlichen geworden: »No rood of modern ground is more debased and mongrel with its hordes of encroaching alien vermin, that turn cities to Babels and our citizenship to a hybrid farce, who degrade our commonwealth from a nation into something half pawn-shop, half broker’s office. But to survive in the clean cattle country requires spirit of adventure, courage, and self-sufficiency; you will not find many Poles or Huns or Russian Jews in that district; but the Anglo-Saxon is still forever homesick for out-of-doors.« (Wister, zit. in Davis 37)

Wister bedient sich hier rassistischer Stereotype, die zwar zeitgebunden, deshalb aber nicht weniger pejorativ gemeint sind. Zu diesen um 1900 kursierenden Rassismen gehörte auch, wie oben erwähnt, der als orientalisch kategorisierte – und damit als effeminiert wahrgenommene – Finne. Der Cowboy des 19. Jahrhunderts, wie ihn Wister als idealtypisch pries, war nun aber gerade nicht der unabhängige, unternehmungslustige Angelsachse, sondern ein junger unterbezahlter und unterernährter Arbeiter, der sich oftmals lange Zeit ohne Anstellung durchschlagen musste. Damit verkörperte der Cowboy keineswegs eine erstrebenswerte Männerleitfigur; er galt vielmehr als Trunkenbold und outlaw unspezifischer Herkunft, ein »landless wage earner« (Carlson, »Myth« 7). Und um 1900, als der Boom der Wildwest-Literatur einsetzte, war der Cowboy gar eine gänzlich obsolete Figur geworden. Stattdessen aber war er zu einem Mythos geworden, der in allen Sparten der Populärkultur reüssierte. Die Bilder Tom of Finlands nehmen in paradoxer Weise teil an der Mythisierung und Ikonographie hegemonialer Männlichkeit, indem sie diese in der Repräsentation homosexueller Lustszenarien zitieren – allerdings mit einer signifikanten Umschreibung. Wie Ramakers in der Einleitung zum umfassendsten Sammelband von Tom-of-Finland-Bildern schreibt, besteht diese Resignifikation im Vernetzen heterosexueller Männlichkeitssymbole mit Konzepten homoerotischer Begehrens

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(»Art of Pleasure« 28). Hierdurch entsteht nicht nur eine gezielte Irritation in den gewohnten Seh- und Lesegewohnheiten der mainstream Kultur. In den hypermaskulinen Helden aus den unteren Bevölkerungsschichten werden sowohl traditionelle Bilder von Männlichkeit destabilisiert wie auch der Typus des ›natürlichen‹ Körpers glorifiziert und zum Fetisch erhoben. Weit entfernt davon, wie noch vor 100 Jahren eine marginale und gar fremdländisch-orientalische ethnische Identität zu verkörpern, ist der Finne mittlerweile zum Inbegriff eines Schönheitsideals natürlicher Männlichkeit geworden und hat gerade in der hypertrophen Ästhetik Tom of Finlands einen fundamentalen Einfluss auf die zeitgenössische populärkulturelle Ikonographie Amerikas ausgeübt.

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»Palimpsest und Kassiber«: Hubert Fichtes New Yorker KunstEthnographie Die Schwarze Stadt

S CHWARZ I: V ORLETZTES »Einst gab es Babylon und Ninive, die waren aus Backstein gebaut. Athen prunkte mit vergoldeten Marmorsäulen. Rom ruhte auf breiten Quaderbögen. In Konstantinopel flammen die Minarette wie große Kerzen rund um das Goldene Horn … Stahl, Glas, Ziegel, Zement werden das Material der Wolkenkratzer sein: dicht gedrängt auf der schmalen Insel ragen millionenfenstrige Gebäude, glitzernd, Pyramide auf Pyramide, wie die weiße Wolkenkappe über dem Gewitter.« (John Dos Passos 12)

Dieses Streiflicht, mit dem John Dos Passos das zweite Kapitel seines Romans Manhattan Transfer von 1925 beginnt, führt in die Atmosphäre des Kapitels ein, das mit »Metropolis« überschrieben ist. Manhattan Transfer ist einer der ersten Romane der amerikanischen Moderne, die mit einer radikalen szenischen Collage- und Montagetechnik arbeiten. In seiner düsteren, teilweise ironisch-grotesken Sprache gilt Dos Passos’ Roman als Schlüsseltext für eine im sozialen und moralischen Verfall begriffene Stadt. So dunkel die Farbgebung des Porträts auch sein mag, es zeigt vor allem New York: die weiße Stadt, oder weniger metaphorisch, dafür polemisch zugespitzt: die Stadt der

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Weißen. »New York ist schwärzer geworden. Und elegante« (Fichte, »Auch ich bin ein Besucher« 64).1 So lesen wir bei Hubert Fichte über ein halbes Jahrhundert später in dessen Porträt von New York mit dem Titel Die Schwarze Stadt. Fichte benennt Collage und Montage – also Dos Passos’ literarische ›Markenzeichen‹ – als zwei der wichtigsten Verfahren der klassischen Moderne.2 Wiewohl sich Fichtes Aussage auf moderne Kunst, speziell Fotografie und noch spezieller auf den schwarzen Fotografen James Van Der Zee bezieht, so ist seine Behauptung, man könne Van Der Zees Werk nur in der Zusammenschau der ›Verknotung‹ von Kubismus, Surrealismus, Dada und Fotografie und deren Einführung durch Alfred Stieglitz in New York verstehen (Fichte, »Die geklebten Götter« 277)3, als programmatische Auffassung über Fichtes eigenes ethnographisches Verfahren zu entziffern, mittels dessen er die schwarze New Yorker Kunstszene Ende der 1970er Jahre zu erfassen sucht.4 Die Schwarze Stadt ist Band 18, also vorletzter Band der Geschichte der Empfindlichkeit. In einer früheren Phase der Konzeption visierte Fichte das 1978 begonnene Forschungsprojekt zur afroamerikanischen Kultur der Megapolis New York als letzten Roman an, der – so Fichte in einem Interview – »an großen Wortblöcken, an Gedichten« darstellen sollte, »was eigentlich die Existenz der Schwarzen in dieser Stadt ausmacht.« Das Projekt sah allerdings vor, es nicht bei New York allein bewenden zu lassen. Einem Kapitel über New York 1978 sollten eines über Afrika, ein afrikanisches Land, eine afri-

1

Zuerst erschienen in Deutsche Zeitung (22.12.1978).

2

Vgl. zu Fichtes Beziehung zwischen afroamerikanischer Kultur und dem Surrealismus am Beispiel von Xango Simo, Interkulturalität (bes. 38-51).

3

Zuerst erschienen unter dem Titel »Schwarz-weiß, doppelt belichtet« in

4

Ich folge hierin nicht dem Vorschlag Kirstin Plegers, in Fichtes Handha-

Frankfurter Rundschau (12.1.1980). bung der Collage ein manieristisches Formprinzip in Anlehnung an Gustav René Hocke zu sehen. Pleger sieht in der Fichte’schen Collage als einer Verbindung von Material unterschiedlicher Herkunft eine »Bewahrung der Metaphysik des ganz Anderen«; das Material Fichtes, »die Altäre der afroamerikanischen Kulturen – kurz: manieristische Kunst insgesamt – [birgt] in sich durch Rückverwandlung der Funktion des Materials mögliche Offenbarung« (111-112).

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kanische Situation, ebenfalls 1978, folgen.5 Zehn Jahre lang sollte im Wechsel Afrika/New York »die Welt der Schwarzen in dieser Schwarzen Stadt New York« erlebbar und verständlich dargestellt werden (in Lindemann 309-310). Fichte plante Die Schwarze Stadt »als letztes, ganz poetisches, lyrisches Buch«: »New York und das New York, wie es sich aus Afrika hat erstellen können« (in Lindemann 317). Als »zukunftsträchtiger« Schlussroman musste Die Schwarze Stadt jedoch dann seinen Platz räumen zugunsten des Register genannten Romanfragments Hamburg Hauptbahnhof. Von dem einst geplanten und durchaus utopisch verstandenen Abschlussroman ist ein bruchstückhaftes Vorletztes übriggeblieben. Auch wenn Manfred Weinberg auf den problematischen editorischen Status gerade dieses Bandes hinweist, der sich aus seinem unvollendeten, keinerlei Revision unterzogenen Zustand ergibt (356-357), so vermag ich diesen Einwand zwar nicht zu entkräften, möchte aber dennoch einige konzeptuelle Dimensionen ausmachen, die den Band nicht als ein unnötiges Zusammentragen von meist zuvor schon veröffentlichten Texten ausweisen. Das bedeutet auch, dass mich die Lektüre zu einer etwas anderen, weniger vom Gedanken des ›Scheiterns‹ beeinflussten Lesart führt, als sie Peter Brauns Rekonstruktion des doppelten Blickes von Leonore Mau und Hubert Fichte auf das »schwarze« New York suggeriert. Im Unterschied zu Leonore Maus New Yorker Foto-Sequenz, deren letztes Bild zwar »weder von Einheit noch von Harmonie in der ›schwarzen‹ Kultur der Afroamerikaner« künde, wohl aber »ein Hoffnungszeichen gegen das ›weiße‹ New York« setze, dominiere bei Fichtes Texten das Moment des Beiseite-Schiebens: »Dass Fichte anderen, neuen Arbeiten in seinen letzten Jahren den Vorzug gab, lässt auf einen Prioritä-

5

So finden sich in Fichtes letzter Verfügung vom 20.2.1986 im handschriftlich angefertigten Inhaltsverzeichnis zu Die Schwarze Stadt die beiden Titel »Afrika: Die Tropfen fallen Benin« und »Afrika: Gott ist ein Mathematiker«, die durchgestrichen sind. Diese Afrika-Texte hat Fichte dann in Psyche aufgenommen (vgl. von Wangenheim). Auf den Konnex zwischen den beiden Werken hat mich dankenswerterweise Leo Kreutzer aufmerksam gemacht. Zu Psyche, allerdings ohne Bezug zu Die Schwarze Stadt, siehe Simo, »Die Suche nach einer postkolonialen Sprache«.

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tenwechsel, wenn nicht gar auf einen Bruch mit der Gesamtkonzeption schließen« (172, 164).6

S CHWARZ II: N EW Y ORK

IST NICHT

N EW Y ORK

»F: Wie soll ich die Afroamerikaner in New York nennen? Black, Negro, Colored? Was ist am wenigsten beleidigend?« (Hubert Fichte, »Michael Chisolm« 38)

Die 1970er Jahre in New York bezeichnen eine Dekade der Widersprüche. Einerseits hat keine andere amerikanische Stadt einen vergleichbaren kulturellen bzw. subkulturellen Aufschwung infolge der diversen Bürgerrechtsbewegungen der 1960er erfahren. Vor allem ethnische und sexuelle Minderheiten profitieren von einem liberaleren Klima. Ab Mitte der 1960er Jahre hat New York überdies – gefördert durch den Bürgermeister John Lindsay – eine unumstritten führende Position als ›Fun City‹. Dem steht eine seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges andauernde Stadtflucht der Mittelklasse gegenüber, was zusammen mit Lindsays Haushaltung Mitte der 1970er Jahre zu einer finanziellen, politischen und kulturellen Misere führt. Typisch hierfür ist eine Schlagzeile der Daily News, die die Unwilligkeit des damaligen US-amerikanischen Präsidenten Gerald Ford zum Ausdruck bringt, der Stadt Darlehen zuzugestehen: »Ford to City: Drop Dead.«7 Fords Einstellung entspricht einer umfassenden nationalen Anti-NewYork-Stimmung, wonach Manhattans Unglück die gerechte Strafe für

6

Braun spricht desweiteren von »Kompromissen«, »Torso« (164), »Entwürfe[n] einer abgebrochenen Arbeit«, »Werkstattcharakter« (178), dies allerdings immer in Bezug auf Fichte. Maus Fotografien, die Braun einer faszinierenden »seriell-diskursiven Lesung« unterzieht, stammen aus ihrem gemeinsam mit Fichte publizierten Beitrag »Schaut auf diese Stadt« in TWEN (1980). Maßgeblich zu Theorie und Analyse der ›parallelen Texte‹ bei Mau und Fichte außerdem Braun, Die doppelte Dokumentation.

7

Ich entnehme diese Informationen Charles Kaisers Gay Metropolis (214).

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das dort zelebrierte ›Sündenbabel‹ darstellt, wie es Dos Passos schon frühzeitig prophezeite. Fichtes topographische Streifzüge suchen diese Diversität der Stadt in jener Phase einzufangen. In dem poetisch-essayistischen Text »Keine Beispiele mehr: 14 längere, diagonale Texte über New York« vom Herbst 1979 werden schlagzeilenartige newsbits und statistische Angaben zu Einwohnerzahl, Arbeitslosenrate oder kriminologische Fakten Momentaufnahmen metropolen Lebens gegenübergestellt: »Der Dalai Lama wohnt im Waldorf-Astoria-Hotel. […] 137 Banküberfälle in einem Monat. […] Am Eingang der Sadistenbar steht ein Schutzmann Wache« (»Keine Beispiele mehr« 239-241). Fichte entwirft hier ein urbanes Kaleidoskop, changierend von high bis low culture, vom Offiziellen zum Inoffiziellen, vom Öffentlichen zum Privaten. Fast unmerkbar schieben sich allmählich längere Passagen in den Vordergrund, die vom Einzelschicksal erzählen. So entpuppt sich der zunächst anonyme hellhäutige Afroamerikaner als Michael Chisolm, der neben Lil Picard der wichtigste Begleiter und Kommentator auf Fichtes Kunststreifzügen ist. Gemeinsam mit Chisolm besucht Fichte den Fotografen James Van Der Zee oder eine Andy-Warhol-Vernissage, mit Lil Picard geht Fichte zum Dalai Lama, den Picard dort zeichnet. Und unvermittelt, irgendwo inmitten dieser Assemblage fragt (sich) Fichte: »Sind das ethnologische Aussagen?« (»Keine Beispiele mehr« 260). New York: für Fichte die Schwarze Stadt. Fichtes Fakten: Die Schwarzen sind dort nicht Minderheit, sondern zählen zu diesem Zeitpunkt bis zu drei Millionen, also zwischen der Hälfte und einem Drittel der Gesamteinwohnerzahl. Schwarze stammen nicht nur aus Afrika, sondern auch aus der Karibik. Aber abstämmige Domikaner, Jamaikaner oder Haitianer bezeichnen sich selbst als Afrokariben, nicht als Afroamerikaner: Diskriminierung und Rassismus also auch unter Schwarzen. New York – Fichtes New York – ist nicht das New York, das die ganze Welt zu kennen meint. New York ist schwärzer geworden – und dies zeigt sich vor allem in der Kunst, auf die Fichte dort überall stößt. Bei Fichte spiegelt sich die schwarze Kultur New Yorks sowohl in der Inszenierung indianischer Stammeszeremonien durch den vaudougeweihten Japaner Teiji Ito, in der Lebensgeschichte von Lil Picard wie in der Erörterung der Folter in haitianischen Gefängnis-

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sen.8 »Afroamerikanische Kultur, haitianische Kultur«, so verzeichnet Fichte in seinen Anmerkungen zu einer Ausstellung haitianischer Kunst, »gibt es im Merkheft der Gebildeten nicht« (»Totengott« 12).9 Im Gegeneinanderstellen – Montieren und Collagieren – solcher Texte und Textfragmente (»Partikel, Reste«) (»Totengott« 12) zeigt Fichte, dass schwarze Kunst in New York nicht nach den Maßstäben westlicher Kunstkritik gemessen werden kann, sondern dass neben dem Wie der Wirkung immer auch nach dem Wie der Entstehung gefragt werden muss: »Ästhetische Theorie nicht – wohl aber ästhetische Empfindlichkeit und ästhetisches Handeln.« Fichte fasst diese disparat-omnipräsente, schwarze Kunst als »Ästhetik des Faktischen« (»Totengott« 16).

S CHWARZ III: D EN ANDEREN S PRECHENLASSEN »F: Ich will versuchen, meine Fragen mit unsichtbarer Tinte zu stellen.« (Hubert

Fichte,

»Interview

mit

Richard Avedon« 26)10 »F: You should just play yourself. The different layers of cultures and consciousness.« (Hubert Fichte, »Teiji Ito« 228)

Die Schwarze Stadt variiert prinzipiell zwei Textsorten: Interview und Essay. Beim Interview verwendet Fichte beide Formen, das traditionellere Frage-Antwort-Modell und das bearbeitete Interview, bei dem die Fragen ›unterdrückt‹ werden. Bei diesen bearbeiteten Interviews sind die Antworten des Befragten so montiert, dass der Eindruck einer zusammenhängenden Geschichte entsteht. Die Fragen fließen in die

8

Letztgenanntes in »Das haitianische Volk kann nicht mehr«. Zuerst erschienen unter dem Titel »Mein Land verfault« in Die Zeit (9.11.1979). Vgl. zu Fichtes Auseindersetzung mit Haiti in Xango Uerling (243-333).

9

Zuerst erschienen in Die Zeit (6.10.1978).

10 Zuerst erschienen unter dem Titel »Nichts ist wirklich in meinen Fotos« in Frankfurter Rundschau (14.11.1978).

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Rede des Respondenten ein.11 Man könnte sagen, dass es sich hier um eine manipulative Geste der Gewalt handelt. Fichte selbst offeriert diesen Konnex, wenn es in seinem Roman Forschungsbericht heißt: »Ich darf keine unnötige Frage verschießen. Die Frage ist obszön. Die Frage ist die Folter« (143). Hartmut Böhme folgt diesem selbstkritischen Blick auf die Technik des Interviews und führt aus, dass dieses im Unterschied zum Gespräch oder dem Dialog immer einer Asymmetrie der Sprecher und damit einer Machtkonstellation zugunsten des Fragenden unterliege. Anspielend auf Verhör und Beichte, Inquisition und Folter, habe derjenige, der das Monopol der Frage hat, auch dasjenige der Macht: »Fragen ist aufdecken. Aufdecken ist tendenziell Zerstörung, Aggression, Verletzung des Anderen. […] Wenn Fichte eingesteht: ich frage, also lebe ich – das ist sein cartesianisches Axiom –, so weiß er gleichzeitig, dass dieser Satz auch heißen kann: ich frage, also töte ich.« (Böhme 33)12

11 Vgl. hierzu Armin Schäfer, der weitaus differenzierter den Fragen nachgeht, inwieweit (a) sich hinter der Collage als Formprinzip eine Vielzahl von Sprechern verbirgt, mittels derer Fichte heterogene Aussagepositionen verknüpft, und (b) die bearbeitete Form des Interviews eine Grundform des Fichte’schen Schreibens – die indirekte Rede – darstellt, die Fichte nicht zum ›Für-Sprecher‹, sondern im Gegenteil zu einem Sprecher macht, der mit den anderen zusammen spricht (»Von Satz zu Satz«). Für Die Schwarze Stadt stellt sich hierbei das spezielle Problem, dass es sich zumindest teilweise um Textfassungen handelt, bei denen nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass sie in ihrer geplanten endgültigen Form und Bearbeitung vorliegen. So spekuliert von Wangenheim auf für mich nicht nachvollziehbare Weise, dass Fichte für Die Schwarze Stadt eine Interview-Präsentation, wonach auf eine zu Anfang einmalige Namensnennung nur noch Spiegelstriche vor jedem Neuansatz des Gegenübers stehen sollten, »auf alle hier versammelten Interviews ausdehnen wollte« (von Wangenheim 402-403). Aufgrund dieser speziellen editorischen Problematik bezüglich der Interviews in Die Schwarze Stadt halte ich eine von Schäfer vorgeschlagene »Von Satz zu Satz«-Lektüre in diesem Fall für nicht durchführbar. 12 Böhmes Referenz ist Hubert Fichtes Homosexualität und Literatur I (383).

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Bezogen auf die blutige Spur der Kolonialgeschichte bedeute das Interview eine Ersetzung physischer Ausbeutung durch die mentale Form der kulturellen Ausplünderung und Aneignung. Die dem Interview inhärente Potentialität von körperloser Gewalt schlage um im Moment des Gelingens: Dann ist ein Interview Kunst, so Böhme (33). Dieser Argumentation kann aber auch entgegnet werden, dass hier das in der neueren, postkolonialen Ethnographie geforderte Postulat des »Sprechenlassens des Anderen«, umgesetzt wurde.13 Besonders evident wird dieses Verfahren in Die Schwarze Stadt in dem dreiteiligen Text »Ehen in New York«.14 Diese bearbeiteten Interviews, die als unbearbeitete Interviewfragmente an anderen Stellen des Bandes mehrmals auftauchen, in eine imaginative Kommunikation mit jenen bearbeiteten treten und dadurch auch auf generischer Ebene die dialogische Montagetechnik des Gesamttextes widerspiegeln, erzählen drei verschiedene Lebensgeschichten. Hier trifft zu, was Silke Cramer über die bearbeiteten Interviews in Fichtes Lazarus und die Waschmaschine geschrieben hat: Das Verbergen der Rolle des Interviewers gestattet den Stimmen der Anderen zu sprechen (Cramer 5-62). Fichtes Verdienst liegt hier in der Transkription, Übersetzung und Bearbeitung des Interviews, vor allem aber auch in der Anordnung der Texte. So lässt das Nebeneinanderstellen der drei Lebensgeschichten Erkenntnisse zu, die über das im einzelnen Interview Gesagte hinausgehen und erst durch die Konstruktion des Nebeneinander-Stellens entstehen. Es zeigt sich, dass Eddie von Interview I und Bettina von Interview III ein Paar sind, das kurz vor der Eheschließung steht. Die beiden Interviews interferieren auf dieser faktischen Ebene, während die sich in der Interaktion zwischen Interviewer und Respondenten entfaltende jeweilige Lebensgeschichte in ihrer Singularität bestehen bleibt. Gleichzeitig bildet die Faktizität der angestrebten Heirat eine Rahmung für das mittlere Interview. Die Gesprächspartnerin hier ist Lil Picard, deren langjähriger Ehemann verstorben ist, wie sich im Verlauf des Interviews herausstellt. Diese mittlere Interview-Sequenz wie-

13 Vgl. beispielsweise die Montagetechnik, mittels derer Stimmen aus verschiedenen Orten, Zeiten und Kulturen miteinander ›dialogizieren‹, bei Michael Taussig, Shamanism, Colonialism, and the Wild Man: A Study in Terror and Healing (1987). 14 Der erste Teil in »II. Dells Tod« erschien zuerst unter dem Titel »So frei wie hier kann man nirgendwo untergehen« in konkret (25.3.1976).

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derum ist eine stark gekürzte und bearbeitete Version der Gespräche, die Fichte in dem Band Lil’s Book eigens zusammengestellt hat. Hat sie dort die Funktion, die Lebensgeschichte von Lil Picard zu profilieren, gewinnt sie in der hier montierten Variante vor allem kontrastiven Charakter gegenüber den Rahmen-Interviews. Was macht also Fichtes ethnographische Interviews zur Kunst und nicht zu einer Fortsetzung kolonialer Machtausübung? Sicherlich spielt eine Rolle, dass Fichte die Sprache des Interviewten erlernt, dass er sich eingehend mit dessen kulturellem Umfeld beschäftigt hat, dass er sich Zeit nimmt, dem Befragten die Chance zur Entfaltung gibt und eine Balance zwischen Neugier und Diskretion wahrt. Entscheidend aber scheint mir, was Böhme (kritisch) »die libidinöse Besetzung dessen, was der Andere sagt« nennt, bis hin zur direkten »erotische[n] Besetzung des Anderen« (34). Wissens-Eros als Schutz vor Zerstörung? Oder aber Löschung der Differenz infolge des VerschmelzungsWunsches? Ich denke, das lässt sich nur von Fall zu Fall beantworten und auch dann nicht einhellig. Was einen Text wie Lil’s Book in dieser Hinsicht so gelungen erscheinen lässt, ist das sympathetische Fließen zwischen Erforscher und Erforschtem, zwischen Fichte und Picard. Hier kommt Fichtes Kunst des Sprechenlassens zum vollen Ausdruck. Das Kunststück beruht aber in entscheidendem Maße auf Picards Bereitschaft, Fichte bei der selbstreflexiven Befragung zur Seite zu stehen. Ihre Rückfragen zeigen, dass sie möglichst nah an Fichtes Erwartungshaltung kommen möchte. Man könnte auch, anders formuliert, sagen, dass Fichtes voyeuristisches Begehren und Picards eigener Exhibitionismus produktiv ineinandergreifen. Oder aber und noch pointierter ließe sich spekulieren, dass die Picard-Fichte-Konstellation deshalb so reibungslos harmoniert, weil einerseits die Gemeinsamkeiten der beiden größer sind und andererseits die erotische Besetzung geringer ist als in den (übrigen) Interview-Konstellationen der Schwarzen Stadt. Besonders auffällig und kontrastiv zu den Picard-Gesprächen sind hier die Interviews mit Michael Chisolm, deren Fluss immer wieder zu kollabieren droht, sobald Fichte die Befragung vom Gegenstand der Kunst zum Bereich der Sexualität verschiebt. Den ausführlichen Erläuterungen Chisolms zu dessen kunstpädagogischer Tätigkeit in Gefängnissen folgend, bringt Fichte scheinbar unvermittelt das Thema »Sex in den Gefängnissen« in das Gespräch ein. Chisolm: »Darüber weiß ich nichts.« Oder auf Fichtes Frage, inwieweit sich die Gay Lib-

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eration Movement und die Black Liberation Movement gegenseitig beeinflussten, antwortet Chisolm barsch: »Sie haben sich nie beeinflusst.« Auch ein Nachhaken bringt Fichtes Neugier nicht weiter. Fichte: »Ich habe den Eindruck, dass die Schwarzen die Schwulen jetzt besser tolerieren als noch vor drei Jahren und dass die schwarzen Schwulen weniger Komplexe haben als früher.« Chisolm: »Das weiß ich nicht« (Fichte, »Michael Chisolm« 58-59). Und doch: Ein zwei Jahre später aufgezeichnetes Interview im gleichen Band dokumentiert zweierlei: zum einen, dass Fichtes forschende Ausdauer Erfolg hat, und zum anderen, dass Die Schwarze Stadt trotz oberflächlicher Disparität einer kausal-temporalen Progressionslogik folgt. Analog zu dem in der deutschen Transkription vollzogenen Wechsel vom distanzierten »Sie« zum intimen »Du« zeigt sich Chisolm schließlich bereit, auch über seine eigenen homosexuellen Erfahrung zu sprechen und somit Fichtes Erwartungen zu entsprechen.

S CHWARZ IV: G RAFFITI

ODER

M URAL ?

»Es sind Labyrinthe der jahrhundertealten Verletzung. Übergriffe,

Angriffe,

Eingriffe,

Greifen. Wann weiß ich genug?« (Hubert Fichte, »Auch ich bin ein Besucher« 64)

Mit Michael Chisolm führt Fichte drei Experten-Interviews, die das Feld schwarzer Kunst in New York abstecken. Ihm stellt Fichte die bereits zitierte Frage: »Wie soll ich die Afroamerikaner in New York nennen? Black, Negro, Colored? Was ist am wenigsten beleidigend?« Chisolms Antwort hierauf: »Für mich ist Afroamerikaner die genaueste Bezeichnung. Black ist eine Rasse. Negro und Black ist das Gleiche. Negro ist ein Wort des weißen Mannes, der Portugiesen von 1462. Ich sage afroamerican […]« (»Michael Chisolm« 38). Fichte stellt Chisolm vor als »Afroamerikaner aus New York, Maler, Fotograph,

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Kunstpädagoge und Gastrosoph« (ebd. 37).15 Die Interviews sind im Frage-Antwort-Stil transkribiert. Immer wieder sucht Fichte Chisolm aus der Reserve zu locken, ihn zu subjektiven Aussagen über schwarze Kunst zu verleiten. Provokativ ist hierbei sein Insistieren auf dem von Chisolm als politisch inkorrekt ausgewiesenen Wort schwarz. So transportiert Fichte beispielsweise geschickt das Thema der Hautfarbe auf das Gebiet der Kunst und fragt hier nach der Verwendung der Farbe Schwarz: »F: Der Gebrauch von Schwarz? Ch: Schwarz ist keine Farbe. F: Keine Farbe ist eine Farbe. Ch: Go on! F: Es scheint Ihnen schwerzufallen, über Schwarz zu sprechen. Ch: Black ist kein Wort. Black ist etwas Absolutes.« (Fichte, »Michael Chisolm« 61)

An anderer Stelle nimmt Fichte dieses Spiel mit der Farbe Schwarz – »Begriffslabyrinthe« sagt er dann dazu (Fichte, »Auch ich bin ein Besucher« 64) – wieder auf, diesmal aber nicht im Kontext eines Interviews, sondern in Gestalt einer Assoziationskette selbstreflexiv kommentierend: »Gitter hinter Gittern und dahinter, da durch ein Sgraffito, ein rauhes, inoffizielles Wandbild. Einzelne Stenogramme der Seele, wütende Farbgebung und doch ein bedrohliches Gesamtbild, dessen jedes Detail man als Pissarro, Seurat, Miró, Sam Francis, Pollock, Twombly, Frankenthaler, Lil Picard aussondern könnte, heftiger, phantasievoller, sensibler als Pollock und Frankenthaler. Für dies wilde Gesamtkonzept fehlt uns noch das ästhetische Kriterium.« (Fichte, »Auch ich bin ein Besucher« 71)

Fichtes Interesse – angeregt, so scheint es, durch die Gespräche mit Künstlern wie Chisolm – gilt besonders der schwarzen Kunst im öffentlichen Raum, den murals und graffitis. Keineswegs werden diese monolithisch als künstlerische Geste der Befreiung verstanden, wie-

15 Fichte hat mit Chisolm als Co-Autor bereits ein schmales Heft, Black Guide New York, zusammengestellt als Beihefter des erwähnten TWENArtikels (vgl. hierzu Braun, »In der Schwarzen Stadt« 163, 172-173).

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wohl sie eine alternative Kunst zunächst darzustellen scheinen (vgl. Heinrichs 96). So lehnt gerade Chisolm zumindest in seinem ersten Interview die Graffitis als »visuelle Umweltverschmutzung« ab, während Fichte in ihnen »Stenogramme der Seele« erkennt (»Michael Chisolm« 54; »Auch ich bin ein Besucher« 69). Die Spannung der Stadt zeigt sich auch an dieser Stelle: Es handelt sich hier um einen Kampf anderer, aber nicht minder heftiger Art. Die Schlachtfelder sind Mauern, Wände oder Straßen: Es ist ein ästhetischer Kampf zwischen den Graffiti-Banden und den Advokaten der Mauerbilder. Die Murals als sich kollektiv und öffentlich artikulierende politische Manifestation stehen vor allem für die schwarze Revolte der 60er Jahre, die Graffitis hingegen für den schwarzen Protest gegen eine mittlerweile zur »Beschäftigungstherapie« verkommenen, unzeitgemäß gewordenen Kunstform der Murals (vgl. Braun, »In der Schwarzen Stadt« 180). Graffiti kommt von Sgraffito, »der Wandkratzmalerei der Renaissance«. Mauermalerei oder »soziale Fresken« dagegen, so Fichte, erinnern »bestenfalls an die Fresken der mexikanischen Revolution […], schlimmstenfalls an die engen Vorlagen enttäuschter Kunstpädagogen« (»Auch ich bin ein Besucher« 68-69). Es geht Fichte – trotz seiner unzweifelhaften persönlichen Vorliebe für die Graffitis – jedoch nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen und Partei für eine Banden-Seite zu ergreifen. Letztlich weist Fichte den Krieg »zwischen Bruder und Bruder« als hohle Ideologie aus, wenn sich die Kontrahenten auf identische Wurzeln berufen, seien diese Leonardo da Vinci oder der chilenische Sozialismus. Fichte selbst geht sogar weiter – und hier offenbart sich sein wahrer epistemologischer Impetus –, indem er die Ursprünge der ersten Zeichen an der Höhlenwand, ob nun Graffiti oder Mural, in Afrika lokalisiert (»Auch ich bin ein Besucher« 91). Das bedeutet, dass er die Renaissance der Mauerbilder, wie sie in den USA von Afroamerikanern ausging, in Zusammenhang stellt »mit den Hausbemalungen in Nubien, wo die Yoruba hergewandert sein sollen, mit den Fresken der Yorubatempel in Nigeria, mit den Malereien am Königshof von Abomey und ihren Spiegelungen in Haiti und Brasilien« (ebd. 92). Fichtes Konzeption einer schwarzen Kultur bzw. einer Kultur der Schwarzen Amerikas, wie er sie nennt, sieht demnach neue Formen vor, die nicht imperialistisch sind, sondern aus der Perspektive der Unterdrückten Kunst und Psychologie verbinden, indem eine Auseinandersetzung mit Umwelt und Geschichte stattfindet. Daher kann

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diese neu formierte Kunst nie kontextfrei und harmonisch sein, sondern sie ist eine »synkopische, eine schräge Spiegelung der Künste Afrikas und Europas« (»Totengott« 13-14) und damit ist sie »gesellschaftlich wirksam und erst zuletzt ästhetisch in einem Rahmen an die Wand zu hängen« (»Totengott« 15).

S CHWARZ V: S CHWARZER ATLANTIK – S CHWARZE U TOPIE »Afroamerika: Die Hungernden im Nordosten Brasiliens, die Epidemien auf Haiti, die Arbeitslosen von Trinidad, die Junkies von Bronx – ist es nicht zynisch von Kultur zu reden? Nein. Es wäre zynisch, nicht von Kultur zu reden. Denn was ist das für eine Menschlichkeit, die den Massen der Dritten Welt nichts anderes zubilligt als Fabrikanlagen, Milchpulver, Dolmetscherkurse und abgelegte Freizeitkleidung – wenn wir die Grazie der Afroamerikaner verleugnen, ihre Eleganz, ihre barocken Sprachen, die Wirksamkeit ihrer Therapien und die Gewalt ihrer Religion? Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, bemerkte ein spätbürgerlicher Dramatiker, der im Krieg für Hollywood ein Drehbuch verfasste; die Afroamerikaner geben uns eine diffizilere Lektion – dass ihre Strukturen fähig sind, die Gierigkeit des Kapitalismus zu durchdringen und zu überwinden.« (Hubert Fichte, »Auch ich bin ein Besucher« 99)

Fichte entwirft in Die Schwarze Stadt tentativ das Modell einer afroamerikanischen Kultur als Gegenentwurf zur abendländischen Historiographie. Diese anthropologische Rekonzipierung hat ihre Entsprechungen in ethnologischen Debatten gefunden, wie sie in diesem Zusammenhang in forcierter Form bereits durch Frantz Fanon in den 1950ern diskutiert und durch Paul Gilroys Begriff des »Schwarzen Atlantik« weitergeführt wurden.

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Paul Gilroys Anliegen ist es zu zeigen, dass es eine euro-amerikanische Moderne ohne den »Schwarzen Atlantik« gar nicht gäbe. Die Räumlichkeit des Atlantiks verdeutlicht freiwillige wie unfreiwillige Migrationen, spielt auf koloniale, neokoloniale und postkoloniale Verhältnisse an. Das Bild des Ozeans zwingt zu einer interkulturellen Analyse der »counterculture of modernity«, wonach der Gehalt an Terror und Gewalt am Entstehen eurozentrischen Kulturschaffens und Staatenbildung im Zuge der Aufklärung und Modernisierung aufgedeckt werden soll. Es geht hierbei gerade nicht um die Umkehrung, die nun die Weißen zu Barbaren abstempeln würde, sondern um die Teilhabe der Schwarzen an jener Kulturproduktion und Nationenbildung. Gilroys Begriff von Schwarzheit deckt sich – wie der Fichtes – nicht mit dem Aspekt der Hautfarbe, auch wenn die erzwungene afrikanische Diaspora, also die Sklavenverschleppung, Gilroys Ausgangspunkt bildet. Ihn interessiert darüber hinaus vielmehr, inwieweit faschistische Ideologien die Basis kolonialer Interessen bildeten. Daher müssen auch die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Anti-Schwarzheit, Anti-Semitismus und anderen Rassismen erforscht werden.16 Die Vorstellung einer Polyphonie schwarzer Kultur verabschiedet sich hierbei zwar vom essentiellen schwarzen Subjekt und ist in der Lage, die Überschneidungen von beispielsweise modernistischer Hochkultur und schwarzer Populärkultur ästhetisch zu erfassen. ›Rasse‹ als kulturelles Konstrukt zu betrachten bedeutet aber auch, die Gefahren eines real existierenden Rassismus leichter zu übersehen. Es gilt demnach, an die historischen Erfahrungen von Sklaverei, gesellschaftlicher Diskrimi-

16 Gilroy bemüht sich hier um eine differenzierte Position, indem er sich einerseits ontologisch-essentialistischer Tendenzen widersetzt, wie sie den »brute pan-Africanism« auszeichnen, bei dem dem schwarzen Künstler eine kulturell führende Position zugestanden wird. Andererseits räumt Gilroy ein, dass auch ein pluralistischer Standpunkt nicht unproblematisch sei. Er bezeichnet den liberalen Pluralismus als Strategie, in der Schwarzheit sich nicht durch eine unitarische schwarze Gemeinschaft, sondern

vielmehr

durch

interne

Differenzen

(Klasse,

Sexualität,

Geschlecht, Alter, Ethnizität, Ökonomie, politisches Bewusstsein) auszeichnet: »The difficulty with this second tendency is that in leaving racial essentialism behind by viewing ›race‹ itself as a social and cultural construction, it has been insufficiently alive to the lingering power of specifically racialised forms of power and subordination« (32).

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nierung und kultureller Marginalisierung zu erinnern, erzwungene Identitäten und Inferioritätszuschreibungen abzustreifen und kulturellen Erscheinungsformen wie ›Kreolisierung‹, ›Synkretismus‹, ›Hybridisierung‹, ›Mestizentum‹ auf ihren rassistischen Gehalt hin zu hinterfragen.17 Gilroys von postmoderner und postkolonialer Theorie beeinflusster Ansatz ist undenkbar ohne Pionierleistungen wie Frantz Fanons Analyse kolonialer Mechanismen. Einerseits benennt Fanon die Gewalt, die sich in der rassistischen Charakterisierung von Schwarzheit abzeichnet. Andererseits erkennt er die Fiktionalität, die sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt und sich in der Bereitschaft der kolonisierten Schwarzen zur Assimilation an die privilegierte Kultur manifestiert. Der Titel seines bedeutenden Werkes Peau Noire, Masques Blancs zeigt diese auf Opposition angelegte fundamentale Ambivalenz. Fanons Argumentation führt weg von einer Diskussion um rassistische Stereotypisierung hin zu einer Beschreibung rassistischer Differenzen als real existierende ökonomische und politische Faktoren im Leben der Kolonisierten. Konzepte der Entfremdung und Marginalisierung treten hierbei in den Vordergrund. Er beschreibt den Akt der Kolonisierung als einen diskursiven Vorgang, im Zuge dessen die manichäischen Dichotomien wie weiß-schwarz, wahr-falsch, gut-böse sich etablieren konnten mit der jeweiligen, generell akzeptierten Privilegierung des ersten Pols. Und genau hier – in diesem mystifizierenden diskursiven Geschehen – lokalisiert Fanon das Potential zum Widerstand. Seine Analyse endet mit einer großangelegten utopischen Vision eines Ineinandergreifens von Eigenem und Fremden, von Schwarz und Weiß, oder besser: einem Auflösen dieser kategorialen Zuschreibungen: »I am not a prisoner of history. […] In the world through which I travel, I am endlessly creating myself. […] I am not the slave of the Slavery that dehumanized my ancestors. […] I, the man of color, want only this: That the tool never possess the man. That the enslavement of man by man cease forever. That is, of one by another. That it be possible for me to discover and to love man, wherever he may be. The Negro is not. Any more than the white man. […]

17 Vgl. hierzu auch Sollors, The Invention of Ethnicity.

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Why not the quite simple attempt to touch the other, to feel the other, to explain the other to myself?« (229-231)

Der sich in dieser Schlusspassage artikulierende Wunsch, den Anderen zu fassen/umfassen/erfassen führt zurück zu Fichte und dessen »Freund Herodot«.

S CHWARZ VI: D IE S CHWARZE ANTIKE »Die Sehnsucht nach dem schönen schwarzen [sic].« (Hubert

Fichte,

»Mein

Freund

Herodot« 353)

Fichte macht die Männerschönheit als eines der großen Motive im Werk Herodots aus, »vielleicht war es überhaupt dies Motiv, das ihn durch die Welt zog und an den Griffel«, so spekuliert Fichte (ebd. 353). »Mein Freund Herodot«, in Fichtes Homosexualität und Literatur I bereits veröffentlicht, ist in Die Schwarze Stadt noch einmal abgedruckt. Das ist sinnvoll einerseits insofern, als der Text genau zu der Zeit in New York geschrieben wurde, in der auch die anderen Texte des Bandes entstanden. Andererseits kommentiert, ja konterkariert der Essay inhaltlich wie generisch die Interviews und verschiebt dadurch den im ursprünglichen Publikationskontext forcierten schwulidentifikatorischen Impetus18 hin zu einer meta-ethnographischen Fremdlegitimierung. Der Herodot-Essay setzt mit dem Kauf einer Sonntagsausgabe der New York Times ein, was Fichte zunächst dazu bringt, die kaleidoskopartige Vielfalt all derer zu bemerken, die um ihn herum ebenfalls diese Zeitung in der U-Bahn lesen, von der Negerin über den Ledertypen bis zum Polizisten (»Mein Freund Herodot« 327). Ohne Umschweife stellt er die 630 Seiten dieser wöchentlich erscheinenden New York Times-Ausgabe den 632 Seiten griechischen Textes von Herodots Lebenswerk gegenüber. Seine Juxtaposition von Antike und Gegenwart führt ihn zur Frage nach der ethischen Möglichkeit von

18 Vgl. zu einer solchen Lektüre Sabine Röhr.

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Forschung. Die Paradoxie, die Fichte bei Herodot diesbezüglich konstatiert, macht er auch für sich selbst geltend: »Forschung. Aufdecken. Es ist ein zerstörerischer Reflex. Ohne ihn höre ich auf zu existieren. Ich erkenne ihn schon bei Herodot – den Widerspruch zwischen Wissen und Handeln, Liebe und Erkennen, Aufklärung und Magie […].« (Ebd. 329)

Der Zwiespalt resultiert aus dem doppelten Bewusstsein, dass Wissenwollen immer auch Zerstörung bedeutet – das hat nicht zuletzt die europäische »Geschichte der Unempfindlichkeit« (ebd. 342) im Zeichen imperialistischen Forschungsinteresses bewiesen –, und dem Bekenntnis, dass das eigene Wissenwollen lebensnotwendig ist, zumal aus einem sexuellen Bedürfnis heraus. Fichte benennt Herodots literaturethnologisches Verfahren der Trennung von Bericht und Kommentar als zugleich journalistisch und poetisch und damit als ein genuin modernes oder gar avantgardistisches (ebd. 329, 347). Herodot wird unversehens zu einem schwarzen Autor, wenn Fichte die »Exzentrik« seines Schreibstils mit »außereuropäisch«, »jazzartig«, »riffartig« und vor allem »synkopisch« kennzeichnet (ebd. 335), mit Begriffen also, die Fichte in anderen Kontexten bereits seinem Verständnis von schwarzer Kunst zugeordnet hat. So steht die Synkope als Anomalie sowohl metrischer Art (Ausfall einer Senkung) wie musikalischer Art (Akzentverlagerung) für den prekären kulturellen Status schwarzer Kunst schlechthin: »Afroamerikanische Kultur«, so Fichte in »Totengott und Godemiché«, »ist eine synkopische, eine schräge Spiegelung der Künste Afrikas und Europas« (13). Mit Herodot wird auch die Antike als solche als eine schwarze umgedeutet. Damit situiert sich Fichte in einem diskursiven Feld, das sich einer vorherrschenden Rezeption der Antike entgegenstellt (vgl. Cramer 3031). Martin Bernal zeigt in seiner Studie Schwarze Athene, dass die griechische Antike im Zuge der im 18. Jahrhundert einsetzenden Wirkungen neuer Rassenlehren von afrikanischen und asiatischen Einflüssen »gereinigt« und als »arisches« Modell installiert wurde. Wollte die europäische Romantik die Antike zur Wiege Europas deklarieren, so konnte nicht toleriert werden, dass Europa eine Mixtur aus ganz unterschiedlichen Rassen sein soll:

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»Für die Romantiker und Rassisten des 18. und 19. Jahrhunderts war der Gedanke einfach unerträglich, dass Griechenland, das für sie ja kein bloßes Anhängsel Europas, sondern geradezu die Wiege der europäischen Kultur war, das Ergebnis der Mischung einer zwar europäischen, aber kulturell unterlegenen Urbevölkerung mit kulturell überlegenen afrikanischen und vorderasiatisch-semitischen Kolonisten gewesen sein soll. Deshalb musste das antike Modell gestürzt und durch etwas Akzeptableres ersetzt werden.« (Bernal 33)

Fichte folgt mit dem Aufruf Herodots diesem Modell extremer Arisierung dezidiert nicht, das nach Bernal noch immer fast ausschließlich die heutige Rezeption der griechischen Antike beherrscht. Herodots Schilderungen afrikanischer Kultur führen in Fichtes Interpretation zu seinen eigenen Beobachtungen interkultureller Verschränkungen von afrikanischen, europäischen und afroamerikanischen Traditionen. Fichtes Postulat geht dahin, statt eines exotischen Anderen eine immer schon vorhandene Überschneidung von Eigenem und Fremden anzuerkennen. Herodot lebte und schrieb auf eine Weise, die Fichte für sich selbst beansprucht. Das Überschreiten geographischer Grenzen wird von einer ästhetischen wie sexuellen Neugier geleitet, die Sehnsucht nach dem »schönen schwarzen« ist Auslöser der Reisebewegung wie auch Inspirationsquelle zum Schreiben: »Nicht: Wissen ist Macht! – sondern: Reisen ist Wissen. Sex. Der erste Prosaschriftsteller schrieb die erste Psychopathologia Sexualis – graziöser als Freud legt Herodots Text nahe, dass, da man des Sex wegen reist, Reisen ein sexuelles Bedürfnis sei – schreiben und aufdecken!« (Fichte 330)19

19 Reisen auf der Suche nach Männerschönheit ist ein Topos schwuler Literatur: der Orient, die Südsee, Afrika, das Mittelmeer, diese und andere ferne Regionen haben Schriftsteller wie Herman Melville, E. M. Forster, André Gide, Jean Genet, Paul Bowles, William Burroughs – um wirklich nur ein paar der prominenteren zu nennen – fasziniert. Die von Edward Said beschriebenen exotisierenden Projektionen des Orientalismus liegen bei diesen Autoren wie auch bei Fichte immer sehr nah an der Oberfläche (vgl. Said, Orientalism). Dirck Linck spricht hierbei auch von »Wahlheimaten«, die in geographisch wie historisch »entlegenen Paradiesen« gesucht wur-

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Wie anderswo, inszeniert sich Fichte auch hier selbst als schwarzer Autor, aber auf eine besondere Weise:

S CHWARZ VII: W EISS

IST

S CHWARZ »Ich bin kein Amerikaner. Aber ich bin ganz schwarz – das sieht man nur nicht.« (Hubert Fichte, Der Kleine Hauptbahnhof 69)

Schwarz ist, wenn man so will, die Fichte’sche Formel für den Orgasmus und das Orgiastische. Fichte gesteht sich die Möglichkeit zu, zumindest augenblickslang und zumindest bezogen auf die sexuelle Ekstase, die er mit Schwarzen erlebt, sich selbst ins Schwarze zu verwandeln.20 Was bedeutet das für den Kontext der Schwarzen Stadt? Ich möchte den engen Bezug von Schwarzheit und Eros, wie er sich z. B. deutlich in der Figur des schwarzen Matrosen als Ikone des Begehrens in Versuch über die Pubertät manifestiert, hier auf die Ebene der aus den Texten der Schwarzen Stadt extrapolierbaren Konzeption einer schwarzen Ethnographie transponieren. Es ist zunächst verlockend, die in dem Versuch der Pubertät beschriebene erotisch-fantasmagorische ›Einverleibung‹ des Schwarzen auch für das ethnopoetische Verfahren der Schwarzen Stadt geltend zu machen. Dort hieß es, das Bild des lächelnden Negers fülle ihn an bis unter die Fingerkuppen, »wie er seine Uniform anfüllt und ich ihn anfüllen möchte, dränge ich in ihn ein durch Darm, Milz, Leber bis ins Gehirn« (Versuch 296). Es wäre ein Leichtes, jene erotische Momentaufnahme, die dort magisch-utopische Qualität besitzt, als Kolonial-Gestus zu interpretieren und auf die Befragungs-Situation zu übertragen, wie sie Großteile in Die Schwarze Stadt kennzeichnet. Das würde jedoch zu einem epistemologischen Kollaps führen, da dies eine vor-(ver)urteilende

den (132-133). Zum Thema schwuler Reiseliteratur siehe auch Poole, »DeMaskierung und Re-Maskierung« und »Cannibal Cruising«. 20 Vgl.

hierzu

differenzierter

Weinbergs

Lektüre

in

dem

Kapitel

»Homosexualität und Literatur«, worin der »sexuelle ›Höhepunkt‹ zum Modell jeder Erkenntnis im Fichte’schen Sinne« wird (286-320, hier 291).

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Lektüre im Kurzschluss von schwarzer Stadt/schwarzen Menschen/ schwarzer Kunst/schwarzer Magie/schwarzem Begehren suggerierte.21 Ich möchte daher anders vorgehen und behaupten, dass Fichtes Begehren nach einer Verschmelzung von Schwarz und Weiß in Die Schwarze Stadt auf zwei Ebenen stattfindet und dass beide jenseits einer konkreten körperlich-sexuellen Vereinigung angesiedelt sind. Zum einen birgt die schwarz/weiß-Konfiguration, wie sie die meisten Interviews auszeichnet, eine symbolische Vereinigung im Frage-Antwort-Spiel. Zum anderen öffnet die Textzusammenstellung sich in poetologischer Hinsicht auf eine darüber hinausweisende Dimension. Könnte man das Interview noch auf eine aktiv/passiv-Modalität analog der eben zitierten analen Penetration als im doppelten Sinne Liebesakt und Todesstoß reduzieren und damit die Bipolarität von Schwarz und Weiß weiterhin als gegeben postulieren, so wird diese Dichotomie durchbrochen im Akt einer schwarzen Selbst-Behauptung: Fichte als Arrangeur der Schwarzen Stadt nimmt in der Geste der Vereinigung von fremden Stimmen mit seiner eigenen als Glossographie Schwarzheit für sich selbst in Anspruch. Damit beansprucht Fichte eine kulturelle Position, die mit dem Stigma der Unterdrückung und Verfolgung versehen ist. Man kann hier durchaus von einer Form »kulturübergreifenden Schreibens« sprechen.22 Bei Fichte lässt sich die doppelte diskriminierende Erfahrung als Schwuler und Halbjude für eine solche transkulturelle Schreibweise geltend machen.23 In Bezug auf die Qualität der

21 Heinrichs scheint mir einen derartigen Kollaps zu produzieren, wenn er hier den Exotismus-Vorwurf Fichte anträgt: »Schwarze Magie und schwarze Messe, schwarze Menschen in einer schwarzen Stadt – Fichte kann sich den darin evozierten Bildern der Fremdartigkeit, des Verruchten und Verdorbenen nicht entziehen. Es ist nicht nur ein freiwilliger Schritt zur Erfahrung und Erkenntnis der anderen Kultur, sondern auch ein Stück unfreiwilligen Involviertseins in eigenen undurchschauten Wünschen, Phantasien und Projektionen, Lüste und Begierden. Darin liegt auch ein Moment von Verdammnis oder, wenn man so will, von Schicksal« (102). 22 Vgl. sich hier vor allem auf ältere Autoren wie Gide und Forster beziehend Aldrich (14). 23 Anlässlich der Einladung der Freien Akademie der Künste in Hamburg wenige Monate vor seinem Tod schreibt er in seinem Ablehnungsschreiben an den Präsidenten der Akademie, Armin Sandig (welcher Fichte

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Schwärze erlaubt dies weiterreichende Schlussfolgerungen. Bei Fichte figuriert Schwarz nicht mehr kunstästhetisch betrachtet als Unfarbe, metaphysisch betrachtet als Farbe der Trauer und des Todes oder anthropologisch betrachtet als Farbe des Primitivismus und der Unterdrückung (vgl. Raphael; Vollmar). In all diesen Denkrichtungen ist eine Dialektik angelegt, in der Weiß den jeweils anderen Pol einnimmt: Licht, Schöpfung, Aufklärung. Fichte spielt mit dieser Dialektik in der Absicht sie aufzulösen. Das Beharren auf einer Diversifizierung von Schwarz bis in die konkrete Begrifflichkeit hinein, die sich beispielsweise in der Diskussion um Afroamerikaner und Afrokariben oder um »rassistische Neger« (Fichte, »Keine Beispiele mehr« 270) niederschlägt auf der einen, und die Behauptung, dass Weiß nicht nur die Farbe der Kolonialherrschaft, sondern am Beispiel der Juden auch die der Opfer ist auf der anderen gegnerischen Seite, machen das in Die Schwarze Stadt entworfene ethnographische Programm deutlich. Lil Picards kindliche und ablehnende Verblüffung ob ihrer Stigmatisierung als Jüdin (Fichte, »Ehen in New York« 127) lässt sich in diesem Zusammenhang als Schlüsselszene für ihre künstlerische Laufbahn wie als Metakommentar zu Fichtes Selbst-Verständnis entziffern: Lil, das Kind, ist in Fichtes affirmativer Formulierung schließlich »Lil, die alte New Yorker Jüdin« (»Keine Beispiele mehr« 264).

S CHWARZ VIII: W EISSE F LECKEN Anders als Lil’s Book, dem anderen New Yorker Porträt, besteht Die Schwarze Stadt nicht nur aus Interviews. Der Band trägt nicht umsonst den Untertitel Glossen. Hans-Jürgen Heinrichs moniert die generisch zu eng gefasste Kategorie der Glosse, meint, sie würde der Formenvielfalt nicht gerecht (98).24 Doch ist die Glosse keineswegs nur die im heutigen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung für einen feuilletonistischen Kurzkommentar mit polemischer Stellungnahme zu Tagesereignissen. Sie ist auch eine hämisch-spöttische ›Randbemerkung‹ und

schließlich doch noch gewinnen kann): »Ganz sicher bin ich kein jüdischer Schriftsteller und kein homosexueller Schriftsteller – ich bin ein Schriftsteller, der homosexuell ist und Halbjude« (zit. in Teichert 345). 24 Siehe hierzu kritisch auch Braun, der die Bezeichnung als »Leerstelle« liest (»In der Schwarzen Stadt« 178).

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überdies – vom griechischen glossa (Zunge, Sprache) abgeleitet – ein unverständlicher und erklärungsbedürftiger Ausdruck sowie die tatsächlich ausgeführte Erklärung eines solchen. Dieser Übersetzungsakt kann zwischen den Zeilen, kontextuell oder marginal stattfinden. Die antiken Philologen verfassten seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. Glossen und sammelten sie in Glossographien als Lektürehilfen früherer Klassiker. Meiner Meinung nach gereicht die gerade in Bezug auf ihre antike Herkunft ausgedehnte Begrifflichkeit der Glosse durchaus den synkretistischen Ansprüchen von Fichtes Forschungsästhetik. Die zeitgenössische Glosse ist hier wie ein kulturelles Palimpsest behandelt. Schwarze Kunst ist nicht die Oberfläche, die wir zu sehen meinen. Schichten über Schichten haben sich angereichert zu Werken, die zwar in den Hochburgen westlicher Kunstgefilde ausgestellt sein mögen, deren Geschichte aber erst entziffert sein will. »Schichten statt Geschichten« hat Fichte schon in Versuch über die Pubertät programmatisch sein eigenes Schreiben charakterisiert (294). In Die Schwarze Stadt heißt es: »Perfekte Oberflächen zeigen deutlich, was darunter liegt« (»Interview mit Richard Avedon« 32). Besonders evident macht dies Fichte am Beispiel der Mauerbilder. Dort wird Fichtes Programm der Verknotung von antiker, afrikanischer, europäischer und afroamerikanischer Kunst als Konzept einer ›schwarzen Kunst‹ sichtbar. Und hier kommt nun endlich auch der zweite Begriff zum Tragen, der meinen Titel bestimmt: Kassiber. Fichte benutzt ihn zusammen mit Palimpsest in seiner Glosse zu James Van Der Zee (»Die geklebten Götter« 280). Bezeichnend die Etymologie der beiden Worte: Während die Herkunft von Palimpsest auf die griechische Antike verweist,25 bezeichnet der hebräisch-jiddische Stamm von Kassiber ein

25 Laut Stierle meint Palimpsest »von der Sache her den beziehungslos, durch den bloßen Zufall des gemeinsamen Datenträgers hergestellten textuellen Zusammenhang« (149). Genette wiederum dient der Begriff für ein Modell von ›Hypertextualität‹, der Rückbeziehung eines ›Hypertextes‹ auf einen vorangehenden ›Hypotext‹ (vgl. Palimpseste); und Simo gebraucht Palimpsest, »um ein Verfahren Fichtes zu charakterisieren, das darin besteht, zwei verschiedene Sachverhalte durch den mehr oder weniger expliziten Verweis auf ihre homologische Struktur oder ihr analogisches Erscheinen sich wechselseitig erhellen zu lassen« (Interkulturalität 153).

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anderes, verschwiegenes Altertum. Nicht umsonst bedeutet Kassiber heimliche, beschrieben-gemalte Botschaften, die Gefangene untereinander oder mit der Außenwelt austauschen. Fichtes eigenes Außenseiter-Sein lässt ihn »nicht zur Identität des Opfers werden, sondern verwandelt es in die Poduktivität [sic] der Randzonen« (Böhme 19). Für das Projekt der forschenden Literatur setzt Fichte sich selbst ein, seinen Körper, seine Sinne, seine Sexualität. Diese Erotologie, um Gert Mattenklotts Schlagwort aufzugreifen (vgl. Mattenklott), bei der sich der Autor selbst zum ›Organ‹ des Erkennens macht, trifft daher in modifizierter Form auch auf die Konzeption der Schwarzen Stadt zu. Es ist dies die »Sym-Pathie«, die Empfindlichkeit, aufgrund derer sich aus dem Erleben des Fremdseins im Eigenen das ethnographische Interesse entwickelt und an die Kunst des Anderen anteilnehmend annähert. Hierbei ist in der Ethnographie der Schwarzen Stadt, die zum Ausgangspunkt die Kunst der Schwarzen im jetztzeitigen New York nimmt, das Präsenz immer auch durch Erinnerung bestimmt, auch hier wird die »Gegenwart des Jetzt […] ständig von Vergangenheit unterschichtet« (Böhme 20). Fichte fragt: »Sind das ethnologische Aussagen?«, die er hier zusammengetragen und -gestellt hat. Will man Fichtes Ethnographien unter eine »Poetik der weissen Flecken« subsumieren, so mag der Eindruck entstehen, als dokumentiere Fichte tatsächlich »in allen durch Befragungen gewonnen Büchern die eigenen Niederlagen« (Böhme 41).26 Wenn Fichte jedoch von seinen Aufzeichnungen als »Aufzeichnungen von Irrtümern, Fehlschlüssen, Kurzschlusshandlungen« (Xango 119) spricht und selbst ›weiße Flecken‹ in seine Textur webt, so öffnet sich hier meines Erachtens gerade nicht ein »Raum des Ungesagten, an dem das Fragen endet und augenblickslang der Text Eintritt ins Fraglose« (Böhme 41-42). Statt spekulativer Mystifizierung fordern die Texte, wie sie in Die Schwarze Stadt zusammengestellt sind, vielmehr auf, sich nicht von den ›weißen Flecken‹ täuschen zu lassen. Wie unter Dos Passos’ glitzernden Oberflächen der Wolkenkratzer sich schon die Konfigurationen von Schwarzsein verbargen, so zeigen nämlich auch bei Fichte »perfekte Oberflächen […] deutlich,

26 Böhme zitiert hier Fichtes Kommentar zu Cézannes später Malerei, bei der dieser »weisse Flecken« als Hinterlassenschaft seiner »Niederlagen auf der Leinwand« zurückließ (Fichte, Xango 119).

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was darunter liegt« (»Interview mit Richard Avedon« 32) und was – modellhaft an murals und graffitis vorgeführt – entziffert werden will. Fichte ›kassibert‹ im umfassenden Sinne: als Empfänger und Schreiber geheimer Botschaften aus dem ›Untergrund‹. Schwarzheit umfasst daher für Fichte weit mehr als die Pigmentierung der Haut, mehr als begehrte Männerkörper. All das ist es auch – und das verheimlicht Fichte keineswegs. Schwarzheit, schwarze Kultur basiert darüber hinaus aber immer auch auf »Völkermord, Konzentrationslagern, Zwangsverschleppung« und ihr Verhalten ist »durchschlüpfen, zusammenkitten, maskieren« – sprich: »Palimpsest und Kassiber«.

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---. »Das haitianische Volk kann nicht mehr: Gespräch mit Léopold Joseph, Oktober 1979«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. 229-238. ---. »Die geklebten Götter: Kleine Chronologie zum Werk des schwarzen Photographen James Van Der Zee, 1979«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1980. 277-280. ---. »Ehen in New York: I. Eddie 25.11.78. II. Dells Tod. III. Ich interessiere mich nicht für die Hausfrau in Shakerheights, Ohio, 6.11.79«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. 101-192. ---. »Interview mit Richard Avedon. Am 19. September 1978, 17 Uhr, 407 East 75th Street, zwischen First und York Avenues«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. 25-36. ---. »Keine Beispiele mehr: 14 längere, diagonale Texte über New York, Herbst 1979«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. 239-276. ---. »Mein Freund Herodot. New York, November 1980«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. 327-367. ---. »Michael Chisolm. 1. November 1978«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. 37-62. ---. »Teiji Ito. Wednesday 3 rd October 1979«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. 193-228. ---. »Totengott und Godemiché: Anmerkungen zu einer Ausstellung haitianischer Kunst im Brooklyn Museum, September 1978«. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 7-24. ---. Die Schwarze Stadt: Glossen. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. ---. Forschungsbericht. Frankfurt/M.: Fischer, 1989. ---. Homosexualität und Literatur I. Frankfurt/M.: Fischer, 1987. ---. Lil’s Book. Paraleipomena. Frankfurt/M.: Fischer, 1991. ---. Versuch über die Pubertät. Frankfurt/M.: Fischer, 1982. ---. Xango: Die afroamerikanischen Religionen. Bahia, Haiti, Trinidad. Frankfurt/M.: Fischer, 1976. Genette, Gérard. Palimpseste: Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996. Gilroy, Paul. The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. London und New York: Harvard UP, 1993. Heinrichs, Hans-Jürgen. Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch: Oder wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen. Hubert Fichte und sein Werk. Bielefeld: Pendragon, 1991.

