Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann [Reprint 2018 ed.] 9783110906516, 9783110104639

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Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann [Reprint 2018 ed.]
 9783110906516, 9783110104639

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Hilde Kaufmann. Eine Skizze ihres Lebens und ihres wissenschaftlichen Werkes
I. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform
Implikationen der Normsetzung und -durchsetzung durch internationale Organisationen im Bereich kriminologisch relevanten Verhaltens von Staatsführungen und ihren Organen
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Cesare Beccarias „Uber Verbrechen und Strafen" (1764)
Kriminalpolitik und Strafrecht
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik
Strategien der Kriminalitätsbekämpfung in Polen
Rechtsphilosophie und Menschenrechte
Bilanz der Strafrechtsreform
Die sozialtherapeutischen Anstalten - ein kriminalpolitisches Lehrstück?
Die gemeinnützige Arbeit als Beispiel für einen grundlegenden Wandel des Sanktionenwesens
Kriminologie und Jugendstrafrecht
Grundlagen, Beiträge und mögliche Entwicklungslinien einer Kriminologie der Befreiung
Fundamentos e impedimentos de una teoría criminológica latino-americana
Kriminologie: Die unangemessene Kollision von zwei Parallelen
Prognoseentscheidungen - Ein empirisches und entscheidungstheoretisches Problem
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug
Cherchez la femme? Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen zur Diskussion um Frauenkriminalität
Drugs in Latin America and the world crisis
Viktimisierung im Straßenverkehr in Japan
Was läßt die vereinheitlichte Juristenausbildung von der Kriminologie übrig?
Die gesellschaftliche Organisation der deutschsprachigen Kriminologie - Rückblick und Ausblick
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht
Zum Funktionswandel des Jugendarrests
Rückbesinnung auf den Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht
III. Theorie, Zumessung und Vollzug der Strafe
Über die gerechte Strafe. Ein rechtsphilosophischer Essay
Zur Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie: Maßregel oder Strafvollzug?
Franz Huber - ein Theoretiker der „Straf"- und „Gefängniskunde"
Denkweisen von „Poenologen" über die „Einzelhaft" um die Mitte des XIX. Jahrhunderts
Die Bestimmung der Tatschuld und Bemessung der Strafe nach der vom Täter entwickelten „kriminellen Energie" - Ein Beitrag zur Entfernung pseudo-kriminologischer Begrifflichkeit aus dem Strafrecht
Strafzumessung und ihre Auswirkung auf den Vollzug
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall. Zur Beschränkung der Strafrestaussetzung durch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 67 Abs. 5 StGB
„Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf?
Die Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform
La libertad religiosa como derecho fundamental de los internos institutiones penetenciarias
Strafvollzug im internationalen Vergleich
Aufgaben und Arbeitsweise der Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein- Westfalen
IV. Strafrecht
Die integrierende Lehre vom Tatbestand
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz
Notwehr bei Angriffen Schuldloser und bei Bagatellangriffen
Grundlage und Rechtsnatur des Notstands im spanischen Strafgesetzbuch
Der Rücktritt mit Deliktsvorbehalt
On Punishing And Individual Rights. An Essay on Objective Administrative Offenses
Bemerkungen zum strafrechtlichen Staatsschutz aus der Sicht der Identitätstheorie
Zur strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) beim „Kampf um das gemeinsame Kind". Überlegungen de lege lata und de lege ferenda
Nötigung durch Gewalt
Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht aus der Sicht des Mediziners
El fenómeno de la droga en España. Aspectos penales
V. Strafverfahrensrecht
Zur Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im strafprozessualen Ermittlungsverfahren. Rechtsdogmatische Randbemerkungen zu einem politischen Thema: „Vorverurteilung" und „Vorfreispruch"
Strafantrag - Strafantragsrecht. Zur Frage der Funktion des Strafantrags und seinen Wirksamkeitsvoraussetzungen
Öffentlichkeit-Niedergang eines Verfahrensgrundsatzes?
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß
Grundprobleme des Beweisverfahrens
Beweiserhebung und Beweiswürdigung
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen zur Schuldfähigkeitsbegutachtung in der Hauptverhandlung?
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren, insbesondere im Stadium der Wiederaufnahme
Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann

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Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann

Gedächtnisschrift für HILDE KAUFMANN herausgegeben von

Hans Joachim Hirsch

Günther Kaiser

Helmut Marquardt

w DE

G_ 1986

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - pH 7, neutral)

CIP-Kurztitelaufnähme

der Deutschen Bibliothek

Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann / hrsg. von Hans Joachim Hirsch Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. ISBN 3-11-010463-6 N E : Hirsch, Hans Joachim [Hrsg.]

©

Copyright 1986 by Walter de Gruyter 8c Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, 1000 Berlin 61

Vorwort In diesem Jahr hätte Hilde Kaufmann ihr 66. Lebensjahr vollendet. Sie starb unerwartet am 11. Januar 1981, nachdem Krankheit und Anfälligkeiten überwunden schienen. Durch den jähen Tod der Wissenschaftlerin, die auch im Ausland hohes Ansehen genoß, hat die Kriminalwissenschaft einen großen Verlust erlitten. Dem ehrenden Gedenken an Hilde Kaufmann widmen Freunde, Kollegen und Schüler diese Schrift. Auch nach fünf Jahren ist die Erinnerung an sie unverändert lebendig. Sie ist geprägt von den vielfältigen Tätigkeiten der Verstorbenen als akademischer Forscher und Lehrer sowie dem ständigen Bemühen, eine Brücke zwischen kriminologischer Forschung und Strafrechtspflege zu schlagen. Überdies war Hilde Kaufmann Mittlerin zwischen der Kriminalwissenschaft des deutschsprachigen Bereichs und der spanischsprachigen Welt. Mutig, entschieden und selbstlos setzte sie sich vor allem für Kollegen ein, die in Not und Bedrängnis geraten waren oder wegen politischer Verfolgung ihre Heimat verlassen mußten und an der Kriminologischen Forschungsstelle in Köln Obdach und Hilfe fanden. Dem Verlag W. de Gruyter danken wir für die entgegenkommende verlegerische Betreuung, außerdem Frau Jacqueline Kaspar (Freiburg) und Herrn Dr. Georg Küpper (Köln) für die Mitwirkung an den redaktionellen Arbeiten. Köln, Freiburg, Bonn, im April 1986

Die

Herausgeber

Inhalt Bonn: Hilde Kaufmann. Eine Skizze ihres Lebens und ihres wissenschaftlichen Werkes

H E L M U T MARQUARDT,

1

I. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform Berlin: Implikationen der Normsetzung und -durchsetzung durch internationale Organisationen im Bereich kriminologisch relevanten Verhaltens von Staatsführungen und ihren Organen 21

U L R I C H EISENBERG,

Wuppertal: Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Cesare Beccarias „Uber Verbrechen und Strafen" (1764) 51

GERHARD DEIMLING,

Barcelona: Kriminalpolitik und Strafrecht

69

Hannover: Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik

87

JUAN BUSTOS RAMÍREZ,

HANS-DIETER SCHWIND,

Krakau: Strategien der Kriminalitätsbekämpfung in Polen

101

Köln: Rechtsphilosophie und Menschenrechte

113

Köln: Bilanz der Strafrechtsreform

133

KAZIMIERZ BUCHALA,

JUAN C A R L O S GARDELLA,

H A N S JOACHIM H I R S C H ,

München: Die sozialtherapeutischen Anstalten - ein kriminalpolitisches Lehrstück? 167

H O R S T SCHÜLER-SPRINGORUM,

Frankfurt: Die gemeinnützige Arbeit als Beispiel für einen grundlegenden Wandel des Sanktionenwesens 189

GÜNTER BLAU,

II. Kriminologie und Jugendstrafrecht Maracaibo: Grundlagen, Beiträge und mögliche Entwicklungslinien einer Kriminologie der Befreiung 213

LOLITA ANIYAR DE CASTRO,

Barcelona: Fundamentos e impedimentos de una teoría criminológica latino-americana 225

ROBERTO BERGALLI,

VIII

Inhalt

CARLOS A . TOZZINI, B u e n o s A i r e s :

Kriminologie: Die unangemessene Kollision von zwei Parallelen

245

WERNER GEISLER, M a n n h e i m :

Prognoseentscheidungen - Ein empirisches und entscheidungstheoretisches Problem 253

H A N S J O A C H I M SCHNEIDER, M ü n s t e r :

Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug

267

ARTHUR KREUZER, G i e ß e n :

Cherchez la femme? Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen zur Diskussion um Frauenkriminalität 291

R O S A DEL O L M O , C a r a c a s :

Drugs in Latin America and the world crisis

K O I C H I MIYAZAWA, T o k i o :

Viktimisierung im Straßenverkehr in Japan

309 321

WOLFGANG H E I N Z , K o n s t a n z :

Was läßt die vereinheitlichte Juristenausbildung von der Kriminologie übrig? 329

HEINZ SCHÖCH, G ö t t i n g e n :

Die gesellschaftliche Organisation der deutschsprachigen Kriminologie Rückblick und Ausblick 355

K L A U S SESSAR, H a m b u r g :

Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht

F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN, G ö t t i n g e n :

Zum Funktionswandel des Jugendarrests

ELLEN SCHLÜCHTER, K ö l n :

Rückbesinnung auf den Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht

373 393 409

III. Theorie, Zumessung und Vollzug der Strafe A R T H U R KAUFMANN, M ü n c h e n :

Uber die gerechte Strafe. Ein rechtsphilosophischer Essay

425

R E I N H A R D VON H I P P E L , M a r b u r g :

Zur Verortung der Spezialprävention/Sozialtherapie: Maßregel oder Strafvollzug? 433

HEINZ MÜLLER-DIETZ, Saarbrücken:

Franz Huber - ein Theoretiker der „Straf"- und „Gefängniskunde"

451

ALBERT KREBS, O b e r u r s e l :

Denkweisen von „Poenologen" über die „Einzelhaft" um die Mitte des XIX. Jahrhunderts 475

Inhalt

IX

Köln: Die Bestimmung der Tatschuld und Bemessung der Strafe nach der vom Täter entwickelten „kriminellen Energie" - Ein Beitrag zur Entfernung pseudo-kriminologischer Begrifflichkeit aus dem Strafrecht 493

MICHAEL WALTER,

Tübingen: Strafzumessung und ihre Auswirkung auf den Vollzug

JÜRGEN BAUMANN,

513

Regensburg: Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall. Zur Beschränkung der Strafrestaussetzung durch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 67 Abs. 5 StGB 525

KLAUS ROLINSKI,

Kiel: „Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf?

545

Lerida: Die Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform

557

ECKHARD H O R N ,

E N R I Q U E BACIGALUPO,

San Sebastian: La libertad religiosa como derecho fundamental de los internos institutiones penetenciarias 571

A N T O N I O BERISTAIN,

Freiburg: Strafvollzug im internationalen Vergleich

GÜNTHER KAISER,

599

Köln: Aufgaben und Arbeitsweise der Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 623

KARL-PETER ROTTHAUS,

IV. Strafrecht Warschau: Die integrierende Lehre vom Tatbestand

639

Bonn: Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz

649

Würzburg: Notwehr bei Angriffen Schuldloser und bei Bagatellangriffen

673

IGOR ANDREJEW,

WOLFGANG SCHÖNE,

FRIEDRICH-WILHELM KRAUSE,

Zaragoza: Grundlage und Rechtsnatur des Notstands im spanischen Strafgesetzbuch 689

JOSE CEREZO MIR,

Bochum: Der Rücktritt mit Deliktsvorbehalt

ROLF DIETRICH HERZBERG,

709

Buenos Aires: On Punishing And Individual Rights. An Essay on Objective Administrative Offenses 737

JAIME MALAMUD G O T I ,

X

Inhalt

Kiel: Bemerkungen zum strafrechtlichen Staatsschutz aus der Sicht der Identitätstheorie 747

JOACHIM HELLMER,

Berlin: Zur strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) beim „Kampf um das gemeinsame Kind". Überlegungen de lege lata und de lege ferenda 759

KLAUS GEPPERT,

Bonn: Nötigung durch Gewalt

GÜNTHER JAKOBS,

791

S. FOTAKIS, Athen: Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht aus der Sicht des Mediziners 813

NIKOLAOS

Madrid: El fenómeno de la droga en España. Aspectos penales

MARINO BARBERO SANTOS,

824

V. Strafverfahrensrecht Köln: Zur Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses

DIETRICH OEHLER,

847

Erlangen: Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im strafprozessualen Ermittlungsverfahren. Rechtsdogmatische Randbemerkungen zu einem politischen Thema: „Vorverurteilung" und „Vorfreispruch" 863

H A N S JÜRGEN BRUNS,

Hannover: Strafantrag - Strafantragsrecht. Zur Frage der Funktion des Strafantrags und seinen Wirksamkeitsvoraussetzungen 875

DIETHART ZIELINKSI,

Saarbrücken: Öffentlichkeit-Niedergang eines Verfahrensgrundsatzes?

891

Münster: Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß

913

Athen: Grundprobleme des Beweisverfahrens

929

Marburg: Beweiserhebung und Beweiswürdigung

947

HEIKE JUNG,

KARL PETERS,

CHRISTOS DEDES,

DIETER M E U R E R ,

Göttingen: Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen zur Schuldfähigkeitsbegutachtung in der Hauptverhandlung? 961

FRITZ L O O S ,

Erlangen: Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren, insbesondere im Stadium der Wiederaufnahme 977

KARL HEINZ GÖSSEL,

Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann

997

Hilde Kaufmann Eine Skizze ihres Lebens und ihres wissenschaftlichen Werkes H E L M U T MARQUARDT

Der Tod, der Hilde Kaufmann mitten aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit riß, kam unerwartet und zu einer Zeit, als alles darauf hindeutete, daß Krankheit und Anfälligkeit - lästige Begleiter der Jahre zuvor überwunden seien. Energie, Optimismus, Freude auf Jahre der Arbeit und des Forschens, die ihr noch vergönnt sein würden, waren der prägende Eindruck vieler Gespräche und Begegnungen mit Kollegen und Freunden in den letzten Wochen vor ihrem Tod. Ein Gehirnschlag am Abend des 11. Januar 1981 setzte allen Plänen ein jähes Ende. Der Rückblick auf Leben und Werk Hilde Kaufmanns ist schmerzlich, weil er bewußt macht, wieviel sie der Wissenschaft noch hätte geben können. Er erfüllt aber auch mit Dankbarkeit, weil deutlich wird, wie vieles von dem, was sie geschaffen hat, bleiben und fortwirken wird. Wenn im folgenden noch einmal die Stationen ihres Lebens abgeschritten und die Spuren verfolgt werden, die sie durch ihr Wirken gezeichnet hat, so geschieht dies in dem Bemühen, das Wesentliche zu erfassen und das Bleibende sichtbar zu machen. Es geschieht auch in dem Bewußtsein der Subjektivität und Unvollkommenheit dieses Bemühens. I. Der Versuch, die Persönlichkeit Hilde Kaufmanns zu kennzeichnen, stößt zunächst auf die Dominanz von Eigenschaften, die auf den ersten Blick eher widersprüchlich erscheinen: scharfer, analytischer Verstand, kritisch-abwägende Distanz zur Umwelt, Rationalität im Handeln, Klarheit und Festigkeit des Standpunkts, kämpferisch und unbeugsam in der Verfechtung einer als richtig erkannten Position - all dies verband sich mit nicht weniger ausgeprägten Wesenszügen wie Warmherzigkeit, Offenheit, musischer Begabung, gefühlsbetonter Hingabe an Menschen und Sachen, selbstloser Zuwendung, wo Not und Leid Hilfe forderten. Das Klischee, hier sei eben eine Frau in einer typisch männlichen Berufsrolle tätig geworden und habe sich einen Gutteil von deren Attributen angeeignet, ist ihr oft begegnet und hat sie stets zornig

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Helmut Marquardt

gemacht. Vor allem die ersten Jahre ihres beruflichen Werdegangs waren durch die Erfahrung von Vorurteilen und skeptischer Distanz auf Seiten ihrer Ausbilder und Kollegen geprägt, gaben ihr das Gefühl, sich gerade als Frau durchsetzen und behaupten zu müssen. Man geht nicht fehl - zu oft hat sie davon gesprochen - , wenn man annimmt, daß etwas von dem Kämpferischen ihres Wesens, von der bis an die Grenzen der physischen Belastbarkeit gehenden Zähigkeit ihres Arbeitens in diesen Erfahrungen seinen Grund hat. Aber es wäre falsch, dieser Seite ihrer Persönlichkeit übermäßiges Gewicht beizumessen oder hier eine wesentliche Triebfeder ihrer Arbeit zu sehen. Zu vielfältig waren die Begabungen, zu weit gespannt die Interessen, zu groß das Bedürfnis nach Harmonie, zu bestimmend die Ausrichtung an letztgültigen, das Vergängliche übersteigenden Werten. Es war die spannungsvolle Verbindung jener - nur dem flüchtigen Betrachter als widersprüchlich erscheinenden - Eigenschaften, die die Dynamik der Persönlichkeit Hilde Kaufmanns ausmachte und die für Leben und Arbeit fruchtbar wurde. II. Die Hinwendung Hilde Kaufmanns zur Jurisprudenz und ihre Entscheidung für eine wissenschaftliche Laufbahn folgten nicht einem früh ausgeprägten, durch Elternhaus und Familie geförderten Interesse; es waren spätere Begegnungen, die die berufliche Orientierung bestimmten. 1920 als erstes von 4 Kindern eines Lehrerehepaars im Münsterland geboren, hatte sich schon früh eine ausgeprägte Begabung in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern und in der Musik gezeigt. Nach dem 1939 mit Auszeichnung bestandenen Abitur an der renommierten Annette-v. Droste-Hülshoff-Schule in Münster gewannen die musischen Neigungen die Oberhand: Ein Studium der Musik sollte sich anschließen. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs verhinderte jedoch zunächst die Aufnahme dieses Studiums. Die Einberufung des Vaters und die Rückkehr der Mutter in den Lehrerberuf banden Hilde Kaufmann an die Familie; sie übernahm die Führung des Haushalts und die Betreuung der jüngeren Geschwister. Erst 1943 konnte sie mit dem Studium beginnen, doch war ihre Wahl inzwischen in eine andere als die ursprünglich ins Auge gefaßte Richtung gegangen: Sie nahm das Studium der Rechtswissenschaften auf. Diese Hinwendung zur Jurisprudenz war bestimmt durch die Begegnung mit ihrem ersten Mann, Wilhelm Vianden. Der angehende Jurist und spätere Assessor vermittelte ihr die ersten Einblicke in das Fach, er weckte ihr Interesse und gab den Anstoß zu näherer Beschäftigung mit dem Recht. Denkweise und Methodik des Juristen, die Logik der Regeln, die

Hilde Kaufmann - Leben und Werk

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Rationalität der Entscheidungen, aber auch das Bemühen um Gerechtigkeit sprachen sie an. N o c h einmal zwangen freilich Kriegsereignisse zur Unterbrechung des Studiums: Das Dritte Reich mobilisierte die letzten Reserven und zwang zum Dienst in der Rüstungsindustrie. Das Ende des Krieges gab dann endgültig den Weg frei für das Studium, das sie im W . S. 1945/46 in Bonn wieder aufnahm. Es war eine Zeit des Aufbruchs, des Gefühls, davongekommen zu sein, des Erlebnisses einer geistigen Freiheit, die nicht selbstverständlich war, sondern die man als Geschenk und Aufgabe empfand. In dem kleinen Kreis der Kriegsheimkehrer wurde intensiv studiert, zu den wenigen Professoren, die am Wiederaufbau der Universität arbeiteten, bestand enger Kontakt. In Bonn waren es vor allem Theodor Kipp, Walter Scbmidt-Rimpler,

Ernst Friesenhahn und Hellmuth von Weber, die den juristischen Werdegang Hilde Kaufmanns in besonderem Maße prägten. Und Hellmuth von Weber war es schließlich auch, der die Begabung Hilde Kaufmanns erkannte, der sie förderte und an die Wissenschaft heranführte. Nach dem 1948 abgelegten 1. Staatsexamen wurde sie Korrekturassistentin und danach wissenschaftliche Hilfskraft an dem von ihm gegründeten Kriminologischen Seminar. Nach der Promotion und dem 1952 abgelegten 2. Staatsexamen- trat sie, weil eine Assistentenstelle nicht zur Verfügung stand, zunächst in den Justizdienst ein, kam für gut ein Jahr als Assessorin zur Staatsanwaltschaft in Bonn und wechselte danach in das Auswärtige Amt, wo sie an der Seite Hellmuth von Webers als Hilfsreferentin im „Internationalen Gnadenausschuß für Kriegsverbrecher" tätig war. Die Arbeit in diesem, aus Vertretern der westlichen Siegermächte und deutschen Mitgliedern zusammengesetzten Ausschuß, dessen Aufgabe darin bestand, die von den Alliierten nach dem Ende des 2. Weltkriegs durchgeführten Militärgerichtsverfahren zu überprüfen und M ö g lichkeiten einer Begnadigung der dort als Kriegsverbrecher verurteilten Deutschen zu erwägen, hat Hilde Kaufmann tief beeindruckt. Sie brachte nicht nur den engen fachlichen und persönlichen Kontakt zu ihrem dem Ausschuß angehörenden Lehrer von Weber. In ihr wurde vor allem deutlich, wie leicht Macht korrumpieren und wie nachhaltig Schwäche oder Opportunismus den Menschen in Unrecht verstricken konnten. Sie zeigte aber auch, wie schnell sich in der Hand des Siegers das Recht zum Instrument der Rache verformte und wie dann, wenn die Emotionen abgeklungen sind, die Vernunft zurückkehrt und die Herrschaft des Rechts wieder auflebt - nicht von selbst, sondern weil Menschen sich unerschütterlich und zäh darum bemühen. Die Erfahrung dieser mehr als 3 Jahre dauernden Tätigkeit hat Hilde Kaufmann nicht nur in ihrer politischen Einstellung geprägt, sie hat sie vorsichtig und empfindsam gemacht, wenn Herrschaftsansprüche unter Berufung

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Helmut Marquardt

auf das Recht auftraten; sie war wohl auch eine Quelle dafür, daß sie sich vor allem in den letzten Jahren immer wieder nachhaltig um das Schicksal in Südamerika zu Unrecht verfolgter und in Haft genommener Wissenschaftler sorgte und für deren Freiheit eintrat. 1956 folgte die Rückkehr an die Universität Bonn als wissenschaftliche Assistentin Hellmuth von Webers am Kriminologischen Seminar, 1961 dann die Habilitation und die Erteilung der venia legendi für „Strafrecht einschließlich Strafprozeßrecht und Kriminologie". Die Thematik der Habilitationsarbeit - Strafanspruch, Strafklagerecht. Die Abgrenzung des materiellen vom formellen Strafrecht1 - folgte noch ganz der Tradition jener Zeit und wohl auch dem erklärten Anspruch der Bonner Fakultät: Der Vorrang gehörte der Strafrechtsdogmatik, an ihr hatte sich der „Wissenschaftler" zu beweisen, der Kriminologie gebührte zwar Beachtung, aber doch erst in zweiter Linie. So deutet blickt man auf die Veröffentlichungen Hilde Kaufmanns bis zur Habilitation2 - nichts darauf hin, daß sie in der Kriminologie den Schwerpunkt ihrer künftigen wissenschaftlichen Arbeit sehen würde. Nicht, daß ihr die Beschäftigung mit dogmatischen Themen nur lästige Pflicht gewesen wäre - sie hat deren Bedeutung und Gewicht für Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit nicht gering geachtet. Aber die Zielstrebigkeit, mit der sie sich unmittelbar nach der Habilitation kriminologischen Fragestellungen zuwandte und die Ausschließlichkeit, mit der sie ihre gesamte weitere Arbeit auf diese Thematik konzentrierte, läßt doch erkennen, wie virulent diese Neigung bereits war, ehe sie endgültig aus der Zurückhaltung heraustrat. Freilich ist schon an dieser Stelle zu vermerken, daß Hilde Kaufmann das Verhältnis von Kriminologie und Strafrecht stets als ein sehr enges verstand, daß sie wie kaum ein anderer Kriminologe ihrer Generation in der Strafrechtspflege den entscheidenden Bezugspunkt sah, auf den hin kriminologische Forschung auszurichten war - jedenfalls soweit sie in der Kompetenz des Juristen betrieben wurde. Davon wird noch zu reden sein. Zunächst drängt sich eine andere Frage auf: Was war es, das Hilde Kaufmanns Hinwendung zur Kriminologie bestimmte, ihre Neigungen weckte und ihr vielleicht sogar die ganz spezifische Richtung gab, die ihr wissenschaftliches Werk widerspiegelt? Gewiß war es der Einfluß ihres Lehrers von Weber; es war auch die Begegnung mit Max Grünhut, der 1 Strafanspruch, Strafklagrecht. Die Abgrenzung des materiellen vom formellen Strafrecht, Göttingen 1968. 2 Das Verbrechen und Vergehen gegen den Personenstand, Bonn Jur. Diss. 1950 (Maschinenschrift); Der Irrtum über Voraussetzungen, die für §240 II StGB beachtlich sind, Goltdammers Archiv f. Strafrecht 1954, S. 359-364; Verbotsirrtum als Strafausschließungsgrund? N J W 1955, S. 1057-1059.

Hilde Kaufmann - Leben und Werk

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nach Jahren des Exils in England von 1950 an wieder regelmäßig kriminologische Seminare in Bonn hielt und dessen Einfluß in der starken Ausrichtung Hilde Kaufmanns auf Fragen des Vollzugs und der Behandlung von Straftätern erkennbar wird; und sicher war es auch das als Verpflichtung empfundene Bedürfnis, die gerade an der Bonner Fakultät überaus starke kriminologische Tradition fortzusetzen und zu vertiefen, zu deren Begründern neben von Weber und Grünhut in den 50er Jahren auch Hans von Hentig zählte. Aber bestimmend konnten all diese Einflüsse letztlich doch nur deshalb werden, weil sie auf ein fast leidenschaftliches Interesse am Menschen stießen: Welche Kräfte bestimmten sein Leben und Handeln, formten seinen Charakter? Wovon hing es ab, ob er in der menschlichen Gemeinschaft zurecht kam oder vor deren Anforderungen versagte? Was konnte, was durfte der Staat an Mitteln einsetzen, um die Einhaltung von Normen zu gewährleisten? Es waren diese Fragen, die sie bewegten und die sie von Anfang an in den Mittelpunkt ihres wissenschaftlichen Arbeitens stellte. Für die Strafrechtsdogmatik lagen solche Themen eher am Rande, in der Ausbildung der Juristen hatten sie wenig Gewicht, die Strafrechtspraxis folgte weithin dem Vergeltungsprinzip und fragte wenig nach seiner Legitimation und noch weniger nach seiner Effektivität. Hier die Gewichte zu verschieben, die kriminologischen Erkenntnisse für Strafrechtswissenschaft und Praxis fruchtbar zu machen und zu erweitern, hielt sie für eine vordringliche Aufgabe, es war ein weiteres wesentliches Stimulans für ihre Hinwendung zur Kriminologie. III. Schon in ihrer Antrittsvorlesung, dem ersten Beitrag, in dem sie sich mit kriminologischen Fragen befaßt 3 , deutet Hilde Kaufmann programmatisch ihren wissenschaftlichen Standort an und läßt jene Perspektive erkennen, der sie in ihrer kriminologischen Arbeit Priorität einräumen wird. Es geht darum, die' Bedingungen kriminellen Handelns mit Blick auf die Bedürfnisse des Strafrechts und der Strafrechtspflege zu erforschen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für die Ausgestaltung und die Handhabung der strafrechtlichen Reaktionen fruchtbar zu machen. Mit dieser Feststellung ist die Position umrissen, von der sie wie die Themen ihrer nachfolgenden Arbeiten mit großer Deutlichkeit zeigen - nicht mehr abgerückt ist und die sie kurz danach 4 und zehn Jahre später noch einmal5 nachdrücklich präzisiert und bekräftigt hat: 5 4 5

Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? JZ 1962, S. 193-199. JZ 1964, S. 696. Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik, JZ 1972, S. 78 f.

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Helmut Marquardt

Nach ihrer Überzeugung kann es „.die* Kriminologie verstanden als ,die' Wissenschaft ,vom Verbrecher und konkreten Verbrechen' (o. ä.) gar nicht geben". Diese Erkenntnis führt zu der Notwendigkeit, „eine sachgemäße Aufschlüsselung der Forschung auf die einzelnen Disziplinen mit den ihnen jeweils verfügbaren speziellen Forschungstechniken vorzunehmen" und zu fragen, „welche Art von Kriminologie nun von einer rechtswissenschaftlichen Disziplin für die Zwecke dieses Fachgebiets benötigt wird". Die Antwort ist umfassend und bestimmt: Die „juristische Kriminologie" hat sich auszurichten am Allgemeinen und Besonderen Teil des Strafrechts, sie erfaßt das Strafprozeßrecht, sie schließt das Nebenstrafrecht ebenso ein wie das Jugendstrafrecht. Oder - in thematische Wendungen gefaßt: „Der kriminologisch interessante Teil des AT besteht in seinem Rechtsfolgensystem. Zu dessen Konstruktion gehört e s . . . , die konkrete Gestaltung und Wirkung der einzelnen Rechtsfolgen und ihres Vollzugs zu untersuchen". Im Besonderen Teil, wo ein erhebliches Defizit an empirischem Grundlagenwissen besteht, bedarf es vor allem einer „exakten Kenntnis der Erscheinungsformen der einzelnen Verbrechen", und damit einer „Fortführung jener Forschungen, wie sie Hellmuth von Weber, Hans von Hentig, Exner, Sauer u.a.m. betrieben haben, immer freilich straff bezogen auf den Besonderen Teil". Die Notwendigkeit einer empirischen Erforschung des Strafprozesses nennt beispielhaft den Komplex des Wiederaufnahmeverfahrens, die Praxis der Untersuchungshaft und die Vor- und Nachteile der derzeitigen Regelungen. Gegenstand der „juristischen Kriminologie" ist schließlich die Kriminalpolitik, verstanden als Wissenschaft von den notwendigen Änderungen der Strafrechtspflege. Sie hat speziell die Umgestaltung der Rechtsfolgen oder die Umformung des Besonderen Teils durch Pönalisierung noch nicht erfaßten sozialschädlichen Verhaltens im Blickfeld und bedarf dazu umfassender Aufhellung der relevanten empirischen Befunde 6 . Die Ausrichtung der Kriminologie auf die Bedürfnisse von Strafrechtswissenschaft und -praxis zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Schaffen Hilde Kaufmanns. Sie ist der Leitgedanke auch bei der Konzeption ihres Hauptwerks, des - leider unvollendet gebliebenen dreibändig angelegten Lehrbuchs der Kriminologie7. Es ist - wie im Vorwort ausdrücklich hervorgehoben8 - „von einem streng juristischen Standpunkt aus konzipiert" und hat „als Zielpunkt die Frage nach dem ' A . a . O . , S.79. 7 Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971; Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1977. 8 Bd. I, S. 14.

Hilde Kaufmann - Leben und Werk

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Reaktionssystem gewählt", denn „die Kenntnis der Entstehungszusammenhänge ist die notwendige Voraussetzung für die Frage der Rechtsfolgen". Das Wissen um die Wirkungen des Vollzugs, Erkenntnisse über „Behandlungs- und Resozialisierungsmöglichkeiten samt den zugehörigen Problemen der Persönlichkeitsdiagnostik" werden als weitere wesentliche Voraussetzungen für eine adäquate Ausgestaltung des Rechtsfolgensystems genannt und sind damit ebenfalls thematischer Inhalt einer „juristischen Kriminologie", die - dies wird spätestens hier deutlich - trotz ihrer begrenzten Zielsetzung die ganze Breite des Faches in sich aufnimmt. Die so verstandene juristische Kriminologie bleibt auch eine interdisziplinäre Wissenschaft. Denn mit rein juristischen Mitteln sind die angesprochenen Themen nicht zu bearbeiten, sie „erfordern vielmehr jeweils einen bestimmten Ausschnitt einiger bestimmter Wissenschaften vom Menschen, nämlich der Psychologie, Soziologie und Psychiatrie, die mit dem juristischen Denken zu integrieren sind zu interdisziplinären Methoden" 9 . In der Sache vertritt Hilde Kaufmann nach alledem mit ihrem Konzept der „juristischen Kriminologie" keine extreme Position. Sie setzt sich freilich in einem wesentlichen Punkt von der in der deutschen Kriminologie wohl vorherrschenden Auffassung vom Selbstverständnis des Faches ab: Sie sieht die Kriminologie nicht als eine über den Einzeldisziplinen stehende selbständige Wissenschaft10, für sie gibt es „nicht ,die Kriminologie', sondern viele methodenbewußte Zugänge zu dem ganzen Bereich der Kriminalität"11. Deshalb soll „jede über die strafrechtsorientierte Kriminologie hinausgehende Beschäftigung mit dem Verbrechen und den Verbrechern als Teil der jeweils kompetenten Disziplinen erkannt werden, damit sie nicht mehr einer undurchführbaren ,Superdisziplin' namens Kriminologie' zugemutet werden"12. Diese Anbindung der Kriminologie an einzelne „Grund"-Disziplinen bedeutet freilich keine Unterwerfung unter einen autoritären Führungsanspruch, keine Abhängigkeit von vorgefaßten Strukturen, keine Fixierung an eine positivistische Grundhaltung. Sie geht offen und unvoreingenommen - und in Methode und Zielsetzung auch durchaus eigenständig - jenen Fragen nach, die sich aus der Perspektive der jeweiligen Disziplinen für die Aufhellung des Phänomens Verbrechen und VerbreA . a . O . , S.79. Vgl. dazu Göppinger, Kriminologie4, 1980, S. 7 ff; Kaiser, Kriminologie 1980, §1 Rdn.45, § 4 Rdn. 15; Eisenberg, Kriminologie2 1985, § 1 Rdn. 15 ff; Schneider, Kriminologie2 1977, S. 22ff; Herren, Lehrbuch der Kriminologie Bd.I, 1979, S. 12; Mannheim, Vergleichende Kriminologie Bd.I, 1974, S. 19ff. 11 J Z 1972, S. 81. 12 JZ 1972, S. 80. 9

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eher stellen. Die Befürchtung, das Konzept einer „juristischen Kriminologie" diene der Legitimation des geltenden Strafrechts und verfestige die ihm zugrundeliegenden Herrschaftsstrukturen, findet in der Ausprägung, die Hilde Kaufmann ihm gegeben hat, keine Stütze. Man mag einem solchen Konzept aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen die Gefolgschaft versagen. Seine Ergiebigkeit für die Orientierung kriminologischer Forschung, sein innovatorischer Nutzen für die Konstruktion von (Strafrechts-)Wirklichkeit aber wird sich kaum bestreiten lassen. IV. Die Position einer juristischen - oder präziser: einer strafrechtsorientierten - Kriminologie konfrontierte Hilde Kaufmann auch sehr früh mit der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von Kriminologie und Strafrecht. Sind beide überhaupt in eine fruchtbare Beziehung zu bringen oder erweisen sich die Ausgangspunkte als so gegensätzlich, daß ein Brückenschlag nicht möglich ist? Schon in der Antrittsvorlesung wird die Problematik zwar als Frage, aber doch in aller Schärfe thematisiert. Sie lautet: Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? U n d : Was läßt das Strafrecht von der Kriminologie übrig? Die Antwort folgt für Hilde Kaufmann aus der Klärung einer weiteren Frage: der nach dem Menschenbild, von dem die jeweilige Disziplin ausgeht. Diese Frage nach dem Menschenbild des Strafrechts und der Kriminologie ist ein Thema, das Hilde Kaufmann auch später immer wieder beschäftigt hat. Es ist Gegenstand einer Reihe unveröffentlichter Vorträge und es ist auch in ihrer letzten Veröffentlichung noch einmal Anlaß des Nachdenkens, wobei die Antwort sogar die Bedeutung einer die fachlichen Grenzen übersteigenden allgemeinen Orientierungshilfe für den Studierenden gewinnt 13 . Die Formulierung der möglichen Konsequenzen zeigt zugleich den Rang, den die Klärung dieser Frage einnimmt. Wenn die Ergebnisse kriminologischer Forschung zu der Erkenntnis zwingen, daß „der Mensch nur unter dem naturwissenschaftlichen Kausalgesetz steht, ist ein Strafrecht im Vollsinne dieses Wortes, ein klassisches Strafrecht im Sinne des Schuldstrafrechts unvollziehbar" 14 , denn es geht aus von der möglichen Selbststeuerung des Menschen. Die umfassende Analyse kriminologischer Erkenntnisse und Aussagen zur Determiniertheit oder Verantwortlichkeit des Menschen macht deutlich, daß dies nicht so ist. Ihr Ertrag ist die Einsicht, „daß menschliches Handeln und damit auch menschliches Verbrechen nicht die zwangsläufige Folge von Ursachen ist, die in Anlage und Umwelt zu 13 14

MschrKrim. 1980, S. 379 ff, 381 ff. JZ 1962, S. 193.

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finden sind", sondern, „daß der Mensch ein zur Verantwortung fähiges und zur Verantwortlichkeit aufgerufenes Wesen ist". Mit dieser Anerkennung der Verantwortlichkeit des Menschen „respektiert die Kriminologie auch die Basis eines echten Strafrechts, nämlich die Schuld"15. Das Verhältnis von Strafrecht und Kriminologie ist damit nicht das eines unversöhnlichen Gegensatzes, sondern eines sich gegenseitig befruchtenden, wenn auch spannungsgeladenen Nebeneinanders. Diese harmonisierende Sichtweise verschließt sich nicht der Erkenntnis, daß beide Disziplinen in ihrem Kern durchaus von unterschiedlichen Menschenbildern ausgehen. Aber dies ist - erkennt man nur deren Modellcharakter - durchaus legitim und für die Zuordnung beider Disziplinen zueinander fruchtbar 16 . Das Aufdecken von Gesetzmäßigkeiten, die an der Entstehung kriminellen Verhaltens mitwirken, ermöglicht zum einen die Begrenzung und Abstufung der Verantwortungsgröße des einzelnen Menschen, ihre Kenntnis ist aber auch unverzichtbar für den Einsatz der Rechtsfolgen und für die Durchführung individueller Behandlung. - Damit gewinnt das Programm der „juristischen Kriminologie" Hilde Kaufmanns auch aus dieser Perspektive schon sehr früh feste Konturen. V. Schon bald nach der Habilitation übernahm Hilde Kaufmann mit der Emeritierung Hellmuth von Webers die Leitung des Kriminologischen Seminars. Daß sie 4 weitere Jahre an der Bonner Juristischen Fakultät lehrte, zunächst als Dozentin und später als außerplanmäßige Professorin, hatte neben den günstigen fachlichen Voraussetzungen auch einen ganz persönlichen Grund: die Heirat mit Armin Kaufmann und der Aufbau des gemeinsamen Hauses im nahegelegenen Bad Honnef. Nach dem frühen Tod des ersten Mannes, der im Krieg gefallen war, war die Gründung einer Familie die Erfüllung eines tiefgehegten Wunsches. Der Lebensabschnitt, in den die Bonner Jahre fielen, war auch aus diesem Grunde eine ausgesprochen glückliche und erfüllte Zeit. Anfragen nach der Bereitschaft zur Übernahme eines auswärtigen Lehrstuhls stießen daher zunächst auf entschiedenes Zögern. N u r schwer machte Hilde Kaufmann sich mit dem Gedanken vertraut, daß sie sich einem Ruf an eine andere Universität nicht auf Dauer würde entziehen können, wenn sie langfristig in einem personell und sachlich angemessenen Rahmen forschen und arbeiten wollte. Als ihr 1966 die Nachfolge auf den Lehrstuhl Hellmuth Mayers an der Universität Kiel angetragen wurde, 15 16

JZ 1962, S. 196. MschrKrim. 1980, S.382.

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folgte sie dem Ruf nicht leichten Herzens, aber doch in klarer Entscheidung für die wissenschaftliche Aufgabe, der sie sich verpflichtet fühlte. Der wissenschaftliche Ertrag der Bonner Jahre waren wichtige Beiträge zu einer Reihe unterschiedlicher Themen, sämtlich eingebettet in den Kontext der „juristischen Kriminologie": So die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem durch Gramatica vertretenen radikalen Flügel der Défense sociale, die als Reformbewegung vor allem im europäischen Ausland zunehmend Einfluß gewann und in letzter Konsequenz das System eines Schuldstrafrechts in Frage stellen mußte17. In einer sorgfältigen Analyse der wichtigsten Aussagen deckt Hilde Kaufmann die Widersprüche und Friktionen im System Gramaticas auf und macht die Schwächen deutlich, die es als Alternative zum Schuldstrafrecht unvollziehbar machen. Sie verweist jedoch nicht weniger nachhaltig auf dogmatisch nicht bewältigte Probleme des geltenden Schuldstrafrechts und seiner praktischen Verwirklichung, vor allem bei der Schuldgrößenbestimmung, die in dieser Analyse erkennbar werden. Sie zwingen zu einer stärkeren Berücksichtigung spezialpräventiver Aspekte bei der Auswahl der Strafart und bei der Bemessung der konkreten Strafe, um auf diese Weise „die nachteiligen Wirkungen etwaiger falscher Schuldgrößenbestimmung aufzufangen"18. Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung sieht Hilde Kaufmann im verstärkten Ausbau ambulanter Behandlungsformen, insbesondere in der Erweiterung der rechtlichen Möglichkeiten und der faktischen Ausgestaltung des Instituts der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser Frage geht sie in einem gesonderten Beitrag nach: In einem Vergleich mit der englischen Aussetzungspraxis führt sie den Nachweis, daß eine derartige Erweiterung ohne Schaden für die Geltungskraft der Strafrechtsordnung möglich und praktikabel ist19. Der deutsche Gesetzgeber ist dieser Forderung immerhin ein Stück weit gefolgt20; daß das Anliegen nach wie vor aktuell ist, zeigt die Diskussion der Gegenwart21.

17 Gramaticas System der Difesa Sociale, in: H.Welzel u.a. (Hrsg.), Festschrift f. Hellmuth v. Weber, Bonn 1963, S. 418-444. 18 A.a.O., S.444. " Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt bleiben auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? in: H.Kaufmann u.a. (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Grünhut, Marburg 1965, S. 61-91. 20 Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969, BGBl. 1969 I, S.645. 21 Bietz, ZRP 1977, S.62ff; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 143 ff (176ff); Roxin, JA 1980, S. 545 ff (550 f); Feltes, Strafaussetzung zur Bewährung bei freiheitsentziehenden Strafen von mehr als einem Jahr, Heidelberg 1982, S. 43 ff; Dünkel, ZStW 95 (1983), S. 1037 ff (1072ff); ferner: Gesetzentwurf des Landes NRW, BR-Drucksache 533/82, Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, BT-Drucksache 10/1116; Gesetzesbeschluß des Deutschen Bundestages vom 5.12.1985, BR-Drucksache 5/86.

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Ein monographischer Beitrag schließlich widmet sich Fragen der Jugendkriminalität22. Dem statistisch abgeleiteten Bild eines kontinuierlichen Anstiegs stellt Hilde Kaufmann die These gegenüber, es zeige sich darin möglicherweise eine bloße Vorverlagerung krimineller Aktivitäten vom Heranwachsenden in das Jugendalter: Das Gros der Jugendlichen absolviere die kriminelle Phase schneller und intensiver und begehe dafür in den anschließenden Altersstufen weniger Taten. Zumindest im Bereich der einfachen Vermögensdelikte finden sich für diese These zahlreiche Anhaltspunkte, so daß die Annahme eines echten Anstiegs der Jugendkriminalität jedenfalls wissenschaftlich nicht gesichert sei, Aussagen über Verlauf und Entwicklungstendenzen vielmehr weiterer Einzeluntersuchungen bedürften, ehe kriminalpolitische Folgerungen etwa mit dem Ziel einer Verschärfung der Sanktionen gezogen werden können. Auch wenn die These der Ablaufverschiebung in der Literatur mit Zurückhaltung aufgenommen wurde und vertiefte Untersuchungen nicht ausgelöst hat, so zeigen neuere statistische Untersuchungen zur Jugendkriminalität23, Kohortenstudien24 sowie die breite Erörterung von Diversionsstrategien25 die anhaltende Aktualität der Fragestellung. Was darüber hinaus beeindruckt an diesen Untersuchungen - das akribische Sammeln von Daten, die wägende Besonnenheit, mit der Interpretationen erfolgen und Schlußfolgerungen gezogen werden - , ist bezeichnend für die Arbeitsweise Hilde Kaufmanns. Allen extremen Positionen abhold, allen vorschnellen Festlegungen abgeneigt, kennzeichnet sie sich selbst als einen sog. „konservativen Wissenschaftler", „weil ich zutiefst davon durchdrungen bin, daß das sorgsame Reflektieren tradierter Wissensbestände in Verbindung mit wohlerwogenen Schritten zur Weiterentwicklung der schnellste Weg zum Fortschritt ist"26. An dieser Grundüberzeugung hat sie unbeirrt festgehalten, niemals dem raschen Erfolg oder der gefälligen Geste Raum gebend. Qualität, nicht Quantität sollte der Ertrag ihrer wissenschaftlichen Arbeit sein.