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White America: Weiße Muskeln und dunkle Geheimnisse

Männer im Pelz: Entblößungen und Verhüllungen des natürlichen Körpers um 1900

»E VERY I NCH AMERICAN «: W AS MACHT ( EINEN ) T EDDY

ZUM

M ANN ?

»I am convinced that he is the perfect type of the primitive man, born a thousand years or generations too late and an anachronism in this culminating century of civilization.« (Jack London 68)

Humphrey Van Weyden, der Erzähler und Vertreter der viktorianischen Kulturelite aus Jack Londons Roman The Sea-Wolf, benennt in der Figur Wolf Larsens, die er hier beschreibt, einen Typus brachialer, animalischer Männlichkeit, der um 1900 eine erstaunliche und erfolgreiche Öffentlichkeit zukam. Es handelte sich hierbei um die Ablösung des bis dato favorisierten, hegemonialen Ideals viktorianischer Männlichkeit durch eine ursprüngliche, wilde Maskulinität, die der Historiker E. Anthony Rotundo als »Masculine Primitive« bezeichnet und die mit einer spezifischen Weltsicht einherging: »physical strength, powerful instincts, personal force. Life in the civilised world was seen as a wilderness struggle for survival« (Rotundo 41). Die Hinwendung zu einem solchen Ethos ›primitiver Maskulinität‹ gründete auf einem kulturellen Dilemma, das an der Schwelle des 20. Jahrhunderts die amerikanische Gesellschaft in Sorge versetzte: die heraufbeschworene

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Gefahr einer weitgreifenden Feminisierung durch den Verlust kultureller Vitalität sowie nationaler Virilität. Der dieser Gefahr entgegenwirkende Rekulturierungsgedanke, dessen Wunschvorstellung einer Wiedererlangung verlorener Männlichkeit auf der radikalen Verwerfung und dem Ausschluss des Weiblichen basierte, markierte einen Paradigmenwechsel, den Gail Bederman als den Übergang vom viktorianischen Konzept der ›Männlichkeit‹ zur modernen Vorstellung von ›Maskulinität‹ benennt. Wenn man vor 1890 von manly sprach, so verbanden sich damit viktorianische Tugenden, die im moralischen Kontext einer weißen, angelsächsischen Mittelklasse standen: Ehrbarkeit, Selbstkontrolle, Willensstärke, sexuelle Zurückhaltung. Nun aber schob sich ein anderes Männerbild in den Vordergrund, das vormals mit der Arbeiterklasse sowie den multiethnischen Immigrantengruppen verknüpft war und als rückständig und unzivilisiert galt: der muskulöse, rohe Mann. Auch terminologisch vollzog sich dieser Umschwung. Mit maskulin wurde nun nicht mehr wie zuvor ein moralisch positiv konnotierter Code der »manliness« bezeichnet, sondern generell alles, was das biologische Geschlecht eines Mannes ausmacht: »›Manliness‹ comprised all the worthy, moral attributes which the Victorian middle class admired in a man. […] ›masculine‹, more frequently than ›manly‹, was applied across class and race boundaries; for, by definition, all men were masculine. […] ›masculinity‹ had developed into the mix of ›masculine‹ ideals more familiar to twentieth-century Americans – ideals like aggressiveness, physical force, and male sexuality.« (Bederman 18-19)

Auch wenn dies zunächst klingt, als hätten sich mit dieser Redefinition Klassen- und Rassenschranken aufgehoben, so war dies jedoch keineswegs der Fall. Diese beiden Kategorien traten mit dem historischen terminologischen Wechsel in ihrer vormaligen Offensichtlichkeit lediglich zurück, und zum Vorschein kam nun umso mehr eine neuartige und sehr scharfe Demarkationslinie zwischen den Geschlechtern, die primär jede Assoziation von Männlichkeit mit Weiblichkeit – ob biologisch, sexuell oder kulturell – als negative Attribuierung kategorisch verwarf und somit sekundär alles Weibliche generell einer ablehnenden Umwertung unterwarf:

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»While ›manhood‹ had historically been contrasted with ›childhood‹, to suggest that manhood meant being fully adult, responsible, and autonomous, the new opposite of ›masculinity‹ was ›femininity‹, traits and attitudes associated with women, not children. Manhood was an expression of inner character; masculinity was constantly in need of validation, of demonstration, of proof.« (Kimmel, »Consuming Manhood« 21)

Michael Kimmel – im Unterschied zu Gail Bederman – formuliert diese Umbruchsphase im (Selbst-)Verständnis einer Männlichkeit, die sich kaum überraschend damit einhergehend auch an einer veränderten männlichen Körperkonzeption am Ende des 19. Jahrhunderts manifestierte, als Krise. Raewyn Connell mahnt jedoch an, den systemischen Begriff der Krise in Bezug auf Maskulinität zu meiden und stattdessen von krisenhaften Tendenzen in der Geschlechterkonfiguration zu sprechen: »As a theoretical term ›crisis‹ presupposes a coherent system of some kind, which is destroyed or restored by the outcome of the crisis. Masculinity […] is not a system in that sense. It is, rather, a configuration of practice within a system of gender relations. We cannot logically speak of the crisis of a configuration; rather we might speak of its disruption or its transformation. We can, however, logically speak of the crisis of a gender order as a whole, and of its tendencies towards crisis.«1 (Connell 84)

Das Geschlechterverhältnis der Jahrhundertwende fußte noch auf einer Praxis der strikten Trennung von Sphären: der häuslichen und privaten, den Frauen zugewiesenen Sphäre stand der politische und ökonomische öffentliche Handlungsraum der Männer gegenüber. Die aus dieser Trennung resultierende Verantwortung der Frauen für die Erziehung der Kinder beiderlei Geschlechts ließ ein Misstrauen gegenüber einer zu starken Einflussnahme der Mütter auf die jungen Männer aufkommen. Auch wenn die Frauen im gesamtgesellschaftlichen Gefüge tatsächlich verschwindend wenig Macht hatten, so konnte dennoch der männlich-hegemonialen Ideologie einer ›natürlich‹ gegebenen Geschlechterdifferenz zufolge die Notwendigkeit einer Transformation in der Geschlechterkonfiguration heraufbeschworen werden.

1

Zu einer Kritik an Connells Geschlechtermodell und besonders seiner Gegenüberstellung von »personal« und »political« siehe MacInnes.

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Denn im Zuge wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Veränderungen sah sich der ›manly man‹ von mehreren Seiten in seiner angestammten, hegemonialen Männlichkeit gefährdet. Streikende Arbeiter und Einwanderer stellten die von der Mittelklasse bestimmte Arbeitspolitik in Frage; die Frauenbewegung der ›New Women‹ forderte Stimmrecht und Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt; Mediziner attestierten dem Mann der Mittelklasse eine körperliche Neigung zu der jüngst entdeckten Krankheit »Neurasthenie«, einer Nervenschwäche aufgrund von erfolgsstrebender Überbelastung; und die Psychologen ›entdeckten‹ die Homosexualität als ein Phänomen der Identitätskrise des Mannes, welche besonders die sich allmählich in ihrem Machtanspruch im Untergang begriffene Mittelklasse betraf. Demgegenüber rückte der gesunde, kraftvolle, potente ›maskuline‹ Körper ins Zentrum der neuen Ideologie revitalisierten Mannseins. Auf dem Gebiet der Politik repräsentierte Theodore ›Teddy‹ Roosevelt am deutlichsten diesen fundamentalen Werteumschwung. Als er die öffentliche und höchst sichtbare Arena der Politik in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts betrat, war seine Karriere ernsthaft durch seinen unmännlichen Ruf gefährdet. Erreichte gleichzeitig der Oscar-Wilde-Skandal seinen Höhepunkt (die notorischen Gerichtsverfahren fanden 1885 statt), so musste sich Roosevelt die Schmach und Beleidigung eines Vergleichs ausgerechnet mit dem als pervers, dekadent und weibisch verschmähten Wilde gefallen lassen. Denn Teddy – oder Teedie, wie er seit seiner Kindheit auch genannt worden war – figurierte als paradigmatisch effeminierte Männlichkeit seiner Ära. Er wurde öffentlich mit Spitznamen wie »Jane Dandy«, »Punking-Lily« und für ihn am unerträglichsten mit »our own Oscar Wilde« gehänselt. Innerhalb weniger Jahre gelang es Roosevelt jedoch, sich von der lächerlichen Figur einer amerikanischen Oscar-Wilde-Inkarnation zum Cowboy of the Dakotas zu mausern und nun als offensichtlichstes Symbol der neu erstarkten Jahrhundertwende-Männlichkeit zu reüssieren (Morris 349-353; Filene 69-93). Im Zelebrieren eines abenteuerlichen Daseins in freier Natur gelang es Teddy, als ›Mann‹ in jedweder Aufmachung zu gefallen, egal, ob in Cowboy-Kluft, Safari-Montur oder in der Ausstattung eines soldatischen Rough Rider. Roosevelt war aber nicht nur ein Meister der Selbstvermarktung, sondern ihm gelang es, den zeitgenössischen Zivilisationsdiskurs für seine nationalistischen und imperialistischen Anliegen nutzbar zu machen: »As he saw

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it, the United States was engaged in a millennial drama of manly racial advancement, in which American men enacted their superior manhood by asserting imperialistic control over races of inferior manhood« (Bederman 171). Seine Überzeugung, zur von der Evolution auserwählten Rasse zu gehören, führte ihn zu einer hegemonialen Politik, die dezidiert unter dem Banner einer als überlegen deklarierten weißen Männlichkeit stand. Roosevelts zeittypisches Männlichkeitskonzept speiste sich aus zwei kulturell divergierenden Wurzeln. Einerseits wuchs er in einem Umfeld auf, das stark von der viktorianischen Ideologie bourgeoiser Männlichkeit geprägt war. Dementsprechend verschrieb auch er sich den viktorianischen ›Tugenden‹ wie Stärke, Altruismus, Selbstbeherrschung und Askese. Gleichzeitig jedoch fühlte er sich zu einer sehr viel gewaltsamer sich äußernden Männlichkeit hingezogen. Dieses Männlichkeitsideal, das Roosevelt schon als Junge durch die Lektüre von Abenteuerromanen wie Captain Mayne Reids The Boy Hunters; or Adventures in Search of a White Buffalo (1852) vermittelt wurde, war auf das engste mit der Vorstellung eines ›natürlichen Mannes‹ verbunden, der im heroischen Kampf gegen Indianer und wilde Tiere seine (weiße) Männlichkeit unter Beweis stellen konnte. Vorbilder aus dem nationalen Mythenkatalog des amerikanischen Westens waren hier Figuren wie Daniel Boone und Davy Crockett, deren politische Agenda auf der Basis kampferprobten Einsatzes in der Eroberung der frontier fußte. In seinen eigenen Büchern inszenierte sich Roosevelt auf der Folie seiner politischen und literarischen Vorbilder nun selbst als heroischer Mann des Westens: Hunting Trips of a Ranchman (1885), Ranch Life and the Hunting Trail (1888) und The Winning of the West (1889-96).2

2

Siehe für eine Diskussion der Rassenargumentation in Roosevelts Schriften und besonders in The Winning of the West Thomas Dyer (54-67) und Slotkin (42-51).

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Abbildung 1: Theodore Roosevelt als Titelheld seines Hunting Trips of a Ranchman (1885) Wie das Frontispiz seines ersten Buches über seine Erfahrungen als ›ranchman‹ verdeutlicht (siehe Abb. 1), gründete Roosevelts Vorstellung einer naturverbundenen Männlichkeit bereits auf einem äußeren Erscheinungsbild: während steif-soldatische Haltung, grimmiger Gesichtsausdruck, Jagdgewehr und Fellmütze den weißen Jägersmann erkennen lassen, lässt die sonstige Lederkleidung eher auf indianische vestimentäre Einflüsse schließen. Roosevelts Modell zivilisierter weißer Männlichkeit beinhaltete demnach die von den Native Americans kopierte, beziehungsweise inkorporierte Komponente ›naturhafter Wildheit‹ und setzte sich damit ebenso deutlich von der angelsächsischen Herkunft als einer rein »englischen Rasse» ab (vgl. Roosevelt, Winning, Bd. 1, 20-21). Die Virilität dieser Naturburschen war essentiell für ihre Rassenausprägung, wie Roosevelt vermerkte:

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»There was little that was soft or outwardly attractive in their character; it was stern, rude, and hard, like the lives they led; but it was the character of those who were every inch men, and who were Americans through to the very heart’s core.« (Roosevelt, Life 21)

Aus diesem Grunde genügten nach Ansicht Roosevelts die viktorianischen Tugenden nicht für eine Abwehr rassenbedingter Dekadenz, die für ihn gleichbedeutend mit dem Verlust von Männlichkeit war. Im Auf- und Ausbau der amerikanischen Nation war es die Zukunftsvision Roosevelts, einer überzivilisierten Rassendekadenz den Kampf anzusagen, und der sportlich sich betätigende Kerl nach dem Vorbild der rauen, muskulären frontier-Männlichkeit sollte als Muster hierfür gelten: »In a perfectly peaceful and commercial civilization such as ours there is always a danger of laying too little stress upon the more virile virtues – upon the virtues which go to make up a race of statesmen and soldiers, of pioneers and explorers. […] These are the very qualities which are fostered by vigorous, manly out-of-door sports, such as mountaineering, big-game hunting, riding, shooting, rowing, football and kindred games.« (Roosevelt, »Value« 1236)

Bederman benennt zurecht Roosevelts Konzept der überzivilisierten Dekadenz und seine sich daraus ableitende politische Agenda eines amerikanischen Imperialismus auf der Basis einer frontier-Mentalität (so seine Pläne zur Annektierung von Hawaii, Kuba, Puerto Rico und den Philippinen) als einen in Wahrheit neuen Typus nationalistischer Machtergreifung: »By depicting imperialism as a prophylactic means of avoiding effeminacy and racial decadence, Roosevelt constructed it as part of the status quo and hid the fact that this sort of militaristic overseas involvement was actually a new departure in American foreign policy. American men must struggle to retain their racially innate masculine strength, which had originally been forged in battle with the savage Indians on the frontier; otherwise the race would backslide into overcivilized decadence. With no Indians left to fight at home, then, American men must press on and confront new races, abroad.« (Bederman 187)

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Roosevelts starke und emotionale Naturverbundenheit, die sich mit einem Kult jugendlich-maskuliner Abenteurermentalität und weitergehend mit einem politischen Machtanspruch basierend auf Virilität und Vitalität paarte, wird aus heutiger Sicht nirgends deutlicher als im Projekt des American Museum of Natural History, einer monumentalen Reproduktion des Garten Edens im Zeichen amerikanischer Kulturgeschichte. Roosevelt, einer der Gründer dieses Museums, wurde eigens ein Memorial errichtet mit der Widmung Roosevelts als »a great leader of the youth of America, in energy and fortitude in the faith of our fathers, in defense of the rights of the people, in the love and conservation of nature and of the best in life and man.« Donna Haraway hat Roosevelts rassistische und darwinistische Überblendung von Natur, Politik und Kultur, die symptomatisch in der Begegnung von Mann und Tier verhandelt wird, in die vielsagende Formel der »Teddy Bear Patriarchy« gebracht: »Roosevelt is the perfect locus genii for the Museum’s task of regeneration of a miscellaneous, incoherent urban public threatened with genetic and social decadence, threatened with the prolific bodies of the new immigrants, threatened with the failure of manhood.« (Haraway 29)

Hier wird deutlich, dass der Kampf gegen eine als Dekadenz empfundene Verstädterung und Technologisierung als eine soziale Krankheit betrachtet wurde, die den weißen, mittelständischen, amerikanischen Mann bedrohte. Angst vor Rassen- und Klassenvermischungen koppelte sich an die Vorstellung, dass besonders das Weibliche in seinen Reproduktions- und Kulturationsfunktionen die Schnittstelle dieser Bedrohung des Patriarchats darstellt. Hier bekommt der »Teddy Bear»noch eine andere Bedeutung. Einer verbürgten Anekdote zufolge wurde Roosevelt 1902 bei einer erfolglosen Bärenjagd ein Bärenjunges zum Erschießen in den Weg gesetzt. Roosevelt brachte es aber nicht über sich zu schießen. In Form von Cartoons wurde diese Episode in Zeitungen verbreitet und gelangte so nach Brooklyn, wo das Händlerehepaar Mitchom mit Erlaubnis des Präsidenten einen Spielzeugbären anfertigte und ihm den Namen »Teddy’s Bear« gab (siehe Cockrill). Die sogleich erfolgende Teddy-Bear-Manie machte dieses Spielzeug nicht nur bis heute zu einem der beliebtesten Kinderartikel, sie zeugt auch von der speziellen Weise, wie Roosevelt das jungenhaft Kindliche mit dem Natürlichen

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gleichsetzte. Das kleine Felltierspielzeug symbolisiert Roosevelts Vision der Manufaktur eines Natur-Mannes, geboren aus dem Geiste einer erneut jung-maskulinen, agilen Nation. Roosevelt markiert ein diskursives Zentrum in der um 1900 kursierenden Debatte um die fundamentale Frage: »Was macht einen Mann zum Mann?« Davon ausgehend sollen nun drei sehr unterschiedliche, jedoch distinkte Momente der Ausstellung des umstrittenen männlichen Körpers beleuchtet werden, denen gemeinsam ihre thematische und zeitliche Nähe zu Teddy Roosevelt und seinen Bemühungen der Remaskulinisierung sind. In der Männermode ist dies der Edwardianische Gentleman, in Kunst und Sport das Aktmodell und der Bodybuilder Eugen Sandow, und in der populären Literatur sind dies die Helden aus Jack Londons The Sea-Wolf. Analog zur Erfolgsgeschichte von Roosevelt interessieren mich hierbei die jeweiligen körperlichen Transformationen von der ›verweiblichten‹ viktorianischen Verkörperung mangelhafter Männlichkeit zur rauen, muskulösen, natürlichen und vor allem augenfällig ›weißen‹ Maskulinität. Jedes dieser drei Momente fokussiert den weißen männlichen Körper in verschiedenen ikonografischen und symbolischen Varianten von pelziger Gewandung oder aber dem signifikanten Mangel ebensolcher. Der Körper erweist sich hierbei als prominentester Ort im Bemühen um eine Rekonstitution männlicher Geschlechtsidentität. Im breiten Feld dieser kulturellen, politischen und sportlichen Bemühungen bildet der fantasmatische Versuch, den männlichen Körper mit Emblemen einer wilden und primitiven – tierischen – Männlichkeit zu schmücken, ein herausragendes Moment. Mein Anliegen ist es, den weißen Mann im Pelz der vorhergehenden Jahrhundertwende in seiner paradoxen und widersprüchlichen Kreuzung des ›Primitiven‹ mit dem ›Zivilisierten‹ und des ›Natürlichen‹ mit dem ›Kulturellen‹ auf seine Körpertechniken der Entblößung und Verhüllung hin zu befragen und die inhärente Brüchigkeit des Remaskulinisierungsstrebens dieser Zeit aufzuspüren.

V OLLBLÜTER : D ER E DWARDIANISCHE G ENTLEMAN

IM

P ELZ

Die amerikanische Mittel- und Oberschicht des späten 19. Jahrhunderts folgte strikten Kleiderregeln. Normalerweise wechselten diese Männer dreimal täglich ihre Kleidung von einem dunklen Geschäfts-

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anzug (tagsüber) zu einem legeren Freizeitanzug (spätnachmittags) zu einem formellen Abendanzug (zum Dinner). Die Männer der Arbeiterklasse trugen einfachere Versionen der Kleidung der oberen Schichten, was bedeutet, dass auch sie wie ihre wohlhabenderen Mitbürger ein hohes Maß an modischem Formbewusstsein wahrten und den als Leitbild verstandenen Habitus der höheren Schichten zu kopieren suchten (Tompkins 177-178; Ginsburg; Tyrrell). Die Regeln zur Männermode des ausgehenden Jahrhunderts, die in Amerika befolgt wurden, stammten aus England. Dort war es Prinz Edward von Wales (ab 1901 König Edward VII), der die entscheidende Autorität in Sachen Mode und damit auch hinter der modischen Wiederentdeckung des Pelzmantels für den Mann war. Oscar Wilde war einer der prominentesten Träger eines solchen Pelzmantels (siehe Abb. 2). Er trug ihn während seiner Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten 1882 und präsentierte damit diese Mode einer breiten amerikanischen Öffentlichkeit.

Abbildung 2: Oscar Wilde im Pelzmantel während der Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten 1882 (Rademacher 6)

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Der Edwardianische Gentleman als symbolischer Repräsentant eleganten Lebensstils erachtete den Pelzmantel als absolute Notwendigkeit. Der Pelzmantel war wie schon in früheren Zeiten mehr als nur ein Kleidungsstück. Pelze wurden natürlich immer schon aus Gründen des Schutzes getragen. Aber seit Aristokraten wertvolle, seltene Pelze als exklusive Symbole für Prestige und Macht wählten, übernahmen Pelze die primäre Funktion, ihre Träger möglichst vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Der Pelz wurde zum Statussymbol: mit Pelzen konnte man(n) angeben und seine gesellschaftliche Position vestimentär ausstellen. Daher war der Edwardianische Pelzmantel, besonders aus kostspieligem Robbenfell, ein klares Statement zum sozialen Status des jeweiligen Trägers. Auch wenn behauptet werden konnte, dass sich die Träger mit Pelzen gegen Kälte zu schützen suchten, so war doch jenseits des Nutzwertes das ostentative Herzeigen ein offensichtlicher Bestandteil der eleganten Männermode um 1900 (Municchi 15). Und doch beschritt die Mode in den Vereinigten Staaten während dieser Zeit einen Weg, der sich vom englischen Vorbild verabschiedete und den Edwardianischen Pelzmantel allmählich als Ausdruck effeminierter Dekadenz erscheinen ließ. Vor allem der technische Fortschritt und die damit einhergehenden neuen Werte der Modernität und Vitalität trugen zur Veränderung in der Einschätzung modischer Regeln und Einstellungen bei. In Folge wurde auch Gestalt und Aussage des Pelzmantels einer Neubewertung unterzogen. Während für den wohlhabenden amerikanischen Gentleman noch das Bedürfnis bestehen mochte, mit seinem edlen Pelzmantel nach Edwardianischem Vorbild zu protzen und damit seine angestammte gesellschaftliche Vormachtstellung zu demonstrieren, so resultierte der Erfolg eines neuen Pelzmodendesigns nun doch eher auf jenem anderen, jüngeren zeittypischen Phänomen des Modernitätsbewusstseins, was den modernen amerikanischen Pelzmantel daher schnell zum Wahrzeichen einer jungen, dynamischen und mobilen Männergeneration avancieren ließ. Das Automobil als ein völlig neuartiges und besonders aussagekräftiges männliches Statussymbol trug wesentlich dazu bei, dass eine wachsende Anzahl junger Männer, die ihrerseits Anteil an der wirtschaftlich aufstrebenden Nation haben wollten, sich in ihren offenen Wägen der Öffentlichkeit präsentierten – gehüllt in Felle von Murmeltier, Waschbär und Kojote. Jenseits des signifikanten Wechsels vom edlen Robbenfell zu günstigeren und derberen Pelzsorten wies die Pelzmode dieser jungen

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Männer nun noch eine modische Besonderheit auf, die deutlich von den Erkennungszeichen der vornehmen und distinguierten Edwardianischen Mode abwich: Der Pelz wurde nun nicht mehr, wie noch bei Oscar Wilde, als modisches Understatement in Form eines edlen Innenfutters, sondern nach außen gekehrt und somit weithin sichtbar als Außenseite und Hauptelement des Kleidungsstückes getragen. Das somit offen-sichtliche und überdies raue, wilde Image dieser Pelzmode war hervorragend geeignet, nicht mehr wie zuvor (britische) Edwardianische Eleganz, sondern jetzt die erstarkte amerikanische Maskulinität des Trägers im Zeichen modisch-modernen Fortschritts zu unterstreichen. Der Edwardianische Pelzmantel entwickelte sich in dieser jüngeren Generation zu einem ironischen Zitat, das in verwandelter, durchaus populistisch-vulgarisierter Form eine neue Ära amerikanischer Männlichkeit anzeigte. In welchem Ausmaß der Pelzmantel als hochgeschätzter Bestandteil der männlichen Garderobe gehandelt wurde, lässt sich beispielsweise an den Werbungen des Sears-Katalogs ablesen, der in ganz Amerika sehr beliebt war und in großer Auflage die Funktion eines Modemagazins übernahm. Während daher in anderen Ländern die Beliebtheit des Männerpelzes um die Jahrhundertwende allmählich abnahm und der englische Pelzmantel à la Oscar Wilde bald als dekadent verschrien war, entstand in den Vereinigten Staaten nun als kulturelle Gegenbewegung ein distinkter und jenseits der Ostküstenelite weitverbreiteter amerikanischer Stil. Nach einer kurzen Blüte war der ursprüngliche Edwardianische Pelzmantel verpönt, doch in seiner raueren, naturbelassenen Variante reüssierte er weiterhin. Nicht der Pelzmantel an sich galt als Wahrzeichen von Dekadenz, sondern die Art und Weise des Designs und der Trageweise. Das bedeutet auch, dass sich das Männerbild hier von klassenbedingten Zuschreibungen zu lösen begann. Der Edwardianische Pelzmantel war noch dem Gentleman der gehobenen Klasse vorbehalten gewesen; sein modernisiertes amerikanisches Gegenstück war nun ein Kleidungsstück, das nicht mehr so sehr als Klassenstatement galt, sondern sich zu einer Selbstaussage des männlichen Trägers gestaltete, egal welcher Klasse dieser zugehörig war. Solange er sich einen solchen Mantel leisten konnte, signalisierte er damit ein – auch modisches – Bewusstsein um den Glauben an modernen Fortschritt und gesellschaftlichen Aufstieg. Das Leitbild, das von den Tierfellen ausging, war eine gleichzeitig virile und ungezähmte, abenteuerliche und augenfällige Symbolisierung.

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Anna Municchi nennt daher die amerikanische Variante des Männerpelzes »full-blooded kind of fur coat« (66). Was auf der einen Seite des Atlantiks also als höchst zweifelhaftes Merkmal effeminierter Dekadenz gehandelt wurde, galt auf der anderen Seite als sichtbares Zeichen von ultramännlichem Prestige. Die Diskrepanzen und Ambivalenzen, die sich um Vorstellungen zum Pelz rankten, wurden demnach am Modus der Bekleidung des männlichen Körpers festgemacht.

D RAPIERT IN L EOPARDENFELL : D AS ERSTE MÄNNLICHE P IN - UP Galt der prestigeträchtige Pelzmantel als Wahrzeichen des sozialen Status wie des ausgewählten Geschmacks seines Trägers, so vermochte die Edelumhüllung doch nicht immer zu verdecken, was unter dem pelzigen Äußeren mangelhaft sein könnte. Besonders im Zuge des Aufkommens der »machine culture«, wie Thorstein Veblen sie nannte und die eine nationale Begeisterung für Technologie signalisierte,3 bekamen die Scharen von städtischen Angestellten und Verkäufern das Gefühl, Frauenarbeit zu verrichten, und fürchteten um ihre schwindende Männlichkeit. Der Historiker Elliot Gorn resümiert die gängigen Sorgen der Zeit: »What became of rugged individualism inside intensively rationalized corporations? How could a man be a patriarch when his job kept him away from home for most of his waking hours« (192). Ernest Thompson Seton, einer der Gründer der Pfadfinderbewegung, beklagte sich 1910 in seinem ersten Handbuch Boy Scouts in America lautstark über »the system that has turned such a large portion of our robust, manly, self-reliant boyhood into a lot of flat-chested cigarette smokers, with shaky nerves and doubtful vitality« (zit. in Seltzer 140). Man muss sich fragen, warum der ›natürliche Körper‹, modelliert durch seine Erfahrungen in der wilden Natur, nun erst derart hoch geschätzt wurde. Frederick Jackson Turner zog den bedeutsamen Vergleich zwischen dem Schließen der frontier und dem Ende der Regeneration der Männer durch, wie er es nannte, »the transforming

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Siehe auch Mark Seltzer, der vom doppelten Diskurs des Natürlichen wie Technologischen als einem »body-machine complex« spricht.

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influence of the American wilderness« (1).4 Männer, die bemüht waren, gegen den Schwund ihres Selbstbildes anzukämpfen, polsterten ihr Gefühl von Männlichkeit auf durch die Lektüre von Wildwestromanen, Burroughs’ Tarzan oder des National Geographic, durch das Konsultieren von Selbsthilferatgebern wie Kellogg’s Man the Masterpiece (1886), durch die Verehrung von Sporthelden oder, in der Tat, durch Einhüllen in vollblütige Pelzmäntel. Meistens verblieben diese Fantasien, eine verlorene Männlichkeit wiederaufzurufen, jedoch innerhalb des Bereiches von Konsum. Die besorgten Männer wandten sich Requisiten und Hilfsmitteln zu, die produktive Männlichkeit lediglich symbolisierten. Wofür ein Mann stand, sein äußerlich sichtbarer Lebensstil, waren wichtiger als seine eigentlichen Taten, den weichen, effeminierten und nervösen männlichen Körper zu stärken. Mit dem Erscheinen jenes Mannes, der bald als »the World’s Most Perfectly Developed Man« (Guttman) gelten sollte, änderte sich einiges an der Fremd- und Selbstwahrnehmung der bekümmerten Männer Amerikas. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts bot sich in der Figur des preußischen Bodybuilder Eugen(e) Sandow (sein wirklicher Name lautete Friedrich Wilhelm Müller) der Öffentlichkeit ein zunehmend willkommener und geschätzter Anblick perfekter Maskulinität. Seit seinem vielbeachteten Auftritt bei der Chicagoer Weltausstellung 1893 wurde Sandow aufgrund seiner außergewöhnlichen Schönheit und Stärke vermarktet. Ein Star war geboren, und er wurde schnell und effektiv in eine Ware verwandelt. Fotografien seines muskulösen Torsos mit Spiel der markant definierten Arm- und Bauchmuskeln wurden als Postkarten verkauft und als Werbeträger für Zigaretten und Bier eingesetzt. Der Gefahr, diese Bilder als Pornografie zu deuten, wurde entgegengewirkt, indem sein fast nackter Körper und seine aufreizenden

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1893 hatte Turner, drei Wochen vor Sandows Auftritt in Chicago, dort seine berühmte Rede »The Significance of the Frontier in American History« gehalten und die frontier nicht nur als Schnittstelle von Wildnis und Zivilisation, sondern auch als historischen Ort im Entstehen amerikanischer Männlichkeit bezeichnet: »The wilderness masters the colonist. […] It strips off the garments to civilization and arrays him in the hunting shirt and moccasin. […] Little by little he transforms the wilderness, but the outcome is not the old Europe. […] The fact is, that here is a new product that is American« (zit. in Faragher 33-34).

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Muskelspiele in heroische Posen stilisiert wurden. Und obwohl diese Bilder nicht unbedingt als Kunstwerke bezeichnet werden können, trug Sandows Beliebtheit entscheidend dazu bei, das Betrachten der männlichen Figur als eines erotischen Objekts zu legitimieren. Sandows muskulöse Zurschaustellungen förderten nicht nur »the sale of male nude photographs under a tacit social and artistic sanction« (Ellenzweig 16). Die Darbietung seines unbekleideten Körpers half auch zur Versicherung der »primacy of the white male body against a host of challenges that might weaken, confine, or tame it«, wie der Historiker John Kasson es formuliert hat (8). Auffällig war besonders, dass der Rummel um Sandow zu einer Beschäftigung mit der Physis des Körpers führte, die auf einen weitgreifenden kulturellen Umschwung hindeutet. Der Körper wurde nicht mehr als eine Hülle gesehen, die die Männlichkeit darunter umkleidete. Der Körper war nun der Mann, und es war dies ein allzeit zum Kraftprotzen bereiter auftrainierter, muskelbepackter, hypermaskuliner Mann (Kimmel, »Consuming Manhood« 26). Galt vormals das ethische Ideal des self-made man, so verschrieb man sich nun der Doktrin des self-made body. Durch seine Auftritte in Vaudeville Theatern wie auch infolge der Zirkulation seiner Fotografien wurde Sandow zum sichtbarsten Darsteller einer neuen Maskulinität, die in den 1890er Jahren die Aufmerksamkeit sämtlicher sozialen Klassen erregte. Für alle repräsentierte er einen neuen Standard männlicher Fitness, Schönheit, Stärke und Kraft. Dabei muss beachtet werden, dass Sandow durch einen klugen und strategischen Marketingschachzug stets darauf insistierte, dass seine Stärke keinesfalls ein Geschenk der Natur, sondern durch Anstrengung und Ausdauer erzielt war. Sandow konnte sich hiermit auf Roosevelts Konzept des strenuous life beziehen, welches in Amerikas selbsternannten und selbstkonstruierten real man kulminierte. Der durchtrainierte Körper des Einzelnen spiegelte dieser Konzeption zufolge den gesunden, ›natürlichen‹ Volkskörper wider. Beide, Roosevelt wie Sandow, waren sich darin einig, dass der starke, muskulöse Körper ein Emblem starken Charakters und Befehlsgewalt war. Ein gestählter Körper wie der von Sandow war ein »achieved body, worked at, planned, suffered for« (Richard Dyer 153). Roosevelt wie auch Sandow verkündeten die Maxime, dass Bodybuilding der wahre Triumph des Willens über die Materie bedeutete. Aber erst durch die Evokation und die beständige Kultivierung eines klassizistischen Kunstideals konnte Sandow – der europäische

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Immigrant – sicherstellen, dass sich ›Klasse‹ auf seinem Körper einschrieb. Seine Striptease-Auftritte auf der Bühne provozierten eine plötzliche Wertetransformation vom gutgekleideten, aber unbedeutenden Edwardianischen Gentleman zu einem modernen Apollo oder Adonis, vor allem aber zu einem Herkules. Die attestierte Schönheit Sandows stellt deshalb kein Problem für den männlichen Betrachter dar, weil sein Körper mit den Insignien maskuliner Kraft versehen ist. Was Wilhelm Trapp für das England des späten 19. Jahrhunderts konstatiert, trifft hier auch auf Amerika zu, dass nämlich der landläufig schöne Mann vor allem der starke Mann war: »Das Ideal ist nun definitiv und auch im körperlichen Sinne die kraftvolle Männlichkeit; dem – im tradierten, ästhetischen Sinn – schönen Mann hängt nun neben Femininität und Schwäche das Verdachtsmoment der Homosexualität an.« (Trapp 133)

Sandow wirkte dieser imminenten Gefahr durch das Spektakel herkulischer Kraft entgegen, »Strongmen posing as Greek statues« (72) nennt Michael Budd diesen maskulinen ästhetischen Körperentwurf. Sandow präsentierte für diese antikisierende Metamorphose einen blassen Teint, der fast an weiße Transparenz reichte. Er betonte den Doppeleffekt von Blässe und Muskulatur, indem er seinen gesamten Körper rasierte und sich mit weißem Puder bestäubte, damit sein Körper noch mehr einer griechischen Skulptur glich. Ein haarloser Körper signalisierte ein Streben nach etwas, das jenseits bloßer Natur lag, denn starke Körperbehaarung wurde gerne mit allzu Tierischem assoziiert. Sandows weiße Haut war somit ein Emblem in doppelter Hinsicht, wie John Kasson vermerkt: »Its whiteness testified to his status as a gentleman whose body had not been exposed to the sun. Still more important, it was a sign of racial purity« (54). Schamlos protzte er mit seiner weißen Haut und betonte damit eine sonst unmarkierte, weil nicht gezielt beachtete Kategorie von whiteness (Chambers 189). Lediglich über seinen Schnurrbart erzielte Sandow den Effekt einer athletischen Reife, die Kontrolle und Macht statt Ephebentum und Verletzlichkeit ausstrahlte, wie dies beispielsweise bei den antikisierenden Fotografien nackter Jünglinge des Baron Wilhelm van Gloeden der Fall war. Diese nackten schönen Jungs in klassizistischen Posen taugten schwerlich für das gesuchte identifikatorische Modell männlich-muskulärer Kraft. Sandows Körperinszenierung hingegen schuf

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einen »great metaphorical body that could be mistaken by thousands of others for their own, one in which specific individual desires might be diffused within an experience of the physique somehow anterior to its socially determined existence and being« (Budd 76). Paradoxerweise stellte Sandow für den amerikanischen Mann in Not nicht nur ein viriles Ideal dar, sondern ein weißes maskulines Ideal, das allerdings aus Europa stammte. Nur über die antikisierende Inszenierung und den sich daran anschließenden Starkult konnte das Publikum überzeugt werden, dass es sich hier um einen Prototyp handelte, dem es nachzueifern lohnte. Sandow verkörperte die große ›weiße‹ Hoffnung für den amerikanischen Mann seiner Zeit, weil er eine Vision des re-integrierten Körpers bot, »a modern conception of the body as an expression of individual desire and site of pleasure« (Kasson 75-76). Sandow avancierte zum exemplarischen Modell der triumphalen Wiederkehr des klassischen Ideals und lockte den amerikanischen Mann dazu, sich dem Spiegel zuzuwenden und seinen eigenen Körper privat zu inspizieren. Sandows zirkulierende Fotografien lösten Fantasien aus »about physical prowess, virility, strength, and eroticism across a broad spectrum of sexual orientation. […] Sandow became the first great male pinup in modern history« (ebd. 67-68). Sich Sandows Körper anzuschauen und seine Schrift Bodybuilding, or Man in the Making (1904) zu studieren, erregte das Verlangen vieler amerikanischer Männer, diesen spektakulären Körperbau nachzuahmen. Trotzdem verursacht es einige schwerwiegende Probleme, einen fast nackten männlichen Körper zu betrachten. Ein nackter Körper hat keinen Schutz, sowohl in einem sehr fundamentalen Sinne – der bloße Körper ist nicht gegen die Elemente geschützt – wie auch in einem sozialen Sinne. Das Tragen von Kleidung und speziell, wenn es sich um kodierte Kleidung wie Pelze handelt, ist ein Kennzeichen von Prestige; es verweist auf Reichtum, Status und Klassenzugehörigkeit. Ohne Kleidung zu sein bedeutet, dieses Prestige zu verlieren. Differenz, die durch das Tragen von distinguierender Kleidung garantiert bleibt, büßt dann ihre Macht ein, wenn der nackte Körper Inkonsistenzen mit den herrschenden kulturellen Idealen entblößt. Ein Körper ohne differenzierende Merkmale sieht einfach nur aus wie jedermanns Körper, und das ist sicherlich nicht im Sinne der Männer, die einflussreich und mächtig wirken wollen. Aber ein trainierter Körper – wie der von Sandow – präsentiert sich nicht als typisch, sondern als ideal. Wenn man die Arbeit, die Zeit und das Geld bedenkt, die es braucht,

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um einen Körper aufzubauen, so kann man sagen: »The built body is a wealthy body.« Richard Dyer betont damit, ein durchtrainierter, kulturierter Körper suggeriere »vague notions of the Greek gods and the Übermensch. Organised as competition, bodybuilding encourages discussion of the best body« (151, 155).

Abbildung 3: Sandow als Herkules, um 1893 (Sarony) Und doch – und zwar aufgrund seiner europäischen Herkunft paradoxerweise – darf nicht vergessen werden, dass sich hinter Sandows Auftritten und seinem Erfolg die Klage über einen Verlust der Naturnähe verbarg, die sich durch Großteile der weißen, männlichen amerikanischen Kultur zog. Als Ikone dieses Paradox posierte Sandow in verschiedenen pelzigen Arrangements und markierte seine Bezugnahme auf Natur wie Kultur (siehe Abb. 3). Er trug Pelz niemals in einer allzu wilden Fasson, sondern immer in stilisierter Drapierung. So

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hüllte er Lendenschurze und Trikots aus Leopardenfell um seinen nackten Körper oder posierte inmitten luxuriöser Felldrapagen und rief zitierend eine Wildnis in einem ansonsten klassischen Ambiente auf. Besonders wenn er zusätzliche antikisierende Accessoires wie Gürtel oder Sandalen trug, bedeutet der Pelz nicht so sehr das Primitive, sondern er betont die herkulische Virilität, Stärke und Potenz. Diese erotisierte maskuline Präsenz der Körperkraft unterstreicht einmal mehr Sandows europäische Herkunft: »If there was a truly representative male body in the period, it was the clichéd figure of the European strongman in leopard skin and sandals« (Budd ix). Auch Edgar Rice Burroughs’ lendenbeschürzter weißer, haarloser ›Affe‹ Tarzan beruft sich dezidiert auf diese Mischung aus vererbter reinrassiger europäischer – weißer – Aristokratie und erworbener, kulturierter Muskulatur und avanciert zu einer weiteren führenden amerikanischen Ikone im Ensemble der ambivalenten Pelzmänner. Neben Tarzan figuriert in der Zeit um 1900 aber noch ein anderer fiktionaler Held bzw. ein neues Heldenpaar: Jack Londons Wolf Larsen aus The Sea-Wolf und sein bedauernswert effeminierter Gefährte Humphrey Van Weyden. Sandow hatte die amerikanischen Männer gelehrt, sich selbst mit neuen Augen zu betrachten und das Bedürfnis zu entwickeln, den eigenen Körper nach dem Vorbild eines anderen Mannes zu modellieren. Die Beziehung zwischen Wolf und Humphrey in Londons Roman offenbarte die prekären (homo-)erotischen Spannungen, die bei einer solchen auf Bewunderung basierender Nachahmung entstehen konnten.

W EISSE H AUT UND NERVÖSER Z USAMMENBRUCH : D AS S CHRECKGESPENST DER SISSY Michael Kimmel bemerkt zum amerikanischen Mann des späten 19. Jahrhunderts: »Rapid industrialization, technological transformation, capital concentration, urbanization, and immigration – all of these created a new sense of an oppressively crowded, depersonalized, and often emasculated life« (Kimmel, Manhood 83). Zu all diesen Nöten und Ängsten kam außerdem der Aspekt der Sexualität als zentraler Störfaktor in einer brüchig werdenden Männlichkeitskonzeption. In seiner Untersuchung zur aufstrebenden schwulen Subkultur in New York zeigt George Chauncey, dass der Auftritt des sichtbaren Homo-

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sexuellen sich zum Repertoire männlicher Angstvorstellungen gesellte (Chauncey 56-57). Die Panik vor einer Feminisierung der amerikanischen Kultur schlug hier um in eine Sorge um eine sissification der amerikanischen Männlichkeit. In einer Schimpfrede der Zeitschrift Cosmopolitan von 1902 gegen sogenannte »sissies« wurde die Öffentlichkeit gewarnt vor dem Schreckgespenst, das Männer verängstigte und der deutlichste Indikator jener Angst vor einer kulturellen Feminisierung war. Der Begriff »sissy« umfasste alles, was der Mann nicht sein wollte, vor allem feminines Auftreten, Verhalten und Gebaren. Die »sissy« war, gemäß der Zeitschrift, »flabby, feeble […] chickenhearted, cold and fearful« (zit. in Kimmel, »Consuming Manhood« 24). Es mag kaum überraschen, dass Roosevelt sich bemühte, möglichst jeglichem Verdacht, er sei eine sissy, durch sein exzessives Auftreten als maskuliner Mann entgegenzuwirken. Nicht zuletzt deutet das Schreckgespenst der sissy auf die Konstruiertheit des Geschlechts hin. Nicht nur war die biologische Kategorie des Geschlechts unter Beschuss, auch die Geschlechtsidentität und das geschlechtlich kodierte Verhalten wurden einer kritischen Revision unterzogen. Das Spektakel von Sandows sexuell konnotiertem, muskulösem Körper führte bereits dazu, dass Männer ihren eigenen Körper anders wahrnahmen. Was passiert aber nun, wenn der männliche Blick von der eigenen, autoerotisch aufgeladenen Widerspiegelung anerkennend und erregt hin zu einem anderen männlichen Körper wandert? Die belletristische Literatur war – angesichts ihrer fiktionalen Möglichkeiten kaum überraschend – ein favorisiertes und populäres Medium für das Durchspielen solcher Blickwechsel. Und Jack Londons allegorische Tier- und Schiffsabenteuerromane zählten dabei zu den erfolgreichsten ihrer Zeit. London, in seiner jungenhaft rauen Maskulinität selbst ein beliebtes fotografisches Pin-up, muss als eine zentrale Figur in der Darstellung und Ausformulierung maskuliner Fantasien um die Jahrhundertwende gelten. Sein Roman The Sea-Wolf von 1904 ist hierbei ein herausragendes Beispiel für die Gegenüberstellung verschiedener, im Umbruch begriffener männlicher Körperund Charakterkonzepte. Anhand der beiden Protagonisten des Romans werden zwei zeittypische Männlichkeitskonzepte in extremis kontrastiert: der verklemmte, überzivilisierte und gelehrte Humphrey Van Weyden ist hierbei die Inkarnation der sissy, und Wolf Larsen verkörpert die männliche Quintessenz eines »human brute« (London 27).

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Humphrey, der von sich meint »I had not been called ›Sissy‹ Van Weyden all my days without reason« (ebd. 84), beschreibt sich selbst als »abnormal, an ›emotionless monster‹, a strange bookish creature, capable of pleasuring in sensations only of the mind. […] though I had been surrounded by women all my days, my appreciation of them had been aesthetic and nothing more« (ebd. 194). Im Verlauf der Romanhandlung wird der Edwardianische Gentleman Humphrey vom Schiffskapitän Wolf, der ›Bestie‹, auf dessen Schiff entführt, von ihm gedemütigt, körperlich angegriffen und zu seinem ihm dienenden Kabinenjungen degradiert. Nicht nur zählt dies zu den niedrigsten Positionen an Bord eines Schiffes; die fürsorgliche Arbeit eines Jungen bzw. einer Frau zu verrichten, markiert Humphrey nun endgültig als einen nicht vollwertigen, effeminierten Mann und leiten die entscheidende Krise in seiner Mannwerdung ein. Im Zuge der erzwungenen Gefangenschaft an Bord des Schiffes verspricht Wolf Humphrey »this will be the making of you« in genau jenem Sinne, wie Sandows Selbsthilfebuch Bodybuilding, or the Man in the Making prophezeit. Wie Roosevelt und Sandow in ihren jüngeren Jahren, so scheint auch Humphrey – »over-civilized man that I was« (London 263) – den Einsatz seiner männlichen Kräfte vernachlässigt zu haben: »The doctors had always said that I had a remarkable constitution, but I had never developed it or my body through exercise. My muscles were small and soft, like a woman’s« (ebd. 37-38). Diese Fehler können behoben werden, wie auch seine Entwicklung im Roman zeigt, durch rigorose Unterwerfung einer äußerlichen muskulären Körperkulturierung. Doch ändert das auch Humphreys ambige Geschlechtsidentität? Auf der Oberfläche insistiert der Text mit großer Mühe, dass Humphrey ein typischer, überkultivierter – da exzessiver Frauengesellschaft ausgesetzter – Junggeselle ist und keinesfalls ein ›Invertierter‹ oder Homosexueller. Am Ende des Romans hat er sich gar zur maskulinsten aller männlichen Figuren entwickelt und selbst Wolf diesbezüglich den Rang abgelaufen. Doch es gibt verstörende Subtexte, die diese proklamierte Heterosexualität ständig unterlaufen, besonders wenn es um Blickökonomien geht. Der Roman inszeniert mehrere erotisch aufgeladene Begegnungen der beiden Kontrahenten, die aus Humphreys Perspektive den Körper von Wolf in den Blick nehmen. In einer Schlüsselszene, die beide Männer in der Privatheit der Kapitäns-

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kabine zusammenbringt, betrachtet Humphrey staunend Wolfs entblößten Körper: »The sight of his body quite took my breath away. […] I was fascinated by the perfect lines of Wolf Larsen’s figure, and by what I may term the terrible beauty of it. […] Wolf Larsen was the man-type, the masculine, and almost a god in his perfectness. […] I could not take my eyes from him. I stood motionless.« (Ebd. 128-129)

Wolfs Erscheinung, von der Humphrey so fasziniert und geblendet ist, bildet eine inkarnierte Kopie von Nietzsches vornehmer Raubtiervariante der »blonden Bestie«, von der dieser meinte: »Auf dem Grund all dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildnis zurück.« (Nietzsche 275)

In dem Maße, wie Wolf seine Kleider ablegt, entblößt er die darunter liegende »terrible beauty« seiner Tiernatur. So scheint es zunächst. Doch erweist sich, dass etwas nicht ganz stimmt mit dem vermeintlichen Supermann Wolf: »His body, thanks to his Scandinavian stock, was fair as the fairest woman’s.« Wolfs weißer Körper ist verräterisch, denn er vereint das Natürliche und das Weibliche; eine weibliche Haut umhüllt die männliche Natur der Bestie: »I remember him putting his hand up […] and my watching the biceps move like a living thing under its white sheath« (London 129). Die zarte Hülle vermag das organische ›lebende Ding‹ kaum zu verdecken und zu bändigen – das Tier regt sich darunter. Zusätzlich zu dieser seltsamen körperlichen Geschlechtsambivalenz gesellen sich Wolfs depressive Migräneanfälle, die am Ende zu seinem völligen Zusammenbruch und Tod führen werden. Diese unverkennbare Anspielung auf jene ›neue‹ amerikanische Männerkrankheit – Nervenschwäche oder Neurasthenie – wird wie sonst in Amerika zu dieser Zeit auch hier in der Person von Wolf als verdächtiger Marker kultureller Verweiblichung gehandelt. Der inszenierte dekuvrierende Blick Humphreys macht deutlich, dass der Kontrast der beiden Männer gar nicht auf An- oder Abwesenheit von Muskelkraft beruht, sondern subkutaner Natur ist. Mit dieser Szene der Entkleidung, die Humphrey eine verdeckte Schwäche bei

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Wolf erkennen lässt, schlägt die Handlung um, und Humphreys aufgezwungene Remaskulinisierung wird von nun an als selbstgewollter Prozess vorangetrieben, was in spiegelbildlicher Verkehrung wiederum Wolfs Effeminisierung zur Folge hat, die hier durch Humphreys Tiefenblick bereits vorausgeahnt wird. Londons Roman stellt eine doppelte, verschränkte und invertierte Transformation dar, die nicht nur aus der Vermischung verschiedener Rassen und Klassen, sondern aus geschlechtlich verschieden kodierten Männlichkeitskonzepten resultiert: der Tiermann und die sissy. Doch die »blonde Bestie« Wolf, auch wenn er noch so weiß und maskulin scheinen mag, steht dennoch auch für jenen neuen, modernen Typus des amerikanischem Mannes, der wurzel- und geschichtslos die amerikanische Szene bevölkert. Er ist zwar eine beneidenswert muskuläre Erscheinung, verbirgt aber eine darunterliegende, nervös überhitze Konstitution. Humphrey, auf der anderen Seite, kann sich auf sein altes puritanisches Mayflower-Erbgut berufen. So wirkt seine äußere Erscheinung mit den überzivilisierten und unterkühlten Manierismen zwar degeneriert; seine Verwandlung infolge rigider muskulärer Körperkulturierung beweist aber, dass seine grundlegende Konstitution stärker und ausdauernder ist im Vergleich zu seinem neurasthenischen Konkurrenten. Die Beziehung zwischen diesen beiden Männern variiert in signifikanter Weise Jack Londons berühmte Tiergeschichten wie Call of the Wild oder White Fang. Diese erzählten Geschichten von Disziplinierung und Freundschaft, oder, in Gilles Deleuzes Begrifflichkeit aus seiner Studie zu Sacher-Masochs Venus im Pelz, von »Kälte und Grausamkeit«.5 Das Tier bei London lernt den Schmerz lieben und unterwirft sich dem Herrn, und damit verwandelt sich tierische Natur in geordnete Kultur. Da es sich hierbei um Fabeln handelte, bezeichneten die Tiere die animalisch-menschliche Kreatur – Männer in Pelzen. Sea-Wolf ist jedoch keine Fabel, der Roman fokussiert nun buchstäblich erwachsene Männer. Aber dennoch wird auch hier zunächst am Beginn der Schiffsreise eine Herr-Knecht-Beziehung durchgespielt. Durch seine ›masochistische‹ Unterwerfung unter Wolfs sadistisches System der Disziplin und Bestrafung wird Humphreys schwacher und unterlegener Körper allmählich maskulinisiert und damit stark und

5

Für eine auf die sado-masochistische Beziehung zwischen den Männern zugespitzte Lesart des Romans siehe Seltzer.

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erfolgreich. Wolf im Gegenzug erweist sich immer mehr als ein Herr ohne Kontrolle, eine männliche Circe, wie Humphrey ihn einmal nennt (London 220), der Männer in Schweine verwandelt und damit den Vertrag bricht, der die Herr-Knecht-Beziehung reguliert. Humphrey, der zeitweise Gefahr lief, selbst zu einem blind gehorsamen ›Schwein‹ zu mutieren, gelingt es am Ende des Romans, den finalen Kampf der konfligierenden Männermodelle zu gewinnen. So sehr er auch danach strebt, Wolf zu emulieren, es wird nie zu einer Imitation kommen. Symbolisch dient Wolf als eine Schutzhülle, die Humphreys schwachen, männlich dystrophischen Körper solange umhüllt, bis Humphrey ›Mann‹ genug ist »to walk on his own two legs« – so eine vielzitierte Metapher des Textes. Humphrey, der Knecht, wächst schließlich über seinen Herrn hinaus und dementsprechend streift er Wolfs nunmehr überflüssige Schutzhülle ab. Hier wird eine verquere masochistische Logik evident: Indem die Erzählstimme deutlich Humphreys Fokus privilegiert, favorisiert sie dessen Werdegang von einem Spektakel deviant voyeuristisch-weiblicher Unterwerfung in eine letztlich siegreiche Ermannung.6 Humphreys masochistische Tendenz verhüllt somit geschickt das Verlangen nach dem exakten Gegensatz, nämlich »the wish to not be looked at too closely, so that when one’s degradation is overcome later, one appears all the more brilliant [and] powerful« (Uebel 396). Das bedeutet auf einer metatextuellen Ebene, dass Humphreys masochistische Rolle als Knecht lediglich eine Strategie des Widerstandes war, die ihn letztlich zur ultimativen Verwerfung des Herrn führen sollte. Die Funktion der maritimen Expedition kann demnach allegorisch gelesen werden. Erklärtes Ziel der Reise ist es, Robben zu fangen, um die kostbaren Felle zu verkaufen. Humphrey glaubt, dass die Jäger die Robben lediglich fangen »so that they might adorn the fair shoulders of the women of the cities. It was wanton slaughter, and all for woman’s sake« (London 140). Während es für diese Frauen – zumindest aus Humphreys Sichtweise – anmaßend und sogar unnatürlich

6

Siehe Kaja Silverman in ihrer Auseinandersetzung mit Freuds Masochismus-Konzept über den »femininen Masochismus« und seine homosexuelle Implikation: »Feminine masochism […] always implies desire for the father and identification with the mother, a state of affairs which is normative for the female subject, but ›deviant‹ for her male counterpart« (25).

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erscheinen mag, ihre zarte, weiße Haut mit Fellen wilder Tiere umhüllen zu wollen, so gilt es für den manly man noch durchaus als natürlich, seinen Körper mit Pelz zu bedecken. Doch genau an dieser Stelle markiert der Roman anhand des Pelzmotivs jenen Paradigmenwechsel vom Edwardianischen Gentleman zur ›full-blooded‹ amerikanischen Männerspezies. Denn die Pelze, von denen Humphrey zunächst spricht, werden besonders vom Edwardianischen Gentleman begehrt, d. h. von eben jener ›degenerierten‹ gesellschaftlichen Schicht, zu der Humphrey selbst zu Beginn der Reise zählt. Der pelztragende Edwardianische Gentleman ist aus der Perspektive von Londons Roman kein manly man mehr, sondern eine bedrohte Spezies, die, will sie nicht zugrunde gehen, zu einer maskulinen Natürlichkeit zurückgebracht – renaturalisiert – werden muss. Dies beinhaltet das Ablegen des Edwardianischen Pelzes als modisch-dekadente Selbstaussage sowie zum Zwecke der Verhüllung des feminin-schwächlichen Körpers. Die zum Leitbild erhobene Körperkulturierung favorisiert nun den entblößten ›natürlichen‹ Männerkörper. Die Pelzsymbolik wird hier in doppelter Weise verhandelt: in der Person Humphreys als der sich mit äußerlichen Statussymbolen schmückende Edwardianische Gentleman und in der Figur Wolfs als Bestie in Menschengestalt. Am Ende sind Pelze nicht mehr nötig, weder in vestimentärer Form als Pelzmantel noch in sinngemäßer Form als Tierkennzeichen. Eine deutliche, doppelte Differenz tut sich auf: Wolf – der allegorisierte Mann im Pelz – regrediert aufgrund seiner ›Rassenherkunft‹ zu einer feminisierten »sadness as deep-reaching as roots of the race« (ebd. 86). Sein nackter Körper erweist sich als nicht so ›natürlich‹, wie dies Humphrey bewundernd vermutete. Seine weiße – feminine – Haut ist das Zeichen eines unnatürlichen Körpers einer ›geschwächten Rasse‹. Als Zeichen der Schwachheit ist Wolf Neuastheniker und damit als Vertreter jener Männerriege gekennzeichnet, die sich in ihrem Bestreben, aufzusteigen und Klassengrenzen zu überschreiten, zu viel zumutet und schließlich unter der Belastung kollabiert. Humphrey aber tritt heroisch regeneriert und vor allem körperlich gestählt aus seiner Persönlichkeitskrise hervor. Die Ängste der Amerikaner um ihre weiße Männlichkeit ließen sich in diesen beiden Figuren fassen, und damit offenbarte sich, wie Rassen- und Klassenthematik nicht von einer Geschlechtsproblematik zu trennen war. Nicht nur für Jack London, auch für die breite amerikanische Öffentlichkeit galt es, das Schreckgespenst der Degeneration,

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verkörpert in der Figur der sissy, abzuwehren. Diese Abwehr wurde jenseits von rassen- und klassenbedingten Differenzen vorangetrieben. Alles, was Humphrey tun musste, um den verkümmerten Mann in sich zum Vorschein zu bringen, war, die eigene animalische Maskulinität kontrolliert auszubilden – mental wie körperlich. Was zunächst wie eine Regression zum Tierhaften anmuten mochte, war in Wahrheit als Veredlung des Mannes zu verstehen. Humphrey, als Vertreter der Spezies der weißen kulturellen Führungselite, die sich durch Modernisierung und Technologisierung als besonders bedroht erachtete, setzte die real existierenden Rassen- und Klassengrenzen außer Kraft durch sein universalistisch angelegtes Maskulinisierungsprogramm. Er gewann, weil er Kontrolle bewahrte, im Gegensatz zu dem in seinem unkontrollierten Sadismus ethische Regeln verletzenden Kapitän. Roosevelt, hierin der fiktionalen Gestalt Humphreys ganz ähnlich, hat die ›Animalisierung‹ des Mannes als eine Rückkehr zu seinen ›tierischen‹ Wurzeln befürwortet, indem er die Metapher des Wolfes für die Kampfbereitschaft des Mannes, weitergehend aber auch für die ›maskuline‹ Wehrhaftigkeit des Volkskörpers aufrief. So schrieb er in seiner Autobiography (1913): »Every man who has in him any real power of joy in battle knows that he feels it when the wolf begins to rise in his heart« (zit in Brandt 301). In dieser Vision, der sich auch Jack London mit seinem Sea-Wolf verschrieb, konnten verstimentäre Pelze als Ausdruck Edwardianisch-dekadenter Eleganz niemals den maskulinen Vollblüter bezeichnen und waren daher nicht mehr geeignet, eine ›natürliche Männlichkeit‹ auszustellen.

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»Southern Gothic Updated«: Zerrbilder verstörter Männlichkeit im white-trash-Roman um 2000

S OUTHERN G OTHIC UND W HITE T RASH : L ITERARISCHE E RFOLGSGESCHICHTEN IN S CHWARZ /W EISS Die Schriftstellerin Ellen Glasgow prägte in einer Rezension mit dem Titel »Heroes and Monsters« von 1935 den von ihr pejorativ gebrauchten Begriff »Southern Gothic School«. Glasgow attackierte damit eine Gruppe von durchaus erfolgreichen und international renommierten amerikanischen Südstaatenautoren – allen voran William Faulkner –, die sich zunehmend in surrealer Ästhetik der Armut, den sozialen Gepflogenheiten und der Geschichte der Südstaaten widmeten. In, wie Glasgow meint, grotesk komischer und bizarr verzerrter Weise verkehren diese Autoren die Heroen der Vergangenheit aus dem Plantagenroman in Monster der Gegenwart. Das Monströse – und dabei letztlich in der Verzerrung der Wirklichkeit heillos Romantische – liege dabei vor allem in der Betonung von Perversion, Kriminalität, moralischer Korruption und körperlichen Gebrechen. Angesichts der Anhäufung von Stereotypen wie Laszivität, Misogynie, Dummheit und Brutalität in diesen Romanen stellte Glasgow die provokative Frage: »Has southern life – or is it only southern fiction – become one vast, disordered sensibility?« (3-4) In der Tat verweisen diese Romane der 1930er bis -50er Jahre von Faulkner, Erskine Caldwell, Flannery O’Connor, Carson McCullers, Eudora Welty und Truman Capote auf einen neuen, fragmentierten Süden, der in krassem Gegensatz zur sentimentalen Vision der Süd-

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staatenromanze aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg1 und deren Wiederaufleben besonders durch Margaret Mitchells Bestseller Gone With the Wind (1936) steht. Der von Glasgow abschätzig gemeinte Genrebegriff etablierte sich jedoch und bezeichnet in positiver Wendung eine Ästhetik, die über eine realistische Darstellung von Lokalkolorit hinausgehend den Niedergang des alten Südens und die Trostlosigkeit des materiell und moralisch verarmten neuen Südens in ›schauerromantischer‹ Weise aufbereitet. Das »gothic element« kursiert hierbei besonders um die hypertrophe Figur des »redneck« und »hillbilly« bzw. deren beider Zuordnung zur klassen- und rassenbedingten Spezies des »white trash«. In der Profilierung dieser Figur griffen die Autoren auf alte Stereotype zurück, die seit der Kolonialzeit Amerikas in den Südstaaten zirkulierten. Kamen diese aber in älterer Literatur wie dem Plantagenroman lediglich zum Einsatz, um das Negativstereotyp einer whitetrash-Figur gegen das ›wahre‹ Heldentum des aristokratisch anmutenden Heroen auszuspielen, so setzten die Autoren der »Southern Gothic School« diese marginale Figur ins Zentrum und machten sie zur Leitfigur (Auslöser wie Opfer) des oftmals dramatischen Geschehens. Die amerikanische Variante des »Gothic« – im Unterschied zu ihrem europäischen Vorbild – ist hierbei nicht primär auf Schock und Spannung ausgerichtet, sondern zeichnet sich besonders in der Assoziation mit marginalen Gruppen oder abgelegenen Regionen und durch die Aufbe-

1

W. J. Cash spricht vom Alten Süden als von einer Legende, die sich ähnlich wie ein Walter Scott-Roman präsentiert: Es ist eine Welt der Ehre, der Ritterlichkeit, der Noblesse, und alle Gefühle, Werte, Gepflogenheiten werden dem geborenen Kavalier zugeschrieben. Unterhalb dieser Kaste gibt es eine vage Rasse, die sich unmarkant zusammenklumpt und unter dem Stichwort »white trash« läuft (4, 6). William Gilmore Simms ist mit historischen Plantagenromanen wie The Forayers (1855) einer der erfolgreichsten Südstaatenautoren des 19. Jahrhunderts. Diese Plantagenromane zeichnen sich darin aus, dass der weiße master seine natürlich gegebene Autorität über Frauen, Schwarze und Arme geltend macht und dass diese seine Überlegenheit anerkennen. Und genau wie das Kavalier-Ideal des weißen Südstaatenhelden naturgegeben erscheint, was sich auch in der genetischen Überlegenheit seines Äußeren und seiner Sitten widerspiegelt, so stellt der arme Mann der Unterschicht sein Vexierbild dar: hässlich, degeneriert, faul, pervers, geschmacklos.

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reitung historischer Traumata und die daraus resultierenden kulturellen Widersprüche aus.2 Der Begriff white trash hat eine sprach- und mentalitätsgeschichtliche Tradition, die bis in die frühe koloniale Ära Amerikas zurückreicht. Während man heute generell und regional unspezifisch mit white trash die arme, meist ländliche, zuweilen aber auch urbane Bevölkerung Amerikas meint, so hat die Bezeichnung ihre historisch und geographisch spezifischen Wurzeln in den Südstaaten der USA. Es gibt Belege dafür, dass schon Anfang des 19. Jahrhunderts »poor white trash« in der Alltagssprache gebräuchlich war im Kontext der sog. Südstaatenaristokratie. Dort fungierte white trash einerseits seitens der Plantagenbesitzer als Abgrenzungsterminus, um die gemeinsamen europäischen Wurzeln mit den armen, weißen Arbeitern ohne Besitz zu verwischen. Andererseits wurde white trash aber auch als identifikatorische Abgrenzung seitens der schwarzen Sklaven verwendet, die mit white trash eine soziale Kategorie meinten, die noch unter ihrer eigenen angesiedelt war. 3 Traditionell verknüpfen sich mit white trash Bedeutungen wie Schande, Misserfolg und Selbstverschulden – die Kehrseite des American Dream also. »In a country so steeped in the myth of classlessness«, schreiben Annalee Newitz und Matt Wray in ihrer Einleitung zu der maßgeblichen Aufsatzsammlung zu White Trash, »the white trash stereotype serves as a useful way of blaming the poor for being poor. The term white trash helps solidify for the middle and upper classes a sense of cultural and intellectual superiority« (1). Im Laufe der Zeit haben sich noch andere Sinngehalte herausgebildet wie Faulheit und schlechter Geschmack, Perversion und Missgestaltung. Das Stereotyp des armen weißen Südstaatlers ist somit einerseits an die Vorstellung von körperlicher Degenerierung gekoppelt, andererseits wird ihm aber auch etwas Anomales, Exzessives zugeschrieben: brachiale Kraft und skandalöse Sexualität. Es sind gerade diese exzessiven Stereotypen, die ihn für die southern-gothic-Tradition auch jüngeren Datums so attraktiv machen. Der jüngste white-trash-Roman aus den Südstaaten greift diese Stereo-

2

Siehe zur amerikanischen Variante des »Gothic« und besonders des »Southern Gothic« Goddu sowie Sterling; Oakes; Halttunen; Martin und Savoy; Gross.

3

Siehe unter den Stichworten »poor white« und »white trash« Matthews 1283 u. 1868.

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typen besonders bezüglich normverletzender, monströser Männlichkeit erneut auf. Alkoholismus, Kriminalität, gestörtes Sozial- und Sexualverhalten und Rassismus sind einige der Schlagworte, die in aktuelle Debatten um Familien-, Religions-, Rassen- und Geschlechterpolitik eingespeist werden. Besonders Steve Yarbroughs The Oxygen Man (2000) reaktiviert hierbei die Tradition der southern-gothic-Schule, um den (Anti-)Helden des white trash zu profilieren. In diesem Roman spielen obsessive Leidenschaften, Kindesmisshandlung und soziales Außenseitertum eine entscheidende Rolle einerseits im Verhalten des männlichen Protagonisten zu seinem Rechtsempfinden, andererseits in seinem Umgang mit Schwarzen. Besonders die Rassen/KlassenStratifizierung wird beinahe exemplarisch ausgespielt, indem der white-trash-Held Ned Rose gezielt zwischen die Fronten der weißen geldgierigen Plutokraten (darunter sein eigener Arbeitgeber Mack Bell) und der schwarzen ausgebeuteten Arbeiter (seine Kollegen) gestellt wird. Mack ist als fieser, korrupter, aber typifizierter Südstaatenabkömmling der Plantagenaristokraten gezeichnet. Mit der durch seinen Vater vollzogenen Umwandlung der alten Baumwollfelder zu lukrativen Fischfarmen symbolisiert er zwar den endgültigen Aufbruch des Südens in eine neue Ära, mit seinem Rassismus und Klassenbewusstsein allerdings bleibt er den alten Traditionen seiner Väter verhaftet. So sagt er über seine schwarzen Arbeiter, die er durchweg als »Nigger« diffamiert: »You can take ‘em out of the cotton patch, […] but you can’t take the cotton patch out of them« (Yarborough 18). Larry, einer dieser schwarzen Arbeiter, den Ned auf Geheiß von Mack wegen des Verdachts der Sabotage umbringen soll, mit dem sich Ned aber stattdessen allmählich anfreundet, bringt Macks Zusammenschluss von rassen- und klassenbedingter Diskriminierung auf den Punkt: »You ain’t nothing, man. You zero. You just a empty blank for Mack Bell to fill in« (45). Larry legt damit den Finger auf jene unverheilte Wunde alter Kindheitstraumata, die zugleich individueller wie kollektiver Natur sind: »You ask me, Mack Bell treat you like a nigger too. Why you let him do you that way, Ned? […] Sometimes he [i. e. Ned] thought Larry understood too much. Why you let him do you that way, Ned? He’d said. But he was smart enough to know Ned wasn’t white in the same way Mack Bell was white. There was a world of difference in their whiteness, and the difference had a lot

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to do with the fat content of the foods they’d grown up eating, the odor of the toilet bowls they’d grown up using, the number of evenings their daddies had spent at home, the number of evenings the mommas stayed gone, the names the druggist had called out when their mommas picked up prescriptions – Mrs. Bell, Vonnie May Rose – and the illnesses those prescriptions were meant to treat.« (23-24)

Soziale Stigmatisierung, so am Beispiel der herablassenden ›Familiarität‹, mit dem Vornamen angesprochen zu werden, wird hier deutlich in den Kontext einer Gruppenerfahrung gestellt: Ned wird nicht persönlich abschätzig behandelt, sondern aufgrund der Herkunft seiner Familie, deren Stigma wie ein Fluch an ihm haftet. Ned stellt sich im Verlauf der Romanhandlung allerdings seinen Traumata und schreibt die traditionelle Geschichte des white-trash-Versagers um: Er tötet Mack, seinen Arbeitgeber und vermeintlich ältesten Kumpel, und ›verbrüdert‹ sich mit Larry, der am Ende des Romans seine eigene Aussage von Neds Nichtigkeit selbst aufhebt: »›Every nigger got a heart‹, he [i. e. Larry] said, ›and every zero got a middle‹« (267). Es ist der Verdienst von Romanen wie Yarbroughs The Oxygen Man, »weiß« als Rassenkategorie zu diskutieren und dies mit dem Diskurs von Klasse zu verzahnen. Während die ältere southern gothicSchule überwiegend noch die Negativstereotypen von white trash zementierte, bringen die jüngsten Romane die Kategorien ins Rutschen und den Mythos des Alten Südens damit endgültig zu Fall. In den 1990er Jahren hatte dies bereits Dorothy Allison mit ihren weiblichen Protagonisten vollzogen, die sich in dem Regelwerk südstaatlicher Normen gegen klassengebundene geschlechtliche, sexuelle und religiöse Schranken hinwegsetzten, am deutlichsten in dem autobiographisch begründeten Roman Bastard Out of Carolina (1992). In ihrem Essay »A Question of Class« macht Allison das historisch bedingte Dilemma von gleichzeitig selbstzerstörerischer Unsichtbarkeit und fiktionaler Romantisierung der white-trash-Kaste, zu der sie sich selbst zählt, deutlich: »[W]e had been encouraged to destroy ourselves, made invisible because we did not fit the myths of the noble poor generated by the middle class. […] What was real? The poverty depicted in books and movies was romantic, a backdrop for the story of how it was escaped. […] The reality of self-hatred and violence was either absent or caricatured. The poverty I knew was dreary,

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deadening, shameful, the women powerful in ways not generally seen as heroic by the world outside the family.« (17)

Allisons Evaluierung einer Romantisierung des ›noblen Armen‹, wie dies z. T. in den Romanen der southern-gothic-Schule in Abgrenzung zum »poor white trash« betrieben wurde, sowie des bis heute perpetuierten Hegemoniesystems der Südstaaten ist Bestandteil ihrer eigenen fiktionalen und essayistischen Aufarbeitung. Die Verachtung der Weißen der Mittel- und Oberschicht gegenüber den armen Weißen figuriert hier als eine Art klassenbedingter Rassismus: »The horror of class stratification, racism, and prejudice is that some people begin to believe that the security of their families and communities depends on the oppression of others that for some to have good lives there must be others whose lives are truncated and brutal. It is a belief that dominates this culture. It is what makes the poor whites of the South so determinedly racist and the middle class so contemptuous of the poor.« (Allison 36)

Wiewohl in seiner Umschreibung von Stereotypen nicht so radikal wie Yarbrough und Allison, so arbeitet doch auch Richard Yanceys Roman A Burning in Homeland (2003) an der Devaluierung des white-trashMythos in der Figur des Antihelden Halley Martin. Der Gelegenheitsarbeiter und autodidaktische Künstler Halley verliebt sich in Mavis, die Tocher des Plantagenbesitzers Lester Howell, für den er arbeitet. Als Lester eine Zeichnung in die Hände fällt, die Halley von Mavis gemacht hat, zitiert er Halley in sein Büro und macht ihm klar, dass es keine Zukunft für Mavis und ihn geben kann aufgrund von Halleys Klassenzugehörigkeit: »›You want to know what I think it is?‹ he [i. e. Lester Howell] asked. ›Vanity. I look at a boy like you and think it must be vanity. There’s no other explanation for it. I look at a boy like you, and it boggles the mind what you might do, with the proper background. There’s more to you than meets the eye, I know that, Halley. Such a shame, such a cruel trick of fate you were born into less than ideal circumstances. Why, a man like you, who knows to what heights you may have reached! Tell me something, Halley, where do you see yourself in twenty years?‹ I didn’t hesitate. ›Sitting in that chair.‹« (Yancey 89)

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Die jugendliche Renitenz von Halley imponiert dem Plantagenbesitzer zwar, und doch greift er auf die darwinsche Ausleseideologie zurück und vergleicht Halley mit dem in der Hierarchie der Raubvögel untergeordneten Bussard und sich selbst mit der Gattung der Adler: »In a nutshell, buzzards do not consort with eagles. They do not occupy the same niche. A buzzard does not attempt to rule the sky, and an eagle does not deign to pick the bones of the dead« (91). Lester Howell artikuliert hier im Wesentlichen die standardisierte Meinung seiner Kaste, indem er Halley herablassend als Gesindel bezeichnet und ihm Geld als Erpressungsmittel mit vorgehaltener Pistole aufdrängt, um seine Tochter in Ruhe zu lassen und aus der Gegend zu verschwinden. Die Bigotterie Lester Howells löst hier, ähnlich wie bei Allison beschrieben und wie es auch im Verhältnis von Mack und Ned aus The Oxygen Man der Fall war, den von der Südstaatengesellschaft sanktionierten Mechanismus des ohnmächtigen Selbsthasses aus: »›This is not personal. I like you, Halley. I really do. You possess a naïveté, an aboriginal purity that I frankly admire. But I did not break my back for thirty years, building this for my only child, to watch it pass into the hands of some backwoods piece of inbred white trash like you.‹ […] I scooped up the cash and wrapped it in the brown paper. He held the revolver loosely in his hand and watched me as I tied the package with the twine. My fingers felt thick and clumsy, and I noticed the dirt packed tightly under my nails. For a second I saw myself as he must see me, and I was filled with disgust.« (94-95)

Wie diese Beispiele zeigen, wird auch heute noch in der Südstaatenliteratur biologistisches Determinationsdenken zitiert. Der stereotype Mythos des white trash kursiert immer noch als Beschwörung eines fortwährenden Schreckgespenstes. Doch die Darstellungen weisen mittlerweile einen selbstreflexiven Gestus auf, der die fortgesetzt negative Konnotation zu brechen und den Konnex von Rasse und Klasse neu zu beleuchten sucht. Stellenweise im Rückgriff auf gothic Erzählstrategien werden hier Vorstellungen einer genetischen Müllhalde und der Angst vor Ansteckung und Ausbreitung zwar wieder aufgegriffen, doch nun neu verhandelt. Yanceys Roman ist ein Beispiel der dunklen Romantisierung dieser Erzähltradition: Der Künstler Halley, dessen Name ironischerweise an den Komet Halley erinnern soll, erlebt statt eines ›kometenhaften‹ Aufstiegs nicht nur soziale Ächtung sondern auch körperliche Zerstörung. Im Gefängnis werden

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von bösartigen Mithäftlingen seine Hände zerschlagen, sodass er als hilfebedürftiger Krüppel (und endgültig verhinderter Künstler) leben muss. Als er nach 20 Jahren entlassen wird und durch eine vermeintlich glückliche Wendung des Schicksals die mittlerweile bankrotte Plantage von Lester kaufen kann, führt ihn seine unverminderte Liebesobsession dennoch direkt in den Tod. »Homeland«, der Ort des Geschehens, bleibt für Halley immer nur ein unerreichbarer Wunschort, eine symbolische Heimatstätte, die ihn nie willkommen heißt. Am Ende hat ihn der Fluch des white-trash-Schicksals eingeholt und als ›Untoter‹ verabschiedet er sich als Erzähler aus dem Roman: »The lover withdraws himself, and is gone« (334). Ganz anders zeichnet sich die southern-gothic-Atmosphäre in The Oxygen Man. In diesem Roman ist es zum einen die desolate Lebenssituation der Geschwister, die realiter jene Mischung aus Schauer und Naturalismus evoziert, die für dieses Genre typisch ist. Neben Neds Albträumen wird dieses düstere Szenario durch die nächtlichen Visionen der Eltern angereichert oder durch die fortwährenden Andeutungen der Schlangenverseuchung der Gegend. Zum anderen ist es aber auch die übergreifende Symbolik, angefangen bei Namen (so verweist der Name von Neds Schwester, Daze, auf deren katatonischen Seelenzustand) bis hin zur Sauerstoff- bzw. Atem-Metaphorik des Titels selbst. Während Halleys ›untoter‹ Zustand auf seinem romantisierten Liebesleiden beruht, ist Neds Dasein als lebender Toter als existentielles Dilemma beschrieben und damit in den Kontext der unverschuldeten Ausweglosigkeit einer white-trash-Wirklichkeit gestellt: »There were different kinds of dead – you could be dead while your heart was still beating. Dying didn’t always happen at a specific moment in time. You could die over years or decades, and some people were dead long before they were born. […] Sometimes he felt like he shouldn’t breathe, like he didn’t deserve to breathe, yet he needed to, and did. There were other things he needed as well, but unlike air they couldn’t be gotten through involuntary response. They were things you had to go after, and to go after them, you had to know what they were, and he didn’t.« (187 u. 203-204)

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D ER F LUCH DER WHITE - TRASH -B LUTSBANDE Wiewohl W. J. Cash eine nicht unumstrittene Figur in der amerikanischen Kulturgeschichtsschreibung ist, so hat er doch als einer der ersten die anhaltende Stereotypisierung von white trash und die damit zusammenhängende rassen- und klassenbedingte Sozialkontrolle identifiziert und radikal abgelehnt. In seiner mentalitätsgeschichtlichen Analyse der Struktur des »Southern mind« geht er zeitenübergreifend vom agrarischen Ideal der Südstaaten aus, das zum einen die Landverbundenheit der Südstaatler auszeichnete, zum anderen aber auch die Plantagenaristokratie stützte. Cash spricht vom legendären Alten Süden als einer geteilten Gesellschaft: »[T]he great South of the first half of the nineteenth century – the South which fought the Civil War – was the home of a genuine and fully realized aristocracy, coextensive and identical with the ruling class, the planters; and sharply set apart from the common people, still pretty often lumped indiscriminately together as the poor whites, not only by economic condition but also by the far vaster gulf of a different blood and a different (and long and solidly established) heritage.« (4)

Entgegen dem vielbezeugten Bruch zwischen Altem und Neuem Süden betont Cash in der Vergangenheitsbezogenheit der Region stärker die fortwährend einende Mentalität, »a fairly definite mental pattern, associated with a fairly definite social pattern. […] The mind of the section, that is, is continuous with the past« (xviii, l). Kritisch setzt er sich daher mit der fortwährenden Rassifizierung der »poor whites« auseinander als einer klischierten Vorstellung »that they were uniformly shiftless or criminal, and that these characters, being inherent in the germ plans, were handed on to their progeny, with the result that the whole body of them continually sank lower and lower in the social scale« (6). Diesem Mythos der vererbten Degeneration stellt Cash eine primär wirtschaftlich bedingte Ausgrenzung als Hauptfaktor für das ›Versagen‹ der »non-slaveholding masses of the South« entgegen: »Who were they? Obviously and simply, in the large and outside the oldest regions, the residue of the generally homogeneous population of the old backwoods of the eighteenth century, from which the main body of the ruling class had been selected out. […] The weaker elements which, having failed in the

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competition of the cotton frontier, or having perhaps never entered it, were driven back inexorably by the plantation’s tendency to hog the good cotton lands into a limited number of large units, to the lands that had been adjudged as of little or no value for the rowing of the staple.« (21-22)

Was hier schon anklingt, macht Cash im Folgenden noch deutlicher, dass nämlich die gesellschaftliche Stratifizierung auf einer (misslungenen) Fraternalitätsbindung beruht, die zum einen die gemeinsamen Wurzeln zu verleugnen und zum anderen das entstandene hierarchische Gefälle zu zementieren sucht: »It involved the fact, not only that the plantation system had driven these people back to the less desirable lands, but also that it had, to a very great extent, walled them up and locked them in there – had blocked them off from escape or any considerable economic and social advance as a body. […] Not only is it true that he [the poor white] sprang from the same general sources as the majority of the planters, but even that, in many cases, he sprang from identical sources – that he was related to them by the ties of family.« (22, 26)

Viele Südstaatenromane erzählen daher auch bis heute vom Generationenkonflikt. Schon Faulkner hat in seiner Snopes-Trilogie die degenerierenden Familienbande als zentralen Konflikt ausgestellt4 und auch John Dufresne beschreibt den auf Familienclans lastenden Fluch in seinen Romanen, so in Deep in the Shade of Paradise (2003). Der »ill-fated Fontana clan« muss eine endlose Kette von Katastrophen erdulden: »[E]ver since the sudden appearance in the Delta of Peregrine, the first Fontana, in 1840, the family has suffered a magnificent history of mischance, misfortune, miscarriage, misadventure, and ruination in Ouachita Parish. […] For generations, nothing but illness, depravity, reckless and fatal bravado, improbable accident, all manner of tragedy – natural, manufactured, and, some contend, divinely inspired – has visited the children of Peregrine. […] The

4

Die Romantrilogie um die Familie Snopes besteht aus The Hamlet (1940), The Town (1957) und The Mansion (1959).

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Fontanas have been the sickest and the most executed white family in the history of Louisiana.«5 (22-23)

Gezielt gestaltet sich dieser Konflikt meist in patri- oder matrilinearer Form aus, so in den erwähnten Texten Allisons und auch bei Yancey und Yarbrough. Noch bevor sich sein Schicksal zum Bösen wendet, weil er den vermeintlichen Vergewaltiger von Mavis tötet und dafür ins Gefängnis geht, erhält Halley von seinem Vater die unmissverständliche Botschaft der minderwertigen Blutsbande: »You think just because you’re young and strong and full of piss you can take on the Lester Howells of this world? Well, let me tell you somethin’, boy, you in for some hard lessons […], because wherever you end up you’ll still be what you are right now.« (Yancey 98-99)

Und in The Oxygen Man ist dieser gender-Makel auf die Spitze getrieben, indem Neds Schwester sich mit dem an sie weitergereichten Ruf ihrer Mutter als white-trash-Schlampe in dem gleichen Maße auseinandersetzen muss, wie Ned selbst die fatalen Blutsbande fürchtet, die ihn wie seinen Vater zum Versager stempeln: »[H]e couldn’t play games anymore and had to face a life like the one his daddy had lived. […] Living from one motel room to the next, from one drink to the next, then coming home and trying to lose yourself in the flesh that so many others had poured their own absences into.« (Yarbrough 203)

Diese Furcht vor einer solchen erbärmlichen und schandvollen Existenz kulminiert bei Ned in einer sexuellen Fantasie des Inzests: »Ned wanted to go woman hunting, all right, but the woman he wanted to hunt was his momma« (217). Wiewohl dies vor allem Zeugnis einer hochgradig labilen Männlichkeit ist, die niemals einen wahren sexuellen Kontakt zulässt, zeigt diese als Kopulation mit der Mutter maskierte Masturbation doch auch den Rekurs auf das Stereotyp einer pervertierten white-trash-Sexualität:

5

Der Fontana-Clan, hier im Text durch einen vorangestellten Stammbaum ›dokumentiert‹, trat schon in Dufresnes ersten Roman auf: Louisiana Power & Light (1994).

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»At night, alone in his dark room, he poured himself into that same flesh. It never had his momma’s face on it, but it was her or someone like her, and what he did to that imagined flesh could not have been called by any name he knew.« (203)

Erst am Ende des Romans können sich die Geschwister aus dem Fluch der Blutsbande lösen und jeder für sich versuchen, eine neue Zukunft auf den Ruinen der Vergangenheit aufzubauen. Der Roman hat in der Eliminierung des Bösen (in Gestalt von Mack) zwar, wie Yanceys Roman auch, ein gewaltsames Ende. Doch im Unterschied zur schauerromantischen Klimax bei Yancey handelt es sich hier um ein ›realistischeres‹, weil unsentimental prospektiv gewendetes Ende.6 Die Stereotypen, die in diesen Romanen – wenn auch in kritisch reflektierter Weise – bis heute zirkulieren, haben ihr anhaltendes Wirkungsvermögen nicht nur infolge der von Cash konstatierten Mentalitätsfixierung, sondern auch aufgrund einer Folge von Untersuchungen, die zwischen 1880 und 1920 vom U.S. Eugenics Records Office initiiert wurden. Diese »eugenischen Familienstudien« sollten wissenschaftlich belegen, dass eine große Anzahl von ländlichen armen Weißen »genetische Defekte« aufweisen. In Studien mit Titeln wie »Hereditary Pauperism«, »The Tribe of Ishmael«, »The Smoky Pilgrims«, »Hereditary Crime«, »The Hill Folk«, »The Feeble-Minded in a Rural County of Ohio« oder »Mongrel Virginians« versuchten die beteiligten Wissenschaftler, Verwandte ansässiger Familien zu lokalisieren, die sich entweder im Gefängnis oder in einer psychiatrischen Anstalt befanden, um dann auf genealogische Spurensuche nach der ›defekten‹ Quelle zu gehen, die sie oftmals in einer Rassenmischung zu finden glaubten. Der Prototyp dieser defizienten Spezies war genau

6

Dies ist umso erstaunlicher nicht nur, da Ned ungestraft in Bezug auf Macks Tötung davon zu kommen scheint. Ned hat in der Vergangenheit als Jugendlicher bereits, angestachelt durch die von Mack geleitete Jungenbande, einen schwarzen Ladenbesitzer erschlagen und war auch maßgeblich am gewaltsamen Tod des einzigen Jungen beteiligt, den seine Schwester geliebt hat und der ihr damals eine Flucht aus der Familienmisere hätte bieten können. Wie bei Yancey liegen die entscheidenden Ereignisse 20 Jahre zurück und haben einen anhaltend lähmend-traumatisierenden Effekt auf die Protagonisten. Anders als bei Yancey allerdings wirkt Yarbroughs Ende – wiewohl aus ethischer Sicht fragwürdig – versöhnlich.

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jener Hillbilly-Familien-Clan, der seit Generationen in dreckigen Hütten hauste und immer weiter Armut, Kriminalität, Idiotie und Inzucht reproduzierte. In ihrer Dokumentation dieser Studien spricht Nicole Rafter – wie Cash – von der Etablierung eines Mythos, der white trash als Übel der Gesellschaft erfindet (30). Nicht nur zogen diese Feldforscher aus, etwas zu untersuchen, was sie im Vorhinein schon zu wissen glaubten. Die Studien gründeten auch auf einem unausgesprochenen Übereinkommen zwischen Wissenschaft und Publikum, denn der generelle Impetus der Studien war es, eine gebildete, professionelle Mittelklassenideologie zu lancieren, die auf dem Ausschluss der armen, weißen Bevölkerungsschichten basierte (13). Das ›Wir‹ von Autoren und Lesern stand der Untersuchungsgruppe gegenüber, die klar und deutlich als ›die Anderen‹ klassifiziert wurde. Denn entgegen der popularisierten Evolutionsdoktrin des Sozialdarwinismus gemäß dem Motto »survival of the fittest« war hier das Schreckgespenst, dass die »unfittest« die besten Überlebenschancen haben würden. Es handelt sich also um ›negative‹ Eugenik, die als implizites Ziel eine reinigende Reformierung der Gesellschaft ins Visier nahm. In einer Erklärung des Eugenics Record Office von 1913 hieß es beispielsweise: »Eugenics has to do with the racial, inheritable, qualities of a population. The peculiar importance of such qualities […] is that they invariably pass through the generations […] and that […] in time they tend to disseminate throughout the whole population.« (zit. in Rafter 1-2)

Soziale Probleme wurden hier als somatische diagnostiziert – die Familien wurden auch als »cacogenic« bezeichnet, d. h. als mit einer degenerierten, subhumanen Erbmasse ausgestattet. Ideologie wird hier über Biologie legitimiert, oder wie Donald MacKenzie in einer Analyse der eugenischen Familienstudien meint: »The eugenic theory of society is a way of reading the structure of social classes onto nature« (18). Interessant – und folgenschwer – ist der in Bezug auf white trash immer wieder herbeizitierte paradoxale Vorwurf der Rassenmischung. Obwohl white trash als Terminus nur eine Rassenzugehörigkeit (nämlich die weiße) zu signalisieren scheint, insistiert das ideologische Modell doch manisch auf der degenerierenden Auswirkung der Mischung der Rassen, für die wiederum die unteren Bevölkerungs-

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schichten als besonders anfällig deklariert wurden. Richard Dyer sieht darin allerdings gar keinen Widerspruch, denn der Süden sei dezidiert auf dem Modell von »breeding (of slaves and of white dynasties)« aufgebaut und damit sei ein extremer Widerspruchsgedanke bereits systemisch verankert. Der Leitgedanke des »pure white South« muss ständig bekräftigt werden, gerade weil er so labil ist in der paranoiden Androhung einer progressiven Rassenmischung, die die ›weiße Rasse‹ auszulöschen droht: »[T]he South seems to be the myth that both most consciously asserts whiteness and most devastatingly undermines it« (Dyer 36).

G ROTESKE K OMIK

DES

V ERSAGENS

Eine der hervorstechenden Eigenarten der southern gothic-Romane ist der Rekurs auf das Groteske: Situationen, Orte und vor allem Charaktere werden oftmals grotesk überzeichnet. Die Ausgestaltungen reichen hierbei von krassem Rassismus, Egomanie, Erotomanie und Bigotterie bis hin zu eher sympathischer Trottelhaftigkeit, Tollpatschigkeit und Umstandskrämerei. Gerade aufgrund des Kavaliermythos des Südens eignen sich besonders männliche Charaktere für eine derartige Übertreibung, denn wenn schon die Norm der Noblesse eine nostalgische Fiktion ist, so sind Abweichungen dankbares Spielmaterial, um mit historisch verankerten und kulturell unzeitgemäßen Männlichkeitskonzepten abzurechnen. Yanceys A Burning in Homeland ist in vielerlei Hinsicht ein nostalgischer Roman mit einer retrospektiven Handlungszeit, die zwischen 1940 (Halley verliebt sich in Mavis, tötet seinen Rivalen und kommt ins Gefängnis) und 1960 (Halley wird entlassen, wird Plantagenbesitzer und stirbt bei dem Versuch, seinen zweiten Rivalen, Mavis’ Ehemann und Pastor des Ortes, zu töten) wechselt, und einem Handlungsort, der kleinen Stadt Homeland im Landesinneren Floridas, die alle Elemente der southern gothic besitzt: dunkle, verwunschene, dschungelartige Wälder, sintflutartige Regenfälle, mysteriöse Brände sowie übersteigerte Religiosität und uneingestandenen Rassismus der Einwohner. Teil dieses Szenarios, es aber auch durchkreuzend, ist die zweite männliche Erzählerinstanz neben Halley: der kleine neugierige, aber dabei völlig ängstliche und rundweg neurotische Shiny. Aus seiner achtjährigen Perspektive wird ein Teil der Handlung erzählt, was

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den Tonfall der romantisierenden Überhöhung durch den liebesleidenden Halley immer wieder aufbricht und in groteske Komik verkehrt. So ist seine Analyse des Geschehens deshalb so komisch, weil sie die Kette der tragischen Ereignisse zur schieren Absurdität geraten lässt: »Everybody said the fire that night was God’s will, but that was hard to think about, God willing Halley Martin to fall in love, so Walter Hughes would die, so Miss Mavis would marry Pastor […], so their house would burn down.« (Yancey 4)

Besonders aber die Rassentrennung der Südstaaten, hier historisch an der Schwelle der Bürgerrechtsbewegung situiert, wird aus der Sicht der Kindesaugen euphemistisch verniedlicht, was gerade dadurch erst den gruseligen Umkehreffekt der grotesken Überzeichnung erzeugt und damit den impliziten Verweis auf real existierende Grausamkeit umso stärker hervortreten lässt: »I guess the whole congregation had turned out for Pastor’s party, and all Homeland besides. Except the black people. There weren’t any black people at our church, and once I asked Momma why that was, and she said because they have their own church. Black people were lucky that way. They had their own church and their own school. They had their own private seats at the diner downtown. They even had their own bathrooms and water fountains. Nobody could use them except other black people. Daddy said they had all been slaves once, but there was a war about it, and then they weren’t slaves anymore. Maybe that’s why they had all those private things now, to make up for it. I was curious about black people. They all seemed friendly enough, but there was something right behind their yellow-looking eyes and bright teeth that was lost and angry […].« (59)

Diese Sorte von extrem verengter und dadurch grotesk verzerrter Perspektive ist im jüngeren Südstaatenroman ein beliebtes Stilmittel,7 um

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Siehe den zwar schon erwachsenen, aber durch seine geistige Zurückgebliebenheit die Welt wie ein Kind wahrnehmenden Erzähler Benjy aus Faulkners The Sound and the Fury (1929) oder die beiden jugendlichen, zur Sexualität erwachenden Erzähler Joel in Capotes Other Voices, Other Rooms (1948) und das Mädchen Mick in McCullers The Heart Is a Lonely Hunter (1940).

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zum einen den Beobachter in seiner Naivität (oder auch krassen Dummheit in manchen Fällen) zu charakterisieren und zum anderen auf die realen Gegebenheiten zu verweisen, ohne in einen sentimentalen oder moralisch belehrenden Modus zu verfallen. Die sich aus dieser Kluft speisende Komik ist freilich prekär, weil sie immer ins NichtGewollte zu kippen droht. Denn wer hindert den entsprechend geneigten Leser daran, Shiny beim Wort und dessen naiven Kinderrassismus für bare Münze zu nehmen? Es ist die Fokussierung – oder wie hier: Fixierung – auf den unmöglichen Körper, die eine Perspektive wie Shinys immer als verfremdet ausstellt. Shiny ist dermaßen in seiner eigenen neurotischen Irrealität gefangen, dass er – und mit ihm der Leser – die dargebotenen Realitäten nur in grotesker Verzerrung wahrzunehmen vermag. Und in dem Maße, wie sich Shiny darüber Gedanken macht, wie ›privilegiert‹ die Schwarzen in seiner Gemeinde seien, lenkt er ebenso den Blick zurück auf sich selbst und seine eigene weiße Gestalt, die ihm völlig fremd bleibt und ihn zusehends irritiert: »Bertram [Shinys Bruder] had dark hair like Daddy, and a solid, blocky body like his too. In the summer his dark hair got shaved a half inch from his head, to let his scalp breathe, Daddy said. With his hair short like that his head looked too small for his body, so all summer he walked around with a shrunken head. My hair was cut short for the summer too, but I had a small head and a skinny body. And my hair was very light. When it was short I looked like I had no hair at all; in the sunlight it seemed to float above my head like a fine, golden mist. If I stayed out too long in the sun my scalp got burned, and nothing hurts worse than a sunburned head. I wondered what it must feel like to get burned head to toe like the pastor.« (Yancey 11-12)

Weißsein in den Kontext von Verfremdung – Irritation, Stilisierung, Abscheu – zu stellen, ist, wie Richard Dyer in seiner Studie White gezeigt hat, ein relativ junges Phänomen. Bis zum Aufkommen der sog. Whiteness Studies gab es kaum Untersuchungen über Bilder von Weißen und die Kategorie Rasse galt dezidiert nicht für Weiße: »Indeed, to say that one is interested in race has come to mean that one is interested in any racial imagery other than that of white people« (Dyer 1). Das implizite Erheben von ›weiß‹ als Norm und die Rassifizierung von ›anderen‹ spiegelt dabei die systematische Privilegierung der Weißen in der westlichen Gesellschaft wider. Weiß gilt

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nicht nur in hegemonialer Hierarchisierung als ›normal‹, weiß ist auch unsichtbar als unbenannte Kategorie: »It has become common for those marginalised by culture to acknowledge the situation from which they speak, but those who occupy positions of cultural hegemony blithely carry on as if what they say is neutral and unsituated – human not raced.« (Dyer 4)8

Laut Dyer müsse daher das Ziel sein: »making whiteness strange« (4).9 Und weil es bei Rassendarstellungen immer auch um Körperstereotypen geht, dürfen bei einer Fokussierung von whiteness Körperbilder nicht vernachlässigt werden: »To represent people is to represent bodies«, sagt Dyer entsprechend (14). Im Falle von weißen Menschen sind diese Darstellungen zunächst traditionell geprägt von einem Überlegenheitsgestus gegenüber anderen Rassen, besonders was die Repräsentation der Oberschicht betrifft, die sich, wie Ruth Frankenberg zeigt, durch Energie, Willen, Ambition, Rationalität, Geist, Wissenschaft, Wohlstand und die Organisation von Arbeit auszeichnet, die wiederum von Menschen ›minderer‹ Rassenzugehörigkeit ausgeführt wird (83). Es ist dies die Ideologie des Lamarckismus, wonach die weiße Rasse die Menschheit vorwärts bringt aufgrund ihrer Qualitäten zur Führerschaft (Poliakov 215). Der white-trash-Roman der Südstaaten, besonders in seiner jüngsten Erscheinung, zitiert diese alten Formeln (in Gestalten von Mack oder Lester beispielsweise), er desavouiert sie aber und rückt stattdessen die zuvor als minderwertige Randerscheinung gehandelten white-trash-Figuren ins Zentrum der Erzählung und damit auch ins Zentrum des kritischen Interesses. Ihm gelingt damit, was Newitz and Wray als Chance von white trash generell sehen: Die Sichtbarmachung der unmarkierten Rasse. Da die white-

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Auch Newitz und Wray sprechen von »whiteness« als einer »invisible

9

Dyer teilt dieses Ziel mit den Whiteness-Studies-Apologeten, doch er

norm, the unraced center of a racialized world« (3). distanziert sich deutlich von einer Institutionalisierung einer solchen Forschungsrichtung: »My blood runs cold at the thought that talking about whiteness could lead to the development of something called ›White Studies‹ […]. The point of looking at whiteness is to dislodge it from its centrality and authority, not to reinstate it» (10). Zur weiteren Diskussion über die Whiteness Studies siehe die Anthologie von Mike Hill, Whiteness.

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trash-Identität sowohl eine partikularisierte wie hybridisierte Form von Weißsein ist, besitzen white-trash-Menschen »the potential to perform the work of racial self-recognition and self-consciousness«, die in dominanten Formen von Weißsein fehlen (Newitz und Wray 5).10 Wie Shinys verknappte verstörende Kindheitsperspektive überhaupt erst den Blick von einem potentiellen ›Othering‹ von Schwarzen auf die Weißen zurücklenkt, so ist auch die ungewöhnliche kollektive Sichtweise der männlichen ›wir‹-Erzählinstanz aus T. R. Pearsons Polar (2002) in all ihrer bornierten, rassistischen und misogynen Charakterisierung kaum misszuverstehen, wie sie ebenso lüstern wie abschätzig die einzig farbige Figur, Kit, in der Kleinstadt (und ihm Roman) taxiert. Deputy Ray Tatum, ein in sich gekehrter, von allen geschätzter Außenseiter mit einer gewissen geheimnisvollen Vergangenheit, hat zwei ›Fälle‹ aufzuklären, die beide das schlafende Städtchen in Virginia aufrühren: Ein kleines Mädchen wird vermisst, und ein vergammelter, seniler und sich stets dem lokalen Pornosender widmender Greis wird endgültig zum schrulligen Kauz, als er plötzlich zum Hellseher mutiert. Ray an die Stelle gestellt ist die selbstbewusste Kit, die in diesem Setting von allen wahrgenommen wird, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe heraussticht: »[…] everybody heard her because she was the object of special notice, heard her, that is to say, because Ray was white and she was black which served to subject her to a variety of local scrutiny meant to come off as worldly indifference and open-mindedness. So we tended to study her surreptitiously while pretending that we weren’t and cocked an ear whenever she dropped her chin to speak.« (Pearson 103)

Der hier noch geschönte Rassismus – bezogen auf eine einzelne, weibliche Person – tritt kurz darauf unverhohlen hervor in dem unmissverständlichen ›Othering‹ von Schwarzen generell:

10 Die Autoren berufen sich hier auf die Forderung besonders von afroamerikanischen Schriftstellern wie Toni Morrison und bell hooks in deren Forderung nach der Selbst-Reevaluierung einer (weißen) Rassenidentität (vgl. Morrison; hooks).

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»We’ve few black people about in the uplands, no people much of any dusky hue. There’s a black fellow out by Afton who finishes cement and a little nutcolored woman up by the salvage yard in a trailerhome. Mostly because we don’t know how else to go about it, we tend to talk to them like they’re simple, or at least not the sorts of people we like to think ourselves to be.« (105)

Wiewohl der Roman nur andeutet, dass Ray und Kit ein Liebesverhältnis haben, lastet der Dünkel des Tabubruchs doch in jedem Fall auf Ray. Dass er als weißer Mann eine intime Beziehung mit einer schwarzen Frau haben könnte (und damit selbst in das Feld markierter Sichtbarkeit tritt), gibt Anlass zu pseudo-philosophischen Spekulationen (und erotischen Fantasien) seitens der beobachtenden Männer. Im Duktus der Selbsterniedrigung formiert sich hier dennoch über den Erzählakt eine homogene Männergemeinschaft in Opposition zu Ray und Kit als den Anderen: »The thing that Ray and Kit shared together was a sense between them of what was veneer, of what was froth and dressing and civil confection laid onto the meat of this life, that feral and treacherous core that we, the most of us, rein in except for odd moments behind the wheel while traveling the roadways when even the mildest among us can wish vicious death on some fool for clotting his route. They’d simply both seen the consequences of far too many unchecked impulses to entertain much faith between them in our assorted national lies, our dewy conviction that we’re more decent and honest than anybody else, freer and harder working, more God-fearing and elect.« (Ebd. 184)

Grotesk ist demnach keinesfalls die Beziehung zwischen Ray und Kit, sondern die Beschreibung derselben durch die kleinstädtische Homosozialität. In der Verkehrung der Logik stellt dieser Roman das Groteske als Erzählprinzip aus: im Gegensatz zu den tatenlosen Männern sind Ray und Kit die Akteure der kriminalistischen Handlung, und doch werden sie stets aus der ironisch-gelangweilten Sicht dieser Männer beschrieben. Das nimmt dem Roman einerseits den Drang zur Aufklärung, wie es für einen Detektivroman typisch wäre, andererseits öffnet sich der Text der Präsentation einer breiten Variation wirklich grotesker Figuren, allen voran Clayton, der vom fortwährend seine Umwelt mit Details seiner einzigen Leidenschaft quälenden Pornosüchtigen zum kryptisch-wortkargen Hellseher, oder auch »redneck

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oracle«,11 mutiert. Clayton ist ein grotesker Charakter, der gleichzeitig Ekel und Empathie hervorruft. Sein Sozialverhalten ist dezidiert als gestört beschrieben und dies schon, bevor er visionäre Fähigkeiten entwickelte: »There towards the end he got unduly interesting, Clayton did, after sixtyseven years immoderately barren of color and distinction. That’s allowing, of course, for judgements [sic], liens and lawful repossessions as the natural birthright of Clayton’s ilk of trash along with the occasional larceny conviction, biannual drunken rampage and the odd besotted set-to with an in-law – the strain of dispute usually touched off by some slattern of a cousin and contested evermore with a mattock handle or a carpet knife.« (1)

Claytons grotesker white trash Charakter als »a nasty old upland cracker« (104) und »abject sloth« (150) ist kaum mehr menschlich zu nennen, zu sehr gerät er in die Nähe des Animalischen: »He was musky and greasy and sooty and had the breath of a coyote« (144). Doch während er in zunehmende Apathie abdriftet, wird durch seine Hellseherei ein dramaturgisches Gegengewicht installiert. Auf eine plötzliche Eingebung hin nennt er sich ›Titus‹, und ohne dass es Clayton selbst formulieren könnte, stellt sich heraus, dass damit einer der Teilnehmer der Erkundung des Südpols, Lawrence Edward Grace Oates, gemeint ist, der »Titus« gerufen wurde. Oates war Teil der britischen Expeditionsgruppe um Scott, die 1911 die Antarktis auf der Suche nach dem Südpol als erste erkunden wollte und feststellen musste, dass der Norweger Amundsen und seine Truppe ihr zuvorgekommen waren. Auf dem Rückweg verhungerten und erfroren alle Teilnehmer der Scott-Gruppe, so auch Titus. In Pearsons Roman bleibt Claytons plötzliche Gabe ein ungeklärtes Mysterium. Er kann sich nicht artikulieren und erklären, was mit und in ihm vorgeht. Am Ende verschwindet er einfach und verendet – letztlich wie ein verhungertes Tier – irgendwo im Wald. Claytons Tod verdinglicht – und entmenschlicht – ihn damit vollends als »carcass with bones poking through and teeth and tufts of hair, little bits of flannel and scraps of twill and dried out brogan leather. The thing was face-

11 In seiner Rezension bezeichnet Malcolm Jones sowohl den Protagonisten Clayton als auch den Roman als solchen als »redneck oracle« (vgl. Jones).

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down in the leaves and so well entwined with brambles that they had to take Clayton apart before they could get him entirely loose. He was almost out of the county, had apparently walked the full breadth of it before he’d finally laid down on the forest floor to expire.« (243)

Das Geheimnis um Clayton als Oates/Titus-Reinkarnation ist deshalb so komisch und grotesk, weil sie zum einen niemals auf eine höhere spirituelle Ebene transzendiert,12 und zum anderen den Anwohnern lediglich als willkommene Bereicherung im lokalen Legendenschatz dient: »We had to learn how to tell it, how to milk the whole business for proper dramatic effect which proved, where it came to Clayton, largely a matter of omission. We don’t […] speak of what trash he came from especially on his mother’s side […] – Clayton got somehow entirely overhauled. […] It’s when we get to the story, however, of Clayton’s disappearance that, as prattlers, we are prone to shine and excel […]. As runs of country go, this place is a haunted territory.« (239)

Die Südstaaten als »haunted territory« dienen dem white-trash-Roman immer dann in besonderem Maße als Lokalkolorit, wenn der Rekurs auf die Schauerromantik gesucht wird. Dies ist wohl das markanteste Unterscheidungskriterium zu jenen white-trash-Romanen, die sich im Norden der USA ansiedeln und ansonsten viele Elemente teilen, so besonders das groteske Figurenarsenal.

12 Claytons Prophezeiungen sind dergestalt, dass sie erst im Nachhinein dechiffriert werden können. So ist seine Weissagung: »It’s Melissa now. Sometimes Missy […]. Never Angela. Never Denise.« (26) erst in dem Moment verständlich, als sich herausstellt, dass das vermisste Mädchen Angela Denise nach drei Jahren bei einer trailer-trash-Familie wiedergefunden wird und dort unter dem Namen Melissa bekannt ist. Während der kriminalistische Handlungsstrang dieses Romans also aufgelöst wird, bleibt Claytons hellseherisches ›Geheimnis‹ ungeklärt.

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N ORDSTAATEN

In seinem Aufsatz »Can Whiteness Speak?« stellt Mike Hill, ein Vertreter der Whiteness Studies, folgende These auf: »[T]he whitening of critical race studies depends politically on how thoroughly whiteness is ›trashed‹« (156). Und obwohl eine Klassifizierung von »whiteness« notwendig die Kategorien Rasse und Klasse beinhalten sollte, so ist es doch der Bereich der Sexualität, den Mike Hill hervorhebt um darauf hinzuweisen, wie Sex »help[s] to renegotiate the fiction of unremarkable whiteness« (167). Sexualität kann hierbei in vielerlei Variation kursieren, so in der Pornografiebesessenheit von Clayton, in der als Inzestfantasma vollzogenen Autoerotik Neds oder in der unerfüllten Obsession der ›großen Liebe‹ bei Halley. In jedem Fall werden diese Männer als grotesk dargestellt insofern, als ihre Körperlichkeit nicht den Normen entspricht. Laura Kipnis macht mit Mary Douglas’ anthropologischen Thesen von herrschenden Reinheitsgeboten und tabus darauf aufmerksam, dass »unanständige« Körper immer auch politische Implikationen beinhalten. Körperkontrolle symbolisiert in der Literatur demnach soziale Kontrolle und ein außer Kontrolle geratener Körper, wie der white-trash-Körper in vielen Darstellungen gezeichnet wird, dementsprechend die Bedrohung für einen stabilen Status Quo: »Bodies that defy social norms and proprieties of size, smell, dress, manners, or gender conventions; or lack the proper decorum about matters of sex and elimination; or defy bourgeois sensibilities by being too uncontained and indecorous – these bodies seem to pose multiple threats to social and psychic orders […].« (Kipnis 114)13

Merle Drowns The Suburbs of Heaven ist ein in den Nordstaaten spielender white-trash-Roman, der um Jim Hutchins und seine Familie aus New Hampshire kreist und eine Welt zeichnet, die zunehmend aus den Fugen gerät. Während Jim auch nach vielen Ehejahren immer noch sehr an seiner Frau Pauline hängt, ist diese von ihrem trailer trashDasein allmählich ausgelaugt und entfremdet, und sie sucht deshalb Abwechslung bei ihrem impotenten Schwager Emory, für den sie ero-

13 Vgl. auch Douglas 70.

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tische Tänze darbietet. Von den drei Kindern der Hutchins’ kommt ein Sohn, Tommy, wegen seiner ununterdrückbaren hypertrophen Erotomanie permanent in Schwierigkeiten mit der Polizei, der andere sexuell noch völlig unerfahrene Sohn, Gregory, muss wegen seinem Hang zur Misanthropie und Apathie zeitweise in eine psychiatrische Klinik, und die von ihrem Ehemann misshandelte Tochter Lisa wird der Prostitution beschuldigt. Diese erotische Groteske wird aber noch durch einen unbekannten Damenunterwäschendieb überboten, der schließlich gestellt werden kann, als Lisa ihn in ihrer Wohnung erwischt und zusammenschlägt. Jim ist die tragikomische Hauptfigur, die es immer nur gut meint, immer alles richtig machen will und nicht verstehen kann, warum immer alles schief läuft: »If I could get Pauline to see daylight, get my kids settled, and pay off my debts, why, we could be living in the suburbs of heaven« (Drown 2). Dieser Traum wird ständig von der Realität eingeholt: »Then there were all the offices I’ve sat in, from principals to banks, from welfare to lawyers. I knew the names they were thinking: back shacker, stump fucker, lowlife. […] There ain’t nothing in this town won’t blame on a Hutchins« (86, 147). Wie alle anderen white-trash-›Helden‹, so verschreibt sich auch Jim der Genealogiethese des white-trash-Fluchs. Im Falle von Gregorys Verfolgungswahn glaubt Jim, es komme von den väterlichen Genen: »I’m swallowing more than pride, I can tell you. If Gregory’s crazy, where does it come from and whose fault is it? Either way you figure it – upbringing or birth – it comes right back to the parents. Which is me« (126). Und Tommys Geilheit leitet er von Pauline ab: »No wonder Tommy’s all the time tripping over his dick. Poor bastard’s got it in his blood, a curse right from his mother« (220). Der »Hutchins Clan« (218) hat einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit, der Ursache und ständig reproduzierter Auslöser für viele der anhaltenden Probleme ist: der tragische und unerklärliche Unfalltod durch Ertrinken der jüngsten Tochter Elizabeth. Sie war der Liebling aller, ihr Verlust auch nach Jahren unerträglich für die Mutter und besonders nachhaltig wirksam für Gregory, der sie trotz größter Mühe nicht retten konnte. Die Albträume Gregorys und die Depression Paulines sind direkte Folgen dieses Unfalles und, obwohl immer wieder in den Kontext des white-trash-Lebensstils eingebettet, keine Ursache desselben. Aber Jims klägliche Versuche, seinen Alltag zu meistern und für sich und seine Familie das Beste herauszuholen und

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die schicksalhafte Kette von Unglücken zu durchbrechen, sind offensichtlich auch hier – in New Hampshire – den Erfahrungen des ökonomischen Missstands geschuldet. »Poverty washes the starch right out of my principles« (243), meint Jim und bereitet sich nur wieder auf eine neue Demütigung beim Geldleihen von Freunden oder beim Kautionsstellen für seine inhaftierten Kinder vor. Und immer wieder ist es der erotische Trieb, der den erbärmlichen Rest der Prinzipien zusammenbrechen lässt. So resümiert Lisa: »Love hasn’t been too good for Hutchinses […]. How often in this family we don’t do what we want to do, or else it takes us so long to get around to it, that we spoil it and hurt ourselves in the process« (257). So sehr dieser Roman auch über weite Strecken das white-trashSzenario der ökonomischen wie sozialen Ausweglosigkeit reproduziert, am Ende siegt doch die Liebe – und mit ihr ein romantisierender plot – über alle Realitäten. Damit reiht sich dieser Roman wie der von Yarbrough in die Reihe derjenigen white-trash-Romane ein, die zwar teils melodramatische (Yarbrough), teils tragikomische (Drown) Elemente der southern-gothic-Tradition aufgreifen, in ihrer positiven Schlusswendung entgegen jedweder realen Logik der vorangehenden Geschehnisse die stereotype Kette der Miseren durchbrechen und in einem großen show down sich zu einem Happy End aufschwingen. So wie Ned, der »Oxygen Man«, sich aus den Klauen von Mack befreit, nimmt auch Jim hier endlich sein Schicksal in die Hand und ›beweist‹ erst durch diese Aktion die Gültigkeit seiner Liebe zu Pauline: »Now comes Jim. I ain’t using lawyers, and I ain’t going to court. I ain’t even drinking. I’ve had my head shoved up my ass, and now I’ve come up for air. Now comes Jim« (286). Jims plötzlicher Aktionismus entleert sich im abgebrochenen Versuch, seinen vermeintlichen Widersacher Emory zu töten (indem er versucht, sich selbst samt Emory und dessen Haus in die Luft zu sprengen), um dann in die offenen Arme von Pauline zurückzukehren. Trotz der hypertrophen Absurdität dieser letzten Szene ist unleugbar, dass Jim sich vom Schwächlich, der sich alles gefallen lässt, zum harten Kerl gemausert hat. So sehr damit ein Klischee das andere abzulösen scheint, handelt es sich dennoch um eine Rekodifizierung der Ohmacht des white-trash-Mannes, die in ein Plädoyer des Aufstandes mündet: »And I said, Yes, it takes somebody crazy to fix things around here because they’re the only ones can see things in their true right. […] Grief and hatred

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and shame hunker down. They ain’t going to leave peaceful. They’ve got all used to living in me like a comfortable suburban housing development, but it’s eviction time. I bulldozer them out with my woodpecker laugh. I squeeze Pauline’s hand.« (286, 295)

Der white-trash-Mann reiht sich mit solchen Männlichkeitsdarstellungen ein in das Spektrum von Repräsentationen weicher und starker Maskulinität entlang fragwürdiger Rassengrenzen. Susan Bordo spricht hierbei von »soft races« als bestimmten rassifizierten Gruppen (besonders Juden nicht nur in der deutschen Geschichte, in der nordamerikanischen Geschichte auch asiatische Männer), die im Verlauf der Geschichte »have been made to play the role of the squishy snail, while others can imagine that they – in contrast – are nature’s select band of armored warriors« (57). Bei den als weich markierten Männern werden traditionelle männliche Körperbilder und erotische Fantasien kurzgeschlossen und als sozial-sexuelles Versagertum in der amerikanischen »culture of hardness« deklariert: »To be exposed as ›soft‹ at the core is one of the worst things a man can suffer in this culture. […] Our aesthetic ideals, no less than our sexual responses, are never just ›physical‹. In our culture, the hard body is a ›take no shit‹ body.« (Bordo 57)

Jim hat in Drowns white-trash-Romanze den historisch als unmöglich erklärten Sprung zum harten Kerl, zum Sieger im Szenario widriger Umstände, geschafft. Die Transformation beruht hier auf der unumstößlichen Integrität seiner Person als Vater und Ehemann. Seine Agenda ist und bleibt eine persönliche, ganz im Gegensatz zur Hauptfigur Robert Drummond aus Carolyn Chutes Roman Snow Man, wo der Aufstand des white-trash-Mannes gezielt in den Dienst politischer Demagogie gestellt wird, der zudem weit über den Romankontext hinausweist. Die Romanautorin Carolyn Chute ist auch politische Aktivistin, so gründete sie die Gruppe »Second Maine Militia«, eine gemischt extrem rechts- und linksgerichtete, umweltorientierte und anti-kapitalistische Organisation, die sich einer ethnisch-regionalen Identität sowie einem national-separatistischen Kurs verschrieben hat. Mit Sitz in Maine, aber einer Ausdehnung von Neuengland bis nach Kanada, befürwortet diese Bewegung Waffenbesitz und ruft kaum

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verhohlen zum gewaltsamen Widerstand der Arbeiter auf. So äußert Chute in einem Interview von 2000 selbst: »We are led to believe that the professional middle class are the winners, the working class are the losers. […] As I see it, class is about values, dependence and ways of communicating. The working class person values place, interdependence, cooperation, the tribe. Rural working class especially values land. Many of us would kill to keep our land, our home, which for thousands of years was not considered a crazy thing to do. Middle-class professionals are into ›success‹ and they are a dependent people, happily dependent on the consumer system for everything.« (Zit. in White)14

Robert Drummond ist Mitglied der Maine-Miliz »Snow Men«, einer offensichtlich nach dem Vorbild der »Second Maine Militia« gezeichneten extremistischen Arbeiterbewegung. In der dem Roman vorangestellten »Author’s Note« bestätigt Chute, dass Snow Man ein fiktionaler Ableger einer großangelegten, bisher unveröffentlichten Dokumentation der Milizbewegung in Neuengland ist: »So Snow Man is actually a kind of DNA of the larger book. I have told many people that I was writing a book that was the ›true story‹ of the ›Militia Movement‹ in New England as I have experienced it. […] Snow Man, though related, is not the true story of the New England Militia Movement. It is a possible story […].« (O. S.)

Diese »mögliche«, aber eigentlich »un-mögliche« Geschichte führt Robert Drummond, nachdem er einen Senator in Boston erschossen hat und dabei selbst verwundet wurde, in das Haus eines weiteren Senators, wo er heimlich von dessen Frau und Tochter verarztet und aufgepäppelt wird. Wie Jim aus Drowns Roman ist Robert ein fürsorglicher Familienvater, der eine schmachvolle Niederlage nach der anderen einstecken muss. Ganz anders als Jim, der seine Misere in der Figur des zum Feind erklärten Schwagers personalisiert, sieht Robert sich als politisches Bauernopfer einer Gesellschaftsform, die sich auf Kosten der armen Unterschicht bereichert, wobei besonders die Män-

14 Für weitere Informationen zu Chute und der Second Maine Militia siehe »The SALON Features«.

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ner dieser Klasse ihre Arbeitskraft wie auch ihre Selbstachtung einbüßen müssen. Wie dies auch schon in Chutes Interview anklang, ist ein Mann wie Robert Teil eines zeittypischen Phänomens, das seit einigen Jahren als »crisis of manliness« kursiert und dem zu begegnen besonders in Gestalt der »angry white males« versucht wird.15 Diese Krise zeichnet sich nicht nur durch ein verstärktes Thematisieren von »Klasse«, sondern auch von »Rasse« – und zwar »weißer Rasse« – aus. Während Eva Boesenberg diese Krise jedoch besonders als eine »›Krise‹ der weißen Mittelklassemännlichkeit« (387) verortet, deren Apologeten dazu neigen, »den Feminismus und ›umgekehrte Diskriminierung‹ für die Nöte weißer Männlichkeit« verantwortlich zu machen (374),16 so scheint mir ihre Beobachtung eines »physical turn«, einer »Hinwendung zu physischer Gewalt« sowie einer »Fetischisierung des muskulären männlichen Körpers« (386), gerade auch auf eine white-trashFigur wie Robert zutreffend zu sein. Susan Bordo spricht gar von einer »Return of the Alpha Male«-Literatur, wodurch sich das ungezähmte Tier als Teil einer Re-Definition eines potenten Mannes etabliert hat und mit sexuellem Instinkt und animalischem Magnetismus assoziiert wird: »Today, with many men feeling that women – particularly feminists – have been pushing them around for a couple of decades, the idea of a return to manhood ›in the raw‹ has a refreshed, contemporary appeal« (251).17

15 Diese viel beschriebene Krise als vorläufiger Endpunkt vieler vorangehender Männlichkeitskrisen kommentiert Sabine Sielke lakonisch: »Glaubt man den vielen Publikationen zum Thema ›Krise der Männlichkeit‹, so befindet sich der Mann am Ende des 20. Jahrhunderts am Tiefpunkt seiner Geschichte, seiner Autorität und seines Selbstverständnisses« (45). Und doch attestiert sie dieser aktuellen Krise eine eigene Spezifik, nämlich die Dezentrierung vor allem »normativer, weißer Männlichkeit« (49). 16 Siehe hierzu auch Newitz und Wray, die ebenfalls auf die »angry white males« Bezug nehmend diese verantwortlich machen für eine Weiterführung des pathologisierenden Arguments, dass Armut eine selbstverschuldete Krankheit und white trash als »welfare-dependent whites« daher ein Produkt fehlgeleiteter Sozialpolitik seien (»What Is ›White Trash‹?« 172). 17 Bordo steht dieser Literatur eindeutig kritisch gegenüber und bezeichnet sie als »›backlash‹ reclamations of manhood, which, like some of their

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Für Robert ist die Bezeichnung »Alpha Male« durchaus zutreffend. Durch den Grad seiner Verletzung ist Robert, dessen Spitzname bedeutsam »Ruff« lautet, anfangs völlig hilflos, wobei er einerseits immer wieder als zunächst verendendes, später aber starkes Tier (so als »big dog« [41]) beschrieben und andererseits als ein besonders attraktives ›Mannsbild‹ tituliert wird. Das ›bildliche‹ Element wird durch seinen vollständig tätowierten Oberkörper (einschließlich Teufel- und Swastika-Darstellung) hervorgehoben. Der zwischen Heldischem und Animalischem oszillierende, monströse Männerkörper wird immer wieder aus der Perspektive der Tochter Kristy kritisch beschrieben: »She stares unblinkingly down at the man’s face, the dark mustache, the straight nose. A striking man. Even while dying. Like a movie star dying on the screen. Only movie stars never really master that terrible glazed look of death or near-death. The foolish lack of dignity, the way the tongue takes such energy just before lolling loosely like a strip of pare raw fish. And movie stars never smell green and ghastly.« (12)

Während Kristy bei Robert wacht, wird sie, die an der Universität Frauenstudien lehrt, sich immer mehr bewusst, wie zusehends erotisiert ihr Blick wird. Statt einer Krise löst dies aber hauptsächlich tiefes, glorifizierendes Begehren aus, das sie im Verlauf der Handlung auch auslebt und dabei sogar freudig schwanger wird: »Robert Drummond, colorific. Tattoos in all possible hues of anguish. […] The turning of the dying afternoon sun places a contemptuous faded gold along the ribs, heaving chest, throat, and arms. She steps closer. Nothing changes. Still he pants. […] He is beautiful. […] As her eyes slide down his body, she feels someone watching her through every blank dim window. Not the neighbors on their roofs. Not the FBI in helicopters or trees or ladders. Not even God, whom she doesn’t believe in really. But the fierce eye of Robert’s guardian angel and an angelic cry of »Wrong! Wrong!« Is this a kind of rape, to stare at the defenseless? Maybe. Would she object if it were herself sprawled out there, some guy standing over her, staring? Yessss. But there it is, the long uncircumcised penis against his leg.« (22, 23, 33)

Victorian counterparts, view women as responsible for having tamed the beast in man» (251).