Steigt die Jugendkriminalität wirklich? Bonn 1965. Albrecht, Jugendkriminalität im Zerrbild der Statistik, München 1979; Kaiser, Jugendkriminalität, 3. Aufl., Weinheim und Basel 1982, S. 80 ff; Villmow und Stephan, Jugendkriminalität in einer Gemeinde, Freiburg 1983. 24 Wolfgang et al., Delinquency in a birth cohort, The University of Chicago 1972; Kaiser, Jugendkriminalität, S. 145 ff; Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, Jugendkriminalität und Jugendgefährdung, Düsseldorf 1982, S. 132 ff. 25 Walter, ZStW 95 (1983), S.32; Herrmann, ZStW 96 (1984), S.455; Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S.485; Schaffstein, in: Festschrift f. fescheck, 2. Halbband, Berlin 1985, S. 937. 26 MschrKrim. 1978, S.266. 22 23

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Der Wechsel nach Kiel und die Übernahme des ersten Lehrstuhls markieren zugleich den Beginn der Arbeit an Hilde Kaufmanns eigentlichem Lebenswerk: ihrer auf 3 Bände angelegten Kriminologie. Die Konzeption war lange gereift, forderte jedoch neben dem umfangreichen, Strafrecht und Strafprozeßrecht einschließenden Lehrprogramm ihre ganze Energie: Die Darstellung der Entstehungszusammenhänge kriminellen Verhaltens - Thematik des ersten Bandes - sollte nicht nur eine Sammlung und kritische Würdigung des Forschungsstandes der deutschen und internationalen Kriminologie beinhalten - schon dies bedeutete eine immense Arbeit. Hilde Kaufmann war davon überzeugt, daß sich das Verständnis für die kriminologischen Zusammenhänge nur demjenigen erschließt, der auch mit den wichtigsten Erkenntnissen der sog. Grundlagendisziplinen vertraut ist. Und da der Hauptadressat dieses Lehrbuchs der strafrechtlich orientierte Jurist sein sollte, war es eines ihrer wichtigsten Anliegen, ihm die Grundzüge jener Disziplinen zu vermitteln. Dies bedeutete für sie selbst eine intensive Beschäftigung mit dem Wissensstand und der Methodik der Psychiatrie, der Psychologie und der Soziologie, deren unterschiedlichen Schulen und divergierenden Richtungen. Der Ertrag dieser Arbeit zeigt erneut Hilde Kaufmanns ungewöhnliche Fähigkeit, sich in einer dem Juristen fremden Materie zurechtzufinden, komplexe Zusammenhänge durchsichtig zu machen und die wesentlichen Inhalte des jeweiligen Fachs in konzentrierter Form dem Verständnis des interessierten Lesers nahezubringen. Nicht zuletzt dieser, mehr als die Hälfte umfassende Teil gibt dem Lehrbuch seinen hohen Wert und sichert ihm seine bleibende Bedeutung. Wieviel Kraft diese Arbeit gekostet hat, mag man unter anderem daran ermessen, daß ihre Fertigstellung zum Ende hin immer wieder durch Krankheitsperioden unterbrochen werden mußte; Hilde Kaufmann überwand sie durch zähes Aufbäumen und mit eisernem Willen. 1970 folgt Hilde Kaufmann einem Ruf an die Albertus-Magnus Universität zu Köln. Neue Pläne zu wissenschaftlicher Arbeit finden ihren institutionellen Rahmen in der Gründung der „Kriminologischen Forschungsstelle des Kriminalwissenschaftlichen Instituts". In interdisziplinärer Besetzung soll vor allem die Sanktions- und Behandlungsforschung aktiviert werden, die in den 60er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend vernachlässigt wurde. Freilich ging es Hilde Kaufmann - ganz in der Konsequenz ihres Konzepts einer juristischen Kriminologie - nicht nur und nicht in erster Linie um Behandlung im „engeren", medizinischen oder therapeutischen Sinne, sondern ihr Verständnis von Behandlung umfaßte den verfahrensmäßigen Zugriff auf den Straftäter ebenso wie den Vorgang der Rechtsfolgenbestimmung. Die erste monographische Untersuchung der Kölner Forschungsstelle ist deshalb auch dem Thema „Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren"

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gewidmet27. In ihr werden Wege aufgezeigt und praktisch erprobt, die mit relativ geringem und prozeßökonomisch vertretbarem Aufwand zu einer besseren Diagnostik und darauf aufbauend zu einer wirkungsvolleren Rechtsfolgenbestimmung führen. Und einem ähnlichen Anliegen gilt eine weitere Untersuchung, die aus der Forschungsstelle hervorgeht: sie fragt nach Möglichkeiten, wie Richter oder Staatsanwalt in prozeßökonomisch vertretbarer Weise aus der Vielzahl der jugendlichen Täter jene Problemfälle herausfiltern können, die einer näheren Begutachtung zugeführt werden sollten. Die Untersuchung belegt, daß dies mit Hilfe der in statistischen Verfahren entwickelten Prognosetafeln ohne weiteres gelingt. Sie ermöglichen die Erfassung des stärker belasteten Täterkreises, für den dann nach einer klinischen Untersuchung mit Hilfe von Sachverständigen die „richtige" Rechtsfolge (oder auch: die richtige „Behandlung") wesentlich präziser bestimmt werden kann28. Deutlich zeigt sich in diesen Arbeiten das Bemühen, wissenschaftliche Erkenntnisse unmittelbar für die Praxis fruchtbar zu machen, ein Anliegen, das Hilde Kaufmann in den Kölner Jahren noch intensiver verfolgte als zuvor: Das reformerische Potential kriminologischen Wissens mußte sich nicht erst auf dem langen Weg von Gesetzesänderungen entfalten; nicht weniger bedeutsam und auch nicht weniger effektiv war es, in die Nischen einzudringen und die Spielräume auszufüllen, die das geltende Recht enthielt. Dazu war die Durchführung von Untersuchungen und die Publikation ihrer Ergebnisse noch nicht genug. Hilde Kaufmann hat viel Zeit darauf verwandt, in der unmittelbaren Begegnung mit Staatsanwälten, Richtern und - in den letzten Jahren mit besonderer Energie - in zahllosen Gesprächen und Fortbildungsveranstaltungen mit Bediensteten des Strafvollzugs die gewonnenen Erkenntnisse weiterzugeben und gezielte Impulse für die praktische Arbeit zu vermitteln. Nicht weniger wichtig war ihr dabei, in eigener Anschauung die Bedürfnisse der Praxis kennenzulernen und daraus Anregungen für ihre wissenschaftliche Arbeit zu gewinnen. Die enge Verflochtenheit von Wissenschaft und Praxis und der hohe Stellenwert, den diese Sichtweise in Hilde Kaufmanns Arbeit einnahm, spiegelt auch die Weiterarbeit an ihrem Lehrbuch wider - der letzten, drei Jahre vor ihrem Tod erschienenen monographischen Arbeit und damit wohl der Krönung ihres Lebenswerks. Von der ursprünglichen Konzeption abweichend widmet sich dieser Band nicht den wissenschaftstheoretischen Fragen der Kriminologie, sondern behandelt mit

Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren, München 1975. Jugendstrafrechtsreform de lege lata? in: Stratenwerth u.a. (Hrsg.), Festschrift f. Hans Welzel, Berlin 1974, S. 897-915. 27 28

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Strafvollzug und Sozialtherapie29 ein Teilgebiet der Kriminologie, das die Behandlung des Straffälligen zum Gegenstand hat und sich auch in seiner thematischen Ausrichtung gezielt an den Bedürfnissen der „an der Strafrechtspflege beteiligten Personen" orientiert, „die kraft ihrer Ausbildung keinen leichten Zugang zu empirischen Disziplinen haben, jedoch spüren, daß ihre Ausbildung . . . ein Informationsdefizit . . . hinterlassen hat, das sie füllen möchten und müssen"30. Deshalb auch verzichtet sie auf eine umfassende Darstellung aller relevanten Problemfelder des Strafvollzugs, schreibt kein „Lehrbuch des Strafvollzugs" im traditionellen Sinne, sondern greift Themen auf, die ihr im Blick auf die genannte Zielgruppe als besonders bedeutsam erscheinen: Unter dem Leitgedanken der Realisierung eines auf empirische Erkenntnisse gestützten Behandlungsvollzugs sind dies Fragen der Vollzugsorganisation, der Persönlichkeitsbeurteilung beim Gefangenen und der Ermöglichung therapeutischer Hilfen. Das dazu jeweils vorliegende empirische Wissen macht die Notwendigkeit legislatorischer Reformen deutlich, fordert aber auch von den Akteuren des Vollzugs Einstellungs- und Verhaltensänderungen, die unmittelbare Auswirkungen auf das Vollzugsklima haben und so dem Behandlungsgedanken neue Impulse zu geben vermögen. Diese Akzentuierung des Behandlungsgedankens, der zweifellos im Zentrum des Vollzugskonzepts Hilde Kaufmanns steht, bedeutet freilich nicht dessen Verabsolutierung: Er hat weder für alle Straftäter dieselbe Bedeutung noch macht er andere Anstrengungen zur Veränderung von - auch gesamtgesellschaftlichen - Bedingungen des Kriminellwerdens entbehrlich31, er ist auch nicht die Konsequenz eines Standpunktes, der eine einseitig persönlichkeitsorientierte Kriminalitätstheorie favorisiert32. Er ist nicht mehr als die nüchterne und pragmatische Folgerung aus der Einsicht, daß das Gros der Insassen unserer Vollzugsanstalten im Verlauf des Sozialisationsprozesses eine so gravierende Fülle von Schädigungen erfahren hat, daß das soziale Zusammenleben auf der Basis der Einhaltung der elementaren Normen der Gesellschaft nicht gelingt. Diesen Probandenkreis hat Hilde Kaufmann im Blick und für seine Wiedereingliederung sieht sie nur eine wirkliche Chance: einen Behandlungsvollzug, der anzureichern und weiterzuentwickeln ist durch den verstärkten Einsatz spezifisch therapeutischer Methoden und der für einen gar nicht geringen Teil von Tätern als sozialtherapeutische Institution seine effektivste Gestaltungsform 29

1977. 30

Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz

S.ll.

" Kriminologie III, S.69, 159. 32 A . a . O . , S. 158f.

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erreicht33. Klar und entschieden stellte sie sich mit dieser Konzeption auch gegen jene Richtung innerhalb der Vollzugswissenschaft, die eine Abkehr vom Behandlungsgedanken propagiert und die die Forderung nach einem weiteren Ausbau des therapeutischen Potentials als Ausfluß einer imaginären Behandlungsideologie diskreditiert34. Getragen wird das Konzept auch vom Gedanken einer stärkeren Humanisierung des Strafvollzugs. Sie ergibt sich als Postulat eines richtig verstandenen Gerechtigkeitsbegriffs und bildet die unverzichtbare Basis für einen echten Behandlungsvollzug35. VI. Das weit über die wissenschaftliche Beschäftigung hinausgehende Engagement für die Probleme des Strafvollzugs führte Hilde Kaufmann in den Kölner Jahren auch zu einer Intensivierung ihrer internationalen Kontakte. Vortragsreisen führten sie nach Spanien und Polen, eine besonders tiefe Verbindung entstand zu den Ländern Lateinamerikas. Auf einer Studienreise durch Venezuela Ende der 60er Jahre hatte sie erstmals unmittelbar die großen sozialen Probleme eines Entwicklungslandes kennengelernt und war bei Gefängnisbesuchen auf bedrückende, menschenunwürdige Zustände gestoßen. Es zeugt von ihrem ausgeprägten sozialen Verantwortungsgefühl, aber auch von ihrer tiefen Menschlichkeit, daß sie sich sogleich mit Entschiedenheit an die Seite jener kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern stellte, die sich mit bescheidenen Mitteln, aber hohem persönlichem Einsatz um Reformen bemühten. Ihrer Unterstützung und Förderung widmete sie in den folgenden Jahren einen wesentlichen Teil ihrer Kraft. Sie unterhielt rege wissenschaftliche Kontakte vor allem zum Centro Internacional de Investigación Para Las Ciencias Penales in Buenos Aires. Zahlreichen jungen Wissenschaftlern und Doktoranden verhalf sie zu Studienaufenthalten in der Bundesrepublik Deutschland, bevorzugt auch an ihrer Forschungsstelle; sie regte zum Zwecke der Rechtsvergleichung Untersuchungen über Strafvollzug und Strafverfahren in Lateinamerika an und vermittelte den Austausch wissenschaftlicher Werke. In den Jahren 1975 bis 1977 war sie wiederholt zu Vortrags- und Seminarveranstaltungen in A . a . O . , S.90, 152, 208. Vgl. zur Kritik am Behandlungsgedanken Peters/Peters, KrimJ 1970, S. 114; Hohmeier, Die Strafvollzugsanstalt als Organisation, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die Strafvollzugsreform, Karlsruhe 1971, S. 125 ff (127); Feest, in: AK StVollzG, Neuwied u. Darmstadt 1980, vor § 2 Rdn. 7ff; Schneider, Behandlung in Freiheit - Alternativen zum Freiheitsentzug in Strafanstalten, in: Alternativen zu kurzen Freiheitsstrafen, Diessenhofen 1979, S.37ff (41 ff). 35 S. 90. 35

5,1

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Argentinien, Kolumbien, Chile und Venezuela, suchte dabei auch das Gespräch mit staatlichen Stellen, wurde Mitglied des Internationalen Beirats zweiter angesehener spanischsprachiger Zeitschriften, der „Doctrina Penal", die sie mit begründete, und der „Nuevo Pensamiento Penal"; sie verfaßte mehrere Aufsätze in spanischer Sprache zu strafrechtlichen und kriminologischen Themen und gab schließlich in dem wohl renommiertesten Verlag Argentiniens mit der „Biblioteca de Ciencias Penales" eine eigene strafrechtswissenschaftlich-kriminologische Reihe heraus. Daß Band 3 ihrer „Kriminologie" in spanischer Übersetzung erscheinen konnte, desgleichen die Untersuchung über „Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren" zeigt die hohe Wertschätzung, die ihrer Arbeit in Lateinamerika zuteil wurde. Wie viel sie darüber hinaus an persönlicher Hilfe geleistet hat, nicht selten durch entschlossenen und mutigen Einsatz in politischer Bedrängnis, ist meist nur den unmittelbar Betroffenen bekannt geworden. Zuneigung und Freundschaft, die sie durch diese Kontakte in reichem Maße erfahren durfte, waren ihr Dank genug. VII. Eine erschöpfende Würdigung der Person und des Wirkens Hilde Kaufmanns hätte noch viele Nuancen aufzunehmen: ihre Mitarbeit in Gutachtergremien, ihr Einsatz als Vertrauensdozentin des CusanusWerkes, ihre Tätigkeit in der Humboldt-Stiftung, ihr Wirken als Dekanin der Juristischen Fakultät zu Köln. Sie hätte vor allem das große Engagement als akademische Lehrerin hervorzuheben, in dem sie mit durchaus leidenschaftlicher Strenge ihre Hörer zu kritischem Denken herausforderte und zu persönlicher Leistungsbereitschaft anspornte. Daß sie dabei stets ein offenes Ohr für die privaten und beruflichen Sorgen ihrer Studenten hatte und daß sie vielen mit Rat und Unterstützung weiterhalf, war ihr selbstverständlich; sie hat davon kein Aufheben gemacht. Mitarbeiter, Freunde und Kollegen fanden in ihr zu jeder Zeit eine geduldig zuhörende und anregende Gesprächspartnerin und bei vielen Einladungen in ihr stets offenes Haus eine liebenswürdige Gastgeberin. Mit rührender Aufmerksamkeit umsorgte sie ihre zahlreichen Gäste aus dem Ausland, führte sie zu Sehenswürdigkeiten der Stadt und zeigte ihnen, meist selbst am Steuer ihres Autos, die Schönheit der Landschaft ringsum. In der Musik, im Klavier- und Orgelspiel, in der Beschäftigung mit kunstgeschichtlichen und theologischen Themen fand sie den Ausgleich für ihre Arbeit und gewann daraus auch einen Teil ihrer Kraft. Das tragende Fundament ihres Lebens jedoch war eine tiefe Gläubigkeit. Aus

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ihr schöpfte sie Mut und Zuversicht auch in schweren Stunden, sie gab ihrer Arbeit Sinn und sie war wohl auch der letzte Grund für ihre Menschlichkeit und ihre aufopfernde Bereitschaft zur Hingabe an andere. Hilde Kaufmann war ein Mensch der Tat. Sie hat immer etwas bewegen wollen, nicht durch kühne, aufsehenerregende Entwürfe, sondern durch zähes, geduldiges Arbeiten an den brüchigen Stellen unserer Strafrechtspflege. Der Bezugspunkt all ihrer Arbeit war der Mensch; ihm, dem in der Gesellschaft Gescheiterten sollte Gerechtigkeit widerfahren. Diesem Bemühen galt ihre wissenschaftliche Verpflichtung. Es ist das Vermächtnis ihres Lebens und Wirkens.

I. Kriminalpolitik und Strafrecntsreform

Implikationen der Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen im Bereich kriminologisch relevanten Verhaltens von Staatsführungen und ihren Organen U L R I C H EISENBERG

Im Oktober 1978 mahnte Hilde Kaufmann, Strafrechtsvergleichung solle auch Vergleich des Strafunrechts sein; diese wissenschaftliche Disziplin könne bezüglich zahlreicher lateinamerikanischer Länder nicht mehr nur im reinen Erkenntnisinteresse betrieben werden, sie müsse vielmehr die Bekämpfung krasser Unrechtsformen, die sich der Instrumente des Straf rechts bedienen, zum Zweck haben1. Gleichsam ergänzend wies sie im Februar 1979 darauf hin, daß moderne Diktaturen (Straf-)Verteidiger ihrer Funktion berauben oder sie gar physisch umbringen, wenn diese es wagen, sich um Regimegegner und politische Gefangene zu kümmern2. I. Einleitung

1.

Problemstellung

Diesen straf- und strafverfahrensrechtlichen Anregungen entspricht es, wenn die vergleichende Kriminologie sich innerhalb ihres Rahmens begrifflich-normativer Anknüpfung mit Fragen der Definition und Kontrolle gegenüber Verhalten von Staatsführungen (und ihren Organen) als mutmaßlichen - und gegebenenfalls terroristischen - Tätergemeinschaften befaßt. Für solche Tätergemeinschaften sind neben sonstigen Merkmalsausprägungen 3 insbesondere Formen der in totalitär oder autoritär verfaßten Staaten auch (verfassungs-)rechtlich begründeten Vereinheitlichung der staatlichen Gewalten kennzeichnend, die eine funktionelle

Vgl. den Bericht von Dörken ZStW 91 (1979), 835 (839). Vgl. den Bericht von Dörken ZStW 93 (1981), 309 (311). 3 Eisenberg, Kriminologie, 2. Auflage, 1985, §50 Rdn.21 ff sowie §44 Rdn. 13 ff; ders., Kriminologisch bedeutsames Verhalten von Staatsführungen und ihren Organen, MschrKrim. 1980, 217 (226 ff). Zu Funktionen der Tatbegehung s. auch Hess, Repressives Verbrechen, KrimJ 76, 1 ff. 1

2

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Ulrich Eisenberg

und personelle Identität der (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften mit den entscheidend an der innerstaatlichen Normsetzung und -durchsetzung Beteiligten bewirken. Dabei erlaubt es die Machtkonzentration den (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften, sich zum Zweck der Stabilisierung der Machtpositionen ihrer selbst oder der sie favorisierenden gesellschaftlichen Gruppen des strafrechtlichen Kontroll- und Sanktionensystems dergestalt zu bedienen, daß bestimmte Kategorien der Verletzung z.B. von Individualrechtsgütern als nach nationalem Recht rechtmäßige Ausübung von Funktionen im Rahmen der staatlichen Strafgewalten erscheinen können. Die genannte Funktionsausübung umfaßt zudem einen Tätigkeitsbereich, der durch einen ihm eigenen Mangel an Transparenz und öffentlicher Kontrolle die Entdeckungswahrscheinlichkeit illegaler Praktiken als nachhaltig reduziert ausweist; im übrigen verbleibt hinsichtlich solcher Verhaltensweisen, die allgemein nach nationalem Recht strafrechtlich sanktionsbedrohte Rechtsgutverletzungen darstellen, die Möglichkeit des gesetzlichen Verfolgungsausschlusses zugunsten der Staatsführungen (und ihrer Organe). Der Umstand, daß auch nach Uberwindung derartiger Herrschaftssysteme im nationalen Bereich Zurückhaltung in der Verfolgungs- und Stigmatisierungsbereitschaft zu verzeichnen ist, mag mit der geringen Geeignetheit dieses Verhaltensbereichs für die Funktion strafrechtlicher Erfassung im Sinne einer Stabilisierung der Sozialstruktur zusammenhängen4. Soweit die sozialstrukturellen Grundlagen eine solche Veränderung der Formen politischer Machtausübung überdauern, wäre eine erhöhte Bereitschaft zu strafrechtlicher Erfassung und Sanktionierung, die über eine individuelle Schuldzuweisung betreffend einzelne besonders exponierte Träger politischer Macht hinausginge, indem sie eine umfassende Ausschaltung von Rollenträgern des vormaligen Herrschaftssystems intendierte, disfunktional und daher kontraindiziert. 2. Thematische

Eingrenzung

In Anbetracht des Umfangs von Rechtsgewährleistungen durch internationale Vereinbarungen (s. teilweise ü. II. 2.), die mit der Garantie sowohl politischer Bürgerrechte5 als auch zunehmend wirtschaftlicher 4

S. Eisenberg

a.a.O. (Fn.3), 1985, §10.

Einerseits erscheint bei funktioneller Betrachtung der Phänomene und Zusammenhänge staatlich organisierten Terrors die Außerkraftsetzung politischer Bürgerrechte als seine regelmäßige, wenngleich nicht notwendige Bedingung, nicht aber stellt diese als solche i. S. herkömmlichen Verständnisses ein „crimen" dar. Andererseits mögen Einschränkungen insbesondere des Schutzes des persönlichen Geheimbereichs der Funktionalisierbarkeit (somit zugänglicher) einschlägiger „Erkenntnisse" zugunsten staatlicher Repression entsprechen, so daß eine gleichsam systematische Verletzung von Normen dieses Bereichs der Thematik zugehören würde, soweit internationale Vereinbarungen die Privatsphäre gegen Eingriffe hoheitlicher Gewalt schützen. s

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

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und sozialer Rechte über den Bereich derjenigen elementaren Existenzrechte hinausgreifen, die den Schutz des Strafrechts etwa europäischer Tradition genießen, stellt sich hinsichtlich der aufgezeigten Forschungsfragen freilich das Problem der thematischen Eingrenzung. Dabei läßt das Ausmaß des durch einschlägiges normwidriges Verhalten von Staatsführungen (und ihren Organen) verursachten unmittelbaren Schadens es als vordringlich erscheinen, die Erörterung (einstweilen) auf den Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit, persönlicher Sicherheit und deren strafverfahrensrechtliche Sicherungen gegenüber Verletzungen durch Staatsführungen (und ihre Organe) zu beschränken. Schon aus Raumgründen kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht auf die Ausgestaltung des kriegsvölkerrechtlichen Schutzes der genannten Rechtsgüter eingegangen werden. Normensysteme 3. Einzelne Das begrifflich-normative Zugangsproblem der einschlägigen kriminologischen Forschung bleibt, ein Normensystem zugrundezulegen, das geeignet ist, die in Rede stehenden Erscheinungsformen kriminologisch relevanten Verhaltens in diesem Bereich zu erfassen. Hierfür bieten sich Normensysteme Internationaler (einschließlich regional-internationaler) Organisationen in Form rechtsverbindlicher Vereinbarungen an, deren formuliertes Normziel der Schutz (auch) höchstpersönlicher Individualrechts güter vor kriminologisch relevanten Verletzungshandlungen ist, die von Staatsführungen (und ihren Organen) oder von Dritten begangen und von jenen geduldet werden. a) Als solche kommen auf internationaler Ebene namentlich in Betracht: - Der im Jahre 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (im folgenden: VN) angenommene, am 23. März 1976 in Kraft getretene Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte'' (im folgenden: „Pakt"), einschließlich des Fakultativprotokolls, mit dem formell-rechtlich unverbindliche7 Rechtsgarantien der im Jahre 1948 durch die VN proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (im folgenden: AEMR) erstmals in völkerrechtlich verbindliche Form gebracht wurden; Abgedruckt in BGBl. 1973 (II), S. 1534 ff. Zur Frage der Rechtsverbindlichkeit s. auch Bitker, The United States and International Codification of Human Rights: A Case of Split Personality, in: Kauf man Hevener, N. (Hrsg.): The Dynamics of Human Rights in U. S. Foreign Policy, 1981, S. 77ff (84 f), der unter Bezugnahme auf die Schlußakte der Internationalen Menschenrechtskonferenz in Teheran vom 22. April - 13. Mai 1968 sowie die Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975 die AEMR dem Völkergewohnheitsrecht zuordnet; s. auch Hinz, M. O., Das Recht der Apartheid - Internationales Unrecht, DuR 1986, S.68. 6 7

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- das am 7. März 1966 zur Unterzeichnung aufgelegte, am 12. März 1969 in Kraft getretene Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung' (im folgenden: „AntiRassendiskriminierungs-Konvention ") ; - das am 30. November 1973 von der Generalversammlung der VN angenommene, am 18. Juli 1976 in Kraft getretene Ubereinkommen zur Abschaffung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid,'' (im folgenden : „Anti-Apartheid-Konvention ") ; - die am 9. Dezember 1948 von der Generalversammlung der VN angenommene, am 12. Januar 1951 in Kraft getretene Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes10 (im folgenden: „AntiVölkermord-Konvention ") ; - die am 10. Dezember 1984 von der Generalversammlung der VN angenommene, jedoch noch nicht in Kraft getretene Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe" (im folgenden: „Anti-Folter-Konvention"). b) Auf regional-internationaler Ebene bestehen insoweit folgende Kodifikationen: - die am 22. November 1969 durch die inter-amerikanische Sonderkonferenz der Organisation Amerikanischer Staaten (im folgenden: CMS) in San José verabschiedete, am 18. Juli 1978 in Kraft getretene Amerikanische Menschenrechtskonvention12 (im folgenden: AMRK); - die am 4. November 1950 durch den Europarat in Rom verabschiedete, am 3. September 1953 in Kraft getretene Europäische Menschenrechtskonvention (im folgenden: EMRK)"; - die von den Mitgliedsstaaten der Organisation für Afrikanische Einheit (im folgenden: OAU) auf der 18. Gipfelkonferenz der OAU vom

Abgedruckt in BGBl. 1969 (II), S. 962 ff. Abgedruckt bei Brownlie, I. (Hrsg.): Basic Documents on Human Rights, 2. Aufl., 1981, S. 164 ff; s. auch u. Fn.33. 10 Abgedruckt bei Brownlie a. a. O. (Fn. 8), S. 31 ff. 11 United Nations A/RES/39/46 vom 17. Dezember 1984; zu den gegenwärtigen Plänen zur Ausarbeitung von „Anti-Folter-Konventionen" im regional-internationalen Rahmen s. Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes..., in: NJW 1985, S. 1756, 1759. 12 Abgedruckt bei Brownlie a.a.O. (Fn.9), S.391 ff. " S. auch den Entwurf einer Europäischen Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, abgedruckt in: EuGRZ 1984, S. 165 ff; zu den Motiven s. etwa: Parliamentary Assembly, 27th ordinary session, Second Part, Vol. V, Doc. 3668, Strasbourg, 1975; Parliamentary Assembly, Official Records of Debates, 32nd ordinary session, Third Part, Vol. Ill, Strasbourg 1981, S. 680 ff; Parliamentary Assembly, 35th ordinary session, Second Part, Vol. IV, Doc. 5123, Strasbourg 1983. 8

9

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

25

24.-28.Juli 1981 gebilligte und zur Unterschrift aufgelegte14, jedoch noch nicht in Kraft getretene Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und der Völker15 (im folgenden: Afrikanische Charta...). Demgegenüber besteht bislang für Asien eine vergleichbare Internationale Organisation nicht16.

II. Normsetzung 1. Implikationen

der

Normsetzungsprozesse

Der Prozeß der Normsetzung umfaßt bei formell-verfahrensgemäßer Betrachtung zwei rechtlich einander nachgeordnete, tatsächlich aber ineinander verschränkte Ebenen. Die Ausarbeitung der Kodifikationsentwürfe erfolgt durch die nach der Satzung der jeweiligen Organisation hierfür vorgesehenen Organe, die zuweilen17 ihre Formulierungsvorschläge bereits in einem frühen Stadium der Vorarbeiten den nationalen Regierungen zur Stellungnahme übermitteln; deren Entschließung obliegt es, nach Annahme des Entwurfes durch das zuständige Organ der Organisation, den Vertrag als verbindlich anzuerkennen 18 . Soweit der Eintritt der innerstaatlichen Rechtsverbindlichkeit eines Vertrages (zusätzlich) seine Ratifikation voraussetzt 19 , wirkt die nach der jeweiligen nationalen Verfassung für die Gesetzgebung zuständige Körperschaft an der Normsetzung mit (, die allerdings entsprechend den jeweiligen innerstaatlichen Gegebenheiten nicht selten gleichsam mit der staatlichen Exekutive identisch ist). a) Einfluß der jeweiligen

Staatsführungen

Die Ausarbeitung der Kodifikationsentwürfe und die Beschlußfassung über deren Annahme ist - unbeschadet gewisser Unterschiede in 14 S. hierzu Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes..., in: N J W 1982, S.478 (479). 15 Bezeichnung des Entwurfs: OAU-Dok. CAB/LEG/67/37 Rev. 5; s. hierzu Pansch, Über Menschenrechte, V N 1985, S. 166 (170); Mbaya, Menschenrechtskodifikation in Afrika, V N 1984, S.132. 16 S. aber zur Gründung einer Gesamtasiatischen Anwaltskammer mit der Zielsetzung der Überwachung der Menschenrechtssituation sowie zu den Bestrebungen im Rahmen der V N hinsichtlich einer entsprechenden regional-internationalen Einrichtung: Amnesty International (im folgenden: AI), Jahresbericht 1982, S. 233 f; s. zu der im September 1981 durch den (nicht-staatlichen) Internationalen Islamischen Rat verkündeten „Allgemeinen Islamischen Menschenrechtserklärung" sowie zu den Bestrebungen der Dritten Islamischen Gipfelkonferenz zur Errichtung eines Islamischen Gerichtshofes und zur Ausarbeitung eines Dokuments über Menschenrechte im Islam: AI, a. a. O., S. 401 f. 17 S. etwa Landerer, Capital Punishment as a Human Rights Issue before the United Nations, in: Revue de droit de l'homme, 1971, S. 511. 18 S. Art. 11 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969. " S. Art. 14 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969.

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der Zusammensetzung und Kompetenzverteilung innerhalb der verschiedenen Organisationen - gekennzeichnet durch eine Prädominanz der nationalen Exekutive20 einerseits und den Mangel an Repräsentation und Mitwirkung der Rechtssubjekte21 andererseits. Denn die Kompetenzregelungen der Organisationen ordnen die Aufgabe der Förderung des Menschenrechtsschutzes solchen Organen zu, die entweder mit Vertretern der nationalen Exekutive besetzt sind22 oder deren Zusammensetzung zumindest maßgeblich von den nationalen Regierungen

20 Vgl. dazu Wolski, S., Menschenrechtsschutz und Gewaltenteilung, unveröffentl. Manuskript, Berlin 1984, S. 10. 21 Dieser Terminus sei hier im Hinblick auf den vor allem unter dem Gesichtspunkt der Staatensouveränität geführten und fortdauernden Streit in der Völkerrechtslehre über die Eigenschaft von Individuen als Subjekte des Völkerrechts (s. etwa Bartsch, 25 Jahre Menschenrechtsschutz - eine Bilanz, EuR 79, 105 [108] m. w. N.) im untechnischen Sinne ausschließlich mit dem Inhalt gebraucht, daß die genannten Vereinbarungen jedenfalls den Schutzbereich der Rechtssphäre von Einzelpersonen definieren. 22 Zu diesen zählen nach der satzungsgemäßen Kompetenzverteilung sowohl die Organe der VN als auch das Ministerkomitee als Vertretungsorgan des Europarates. Gemäß Art.60 i.V.m. Art.55c, 62 Abs.2 der Charta der VN sind die für die Normsetzung in diesem Bereich zuständigen Organe: Die Generalversammlung des Wirtschafts- und Sozialrats, dessen Mitglieder, die Generalversammlung selbst (Art. 61 Abs. 1 der Charta der VN) sowie die vom WSR eingesetzte Menschenrechtskommission (s. Art. 68 der Charta der VN), die jeweils ausschließlich mit Vertretern der Regierungen der Mitgliedsstaaten der VN besetzt sind (s. auch Tarda, M. E., Human Rights - The International Petition System, Bd.I, 1979 [Part I, Section I.A.], S.3). Auf europäischer Ebene oblag unbeschadet der Vorarbeiten durch den Europakongreß und den internationalen Rechtsausschuß (s. Partsch, Die Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, ZfaöR 1953-54, S. 631 [633]) die Ausarbeitung des Entwurfes der EMRK entsprechend der Aufgabenverteilung nach Art. 15 Abs. a) i. V. m. Art. 3 der Satzung des Europarates dem mit den Außenministern der Mitgliedsstaaten oder deren Beauftragten (Art. 14 der Satzung des Europarates) besetzten Ministerkomitee und dem von diesem eingesetzten Ausschuß höherer Regierungsbeamter (s. auch Art. 17 der Satzung des Europarates); vgl. Partsch, a.a.O., S.649, unter Hinweis darauf, daß der Ausschuß der Regierungsvertreter der Konvention „im wesentlichen die Form (gab), in der sie später angenommen wurde". Zur Kompetenzverteilung innerhalb der OAU vgl. Art. XII ff, Art. II 1 e), Art. VIII ff der Charta der OAU (abgedruckt bei Peaslee, A.J., International Governmental Organization, Constitutional Documents, Bd.I, 3.Auflage, 1974, S. 1161 ff). Inwieweit eine nach innerstaatlichem Recht etwa gegebene parlamentarische Verantwortlichkeit der Vertreter der jeweiligen Staatsführung geeignet ist, eine wirksame Einflußnahme des Parlaments insbesondere auf das Abstimmungsverhalten der Regierungsvertreter zu gewährleisten, erscheint als wenig geklärt. Der Wirksamkeit von Erklärungen der Staatenvertreter im Rahmen von Entscheidungsprozessen der jeweiligen Organisation jedenfalls stehen derartige Gegebenheiten nicht entgegen (zum Problem der parlamentarischen Kontrolle der Staatenvertreter allgemein s. Seidl-Hohenveldern, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, 4. Auflage, 1984, Rdn. 1158 a, 1203 ff).

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

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b e s t i m m t i s t " . M i t einer gewissen A u s n a h m e hinsichtlich der

Inter-

a m e r i k a n i s c h e n J u r i s t e n k o m m i s s i o n der OAS24 OAS)

( A r t . 1 0 9 der C h a r t a d e r

sind w e d e r die O r g a n e der (übrigen) O r g a n i s a t i o n e n n o c h die

einzelnen S t a a t e n v e r t r e t e r z u einer Zusammenarbeit

mit oder

Konsulta-

tion v o n n i c h t - s t a a t l i c h e n O r g a n i s a t i o n e n z u m Z w e c k der E r m i t t l u n g der ( r e c h t s - ) t a t s ä c h l i c h e n G r u n d l a g e n des R e g e l u n g s g e g e n s t a n d e s v e r pflichtet 2 5 . S o w e i t seitens der O r g a n i s a t i o n e n o d e r einzelnen Staatenvert r e t e r eine K o o p e r a t i o n m i t n i c h t - s t a a t l i c h e n O r g a n i s a t i o n e n z u s t a n d e k o m m t , b e d ü r f e n die A u s w a h l v e r f a h r e n , n a c h denen diese O r g a n i s a t i o 23 Bezüglich der OAS zählen hierzu (entsprechend der satzungsgemäßen Kompetenzverteilung innerhalb der OAS) deren mit der Ausarbeitung der AMRK befaßte Organe: Die von der OAS-Konferenz in Mexiko-City im Jahre 1945 mit der Ausarbeitung der AMRK beauftragte Interamerikanische Juristenkommission (Art. 105 ff der Charta der OAS, abgedruckt bei Peaslee, a.a.O. [Fn.22], S. 1182ff) und die Interamerikanische Menschenrechtskommission (Art. 112 der Charta der OAS); zur Entstehungsgeschichte s. auch Kutzner, Die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969, J I R 1971, S. 274. Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Menschenrechtskommission erfolgt durch den aus Regierungsvertretern bestehenden Ständigen Rat der OAS (Art. 4 a. der Satzung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission [abgedruckt bei Peaslee, a.a.O. (Fn.22), S. 1207ff] i.V.m. den Art.51c., 68 und 78 der Charta der OAS) auf der Grundlage der von den Regierungen der Mitgliedsstaaten erstellten Kandidatenlisten. Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Juristenkommission erfolgt durch die Generalversammlung der OAS (Art. 107 i.V.m. Art. 52 ff der Charta der OAS) auf der Grundlage der von den Mitgliedsstaaten erstellten Kandidatenlisten (Art. 107 der Charta der OAS). 24 Dieser wird zugleich größtmögliche fachliche Autonomie eingeräumt. 25 Lediglich Art. 71 der Charta der VN sieht fakultativ „Abmachungen zwecks Konsultation mit nicht-staatlichen Organisationen" durch den WSR vor, „die sich mit Angelegenheiten seiner Zuständigkeit" befassen (s. hierzu auch Seidl-Hohenveldern, a. a. O. [Fn. 22], Rdn. 1230 a). - Für die USA wird allerdings berichtet, daß internationale nicht-staatliche Organisationen generell einer direkten Zusammenarbeit mit formell an der Normsetzung Beteiligten aus Furcht, für bestimmte außenpolitische Interessen der jeweiligen Regierung vereinnahmt zu werden, eher abgeneigt seien (s. Weissbrodt, The Influence of Interest Groups on the Development of United States Human Rights Policies, in: Kaufmann Hevener a.a.O. [Fn.7] S.229 [246]). Soweit nationale nicht-staatliche Organisationen hier eine Vermittlerrolle übernähmen, seien sie in der Regel weniger konfliktfähig und effektiv, da sie nur einen geringen Teil der Wählerschaft repräsentierten und es ihnen zuweilen auch an Sachkenntnis fehle (s. Weissbrodt, a. a. O., S. 245 f). Die Organe der VN setzen zuweilen ad hoc-Arbeitsgruppen mit bestimmten Ermittlungsaufträgen ein, ohne jedoch hierzu verpflichtet zu sein (s. etwa den Bericht der ad hoc-Arbeitsgruppe zu den Situationen in Südafrika, Namibia, Südrhodesien und den Gebieten unter portugiesischer Verwaltung aus Anlaß der Vorarbeit zur „Anti-Apartheid-Konvention", in: UN-Yearbook 27 [1973], S. 530 f). Zur Zusammenarbeit von Amnesty International mit diesen Arbeitsgruppen s. etwa AI, a.a.O. (Fn. 16), S.20f sowie S.233; vgl. auch AI, Jahresbericht 1981, S. 29 f. Zur Zusammenarbeit von Amnesty International mit den Organen regional-internationaler Organisationen s. AI, a.a.O. (1982) (Fn. 16), S. 141, 329f; a.a.O. (1981), S.31 (32-35).

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nen oder einzelne ihrer Berichte bestimmt werden, nicht der Offenlegung bzw. Begründung 26 . - Die unmittelbar oder mittelbar an der Normsetzung beteiligten potentiellen Normadressaten trifft weder eine Pflicht zur Wahrheitsermittlung und Beweisführung hinsichtlich der Geeignetheit der geplanten Regelungen gemessen am Normziel, noch obliegt ihnen eine BegründungspiXicht27. Es besteht z . B . auch keine Verpflichtung, Behauptungen einzelner Staatenvertreter hinsichtlich einer etwaigen Unverträglichkeit geplanter Regelungen mit kulturellen Normensystemen28 innerhalb der von ihnen vertretenen Staaten, die einer Implementation vor allem materiell-rechtlicher Einzelregelungen entgegenstehen könnten, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen; dies erscheint insbesondere deshalb inadäquat, weil sich nicht ausschließen läßt, daß im Falle rechtlicher oder auch nur tatsächlicher Gewaltenvereinheitlichung archaische kulturelle Normensysteme reaktiviert und im Sinne staatlicher Repression (erneut) funktionalisiert werden. Als maßgebliches Kriterium für die Auswahl von Regelungsproblemen, die Ausgestaltung materieller Rechtsgarantien und der Kontrollverfahren erscheint die Konsensfähigkeit bezogen auf die Vertreter der Staatsführungen der Mitgliedsstaaten der Organisationen, in der sich deren überwiegende, von der inneren rechtlichen Verfaßtheit der Einzelstaaten offenbar unabhängige Interessenkongruenz hinsichtlich der Sta-

26 Bezüglich des US-State Department s. Weissbrodt, a.a.O. (Fn.25), S.236f; betreffend die Bundesregierung vgl. etwa BT-Dr. 10/2778, S.3: „Für ihre eigenen Zwecke nutzt sie (die Bundesregierung, d. Verf.) die ihr jeweils zur Verfügung stehenden Informationsquellen". Auch die Regelung des Art. 109 der Charta der OAS enthält keine entsprechenden Auswahlkriterien. 27 So wurde etwa der vom Ministerkomitee des Europarats festgestellte Entwurf der Beratenden Versammlung (zu deren eingeschränkten Kompetenzen im Verhältnis zum Ministerkomitee s. Seidl-Hohenveldern, a.a.O. [Fn.22], Rdn. 1209f) ohne Begründung oder Erläuterung zugeleitet. Erbetene Erläuterungen wurden unter Hinweis auf die Verschwiegenheitspflicht betreffend die Beratungen des Ministerkomitees verweigert (so Partsch, a.a.O. [Fn.22], S.651). Vgl. auch Art. 21 der Satzung des Europarats: „a. Die Sitzungen des Ministerkomitees finden . . . statt (i) unter Ausschluß der Öffentlichkeit... b. Das Komitee bestimmt selbst, welche Mitteilungen über die nicht-öffentlichen Beratungen und über ihre Beschlüsse zu veröffentlichen sind..." 28 Vgl. zur Problematik schon bei nationaler (Straf-)Gesetzgebung Sumner, W. G.; Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usage, Manners, Customs, Mores, and Morals; New York 1959 (1906); Ball u. a.; Law and Social Change; Sumner Reconsidered; in: AJS 67 (1962); Noll, P„ Gesetzgebungslehre, Reinbek bei Hamburg 1973, 77; Hassemer, W.; Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, Reinbek bei Hamburg 1974, 67, 111; Eisenberg a.a.O. 1985 (Fn.3), §23 Rdn.4f.