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Robert wird zum Objekt der Begierde beider Frauen und zementiert dadurch seinen Alphatier-Status. Doch während Kristy mit Robert eine in ihrer expliziten Beschreibung ans Pornografische grenzende sexuelle Erfahrung erlebt, die sie auch in ihrer latenten Persönlichkeitskrise festigt, stellt ihre Mutter, Connie, den weiblichen Konterpart dar. Völlig stabil in ihrem Frausein, weiß sie, dass sie mit diesem Mann eine ungewohnte, wilde Sexualität erleben kann, anders als den ›korrekten‹ ehelichen Sex: »Correct sex. Thoughtful sex. He [i. e. Connies Ehemann] always asks her if everything’s OK. […] And meanwhile, the senator’s wife wraps her legs around Robert Drummond, shrieks and yeowls like a witch« (85, 179). Es ist dies eine andere Art der Erotisierung des white-trash-Mannes als es Yanceys Inszenierung des schönen, zur hyperromantischen Liebe neigenden Halley war, dessen übernatürliche Schönheit bereits durch den Namensverweis auf den Himmelskörper verbildlicht war.18 Beide sind Laienkünstler (auch Robert fertigt Zeichnungen an), doch während dieses Künstlertum bei Yancey in seinem Scheitern tragisch romantisiert wird, präsentiert sich hier, in der Figur Roberts, ein stärker animalisch-phallisches Männerbild. Kenneth MacKinnon führt ein solches phallisches Bild als eine der bevorzugten Repräsentationen von Männlichkeit an, um Maskulinität über körperliche ›Härte‹ zu definieren: »The male image is often treated as equatable with the masculine image. Masculinity in imagery suggests hardness and toughness« (60). Während diese phallische Maskulinität in der Darstellung oftmals unterstrichen wird durch Accessoires, die dem Helden ›gereicht‹ werden (besonders Waffen, in Roberts Fall außerdem die Tätowierungen), so kann es natürlich auch der Penis bzw. dessen Ausmaße selbst sein, der fokussiert wird: »Emphasis on penis size is one way of attempting to ensure the phallic quality of male imagery« (MacKinnon 61). Und doch bleibt Roberts phallische Maskulinität insofern stellenweise ambivalent, als sie über

18 So heißt es im Rückblick auf Halleys Jugend: »He was a very handsome man. An extremely handsome man. All the young girls were crazy for him, despite his background« (Yancey 37). Und er selbst beschreibt sich in der Terminologie des gestählten Naturkörpers: »I was the strongest man in three counties and no one could touch me when it came to handling an axe. Your daddy told me to take off my shirt. […] In the groves, no man was my equal; I was a prince in a golden kingdom, under a blazing sky« (85, 88).

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den (doppelten) weiblichen Blick als Spektakel inszeniert wird. Laut Laura Mulvey, auf die sich MacKinnon bezieht, ist dies nahezu eine Unmöglichkeit: »the male figure cannot bear the burden of sexual objectification« (Mulvey 20). Doch MacKinnon macht darauf aufmerksam, dass es Möglichkeiten gibt, den männlichen Körper als erotisches Schauspiel in Szene zu setzen. Dies ist beispielsweise der Fall in Kontexten von Kampf- und Verwundungsszenen: »The hero who fights half-stripped or who has his shirt ripped off so that bleeding may be bandaged is engaged, in the first place, in the sort of aggressiveness and activity that is culturally accepted to be masculine; in the second place, his wounded body is an object of contemplation because of the exigencies of the narrative, not, apparently, because the male body is rendered as an erotic sight.« (MacKinnon 20)

Entgegen jedoch der sonstigen »disavowal strategy« seitens der Betrachter eines solchen erotischen Spektakels wird in Chutes Roman der Männerkörper nahezu schamlos in seiner verwundbaren Erotik betrachtet und begehrt. Robert seinerseits lässt sich diese Objektifizierung zwar in sexueller Hinsicht lustvoll gefallen, begegnet ihr aber dadurch, dass er gerade in Szenen größter Intimität seine stärksten politischen Kampfreden führt. So erklärt er Connie, dass er aus einer langen Ahnenreihe von Farmern stamme und nun allen Besitz verloren habe, um die Pflegekosten für Roberts Mutter zahlen zu können: »And the state took the farm from us to pay for the nursing home. Took our home. Fuckers. […] and so now we got nuthin’ but a little shit shack and three kids all in one bedroom and us on the couch and a brand-new mortgage, which is breakin’ us, and we’ve started … uh, yuh, time to go look for a fuckin’ fire hydrant to live in the shade of! […] so we are all slavin’ just to make the big guys rrrrricher. So I get FOUR little diddly-squat piss-poor temp machine-shop jobs … nooooo benefits … that means noooo insurance, no doctors […].« (124-125)

Roberts Rhetorik gestaltet sich dabei zusehends zur kämpferischen Schimpfrede. Sein erklärtes Feindbild ist der privilegierte Yuppie als die Inkarnation des American Dream, während er selbst und Seinesgleichen immer nur auf der dienend-verlierenden Seite verbleiben:

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»We don’t wanna be yuppies. We can’t stand the sight of yuppies. […] We want to be just … be just us! And we wanna make it! An’ to live where we are … at home. And to … see it … you know … the American dream … which says, Work your ass off, people, and you get what you deserve! Fuckin’ A! We shouldn’t have to turn inta disgustin’ icy yuppie pig shit to stay alive!« (126127)

Wie auch schon Ned aus The Oxygen Man wird Robert in einem doppelten Sinne rassifiziert.19 Während Kristy seine ungewöhnliche Schönheit durch eine ethnische Abstammung begründet sieht, die aber nirgends verifiziert wird (»She surmises he is part Indian … some Maine tribe – Penobscot, Passamaquoddy, Micmac – they have them here. Or is he Black Irish? Or both? […] She sighs. He is beautiful« [23]), ist Roberts ökonomisches Versagen in den Kontext schwarzer Versklavung gestellt. Robert selbst meint zur privilegierten Lebenssituation Kristys: »You ain’t never been a niggah« (193). Und in einer Begegnung mit einem schwarzen Militaristen bietet dieser Robert den verbrüdernden Schulterschluss an: »›We, the people. They, the public servants. They get being kings and lords and muth’fuckuhs and doan ‘llow us ways to get ‘em out, we gotta take heads. […] This country’s about to split wide open […]. Revolution got an ugly face. But neither is life of slavery much pretty, life in the cage. A slave’s life disguised as a great life suck, a slave life is a slave’s life.‹ He grips Robert’s good arm.

19 Auch bei Ned wird Sexualität gemeinsam mit der Rassen- und Klassenthematik verhandelt. So meint Larry: »›You not a bad-looking guy. How come you don’t have you no woman?‹«, worauf Ned entgegnet: »›I ain’t entitled to no woman.‹ For a moment Larry was speechless. ›Damn man‹, he finally said. ›You even weirder than most white folks.‹« Und in einem körperlich ausgetragenen Streit mit Matt, der Ned schließlich würgt, stellt Ned sich selbst als Weißer in den Kontext der Sklavengeschichte Amerikas: »[Ned] began to make a sound he couldn’t interpret […]. The sound came again, and Ned was listening to it too, ringing out in the night, this sharp dark piercing sound, he was listening as if it hadn’t come from him but from someone else, someone who must have been standing outside the car, across the road in the cotton patch, someone with blood in his eyes, with chains on his legs and welts on his back, standing there howling in this his second century« (266, 231).

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Hard. His strength, a young man’s strength, just beginning. ›Brother, I wish you luck in heaven.‹« (204-205)

Roberts Schicksal ist notwendig besiegelt. Das von ihm begangene Attentat kann nicht ungestraft bleiben. Doch in der Art der Verzögerung, die der Roman inszeniert, wird Robert ein Aufschub gewährt, der ihn nicht nur noch einmal durch Kristys Schwangerschaft zu einem Vater macht, was symbolisch aufgrund der fortwährenden Rassifizierung seiner white-trash-Abstammung einer Rassen- und Klassenmischung gleichkommt. Auch das Ende transzendiert hier das reale Geschehen und überhöht somit Roberts politisches Anliegen. Connie schmuggelt ihn aus dem Haus (und riskiert damit nicht nur ihre Ehe, sondern auch die Karriere ihres Mannes) und fährt ihn in seinen Heimatort, der natürlich scharf bewacht wird. Und doch bietet das Schlussbild nicht das zu erwartende Blutbad, sondern die melodramatisch angereicherte Heimkehr des ›Kriegers‹, geschildert aus Connies Perspektive: »She thinks […] this is what you must do when the wild creature is ready. You return it to the woods. It will probably die soon, in some ugly way, but that is not your business. […] And Connie is thinking that nature sucks, it really does, but you have to trust Mother Nature, that in the long run, she knows what she’s doing. And just like you’d expect, Robert turns once and looks back, then turns away again and starts running for home.« (242)

Mit diesem Ende wird ein Scheinsieg deklariert, der realiter nicht möglich ist. Doch angesichts der politischen Agenda dieses Romans wird hier nicht so sehr die Vertröstung auf ein Jenseits angestrebt, wie dies zunächst scheinen mag. Die archaisch anmutende Religiosität des letzten Tableaus – die Heimkehr des wilden Tieres in den Schoß von Mutter Natur – verweist vielmehr auf einen erhofften prospektiven Sieg ›der Sache‹: der white-trash-Held als märtyrerhafte Siegerfigur.

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T RASH R ISES : S IEGERGESCHICHTEN Herber J. Gans prognostiziert 1992 das Schreckgespenst einer dichotomen Zuspitzung in den Vereinigten Staaten. Nicht nur würde sich demnach die »multiracial hierarchy« der 1990er in eine duale Rassenhierarchie von »nonblack« und »black« verschmälern: »More important, this hierarchy may be based not just on color or other visible bodily features, but also on a distinction between undeserving and deserving, or stigmatized and respectable, races« (371). Es mag nicht überraschen, dass in diesem Szenario die weiße Rasse weiterhin das Land regieren und dominieren wird. Erstaunlich ist hingegen seine Prognose, dass Klasse eine fast ebenso große Rolle in der Veränderung der Rassengrenzen spielen würde, wenn auch mit wichtigen Ausnahmen. Eine solche Ausnahme könnte das Verbleiben einer signifikanten Zahl armer Weißer als »twenty-first-century equivalent of today’s ›white trash‹« (373) sein. Gans’ Appell für das verstärkte Aufkommen eines Klassenbewusstseins gibt zu denken. Im Aufzeigen von gängigen Sündenbockmechanismen droht der white trash – und zwar mittlerweile sogar regional unspezifiziert – zusehends Familienwerte, sexuelle Werte und die moralische Struktur der Gesellschaft zu gefährden (378). Erst durch einen radikalen »shift from race to class« würden die Amerikaner (und gemeint sind hier die privilegierten weißen Amerikaner der hegemonialen oberen Schichten) ein tieferes Verständnis der Vereinigten Staaten und eine neue Konzeption des amerikanischen Traums und seines Mythos der klassenlosen Gesellschaft bekommen (385). Die Romane zumal zeigen, dass an der Demontage dieses Mythos gearbeitet wird, inklusive an deren geschlechtsspezifischer Variante des »self-made man«. Hierzu gehört auch die freiwillige Annahme eines white-trash-Lifestyles, ein Bejahen einer ansonsten gesamtgesellschaftlich negativ besetzten Lebensform der Unterschicht. Wiewohl white trash nicht nur ein »classist slur«, sondern darüber hinaus ein »racial epithet« bedeutet (Newitz und Wray, »Introduction« 2), so bleibt es doch in der Bedeutung von »subordinate white« (Newitz und Wray, »What Is ›White Trash‹« 169) ein Oxymoron: unterdrücktes Weißsein in einer von Weißen dominierten Kultur. Diese historisch bedingte Widersprüchlichkeit einer Marginalisierung innerhalb der eigenen Kultur begründet Gael Sweeney durch die skandalöse Wahrnehmung von white trash als »acting like Blacks«,

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»which in the language of racism is worse than actually being Black because it constitutes a degradation of ›racially superior‹ Whites. Southern writers […] have portrayed White Trash characters as the lowest of Southern society: labelled lazy, shiftless, no-account, diseased, ignorant, and degenerate, indeed, ›worse than‹ the Poor Blacks whose conditions (and insults) they share, they are seen as degrading to dominant white culture because they reveal the lie of racism: that the so-called inferiority of the Blacks is embedded racially.« (252)

Die jüngsten Romane von Südstaatenautoren (und z. T. auch von Autoren aus dem Norden) haben diese Stereotypen radikal aufgebrochen und kritisch hinterfragt. Dies kann so weit gehen, dass white trash als multikulturelle Lebensweise gewünscht und gefeiert wird. Newitz und Wray sprechen hier jedoch von einer sozialen Viktimisierung, die sich in jüngeren Beispielen wie dem TV-Star Roseanne oder dem verstorbenen Grunge-Rocker Kurt Cobain zu einem »victim chic« stilisieren ließ: »White trash as whiteness under multiculturalism reminds us that, far too often, admission into the multicultural order depends upon one’s ability to claim social victimization. This social victimization is often the result of very real barriers that anti-racist whites face in a world shot through with racial hierarchies. But white trash can also be a version of victim chic, where glamorously marginalized white folks attempt to emulate what they perceive to be the privileged authenticity of victimized multicultural groups.« (»Introduction« 5)

Die Autoren kritisieren hier den authentifizierenden Mechanismus, wonach man erst durch die Annahme einer solchen Opferrolle in die Position rückt, um white trash als Trendmarke ›verkaufen‹ und daraus Kapital schlagen zu können. Whiteness sollte nicht nur über eine solche Viktimisierungsstrategie in eine multikulturelle Gesellschaft assimilierbar sein. White trash stelle daher eine »allegory of identity« zur Beschreibung von Klassengegensätzen dar (8). Im Benennen des Unbenennbaren (»a race (white) which is used to code ›wealth‹ is coupled with an insult (trash) which means, in this instance, economic waste« [8]) kann durch Repräsentationen von white trash am klassenlosen Mythos wie auch an der Rassenstratifizierung der Vereinigten Staaten ›gearbeitet‹ werden. Es ist ein langer Weg vom Plantagenroman über die southern gothic-Schule bis hin zu einem Autor wie Rhett Ellis, der in The Greatest White Trash Love Story Ever Told

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(2005) ganz selbstverständlich das Epitheton white trash aufgreift und in den Kontext einer ›großen Liebesgeschichte‹ stellt, die, so suggeriert der Titel, auch heldenhaft im Arbeitermilieu angesiedelt sein kann. Das Spiel mit den üblichen Stereotypen wird hier gekoppelt an das Erzählgenre der Romanze und die Juxtaposition ist gewollt: »The first time Benny Carpenter saw Terra Peoples, he loved her. It happened on the playground. Terra was holding another little girl face down in the sandbox and pulling her hair. Benny took one look at Terra and felt all the love a five year old boy could feel. He loved her then, and he loved her forever after. Profound inner complexity might have been his problem, or maybe it was just plain old white trash craziness.« (Ellis 7)

Die tragikomische Liebesgeschichte von Benny und Terra durchläuft viele Demütigungen (von Benny durch Terra), etliche Miseren (Terras Prostitution), einen fast gelungenen Tötungsversuch (Terra schießt auf Benny), um schließlich in einem glorifizierenden Happy End zu münden, das Benny alle seine Wünsche erfüllt und bei Terra, einer vormals verbitterten Einzelkämpferin, eine die Wirklichkeit transzendierende Transformation bewirkt: »All of [Terra’s] beauty has returned, and we are startled by what we see. She is so beautiful that the sensation we experience is almost painful. The expression on Benny’s face says he feels what we feel. He feels that he is the honored one. Her love is his joy. She and Benny are taking their children to the playground for the first time.« (75)

Das Trailer Park-Dasein in den US-amerikanischen Südstaaten, sonst ein Garant für soziale Stigmatisierung, wird hier problemlos in den Verlauf der Liebesgeschichte integriert. Beide stammen aus demselben Milieu und beide identifizieren sich auch durchaus weiterhin damit, selbstbewusst und ohne Drang zur Veränderung. Der American Dream ist für Benny, einen stillen, religiösen Mann ohne aggressive Tendenzen, erfüllt, indem er seine große Liebe erobern konnte. Mehr will er nicht, mehr braucht er nicht zum Glücklichsein. Und dies – jenseits aller monströsen Grotesken oder Alphatier-Fantasien – durchbricht auch den Fluch der Genealogie. Die white-trash-Siegergeschichte hier zeigt eine glückliche Familie und schreibt damit ein Stück amerikanischer Geschichte und sozialer Realität um. Autoren wie Dorothy

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Allison oder Carolyn Chute zeigen white-trash-Helden, die in der Geste des offenen Widerstandes sich gegen die Scham und Unsichtbarkeit der armen weißen Bevölkerung der USA zur Wehr setzen. Rhett Ellis’ white-trash-Figuren sind demgegenüber unheldenhaft, sie ›sind‹ einfach nur.

L ITERATUR »The SALON Features: Carolyn Chute’s Wicked Good Militia«. (18.07.2007). Allison, Dorothy. »A Question of Class«. Skin: Talking About Sex, Class & Literature. Ithaca: Firebrand, 1994. 13-36. Boesenberg, Eva. »Ökonomien der Männlichkeit im späten 20. Jahrhundert«. Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeit in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader. Hg. Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz. Bielefeld: transcript, 2007. 371388 Bordo, Susan. The Male Body: A New Look at Men in Public and in Private. New York: Farrar, Straus and Giroux, 1999. Cash, W. J. The Mind of the South. 1941. New York: Vintage, 1991. Chute, Carolyn. Snow Man. New York: Harcourt, Brace & Co, 1999. Douglas, Mary. Natural Symbols: Explorations in Cosmology. London: Barrie & Rockcliff, 1970. Drown, Merle. The Suburbs of Heaven. New York: Soho Press, 2000. Dufresne, John. Deep in the Shade of Paradise. New York: Plume, 2003. Dyer, Richard. White. London, New York: Routledge, 1997. Ellis, Rhett. The Greatest White Trash Love Story Ever Told. Semmes: Sparkling Bay Books, 2005. Frankenberg, Ruth. White Women, Race Matters: The Social Construction of Whiteness. London und New York: Routledge, 1993. Gans, Herbert J. »The Possibility of a New Racial Hierarchy in the Twenty-First-Century United States«. The Cultural Territories of Race: Black and White Boundaries. Hg. Michèle Lamont. Chicago: U of Chicago P, 1999. 371-390. Glasgow, Ellen. »Heroes and Monsters«. Saturday Review of Literature XII 4.5 (1935): 3-4.

ZERRBILDER VERSTÖRTER MÄNNLICHKEIT | 159

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160 | G EFÄHRLICHE M ASKULINITÄTEN

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Queer Cannibals: Doubles und Zombies

Tourniers Anal/yse von Defoes Robinson Crusoe »Es gibt ein untrügliches Zeichen, an dem du erkennen kannst, dass du jemanden wirklich liebst: Wenn sein Gesicht mehr physische Begierde in dir erweckt als irgendein anderer Teil seines Körpers.« (Michel Tournier, »Selbst das Hässliche«) »To love oneself is the beginning of a lifelong romance.« (Oscar Wilde, An Ideal Husband, III)

Ausgangspunkt folgender Überlegungen ist meine Irritation beim Lesen einer Bemerkung, die Robinson Crusoe in Michel Tourniers Vendredi ou les Limbes du Pacifique in sein Logbuch schreibt: »Or s’agissant de ma sexualité, je m’avise que pas une seule fois Vendredi n’a éveillé en moi une tentation sodomite« (184). Mein Bemühen, diese Bemerkung in verschiedenen (Kon)Texten zu verorten, wird mich von Klassifizierungsversuchen, mittels derer Tournier in den Reigen schwuler Autoren aufgenommen wird, über eine Betrachtung des Genres der Robinsonade, anhand derer Daniel Defoes Urtext und Tourniers Relektüre einander gegenübergestellt werden, zu Diskussionen über Homosexualität und Textualität führen, wie sie in der Queer Theory geführt werden, um schließlich zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Bedeutet ein Abstreiten einer »tentation sodomite« nicht im

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Gegenteil, dass eine solche schon alleine durch den Akt der Benennung ›herbeizitiert‹ wird? In der Einleitung zu Homosexualities and French Literature teilt Richard Howard die von ihm behandelten Autoren in zwei Kategorien: »homosexual writers« und »writers who are homosexual« (19). Hinter der paradoxal klingenden Konstruktion verbirgt sich keine Gegenüberstellung, sondern ein historischer Generationswechsel. Die ältere Gruppe »homosexual writers« (darunter Proust, Gide, Genet) wird von einer jüngeren, post-68er Gruppe abgelöst, worunter sich z. B. Roland Barthes befindet und zu der Michel Tournier prinzipiell ebenfalls hinzuzuzählen wäre. Howards Vokabular ist verräterisch, denn heutige Autoren, die homosexuell sind, müssen nicht wie frühere homosexuelle Schriftsteller mutieren zu einem »sacred monster perpetrating those vast destructions […] upon himself which enable him to survive« (ebd. 20). Die Metapher des Monsters verweist somit auf eine Dämonologie schwuler Geschichtsschreibung. Der Preis für die künstlerische Freiheit, den ein heutiger Autor zu zahlen bereit sein muss, ist eine gewisse Unsichtbarkeit, »because there is a way to escape being no more than a monstre sacré« (ebd. 21). Eine unschöne Option, die sich hier auftut: entweder Dämonisierung oder Unsichtbarkeit, entweder Objektivierung als ein sexuell perverses Monster oder aber Auslöschung als Geist einer Selbstbeschämung.1 Es scheint kein leichtes Unterfangen zu sein, Tournier als schwulen Schriftsteller zu verstehen oder seine Texte aus schwuler Sicht zu lesen. Seine Interpreten geben sich (allzu) gerne literarischen Wertungen hin und bemängeln Tourniers Darstellung von männlicher Homosexualität. Ein weiteres Indiz dafür, dass Tournier sich nicht problemlos als ›schwuler Kanon-Autor‹ klassifizieren lässt, ist die Konzentration in der Sekundärliteratur auf seinen Roman Les Météores (1974), in dem Homosexualität am offensichtlichsten verhandelt wird (vgl. beispielsweise Smith). Für Christopher Robinson steht jedoch selbst

1

Vgl. hierzu auch die aus der amerikanischen Gay Liberation der 1960er und -70er resultierende Unterscheidung von gay und homosexual, die darauf beruht, dass es nicht genügt, wenn ein Mann mit einem anderen Mann ins Bett geht, um den Bonus politischer Radikalität zu erhalten. Jeffrey Weeks fasst für diesen Zeitraum die Kluft als eine radikale Trennung »between homosexuality, which was about sexual preference, and ›gayness‹, which was about a subversively political way of life« (198).

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dort Tourniers Repräsentation von Homosexualität unter dem Zeichen der Negativität. Wohl würde in Les Météores Homosexualität gegenüber Heterosexualität eindeutig der Vorrang gewährt, dennoch sei Tournier nicht über Proust hinausgekommen: »What Tournier offers us is really only a form of conservative ›revenge‹ literature […]. Its underlying symbolic structure is rooted in a vision of gayness as inadequate, even defective, which is far closer to pre-war literature than to that of the 1970s.« (Robinson 104)2

Für andere Werke Tourniers hat Robinson lediglich eine Fußnote übrig, in der er ein ausgeprägtes päderastisches Element in Le Roi des aulnes (1970) sowie eine implizite Homoerotik in Vendredi erwähnt (Robinson 116). Ein weitaus differenziertes Bild bietet Lawrence Schehr in seinen Beiträgen zu Tournier, leider aber auch er hauptsächlich mit Konzentration auf Les Météores, wenngleich er gelegentlich Seitenblicke auf andere Werke Tourniers wirft. So erkennt er in Vendredi einen wichtigen Intertext für Les Météores in dem Zitat »I have a dog. I have to find him a name. Robinson called his man ›Friday‹, because he adopted him on a Friday« (Tournier, zit. in Schehr, »Tournier’s Double« 184). Die Präsenz von Vendredi als intertextuelle Selbstreferentialität in Les Météores schreibt, so argumentiert Schehr, Begehren in Sprache ein und erlaubt zweierlei Lesarten: auf der Basis einer Theorie der Verdopplung (Zwillingsnatur) oder einer Theorie der Differenz (ebd. 184). Diese beiden Lesarten werden auch für meine Lektüre von Vendredi eine entscheidende Rolle spielen. Was das Verhältnis der beiden Romane zueinander betrifft, ließe sich aber auch umgekehrt argumentieren, dass nämlich Les Météores in Vendredi bereits ›vorgedacht‹ war. In einer auffällig selbstreferentiellen Bemerkung konstatiert Robinson, er habe sich auf der Suche nach sich selbst in einem Wald von Allegorien verirrt. Diese Bemerkung bezieht sich auf die Beschreibung einer erlebten Mondmeditation: Der Mond gebiert Zwillinge, die Dioskuren, die als »êtres tombés du ciel comme des météores, issus d’une génération verticale, abrupte« auf innigere Weise verbrüdert sind als menschliche Zwillinge, weil sie dieselbe Seele miteinander teilen: »Les jumeaux humains sont pluranimes. Les Gémeaux sont unanimes« (Vendredi

2

Vgl. hierzu Dirk Naguschewskis »Rezension«.

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186-187). Die Entzifferung dieses ›Waldes von Allegorien‹ in dem früheren Text interessiert mich in besonderem Maße, nicht zuletzt weil sich Vendredi durch sein Publikationsdatum 1967 genau vor der von Richard Howard gezogenen Grenze der post-68er Generation schwuler Schriftsteller befindet.

R OBINSONADE

ALS HOMOEROTISCHE

U TOPIE

»Island fiction may be taken to represent any situation of human isolation.« (Gregory Woods 128) »Toute rivalité sexuelle est […] structurellement homosexuelle.« (René Girard 358)

Laut Rudy Bleys gibt es eine profunde Beziehung zwischen dem Reisen in/zu anderen Ländern und der Erfahrung einer homosozialen oder homosexuellen »sensibility« (»Homosexual Exile« 166),3 die sich vor allem ab dem 19. Jahrhundert auszeichnet durch einen von Edward Said definierten »Orientalismus«: »We may as well recognize that for nineteenth-century Europe, with its increasing embourgeoisement, sex has been institutionalized to a very considerable degree. […] Just as the various colonial possessions – quite apart from their economic benefit to metropolitan Europe – were useful as places to send wayward sons, superfluous populations of delinquents, poor people, and other undesirables, so the Orient was a place where one could look for sexual experience unobtainable in Europe.« (190)

Sogar Flaubert hat 1851 mit Knabenliebe experimentiert unter dem Vorwand, orientalische Zivilisation kennenzulernen (vgl. Bleys, »Homosexual Exile« 175), und auch in André Gides L’Immoraliste (1902) kann man lesen:

3

Siehe auch Bleys’ umfassende Studie The Geography of Perversion.

TOURNIERS ANAL/YSE | 167

»Je sentais, à la double faveur du climat et de la maladie, mon austérité fondre et mon sourcil se défroncer. Je comprenais enfin tout ce qui se dissimulait d’orgueil dans cette résistance à ce que je cessais d’appeler tentation puisque aussi bien je cessais de m’armer contre elle.« (Zit. in Chadourne 49)4

Mag für vergangene Zeiten in repressiven, westlichen Gesellschaften der Reiz des Geheimnisses, der sich in dieser Literatur spiegelt, noch als Motivation (und Entschuldigung) für Exotisierung und Orientalisierung gelten, so muss doch ernstlich gefragt werden, welche Zwecke die jüngere Literatur damit verbindet: »Proud to be gay, so why hide? Why ›go native‹?« (Bleys, »Homosexual Exile« 178). Heute spricht man weniger romantisierend von Sex-Tourismus, durch den Sex – egal ob homo oder hetero – zum Konsumartikel wird. Von »going native« kann nicht mehr die Rede sein, wie beispielsweise Hubert Fichte über den Sexmarkt auf der »Robinsoninsel« schreibt: »Homos überfluten Tobago. Sunday Punch verlangt von den Homos, dass sie Tobago – die Robinsoninsel – so schön und unverschmutzt lassen, wie sie es vorgefunden haben« (258). Wenn Tournier in seinem Roman gezielt den Topos der Robinsoninsel aufgreift, so können wir fragen, ob er dies im Sinne einer Utopie tut. Folgen wir Horst Albert Glaser, so meint eine utopische Insel »unbekannte Welten – teils im Sinne eines Gegenentwurfs, teils im Sinne eines irrealen Andersseins oder fantastischer Verzerrung« (9). Abgeleitet vom griechischen Wort ou-topos bezeichnet Utopie einen Un-Ort, ein Nirgendwo. Im Unterschied zur klassischen Utopie, bei der sich ein Berichterstatter die Sehenswürdigkeiten des utopischen Idealstaates zeigen lässt, hat der Schiffbrüchige der Robinsonade keinen Besucherstatus, sondern muss sich seine Lebenswelt erst erschaffen. Die Robinsonade führt somit die Genese einer Utopie erst vor: »Die klassische Utopie ist eine vollkommen eingerichtete Welt, die Robinsonade bietet dagegen eine Welt im Rohzustand an, der zur Utopie entwickelt werden kann« (ebd. 13). Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) ist im Unterschied zu anderen Inselutopien – von Henry Nevilles The Isle of Pines (1668) über Herman Melvilles Typee (1846), Pierre Lotis Le mariage de Loti (1880), Paul Gauguins Noa Noa (ab 1893) und bis hin zu Filmen wie Randal Kleisers The Blue Lagoon (1980) und dem schwulen Softporno

4

Siehe zu Gides Si le grain ne meurt Naguschewski, »Arabische Jungen«.

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Bronze5 – von asketisch-protestantischer Ethik geprägt. Von polygamer Sexualität kann hier keine Rede sein. Mehr noch: In Robinsons Inselwelt gibt es keine Frauen und es werden auch keine vermisst. Während der 28 Jahre, die Robinson auf ›seiner‹ Insel verbringt, findet sich in Robinsons Tagebuch kein einziger Eintrag, der den Frauenmangel beklagen würde. Stattdessen bittet er Gott um einen »companion« und damit ist ein männlicher Gefährte gemeint, der in Friday Gestalt gewinnt. Friday erfüllt mehrere Funktionen in Defoes Text: Zunächst verweist er auf das koloniale Andere, den Kannibalen. Robinson lebt in ständiger Angst vor der Begegnung mit Menschenfressern, die zu bestimmten Zeiten auf seine Insel kommen, um dort Opferriten zu zelebrieren. Bei einer solchen Zeremonie gelingt es Robinson, Friday aus den Klauen der Kannibalen zu retten. Friday wird als guter Wilde den bösen Kannibalen gegenübergestellt. Folgende Textpassage macht deutlich, was Friday von seinen Artgenossen unterscheidet: »He was a comely, handsome Fellow, perfectly well made; with straight strong Limbs, not too large; tall and well shap’d, and as I reckon, about twenty six Years of Age. He had a very good Countenance, not a fierce and surly Aspect; but seem’d to have something very manly in his Face, and yet he had all the Sweetness and Softness of an European in his Countenance too, especially when he smil’d. His Hair was long and black, not curl’d like Wool; his Forehead very high and large, and a great Vivacity and sparkling Sharpness in his Eyes. The Colour of his Skin was not quite black, but very tawny, and yet not of an ugly yellow nauseous tawny, as the Brasilians, and Virginians and other Natives of America are, but of a bright kind of a dun olive Colour, that had in it something very agreeable; tho’ not very easy to describe. His Face was round, and plump; his Nose small, not flat like the Negroes, a very good Mouth, thin Lips, and his fine Teeth well set, and white as Ivory.« (205-206)

Diese Beschreibung beschwört das Phantom eines Wilden herauf, ein monströses Double Fridays, das sich aus der Kompilation all dessen ergeben würde, was Friday nicht ist (»not too large«, »not fierce«, »not curl’d«, »not quite black«, »not ugly yellow«, »not flat«, etc.). Fridays (nackte) Schönheit macht aus ihm eine Summe körperlicher Einzel-

5

Siehe vor allem Aldrich; zur Entstehungsgeschichte von Lotis und Gauguins Texten siehe Edmond; zu filmischen Beispielen siehe Woods.

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teile, ohne jegliche charakterliche Merkmale. Erst nachdem Friday bekleidet ist, wird die Trennung vollzogen zwischen dem idealen Wilden mit gutem Charakter (i. e. Friday) und dem charakterlosen kannibalischen Monster, Fridays Double. Und dennoch offenbart Defoes Text bei näherem Hinschauen auch weiterhin eine xenophobe Haltung gegenüber Friday. Gregory Woods hat darauf hingewiesen, dass das Phantom niemals ganz verschwindet und dass eine atavistische Reversion in den primitiven Urzustand immer möglich bleibt: »The good black man, who having learnt to wear clothes proceeds to learn, never loses the phantom who stands at his side: the bad black man, or savage, or cannibal. His clothing never entirely succeeds in civilising his body. There is about him always the threat, which is also the forlorn dream of postcolonial white racists, that he will ›go back‹ to ›where he belongs‹ […].« (135)

Bei Defoe ist das imperialistische Männlichkeitsideal, das die gesamte Kolonialgeschichte bestimmen wird, bereits ausgeprägt: Männlichkeit ist mit Rationalität assoziiert, während Weiblichkeit an Natur gekoppelt ist. Ausgeschlossen von dieser Geschlechterdifferenz – und sie tatsächlich durchkreuzend – ist ›schwarze Männlichkeit‹: Der Farbige gilt als kindlich, irrational, naturnah, und damit rückt er auch in die Nähe von Weiblichkeit. So hat Victoria Carchidi aus der Sicht postkolonialer Kritik festgestellt, dass »the ›other‹ is not figured solely as the ›native‹ or ›savage‹ man; it is a commonplace that nature, chaos, uncontrollability have long been projected on to women to justify men’s control over them, as well as over other races and cultures« (76). Bei aller Betonung der bei Defoe im Vordergrund stehenden puritanischen Moralität ist das spezielle homosoziale Verhältnis von Robinson und Friday dennoch nicht unbemerkt geblieben. So führt Leslie Fiedler das hetero-ethnische Paar zurück auf den Archetyp homosexueller Paarbildung, Achilles und Patroclus. Außerdem macht Fiedler neben der rassen- auch eine klassenspezifische Unterscheidung zwischen Robinson und Friday fest und meint, in solchen europäischen Texten »the servant may represent the protest of the unconsious against the ego ideals for which his master stands« (363-364).6 Auch

6

Siehe auch Peter Hulme, der Defoes Roman als »colonial romance« liest und betont, dass die wahre »romance« sich zwischen Robinson und Friday abspiele (208ff.).

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Woods sieht in der Reaktion eines weißen Schiffbrüchigen auf einen farbigen Insulaner, dessen Naturverbundenheit sowohl verstörend wie begehrenswert auf den Weißen wirkt, eine Ambivalenz, »striving to make him some kind of lover as well as a slave« (145). Der Weiße muss in seinem Bemühen, die Insel und den Insulaner zu zivilisieren, eine dramatische psychologische Entwicklung auf dem Weg zur Bekräftigung weißer Maskulinität durchlaufen, »either (as a growing boy) by passing through the feverish ructions of puberty, or (as an adult) by regressing to a temporarily infantile/savage condition from which to grow up anew« (ebd. 145). Weißheit und Maskulinität etablieren sich erst in dem Moment, wo Kindheit und Barbarei überwunden werden. Michel Tournier greift in Vendredi ou les limbes du Pacifique unverkennbar auf das Gattungsschema der Robinsonade und hier dessen Urtyp, Daniel Defoes Robinson Crusoe, zurück, wendet es allerdings ironisch.7 Anders als andere Relektüren der Defoe’schen Vorlage8 hält sich Tournier sehr eng an den Prätext. Dennoch nimmt Tournier entscheidende Veränderungen vor. Während zwar die Opposition von Zivilisation und Natur bestehen bleibt, verkehrt Tournier die Bewegungsrichtung, die bei Defoe von der Ankunft auf der Insel als einem Fall aus der Zivilisation in den Naturzustand, über die Bewirtschaftung der Insel durch die Rettung zurück in die Zivilisation verläuft. Tourniers Robinson bekräftigt am Ende in der Entscheidung, auf der Insel zu bleiben, den umgekehrten Schritt von der Zivilisation zur naturhaften Existenz, während Vendredi, der sich zunächst dem Zivilisierungsprojekt Robinsons nicht unterwerfen wollte, sich für das rettende Schiff und damit für die Zivilisation entscheidet. (Bei Defoe verlässt Robinson gemeinsam mit Friday, der weiterhin in Robinsons Diensten verbleibt, die Insel.) Diese, vor allem das Verhältnis von Robinson zu Vendredi betreffenden Veränderungen zeigen Tourniers gänzlich anderes Interesse an dem Genre der Robinsonade. So hat er Vendredi auch nicht dem »premier inspirateur Daniel Defoe« gewidmet, wie er in Le Vent Paraclet schreibt, sondern

7

Vgl. für ein Verständnis von Tourniers Vendredi als Parodie von Defoes Crusoe Genette (42). Für den Vergleich zwischen beiden Texten siehe u. a. Sankey; Petit; Purdy; Aubyn; Davis; Hutton; Milne.

8

Vgl. vor allem die postkoloniale Relektüre des südafrikanischen Autors J. M. Coetzee in Foe (1986).

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»à la masse énorme et silencieuse des travailleurs immigrés de France, tous ces Vendredi dépêchés vers nous par le tiers monde, ces trois millions d’Algériens, de Marocains, de Tunisiens, de Sénégalais, de Portugais sur lesquels repose notre société et qu’on ne voit jamais, qu’on n’entend jamais, qui n’ont ni bulletin de vote, ni syndicat, ni porte-parole.« (229-230)

Hier offenbart sich Tourniers resignifizierende Lektüre: Frankreichs eigene ›Fridays‹ erleiden die gleichen rassistischen Vorurteile wie einst Fridays Double in Defoes Roman; dass nämlich angeblich irgendeine verborgene schamanistisch-primitive Macht in ihnen schlummert. Diese auch noch von Tournier in seiner Zeit beobachtete Stereotypisierung hat nach wie vor eine Demarkierung kultureller Grenzen zur Folge, die ein gegenseitiges interkulturelles aufeinander Hören und voneinander Lernen verhindern. Tournier verschreibt sich in seiner kritischen Relektüre einem aufklärerischen Projekt, das er selbst als solches benennt, wenn er Rousseaus »bon sauvage« zitiert (Le Vent 221) und außerdem die Handlung, die bei Defoe in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts spielt, auf den Zeitraum von 17591787 verlegt. Unter Berufung auf die bei mir besagte Irritation auslösende Bemerkung, behauptet daher Roger Célestin, dass Tournier hier eine andere als die romantische und postromantische Tradition eines Flaubert und Gide verfolge, in der das Exotische sexualisiert wird. Durch die Erklärung, keinerlei sodomitisches Interesse an Vendredi zu haben, sei Tourniers Text näher an der Tradition aufklärerischer Texte, in denen das exotische Andere in Form einer didaktischen Fabel als Rhetorik der Illustration eingesetzt wird: »Friday, like the ›bon sauvage‹ of the eighteenth century, undermines Robinson’s civilizing endeavor through his mysterious affinity not only to plants and animals but to the elements themselves. He is everything Robinson stubbornly and methodically attemps to eradicate from the island. It is thus in this function of subversive opposite, rather than that of object of desire, that he plays a role in Tournier’s text and in Robinson’s metamorphosis.« (Célestin 243)

Im Roman ist die Zeitspanne vor dem Auftritt Vendredis gekennzeichnet durch Robinsons Bewältigung der Erfahrung von Einsamkeit, »ses noces avec son épouse implacable, la solitude« (37), wie es in Vendredi heißt. Gilles Deleuze hat die durch die Einsamkeit erfahrene Auflösung gesellschaftlicher Sinnstrukturen zum Ausgang genommen

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und gezeigt, wie Tournier einerseits im Anschluss an die existentialistische Philosophie Sartres die Destabilisierung des Subjekt-ObjektVerhältnisses vorführt, wenn die anderen als Vermittlungsinstanz ausfallen, und wie sich hierbei andererseits das Begehren aus einer heterosexuellen Kodierung löst und einer ursprünglichen polymorph-perversen Sexualität zuwendet (siehe Deleuze). Während Wolfgang Matzat anhand von Robinsons Perversionen vor allem die Infragestellung der konventionellen (Liebes-)Romanstruktur, die mit der Darstellung einer Verletzung der auf Heterosexualität ausgerichteten gesellschaftlichen Normen einhergeht, fokussiert, interessiert mich die Thematik der Perversion an sich. Im Unterschied zu Matzat sehe ich auch schon im Defoe’schen Vorbild Robinson nicht als einen geschlechtslosen Helden angelegt, sondern als eine sowohl in seiner xenophoben wie homophoben Charakterisierung ambivalente Figur (Matzat 128).9 Im Hinblick auf die Spur, die der Text in Bezug auf Homosexualität legt, scheint mir daher auch Matzats Zweiteilung von Tourniers Roman nicht haltbar, wonach sich der erste – naturferne – Teil durch die perversen Praktiken und der zweite durch ein Fehlen spezifisch sexueller Züge sowie einer Hinwendung zu einem sinnlich kosmischen Erleben auszeichnen (ebd. 128). Diese Interpretation klingt nur so lange plausibel, wie sie die Figur des Vendredi ignoriert und Robinsons erzählerisches Zentrum unangetastet belässt. Sie reproduziert damit aber genau die koloniale Attitüde, die der Text – schon durch die Verschiebung im Titel von Defoes Robinson zu Tourniers Vendredi – in der ironischen Verkehrung gerade ausstellen will.10 Mir scheint daher das entscheidende Moment der Resignifikation eine »gay transformation of heterosexual representation« zu sein, die David Bergman für Autoren wie Michel Tournier geltend macht (162). Bergman zählt Tournier zu jenen Schriftstellern (neben Herman Melville, Charles Warren Stoddard, André Gide, Tennessee Williams, Yukio Mishma, Pier Paolo Pasolini u. a.), die in ihrer Selbstdarstellung eine bestimmte ›schwule Rhetorik‹ entwickelt haben, die immer zwi-

9

Deleuze spricht zutreffender von einer »élimination de toute sexualité dans le Robinson de Defoe (352), was den Akt der Gewalt deutlich macht, den dieses Ausschlussverfahren bedingt.

10 Matzat sieht dies selbst in einem anderen Zusammenhang: »Tournier verweist […] in überzeugender Manier auf den Eurozentrismus, der sich hinter der philanthropischen Attitüde von Defoes Robinson verbirgt« (130).

TOURNIERS ANAL/YSE | 173

schen der Verwurzelung in der Sprache der dominanten Kultur und dem Versuch des Entkommens aus dieser homophoben Herkunft oszilliert. Bergmans Lektüren beruhen auf der Beobachtung, dass in patriarchalen Gesellschaften Gewaltakte zwischen Männern eher geduldet werden als Gesten der Zuneigung. Diese Meinung entspricht David Greenbergs anthropologischem Diktum: »If men are accustomed to compete with one another for status, and conceive of sex in terms of domination, then egalitarian relations must be asexual if they are to continue« (72). Literarhistorisch hat diese Erkenntnis, wie in Tourniers Vendredi, ein Umschreiben der Robinsonade zur Folge: von einem Text wie dem Defoes, der von der Angst erzählt, vom kannibalischen Anderen aufgefressen zu werden, zu einem alternativen Modell egalitären, mannmännlichen Zusammenlebens. Der problematischen sexuellen Spannung, die dabei zwischen den Männern entstehen kann und sich in eben jenen Bemerkungen äußert, die von einer (vorgeblichen) Absenz sodomitischen Begehrens sprechen, möchte ich im Folgenden durch einen kursorischen Blick in das Feld der Queer Theory kulturtheoretisch nachspüren als Befragung der provokanten These von Leo Bersani: »To be penetrated is to abdicate power« (Bersani, »Is the Rectum« 212).

»Q UEER

IS HOT .«

11

»[…] ›fuck identity‹. Or perhaps more accurately, let’s not make an ›identity‹ out of whom we fuck.« (Ed Cohen 174) »If you do too much queer theory you stop having sex.« (Esther Newton 347)

In einer Stellungnahme zu seinem eigenen Schreiben betont der schwule amerikanische Schriftsteller Edmund White: »In one sense, most of the fiction I like and all the fiction I write is political« (378).

11 Berlant und Warner 343.

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Mit politisch meint White, dass für vielleicht alle Schriftsteller, sicherlich aber für lesbische und schwule AutorInnen nach den 1960ern jede künstlerische Entscheidung einen politischen Aspekt hatte, dessen möglicherweise utopische Dimension von der literaturwissenschaftlichen Seite nicht notwendig erkannt wird. Dennoch gibt er zu, dass die gegenwärtigen akademischen Kämpfe um politisch korrekte Literatur, um Fragen der Kanonisierung und auch besonders um »queer fiction« ein Gradmesser dafür sind, welch entscheidende Rolle diese Literatur in der Formierung einer neuen Kultur spielen (ebd. 383). Das utopische Element, das White aus der ›praktischen‹ Sicht des Schriftstellers artikuliert, lässt sich auch in der Form(ul)ierung einer Queer Theory wiederfinden als einem fortwährenden Agieren im Zeichen des Widerstands: »Utopic in its negativity, queer theory curves endlessly toward a realization that its realization remains impossible, that only as a force of derealization, of dissolution into the fluxions of a subjectless desire, can it ever be itself.« (Edelman, »Queer Theory« 346)

Auch Lauren Berlant und Michael Warner greifen in ihrem Versuch – oder besser ihrer Verweigerung – einer Definition von Queer Theory auf die Metaphorik der Utopie zurück, um das Dilemma der konzeptionellen Erarbeitung zu fassen: »Because almost everything that can be called queer theory has been radically anticipatory, trying to bring a world into being, any effort to summarize it now will be violently partial« (Berlant und Warner 344). Der Reiz – im positiven wie negativen Sinne – liegt begründet in der semantischen Polyvalenz von queer: »Once the term ›queer‹ was, at best, slang for homosexual, at worst a term of homophobic abuse. In recent years ›queer‹ has come to be used differently, sometimes as an umbrella term for a coalition of culturally marginal sexual self-identifications and at other times to describe a nascent theoretical model which has developed out of more traditional lesbian and gay studies.« (Jagose 1)

In der Tat steht seit den späten 1980ern der Begriff queer in einem offenen Konfliktverhältnis zu lesbisch und schwul, wenn es darum geht, den politischen Horizont von Geschlechterstudien an der Universität zu definieren. Angelpunkt bleibt hierbei das Verständnis von

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Identität. Die meisten queer-Befürworter, zu denen ich mich an dieser Stelle bekennen muss, verstehen unter queer sexuelle Praktiken, soziale Formierungen und Wissensproduktion, die nicht auf Identität mit einer ontologischen oder epistemologischen Zielsetzung ausgerichtet sind. So sieht Alexander Doty in einem queer reading eine Rezeptionshaltung, die als queer bezeichnet wird, ohne dass sich dahinter eine spezifische sexuelle oder geschlechtliche Assoziierung verbergen muss (xi). Doty suggeriert hiermit »that new queer spaces open up (or are revealed) whenever someone moves away from using only one specific sexual identity category – gay, lesbian, bisexual, or straight – to understand and to describe mass culture, and recognizes that texts and people’s responses to them are more sexually transmutable than any one category could signify – excepting, perhaps, that of ›queer‹.« (xviii-xix )

Michael Warner beschreibt den Wechsel in der Selbstidentifikation von schwul/lesbisch zu queer als »an aggressive impulse of generalization; it rejects a minoritizing logic of toleration or simple political interest-representation in favor of a more thorough resistance to regimes of the normal« (»Introduction« xxvi ). Für den Akademiker bedeutet das artikulierte Interesse an Queer Theory die Chance, Staub in den desexualisierten universitären Räumen aufzuwirbeln und ›alten Dreck‹ rauszuschmeißen. Es bedeutet aber auch, sich eine neue Öffentlichkeit vorzustellen, aus der und zu der der/die Akademiker/in spricht, schreibt, handelt. Die kritische Position von Queerness einzunehmen hat den Effekt, nicht so sehr gezielte Intoleranz, sondern den immensen Bereich der Normalisierung als Schauplatz von Gewalt auszumachen: »For both academics and activists, ›queer‹ gets a critical edge by defining itself against the normal rather than the heterosexual« (ebd. xxvi). Entscheidend für meine Zwecke hier bleibt die in der Queer Theory gestellte Frage nach den Machtverhältnissen: »And without forgetting the importance of the hetero-homo distinction of object choice in modern culture, queer work wants to address the full range of power-ridden normativities of sex. This endeavor has animated a rethinking of both the perverse and the normal: the romantic couple, sex for money, reproduction, the genre of life narrative.« (Berlant und Warner 345-346)

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Die Zweifler an der Funktionalität des Begriffes queer12 führen dagegen ins Feld, dass queer die Spezifität von gleichgeschlechtlichem Begehren und Identitätsformation auslösche, besonders im Hinblick auf das Erbe der lesbisch-feministischen Kritik und kultureller Politik. So klagt beispielsweise Bonnie Zimmerman: »It is curious indeed to find Queer Nation – even a totalizing Queer Planet – emerging to replace a discredited Lesbian Nation« (4).13 Die Gegner der Queer Theory sehen besonders in der Idee einer progressiven Befreiung des Individuums aus den regulativen Effekten der Kategorien ›lesbisch‹ und ›schwul‹ bzw. einer generellen progressiven ›lesbisch-schwulen‹ Befreiung in der Kultur an sich ein Problem, da die Vorstellung einer solchen progressiven Befreiung als implizite Begründung der Queer Theory immer wieder auf die Existenz von lesbischen und schwulen ›Identitäten‹ als Kategorien unterdrückter Personen zurückgreifen muss, die gerade in der performativen Konzeption von Queerness verabschiedet werden soll. Dieser Argumentation zufolge verschreiben sich queer-Theoretiker implizit einer Vorstellung, dass lesbischschwule Identitäten eine Authentizität besitzen, deren es der Heterosexualität ermangelt (vgl. Allen 24-25). In Bezug auf ein pädagogisch ausgerichtetes Interesse der lesbisch-schwulen Studien entsteht außerdem das Problem, Queerness nicht als ein exotisches Spektakel zu inszenieren, bei dem es als eine Art ›Identitätstourismus‹ zu einer imperialistischen Kolonisierung des (akademischen) Ortes des Anderen kommen kann. Dennis Allen spricht hier von einer ideologischen Schizophrenie bei den Lesbian and Gay Studies (als einer kurrikularen Erforschung von Identitätskategorien) und der Queer Theory (als einer Vielfalt akademischer Diskurse, aus denen sich die theoretischen und analytischen Grundlagen für die Erforschung eben jener Identitäten speisen), die sich in der Tendenz bei theoretischen Werken niederschlägt, fast ins Endlose die Pluralisierung von Identitäten voranzu-

12 Es ist besonders interessant, Teresa de Lauretis’ Positionierung zu verfolgen, die sich neben Judith Butler und Eve Sedgwick als eine der ersten Theoretikerinnen der Queer Theory verschrieb (siehe ihre programmatische Einleitung »Queer Theory«), um in späteren Texten zusehends davon Abstand zu gewinnen (vgl. »Habit Changes« und The Practice of Love). 13 Gegen die Kluft zwischen lesbisch und queer siehe Lauren Berlants Argument einer »lesbian/queer challenge to the sexual imaginaries of feminist and gay politics« (301).

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treiben, »while at the same time such analyses often argue that we need to retain, for the purpose of political liberation, the (falsely) totalizing rubrics being critiqued (›lesbian‹, ›bisexual‹, ›gay‹, and even ›queer‹ […])« (43-44). Für meinen Zusammenhang von Bedeutung ist ein weiteres Reizthema bei der Erforschung von queer-Identitäten: Ethnizität. Drei Positionen sollen hier schlaglichtartig vorgestellt werden. Robyn Wiegman zählt zu den VertreterInnen, die gegen eine Konzipierung von sexueller Identität als einer distinkten Körperlichkeit plädieren, die parallel zu den Achsen von Geschlecht und Rasse verstanden wird: »I am struck by the inability of race and gender, specifically of blacks and women, to adequately serve as frameworks for the social production of sexuality or its institutional disciplinary construction. It is toward thinking beyond the habit of analogizing sexuality to race and gender […]. Race and sexuality operate differently, and while the postmodern dismantling of identity has given rise to an antiessentialist theory of performance, that theory is not adequate to talk about the ways in which differences are culturally produced and maintained.« (9, 11-12)

Demgegenüber argumentiert Calvin Thomas in Bezug auf den zeitgenössischen amerikanischen Kontext, dass es in anderen sozialen und historischen Zusammenhängen sehr wohl auch andere Ängste gegeben haben mag, bei denen Themen wie Klasse, Nationalität, Rasse oder Religion eine dominante Rolle in der Bewahrung kohärenten Identitätsgrenzen gespielt haben. Mittlerweile sei aber Homophobie so vorherrschend bei den Ängsten um das paradoxale kulturelle Gerangel um die Konstruktion von Identitäten, »that the fear of being marked ›different‹ as such is thoroughly intricated with, if not overtetermined by, the fear of being queered« (Thomas 101). Leo Bersani wiederum beharrt in seiner Erörterung der Verbindung von ›Weißheit‹ und schwuler Identität auf der gedanklichen Trennung der Bereiche Rassismus und Homophobie, da beide mit völlig unterschiedlichen, wenngleich ähnlich machtvollen Projektionsmechanismen operieren: »A white racist projects onto blacks some lurid sexual fantasies of his own, but essentially his version of ›the nature of blacks‹ […] is a response to what he

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sees as an external threat, a threat to personal safety, economic security, and the achievements of white civilization.« (Bersani, Homos 27)

In dieser rassistischen Angstprojektion zählen Schwarze zu einer gefährlichen und minderwertigen Rasse, die ›den Weißen‹ zu zerstören vermag. Aber – und hier spitzt sich die Argumentation hinsichtlich der Differenz zwischen Rassismus und Homophobie zu – kein weißer Rassist hat Angst davor, von einem Farbigen dazu verführt zu werden, selbst ein Farbiger zu sein: »Homophobia, on the other hand, is precisely that: to let gays be open about their gayness, to give them equal rights, to allow them to say who they are and what they want, is to risk being recruited« (ebd. 27). Bersani hat an anderer Stelle die Mechanismen einer Kollaboration mit den Priviligierten der Gesellschaft analysiert und für den Fall des schwulen Mannes eine paradoxe identifikatorische Appropriierung des begehrten Objektes konstatiert: »An authentic gay male political identity therefore implies a struggle not only against definitions of maleness and of homosexuality as they are reiterated and imposed in a heterosexist social discourse, but also against those very same definitions so seductively and so faithfully reflected by those […] male bodies that we carry within us as permanently renewable sources of excitement.« (Bersani, »Is the Rectum« 209)

Bersanis Argumentation, die sich aus den Erfahrungen der AIDS-Krise speist, gewinnt in dem Moment an polemischer Schärfe, wenn es um die Dekuvrierung eines Diskurses geht, wonach schwuler Sex als (Selbst-)Mord diffamiert wird. Mit dem Verweis auf die erstaunliche Analogie in der Darstellung weiblicher Prostituierter im 19. Jahrhundert als Seuchenmittlerinnen, die ›unschuldige‹ Männer mit Geschlechtskrankheiten ansteckten, hat sich in den letzten Jahren auch ein (erneuter) Diskurs über Homosexualität gebildet mit dem Brennpunkt analen Sexes: »Women and gay men spread their legs with an unquenchable appetite for destruction« (ebd. 211). Das unerträgliche Bild, das hierbei provoziert wird, ist das eines Mannes, »legs high in the air, unable to refuse the suicidal ecstasy of being a woman« (ebd. 212). ›Passiver‹ Analsex ist aber nicht erst seit AIDS ein sanktioniertes Verhalten, sondern war schon im griechischen Altertum eine rechtliche und moralische Unmöglichkeit, da es einem Verzicht auf sozialer

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Autorität gleichkam: »To be penetrated is to abdicate power« (ebd. 212).14 Im Zusammenhang von Queer Theory und lesbisch-schwulen Studien lässt sich die von Bersani beschriebene – und letztlich als ideologisches Konstrukt verworfene – Logik von Machtausübung und -verzicht, die sich als Folge des Analverkehrs ergibt, auf das Gebiet der Pädagogik übertragen. So nimmt Gregory Bredbeck in seinem programmatischen Aufsatz »Anal/yzing the Classroom: On the Impossibility of a Queer Pedagogy«, dem ich selbst mein im Titel angedeutetes Wortspiel verdanke, Jane Gallops Dynamik der Analität als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen: »A greater man penetrates a lesser man with his knowledge. The student is empty, a receptacle for the phallus; the teacher is the phallic fullness of knowledge« (Gallop 43, zit. in Bredbeck 169). Das nicht ausgesprochene, aber umzirkelte Wort hierbei ist natürlich der Anus. Übertragen auf die konkrete Lehrsituation behauptet Bredbeck die Unmöglichkeit von Homosexualität durch eine Dynamik der Gleichheit. Er folgt hierbei einer Argumentationslinie, die ihn von Gallop über Luce Irigarays »hommo-sexualité« zu Teresa de Lauretis führt, die über die Unmöglichkeit lesbischer Repräsentation meint: »With the term hommo-sexuality […] Irigaray puns on the French word for man, homme, from the Latin homo (meaning ›man‹), and the Greek homo (meaning ›same‹). In taking up her distinction between homosexuality […] and ›hommo-sexuality‹ […], I want to remark the conceptual distance between the former term, homosexuality, by which I mean lesbian (or gay) sexuality, and the diacritically marked hommo-sexuality, which is the term of sexual indifference, the term (in fact) of heterosexuality. I want to remark both the incommensurable distance between them and the conceptual ambiguity that is conveyed by the two almost identical acoustic images.« (»Sexual Difference« 142)15

Die Dynamik der Gleichheit ergibt sich durch eine Auslöschung von Homosexualität durch Hommo-Sexualität: »In this classroom, the hommo-social woman can be nothing but a reproductive less-than-

14 Vgl. hierzu besonders Michel Foucaults Histoire de la sexualité II, Kap. 4. 15 De Lauretis bezieht sich ihrerseits auf Luce Irigarays Ce sexe qui n’en est pas un (1977) und Speculum de l’autre femme (1974).

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man, the gay man can be nothing but a differently reproductive man, and the lesbian, I am afraid, can be nothing at all« (Bredbeck 172). Mit Blick auf Tourniers Vendredi ließe sich an dieser Stelle einhaken und fragen, ob denn das Verhältnis von Robinson zu Vendredi in einem solchen pädagogischen Licht gesehen werden kann. Würde demnach Robinsons entschiedene Weigerung, sodomitisches Begehren bezüglich Vendredi zu haben, eine Weigerung bedeuten, sich der Dynamik der Gleichheit zu unterwerfen, in der ein schwuler Mann nichts anderes sein kann als ein auf andere Weise reproduktiver (Hetero-)Mann? Und/oder ließe sich Robinsons Ablehnung von Analität als eine Restituierung phallischer Autorität und damit eines Systems sexueller Differenz verstehen? Denn wenn wir Sigmund Freuds Rekonstruktion der traumatischen Urszene Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (Der Wolfsmann) Glauben schenken, wonach Freuds Patient seine Eltern beim coitus a tergo (von hinten) beobachtete, sich an die Stelle der Mutter setzte und das Organ, an dem sich die Identifizierung als passiv homosexuelle Einstellung zum Mann äußern konnte, der Anus war (Freud 202), so situiert sich die sodomitische Urszene fantasmatisch im Bereich des Prägenitalen, d. h. beide Sexualpartner werden geschlechtlich undifferenziert und als mit einem Penis ausgestattet wahrgenommen. Es ergibt sich ein signifikanter Widerspruch: In dieser proto-homosexuellen Urszene findet eine Identifikation mit beiden Elternteilen statt, da beide geschlechtlich nicht voneinander geschieden werden. Die nachträgliche, durch den Kastrationskomplex eingetretene Umdeutung dieser Szene unterscheidet den aktiven, heterosexuellen Mann von der passiven (Op)Position der Frau, die nun als kastriert wahrgenommen wird. Aus der doppelten – lustvoll erlebten – Identifikation des Penetrierenden und des Penetrierten wird in Freuds Lektüre ein Akt, der bestraft wird: Die Mutter ›bezahlt‹ für die Penetration durch den Vater mit dem Verlust ihres Penis, der Kastration, und behält die Wunde, hier den Anus, zurück. Lee Edelman erkennt in dieser Lesart des sodomitischen Spektakels Freuds eigene vorurteilsbehaftete Verankerung in »modern masculinist heterosexual culture [that] conceptualizes lesbian and gay male sexuality in terms of a phallocentric positional logic, insistently (and dismissively) articulating lesbianism as a form of extended, non-productive foreplay and gay male sexual relations as a form of extended, non-productive behind-play. The scene of sodomy comes to figure, therefore, both a spatial

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disturbance in the logic of positions and a temporal disturbance in the logic essential to narrative development.« (»Seeing Things« 104)

Bei Freud muss der Mann die Freuden des Anus leugnen, weil ihre Erfüllung die Kastration bedeutet, die wiederum als Definition von Weiblichkeit dient. Und damit schreibt sich die Logik der Differenz in das Begehren ein: »Thus the male who is terrorized into heterosexuality through his internalization of this determining narrative must embrace with all his narcissistic energy the phantom of a hierarchically inflected binarism always to be defended zealously.« (Ebd. 106)

Während der Anus des Mannes somit phobisch besetzt ist als der Ort, wo es zu einer traumatischen Konfrontation mit der Möglichkeit kommt, wie seine Mutter zu werden, sind die weiblichen Genitalien durch ihre signifikante Beziehung zur Analerotik bestimmt, welche er verwerfen musste. Die (ver)störenden femininen Konnotationen, die Analerotik beinhaltet, zeigen sich in der ideologischen Signifikanz des Geschlechtsverkehrs insofern, als es nicht nur um die Penetrierbarkeit der Frau, sondern auch um die Unpenetrierbarkeit des Mannes geht, um die exklusive Designation seines Körpers als nahtlose phallische Herrschaft. Über Analität wird demnach der Wert eines ›Mannes‹ taxiert und nur die ständige Kontrolle scheint zu gewährleisten, dass Maskulinität nicht kollabiert. Das Eingestehen der Möglichkeit von Analerotik für den Männerkörper bedeutet einen Verlust des phallischen Anspruches, denn: »The ass is soft and sensitive, and associated with pollution and shame, like the vagina. It is non-specific with regard to genital difference in that everybody has one. It allows access into the body, when after all only women are supposed to have a vulnerable interior space. All this makes anal eroticism a suasive point for the displacement of purely phallic boundaries.« (Waldby 272)

Die maskuline Taxonomie steht besonders in Grenzsituationen des Lebens auf dem Prüfstand, wie sie auch der Schiffbruch darstellt: »For all their claims to civilised manhood, most castaways ultimately lapse into either blissful or appalled anality« (Woods 145).

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ANALITÄT / H OMOTEXTUALITÄT »Chaque homme a sa pente funeste.« (Michel Tournier, Vendredi 43)

Freuds Lektüre einer infantilen Neurose bringt mich zurück zu Tournier und der Frage nach der genauen Qualität von Robinsons Perversion: »Ce Robinson ne fait rien de pervers à proprement parler; et pourtent comment se débarrasser de l’impression qu’il est pervers luimême, c’est-à-dire suivant la définition de Freud, celui qui dévie quant aux buts?« (Deleuze 353) Für Deleuze besteht die Deviation in Robinsons Hinwendung zu den Elementen als Liebesobjekte in einer transformierten Sexualität im Zeichen von Uranus. Perversion, aus der Sicht Deleuzes, funktioniert über die Auslöschung des Anderen: »Toute perversion est un autruicide, un altrucide, donc un meurtre des possibles. Mais l’altrucide n’est pas commis par le comportement pervers, il est supposé dans la structure perverse. Ce qui n’empêche que le pervers est pervers non pas constitutionnellement, mais à l’issue d’une aventure qui a sûrement passé par la névrose, et frôlé la psychose. C’est ce que suggère Tournier dans ce roman extraordinaire: il faut imaginer Robinson pervers; la seule robinsonade est la perversion même.« (Ebd. 372)

Tourniers ›perverse Robinsonade‹ fußt auf einem Selbstverständnis des Autors, nicht im traditionellen Sinn eine Geschichte zu erzählen, sondern sich einer komplexen narrativen Selbstreflexivität zu verschreiben. Robinsons Tagebuch bedeutet nicht nur eine narrative Dopplung (Er-Erzählung im passé simple und imparfait, Ich-Erzählung im Präsens), was als Zeichen für eine Persönlichkeitsspaltung Robinsons gedeutet werden kann (»ce paradoxe: une chose qui est moi. Mais est-elle bien moi? […] Qui je?« [74-75]). Die Tatsache, dass Robinson auf weißgewaschenen Seiten der Bibel schreibt, suggeriert bereits intratextuell ein Palimpsest, das metatextuell überdies auf einem rewriting von Defoes Text gründet. Arlette Bouloumié sieht in dieser »dislocation of the narrative« eine Krise des Realitätskonzeptes, was für die Leser ein Feld des Zweifelns und der Vermutungen öffnet: »Rather than adventure writing, Friday is a writing adventure […]. Robinson’s story becomes a parable on writing which should demolish the conventional ›I‹ […]« (454-455).

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Tournier steht damit in einer Tradition französischer Literatur, die der Freudschen Logik der Differenz folgt, die sich in die Sprache des Begehrens einschreibt. Danach ist die Lesbarkeit von Homosexualität als ein Problem von Gleichheit und Differenz zu bestimmen, was allerdings zu dem Dilemma führt, wie ein Text sich als ›schwul‹ deklarieren lässt. John O’Neill beispielsweise definiert »Homotextualität« in Bezug auf Roland Barthes als »style«, als »corporeal bond between the man and his text« (172). Barthes als lesender und schreibender Mann steht hier zur Disposition bei der Bestimmung einer Homotextualität: »Barthes never separated the text from its corporeal thematics, its radical biography« (ebd. 181). Nach O’Neill schreibt sich Barthes als literarischer Transvestit immer körperlich in seinen Text ein und gibt ein entsprechendes Lektüremodell damit vor: »We read books with our bodies. We write with our bodies too. […] We live, then, between two bodies: the literary body that reads and writes that other body of literature so that we can hardly know one apart from the other« (ebd. 167-168). In ihrer Erwiederung krititisiert Gayatri Spivak zurecht die Privilegierung des Körpers bei O’Neill: »The legitimation operates through the resolute exclusion of the mind from the operations of reading and writing« (Spivak 183). Spivak überschreibt daher O’Neills Aufsatz neu in Anlehnung an Luce Irigaray mit »Hommo-textualite« [sic] (192), um zu markieren, dass es sich bei O’Neill um eine Argumentation handelt, in der Männer sich untereinander austauschen und Frauen – wenn auch ungewollt – ausschließen. So sehr man dafür plädieren kann, dass ein »literal body« Barthes’ bei der Textproduktion im Spiel ist, so wenig kann dies für Tournier veranschlagt werden.16 Barthes wiederum ist Emily Apters Ansatzpunkt, um den Begriff Homotextualität für André Gide geltend zu machen. Jenseits einer unheimlichen Komplementarität in den jeweiligen literarischen Projekten, gibt Apter einen weiteren Grund an »for reading Gide with Barthes, for daring the ridiculous by envisioning a work entitled: Gide, lecteur de Roland Barthes!« (Apter viii). Beide, Gide wie Barthes, bewegen sich – so Apter – in ihren Karrieren von post-symbolistischen Genres zu rhetorischen Codes eines »lover’s discourse«, den sie Homotextualtität nennt: »In the dialectic between

16 Für den Versuch, ein imaginäres hom(m)osexuelles Zusammentreffen zwischen einem Lesenden und einem Schreibenden zu inszenieren, siehe D. A. Millers Bringing Out Roland Barthes (1992).

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askesis and affirmation, litotes and hyperbole, aestheticized, Platonic love and the literal, immediate eroticism of the textual body, a poetics of gender may be traced that establishes profound affinities between the two authors« (ebd. viii). Sie schränkt allerdings sofort ein, dass es ihr nicht um eine systematische Definierung des Begriffes geht: »In using it, I have been conscious of its value as a kind of omnibus signifier referring to dimensions of the relationship between Greek codes of ideal love and what the early sexologist Edward Carpenter would characterize as a ›homosocial‹ epistemology, to displacements and indeterminacies of narrative voice and gender, and to the fluctuating semiosis of a sexually suggestive textual silence.« (Ebd. viii)

Demgegenüber hat George Bauer eine im Hinblick auf Tournier weiterzuführende Vorstellung eines Homotextes entwickelt, die auf einem Ineinandergreifen von Sexualität und Textualität beruht und die sich anhand seiner Sartre-Lektüre (und Sartres Genet-Lektüre) aus einem Spiel mit Essen, Lesen, Schreiben und Sexualität ergibt: »The sexual eatings of the other – the eyes (look), the mouth (eating, reading) – now fellatio, obviously; anal intercourse in which that other mouth voraciously devours; and yes, even masturbation, the frustrated eating of the self – all these are only implied in Mr. P... [of La nausée] and Daniel [of Les chemins de la liberté] are now voiced in Genet. When Sartre has the good fortune to fall on Genet, the Narcissus, the thief, the homosexual, the writer, he is able to pull together all these threads and speak openly of these cul-inary as-pects, but not as fiction of his own creation – only in the fiction of psycho-anal-ysis do they surface.« (325)

Sartres Anal-o(r)gien (um in Bauers ambivalenter Graphologie zu bleiben) entwickeln sich in Bauers Lektüre zu einem »intercourse (sexual/textual)« zwischen Männern. Bauers Begriff der Homotextualität, den er letztlich nur im Titel fixiert und im Essay allenfalls als working hypothesis entfaltet, soll hier mit Lee Edelmans Vorstellung einer »Homographesis« erweitert werden. Edelmans Ansatzpunkt für die Bestimmung einer ›homo-sexuellen/textuellen Schreibweise‹ ist das paradoxales Spiel mit den Präfixen ›homo-‹ und ›hetero-‹. Während das Präfix von ›Homosexualität‹ auf eine Gleichheit in der sexuellen Objektwahl verweist im Gegensatz zur ›Diffe-

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renz‹ in heterosexuellen Beziehungen, wechseln ›homo‹ und ›hetero‹ als dasselbe und das andere ihren semantischen Ort dann, wenn in einer phobischen Kultur Homosexualtiät als Kennzeichen der Differenz bestimmt wird, als das von der heterosexuellen Norm Abweichende sowie als die Markierung des Anderen im sexuellen Diskurs an sich. Die Stabilität einer Ordnung der Heterosexualität über die Artikulation sexuell differenter Identitäten, denen je eine fiktive Kohärenz zugeschrieben wird, insistiert gleichzeitig aber auf einer Logik der Identität als einer Logik des Gleichen. Aus diesem widersprüchlichen Einsatz von Gleichheit entwickelt Lee Edelman den Begriff der »Homographesis« als schwules Analysemodell: »Joining ›homo‹, the overdetermined signifier of this self-contradictory sameness, with ›graphesis‹, a signifier pointing to the inscription of inscription itself as difference, Homographesis seeks to situate the critical discourse of sameness and difference within the context of the sexually freighted logic that underlies and informs it, and to offer, in so doing, an interpretive purchase on the questions of identity and otherness that loom so large in contemporary theory and in the politics of gay cultural analysis.« (Homographesis xix)

Edelmans von der Dekonstruktion bestimmte Lektüren suchen den kulturellen Vorgang nachzuzeichnen, mittels dessen der schwule Körper als Text sichtbar und damit lesbar gemacht wird. Mit dem Neologismus »Homographesis« benennt er eine Schaltstelle in der Diskussion um Homosexualität in Beziehung auf Schreiben und Textualität, bei der ›homosexuelle Identität‹ gleichermaßen als ein Konstrukt verstanden wird, das von einer heterosexuellen Kultur als ein differentielles Konzept entworfen wird, um den schwulen Körper als einen lesbaren zu kategorisieren, und durch eine Assimilation gekennzeichnet ist, mit der sich eine ›homosexuelle Idenität‹ an die (Ein)Schreibverfahren eben dieser Kultur angleicht.17 Als dekonstruktives Verfahren folgt »Homographesis« daher einer doppelten Zielsetzung: »one serving the ideological purposes of a conservative social order intent on codifying identities in its labor of disciplinary inscription, and the other resis-

17 Edelman leitet seinen Begriff der »graphesis« an dieser Stelle aus zwei Quellen ab: Marie-Rose Logans »Graphesis …« (1975) und Jacques Derridas L’écriture et la différence (1967).

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tant to that categorization, intent on de-scribing the identities that order has so oppressively inscribed.« (Ebd. 10)

Anders als beispielsweise Apters »poetics of gender« besteht für Edelman ein gravierender Unterschied zwischen »gender difference« als von feministischer und psychoanalytischer Sicht fundamentale Vorstellung von Differenz und »homosexual difference« in dem Aspekt der Sichtbarkeit: Eine »homosexuelle Differenz« unterliegt der ständigen Androhung, dass sie unmarkiert – und damit unerkannt bleibt – und deshalb ein andauerndes Störelement für die Stabilität einer sexuellen und geschlechtlichen Differenz darstellt (ebd. 11-12). In seinem Spiel von Gleichheit und Differenz leitet Edelman »Homo-Graphesis« überdies aus der Linguistik her. Dort bezeichnet ein »Homograph« eine graphemische Struktur, wonach ein Wort, obzwar gleich geschrieben wie ein anderes Wort, doch in Herkunft und Bedeutung mit dem anderen Wort differiert. Was fürs Auge identisch ist, erweist sich erst im Lektüreverfahren als unterschiedlich. Die Unmöglichkeit einer ›Identität‹ wird in dem Moment deutlich, wo sich hinter einer augenscheinlichen Gleichheit eine Vielfalt von Identitäten auftut. Genau hier setzt eine der »Homographesis« inhärente Möglichkeit strategischen oder analytischen Widerstandes gegen die Logik regulativer Identität an: »While the regulatory delineation of identities that homographesis reinforces seeks to affirm a difference in ›meaning‹, a difference in ›etymology‹, between heterosexual and homosexual personhood, it seeks to deny its implication in the signifying ambiguity of the homograph by asserting the presence, inscribed on the gay body, of a legible analogue of difference that makes it a heterographic structure, corresponding, metaphorically, to the asserted heterogeneity, the essential difference, of hetero- and homo-sexuality.« (Ebd. 13)

In diesem Sinne verfolgt »Homographesis« als einer Artikulation der Logik des Homographen immer auch die Dekonstruktion von »Homographesis« als die Designation einer distinkten und lesbaren homosexuellen Identität. Gerade Tourniers Vendredi bietet sich meiner Meinung nach an, das Wechselspiel einer regulativen »Homographesis« mit einer dekonstruktiven »Homographesis« mitzuverfolgen und entzündet sich an der Frage, ob Robinson am Ende Vendredi dupliziert oder aber konsumiert hat. Oder anders formuliert:

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Worin genau liegt die Resignifikation im Hinblick auf das Thema des Kannibalismus im Vergleich zu Defoe, wo Robinson Friday vor dem Verspeistwerden durch Fridays Doubles – die Kannibalen – rettet, ohne dass jedoch die Differenz von Robinson und Friday aufgehoben wird? Bei Tournier hingegen wird in der Konstruktion der Zwillingsnatur von Robinson und Vendredi die kategoriale Trennung von schwarzem Kannibalen und weißem Europäer in Frage gestellt. Was bedeutet es, wenn die »jumeaux humains« am Ende transformiert werden zu der in den Tarock-Karten angedeuteten »Gémeaux« (186-187)? Robinsons Geschichte ist in der Tarock-Szene noch vor dem Schiffbruch an Bord des Schiffes bereits vorausgesagt, mehr noch: Sie schließt deren Deutung in Form einer Weissagung ein. Robinsons erste Karte, der Demiurg, deutet den Organisator in Robinson an, der auf der Insel für Ordnung sorgt. Der Demiurg ist aber auch der Gaukler, dessen geschaffene Ordnung sich als Illusion erweist. Der Eremit, eine weitere Tarock-Karte, verweist auf die Einsamkeit Robinsons, auf die Vereinigung mit der weiblich-mütterlichen Erde zum Zwecke der Selbstfindung und Metamorphose. Es folgen Venus, verwandelt als Bogenschütze, der Pfeile zur Sonne sendet, und die Zwillinge als Andeutung der Metamorphose, wonach die Bogenschützen-Venus als zweigeschlechtlicher Engel Robinsons Zwilling geworden ist: »Les Gémeaux sont figurés attachés par le cou aux pieds de l’Ange bisexué« (9). Gegen Ende deutet Robinson selbst Vendredi als die verheißene Gestalt der Venus: nicht nur im etymologischen Sinne (»Le vendredi, c’est, si je ne me trompe, le jour de Vénus« [183]), sondern auch als geschlechtsindifferentes Double (»Vendredi et moi, la différence de sexe et dépassée, et Vendredi peut s’identifier à Vénus« [185]). Diese zweite Deutung verweist auf ein anderes Zwillingspaar, das Robinson im Tarock als Karte ebenfalls gezogen hat, diesmal in Gestalt zweier sich an den Händen haltender Kinder vor der Sonnenstadt, die einen Zustand der Un-Differenziertheit bezeichnet, einer durch die sich selbst verschlingende Schlange repräsentierten in sich geschlossenen Erotik: »Dans la Cité solaire – suspendue entre le temps et l’éternité, entre la vie et la mort – les habitants sont revêtus d’innocence enfantine, ayant accédé à la sexualité solaire qui, plus encore qu’androgynique, est circulaire. Un serpent

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se mordant la queue est la figure de cette érotique close sur elle-même, sans perte ni bavure.« (11)18

Die irdische Zwillingsschaft hatte sich bei Robinson durch eine körperliche Angleichung an Vendredi geäußert, durch eine Schwärzung seiner Haut infolge der von Vendredi verursachten Explosion (152), die jegliche von Robinson installierte ökonomische und moralische Ordnung zerstört, und der allmählichen »ressemblance évidente entre son visage et celui de son compagnon« (157). Wie Emma Wilson bemerkt, hat Robinson von Vendredi als dem kannibalischen Anderen nicht den Wunsch zu verschlingen, sondern dessen Inversion absorbiert, »the desire for the perfection of twinship and the bliss of reflection in another« (15). Für Wilson wird dieses utopische Modell aber im Text selbst unterlaufen, indem Robinson den anderen zurückweist durch die Suche nach sich selbst und durch den Weggang Vendredis an Bord der »Whitebird«: »In an inverse of the myth of the Dioscuri, one twin and the impregnating swan (a white bird) depart from the other twin and the womb of Leda (the island)« (Wilson 15). Im Auftauchen von Jaan, dem Schiffsjungen der »Whitebird«, der statt Vendredi mit Robinson auf der Insel zurückbleibt, sieht Wilson nur ein scheinbares homosexuelles Idyll, in Wahrheit aber ein Wiederaufleben des zuvor überwundenen kannibalistischen Fantasmas. Jaan ist neben Vendredi eine weitere Zwillingsfigur Robinsons, die im Tarock als Jupiter vorausgesagt war, der sich in ein goldenes Kind inkarniert.19 Auch hier ist bereits eine irdische Ähnlichkeit zwischen dem Kind und Robinson vorhanden, die schon die erste Begegnung

18 Für eine eingehendere Interpretation des Textes in Bezug auf Autoerotik als »solar – or solo – sexuality« aber auch als doppeltes Spiel Tourniers mit seinen Lesern und sich selbst siehe Lawrence Schehr, Parts of an Andrology (bes. 130ff.). Interessant allerdings ist ebenfalls Gregory Woods Randbemerkung, dass als prosaische Bedeutung der autophagen Schlange auch Auto-Fellatio gelten kann (146). Auf die queerness der Masturbation als auto/homoerotische Handlung verweist Calvin Thomas. Jede/r Masturbierende sei »queer in the sense of having participated in what is necessarily a form of same-sex activity, whatever the heteroerotics of one’s reveries or visual aids« (114). 19 Zu Jaan als essentiell narzisstischer Sohn/Zwilling Robinsons und der Problematik von Androgynie siehe Stribling (bes. 272-281).

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Robinsons mit dem Schiffsjungen Jaan deutlich macht. Des Jungen »petite forme humaine« mit den roten Haaren, den Sommersprossen, dem knochigen Gesicht, den mageren Schultern, »ses omoplates qui saillaient comme des ailes d’angelot« und »ses yeux si clairs qu’on croyait voir le jour à travers sa tête« (195-197) erinnert an Robinsons eigene Gestalt, wie sie vor allem in dem Moment beschrieben wird, als sie sich durch den Einfluss von Vendredi zu verändern beginnt. Hatte Robinson bis zu diesem Zeitpunkt die Kleidung des Kulturmenschen als Rüstung betrachtet und Nacktheit als Luxus (für den, der von anderen warm gehalten wird) und Gefahr (für den, dessen Fleisch weiß und verwundbar ist) (27-28), so legt er Vendredis Beispiel folgend schließlich seine Kleider ab und muss erfahren, dass er der Sonne standhalten kann und durchaus in der Lage ist, ›sich selbst zu wärmen‹: »D’abord apeuré, recroquevillé et laid, il s’était épanoui peu à peu. Sa peau avait pris un ton cuivré. Une fierté nouvelle gonflait sa poitrine et ses muscles. De son corps rayonnait une chaleur à laquelle il lui semblait que son âme puisait une assurance qu’elle n’avait jamais connue.« (157)

Diese Metamorphose offenbart aber noch mehr als einen Verweis auf das spätere Double Jaan. Auch hier entspinnt sich bereits ein andeutungsreiches Spiel des Begehrens, das aus der Nacktheit und dem damit einhergehenden Verlust von Robinsons feierlichem und patriarchalem Aussehen, »ce côté ›Dieu-le-Père‹« (157), resultiert. Im Zusammenhang eines plötzlichen Narzissmus, der sich durch den verjüngenden, verschönerten eigenen Körper ergibt, ist von einem vagen Begehren die Rede, von dem unklar bleibt, wer dieses in Hinblick auf wen äußert. Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass es etwas mit Vendredi zu tun hat: »Il ne devait plus lâcher cette main brune qui avait saisi la sienne pour le sauver au moment où l’arbre sombrait dans la nuit« (156). Der narzisstische Blick in den Spiegel reflektiert Robinson nicht nur einen begehrenswerten Mann, sondern eben jene »ressemblance évidente entre son visage et celui de son compagnon […] son frère« (157). Diese Zäsur im Verhältnis der beiden ist umso erstaunlicher, als sie den Übergang eines von Xeno- und Homophobie, aber auch von passiver Begehrlichkeit bestimmten paradoxalen Zustandes der Angst und Verdrängung hin zu der am Ende sich andeutenden homosozialen Utopie markiert.

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Auf die Kritik, das Romanende sei dramaturgisch schwach, gab Tournier zu, dass er ursprünglich als logischen Abschluss einen Zustand des Schweigens anvisiert hatte, der jegliche weitere Handlung und Narration verhindern sollte: »Let us say that according to my original plan, there was no deck-boy; I added him later on in order to add a romantic touch, a touch of adventure. My initial idea, which was more rigorous, was to have Robinson become a kind of stylite, immobilized standing on a column in the sun.« (Zit. in Célestin 247-248)20

Dieses projizierte Ende hätte allerdings nicht der Aussage des TarockSpiels entsprochen. Das phallische Bild der monolithischen Säule wird daher abgelöst – und zwar als temporale Folge und nicht als bloßer Ersatz – von der im Tarock prophezeiten Ankunft des Kindes. In einer für den Roman typischen Überblendung von biblischen und heidnischen Kontexten wird Robinson nach dem Verlust des sich für die Zivilisation entscheidenden Vendredi ein Wesen an die Seite gestellt, das gleichzeitig die Jungfrau für den alternden biblischen König David21 wie das aus dem Erlebnis der Sonnenekstase geborene goldene Sonntagskind ist: »Enfin l’astre-dieu déploya tout entière sa couronne de cheveux rouges dans des explosions de cymbales et des stridences de trompettes. Des reflets métalliques s’allumèrent sur la tête de l’enfant. […] Désormais, lui dit Robinson, tu t’appelleras Jeudi. C’est le jour de Jupiter, dieu du Ciel. D’est aussi le dimanche des enfants.« (205)

Das Ende bildet den Kulminationspunkt des schon im Tarock-Spiel angelegten, sich aber erst im Verlauf des Textes allmählich entwickelten Oszillierens zwischen Verdopplung und Spiegelung, das sich weniger als eine auf Autoerotik basierende Poetik als vielmehr eine Möglichkeit der Autopoiesis fassen ließe. Im Unterschied zu allo-

20 Célestin stützt sich hier auf Colin Davis, Michel Tournier 31. 21 Zitiert wird hier aus dem ersten Buch der Könige: »Le Roi David était vieux, avancé en âge. On le couvrait de vêtements sans qu’il pût se réchauffer. Ses serviteurs lui dirent: Que l’on cherche pour mon Seigneur, le Roi, une jeune Vierge. Qu’elle se tienne devant le Roi et le soigne, et qu’elle couche dans ton sein, et mon Seigneur, le Roi, se réchauffera« (202).

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oder heteropoietischen Systemen (re)produziert sich ein autopoietisches System jenseits ontologischer Grundannahmen selbst. Als zirkulär-selbstreferentielles Organisationsprinzip ist die Autopoiesis jedoch nicht nur autonom, sondern auch fähig zur Anpassung an eine gegebene Umwelt.22 Robinson, das Kind und der Sonnengott sind keineswegs getrennte Entitäten, wie das die obigen Zitate suggerieren könnten. Der Sonnengott, der sich in dem Kind inkarniert, ist niemand anderes als Robinson selbst. In einem doppelten Akt der Penetration dringt die Sonne mit ihren phallischen Strahlen in Robinson ein und verschmilzt mit ihm (»Un glaive de feu entrait en lui et transverbérait tout son être« [205]), um dann in Weiterleitung der Strahlen auf das Kind dieses zu beseelen bis hin zur Benennung durch Robinson. Auch hier muss gefragt werden, ob die Verschmelzungsfantasie eine im Zeichen von Verdopplung oder Verschlingung ist. Ich teile hier Wilsons Interpretation nicht, die in Jaan eine Transfiguration des Bäckergesellen aus Robinsons Kindheitserinnerung sieht, in der er eifersüchtig der wundersamen Vermählung zwischen einem halbnackten Bäckergesellen und einem Brotlaib (»ce grand corps sans tête, tiède et lascif«) beiwohnt, der sich auf dem Boden des Knettrogs den kräftigen Umarmungen des Mannes überlässt (69). In der dort imaginierten Vermählung »entre la miche et le mitron« kommt es zwar, wie Wilson schreibt, zu einer Koexistenz und Verschmelzung von Mensch und Nahrungsmittel als duale Objekte der Begierde, doch scheint mir Jaan keineswegs eine physische Aktualisierung als zu verzehrendes Liebesobjekt. Meiner Lesart nach handelt es sich eher um eine Verlagerung von Passivität zu Aktivität, wonach Robinson ursprünglich sich als Brotlaib fantasierte, der sich mit dem Bäcker ›vermählte‹, um sich dann aber an die Stelle des Bäckers zu setzen, wobei Jaan nun die Funktion des Brotlaibes einnähme. Robinson hatte vorher schon sehr zweideutig von »miches dorées« (50) geträumt, was den Bezug zu Jaan als dem prophezeiten »enfant d’or« (11) nahelegt. Die Doppeldeutigkeit von »miche« als Brotlaib und ›Arschbacken‹ korreliert meiner Meinung nach daher viel stärker mit der provozierenden Fantasie kopfloser, analer Passivität, die sich in der erotischen Bäckerepisode offenbart und Korrespondenzen an anderen Stellen des Romans hat, wo sie als Zeichen von Robinsons Selbstekel steht. So wird sich Robinson anhand der Erinnerung des Martyriums des Saint Denis, der

22 Siehe hierzu grundlegend Manturana sowie Mingers.

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enthauptet liebevoll und zärtlich nach seinem eigenen Kopf greift, seines eigenen gehassten Körpers bewusst, »mon cadavre […], une chose qui est moi. […] le visage d’un prisonnier.»Nur das Lächeln eines Freundes, das er später von Vendredi erhalten wird, könne sein erloschenes Gesicht wiederbeleben (74-76). Auch die Insel »Speranza«, von Robinson so getauft und zunächst zu seiner ›Geliebten‹ gemacht, später dann aber ein Ebenbild von Robinson selbst, zeigt sich in der von ihm angefertigten Karte in Gestalt eines weiblichen Körpers ohne Kopf (40), in dessen Mitte sich Robinson als schwarzes Loch befindet (59).23 All diese Projektionen fügen sich zusammen in Robinsons regressiver Fantasie eines »stade naïve, primaire« (82), einem undifferenzierten Zustand der Verschmelzung (»Alors Robinson est Speranza« [82]), der abgelöst wird von einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt mit Robinson als unfreiwilligem Abjekt, das aus dem Körper der Insel ausgeschieden wird: »Robinson est l’exrément personnel de Speranza« (84). Verschmelzung ist demnach notwendig gekoppelt an Abtrennung oder auch Ausscheidung und Differenzierung. Carchidi fasst den sich für Robinson manifestierenden Konflikt folgendermaßen: »By picturing the island as a woman – an other – lacking a head, and then by becoming that head, by being the island’s governor, Crusoe comes to fear those aspects of himself that he has relegated to earthy, islandy otherness.« (79)

Robinson durchlebt den Akt der abjektalen Differenzierung als gleichzeitiges Erkennen des Subjektstatus seines Mann-Seins und immer wieder als Ent-Mannung beim Versuch, Speranza an diversen ›KörperÖffnungen‹ zu beschlafen: »Son sexe humilié avait fondu.« (92) »Pourtant un jour qu’il gisait écartelé sur son étrange croix d’amour, une douleur fulgurante lui traversera le gland et le remit d’un coup sur ses pieds. Une grosse araignée tachetée de rouge courut sur le tronc de l’arbre et disparut dans

23 Tournier zitiert hier einen anderen ›klassischen‹ Text des Imperialismus, H. Rider Haggards King Solomon’s Mines, wo ebenfalls das Land als kopflose Frau dargestellt wird. Auch die hexenähnliche Frau, die eine zentrale Rolle bei den Opferriten spielt, die Tourniers Robinson beobachtet, scheint Haggards Roman entlehnt zu sein (vgl. hierzu Carchidi 79).

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l’herbe. La douleur ne se calma que plusieurs heures plus tard, cependant que le membre blessé prenait l’aspect d’une mandarine.« (101)

Robinsons angst- und lustbesetzte Fixierung auf Schlamm und Exkremente lässt sich aber auch auf der Folie von Ethnizität lesen als ein atavistischer Impuls, einer ›nostalgie de la boue‹: »White people who roll on mud not only revert to an infantile relationship with excremental soil – they literally soil themselves – but also, if only temporarily, become ›primitive‹, which is to say black« (Woods 141). Robinson erlebt das Wälzen im Schlamm und in den eigenen Exkrementen als eine ›Verdunklung des Geistes‹: »Il faisait sous lui et manquait rarement de se rouler dans la molle tiédeur de ses propres déjections. Il se déplaçait de moins en moins, et ses brèves évolutions le ramenaient toujours à la souille. Là il perdait son corps et se délivrait de sa pesanteur dans l’enveloppement humide et chaud de la vase, tandis que les émanations délétères des eaux croupissantes lui obscurcissaient l’esprit.« (34)

Die Inseminierungen von Speranza – will man sie nun als symbolischen heterosexuellen oder autosexuellen Sexualakt deuten – erfahren eine Krise des Begehrens und der daran gekoppelten Kastrationsandrohung durch Vendredis Partizipation, die Robinson in die Position des Voyeurs drängt: »C’est alors qu’il aperçut sous les feuilles deux petites fesses noires. Elles étaient en plein travail, parcourues par une houle qui les gonflait, puis les contractait durement, les regonflait, les serrait à nouveau. […] Speranza bafouée, salie, outragée par un nègre! […] D’un coup de pied il releva Vendredi, d’un coup de poing il l’étala à nouveau dans l’herbe. Puis il tomba sur lui de tout son poids d’homme blanc. Ah ce n’est pas pour un acte d’amour qu’il est couché au milieu des fleurs!« (145)

Die Ambivalenz, die aus dieser Textpassage spricht, speist sich aus mehreren Quellen. Robinson hatte schon vor der Ankunft Vendredis Zweifel an seiner heterosexuellen Begehrlichkeit gehegt, die er in autopoietischer Selbsterschaffung immer wieder zu bestätigen suchte:

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»Je ne sais où va me mener cette création continuée de moi-même. […] Ainsi le désir. C’est un torrent que la nature et la société ont emprisonné dans un bief, dans un moulin, dans une machine pour l’asservir à une fin dont par luimême il n’a cure: la perpétuation de l’espèce. J’ai perdu mon bief, mon moulin, ma machine. […] Or c’est trop peu dire que mon désir n’est plus canalisé vers les fins de l’espèce. Il ne sait même plus à qui s’en prendre!« (99)

Robinsons richtungsloses Begehren hat ein Ziel gefunden, das er sich nicht einzugestehen vermag: Es ist Vendredi, der Andere, der Selbe. Der Weg des Begehrens von der Ablehnung des Anderen zur Anerkennung des Selben (sich selbst) ist ein entscheidender. Vendredi war bei seinem ersten Auftreten für Robinson der Inbegriff des Anderen. In entschiedener Resignifikation ist Tourniers Vendredi genau jenes Double, das bei Defoe als Fridays Negativ artikuliert ist: »Il paraissait de peau plus sombre, de type un peu négroïde, sensiblement différent de ses congénères« (119). Im Logbuch beklagt sich Robinson angesichts der bevorzugen Nacktheit des Farbigen über dessen mangelndes Schamgefühl, die rassische Unreinheit (»le métis noire! Un Indien mâtiné de nègre!« [122]) sowie die Frühreife (»l’extrême précocité de ces races inférieures« [122]). Die Differenz zu Robinson ist nicht nur textuell festgehalten, sondern verstärkt durch einen Wechsel der Perspektive. Wir sehen Robinson erstmals aus der Sicht Vendredis: »[…] un homme noir et nu, l’esprit dévasté par la panique, inclinait son front jusqu’au sol, et sa main cherchait pour le poser sur sa nuque le pied d’un homme blanc et barbu, hérissé d’armes, vêtu de peaux de biques, la tête couverte d’un bonnet de fourrure et farcie par trois millénaires de civilisation occidentale.« (119-120)

Robinson beginnt nun selbst zu lachen, doch hat dieser Akt der Befreiung zur Folge, dass er nun unter einem Mangel an Gefühlen bzw. seiner Einsamkeit leidet: »En vérité je tourne autour d’en regret qu’il me coûte d’avouer, mais que je me dois d’exprimer. Je ne me risquerai jamais à lui dire ›aime-moi‹, parce que je sais trop que pour la primière fois je ne serais pa obéi« (128). Robinsons allmählich zunehmende Schwärmerei für Vendredis körperliche Schönheit entzündet sich an dessen Gesicht, zuerst am Lachen, dann an den Augen und lässt Robinson einen ›anderen Vendredi‹ fantasieren: »Et si en cet instant précis il découvrè par hasard la beauté anatomique stupéfiante de l’œil

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de Vendredi, ne doit-il pas honnêtement se demander si l’Araucan n’est pas tout entier une addition de chose également admirables qu’il n’ignore que par aveuglement?« (149) Trotz seiner zugegebenen »manischen Aufmerksamkeit« (180), mit der er Vendredi beobachtet, verschiebt er doch das Begehren von Vendredi auf die Sonne. In einer bekennenden Passage deutet er diese Verlagerung selbst an, um sie sofort von sich zu weisen: »Soleil, rends-moi semblable à Vendredi. Donne-moi le visage de Vendredi, épanoui par le rire, taillé tout entier pour le rire. Ce front très haut […]. Cet œil toujours allumé par la dérision […]. Cette bouche sinueuse aux coins relevés, gourmande et animale. Ce balancement de la tête sur l’épaule pour mieux rire

[…]. Mais si mon compagnon éolien m’attire ainsi à lui, n’est-ce pas pour me tourner vers toi?« (175)

Wohin hat sich Tourniers perverse Robinsonade also entwickelt? Wilson gibt der Frage nach Verdopplung und/oder Differenz eine andere Wendung in Richtung Auslöschung: »Vendredi stands in relation to Robinson Crusoe not as heavenly twin but as devouring brother« (16). In dieser Lesart hätte Robinson das monströse Andere, den Kannibalen, nicht überwunden, sondern ihn selbst inkorporiert und damit seine weiße Maskulinität über die Eliminierung (der Fähigkeiten) des farbigen Wilden bekräftigt. Mir scheint es sich hierbei aber vielmehr um ein Modell notwendiger Negativität zu handeln in dem Sinne einer unauflösbaren Verstrickung von Gleichheit und Differenz. Dem Angebot der Queer Theory folgend sehe ich daher Tourniers Vendredi nicht als ›schwulen‹ Text, sondern als einen, dessen queerness sich im gegeneinander Ausspielen des ›Perversen‹ und des ›Normalen‹ auszeichnet. Das Leugnen sodomitischen Begehrens, das mich so irritierte, lese ich nunmehr als ein Bedauern, sich nicht (mehr) einer Geschlechtlichkeit hingeben zu können, die sich jenseits von Macht, Genitalität und damit Hetero-Sexualität verortet: »Or s’agissant de ma sexualité, je m’avise que pas une seule fois Vendredi n’a éveillé en moi une tentation sodomite. C’est d’abord qu’il est arrivé trop tard: ma sexualité était déjà devenue élémentaire, et c’était vers Speranza qu’elle se tournait. Mais c’est surtout que Vénus n’est pas sortie des eaux et n’a pas foulé mes rivages pour me séduire, mais pour me tourner de force vers son père Ouranos.« (184)

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Diese Ausdifferenzierung der verschiedenen Liebessubjekte und -objekte kollabiert zwangsläufig in dem gleichzeitig vorangetriebenen Impuls der Verdopplung. Wenn ein begehrendes Subjekt immer auch das begehrte Objekt repräsentiert, so ist die Aussage, Vendredi habe nie eine sodomitische Versuchung bei Robinson geweckt, nur solange ›richtig‹, wie die Differenz von ›homo‹ und ›hetero‹ aufrechterhalten bleibt. Die Dichotomie von Gleichem und Anderem wird in der notorischen Instabilität von Robinsons geschlechtlicher wie ethnischer Identität ständig unterlaufen. Die mehrdeutigen Konstellationen nicht-normativ geregelter Sexualität sind daher einerseits als utopische Forderung entzifferbar, sich autopoietisch dem Zivilisationsmodell der klassischen Robinsonade nicht zu unterwerfen, andererseits lassen sie den fantasmatischen Spielraum zu, ›sodomitische Perversion‹ als dekonstruktives Anal/yse-Modell homotextuell einzusetzen.

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Zerleiben und Zerschreiben: Von der nekrophagen Lustanhäufung zur seriellen Lektüresucht You taste blood. It’s your brother’s, And at your side he flits. But blood, like any other’s. You bite him into bits. (Thom Gunn 27)

Das Jahr 1991 beschert Amerika ein Medienspektakel multipler Provenienz: Die Verhaftung Jeffrey Dahmers, die Filmeröffnung von Silence of the Lambs und die Publikation von American Psycho gehen eine ›unheilige Allianz‹ ein. Was verbindet diese Ereignisse miteinander? Jeffrey Dahmer misshandelte, mordete und verspeiste 17 junge, meist farbige Männer. The Silence of the Lambs zeigt Jame Gumb alias Buffalo Bill, der Frauen mordet und sich aus ihrer Haut ein Kostüm näht, sowie Dr. Hannibal Lecter, der im Gefängnis sitzt, weil er mehrere seiner Patienten ermordet und verspeist hat und nun auf seine Flucht sinnt. Und American Psycho handelt von Patrick Bateman, dem Wall Street Yuppie, der Menschen misshandelt, mordet und verspeist. Ist es purer Zufall, dass der kannibalische Serienmord die Gemeinsamkeit dieser drei Ereignisse bildet? Mag man ›Jack the Ripper‹ auch als »Founding Father« des modernen (Sex) Serial Killer bezeichnen und damit eine Genealogie aufstellen, die (mindestens) ins letzte Jahrhundert reicht (see Caputi, »New Founding Fathers«), so ist signifikant an der aktuellen Zelebration das komplexe merchandizing-Netz, das sich um die ›Ikone‹ Serial Killer spannt und diesen zu einem Symbol der Apokalypse stilisiert:

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»[…] everything that has gone awry in postmodern American world« (Conrath, »Serial Heroes« 147). Das vergangene Jahrzehnt erlebte eine unüberschaubare Produktion zum Thema ›Serial Killer‹ von Film- und Fernsehdokumentationen, Tatsachenberichten und Krimis, psychologischen Analysen und juristischen Interpretationen, über T-Shirts, Socken und sogar Kartenspielen mit Fotos der berüchtigtsten Serienund Massenmörder, bis hin zu Musikgruppen wie die Fine Young Cannibals, die ihr Album The Raw and the Cooked millionenfach weltweit verkauften, oder Cannibal Corpse, einer »death metal« Band, deren T-Shirt mit dem Namenszug der Gruppe als besonders trendy in Heavy-Metal-Kreisen gilt und die mit Titeln wie »Eaten Back to Life«, »Addicted to Vaginal Skin«, »Necropedophile«, »Meat-hook Sodomy« und »Vomit the Soul« auf sich aufmerksam machen (Askenasy 199). Jeder berüchtigte Killer ist mindestens zwei Biographien, einen Film, einen Comic und eine Spielzeugpuppe wert. Manche erreichen einen noch höheren Marktwert: Über das Leben von Charles Manson wurden mehr als 50 Bücher sowie eine Oper geschrieben,1 John Wayne Gacy verkauft selbstproduzierte Portraits seines alter ego ›Pogo the Clown‹ und Ted Bundy erhielt über 500 Heiratsanträge bei seiner Verhaftung.2 Was verschafft einem Serial Killer den besonderen Ehrenplatz im kulturellen Kabinett der Gruseleien? Und wer beteiligt sich am eifrigen Sammeln der Daten, um sich ein Bild machen und uns eine Geschichte erzählen zu können? Im Folgenden soll dem Entwurf einer solchen Geschichte nachgegangen und gezeigt werden, dass es die eine Geschichte gar nicht gibt. Der ›Fall Jeffrey Dahmer‹ ist in vieler Hinsicht nicht nur prototypisch für die Mechanismen, die sich im Umfeld einer Verbrechensaufklärung entwickeln, als deren auffälligstes Merkmal mir die Verknüpfung von Dahmers Morden mit den Themen Kannibalismus, Rassismus und Homosexualität erscheint. In je unterschiedlich akzentuierter und interaktiver Extrapolation dieser Aspekte wird der Serienmörder Dahmer in einer Serie unterschiedlichster lite-

1

John Moran, The Manson Family: An Opera (1990-1991). Siehe vor allem Ed Sanders Biography The Family.

2

Vgl. hierzu mit noch mehr Beispielen Conrath, »The Guys«. Zu den einzelnen Serienmördern siehe Nachschlagewerke wie Bourgoins Serienmörder; Lanes und Greggs Encyclopedia of Serial Killers; Newtons Mass Murder; Schechters undEveritts The A-Z Encyclopedia of Serial Killers.

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rarischer und kultureller Vertextungen rekonstruiert und -produziert, die in einer Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion münden und letztlich aus Dahmer selbst eine Fiktion machen: das ›Double‹ von Hannibal Lecter, »the real Hannibal the Cannibal«, wie die Presse Dahmer bezeichnete.3 Fakten werden mit fiktionalen Elementen angereichert, die Geschichte mit pikanten Anekdoten gewürzt. So soll Dahmer nach seiner Verhaftung über die männlichen Genitalien im Kochtopf und dem Herz im Gefrierschrank geäußert haben: »I was saving it to eat later« (zit. in Martingale 181). Diese fiktionale Strategie macht sich beispielsweise Reza Abdoh in seinem Tanztheaterstück The Law of Remains: The Story of Jeffrey Dahmer (1992) zunutze, wenn er Dahmer auf einen parodistischen Konsum-Trip schickt: »Shopping is more American than thinking. ›What are you taking with you, Jeffrey?‹ ›Oh, you know, a toothbrush, underwear, a heart, shoes, a liver, deodorant, a few fingers, mouthwash […].‹« (Zit. in Conrath, »The Guys« 143) 4

3

Conrath bemerkt hierzu: »The two indisputably fed off each other. Articles started appearing in which the relative merits of the two stars were compared, and people began speaking of them in the same breath. They both suddenly inhabited the same discursive space. They were both terrifyingly (virtually) real« (»Serial Heroes« 152).

4

Abdohs Stück wendet die moralistische Argumentation zynisch, bei der angesichts des ›unabänderlich Bösen‹ des Serial Killer eine politische Marschroute verfolgt wird, die in den USA auf Verschärfung der Gesetzgebung und letztlich auf eine Neubelebung der Todesstrafe hinausläuft. In der Tat haben etliche Bundesstaaten in den 1980er Jahren die Todesstrafe wieder eingeführt als ›extreme Maßnahme‹ aufgrund ›extremer Gefahr‹: »Executing serial killers created a public consensus for the legitimacy of what had previously been regarded as a reactionary and even racist form of punishment« (Jenkins 131).

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P ATRICK B ATEMANS

SCHLECHTES

P HARMAKON

»Denn wie Wölfe das Lamm, so lieben Verliebte den Knaben.« (Platon 36) »Sex is mathematics.« (Bret Easton Ellis 375) »Eigentümlich an dieser Täterpersönlichkeit ist aber die mörderische ›Gefräßigkeit‹, die ihn vom Verbrecher aus Leidenschaft unterscheidet, der im allgemeinen nur einmal tötet, oder auch vom Massenmörder, der in kürzester Zeit eine große Anzahl von Personen umbringt.« (Bourgoin 13)

Das Spezifikum der Serialität von Morden bedarf einer besonderen Lesart. An einem Mörder wie Jeffrey Dahmer fallen mehrere ritualisierte Strategien auf, die in eine kausale Beziehung zueinander gesetzt werden können: das Vorgehen beim Mordvorgang, die sexuelle Handlung am leblosen Opfer, das Verspeisen des Toten, das Aufbewahren von Körperteilen.5 Eine Erklärung wie die von Bourgoin reicht hier nicht sehr weit: »Das Verbrechen wird vom Mörder als eine Art Ritual gesehen. Diese Menschen haben Angst vor Sexualität und können nur zum Höhepunkt gelangen, wenn ihre Opfer vollkommen machtlos, ohnmächtig oder tot sind« (22).6 Dahmer hatte zu viele Obsessionen, um sie mit dem Schlagwort »Angst vor Sexualität« fassen zu können: Alkoholsucht, Fotografieren, Experimentieren mit Leichenteilen zum Zwecke der Konservierung, Errichten eines Altares mit ausgewählten Körperteilen der Gemordeten. Akira Mizuta Lippit fasst Dahmers Suchtverhalten in einem Wort-

5

Vgl. aus der Fülle von Publikationen zu Dahmer vor allem Masters’ Todeskult sowie u. a. Dvorchak und Holewa; Davis; Schwartz; Baumann; Norris, Jeffrey Dahmer.

6

Brian Masters verfolgt diese Argumentation in seiner Studie über Dennis Nilsen, Leblose Liebhaber, auf für den/die LeserIn zwar spannende, aber auch qualvolle Weise. In dem ausgedehnten Versuch, das ›Monster‹ Nilsen zu dekonstruieren, seine Morde verständlich zu machen, fordert er sich und dem Publikum eine teilweise Identifizierung mit dem Täter ab, die nicht nur Unmögliches verlangt, sondern auch die Geduld stark strapaziert.

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spiel als eine Wechselwirkung von Erinnern und Vergessen, Erhalten und Zerstören, Einverleiben und Veräußern: »[…] remembering and forgetting, or what can be evoked as a synonym of forgetting and an antonym of remembering, ›dismembering‹« (353). Das Verb »to dismember« bedeutet zunächst »zergliedern, zerstückeln« und verweist somit auf Dahmers Mordverfahren. In der semantischen Kopplung an »to remember« erhält nicht nur »to dismember« eine zusätzliche Bedeutung. Auch beim Verb »to remember« wird zu der ohnehin doppelten Bedeutung des Erinnerns (transitiv und intransitiv) das Augenmerk gelenkt auf »member« (Glied, Teil) als Binde-Glied zwischen den beiden Verben, aber auch als das anatomische Körper-Teil. Betrachten wir Dahmers ›Sammelleidenschaft‹ zunächst einmal unter dem Aspekt des Suchtverhaltens: der tote Körper als Droge. In seiner Untersuchung der Rhetorik von Drogen greift Jacques Derrida auf Platons Phaidros zurück und verknüpft die Problematik des pharmakon mit der Logik der Wiederholung. In Phaidros wird dem ägyptischen König Thamus die geschriebene Rede dargeboten als heilsames pharmakon, denn, so der Gott Theuth, Schreiben verhelfe zur Wiederholung und damit zur Erinnerung. Es ist gemeint als ›gute‹ Wiederholung im Dienste der Anamnese und Wahrheit. Der König verneint dies: »Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel« (Platon 86). Pharmakon-Schreiben diene, so der König, keinem guten, authentischen Gedächtnis, sondern es stelle ein mnemotechnisches Hilfsmittel für ein schlechtes Gedächtnis dar und korreliere daher eher mit dem Vergessen. Es sei ein Simulakrum, eine ›schlechte‹ Wiederholung, es vergeude das Gedächtnis und führe letztlich in einem parasitären Akt zum Verstumpfen der Sinne und zur Unverantwortlichkeit: »The bad pharmakon can always parasitize the good pharmakon, bad repetition can always parasitize good repetition. […] Like any good parasite, it is at once inside and outside – the outside feeding on the inside« (Derrida 6). Auch in der von Derrida entworfenen, aus der Rhetorik der Drogen abgeleiteten parasitären Logik ist die Rede von der oralen Wechselseitigkeit des Einführens und Ausstoßens, die in dem Wortspiel um »remember« und »dismember« schon anklang. Oralität, so Derrida, stehe nicht nur für Aufnehmen, Suchtverhalten nicht nur für Empfangen:

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»There is no doubt, at least for orality, […] a zone of experience where giving and receiving, inspiration and expiration, impression and expression, passivity and activity can only with great difficulty be opposed to one another, or even distinguished.« (Ebd. 15)

Diese Oralität, dieses Suchtverhalten, von dem Derrida spricht, durchbricht Grenzen, stößt Oppositionen um. Als ›Erfahrung‹, als ›Reise über Grenzen hinweg‹, als ›Passagen‹ bezeichnet Derrida den Weg des Süchtigen, als »trip« im doppelten Sinne, als Suche nach dem verlorenen Selbst, dem idealen Körper, der im anderen, dem fremden Körper zu finden geglaubt wird: »We have at stake here no less than the self, consciousness, reason, liberty, the responsible subject, alienation, one’s own body or the foreign body, sexual difference, the unconscious, repression or suppression, the different ›parts‹ of the body, injection, introjection, incorporation (oral or not), the relationship to death (mourning and interiorization), idealization, sublimation, the real and the law, and I could go on.« (Ebd. 13)

Es ist dies, wenn man so will (und Derrida will es so), ein metaphysisches Problem, ein Infragestellen einer kanonischen Dichotomisierung in Original und Simulakrum, Natur und Kultur, etc. Wenn Derrida hier von einer Krise der Natürlichkeit spricht, so bezieht er dies vor allem auf die technologische Wende der Moderne: »The natural, originary body does not exist: technology has not simply added itself, from outside or after the fact, as a foreign body« (ebd. 15). Wollen wir nun den Serienmörder in diese Sucht- und Drogenrhetorik einschreiben, bedeutet dies, uns eines radikal anderen Modells zu bedienen als das gängigere psychopathologische, bei dem es, wie noch zu zeigen sein wird, darum geht, die Psyche eines Mörders für einen konstruktiven Lektüreakt transparent zu machen. Hier jedoch wird der Serial Killer als Rhizom in die kulturelle Kartographie integriert, in der Formen von wiederholter und suchtbedingter Gewalt in den Zusammenhang mit der Entwicklung unserer »machine culture« gestellt werden.7 Wenn Deleuze und Guattari vom Rhizom als einer

7

So nimmt Mark Seltzer als Ausgangspunkt seiner Betrachtung des Serial Killer zwei Texte – Emile Zolas La Bête humaine (1890) und Bram Stokers Dracula (1897) –, die um die Jahrhundertwende dazu beitrugen,

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Serie von Linien der Intensität sprechen, welche an einem bestimmten Punkt brechen, sich zu zerstreuen und wieder zu vernetzen vermögen, so lässt sich mit einem solchen als »Anti-Genealogie« bezeichneten Verständnis von Serialität der Serienmord beleuchten als ein Morden ohne Anfang oder Ende, als einen unendlichen Mord: » […] das Rhizom [ist] ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.« (Deleuze und Guattari 35)

Dahmers Morde sind in vielerlei Hinsicht im Netz der akausalen, deterritorialen Serialität situiert. Eine Psycho-Analyse Dahmers würde, folgten wir der Denkweise von Deleuze und Guattari, »jeden Wunsch und jede Aussage auf eine genetische Achse oder eine übercodierende Struktur [herunterbringen]« (ebd. 22). Ein Verständnis vom Serienmörder als Rhizom hingegen behandelt das Unbewusste nicht als zentriertes System, sondern »als maschinelles Netz endlicher Automaten (Rhizom)« – Deleuze und Guattari nennen dies Schizoanalyse (ebd. 29). Wie Derrida verweigern auch Deleuze/Guattari einen grundsätzlichen Dualismus oder eine Dichotomisierung in Gut und Böse (ebd. 16), es gilt vielmehr zu erkennen, dass, so Deleuze/Guattari, »die Fäden der Marionette nicht auf den angeblich einheitlichen Willen eines Künstlers oder Marionettenspielers, sondern auf die Vielheit seiner Nervenfasern« verweisen (ebd. 13). Soll das »maschinelle Netz« des Rhizom ›Serial Killer‹ in seiner Uneinheitlichkeit (schizo)analysiert werden, so kann dies nicht ohne eine Untersuchung des Sammel- und Zählverhaltens der Konsumgesellschaft und deren Fetischisierungsmechanismen geschehen. Als Beispiel einer solchen Verschränkung von Konsumption und Mordlust, von ökonomischen und sexuellen Motiven, führt Seltzer bezeich-

das Zeitalter des Sexualverbrechens fiktional mittels eines neuen Populärgenres zu inaugurieren. Sein Ziel ist es: »[…] to trace, that is, the forms of repetitive and addictive violence produced, or solicited, by the styles of production and reproduction that make up machine culture.« Geschichten von Serienmördern haben laut Seltzer das Genre des Western abgelöst »as the most popular genre-fiction of the body and of bodily violence in our culture« (»Serial Killers [I]« 92).

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nenderweise Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho an: »This genre of American psychosis […] advertises, and trades on, the analogies, or causal relations, between these two forms of compulsive repetition, consumerism and serialized killing« (»Serial Killers [I]« 94). Ellis’ American Psycho hat viel Wirbel an verschiedensten Fronten ausgelöst, er wurde gelobt als schwarze Komödie,8 als Horrorliteratur,9 als Thriller, als Kulturkritik,10 als hyperrealistisches Kunstwerk,11 als Allegorie einer inhumanen amerikanischen Gesellschaft,12 kritisiert als misslungenes fiktionales Experiment,13 angefeindet als sadistischer und pornografischer »splatter«-Roman, indiziert als jugendgefähr-

8

Badley wagt den kühnen Vergleich des attraktiven Wall Street Maklers aus dem Film Pretty Woman (1989), der die Cinderella-Prostituierte durch seine Platinkreditkarte zu transformieren vermag, mit Patrick Bateman aus American Psycho, »a young Wall Street broker often taken for a male model, [who] had similar tastes and was a cannibalistic serial killer« (80).

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Hartwell schreibt über American Psycho: »It is not unusual to see condemnations of genre horror on cultural or moral grounds. […] One need only look at the recent fuss over Bret Easton Ellis’ novel American Psycho (1990) to see these issues in the foreground in the mainstream« (12).

10 So nehmen Schechter und Everitt den Roman in ihre Top Ten der besten Serial-Killer-Romane auf und gestehen ihm sogar kulturkritisches Potential zu: »[…] we have to say that Bret Easton Ellis’s notoriously nauseating bestseller is actually a serious, if flawed, work that manages to make a point about the rapacious consumerism of Reagan-era America« (253). 11 Vgl. Frances Fortier: »Paroxysme de la référentialisation et diabolisation non immédiatement littéraire peuvent être interprétés comme une neutralisation de l’écriture, qui se saborde elle-même. Là où la littérature du mal – Sade, Lautréamont, Artaud, Bataille – exploitait sexe et sang en une volonté avérée de transgression, American psycho ne joue pas de l’interdit: banalisée, ironisée, kitchéisée, la violence est sans cause, sans propos, sans motif, absolument et essentiellement gratuite« (104). 12 Vgl. hierzu Thomas Irmer: »In my opinion the significance of American Psycho is to be found […] in its literal and symbolic depiction of a cultural environment. That is where the allegory can work its way despite the ambivalence in pornographic concrete prose« (355). 13 Siehe Gordon Van Gelder, der schreibt: »What could have been a powerful depiction of America’s terrors proves instead to be an uncommon portrait flung against a blotchy landscape« (17).

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dend.14 Der ›Held‹, Patrick Bateman, tötet Frauen, Männer, Kinder, Tiere. Es reicht sicherlich nicht, ein arbiträres Muster in der Mordserie zu konstatieren und die Wahl der Opfer als Hinweis auf Gruppen zu sehen, »that were socially victimized during the 1980s« (Irmer 355).15 Patrick Batemans ›amerikanische Psychose‹ gründet darin, dass er das Klischee vom Konsum-Lebensstil des Wall-Street-Börsenmaklers nicht metaphorisch, sondern ›wörtlich‹ nimmt: Sein Konsum ist echter Kannibalismus. Die Eigendefinition über den seriellen Konsumrausch findet ihre Fortsetzung in der Selbstfindung mittels des anthropophagen Rausches des Serienmordes. Badley vermutet, dass hinter dem kannibalischen Akt ein aufgrund der Entfremdung durch Technologie und »corporate mentality« entworfenes Projekt der ReKreation steckt, eine durch die Inkorporation des Anderen bewerkstelligte Selbsterhaltung (Badley 80, 83).16 Dies würde eine Systematik in der zunächst

14 So geschehen von deutschen Jugendschützern. Vgl. zum Thema der Publikationsgeschichte von American Psycho, der Forderung nach Zensur und Boykott Robert Zaller (»American Psycho«) sowie John Irving, der vor allem die Vorabverurteilung des Romans kritisiert: »If you slam a book when it’s published, that’s called book reviewing, but if you write about a book three months in advance of its publication and your conclusion is ›don’t buy it‹, your intentions are more censorial than ciritcal« (25). 15 Die heftige Kritik aus feministischer Perspektive entzündet sich vor allem an den Frauenmorden Batemans. Jane Caputi als eine der bekanntesten Frauen in Amerika auf dem Sektor der feministischen Serial-Killer-Forschung, bezeichnet den Roman als ein Werk »of femicidal pornography«, denn die Morde an Frauen »frequently follow upon several pages of basic sadomasochistic sexual description clearly aimed at arousing the reader« (»American Psychos« 103). Gegen solche tendenziöse Argumentation ließe sich schon hier die auffällige Leerstelle des Romanes anführen, die ein Motiv der Männermorde verweigert. Neben Batemans nicht zu bestreitender Misogynie muss seine nicht minder manifeste Homophobie gestellt werden, die sich schon anhand von Kapitelüberschriften wie »Confronted by Faggot« (291) offenbart. 16 Es ist dies eines der ›klassischen‹ Kannibalismus-Argumentationen, wie sie z. B. der Kulturhistoriker Richard Slotkin führt. Für den amerikanischen Kontext deutet er den an der indianischen Bevölkerung verübten Genozid als kannibalischen Akt im übertragenen Sinne: »[…] they did wish to cannibalize the Indian – to take into themselves the Indian’s

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willkürlich erscheinenden Wahl der Opfer zulassen. Es ist die prekäre Funktionalisierung des Körpers an der Schnittstelle von Ware und Krankheit: »The soft body was the common denominator among the victims; it signified the body’s vulnerability that consumerism, organ traffic, and AIDS made undeniable« (ebd. 80). In der Tat bietet Patrick Batemans Obsession mit »hard bodies« eine Erklärung für seine misogynen, homophoben sowie rassistischen Ausbrüche. Der mit dem Anspruch auftretende Patrick, dass nur der durch Fitness gestählte »hard body« als Markenzeichen für Erfolg stehen kann, empfindet daher »soft bodies« als existentielle Provokation, als Verletzung der vermeintlich obligaten Körperethik. Nicht umsonst wird Patrick ständig für ein Model gehalten: Dem Model und dem Bodybuilder ist eine Konstruktion des Körpers gemeinsam, die aus einem schwachen, weil verletzlichen Human-Körper einen starke, unbesiegbare KörperMaschine formt. Diese Körper-Konstruktion ist monströs, da sie Differenz zu transzendieren sucht. Konformität ist Patricks (Spiel-)Regel: Wer da nicht ›mitspielt‹, wird disqualifiziert. Aus dieser Perspektive betrachtet verwundert es nicht, dass »soft bodies« die Marginalien oder Kehrseiten des Modell-Körpers sind. Es sind die ethnisch, sozial, sexuell Anderen, die ganz Alten und ganz Jungen, die ›weiblichen‹ Frauen (im Gegensatz zu den maskulinisierten Frauen, die sich auch zum »hard body« modelliert haben), die verweiblichten oder schwulen Männer, Farbige, Immigranten, Penner, etc. »Hard body« ist demnach nicht unbedingt auf die tatsächliche Körperkonstitution beschränkt, wenngleich dies zunächst der Ausgangspunkt zu sein scheint. Es ist der junge, gesunde, weiße, männliche, heterosexuelle Körper, der die Norm setzt und zur Ikone der Yuppie-Gesellschaft avanciert. Patrick ist daher die Vollendung des Simulakrums, das perfekt geklonte Chamäleon, das mit seinem Hintergrund zu verschmelzen weiß: »It is this chameleonlike quality that can perhaps help to define the pathogenic aspect in these cases of overidentification« (Seltzer, »Serial Killers [II] 141).

strength or prowess, his ability to live within the environmental laws of the wilderness« (90-91). Zur symbolischen Einverleibung des ›Fremd-Körpers‹ zum Zwecke der Regeneration und Reproduktion des eigenen, vom Chaos bedrohten Kultur-Körpers siehe auch Girard; Sagan; Sanday; Poole, Kannibalische (P)Akte.

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Bodybuilding vermag die Angst vor dem eigenen »soft body« zu kanalisieren. In der narzisstischen Konstruktion des eigenen Körpers als begehrtes Objekt kann ein ›perverses‹, weil verbotenes Begehren nach dem Anderen, gefahrlos auf sich selbst (zurück)gerichtet werden.17 Mark Simpson hat diesen autoerotischen Aspekt mit besonderer Betonung der Phallizität des Bodybuildings herausgearbeitet: »Not permitted to desire another man’s penis, the bodybuilder phallicizes that which is permitted to desire: his own body. The old adage ›big muscles: small dick‹ is without foundation, but the implied phallic substitution is spot on. The body is ›pumped up‹, ›rock hard‹ and ›tight‹; the fashion for ›vascularity‹ calls for minimal skin fat […] so that the road map of veins is clearly visible, standing out from the flesh in a fashion alarmingly reminiscent of an erect penis.