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

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bilisierung innergesellschaftlicher Machtpositionen widerspiegeln29. Dabei entspricht es der Bereitschaft der Staatenvertreter, Regelungen i. S. eines Minimalkonsenses zu befürworten, daß „deren Interesse an Begründung und Ausgestaltung ihres Tätigkeitsbereiches mit den Interessen der Allgemeinheit um so weniger vereinbar ist, je mehr die Funktionen legaler wie illegaler Ausgestaltung des Tätigkeitsbereichs übereinstimmen" 30 ; im einzelnen mag eine Interessenparallelität in solchen Fällen bestehen, in denen der konzentrierten Durchsetzung ökonomischer Interessen gesellschaftlich privilegierter Gruppen ( z . B . westlicher Industrienationen) die repressive Funktionsausübung selbst mittels terroristischer Aktivitäten (z. B. in autoritär verfaßten Staaten der sogenannten Dritten Welt) jedenfalls nicht entgegensteht31. - Generell manifestiert sich insoweit zugleich die in der Interessendisparität zwischen den die Norminhalte bestimmenden Normadressaten einerseits und den an der Normsetzung nicht beteiligten Rechtssubjekten andererseits angelegte Möglichkeit verdeckter Diskrepanzen zwischen formulierten und tatsächlichen Normzielen. b) Verhältnis zwischen internationaler

und nationaler

Ebene

Die für den Eintritt der Rechtsverbindlichkeit entsprechender Vereinbarungen notwendigen Mitwirkungshandlungen auf nationaler Ebene eröffnen die Möglichkeit, zum Teil weitreichende Vorbehalte32 hinsichtlich bestimmter Einzelregelungen der Vereinbarungen zu erklären.

29 So auch Gössner, Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der Vereinten Nationen, in: DuR 1978, S. 267 mit dem Hinweis auf die für den tatsächlich gewährten Menschenrechtsschutz entscheidende Maßgeblichkeit der inneren rechtlichen Verfaßtheit der Einzelstaaten; s. auch Bartsch a. a. O. (Fn. 11), S. 1759 zur Position der Bundesregierung gegenüber den Plänen der Institutionalisierung einer Kontrollkommission im Rahmen der Vorarbeiten zur europäischen „Anti-Folter-Konvention"; s. insbesondere auch die Art.27ff der Afrikanischen Charta, in denen in gleichsam generalklauselartiger Form staatsbürgerliche Pflichten u. a. mit Bezug auf die Staatssicherheit (Art. 29 Abs. 3 der Afrikanischen Charta) normiert sind (kritisch auch Mbaya, a.a.O. [Fn. 15]); zur herrschaftsstabilisierenden Funktion einer „Pflichtenakzentuierung (,Verpflichtung') der Freiheitsrechte" (S. 547) aufgrund wertsystematischer Interpretation allgemein s. Denninger, Freiheitsordnung — Wertordnung - Pflichtordnung, JZ 1975, S. 545. 30 Wolski a. a. O. (Fn. 20), S. 8. 31 Vgl. auch die Antwort der Bundesregierung (BT-Dr. 10/2948) betr. Rüstungsexporte nach Peru: Bei der Entscheidung über die Erteilung einer Rüstungsexportgenehmigung berücksichtige die Bundesregierung auch „die Gesamtheit ihrer außen- und sicherheitspolitischen Interessen einschließlich ihrer Bündnisinteressen" (S. 3). 32 S. hierzu auch Gössner, a.a.O. (Fn.29), S.266 (268); unzulässig ist die Erklärung von Vorbehalten nur in den Grenzen des Art. 19 (a)-(c) der Wiener Konvention über das Recht der Verträge, insbesondere, wenn der Vorbehalt mit dem Gegenstand und Zweck des Vertrages nicht vereinbar ist. S. auch Kühner, Vorbehalte und auslegende Erklärungen zur Europäischen Menschenrechtskonvention, ZfaöR 1982, S. 58 (75 ff).

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Abgesehen davon, daß die Staaten keinem rechtlich begründeten Zwang zum Beitritt einer völkerrechtlichen Vereinbarung unterliegen, scheint zuweilen die Emphase, mit der Vertreter bestimmter Gesellschaftsverfassungen die Ausarbeitung entsprechender Kodifikationen befürworten und vorantreiben, im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bereitschaft zu stehen, diese Vereinbarungen (vorbehaltlos) zu ratifizieren". Auch insoweit erweisen sich die Möglichkeiten der Initiierung sozialen Wandels durch internationale Vereinbarungen im Sinne mittelbarer Einwirkung auf die nationale Gesetzgebung als gering. 2. Einzelne inhaltliche Konzeptionen

der

Normsetzung

Indem die im Unterschied zur AEMR mit dem Ziel völkerrechtlicher Verbindlichkeit geschaffenen Vereinbarungen die Schutzbereiche einzelner Rechte bestimmen, definieren sie zugleich den Bereich nicht normwidriger Rechtsgutverletzungen. Teilweise nehmen die Vereinbarungen auf Verletzungshandlungen Bezug, die nach nationalem Recht verschiedener Mitgliedsstaaten legal sind, wobei sie diese Beurteilung an verschiedene Voraussetzungen binden. Nicht selten finden insoweit generalklauselartige Formulierungen Anwendung, denen eine Bezugnahme auf das nationale Verfassungs- oder Gesetzesrecht der Beitrittsstaaten inhärent ist. a) Das Recht auf

Leben

In unterschiedlicher Ausprägung enthalten die genannten Vertragswerke die Gewährleistung des Rechts auf Leben34; zum Teil legen sie den Vertragsstaaten die Verpflichtung auf, das Recht auf Leben gesetzlich zu schützen35. Zugleich bestimmen die Vereinbarungen die Voraussetzungen, unter denen Tötungshandlungen nicht normwidrig sind; die Reich53 So haben etwa die U S A bislang keine der oben genannten Vereinbarungen der V N ratifiziert (vgl. Multilateral Treaties, desposited with the Secretary-General, Status as at 3 1 . D e c . 1984, N e w York 1985, S.91 f, 99f, 124, 148, 157). Zu den innenpolitisch begründeten Widerständen gegen die Ratifizierung der „Anti-Völkermord-Konvention" s. Bitker a. a. O . (Fn. 7), S. 88/89, und zu den vom US-State-Department betreffend den „Pakt" in Betracht gezogenen Vorbehalten, ders., S. 91 ff. Zu den möglichen Folgerungen aus einer unabhängig von der Ratifizierung z. B. der „Anti-Apartheid-Konvention" völkerrechtlich verbindlichen Qualifizierung der Apartheid als internationales Verbrechen s. aber Hinz, a. a. O . (Fn. 7). 34 Art. 6 Abs. 1 des „Pakts", Art. 4 Abs. 1 A M R K , Art. 2 Abs. 1 E M R K , Art. 4 S. 2 der Afrikanischen C h a r t a . . . s. auch Art. 5 (b) der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention", Art. II a. (i) der „Anti-Apartheid-Konvention", Art. II (a.) der „Anti-VölkermordKonvention"; vgl. auch Art. 3 A E M R . 35 Art. 6 Abs. 1 S.2 des „Pakts", Art. 4 Abs. 1 S.2 A M R K ; s. hierzu Finokaliotis, K.. Der Schutz des Rechts auf Leben im Völkerrecht nach dem Zweiten Weltkrieg, 1977, S. 49 ff m. w. Nachw.

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

31

weite dieser Voraussetzungen ergibt sich nicht zuletzt gemäß der Ausgestaltung des nationalen Rechts. Während Art. 2 Abs. 2 EMRK eine Enumeration der zum Teil weitreichenden 36 Rechtfertigungsgründe enthält, erklären der „Pakt" (Art. 6 Abs. 1 S.3), die AMRK (Art. 4 Abs. 1 S. 3) sowie die Afrikanische Charta (Art. 4 S. 3) in Form einer Generalklausel die „willkürliche" Tötung für unvereinbar mit der Rechtsgarantie. In Anbetracht der Unbestimmtheit des Begriffs könnte bezweifelt werden, ob mit dieser Formulierung eine Regelung getroffen worden ist, die von Staatsführungen und ihren Organen begangene oder von diesen geduldete Tötungshandlungen erfaßt37. Die „Anti-Apartheid-Konvention" (Art.IIa [i]) sowie die „Anti-Völkermord-Konvention " (Art. II a) kriminalisieren Tötungshandlungen, die sich zum Zwecke systematischer Unterdrückung gegen Angehörige rassischer Gruppen oder, in der Absicht, nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen zu vernichten, gegen Angehörige dieser Bevölkerungsgruppen richten. Schwierigkeiten mag hier im Einzelfall der Nachweis einer entsprechenden Systematik der Verfolgung bzw. des Vorhandenseins einer gegen Bevölkerungsgruppen gerichteten Vernichtungsabsicht bereiten. Keine der ursprünglichen Fassungen der genannten Vertragswerke enthält eine Erklärung zur Abschaffung der Todesstrafe 38 . Eine Ande-

36

S. hierzu Amnesty International, Die Todesstrafe, 1979, S. 33 f. Der Vorschlag, eine Enumeration der Rechtfertigungsgründe in die Regelung aufzunehmen (so etwa ein Antrag der Niederlande [UN, Official Records of the General Assembly, Twelfth Session [1957], Annexes [agenda item 33] - Doc. A/3764, S. 10f]), konnte sich während der Vorarbeiten zum „Pakt" nicht durchsetzen. Mit der Generalklausel sollte der „Eindruck" vermieden werden, es komme der Ausnahme größeres Gewicht zu als der Regel (s. UN, Official Records of the General Assembly, Tenth Session [1955], Annexes [agenda item 28] - Doc. A/2929, S.29f). Andererseits wurde eine Enumeration für „notwendigerweise unvollständig" gehalten (Doc. A/2929, a. a. O.). Dem entspricht es, daß der Sachverständigenausschuß des Europarats in einer vergleichenden Studie (Sachverständigenbericht - Probleme, die sich aus der Koexistenz der VN-Pakte über Menschenrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben, BT-Dr. 7/660, S. 43 ff) die Auffassung vertritt, „die Ausnahmen, die in (Art. 2 Abs. 2 der EMRK, d. Verf.) erwähnt werden, seien auch im Text des Pakts enthalten, da keine von ihnen als unberechtigt angesehen werden könnte" (Sachverständigenbericht, a. a. O., S. 52). 38 Die Vereinbarungen gehen vielmehr - zum Teil stillschweigend (Art. 4 der Afrikanischen C h a r t a . . . ) - von der Verhängung und Vollstreckung dieser Sanktion nach nationalem Recht aus. Art. 6 Abs. 2-6 des „Pakts"; Art. 4 Abs. 2-6 AMRK; s. aber auch Art. 6 Abs. 6 des „Pakts" sowie Art. 4 Abs. 3 AMRK. Während nach dem Wortlaut des „Pakts" die Frage der Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Todesstrafe in den Beitrittsländern offen und daher verschiedenen Auslegungen zugänglich ist (dagegen: AI, a. a. O . [Fn. 36], S.20; a.A. Sachverständigenbericht, a . a . O . [Fn.37], S.42ff, 53), verbietet die auch insoweit am weitesten gehende Regelung der AMRK die Wiedereinführung der Todesstrafe in Staaten, die sie abgeschafft haben. 37

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rung hat sich inzwischen allein für den europäischen Bereich durch das sechste Zusatzprotokoll zur EMRK ergeben39. Der „Pakt" und die AMRK enthalten lediglich bestimmte formelle Sicherheitsklauseln hinsichtlich der Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen40. Ob die in beiden Vertragswerken normierte materielle Voraussetzung der besonderen Schwere der einer Verurteilung zugrundeliegenden Tat41 die Verhängungspraxis bei Todesurteilen tatsächlich zu beeinflussen vermag, mag in Anbetracht des unbestimmten, normativen Charakters dieses Rechtsbegriffs zweifelhaft erscheinen42; zumindest scheint sich gerade hier - im Sinne der oben gemachten Ausführungen (s. II. l . a ) erwartungsgemäß - das Argument einer Gefährdung der Konsensfähigkeit gegenüber der Möglichkeit der Initiierung sozialen Wandels im Bereich des nationalen Rechts durch entsprechende Bestimmungen in den internationalen Vereinbarungen durchgesetzt zu haben.

Obwohl die Frage der Abschaffung der Todesstrafe die Menschenrechtskommission bereits seit den Vorarbeiten der AEMR beschäftigte und sich entsprechende Amendments in diesem Zusammenhang als nicht geeignet erwiesen hatten, wurde dieser Frage während der Vorarbeiten zum „Pakt" keine grundsätzliche Bedeutung beigemessen. Bereits der erste Entwurfstext, den die Menschenrechtskommission den Regierungen zur Stellungnahme übersandte, enthielt eine entsprechende Ausnahmeregelung. - Ein Amendment Columbiens und Uruguays für die Abschaffung der Todesstrafe wies die Generalversammlung der VN mit 51 zu 9 Stimmen bei 12 Enthaltungen zurück (UN-Doc. AI'3764, a. a. O. [Fn. 37], S. 10, 13). Zur Begründung wurde vorgebracht, eine Regelung, die die Todesstrafe abschaffe, sei für zahlreiche Staaten nicht ratifizierungsfähig. Im übrigen handle es sich um eine Angelegenheit der nationalen Strafgesetzgebung (UN-Doc. A/3764, a.a.O. [Fn. 37], S. 12; vgl. zur Entstehungsgeschichte Landerer, a.a.O. [Fn. 17]; wegen empirischen Problemen einer generalpräventiven Wirkung der Todesstrafe s. krit. m. N. Eisenberg, a.a.O. [Fn.3], §41 Rdn.5; vgl. speziell auch AI, a.a.O. [Fn.36], S.26-32 m.N.). Im Hinblick auf die endgültige Fassung der Regelung des Art. 4 des „Pakts" (Suspension von Rechtsgarantien im nationalen Notstand; s. im Text II. 2. d), e)) ist schließlich bemerkenswert, daß die Bedeutung verfahrensrechtlicher Sicherungen bei dieser irreversiblen Sanktion bereits während der Vorarbeiten gesehen und erörtert wurde, Vorschläge, diese in die Regelung des Art. 6 aufzunehmen, sich jedoch nicht durchsetzten (s. Landerer, a.a.O. [Fn. 17], S.521 f.). 39 S. hierzu Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: NJW 1983, 473, 480. - Art. 2 Abs. 1 S.2 EMRK enthielt ursprünglich lediglich eine generelle Bezugnahme auf das nationale Recht. 40 Art.6 Abs.2-5 des „Pakts"; Art.4 Abs.2-6 AMRK; s. Bartsch, a.a.O. (Fn.39), zu den Bestrebungen auf der Ebene der VN, die Abschaffung der Todesstrafe in einem zweiten Fakultativprotokoll zu regeln. 41 Zur Bandbreite der je nach den innenpolitischen Verhältnissen der einzelnen Staaten in Betracht kommenden Delikte s. AI, a. a. O. (Fn. 36), S. 40 ff. 42 So auch AI, a.a.O. (Fn.36), S.20.

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

b) Das Recht auf körperliche

und geistig-seelische

33

Unversehrtheit

Jedes der oben genannten Vertragswerke schützt das Recht auf körperliche und geistig-seelische Unversehrtheit gegen Folter43 und andere grausame44, unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung45, gegen Gewalttätigkeit oder Körperverletzung45" oder allgemein gegen die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden45b. Die Regelungen enthalten keine Rechtfertigungsgründe. Sie beinhalten aber neben normativen Rechtsbegriffen, die bei der Subsumtion von Verletzungshandlungen restriktiven Interpretationen Raum bieten, zum Teil subjektive Tatbestandsmerkmale, deren Nachweis in der Regel Schwierigkeiten46 bereitet. Art. 1 Abs. 1 der „Anti-Folter-Konvention" definiert den Begriff wie folgt: Folter ist „jede Handlung..., durch die einer Person vorsätzlich schwere körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen, sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder eine andere auf Diskriminierung gleich welcher Art beruhende Absicht zu verfolgen, sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung, mit deren Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis vorgenommen werden"47. Nach Art. 1 Abs. 1 S.2 der „Anti-Folter-Konvention" zählen ausdrücklich nicht hierzu „Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässi43 Art. 7 des „Pakts", Art. 5 Abs. 2 S. 1 AMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 S. 2 der Afrikanischen Charta, Art. II (b) „Anti-Apartheid-Konvention", Art. 1 „Anti-Folter-Konvention". 44 Art. 7 des „Pakts", Art. 5 Abs. 2 S. 1 AMRK, Art. 5 S.2 der Afrikanischen Charta, Art. II (b) „Anti-Apartheid-Konvention". 45 Art. 7 des „Pakts", Art. 5 Abs. 2 S. 1 AMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 S. 2 der Afrikanischen Charta, Art. II (b) „Anti-Apartheid-Konvention". 451 Art. 5 (b) der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention". 45b Art. II (b) der „Anti-Völkermord-Konvention". S. etwa Schweizerisches Bundesgericht (BGer) EuGRZ 1978, S. 16 zur Abgrenzung zulässiger („Bedürfnisse der Untersuchung") und unzulässiger („Zwangsmittel" zur Erlangung eines Geständnisses) Zweckverfolgung bei der Anordnung der strengen Einzelhaft im Rahmen der Untersuchungshaft; vgl. auch Maier, I. Wichtiger Schritt zur Abschaffung der Folter, VN 1985, S. 1, mit der Auffassung, daß z.B. „unmotivierte Folterhandlungen", „die aus purem Sadismus begangen werden", von der Definition des Art. 1 Abs. 1 der „Anti-Folter-Konvention" nicht erfaßt seien. 47 Deutsche Übersetzung abgedruckt in VN 1985, 31 ff; zum Problem einer „Grauzone" betreffend die Verursachung solcher Schmerzen oder Leiden, deren Schweregrad den der Folter nicht erreicht, s. UN, Economic and Social Council, Commission on Human Rights, Forty-Second Session, agenda item 10 (a), Doc. E/CN. 4/1986/15, S. 11.

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Ulrich Eisenberg

gen Zwangsmaßnahmen ergeben, diesen anhaften oder als deren Nebenwirkung auftreten" 48 . Diese Einschränkung des Rechtsschutzes der Spezialtatbestände der „Anti-Folter-Konvention" gegenüber der allgemeinen Regelung des „Pakts" mag nicht zuletzt auf der geringeren Effizienz des im „Pakt" vorgesehenen Kontrollsystems beruhen. Eine Korrektur solcher der verfahrensmäßigen Ausgestaltung der Normsetzungsprozesse auf nationaler Ebene innewohnenden Mängel, die die Durchsetzung bestimmter nicht verallgemeinerungsfähiger Interessen ermöglichen, die ihre Partikularität zuweilen mit der bloßen Behauptung einer Identität mit Belangen der Allgemeinheit zu verdekken vermögen, findet demnach nicht statt49. Die Konsensfähigkeit derjenigen definitorischen „Konzession an das islamische Strafrecht" 50 allerdings, derzufolge der gesamte Bereich solcher körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen von dem Tatbestand nicht erfaßt ist, die in gesetzmäßiger Ausübung staatlicher Strafgewalt verursacht werden, steht in Einklang mit der Erkenntnis, daß sich Belange der Stabilisierung gesellschaftlicher Machtpositionen, die folgerichtig auch eine Vernichtung der personalen Identität rivalisierender Gegner nicht ausschließen, mittels der Verletzung von Individualrechtsgütern durch Staatsführungen und ihre Organe in legaler Form gerade auch unter Indienstnahme der Instrumente des Strafrechts und des Strafvollzuges durchsetzen. c) Das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit Während Art. 5 Abs. 1 EMRK eine Enumeration der Rechtfertigungsgründe für Rechtsverletzungen enthält, schützen Art. 9 Abs. 1 des „Pakts", Art. 7 Abs. 2, 3 AMRK, Art. 6 S. 2, 3 der Afrikanischen Charta und Art.IIa (ii) der „Anti-Apartheid-Konvention" vor „willkürlicher" und „ungesetzlicher" Festnahme oder Haft51. Gemessen an den Erkennt48 Vgl. dagegen etwa Art. 1 und 2 des Entwurfs eines „Gesetzes zum Verbot unmenschlicher Haftbedingungen" der Fraktion Die Grünen, BT-Dr. 10/2819. Nach diesem Entwurf ist eine unmenschliche Behandlung „insbesondere die Zufügung von physischen und psychischen Schmerzen, soweit diese nicht aus der haftbedingten Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit herrühren". 49 S. auch die Begründung zu dem Entwurf eines „Gesetzes zum Verbot unmenschlicher Haftbedingungen", BT.-Dr. 10/2819, S . 5 f .

50

So Bartsch, a. a. O. (Fn. 11), S. 1755.

Die Motive, die zu der Formulierung dieser Generalklausel geführt haben, entsprechen den der generalklauselartigen Einschränkung des Rechts auf Leben zugrundeliegenden Beweggründen ( U N - D o c . A/2929, a.a.O. [Fn.37], S.35; vgl. auch die entsprechende Feststellung im Sachverständigenbericht, a. a. O. [Fn. 37], S. 54). Für den Geltungsbereich der EMRK wird berichtet, daß die einfachgesetzlichen Rechtsgrundlagen nach der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einerseits an den inhaltlichen Anforderungen des Willkürverbots insofern gemessen werden, als sie hinreichend bestimmt, die Eingriffe mithin vorhersehbar sein müssen. Andererseits muß es sich nicht um Gesetze im formellen Sinne handeln. Begründet wird 51

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

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nissen ü b e r t y p i s c h e einschlägige E r s c h e i n u n g s f o r m e n 5 2 k r i m i n o l o g i s c h relevanten V e r h a l t e n s erscheinen diese R e g e l u n g e n in m e h r f a c h e r H i n sicht als für deren tatbestandliche E r f a s s u n g unzulänglich. a)

I m U n t e r s c h i e d z u den A r t . 7 A b s . 3 AMRK,

A r t . 9 A b s . 3 des „Pakts"

5 A b s . 3 EMRK"

sieht

die u n v e r z ü g l i c h e V o r f ü h r u n g z u m Z w e c k e

der g e r i c h t l i c h e n K o n t r o l l e der R e c h t m ä ß i g k e i t der F r e i h e i t s e n t z i e h u n g n u r für den Fall d e r F e s t n a h m e o d e r H a f t w e g e n des V o r w u r f s einer strafbaren H a n d l u n g v o r . O b diese R e g e l u n g den B e r e i c h p r ä v e n t i v polizeilicher F e s t n a h m e n erfaßt, ist d a h e r n a c h i h r e m W o r t l a u t z u m i n dest zweifelhaft 5 4 . -

Ein Benachrichtigungsrecht,

mittels dessen eine

w e s e n t l i c h e V o r a u s s e t z u n g u n t e r a n d e r e m für die K o n t r o l l e der aus z a h l r e i c h e n L ä n d e r n b e k a n n t e n P r a x i s der I n h a f t i e r u n g o h n e L e g i t i m a tion 5 5

geschaffen

werden

könnte,

ist in keiner

der

Vereinbarungen

ausdrücklich vorgesehen. ß)

D i e R e g e l u n g des R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d e s d e r U n t e r s u c h u n g s h a f t in

A r t . 5 A b s . 1 B u c h s t , c ) EMRK

bleibt n a c h i h r e m W o r t l a u t , der als

L e g i t i m a t i o n für die H a f t allein den h i n r e i c h e n d e n T a t v e r d a c h t g e n ü g e n läßt, w e i t hinter den A n f o r d e r u n g e n z u r ü c k , die verschiedentlich n a c h n a t i o n a l e m R e c h t an die R e c h t m ä ß i g k e i t der A n o r d n u n g der U n t e r s u c h u n g s h a f t gestellt werden 5 6 .

dies zum einen unter Bezugnahme auf die „common-law"-Tradition des angelsächsischen Rechts, zum anderen unter Hinweis darauf, daß es nicht Aufgabe der Konventionsorgane sei, die Einhaltung des innerstaatlichen Gesetzgebungsverfahrens zu überprüfen (s. hierzu Trechsel, Die Garantie der persönlichen Freiheit (Art. 5 EMRK) in der Straßburger Rechtsprechung, EuGRZ 1980, S.514, 518, 519 m.w.Nachw.). 52 S. Eisenberg, 1985 (Fn.3), §44 Rdn.20, 23 f; den., 1980 (Fn. 3), S.222, 224 ff jeweils m. w. N. 53 Art. 6 der Afrikanischen Charta enthält insoweit keine besonderen verfahrensrechtlichen Bestimmungen. 54 S. auch die Feststellung im Sachverständigenbericht, a. a. O. (Fn. 37), S. 54. 55 S. schon Nachw. bei Eisenberg, a.a.O. 1980 (Fn.3), S.224f. 56 Kritisch auch Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.524f unter Hinweis darauf, daß trotz der Häufigkeit der Anordnung von Untersuchungshaft Entscheidungen der Konventionsorgane „eher selten" seien. Es mögen insoweit die für die Beurteilung der Beschwerdemacht des Verdächtigten maßgeblichen Individual- und Sozialmerkmale, die bereits für die Annahme des Tatverdachts nicht selten bestimmend sind, in ihrer Wirkung gewissermaßen kumulieren (s. auch im Text III. 1. b. y)) mit der Folge, daß eine Kontrolle der (mutmaßlichen) kriminologischen Relevanz der Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane in einem entscheidenden Abschnitt des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens kaum stattfindet. - Zu den Kriterien für die Überprüfung der Dauer der Untersuchungshaft s. Vogler, Die Spruchpraxis der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Bedeutung für das deutsche Straf- und Strafverfahrensrecht, ZStW 82 (1970), S. 758 f, unter Hinweis darauf, daß diese Grundsätze allgemein mit der innerstaatlichen Judikatur (in der Bundesrepublik) übereinstimmen.

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Ulrich Eisenberg

•y) Art. 5 Abs. 1 Buchst, a) EMRK normiert als Voraussetzung für solche Freiheitsentziehungen, die im Rahmen der strafrechtlichen Sanktionierung erfolgen, allein das formelle Erfordernis der gerichtlichen Verurteilung. Freiheitsentziehungen unterliegen nach dieser Regelung der Kontrolle weder hinsichtlich des der Verurteilung vorausgehenden Verfahrens - insoweit gelten die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK57 noch bezüglich der Taten, aus deren Anlaß die Strafverfolgung initiiert wurde 58 . Inwieweit die Inhaftierung von Personen etwa wegen der (gewaltlosen) Äußerung ihrer politischen Uberzeugung von der Rechtsgarantie des Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK erfaßt ist und gegebenenfalls der Kontrolle durch die Konventionsorgane zugeführt werden kann, erscheint nicht zuletzt auch im Hinblick auf die extensive Fassung der Einschränkungsvorbehalte der insoweit speziellen Rechtsgarantien fraglich. Im Unterschied zu Art. 5 EMRK enthalten Art. 10 des „Pakts" sowie Art. 5 Abs. 2 S. 2, Abs. 3-6 AMRK Mindestgrundsätze zum Vollzug des Freiheitsentzuges, insbesondere den Grundsatz der Trennung Beschuldigter von Verurteilten sowie Jugendlicher von Erwachsenen59, die den „Pakt" betreffend anläßlich der Ratifizierung oder des Beitritts zum Teil nicht unerheblichen Vorbehalten der Einzelstaaten unterlagen60. - Auch beinhalten die genannten Bestimmungen des „Pakts" und der AMRK über das Gebot der Achtung der Menschenwürde hinaus" eine Aufgabenbestimmung hinsichtlich des Strafvollzuges dahingehend, daß dieser eine „Behandlung der Gefangenen" einschließe, „die vornehmlich auf

57 S. hierzu aber im Text II. 2. d. und e. A r t . 6 E M R K findet auch im übrigen jedoch keine A n w e n d u n g im H a f t p r ü f u n g s v e r f a h r e n ( A r t . 5 A b s . 4 E M R K ) sowie im V e r f a h r e n über die bedingte Strafaussetzung (s. die N a c h w . bei Vogler, a. a. O . [Fn. 56], S. 764 f). 58 S. Trechsel, a . a . O . ( F n . 5 1 ) , S . 5 2 1 , der darauf hinweist, daß auch hinsichtlich der übrigen Rechtfertigungsgründe mit A u s n a h m e des A r t . 5 A b s . 1 Buchst, e) (Inhaftierung wegen Geisteskrankheit, A l k o h o l i s m u s pp.) w e d e r eine U b e r p r ü f u n g der formellen und materiellen Voraussetzungen der Freiheitsentziehung durch die Konventionsorgane in Betracht k o m m t , noch in den genannten Fällen eine gerichtliche H a f t k o n t r o l l e nach A r t . 5 A b s . 4 E M R K f ü r erforderlich gehalten w i r d , w e n n bereits die A n o r d n u n g der Inhaftierung durch ein G e r i c h t v e r f ü g t w u r d e (s. Trechsel, a. a. O . , S. 529). 59 Vgl. die nach ihrem W o r t l a u t in den Einzelheiten nicht deckungsgleichen A r t . 1 0 A b s . 2 b. des „Pakts" und A r t . 5 A b s . 5 A M R K : W ä h r e n d die erstgenannte Regelung v o r allem den Beschleunigungsgrundsatz hervorhebt, verlangt letztere ausdrücklich die Einrichtung besonderer Jugendgerichte. 60 Vgl. Multilateral Treaties, a . a . O . ( F n . 3 3 ) , S. 1 2 4 f f ( z . B . Australien, S . 1 2 5 ; Ö s t e r reich, S. 1 2 6 ; Belgien, S. 1 2 6 ; D ä n e m a r k , S. 1 2 7 ; Finnland, S. 1 2 7 ; Island, S. 1 2 9 ; Luxemburg, S. 1 3 0 ; Niederlande, S. 1 3 0 ; Neuseeland, S. 1 3 1 ; N o r w e g e n , S. 1 3 1 ; Schweden, S. 1 3 2 ; Trinidad und Tobago, S. 1 3 2 ; Großbritannien, S. 133).

" S. A r t . 1 0 A b s . 1 des „Pakts", A r t . 5 A b s . 2 S . 2 A M R K .

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

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ihre Besserung und gesellschaftliche Wiedereingliederung" hinzielt62. Die Unbestimmtheit dieser Formulierung, die die Berücksichtigung sonstiger Strafzwecke geradezu voraussetzt, veranlaßt die Annahme, daß dieser wohl historisch begründete Unterschied zur EMRK0 de facto kaum Auswirkungen im Sinne einer Beschränkung total-institutioneller Machtausübung haben wird. Einerseits vermögen sich Belange der „ReSozialisierung", soweit sie tendenziell eine Veränderung der Vollzugssituation im Sinne einer Angleichung an die Lebensverhältnisse der Außengesellschaft erfordern, in der Regel gegenüber den übrigen Strafzwecken kaum durchzusetzen. Andererseits vermag die Behauptung einer Geeignetheit der genannten Bestimmungen für eine Stärkung der Rechtsposition der Gefangenen kaum zu überzeugen in Anbetracht der Begriffe der „Besserung" und „Wiedereingliederung in die Gesellschaft", deren Konkretisierung in der Regel nach Wert- und Interesseninhalten solcher gesellschaftlicher Gruppen erfolgt, deren Belange zumindest nicht in Widerspruch zu denen der (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften stehen. d) Verfahrensrechte

und sonstige formelle

Rechtsgarantien

Art. 14, 15 des „Pakts", Art. 8, 9 AMRK sowie Art. 6, 7 EMRK" enthalten zahlreiche formelle verfahrensrechtliche Garantien, die für ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Strafverfahren unerläßlich sind65; insbesondere normieren sie Mindestbedingungen für die Strafverteidigung. a So die Formulierung in Art. 10 Abs.3 des „Pakts"; s. auch Art.5 Abs.6 AMRK: „Punishment consisting of deprivation of liberty shall have as an essential aim the reform and social readaptation of the prisoners". 63 S. zum europäischen Bereich Kaiser, Zweckstrafrecht und Menschenrechte, SJZ 1984, S. 329; s. aber auch Trechsel, a. a. O. (Fn. 51), S. 527: Außer in Extremfällen... würden die Straßburger Instanzen sich kaum die Kompetenz anmaßen, in einem derart kontroversen Gebiet eine Verletzung der Menschenrechte festzustellen..." Dieser zurückhaltenden Position entspricht es, daß zwar die Prügelstrafe als Verletzung des Art. 3 EMRK beurteilt wird (s. EuGRZ 1977, 486), bei der Frage der Konventionsverletzung durch den Vollzug strenger Einzelhaft aber in bestimmten Fällen Sicherheitsbelange Vorrang genießen, soweit die Haft nicht eine totale Sinnesisolation bewirkt („Isolierhaft"), die nachweislich schwere Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Konstitution zur Folge hat (s. EKMR EuGRZ 1981, S.91 einerseits, EKMR EuGRZ 1978, S.314 andererseits; zum Begriff der „Isolierhaft" s. EKMR EuGRZ 1976, S.22; 1975, S.455; 1974, S. 107). 64 S. auch Art. 7 der Afrikanischen Charta... 65 Die genannten Bestimmungen enthalten folgende rechtsstaatliche Gewährleistungen: Die Garantie des gesetzlichen Richters, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte (Art. 14 Abs. 1 S.2 des „Pakts", Art. 8 Abs. 1 AMRK, Art. 6 Abs.l EMRK, Art. 7 Abs. 1 d) der Afrikanischen Charta...), die Öffentlichkeit der Verhandlung (Art. 14 Abs.l des „Pakts", Art.8 Abs.5 AMRK, Art.6 Abs.l EMRK s. hierzu Vogler, a.a.O.

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Ulrich Eisenberg

e) Notstandsrecht Mit Ausnahme des Rückwirkungsverbots 66 ist keine der formellen und verfahrensrechtlichen Garantien „notstandsfest" 67 ; entsprechendes gilt für das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. In Anbetracht dieses Umstandes, demzufolge die grundlegenden rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien gerade dann außer Kraft gesetzt werden können, wenn im besonderen Maße Rechtsgutverletzungen durch Staatsführungen und ihre Organe infolge (auch formeller) Machtkonzentration zu besorgen sind, erscheint die Effektivität der nach den Vereinbarungen von einer Suspensionsmöglichkeit ausgenommenen materiellen Rechtsgarantien in hohem Maße gefährdet. Dies gilt unter dem Gesichtspunkt der reduzierten Entdeckungswahrscheinlichkeit illegaler Praktiken, insbesondere im anstaltsinternen Bereich, die von Staatsführungen und ihren Organen veranlaßt oder zumindest geduldet werden, vor allem auch hinsichtlich der im Notstandsfalle ermöglichten Einschränkung oder Aufhebung

[Fn. 56], S. 771 ff), die Unschuldsvermutung (Art. 14 Abs. 2 des „Pakts", Art. 8 Abs. 2 AMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 7 Abs. 1 b) der Afrikanischen C h a r t a . . . ) , verschiedene Ausprägungen des Rechts auf rechtliches Gehör sowie des Grundsatzes der Waffengleichheit im Strafprozeß, die freie Verteidigerwahl (zur Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechtskommission, nach der es sich hierbei nicht um ein absolutes Recht handle, sondern der Verteidigerausschluß im Ermessen des Staates stehe, s. Vogler, a. a. O . [Fn. 56], S. 777) sowie erforderlichenfalls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (Art. 14 Abs. 3 a, b, d-g, des „Pakts", Art. 8 A b s . 2 a - g AMRK, Art. 6 Abs. 3 EMRK, der allerdings voraussetzt, daß die Beiordnung „im Interesse der Rechtspflege" erforderlich sei; vgl. Vogler, a . a . O . [Fn. 56], S. 777 m . w . N a c h w . ; s. auch A r t . 7 Abs. 1 c) der Afrikanischen C h a r t a . . . ) , das Appellationsrecht (Art. 14 Abs. 5 des „Pakts", s. hierzu den Vorbehalt der Bundesrepublik, in: Multilateral Treaties, a . a . O . [Fn. 33], S. 129; Art. 8 A b s . 2 h AMRK), das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 14 Abs. 7 des „Pakts"; Art. 8 Abs.4 AMRK), das Beschleunigungsprinzip (Art. 14 Abs.3c) des „Pakts"; A r t . 6 Abs. 1 AMRK, Art. 5 Abs. 3 E M R K ; kritisch zur restriktiven Anwendung dieses Grundsatzes durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Trechsel, a. a. O . [Fn. 52], S.523; s. auch A r t . 7 A b s . l d ) der Afrikanischen Charta) und schließlich das Rückwirkungsverbot (Art. 15 des „Pakts", Art. 9 AMRK, Art. 7 EMRK, Art. 7 Abs. 2 der Afrikanischen C h a r t a . . . ) . Art.2 Abs.3 des „Pakts", Art.25 AMRK, Art. 13 EMRK (s. auch Art. 7 Abs. 1 a) sowie Art. 26 der Afrikanischen C h a r t a . . . ) verpflichten die Beitrittsländer, effektiven innerstaatlichen Rechtsschutz hinsichtlich der in den Konventionen garantierten Rechte zu gewährleisten. 66 S. Art. 15 des „Pakts", Art. 9 AMRK, Art. 7 EMRK. 67 A r t . 4 Abs.2 des „Pakts" (s. hierzu UN-Doc. A/2929, a . a . O . [Fn.37], S.23f, aus dem hervorgeht, daß im Rahmen der Vorarbeiten zu dieser Regelung weitergehende Vorschläge, die eine Einbeziehung auch der Verfahrensgarantien zum Gegenstand hatten, durchaus zur Diskussion standen), Art. 27 Abs. 2 AMRK, Art. 15 EMRK. Die Afrikanische C h a r t a . . . enthält keine ausdrückliche Regelung zur Suspension von Rechtsgarantien im Falle des nationalen Notstandes (s. hierzu Mbaya, a . a . O . [Fn. 15], S. 135).

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

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jener V e r t e i d i g e r r e c h t e , deren u n g e h i n d e r t e A u s ü b u n g hier jedenfalls ein M i n i m u m an öffentlicher K o n t r o l l e gewährleisten könnte 6 8 .

III. Normdurchsetzung 1. Kontrolle

von

Normverletzungen

I n der R e g e l verpflichten die V e r e i n b a r u n g e n " die Beitrittsstaaten z u i n n e r s t a a t l i c h e m S c h u t z der in der jeweiligen K o d i f i k a t i o n a n e r k a n n t e n Rechtsgüter Gesetzgebung

„durch

geeignete

u n d Rechtsprechung.

Maßnahmen"

seitens

der

nationalen

I n A n b e t r a c h t des für die ( m u t m a ß -

lichen) T ä t e r g e m e i n s c h a f t e n c h a r a k t e r i s t i s c h e n M e r k m a l s der f o r m e l l e n o d e r ( n u r ) faktischen K o n z e n t r a t i o n der R e s s o u r c e n politischer M a c h t k o m m t der Ü b e r n a h m e dieser V e r p f l i c h t u n g gemessen a m Ziel effektiv e n R e c h t s g ü t e r s c h u t z e s allenfalls d e r W e r t einer D e k l a r a t i o n des guten Willens zu 7 0 . N e b e n d e r M ö g l i c h k e i t der A n e r k e n n u n g einer in A u s s i c h t

" Es könnte daher zweifelhaft sein, ob diese Problematik hinreichend dadurch erfaßt wird, daß in rein formeller Betrachtung lediglich die (zeitweilige) Außerkraftsetzung einschlägiger Verfahrensrechte zu einer Bedrohung elementarer Existenzrechte ins Verhältnis gesetzt wird (s. etwa BVerfGE 49, 24 [55 ff, 59]; vgl. zur Problematik aber auch Amelung, Nochmals: § 34 StGB als öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm? NJW 1978, 623 f). Vgl. UN-Doc. E/CN.4/1986/Ii, a.a.O. (Fn.47), S.3, 26f, demzufolge die vollständige „Kontaktsperre" im Notstandsfalle allgemein Rahmenbedingung der Anwendung von Folterpraktiken sei. 69 S. Art. 2 des „Pakts", Art. 2 AMRK, Art. 2 der „Anti-RassendiskriminierungsKonvention", Art. IV der „Anti-Apartheid-Konvention", Art. V der „Anti-VölkermordKonvention". S. auch Art. 2, Art. 4 und 5 der „Anti-Folter-Konvention", nach denen die Staaten auch die Verpflichtung zu strafrechtlichen Maßnahmen trifft. Vgl. auch Art. 1 EMRK; Art. 1 der Afrikanischen Charta. 70 Gleichwohl wird die Durchsetzung der Rechtsgarantien überwiegend primär als Aufgabe der Vertragsstaaten angesehen (s. etwa die Nachw. bei Nowak, Die Durchsetzung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, EuGRZ 1980, S. 532 [541]). Soweit zur Begründung dieser Auffassung auf den Grundsatz der Staatensouveränität verwiesen wird, erscheint dieser wegen der für die (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften typischen Merkmalsausprägungen ambivalent, da er neben seinem (unter außenpolitischen Gesichtspunkten eher freiheitlichen) anti-interventionistischen Gehalt innenpolitisch eine die repressive Funktionsausübung unterstützende Wirkung haben kann. Allerdings wird in der neueren (sozialistischen) Literatur {Graefrath/Mohr, Völkerrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen, in: Staat und Recht, 1986, S. 29ff) unter Bezugnahme auf die sogenannten „Nürnberger Prinzipien" differenziert zwischen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Personen und der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit von Staaten. Während die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen für von ihnen in ihrer Funktion als Organe der Staatsführung begangene internationale Verbrechen nicht mit einer „Berufung auf staatliche Souveränität und daraus fließender Immunität abgewendet werden kann" {Graefrath/Mohr, a.a.O., S. 31; s. auch UN-Doc. EtCN.4/1986/15, a.a.O. [Fn.47], S.9 m.w.N.), könnten - ebenso wie bei völkerrechtlichen Delikten, die nicht als internationale Verbrechen definiert sind - Rechtsfolgen wegen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates nur unter Berücksichti-

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gestellten internationalen Strafgerichtsbarkeit für spezielle international kriminalisierte Formen kriminologisch relevanten Verhaltens von Staatsführungen 71 , deren Ineffektivität ihre Grundlage unter anderem im Fehlen einer Rechtspflicht der Mitgliedsstaaten der Organisation zu vorbehaltlosem Beitritt72 zu völkerrechtlichen Vereinbarungen hat, sehen die Vereinbarungen überwiegend lediglich ein dreigliedriges Mitteilungssystem vor73. Auch im Bereich der Normdurchsetzung erscheint die Herstellung von Konsensfähigkeit74 der Kontroll- und Spruchpraxis75 der jeweiligen Konventionsorgane als zentrales und von gleichsam blockübergreifender Ubereinstimmung getragenes Anliegen der Vertreter der Staatsführungen, dem die Ausgestaltung des Kontroll- und Sanktionierungsinstrumentariums z. T. Rechnung zu tragen scheint. a) Ausgestaltung

des

Kontrollsystems

a) Hinsichtlich der durch die Vereinbarungen institutionalisierten Kontrollorgane ist das Kontrollsystem auf der regional-internationalen gung der Staatensouveränität verhängt werden (zur Anwendung des nationalen Selbstbestimmungsrechts auf koloniale Situationen s. Hinz, a. a. O . [Fn. 7], S. 75 ff). 71 S. Art. VI der „Anti-Völkermord-Konvention", Art. V der „Anti-Apartheid-Konvention"; s. hierzu auch Gössner, a . a . O . (Fn.29), S.269. Die früheren Bestrebungen, zur Implementation der im „Pakt" garantierten Rechte einen Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte zu institutionalisieren, vermochten sich wegen ihres den hergebrachten völkerrechtlichen Grundsätzen der Souveränität und Unabhängigkeit der Staaten widersprechenden Gehalts nicht durchzusetzen (vgl. UN-Doc. A/2929, a . a . O . [Fn.37], S.3). 72 Zu den Vorbehalten Algeriens, Burmas, Marokkos, der Philippinen und Venezuelas gegenüber der in der „Anti-Völkermord-Konvention" vorgesehenen internationalen Strafgerichtsbarkeit s. Multilateral Treaties, a. a. O . (Fn. 33), S. 92, 94, 95. 73 Eine Sonderstellung nimmt insoweit die „Anti-Folter-Konvention" ein, die das Mitteilungssystem verbindet mit der Einführung des Weltrechtsprinzips allerdings nur betreffend Folterhandlungen (s. Art.4ff der „Anti-Folter-Konvention"; krit. Marx, R., Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, ZRP 1986, S. 81, 82, 83; s. auch Fn. 47) sowie in Anlehnung an das Verfahren nach Resolution 1503 des WSR bei Vorliegen zuverlässiger Informationen über systematische Folterungen die Möglichkeit vertraulicher Untersuchungen vorsieht (Art. 20 der „Anti-Folter-Konvention"). Allerdings regelt Art. 28 der Konvention zugleich ausdrücklich die Zulässigkeit von Vorbehalten speziell zu dieser Bestimmung (s. hierzu auch Maier, I., a . a . O . [Fn.46], S.2). ' 74 S. im Text I l . l . a . 75 S. etwa UN-Doc. AI6546 (General Assembly / Twenty-first session / agenda item 62, Report of the Third Committee), S. 53: " . . . I t was fully recognized, . . . , that a proper balance should be struck between the requirement of a minimum effectiveness of implementation procedure, on the one hand, and the need for securing the widest possible acceptance of the Covenant by Member States, on the other h a n d . . . " ; s. auch Bartsch, a . a . O . (Fn.21), S. 115, unter Hinweis darauf, daß die Durchsetzbarkeit der Rechtserkenntnisse der Konventionsorgane „allzu starke Abweichungen von dem kollektiv akzeptierten Standard und Rechtsschöpfungen" ausschließe. S. auch Fn. 92.