[…] As the bodybuilder’s chest swells, so, quite literally, does his ego: the more manly the man’s body the more he can direct his homosexual libido towards himself.« (33)

17 Dies gelingt freilich nicht zwangsläufig. Vgl. hierzu auch Lionel Dahmers Vorschlag, sein Sohn Jeffrey möge sich mittels Bodybuilding nicht nur körperlich, sondern auch sozial ›expandieren‹: »I thought if he could get a better image of himself physically, then perhaps he might become less isolated socially« (78-79). Doch das Experiment schlägt fehl, zumindest aus Lionels Sicht. Während Jeffreys Körper an Masse zunimmt, verschwindet die Welt um ihn herum: »His social life which should have been expanding, narrowed to a circle that was no larger than his mind, an imagined world in which his friends were phantoms, his lovers mere lumps of unmoving flesh« (ebd. 84). Drückt die Formulierung des Vaters aber nicht gerade die ›gelungene‹ Rückführung auf das eigene Selbst aus? Hat Lionel Dahmer hier alle Ausgänge zu verstopfen gewusst, die Jeffrey aus seinem ›Bau‹ hätten führen können? Ein Seitenblick mag Aufschluss geben: Deleuze/Guattari lesen den durch Freud installierten »klassischen Fall der Kinderanalyse« des kleinen Hans als zerbrochenes Rhizom: »[…] man hat ihn in die Enge getrieben, ihm alle Ausgänge versperrt, bis er schließlich selbst seine Scham und Schuld wünscht, bis man Scham und Schuld fest in ihm verankert hat, die PHOBIE« (23). Bei einem ›verstopften Rhizom‹ kann der Wunsch nicht mehr strömen, es kommt zu inneren Rückschlägen, zum Tod (ebd. 24). Oder, wie Lippit bemerkt: »Lionel had begun the arduous work of creating a monster« (356).

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Um das Image des ›Harten‹ aufrechtzuerhalten, dürfen keinerlei Verstöße gegen das homosoziale Regelsystem geduldet werden, nach dem die Beziehungen zwischen Männern als explizit heterosexuell geführt und damit implizit ständig gegen eine etwaige Homosexualität verteidigt werden.18 In dem paranoiden Versuch einer solchen Verteidigung entblößt sich Patrick Bateman wie kaum sonst als unreliable narrator, wenn er z. B. ständig von seiner Angst berichtet, von Luis sexuell verfolgt zu werden, diesem stattdessen aber selbst nachgeht mit dem vorgeblichen Ziel, ihn erwürgen zu wollen. Und ausgerechnet in dem hochcodierten homosozialen Raum einer öffentlichen Herrentoilette werden wir Zeuge einer Niederlage: »I [Patrick] can tell he senses movement in the stall because he [Luis] stiffens noticeably and the sound of his urine hitting water stops abruptly in midstream. In slow motion, my own heavy breathing blocking out all other sounds, my vision blurring slightly around the edges, my hands move up over the collar of his cashmere blazer and cotton-flannel shirt, circling his neck until my thumbs meet at the nape and my index fingers touch each other just above Luis’s Adam’s apple […] Luis stares at me and I tense the muscles in my arms, preparing myself for a struggle that, disappointingly, never comes. Instead he looks down at my wrists and for a moment wavers, […] and then he lowers his head and … kisses my left wrist, and when he looks back up at me, shyly, it’s with an expression that’s … loving and only part awkward.

[…] I stand there, frozen […] and look back at Luis, who has this horrible, love-struck grin plastered on his face, and I try to squeeze harder, my face twisted with exertion, but I can’t do it, my hands won’t tighten […] and stand there contemplating my next move, but I’m immobile.« (Ellis 158-159, nur markierte Auslassungen von R. P.)19

18 Vor allem Eve Kosofsky Sedgwick hat in Epistemology of the Closet dieses Phänomen unter der Bezeichnung der männlichen homosexuellen Panik beschrieben. 19 Die unterschwellige Homophobie von American Psycho ist in der kritischen Rezeption wenig thematisiert worden. Eine Ausnahme bildet hier Badley, wenngleich sie das Argument nicht ausführt (81). Auch Irmer, dessen Anliegen es ist, in American Psycho die Tendenz zur symbolischen Abstraktion der literarischen und kulturellen Veränderungen von den 1960ern bis zu den 1980ern herauszuarbeiten, verweist auf die einseitige Rezeption des Romans, ohne jedoch auf die homophobe Komponente

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Der Weg von der Körperkonstruktion zur Körperdestruktion ist ein kurzer, die Gefahr, ›weich‹ zu werden, lauert für Patrick überall, nicht zuletzt bedingt durch seine Abhängigkeit von Film, Fernsehen und Video, deren ständige Präsenz seinen gesamten Tagesablauf bestimmt und zu einer medialen Diffusion und Konfusion führt, zu einer Agonie des Realen, wonach die Medien sich im Leben und das Lebens sich in den Medien gegenseitig auflösen: »[…] eine nicht mehr zu unterscheidende, chemische Lösung: […] wir sind zwar nicht den Einbrüchen und dem Druck, der Gewalt und der Erpressung der Medien und Modelle ausgeliert, aber dafür ihren Induktionen und Infiltrationen, ihrer unsichtbaren und unlesbaren Gewalt.« (Baudrillard 49)

Patrick Batemans Verstand ist von splatter-Filmen wie The Texas Chain Saw Massacre dermaßen affiziert, dass er nicht mehr unterscheiden kann zwischen »mediated desire and desired media« (Irmer 354). Die zunehmende Psychotisierung seines Lebens kulminiert in Wahnvorstellungen: »I had all the characteristics of a human being – flesh, blood, skin, hair – but my depersonalization was so intense, had gone so deep, that the normal ability to feel compassion had been eradicated, the victim of a slow, purposeful erasure. I was simply imitating reality, a rough resemblance of a human being, with only a dim corner of my mind functioning. Something horrible was happening and yet I couldn’t figure out why […].« (Ellis 282)

eigens einzugehen: »An approach in a literary and cultural context is necessary because this novel overtly refers to both at once whereas most critics missed the point and rejected the book because of its violent pornography« (349). Hierzu gehört auch, dass Kritiker die Biographie Patrick Batemans übersehen, die sich zurückführen lässt auf die beiden ersten Romane, in denen Figuren aus Patricks Familie schon agierten, sowie die Anspielungen des Titels auf Werke wie Norman Mailers An American Dream (1965), Edward Albees The American Dream (1961) sowie Alfred Hitchcocks Psycho (1960). Außerdem verschreibt sich Ellis dem Themenkomplex von Serialität und Sucht auch in seinem vierten Roman The Informers (1994), in dem gleich mehrere kannibalische Serial Killer erneut Einkehr im ›Kaufhaus der Körper‹ halten.

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»I was freaked out by the park bench that followed me for six blocks last Monday evening and it too spoke to me. Disintegration – I’m taking it in stride.« (Ebd. 395-396)

American Psycho ist ein Beispiel dafür, wie das Erzählen der Geschichte vom Serienmörder eine kaum erträgliche und zudem eminent unglaubwürdige Erzählung generiert. Der/die LeserIn wird einerseits in seiner/ihrer Toleranz angesichts der inszenierten Gewalt über die Maßen strapaziert, andererseits aber auch durch die endlosen Wiederholungen und Verstrickungen ungeheuerlich gelangweilt. Seltzers These einer Similaritätsbeziehung zwischen dem Schreibakt und dem körperlichen Gewaltakt wird hier evident: »One of the governing premises of the popular representation of serial killing is the obsessive analogizing, even identification, of writing and corporeal violence: their identification as twin forms of compulsion or addiction (»Serial Killers [II]« 134).«20 Batemans Suchtverhalten ist wie die Erzählung, die sie produziert: Beide drohen ständig zu kollabieren. Denn die aus dem Eigenkörper stammenden Drogenressourcen sind limitiert, sie bedürfen steter Fremdnahrung. In dem Kapitel »Tries to Cook and Eat Girl« erleben wir den Zusammenbruch des Maschinenkörpers aufgrund von Suchtentzug: »Unable to sleep, writhing on my futon, still in a suit, my head feeling like someone has lit a bonfire on it, in it, a constant searing pain that keeps both eyes open, utterly helpless. There are no drugs, no food, no liquor, that can appease the forcefulness of this greedy pain; all my muscles are stiff, all my nerves burning, on fire. […] I want to drink this girl’s blood as if it were champagne and I plunge my face deep into what’s left of her stomach, scratching my chomping jaw on a broken rib. […] This is my reality. Every-

20 Vgl. hierzu auch Lionel Dahmers A Father’s Story. Lionel Dahmers Erzählung ist zunächst um vieles einfacher zu lesen als American Psycho. Dennoch: Wollen wir seinen Text als Schlüssel zu den Taten seines Sohnes lesen, werden wir enttäuscht sein. Dahmer sen. fixiert sich auf eine qualvolle Selbstanalyse, sucht mit größter Mühe von sich auf seinen Sohn – und umgekehrt – zu schließen, um letztlich die Möglichkeit einer Analogie zu verneinen. Sein Unvermögen aber, von seinem Sohn zu erzählen, seine Ohnmächtigkeit angesichts eventueller Ähnlichkeiten, machen ihn zu einem hochgradig unzuverlässigen Erzähler.

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thing outside of this is like some movie I once saw. In the kitchen I try to make meat loaf out of the girl […] And later my macabre joy sours and I’m weeping for myself, unable to find solace in any of this, crying out, sobbing ›I just want to be loved‹ […]«. (Ellis 343-345)

Patrick Batemans Suchtsystem implodiert, er ist die inkarnierte Redundanz: »He is insatiable, but so is the system he embodies. His insatiability is his function, for he serves no other […]« (Zaller, »American Psycho« 322). Alle Versuche Batemans, die Taten seinen Freunden zu ›beichten‹, misslingen. Und seine schriftliche Geständnisflut? Der endlose Monolog seiner confessio ist deshalb so unerträglich, weil es nichts zu erzählen gibt, was nicht jede/r schon x-mal ›verpackt‹ als Dutzend-Ware gehört, gelesen oder gesehen hat: »What has turned the serial killer into a Hollywood commodity spectacle is that his life has been reduced to a densely packed, two-hour feast of necrology, torture, and death; his life has become a brief spectacle whose sense is derived entirely from its interchangeability and its inevitability, its potentially random serialization and not the uniqueness of its narrative. In a word, there is no genesis.« (Conrath, »The Guys Who Shoot« 154)

Batemans Schreiben ist ein schlechtes pharmakon, ein Simulakrum, eine strikt lineare Oralität, die nur aufnimmt und nichts abgibt, eine endlose Kette parasitärer Wiederholungen.

Q UENTIN P__ S

MISSLUNGENE

Z OMBIES

»[…] the necrophilia that has always so oddly been an essential part of American romance.« (Leslie Fiedler 304)

Im Verlauf der 1980er lässt sich ein Paradigmenwechsel beobachten, der von dem früheren psychiatrisch-therapeutischen Diskurs hin zu einer moralistischen Argumentation führte: Der psychisch Kranke, der durch familiäre und soziale Umstände sich generierende Mörder wie er sich als Norman Bates in Hitchcocks Psycho manifestierte, mutiert nun zum irrationalen, inhumanen, durch und durch bösen Monster, zur

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Killermaschine, zu ›Hannibal the Cannibal‹. Und um ein solches Monster dingfest machen zu können, bedarf es entsprechend eines genialen, nicht minder übermenschlichen Verfolgers, eines heroischen »mind-hunter« (Jenkins 16), der sich in den Mörder hineinzuversetzen gewillt und befähigt ist. Diese Tendenz zur charakterlichen Zuspitzung der ›Helden‹ und Verschränkung der Instanzen produzierte einen zyklischen Effekt, »in which the media tended to focus on crimes that most resembled available public stereotypes: sex killers like Bundy, cannibals like Hannibal. In turn, reporting of those specific cases reinforced awareness of these stereotypes« (ebd. 98). Der große Trendsetter für diese Verschiebung ist ohne Frage Thomas Harris mit seinen beiden ›Hannibal Lecter‹-Romanen Red Dragon (1981) und The Silence of the Lambs (1988).21 ›Hannibal the Cannibal‹ verkörpert das Böse schlechthin, dies aber mit einer schillernden, verführerischen Aura, die sich nicht aus einer sozialpsychologischen Ursachenforschung ableiten lässt, wie er selbst konstatiert:

21 Mittlerweile gibt es noch zwei Fortsetzungen: Hannibal (1999) und Hannibal Rising (2006), beide ebenfalls verfilmt. Ich werde auf die HarrisRomane und deren Verfilmungen nicht näher eingehen. Dies ist vielerorts unter diversen Perspektivierungen bereits geschehen, so bei Grixti unter dem Aspekt der Monster-Konstruktion; bei Caputi, die vor allem die Stilisierung der »hero/monster«-Figur des Hannibal als romantisiertes Genie, als »godlike, the ultimate mystery« kritisiert (»American Psychos« 102103), wohingegen Fuss die homophobischen Tendenzen fokussiert und ähnlich auch Crimp die Demme-Verfilmung kritisiert als »homosexualizing the psychopaths« (309). Eine deutliche Aufwertung der Verfilmung findet dagegen bei Badley statt, die Silence als gothic romance liest und vor allem die bisexuelle, masochistische Ästhetik herausarbeitet (137-150). Joe Sanders wiederum sieht Harris als »interloper« auf dem Gebiet des Horror Genres (1). Vgl. zu den Romanen auch die Beiträge von Douglas Fowler, Bill McCarron, Philip Simpson und Tony Williams der Serial-Killer-Sonderausgabe der Notes on Contemporary Literature 25 (1995); sowie zur Verfilmung von Silence vor allem Theweleit, der »7 Arten einen Film zu beschreiben« vorstellt (36); Halberstam, die in Demmes Film »the narrative of the monster« auf die Hautoberfläche projiziert sieht (38); und Young, die den Film aus feministischer Perspektive als serielle Wiederholung von »horrific male violence« liest (5).

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»Nothing happened to me, Officer Starling. I happened. You can’t reduce me to a set of influences. You’ve given up good and evil for behaviorism, Officer Starling. You’ve got everybody in moral dignity pants – nothing is ever anybody’s fault. Look at me, Officer Starling. Can you stand to say I’m evil? Am I evil, Officer Starling? […] A census taker tried to quantify me once. I ate his liver with some fava beans and a big Amarone. Go back to school, little Starling.« (Harris 21, 24)

Will man die Romane als typisch für das Genre des Serial-KillerThriller sehen, so lassen sich gerade in Abgrenzung zum herkömmlichen Krimi einige Auffälligkeiten extrapolieren. Nicht die Aufklärung eines Mordes und die damit zusammenhängende Verfolgung und Entdeckung des Täters stehen im Zentrum des plot. Der Täter ist bei den Serienmörder-Romanen früh identifiziert. Es interessiert jetzt vielmehr die ›Karriere‹ des Mörders. Mit der Fokusverschiebung geht eine veränderte Erzählhaltung einher: Zumindest teilweise wird aus Sicht des Täters erzählt, die Leserschaft erhält Einblick in die ›abgrundtiefe Seele des Mörders‹. Bei Harris ist außerdem die Interaktion zwischen tatsächlichen Fällen und fiktionalem Geschehen evident. Sowohl in der offiziellen Berichterstattung von Serienmördern als auch in der true-crime-Literatur werden Harris’ Romane und besonders die Figur des Hannibal Lecter immer wieder als Verweis herangezogen, als handle es sich hier um den maßgeblich echten Fall. Diese Verschränkung hat nicht zuletzt damit zu tun, dass zum einen das FBI in den 1980er Jahren die absolute Autorität in der öffentlichen Diskussion um Serienmörder einnahm, und dass zum anderen Thomas Harris in seinen Recherchen eng mit dem FBI zusammenarbeitete und von dort auch gerne mit Fakten ›gefüttert‹ wurde. Dies ging so weit, dass FBIAgenten wie Robert K. Ressler nicht nur als Informanten dienten, sondern in deren Bemühen, die Psyche des Täters zu erforschen, sogar als Vorbilder für Romanfiguren wie Thomas Harris’ special agents, Will Graham aus Red Dragon und Jack Crawford aus The Silence of the Lambs, fungieren durften.22

22 Robert K. Ressler, der als einer der bedeutendsten Kriminalisten der USA maßgeblich beteiligt war bei der Einrichtung der Abteilung für Verhaltensforschung beim FBI und eine Sondereinheit der Bundespolizei zur Ergreifung von Gewaltverbrechen leitete, diente nicht nur als Vorbild für zahlreiche Fahnder in Romanen und Filmen, er prägte auch den kriminalisti-

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Umso erstaunlicher ist es, welch simplizistische Argumentation das FBI anwendet, um den Typus des Serial Killer zu charakterisieren und ein summarisches Profil zu erstellen.23 Für Ressler ist der Serienmörder von einem Doppelmotiv beherrscht: Sex und Macht. »Die gestörte Sexualität ist Triebfeder aller Morde, die Täter stehen unter dem Zwang ihrer Fantasien. Nur in ihrer Gedankenwelt haben sie die totale Kontrolle über andere. Macht zu besitzen erregt sie sexuell« (zit. in Schneider 19).24 Resslers Argumentation bedient sich stereotyper

schen Begriff des »Serial Killer«. Ressler, der reale »mind-hunter«, ist sich seiner ›heroischen‹ Rolle durchaus bewusst. Darauf angesprochen, zitiert er Friedrich Nietzsche: »›Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt auch der Abrund in dich hinein.‹ Ich habe mir angewöhnt, immer rechtzeitig aus dem Abgrund aufzublicken« (zit. in Schneider 20). Das Nietzsche-Zitat aus Jenseits von Gut und Böse [!] dient Ressler auch als Motto für seinen Rückblick Ich jagte Hannibal Lecter. 23 Bei der Erstellung eines solchen Profils wurde wiederum gerne auf bestimmte forensische Untersuchungen zurückgegriffen. Prägnantes Beispiel hier ist die vielerorts hochgelobte Studie des Psychologen und Gerichtsberaters Joel Norris, Serial Killers, der ein hyperbolisches Bild vom Serienmörder entwirft, das zwischen Opfer und Täter changiert und aus einem Pest-Szenarium zu entstammen scheint. Die Studie kündigt sich an, als sei sie ein romantischer Schauerroman: »What you are about to read will shock, terrify, sadden, and sometimes repel and enrage you. This is not the story of one serial killer, nor is it only the documentation of the disease of the serial killer. It is an investigation of a disease […]« (5). Der/die LeserIn darf Einblick erhalten in die Abgründe, die sich jenseits der Grenze des Normalen auftun, wo das Animalische, Instinktive, Primitive lauert auf das ultimative Opfer: »The serial murderer, unlike the traditional criminal, is addicted to his passion. He is suffering from a disease that is terminal, not only for his numerous victims but also for himself. He is his ultimate victim« (ebd. 20). Der vom Bösen befallene Serial Killer schlüpft durch das Netz der Kriminologie und bedroht die Gesellschaft in epidemischer Form: »[…] the infection has been allowed to spread through society like a plague: the emerging serial killers are the carriers, transmitting the syndrome from one generation to the next […]« (ebd. 38). 24 Was den Aspekt Sexualität betrifft, so beruft sich Ressler auf – nachweislich zweifelhafte – Statistiken sowie sein aus Erfahrung gewonnenes Wis-

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Klischees von Rassen- und Klassenzugehörigkeit (»In der Regel haben Schwarze ein viel unverkrampfteres Verhältnis zur Sexualität als Weiße. Schwarze Jugendliche haben meist viel früher sexuellen Verkehr. Zudem kommen weiße Serienmörder fast nie aus der Unterschicht, sondern aus der Mittelschicht, wo normalerweise sehr verklemmt mit Sex umgegangen wird. Ein sehr freier, früher Umgang mit Sexualität lässt einen mit ziemlicher Sicherheit nicht zum Serienmörder werden« [ebd. 17]), psychobiologister Spekulationen (»Viele Studien sehen einen Zusammenhang zwischen Körperbau und Mentalität eines Menschen. Schmächtige Menschen neigen danach eher zu einer introvertierten Form der Schizophrenie. […] Introvertierte Schizophrene essen kaum etwas, vernachlässigen ihr Äußeres und achten nicht auf körperliche Hygiene. Wer würde schon mit einem solchen Typen zusammenleben wollen?« [ebd. 17]) sowie geschlechtsspezifischer Stereotypisierungen. Angeblich kennt er keine einzige Serienmörderin, was daran liege, dass, wenn Frauen morden, dies nicht aus sexuellen Motiven geschieht: »Frauen gehen mit Sexualität völlig anders um. Es gibt keine Pornohefte für Frauen: Das kann doch nur heißen, es gibt keinen Bedarf dafür. […] Frauen, die eine Kindheit hatten wie spätere männliche Serientäter, greifen vielleicht zu Drogen oder Alkohol, werden Selbstmordkandidaten.« (Ebd. 19)

Selbst ein so spektakulärer Fall wie der von Aileen Wuorno soll Ressler unbekannt sein, die zur gleichen Zeit wie Jeffrey Dahmer wegen mehrfachen Mordes vor Gericht stand.25

sen. In einem Interview beantwortet er die Frage, warum er von vornherein wusste, dass es sich beispielsweise bei dem Mörder Richard Trenton Chase um einen männlichen Weißen handelte: »Das sagt die Statistik. Ich weiß, dass die große Mehrheit der Täter weiße Männer sind und dass die meisten Sexualmorde von Männern der gleichen Rasse begangen werden, also von Weiß an Weiß oder von Schwarz an Schwarz« (zit. in Schneider 17). 25 Ressler, der sich als Experte auf dem Gebiet des Serienmordes versteht, scheint eine Reihe einschlägiger Literatur zum weiblichen Serienmord entgangen zu sein, so z. B. Jones und Skrapec; und speziell zum Fall der lesbischen High-Way-Mörderin Wuorno: Reynolds; Russell; Kennedy. Siehe auch Caputi, die unter dem Aspekt »The Revenge of the Lambs« eine Überlappung von Realität und Repräsentation gerade im Fall Wuorno und

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Ein weitaus differenzierteres Verständnis des Komplexes gerade für den Zeitraum der 1980er Jahre bietet Philip Jenkins an, dessen programmatischer Titel Using Murder: The Social Construction of Serial Homicide bereits den kulturkritischen Ansatz andeutet. Jenkins spricht von einer Rhetorik der Dekadenz, die in der Reagan-Ära für den Aufruf instrumentalisiert wurde, dass der moralische Zusammenbruch der Nation gestoppt werden müsse. Eine lasch gewordene Familienethik und der sexuelle Hedonismus seit den 1960ern wurden angeführt, um bürokratische und politische Aktionen gegen die ›gefährlichen Außenseiter‹ der Gesellschaft zu rechtfertigen. Teil dieser Taktik war es, Theorien und Statistiken aufzustellen und in Umlauf zu bringen, deren Aussagekraft zugunsten einer konservativen Politik manipuliert wurde. Hierzu gehörte auch die Konstruktion des »Serial Killer« in diesem Jahrzehnt als der ultimativen Gefahr für die amerikanische Gesellschaft. Jenkins sieht hier ein Politikum: »[…] the factual assertions commonly made about the serial murder problem are incorrect or misleading in virtually every particular […]. In quantitative terms, serial murder represents an extreme fringe of the American homicide problem, and any estimate that suggests that it involves significantly over 1 percent of all murder victims should be greeted with great suspicion.« (Jenkins 22, 29)26

Nirgends ist die Fragwürdigkeit des Serial-Killer-Profils evidenter als beim Typus des homophilen Nekrophagen. Er bekommt die meiste Aufmerksamkeit geschenkt, wird deklariert als ›Prototyp‹ des Serienmörders schlechthin, und dies, obwohl er statistisch gesehen bei weitem nicht so auffällig ist, wie manche Studien geschickt zu suggerieren

der (ebenfalls wie The Silence of the Lambs 1991 angelaufenen) Filmsensation Thelma and Louise besonders unter dem Motiv der Rache durch Frauen gegeben sieht (»American Psychos« 107-109). 26 Fuss stellt in diesem Zusammenhang die brisante Frage: »Indeed, tales of serial killers in our newspapers have become our new serial literature. […] Could the tremendous popularity and appeal of the serial killing genre lie in the form’s ability to discharge us of our own misogyny, homophobia, or racism by locating guilt in the killer alone?« (199).

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wissen.27 Philip Jenkins bestätigt zu Recht, dass es oftmals zu einem rhetorischen Kurzschluss zwischen Serienmord und Homophobie kommt: »[…] instances of serial murder have commonly been used to stigmatize homosexuals, and thus to support conservative and actively homophobic conclusions. Such associations often emerge at times when gay rights issues are prominent in public debate.« (Ebd. 177)28

27 So warnt z. B. David Lester in seiner Studie Serial Killers: The Insatiable Passion zwar davor, aus einem spektakulären Fall wie den Dahmers eine Prävalenz des ›homosexuellen Serienmörders‹ abzuleiten. Dennoch wählt Lester ausgerechnet Dennis Nilsen als typischen Vertreter des modernen Serienmörders und beschreibt den Antrieb seines Mordens als eine früh entwickelte Faszination an toten Körpern gekoppelt mit dem Unvermögen, die eigenen – homosexuellen – Wünsche auszuleben (185). Diese Strategie ist nicht neu und auch nicht auf Amerika beschränkt. Ich habe an anderer Stelle das fatale Zusammenspiel von Serienmord, Kannibalismus, Homosexualität und Judentum in der Weimarer Republik am Beispiel des Knabenmörders Fritz Haarmann aufgezeigt. 28 Jenseits der politischen Implikationen werden in den ›seriösen‹ Unternehmungen, ein Serial-Killer-Profil zu erstellen, gerne zu psychoanalytischen Theorien gegriffen, um auch hier eine Koalition zwischen dem Serienmörder und dem Homosexuellen abzuleiten. Meist wird die Verknüpfung über die nekrophilen bzw. nekrophagen Tendenzen des Täters hergestellt. So beruft sich Brian Masters in seinen Untersuchungen zu Dennis Nilsen und Jeffrey Dahmer mehrfach auf Ernest Jones’ in On the Nightmare (1931) geäußerte Auffassung, dass Nekrophilie die extremste aller vorstellbaren Perversionen des Liebesinstinktes und Kannibalismus die ultimative Hoffnung auf eine Vereinigung mit dem Toten darstelle, oder auf Erich Fromms in Anatomy of Human Destructiveness (1974) formulierte These von der Nekrophilie als extremer Ausartung eines selbstzerstörerischen Narzissmus. Masters bringt diese Theorien in impliziten Zusammenhang mit sowohl Dennis Nilsens als auch Jeffrey Dahmers Homosexualität und unterlegt diese ›Allianz‹ in Leblose Liebhaber mit ausgedehnten Zitaten von Nilsen selbst, der in eigener Lektürearbeit seine Tötungen immer wieder reinszeniert. Masters zitiert in beiden Werken außerdem Brittain, der in seinem klassischen Aufsatz »The Sadistic Murderer« die sexuellen Störungen dieses Mördertypus besonders hervorhebt und immer wieder auf

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Ich möchte hier ein außergewöhnliches Beispiel anschließen, das die Konstruktion eines auf Fakten beruhenden homosexuellen, nekrophilen Serienmörders in so unterschiedlichen Textgenres wie Essay und Roman ›durchexerziert‹. In ihrem kulturtheoretischen, als Rezension getarnten Zeitschriftenessay bringt Joyce Carol Oates Nekrophilie mit Homosexualität in Verbindung, indem sie konstatiert, dass Nekrophilie bei Frauen und Heterosexuellen ein quasi nicht vorhandenes Phänomen sei – nachdem sie paradoxerweise ausgerechnet die Titelheldin aus William Faulkners Erzählung »A Rose for Emily« als die infamste Nekrophile der amerikanischen Literaturgeschichte herausgestellt hat. Dem schwulen Nekrophilen attestiert sie eine morbide Sammelleidenschaft: »Homosexual necrophiliacs demonstrate a curious, compulsive, surely selfdefeating habit of storing or burying the remains of their victims in their residences, beneath floor-boards (like Dennis Nilsen) or in closets and deep freezers (like Jeffrey Dahmer). The horrific crawlspace beneath John Wayne Gacy’s house was so packed with decaying bodies that the stench pervaded his property.« (»I Had No Other Thrill« 57)

Ganz dem ›Zeitgeist‹ verschrieben, konstruiert auch Oates aus dem »Serial Killer« ein Monster, den nekrophilen Anthropophagen. Für sie liegt der Grund für die außerordentliche Beschäftigung mit dem Serienmörder in einer ›schiefen‹ Ähnlichkeit zwischen dem Verbrecher und uns, den ›Normalen‹: »Our fascination and revulsion for the ›monstrous‹ among us has to do with our uneasy sense that such persons are forms of ourselves, derailed and gone terribly wrong […]« (ebd. 56). Die Tabubrüche, die diese Mörder begehen, werden auf der einen Seite als atavistisch, primitiv gedeutet. Das macht sie in unseren Augen zu Fremden, zu Außenseitern. Sie rufen Angst, Ablehnung und den Wunsch nach Strafe hervor. Auf der anderen Seite liegt hierin aber genau der Reiz, der von den Tabubrechern ausgeht: Sie setzen sich über gesellschaftliche Schranken hinweg in einer Art und Weise, wie wir uns das nie trauen würden, oder wie Oates sagt:

Homosexualität, Transvestismus, Effeminität, Fetischismus und den Hang zum Faschismus verweist.

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»The individual who violates taboo in so spectacular a way is perceived as undefined by society’s restraints, unlike those who believe themselves defined, and so it’s a temptation to project extraordinary powers – romantic, dark, ›Satanic‹ – upon him.« (Ebd. 59)29

Oates theoretischer Exkurs über den »Serial Killer« mag als Kommentar zu ihrer eigenen fiktionalen Verarbeitung des Themas gelesen werden. Ihr Roman Zombie (1995) stellt eine ähnlich mühsame Lektüre wie American Psycho dar. Ohne dies ausdrücklich zu machen, ist der Roman ganz offensichtlich eine Fiktionalisierung von Jeffrey Dahmers Leben.30 Quentin P__, der ständig von der ersten zur dritten Person wechselnde Erzähler, hegt die obsessive Idee, einen Zombie zu kreieren, der ihm als Sexsklave dienen soll. Zu diesem Zwecke führt er improvisierte, ›do-it-yourself‹-Lobotomien an verschiedenen, meist farbigen, immer halbbetäubten jungen Männern aus, indem er ihnen einen Eispickel unter den Augenlidern ins Hirn stößt: »A true ZOMBIE would be mine forever. He would obey every command & whim. Saying ›Yes, Master‹ & ›No, Master.‹ He would kneel before me lifting

29 Der Serial Killer als romantischer Held? Schon in James Hoggs Roman The Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner (1824) wurde der Held unter dem Einfluss eines Doppelgängers zum Mörder. Die zwei Seelen in der einen Brust pulsierten auch in Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886). Das Doppelgängermotiv kursiert unaufhörlich bis in jüngste Serienmörder-Romane, so in der schizophrenen Zeichnung des Täters in Caleb Carrs The Alienist (1995) oder der Verdopplung in zwei sich ähnelnde Mörder in James Ellroys Silent Terror (neuaufgelegt unter dem Titel Killer on the Road, 1986) oder in Poppy Z Brites Exquisite Corpse (1996). Für weitere Beispiele auch aus dem nicht-amerikanischen Sprachraum siehe die Textsammlung von Keck und Poole. 30 Der Roman hat nicht viel Aufsehen erregt, was eigentlich erstaunt. Oates ist keine unbekannte Autorin, das Thema brisant, der Text aber vielleicht zu experimentell gehalten. Immerhin zählen Schechter und Everitt Zombie zu den zehn interessantesten Romanen über Serienmörder, indem sie besonders die Fähigkeit Oates’ hervorheben, sich in die Psyche des Mörders einzufühlen: »Joyce Carol Oates crawls into the mind of a Jeffrey Dahmer-like psycho who dreams of creating his own personal Zombie […]« (253).

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his eyes to me saying, ›I love you, Master. There is no one but you, Master.‹

[…] His eyes would be open & clear but there would be nothing inside them seeing. & nothing behind them thinking. Nothing passing judgment. […] A ZOMBIE would pass no judgment. A ZOMBIE would say, ›God bless you, Master.‹ He would say, ›You are good, Master. You are kind & merciful.‹ He would say, ›Fuck me in the ass, Master, until I bleed blue guts.‹« (Zombie 49, 112, 169)31

Quentin hat eine schablonenhafte Vorstellung, wie sein Ideal-Zombie aussehen sollte: »[…] you would want a healthy young person, male. Of a certain height, weight & body build etc. You would want somebody with ›fight‹ & ›vigor‹ in him & well hung« (ebd. 28). Diese Beschreibung könnte einem ›hard body‹ aus American Psycho entsprechen. Quentin jedoch glaubt, seinen Zombie gerade in ethnischen oder sozialen Randgruppen zu finden, also genau der Zielgruppe von Batemans Opfer, den ›soft bodies‹ der Gesellschaft. Der Zynismus ist offenkundig, wenn auch von Quentin nicht reflektiert: »A safer specimen for a ZOMBIE would be somebody from out of town. A hitch-hiker or a drifter or a junkie if in good condition not skinny & strung out or sick with AIDS. Or from the black projects downtown. Somebody nobody gives a shit for. Somebody should never have been born.« (Ebd. 28)

Neben dem Aspekt der sich in den Mordtaten möglicherweise manifestierenden Homophobie, wurde der Vorwurf des Rassismus gegen Jeffrey Dahmer – dem ›realen‹ Quentin – in massiver Weise vorgebracht und muss als Folie für Oates’ Thematisierung gelten. Dahmer soll immer wieder seinen Hass auf die »fucking faggots« und besonders die »black queens« lautstark Ausdruck verliehen haben (zit. Dvorchak und Holewa 177-179). In einer semantischen Lektüre von

31 Die hier zitierte Stelle wird mehrmals im Roman nahezu identisch wiederholt. Dieser refrainartige Abschnitt erinnert stark an Allen Ginsbergs Gedicht »Please Master« (1968), in dem die masochistische Fantasie des lyrischen Ich ein Szenarium sexueller Hörigkeit entwirft: «[…] please master make me say Please Maser Fuck me now Please / […] & fuck me more violent, my eyes hid with your palms round my skull / […] over & over, bamming it in wile I cry out your name I do love you / please Master« (494-495).

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Dahmers Biographie gelingt es Lipitt, Dahmers Rassismus vor allem an seiner Tätigkeit in einer Schokoladenfabrik zu dechiffrieren und in den Kontext amerikanischer Rassen- und Machtverhältnisse zu stellen, in der auch eine rassistisch aufgeladene sexuelle Metaphorik mitschwingt: »[…] simply put, Jeffrey Dahmer, the Caucasian chocolate mixer, was a cannibal who preyed on the African-American community. Dahmer ate men of color« (161-162). Der dunkelhäutige Körper wird in dieser Topographie der Farbe als ›Naschwerk‹ gelesen, als »Schokolade« oder »brauner Zucker«, die sich zum Verspeisen anbieten. Das Machtverhältnis in dieser rassistisch-sexistischen Rhetorik ist offenkundig und lässt sich durch die amerikanische Geschichte bis in die Zeiten der Sklaverei zurückverfolgen. In Umkehrung der von kolonialistischer Perspektive produzierten Analogie von Afrikaner = Kannibale lebt, wie Patricia A. Turner zeigen kann, die Vorstellung des ›weißen Kannibalen‹ in den Mythen der afrikanischen und afroamerikanischen Kultur fort, gerade auch, um die Dimension sexueller Aggression zu symbolisieren: »It is not surprising that the modern-day African imagination sometimes translates the white world’s preoccupation with its destiny into a belief that whites need African bodies or body parts to survive. […] it can easily be boiled down to the precept that whites need black blood to survive.« (27)32

Ein Zusammenhang zwischen Rassismus, Kannibalismus und Sklaverei ist nicht nur in Dahmers Fall gesehen worden.33 Auch Oates’ Quen-

32 Turner zitiert u. a. The Interesting Narrative of Olaudah Equiano, or Gustavus Vasa, the African (1789), die Erzählung eines ehemaligen Sklaven, der von seiner Angst berichtet, von den weißen Sklavenfängern ›gefressen‹ zu werden: »We thought […] we should be eaten by these ugly men, as they appeared to us« (zit. 11). 33 In der Geschichte des modernen Serial Killer gab es in Amerika vor Dahmer schon einmal einen prominenten Fall, in dem Rassismus – auch hier in Kombination mit Homosexualität – eine entscheidende Rolle spielte: Wayne Williams, der farbige Knabenmörder aus Atlanta. Es war vor allem James Baldwin, der in seiner engagierten sozio-politischen Lektüre das ›Unsichtbare‹ dieses Falles liest. Der Essay The Evidence of Things Not Seen evoziert das »paranoid color wheel« (7), welches speziell in den amerikanischen Südstaaten immer wieder – und auch in diesem Fall

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tin muss sich den Vergleich mit Dahmer als Sklavenfänger und -halter, als weißer Kannibale gefallen lassen. Der versteckte Rassismus von Quentin schleicht sich als Spur durch den ganzen Roman, angefangen von der Selbstdarstellung (»Caucasian skin that is. On both sides of my family going back forever as far as I am aware.« [3]), über den Kommentar zu einer Verhaftung wegen der Belästigung eines zwölfjährigen farbigen Jungen (»I was tagged RACIAL OFFENSE. But it was not RACIAL. I don’t know what RACIAL is. I am not a RACIST. Don’t know what the fuck a RACIST is« [ebd. 8]), den anonymisierenden ›Kose‹-Namen, die er seinen Opfern gibt (BUNNYGLOVES, RAISINEYES, BIG GUY, NO-NAME), bis hin zu seinen Fantasien, die er auf farbige Männer projiziert, in diesem Fall NO-NAME: »I did not stammer as when first he swung into the van this cool dude eyeing whitey & his easy smile like Here I am, man, what’re you going to do about it?

[…] Then home with me […] NO-NAME grinning thinking he’d be sucked off by whitey & paid for his trouble & maybe clear out whitey’s possessions but that was not how it came about & the panic in his eyes said this was so.« (Ebd. 80-81)

Die Sprache der Augen ist ein Leitmotiv des Romans, Ausgangspunkt der Tötungsproblematik von Quentin: »EYE CONTACT HAS BEEN MY DOWNFALL« (ebd. 4). Auch die Idee, seine Opfer zu lobotomi-

– zu einer »emotional, moral, and legal confusion« (10) führen kann. Baldwin zweifelt nicht nur an, dass Wayne Williams der wahre Mörder ist, sondern dass hier ein typischer, wiewohl komplexer Fall von Südstaaten(Un)Gerechtigkeit vorliegt, »involving the American sense of history, for example, or Commerce, the evil grown by the tree of the doctrine of White Supremacy and the tree of Manifest Destiny, and the many shapes collusion or collaboration take« (xv). An fiktionalen Verarbeitungen des Themas Ethnizismus und Serienmord möchte ich hier zum einen den Verweis von Jenkins aufnehmen, der in Norman Spinrads Science-Fiction-Roman Bug Jack Barron (1969) eine ›unheimliche‹ Parallele zu den zehn Jahre später sich ereignenden Atlanta-Morden sieht, was den Verdacht der von Baldwin geäußerten Konspiration erhärten würde. Zum anderen auf die Romane The Alienist von Caleb Carr (1995) und Indian Killer von Sherman Alexie (1996), die Motive aus der indianischen Mythologie in die Konstruktion eines fiktionalen Serienmörders transportieren.

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sieren, rührt von der Angst, die Augen der anderen mögen seine eigene Angst erkennen, eben jene Panik, die er bei anderen auslösen muss, um sich selbst sicher zu fühlen: »I was having trouble keeping my dick hard with guys’ AWAKE EYES observing me at intimate quarters« (ebd. 29). Das Zombie-Fantasma beruht demnach neben der sexuellen Kontrolle auch auf dem Versuch, Blindheit herzustellen und damit Erkennen und Erinnern von Angst zu löschen: »Nor would there be terror in my ZOMBIE’s eyes. Nor memory. For without memory there is no terror« (ebd. 169). Der Satz offenbart eine – vielleicht ungewollte – Zweideutigkeit in der Wendung »my ZOMBIE’s eyes«: Sind hier die Augen des anderen gemeint, des Zombies, oder vielmehr die eigenen Zombie-Augen?34 Quentins Plan misslingt kläglich: Seine ›Zombies‹ siechen lediglich bewusstlos eine kurze Zeit noch vor sich hin, bevor sie verenden und Quentin sich ein neues Opfer suchen muss.35 Tatsächlich hat Dahmer ganz ähnliche Experimente mit seinen Opfern gemacht. Auch er bohrte ein Loch in den Schädel der Männer, um ihnen dann Flüssigkeiten in das Gehirn zu injizieren. Mit dem durch die Titelwahl signalisierten Schwerpunkt der seriellen Morde auf der Konstruktion eines Zombies spielt Oates aber auch konkret auf das Horror-Genre an, in dem Zombies als dehumanisierte Monster eine doppelte Rolle spielen:

34 Vgl. hierzu auch die Aussage von Dahmers Stiefmutter in dem Blatt The Plain Dealer aus Cleveland über Jeffrey: »Umarmungen waren ihm unmöglich. Er konnte niemanden berühren. Seine Augen waren tot. […] In diesem Jungen schlägt schon lange kein Herz mehr. Er ging um wie ein Zombie« (zit. in Dvorchak und Holewa 36). 35 Die Idee, sich einen Zombie zu schaffen, sei laut Steven Marcus »derived from the irreversible psychosurgical procedures […] performed during the 1940s and 1950s […] on thousands of unfortunate Americans judged to be psychotic, dangerous or incompetent« (13). Es ist auffällig, dass zwar die Titelfigur in deutlicher Anlehnung an Jeffrey Dahmer konstruiert ist, bei Quentins Vater aber – entgegen Dahmers Vater – eine Verknüpfung zu Menschenexperimenten hergestellt wird. Der Nobelpreisträger und ehemalige Mentor von Quentins Vater hatte, wie sich herausstellt, für die Atomic Energy Commision in den 1950ern geheime Strahlenexperimente an geistig behinderten Kindern gemacht, indem er ihnen strahlenverseuchte Milch zu trinken gab, sowie an Gefängnisinsassen, deren Hoden ionisierenden Strahlen ausgesetzt wurden (Zombie 171).

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Einerseits bilden sie als Gruppe einen anonymen, monströsen Massenkörper, andererseits ist der einzelne Zombie nichts als Flickzeug, ein zusammengestückelter, disparater Körper ohne eigene Identität. Mit Verweis auf George Romeros Horrorfilme, besonders Night of the Living Dead (1968), bezeichnet Linda Badley den Zombie als Massenprodukt ohne Subjektstatus: »The zombie collapses the image of the vampire and the Frankenstein monster into the mindless revenant that eats human flesh« (74). Der Zombie reagiert nur auf Reflex, als quasi Gehirntoter ist er aller Funktionen beraubt, die ihn zu einer eigenständigen Persönlichkeit machen. Der Zombie dieser Machart symbolisiert Konformität, Romeros Filme sind daher auch als Allegorien der Konsumgesellschaft und des Rassismus gelesen worden. Andere sehen das sich um den Zombie rankende Spektakel als das wirklich horrifizierende Thema: die Ökonomie des Kannibalismus. »The splatter – the cannibalism – was the message. These films referred to and exploited an economy based in ›meat‹ or bio-power, in which one’s person is a body and the body is for sale« (ebd.). Hier zeigen sich fatale Analogien und krasse Umkehrungen zu Oates’ Zombie. Die Männer, denen Quentin nachstellt, sind in der Tat zum Teil ›käufliche Ware‹. Wie Dahmer lockt er den potentiellen Zombie mit Geld. Aber der Zombie wird hier zum hilflosen Opfer, Quentin hingegen zum namen- und gesichtslosen Monster, das sich aus der Masse nicht heraushebt. Quentin kommt dem Monster, das wir aus Horrorfilmen kennen, besonders in der Szene am nächsten, als er nach einem an ihm selbst verübten Raubüberfall sein völlig zerschlagenes Gesicht im Spiegel betrachtet und eine Selbst-Offenbarung hat: »[…] there was this FACE! this fantastic FACE! battered & bandaged (& blood leaking through already) & stitched […] & the lips bruised & swollen & there were bloodshot-blackened EYES UNKNOWN TO ME. & I understood then that I could habit a FACE NOT KNOWN. […] I could move in the world LIKE ANOTHER PERSON. I could arouse PITY, TRUST, SYMPATHY, WONDERMENT & AWE with such a face. I could EAT YOUR HEART & asshole you’d never know it.« (60)

Quentins eigene Charakterisierung gleich zu Beginn (»Distinguishing features: none« [ebd. 3]) bleibt bis zum Ende gültig: »Q__P__the invisible man« (ebd. 113). Als Charakter durchläuft Quentin keinerlei Entwicklung. Es ist auffällig, dass nicht nur Oates den Schluss der

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selbstquälerischen confessio Quentins offenlässt, auch bei Ellis wird Bateman nicht gefasst und selbst bei Harris entkommt Hannibal am Ende triumphal. Interessant scheint mir hier Seltzers Vergleich des seriellen Verbrechens mit der repetitiven Verfahrensweise von Produkten der Massenkultur. So locken Serienfilme und TV-Serien das Publikum mit einem »cliff-hanger«, einem dramatisierten offenen Ende. Der Schluss sollte bewusst unbefriedigend sein, die Spannung nicht gelöst werden. Denn nur so will der/die ZuschauerIn die Fortsetzung sehen. Serialität tritt somit in Konflikt mit dem erzählerischen Vorgang, was einer narrativen Fehlleistung gleichkommt. Die Serie lässt ein Ende außer Sichtweite geraten, das Einzelereignis verliert seine singuläre Bedeutung. In Analogie lässt sich auch der Serienmord auf diese fehlgeschlagene Ent-Spannung zurückführen: »[…] the real meaning of serial killing is a failed series of attempts to make the the scene of the crime equivalent to the scene of the fantasy« (Seltzer, »Serial Killers [I] 93-94).

D ENNIS ’

SERIELLES

S ELBST »Sowenig es möglich ist, eine absolute Ebene des Realen auszumachen, ist es möglich, Illusionen zu inszenieren.« (Jean Baudrillard 35)

Die Romane von Oates und Ellis sind Grenzgänger der Genreliteratur. Zu ihnen möchte ich in diesem Zusammenhang auch Dennis Cooper gesellen, auf dessen Darstellung des Serial Killer ich zum Abschluss eingehen möchte. Stilistisch eher aus dem postmodernen Erbe kommend, ist ihnen dreien dennoch die Nähe zum Horrorgenre gemeinsam.36 Nun lässt sich behaupten, dass Horror an sich kein Genre dar-

36 Deutlich wird dies im Falle von Ellis an der Parodie seines Romans Less Than Zero durch den »splatterpunk«-Autor Douglas Winter, dessen Kurzgeschichte »Less Than Zombie« den minimalistischen, monotonen Prosastil Ellis’ mit der gleichermaßen einförmig-seriellen Gewaltsprache des Zombiefilms kombiniert, wie folgende Textpassage demonstriert: »We kick her for a while […] She crawls some more. Her head is in the gutter

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stellt, sondern einen literarischen Stil, der in jedem Genre eine Rolle spielen kann durch »the creation of an atmosphere and emotional environment that sparks a transaction between the reader and the text which yields the horrific response« (Hartwell 12). Dieser Transaktion zwischen Text und Publikum ist eine sublime Erfahrung inhärent, die sich nicht durch ein Schreckensereignis selbst ergibt, sondern durch die stilistische Evokation einer Atmosphäre, die den Raum öffnet für eine Horrorinszenierung. Diese Form der Horror-Erfahrung beruht auf einem Zusammenspiel zwischen Realität und Fantasie und rührt von Erlebnissen her, die unterdrückt und verdrängt werden, in der Umleitung eines ästhetischen Grauens aber reaktivierbar bleiben.37 In Dennis Coopers Werk spürt von den hier gezeigten Werken der/die LeserIn vielleicht am deutlichsten die Wirkungsweise des ästhetischen Grauens. Besonders sein Roman Frisk – ebenfalls ein Serial-Killer-Erzeugnis aus dem Jahre 1991 – versteht sich als eine radikale Identitätsqueste, bei deren Verlauf auch vor sadomasochistischen, nekropophagen Ritualmorden nicht haltgemacht wird. Wie schon bei Ellis und Oates erzählt uns ein Ich-Erzähler, dem Cooper seinen eigenen Vornamen Dennis (ver)leiht, in Form eines Bekenntnisses den Gang einer sich steigernden Obsession: die Erforschung des männlichen Körperinneren. Der Drang zum Inneren des Anderen gründet auf einer horrifizierenden Fixierung, die Dennis im Jugendalter erfahren hat. Seit dem Betrachten von Fotos scheinbar toter Körper verfolgt ihn eine bestimmte Nahaufnahme, bei der das Gesäß eines Jungens einen Krater wie nach einer Bombenexplosion bildet: »At its center’s a pit, or a small tunnel entrance, too out-of-focus to actually explore with one’s eyes, but too mysterious not to want to try« (Cooper 4).

and Skip looks at DJ and he is saying ›This is real‹ and he pulls at Jane’s hair and her head is bent back and her mouth is open and […] then he’s pressing her face against the curb and her upper teeth are across the top of the curb. […] and Skip is saying ›Real‹ and […] he stomps downward and the sound is nothing I have ever heard« (Winter 96; zit. in Badley 80). Ich kann Badley nur zustimmen, die meint, es handle sich hier um eine »conjunction of substance with style, the mind-numbing surfaces of Ellis’s narrative became the perfect expression of our living death« (80). 37 Hartwell verweist hier auf Sigmund Freuds Aufsatz über »Das Unheimliche« und Julia Kristevas Pouvoirs de l’horreur (1980).

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Die Erkundung des Mysteriums wird zum Ziel von Dennis’ Queste, ein Ziel, das er nie erreichen wird. Denn selbst als er den Jungen trifft, der angeblich als Toter auf dem Foto zu sehen war, löst dies nicht Dennis’ Fixierung. Viel zu sehr hat er sich selbst mit dem Jungen auf dem Foto identifiziert, als dass er aufhören könnte, sein Ebenbild zu suchen, das Double, den Anderen. Und auch der bekennende Akt des Schreibens, der in begrenztem Maße für Patrick Bateman und Quentin P__ noch kathartische Funktion hatte, wird bei Dennis zum Selbstläufer. Die dem Roman zugrundeliegende Ironie zeigt sich in der Erprobung diverser Genres durch den ›Autor‹ Dennis, die dieser in seine confessio einschleust: zunächst ein »artsy murder-mystery«-Roman, dessen Fragmente sich über den gesamten Text verstreuen, dann Briefe an ehemalige Liebhaber mit detaillierten Schilderungen seiner Morde. Nicht nur der/die LeserIn verliert die Kontrolle über den Handlungsverlauf, auch Dennis manipuliert sich in eine sich steigernde Selbstentfremdung: »I’m sure I’ve neglected the thing [my body] for so long that it’s totally fucked up and full of cancer or AIDS or something. Maybe if I stop writing this down, I’ll stop worrying« (ebd. 50). Nur die Vorstellung des Mordens reizt ihn noch körperlich an und auf, »usually while I’m jerking off, since that’s the only time I ever feel anything about anyone else« (ebd. 58). Seine nekrophile Leidenschaft speist sich zunächst deutlich aus einem Kontrollverlust: »I’m out of control. Inside« (ebd. 78). Der ›Grenzenlosigkeit‹ seines eigenen Körpers glaubt er über die Kontrollausübung beim fremden Körper begegnen zu können: »I tore up his body like it was a paper bag and pulled out dripping fistfuls of veins, organs, muscles, tubes. […] I drank his blood, piss, vomit. I shoved one hand down his throat, one hand up his ass, and shook hands with myself in the middle of his body […].« (Ebd. 38)

Aber gerade der Kontext des letzten Zitats zeigt, dass die Problematik anders gewichtet ist: »Afterward I lay in bed putting Finn through hell in my thoughts« (ebd. 38). Der nekrophile Akt ist eine Fantasiegeburt, der eine misslungene Kontaktaufnahme vorausging. Auch wenn der Text immer wieder die Ebenen von Realität und Fantasie zu verwischen sucht, so sollten wir dem Erzähler gerade deshalb misstrauisch begegnen. Entlarvt sich Dennis aber letztlich nicht selbst, wenn er

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seine Erzählung immer wieder als »unbelievable« markiert? Wie ernst können wir Dennis’ Anspruch nehmen, dass er durch die Körpererforschung eine »major transcendence« anstrebt, eine ultimative Wahrheit, wenn er gleichzeitig behauptet, der Anblick eines Opfers mache ihn primär geil: »I just go blind and my cock gets unbelievably hard« (ebd. 107)? Der Text zeigt Strategien von Gewaltrepräsentationen auf als endlose, serielle Reproduktionen: »[…] since I don’t have the boy or nerve or weapon, I just sit here scribbling, jerking off. That’s what my left hand is doing while this one is writing. But inside my head the most spectacular violence is happening. A boy’s exploding, caving in. It looks sort of fake since my only models are splatter films, but it’s unbelievably powerful.« (Ebd. 54)

Das Serielle bei Cooper ist selbstreferentiell und zyklisch. So bemerkt Matias Viegener über Jerk (1993) einem weiteren Serial-Killer-Text Coopers: »[…] the circular ritual of destruction of Jerk is a form of unproductive social exchange, ›generous, orgiastic and excessive‹« (113).38 Cooper durchbricht die Dichotomisierung von Innen und Außen, Eigenem und Fremden. Identitätsprozesse kollabieren, der Tod wird nicht mehr als das absolut Andere gedacht. Jackson hat Cooper in dessen Erforschung von Horror-Mysterien als »archeologist of desire« bezeichnet (»Dennis Cooper« 80), wobei sich der Horror manifestiert gerade aus der bewussten Parallelisierung von Gewalt und Sex, »the similarities between orgasm and death as annihilation of the discrete self« (Jackson, »Death Drives« 153). Ein Vergleich des Archivs der Lüste, das Dennis sich anlegt, mit dem Schrein Jeffrey Dahmers bietet nur auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten. Dahmer war, wie Dennis, fasziniert vom Körper seiner Opfer. Er hatte die Absicht, einen Schrein zu errichten, der mit den ›Lieblingskörperteilen‹ der getöteten Männer geschmückt werden sollte. Masters erkennt hier, besonders auch in Zusammenhang mit den kannibalischen Einverleibungen, »eine primitive Spiritualität«, einen

38 Vgl. auch noch Coopers Serienmörder-Story »A Herd« aus seinem Erzählband Wrong (1992).

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»rudimentäre[n] Mystizismus« (Todeskult 312).39 Dahmer glaubte, in den Reliquien die Geister der Toten erhalten zu können. Masters deutet dies als Machtgestus, hier hatte Dahmer »endlich Kontrolle über sein Leben, über Sex, über die Welt und die Vergangenheit – Macht durch die absolute Schönheit des Todes« (ebd. 323). Die irritierende Verklärung, die Masters Dahmer in der Idee des Schreins hier zugesteht, lässt sich aber auch deuten als eine Exterritorialisierung: Dahmer sucht seine Sucht auf einen Ort zu projizieren, der außerhalb seiner selbst ist. An diesem Ort glaubt er, eine Einheit von »dismember« und »remember« zu erreichen: ein Altar als BindeGlied zwischen dem Zergliedern der Leiber und dem Angliedern in eine Erinnerungskette. Dennis’ Leibersammeln hingegen zelebriert eine serielle Lektüresucht. Nicht das Erinnern steht im Zentrum der Leibeserkundung, es ist vielmehr die endlose, serielle Suche nach dem immer Gleichen, dem Selbst. Unter dem Aspekt »Killer White« hat José Esteban Muñoz die Verfilmung des Romanes durch Todd Verow (1995) als ein Zusammenspiel von Weißheit, Tod und Normativität gelesen. Hier ergibt sich der gravierendste Unterschied zu Dahmer: Hatte dieser den anderen – schwarzen – Körper zu erforschen gesucht, so reproduziert Dennis nur immer wieder das eigene – weiße – Ideal. Individualität, Realität, Subjektivität: all das spielt keine Rolle in Dennis’ Wunschökonomie. Allein der ›Prototyp‹ zählt, der dem Eigenen nachformuliert ist: »[…] the most desired body is the body that most perfectly escapes individuality and achieves the anonymous and mass-produced status of the normalized body« (Muñoz 133). Die Kritik an der rassistischen Rhetorik des Weißen durch Cooper ist evident: Dennis’ seriell ausagierte (Sehn)Sucht nach der Lektüre des Eigenen produziert ein unheilsames, parasitäres pharmakon.

39 Dahmer selbst hierzu: »Ich vermute, auf eine ganz seltsame Weise hat es mir das Gefühl gegeben, als wären sie sogar noch mehr Teil von mir« (zit. in Masters, Todeskult 314).

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Performative Räume: Ruinen und Toiletten

»The Ruined City Under My Skin«: Der gemarterte Körper im Theater Reza Abdohs »I believe that one has to not be a victim.« (Reza Abdoh, »To Reach Divinity« 70)

Das vierte Internationale Tanzfestival München, »Dance ‘93«, stand unter dem Motto »Ordnung/Zerstörung« und verstand sich als eine Standortbestimmung der vielzitierten Krise des Theaters. Für einen der beiden Veranstalter, Martin Bergelt, »steht die epochale Herausforderung des Theaters an sich durch die Technoästhetik des Posthistoire zur Diskussion, in deren Sog dem Theater im Sinne eines lebendigen ›Forums zum Ideenaustausch‹ (Reza Abdoh) das Verschwinden droht […].« (Bergelt 97)

Die Begriffe Ordnung und Zerstörung stecken hierbei die analytische Ebene kulturell-historischer Entwicklung sowie die deskriptive Ebene einer Regie/Choreografie des Theaters ab. Verhandelt wird, so Bergelt, ein traditioneller Begriff von Kultur, der auf der Dialektik von ordnen und zerstören beruht: »Gleicht jedes Erinnern einem Ordnen, Stiften von Tradition, so gleicht jedes Entwerfen in die Zukunft einem Vergessen, Verfälschen oder auch Vernichten von Tradition im Interesse eines Neuen« (Bergelt 97). Laut Gerhard Neumann besteht für die abendländische Kultur ein untrennbares Spannungsfeld, denn:

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»Zerstörung und Ordnung gehören von Anfang an zusammen. Dort, wo sie aufeinandertreffen, entsteht Kultur. Denn Kultur ist Erinnern in seiner doppelten Form: Verstehen und Gestalten, Wissen und Poesie. Erinnern ist die Antwort des Lebenwollens auf die Zerstörung, Erinnerung und Gewalt stehen von Anfang an in einer geheimen Verbindung.« (Neumann 100)

Von besonderem Interesse hierbei ist der Status des Körpers: Wie akut ist die Gefahr des Verschwindens des Körpers und seiner Geschichte im von digitaler Simulation und dem Primat der Jetzt-Zeit als Selbstreferenz ohne Erinnerung beherrschten Techno-Zeitalter? Bietet sich dem Theater die Chance, Widerstand gegen eine solche Techno-Kultur zu leisten? Reza Abdoh, auf dem genannten Festival vertreten mit seinem Stück über den kannibalischen Serial Killer Jeffrey Dahmer und die Pop Ikone des Camp Andy Warhol, The Law of Remains, gehört zu jenen avancierten Theatermachern, die mit sprachlichen wie nichtsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers arbeiten und besagte Dialektik von ordnen/(zer)stören auf der Bühne ausstellen. Hierzu gehört die Zertrümmerung traditionell theatralischer Mittel wie Rolle, Handlung, Dialog, etc. Stattdessen steht die Bühne unter dem Zeichen des Terrors für die Sinne: Lautstärke bis zur Schmerzgrenze, Obszönität, Verwischen der Grenze von Spiel und Realität, Übergriffe auf das Publikum und immer wieder Gewalt – Gewalt gegen den anderen wie gegen den eigenen Körper. Gautam Dasgupta beschreibt Abdohs theatralische Energie als eine apokalyptische Evokation von Harmagedon: »Ear-splitting sounds, heavily amplified music, and the miked grunts, groans, and sighs of the denizens of another world, a netherworld perhaps, punctuate a narrative that is itself fractured by multiple and overlaid texts. Add to this mélange multimedia technology, television monitors, excessively detailed and cluttered stage sets vying for attention, and an ambulatory theatrical experience with audience members herded into separate areas, and one gets a fairly general sense of what it is like to be present at a Reza Abdoh-Dar A Luz production.« (Dasgupta 113)1

1

Abdohs Avantgarde-Techniken werden gerne verglichen u. a. mit dem »Theater der Grausamkeit« von Antonin Artaud, dem surrealistischen und absurden Theater (Breton, Genet, Beckett), der »cut-up technique« von

DER GEMARTERTE KÖRPER | 245

Den Körper unter das Diktat von Gewalt zu stellen kulminiert in der Frage nach der Darstellbarkeit des Todes. Im Folgenden sollen Techniken einer Körperinszenierung anhand von zwei Momenten extremer Todeserfahrung veranschaulicht werden: Krankheit und Krieg. Anders als dies beispielsweise Robert Wilson in CIVIL warS und The Forest tut, bringt Abdoh in radikaler Weise gemarterte Körper, »bodies in pain«, auf die Bühne, wo sie – wie sein Quotations from a Ruined City und der dort vollzogenen Engführung von AIDS und dem Krieg in Bosnien zeigt – im Modell der Ruine als gleichzeitige Evokation von Zerstörung und Erinnerung figurieren.2

»G EWALT -W ELT « – K RIEG

UND

K RANKHEIT

»Physical pain has no voice, but when it at last finds a voice, it begins to tell a story […].« (Elaine Scarry 3)

Wie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann konstatiert, besteht ein Risiko im Unterfangen, dem Theater die Qualität eines Sprech-Akts zu geben, »der den Sprechenden nicht hinter seinem Apparat, den Zuschauer nicht durch ein Bild schirmt, sondern beide der Ungewissheit aussetzt, wie weit die eigene Implikation in den Akt des Sprechens reicht« (Lehmann 116). Theater als Sprechen verstehen heißt, dass hier das Risiko des Zusammenbrechens ästhetischer Distanz eingegangen wird. Besonders deutlich wird dies in der Darstellung des Schmerzes, »wenn die Bühne sich dem Leben gleichmacht, auf ihr gestürzt, geschlagen wird, Angst um die Unversehrtheit der ›Spielenden‹ aufkommt« (Lehmann 117).3 Rein physischer Schmerz ist jedoch, so die Ausgangsthese von Elaine Scarrys beeindruckender Untersuchung The Body in Pain, nicht ausdrückbar; er ist nicht mitteilbar, da er auch nicht teilbar ist: Nur derjenige, dem Schmerz zuge-

William S. Burroughs, den Schockmomenten des Living Theaters und mit der postmodernen Choreografie von Robert Wilson. 2

Zur Darstellung von Krieg und Krankheit bei Wilson siehe Poole.