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

41

Ebene76 - mit Ausnahme des afrikanischen Bereichs77 - im Unterschied zu den VN78 justizförmig ausgestaltet. Soweit die Vereinbarungen die personelle Zusammensetzung79 der Kontrollorgane regeln, beteiligen sie die (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften unmittelbar80 oder mittelbar81 an den hierfür vorgesehenen 76 Auf regional-internationaler Ebene ist neben den Menschenrechtskommissionen (Art.20ff EMRK, Art.34ff AMRK; s. auch Art.30ff der Afrikanischen Charta...), jeweils ein Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 38 ff EMRK, Art. 52 ff AMRK) institutionalisiert. Zu der Besonderheit des Ministerkomitees als Entscheidungsgremium s. im Text III. 1. a. ß). 77 S. Mbaya, a.a.O. (Fn. 15), S. 134, 135, der auf die offizielle Begründung hinweist, die Regelung eines kontradiktorischen Verfahrens widerspräche der „traditionellen afrikanischen Neigung zu Konsens und Vermittlung". 78 Auf der Ebene der VN obliegt die Prüfung der nach dem Mitteilungssystem eingehenden Berichte und Beschwerden den jeweils in den Vereinbarungen vorgesehenen Ausschüssen (Art.28ff des „Pakts"; s. auch die Präambel des Fakultativprotokolls (Ausschuß für Menschenrechte); Art. 17ff der „Anti-Folter-Konvention" (Anti-Folter-Kommission); Art. 8 ff der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention"; Art. IX der „AntiApartheid-Konvention" . 79 S. auch die kritische Stellungnahme von Maier, I., a.a.O. (Fn.46), S. 5 betreffend die diesbezüglichen Unklarheiten in dem Entwurf einer Europäischen „Anti-FolterKonvention", in der insbesondere das Fehlen eines Ablehnungsrechts gegenüber den Mitgliedern der zu institutionalisierenden Kontroll-Kommission beklagt wird. Vgl. (andererseits) die Befangenheitsregelung des Art. 55 AMRK; s. demgegenüber Art. 43 EMRK, der bei vergleichbarer Sachlage die Kammermitgliedschaft des Richters, der Staatsangehöriger der beteiligten Partei ist, „von Amts wegen" vorsieht. 80 Die Wahl der 18 Mitglieder des Ausschusses für Menschenrechte erfolgt durch die Versammlung der Vertragsstaaten (Art. 30 Abs. 4 des „Pakts") aufgrund einer von den Vertragsstaaten erstellten Kandidatenliste (Art. 29 Abs. 1 des „Pakts"). Die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". - Eine Sonderstellung nimmt der in der „Anti-ApartheidKonvention" vorgesehene Ausschuß ein, der regelmäßig aus drei Mitgliedern der VNMenschenrechtskommission bestehen soll; s. Art. IX der Konvention. Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ebenso wie die der Mitglieder des Interamerikanischen Gerichtshofs erfolgt durch die Generalversammlung der OAS auf der Grundlage der von den Regierungen (Art. 36 Abs. 1 AMRK) bzw. den Mitgliedsstaaten (Art. 53 AMRK) erstellten Kandidatenlisten. Zur Inkompatibilitätsregelung des Art. 71 AMRK s. Kokott, Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte und seine bisherige Praxis, ZfaöR 1984, S. 806 (809 f). Die Wahl der Mitglieder der Afrikanischen Menschenrechtskommission soll erfolgen durch die Versammlung der Staats- und Regierungschefs aufgrund einer von den Vertragsstaaten erstellten Kandidatenliste (Art.33 der Afrikanischen Charta...); s. hierzu Bartsch, a.a.O. (Fn.39), S.473; zu ihren Kompetenzen s. Bartsch, a.a.O. (Fn. 14), S.479f); vgl. auch Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: NJW 1981, S. 489 zum Scheitern der Einigungsbemühungen hinsichtlich einer Inkompatibilitätsregelung betreffend die Mitgliedschaft in der Kommission und der Innehabung eines Regierungsamtes. Die Wahl der Mitglieder der Europäischen Menschenrechtskommission erfolgt durch das Ministerkomitee aufgrund einer vom Büro der Beratenden Versammlung erstellten Kandidatenliste (Art. 21 EMRK).

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Ulrich Eisenberg

Wahlvorgängen. - Wenngleich die Mitglieder der Kontrollorgane in der Regel nicht als Staatenvertreter, sondern in persönlicher Eigenschaft tätig sind82, ist aufgrund der Ausgestaltung der Wahlvorgänge nicht auszuschließen, daß sie im Rahmen ihrer Tätigkeit, bei der ihnen entsprechend den Konzeptionen der Rechtsgrundlagen weite Beurteilungsspielräume eingeräumt sind, jedenfalls nicht regelmäßig solche Interessen vertreten, die denen der ihre Auswahl (mit-)bestimmenden Staatsführungen entgegenstehen. Soweit dieser Fall dennoch eintritt, scheint von den betreffenden Staatsführungen ausgeübter politischer Druck nicht ohne Einfluß auf die Kontrolltätigkeit zu sein83. ß) Die Aufgaben und Befugnisse der aufgrund der Kodifikationen der VN institutionalisierten Ausschüsse bestehen vorwiegend in der Schlichtung bzw. Vermittlung zwischen den Beteiligten sowie der Erteilung von Empfehlungen und der Erstattung von Berichten84 sowohl nach Abschluß der Prüfung einzelner Angelegenheiten85 als auch zum Schluß jedes Geschäftsjahres 86 . Demgegenüber sind auf regional-internationaler Ebene die Kompetenzregelungen insofern weitergehend, als dem jeweiligen Gerichtshof die Befugnis übertragen ist, gegebenenfalls formell eine Konventionsverletzung festzustellen". Für das Verfahren vor diesem sind ausschließlich

81 Die Wahl der Mitglieder des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte erfolgt durch die Beratende Versammlung aufgrund einer von den Mitgliedsstaaten des Europarates erstellten Kandidatenliste (Art. 39 EMRK). 82 Art. 28 Abs. 3 des „Pakts"; die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". Zur Stellung der Mitglieder des Kontrollausschusses der „Anti-Apartheid-Konvention" s. Art. IX der Konvention. Art. 23 EMRK, Art. 36 Abs. 1 AMRK; s. auch Art. 31 Abs. 2, 38 der Afrikanischen Charta... (s. auch Bartsch, a. a. O. 1981 [Fn. 80], S. 489). 83 S. Bartsch, a. a. O. 1981 (Fn. 80), S.493, zu den auf die Austrittsdrohungen Argentiniens, Chiles, Uruguays, Paraguays und Boliviens erfolgten Änderungen der Gerichtspraxis der Interamerikanischen Menschenrechtskommission; s. auch im Text III. 2. a. 84 Art. 45 des „Pakts", Art. 6 des Fakultativprotokolls, Art. 24 der „Anti-FolterKonvention", Art. 14 Abs. 8 der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" (Jahresberichte). Auch legt der Ausschuß für Menschenrechte seine Befugnis, nach Abschluß einzelner Angelegenheiten „allgemeine Bemerkungen" (Art. 40 Abs. 4 des „Pakts") bzw. „seine Auffassungen" (Art. 5 Abs. 4 des Fakultativprotokolls) zu übermitteln, weit aus, und zwar im Sinne einer Berichtskompetenz. 85 Dies ist nach dem Wortlaut der Vereinbarungen nur zum Teil der Fall. 86 Art.41 Abs. 1 e)-h), 40 Abs.4, 42, 47, 45 des „Pakts"; die Regelungen der „AntiFolter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". Art. 1, 5, 6 des Fakultativprotokolls. 87 Art. 50 ff EMRK, Art. 63 AMRK.

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

die Beitrittsstaaten

und

die Kontrollkommissionen

aktiv

43

legitimiert™;

d a h e r k o m m t den K o m m i s s i o n e n i n s o w e i t die F u n k t i o n v o n V o r p r ü fungsausschüssen

zu 8 9 ,

sichtlich u n b e g r ü n d e t e "

die i n s b e s o n d e r e 91

„mißbräuchliche"90,

„offen-

s o w i e s o l c h e E i n g a b e n als unzulässig z u r ü c k -

w e i s e n , die bereits G e g e n s t a n d eines anderen internationalen K o n t r o l l v e r f a h r e n s w a r e n b z w . sind 92 o d e r hinsichtlich deren der innerstaatliche R e c h t s w e g nicht a u s g e s c h ö p f t w o r d e n ist 93 . D i e Z u s t ä n d i g k e i t des jeweiligen G e r i c h t s h o f s s e t z t allerdings z u s ä t z l i c h die E r k l ä r u n g der Staatsf ü h r u n g v o r a u s , d a ß diese dessen Gerichtsbarkeit I m G e l t u n g s b e r e i c h d e r EMRK Zwischenschaltung

des

anerkenne94.

besteht z u d e m die M ö g l i c h k e i t der

ausschließlich

E x e k u t i v e b e s t e h e n d e n Ministerkomitees95

aus V e r t r e t e r n

der

nationalen

als K o n t r o l l o r g a n , das in den

88 Art. 48 EMRK, Art. 61 Abs. 1 AMRK. S. aber zur Verbesserung der Position des Individualbeschwerdeführers als Verfahrensbeteiligtem durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Bartsch, a.a.O. (Fn. 11), S. 1751 (1760). Zur Frage der Parteifähigkeit von Individuen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, s. Kokott, a. a. O. (Fn. 80), S. 812 f. 85 Art. 47 i.V.m. Art. 32 EMRK, Art. 61 Abs. 2 i.V.m. Art. 48 ff AMRK. Betreffend den Geltungsbereich der EMRK vgl. Murswiek, Die Individualbeschwerde vor den Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention - Zulässigkeitsvoraussetzungen, in: JuS 1986, S.8. Zu der Funktion des Vorverfahrens und der Frage der Wirksamkeit einer Verzichtserkiärung des betreffenden Staates im Falle einer „Selbstanklage" (s. IAGMR EuGRZ 1984, S. 189) s. Kokott, a. a. O. (Fn. 80), S. 813 ff. 90 Art. 27 Abs. 2 EMRK, Art. 47 Buchst, b), c) AMRK. " Art. 27 Abs. 2 EMRK, Art. 47 Buchst, c) AMRK. 92 Art. 27 Abs. 1 Buchst, b) EMRK; Art. 46 Abs. 1 Buchst, c) AMRK; kritisch zu der mit dem Argument der Verfahrenskonkurrenz begründeten Zurückhaltung auch westlicher Staaten gegenüber der Anerkennung der Individualbeschwerde auf der Ebene der VN: Nowak, a. a. O. (Fn. 70), S. 534, 544, der insbesondere darauf hinweist, daß sich das Problem der Zweigleisigkeit der Verfahren durch die Erklärung von Vorbehalten erledigen ließe. S. auch im Text III. 1. b) y) aa). 93 Art. 26 EMRK, Art. 46 Abs. 1 a) AMRK; s. aber die Ausnahmeregelung des Art. 46 Abs. 2 AMRK, die in der EMRK keine Entsprechung findet. 94 Art. 46 EMRK, Art. 62 AMRK; Art. 62 Abs. 2 AMRK läßt diese Erklärung ausdrücklich auch nur für spezielle Fälle zu. Diese Möglichkeit mag nicht zuletzt Legitimationsbelangen der Staatsführungen insofern entgegenkommen, als sie es diesen gestattet, auf der Grundlage von Erwägungen politischer Opportunität nur solche Fälle der Kontrolle durch den Gerichtshof zugänglich zu machen, in denen eine Bestätigung ihrer Praxis zu erwarten ist. Im Geltungsbereich der EMRK stand die Regelung des Art. 46 bislang vor allem in Angelegenheiten der Staatenbeschwerde einer Befassung des Gerichtshofs entgegen (s. auch Lindemann, Die Zulässigkeitsentscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission im Fall der Staatenbeschwerde Frankreichs, Norwegens, Dänemarks, Schwedens und der Niederlande gegen die Türkei vom 6. Dezember 1983, ZfaöR 1984, 346, 349). 95 S. hierzu Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes... NJW 1980, S.494: Das Komitee sei „als politisches Organ ein Fremdkörper in dem

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v o n d e r K o m m i s s i o n a n g e n o m m e n e n , v o n dieser o d e r d e m betreffenden Staat j e d o c h n i c h t d e m G e r i c h t s h o f z u r E n t s c h e i d u n g v o r g e l e g t e n Fällen m i t Z w e i - D r i t t e l - M e h r h e i t ü b e r das V o r l i e g e n einer K o n v e n t i o n s v e r l e t zung entscheidet. O b die b e z e i c h n e t e j u s t i z f ö r m i g e A u s g e s t a l t u n g d e r V e r f a h r e n insbes o n d e r e bei I n d i v i d u a l b e s c h w e r d e n für den B e s c h w e r d e f ü h r e r „günstiger" 9 6 ist, e r s c h e i n t in A n b e t r a c h t dieser Fülle v o n Z u g a n g s s c h r a n k e n zweifelhaft 9 7 . V i e l m e h r m ö g e n sich diese als z u s ä t z l i c h l e g i t i m a t i o n s f ö r dernd

auswirken,

s o w e i t sie ihre G r u n d l a g e in s o l c h e n

h a b e n , die die E n t d e c k u n g s w a h r s c h e i n l i c h k e i t (mutmaßlichen)

Tätergemeinschaften

Umständen

illegaler P r a k t i k e n

im R a h m e n

der ihnen

der

eigenen

F u n k t i o n s a u s ü b u n g a u c h i m innerstaatlichen B e r e i c h r e d u z i e r t e r s c h e i n e n lassen. G e m e i n s a m ist den R e g e l u n g e n der K o n t r o l l v e r f a h r e n , daß, s o w e i t den O r g a n e n Befugnisse diese vertraulich98 betreffenden

zu eigenen

Ermittlungen

e i n g e r ä u m t sind, sie

f ü h r e n , w o b e i sie jeweils auf die Mitwirkung

Staates

angewiesen

sind 9 9 .

Mit

Ausnahme

der

des

(i. e. S.)

r e c h t s p r e c h e n d e n I n s t i t u t i o n e n tagen die K o n t r o l l o r g a n e g r u n d s ä t z l i c h

gerichtsförmig angelegten Verfahren der M R K . . . ; denn es verhandelt nach Art einer Geheimjustiz in nichtöffentlicher Sitzung, in der weder Beschwerdeführer noch Kommission vertreten sind, und es gehorcht bei seinen Entscheidungen, die nicht begründet werden, notwendigerweise den Gesetzen der politischen Opportunität". S. auch bereits Bartsch, a.a.O. (Fn.21), S. 119, unter Hinweis auf die Entscheidung des Komitees im sogenannten Huber-Fall (EuGRZ 1975, S.371), in dem das Komitee eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch ein mehr als zwölf Jahre dauerndes Strafverfahren nicht hat feststellen können. Zu den Widerständen einiger Regierungen gegen derzeitige Reformpläne des Inhalts, Kommission und Gerichtshof - unter Ausschaltung des Ministerkomitees - durch eine einzige Institution mit obligatorischer Zuständigkeit zu ersetzen s. Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes . . . , in: NJW 1986, 1379 (1386). Zur Vorlagepraxis der Europäischen Menschenrechtskommission s. Bartsch, a.a.O. (Fn. 21), S. 120. 96 So etwa Maier, I., a.a.O. (Fn.46) S.4. 97 S. im Text III. 1. b) -y) aa). 98 S. etwa Art. 48 Abs. 2 AMRK, Art. 20 Abs.2, 3 der „Anti-Folter-Konvention"; s. hierzu Bartsch, a.a.O. ( F n . l l ) , S.1756; s. auch Art. 59 Abs. 1 der Afrikanischen Charta... 99 Zu der zumindest zurückhaltenden Position der Bundesregierung gegenüber Plänen, auf europäischer Ebene im Rahmen eines entsprechenden Ubereinkommens einer Kontrollkommission die Kompetenz zu unangemeldeten Gefangenenbesuchen einzuräumen s. Bartsch, a.a.O. ( F n . l l ) , S.1759 m.w.Nachw.; s. auch BT-Dr. 10/2778, a.a.O. (Fn.26), S.2. Die Regelung dieser Befugnisse ist inzwischen Gegenstand des Entwurfs eines Fakultativprotokolls zur „Anti-Folter-Konvention"; ablehnend: Maier, I., a.a.O. (Fn.46), S.4ff.

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in nicht-öffentlicher Sitzung100. Die jeweils unterschiedlichen Regelungen der Veröffentlichungsbefugnisse101 der Kommissionen im Falle des Scheiterns des Versuchs der gütlichen Beilegung stimmen ferner darin überein, daß vorab fakultativ die Möglichkeit besteht, den betreffenden Staatsführungen nochmals unter Fristsetzung Empfehlungen zu erteilen. h) Mitteilungen

und Beschwerden

betreffend

Normverletzungen

a) Das Berichtssystem, nach dem die Staatsführungen der Beitrittsländer über die von ihnen getroffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der in den Vereinbarungen anerkannten Rechte Mitteilung machen (Staatenberichte)101, ist allgemein dem Einwand des interessegeleiteten Reduktion kriminologisch relevanter Realität ausgesetzt. Soweit - wie in der Regel die Berichte schriftlich abgefaßt sind103, bestehen hinsichtlich ihrer Realitätsadäquanz gemäß allgemeinen Erkenntnissen über behördliche Wirksamkeitsbelange104 Bedenken dahingehend, daß sie als (regierungs-) behördliche Stellungnahmen unter Umständen selektiv lediglich die ohnehin völkerrechtlich legitimierbaren Vorgänge ausweisen. - Dieses Problem scheint nur bedingt dadurch lösbar, daß in Form allgemeiner 100 Art. 41 Abs. 1 d) des „Pakts", Art. 5 Abs. 3 des Fakultativprotokolls, Art. 33 E M R K . Die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". Die A M R K enthält keine entsprechende ausdrückliche Regelung. Es mögen diese Bestimmungen den Geheimhaltungsinteressen der (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften eher Rechnung tragen als dem Interesse an wirksamer öffentlicher Kontrolle, der nicht zuletzt auch generalpräventive Wirkung zukommen könnte. 101 Vorgesehen ist z. B. im Falle der Staatenbeschwerde vorab jeweils eine Konsultation der betreffenden Staatenvertreter (s. Bartsch, a . a . O . [Fn.95], S.491). Auf europäischer Ebene liegt in den Fällen in denen der Gerichtshof nicht befaßt wird, aufgrund der Art. 31, 32 E M R K die Entscheidung über die Veröffentlichung, die zudem nur bei Feststellung einer Konventionsverletzung in Betracht kommt, ausschließlich bei dem Ministerkomitee. Für den Bereich der O A U soll nach Art. 59 Abs. 2 der Afrikanischen Charta... der Veröffentlichung die Entscheidung der Versammlung der Staats- und Regierungschefs vorgelagert sein. 102 Art. 40 des „Pakts". Die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der „AntiRassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". S. auch Art. VII der „Anti-Apartheid-Konvention", Art. 43 AMRK. Die E M R K enthält keine entsprechende Bestimmung. 103 S. aber zu der Möglichkeit der Veranstaltung von (öffentlichen) Hearings Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes... N J W 1978, S. 451, N J W 1979, S.451; zu den Widerständen gegen deren Ausgestaltung im Sinne eines „Kreuzverhörs" Nowak, a. a. O. (Fn. 70), S. 536 m. w. Nachw. Die Berichtspflicht scheint zuweilen dazu geführt zu haben, daß die Staaten ihr lediglich formell genügt, materiell aber kaum über praktische Durchführungsmaßnahmen berichtet haben (s. Gössner, a. a. O. [Fn. 29], S. 275; s. auch Partsch, a. a. O . 1985 [Fn. 15], S. 168). 104 S. Eisenberg, a . a . O . 1985 (Fn. 3), §40.

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Richtlinien bestimmte inhaltliche Anforderungen an die Staatenberichte gestellt werden105. Die Tatsache, daß sich die Staatenberichte zudem fast ausschließlich auf rechtliche Informationen beschränken106 (und insofern der inhaltlichen Konzeption der materiellen Rechtsgarantien entsprechen, die das Problem der innerstaatlichen Legalität repressiven Staatsunrechts kaum erfassen), kommt dem Interesse der (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften an der Legitimation ihrer Tätigkeit vor den internationalen Organen entgegen107. ß) Die Zulässigkeit der Staatenbeschwerde ist in der Regel108 an eine besondere Unterwerfungserklärung aller Beteiligten, also auch des beschwerdeführenden Staates, gebunden. Diese Möglichkeit der Einleitung eines Kontrollverfahrens hat bislang auf der Ebene der VN keinerlei praktische Relevanz erlangt109. Dies entspricht der Annahme, daß das Beschwerdeverhalten von Staatsführungen maßgeblich von deren Interesse an der Wahrung eigener politischer und wirtschaftlicher Belange bestimmt sei110. Symbiotische bilaterale Beziehungen etwa, die sich nicht selten gerade auf eine Koppelung autoritärer Innenpolitik mit aggressiver Außenpolitik bei dem (potentiellen) Beschwerdegegner stützen, werden daher in der Regel verhindern, daß Staatsführungen entsprechend der dieser Beschwerdemöglichkeit zugrundeliegenden Konzeption111 als Sachwalter des Interesses an der Erhaltung eines internationalen ordre public auftreten. - Entsprechendes gilt allgemein unter der Annahme einer prinzipiellen Interessenübereinstimmung von Staatsführungen hinsichtlich der funktionsgerechten Ausgestaltung ihres Tätigkeitsbereichs, der der Anspruch auf Völkerrechtskonformität im Grundsatz eher widersprechen mag112. 105 S. UN (General Assembly / Official Records / Suppl. N o . 40) Doc. A/34/40, S. 5 ff; vgl. auch Nowak, a . a . O . (Fn. 70), S. 536. 106 S. Nowak, a . a . O . (Fn. 70), S.536. 107 Anhaltspunkte für das Gewicht dieser Belange und die Begründungszusammenhänge der Widerstände gegen die Zulässigkeit der direkten Befragung der Regierungsvertreter bei Erörterung etwaiger Zusatzberichte sowie die Verwertung anderer Informationsquellen, wie etwa der Berichte nicht-staatlicher Organisationen, die Aufschluß über die faktische Menschenrechtssituation in den betreffenden Staaten geben könnten, vermitteln die Nachw. bei Nowak, a. a. O . (Fn. 70), S. 536. 108 Art. 41 Abs. 2 des „Pakts", Art. 21 Abs. 1 der „Anti-Folter-Konvention", Art. 45 Abs. 1, 2 AMRK. Art. 24 EMRK, Art. 11 der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" sowie die Art. 47 ff der Afrikanischen C h a r t a . . . enthalten keine entsprechenden Bestimmungen. ,09 S. Bartsch, a. a. O . (Fn. 11), S. 1753. 110 Vgl. z. B. zur Position der Bundesregierung zu der Frage, ob sie sich den Beschwerden gegen die Türkei anschließe, BT-Dr. 9/1870, S.2; s. auch Lindemann, Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1982, ZfaöR 1984, S.495 (506). 111 S. hierzu Bartsch, a . a . O . (Fn.21), S. 118. 112 S. auch im Text II. 1. a.

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Auch für den Geltungsbereich der EMRK wird berichtet, daß von dieser Beschwerdemöglichkeit nur zurückhaltend Gebrauch gemacht wird113. - Allgemein wird die Wirksamkeit derartiger Verfahren im regional-internationalen Bereich zusätzlich dadurch in Frage gestellt, daß gewisse, mit dem hier vorgesehenen justizförmigen Verfahren verbundene, (auch generalpräventive) Wirkungen dann nicht erzielt werden können, wenn sich nicht auch der Beschwerdegegner der Gerichtsbarkeit des jeweiligen Gerichtshofs unterworfen hat114. y) Auch bei Individualbeschwerden ist in der Regel115 Zulässigkeitsvoraussetzung eine besondere Unterwerfungserklärung des betreffenden Staates. Die Effektivität dieser Beschwerdemöglichkeit ist im hohen Maße abhängig von den jeweils unterschiedlichen Regelungen der Zulassungsverfahren sowie insbesondere der im wesentlichen der Spruchpraxis der Kontrollorgane überlassenen Ausgestaltung der Darlegungsund Beweisregeln, die das Beschwerdeverhalten von Einzelpersonen in diesem Bereich unter den Gesichtspunkten der Einschätzung politischer Resonanz sowie der Beurteilung der Erfolgsaussichten maßgeblich beeinflussen könnten. Gemäß allgemeinen Bedingungen auch sonstigen privaten Anzeigeverhaltens kommt zusätzlich entscheidende Bedeutung der Möglichkeit der Bewertung eines durch die Staatsführung veranlaßten Vorgangs als Rechtsverletzung zu. Hier könnten sich tatsächlich bestehende Unterschiede zwischen internationalen und kulturellen Normensystemen ebenso auswirken wie die Tatsache, daß kriminologisch bedeutsame Handlungen von Staatsführungen nach innerstaatlichem Recht zu erheblichen Anteilen legal sind. Zudem mag insbesondere in nicht-totalitär verfaßten Staaten eine Differenzierung zwischen individuellem Fehlverhalten von Amtsträgern und systematischem Vorgehen der Staatsführung und ihrer Organe Schwierigkeiten bereiten. Hinzu kommt, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen Rechtsverletzungen durch die Staatsführung und ihre Organe unter Umständen als erwartungsgemäß beurteilen, wobei diese als solche zwar wahrgenommen werden, die

113 Bartsch, a . a . O . (Fn.21), S. 118; zum Umfang der Darlegungslast für die Zulässigkeit der Staatenbeschwerde s. Lindemann, a. a. O. (Fn. 94), S. 346, unter Hinweis darauf, daß ein prima-facie-Beweis der Konventionsverletzung nicht erforderlich ist, jedoch insbesondere bei Behauptung einer konventionsverletzenden Verwaltungspraxis für die Nichtanwendung des Art. 26 EMRK ein substantiierter Sachvortrag vorausgesetzt wird. 114 S. im Text III. 1. a. ß). 115 Art. 1 des Fakultativprotokolls, Art. 22 Abs. 1 der „Anti-Folter-Konvention", Art. 14 der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention", Art. 25 EMRK. Art. 44 AMRK sowie Art. 55 ff der Afrikanischen Charta... enthalten keine entsprechende Bestimmung.

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Betroffenen aber nicht den Beschwerdeweg beschreiten. — Von geringerer Bedeutung könnten diese Aspekte im regional-internationalen Bereich sein, soweit dort auch nicht-staatliche Organisationen für entsprechende Beschwerden aktivlegitimiert sind116. aa) Auf der Ebene der VN hat bislang lediglich das im Fakultativprotokoll vorgesehene Individualbeschwerdeverfahren Bedeutung erlangt. Im Unterschied zu den entsprechenden Verfahrensregeln im regional-internationalen Bereich, namentlich den Regelungen der EMRK, sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen vergleichsweise beschwerdeförderlich gefaßt117. Insbesondere hinsichtlich des Erfordernisses der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges118 als Zugangsschranke, deren Uberwindung eine erhebliche Beschwerdemacht des Einzelnen voraussetzt119, sieht das Fakultativprotokoll im Gegensatz zur EMRK eine Ausnahme für den Fall vor, „daß das Verfahren unbegründet in die Länge gezogen wird" (Art. 5 Abs. 2 Buchst, c)120. Ein anderer wesentlicher Unterschied der Regelungen des Fakultativprotokolls zu denen im regional-internationalen Bereich besteht darin, daß die Möglichkeit einer Zurückweisung der Beschwerden als offensichtlich unbegründet121 nicht besteht, an der insbesondere nach der Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechtskommission eine weitere Befassung (auch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte) vergleichsweise häufig scheitert122. Letzteres erscheint deshalb unbefriedigend, weil sich die Beschwerdeführer aufgrund der für den einschlägigen Verhaltensbereich charakteristischen Merkmale, deren Nachweis durch die Eigenart der Tatbestandsformulierungen zudem kaum erleichtert wird, nicht selten in (Darlegungs- und) S. Art. 44 AMRK, Art. 25 EMRK; s. auch die Art. 55 ff der Afrikanischen C h a r t a . . . Vgl. auch AI, 1981, a . a . O . (Fn.25) S.143. 117 So auch Nowak, a . a . O . (Fn. 70), S. 538ff (s. auch Fn.92). 118 Art. 5 Abs. 2 b) des Fakultativprotokolls, Art. 22 Abs. 5d) der „Anti-Folter-Konvention", Art. 14 Abs. 7 a) der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention", Art. 26 EMRK, Art. 46 Abs. 1 a) AMRK. 119 Vgl. Trechsel, a . a . O . (Fn.51), S. 526, unter Hinweis darauf, daß die Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 Buchst, d) EMRK (Inhaftierung Minderjähriger „zum Zwecke überwachter Erziehung", „zwecks Vorführung vor die zuständige Behörde") in der Praxis der Kommission wegen der geringen Beschwerdemacht der Betroffenen ohne Bedeutung geblieben ist. Ungeklärt und umstritten ist die Frage, ob der Beschwerdeführer noch zum Zeitpunkt der Einleitung des Beschwerdeverfahrens der Herrschaftsgewalt des Beschwerdegegners unterliegen muß (s. Gössner, a. a. O . [Fn. 29], S. 276; zur Spruchpraxis des VN-Menschenrechtsausschusses s. Nowak, a. a. O . [Fn. 70], S. 539). 120 Eine entsprechende Bestimmung enthält Art. 46 Abs. 2 Buchst, c) AMRK. 121 S. Art. 27 Abs. 2 EMRK, Art. 47 Buchst, c) AMRK. 122 Nowak, a. a. O . (Fn. 70), S. 540; s. auch im Text III. 1. a. ß).

Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen

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Beweisnot befinden werden, die unter Umständen erst im Verlauf eines kontradiktorischen Verfahrens behoben werden könnte. ßß) Bezüglich der Darlegungs- und Beweislastregeln geht die Spruchpraxis des Menschenrechts-Ausschusses der VN dahin, die Tatsachenbehauptungen des Beschwerdeführers als erwiesen anzusehen, wenn nicht die betreffende Staatsführung die Behauptungen substantiiert und unter (sacherheblichem) Beweisantritt bestreitet123. Weitgehend ungeklärt sind jedoch die Beweisregeln im übrigen. Betreffend den Umfang der Uberprüfung von Sachentscheidungen der nationalen Behörden wird für den europäischen Bereich berichtet, daß die Rechtmäßigkeit des prozessualen Vorgehens der innerstaatlichen Institutionen nur in sehr eingeschränktem Maße der Kontrolle unterliege124. Die Prüfung, ob - auf der Grundlage nicht substantiiert bestrittener Akteninhalte des entsprechenden (Straf-)Verfahrens - das Vorgehen der Behörden prima facie als gerechtfertigt erscheint125, ist als für den Rechtsgüterschutz unzulänglich anzusehen. Dies gilt schon deshalb, weil schriftlich fixierte Begründungszusammenhänge behördlicher Entscheidungen gemäß den Formen der Ausgestaltung behördeninterner Effektivitätsbelange „auf den ersten Blick" jedenfalls als „nicht unvernünftig" sich darstellen126. Vielmehr läßt eine derartige Spruchpraxis besorgen, daß sie - indem sie einer (u. U. gerade hinsichtlich illegaler Bestandteile) reduzierten Aktenrealität folgt - den Legitimationsbelangen der (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften in einer Weise Rechnung trägt, die diesen die ungehinderte Funktionsausübung einschließlich potentiell illegaler Praktiken zusätzlich absichert. 2. Sanktionierung

von

Normverletzungen

a) Sanktionsbefugnisse der von den Organisationen eingesetzten Organe Inwieweit die informelle Sanktionierung durch die Veröffentlichung von Berichten seitens der Kontrollkommissionen (s.o. III. 1.a.) von Einfluß auf die Normeinhaltung der betreffenden Staaten ist, erscheint als wenig geklärt. Der Sanktionscharakter als solcher ist aber jedenfalls dann in Frage gestellt, wenn die entsprechenden Berichte lediglich allgemeine, nicht namentliche Feststellungen enthalten bzw. die (mut-

12J

Nowak, a. a. O. (Fn. 70), m. w. Nachw. S. etwa Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.520f m. w.Nachw. 125 S. Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.525 zur Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechtskommission zum „hinreichenden Tatverdacht" im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Buchst, c) EMRK. 126 Zu Problematik und Funktion von Aktenrealität s. Eisenberg, a.a.O. 1985 (Fn. 3), §13 Rdn.16, §40 Rdn.3. 124

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maßlichen) Tätergemeinschaften an der Erstellung der Berichte maßgeblich beteiligt sind127. Was die Gerichte anbelangt, die gemäß Vereinbarungen regionalinternationaler Organisationen institutionalisiert sind (s.o. III. l.a.), so sind die ihnen zustehenden formellen Sanktionsbefugnisse darauf beschränkt, daß der betreffende Staat mit der die Normverletzung feststellenden Verurteilung aufgefordert wird, Abhilfe zu schaffen und gegebenenfalls Entschädigung zu leisten128. Die Effektivität dieser Urteile für die Normeinhaltung der betreffenden Staatsführung dürfte schon deshalb begrenzt sein, weil sie keine kassatorische Wirkung haben129. Maßgeblich für die Frage der Normeinhaltung könnte vielmehr das Ergebnis einer Abwägung der damit für die Staatsführung (tatsächlich oder mutmaßlich) verbundenen innenpolitischen Nachteile gegenüber den mit einer Fortsetzung normwidrigen Verhaltens (tatsächlich oder mutmaßlich) verbundenen Beeinträchtigungen der diplomatischen Beziehungen zu den übrigen Mitgliedsstaaten sein, das auch von der Einschätzung der (geringen) Kontrollintensität beeinflußt sein dürfte. b) Sanktionsmöglichkeit

durch die Organisation selbst

Für den Fall beharrlicher Verletzungen der Grundsätze der Organisationen sehen die Satzungen zum Teil fakultativ die Möglichkeit des Ausschlusses von Mitgliedsstaaten vor150. Die Wirkung dieser Sanktion ist insofern ambivalent, als mit dem Ausschluß aus der Organisation zugleich (auch formell) jede Möglichkeit künftiger Kontrolle der betreffenden Staatsführung entfällt.

127 S. Bartsch, a.a.O. (Fn. 80), S. 493 f. (Fn. 14), S.484 zur Einflußnahme einiger Mitgliedstaaten der O A S auf die Fassung der Jahresberichte der Interamerikanischen Menschenrechtskommission; s. auch Fn. 83. Demgegenüber besteht die ausführliche Berichtspraxis des VN-Menschenrechts-Ausschusses fort. Die Fassung der Sachentscheidungen nähert sich feststellenden Urteilen an, ohne daß diese allerdings - im Unterschied zu den Entscheidungen des jeweils im regionalinternationalen Bereich institutionalisierten Gerichtshofs - vollstreckbar wären (s. im einzelnen Bartsch, a. a. O. [Fn. 11], S. 1755). 128 Zur Vollstreckung s. Art. 68 AMRK, Art. 54 EMRK; gemäß der zuletzt genannten Bestimmung obliegt die Überwachung der Durchführung dem Ministerkomitee (s. auch Fn. 95). 129 S. hierzu Vogler, a.a.O. (Fn. 56), S. 779, der die Auffassung vertritt, daß die völkerrechtliche Pflicht, das konventionswidrige Recht aufzuheben, auch die Verpflichtung umfasse, für zurückliegende Urteile einen Wiederaufnahmegrund zu schaffen. 130 S. Art. 8 der Satzung des Europarats; Art. 6 der Charta der VN. S. auch Bartsch, a.a.O. (Fn. 11), S. 1752, betreffend den mehrfach geforderten Ausschluß der Türkei aus dem Europarat.

Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Cesare Beccarias „Über Verbrechen und Strafen" (1764) GERHARD DEIMLING

I. Beccarias Empfehlungen zur Verbrechensvorbeugung Nicht nur für die Kriminalpolitik ist es ein Gemeinplatz, daß Vorbeugen besser sei als Heilen: es gibt heute kaum noch einen Politikbereich, der auf präventive Maßnahmen und Empfehlungen glaubt verzichten zu können. Kriminalpolitisch gilt die Prävention seit langem als Alternative zur staatlichen Strafe, wie ein Blick in einschlägige internationale Bibliographien lehrt. So einleuchtend der Gedanke auch sein mag, daß Vorbeugen besser sei als Strafen, so ist doch eine besonnene Zurückhaltung gegenüber meist undifferenzierten und wissenschaftlich unbegründeten Empfehlungen angebracht. Hilde Kaufmann stellte im Rahmen einer Tagung der Aktion Jugendschutz im Herbst 1973 die skeptische Frage, ob ein Ersatz der sogenannten Repression durch die Prophylaxe möglich sei oder ob nicht in Wirklichkeit unsere soziale Ordnung eines wohldurchdachten Zusammenspiels von Prophylaxe und Repression bedürfe1. Obwohl die wissenschaftliche Diskussion über Kriminalprävention ein ehrwürdiges Alter erreicht hat, steht eine Geschichte ihrer Empfehlungen und Maßnahmen, ihrer Erfolge und Mißerfolge sowie der sozialpolitisch-humanitären Ideen noch aus. Ebenso wie die Erforschung der Geschichte der staatlichen Strafe die Reform des Strafvollzugs mittelbar stark beeinflußt hat, könnte auch eine Geschichte der Kriminalprävention einen Beitrag zur Versachlichung der zum Teil euphorisch geführten Diskussion über Vorbeugungsstrategien leisten und zu einer realistischeren Einschätzung prophylaktischer Möglichkeiten führen. Cesare Beccaria (1738-1794) ist einer der ersten Theoretiker, der sich mit Fragen der Verbrechensvorbeugung befaßt und umfassende Vorschläge zur Eindämmung und Verhinderung des Verbrechens gemacht hat. Bekannt wurde er allerdings weniger durch seine Empfehlungen zur 1 Hilde Kaufmann, Repression oder Vorbeugung? In: Hilde Kaufmann (Hrsg.), Die Kriminalität Jugendlicher und wir. Repression oder Vorbeugung durch Erziehung, 1974, S. 15.

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Kriminalprävention als vielmehr durch seine Kritik des damals in ganz Europa herrschenden Justizwesens, insbesondere der Gesetzgebung, des Gerichtsverfahrens, der Untersuchungshaft, der geheimen Anklagen, der Folter und der Todesstrafe. Seine erst am Ende seines Buches 2 geäußerten Ideen zur Verbrechensvorbeugung sind als politische Forderungen eines aufgeklärten Denkers an die Adresse eines aufgeklärten Souveräns zu verstehen, die als Summe seiner Justiz-, Staats- und Kulturkritik gelten können. 1. Vorbeugung ist der Hauptzweck einer „guten Gesetzgebung". „Besser ist es, den Verbrechen vorzubeugen als sie zu bestrafen" ( A l f f 148). Mit diesem Satz leitet Beccaria sein Präventionsprogramm im 41. Kapitel seines W e r k s „ U b e r Verbrechen und Strafen" ein, nachdem schon zuvor im 31. Kapitel im Zusammenhang mit der Erörterung des Kindermordes dessen Verhütung angesprochen worden war: „Die beste Weise der Verhütung bestünde bei diesem Verbrechen in einem wirksamen Schutz der Schwäche vor der Tyrannei, welche die Laster übertreibt, die sich nicht mit dem Mantel der Tugend decken lassen" (Alff 128). E r hält die damals übliche strafrechtliche Reaktion auf dieses Verbrechen solange für ungerecht und nicht erforderlich, solange „nicht das Gesetz das unter den gegebenen Verhältnissen einer Nation bestmögliche Mittel angewandt hat, um dem Verbrechen vorzubeugen" ( A l f f 129). Beccaria verbindet seine Vorstellungen über Verbrechensvorbeugung und Strafe mit einer Theorie des Staates und der Gesellschaft, die auf der Fiktion des Gesellschaftsvertrags beruht. F ü r ihn sind Gesetze „die Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in Gesellschaft zusammenfanden, Menschen, die es müde waren, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der U n g e w i ß heit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und R u h e sich zu erfreuen. D i e Summe aller dieser Teile von Freiheit, welche für das W o h l eines jeden geopfert wurden, macht die Souveränität einer Nation 2 Die folgenden Beccaria-Zitate sind der von Wilhelm A l f f aus dem Italienischen übersetzten und herausgegebenen Ausgabe „Verbrechen und Strafen", erschienen im InselVerlag Frankfurt a. M. 1966, entnommen (zitiert: Alff). Zum Textvergleich wurden außer der von Marcello Maestro in der Reihe Feltrinelli Economica StA Milano 1977, herausgegebenen italienischen Fassung, die von Philip Jacob Flathe ebenfalls aus dem Italienischen übersetzte und von Karl Ferdinand Hommel 1778 (zit.: Hommel) sowie die aus dem Italienischen übersetzte und mit Anmerkungen Denis Diderots versehene zweibändige Ausgabe von Johann Adam Bergk, 1798 (zit.: Bergk) benutzt. Hilfreich ist auch das von Karl Esselborn nach der 1812 in Mailand erschienenen Folio-Ausgabe übersetzte und 1905 in Leipzig herausgegebene Werk Beccarias (zit.: Esselborn). Auf weitere deutschsprachige Übersetzungen braucht im Rahmen dieser Abhandlungen wegen der relativ wenigen sinnverändernden Textabweichungen nicht eingegangen zu werden.