3

Vgl. zum Einsatz von Schmerz, der zunehmend den Gebrauch des Körpers im Tanztheater seit den 1980ern bestimmt, Fischer-Lichte.

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fügt wird, empfindet auch den Schmerz. Jeder Versuch, diesen Schmerz an eine andere Person zu vermitteln, beruht auf einem Ungleichgewicht der Leidensfähigkeit. Die Aussage über Schmerz wird somit zu einer prekären Glaubensangelegenheit: »So for the person in pain, so incontestably and unnegotiably present is it that ›having pain‹ may come to be thought of as the most vibrant example of what it is to ›have certainty‹, while for the other person it is so elusive that ›hearing about pain‹ may exist as the primary model of what it is ›to have doubt‹. Thus pain comes unsharably into our midst as at once that which cannot be denied and that which cannot be confirmed.« (Scarry 4)

Scarry beharrt auf einer radikalen Kluft zwischen Körper und Stimme, die durch den ultimativ zerstörerischen Akt der Folter evident wird: Das ›Entzwei-Teilen‹ des menschlichen Individuums in ein Präsentes und ein Absentes wird zur Mimesis des Todes: »For what the process of torture does is to split the human being into two, […] to make the one, the body, emphatically and crushingly present by destroying it, and to make the other, the voice, absent by destroying it« (Scarry 4849). Indem der Folterer dem Opfer Schmerz zufügt, zerstört er dessen kommunikative Sprachfähigkeit, wie ein Tier kann das Opfer nicht mehr für sich selbst sprechen, weil es kein ›Selbst‹ mehr hat. Es kann daher nur noch eine Sprache ›mimen‹, die jetzt die des Folterers ist, so dass nunmehr der Folterer die Stelle des Subjekts für das Opfer einnimmt und das Opfer seinen Körper dem Folterer ›übergibt‹. Scarrys These der Trennung von Körper und Stimme bedeutet zweierlei. Einerseits macht die Sprachlosigkeit des Schmerzes den Gemarterten ganz zum Körper, zum Organ des Schmerzes. Der Schmerz als intensive Form der Körperversicherung kerkert den Leidenden in seinem Körper ein und auch der Schmerzensschrei manifestiert lediglich das Zertrümmern der Sprache als Artikulation von OhnMacht. Andererseits bedeutet es für denjenigen, der Macht haben will, dass er sich seines Körpers entledigen und – im Gegenzug – einer Stimme bemächtigen muss. Machtgewinn ist demnach an Körperverlust gebunden, oder wie Aleida Assman Scarry deutet: »Weniger Körper zu haben als andere ist ein soziales Privileg« (38). Während sich also seitens des Opfers die Präsenz des Körpers durch die Marter ›realisiert‹, zeichnet sich seitens des Täters in der gewonnenen Präsenz der Stimme und dem damit verbundenen unsichtbar gewordenen Körper

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eine Instabilität der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ab, die auf die Fiktion, d. h. Konstruierbarkeit von Macht verweist.4 Die Erprobung der Leidensfähigkeit sowie Möglichkeiten der Artikulation derselben gehören zu den hervorstechenden Merkmalen in Quotations from a Ruined City (1994), dem letzten vollendeten und aufgeführten Stück des iranisch-amerikanischen, an den Folgen von AIDS verstorbenen Regisseurs, Choreografen und Dramatikers Reza Abdoh (1963-1995). Wie in allen seinen Werken der letzten Jahre, die er gemeinsam mit seiner Dar A Luz Company als multimediale Spektakel in einer Mischung aus Wort- und Tanztheater kreiert hat (The Hip-Hop Waltz of Eurydice [1991], Bogeyman [1991], The Law of Remains [1992], Tight Right White [1993]), fokussiert auch Quotations den ruinösen Körper. Wie der Titel bereits suggeriert, ist Leitbild die Ruine, wobei sich diese topographisch und symbolisch aktualisiert. Die Ruine erinnert an eine Kultur, deren Zenit längst überschritten ist, sie verweist aber auch auf den menschlichen Körper, auf und in den der Verfall eingeschrieben ist. Hierbei fungiert AIDS nicht nur als ein Thema oder eine Metapher: »Dying of AIDS is the very architecture of the performance, […] with the sufferers each time a little weaker, a little more transparent« (Fuchs 109). Der künstlerischen Repräsentation des AIDS-kranken, vom Tod gezeichneten Körpers ist immer ein Risiko inhärent insofern, als die Gefahr einer ungewollten Stigmatisierung durch öffentliche ZurSchau-Stellung naheliegt. Die »soziale Kunst im Zeichen von AIDS« (Watson 53) der 1980er Jahre reagierte auf dieses Dilemma, indem sie den Körper eines AIDS-Kranken als nur vermittelt darstellbares Politikum behandelte: »Der Körper selbst ist in der Ausstellung nicht mehr anwesend, die künstlerischen Methoden ähneln chemischen, biologischen und statistischen Ermittlungs- und Dokumentationstechniken. Es sind Versuche der symbolischen, meist metonymischen Rekonzeptualisierung des Körperbildes in den Zeiten von Aids – Versuche, die scheinbar einen klinischen, ›objektiven‹ Blick konstituieren und ihn dadurch kritisieren.« (Wagner 26)

Die Abwesenheit des Körpers in der Kunst entspricht der Erkenntnis vieler Kulturkritiker, die betonen, in welchem Ausmaße AIDS sprach-

4

Zur Verortung Scarrys im Feld der Dekonstruktion siehe McGee.

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lich auch heute noch durch die Massenmedien sowie den bio-medizinischen Diskurs konstruiert wird. AIDS stellt sich nicht einfach als objektive biologische Entität dar, sondern ist zu einem politisch umkämpften Feld geworden ist, auf dem mit der Waffe der Sprache gefochten wird. So fordert Paula Treichler, dass wir untersuchen müssen, wie Sprache das produziert, von dem wir glauben, es bereits zu wissen. Künstler haben daher Möglichkeiten einer Intervention in diesen Mechanismus gerade über sprachliche Mittel gesucht (Treichler 232). In der Darstellung von Krankheit und Tod wurden infolgedessen direkte Repräsentationen des Körpers vermieden und statt dessen Anleihen bei der konzeptuellen Kunst beispielsweise der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer5 genutzt, um ein eigenes, sich vorwiegend im Bereich der Sprache zu situierendes Konzept zur Repräsentation von AIDS in den Medien und in der Kunst zu entwickeln.6 Holzers Arbeiten fragen nach den »Moralvorstellungen in der Kunst heute«, so der Anspruch der Ausstellung »Welt-Moral« in der Kunsthalle Basel im Frühjahr 1994, an der Holzer u. a. neben Barbara Kruger, Kiki Smith, Nan Goldin und Cindy Sherman mitwirkte. Thomas Irmer will das Motto »Welt-Moral« bei den in Basel ausstellenden KünstlerInnen behandelt wissen als »Gewalt-Welt«, wobei die künstlerische Ausformulierung von Gewalterfahrung sich zweier Strategien verschreibt, die sich gleichzeitig und scheinbar widersprüchlich gegenseitig bedingen: »Erstens, in einer Medien-Welt, die sich ständig der ›realistischen‹ Gewaltdarstellung bedient, muss die Darstellung von Gewalt abstrakt bleiben, um erfassbar zu sein. Zweitens, in einer Welt der permanenten ›realistischen‹ Gewaltdarstellung muss die künstlerische Auseinandersetzung mit Gewalt eine starke

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So erinnert Holzers »Lustmord«-Zyklus an die im Krieg in Jugoslawien verübte Gewalt gegen bosnische Frauen, indem sie eine Faltkarte mit der Aufschrift »Da, wo Frauen sterben, bin ich hellwach« nicht mit normaler roter Farbe druckte, sondern der Druckerfarbe Blut der misshandelten Frauen beimischte.

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Bedeutsamstes Ergebnis dieser Bemühungen ist sicherlich das Logo mit dem umgedrehten rosa Winkel »Silence = Death«, das 1987 von New Yorker Grafikern entworfen und zum Erkennungszeichen der AIDS-Aktivisten-Bewegung ACT UP (AIDS Coalition To Unleash Power) wurde.

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sinnliche Ausstrahlung haben, um im Sinne der künstlerischen Kommunikation überhaupt erfahrbar zu werden.« (Irmer 97)

Der AIDS-Aktivismus wurde im Verlauf der 1990er Jahre allerdings von einer tiefen, weitreichenden Resignation ergriffen, die sich auf künstlerischem Gebiet durch eine zunehmende Sentimentalität realisierte: Der Körper ›kehrt zurück‹ und zwar nicht als einheitliche Gestalt, sondern als durch seine Körperflüssigkeiten (Blut, Sperma, Urin) repräsentiert.7 Entscheidend ist hierbei die Umwertung einer eskapistisch ausgerichteten Sentimentalität in ein produktives Verständnis als (auto)biographische Spurensuche (vgl. auch Cherniavsky). Der Körper wird gerade in der »Radikalität des Partikularen« wiederentdeckt, wobei nicht übersehen wird, »die individuelle Subjektivität als Teil einer kollektiven Subjektivität zu begreifen und so dem moralisierenden Sehen an der Schnittstelle von Öffentlichem und Privatem, dem Selbst und dem Anderen, etwas entgegenzusetzen.« (Wagner 34)

Der Sprache kommt nun eine andere Funktion zu: Sprache tritt in Beziehung zur Körperlichkeit statt lediglich vom abwesenden Körper zu ›erzählen‹. Schrift und Körper spielen daher in vielen dieser Arbeiten eine wesentliche Rolle, so beispielsweise bei dem PerformanceKünstler Hunter Reynolds, in dessen Schamanen-Stück Patina du Prey’s Memorial Dress Reynolds in einem Kostüm, das als Skulptur und zugleich Performance-Requisite mit den Namen von 25 000 AIDS-Toten bedruckt ist, zu langsamer Musik eine Art rituellen Totentanz aufführt (vgl. Watson 55). Ein solches Beispiel zeigt, dass die Rede von Körper und Text gerade durch das Element der Bewegung sich nicht als eine verbrauchte Metapher vom »Körper als Text« erweisen muss. Denn es lassen sich, wie Gabriele Brandstetter ausführt, vielerlei Beziehungen zwischen Körper und Text herstellen, um der Frage nachzuspüren, ob der Text den Körper zum Verschwinden bringt. So vermag die Bewe-

7

Beispiele hierfür sind die Urinflecken auf Laken bei Piotr Nathan (»Ein erstarrter Salto«), Körperabdrücke im Eigenblut (»Elegien – Trauergesänge«) sowie Eigensperma (»On the Rim«) bei Anthony Viti (vgl. Wagner passim).

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gung durchaus die Begrenzungen eines gegebenen Körper-Textes zu lösen. Wir können daher fragen, welche Muster sich entfalten, »wenn wir den Körper nicht sogleich – wie es oft naheliegt – als ›Bild‹ erfassen, sondern als einen Text, der erst noch zu schreiben ist; wobei dieses Schreiben selbst als körperlicher Akt zu denken wäre. Als Element jener Bewegung des Körpers, die im Raum schreibt, die den Raum (be)schreibt: als Choreographie.« (Brandstetter 28)

Gerade dem Tanztheater kommt der Figurierung eines ›Körpers als Text‹ eine besondere Bedeutung zu, wenn es um die Darstellbarkeit von Krankheit und Schmerz, Tod und Trauer geht. Genau wie in Kunst und Performance, hat AIDS – und damit auch die Inszenierung von kranken, vor allem männlichen Körpern – die Entwicklung des Tanztheaters in den letzten Jahren nachhaltig mit beeinflusst. Was die Repräsentation von Maskulinität im Tanztheater betrifft, so wurden in den 1980er und -90er Jahren vor allem in den experimentellen Formen radikal neue Wege gegangen. Im Zuge der sich aus den seit den 1960er Jahren geführten Diskussionen um gender, Ethnizität und Sexualität ergebenen Fragen nach der Konstruktion von Identität(en) zeigte sich, dass es vielen, vor allem nicht-weißen und nicht-heterosexuellen Choreografen und Tänzern verstärkt darum ging, konventionelle Wahrnehmungs- und Rezeptionsmechanismen aufzubrechen (vgl. Koegler).8 Nicht selten löste eine solche künstlerische Vorgehensweise Debatten über die ›politische Korrektheit‹ von victim art aus. So integrierte beispielsweise der afroamerikanische Choreograf Bill T. Jones in sein Stück Still/Here dokumentarisches Bild- und Textmaterial AIDS-kranker Freunde und musste sich von der ›Päpstin‹ der US-Tanzkritik Arlene Croce daraufhin vorwerfen lassen, seine Kunst sei statt von ästhetischen Normen durch Exhibitionismus bestimmt.9 Jones’ Anliegen jedoch ist es, gerade durch sein

8

Erwähnenswert ist hier vor allem die englische Kompanie DV8-Physical Theatre mit Stücken wie My Sex, Our Dance (1987), Dead Dreams of Monochrome Men (1988), MSM ([Men Who Have Sex With Men] 1993) und Enter Achilles (1995). Siehe hierzu Schulze sowie Burt.

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Vgl. die im New Yorker von Arlene Croce angezettelte Debatte und den satirischen Kommentar von Marcia Pally.

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›Körpertheater‹ gesellschaftliche Missstände gewaltsam an die Öffentlichkeit zu zerren: »Von Homosexualität zu reden fordert, dass wir den Körper als einen Platz anerkennen, an dem sexuelles Vergnügen um seiner Selbst willen existiert. Daher wird Homosexualität als anstößiger Akt gewertet – als einer, der Reaktionen in den Eingeweiden hervorlockt. Es ist das Wesen der Bühne, erhöhte Reaktionen zu provozieren. Ich kann uns zwingen, sich der Angst in der Gestalt des Widerwillens zu stellen.« (Jones, zit. in Witzeling 5)

Das Beispiel macht deutlich, dass eine kritische Hinterfragung der Analysekriterien vonnöten ist, wenn es um eine ästhetische ›Wertung‹ von künstlerischen Repräsentationen von AIDS geht: »Since the earliest years of the epidemic, gay men have used performance primarily for three specific yet interrelated purposes: first, as an educational means to challenge the misconceptions about AIDS; second, to build and sustain a communal response to the epidemic; and third, to pay tribute to those who have died.« (Román xxiv)

Nicht nur haben sich Theatermacher von der ersten Stunde an mit der AIDS-Krise auseinandergesetzt und damit ein Diskussionsforum geschaffen, sie waren mit ihren kulturkritischen Interventionen auch maßgeblich an der ideologischen Formierung von AIDS beteiligt und haben dadurch kollektive Trauer- und Erinnerungsarbeit geleistet (vgl. Kistenberg; Schulman). Da die historischen Bedingungen, durch welche AIDS ›konstruiert‹ wird, ständigem Wandel unterworfen sind, müssen sich auch die evaluativen Kriterien entsprechend ändern. David Románs Appell geht daher in Richtung einer doppelten Lektüre, mittels derer AIDS als Performance gelesen wird. In Momenten metatheatralischer Reflexivität wird gerade in Abdohs Quotations das Dilemma der Darstellbarkeit von Leiden betont: »How do you describe to another fellow the shit you’ve gone through?« (Abdoh, Quotations 122).10 Wie können Krieg und Krankheit gezeigt werden, ohne dass es zu einem Kollabieren in reine Betroffenheitsprotokolle oder aber reine Gewaltdarstellung kommt? Daniel Mufson vergleicht

10 Reza Abdoh hat bei diesem Stück mit seinem jüngeren Bruder Salar Abdoh zusammengearbeitet.

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Abdohs satirische Inszenierungsmuster mit den Techniken von George Grosz und Otto Dix, die karikierende Übertreibungen und Verzerrungen (ver)störend einsetzen, um Schauder und Ekel beim Publikum wachzurufen, und – wie Abdoh – sich den Vorwurf der Obszönität und Blasphemie gefallen lassen mussten: »Satirist’s art, then, contains inherent contradictions. On the one hand, their distorted representations of humanity tend to suggest a certain misanthropy, and yet satire strives to cause a reexamination and improvement in the lives of its audience – hardly a misanthropic goal« (Mufson 10). In einer der grausamsten Szenen des Stückes, »Impalement«, wird »Mustafa« von drei »Chetniks« mit einem Holzpfahl ›vergewaltigt‹: Der Pfahl wird vom Anus durch den ganzen Körper bis zur Schulter gerammt. Die reale Durchbohrung symbolisiert sich als Entzweiung des gefolterten Körpers. Die von Scarry beschriebene Trennung von Körper und Stimme ist hier inszenatorisch vollzogen. Der gefolterte Körper bleibt absent: »The unseen Mustafa figures as sadistic sexual fantasy, raw meat, anus mundi, lamb of God« (Fuchs 110). Präsent hingegen ist die Erzählung, die sich aus dem verstummten Körper generiert: »TOM P.: On the ground was an oak pole, two-and-a-half meters long, with a sharp iron point. […] TOM P.: Two Chetniks pulled his legs wide apart. PETER: Another Chetnik rested the pole against two logs so the pole’s top was between Mustafa’s legs. TONY: He pulled a short, wide dagger out of his belt, kneeled before the outstretched body of Mustafa and cut the cloth of his trousers between his legs to widen the opening where the pole would enter the body. […] PETER: He let out a sound. Not a scream or a cry or a death rattle, but a kind of squeaking and banging as if someone was splicing logs for a fence. […] SABRINA: The muscle at the tip of the right shoulder had tightened and the skin of the wretch was lifting. TOM F.: The Chetnik approached Mustafa quickly and cut the bulging spot crosswise. Pale blood gushed out. PETER: Two or three slow and careful strikes more and the iron-hemmed tip of the pole began to emerge at the cut spot. […] TONY: Mustafa was impaled as if he was a lamb ready for a barbecue […] SABRINA: The two Chetniks started lifting him like a pig ready to be cooked.« (Quotations 114-116)

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Abdoh kommentiert hier aber nur scheinbar den aktuellen Krieg in Bosnien. Der eigentliche Wortlaut der Folter zitiert vielmehr Ivo Andrics Roman Na Drini Cuprija von 1945 (52-54).11 Andric, selbst ein bosnischer Serbe, situiert in seiner Darstellung jugoslawischer Geschichte die Folterszene im 16. Jahrhundert als Beispiel der Gräueltaten, die von der türkischen Besatzungsmacht an den Bosniern verübt worden war. Das Schimpfwort »Chetnik« wiederum wurde im Zweiten Weltkrieg von bosnischer Seite auf die serbische Miliz appliziert. Abdoh stellt sich jedoch, wie ich meine, einer eindeutigen Parteinahme durch das Zitieren komplexer historischer Zusammenhänge gezielt entgegen. Auch John Bell sieht jenseits geopolitischer Frontkämpfe ein weiter gefasstes Anliegen Abdohs, wonach dieser sich quer zu einem amerikanischen Drama stellt, das einer Politisierung auf der Bühne generell skeptisch begegnet: »While on the one hand he pushed his theatrical images into the controversial area of partisan politics (a move always suspect in American theatre, except when the politics express accepted ideologies), he simultaneously stepped back to critique all politics: the inhuman use of torture as well as the simplistic cant of the political ideolog [sic] seeking to define her/his opponent as evil. In this way, Abdoh retained some of high postmodernism’s scepticism of politics in general, and yet dove into the messy area of post-cold war geopolitics without hesitation.« (Bell 28-29)

Abdohs Zitationsverfahren steht keineswegs im Dienste eines politisierten Agitprop Theaters. Kriegsszenen, ohnehin ›gebrochen‹ durch eine Inkongruenz von verbaler und szenischer Darstellung, werden konterkariert nicht nur durch rasante Tanzszenen oder Momente der Zärtlichkeit, die ein schwules Paar austauscht, sondern auch durch mystisch anmutende, arabische Gebetsszenen. Diese Technik hat jenen Dopplungseffekt, den auch Jenny Holzers »Gewalt-Welt« kennzeichnet: Abdohs dissoziierende Technik ist abstrakt und sinnlich zugleich, die in einzelnen Momenten aufscheinende politische Aussage wendet sich unvermutet in eine fast elegische Stimmung. Zentrales Moment bleibt dabei die Erfahrbarkeit des Todes und die daraus resultierende

11 Der Text selbst ist nahezu unverändert, sieht man von der Übertragung der erzählenden Prosa in die nüchtern wirkende, abgehackte Reihung einzelner Sätze und Sprecher ab.

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Konsequenz für den menschlichen Körper. Abdoh wirft hiermit, wie er selbst sagt, einen kritischen Blick auf eine amerikanische Kultur, die »mir dem Tod verschrieben [scheint], da sie immer versucht, diesen irgendwie zu leugnen« (Abdoh, »Gewalt« 166). Durch sein komplexes Zitationsverfahren wird diese Kritik aber immer dissoziiert, d. h. nicht in Übereinstimmung von Handlung oder Wortlaut geäußert. Durch den zitierenden Einsatz von Traditionen zum Zwecke der Veränderung eben jener Traditionen, situiert sich Quotations auf paradoxale Weise an der Schnittstelle von postmoderner Performance und Melodrama, Avantgarde und mystischem Märtyrerdrama.

»H YPERREALITÄT « – M YSTIK

UND

O BSZÖNITÄT

In Quotations bilden Verweise auf die persische Tradition mystischer Liebeslyrik in ihrer kulturellen Fremdheit Juxtapositionen zur Liebesbzw. Todeserfahrung in der amerikanischen Gegenwartskultur. Die Belege persischer Kultur und Literatur reichen von Rezitationen aus dem Koran und von Rumi, einem Mystiker des 13. Jahrhunderts, über in arabischer Kalligraphie ausgestellten Textpassagen von Hafis, einem Dichter aus dem 14. Jahrhundert, bis hin zu einem Ta’ziyehRitualverständnis. Diese Quellen, die allesamt um die Themen Erlösung und Wiedergeburt kreisen, bleiben jedoch für ein nicht ›eingeweihtes‹, amerikanisches Publikum gänzlich fremdartig. So verknüpfen Rumi und Hafis in ihrer Lyrik aufs engste islamische Mystik (Sufismus) mit ganz privat anmutender, oftmals homoerotischer Liebesthematik, die aus dem Streben nach einer geheimnisvollen Verschmelzung mit der Gottheit resultiert, wobei die unio mystica in Augenblicken der Ekstase aber bereits im Diesseits erlebbar ist und in erotischen Bildern Ausdruck gewinnt. Besonders in Hafis’ Lyrik, die in ihrer pantheistischen und hedonistischen Sprache sich einem orthodox verstandenen Islam bereits entzieht, mischen sich daher »orientalische Herrschervergötzung, islamische Gottesfurcht und geradezu masochistisch anmutende Züge irdischer Liebe mit echter mystischer Gottesminne« (Bürgel 24).12

12 Sowohl Rumis als auch Hafis’ Ghasele (arabische Liebesgedichte) erzählen u. a. von der Liebe zu einem anderen Mann als dessen Personifikation

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Abdohs Theater lässt sich an dieser Stelle ritualistisch verstehen als eine »Hyperrealität« (Abdoh und Bell 65), die ein Verständnis vom Tod als einer streng teleologischen Erfahrung sprengt und ihn stattdessen in eine vierte Dimension transportiert, in der Destruktion sich mit Rekonstruktion verschränkt: »I think death exists in the fourth dimension. Not as a reality of a concept that ends or brings to an end, but as something that provides the opportunity for regeneration. […] within the framework of destruction and construction – within the framework of that dialectic where things are destroyed, ideas are destroyed, lives are destroyed or self-destroyed – within that framework, ideas and people and thoughts and objects are reconstructed. Within that dialectic, even in the fourth dimension – beyond time, beyond space – there is the need for that kind of a regeneration. Otherwise you are in a state of stasis.« (Abdoh, zit. in Vaucher 223)

Um dieser Stasis entgegenzuwirken, will Abdoh (sein) Theater in Anlehnung an das rituelle Erleben von Transformationsprozessen beim Ta’ziyeh – einer muslimischen, bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Tradition von Prozessionen, Märtyrerspielen und Trauerritualen13 – als einen auf Katharsis gerichteten Akt verstanden wissen: »And there’s a certain kind of struggle to reach divinity in it [i. e. in Ta’ziyeh], and reach purification and redemption, through the act of sacrifice and through the act of performance« (Abdoh, zit. in Bell 65). Der Märtyrertod im Ta’ziyeh weist den Weg zu einer höheren Sinnebene. Wenn daher Menschen bei Abdoh zu Tode gefoltert werden, so ist dies nicht (nur) als ein Kommentar auf die Grausamkeit des Krieges und als Symbolisierung einer ruinösen Kultur zu verstehen, sondern steht in Zusammenhang mit einer Sinnkrise: »Abdoh transferred Ta’ziyeh’s method of making great sense of death from an environ-

des ›Geliebten Gottes‹. Besonders der Schmerz nach Trennung oder Tod drückt sich in homoerotischer Metaphorik aus (vgl. Schimmel). 13 Ta’ziyeh gilt als das einzige indigene Drama der islamischen Kultur. Es entstand als theatrale Form aus der jährlich zelebrierten Opferrite für Hussein, dem Enkel des Propheten Muhammed, der 680 in einem Massaker getötet worden war und von den Gläubigen als Märtyrer verehrt wurde (vgl. Chelkowski).

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ment (Iran) and religion (Islam) no longer hospitable to him, to a new context in a society struggling over the meaning of AIDS« (Bell 35). Die Zusammenführung von persischem Kulturgut und amerikanisch-puritanischer Ethik findet als profaniertes Texterlebnis in der Ruinen-Stadt New York statt. Verbale Obszönität findet hier ihr szenisches Pendant: Ein puritanisches Trio (Tony, Tom F. und Sabrina) ergeht sich in einer parodistischen S/M-Folterszene, in der Tom F., der den vom Band gesprochenen Text mimt, von Tony geschlagen wird, während Sabrina Tom mit einem Stock beim Sprechen hindern will. Die »Puritan energy in 1990s Manhattan« (Quotations 118) ist zur Einöde verkommen und gleicht einer Kloake, in der Vergnügen nur noch käuflich erhältlich ist und die Funktion von Geld derjenigen von Fäzes gleicht: »Just how many go-go dancers does it take to fill the void? […] camcorders attached to our buttholes so if the money man came we’d have all the angles covered« (117). Die dekadente Ausweglosigkeit der Situation wird mit zweifelhaften ›persischen‹ Sprichwörtern gekennzeichnet: »So the Persians have a saying for it. They call it a saw stuck halfway up you asshole. […] In Persia we have a saying: You can’t pick a fight with the toilet. ‘Cause remember, the toilet doesn’t need you but you need the toilet. And the ruined city, dearie, is the grandest toilet of them all.« (117-118)

Die Betonung der chaotischen Heterogenität von Städten wie Los Angeles und New York zeugt von einem Blick auf Amerika, der sich durch Differenz auszeichnet. Daniel Mufson bezeichnet Abdohs Werke in dieser Hinsicht einerseits als »American in their brashness, iconoclasm, and endless playfulness«, jedoch als gänzlich un-amerikanisch hinsichtlich »their vehement rejection of sentimentality, happy endings, and a world in which moral ambiguity is swept aside for the clearly defined realms of Good and Evil, Victim and Victimizer« (Mufson 1). Besonders der Einsatz der sadistisch-disziplinierenden Puritaner kommentiert hier die seit den ersten amerikanischen Siedlern bis heute andauernde Homophobie, gerade wenn sie ihre puritanische Kluft gegen zeitgenössische Geschäftskleidung austauschen und »capitalist would-be entrepreneurs of a postapocalyptic world« (Bell 24) mimen. Das Trio repräsentiert und kommentiert auf zynische Weise eine Sexual- und Arbeitsmoral, durch die in Amerika die Städte

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zu Ruinen – urbanen waste lands14 – verkommen. So berichtet Sabrina in ihrem Monolog mit dem obszönen Titel »Tight Nuts Text« von einem Friedhof, der als Mahnmal von gemarterten Körpern bevölkert ist: »I am the eternal spectator, separated by unbridgeable gaps of knowledge, feeling the sperm gathering in tight nuts, quivering rectums, smelling the iron reek of sex, sweat and rectal mucus. Watching the writhing brown bodies in the setting sun, torn with an ache of disembodied lust and the searing pain of disintegration. Silver spots boil in front of my eyes. I am standing in the empty ruined courtyard hundreds, hundreds, hundreds of years from now, a ghostly visitor in a dead city, smell of nothing and nobody there.« (123)

Die obigen Zitate aus Quotations sprechen eine auffallend von analer Metaphorik geprägte Sprache, die ich als einen sich in die Inszenierung einschreibenden Verweis auf AIDS deute. Wie John Bell richtig konstatiert, kann man nicht sagen, dass der zentrale Fokus von Quotations AIDS ist, sondern dass AIDS das Stück in fast jedem Moment bestimmt in der zentralen Metapher der Ruine, »the ruin of the body encompassing and standing for the ruins of modern society« (Bell 43). Ich möchte den gemarterten Körper in Abdohs Theater daher im Folgenden als Resignifikation des AIDS-Spektakels entziffern.

»S ENSORY O VERLOAD « – R UINE

UND

B EGEHREN

»Oppressive language does more than represent violence; it is violence.« (Toni Morrison, »Nobel Lecture«)

Resignifikation ist ein performativer Akt, der sich nach Judith Butler unweigerlich einer Ambivalenz verschreibt: Widerstand ist immer an die Macht gebunden, gegen die der Widerstand geleistet werden soll. Politische Schlagkraft erhält ein Sprech-Akt dennoch dann, wenn die Macht der Verletzung angegangen wird, indem eine Misappropriation

14 Es ließen sich viele Bezüge zu T. S. Eliots großem kulturkritischen Gedicht Waste Land (1922) herstellen.

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des ursprünglichen Kontexts erfolgt. Butler setzt hier im Beharren auf der Trennung von Sprache und Handlung für die Möglichkeiten der Resignifikation eine gewichtige Unterscheidung zwischen Repräsentation und performance. Homosexualität zu repräsentieren ist nicht gleichzusetzen mit einer performance von Homosexualität – so ihr Beispiel in Excitable Speech –, selbst wenn die Repräsentation sich performativer Mittel bedient. Nur so kann der Falle entgangen werden, Verletzung in der Wiederholung zu legitimieren: »The language that counters the injuries of speech, however, must repeat those injuries without precisely reenacting them« (40-41). Butler erhebt hiermit entscheidende Einwände gegen das Konzept von Scarry, indem sie Scarry (vielleicht zu) wörtlich in deren Trennung von Schmerz und Artikulation nimmt und nach dem der Sprache inhärenten Gewaltpotential fragt: »Her [Scarry’s] formulation tends to set violence and language in opposition, as the inverse of each other. What if language has within it its own possibilies for violence and for world-shattering?« (6) Wenn also bestimmte Formen der Gewaltanwendung Sprache unmöglich machen, wie erklären sich dann die spezifischen Verletzungen, die Sprache selbst zu inszenieren vermag? Nach Scarry bedeutet die Androhung von Gewalt eine Bedrohung für die Sprache und deren sinnstiftendes Potential. Der Körper ist vor der Sprache, nicht durch diese bestimmt. Butler stimmt dem so nicht zu, wenn sie sagt, dass Worte sehr wohl aus sich heraus verletzen können, dass ihnen eine sprachliche Gewalt innezuwohnen vermag, die körperlicher Gewalt analog ist: »The use of a term such as ›wound‹ suggests that language can act in ways that parallel the infliction of physical pain and injury« (4).15 Butler insistiert, dass Sprechen an sich bereits einen körperlichen Akt darstellt und kehrt damit den fatalen Konstruktionsmechanismus um, nach dem Scarry im Verstummen des leidenden Körpers die generative Kraft für eine Stimme der Autorität erkennt. Butler wiederum unterscheidet zwei verschiedene Autorisierungsstrategien, wobei nur eine auf der tatsächlichen Position von Macht basiert: »Of interest here is the equivalence posited between ›being authorized to speak‹ and ›speaking with authority‹, for it is clearly possible to speak with authority without being authorized to speak« (157).

15 Butler beruft sich hier auf Toni Morrisons Nobelpreisrede von 1993.

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Auf der Suche nach dem subversiven Potential von Sprechakten erkennt Butler in der Enteignung eines dominanten, ›autorisierten‹ Diskurses die Möglichkeit einer Resignifikation. Sie macht dabei das Exzessive geltend, wonach der sprechende Körper ein Skandalon darstellt insofern, als seine Sprache nicht völlig intentional beherrschbar – und somit auch für subversive Zwecke manipulierbar – ist.16 Ein Sprechakt ist zweierlei: Sprechen und Agieren. Die Gleichzeitigkeit von Sprech- und Körperakt verdoppelt den Akt der Sprache im Moment des Sprechens, denn »there is what is said, and then there is a kind of saying that the bodily ›instrument‹ of the utterance performs« (Butler 11). Aus diesem Grund hat ein Sprechakt niemals die völlige Kontrolle über die rhetorischen Effekte des sprechenden Körpers. Abdohs dissoziierende Technik der Trennung von Sprache und Sprechendem, von Handlung und Text, von Aussage und Ausgesagtem, führt zu der Frage, ob dieser performative Text sich dekonstruktiv oder regenerativ ›gebärdet‹ oder anders ausgedrückt: Will Abdoh Wunden aufzeigen oder zufügen? Nach Butlers Analyse von hate speech muss dies jedoch als obsolete Frage gelten, denn beides ist gar nicht zu trennen: Ein Sprechakt wird dann zu einem resignifizierenden Akt, wenn der ursprüngliche Kontext der Äußerung aufgebrochen wird und sich neue Kontexte ergeben, die nicht vorgesehen waren. Ein ReAdressieren in veränderter Form, ein Zitieren gegen den ursprünglichen Zweck, bewirkt eine Umkehrung des Effektes, allerdings – und hier liegt das Problem – bei einer (un)gewollten Wiederholung der Originalaussage. Die Wiederaneignung oder Re-Inszenierung von Verletzung kommt ohne erneute Verletzung nicht aus. Auch wenn Sprache eine Erinnerung oder ein Trauma zu transportieren vermag, erfolgt eine Wiederholung des Traumas nicht unbedingt über das Zitat, d. h. die Erinnerung, sondern über ein Wieder-Erleben des Traumas in der Wiederholung, »relived in and through the linguistic substitution for the traumatic event« (36). Nach Butlers Theorie lässt sich bei einem künstlerischen Anliegen wie dem Abdohs ein Wiedererleben des Traumas nicht umgehen: »No matter how vehement the opposition to such speech is, its recirculation inevitably reproduces trauma as well« (37).

16 Butler (10-11) verweist hier auf Shoshana Felmans The Literary Speech Act: Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages (1983).

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Zwei Momente gegen Ende von Quotations markieren die von Butler geforderte Trennung von Sprache und Handlung. »Marios Monolog« bildet eine deutliche Zäsur im Inszenierungsmuster: Es ist die einzige signifikante Szene, in der ein Darsteller – nicht zufällig ein farbiger – live seinen Text spricht, während sonst der von Lautsprechern erklingende Text synchronisiert wird, was der Suggestion einer Körper/Stimme/Text-Einheit zuwiderläuft.17 Diese unerwartete Kongruenz von Stimme und Sprecher wird allerdings radikal durch den Stillstand der Handlung konterkariert. Mario kauert unter einem Baum, bewegungslos und spärlich bekleidet, und entwirft ein verbales Inszenario der Apokalypse als resignifizierenden Akt im Butlerschen Sinne. Das Sich-zu-Wort-Melden des todkranken Körpers führt zum Kollaps der automatisierten Formel des ›Gute-Nacht-Gebets‹: »Now I lay me down to sleep. I pray the Lord, my soul to keep. That’s not right. I’m not going to sleep. Excuse me, God, I wonder why it’s so dark in here? Nurse, why is it so dark in here?« (Quotations 127) Der Körper lässt sich nicht zurück- und verdrängen, sondern fordert Präsenz und schreibt sich mutwillig in die biblische Heilsgeschichte ein. In einer ›blasphemischen‹ Aneignung verkehrt sich eschatologische Bildlichkeit in Schmährede: »And the preacher came in right after my old buddy left. Asked me if I was ready to go. Ready to go? I put my mascara on, my lipstick on, and my yellow pumps and I snapped back, I’ll go when I’m good and ready. […] And when the graves start yielding up the dead. I’ll rise like Christ in drag and you best not offend me with your innocence, sister, because I bet you could tease a queen to death without half trying, so stop trying and let me tell you something. You reckon I ought to have a lot of regrets, my orgasm like being directly plugged in my hypothalamus socket and all, and my body in ruins after years of abuse.« (127)

In schwulem slang wird hier die im »AIDS-Spektakel« vor allem massenmedial proliferierte Botschaft vom homosexuellen Körper als gesellschaftlichem Müll aufgegriffen und einer Öffentlichkeit vor- und ausgestellt, die diesen Körper erniedrigt und bestraft sehen möchte.

17 Vgl. zur Form des AIDS-Solo-Monologs als »the signature technique of performance art in the 1980s« und Abdohs Einsatz als theatraler Effekt eines multidimensionalen Spektakels Bell (42).

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Das Spektakel um AIDS, das nach Simon Watney den kranken Körper schwuler Männer im Namen didaktischer Aufklärungsmaßnahmen zugunsten der patriarchalen, ›heiligen‹ Familie sensationalistisch in den Massenmedien ›ausschlachtet‹, wird allerdings nicht nur als ›schwule Pest‹ konstruiert, sondern auch rassistisch ›reterritorialisiert‹, indem der Diskurs der Promiskuität »drifts out across the Mediterranean to incorporate the entire African subcontinent and beyond, recharging ›the Orient‹ with a deadly cargo of exoticism that reminds ›us‹ that negritude has always been, for whites, a sign of sexual excess and death.« (Watney 204)

Dieser sich in der Figur Marios artikulierende schwarze, kranke Körper – dieser Sprech-Akt – subvertiert die Erwartung, wonach der AIDS-Leichnam entkörperlicht nur noch als statistische Nummer diagnostizierbar ist, »effaced into a mere anonymous statistic. The ›homosexual body‹ is ›disposed of‹, like so much rubbish, like the trash it was in life« (Watney 207). Abdoh spricht hier von einer durch die Populärkultur medial vorangetriebenen Desexualisierung, in der auf faschistische Art eine »thought-body control« betrieben wird: »On TV, you see AIDS victims who are withering away on a bed and right after that, you see a commercial of big boobs selling beer. The juxtaposition of those two images derails our psyche [so] that we can never think of that withered man on the bed as a sexual object, but we can very clearly associate beer with sexuality.« (Abdoh im Interview mit Patlis 30-31)

Die sonst sich für das Publikum unbewusst vollführende Choreografie des AIDS-Spektakels mit der Betonung von Verderbtheit und Verunreinigung wird in Quotations transparent. Denn statt das Spektakel als Reinigungsritual zu vollziehen, nach dem die Übeltäter bestraft und die nationale Familie – Ort des Sozialen – gereinigt und restituiert ist, wird hier eine Gleichung resignifiziert, wonach Homosexualität mit tabuiertem analen Begehren gleichgesetzt wird.18

18 Diese formelhafte Verkürzung hat unter vielen anderen der ungarische Psychoanalytiker Sandor Ferenczi vorangetrieben: »The reason why every kind of affection between men is proscribed is not clear. It is thinkable that the sense of cleanliness which has been so specially reinforced in the past

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Abdoh schreibt sich hier, wie ich meine, ganz gezielt in eine Tradition ein, nach der Analität einerseits metonymisch für Homosexualität fungiert und andererseits eine anarchische, antibürgerliche Staatsgesinnung kennzeichnet. Die beiden hier zirkulierenden Diskurse der Psychoanalyse und der marxistischen Theorie hat in der Engführung auf eine ›schwule Appropriation‹ in radikaler Weise Guy Hocquenghem geleistet.19 Abdohs Repräsentation von AIDS auf der Folie von Kriegsverbrechen und Spätkapitalismus lässt sich als Rekurs auf den von Hocquenghem manifestartig dargestellten Zusammenhang von Homosexualität als ideologischer Konstruktion des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Entwicklung des westlichen Kapitalismus lesen. Beides fasst Hocquenghem als eine perverse Re-Territorialisierung auf zugunsten einer Restituierung sozialer Kontrolle.20 Schärfer, als dies Foucault getan hat, formuliert Hocquenghem die Mechanismen der Marginalisierung und Stigmatisierung als die Gesellschaft stabilisierende Verfahren, selbst wenn es sich hierbei um eine ›zivilisierte‹ Methode wie die psychiatrische handelt: »In its endless struggle against homosexuality, society finds again and again that condemnation seems to breed the very curse it claims to be getting rid of.

[…] Capitalist society manufactures homosexuals just as it produces proletarians, constantly defining its own limits: homosexuality is a manufactured prod-

few centuries, i. e. the repression of anal-erotism, has provided the strongest motive in this direction; for homo-erotism, even the most sublimated, stands in a more or less unconscious associative connection with paederastia, i. e. an anal-erotic activity« (Ferenczi 317). 19 Obwohl sein Désir homosexuel von 1972 stark dem Kontext der 1960er verbunden ist, erhalten seine teilweise polemisch zugespitzten Tiraden gegen institutionalisierte Homophobie in der AIDS-Ära eine unerwartete Aktualität und Originialität, auch oder gerade für eine sich im Zuge der politischen und kulturellen Debatten um AIDS inaugurierende Queer Theory (vgl. Moon). 20 Hocquenghems Ansatz einer konstitutiven Überbewertung des Phallus in der kapitalistischen Kultur und der damit einhergehenden Unterbewertung des Analen speist sich direkt aus der Freud-Rezeption und -Kritik durch Lacans Ecrits (1966) und Deleuzes/Guattaris Anti-Œdipe (1972) sowie indirekt aus den Werken Louis Althussers, Wilhelm Reichs, Herbert Marcuses und Michel Foucaults (vgl. Weeks).

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uct of the normal world. […] psychiatry’s modern pseudo-scientific thought has turned barbarous intolerance into civilised intolerance. Psychiatry has thus classified what is marginal, but in doing so has placed it in a central position.« (50-51)

Was bedeutet es also, wenn von einem urbanen Zentrum wie New York als einem Klosett gesprochen wird, in dem Menschen mit Sägen im Anus umherziehen? Das grausame Bild spricht von der seit dem Anbruch des sexologischen Zeitalters internalisierten Homophobie, wie sie in der AIDS-Ära noch einmal aufs Neue reaktiviert wurde und einer Bewegung zuwiderläuft, die sich seit den 1960er Jahren als Emanzipation entwickelt hatte und die man mit Hocquenghem als Ablehnung von sublimierter Analität und ›falscher‹ Identität verstehen kann: »To reject the conversion of anal libidinal energy into the paranoia mechanism would mean to risk loss of identity, and to descard the perverse re-territorialisation which has been forced upon homosexuality« (100). Riskant wird es daher, wenn sich ein ›Begehren des Anus‹ form(ul)iert, das es zumindest als soziales Begehren nicht geben darf: »The anus has no social desiring function left, because all its functions have become excremental: that is to say, chiefly private« (96). Die Kontrolle über den Anus, d. h. die Unterdrückung eines begehrlichen Triebes, ist die Voraussetzung für soziale Tauglichkeit; nur über Sublimierung (anale Sauberkeit durch Kontrolle über Fäzes) kann das Recht erworben werden, Güter und Waren zu besitzen und sich damit in der Ökonomie des Phallus zu situieren. ›Sich zu vergessen‹ birgt daher ein soziales Risiko, denn es kommt einer Veräußerung des absolut Privaten gleich. Genau hier setzt Abdohs Resignifikation an: Unerlaubte anale Aktivität zirkuliert bei ihm auf textueller wie inszenatorischer Ebene und artikuliert sich als desublimiertes, ›ruinöses‹ Begehren: »[T]he nurse covers my prick and your ass with a white sheet. This then, Lord of Adam is how it begins. […] rim the ass with a knife […]. Shrunk down I keep it up my ass in a plastic cover on a long gold chain. Lovely mouth falls open as if petulant wake from sleep with a sulky hard-on. The dead falls with a soft plop in the desert sand. […] Tramp through the ruin of lives you have no desire to understand.« (Quotations 111-112)

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Homo-sexuelles Verhalten zwischen Männern ist von einem politischen Akt der Befreiung zu einem Fantasma des Todes geworden. Vor allem Leo Bersani hat in seinem provokativen Essay »Is the Rectum a Grave?« AIDS als eine Krise der Repräsentation erkannt insofern, als das Wissen um den menschlichen Körper und seiner Kapazitäten für sexuelle Lüste an eine epistemologische Grenze geriet. Analer Sex ist genau diejenige Form sexueller Betätigung, die in Repräsentationen zu AIDS als krimineller und letaler Akt stigmatisiert und in Verbindung mit Pest- und vor allem Syphilis-Epidemien vergangener Zeiten gebracht wird. Waren es früher ›unmoralische‹ Frauen, so sind es nun schwule Männer »[who] spread their legs with an unquenchable appetite for destruction« (Bersani 211). Das seit den Inversions-Theorien von Sexologen wie Havelock Ellis projizierte ›Weibliche‹ im Homosexuellen, kursiert erneut als »seductive and intolerable image of a grown man, legs high in the air, unable to refuse the suicidal ecstasy of being a woman« (Bersani 212). Die Vorstellung des Selbstmordes markiert die Grenze der Toleranz von Homo-Sex; (passiver) analer Sex liegt jenseits dieser Trennlinie, denn er bedeutet Verzicht auf Macht: »To be penetrated is to abdicate power« (Bersani 212). Passiver, analer Sex bezeichnet in der AIDS-Repräsentation demnach den Tod des Subjekts, das hier unmissverständlich das virile, aktive, phallische Subjekt meint. Lee Edelman spricht daher von einer unmöglichen Performance, »for given the unthinkable coincidence of power and passivity, the act by which a subject assumes the posture of an ›object‹ constitutes the one act that a subject, as a subject, lacks the freedom to perform« (99). War Marios Monolog der signifikante Sprechakt, in dem der ethnisch markierte und in Analogie kranke, geschundene, homosexuelle Körper zu sprechen und seine Geschichte zu erzählen beginnt (Scarry), so wird in einer weiteren Szene die un/mögliche Aktivität des Anus zelebriert. In Umkehrung der Funktionsweise bei Marios Monolog (Stillstand der Handlung) simuliert das schwule Paar völlig nackt einen zärtlichen Liebesakt während einer tumultuösen Darbietung, in der transvestische Boy und Girl Scouts den Folksong »When I First Came to This Land« singen. Die Bühne ist so überladen mit sinnlichen Eindrücken, dass die ›Entblößung‹ der beiden Männer fast ›ver-

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schwindet‹ in dieser »sensory overload«21 und lediglich peripher wahrgenommen wird. Das Skandalöse ist die Verkehrung des homosexuellen (Anal-)Aktes von einem anti-sozialen Todesakt in eine Beiläufigkeit, die einer massenmedialen Erwartungshaltung völlig widerspricht, wonach der homosexuelle Körper in tableaux mourants streng kodifiziert ist, »subjected to extremes of casual cruelty and violent indifference, like the bodies of aliens, sliced open to the frightened yet fascinated gaze of uncomprehending social pathologists« (Watney 207). Abdohs Theater verschreibt sich hiermit gleichermaßen der Utopie einer »Landschaft ohne Schmerzen« wie der »Präsenz einer Nemesis« als ständig wirkender Gegenkraft (Abdoh, »Gewalt« 170). Abdohs Körper-Inszenierungen sind subversiv, indem sie den homosexuell markierten Körper sprechen und agieren lassen in einem resignifizierenden Sprech-Akt: »From the perspective of a phobic heterosexual culture, ›AIDS‹ inscribes the gay body as text in the latest instance of […] ›homographesis‹, the disciplinary and projective fantasy that homosexuality is visibly, morphologically or semiotically, written upon the flesh so that homosexuality comes to occupy the stigmatized position of writing itself within the Western metaphysics of presence.« (Edelman 259)

Der homosexuelle Körper als Text: keineswegs eine verbrauchte Metapher. Abdoh nimmt diese homophobe Projektion als Vorgabe auf und macht sie als Gravur transparent. Nicht nur die Folterszenen in Quotations offenbaren, dass das einem anderen zugefügte Leid eine unauslöschbare Spur der Zerstörung auf dem eigenen Körper hinterlässt: »[…] the ruined city will follow me wherever I happen to go. I carry the ruined city under my skin« (123). Die Ambivalenz der Ruine als Schrift der Zerstörung wie der Erinnerung konstituiert sich bei Abdoh bis zum letzten Satz und Bild. Während die Darsteller den Stacheldrahtzaun, der die Bühne vom Publikum wie ein Konzentrationslager abgrenzte, niederreißen,22 und während das schwule Männerpaar

21 Bell bezeichnet Abdohs Grundtechnik als »sensory overload – the controlled explosion of information coming at the audience on multiple levels« (24). 22 Der abgerissene Stacheldraht lässt sich gleichermaßen als ein recycling von Avantgarde-Techniken des Theaters lesen (zu denken wäre hier an The

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sich ihrer Zwangsjacken als Zeichen internalisierter Homophobie entledigen und sich eng umschlingend einem zwischen Regression und Utopie oszillierenden Kindheitstraum(a) hingeben, werden große Klumpen Rinderfleisches illuminiert, die monströs über der Bühne auf Fleischerhaken pendeln: »We have blown a hole in time with a firecracker. Let others pass through. Into what, bigger and bigger firecrackers? Better weapons lead to better and better weapons, until the earth is a grenade with the fuse burning. […] I am in a beautiful garden. As I reach out to touch the flowers they wither under my hands. A nightmare feelings of desolation comes over me as a great dragon-shaped cloud darkens the earth. A few may get through the gate in time. Remember. Remember. We are bound to the past as we cling to the memory of the ruined city.« (135-136)

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Wenn in tearooms nicht mehr Damen verkehren: Deviante Raumordnungen in der Popkultur

Gemeinhin denkt mann und frau beim Stichwort tearoom oder TeeSalon an einen Nostalgie ausstrahlenden Ort mit verstaubt-plüschiger Ausstattung, an dem Damen zusammenkommen, um sich über neuesten Gesellschaftsklatsch auszutauschen, dabei gepflegt ein Kännchen Darjeeling zu trinken und gesittet am Gebäck zu knabbern. Eine mit »Salon de thé« betitelte Fotosequenz der Zeitschrift Mate: All About Men mit dem Themenschwerpunkt »Luxury« suggeriert jedoch, dass es durchaus Bedeutungsnuancen von tearooms gibt, die von jener altjüngferlich anmutenden Lokalität abweichen. Ein bepelztes Herrenensemble in mahagoni-, marmor- und lüsteredlem Ambiente spielt hier trotz der französischen Headline vielmehr auf jenen Gebrauch an, wonach sich im britischen House of Commons die Mitglieder zu informellen Treffen im Erfrischungsraum – dem tearoom – treffen (siehe »Salon de thé«). In jedem Fall – ob nun Damentreff oder Herrenversammlung – handelt es sich beim tearoom um einen grundsätzlich geschlechtlich kodierten und ebenso segregierten Raum mit einer bestimmten habituellen Funktionalität. Wenn nun im Folgenden der tearoom in seiner deviant-funktionalen Räumlichkeit vorgestellt wird, so möchte ich dies als einen Beitrag zu den queer inspirierten Gender Studies verstanden wissen. Hierbei werde ich gezielt eine populärwissenschaftliche Perspektive einnehmen um zu veranschaulichen, inwieweit sich in der jüngsten wissenschaftlichen Theoriebildung die Bereiche der Cultural Studies und der Gender Studies immer stärker miteinander vernetzen. Weiterhin zeigt sich daran jene trianguläre Situierung als Kennzeichen dessen, wie sehr die Kultur- und Geschlechterstudien ihrerseits entscheidende Impulse von der – besonders poststrukturalistisch und dekonstruktiv

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ausgerichteten – Queer Theory aufgenommen haben. Historische Phänomene, wie hier das Beispiel des tearoom, können so durch die konzeptuelle Flexibilität und wissenschaftstheoretische Interdisziplinarität, die dieser Form von ›populärer Wissenschaft‹ inhärent ist, in ihrer geschlechtlich codierten wie habituell konstituierten Vielgestalt erkannt und gedeutet werden. ›Populär‹ ist daher an dieser Wissenschaftsauffassung nicht nur der Untersuchungsgegenstand, der aus dem Umfeld des sozialen Alltagsgeschehens stammt und dessen Wirkungsbereich sich durchaus bis in die ›High Culture‹, so beispielsweise in die so genannte Höhenkammliteratur, erstrecken kann. Auch die Theoriebildung ist ›populär‹ insofern, als sie sich nicht einer bestimmten, weithin etablierten Schule oder Disziplin verschreibt, sondern sich verschiedenster Methoden und Modelle bedient und diese in ein erkenntnistheoretisches Miteinander – statt Gegeneinander – bringt. So soll im vorliegenden Beispiel bereits zu anfangs durch die polysemische Struktur des Begriffes tearoom angedeutet werden, welche sozial unterschiedlichen und historisch spezifischen Möglichkeiten zur normabweichenden bzw. zweckentfremdeten Nutzung dieses Raumes abgeleitet werden können. Zunächst geht es dabei um eine ganz bestimmte Konnotation des tearoom. Der tearoom als Ort geschlechtlich kodierten, sozialen Miteinanders erhält nämlich dann eine funktionale und topographische Konkretisierung als öffentliche Toilette, in der Männer verkehren. Die amerikanischen Slang-Begriffe rund um den tea bilden eine Wortgruppe, die kodifizierte Bedeutungen produziert. Im queen’s vernacular, also der schwul-lesbischen Umgangssprache, steht tearoom für eine öffentliche Toilette, wo sexuelle Handlungen unter Männern stattfinden (vgl. Rodgers 194-195; Chapman 432-433).1 Ein solches Glossar homosexueller Sprachbedeutungen von 1929 (in einer Zeitschrift für Urologie und Hautkrankheiten!) definierte auch tea house als »a public lavatory frequented by homosexuals« (Rosanoff 528, zit. in Chauncey 424). Tea kann außerdem umgangssprachlich Urin bedeuten oder – als Verb »to tea« – stehen für »sich auf jemanden einlassen« (vgl. Humphreys, »Tearoom Trade« 12; Spears 403).

1

Tearoom ist damit das Pendant zum deutschen in der schwulen Szene gebräuchlichen Begriff »Klappe«; »cottage« wäre der entsprechende Terminus im Britischen.

WENN IN TEAROOMS NICHT MEHR DAMEN VERKEHREN | 273

In seiner Untersuchung über das schwule New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt George Chauncey außerdem »T-Room« als Kurzform für toilet-room an (197). Bei Chaunceys historischem Beispiel klingt insofern die Anspielung auf den Tee-Salon im zuallererst genannten Sinne mit, als der tearoom damals als sozialer Treffpunkt galt, an dem ein Austausch – zunächst durchaus verbaler Art – zwischen Männern stattfand. Mag man den Begriff t-room aus heutiger Sicht als performative Parodie jener eleganten Cafés verstanden wissen, in dem sich Damen der Gesellschaft trafen, ohne von Männern gestört zu werden, so hat er doch zumindest um 1900 noch eine durchaus habituell-topographische und un-parodistische Funktion.2

P RIVACY

IN

P UBLIC – M ÄNNERVERKEHR

In der New York Times vom 23. Oktober 1994 erschien folgender Artikel: »What Do Men Want? Perhaps, Says a Restaurant, Private TV? The American Renaissance Restaurant, at 260 West Broadway, has inset two 13-inch Mitsubishi television sets above the two black porcelain urinals in the men’s bathroom. ›You would have to be a man to understand why we did it,‹ said John Aron, the manager of the restaurant, giggling. ›Men usually have nothing to look at and they certainly don’t want their eyes to wander.‹« (zit. in Edelman, »Men’s Room« 155)

Diese Anekdote spricht vieles – und das meiste davon unausgesprochen – an, was bei der Betrachtung von tearooms virulent wird: die Innenarchitektur der öffentlichen Toilette, speziell (aber nicht nur) der Männertoilette; ihre Funktion – oder besser Funktionsmöglichkeiten; ihre Platzierung in der urbanen Kartographie; ihr Potential und ihre notorische Instabilität als Raum zwischen Privatem und Öffentlichem. Diese Instabilität macht den tearoom verdächtig, lässt ihn aber auch zum idealen Schauplatz für deviantes Verhalten werden. Nicht zuletzt deutet sich hier bereits an, inwiefern die Toilette als erotischer Ort und als Ort der Grenzüberschreitung besonders in den Medien Literatur,

2

Laut Chauncey wurde der Begriff in diesem Sinne bis in die 1980er Jahre hinein benutzt.

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Fernsehen und Video zu figurieren und wie dies als Teil einer populärwissenschaftlichen Betrachtung zu fungieren vermag.3 Betrachtet man die Entstehungsgeschichte und Entwicklung von Manhattans homosexueller Topographie, so gilt für die Spanne um die Jahrhundertwende, dass öffentliche Orte wie Toiletten als Treffpunkte aufgesucht wurden – auch, aber nicht nur für Sex –, weil es schlicht kaum andere Räume für derlei homosoziale bzw. -sexuelle Bedürfnisse gab. Dies galt besonders für die ärmere Bevölkerung, der wenige Orte des sozialen Austauschs zur Verfügung standen und die ihre männlichen Gesprächs- bzw. Sexualpartner nicht in ihre überfüllten Unterkünfte mitnehmen und sich schon gar kein Hotelzimmer leisten konnten. Diese Männer nutzten die Tatsache, dass die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts öffentliche Toiletten in Parks, an größeren Straßenkreuzungen und in U-Bahnstationen hatte errichten lassen. Diese sogenannten comfort stations boten den Arbeitern, wenn sie auf dem Weg zur oder von der Arbeit aufs Klo mussten und nicht in die Saloons gehen wollten, damals die einzigen öffentlich zugänglichen Möglichkeiten dafür. Bereits 1896 gab es eine Welle von Verhaftungen. Die Toiletten waren schnell zu Treffpunkten auch für Homosexuelle geworden. 1930 waren die Toilettenanlagen der U-Bahnstation am Times Square bereits so frequentiert und etabliert, dass sie weithin als sunken gardens bezeichnet wurden, was wiederum später neben tearoom als generelles Codewort für U-Bahntoiletten benutzt wurde. Die Polizei aber hielt Schritt mit den Aktivitäten in den Toiletten. Stein des Anstoßes waren insbesondere die so genannten glory holes, also Löcher, die in die Trennwände zwischen den Kabinen gebohrt wurden und den anatomischen Verkehr der Männer untereinander bei Wahrung einer gewissen Unsichtbarkeit erleichterten. Ein Fall von 1912 belegt, dass die Polizei, nachdem sie von den glory holes erfahren musste, reagierte, indem sie ihrerseits Löcher in die Decke über den Kabinen bohren und dort Polizisten verstecken ließ. Das Versteckspiel bot der Polizei aber auch die Möglichkeit, sich illegal etwas dazuzuverdienen, und so florierte das schmutzige Geschäft der Erpressung. Blair Niles spricht in dem Harlemroman Strange Brothers

3

Auf den Spielfilm gehe ich hier nicht ein. Erwähnt sei daher lediglich das berühmte Beispiel Taxi zum Klo (Frank Ripploh, 1981).

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(1931) daher von der »sordid tragedy of men’s lavatories – underground in the subway« (197-198).4 Die sich durch die Handlungen in den tearooms geradezu aufdrängende Verknüpfung von sexuellem Austausch von Körperflüssigkeiten und verdauungsbedingten Körperausscheidungen stellte freilich ein massives Problem für bürgerliche Wertvorstellungen dar. Entgegen dem steigenden Beliebtheits- und Frequentierungsgrad durch die Kreise der Unterschicht wurden aus der Sicht mittelständiger Ideologie diese Toilettenanlagen als verfemte öffentliche Orte deklariert und infolgedessen völlig tabuisiert, da hier Körperfunktionen im Spiel waren, die fast noch mehr als Sex im Geheimen zu bleiben hatten. Die tearooms wurden so zu einem »counterspace« der modernen Mittelstandsstadt: »It makes real a space that is essentially invisible, but that acts as a ›counterspace‹ to the emerging transactional space of the middle-class city. Though centered on middle-class white men, it wipes out, at last for a moment, class distinctions just as surely as it allows the middle-class city to dissolve.« (Betsky 142)

Im Zuge der Etablierung von tearooms als Teil der Sexualisierung öffentlicher Orte bildeten sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts in größeren amerikanischen Städten stadtteilbedingte Subkulturen aus, so beispielsweise in Harlem und im Greenwich Village. In einem Interview erinnert sich beispielsweise ein Afroamerikaner an seine ärmliche Jugend im Harlem der 1920er und -30er Jahre: »Subways were the meeting place for everyone. Every station had a restroom then and you could always meet people there. People […] could […] always find someone who’d give them a place to stay and some money« (zit. in Chauncey 199). Eine solcherart praktizierte Umfunktionierung oder Aneignung öffentlicher Orte für eigene bzw. gruppenspezifische Interessen basiert auf einem kodifizierten Spiel mit Privatem und Öffentli-

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Es ist genau diese Verknüpfung von anonymem Sex und der Gefahr, beobachtet und ertappt zu werden, die für die schwule Pornografie ein besonders reizvolles Material abgibt. Von den Zeichnungen Tom of Finlands (z. B. Tearoom Odyssey [Kake 7] 1969) über Sexvideos bis hin zur Architektur vieler Sexclubs wird die Kombination aus Uniform-Fetisch und Toilettensex immer wieder vielfältig aufbereitet.

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chem. In seiner soziologischen Pionierstudie zur Struktur kollektiven Verhaltens bei öffentlichem Sex von 1970 mit dem Titel Tearoom Trade: Impersonal Sex in Public Places fand Laud Humphreys durch Beobachten und Befragen heraus, dass Privatheit im öffentlichen Ambiente eines tearoom durch meist nonverbale Ritualisierungen konstruiert wird, ähnlich, wie Erving Goffman dies in seinen Spielanalysen herausgearbeitet hat (vgl. Goffman). Es handelt sich demnach um einen choreografierten Ablauf bestehend aus Positionierung – Signalsendung – Aufstellung – Übereinkunft – Vorspiel – Ergebnis. Nicht unerheblich ist eine Abgrenzung von tearooms zu anderen Schauplätzen, an denen Männer-Verkehr außerhalb der eigenen vier Wände praktiziert wird. Hierzu zählen schwule Saunen oder darkrooms in schwulen Bars. Dort kann man ein Publikum voraussetzen, das sich überwiegend selbst als schwul identifiziert. Bei den tearooms hingegen liegt eine spezifische statistische Verteilung vor, die sich aus den konkreten Raumbedingungen ergibt. Zumindest Mitte der 1960er Jahre, als Humphreys seine Daten sammelte, galt: 54 % der Männer, die dort Verkehr hatten, waren verheiratet, 42 % katholisch (was in Amerika besonders auffällig ist), und 32 % stuften sich selbst als politisch konservativ ein (siehe auch Desroches). Es war dies noch eine Ära, in der von einer gesellschaftlichen Akzeptanz schwulen Verhaltens kaum auszugehen war. Das anonyme Ambiente öffentlicher Toiletten bot sich daher gerade für schnellen, folgenlosen Sex an. Diese Handlung konnte wiederum als von den sonstigen Lebensgewohnheiten getrennt betrachtet werden. Die Assoziation der tearooms mit primären Körperfunktionen gewährleistete für den Einzelnen die Wahrnehmung eines sexuellen Erlebnisses als lediglich eine andere Form körperlichen Spannungsabbaus. Neben den Kriterien der relativen Abgeschirmtheit, der gewahrten Anonymität, der leichten Verfügbarkeit und der gewollten Bindungslosigkeit muss darüber hinaus der Aspekt des Risikos vor Entdeckung, Gewalt und Kriminalisierung als ganz besonderer, bewusster ›Kick‹ angesehen werden. Hierzu hat sich mittlerweile noch das Risiko des unsafe sex gesellt (vgl. Nardi, »The Breastplate of Righteousness« und »Reclaiming the Importance«). Humphreys Untersuchung leistet neben der rein quantitativen Erhebung den signifikanten Befund, dass eine relative Unsichtbarkeit selbst an einem für alle zugänglichen Ort durch eine strikte Ritualisierung erzeugt wird, von der nur Initiierte die Regeln kennen. Obwohl es sich also bei den tearooms zweifelsfrei um öffentliche Räume handelt,

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können diese Räume infolge des dort praktizierten Sexes funktional zu privaten Räumen deklariert werden. Privatheit kommt deshalb zustande, weil es niemand bemerkt, der nicht ›eingeweiht‹ ist, der also die entsprechenden Verhaltenskodes nicht versteht und beherrscht: »[…] male-centered public sex is not, as [others] maintain, a spontaneous, unstructured product of unrestrainable bio-erotic urges, something manageable only in terms of the regulatory authority of the (patriarchal) state. Instead, […] male-centered public sex is culturally constructed – with physical, historical, as well as imaginary terrains, negotiated risks and negotiated safety, verbal declarations and silence, as well as gay pride, closeted desire, and heterosexual identity all contributing to such constructions.« (Leap, Public Sex 6)

Was bedeutet es aber jenseits der funktionalen Umkodierung aus topographischer Perspektive, wenn Humphreys von einer »privacy in public« spricht? (vgl. Tearoom Trade 1-15) Der tearoom ist ein konstruierter Ort. In gewisser Weise bietet eine solche Toilette privaten Schutz vor öffentlicher Peinlichkeit, auch Schutz – wenn man so will – vor Frauen: Es ist ein frauenfreier Raum. Wie bereits die Eingangsanekdote mit der Anspielung auf den Wunsch von Männern nach einem »private TV« in öffentlichen Toiletten zeigte, sind die Grenzen von privat und öffentlich notorisch instabil: der tearoom ist immer beides gleichzeitig, privat und öffentlich. Michel de Certeau trifft eine für diesen Zusammenhang wichtige Unterscheidung zwischen Ort und Raum: ein Ort ist und ein Raum entsteht. Der Ort ist eine Setzung, die Ordnung, wie de Certeau sagt, wodurch die Möglichkeit ausgeschlossen wird, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden. Der Ort ist demnach durch seine Stabilität gekennzeichnet. Der Raum hingegen definiert sich über Variabilität, er ist ein »Geflecht von beweglichen Elementen«. Der Raum ist ein Resultat von Aktivitäten, mehrdeutig und je nach Kontext transformierbar. Insgesamt also »ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht« (218; Hervorhebung im Original). Die Übergänge von Ort zu Raum wie auch umgekehrt sind notwendig prekär, da es sich hierbei um Grenzüberschreitungen handelt. Der Ort zeichnet sich durch ein ihn bestimmendes Gesetz aus, gegen das verstoßen, das aber auch wiederhergestellt werden kann. Städteplaner definieren zunächst die Geographie einer Stadt, legen das Netzwerk der Straßen an, weisen öffentliche Parkanlagen zu etc. Die Einwohner wiederum rekon-

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figurieren diese Kartographie in personalisierten Raumanordnungen. Wenn Wegstrecken täglich zurückgelegt und Plätze, die von der Stadtplanung als solche definiert wurden, habituell aufgesucht werden, so ist dies eine kulturelle Praxis, die die Wandlung von Orten in Räume bezeichnet. Die Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem ist in dieser Betrachtungsweise zunächst durch eine einfache Opposition geprägt, die sich aus der Sichtbarkeit oder Zugänglichkeit von bestimmten Standorten ergibt. Öffentlich ist eine Lokalität dann, wenn sie offen und unbeschränkt zugänglich ist; privat suggeriert dagegen etwas Geschütztes, nicht allen gleichermaßen Zugängliches. Dieser scheinbar fixe Kontrast ist in Wirklichkeit aber ein relativer und subjektiver. In der Tat muss jeweils definiert werden, welcher Standort nun als öffentlich und welcher als privat deklariert wird. Wer beispielsweise glaubt, das häusliche Schlafzimmer sei immer ein geschützter Privatraum, kann sich täuschen. Ein signifikantes Beispiel ist hier für den nordamerikanischen schwulen Kontext der Fall Bowers vs. Hardwick von 1986. Durch das Gericht des Bundesstaates Georgia wurde damals entschieden, dass ein Schlafzimmer nur dann dem Schutz von Privatheit unterliegt, wenn es zu keinen Gesetzeskonflikten kommt. Da es aber in Georgia – wie in vielen anderen amerikanischen Bundesstaaten bis zur generellen Abschaffung erst im Jahre 2003 – noch ein Gesetz gegen so genannte »Sodomie« gab, galt der Schutz nur für all jene Instanzen, die mit heterosexueller Ehe, Familie und Prokreation zu tun haben. Keines dieser Rechte stünde aber für ein Recht auf sexuelle Privatheit, zumindest nicht für Homosexuelle, so der richterliche Spruch (Leap, Public Sex 9).5 Der Oberste Gerichtshof der USA bestätigte damals weitergehend die Angemessenheit der polizeilichen Maßnahme, in das Schlafzimmer von Hardwick und seinem Partner eingedrungen zu sein, sowie die Rechtmäßigkeit der Anti-Sodomie-Gesetzgebung. Wenn schon nicht feststeht, ob das eigene Schlafzimmer Privatheit gewährt, so wird das Konfliktpotential zwischen sexueller Privatheit und öffentlicher Autorität außerhalb des Schlafzimmers natürlich umso augenfälliger. Aber auch hier gilt es, vorgeblich definitorische Eindeutigkeiten zu vermeiden. Denn was nominell als öffentlicher Sex

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Siehe zu Bowers vs. Hardwick Halley und – zum traditionellen Sodomiediskurs in modernen westlichen Gesellschaften – Goldberg.

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gilt, nämlich Sex an öffentlichen Plätzen wie Park, Strand, Wald, Hafenanlagen, Straßen, Hauseingängen usw., mag durchaus auch anders verstanden werden. Wenn es um die Identität der Beteiligten geht, das gegenseitige Wissen umeinander und um ein kollektives Verständnis über das Verhalten an solchen Orten, so kann es sich hierbei um etwas sehr Privates handeln, etwas, das nur durch ein störendes Außen – wie Interventionen durch Spanner, Polizei oder Schläger – Aufmerksamkeit erregt (Bell 306). Es liegt ein folgenschweres Paradoxon vor: Einerseits – so wird die These vertreten, und zwar nicht nur von schwulen Aktivisten, sondern auch von nonkonformistischer juristischer Seite – kann Sex praktisch gesehen niemals öffentlich sein, sondern ist immer ›irgendwie‹ privat, egal, wo er stattfindet. Aus der Perspektive der Sexualethik vertritt hier Richard Mohr die Meinung: »Sex acts are […] ›world excluding‹« (100). Erst in dem Moment, wo ein Störelement hinzutritt oder, anders ausgedrückt, wo regulative Strategien zutage treten, wird Sex öffentlich, da es jetzt Zeugen gibt: »[…] the nominally ›public‹ sexual encounter is always effectively, though tentatively, a private encounter up until the moment that that privacy is broken by a newcomer’s entrance onto the scene. […] there really is no such thing, practically speaking, as public sex; there is only the deft manipulation – through finely tuned regulatory strategies – of the boundary between public and private such that space is carved out in the former realm wherein activities of the latter nature can take place with relative ease.« (Harper 103)

Andererseits muss man aber gerade aus der Erfahrung mit staatlicher Autorität in gewisser Weise folgern, dass überall dort, wo Sex praktiziert wird, es sich um öffentliche Orte handeln und dass jegliche Einforderung von Privatheit sich als Fiktion erweisen kann.

SEXUAL OUTLAWS – DAS TRANSITORISCHE M OMENT DER INTIMITÄT Öffentlicher Homo-Sex in tearooms verstanden als die Konstruktion eines Raumes agiert gegen jene dominante soziale Vorstellung von Sexualität, die weder auf Anonymität noch auf Promiskuität und schon gar nicht auf Öffentlichkeit basiert. Bei tearoom-Sex handelt es sich um eine Form sexueller Dissidenz bzw. bei dem jeweiligen Akteur um

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einen Sexual Outlaw, so der Titel eines der einschlägigsten literarischen Beispiele aus dem amerikanischen Kontext.6 Aus dieser Prosadokumentation von John Rechy aus dem Jahre 1977 stammt folgender Abschnitt: »3:48 P.M. The Restroom by the Pier. Jim stands pissing at the urinal, aware of a man sitting in the open stall at the end of the row. A youngman is lingering before the metallic mirror. Finished, Jim turns, his trunks still open, allowing his cock to remain exposed before the man in the stall. The man licks his lips in signal. The youngman at the mirror advances. Jim moves into the stall and puts his cock in the waiting mouth. The other watches. Jim pulls away, adjusting his clothes hurriedly as they hear footsteps entering the restroom. The silent identification is given in a glance by the new presence, a goodlooking bodybuilder. […] Aware that they may be interrupted at any moment, Jim and the other move into a vacant stall. […] The two bodies thrust against each other, oblivious to all danger. […] A hostile presence enters the restroom. He is totally unaware of the sexcharged currents. The outlaws separate. Outside, Jim feels a sad joy. […] Jim has spoken not a word to anyone today. Not one.« (Rechy 33-34)

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Weitere Beispiele sind neben John Rechys früherem City of Night (1963) auch Paul Goodmans The Empire City (1959), Ned Rorems The York Diary (1967), Larry Kramers Faggots (1978), Andrew Hollerans Dancer from the Dance (1978), Edmund Whites States of Desire (1980), Robert Glücks Jack the Modernist (1985), Ethan Morddens I’ve a Feeling We’re Not in Kansas Anymore (1985), Samuel R. Delanys Motion of Light in Water.:Sex and Science Fiction in the East Village 1957-1965 (1988), Allen Barnetts The Body and Its Dangers and Other Stories (1990), David Wojnarowicz’ Close to the Knives: A Memoir of Disintegration (1991), Chay Yews Porcelain (1992), John Greysons Urinal and Other Stories (1993), MSM (Men Who Have Sex With Men) von DV8 [Llyod Newson] (1993), Felice Picanos Like People in History (1995) und Ken Shakins Love Sucks (1997).

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Das Zitat weist viele typische Elemente jenes von Humphreys beschriebenen tearoom trade auf, so die choreografierte Ritualisierung, die Nähe von Gewalt und Sex, die körpersprachliche NonVerbalität sowie auch die Konzentration auf einzelne Körperteile. Neu und wichtig ist an dieser Szene außerdem die Irrelevanz sozialer Identität. Hier findet keine Begegnung im Sinne romantischer Liebe statt, die auf eine das Körperliche transzendierende Weise universale Gültigkeit beansprucht. Der Körper wird stattdessen zum Austauschmedium, zur Grundlage des Handels: Klassen- und (bedingt) Rassenunterschiede sind unerheblich, alles wird reduziert auf Aussehen, Alter, Rolle und Ausmaße. Ganz so nüchtern-geschäftlich geht es entgegen dem ersten Anschein jedoch nicht nur zu. Neben der repetitiven Struktur dieses Handels tritt bei Rechy bei genauerer Betrachtung die Suche nach einem Moment der Intimität hervor. Wohl konstituiert sich eine spontane Gemeinschaftsbildung innerhalb des Raumes. Diese weicht aber einer Einsamkeit oder Traurigkeit, sobald man den so konstruierten Raum verlässt und jenen Ort draußen betritt, wo einen die »sad joy« einholt. Jonathan Dollimore erkennt in diesem Pendeln zwischen anarchischem Begehren und religiös-romantischem Leiden eine Zuspitzung in der Darstellung des homosexuellen Außenseiters hin zum »Romantic Outlaw« (213). Intimität und Privatheit sind dabei lediglich als transitorisches Moment produzier- und erlebbar und auf diesen spezifischen Raum beschränkt: den tearoom. Rechy hat für seine Darstellung bezeichnenderweise die Textsorte der Dokumentation gewählt, und er sucht somit auf möglichst distanzierte Weise die Spielarten der endlich erlangten sexuellen Freiheit in den 1970er Jahren aufzuzeichnen, wobei sich trotz des kühlen, informativen Dokumentationsstils immer wieder auch ein »rush of pride in his gay identity« (Libretti 239) wie auch ein Bewusstsein der anhaltenden sozialpolitischen Unterdrückung artikulieren. Die Erfahrungswelt des tearoom vermag literarisch aber auch ganz anders zur Darstellung zu gelangen. In einem der herausragenden Langgedichte der amerikanischen Moderne, Hart Cranes The Bridge von 1930, wird in der 7. Sektion »The Tunnel« ebenfalls ein tearoom trade evoziert, wenn auch im Vergleich zu Rechy in stark chiffrierter Form:

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»The phonographs of hades in the brain Are tunnels that re-wind themselves, and love A burnt match skating in a urinal – Somewhere above Fourteenth Take the express To brush some new presentiment of pain – « (Crane 99)

Das Streichholz im Urinal sowie die vielen skatologischen Anspielungen mögen eine Metapher für die Niederungen der Liebe, für die Vulgarität des modernen Geistes, ein Bild für die marode moderne Metropole sein, wie Interpreten nicht müde werden zu betonen (vgl. Woods 158-159). Und doch lässt sich das Streichholz aufgrund von Humphreys’ Beobachtungen wertneutraler auch als Beleg jener ritualisierten sexuellen Begegnung dechiffrieren. Mit Humphreys muss diese Stelle nicht gelesen werden als Cranes Kritik am Verlust menschlicher Liebe, die in der Welt der Moderne nur noch fleischliche Lust bedeutet. Denn der tearoom trade ist gerade nicht auf die Etablierung emotionaler Bindungen hin angelegt: »these men seem to acquire stronger sentimental attachments to the buildings in which they meet for sex than to the persons with whom they engage in it« (Humphreys, Tearoom Trade 14). Cranes Text arbeitet in »The Tunnel« mit einem Netzwerk an Symbolen, die größtenteils dem Bereich der Fäkalien und damit dem semantischen Kontext des tearoom entnommen sind. Über den gesamten Abschnitt wird das Bild des Zuges, der im Untergrund in das Erdinnere eindringt, mit den anatomischen Gegebenheiten des männlichen Körpers in Analogie gesetzt: Penis und Anus. Cranes groß angelegte poetische Vision in The Bridge will es, dass am Ende – und direkt im Anschluss an die Tunnel-Sektion – in triumphaler Weise ›Atlantis‹ neu ersteht in reiner und weißer Pracht. In einem System der Balancierung beruht nun aber der positive Effekt, die Katharsis, auf der zuvor erlebten Erniedrigung und dem Schmutz des tearoom. In Cranes Textwelt gibt es keine Reinigung ohne Fäkalien. In diesem Sinne sind die tearooms notwendige exkrementale Durchgangsräume, geboren aus der sozialen Unterdrückung und den diskriminierenden Vorschriften einer heterosexistischen Gesellschaft, als deren Zeugen auch jene Interpreten gelten müssen, die aus dem kurzlebigen Sexualkontakt des tearoom trade eine degenerierte Emotionalität der Beteiligten ableiten. Eine solchermaßen homophobe Lektüre gesteht dieser Dichtung – und in Verlängerung seinem Autor – keinerlei ironisches Reflexionsvermögen zu, wie es sich z. B. in der monströsen

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Juxtaposition der Mechanik des Sexualaktes mit dem Aufrufen des mythischen Hades sowie der topographischen Banalität und habituellen Alltäglichkeit des New Yorker Subway-Systems ausdrückt. Der tearoom bei Crane ist ein Raum der Exkremente, aber auch einer der sonst tabuisierten männlichen Begegnung, wie flüchtig und ritualisiert auch immer diese sein mag. Und damit ist sie, wiewohl mit ganz anderen, poetisch angereicherten Bildern, der von Rechy dokumentierten Erlebnisweise nicht unähnlich. Die Innenwelt des tearoom ist eine eigene, konstruierte, die mit der Welt draußen nichts zu tun hat. Die Devianz des Raumes sowohl bei Crane wie auch bei Rechy ergibt sich aus der radikalen Trennung der Lebenswelten: Die im tearoom gemachte Erfahrung überlappt sich auf signifikante Weise gerade nicht mit dem sonstigen Erlebnishorizont der hier agierenden, randständigen Figuren – der sexual outlaws.

T HE G OLDEN A GE OF P ROMISCUITY – V OM S EX ZUR K UNST In scharfem Kontrast zu diesen literarischen Beispielen stehen die beiden folgenden, die in ihrer literarischen Repräsentation von der bisherigen Konzeption des tearoom trade auffällig abweichen, indem sie die Konstruktion von Privatheit im öffentlichen Raum als einen potentiell in jedem Moment drohenden Kollaps des Regelsystems rekonfigurieren. Beide Beispiele sind aus den 1990er Jahren und evozieren retrospektiv die sexuell befreite Prä-AIDS-Ära der 1970er und frühen 80er als eine Phase des Umbruchs im Umgang mit anonymem Sex. Brad Goochs Roman von 1996 mit dem sprechenden Titel The Golden Age of Promiscuity erzählt von einem Erlebnis, das der Protagonist Sean, ein junger experimenteller Porno-Filmemacher, im Jahr 1975 hat. Sean sieht in der New Yorker U-Bahn einen jugendlichen Farbigen, der J. D. Salingers The Catcher in the Rye liest. Inmitten halluzinatorischer Tagträume, in denen sich Sean selbst wie ein Akteur in einem surrealistischen Roman fühlt, kommen die beiden in einer U-Bahntoilette zusammen. Der fremde Ort löst bei Sean Unsicherheit aus, er sucht sich jedoch durch die Tatsache zu versichern, dass er hier mit jemanden zusammen ist, der weiß, wer Holden Caulfield, jener Anti-Held aus Salingers gesellschaftskritischem Roman, ist. In der Beschreibung der Toilette werden bekannte Versatzstücke aufgelistet: der Geruch

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von Desinfektionsmittel, Urin und Zigarettenrauch, die funktionale, aseptische Hässlichkeit des Ortes, die Gefahr, entdeckt zu werden, die Atmosphäre von Laszivität und eine dunkle, unheimliche Faszination, die sich als eine spezifisch homosexuelle Topik formiert. In diesem Raum sind nun alle Optionen offen: »They were swept up by a completely irrational choreography: did everything. Sean felt his throat stripped of its soft, protective mucus. He felt his behind similarly strip-mined. He did the same to his friend. When he was inside him he felt as if he were in a vise. The two of them were glad to get away without any interruptions from the police.« (Gooch 103)

Es kommt zu einer Kontaktaufnahme, die nicht den üblichen Regeln des anonymen Sexes folgt. Wie bei Rechy schiebt sich zunächst eine melancholisch getönte Nuance in die choreografische Anordnung. Diese wird dann allerdings ins Produktive gewendet: »As they left together, Sean pretended to himself that he and his smaller friend were Adam and Eve kicked out of the Garden of Eden. Not because the cubicle had been such a Paradise. But he felt desultory, let down somehow. But when he looked over at the red novel carried so securely in his young, laconic friend’s palm, he felt elated again. ›Come with me, I’ll film you.‹ he said.« (Ebd.)

Das transitorische Moment der Privatheit im tearoom wird zwar nicht konserviert oder neu aufgerufen, es verschiebt sich aber im doppelten Sinne in den Bereich der Ästhetik. Schon die Bezugnahme auf Salingers Roman verweist auf ein selbst-reflektorisches Ausstellen der Kontaktaufnahme. Ganz anders als bei Rechys bewusst kühl-distanziertem, dokumentarischem Stil, der seinerseits die Anonymität der Handlung reflektiert, leitet sich bei Gooch die Kontaktaufnahme aus einer Art Seelenverwandtschaft ab: Die beiderseitige Kenntnis des literarischen Werkes garantiert das Gelingen des Kontaktes. Intimität im öffentlichen Raum wird somit zur Inszenierung eines literarischen Bündnisses. Dieses Bündnis, besiegelt in der körperlichen Verschmelzung, wird weiter fortgeführt in der gemeinsamen Filmarbeit und somit auf eine metatextuelle Ebene der Repräsentation verschoben. Im produzierten Film gewinnt das Transitorische des Sexes eine dauerhafte Fixierung als Kunst. Die Vertreibung aus dem ›Paradies des

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Sexes‹ wird aufgehoben in der transzendenten Verschmelzung im ›Paradies der Ästhetik‹.7 Noch radikaler spielen Sex und Kunst ineinander bei John Giornos autobiographischem Essay »Great Anonymous Sex: Keith Haring and the Prince Street Toilet« von 1993. Der Dichter Giorno erinnert sich an ein grandioses Sex-Erlebnis, das er Anfang der 1980er Jahre ebenfalls in einem New Yorker U-Bahn tearoom mit dem damals 24-jährigen Künstler Keith Haring hatte. Der Clou ist, dass der Dichter Giorno den Künstler Haring damals noch nicht kannte, Haring den bekannteren Giorno aber erkannte, d. h. Haring hatte dessen Texte gelesen. Haring scheint seinerseits etwas pikiert, dass er selbst namentlich nicht bekannt war. Die Begegnung mit Keith Haring war für John Giorno außergewöhnlich, sie entsprach nicht seinen üblichen tearoom-Transaktionen: »We had intense sex, almost a love affair, for over an hour, a long time for subway sex on the run« (68). Giorno spricht von einer ungewöhnlichen Leidenschaft, von Liebe und Hingabe: »This kid opened himself up more than someone does in a subway toilet, opened himself up more than someone generally does with a lover, wife or husband« (74). Der Liebesakt spielt sich zwar noch auf dem Terrain der Anonymität ab; die allmähliche Erkenntnis aber, dass Haring ihn erkannt hat, erlebt Giorno als einen Einbruch der Realität in einen atemporalen Raum. Im Folgenden findet ein prekärer Grenzgang auf der Demarkation zwischen Raum und Ort – zwischen dem gesuchten öffentlichen Sex und dem unerwarteten Einbruch des Privaten – statt: »I began to realize that the kid recognized me as the poet John Giorno. This always was disappointing for me because the spontaneously arising play where there was no past, present, or future, only freshly appearing moments seemed compromised by dumb concepts. […] The great thing about anonymous sex is you don’t bring your private life or personal world. No politics or inhibiting concepts, no closed rules or fixed responses. The great thing about anonymous sex is spontaneity. The kid recognized John Giorno and was possibly bringing the nonexistent famous poet and the baggage of that expectation to cloud our anonymous sex of great bliss.« (Ebd. 69, 71)

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Für eine andere Form der ästhetischen Umdeutung von tearooms siehe den Bereich der Graffiti-Kunst in Bädern und Toiletten; vgl. hierzu Leap und Auricchio.

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Der Wunsch nach Verschmelzung im Akt des anonymen Sexes geht einher mit dem Bewusstsein des sozial Verbotenen. Giorno versichert sich hierbei seines Status’ als ›Sexual Outlaw‹, indem er unter Einsatz militärischer Metaphorik von einem Befreiungskampf spricht: »We pressed our bodies together strongly, trying to push inside each other, so there would be one body, one dick, one heart. […] The kid and I were completely hyperventilated, and our body temperatures burned, and we poured sweat, which is always an exhilarating high. You got to burn to shine. We got to burn some more. Burning away all concepts, releasing bliss trapped in our hearts. […] Of the countless great sexual encounters in the golden age of promiscuity, I have always remembered two as symbolizing all the others: the kid in the Prince Street toilet and the black man at the Everard Baths. I thought of us as the combat troops of love liberating the world.« (Ebd. 70-71, 74)

John Giornos autobiographischer Essay ist interessant nicht nur, weil er die Grenze zwischen Raum und Ort als der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem verhandelt. Auch ein anderes Grenzverhalten wird in Tabu brechender Form aufgegriffen, was sich nur allmählich offenbart und damit das jetzige Ende des ›goldenen Zeitalters der Promiskuität‹ markiert. Erst gegen Ende des Textes wird deutlich, dass Giorno bereits über AIDS Bescheid wusste, dass er hier trotzdem unsicheren Sex praktizierte und dass Haring seinerseits seit einem Jahr bereits ahnte, HIV-positiv zu sein. Und genau wie bei Goochs ›Liebespaar‹ entspinnt sich auch bei Giorno und Haring ein Kontakt, der aus der Anonymität heraustritt und hier in eine langjährige enge, im Folgenden aber sexlose Freundschaft mündet. Die beiden zuletzt angeführten literarischen Beispiele zeigen eine weitere Dimension auf in der Konstruktion des tearoom als einer devianten Raumordnung: das Lesen. Nach de Certeau ist auch die Lektüre »ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht« (218). Der Text ist hier der Ort, der durch die jeweilige Lektüre zum Raum wird. Das intertextuelle Aufrufen von nonkonformistischen Texten wie Catcher in the Rye postuliert eine selbstreflektorische Qualität im jeweiligen textuellen Geschehen, das sich damit einem semantischen Raum öffnet, der über die spezifische Örtlichkeit des eigenen Textes hinausweist und den künstlerischen Akt als eine über Lektüre generierte deviante Gestaltung benennt. Verstanden als implizite Lektüreanweisung soll dieses Textverfahren weitergehend

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auch den Leser und die Leserin zu einem neuen, eigenen Devianzverständnis inspirieren, ja geradezu auffordern. So ist Giornos Essay lesbar als eine bloße Hommage an Haring, aber auch als eine Huldigung an das transzendente Moment des ›öffentlichen Sex‹, geboren aus der künstlerisch-sexuellen Verschmelzung: »Everyone vanished but the two of us. In the ecstasy of sheer stoned delight, we were in a dream of formless divine presence. […] transcendent sex, […] genuine love« (Giorno 71-74). In diesem Sinne zitiert John Giorno in seinem Text Keith Haring, der andernorts schrieb: »I firmly believe that sexual relationships – deep sexual relationships – is [sic] a way of truly experiencing another person – and really becoming that other person« (zit. ebd. 75-76). John Giorno hat im Aufrufen des Zitats diesen aus der Anonymität des Sexes geborenen Akt der Identitätsstiftung beglaubigt. Ich habe den tearoom bisher als einen rein männlich kodierten Raum visiert. Dies liegt zum einen darin begründet, dass sich der Begriff im US-amerikanischen umgangssprachlichen Sinne auch nur auf einen solchen frauenfreien Raum bezieht: »The public toilet is a device to protect men from public embarrassment (read: female gaze), yet it retains a decidedly public feel. […] It is a non-inhabited yet colonised space for male-only sporadic activity« (Woodhead 238). Zum anderen verleitet die schiere Flut gerade an literarischen Zeugnissen dazu, diese spezifische Konnotation des tearoom zu favorisieren und zu fokussieren. Ich möchte jedoch das Feld der Bedeutungen des tearoom trade nun weiter öffnen auf andere Verhandlungsmöglichkeiten (in) der öffentlichen Toilette.

V OM P OWDER R OOM F RAUENVERKEHR

ZUR

U NISEX -T OILETTE –

Wenn die zitierte Zeitungsannonce am Anfang betitelt war mit dem Aufmacher »What Do Men Want?«, so mag dies als ironische Replik auf Freuds notorische Frage »Was will das Weib?« gelten. Jacques Lacan spricht von einem grundlegenden Wunsch nach Binarität in unserer Kultur und illustriert dies ausgerechnet und trefflich am Beispiel der Geschlechtertrennung bei der Toilettenbenutzung. Es handelt sich hierbei um die Verdopplung zweier identischer Türen durch das einfache Aneinanderfügen zweier Begriffe, nämlich »Herren« und

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»Damen«, die in ihrer Komplementärbedeutung scheinbar gefestigt sind. Dies kann nun durchaus zu einem Überraschungseffekt führen, nämlich dem plötzlichen und unerwarteten Niederschlag des dahinter liegenden Sinns. Dieser Sinn entsteht im Bild jener zwei identischen Türen, so Lacan, »welche mit dem einem abendländischen Menschen für die Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse außer Haus zur Verfügung stehenden geheimen Örtchen den Imperativ symbolisieren, den dieser Mensch mit der großen Mehrheit der primitiven Gesellschaften zu teilen scheint und der sein öffentliches Leben den Gesetzen der urinalen Segregation unterwirft«. (24)8

Die Frauentoilette mag im Zuge dieser urinalen Segregation durchaus als Ort des Geheimnisses gelten. Sie ist unter der euphemistisch bezeichneten Rubrik »powder room« vor allem im Hollywood-Kino als Topos etabliert worden, nämlich als der weibliche Rückzugsort, den beispielsweise Doris Day »powder moon, I mean, room« stotternd aufsucht, um sich in Pillow Talk (Michael Gordon, 1959) vor dem männlichen Drängen Rock Hudsons in Sicherheit zu bringen. Und George Cukor hat mit The Women (1939) einen ganzen Film um das Mysterium des powder room gedreht: In dem Film kommt kein einziger Mann vor, dafür geschehen die wichtigsten und folgenschwersten Transaktionen zwischen den Frauen in besagtem powder room. Während vor allem der männliche Zuschauer mit Rock Hudson zurückbleibt und Doris Day nicht in den powder room folgen darf, hat Cukor einen voyeuristischen Einblick gewährt in das geheime Örtchen des powder room, in diesen so weiblich konnotierten Toiletten-Raum (vgl. Stern).9 Aber ähnlich wie der tearoom hat auch der powder room eine etymologische Geschichte, die von der Vieldeutigkeit und potentiellen Devianz dieses Raumes erzählt. Denn kann es nicht gar gefährlich sein, sich die Nase zu pudern, wenn man an die ältere Bedeutung der

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Für eine Lektüre des Lacanschen Szenarios im geopolitischen Kontext des Kalten Krieges siehe Edelman, »Tearoom and Sympathy«.

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Ein für den Oscar nominiertes Beispiel für einen Dokumentarfilm über die Damentoilette ist Ferry Tales von Katja Esson (2003). Esson filmte Frauen bei der Benutzung der Toilette auf der Fähre von Staten Island nach Manhattan.

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powder rooms denkt, nämlich an die Schiffsmagazine, in denen das Kanonenpulver – ›gun powder‹ – aufbewahrt wurde? Bedenkenswert ist auch der spätere umgangssprachliche Gebrauch von powder room in Zeiten der amerikanischen Prohibition als kodierte Bezeichnung für den Hinterraum eines speakeasy (d. h. eines Ortes, an dem man illegal Alkohol kaufen konnte). Der powder room war dort der vom Publikumsverkehr abgeschlossene Raum, in dem sich Frauen zum Alkoholkonsum zurückziehen konnten. Und wenn in noch einer anderen Bedeutungsvariante des Begriffes von ›powder room candor‹ die Rede ist, so meint dies subversiven Humor, der rhetorisch durchaus auf einen anatomischen Ort zielt, der sich unterhalb der Gürtellinie befindet. All diese Assoziationen, die sich um den powder room ranken, sind wiederum nicht besonders damenhaft zu nennen – im landläufigen Sinne zumindest. Bleibt schon die Zote – so Freud – als eine Form des schmähenden Witzes eigentlich dem Manne vorbehalten, da sie auf der Herabwürdigung der Frau als belachtes Objekt des Witzes beruht,10 so erhöht sich das subversive Moment, wenn Frauen Zoten austauschen,11 umso mehr, wenn sie dies in dem männerfreien Raum einer öffentlichen Damentoilette tun. Folgende Szene aus der Fernsehserie Sex and the City zeigt die Verknüpfung von Männerwitz und Frauentratsch: »[Scene: Ladies’ Room in a night club. Samantha refreshes her make-up. Voice-over Carrie:] Later that night, the three of us tracked Samantha to the Ladies’ Room to get the low-down on her love life with James. Ch[arlotte]: Here you are. We’ve been looking for you everywhere. Ca[rrie]: So, how is … everything? M[iranda]: She means if you and James have done it yet.

10 »Die Zote ist also ursprünglich an das Weib gerichtet und einem Verführungsversuch gleichzusetzen. […] Die Zote ist wie eine Entblößung der sexuell differenten Person, an die sie gerichtet ist. Durch das Aussprechen der obszönen Worte zwingt sie die angegriffene Person zur Vorstellung des betreffenden Körperteils […] und zeigt ihr, dass der Angreifer selbst sich solches vorstellt. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Lust, das Sexuelle entblößt zu sehen, das ursprüngliche Motiv der Zote ist« (Freud 111-112). 11 Verwiesen sei auch hier auf die sprachgeschichtliche Wurzel der ›Zote‹, wonach im Frühneuhochdeutschen »zot(t)en Schamhaare, dazu Zottenreißen ›etw. Unflätiges tun‹« bedeuten (Kluge 891).

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S[amantha]: Mhm. Ca: And? S: It’s nice. Ch: I’m so happy for you. [Samantha starts to cry] Ca: Sweety, why, what is it? S: Nothing. [Samantha goes to stall, the others follow.] [Inside stall] Ca: Hey, what’s going on? Why are you crying? S: James has a small dick. Ca: Oh, well, it’s not the end of the world. S: It’s really small. M: How small? S: Too small. Ca: Well, size isn’t everything. S: Three inches? Ca: Well … S: Hard! Ca: Hm … Ch: Is he a good kisser? S: Oh, who the fuck cares. His dick is like a gherkin. It’s so terrible. Listen to me. I’m a bad person. M: Don’t beat yourself up. You had certain expectations, and you’re disappointed. S: Why? Why, why, does he have to have a small dick? I really like him. M: I thought you loved him? S: Well … Ca: Oh look, we’ve all been there. M: That’s for sure. I was once with a guy the size of one of those little miniature golf pencils. Couldn’t tell if he was trying to fuck me or erase me. [Carry laughs, Samantha cries] Ca: I’m sorry, it’s funny. M: Let’s not lose perspective. There are ways to work around it. S: I don’t want to work around it. I love a big dick. I love it inside of me, I love looking at it, I love everything about it. When I blow him, it’s like … nothing. Nothing. M: Can you talk to him about it? S: No. It’s the only thing we can’t talk about. What am I gonna do? Ch: How is he with his tongue? [The others look at her. End of scene.]« (»Oh Come All Ye Faithful«)

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Abbildung 1: Sex and the City, »Oh Come All Ye Faithful« Hier wird einem Raum dadurch Devianz zugestanden, dass seine Besucherinnen sich Techniken männlich-kodierter Rhetorik bedienen. Der powder room, Sinnbild für das intime Geheimnis des weiblichen Körpers und seiner Verschönerungstechniken, verkehrt sich dabei in einen Raum des expliziten Sex-Tratsches als Rede über den Körper des (abwesenden, männlichen) Anderen. Bleibt zwar die Komponente beibehalten, wonach Tratsch – gossip – sich sowohl mit dem Austausch weiblicher Alltagsangelegenheiten als auch mit der sozialen Funktion weiblich-unterstützender Gemeinschaft verknüpft,12 so wird durch das Öffnen dieses Raumes auf die Betrachtung der männlichen Anatomie das Geheimnis gelüftet, allerdings in doppelter Manier, je nachdem, welches Geschlecht das entsprechende Fernsehpublikum aufweist. Für eine weibliche Zuschauerin verstößt das Aufdecken des Geheimnisses gegen den Kodex weiblicher Verschwiegenheit. Hier, in

12 Vgl. zur zeitgenössischen gossip-Kultur in den Medien Brown und Riegel.

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diesem ›dick talk‹,13 wird öffentlich gemacht, was sonst privat bleibt, ausgeplaudert, worüber sonst hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird. Für den männlichen Zuschauer hingegen erfüllt sich eine schreckliche Angstfantasie. Was mann immer schon befürchtete, stellt sich hier als Wahrheit heraus: dass nämlich das männliche Geschlecht tatsächlich Brennpunkt weiblicher Verhandlung werden könnte. Was ändert sich nun aber, wenn die in diesem Beispiel noch aufrechterhaltene Lacansche urinale Segregation aufgelöst wird und somit ein Raum entsteht, in dem sich die Geschlechter unter der Prämisse des Unisex – wie in der folgenden Szene aus der Fernsehserie Ally McBeal – begegnen: »[John Cage climbs over wall separating two adjoining toilet stalls. Richard Fish sits on toilet, reading.] J: Richard. R.: John. Good to see you. What’s up? [John drops into stall and stands before Richard.] J: Everything okay with you and Ling? R: John, you’re in my stall. J: And Whipper. How is she? R: John, … J: I’m going to kiss her. R: Whipper? J: Nelle. R: Ah. And, …? J: I’m fraught. I mean, you told me how much importance Ling places on that first kiss and I’m concerned Nelle may do the same. R: John, you’re in my stall. J: Could you … What were Ling’s instructions, specifically. R [gets up]: Well, the first thing is the head tilt. J: The what? R. Head tilt. [Tilts John’s head.] Ling says it’s bad to get nose to nose. Look at us. All the things we awe in a first kiss. In a bath room, like a couple of teenager. Gay teenagers. My pants are down. [Shot to Nelle listening outside stall.] The lips should be soft, and poised. You want to lick first.

13 Siehe hierzu die so betitelte, anonym produzierte Videodokumentation von 1986, ausgestellt als Installation im Houston Center for Photography, in der sich fünf Frauen zur »question of the century« äußern (Lehman 148).

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J: What you mean I want to lick first? R: You don’t want a dry lip. [Shot to Elaine entering the bathroom, joining Nelle.] J: What about my secretion problem? R: Make it a strike … Concentrate … Hear the bells? [Sound of bells ringing.] Do you hear them? J: I do! I think I do. Nelle: I know I do. Elaine: Ding, ding, dong – Kiss. J: Well, it was wrong to pop in. [End of scene.]« (»Happy Trails«)

In diesem Raum der Unisex-Toilette verkehren Frauen wie Männer. Zunächst könnte man hier das Umkehrmodell der vorigen Szene ablesen: Wie der männliche Zuschauer Zeuge eines intimen Frauengespräches wird, so belauschen hier Frauen ein intimes Männergespräch. Und doch ist die Ausgangssituation eine grundlegend andere. Die Trennung zwischen Medium und Publikum ist aufgehoben, beide Geschlechter sind in einem Raum vereint und können sich gegenseitig belauschen. Die implizite Zuschauerin ist somit in das Medium selbst eingespeist. Die direkte Interaktion ist zwar durch die Aufteilung des Raumes in Waschraum und Kabinen blockiert, doch stellt sich der vermeintlich intime Schutzraum der Kabine als verräterisch heraus. Mehr noch: Nicht nur sind die Männer gründlich blamiert durch die unvorhergesehene Zeugenschaft der Frauen; das Teilen der Kabine suggeriert überdies ein homosoziales Bündnis, das gefährlich nah an homosexuelles Verhalten rückt und damit den Inhalt des Gespräches – nämlich die auf das weibliche Begehrensobjekt gerichtete Kunst der Verführung – in ein unfreiwilliges Gegenteil verkehrt. Die urinale Segregation mag hier aufgehoben sein; an ihre Stelle tritt jedoch gerade nicht ein geschlechtsneutraler Raum, wie dies der Begriff ›Unisex‹ zu vermitteln trachtet, sondern die kategoriale Trennung von Homo- und Heterosexualität. Deviant war das Verhalten der Frauen im ersten Beispiel in sozialer Hinsicht, als Offenbarung von Geheimnissen. Warum aber dürfen Frauen eine Toilettenkabine teilen, ohne sich dem Vorwurf einer homosexuellen Handlung aussetzen zu müssen, während dies bei Männern unweigerlich die Suggestion devianten sexuellen Verhaltens auslöst? Eine mögliche Antwort bietet der Blick auf die architektonische Raumordnung der Toilette.

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(E IN )B LICKE – (Ü BER )G RIFFE Bei der Architektur von öffentlichen Toiletten handelt es sich um meist fensterlose Räume, oder zumindest bieten vorhandene Fenster keinen Aus- bzw. Einblick, da sie nicht durchsichtig sind. Dafür gibt es Spiegel, die den Blick statt in die Ferne auf das Interieur und den Toilettenbesucher selbst zurücklenken. Nun soll eine Toilette zuallererst einen Zweck erfüllen, nämlich den Benutzern die Möglichkeit zu geben, einem körperlichen Bedürfnis nachzukommen, d. h. sich zu ›erleichtern‹. Daher auch das altmodische, aber treffliche deutsche Wort der Öffentlichen Bedürfnisanstalt. Entgegen der Raumkonzeption der Damen- und Unisextoilette stellt nun aber bereits die Raumaufteilung der männlichen Toilettenanlagen eine Ambiguität von öffentlich vs. privat aus: Die Trennung von Urinal und Kabine soll letzterer eine gewisse Privatsphäre innerhalb des öffentlichen Gesamtensembles zuschreiben. Die Differenzierung dieser spezifischen Aufteilung ordnet ein Bedürfnis jeweils einem männlichen Körperteil zu: Für Pinkeln ist das Urinal gedacht, für größere Geschäfte ist die Kabine vorgesehen. Es entsteht ein gravierendes Paradoxon. Während generell Körperausscheidungen alleine an einem stillen Örtchen – im Privaten – ausgesondert werden, so erfahren Urin und Kot in der öffentlichen Männertoilette eine unterschiedliche Zuordnung. Entgegen etablierter sittlicher Normen außerhalb dieses Ortes gilt hier die Regel: Das männliche Genital wird durch die offene Architektur der Urinale zu etwas Herzeigbarem und damit relativ Öffentlichem – Camille Paglia spricht im Zusammenhang der männlichen Urination gar von einer »form of commentary« (20) –, während der Anus und seine Funktion als Ausscheidungsorgan durch die relative Abgeschlossenheit der Kabinen stärker mit Scham und damit privater besetzt bleiben. Der Umstand, dass beim Urinieren der entblößte Penis im Beisein anderer Männer in die Hand genommen wird, kann nun aber äußerst prekär werden und – wie schon in ironisch angespielter Form bei der Szene aus Ally McBeal – in eine homosexuelle Handlung oder zumindest in deren Andeutung zu kippen drohen. Neil Jordan hat dieses paradoxale Moment in der Toiletten-Ökonomie in seinem Film The Crying Game (1992) genutzt, um die instabile sexuelle Begehrensstruktur des Helden (Fergus) anzuzeigen. In einer der frühen Szenen des Films bittet der entführte und mit Handschellen gefesselte Soldat

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Jody seinen Wächter Fergus um Hilfe beim Urinieren. Da Jodys Handfreiheit eingeschränkt ist, fordert er ersatzweise den schockierten Fergus auf, dieser möge doch Jodys Penis in die Hand nehmen: »It’s just a piece of meat!«, meint er. Wie hochgradig transgressiv – in sexueller wie kultureller Hinsicht – diese kurze Szene zu Beginn des Filmes ist, erweist sich im Verlauf der weiteren Handlung, als sich nämlich herausstellt, dass Fergus, ein weißer, heterosexueller Mann, hier den Penis eines schwarzen, bisexuellen Mannes (Jody) berührt hat. Dieser Umstand gewinnt erst durch die Liebesgeschichte an Gewicht, die sich später zwischen Fergus und einer hellhäutigen, farbigen Frau entwickelt. Nicht nur ist diese Frau die ehemalige Freundin von Jody, was auf ein trianguläres, homosoziales Bündnis zwischen den drei handelnden Personen schließen lässt. Der als Geheimnis gehandelte Höhepunkt des Filmes, nämlich die Entblößung des Penis der (für Fergus nicht als transgender erkennbaren) Frau vor den fassungslosen Augen von Fergus und vieler Zuschauer, ist überdies eine ironische, selbstreferentielle Replik auf jene erste Szene beim Urinieren. Würde es sich tatsächlich nur um ein ›Stück Fleisch‹ handeln, wie Jody vorgibt, so dürfte Fergus nicht erst dann in jene sexuelle Orientierungskrise stürzen, die eigentlich von Anbeginn des Films ablesbar ist. Die Entblößung des Penis im Kontext heterosexueller Begehrens – und Bedürfnisstrukturen provoziert auch hier zumindest nachträglich die Suggestion einer homosexuellen Handlung und damit den Kollaps einer regulativen Sexualökonomie, auf der die Architektur der Toilette doch zu beruhen scheint (vgl. Bordo 281). Ganz anders als bei Jacques Lacans urinaler Segregation, demzufolge eine Toilette die Unterscheidung von Damen und Herren mit sich bringt und die Herrentoilette aufgrund des anatomischen Unterschiedes der Benutzer als durch den Phallus bestimmt deklariert wird, handelt es sich hier um eine andere Schlussfolgerung: Es geht um die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bestimmter Körperteile und ihrer jeweiligen multiplen Funktionsmöglichkeiten.14

14 Und auch anders als in der Diskussion beispielsweise um die Schließung von schwulen Bädern, Saunen oder Bars – also von Orten mit potentiell sexuellen Handlungsmöglichkeiten – lassen sich öffentliche Toiletten nicht je nach Argumentation als private Mitgliederclubs oder allgemeine kommerzielle Einrichtungen definieren. Vgl. zum »liminalen sexuellen Verhalten« in schwulen Sexclubs Brodsky und Rubin; zur Schließungspolitik

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S ICHTUNG VON D EVIANZ – S TARVERKEHR Toiletten, das haben die bisherigen Beispiele gezeigt, sind multivalente Räume mit einem Potential von nicht immer vorhersehbaren Normvarianten. So kann die Kabine durchaus multifunktionell auch zu normabweichenden Zwecken genutzt werden: für Sex. Hierbei wird gleichermaßen einem ›privaten‹ Bedürfnis nachgegangen, das freilich nicht jenes Bedürfnis meint, wofür die Kabine dort installiert wurde. Die öffentliche Bedürfnisanstalt ist zuallererst ein Ort der reinen Funktionalität, modisches Design hat dort nichts zu suchen. Für postmoderne Architekten besitzt das Gebot »form follows function« jedoch nicht mehr seine absolute Gültigkeit. In der New Yorker Cocktail-Bar in Chelsea »XL« beispielsweise findet die Idee der Unisex-Toilette eine weitere Zuspitzung. Statt der völligen Eliminierung des männlichen Urinals, wie dies bei Ally McBeal der Fall war, trennt dort ein lang gestrecktes Aquarium – installiert auf Augenhöhe – das Urinal vom Waschbecken. Während auf der einen Seite des Aquariums Männer pinkeln, stehen auf der anderen, dem Urinal aber zugewandten Seite Männer wie Frauen beim Händewaschen und schauen den urinierenden Männern ins Gesicht – freilich leicht verzerrt und verfremdet durch das Wasser und die darin schwimmenden Zierfische. Eine mögliche Deutung dieses Szenarios aus der Perspektive der Popular Culture Studies weist auf den zunehmenden Konnex von Konsum und Stil hin. Dominic Strinati spricht hier von einer postmodernen »designer ideology«, wonach Dinge immer mehr ihre eigentliche Funktion und Bedeutung einbüßen, je mehr auf die Äußerlichkeit, auf Stil und Oberfläche Wert gelegt wird (234). Der provokative Witz, das spielerische Zitieren und die dysfunktionale Simulation bewirken ein für die postmoderne Populärkultur typisches Verschwimmen der Grenze zwischen Kunst und Massenkultur. »In postmodern culture«,

– »the 1995 public sex controversy in New York City« – Dangerous Bedfellows. Zumindest in Deutschland kann es zwar nicht mehr zu einer Anzeige aufgrund homosexueller Betätigung Erwachsener untereinander kommen. Anzeige kann aber dennoch erstattet werden wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder auch wegen Hausfriedensbruchs, da der Aufenthalt in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt »nur zum Zwecke der Verrichtung der Notdurft gestattet« ist (Kiechle-Klemt und Sünwoldt 135, 152).

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so Strinati, »anything can […] become a joke, a quotation or a pastiche in an eclectic play of style, simulations and surfaces« (240). Diese gezielte, durchaus selbst-reflexive Verwirrung von Funktionen, Kontexten, Inhalten und Bedeutungen wiederum verstärkt die Tendenz, eine Kohärenz von Zeit und Raum aufzuheben. In diesem Fall bedeutet dies, dass durch die räumliche Koinzidenz von Urinal und Waschbecken die temporäre Abfolge von Wasser lassen und Händewaschen zu einem simultanen Erlebnis wird.

Abbildung 2: Philippe Starck, Bathroom (180) In ähnlicher Weise und ganz jener postmodernen designer ideology als einer Aufhebung der Trennung von Kunst und Konsum folgend stellen auch die Toiletten-Installationen des französischen Designers Philippe Starck die heikle Blick- und Griff-Ökonomie speziell von Männertoiletten offen und provokativ aus (siehe Abb. 2). Starck hat bewusst gegen die herrschende Konvention gearbeitet, indem er genau diejenigen Aktivitäten und Wünsche betont, die sonst verdeckt werden sollen. Im Royalton Hotel in Manhattan (renoviert 1988) flankieren zwei verspiegelte Kabinen das in Form einer vertikalen Metallwand installierte Urinal. Nicht nur wird die topographische wie funktionale Trennung von Urinal und Kabine hier gegeneinander ausgespielt, das reflektierende Material des Edelstahls fordert außerdem zum verbotenen

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Umherblicken geradezu auf. Allerdings ist durch einen Bewegungsdetektor gewährleistet, dass sobald sich vor dem Urinal etwas tut, an der Metallwand Wasser herunterläuft und somit die OffenSichtlichkeit verschwindet, die Irritation bleibt aber dennoch. Auch das communal sink, also das Waschbecken, lässt keine isolierte Handhabung zu. Man wäscht sich die Hände im Kreis stehend, was Blickkontakt fast erzwingt und das Händewaschen zu einem kollektiven Akt macht.15 Dieser auf homosoziale Gemeinschaftsstiftung zielende Akt ist freilich nur mehr als ein Zitat eines kommunalen Ritus zu verstehen, denn eine Hoteltoilette bleibt ein Ort zufälliger Begegnung. Symbolisch wird er aufgeladen lediglich in Folge des Bruchs mit herkömmlichen Raumordnungen, nicht aber durch einen dadurch gewährleisteten Funktionswechsel. Wohl kann man jedoch behaupten, dass der spielerische Umgang mit den Konventionen öffentlicher Bedürfnisanstalten neue, auch ästhetische Bedürfnisse weckt, die nicht mehr durch die ursprüngliche Funktionalität abgedeckt werden. In dem Maße, wie die öffentliche Toilette zum Kunstraum wird, verändert sich auch das in diesem Raum vollzogene private Geschäft des geheimen Örtchens. Die beiden Texte von Gooch und Giorno praktizierten diese Umdeutung und Weiterführung einer devianten Raumnutzung hin zur künstlerischen Produktion. Auffällig allerdings blieb in beiden Fällen der Rekurs auf eine spezifische Literalität. Obwohl beide Texte aus den 1990er Jahren stammen, knüpfen sie in ihrer nostalgischen Rückbezüglichkeit und ihrem Erinnerungsmodus vielmehr ein mediales Band mit der Vergangenheit, in der Sex am geheimen Örtchen des tearoom noch mit einer Aura des Geheimnisvollen versehen war. Damit platzieren sie sich gezielt außerhalb gegenwärtiger Kunst- und Litera-

15 Ein weiteres Beispiel bot die schwule Disco Splash, ebenfalls in Manhattan gelegen, wo die Unisex-Toilettenanlage nicht nur ein völlig offener, einblickbarer Raum ohne Eingangstür war (mittlerweile ist die Innenarchitektur verändert). Hier war die Idee mit den eingangs erwähnten Fernsehgeräten in einer anderen Variante realisiert worden. Über jedem Urinal befand sich ein Minibildschirm, auf dem wie bei einer Fotogalerie nackte Männerkörper ausgestellt wurden. Genau wie die Go-Go Boys, die sich oben in der Bar unter einer Dusche ausziehen, reflektierten die Bildschirme unten auf dem Klo den homoerotisch besetzten Männerblick im Kontext einer ansonsten privaten Handlung.

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turdiskurse, weshalb ihre literarischen Strategien und der Rekurs auf das erotisch-ästhetische Mysterium auch eigentümlich unzeitgemäß wirken. Die gay nineties, so der britische Pop-Kulturkritiker Mark Simpson, bezeichnen ein Zeitalter, in dem es immer weniger Geheimnisse gibt, die Suche nach einem verbleibenden »secret of sex« jedoch im Gegenzug immer desperatere Ausmaße annimmt. Sich auf Foucault berufend, spricht Simpson hierbei von einem »sex-confessional imperative«. Dies schlägt sich insbesondere im Genre der coming outErzählung als sich selbst-konstituierende Form der Beichte nieder: »the homosexual learns to say ›yes‹ to sex and thus to himself« (Simpson 13, Hervorhebung im Original) Im Medienzeitalter muss das Regelwerk von stetem Informationsfluss und wachsendem Informationsbedürfnis mit immer neuen Skandalen geschmiert werden. Die Trennlinie zwischen öffentlich und privat ist in dieser »Ekstase der Kommunikation« (ebd. 11; Simpson bezieht sich hier auf Baudrillard) mittlerweile gelöscht. Galt früher für die Homosexuellen das schamhafte Gebot der Unaussprechlichkeit ihrer Liebe, so ist mittlerweile die Schamgrenze tief gesunken, was das Öffentlich-Machen der sexuellen Identität betrifft. Besonders das Outing von Prominenten und Stars vermag hier gar zur erhöhten Popularität führen. Doch trotz medialem Hype bleibt ein Tabu bestehen: Die sexuellen Praktiken selbst unterliegen weiterhin einem generellen Ausspracheverbot. Man kann sich öffentlich dazu bekennen, Toiletten-Sex zu haben; aber was genau man dort tut, das bleibt – abgesehen vom devianten medialen Raum der Pornografie – meist doch der Fantasie des Publikums überlassen. Nun lässt sich populäre Kultur aber nicht nur als durch hegemoniale Verordnungen bestimmte Struktur lesen und verstehen. Mit Bezug auf Gramsci haben britische Cultural Studies-Theoretiker wie Stuart Hall und John Storey herausgearbeitet, wie die Erzeugnisse der Populärkultur durchaus auch eine Produktivität entwickeln, eine »agency«, die sich durch ein widerständiges Moment der Non-Konformität auszeichnet (Storey 4). Dies trifft beispielsweise für den Bereich der Popmusik zu, der besonders für Jugendliche einen Raum identifikatorischer Repräsentationen zu konstruieren vermag, einen, wie Stuart Hall und Paddy Whannel es nennen, »emotional realism«. Seit Elvis Presley reflektieren die Pop-Songs der Stars

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»adolescent difficulties in dealing with a tangle of emotional and sexual problems. They invoke the need to experience life directly and intensely. They express the drive for security in an uncertain and changeable emotional world. The fact that they are produced for a commercial market means that the songs and settings lack a certain authenticity. Yet they dramatize authentic feelings. They express vividly the adolescent emotional dilemma.« (64)

Die produktive Macht, auf das emotionale Dilemma junger Menschen zu rekurrieren, nutzte der Sänger George Michael und gestaltete aus der zunächst peinlichen Tatsache, dass er auf einer öffentlichen Toilette beim Sex ›erwischt‹ wurde, geschickt ein selbstinszeniertes Outing. Das Medium, das er hierfür wählte – das popmusikalische Musikvideo –, ist insofern ein durchaus adäquates Mittel, als es sich vorzüglich zur selbstreflexiven Repräsentation eignet. Denn ertappt wurde George Michael durch das Video einer Überwachungskamera und genau diese Technik der geheimen visuellen Aufzeichnungsmaschine kann er in seinem eigenen Musikvideo als Zitat installieren.

Abbildungen 3 und 4: George Michael, Outside Die kameratechnische Überwachung des tearoom stellt eine grundlegende Änderung in der Blickökonomie des tearoom trade dar. Denn hier wird Zeugenschaft und Partizipation nicht mehr darüber definiert, dass Polizisten als getarnte Spione die bürgerliche Moral zu verteidigen suchen, indem sie nolens volens sich selbst in das Modell der devianten Raumordnung einfügen müssen, um den Rahmen zu sprengen. Statt selbst vor Ort und im Raum des tearoom zu agieren, trennt nun die Kamera das Auge des Staates vom Körper des Wächters und konserviert überdies ein immer wiederholbares Zeugnis des Vergehens – sofern die Videoaufnahme das aufzeichnet, was geahndet werden

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soll, was oft genug nicht der Fall ist, bei George Michael aber funktioniert zu haben scheint. Die erfolgreiche Überwachung führte bei ihm zur Verhaftung, im Zuge derer er öffentlich geoutet wurde. Für ihn dekuvrierte sich das Moment der Privatheit am öffentlichen Schauplatz demnach zunächst als Falle, quasi als Gefängnis: der Raum wurde in den Ort zurückgeführt. Gerade die vorgebliche Privatheit der Kabine erweist sich in extremem Maße fiktional, da genau hier ein Eindringen von außen die Situation unmissverständlich verkehrt. Die physische Präsenz zweier Männer in einer Kabine ist eine unleugbare Manifestation devianten Verhaltens. Künstlerisch hat George Michael dies in dem Video verarbeitet als Inszenierung eines totalen Überwachungssystems. Der Clip spielt mit sich ständig verändernden Räumen, in denen illegitime Homo- wie Hetero-Aktivitäten stattfinden. Das repetitive Wechseln zwischen der als unbeobachtet wahrgenommenen Realität und dem schwarz-weiß flimmernden Auge der Überwachungskamera stellt ein authentisches Erleben als bloße Simulation aus. In Bild und Text spiegeln sich diese topographischen Grenzgänge durch ein Überblenden von Innen und Außen, Privat und Öffentlich, Norm und Abweichung wider (die Toilette wird zum Tanzraum, Urinale werden zu Discoaccessoires), und im Titel Outside kulminiert die Doppeldeutigkeit von sexuellem Outing und sozialer Öffentlichkeit: »let’s go outside / in the meantime / take me to the places I love best / and yes I’ve been bad / doctor won’t you do with me what you can / you see I think about it all the time […] back to nature, just human nature […] I’d service the community / (but I already have you see!) / I never really said it before.«

Die identifikatorische Kraft entwickelt das Video aber gerade durch das Changieren zwischen Kunst- und Realwelten, weil hier ein parodistisches Zitatensemble entsteht, wonach beispielsweise die Funktion von Polizisten und der Einsatz von Uniform sowohl als Repräsentation staatlicher Kontrolle fungiert wie auch als Manifestation eines Fetisch. Wenn sich George Michael selbst in Uniform kleidet und damit gleichermaßen die hegemoniale Macht parodiert wie auch den erotischen schwulen Kleiderkodex affirmiert, so entwirft er einen Raum der Projektionen, der deviantes Verhalten als widerständig und sexy authentifiziert. George Michaels Video führt zur Architektur der Männertoilette und zur Eingangsanekdote zurück. Wie ist das nun mit dem Fernseher,

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durch den man sich wie zu Hause fühlen soll beim Pieseln? Wer hat denn eigentlich schon einen Fernseher im eigenen Bad? Hier ist wohl kaum eine Rekonstruktion der Toilette daheim gemeint, sondern die Simulation eines heimeligen Gefühls. Oder geht es vielleicht doch um etwas ganz anders: Macht die Installation des Bildschirms nicht gerade auf etwas aufmerksam, was verschleiert werden soll? Soll nicht vielmehr der Blick abgelenkt und unter Kontrolle gehalten werden? Und vielleicht noch wichtiger: Soll der Nachbar, der nebenan beim Urinieren sein Genital entblößt, nicht sichergehen können, dass er nicht von der Seite mit Blicken oder gar Griffen angegangen wird? Der installierte Monitor lenkt von einer möglichen Erotisierung des nachbarlichen Penis – jenem »just a piece of meat« – ab. In dieser triangulären Blick-Anordnung nimmt demnach der Bildschirm die Funktion des Ersatz-Phallus ein. Möglicherweise ist es deshalb von Bedeutung, dass wir aus der Zeitungsnotiz erfahren, wie groß der Bildschirm ist, nämlich etwas mehr als die Verdopplung der statistisch durchschnittlichen Penislänge. Und weitergehend könnte das dekuvrierende Kichern des Managers, also ein Verhalten, das nicht gerade für protzende Hetero-Männlichkeit steht, darauf hindeuten, dass es sich hier um ein bewusst codiertes schwules Camp-Szenario handelt, wonach der Fernseher eine parodistische Camouflage für den normabweichenden voyeuristischen Blick bietet. Schließlich hätte man, wenn es wirklich nur um Blick-Kontrolle ginge, auch einfach Trennwände zwischen die Urinale ziehen können, was billiger und effektiver gewesen wäre. Aber dann wäre der tearoom nur noch eine Toilette.

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WENN IN TEAROOMS NICHT MEHR DAMEN VERKEHREN | 305

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