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aus, und der Herrscher ist ihr gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter" (Alff 51). Das im vorvertraglichen Zustand der Gesellschaft herrschende Gesetz der Selbsthilfe und der Macht des Stärkeren sowie die aus diesem Zustand hervorgehenden Verbrechen und Strafen müssen deshalb auch qualitativ von denen verschieden sein, die in einer Gesellschaft auftreten können, in der die Gesetze„Verträge freier Menschen" sind ( A l f f 48). Der Gedanke, daß sich in der Art der Verbrechen und Strafen der gesellschaftliche und politische Zustand einer Nation widerspiegeln, wurde bereits von Montesquieu (1689-1755) in seinem Werk „De l'Esprit des Lois" (1748) ausgesprochen. Im neunten Kapitel des sechsten Buches heißt es: „Härte der Strafen ist der despotischen Regierung, deren Prinzip der Terror ist, eher gemäß als der Monarchie und der Republik, deren Triebkraft Ehre bzw. Tugend ist" 3 . Montesquieu war es auch, der den Vorbeugungsgedanken unmittelbar mit der Gesetzgebung „maßvoller Staaten" in Verbindung brachte: „In diesen Staaten läßt es sich ein guter Gesetzgeber nicht so sehr angelegen sein, Verbrechen zu bestrafen als vielmehr ihnen zuvorzukommen. Er wird sich mehr für die Schaffung von Sitten einsetzen als für die Verhängung von Todesstrafen" 4 . Wenn es bei Beccaria weiter heißt, daß es der Zweck einer jeden guten Gesetzgebung sei, „die Menschen zum größtmöglichen Glück oder zum geringstmöglichen Unglück zu führen" {Alff 148 f) - in der „Einleitung" heißt es: „Das größte Glück verteilt auf die größte Zahl von Menschen" (Alff 48) - dann muß noch eines anderen Schriftstellers gedacht werden, dem Beccaria diese für die Soziallehre der Aufklärungszeit bedeutsame Formel verdankt, nämlich Francis Hutcheson (1694-1746). Von ihm stammt die leicht einprägbare Formulierung „vom größten Glück für die größte Zahl". So wie bei Beccaria taucht sie in vielen anderen zeitgenössischen Schriften der europäischen Philosophie und Nationalökonomie auf und erfährt im Verlaufe nur weniger Jahrzehnte manche eigentümlichen Abwandlungen, die sowohl Ausdruck einer unverkennbaren Resignation angesichts des Ausbleibens der erhofften Verbesserungen als auch eines wiedergewonnenen realistischeren Denkens sind. Verbrechensvorbeugung ist für Beccaria ein zweckrationales Mittel in der Hand des aufgeklärten Gesetzgebers innerhalb eines von Despotismus freien Staates freier Bürger zur Verwirklichung des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl. Nur ein auf Gewaltenteilung beruhender republikanischer Rechtsstaat, den sich die Aufklärer erhofften, kann es sich leisten, der Kriminalprävention den Vorzug vor der VerbreMontesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1974, S. 172. Montesquieu, a . a . O . S. 172. Uber die Auseinandersetzung Beccarias mit quieu siehe Esselborn, S. 5 ff. 3 4

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chensbekämpfung durch Repression zu geben - sofern sich" alle Bürger an den von ihnen geschlossenen Vertrag halten. Verbrechensvorbeugung ist auf einen gerechteren und menschenwürdigeren Zustand der Gesellschaft in der Zukunft ausgerichtet. Deshalb muß der Gesetzgeber nach Möglichkeit alle Umstände voraussehen, die die Erreichung des erwünschten Zustandes behindern oder zunichte machen könnten. Das kann er jedoch nur, wenn er bereit ist, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen. Die „gute Gesetzgebung" ist für Beccaria deshalb eine hohe Kunst, die darauf beruht, die geeigneten Mittel zur Erreichung des erwünschten Zustandes zu kennen und anzuwenden. Diese Kunst ist Staatskunst des „moralischen Politikers", der im Sinne Kants die sittliche Aufgabe wahrnimmt, „den ewigen Frieden, den man nicht bloß als physisches Gut, sondern als einen aus Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand wünscht, herbeizuführen" 5 . Beccaria hat - ausgehend von Montesquieu - mehr als dreißig Jahre vor Kant die Verbrechensvorbeugung als eine zentrale Aufgabe der Politik im allgemeinen und der Kriminalpolitik im besonderen definiert. 2. Verbrechensvorbeugung setzt weltanschauliche Toleranz voraus. Der „gesetzgebenden Klugheit" des Souveräns entspricht es, nicht alles zu verbieten und mit Strafe zu bedrohen, was Anlaß zu einem Verbrechen sein könnte, denn „es ist unmöglich, die unruhvolle Tätigkeit der Menschen in eine geometrische Ordnung bar der Unregelmäßigkeiten und Verwirrung zu bringen" ( A l f f 149). Karl Ferdinand Hommel (1722-1781) greift diesen Gedanken Beccarias zustimmend in seinem Kommentar auf: „Das ist der Fehler unserer Policey Ordnungen, welche den Menschen zu Maschinen machen wollen, die zu gesetzter Zeit schlafen, bethen, essen und trinken sollen, wie man es in Schulen mit den Kindern macht" (Hommel 217). Beccarias Forderungen nach weitgehender Entkriminalisierung bestimmter strafbarer Handlungen gründen auf seiner religionskritischen Unterscheidung der Einflußsphären von Kirche und Staat, von staatlichem Gesetz und religiösen Verhaltensvorschriften sowie von „Staatsverbrechen" und „Religionsvergehen". Voltaire liefert in seinem Kommentar zu Beccaria von 1766 die historischen Belege für die unheilvollen Folgen der Vermischung von Staat und Kirche: er klagt die Kirche an, sich der staatlichen Macht zu bedienen, um ihre moralischen Uberzeugungen durchzusetzen, und er klagt den Staat an, ungerechte und grausame Strafen für Vergehen zu verhängen, die nicht seiner Jurisdiktion unterstehen. Beccarias Forderung, „Religionsvergehen" aus dem Strafrecht zu eliminieren, fällt in eine Zeit, in 5

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Kant Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, 1968, S.239.

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der überall in Europa - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit - ein Auseinanderbrechen von geistlicher und weltlicher Macht und ein Auseinanderdriften der Legitimationsgrundlagen geistlicher und weltlicher Herrschaft zu beobachten sind. Das Schisma der in Gesellschaft und Kirche geltenden Moralen wird manifest; die Empörung über die von Voltaire vor der Weltöffentlichkeit angeprangerten Bluturteile speist sich aus dem längst zum Anachronismus gewordenen Verhältnis von Staat und Kirche. Verbrechensvorbeugung im Sinne Beccarias setzt somit die Entkonfessionalisierung und Entideologisierung des staatlichen Strafrechts und die weltanschauliche Neutralität des Gesetzgebers voraus. Viele Handlungen, die bisher auf Grund kirchlichen Rechts vom Staat unter Strafe gestellt waren, sind für Beccaria „indifferente Handlungen", die nur „für schlechte Gesetze Verbrechen heißen" (Alff 149). Alle Theokratien und totalitären Staaten mit einer quasireligiösen Ideologie neigen dazu, ihre Untertanen einem Recht zu unterwerfen, das ihnen keine Handlungsalternativen außer den vorgeschriebenen bietet. Rousseau hatte zwei Jahre vor Beccaria im „Emile" geschrieben: „Wenn es einen so erbärmlichen Staat in der Welt gibt, in dem niemand leben kann, ohne verwerflich zu handeln, und in dem die Bürger notwendigerweise Schurken werden müssen, dann soll man doch nicht den Übeltäter hängen, sondern den, der ihn zwang, es zu werden" 6 . Der sächsische Hofrat Hommel begrüßt mit protestantischer Unbefangenheit und mit unverkennbarem Sarkasmus die Forderungen Beccarias in seiner „Vorrede über Verbrechen und Strafen": „Gottes Gerichte und menschliche Gerichte sind heterogene Dinge, und so schwerlich, wie Wasser und Oel, miteinander zu vermischen, weil ihre Bestandtheile und ihre Quellen verschiedentlich. Die Quelle, woraus menschliche Strafgesetze fliesen, ist einzig und allein die Gröse des Unheils, welches ein Verbrechen dem Nächsten oder der ganzen Republik verursachet. Wer dieses nicht wohl unterscheidet, der errichtet ein Lehrgebäude, ähnlich dem, welches Horaz verlachet: Fürwahr ein artig Bild! Es steht ein Menschenkopf Auf eines Pferdes Hals: den diken Vogelkropf Bedekt ein bunder Schmuk von farbigem Gefieder; Hernach erbliket man verschiedner Thiere Glieder. Von oben zeigt ein Weib ihr schönes Angesicht Von unten wirds ein Fisch. Ihr Freunde lacht doch nicht!"7

3. Der Wille des „guten Gesetzgebers" als Repräsentanten der vertraglich miteinander verbundenen Bürger äußert sich in einfachen und klaren 6 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Uber die Erziehung, in neuer deutscher Fassung besorgt von Josef Esterhues, zweite Auflage, 1962, S. 208. 7 Hommel, S . X X I f ; siehe auch J.A. Bergks Kommentar Bd. 1, S.312.

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Gesetzen. Nach Beccarias Ansicht hat der gute Gesetzgeber die Pflicht, die Bürger des Staates anzuhalten, sich aktiv für die allgemeine Anerkennung des Gesetzes einzusetzen. Dadurch identifizieren sie sich leichter mit „ihrem" Staat und geben ihrer gegenseitigen Verbundenheit durch Steigerung des Verbindlichkeitsgrades ihrer Rechtsordnung Ausdruck. Die Gesetze sind um so verbindlicher, je mehr sie jedem einzelnen Bürger wegen ihrer Einfachheit und Klarheit als gerecht erscheinen. Sie besitzen eigene Würde und Legitimität; ihre Verletzung m u ß jedem Bürger als Frevel gelten. Indem der Einzelne erkennt, daß es moralisch wertvoll ist, rechtlich korrekt zu handeln, wächst seine Bereitschaft, die Gesetze nicht nur zu respektieren, sondern auch zu verteidigen. Die Verteidigung der Gesetze durch die Bürger ist für Beccaria ein wirksames Prophylaktikum gegen deren latente Neigung, Verbrechen zu begehen. An die Adresse des Souveräns gerichtet fordert er daher: „Ihr wollt den Verbrechen vorbeugen? Dann sorget dafür, daß die Gesetze klar und einfach sind, die ganze Macht der Nation sich auf ihre Verteidigung konzentriert und kein Teil auf ihre Zerstörung verwendet wird" ( A l f f 149 f).

4. Der „gute Gesetzgeber" beugt den Verbrechen vor, indem er dafür sorgt, daß die Gesetze keine Kollektive (Stände, Klassen), sondern das menschliche Individuum begünstigen. Es entspricht Beccarias Auffassung vom Gesellschaftsvertrag, daß das menschliche Individuum auch nach dem partiellen Freiheitsverzicht im „pactum sociale" ein eigenständiges Rechtssubjekt bleibt. Seine Rechte stützen sich nicht auf seine Zugehörigkeit zu einem der privilegierten Stände, sondern auf seinen persönlichen Entschluß, dem Kampf aller gegen alle zu entsagen und mit den anderen Vertragspartnern in Frieden und Eintracht zusammenzuleben. In der freiwilligen Anerkennung der Gesetze durch das Individuum findet der Selbstrespekt des Rechtssubjekts seinen angemessenen Ausdruck. Die zwingende Macht des Gesetzes beruht darum nicht auf der Macht eines einzelnen Potentaten oder einer privilegierten Klasse, sondern auf der selbst gewollten Bindung an den Gesellschaftsvertrag. Beccaria glaubt, daß der Mensch, der sich dem Gesetz verpflichtet weiß, unvernünftig handeln würde, wenn er es bräche: er gehorcht also nicht aus Furcht vor Menschen, sondern aufgrund der Einsicht in die N o t wendigkeit einer von ihm selbst mitgestalteten sozialen Lebensordnung. Beccaria appelliert deshalb an den Gesetzgeber: „Sorget dafür, daß die Menschen die Gesetze, und sie allein, fürchten. Die Furcht vor dem Gesetz ist heilsam, doch verhängnisvoll und trächtig von Verbrechen ist die Furcht von Mensch zu Mensch. Geknechtete Menschen sind genußsüchtiger, ausschweifender, grausamer denn freie Menschen" ( A l f f 150). Damit dieser Appell bei den Individuen Gehör findet, muß der Souverän

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allerdings gewisse Vorkehrungen treffen, die Beccaria an anderer Stelle (s. u.) erläutert. 5. Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit der Gesetze verursachen je nach Staatsverfassung und geographisch-klimatischer Lage der Nation unterschiedliche Wirkungen in bezug auf Art und Häufigkeit der Verbrechen. Wie sehr Beccaria auch an dieser Stelle unter dem Einfluß Montesquieus steht, wird deutlich, wenn man zum Vergleich das 14. Buch „Vom Geist der Gesetze" heranzieht. Montesquieu formuliert seinen Grundgedanken wie folgt: „Wenn wirklich die Geisteshaltung und die Leidenschaften des Herzens unter andersartigem Klima äußerst unterschiedlich sind, müssen die Gesetze sowohl dem Unterschied dieser Leidenschaften als auch dem Unterschied dieser Haltungen entsprechen" 8 . Die folgenden Bemerkungen Beccarias sind nur unter der Voraussetzung der Kenntnis der für die Sozialphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts folgenreichen Gedanken Montesquieus verständlich. Adolphe Quétélet (1796-1854) hat diesen Gedanken in seiner „Physique sociale" (1835) ebenso wie einige Moralstatistiker des 19. Jahrhunderts aufgegriffen und das Klima hypothetisch als einen variablen Faktor in die kriminalätiologische Forschung aufgenommen. Erst Emile Durkheim (1858-1917) hat später im „Suicide" (1897) die wissenschaftliche Unhaltbarkeit dieser für lange Zeit populären Auffassung - zumindest in Bezug auf den Selbstmord - nachgewiesen'. Für Beccaria jedenfalls stand außer Frage, daß unklare und unzuverlässige Gesetze je nach Klima und Nationalcharakter in der einen Nation Trägheit und Dummheit, in einer anderen Ränke, Intrigen, Verrat und Heuchelei begünstigen. N u r eine „kühne und starke Nation" vermag die Unzuverlässigkeit der Gesetze zu beseitigen, muß aber „zunächst viele Schwankungen von der Freiheit zur Knechtschaft und von der Knechtschaft zur Freiheit" in Kauf nehmen (Alff 150). Beccaria schien mit Montesquieu darin überein zu stimmen, daß auch außersoziale Faktoren die Chancen der Kriminalprävention beeinflussen können. 6. Die Verbreitung von Aufklärung und Freiheit ist ein wirksames Mittel der Verbrechensvorbeugung. Aufklärung bedeutet für Beccaria in der philosophischen Tradition Francis Bacons (1561-1626)10 und in Ubereinstimmung mit den französischen Enzyklopädisten in erster 8

Montesquieu, a. a. O . S. 255. Emile Durkheim, Der Selbstmord. Mit einer Einleitung von Klaus Dörner und einem Nachwort von René König, 1973, S. 100-123. 10 Das seinem Buch vorangestellte Motto stammt von Francis Bacon und lautet übersetzt: „Gerade bei den schwierigsten Unternehmungen darf man nicht erwarten, daß einer zugleich säe und ernte, sondern es bedarf der Vorbereitung, damit sie allmählich heranreifen". 9

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Linie Vermittlung von empirischem Wissen über naturwissenschaftliche, politische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Aufklärung, wie er sie versteht, ist politische Bildung, die z u m Feldzug gegen die „verleumderische Unwissenheit", gegen Betrug, Aberglauben und illegitime Herrschaft antritt. J e mehr sich das Wissen ausbreitet, desto mehr verschwinden nach Beccarias Ansicht die gesellschaftlichen Übel, und das Gute gewinnt Oberhand. Für ihn besteht ein direkter Kausalzusammenhang zwischen Wissen und Moral: nur der Unwissende ist anfällig für Verführung und Blendwerk, der Wissende dagegen handelt sittlich gut aus Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge des sozialen und politischen Lebens. Z u diesem Wissen gehört auch die Kenntnis der Rechtsordnung und das Vermögen, zwischen dem v o m Despoten gewaltsam oktroyierten Unrecht und dem durch den Gesellschaftsvertrag geschaffenen Recht zu unterscheiden. Aufklärung durch Wissen befreit von der „ihrer Vernunftgründe entkleideten Autorität" {Alff 151) und hilft zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung. Sie fördert die Kritikfähigkeit und Mündigkeit des Individuums und dient damit unmittelbar der Vorbeugung von Unfreiheit als dem eigentlichen N ä h r boden aller Verbrechen. 7. Verbrechensvorbeugung ist nur möglich, wenn sich die Wissenschaften frei entfalten können. Gute Gesetze haben den Zweck, die Wissenschaften zu fördern und dadurch die Zahl der aufgeklärten und freien Menschen zu vermehren. Beccaria sieht sich aus einem im Text nicht näher angegebenen G r u n d e offensichtlich zu einer Apologie der Wissenschaften genötigt, wenn er schreibt: „ E s ist nicht wahr, daß die Wissenschaften stets für die Menschheit schädlich gewesen sind, und wenn sie es waren, so war es ein für die Menschen unvermeidbares Ü b e l " (Alff 151). Lange vor Auguste Comtes (1798-1857) Drei-Stadien-Gesetz entwickelte er z u m Zwecke der Verteidigung der Wissenschaft eine rudimentäre geschichtsphilosophisch-wissenssoziologische Phasentheorie wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts: dieser beginnt nach einem lang andauernden Urzustand der Ungeselligkeit der Menschen in dem Augenblick, in dem „Wohltäter der Menschen" andere Menschen „ z u m Staunen zu bringen wagten und die gefügige Unwissenheit zu den Altären führten" ( A l f f 152). Erst die durch Staunen und Wißbegier entfachten Leidenschaften machten aus wilden Völkern Nationen, das Streben nach Wissen war das einigende Band der Menschen. Wissenschaft und Gesellschaft entstanden z u m gleichen Zeitpunkt; erst durch Wissenschaft kam die Gesellschaft zu ihrem Bewußtsein 11 . D a s erste 11 Die Furcht Beccarias vor der Zensur veranlaßte ihn vermutlich zu folgender Bemerkung: „Ich spreche nicht von jenem durch Gott erwählten Volke, für das die außergewöhnlichsten Wunder und die offensichtlichsten Gnaden die Stelle menschlicher Politik einnahmen" ( A l f f 152).

Kriminalprävention und Sozialkritik im W e r k Beccarias

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Stadium der Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung war allerdings - verglichen mit dem fiktiven Urzustand - durch Fanatismus, Verblendung und Irrtum der Menschen gekennzeichnet. Alle Übel dieser Epoche waren aber auf dem Wege der Menschheit von der „Finsternis der Unwissenheit zum Lichte der Philosophie und von der Tyrannei zur Freiheit" ( A l f f 153) unvermeidlich. „Die zweite Epoche besteht in dem schwierigen und furchtbaren Ubergang von den Irrtümern zur Wahrheit, von der Finsternis, deren man sich nicht bewußt ist, zum Lichte" (Alff 152). „Furchtbar" war dieser Übergang, weil die Erkenntnis lieb gewordener Irrtümer sowohl für die Mächtigen als auch für die Schwachen schmerzlich war. Während dieser drangvollen Periode der beginnenden Aufklärung setzt die „Entzauberung der Welt durch Wissenschaft" (Max Weber) ein: wenn auch - wie Beccaria meint - die neuen Erkenntnisse manche Beschwerden bereiten mögen, so sind sie doch nicht schädlich, sondern dem Gemeinwesen wie dem Individuum außerordentlich nützlich. „Der aufgeklärte Mensch (ist) das kostbarste Geschenk, das der Nation und sich selber ein Fürst machen kann, der ihn zum Verwalter und Hüter der unverletzlichen Gesetze bestellt" (Alff 153). Die Förderung der Wissenschaften durch den Souverän wird darum zu einem indirekt wirkenden Mittel der Verbrechensvorbeugung, weil sich der durch die Wissenschaften aufgeklärte Mensch nach der Wahrheit sehnt und sie nicht fürchtet; weil er frei ist vom Diktat vermeintlicher Bedürfnisse, asketische Selbstzucht übt und die eigene Nation als „eine Familie brüderlicher Menschen" betrachtet, zwischen denen der vertikale soziale Abstand um so geringer wird, „je größer die Masse der Menschheit ist, die ihm vor Augen steht" (Alff 154). Hommel hatte Beccarias Apologie der Wissenschaften zum Anlaß genommen, einen eigenen Beitrag zur Entmythologisierung der Religionen zu leisten, auf deren Konto nach seiner Ansicht in der Vergangenheit viele Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten gehen. Er geht in seiner Religionskritik allerdings über Beccaria hinaus und erkennt, daß der Mensch „wegen der ihm beywohnenden Furcht ein abergläubisches Thier ist" (Hommel 220) und die vielen Religionen nichts anderes als veränderliche Derivationen des konstanten Residuums menschlicher Furcht sind. Er empfiehlt daher, sich dieser „Schwachheit" des Menschen mittels einer List zu bedienen, um die Tugend zu fördern und den Menschen zur Rechtschaffenheit zu führen. Johann Adam Bergk (1769-1834) pflichtet in seinen Anmerkungen (Bergk 316 f) ebenfalls Beccaria bei, unterstreicht aber besonders den Nutzen der Wissenschaft, demgegenüber die geringeren Übel, die die Aufklärung mit sich bringt, bedeutungslos sind. 8. Die Reform der Gerichtsverfassung ist ein weiteres unverzichtbares

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Mittel der Verbrechensvorbeugung. Beccarias Empfehlungen zur Reorganisation des „zum Vollzug der Gesetze berufenen Kollegiums" {Alff 154) sind allerdings sehr unpräzise. Erst sein jüngerer Zeitgenosse Gaetano Filangieri (1752-1788) hat in seinem „System der Gesetzgebung" (1784 ff) die Neuordnung des Gerichtsverfahrens ausführlich dargelegt und begründet. Er erkannte - ähnlich wie Beccaria - als Haupthindernis für eine durchgreifende Reform die „feudale Gerichtsbarkeit", die einer Verbesserung des Strafverfahrens im Wege steht. Beccaria beschränkt sich lediglich auf die Forderung, die Zahl der Mitglieder eines Richterkollegiums zu erhöhen, weil nach seiner Ansicht die größere Zahl der an einem Verfahren beteiligten Richter die Gefahr der „Anmaßung gegenüber dem Gesetz" verringert und „weil Bestechung schwieriger ist bei Mitgliedern, die sich gegenseitig beobachten" (Alff 154). Außerdem vermag nach seiner Ansicht die Furcht des Bürgers vor dem „Gepränge und Pomp" des Souveräns und seiner Gerichtsbehörden die Ehrfurcht des Bürgers vor dem Gesetz nicht zu befördern. 9. Die „Belohnung der Tugend" ist für Beccaria ein zu selten angewandtes Mittel zur Vorbeugung gegen das Verbrechen. Er vertrat offensichtlich wie viele seiner Zeitgenossen eine deterministische Auffassung vom menschlichen Willen, wonach menschliches Handeln nicht nur durch negative, sondern auch durch positive Sanktionen gelenkt werden kann. Tugendhaftes Handeln geschieht dann aber nicht um innerer Pflicht des Handelnden, sondern um der in Aussicht gestellten Belohnung willen. Die „von der wohltätigen Hand des Fürsten verliehenen Preise" sind für Beccaria jedoch wirkungsvolle Anreize von höchster kriminalpräventiver Relevanz. Man hat später versucht, diesen Ansatz Beccarias allerdings ohne sich auf ihn zu berufen - in der Kriminalpädagogik, in der Verhaltenstherapie und in der psychologischen Verhaltensforschung zu nutzen. Elizabeth Fry wandte Belohnungen als pädagogisches Mittel im Frauenstrafvollzug im New Gate Prison in London an; bekannt ist auch das „Markensystem" des Engländers Alexander Maconochie (1787-1860), der es bei Deportierten auf einer Sträflingsinsel Tasmaniens erfolgreich anwandte12. Der von der Kant'schen Pflichtethik beeinflußte Johann Adam Bergk äußerte sich als erster kritisch zu Beccarias Vorschlag: „Die Tugend darf nie belohnt werden, wenn sie nicht ihren eigenthümlichen Charakter und ihre innere Würde verlieren soll. Ihr Charakter ist Uneigennützigkeit und ihre Würde ist ohne allen Preiß. Tugendhafte Handlungen sind eine Gewissenspflicht und warum soll das bezahlt werden, was die Pflicht des Menschen an und für sich fördert? Man erzeige der Tugend 12

Siehe hierzu: John

Vincent Barry, Alexander

Maconochie,

Melbourne 1958.

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nur die gehörige Achtung (die innere kann ihr kein Sterblicher verweigern) und trete tugendhafte Männer nicht zu Staub, dann wird schon die Tugend triumphieren" (Bergk 322). Hommel dagegen stimmt Beccaria ohne Einschränkung zu und führt als Beleg für die Richtigkeit seiner Auffassung ein allerdings weit hergeholtes Beispiel13 für die Belohnung der Keuschheit an, die nachhaltigere Wirkungen hervorgebracht habe als die infamierenden „Hurenstrafen" seiner Zeit. Bedauernd bemerkt er jedoch: „Belohnungen würden mehr ausrichten, aber sie kosten Geld" (Hommel 230). 10. Das sicherste, aber zugleich auch schwierigste Mittel der Verbrechensvorbeugung ist nach Beccarias Ansicht schließlich die Vervollkommnung der Erziehung. Ebenso wie innerhalb eines Staates zwischen der Art der Strafen und der Art der Regierung eine nahe Verwandtschaft besteht, so besteht eine solche auch zwischen der Erziehung und der „Natur der Regierung" ( A l f f 155). Die wechselseitige Abhängigkeit von Politik und Erziehung, von Politik und Strafrechtspflege sowie von Strafrechtspflege und Erziehung liegt für Beccaria auf der Hand. Er steht auch hinsichtlich seiner hohen Einschätzung des erzieherischen Einflusses auf den gesellschaftlichen und staatlichen Zustand in der geistesgeschichtlichen Tradition Montesquieus, der im IV. Buch „Vom Geist der Gesetze" 14 die unterschiedlichen Erziehungsprinzipien behandelt, die der Despotie, der Monarchie und der Republik zugrundeliegen. Eine despotische Regierung kommt - um sich selbst zu erhalten - nicht umhin, zu blindem Gehorsam zu erziehen: sie muß die Unwissenheit der Gehorchenden erhalten und weiß ihre Untertanen nur mittels Terrors zu bändigen. Die Monarchie legt Wert auf die Erziehung des „honnete homme", dem Galanterie, Ränke und List, Augendienerei, Höflichkeit, Hochmut und Erlesenheit des Geschmacks als Zeichen seiner Anpassung an die höfischen Sitten dienen. Der Entzug der Ehre als dem höchsten Wert ist ihre spezifische Sanktion; der Verlust der Ehre wird mehr gefürchtet als der Verlust des Lebens. Die Republik schließlich erzieht ihre Bürger zur „politischen Tugend", sie fordert die „Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterland"15 und verhängt im äußersten Fall, wenn präventive Mittel nicht mehr ausreichen, nur solche Strafen, die auf Gesetzen beruhen und dem Schweregrad des Verbrechens entsprechen. Strafen dieser Art sind für Beccaria „politische Hemmungen"

13 Es bezieht sich auf das Rosenfest des französischen Bischofs Medardus von Noyon (gestorben vor 561), auf dem alljährlich ein Mädchen mit tadellosem Lebenswandel geehrt und mit einer ansehnlichen Aussteuer bedacht wurde. 14 Montesquieu, a.a.O., S. 130-137. 15 Montesquieu, a.a.O., S. 136.

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{Alff 61), die die zerstörerischen Kräfte des Menschen zügeln und in eine Richtung lenken sollen, die der Gesellschaft nützlich ist. Beccaria führt diesen Gedanken Montesquieus über die wechselseitige Bedingtheit und Abhängigkeit von Politik und Erziehung in seinem Werk - wohl aus Furcht vor der Zensur-und vor Repressalien16 - nicht weiter aus, sondern begnügt sich mit Andeutungen, die keinen Zweifel daran lassen, welcher Regierungsform und welcher Art von Erziehung er den Vorzug gibt. Ungenannt bleibt auch der Name des „großen Mannes", „welcher die Menschheit aufklärt, die ihn verfolgt"17. Zweifellos hatte Beccaria Jean Jacques Rousseau im Sinn, dessen Werk „Emile, ou de l'éducation" (1762) unmittelbar nach seinem Erscheinen vom Obersten Gerichtshof in Frankreich und vom Erzbischof von Paris sowie am 6. Oktober 1763 in Rom verurteilt und auf den Index librorum prohibitorum gesetzt worden war. Beccaria erhoffte sich von der Verbreitung und Anwendung der Rousseau 'sehen Pädagogik eine kriminalpräventive Wirkung auf die heranwachsende Jugend, indem sie sie „auf dem leichten Wege des Gefühls zur Tugend zu ermuntern und auf dem nicht zu verfehlenden Wege der Einsicht in die Notwendigkeit und die unangenehmen Folgen vom Bösen abzulenken" vermag ( A l f f 156). Das Hauptmittel der von Beccaria so gepriesenen „wahrhaft nützlichen Erziehung" ist der Unterricht, wie ihn Rousseau am Beispiel der Erziehung und des Unterrichts Emils vorstellt: der Heranwachsende soll eigene Erfahrungen im Umgang mit der Welt machen und keinen anderen Lehrer als die Natur in ihrer unverfälschten Ursprünglichkeit haben18. Er soll „die Wissenschaft nicht lernen, sondern selbst finden" 1 '. Bei seinen Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit muß er sich von seinen Sinnen leiten lassen; „kein anderes Buch als die Welt und kein anderer Unterricht als der durch die Tatsachen"20 kann ihn wirklich bilden: „Die Sachen! Die Sachen! Ich kann es nicht genug wiederholen, daß wir den Worten zu viel Bedeutung beimessen. Mit unserer schwatzhaften Erziehungsmethode erziehen wir nur Schwätzer"21. Der neue

" Esselborn zitiert ( S . 2 0 ) einen Brief Beccarias an seinen französischen Übersetzer Morellet, der ihm die „Dunkelheit des Ausdrucks" an einigen Stellen seines Werks vorgehalten hatte. E r gibt darin zu verstehen, welches seine persönlichen Gründe waren, die es ihm angeraten erscheinen ließen, vorsichtig zu sein: „Ich habe die Wahrheit verteidigen wollen, ohne ihr Märtyrer zu werden." 17 Alff 155. In den ersten deutschsprachigen Ubersetzungen sowohl aus dem Italienischen als auch aus dem Französischen fehlt der Hinweis auf den Verfasser des „Emile" ; erst in der Ausgabe Bergks von 1798 k o m m t der N a m e Jean-Jacques Rousseau vor ( B e r g k 323). 18 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, a. a. O . , S. 144. " Rousseau, a . a . O . , S. 175. 20 Rousseau, a . a . O . , S. 175. 21

Rousseau,

a . a . O . , S. 190.

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Mensch, wie ihn Rousseau und Beccaria als tugendhaften Bürger einer künftigen republikanischen Gesellschaft sehen, hat sich von den Irrtümern und Vorurteilen der Überlieferung befreit: „Er ist nicht durch die Menschen, sondern durch die Natur gebildet"22, er hat die „Nachahmungen durch die Urbilder sowohl der moralischen als auch der Naturerscheinungen" 23 ( A l f f 155) ersetzt. Er handelt aus Freiheit in Ubereinstimmung mit den Gesetzen und bedarf zu seiner rechtlich korrekten Lebensführung nicht mehr der Strafdrohung des Staates. Beccaria plädiert in kriminalpräventiver Absicht für eine Art „Curriculum-Reform": „Der Unterricht hat weniger in einer unfruchtbaren Menge von Gegenständen zu bestehen als in der Auswahl und Genauigkeit derselben" (Alff 155). Seine Empfehlungen zur Verbrechensprophylaxe durch Erziehung und Unterricht zielen primär auf das Erlernen antikrimineller Verhaltensmuster (E.H. Sutherland) durch den unbescholtenen Bürger ab. Sie können jedoch sekundär auch als Maxime der „Erziehung des Rechtsbrechers" durch organisierten Gefängnisunterricht als Mittel der Rückfallprophylaxe verstanden werden25. II. Beccarias Auffassungen vom Wesen des Verbrechens Die Empfehlungen Beccarias zur Kriminalprävention beruhen freilich nicht auf einer expliziten Verbrechenstheorie; Ansätze zu einer empirisch-methodischen Erforschung der Verbrechensursachen sind in seinem Werk noch nicht erkennbar. Ihm geht es in erster Linie um die Beseitigung der grausamen Strafen, der Folter und der Strafwillkür der Gerichte. Seine Klassifikation der Verbrechen (Alff 65 ff) orientiert sich deshalb nicht an den individuellen Motiven des Straftäters, nicht an dessen psychischen und sozialen Merkmalen und differenziert nicht nach dessen Alter und Geschlecht; die Art der Delikte und die Rückfallhäufigkeit bestimmter Delinquenten spielen noch keine Rolle. Seinen kriminalanthropologischen Vorstellungen liegt das abstrakte Bild des alters- und geschlechtslosen, mit Sinnlichkeit und Vernunft ausgestatteten menschlichen Wesens zugrunde. Seine Einteilung der Verbrechen und Strafen richtet sich ausschließlich nach dem Maßstab des Schadens, der der Gesellschaft durch ein Verbrechen zugefügt wird (Alff 65). Das größte Verbrechen stellt für ihn der Anschlag „auf die Sicherheit und Freiheit der Bürger" dar (Alff 68). Ein solches Verbrechen begeht, wer durch sein Handeln den Gesellschaftsvertrag und damit die Legitimationsbasis des Staates außer Kraft zu setzen versucht. Für diesen beson22 25

Rousseau, a. a. O., S. 284.

Siehe hierzu: Thomas Würtenberger, Cesare Beccaria (1738-1794) und sein Buch „Verbrechen und Strafen" (1764) in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1964, S. 127-134.

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deren Fall hält Beccaria auch die Todesstrafe als den „rechten und einzigen Zügel" für zulässig, „um die anderen von der Begehung des Verbrechens abzuhalten" ( A l f f 111). Im übrigen jedoch soll der Bürger wissen, „daß er alles tun kann, was dem Gesetz nicht entgegen ist, ohne eine andere Mißhelligkeit zu befürchten als die aus der Handlung selber möglicherweise hervorgehende; dieses Wissen ist der politische Lehrsatz, auf den die Völker sich stützen und der von den höchsten Behörden unter untadeliger Wahrung des Gesetzes verkündigt werden sollte: ein unantastbarer Lehrsatz, ohne den es keine legitime Gesellschaft geben kann" {Alff 67)24. Beccarias Vorstellungen über Verbrechen und Strafen beruhen ebenso wie seine Auffassungen zur Verbrechensvorbeugung auf seiner politischen Philosophie von Staat und Gesellschaft und sind daher nur mittelbar von kriminologischer Relevanz. Seine erst in Ansätzen erkennbare Verbrechenstheorie ist faktisch eine verschlüsselte Kritik der Macht- und Herrschaftsverhältnisse seiner Zeit. Sein weitreichendes Programm der politischen und gesellschaftlichen Reform erscheint aus Gründen der Umgehung der Zensur im weniger anstößigen Gewand der „menschenfreundlichen" Verbrechensvorbeugung, gegen das auch seine schärfsten Kritiker keine Argumente vorzubringen wissen. Dabei hat er nicht den Straftäter, sondern den Inhaber der staatlichen Macht, nicht das vor Straffälligkeit zu bewahrende Individuum, sondern den zur Verwirklichung des „größten Glücks für die größte Zahl" verantwortlichen Gesetzgeber im Visier. Verbrechen sind ein im Prinzip vermeidbares Unglück sowohl für den Täter als auch für das Opfer und für die Allgemeinheit. Beccaria sieht die Ursachen für dieses Unglück erstens in einer schlechten, d.h. unvernünftigen, unaufgeklärten Gesetzgebung, die die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt, anstatt sie zu vermindern, die widersprüchliche, unklare und unzuverlässige Gesetze produziert, die die unveräußerlichen Rechte des Individuums mißachtet und die Furcht zwischen den Menschen steigert. Eine weitere Ursache dieses Unglücks ist die korrupte Rechtsprechung, die Unkontrollierbarkeit der Gerichtsverfahren, das Denunziantentum bei geheimen Anklagen und die Käuflichkeit der Richter. Die dritte Quelle des Unglücks ist schließlich das völlige Fehlen oder die unentschuldbare Vernachlässigung der Aufklärung aller Bürger durch Erziehung, Unterricht und Wissenschaft. Der Staat, dessen Souverän die Quellen des Verbrechens nicht verstopft, ist daher selbst Urheber des Verbrechens; man kann niemanden als ihn selbst für dieses Unglück verantwortlich 24 Beccaria folgt auch hier der Auffassung Rousseaus, daß eine Strafe immer als „natürliche Folge böser Handlungen" empfunden werden muß. Siehe hierzu Rousseau, a . a . O . , S.90.

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machen. Eine erfolgreiche Verbrechensprophylaxe erfordert deshalb auf der Grundlage seiner kriminalätiologischen Einsichten die radikale Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Umwandlung der Despotie in eine Republik. Von Beccarias Werk, fünfundzwanzig Jahre vor dem Sturm auf die Bastille veröffentlicht, gingen zweifellos starke Impulse zur Förderung sozialkritischer Doktrinen bis in die Gegenwart aus: radikale Gesellschaftsveränderung ist seitdem ein in immer neuen Variationen favorisiertes Programm der Kriminalprävention, dessen Realisierungsversuche der systematischen und kritischen Erforschung bis heute noch nicht unterzogen worden sind. III. Repression oder Vorbeugung - Eine Alternative? Beccarias Vorschläge zur Kriminalprävention bleiben trotz der Abstraktheit ihrer Formulierungen und trotz des geringen Praxisbezugs ein wichtiges Dokument der gesellschafts- und kriminalpolitischen Neuorientierungen jener Epoche des politischen und sozialen Umbruchs und Wertwandels im ausgehenden 18. Jahrhundert. Der appellative Charakter seiner Schrift, die feierliche Sprache und die „rhapsodische" Gedankenführung haben seine Zeitgenossen und viele Nachgeborenen bis in unsere Gegenwart in einen unwiderstehlichen Bann geschlagen, obwohl es auch nicht an einzelnen kritischen Stimmen gefehlt hat, die gerade vor der ambivalenten Wirkung seiner rhetorisch-effektvollen, apodiktischen Erklärungen gewarnt haben25. Beccaria war wie viele seiner philosophischen Zeitgenossen vom alles durchdringenden Geist der Aufklärung geprägt. Er erhob im Namen der Ideale der Menschlichkeit, der Freiheit und der Toleranz seine Stimme gegen die Unmenschlichkeit und Barbarei der staatlichen Strafen. Von ihm gingen zahlreiche Anregungen zum Entwurf einer rationalen Kriminalpolitik im Sinne einer durchgreifenden Rechts-, Sozial- und Kulturreform in ganz Europa aus. Schon zu seinen Lebzeiten wurde sein Werk von Hommel mit einem gewissen Recht als „unsterblich" bezeichnet. Seine kriminalpräventiven Forderungen sind als das eigentliche Ergebnis einer kritischen Analyse der gesamten Strafrechtspflege seiner Zeit anzusehen. Die staatliche Strafe hatte für ihn in einem zukünftigen republikanischen 25 Schon in der ersten deutschen Rezension seines 1764 in „Monaco" (Livorno) anonym erschienenen Werks wird auf diesen Sachverhalt hingewiesen: „Der Verfasser ist ein scharfsinniger Mann, der den Vortrag und die Sprache in seiner Macht hat" (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, viertes Stück, 9. Januar 1766, S.22). Ein anderer Rezensent hebt 16 Jahre später ebenfalls die „feyerliche Sprache" und den „feyerlichen Periodengang" des „rhapsodischen Werkchens" hervor (Johann Heinrich Christian von Selchow, Juristische Bibliothek, Göttingen 1780, S. 633 f).

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Staat nur noch als allerletztes Mittel eine Berechtigung, das sich eines Tages von selbst überflüssig macht. Er hat mit seiner Abhandlung eine der großen, zu immer neuen Spekulationen anregenden Utopien entworfen, deren Realisierung aber trotz immer neuer Anläufe bis heute noch aussteht und vermutlich immer wieder an der „ärgerlichen Tatsache" scheitern wird, daß der Mensch nicht nur ein vernunftgeleitetes Wesen ist, das sich aus Einsicht in die Notwendigkeit selbst den geltenden Gesetzen der Vernunft unterwirft. In einer Laienpredigt „Über das Gesetz" hat Hilde Kaufmann eine ganz andere Dimension des Rechts aufgezeigt, die Beccaria nicht oder nicht mehr erkennen konnte, weil ihm durch das menschenverachtende Handeln der damaligen Amtskirche im absolutistischen Staat der Blick dafür verstellt war: „Erst die Liebe macht den eigentlichen Kern der Gesetze aus, so sehr, daß nach manchen Stellen des Neuen Testaments das Gesetz als überflüssig erscheint, nicht, weil es außer Kraft gesetzt wäre, sondern weil es durch die Liebe in einer viel tieferen, volleren Weise erfüllt werden soll und weil man auf die einzelnen gesetzlichen Formulierungen verzichten könnte. Das aber ist der Sinn des paulinischen Satzes, daß alle Gesetze zusammengefaßt seien in dem einen Gebot der Liebe"26. Die Reform des Strafvollzugs ist in den vergangenen Jahrhunderten manche verschlungenen und dunklen Wege gegangen: zweifellos haben unbestechliche Beobachter und Analytiker des bestehenden Strafsystems vom Schlage Beccarias einen entscheidenden Anteil an der Humanisierung des Strafrechts und an der schrittweisen Substitution der Strafe durch präventive Maßnahmen im Vorfeld der Kriminalität gehabt, aber die unmittelbare Hilfe für den Rechtsbrecher in seiner konkreten Notlage ging stets von solchen Menschen aus, die das christliche Liebesgebot allen anderen Gesetzen überordneten und sich anschickten, die „Utopie der Liebe" unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu verwirklichen. So verhielt es sich bei Bischof Ridley, als er 1551 nach einer Predigt in Westminster bei Edward VI. von England für eine Milderung der grausamen Bestrafung von Straftätern und für deren Erziehung in Bridewell eintrat27, als sich Friedrich von Spee als Seelsorger der zum Tode Verurteilten mit seiner Cautio Criminalis von 1631 gegen Hexenwahn und Hexenprozesse wandte, als John Howard die englischen und kon-

Hilde Kaufmann, Predigten eines Laien, 1974, S. 86. Grafton's Chronicle; Or, History of England to which is added his table of the Bailiffs, Sheriffs and Mayors, of the City of London. From the year 1189, to 1558, inclusive. In two volumes, Vol. 1-2, London 1809, S. 529 ff. 26 27

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tinentaleuropäischen Gefängnisse, Kerker und Pesthäuser aufsuchte, als Elizabeth Fry 1814 begann, gemeinsam mit anderen Frauen das Los der weiblichen Gefangenen im Londoner Gefängnis N e w Gate zu lindern, als Theodor Fliedner 1825 seine erste Predigt im Düsseldorfer Arresthaus hielt und in den folgenden Jahren gemeinsam mit Gleichgesinnten die erste Gefängnisgesellschaft in Deutschland gründete. Unter dem christlichen Liebesgebot standen auch Johann Hinrich Wichern und Mathilda Wrede, von der die folgenden Sätze überliefert sind, die sie auf dem Petersburger Gefängniskongreß im Juni 1890 im Rahmen einer Diskussion über „unverbesserliche Verbrecher" gesprochen hat: „Meine Herren! Es gibt ein Mittel, das jeden Rechtsbrecher, auch den sogenannten unverbesserlichen, moralisch ändern kann. Das ist die Kraft Gottes. Die Gesetze und die Gefängnissysteme können nicht das Herz eines einzigen Strffälligen verändern, aber Gott kann es. Ich bin überzeugt, daß man sich intensiver und vor allem anderen mit der Seele der Gefangenen und ihrem geistlichen Leben befassen sollte" 28 . Die Reform der Strafrechtspflege und die Versuche zur Verbrechensvorbeugung mit sozialpolitischen Mitteln beruht seit mehr als 400 Jahren auf diesen beiden Traditionslinien der wissenschaftlichen Erforschung und kritischen Durchdringung der empirischen Wirklichkeit von Verbrechen und Strafen einerseits und des unmittelbaren karitativen Samariterdienstes an denen, die verschuldet oder unverschuldet in eine akute Notlage geraten sind. Beide konkurrierenden Linien ergänzen sich, keine von beiden kann die jeweils andere ersetzen, ohne die Erreichung der gesteckten Ziele zu verfehlen. N u r selten vereinigen sich beide Linien in einer Person. W o sie sich aber jemals miteinander verbanden, da folgte aus dem Denken das Tun, und das Tun führte wieder zurück zur kritischen, wissenschaftlichen Reflexion. Hilde Kaufmann war es vergönnt, Lehre und Leben so miteinander zu verbinden, daß Wissenschaft und christlicher Glaube, ein kritisch-analytischer Geist und tiefe Frömmigkeit zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Diese seltene Konstellation erlaubte ihr die völlige Hingabe an die Wissenschaft, ohne dabei den Nächsten mit all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten als Gottes Geschöpf aus den Augen zu verlieren und sich ganz dem Glauben zu öffnen, ohne aufzuhören, mit den Mitteln der Wissenschaft die Wahrheit zu suchen. So behielt sie ihren nüchternen, weltzugewandten Optimismus und ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber allen innerweltlichen Heilslehren, auch wenn sie im Gewände der Wissenschaft auftraten.

28 Zitiert nach: Albert Krebs, Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung. Herausgegeben von Heinz Müller-Dietz, 1978, S. 172.

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In bezug auf die im Verlaufe der beiden letzten Jahrhunderte seit Beccaria immer wieder auftauchende Frage, ob eine gute Verbrechensvorbeugung nicht die Verhängung und den Vollzug der Strafe überflüssig machen könnte, hat sie in ihrem eingangs erwähnten Vortrag von 1973 ausgeführt: „Ein einfaches Ersetzen der Repression durch eine Prophylaxe (...) stellt eine jener Utopien dar, die niemals gelingen werden, solange Menschen bleiben, was sie sind, nämlich Wesen, die u. a. auch die Tendenz haben, Normen zu brechen" 29 .

29

Hilde Kaufmann,

a.a.O., S.29.

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I. Die ganze Entwicklung des Problems der Strafe und die Diskussion darüber wird innerhalb der Lehre zwischen zwei extremen Positionen erörtert: dem Utilitarismus der Straftheorien, d.h. der General- und Spezialprävention, und der mangelnden Zweckmäßigkeit, also den sogenannten absoluten Theorien. Die einen sind nur an der Effektivität interessiert, die anderen allein an der Gerechtigkeit. Eine kriminalpolitische Definition hat aber notwendigerweise die Spannung zu berücksichtigen, die zwischen diesen beiden Extremen liegt. Es wäre jedoch verkehrt, eine eklektische Position einzunehmen, denn wenn auch die positiven Aspekte bestimmter Theorien aufgegriffen würden, so würden doch auch die negativen Aspekte miteinbezogen, was letztendlich zu der Errichtung eines in sich selbst widersprüchlichen Systems führen würde 1 . Auch der Versuch, einer bestimmten Position (positive Generalprävention, demokratische Spezialprävention) Grenzen zu setzen, scheint keine Lösung zu sein, denn dadurch würden die negativen Auswirkungen nur eingeschränkt, aber nicht beseitigt; deshalb verletzen die General- wie die Spezialprävention immer das Prinzip der Verantwortlichkeit für die begangene Tat 2 . Eine kritische Revision der Straftheorien hat daher notwendigerweise die Überwindung derselben anzustreben. Ausgangspunkt einer solchen Revision muß die Untersuchung sein, was die Strafe innerhalb des Sozialsystems war und ist, und dabei ist jegliche ideologische Verschleierung auszuschließen. Aus dieser Sicht dienten sowohl die absoluten wie die relativen Theorien der Verschleierung; erstere verwandelten die Realität der Strafe in eine Metapher (berühmtes Beispiel dafür ist die Auffassung Hegels, daß die Strafe die Negation der Negation des Rechts sei), letztere lenkten die Realität der Strafe auf die Grundlage 1 Siehe Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, in: Strafrechtliche Grundlagenprobleme, Berlin 1973, S . l l . 2 Siehe Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Berlin 1983, S. 17ff; Barbero Santos, La reforma penal española en la transición a la democracia, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 1977, S. 61 ff.

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einer abstrakt rationalen Absichtserklärung durch den Gesetzgeber (Abschreckung, Sicherung des Rechtsbewußtseins, Resozialisierung, Umerziehung). Innerhalb des Sozialsystems war und ist die Strafe eine Selbstbestätigung des Staates3. Mit der Strafe hat der Staat seine Existenz selbst und seine Macht bestätigt. Deshalb hatte - und hat - die Strafe einen symbolischen Charakter, sie genügte sich selbst, denn durch sie drückt der Staat seine Existenz aus. Daher also der symbolische Charakter, der jenseits jeglicher Überlegung von Effektivität und Zweckmäßigkeit liegt. Der Staat ist jedoch kein abstraktes Wesen, er existiert tatsächlich, und deshalb bedeutet diese Selbstbestätigung die Selbstbestätigung eines bestimmten Systems. Und heute ist dies eben die Selbstbestätigung eines bestimmten demokratischen Systems. Wegen ihres symbolischen Charakters hat die Strafe nun aber einen punktuellen Charakter, das heißt, durch sie wird das System durch die Hervorhebung der Kernpunkte, die das demokratische System gestalten, selbstbestätigt. Deshalb erfüllt die Strafe durch die Selbstbestätigung des Systems notwendigerweise eine Schutzfunktion dieser Angelpunkte des Systems, und dabei handelt es sich um nichts anderes als um die Rechtsgüter. Aus der Realität der Strafe, der Selbstbestätigung, entsteht in einem demokratischen System eine Funktion, nämlich der Rechtsgüterschutz. Somit werden also in einem demokratischen System die Rechtsgüter zur Basis der Begründung und Legitimation der Strafe, aber eben dadurch zur conditio sine qua non der Strafe. Eine kriminalpolitische Definition der Strafe basiert also auf einer Definition der Rechtsgüter4. Die Rechtsgüter bilden, wie gesagt, die Grundlage des (demokratischen) Sozialsystems, aus eben diesem Grund können sie nur eine Sozialbeziehung sein, da die sozialen Beziehungen grundlegend für die Sozialordnung sind. Die Rechtsordnung greift einzig und allein eine bestimmte Sozialbeziehung in konkreter und symbolischer Form auf (Leben, Gesundheit des Individuums, Ehre, Freiheit). Als soziale Beziehung schließt das Rechtsgut eine bestimmte Position der Menschen untereinander mit ein und dient als Vermittler zu anderen Körperschaften oder Objekten, die unter diesen existieren. Das heißt, es ist ein Kommunikations- und Partizipationsprozeß5. Gerade darum hat es immer einen dialektischen Charakter. Wir können also schließlich sagen, daß das Rechtsgut eine konkrete normative Synthese einer bestimmten dialektischen Sozialbeziehung ist6. 3 4

Siehe Bustos Ramírez, Siehe Bustos Ramírez,

Manual de Derecho Penal español, Barcelona, 1984, S. 39 f. a. a. O . , S. 39.

5 Siehe Callies, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Frankfurt a . M . , 1974, S. 143. 6 Siehe Bustos Ramírez, a. a. O . , S. 63.

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Mit anderen Worten, ein demokratisches Strafrechtssystem erscheint in seiner Legitimationsbasis, welche die Rechtsgüter sind, offen, da diese wegen ihres kommunikativen, partizipativen und dialektischen Charakters relativ sind und sich in ständiger Entwicklung befinden. Die Strafe (die Selbstbestätigung des Systems) ist keine abgeschlossene, axiomatische Realität, kein autoritäres Fiat, sondern gerade das Gegenteil, da nämlich seine Legitimationsgrundlage und Begrenzung die Rechtsgüter sind. Das Rechtsgut ist somit eine kritische Kategorie des Systems selbst. Es ist ein Bestandteil des Systems, wirkt aber auch über dieses hinaus, es ist immer final, und seinen Zweck gilt es immer anzustreben, was einer offenen Gesellschaft eigen ist, in der durch die Partizipation ihrer Mitglieder bei allen kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen die Gestaltung des Systems vollzogen wird. Daher führt die Verschleierung dieser Realität, die durch die absoluten und relativen Theorien entsteht, immer zu der Gestaltung einer autoritären Konzeption des Sozialsystems oder ist immer Grundlage derselben; sie erhebt den Anspruch, dieses zu schließen oder das demokratische System nicht in ein materielles System (der Freiheit und materiellen Gleichheit) zu verwandeln, sondern in ein rein formales (in dem die Freiheit und Gleichheit der Menschen axiomatisch angenommen werden). Das so begriffene Rechtsgut wird zur Begründung und materiellen Grenze des Unrechts. Deshalb hat die Bestimmung des Unrechts vom Rechtsgut aus zu erfolgen. Aber die Realität der Strafe erschöpft sich nicht in der Selbstbestätigung des Staates, da die Strafe existiert, um verhängt zu werden. Der Begriff der Strafe beinhaltet, daß diese anzuwenden ist. Verbrechen und Strafe sind untrennbare Realitäten des Systems; das Verbrechen existiert in dem Maße, in dem es die Selbstbestätigung des Staates gibt und in dem sich das System in bestimmten sozialen Beziehungen, den Rechtsgütern, anerkennt. Das System bestimmt, was Verbrechen und Strafe sind, deshalb sind Verbrechen und Strafe immer ein Problem politischer Definition. Die Kriminalpolitik durchzieht das gesamte Strafrechtssystem. Die Strafe erschöpft sich in ihrer Realität dadurch, daß sie einem Individuum auferlegt wird 7 . Strafe bedeutet also Bestimmung, Individualisierung und Selektion eines Menschen. Das heißt, durch die Strafe wird nicht nur eine bestimmte soziale Beziehung konkretisiert, sondern Strafe bedeutet auch die Selektion eines bestimmten Individuums. Aber so, wie ein demokratisches Strafrechtssystem begrifflich das Rechtsgut als Begründung und materielle Grenze der Selbstbestätigung voraussetzt, so hat die Verhängung der Strafe eine Begründung und materielle Grenze, und das ist die Anerkennung des Menschen als Person, d. h. der 7

Siehe Bustos Ramirez,

a. a. O., S. 40; Roxin, a. a. O., S. 17ff, 24 ff.

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Menschenwürde, der Anerkennung des Menschen als eines sozial H a n delnden. Man hat anzuerkennen, daß der Mensch die Grundlage des Sozialsystems und der sozialen Beziehungen ist, ohne den es das Sozialsystem gar nicht gibt. Aus eben diesem Grund ist die Verhängung der Strafe, wenn die Menschenwürde anerkannt wird, notwendigerweise an einen Zweck gebunden. Es geht nicht bloß um die Verhängung an sich, sondern es handelt sich um eine finale Verhängung, und dieser Zweck kann nicht jenseits des Menschen liegen, anderenfalls würde dies bedeuten, ihn nicht anzuerkennen. Die absoluten und relativen Theorien erkennen im Gegensatz dazu die Menschenwürde nicht an: erstere, weil sie sich mit der bloßen Strafverhängung zufriedengibt, und letztere, weil sie den Zweck jenseits des Menschen stellt (soziale Verteidigung, staatliche Sicherheit, sozialer Nutzen, etc.). Das Ziel des Menschen ist aber seine eigene Befreiung, die Befriedigung seiner Bedürfnisse, die Disponibilität verschiedener Möglichkeiten zur Lösung sozialer Konflikte. Die Verhängung der Strafe muß unter Berücksichtigung dieser Bedürfnisse des Menschen erfolgen. N u r so kann sie sozial von Nutzen sein. Die Negation der Menschenwürde ist im Gegensatz dazu sozial schädlich, sie wirkt sich auf die Sicherheit des Systems aus, denn sie verletzt dessen konstitutive Basis, sie zerstört die sozialen Beziehungen. Die Anerkennung der Menschenwürde bedeutet eine dynamische Theorie des verantwortlichen Menschen, der ständigen Ergründung seiner Bedürfnisse und Entscheidungen. Die Individualisierung des einer Strafe unterworfenen Menschen hat also als Begründung und materielle Grenze die Menschenwürde. Dies bedeutet folglich die Ausarbeitung einer Theorie des verantwortlichen Menschen. Mit anderen Worten, es gibt zwei verschiedene Theorien, einerseits die Unrechts- oder Verbrechenstheorie, deren Begründung und materielle Grenze das Rechtsgut ist, und andererseits die Theorie des verantwortlichen Menschen. Beiden ist jedoch gemein, daß sie von einer politischen Definition ausgehen. Wie schon ausgeführt, ist es das System, welches das Verbrechen dadurch definiert, daß es sich in bestimmten Rechtsgütern zu erkennen gibt. Aber damit greift es gleichzeitig bestimmte Individuen heraus. Verbrechen und verantwortliches Individuum sind ein Problem politischer Definition. Gleichzeitig sind dann sowohl das Verbrechen als auch das verantwortliche Individuum ein soziales Problem, und deshalb handelt es sich bei der Verantwortlichkeit immer um ein soziales Problem. Erstes materielles Prinzip, auf das sich das Strafrechtssystem stützt, ist also die Menschenwürde, und an zweiter Stelle steht das des Rechtsgutes. Aber in einem demokratischen System ist auch das nicht ausreichend, da die Strafen eine Anwendungsform annehmen müssen, über die sie als nicht mehr notwendig erscheinen, denn sonst würden sie in

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Widerspruch zu dem Ziel der Befreiung des Menschen geraten. Deshalb ist die Notwendigkeit der Strafe ein materielles Prinzip der Begründung und Begrenzung der Anwendung der Strafe, die in einem gegebenen Fall überhaupt nicht mehr notwendig wird. Damit sind wir also zur dritten Theorie des Strafrechts gelangt, das heißt der, die sich auf die Formen der Strafanwendung bezieht. Drei Theorien bilden also das Strafrecht: die Verbrechenstheorie, die Theorie des verantwortlichen Menschen und die Theorie der Strafan Wendungsformen. Drei materielle Prinzipien dienen diesen Theorien als materielle und begrenzende Grundlage: die Menschenwürde, das Rechtsgut und die Strafnotwendigkeit. Jedes einzelne Prinzip hat seine besondere vorrangige Stellung und kommt in besonderer Weise zum Ausdruck: das Rechtsgut in der Verbrechenstheorie, die Menschenwürde im verantwortlichen Menschen und die Strafnotwendigkeit in den Formen der Strafanwendung. Die absoluten Theorien befaßten sich nur mit der Verbrechenstheorie und verschleierten damit die Probleme, die die anderen Theorien aufwerfen, wodurch eine Aushöhlung oder Reduzierung der Strafrechtstheorie hervorgerufen wird. Bei den relativen Theorien geschah das gleiche; die Generalprävention neigte dazu, das Gewicht auf die Notwendigkeit der Strafe zu legen und die Theorien des Verbrechens und des verantwortlichen Individuums zu übergehen; die Spezialprävention tendierte dazu, alle Theorien aus der Analyse auszuschließen, indem sie die soziale Verteidigung hervorhob. II. Eine Verbrechenstheorie muß also vom materiell betrachteten Rechtsgut ausgehen. Grundlage der Verbrechenstheorie ist nicht die Handlungslehre 8 ; zum einen, weil es neben ihr eine Unterlassungslehre gibt, und insbesondere, weil die Handlungslehre auf dem Rechtsgut basiert, insofern sie nur eine Form des Kommunikationsprozesses innerhalb der Sozialbeziehung ist. Auch die Kausalität kann nicht als Begründung des Verbrechens dienen, da es ihr an sich an Bedeutung mangelt, um irgendeinen Aspekt des Verbrechens zu bestimmen'. Sie ist weder für die Unterlassungstheorie noch für die Handlungslehre dienlich, denn diese werden hinsichtlich des Kommunikationsprozesses durch ihren Sinn bestimmt. Wenn man also der Kausalität innerhalb der Verbrechenstheorie eine Bedeutung geben wollte, so wurde tatsächlich ihre Benennung nur metaphorisch verwendet, wie dies im Falle der adäquaten Kausalität geschah, die eigentlich eine Frage rechtlicher Bewertung ist. 8 Siehe Armin Kaufmann, Die Funktion des Handlungsbegriffs im Strafrecht, in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S.26. 9 Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 173 ff.

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Aus eben diesem Grund ist die Kausalität auch unbrauchbar, um den Erfolg mit dem tatbestandsmäßigen Verhalten zu verknüpfen, denn nicht der natürlich betrachtete Erfolg interessiert, sondern der Erfolg als schädliche Einwirkung auf ein Rechtsgut (Verletzung oder Gefährdung des Rechtsgutes). Daher handelt es sich um ein valoratives Problem, das heißt, es geht um die objektive Zurechnung, um die Möglichkeit, ob ein Erfolg einem tatbestandsmäßigen Verhalten zuzurechnen ist10. Weder die überlieferte Handlungslehre noch die Kausalitätstheorie dienen letztendlich als Grundlage des Verbrechens, allein das Rechtsgut kann seine Grundlage sein. Auf der Basis des Rechtsgutes werden die beiden die Verbrechenstheorie bildenden Kategorien, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, bestimmt. Bei der Tatbestandsmäßigkeit handelt es sich um nichts weiter als um die Beschreibung einer bestimmten Situation, in der eine soziale Beziehung stattfindet, sie bezeichnet deren Umgebung. Folglich ist es nicht die Beschreibung einer Handlung und kann dies auch niemals sein. So bedeutet Tötung, daß einer einen anderen tötet. Was also beschrieben wird, ist ein situatives Umfeld. Es ist auch nicht die Beschreibung einer Unterlassung, was begrifflich unmöglich wäre, deshalb wird auch ein situatives Umfeld beschrieben: „Wer einer anderen Person nicht hilft, die schutzlos ist und sich in offensichtlicher und ernster Gefahr befindet, obwohl er dies ohne Gefahr für das eigene oder das Leben Dritter machen könnte" (Art. 489 bis span. StGB). Es handelt sich also nicht um die Beschreibung einer Handlung oder Unterlassung, sondern um die Zuordnung eines bestimmten Kommunikationsprozesses innerhalb eines situativen Umfeldes, und deshalb ist es im konkreten Fall der Richter, der zu entscheiden hat, ob eine solche Zuordnung möglich ist. Es handelt sich also nicht um ein Kausalitäts- oder Finalitätsproblem, sondern um die sinngemäße Zuordnung, die eine Kommunikation innerhalb eines bestimmten situativen Umfeldes hat, das eine soziale Beziehung ausdrückt. Daher kann der Selbstmord nicht typifiziert werden, da er niemals das situative Umfeld einer sozialen Beziehung ausdrücken könnte, und aus dem gleichen Grund kann auch der Rauschmittelkonsum nicht typifiziert werden; solche Typifizierungen könnten sich nicht auf das Rechtsgut stützen. Das Rechtsgut schließt solche Typifizierungen aus, es zwingt, wie schon anfangs gesagt, der Strafe eine Grenze als Selbstbestätigung des Staates auf. Vom Rechtsgut ausgehend wird also auch der der Tatbestandsmäßigkeit innewohnende Unwert bestimmt, der nicht einfach ein Handlungs10 Siehe Roxin, Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, a.a.O., S. 123 ff.

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unwert, sondern der Unwert eines situativen Umfeldes ist, in dem der Handlungsunwert sicherlich der wichtigere ist, weil er den entsprechenden Kommunikationsprozeß bestimmt, jedoch ist er nicht der einzige (so gibt es bei der unterlassenen Hilfeleistung eine Bewertung hinsichtlich der Schutzlosigkeit und der offensichtlichen, ernsten Gefahr, bei den Amtsdelikten hinsichtlich der Eigenschaft des Beamten, hinsichtlich der Gewalt bei einer Reihe von Delikten, etc.). Eben dieser Sachverhalt, daß jegliche Typifizierung vom Rechtsgut und nicht von der Handlung aus bestimmt wird, bringt es mit sich, daß die Erweiterung der Tatbestände auf den untauglichen Versuch nicht aus der Sicht des Verhaltens begriffen werden kann (Mittel zu sich nehmen, um abzutreiben), da ein solches Verhalten nicht dem situativen Umfeld zugeordnet werden kann, welches das Abtreibungsdelikt beschreibt. Die Typifizierung wird nicht von der ethischen Subjektivität der Handlung her bestimmt, sondern von der Objektivität der sozialen Beziehung her, die das Rechtsgut darstellt. Der Handlungsunwert entsteht aus dem Rechtsgut und nicht aus einer subjektiv ethischen Auffassung in Zusammenhang mit der Handlung. D a nun aber die Beschreibung des situativen Umfeldes eine soziale Beziehung zur Grundlage hat, bedeutet das, daß sie mit Sinn und Bedeutung ausgestattet ist. Deshalb sind die Probleme des Vorsatzes, der Fahrlässigkeit und besondere subjektive Merkmale eigentliche Fragen der Tatbestandsmäßigkeit, und dies nicht wegen eines ontologischen Grundes, sondern weil die Tatbestandsmäßigkeit auf dem Rechtsgut basiert. Dieses aber wird durch eine bestimmte soziale Beziehung gebildet, die einen Kommunikationsprozeß umfaßt und folglich mit Sinn und Bedeutung ausgestattet ist.

III. Das Rechtsgut erschöpft sich mit seinem Inhalt aber nicht in der Tatbestandsmäßigkeit, sondern legt das ganze Verbrechen fest und somit auch die zweite Begriffskategorie des Delikts, nämlich die Rechtswidrigkeit. Als materielle Grundlage stattet das Rechtsgut die Rechtswidrigkeit auch mit einem materiellen Inhalt aus. So, wie man formal sagen kann, daß die Tatbestandsmäßigkeit Normwidrigkeit ist, so kann auch formal gesagt werden, daß die Rechtswidrigkeit der Gegensatz des tatbestandsmäßigen Verhaltens zur gesamten Rechtsordnung ist. Die Strafrechtsnormen (Verbote und Gebote) erscheinen unzweifelhaft als Anerkennung des Handlungsunwertes 11 , der aus dem Rechtsgut entsteht und so zum grundlegenden kommunikativen Kern wird, den das situative Umfeld, das den Tatbestand beschreibt, in sich schließt. N u r durch 11 Siehe Armin Kaufmann, gen, 1954, S. 271 ff.

Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, Göttin-

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Normen können solche Kommunikationsprozesse ausgedrückt werden, und gleichzeitig können sie nichts weiter bezeichnen (z. B. eine kausale Beziehung) 12 . Die N o r m ist also kein Imperativ und auch nicht die einzig existierende Rechtsnorm. Es gibt andere Rechtsnormen, die nicht einen Handlungswert, sondern andere Wertarten ausdrücken. Neben den selbständigen und unabhängigen Normen gibt es also die übrigen Rechtsnormen, die die Normwidrigkeit des Verhaltens bedingen, indem sie nicht nur die ausgeführte Handlung betrachten, sondern die soziale Beziehung in ihrer ganzen Komplexität und folglich auch die verschiedenen Interaktionen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt. Die Rechtsnormen setzen das Absolute der Bewertung fest (nicht töten, nicht stehlen, niemand der Freiheit berauben), sie stehen in vorrangiger und direkter Verbindung mit der Strafe als Selbstbestätigung des Systems; die Rechtfertigungsgründe hingegen legen die Dynamik und Öffnung des Systems dar, und deshalb relativieren sie das Absolute der normativen Bewertung gemäß den verschiedenen konkreten Situationen. Es handelt sich also um zwei verschiedene Ebenen. Wenn man sagt, daß die Rechtswidrigkeit der Gegensatz des tatbestandsmäßigen Verhaltens zur gesamten Rechtsordnung ist, so wird formal darauf hingewiesen, daß es innerhalb der Rechtsordnung nicht nur die Rechtsnormen gibt, sondern daß außerdem noch andere Rechtsnormen existieren, die diese bedingen, weil sie auf einer anderen Ebene in Erscheinung treten, auf der die Komplexität des Systems betrachtet wird. Es liegt also kein logischer Widerspruch in der selbständigen Festsetzung der Normwidrigkeit und der Rechtswidrigkeit. So würde es sich allerdings verhalten, wenn man hinsichtlich ein und derselben Handlung gleichzeitig Verbot und Erlaubnis aussprechen würde, d . h . auf der vorrangigen Ebene der Selbstbestätigung. Dies wäre bei einem chirurgischen Eingriff der Fall, von dem angenommen werden könnte, daß er gleichermaßen verboten und erlaubt ist. Aber dieser kann niemals als solcher verboten sein, denn ein solches Verbot kann nicht vom Rechtsgut ausgehen (Sinn und Bedeutung desselben werden in der Beschreibung des situativen Umfeldes der Verletzungen nicht umfaßt: wer einen anderen verletzt, schlägt oder mißhandelt und dabei einen bestimmten Erfolg verursacht). Die Selbstbestätigung, welche die Strafe impliziert, kann eine solche Situation nicht einbeziehen, denn es stünde in Widerspruch zu der eigentlichen Funktion des Staates. Aber wie schon wiederholt aufgezeigt wurde, ist die gegebene Definition der Rechtswidrigkeit rein formal, das heißt, sie drückt die materielle Beziehung mit dem Rechtsgut nicht aus. So ist die Tatbestandsmäßigkeit nicht nur die formale Betrachtung der Normwidrigkeit des Verhaltens, 12

Armin Kaufmann,

a. a. O., S. 69 ff.

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sondern die Beschreibung eines situativen Umfeldes, das Sinn und Bedeutung der sozialen Beziehung umkehrt, die mit dem Rechtsgut festgesetzt wird. Deshalb muß die Rechtswidrigkeit auch materieller Ausdruck des Rechtsgutes sein, was sich in der Tatsache manifestiert, daß Sinn und Bedeutung, die das beschriebene Umfeld dynamisieren, sich in einer Einwirkung auf das Rechtsgut zeigen (in einem in seiner Verletzung oder Gefährdung bestehenden Erfolg)". Auf dieser Ebene geht es also vor allem darum, ob das Rechtsgut tatsächlich betroffen wurde, nur dann kommen die Rechtfertigungsgründe zur Wirkung. Normen und Rechtfertigungsgründe finden sich nicht auf der Ebene der abstrakten und absoluten Bewertungen, sondern sie treten nur durch die Konkretisierung des Erfolges auf. Der Erfolg ist es, der auf die zweite Ebene führt. Verletzungsprinzip und Rechtswidrigkeit sind wesensgleich, wenn man davon ausgeht, daß die materielle Grundlage des Verbrechens das Rechtsgut ist. Für die unwertige Darstellung des Unrechts, daß das Verbrechen in sich schließt, genügt also nicht der Unwert des situativen Umfeldes, sondern es gehört außerdem der Erfolgsunwert dazu. Das Unrecht eines Verbrechens ergibt sich letztendlich aus dem Unwert der sozialen Beziehung, wodurch also die Rolle bestätigt wird, die das Rechtsgut innerhalb der Verbrechenslehre spielt. Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit sind als erstes also nicht die Rechtfertigungsgründe zu klären, sondern das Problem, das sich auf die objektive Zurechnung des Erfolges (Verletzung oder Gefährdung) auf das tatbestandsmäßige Umfeld bezieht. Die einfache objektive wie subjektive Bestimmung eines situativen Umfeldes reicht nicht aus, um das Verhältnis zu dem Erfolg herzustellen. So impliziert die Bestimmung, daß Pedro (vorsätzlich oder fahrlässig) Juan erschoß, ein situatives Umfeld, dem der gesetzliche Tatbestand des Totschlags entspricht, keinesfalls der, daß Juans Tod mit Pedros Verhalten in Zusammenhang steht oder daß es auf dieses situative Umfeld zurückgeführt werden kann (diesbezüglich sei nur auf das Beispiel der Probleme hingewiesen, die der dolus generalis aufwirft). Andererseits genügt aufgrund des Verletzungsprinzips in keinem Fall die Feststellung des tatbestandsmäßigen situativen Umfeldes; das heißt, wenn es keinen möglichen Erfolg gibt, so kann auch niemals von einer tatbestandsmäßigen rechtswidrigen Tat gesprochen werden, was beim sogenannten untauglichen Versuch der Fall ist, der nicht mehr in bezug auf die Mittel, sondern hinsichtlich seines Gegenstandes betrachtet wird (wenn eine sich schwanger glaubende Frau ein Abtreibungsmittel einnimmt, ohne daß tatsächlich eine Schwangerschaft vorliegt)14. Es geht darum, mit Wertkriterien vom Rechtsgut ausgehend zu bestimmen, ob der Erfolg objektiv dem tatbe13 14

Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 184. Siehe Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl., Köln 1981, S. 183.

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standsmäßigen situativen Umfeld zugerechnet werden kann. N u r so wird die Rechtswidrigkeit zu einem materiellen Reduktor der Tatbestandsmäßigkeit. Die objektive Zurechnung ist also nicht ein Problem der Tatbestandsmäßigkeit. Dies würde nämlich bedeuten, erneut verschiedene Ebenen miteinander zu verwechseln, sie einfach wie ein Transplantat neben die natürliche Kausalität zu stellen; und gleichzeitig ist sie völlig unbrauchbar, denn die Reduzierung der Tatbestandsmäßigkeit vollzieht sich aufgrund der objektiven und subjektiven Merkmale, die Bestandteil des situativen Umfeldes sind. Hier erübrigt sich sowohl die natürliche Kausalität als auch die objektive Zurechnung: die natürliche Kausalität, weil sie ein Problem aufwirft, das der Bewertung der Tatbestandsmäßigkeit fremd ist, da sich die Normen von Anfang an nicht auf kausale Prozesse beziehen; und die objektive Zurechnung, weil sie in bewertender Hinsicht auf dieser Ebene den Präzisierungen von Sinn und Bedeutung nichts Neues hinzufügen kann, denn diese entstehen aus dem Rechtsgut hinsichtlich des beschriebenen situativen Umfeldes. Die objektive Zurechnung ist nur als Problem auf der Ebene der Rechtswidrigkeit von Bedeutung, als Konkretion des Verletzungsprinzips, das vom Rechtsgut ausgeht und als materielle Basis der Rechtswidrigkeit dient. IV. Nachdem Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit festgelegt sind, haben wir es nun mit dem Unrecht als Teil eines Delikts zu tun. Die Tatbestandsmäßigkeit ist nur ein Indiz für die Rechtswidrigkeit und folglich nur Indiz für ein Delikt, da der Inhalt der grundlegenden Unwertigkeit, die der Handlungsunwert bedeutet, sich ausschließlich auf den Gegenstand des eigentlichen Schutzes durch das Strafrecht bezieht, und das ist das Rechtsgut. Die übrigen Bewertungen und Unwertigkeiten, die sich auf dieser Ebene ergeben, sind untergeordnet und begrenzen nur den Handlungsunwert (so der Hinweis auf gute Sitten, Gewalt, Neugeborene, Schutzlosigkeit etc., der in den gesetzlichen Tatbeständen enthalten ist). Die so begriffene Tatbestandsmäßigkeit ist ein dem Strafrecht eigener Begriff, wie es auch das Rechtsgut ist; aber eine für die Rechtsordnung so schwerwiegende Tatsache wie das Delikt kann nicht nur ausschließlich und absolut aus der Sicht des Strafrechts beurteilt werden, sondern muß auch von der Rechtsordnung als Ganzer her betrachtet werden, da es ihre Transzendenz für die gesamte rechtlich-soziale Ordnung ist, was letztendlich interessiert. Es handelt sich darum, das Eingreifen des Staates zu rechtfertigen und zu begrenzen, und dies kann nicht nur von der Tatbestandsmäßigkeit aus erfolgen. Von der Notwendigkeit des Begriffs der Rechtswidrigkeit her kann ein so schwerwiegendes Eingreifen des Staates nur in dem Maße

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ausreichend legitimiert und folglich auch begrenzt erscheinen (letztendlich dem Bürger Garantien gegenüber einem solchen Eingreifen geben), wie die Tatbestandsmäßigkeit mit der Rechtsordnung als Ganzer verknüpft ist, was gerade der Inhalt der Rechtswidrigkeit ist. Deshalb ist die Rechtswidrigkeit ein Begriff, der über das Strafrecht hinausgeht, der den eigentlich zu schützenden Gegenstand des Strafrechts, nämlich das Rechtsgut, transzendiert, von daher ist die Rechtswidrigkeit ein der Rechtsordnung eigener Begriff. Diese Verknüpfung zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit kann nur vom Rechtsgut aus erfolgen, da dieses der Gegenstand des Schutzes durch das Strafrecht ist, und folglich bestimmt es das Unrecht. Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit an sich sind nicht miteinander verknüpfbar, da sie auf verschiedenen Ebenen wirksam sind. Es gibt also einen aus der Sicht des Rechtsgüterschutzes resultierenden Unwert, der dem dem Tatbestandsinhalt eigenen Unwert fremd ist und der gleichzeitig mit den bewertenden und entwertenden Grundlagen, auf denen die gesamte Rechtsordnung beruht, übereinstimmt, den Erfolgswert oder -unwert. Die Rechtsordnung als solche ist daran interessiert, Erfolgsunwerte zu vermeiden oder zu mindern (daher die Einrichtung der Nichtigkeit, Rückerstattungen, Entschädigungen, Versicherungen etc.). Dieser der gesamten Rechtsordnung inhärente Erfolgsunwert ist auch dem Begriff des Rechtsgutes eigen. Diese Ubereinstimmung erlaubt also vom Rechtsgut aus die Rechtsordnung als Ganze mit der Tatbestandsmäßigkeit in Beziehung zu setzen. Daher ist die Tatbestandsmäßigkeit ein Indiz für Rechtswidrigkeit, denn um die Rechtswidrigkeit einer Tat erklären zu können, muß notwendigerweise ein Erfolg vorliegen (ein Erfolgsunwert, der in der Verletzung oder konkreten Gefährdung des Rechtsgutes besteht), und es darf keine Rechtfertigungsgründe geben. Erfolg und Rechtfertigungsgründe sind die grundlegenden Aspekte der Bewertung und Entwertung, die die Rechtswidrigkeit gestalten. Rechtswidrigkeit liegt nur vor, wenn es einen Erfolg (somit einen Erfolgsunwert) und keinen Rechtfertigungsgrund (somit eine positive Bewertung einer Situation) gibt. Durch die Rechtfertigungsgründe werden weder die N o r m widrigkeit der Verhaltensweise (der Handlungsunwert) noch der Erfolg (der Erfolgsunwert) beseitigt, aber doch der Unrechtscharakter der Tat; es liegt kein Delikt vor, es gab nur ein Indiz für ein Unrecht oder Delikt. Wenn das Problem des Unrechts oder des Delikts so angegangen wird, will das heißen, daß man, soll wirklich ein Delikt vorliegen, die objektiven und subjektiven Merkmale in ihrer Gesamtheit betrachten muß, also sowohl die der Tatbestandsmäßigkeit als auch die der Rechtswidrigkeit, und dies in der Hinsicht, daß erstere nur ein Indiz für ein Delikt sind. Dies ist von besonderer Bedeutung für die Problematik der Irrtumslehre.

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Die Irrtumslehre kann nicht allein mit den zwischen subjektivem und objektivem Aspekt bestehenden Beziehungen der Tatbestandsmäßigkeit verknüpft werden, da dies nicht ausreichend wäre, sondern sie muß auch die zwischen dem subjektiven und objektivem Aspekt bestehenden Beziehungen der Rechtswidrigkeit mit einbeziehen. Die vorsätzliche oder fahrlässige Tatbestandsmäßigkeit ist ausschließlich ein Indiz der Rechtswidrigkeit und folglich des Delikts; damit ein vorsätzliches oder fahrlässiges Delikt vorliegt, muß aber außerdem der subjektive Aspekt berücksichtigt werden, der in der Rechtswidrigkeit und in ihrer Beziehung zum objektiven Aspekt basieren kann. Dies ist der Fall, wenn Rechtfertigungsgründe auftreten. Das gültige spanische Strafgesetzbuch unterscheidet daher zu Recht zwischen den vom Gesetz bestraften vorsätzlichen oder fahrlässigen Handlungen und Unterlassungen (Art. 1, Abs. 1) und dem böswilligen Delikt (Art. 565, Abs. 1). Der Vorsatz bezieht sich nur auf die Tatbestandsmäßigkeit, er ist ein Indiz für die Böswilligkeit; die Böswilligkeit bezieht sich auf das Unrecht oder das Delikt. Die Böswilligkeit umfaßt also sowohl das subjektive Merkmal der Tatbestandsmäßigkeit mit Bezug auf ihren objektiven Aspekt (Vorsatz) als auch die möglichen rein subjektiven Merkmale ohne Bezug auf einen objektiven Aspekt und außerdem das subjektive Merkmal des Rechtfertigungsgrundes hinsichtlich des objektiven Aspekts wie auch die möglichen rein subjektiven Merkmale. Deshalb hat sich die Irrtumslehre nicht ausschließlich auf den Vorsatz zu beziehen, sondern auf die Böswilligkeit, wofür der Vorsatz nur ein Indiz ist. Die Irrtumslehre muß sich daher auf alle subjektiven Merkmale des Unrechts beziehen, die in bezug zu den objektiven Aspekten desselben stehen, gleichgültig, ob es sich dabei um Elemente der Tatbestandsmäßigkeit oder der Rechtswidrigkeit handelt. Deshalb schließt ein unvermeidbarer Irrtum über ein wesentliches Merkmal - sei es der Tatbestandsmäßigkeit oder der Rechtswidrigkeit, welches in letzterem Falle die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes wären - , das Unrecht, das Delikt vollkommen aus. Hingegen kann beim vermeidbaren Irrtum über ein wesentliches Merkmal die Fahrlässigkeit sowohl in bezug auf das tatbestandsmäßige Verhalten als auch auf das rechtswidrige, tatbestandsmäßige Verhalten fortbestehen, denn wichtig ist nicht das Indiz für das rechtswidrige vorsätzliche Verhalten, sondern das vorsätzliche (böswillige) oder fahrlässige Unrecht, und dieses liegt nur vor, wenn auch die Rechtswidrigkeit hinsichtlich des Verhaltens festgestellt wurde. Das spanische Strafgesetzbuch unterscheidet zu Recht zwischen Vorsatz und Böswilligkeit, aber nicht hinsichtlich der Fahrlässigkeit, da diese im wesentlichen ein normativer Begriff ist und nicht mit finalen subjektiven oder Tendenzmerkmalen zu vereinbaren ist. Die traditionelle Schuldlehre hinsichtlich des Irrtums vollzieht diesbezüglich einen logischen

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Sprung, denn ein Problem aktueller Kenntnis und des Bereiches der Rechtswidrigkeit, wie es die Kenntnis der tatsächlichen Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe ist, geht sie bei der Behandlung der Frage des Verbotsirrtums so an, als ob es ein Problem inaktueller Kenntnis wäre15. Es liegt andererseits kein logischer Widerspruch vor, wenn darauf hingewiesen wird, daß es ein vorsätzliches (böswilliges) oder fahrlässiges Unrecht gibt, und folglich bezieht sich die Irrtumslehre nicht auf die Tatbestandsmäßigkeit oder gar die Rechtswidrigkeit, sondern auf das Unrecht in seiner Gesamtheit, und demzufolge erscheint es nicht unlogisch, daß, auch wenn ein Indiz für ein vorsätzliches Unrecht aufgrund einer tatbestandsmäßigen vorsätzlichen Tat vorliegt, dieses Indiz jedoch letztendlich nur ein fahrlässiges Unrecht oder sogar überhaupt kein Unrecht bedeutet. Eine Analyse der Irrtumslehre aus kriminalpolitischer Sicht und folglich vom Rechtsgut als Begründung und Grenze für das staatliche Eingreifen ausgehend führt dazu, sie nicht einfach als eine Frage der tatbestandsmäßigen Handlung anzusehen - letzten Endes mit einem individualistischen und streng subjektiven Charakter - , sondern vom Schutz der Rechtsgüter aus und folglich mit Hinblick auf das Unrecht in seiner Gesamtheit. Was die Irrtumslehre in Frage stellt und diskutiert, ist, bis zu welchem Punkt in den Fällen des Irrtums der Strafschutz der Rechtsgüter gerechtfertigt ist, wenn gerade der Sinn und die Bedeutung des Schutzes an sich verfälscht werden. V. Mit der Feststellung der Existenz eines Delikts ist die Untersuchung der Voraussetzungen für die Strafe aber noch nicht abgeschlossen. Neben der Verbrechenslehre gibt es die Lehre von der verantwortlichen Person. Lange Zeit hindurch erschien diese Lehre durch ein vermeintliches drittes Element des Delikts, der Schuld, subsumiert und geschmälert zu werden. Auf diese Weise versachlichte man die Betrachtung der verantwortlichen Person, und gleichzeitig vermied man, alle Konsequenzen zu ziehen, die dem Prinzip der Menschenwürde, der materiellen Grundlage in bezug auf die verantwortliche Person, innewohnen. Die Beurteilung der Person darf nicht mit der Beurteilung der Tat verwechselt werden, wie auch das Prinzip des Rechtsgüterschutzes nicht mit dem Prinzip der Achtung der Menschenwürde verwechselt werden darf. Die Lehre von der verantwortlichen Person beinhaltet nicht einen direkten Bezug zum Schutz der Rechtsgüter, der sich in der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und im Unrecht erschöpft, sondern zu der Achtung der Menschenwürde, und aus diesem Grund 15

Siehe Bustos Ramirez,

a. a. O., S. 299 f.

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müssen die Merkmale der strafrechtlichen Verantwortlichkeit erläutert werden. Ein Delikt stellt ein Unrecht dar, aber es besagt noch nichts über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Menschen. Zwar ist nach dem Strafrecht eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates der Mensch nur für seine Taten - nicht für seine persönlichen Eigenschaften - verantwortlich, aber das bedeutet nicht, daß bei der Beurteilung der Tat völlig von der Person abgesehen und diese einfach nur noch als ein Anhängsel ihrer Tat betrachtet wird. Das Unrecht macht den Menschen nicht verantwortlich. Eine derartige Konzeption würde dem Prinzip der Menschenwürde widersprechen, würde bedeuten, den Menschen nicht als einen sozial Handelnden zu betrachten, und sie würde verkennen, daß er das wesentliche Element jeglicher sozialen Beziehung und der Sozialordnung als Ganzer ist. Es hieße zu leugnen, daß jeglicher Rechtsgüterschutz gerade auf seinem Tun basiert. Daher ist der erste Schritt bei der Charakterisierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Menschen die Zurechnungsfähigkeit, das heißt, die Möglichkeit, das begangene Unrecht (das Delikt) mit der Fähigkeit der strafrechtlichen Antwort des Menschen zu verknüpfen16. Dies ist dann in erster Linie nicht ein Problem psychologischer oder psychiatrischer Entscheidung oder des Rechtsgutsbegriffes, sondern eine kriminalpolitische Entscheidung. Das Problem liegt darin, die Vereinbarkeit oder NichtVereinbarkeit des Tuns bestimmter Menschen mit dem System als solchem festzulegen. Es geht also nicht darum, aufzuzeigen, daß es verantwortliche oder unverantwortliche Personen an sich gibt oder solche, die fähig bzw. unfähig sind, Werten gegenüber Verständnis aufzubringen, sondern einfach darum, daß sie strafrechtlich nicht verantwortlich sind, daß sie keine Kriminalstrafe zu bekommen haben. Vereinbar mit dem System und daher ohne strafrechtliche Verantwortlichkeit ist insbesondere das Tun der Geisteskranken und minderjähriger Täter. Von einem strafrechtlichen Gesichtspunkt aus kann das Unrecht nicht mit ihrer Person verbunden werden. Das soll aber nicht heißen, daß das von ihnen begangene Unrecht aus einer anderen Sanktionsperspektive nicht mit ihrer Person verknüpft werden könnte, daß sie also eine zivilstrafrechtliche oder verwaltungsstrafrechtliche Verantwortlichkeit haben. Und deshalb müssen in diesem Sinne alle übrigen Inhalte hinsichtlich ihrer Verantwortlichkeit eingesetzt werden (Unrechtsbewußtsein, andere Wertauffassung, Zumutbarkeit des Verhaltens, Unzumutbarkeitsgründe). Die Beurteilung der Unzurechnungsfähigkeit (d. h., ein solches Tun mit dem 16 Siehe Franco Basaglia y Franca Basaglia, L'ideologia de la diversità, in : La Maggioranza Deviante, 1971; David Cooper, Psiquiatría y antipsiquiatría, Buenos Aires, 1971; G.Jervis, Manuale critico di psiquiatría, Milano, 1978; Albert Cohen, A general theory of subculture, in: The socioloy of subcultures, 1970.

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System vereinbar erklären), bedeutet keinesfalls, die Garantien des Menschen zu begrenzen, folglich kann dies nur die Ausschließung einer Kriminalstrafe (und die Stigmatisierung, die einer Kriminalstrafe innewohnt) bedeuten, aber sie darf diesen Rechtsgenossen nicht die garantierten Rechtsprinzipien entziehen, die jeder Beurteilung über die Verantwortlichkeit eigen sind, sei diese krimineller Art oder nicht, gegenüber der Auferlegung einer bestimmten Konsequenz für die Begehung eines Unrechts. Es entspricht dem Prinzip der Menschenwürde und der Nicht-Diskriminierung, das dazu verpflichtet, Geisteskranke und Minderjährige, andernorts insbesondere die Eingeborenen, etc., von der kriminellen Strafverantwortlichkeit auszuschließen. U n d dies nicht, weil sie nicht die allen Personen eigenen Eigenschaften hätten (Bewußtsein über das eigene Tun und Wertbewußtsein), sondern gerade aus Achtung vor der Menschenwürde. Die erste Bestimmungsebene der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist also diejenige, die sich auf die Zurechnungsfähigkeit bezieht. Als solche ist sie aber überaus allgemein und umfassend, daher ist es erforderlich, sie sowohl, was die Ebene der konkreten Fähigkeit der bewertenden Antwort des Menschen anbelangt, zu präzisieren, als auch seine konkrete Fähigkeit, innerhalb dieser bewertenden Antwort zu handeln 17 . Aus kriminalpolitischer Sicht muß notwendigerweise berücksichtigt werden, daß die Wahrnehmung, die die Rechtsgüter implizieren, bei jedem Menschen ein komplexer und konkreter Prozeß ist. Deshalb muß also für das Vorliegen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei der Person ein Bewußtsein über das begangene Unrecht vorliegen. Folglich handelt es sich nicht um die Konzeption eines abstrakten Bewußtseins bezüglich des Wertes an sich (oder der Wahrheit an sich), wie die Verfechter der absoluten Straftheorien behaupteten, sondern nur um jene objektiven Werte, die im System über die Rechtsgüter aufgegriffen werden (die außerordentlich dynamisch und partizipativ und demzufolge relativ sind). Dieses Unrechtsbewußtsein basiert also auf einer politischen Entscheidung, es handelt sich um das Erfordernis eines bestimmten Bewußtseins. Was dann hinsichtlich der Person analysiert werden muß, ist die Ubereinstimmung eines bestimmten Bewußtseins mit diesem Erfordernis. Dieses Erfordernis existiert, entsteht aus dem Strafrechtssystem, es existiert nicht an sich oder von Natur aus in den Köpfen der Menschen. Das System selbst muß dem Individuum die Mittel zur Verfügung stellen, um dieses Bewußtsein zu erreichen. Darum ist es immer eine soziale Verantwortlichkeit, die Kriminalstrafe bedeutet auch immer ein Scheitern des Systems. Gerade deshalb geht es

17

Siehe Bustos

Ramirez,

a.a.O., S.402ff, 386.

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hier, was die Ausschließung des Unrechts anbelangt, nicht mehr um das Problem des Irrtums, was ein Problem der Kenntnisse ist und nicht der Wertewahrnehmung, die immer einen komplexen sozialen und kulturellen Prozeß und nicht bloß Kenntnisse impliziert. Es handelt sich hier also nicht um die Irrtumslehre, sondern um die Betrachtung eines anderen Wertebewußtseins (so wie Art. 6 bis a) Abs. 3 span. StGB von einem „irrtümlichen Glauben" spricht und nicht von einem „Irrtum" im Sinne von Abs. 1 und 2). Die traditionelle Lehre verwechselte die der Irrtumslehre eigenen Probleme mit denen des Wertebewußtseins, das sich von der Zumutbarkeit unterscheidet; indem sie darüber hinwegging, daß Gegenstand, Voraussetzung und Folgen in jedem Fall verschieden waren, faßte sie alles unter der Irrtumslehre zusammen. Die Unvermeidbarkeit eines Unrechtsbewußtseins, das sich vom Zumutbaren unterscheidet, muß den Ausschluß der kriminellen Verantwortlichkeit beinhalten (Art. 6 bis a) Abs. 3 span. StGB), da anderenfalls der Mensch gerade für etwas Nichtzumutbares verantwortlich gemacht würde. Das Strafrechtssystem würde den Grundsatz der Menschenwürde verletzen, wenn es den Menschen trotz des Fehlens des Unrechtsbewußtseins aufgrund eines anderen Wertebewußtseins strafrechtlich verantwortlich macht. Folglich handelt es sich darum, die Unzumutbarkeit des vom System geforderten Unrechtsbewußtseins zu erklären. Diese Unzumutbarkeit kann allerdings nicht total sein, d.h. daß Umstände vorliegen, aufgrund derer die Person das geforderte Bewußtsein haben konnte. In diesem Falle kann ein Fehlen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht ausgesprochen werden, sondern diese kann nur gemindert werden, wie Art. 66 span. StGB aufzeigt, auf den sich Art. 6 bis a) Abs. 3 span. StGB bezieht: „Die Tat ist nicht völlig entschuldbar, wenn nicht alle erforderlichen Voraussetzungen vorliegen, um die kriminelle Verantwortlichkeit auszuschließen..." Die Irrtumslehre und die Lehre von der Unzumutbarkeit des Unrechtsbewußtseins dürfen also nicht verwechselt werden, da sie auf völlig verschiedenen Ebenen einwirken und weil sie verschiedene kriminalpolitische und begriffliche Grundlagen haben. Folglich sind auch die Konsequenzen verschieden. Die Unvermeidbarkeit des Irrtums schließt das Unrecht aus, die Unvermeidbarkeit der Unzumutbarkeit des Bewußtseins schließt nur die kriminelle Verantwortlichkeit des Menschen aus; beim vermeidbaren Irrtum kann das fahrlässige Unrecht weiter vorliegen, die Vermeidbarkeit der Zumutbarkeit des Unrechtsbewußtseins kann nur die Verantwortlichkeit der Person mindern (das entsprechende Unrecht bleibt das gleiche, gleichgültig, ob es sich um ein vorsätzliches oder fahrlässiges handelt). De lege ferenda könnte natürlich gefordert werden, und zwar nicht vom Grundsatz der Menschenwürde aus und folglich im Verhältnis zur strafrechtlichen Verantwort-

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lichkeit, sondern von der Strafnotwendigkeit und daher von der Strafanwendung aus, daß die Gerichte in den Fällen der vermeidbaren Unzumutbarkeit des Unrechtsbewußtseins nicht nur die Strafe mindern, sondern die Strafanwendung ausschließen können, sei es aufgrund der geringen Verantwortlichkeit oder der Art oder Geringfügigkeit des Unrechts, auf das sich diese Vermeidbarkeit bezieht. Schließlich muß hinsichtlich der Verantwortlichkeit berücksichtigt werden, ob die vom System geforderte Verhaltensweise im konkreten Fall des Tuns für die Person zumutbar war. Es handelt sich also nicht darum, abstrakt die Handlungsfähigkeit der Person noch die Sittlichkeit ihrer Handlungen zu analysieren, sondern darum, vom Unrecht ausgehend zu untersuchen, ob die Person in der Lage war, auf ein bestimmtes gefordertes Verhalten zu reagieren. Das System kann vom Menschen nicht etwas verlangen, was bei seinem konkreten Tun über die Grenzen seiner Betrachtung als sozial Handelnder hinausgeht, und was letztendlich bedeuten würde, die Menschenwürde nicht zu achten und den Menschen nur als ein Rädchen des Systems anzusehen, der nach Belieben manipuliert werden kann, indem die Person als solche im Moment des Handelns außer Betracht gelassen wird. Und in diesem Sinne muß das System den Menschen also als solchen mit seinen Ängsten, seiner Müdigkeit, seinen fundamentalen Bedürfnissen, etc. betrachten. Wenn diese den Personen bei ihrem konkreten Verhalten eigenen Wesensmerkmale nicht berücksichtigt werden, so hieße dies, die Achtung der Menschenwürde nicht anzuerkennen und folglich wäre die einer Person unter solchen Bedingungen auferlegte Strafe in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat unrechtmäßig. Wenn also die Verhaltensweise nicht zumutbar ist, so muß die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausgeschlossen werden, und wenn nicht alle für die Erklärung der Unzumutbarkeit notwendigen Voraussetzungen vorliegen, dann muß die Verantwortlichkeit gemindert werden. Es handelt sich also nicht um eine Gnadenbezeugung des Systems, sondern um eine direkte Konsequenz des Grundsatzes der Achtung der Menschenwürde, ohne den der Staat keine Strafe verhängen kann. Das bedeutet: nicht nur im Rechtsgut liegt die Begründung und Begrenzung für das strafende Eingreifen des Staates, vielmehr gilt das gleiche auch für die Menschenwürde. Schließlich steht neben der Verbrechenslehre und der Lehre von der verantwortlichen Person die Lehre von der Strafanwendung, die sich im wesentlichen nach dem Prinzip der Strafnotwendigkeit richtet. Das heißt, auch wenn die Strafe verdient ist, weil es ein Delikt und eine verantwortliche Person gibt, kann aus kriminalpolitischer Sicht die Strafanwendung als nicht notwendig erscheinen, oder die Strafe ist auf andere Art oder in geringerem Maße oder mit anderen Bedingungen anzuwenden. Das gültige Strafrecht hat also anzuerkennen, daß es

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innerhalb des Systems nicht nur eine einzige Lehre gibt, sondern mehrere, die in dynamischer und dialektischer Weise untereinander verbunden sind, und daß es immer darum geht, das kriminelle Problem als ein sozialpolitisches Problem anzusehen und daß darum immer die Beteiligung der Rechtsgenossen und das Angebot von Möglichkeiten zur Lösung von sozialen Konflikten vorliegen muß.

Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik H A N S - D I E T E R SCHWIND

In einem 1972 veröffentlichten Aufsatz1 hat Hilde Kaufmann darauf verwiesen, daß „Kriminalpolitik jetzt verstanden wird als die Wissenschaft von den notwendigen Änderungen der Strafrechtspflege". Gehe man „über dieses Verständnis des Wortes Kriminalpolitik hinaus, so (sei) selbstverständlich der gesamte Bereich der Politik irgendwie immer auch zugleich Kriminalpolitik: Wirtschaftspolitik, Wohnungspolitik, Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Verkehrspolitik, ja selbst die Außenpolitik und viele andere Zweige der Politik (hätten) natürlich alle irgendwie Berührungspunkte mit dem Phänomen Verbrechen und Verbrecher und (würden) mal mehr, mal weniger, auch in diesen Bereich hineinwirken"2. Diese umfassendere Definition kriminalpolitischer Aufgabenstellung setzt sich vor dem Hintergrund zunehmender Kriminalitätsprobleme in unserer Gesellschaft immer mehr durch, weil sie darauf angelegt ist, die (lange vernachlässigte) außerstrafrechtliche Kriminalprävention auszubauen. Danach ist unter Kriminalpolitik die Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen zu verstehen, die zum Schutz der Gesellschaft und des einzelnen Bürgers auf Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität gerichtet sind3. Erst in diesem Rahmen wird auch die Kriminologie - über die Poenologie hinaus - als Grundlage (rationaler) Kriminalpolitik relevant. Den Ausgangspunkt jeder Kriminalpolitik bildet jedoch zunächst die Beurteilung der Kriminalitätslage. I. Kriminalitätslage und Kriminalitätsprognose So gehören zu den jährlich wiederkehrenden Meldungen der Medien immer wieder auch jene, nach denen in der Bundesrepublik Deutschland die Kriminalitätszahlen steigen (so grundsätzlich bis 1983) oder fallen (so 1984). Kaufmann, H.: Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik?, in: J Z 1972, 79. Kaufmann, H. a . a . O . (Fn. 1). 5 Schwind, H.-D.: Zur kriminalpolitischen Lage in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schwind, H.-D. / Berckhauer, F. / Steinhilper, G. (Hrsg.): Präventive Kriminalpolitik, Heidelberg 1980, S.3—26; so inzwischen z.B. auch Burkhard, W. / Herold, H. / Hamacher, H. W. / Schreiber, M. / Stümper, A. / Vorbeck, A.: Kriminalistik-Lexikon, Heidelberg 1984, S. 116. 1

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1. Zur Kriminalitätslage Die Grundlage dieser Informationen bildet die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden in jedem Frühjahr für das abgelaufene Kalenderjahr herausgibt. a) Für 1983 enthält die PKS (,,//e///e/i/-Kriminalität") u.a. folgende Angaben: - registriert wurden insgesamt 4,345 Millionen Straftaten (absolute Zahl). Zum Vergleich: 1973 waren es erst 2 , 5 5 9 Millionen Delikte; die Steigerungsraten schwankten pro Jahr zwischen 1 , 2 % und 8 , 0 % ; - die Häufigkeitszahl ( H Z = Zahl der bekannt gewordenen Fälle pro 100 0 0 0 E i n w o h ner) ist von 4 1 3 , 0 (1973) auf 7074,3 (1983) gestiegen. Das heißt (pauschal rechnerisch), daß 1983 für rund 7 % der Bevölkerung eine Straftat registriert worden ist; -

die Zahl der Tatverdächtigen hat sich von 1,023 Millionen (1973) auf 1,611 Millionen ( 1 9 8 2 ; 1983 in der P K S nicht ausgedruckt) erhöht; dementsprechend stieg die Kriminalitätsbelastungszahl ( K B Z = Zahl der ermittelten Tatverdächtigen pro 1 0 0 0 0 0 Einwohner) auf 2 8 3 0 , 2 (1982; 1983 wiederum nicht ausgedruckt); besonders bemerkenswert ist der Anstieg der Jugendkriminalität (Steigerung von 1974 bis 1982 um 64,3 % bei den männlichen Tatverdächtigen und um 89,6 % bei den weiblichen Tatverdächtigen).

Daß die Fallzahlen 1984 (um 4,9 %) gesunken sind, hat u. a. mit folgenden Ursachen zu tun: erstens mit technisch bedingten Mindererfassungen von Straftaten (in Baden-Württemberg) und der Nichtberücksichtigung von Uberhangdelikten aus dem Vorjahr (in Bremen); zweitens mit dem Verzicht der Versicherungen auf die Anzeigepflicht in bestimmten Fällen; und drittens wahrscheinlich mit den ersten Folgen des „Pillenknicks" (geburtenschwache Jahrgänge). Auf die dritte Ursache dürfte z.T. auch die 1984 beobachtete Verringerung der Tatverdächtigenzahlen (Abnahme gegenüber 1983 um rund 350000) zurückzuführen sein. Diese Abnahme hat jedoch noch eine weitere erhebliche Ursache, nämlich die „Bereinigung der Tatverdächtigenzahlen": Danach werden ab 1.1.1984 Tatverdächtige, denen im Erfassungszeitraum mehrere Straftaten zur Last gelegt werden, nur noch einmal gezählt; die Zahlen verringern sich dadurch um etwa 20 %\ 1985 nahm die Zahl der registrierten Straftaten wieder von 4,132 Millionen (1984) auf 4,215 Millionen ( + 2 , 0 % ) zu (PKS für Bund und Länder 1986, 2). b) Jeder, der sich mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) einmal näher befaßt hat, weiß allerdings, daß diese nur einen Bruchteil der Kriminalität registriert: Denn in der PKS können naturgemäß nur jene Delikte gezählt werden, die angezeigt oder auf anderem Wege den 4 Vgl. dazu schon Heinz, 1975, 556 ff.

W.: „Bereinigte" Tatverdächtigenzählung, in: Kriminalistik

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Strafverfolgungsbehörden bekannt werden. Über das „Dunkelfeld" 5 der nicht angezeigten Delikte kann die PKS also keine Aussage machen, d.h. die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt lediglich einen Ausschnitt aus der Gesamtkriminalität, die sich erst aus der Addition von Hell- und Dunkelfeldziffern ergibt. Der Umfang dieser Kriminalitätsteilfelder hängt primär von vier Umständen ab: erstens von der Kriminalitätsentwicklung; zweitens vom Anzeigeverhalten der Bürger; drittens von der Intensität der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden und viertens von der Entwicklung der Bevölkerungszahlen (etwa Zuwanderungen auf der einen Seite, geburtenschwache Jahrgänge auf der anderen Seite). Dabei wird die entscheidende Weiche durch das Anzeigeverhalten (insbesondere der Opfer) gestellt. Die PKS-Zahlen können deshalb nur dann etwas über steigende oder fallende (Gesamt-)Kriminalität aussagen, wenn das Anzeigeverhalten konstant bleibt. c) Ein konstantes Verhältnis hat noch im 19.Jahrhundert der Belgier Adolphe L.J. Quetelet (1796-1874) angenommen, der in seiner Schrift „Physique s o c i a l e . . a u f g r u n d einer Statistik über Totschlagsdelikte in Frankreich u. a. zutreffend ausgeführt hat: „Dieses Verhältnis ist notwendig, und, ich wiederhole es, wenn es dieses nicht tatsächlich gäbe, wäre alles, was bis heute aufgrund der statistischen Unterlagen über das Verbrechen ausgesagt wurde, falsch und absurd". Noch Hellmef vermutet, daß uns das „Dunkelfeld nicht interessiert, weil es überall gleich groß ist". Hellmer nimmt also an, daß die Relation zwischen Hell- und Dunkelfeld konstant ist. Dieser Standpunkt dürfte auch noch der heutigen Auffassung der (meisten) Polizeibehörden und zahlreicher Kriminalpolitiker (und Journalisten) entsprechen. Man geht davon aus, „daß der erfaßte Ausschnitt innerhalb tolerierbarer Grenzen repräsentativ oder doch symptomatisch für Struktur und Bewegung der Kriminalität"8 ist. So halfen sich Kriminologie und Kriminalpolitik über das Dilemma des Dunkelfeldes bislang (grundsätzlich) mit der Hypothese von der Konstanz des Verhältnisses zwischen registrierter und nicht registrierter Delinquenz hinweg, was impliziert, daß die PKS insoweit ein (noch) brauchbares Barometer für das Steigen oder Sinken der Gesamtkrimina5 Darunter wird die Summe jener Delikte beschrieben, die den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt werden und deshalb in der Kriminalstatistik auch gar nicht erscheinen {Schwind, H.-D. / Ahlhorn, W. / Eger, H.J. et al.: Dunkelfeldforschung in Göttingen, Wiesbaden 1975, S. 16). ' Quetelet, A.: Physique sociale ou Essai sur le développement des facultés de l'homme, Bd. 2, 1869, S. 251. 7 Hellmer, J.: Kriminalgeographie und Verbrechensbekämpfung, in: Kriminalist 1974, 103. 8 Dazu Heinz, W.: Das System der Strafrechtspflegestatistiken, in: Allgemeines Statistisches Archiv 1975, 97.

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lität darstellt. Empirische Hinweise zu dieser Frage liegen inzwischen aus der Bochumer „Empirischen Kriminalgeographie" (1978)9 sowie aus einer Untersuchung über die „Strukturen der Kriminalität in Solingen" (1985)10 vor. Dabei hat sich in beiden Arbeiten deutlich gezeigt, daß das Verhältnis von Hell- und Dunkelfeld in den einzelnen Stadtteilen voneinander mehr oder weniger differiert. Gleichwohl fällt auf, daß dort, wo das Hellfeld groß ist, auch die Dunkelfeldzahlen hoch liegen; man darf danach die Hypothese von Quetelet und Hellmer dahingehend modifizieren, daß - die Vermutung der konstanten Verhältnisse nur insoweit zutrifft, als es so zu sein scheint, daß neben hohen Hellfeldzahlen auch hohe Dunkelfeldzahlen stehen, - aber in wechselnder Relation zueinander11.

Wenn sich Hell- und Dunkelfeld danach nicht (berechenbar) konstant zueinander verhalten und auch nicht (wie andere annehmen) umgekehrt proportional, gibt es (bisher) für die Kriminalpolitik insoweit keine gesicherte Grundlage; jedenfalls solange es (hierzulande) noch an statistikbegleitender Dunkelfeldforschung fehlt. In den USA, in Kanada und in Holland sind zumindest entsprechende Ansätze zu beobachten: Dort werden bereits in regelmäßigen Abständen Opferbefragungen durchgeführt. 2. Zur Kriminalitätsprognose Nicht zuletzt die ungelöste Dunkelfeldfrage erschwert auch die Prognose der künftigen Kriminalitätsentwicklung, die als Grundlage kriminalpolitischer Entscheidungen Bedeutung besitzt. Seit Juni 1982 machte sich über diese Frage auch ein Prognosegremium „Entwicklung der Kriminalität" Gedanken, das der Präsident des Bundeskriminalamts entsprechend dem Auftrag aus § 2 Abs. 1 Ziff. 5 des BKA-Gesetzes („Beobachtung und Analyse der Kriminalitätsentwicklung") eingesetzt hat12 (Ende 1985 wieder aufgelöst). Zu den Methoden der Kriminalitätsprognose, die inzwischen am häufigsten diskutiert und auch praktiziert werden, gehören: -

die „einfache Zeitreihenverlängerung", quantitative Ansätze zur Modellbildung, Expertenbefragungen sowie die Mischform des Szenario-Ansatzes.

9 Schwind, H.-D. / Ahlhorn, W. / Weiß, R.: Empirische Kriminalgeographie - Kriminalitätsatlas Bochum, Wiesbaden 1978, 190 ff. 10 Plate, M. / Schwinges, U. / Weiß, R.: Strukturen der Kriminalität in Solingen, Wiesbaden 1985. 11 Schwind, H.-D. / Ahlborn, W. / Weiß, R. a. a. O. (Fn. 9), S. 192. 12 Vgl. dazu Kube, E.: Kriminalitätsprognose. Überlegungen zur Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen, in: MschrKrim. 1984, 11.

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a) Mit der Methode der „einfachen Zeitreihenverlängerung" ist die lineare Verlängerung von statistischen Zeitreihen gemeint, also die Hochrechnung z . B . der Zahlen der PKS (oder der Verurteiltenzahlen oder der Belegungszahlen im Strafvollzug), und zwar jeweils von der Vergangenheit in die Zukunft. Dabei kann die Bevölkerungsentwicklung mitberücksichtigt werden oder auch nicht. Läßt man die Bevölkerungsentwicklung unberücksichtigt, würden die Kriminalitätszahlen bei einfacher Zeitreihenverlängerung von 1983 (PKS: 4,345 Millionen Delikte) bei einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von nur 4 % bis zum Jahre 2000 auf 8,464 Millionen Straftaten anwachsen und bis zum Jahre 1050 auf 60,148 Millionen Delikte. Legt man die Abnahme der Kriminalitätszahlen (von 1984) zugrunde, kann man ebenso ausrechnen, wann nach dieser Prognose überhaupt keine Straftaten mehr verübt (d. h. registriert) werden. b) Zu den Ansätzen, die zur Verfeinerung der Methodik entwickelt wurden, gehört die quantitative Modellbildung, die im Rahmen der Trendschätzung nicht nur demographische Daten berücksichtigt, sondern darüber hinaus auch andere Faktoren in die Vorhersage mit einzubeziehen versucht (Arbeitslosenquote, Ausländeranteil, Polizeistärke oder Altersaufbau der Bevölkerung usw.). Daß der Altersaufbau der Bevölkerung eine wichtige Indikator-Funktion erfüllen kann, ist plausibel: Jüngere begehen im Schnitt mehr Delikte als ältere Menschen. Verwendet man allein diese Erkenntnis für die Kriminalitätsprognose in der Bundesrepublik Deutschland (in der die Zahl der 15-20jährigen - infolge des „Pillenknicks" - abnimmt, die der über 50jährigen hingegen ansteigt), müßte man davon ausgehen, daß die Jugendkriminalität bis zum Jahre 1990 voraussichtlich (weiter) zurückgehen wird. Zu diesem Ergebnis ist auch das Prognose-Gremium des Bundeskriminalamts gelangt13, das als Einflußgrößen z.B. noch die Arbeitslosigkeit mitberücksichtigt hat. Dabei wird aber auch auf Probleme verwiesen, „die insbesondere in der unzureichenden Datenbasis wie auch in den relativ willkürlichen Modellannahmen begründet sind"14. c) Bei der Expertenbefragung „werden einer Gruppe von jeweils getrennt angesprochenen Experten Fragen zu zukünftigen Entwicklungen, zur Bewertung der Eintreffwahrscheinlichkeit von Ereignissen, zur Ausarbeitung von Entwicklungskonstellationen usw. gestellt. Die Häufigkeitsverteilung der Expertenmeinungen wird je gefragtes Statement durch den Median (Wert, der die Mittellinie zwischen 50 % Aussagen 13 Bundeskriminalamt (Projektgruppe Prognose-Gremium): Jugenddelinquenz bei Deutschen und Ausländern, 1984, 37. 14 BKA a . a . O . (Fn. 13), S.36.

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mit höheren bzw. niedrigeren Ausprägungen bildet) und die Extremwerte ausgedrückt. Diese Auswertung wird jedem Teilnehmer zurückgespielt mit der Bitte, Extremabweichungen in seinem Urteil zu erläutern. Auch nach dieser Runde wird wieder die Verteilung der Äußerungen ermittelt und den Experten mitgeteilt. Durch mehrmaliges Wiederholen der Prozedur soll eine Konzentration der Meinungen bis möglichst hin zur Ubereinstimmung bewirkt werden"15. d) Der Szenario-Ansatz arbeitet mit einem doppelten Ansatz: Zunächst werden Trendentwicklungen verlängert (einfache bzw. quantitative Zeitreihenverlängerung), die dann anhand qualitativer Elemente (z.B. durch Expertenbefragung) ergänzt (bzw. korrigiert) werden. Dabei wird unter dem „Szenario" das Ergebnis verstanden, das alle Annahmen, Voraussetzungen und Parameter (Randbedingungen) aufführt und deshalb auch Alternativen (bzw. Varianten) der Kriminalitätsentwicklung aufzeigen kann. Dieser Szenario-Ansatz ist z.B. von Loll benutzt worden, der im Auftrag des Bundeskriminalamts eine Untersuchung zur zukünftigen Entwicklung der Jugendausländerkriminalität durchgeführt hat. Loll „wählte eine Kombination von quantitativen (mathematisch-statistischen) mit mehr qualitativen Elementen (d.h. Expertenbefragungen), die sich auf den kriminologischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisstand stützen"16. Dabei hat er „unter Einbeziehung der im Ausland (USA, Großbritannien, Israel) mit der zweiten Einwanderergeneration gemachten Erfahrungen aus den einschlägigen kriminologischen Theorien die folgenden wesentlichen ,Prädikatoren' für die Delinquenzentwicklung ausländischer Jugendlicher" abgeleitet17: - die Bevölkerungsentwicklung, d. h. hier die absolute und relative Anteilszunahme von Ausländern im Alter unter 21 Jahren an der Wohnbevölkerung; - den geringen Schulerfolg bzw. den geringen Anteil ausländischer Schüler an weiterführenden Schulen; - den niedrigen sozio-ökonomischen Status der Ausländer, erkennbar an ihrem geringen Angestelltenanteil; -

die überdurchschnittliche und zunehmende Arbeitslosenquote der Ausländer; die Zunahme der Aufenthaltsdauer, wodurch wachsende Ansprüche der jungen Ausländer auf tendenziell sich verringernde Chancen stoßen, ihre Ziele mit legalen Mitteln zu erreichen, sowie

-

die Konzentration von Ausländern in kriminalitätsbelasteten statustiefen Gebieten (nur in H a m b u r g ermittelt).

15 Wittkämper, G. W.: Probleme bei der Prognose der Aufgabenentwicklung der öffentlichen Verwaltung, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Sonderband der B K A - F o r schungsreihe, 1985.

" Vgl. Bundeskriminalamt scher Jugendlicher, 1983, 12. 17 BKA a . a . O . (Fn.16).

(Hrsg.): Stand und Entwicklung der Delinquenz ausländi-

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Die aufgrund dieser Prädiktoren erarbeitete Trendanalyse von Loll hat ergeben, „daß sich infolge der in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter ansteigenden Zahl junger Ausländer die Anzahl der tatverdächtigen Schüler und Studenten in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahre 1988 (bezogen auf 1981) um ca. 5 2 % auf über 48000 erhöhen wird18. Auch die Kriminalitätsbelastungszahlen werden bis 1988 deutlich ansteigen"19. Loll20 weist jedoch „ausdrücklich darauf hin, daß diese Prognose wegen der relativ willkürlichen Gewichtung der Variablen und wegen verschiedener Störeinflüsse nur einen sehr vorläufigen Charakter habe". Die Zahl der tatverdächtigen Ausländer soll aber auch nach einer Prognose der „Arbeitsgruppe Bevölkerungsfragen" (beim Bundesministerium des Innern) bis zum Jahre 2000 weiter anwachsen21. Ob diese Vorhersagen zutreffen, wird nicht zuletzt von der Durchsetzungskraft der deutschen Ausländerpolitik (Begrenzungs- und Integrationspolitik) abhängen22. II. Kriminalpolitik Kriminalitätsprognosen sind jedoch fast immer noch so unsicher wie der Wetterbericht, d.h. sie können der Kriminalpolitik grundsätzlich kaum verwertbare (sichere) Grundlagen bieten. Deshalb sollte sich der Kriminalpolitiker (und zwar im Interesse der Sicherheit der Bürger des Staats) an der pessimistischen Variante möglicher Zukunftsaussichten orientieren; jedenfalls dann, wenn diese nicht ganz unwahrscheinlich erscheint. Für diese Auffassung dürfte insbesondere sprechen, daß kriminalpolitische Maßnahmen (zur Kriminalitätsvorbeugung und zur Rückfallverhütung) nicht verspätet einsetzen dürfen, wenn sie Erfolg haben sollen. 1. Kriminalitätsvorbeugung

(primäre

Kriminalprävention)

Zur Kriminalitätsbekämpfung setzt der Kriminalpolitiker ein: erstens Strafe und Strafdrohung, von denen er sich spezialpräventive bzw. generalpräventive Wirkungen auf (potentielle) Straftäter verspricht; zweitens außerstrafrechtliche kriminalitätsvorbeugende Maßnahmen. Neben diesen Maßnahmen der primären Kriminalprävention stehen Aktivitäten zur Rückfallverhütung (sekundäre Kriminalprävention). BKA a . a . O . (Fn.16), S.37. " BKA a . a . O . (Fn.16), S. 13. 20 Loll, zit. nach Kube a. a. O. (Fn. 12). 21 Bundesregierung: Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 3/84 vom 3 . 1 . 1 9 8 4 , S. 108. 22 Vgl. zusammenfassend dazu Schwind, H.-D.: Wie lösen wir die Ausländerfrage? Das Gastarbeiterproblem aus (kriminal-) politischer Sicht, Teil 1, in: Kriminalistik 1983, S. 303-325; Teil 2: 1983, S. 358-360. 18

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a) Vorbeugung durch Abschreckung Herkömmliches Instrument der Kriminalpolitik ist die Strafdrohung. Nach dem Stand der poenologischen Forschung wirkt diese jedoch nur dann abschreckend, wenn das Mißerfolgsrisiko hoch ist: das Risiko nämlich, gefaßt und verurteilt zu werden23. Deshalb ist es in kriminalpolitischer Hinsicht z. B. vernünftig, die Polizei personell gut auszustatten und gut auszubilden, um das Mißerfolgsrisiko des (potentiellen) Täters möglichst hochzuschrauben. Die kleinen Polizeidienststellen zu zentralisieren, wie das in den 70er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland geschah, war danach schon deshalb ein Fehler, weil das Mißerfolgsrisiko (der Straftäter) damit in den polizeientblößten Gebieten abnehmen mußte: Der „Wiederholungseffekt des erfolgreichen Täters" ermunterte zu weiteren Straftaten. Kriminalpolitisch vernünftig war deshalb die roll-back-Entscheidung, „Kontaktbereichsbeamte" wieder vor Ort einzusetzen; hier können diese auch das Vertrauen des Bürgers gewinnen, das nicht nur das Anzeigeverhalten mitbestimmt, sondern vor allem auch für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und die Aufklärungsarbeit der Polizei erhebliche Bedeutung besitzt.

b) Vorbeugung durch sozialpolitische Maßnahmen Kriminalprävention wird aber nicht nur durch Abschreckung bzw. hohes Mißerfolgsrisiko (potentieller) Straftäter als möglich betrachtet, sondern auch durch sozialpolitische Maßnahmen, die bereits im Vorfeld krimineller Entwicklungen ansetzen müssen. So beginnt sich auch in der Bundesrepublik Deutschland die Erkenntnis durchzusetzen, daß (erstens) die steigende Kriminalität mit den Mitteln des Strafrechts allein nicht zu bewältigen ist und (zweitens) Prävention, wenn sie Erfolg haben will, verstärkt früher ansetzen muß als bisher; auch hier gilt die alte Erkenntnis: Vorbeugen ist besser als Heilen. Nach dem ressortübergreifenden kriminalpolitischen Ansatz sollte die entsprechende Prävention in allen kriminalpolitisch relevanten Bereichen der Politik aufgebaut werden: etwa im Rahmen der Schulpolitik (Stärkung des Rechtsbewußtseins durch Rechtskundeunterricht), Arbeitsmarktpolitik (Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit) oder Ausländerpolitik (Begrenzung des Zuzugs und Integration von bleibewilligen Ausländern, insbesondere der Zweiten und Dritten Generation). Diese Gedanken sind freilich keineswegs neu. So hat schon Franz von Liszt die Meinung vertreten, daß die beste Kriminalpolitik in einer guten Sozialpolitik besteht24. Eine solche Kriminalpolitik setzt jedoch entsprechende Ursachenkenntnis voraus. 23 Vgl. dazu ausführlich z. B. Schwind, H.-D.: Uber Poenologie aus kriminalpolitischer Sicht, in: Festschrift für Wassermann, 1985, 1021 ff. 24 v. Liszt, F.: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Berlin 1905, Bd. 2, S.246.

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Dementsprechend hat von Liszt25 auch darauf verwiesen, daß „jeder Kriminalpolitiker Dilettant bleibt, wenn ihm die feste wissenschaftliche Grundlage fehlt, die er nur in der genauesten und umfassendsten Kenntnis der Tatsachen gewinnen kann". Insoweit ist jedoch zu beklagen, daß wir über die Ursachen kriminellen Verhaltens und darüber, wie man sinnvoll vorbeugen kann, noch immer zu wenig wissen. So wies z . B . Kerner1'' - wenn auch überspitzt formuliert - darauf hin, daß wir noch nicht einmal wissen, warum Menschen Normen überhaupt beachten, geschweige denn, warum sie sie brechen. Worauf also kann der Kriminalpolitiker dann noch zurückgreifen, wenn er beabsichtigt, seine Entscheidungen an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren.

2. Rückfallverhütung

(sekundäre

Kriminalprävention)

Im Rahmen der Bekämpfung des kriminellen Rückfalls setzen viele Kriminalpolitiker ihre Hoffnungen auf den „Behandlungsvollzug", den auch das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 (BGBl. I, 1976, 581 ff) postuliert. Zweifel hinsichtlich des Behandlungserfolges bei Straftätern im Freiheitsentzug stellten sich allerdings z. B. aufgrund einer Sekundäranalyse ein, die Lipton, Martinson und Wilks17 über 231 Untersuchungen von Gefängnisbehandlungsprogrammen in den U S A vorgelegt haben; danach sollen die Behandlungsbemühungen kaum wesentlichen Einfluß auf die Rückfälligkeit gehabt haben. Die Folge, die dieses Resultat ausgelöst hat, war für den Behandlungsvollzug in den Vereinigten Staaten verheerend. Köberer28 spricht insoweit von einem „justizpolitischen roll-back in den U S A " : weg von der „ Rehabilitationsideologie" hin zur „Abschreckungsrealität" 2 '. Auch von Kaiser30 ist beobachtet worden, daß „nach einigen Jahren partieller Behandlungseuphorie der Trend jetzt umgeschlagen ist". Abgesehen davon, daß die Resultate von Lipton u. a. auch in den U S A (und zwar wegen methodischer Mängel) kritisiert worden sind, darf man festhalten, daß sich die enttäuschenden Ergebnisse über die Wirkungen des Behandlungsvollzugs, die für die Vereinigten Staaten vorgebracht werden31, bei uns (zumindest bisher 25 v. Liszt, F.: Kriminalpolitische Aufgaben, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, Berlin 1905, S.202. 26 Kerner, H.-J.: Die Stellung der Prävention in der Kriminologie, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.): Polizei und Prävention, Wiesbaden 1976, S. 19. 27 The Effectiveness of Correctional Treatment, New York 1975. 28 Köberer, W.: Läßt sich Generalprävention messen?, in: MschrKrim. 1982, S.200. 29 Vgl. dazu Andenaes, ].: General Prevention Revisited, in: Journal of Criminal Law and Criminology 66/1975, S. 338-365. 30 Kaiser, G.: Kriminologie, Heidelberg 1980, S.287. 31 Zusammenfassend dazu Ott, H.-J.: Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle, Freiburg 1982.

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noch) nicht eingestellt haben32. Allerdings sind auch die deutschen Arbeiten (und zwar ebenfalls wiederum wegen methodischer Problematik) nicht kritiklos geblieben. Unklar ist insbesondere, was eigentlich im Rahmen der Legalitätsuntersuchungen gemessen wird: Wirkungen der Behandlung (wenn ja, welcher?) oder (und) die (evtl.) Wirkungen der Abschreckung (Vollzugsprävention)? Wenig bekannt ist ferner darüber, ob „Behandlung" in Unfreiheit überhaupt wirksam ist bzw. ob die „Freiwilligkeit" der Probanden zur Behandlung im Strafvollzug insoweit ausreichen kann; wenig wissen wir schließlich auch darüber, wie lange ein evtl. Behandlungserfolg andauert. Nach den Ergebnissen einer niedersächsischen Untersuchung nimmt die entsprechende Konditionierung jedenfalls offenbar von Jahr zu Jahr ab: Im ersten Jahr nach der Entlassung wurden 41 % der Probanden rückfällig, im zweiten Jahr waren es bereits 53 % , im dritten Jahr 61 % , im vierten Jahr 66 % und im fünften Jahr rund 70 % " . Die Untersuchung wird fortgesetzt. Verunsicherung und Skepsis in bezug auf die kriminalitätsmindernde (straftatverhütende bzw. rückfallbekämpfende) Wirkung der Kriminalsanktionen hat (über die enttäuschenden USA-Resultate über die Wirkungen des Behandlungsvollzugs hinaus) die These von der Austauschbarkeit und Alternativität der Sanktionen ausgelöst. Diese These hat zum Inhalt, „daß bei fast allen Kriminalsanktionen, unabhängig von der speziell erfaßten Risikogruppe, ähnlich hohe Erfolgs- und Mißerfolgssätze beobachtet werden" 34 . Danach wird die Meinung vertreten, „daß im Durchschnitt, also im sogenannten Mittelfeld der verurteilten Rechtsbrecher und auch der entsprechenden Kriminalsanktionen, (im individualpräventiven wie im generalpräventiven Bereich) die Erfolgschance immer gleich groß ist: etwa 60 % unabhängig davon, welche Art Sanktion im einzelnen auch verhängt wird" 35 . Diesen Ergebnissen widerspricht jedoch eine Zusammenstellung der Befunde von 140 Rückfalluntersuchungen durch Berckhauer und Hasenpusch*, die deutliche Unterschiede im Ausmaß des Rückfalls je nach Sanktionsart und Vollzugsform festgestellt haben. So beträgt die 32 Vgl. dazu die Rückfalluntersuchung von Berckhauer, F. / Hasenpusch, B. (für Niedersachsen), in: MschrKrim. 1983, S. 320ff, und Baumann, K.-H. / Maetze, W. / Mey, H. (für Nordrhein-Westfalen), in: MschrKrim. 1983, S. 133 ff. 35 Berckhauer, F. / Hasenpusch, B.: Legalbewährung und Strafvollzug, in Schwind, H.-D. / Steinhilper, G. (Hrsg.): Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Rückfallverhütung, Kriminologische Forschung, Bd. 2, Heidelberg 1982, S.302. 34 Kaiser, G.: Was wissen wir von der Strafe?, in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S.939. 35 Kaiser, G. a . a . O . (Fn.30), S.283. 36 In Schwind, H.-D. / Steinhilper, G. (Hrsg.): Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, Heidelberg 1982, S.287.

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durchschnittliche Rückfallquote nach Geldstrafe nur 2 6 % , nach Strafaussetzung zur Bewährung 51 % und nach Vollverbüßung der Freiheitsstrafe im Regelvollzug 62 % . Danach fällt auf, daß die Rückfälligkeit nach ambulanten Maßnahmen (außerhalb des Vollzugs: Geldstrafe und Bewährung) geringer sein soll als nach stationären Maßnahmen (Freiheitsentzug). Ob und inwieweit die Differenzen mit den Unterschieden zwischen den betroffenen Probandengruppen erklärt werden können, ist allerdings noch weitgehend unklar. Die Resultate sind jedenfalls solange noch wenig aussagekräftig, bis „nicht geklärt ist, ob es sich dabei um vergleichbare Taten und Täter handelt"37. Obgleich also die Ursachen der Unterschiede noch ungeklärt sind, hat sich die Sanktionspraxis der letzten Jahrzehnte aufgrund von Gesetzesänderungen und durch Rechtsprechungswandel nicht unerheblich verändert: Deutlich ist insbesondere die Verschiebung von den stationären zu den ambulanten Kriminalsanktionen erkennbar. Dementsprechend werden seither die vollstreckten Freiheitsstrafen verdrängt, und zwar durch die Ausdehnung der Strafaussetzung zur Bewährung sowie durch die Geldstrafe: So sank die Zahl der Freiheitsstrafen ohne Bewährung von 37,3 % (1950) auf 23 % (1965) bis auf 6,5 % (1982) ab (abgestellt auf die Verurteilung wegen Verbrechen oder Vergehen nach allgemeinem Strafrecht); zugleich stieg die Zahl der Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, erheblich an. Zur Regelstrafe unter den Kriminalsanktionen wurde allerdings inzwischen die Geldstrafe. Ob diese wirksamer ist als der „short sharp shock" der kurzen Freiheitsstrafe, hat empirisch aber auch noch nicht belegt werden können. III. Praxisorientierte Forschung als Postulat Die danach noch unsicheren Grundlagen der Kriminalpolitik berechtigen zu der Frage: „Was leistet die Kriminologie eigentlich für die Gesellschaft?"38. Vor dem Hintergrund dieser Frage mutet auch der Streit im kriminologischen Lager darüber merkwürdig an, ob die kriminologische Forschung (an den Hochschulen) zur Objektivierung von Kriminalpolitik überhaupt beitragen soll oder ob sie sich dadurch „prostituiert" 3 '! Im übrigen wird der vorgelegten Hochschulforschung vor allem von der Praktikerseite, aber auch aus den eigenen Reihen der

Zutreffend z . B . Göppinger, H.: Kriminologie, München 1980, S.367. " Wolff, ].: Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Kriminologie, in: KZfSS 1974, S. 301-315. 37

3

39 Vgl. dazu die zusammenfassenden Hinweise bei Störzer, H. U.: Staatskriminologie subjektive Notizen, in: Festschrift für H. Leferenz, Heidelberg 1983, S. 81.

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Vorwurf gemacht, daß ihre empirische Forschung zu wenig an den Bedürfnissen der Praxis orientiert sei40. Mit praxisorientierter Forschung ist dabei solche Forschung gemeint, die der Praxis empirisch abgesicherte Entscheidungshilfen zur Verfügung stellen kann. Auch KaiserM räumt in diesem Zusammenhang ein, daß „es mit der Leistung der Kriminologie, mit ihren Befunden unmittelbar etwas anfangen zu können, noch nicht gut bestellt sei". Unter diesen Umständen kann es nicht überraschen, daß sich als überwiegend praxisorientierte Alternative zur Universitätsforschung eine „behördeninterne Forschung" etabliert hat. Der Gedanke der behördeninternen Forschung - der Forschung innerhalb einer Behörde - ist jedoch keineswegs neu. Wiederum schon Franz von Liszt hat die Schaffung kriminologischer Institute bei den Polizeidirektionen gefordert42. Hans Gross trat (1913) für die Gründung eines „Reichskriminalinstituts" ein. Radzinowicz schlug 1961 „die Errichtung eines rein kriminologischen Nationalen Instituts oder leistungsfähiger regionaler Institute" vor. Auch Würtenberger empfahl (1969) ein zentrales Forschungsinstitut für Kriminologie und Kriminalistik „im Bereich der Gesamtorganisation der Kriminalpolizei". Der Beginn der geforderten außeruniversitären kriminologischen Forschung im Strafvollzug läßt sich auf das Jahr 1921 datieren: In diesem Jahr wurde nach dem Vorbild des „Kriminalanthropologischen Laboratoriums" in Brüssel mit der Forschungsarbeit zunächst in Bayern begonnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte 1947 der Aufbau der „kriminalpsychologischen Untersuchungsstelle" Berlin. Im Bereich der Polizei wurde die Auswertung der Erfahrungen aus der kriminalpolizeilichen Praxis sowie der Resultate aus der Forschung zunächst der Reichskriminalpolizei übertragen und ab 1951 dem „Kriminalistischen Institut" (KI) des BKA in Wiesbaden. Aber erst in den 70er Jahren setzt die Hauptphase der Institutionalisierungsbemühungen in, (wahrscheinlich) durch die Erkenntnis staatlicher Stellen, nach der die Universitätsforschung zur Abdeckung der Forschungsbedürfnisse auch in der Zukunft nicht ausreichen werde: - 1972 wird die „kriminalistisch-kriminologische Forschungsgruppe" des BKA aufgebaut; - 1973 entsteht im Bundesministerium der Justiz das selbständige „Referat Kriminologie"; 40 Z . B . Leferenz, H.: „unzulänglicher Praxisbezug" - zit. nach Streng/Störzer, in: MschrKrim. 1982, S. 36; Stümper, A.: Forderungen des Praktikers an die Forschung, in: PFA (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen kriminalistisch-kriminologischer Forschung, Hiltrup 1974, S. 108. 41 Kaiser, G.: Kriminologie als angewandte Wissenschaft, in SchwZStW 94 (1977), S. 516. 42 Alle Hinweise und Zitate nach Störzer a. a. O. (Fn. 39), S. 71.

Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik

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- 1976 verpflichtet das Strafvollzugsgesetz (in § 166) die Länder zum Aufbau „Kriminologischer Dienste" im Strafvollzug; - 1979 wird im Niedersächsischen Ministerium der Justiz in Hannover die Referatsgruppe „Planung und Forschung" (heute: „Planung, Forschung, Soziale Dienste" = PFS) errichtet; - ebenfalls 1979 folgt der Aufbau der „Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei" beim Landeskriminalamt in München; - ebenfalls 1979 wird in Hannover das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen" (KFN) gegründet (als e.V.); - 1981 beschließt die Justizministerkonferenz (JuMiKo) in Celle den Aufbau einer „Kriminologischen Zentralstelle" als Bund-Länder-Einrichtung (am 13. Juni 1986 offiziell mit der Arbeit begonnen). D i e s e E n t w i c k l u n g k ö n n t e m i t d a z u beitragen, a u c h die P o e n o l o g i e v o r a n z u t r e i b e n u n d d e r K r i m i n a l p o l i t i k , die m i t sozialpolitischen M i t teln v o r b e u g e n will, e n t s p r e c h e n d e F o r s c h u n g s i n f o r m a t i o n e n z u r V e r f ü g u n g z u stellen, w a s allerdings n u r v e r t r e t b a r erscheint, w e n n die U n a b h ä n g i g k e i t der b e h ö r d e n i n t e r n e n F o r s c h u n g gewährleistet ist 43 . Schließlich bleibt n o c h das P r o b l e m der T r a n s m i s s i o n ü b r i g : W i e e r f ä h r t d e r K r i m i n a l p o l i t i k e r eigentlich e t w a s ü b e r die E r g e b n i s s e der k r i m i n o l o g i s c h e n F o r s c h u n g 4 4 ? L e i d e r k o n n t e a u c h diese F r a g e bisher n o c h n i c h t zufriedenstellend gelöst w e r d e n .

43 Skeptisch insoweit z.B. Brüsten, M.: Staatliche Institutionalisierung kriminologischer Forschung, in Kury: (Hrsg.): Perspektiven und Probleme kriminologischer Forschung, Köln 1981, S. 135-182. 44 Vgl. zu diesem Problem z.B. Amelung, K.: Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung, in: ZStW 92 (1980), S. 19-72; Schwind, H.-D.: Kriminologie in der Praxis, Heidelberg 1986.

Strategien der Kriminalitätsbekämpfung in Polen K A Z I M I E R Z BUCHALA

I. In dem im September 1979 vor der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Krakow gehaltenen Vortrag über „Anthropologische Konzeptionen in Strafrecht und Kriminologie" hat Hilde Kaufmann u.a. gesagt: „Uberall dort, wo das Strafrecht oder ihm verwandte Sanktionssysteme das Stadium des magischen Denkens überwunden haben, ist der einzige Bezugspunkt der Mensch. Damit kann ein Strafrechtssystem nicht umhin, Vorstellungen von eben diesen Menschen zugrunde zu legen, seien sie reflektiert oder nicht" 1 . Und an anderer Stelle: „Strafrecht ist bekanntlich ein soziales Steuerungs- und Kontrollinstrument der Gesellschaft zum Schutze gewisser elementarer und nicht preisgebbarer Rechtsgüter. N u r wenn dem Menschen freie Selbstbestimmung zugesprochen wird, kann sinnvollerweise eine Gesellschaft an eben diese Selbstbestimmung appellieren, die jeweils gültigen Normen zu befolgen" 2 . Zugleich gestattet dieses Menschenbild in denjenigen Fällen, da die Mitglieder dieser Gesellschaft diesem Appell nicht folgen, sie „zur Rede" zu stellen, von ihnen „Antwort" in bezug auf dieses Nichtbefolgen zu verlangen und ihnen in diesem Dialog als Antwort der Gesellschaft eine Sanktion zu geben. Anders gesagt: Das Menschenbild des sich selbst frei steuernden Menschen ist die Grundlage der Kategorie der „Verantwortlichkeit", die wir dem Menschen zusprechen. Und ohne diese Kategorie ist das Leben einer Gesellschaft schlicht unmöglich" 3 . Wenn, so schreibt zu Recht G. Kaiser, die Gemeinschaft ihre Ziele, das heißt die Sicherung der Existenz und der Entwicklung, erreichen will, so muß sie eine soziale Kontrolle über das Verhalten ihrer Mitglieder ausüben. In der heutigen Wissenschaft liegt also das Problem nicht darin, ob diese Kontrolle auszuüben ist, sondern wie sie auszuüben ist4.

1 H.Kaufmann: Anthropologische Konzeptionen in Strafrecht und Kriminologie, Manuskript eines Vortrages, gehalten im September 1979 vor der Akademie der Wissenschaften in Krakow, S. 1. 2 Ibidem, S. 12. 5 Ibidem, S. 12. 4 G.Kaiser: Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1972, S. 1.

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Das Strafrecht stellt eine bestimmte Zusammenstellung formalisierter Instrumente der sozialen Kontrolle dar. Die wichtigsten sind die Bestimmung der Sanktionen für gesellschaftlich gefährliches Verhalten, die Bemessung und Vollziehung der verhängten Strafen und Maßnahmen. Noch in den fünfziger Jahren herrschte in der Bundesrepublik Deutschland die Ansicht, daß die fundamentale Funktion der Strafe die Tilgung der Schuld sei5. Die auf dem Prinzip der Vergeltung beruhende Konzeption des Strafrechts diente zwar dem Schutz der Menschenwürde, konnte jedoch nicht im gleichen Maße dem Schutz der Rechtsordnung dienen. In der Mitte der sechziger Jahre setzte sich die Konzeption des Präventionsrechtes durch, die an die Spitze der Strategie der Verbrechensverhütung die individuelle Prävention stellte, nach der die Strafe nur durch die Eingliederung des Straftäters ins gesellschaftliche Leben legitimiert ist. H. Kaufmann gehörte dem Kreis der Befürworter dieser Konzeption an6. In keinem europäischen Land, schreibt Weigend, war jedoch die individuelle Prävention die einzig angewandte Strategie der Verbrechensverhütung7. Das bezieht sich besonders auf die Kriminalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Theorie der Vergeltungsstrafe in der Strafzumessung eine wesentliche Rolle spielte. Die sogenannten Vereinigungstheorien übten eine Doppelrolle aus; sie berücksichtigten in gewissem Maße die Präventivforderungen, andererseits dienten sie dem Schutz vor übermäßig harten Strafen. In Übereinstimmung damit nennt §46 Abs. 1 des (deutschen) StGB als Grundlage der Strafzumessung die Schuld des Täters; das Gericht soll jedoch auch den Einfluß der Strafe auf das zukünftige Leben des Täters in der Gesellschaft mit einbeziehen. Die individuelle Prävention dominiert jedoch in der Sphäre der Vollziehung der Freiheitsstrafe, obwohl bisher die Vorhaben betreffs der Sozialtherapieanstalten nicht realisiert wurden. Heute ist aber festzustellen, daß sich der Schwerpunkt in der Sphäre der Strafzumessung deutlich auf die Strategie der Generalprävention verlegt. Diese Tendenz ist mit Zweifeln an der Wirksamkeit der Individualprävention zu erklären, sowie der diesbezüglichen Resignation vieler Länder, wobei die skandinavischen Länder und die USA den

s Vgl. W.Hassemer: Strafziele im sozialwissenschaftlich orientierten Strafrecht, in: Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften? 1983, S.39ff, ferner W.Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, in: Hauptprobleme der Generalprävention, 1979, S. 34 ff. ''H.Kaufmann: Kriminologie III, Strafvollzug und Sozialtherapie, 1977, S. 88 ff, 201 ff. 7 Th. Weigand: „Neoklassizismus" - ein transatlantisches Mißverständnis, ZStW 94 (1982), S. 812-813.

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Anstoß gaben8, aber auch mit dem Einfluß der amerikanischen Soziologie und anderer Rechtswissenschaften verbunden. Nicht ohne Bedeutung scheint dabei auch die relative Leichtigkeit bei der wissenschaftlichen Verifikation der Effizienz der Individualprävention zu sein, insbesondere bei der Freiheitsstrafe, was von der Generalprävention (sowohl in ihrer negativen als auch der positiven Funktion) nicht gesagt werden kann'. Es ist kaum von Politikern zu erwarten, daß sie sich für die Resozialisierung von Straftätern einsetzen werden, wenn die Wissenschaft ihnen Argumente dafür liefert, daß die Resozialisierung eine sehr schwer lösbare Aufgabe ist, und gleichzeitig den Steuerzahler viel mehr Geld kostet als andere Formen der Verbrechensvorbeugung. Die Strategie der Generalprävention, besonders ihrer negativen Form, ruft jedoch bei vielen Kriminologen und Juristen heftigen Widerstand hervor, und zwar wegen der Möglichkeit einer Kollision mit dem Prinzip der Menschenwürde10 und auch der Unmöglichkeit der Uberprüfung ihrer Wirksamkeit. Der Glaube an ihre Wirksamkeit beruht auf Intuition, unterstützt von Erfahrungen aus der Sphäre der Beziehungen in der Familie und, in gewissem Maße, in der Schule, sowie der in ihrem Rahmen angewandten Maßnahmen der sozialen Kontrolle11. II. Die Strafpolitik in Polen zeigt jedoch ein anderes Bild als in der Bundesrepublik Deutschland. Schon in den dreißiger Jahren stützte sich die Strafpolitik auf die Strategie der individuellen Prävention. Das drückte auch das polnische StGB von 1932 aus, das unter anderem in der Strafzumessung der individuellen Prävention eine dominierende Rolle einräumte12, außerdem gegenüber Rückfalltätern, Berufstätern und Gewohnheitstätern besondere Maßnahmen, die nach der Verbüßung der Freiheitsstrafe angewandt wurden, einführte, ebenso wie die liberal abgefaßten Institutionen der Verurteilung auf Bewährung und der Freilassung auf Bewährung (die nach einer Verbüßung von 2A der Freiheitsstrafe möglich war). Es sah auch eine breite Spannweite der Strafrahmen

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I. Atilantilla: Neue Tendenzen der Kriminalpolitik in Skandinavien, ZStW 95 (1983), S. 739ff; A.Hirsch: Gegenwärtige Tendenzen in der Amerikanischen Strafzumessungslehre, ZStW 94 (1982), S. 1048 ff. ' Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 37. 10 Vgl. W.Naucke: Generalprävention und Grundrechte der Person, in: Hauptprobleme der Generalprävention (Anm. 5), S. 13 ff, vgl. weiter K. Lüdensen: Die generalpräventive Funktion des Deliktssystems, in: Hauptprobleme der Generalprävention, S. 54 ff. " Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 49 ff. 12 Näher K.Buchala: Direktiven der richterlichen Strafzumessung, 1961, S. 18 ff (Dyrektywy s^dowego wymiaru kary).

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mit niedrigen Mindeststrafandrohungen vor13. In der Praxis der Rechtsprechung allerdings spielte der Gedanke der Vergeltung weiterhin eine wesentliche Rolle, obwohl Verurteilungen zur Bewährung in ungefähr 50 % und Geldstrafen in ungefähr 20 % der ausgesprochenen Strafen angewandt wurden. Im Resultat waren ungefähr 30 % der verhängten Strafen unbedingte Freiheitsstrafen 14 . Dieses Bild der Kriminalpolitik änderte sich nach 1945. Zwar wurde das polnische Strafgesetzbuch von 1932 eigentlich bis zur Herausgabe des StGB von 1969 nicht novelliert15, es wurde jedoch durch viele Gesetze ergänzt, die Freiheitsstrafen für Wirtschaftsdelikte und Delikte auf politischer Basis sowie die Verschärfung der Verantwortlichkeit für Straftaten gegen das gesellschaftliche Eigentum vorsahen. Diese Gesetze drohten hohe, manchmal sehr hohe Strafen an, sie hoben die unteren Grenzen der Strafandrohung an oder schränkten die Möglichkeit der bedingten Strafaussetzung auf Bewährung ein. Im Jahre 1949 wurde in das System des Strafrechtes das Merkmal der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Tat eingeführt; die Gerichte wurden dazu verpflichtet, dieses bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Diese Änderungen bedeuteten in der Sphäre der Strafgesetzgebung in Wirklichkeit einen Umschwung zur Strategie der Generalprävention, die besonders im Bereich der mittelschweren und schweren Kriminalität (mit einigen kurzen Ausnahmen) bis in die Hälfte der sechziger Jahre dominierte. Ahnlich war auch die Praxis der Rechtsprechung, obwohl sie der Rolle der Individualprävention eine größere Bedeutung beimaß als es aus dem geltenden Recht eigentlich hervorging. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Zahl der Verurteilungen zur Bewährung berücksichtigt 16 . In der Mitte der sechziger Jahre erfolgte dann eine erneute Änderung der Kriminalpolitik. Gemäß dieser Änderung wurden für kleine Delikte Strafen ohne Freiheitsentzug empfohlen 17 , sowie verschärfte Verantwortlichkeit für schwere Delikte. Die Strategie der Kriminalitätsverhütung stützte sich bis zum Inkrafttreten des neuen polnischen StGB von 1969 sowohl auf die generelle wie die individuelle Prävention, jedoch mit dem Schwerpunkt auf letzterer. Der Anteil der bedingten Strafaussetzung zur Bewährung betrug etwa 55 % der verhängten Strafen18, was die tatsäch-

15

D. h. 1 Woche Arreststrafe und 6 Monate Gefängnisstrafe. B. Wröblewski / W. Swida: Die richterliche Strafzumessung, W i h o 1939, S. 107 ff (S^dziowski wymiar kary). 15 Mit Ausnahme der Institution der vorläufigen Entlassung und der Geldstrafe. " Im Jahre 1952 betrug die Zahl der bedingt Verurteilten 31,0 % , 1954: 46,0 % , 1956: 30,7%, 1958: 54,4%, 1960: 49,2%. 17 Wenn der Sachschaden nicht größer als 500 Zloty war. 18 Im Jahre 1962: 53,5%, 1965: 54,7%, 1968: 58,4%. 14

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lieh bedeutende Rolle der Individualprävention unterstreicht. Gleichzeitig stieg die Höhe der verhängten Freiheitsstrafen kontinuierlich an. Dieser Trend dauerte bis zum Anfang der siebziger Jahre. Er wurde durch die Neufassung des Strafgesetzbuches von 1969 gefördert. Zwar fiel die nominale Zahl der bedingten Strafaussetzungen zur Bewährung in den siebziger Jahren 15 (dem korrespondiert die Einführung einer neuen Bewährungsmaßnahme, der bedingten Einstellung des Verfahrens und einer neuen Strafe, der Freiheitsbegrenzung, sowie von breiteren Möglichkeiten der Verhängung von Geldstrafen), jedoch wurde in den siebziger Jahren die unbedingte Freiheitsentziehung nur noch bei 25-29 % aller Strafen ausgesprochen, das sind ca. 2 % weniger als in den sechziger Jahren20. Gleichzeitig wuchs die durchschnittliche Höhe der verhängten Freiheitsstrafen weiterhin (im Vergleich zu den sechziger Jahren um ca. 1 0 0 % ) . Uber die Effizienz dieser Kriminalpolitik läßt sich folgendes sagen: Die Gesamtzahl der festgestellten Delikte betrug im Jahre 1970:424217, 1975: 340423, 1980: 338000, 1984: 539000. Die Zahl der verurteilten erwachsenen Täter dagegen lag in den selben Jahren bei 166 049, 161286, 151958, 125132. Der Anteil der Vorbestraften betrug entsprechend 2 9 , 9 % , 3 4 , 8 % , 3 6 , 3 % und 3 9 , 7 % . Wesentliche Änderungen in der Strategie der Verbrechensvorbeugung fanden in den Jahren 1980-1982 statt. Sie zeigten sich in einer wesentlichen Erhöhung der bedingten Aussetzungen zur Bewährung21, einer geringeren Zahl von Geldstrafen, niedrigeren Geldstrafen sowie niedrigeren Freiheitsstrafen. Diese Liberalisierung bedeutete eine Verlegung des Schwerpunktes auf die Strategie der Individualprävention. Dieser Tendenz unterlagen jedoch nicht die Straftaten aus politischen Motiven, die mit verhältnismäßig hohen Untergrenzen bei der Strafandrohung verbunden waren. Eine Hemmung dieser Tendenz trat 1982 auf, und die schrittweise Umwendung folgte in den Jahren 1983 und 1984. Im Ergebnis gab es dann eine Äquivalenz beider Strategien in der Kriminalpolitik. Die Jahre 1980-1984 brachten auch wesentliche Änderungen im Bereich der Kriminalität. Insbesondere wuchs die Wirtschaftskriminalität, bei gleichzeitig geringfügiger Abnahme der Gewaltkriminalität. Der Indikator je 100 000 Einwohner betrug im Jahre 1983: 1058 (im Vergleich dazu 1979: 957). Insgesamt erhöhten sich in diesen Jahren die Zahl " Im Jahre 1973 betrug die Zahl der Verurteilten zur Bewährung 34,1 % , 1976: 32,6 % , 1979: 2 8 , 3 % . Die Zahl der eingestellten Strafverfahren betrug in entsprechenden Jahren 20,5%, 12,6%, 19,9%. 20 U n d zwar im Jahre 1 9 7 3 : 2 9 , 9 % , 1976: 2 5 , 8 % , 1979: 2 4 , 9 % . 21 Im Jahre 1981 betrug die Zahl der zur Bewährung ausgesetzten Strafen 6 3 , 8 % und 1983: 6 3 , 9 % (in bezug auf alle verhängten Strafen).

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der festgestellten Straftaten um etwa 38 % ; im Jahre 1984 um 60 % . Den höchsten Anstieg verzeichnen der Bereich der Spekulationsdelikte, bei Steuern, Zoll und Devisen und der des Einbruchsdiebstahls. Diese Änderungen kann man jedoch nicht mit der Schwächung der generalpräventiven Funktion der Straftaten in Verbindung bringen, denn vor allem änderten sich wesentlich die sozial-ökonomischen Bedingungen, was an der wirtschaftlichen und politischen Krise lag. III. Die erwähnte Äquivalenz der Strategie der Verbrechensverhütung in der Kriminalpolitik der Volksrepublik Polen hat ihre philosophische Grundlage und eine normative im geltenden polnischen StGB. Die philosophische ist mit dem Menschenbild des sich selbst frei steuernden Menschen verbunden. Die normative liegt in den Sanktionen und dem Maßnahmen-System, sowie manchen Institutionen und Regeln der Strafzumessung. Das geltende polnische StGB operiert in vielen Fällen mit verhältnismäßig hohen Sanktionsuntergrenzen, besonders bei fahrlässigen Straftaten, Verbrechen gegen das Eigentum sowie bei Gewaltdelikten. H o h e Strafen drohen auch für Straftaten bei mehrfachem Rückfall, was dem Prinzip der Generalprävention entspricht 22 . Gleichzeitig aber sind bei Rückfalltätern besondere Maßnahmen vorgesehen, wie Schutzaufsicht oder Unterbringung in einem „Zentrum für soziale Anpassung". Das polnische StGB sieht breite Möglichkeiten der bedingten Einstellung des Verfahrens sowie der bedingten Aussetzung zur Bewährung vor, sowie auch eine Strafe mit eindeutiger Resozialisierungstendenz, nämlich die Strafe der Freiheitsbegrenzung. Im Bereich der Strafzumessung sieht es vor, daß das Gericht bei der Einschätzung der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Tat die allgemeine und die individuelle Prävention berücksichtigen sollte, was ein großer Teil der Wissenschaft im Sinne der Vereinigungstheorie versteht, bei gleichzeitigem Gleichgewicht beider Formen der Prävention 23 . Der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Tat kommt in diesem Kontext die Funktion des Legitimierens und Limitierens der Strafbestimmung zu 24 . Nach dieser Meinung ist der Grad der gesellschaftlichen Gefährlichkeit nicht nur ein 22 Vgl. L. Gardocki: Gesetzliche Gestaltung der Kriminalpolitik, Iuridische Studien 1979, Bd. 7, S. 59 ff (Ksztaltowanie polityki karnej na drodze ustawowej, Studia Prawnicze t. 7, s. 59 i n.). 23 K. Buchala: Materielles Strafrecht, Lehrbuch, Warszawa 1980, S. 582 ff (Prawo k ä m e materialne, Warszawa 1980, s.582 i n.), T. Kaczmarek: Die richterliche Strafzumessung in der V R P , Wroclaw 1972, S. 25 ff (Sfdziowski wymaiar kary w P R L , Wroclaw 1972, s. 25 i n.), I.Anrejew: D a s polnische Strafrecht, Warszawa 1983, S. 285 ff (Polskie prawo käme, Warszawa 1985, s . 2 8 5 i n.). 24 K. Buchala: Materielles Strafrecht, S.583.

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wichtiges Indiz für die Strafzumessung, sondern er bildet auch eine obere Grenze, die die verhängten Strafen nicht überschreiten dürfen. Man muß hervorheben, daß sich in den Vorschriften, die die Voraussetzungen der bedingten Strafaussetzung zur Bewährung bestimmen, neben selbstverständlichen prognostischen Prämissen auch eine für diese Maßnahme fremde Voraussetzung befindet, die die Rolle der Strategie der positiven Generalprävention unterstreicht, nämlich, daß der Gesichtspunkt der Generalprävention nicht gegen die Aussetzung zur Bewährung sprechen darf (Art. 73 § 2 poln. S t G B ) . Eine ähnliche Voraussetzung, obwohl verdeckter, finden wir bei den Prämissen der bedingten Entlassung auf Bewährung, und zwar durch die Einführung der Forderung der Zielerreichung der Strafe, die Art. 50 poln. S t G B indirekt enthält und die auf die Strategien der individuellen und generellen Prävention verweist. Man kann darüber streiten, ob beide Strategien nach der Intention des Gesetzgebers und nach dem ausdrücklichen Wortlaut des poln. S t G B gleichwertig sind, oder ob einer von ihnen generell oder in einem bestimmten Bereich der Kriminalität eine dominierende Rolle zukommt. Auseinandersetzungen zu diesem Problem gibt es in der polnischen Literatur seit ungefähr 15 Jahren. Es wurden bereits alle möglichen Standpunkte zu diesem Problem vorgetragen 25 ; ähnlich sieht es in der Rechtsprechung des Obersten Gerichts zu diesen Diskussionen aus26. Man kann annehmen, daß der von Hassemer formulierte Vorwurf gegen die Strategie der Generalprävention, nämlich daß sie mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung nicht vereinbar sei, weil sie dem Richter Befugnisse in der Wahl der Strafziele und Maßnahmen zur Erringung der Ziele zuspreche und dem Richter erlaube, der einen oder anderen Strategie oder auch dem Prinzip der Vergeltung eine dominierende Rolle zukommen zu lassen27, auf dem Boden des polnischen Strafrechts nicht berechtigt wäre. Denn der Gesetzgeber übertrug dem Gericht seine Befugnisse, begrenzte sie aber nicht nur durch ein System der Sanktionen, sondern auch durch Institutionen und Grundsätze, die zum System der gerichtlichen Strafbestimmungen gehören. Diese Lösung enthält zwar die Gefahr der richterlichen Willkür, hebt jedoch die präventive Effizienz der Kriminalpolitik. Gegen Vorwürfe, die die Generalprävention, besonders in ihrer negativen Funktion, betreffen, ist sie aber nicht in ausreichendem Maß immun. 25 T. Kaczmarek: Die richterliche Strafzumessung, S. 31 ff, und ders.: Die allgemeinen Regeln der Strafzumessung in der Strafrechtslehre und Gerichtspraxis, Wroclaw 1980, S. 65 ff (Ogolneg dyrektywy wymiaru kary w teorii praktyce s^dowej, Wroclaw 1980, s. 65

in.). 26 27

T. Kaczmarek: W. Hassemer:

Die Allgemeinen Regeln, S. 99 ff. Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974, S.27ff.

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IV. Die Aussagen der polnischen Strafrechtswissenschaft zur Generalprävention sind, schon wegen der Aktualität dieses Themas für die Gerichtspraxis, zahlreich. Bevor das polnische StGB von 1969, das die Strategie der Generalprävention in die Kriminalpolitik und die gerichtliche Anwendung eindeutig einführte, in Kraft trat, unterschied die Wissenschaft drei Versionen der generalpräventiven Einwirkung der Strafen (Normen), und zwar: (1) erzieherische Einwirkung auf den Adressaten, was im allgemeinen der in der Wissenschaft der Bundesrepublik Deutschland bekannten Funktion der Stabilisierung der Normen entspricht, (2) Gestaltung eines zusätzlichen Motivelements in den Kategorien „Summe der aus der Straftat hervorgehenden Vorteile", was der in der Bundesrepublik Deutschland bekannten Theorie der „quasiökonomischen Kalkulation" entspricht, sowie (3) Abschreckung, die ursprüngliche Funktion der Generalprävention28. In der polnischen Wissenschaft hat die erste Funktion der Generalprävention die meisten Anhänger, die wenigstens die Funktion mit ökonomischer Schattierung. Diese Einstellung fand ihren Ausdruck auch in Art. 50 § 1 des polnischen StGB von 1969, in dem bewußt die Bezeichnung „gesellschaftliche Einwirkung der Strafe" für die Kennzeichnung der Strategie der Generalprävention angewandt wurde, um zu unterstreichen, daß es sich hier prinzipiell nicht um die Abschreckung künftiger Straftäter handelt, sondern um andere Mechanismen der Motivierung der Adressaten der generalpräventiven Strafe29, wie zum Beispiel: Warnung der Unschlüssigen, Festigen der gesetzmäßigen Haltung, Weckung von Gefühlen der Mißbilligung einer gegebenen Straftat, Stärkung des Gefühls der Sicherheit und des Vertrauens zum Rechtssystem und der es anwendenden Organe30. Die Kritiker der Abschreckungsfunktion heben in Polen, ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland, hervor, daß der Kreis der Adressaten einer Strafeinwirkung unbestimmt ist. Man weiß nichts über ihre Haltung und Persönlichkeit oder ihre Reaktion auf die Verhängung scharfer Strafen gegen andere Täter. Ferner ist zu beachten, daß das Problem, ob Informationen über generalpräventive Faktoren der ausgesprochenen Strafen an die eigentlichen Adressaten treffen, außerhalb des 28 L. Lerneil: Grundlagen der Lehre über Kriminalpolitik, Warszawa 1967, S. 431 ff (Podstawy nauki polityki kryminalnej, Warszawa 1967, s. 431 i n.), I.Andrejew: Soziale Einwirkung der Strafe, Iuridische Studien 1979, Bd. 8, S. 109 ff (Spoieczne oddzialnywanie kary, Studia Prawnicze 1979, t. 8, s. 109 i n.), K. Buchaia: Direktiven der richterlichen Strafzumessung, S. 24 ff, und auch ders.: Materielles Strafrecht, S. 477ff. " I.Andrejew: Soziale Einwirkung der Strafe, S. 112ff. 30 J.Bednarzak: Soziale Einwirkung der Strafe, Neue Justiz 1976, H . 4 , S. 567 (Spoieczne oddzialywanie kary, Nowe Prawo 1976, nr. 4, s.567).

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Einflusses des Gerichtes liegt31. Denn heute sind die Gerichtssäle leer und die Massenmedien können naturgemäß selektiv berichten, was wahrscheinlich den Eindruck hervorruft, daß ein außergewöhnliches Urteil publiziert wurde und „normale" Urteile andersartig sind32. Die präventive Einwirkung der Urteile kommt aber auf Grund vieler ähnlicher Strafverhängungen zustande, die eine ständige Tendenz der Strafpolitik kundtun, und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg. Es wird auch hervorgehoben, daß die Motivierung der Adressaten von ihrem gesellschaftlichen Milieu und der in ihm funktionierenden gesellschaftlichen N o r m abhängig ist. Man kann es so ausdrücken: J e negativer das Milieu die begangene Straftat einschätzt und seine Mißbilligung gegenüber dem Täter durch gesellschaftliche Sanktionen zum Ausdruck bringt, desto stärker ist die präventive Einwirkung des gegebenen Urteils, und umgekehrt. Im Zusammenhang damit muß hervorgehoben werden, daß in einer Situation, in der im gegebenen Milieu die gesellschaftlichen Normen eine große Motivierungskraft für den Täter haben, verschärfte Strafen nicht nötig sind33. Es ist zu unterstreichen, daß in einem solchen Milieu der Täter wenig Chancen hat, sich nach der Strafverbüßung in die Gesellschaft einzugliedern, was ihn natürlich stigmatisiert und die Ziele der speziellen Prävention durchkreuzt. Es wird auch argumentiert, daß die Kalkulation von Gewinn und Verlust, wenn sie überhaupt durchgeführt wird, sehr selten die einzelnen Kategorien der Straftaten, zum Beispiel Rauschgifthandel, betrifft. Aus dieser Kalkulation ist a priori ein breiter Kreis von Straftaten ausgeschlossen, wie zum Beispiel fahrlässige Taten oder solche aus emotionellen oder politischen Gründen. Im Zusammenhang mit der positiven Generalprävention werden unter anderem folgende Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit hervorgehoben: Die allgemeine Bedingung (die auch die negative Prävention betrifft) ist die einer hohen Wahrscheinlichkeit der Ermittlung und Bestrafung des Täters sowie die Schnelligkeit der Strafverhängung und -Vollziehung. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß häufige Amnestien, die kriminelle Straftaten einbeziehen, die Stabilisierungsfunktionen der N o r m beeinträchtigen. Bekannt ist die Tatsache, daß das Risiko einer 31 M.Szerer: Das Strafen und der Humanismus, Warszawa 1964, S. 146 ff (Karanie a humanizm, s. 162 i n.), K. Buchala: Materielles Strafrecht, S. 487 ff, A. Podgorecki: Rechtssoziologie, Warszawa 1962, S. 105 ff (Socjologia prawa, s. 105 i n.), L. Gardocki: Methoden der generalpräventiven Einwirkung des Strafrechts, Wissenschaftliche Hefte des Instituts für Gerichtsrechtsforschung, 1978, Bd. 8, S. 151 ff (Metody ogölnoprewencyjnego oddzialywania prawa karnego, Zeszyty Naukowe Instytutu Badnia Prawa S»dowego, 1978, nr.8, s. 151 i n.). 32 Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 44 ff. 33 L. Gardocki: Methoden, S. 153.

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Straftat vor besonderen politischen Ereignissen geringer war und daher eher eingegangen wurde, da früher bei solchen Anlässen Amnestien durchgeführt wurden; bekannt ist ferner die Atmosphäre der Erwartung einer Amnestie in den Strafanstalten. Es wird weiter hervorgehoben, daß die Institution der bedingten Einstellung des Verfahrens, besonders in den Händen des Staatsanwaltes, die Stabilisierungsfunktion der Normen ebenfalls einschränkt. Ähnlich ist es bei uneinheitlicher Anwendung, das heißt bei Verletzung des Prinzips der Rechtsgleichheit. Vorwürfe macht man auch der Praxis einer breiten Anwendung der bedingten Aussetzung zur Bewährung, besonders ohne Aufsicht eines Vormundes und ohne Maßnahmen, die eine engere Kontrolle des Verhaltens des Täters ermöglichen34. Abgesehen von Kollisionen, die auf dieser Grundlage zur speziellen Prävention entstehen, wird allgemein angenommen, daß die Bedingung für die Stabilisierungsfunktion der Strafen ihre gesellschaftliche Akzeptanz ist, ihr Ubereinstimmen mit den gesellschaftlichen Empfindungen. Natürlich beobachtet man dabei gewisse Unterschiede bei der Bewertung der als gerecht ausgesprochenen Strafen in Abhängigkeit von Kultur, Alter, Beruf, Bildung, Herkunft, sowie der wirtschaftlichen und politischen Stabilität usw. Die dadurch bestimmten Toleranzgrenzen darf die verhängte Strafe jedoch nicht überschreiten, denn sie verliert ihren Stabilisationswert sowohl dann, wenn sie als zu scharf, aber auch, wenn sie als zu mild bewertet wird. Es ist selbstverständlich, daß das Gericht nicht imstande ist zu erkennen, inwieweit die Strafe, die es verhängen will, akzeptiert werden wird. Das gleiche gilt für die Grenzen der Toleranz bezüglich einer Abweichung vom Ideal der Stabilisationsstrafe. In diesem Zusammenhang führen einige Autoren eine zusätzliche Bedingung ein: Informationen sollten nicht nur über die verhängten Strafen, sondern auch über begangene Straftaten gegeben werden, denn die verhängten Strafen können ohne Kenntnis von der begangenen Straftat und von den Tatumständen nicht verstanden und akzeptiert werden. Das kompliziert natürlich die Übertragung der Informationen an die Adressaten, die motiviert werden sollen35. Schon die Tatsache, daß die Wissenschaft so viele Wirksamkeitsbedingungen für die Generalprävention aufstellt, zeugt von ihrer Distanz zu dieser Strategie der Verbrechensvorbeugung sowie einer weitgehenden Vorsicht bei ihrer Anwendung. Diese Distanz und das Humanismusprinzip des polnischen Rechts bewirken, daß in der Wissenschaft der individuellen Prävention die dominierende Rolle im Bereich der Strafzumessung zugeschrieben wird.

34 35

K. Buchala: K. Buchala:

Materielles Strafrecht, S. 492 ff. Direktiven, S. 79 ff.

Kriminalitätsbekämpfung in Polen

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V. Der Anstieg der Kriminalität in den Jahren 1981-1984 rief in der Gesellschaft Beunruhigung und Verringerung des Sicherheitsgefühls hervor, besonders im Bereich der Spekulation und bei Diebstahl privaten Eigentums. In diesem Zusammenhang mehren sich auch kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung. Man wirft ihr Verhängung von zu milden Strafen, zu breite Anwendung der Aussetzung zur Bewährung und Langwierigkeit des Verfahrens vor und fordert, besonders im Arbeitermilieu, Verschärfung der Kriminalpolitik und eine wirksamere Abschreckung von der Begehung von Straftaten. Die Regierung berücksichtigte diese Forderungen und legte dem polnischen Parlament, dem Sejm, zwei Gesetzesentwürfe vor, die am 10. Mai verabschiedet wurden. Das erste Gesetz ändert einige Vorschriften des geltenden polnischen StGB, wie die Erhöhung der Geldstrafe, was mit der Senkung des Geldwertes verbunden ist, die Verschärfung zusätzlicher Strafen, die Möglichkeit der Verurteilung zu Schadensersatz, sowie die Verschärfung der Verantwortlichkeit für Übertretungen und die Einführung neuer Tatbestände in das Gesetzbuch für Übertretungen. Das zweite trägt den Charakter eines zeitlich begrenzten Gesetzes, das vom 1. Juli 1985 bis 1. Juli 1988 gelten soll und einen eindeutig generalpräventiven Charakter hat. Dieses Gesetz führt neue Tatbestände für Diebstahl im Transport ein und verschärft die Freiheitsstrafe in der unteren und der oberen Grenze in bezug auf die bisher drohenden Strafen. Das Gesetz verbietet die Anwendung der bedingten Aussetzung zur Bewährung bei schweren Delikten gegen Volkseigentum, Gesundheit, bei Vergewaltigung, Bestechung, bei Verkehrsunfällen mit Todesfolge und bei im Alkoholrausch begangenen Taten. Ausnahmen gelten in bezug auf minderjährige Täter oder Täter, denen die Fürsorge für Kranke und Minderjährige obliegt, unter der Bedingung der Wiedergutmachung. Dieses Gesetz verbietet auch die Anwendung der außergewöhnlichen Strafmilderung bei den genannten Delikten. Weiterhin führt es die Vorschrift zur Verhängung von Geldstrafen in bestimmter Höhe ein, d. h. des Wertes des gestohlenen Gutes oder vernichteten Eigentums, bei Spekulation des zweifachen Wertes des Spekulationsgutes usw. Es erweitert auch den Bereich der Beschlagnahme des Eigentums. Die generalpräventive Wirkung soll diesem Gesetz nach auch durch ein beschleunigtes Verfahren gegenüber dem „auf frischer Tat" ertappten Täter erreicht werden, wobei zum Beispiel auf Anklage verzichtet wird und gegenüber Tätern schwerer Verbrechen obligatorisch Arrest ausgesprochen wird. Es wird auch eine Vereinfachung des Verfahrens für kleinere Delikte vorgeschlagen. Alle diese Änderungen entsprechen der Strategie der negativen Generalprävention. O b sie erfolgreich sein werden, läßt sich noch nicht abschätzen.

Rechtsphilosophie und Menschenrechte JUAN CARLOS GARDELLA

I. Die Gerechtigkeit als rechtsphilosophisches Thema Fragenkomplexe 1. Drei rechtsphilosophische Die historisch gegebenen Forschungslinien, die außerhalb der positivrechtlichen Erkenntnis - der Rechtswissenschaft im strengen Sinne des Wortes - liegen und unter der Bezeichnung „Rechtsphilosophie" 1 zusammengefaßt werden, lassen sich grundsätzlich auf drei große Fragenkomplexe zurückführen. Einmal handelt es sich um die Struktur der genannten positiv-rechtlichen Erkenntnis (mit Regelbeispielen: Rechtsdogmatik, -Soziologie, -politik) im Rahmen der Erkenntnis schlechthin. Es geht dabei um grundlegende, an diese spezifische Art der Erkenntnis gerichtete Fragen logischer und methodologischer Natur. Zum zweiten enthält die Rechtsphilosophie auch eine Behandlung des Fragenkomplexes nach dem Gegenstand dieser positiv-rechtlichen Erkenntnis - d. h. dem positiven Recht im allgemeinen - anhand einer Analyse unterschiedlicher Klassen von Gegenständen. Es handelt sich dabei um den Versuch, den „Begriff des Rechts" zu definieren, ihn wenigstens zu charakterisieren; zugleich auch um die Frage, ob und inwieweit sich das positive Recht als Gegenstand der einen oder der anderen Klasse von Gegenständen (empirischen, formalen usw.) verstehen läßt. Zum dritten befassen sich die rechtsphilosophischen Untersuchungen schließlich mit der Gerechtigkeit anhand einer Frage, die aus der Analyse der Rechtswissenschaft, des politischen und des alltäglichen Lebens selbst, entstanden ist: der grundsätzlichen Frage, ob das, was in der Tat für gerecht oder ungerecht gehalten wird, „eigentlich" gerecht oder ungerecht ist. Diese so umfas-

' Der Vollständigkeit halber sei hierbei ausdrücklich auf die Trennung zwischen rechtsphilosophischen Forschungslinien und jedem theologischen Wissen hingewiesen. Argumentationen theologischer Art bei der naturrechtlichen Diskussion und der Philosophie überhaupt wurden schon im Mittelalter manchmal für fehl am Platz gehalten. Die christliche Offenbarung bedeute eine Unterstützung der „ratio", aber keinen Ersatz für sie. Immer eindeutiger wurde diese Idee in der Neuzeit; sie spiegelte sich etwa in einer wohl bekannten Erkläning von Hugo Grotius (De iure belli ac pacis, 1625, Proleg. § 11) wider und wurde Gemeingut der Aufklärung.

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Juan Carlos Gardella

sende Frage nimmt in der historisch gegebenen Forschung der Rechtsphilosophie die konkretere Form einer polemischen Gerechtigkeitsproblematik an. 2. Die rechtsphilosophische Diskussion über die Gerechtigkeit Wenn die Rechtsphilosophie das Thema der Gerechtigkeit behandelt, stellt sie drei grundlegende Fragen: a) Die Frage nach der richtigen Art und Weise, wie man zu Leitsätzen kommt, welche sagen, daß eine Handlung gerecht bzw. ungerecht ist. Dabei handelt es sich um eine Frage methodischer Art, deren Beantwortung an sich über den Inhalt der Gerechtigkeitsleitsätze nichts vorwegnimmt. Wir wollen diesen Aspekt des Themas der Gerechtigkeit als Fragenkomplex nach den Gerechtigkeitskriterien bezeichnen, wobei es sich eigentlich um zweierlei handelt: einmal um die Kriterien für die Gewinnung von gerechten Inhalten und zum zweiten um Kriterien für die Art und Weise, wie man diese gerechten Inhalte durch Interpretation, Rechtsfortbildung usw. entwickelt. Das Problem der Kriterien der Gerechtigkeit hat man auf zweierlei Weise beantwortet, und zwar im Sinne des Objektivismus und des Subjektivismus. b) Die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der Gerechtigkeitsleitsätze, d.h. nach ihrer Geltung, wobei die Polemik zwischen Absolutismus und Relativismus geführt wird. c) Bis auf diejenigen, bei denen der Subjektivismus und der Relativismus auf einen totalen Skeptizismus hinauslaufen, versuchen die rechtsphilosophischen Richtungen bei der Behandlung des Themas der Gerechtigkeit auch eine Reihe von Leitsätzen aufzustellen, die bestimmten Handlungen die Wertprädikate „gerecht" oder „ungerecht" zumessen. Dabei handelt es sich nicht mehr um die methodische Frage nach den Gerechtigkeitskriterien oder - gewissermaßen erkenntnistheoretisch - nach der Geltung von Gerechtigkeitsleitsätzen, sondern um eine inhaltliche Frage, d. h. um das Ergebnis der Anwendung des einen oder des anderen Kriteriums. Diese Gerechtigkeitsleitsätze wollen wir im folgenden der terminologischen Klarheit halber in zwei Klassen einteilen: einmal in die Gerechtigkeitsprinzipien und zum anderen in die Gerechtigkeitsgrundsätze; diese materieller und jene formaler Art. II. Die Gerechtigkeitskriterien Das Problem der Kriterien der Gerechtigkeit hat man auf zweifache Weise zu lösen versucht, und zwar im Sinne des Objektivismus und des Subjektivismus. Zweifellos handelt es sich in beiden Fällen um Thesen methodologischer und gewissermaßen auch erkenntnistheoretischer Art,

Rechtsphilosophie und Menschenrechte

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denn sie beantworten die Frage, wie man zu Leitsätzen mit Wertprädikaten kommt, also Leitsätze, welche besagen, daß eine Handlung gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht, billig oder unbillig usw. ist. Beide Thesen sind jedoch auch ontologischer Art, denn sie sagen etwas über die Handlungen aus, d.h. sie behaupten bzw. verneinen, daß eine Handlung als solche - unabhängig von der Erkenntnis und dem Willen gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht usw. ist. Wenden wir uns im folgenden dem Kern beider Thesen zu2: 1. Die Position des Objektivismus Sie wurde von weiten Teilen der Naturrechtslehre vertreten. Ein Beispiel dafür ist die Definition des Naturrechts von H. Grotius in der Neuzeit als „Vorschrift der rechten Vernunft, die einer jeglichen Handlung anzeigt, daß ihr aus der Ubereinstimmung oder dem Widerspruch mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Schlechtigkeit oder moralische Notwendigkeit innewohne, und daß solche Handlung darum vom Gott als dem Urheber der Natur verboten bzw. geboten ist"3. Eigentlich ist diese Definition Gemeingut zahlreicher Richtungen des Naturrechts vor Grotius. Er hat sie bloß zusammengefaßt und die objektivistische These etwas gemäßigter formuliert. Innerhalb des Naturrechts ist diese These sowohl ontologisch als auch epistemologisch zu verstehen: a) Im ontologischen Sinne besagt der Objektivismus, daß - erstens - die Handlungen als solche gewisse Eigenschaften aufzeigen, daß - zweitens - auch die Menschennatur selbst bestimmte Charakteristika besitzt und daß - drittens - auch der Widerspruch oder die Ubereinstimmung jener Eigenschaften mit diesen Charakteristika eine Relation an sich darstellt, unabhängig von der Erkenntnis oder dem Willen. 1 Obwohl rechtsphilosophische Diskussionen eigenständige Problematiken darstellen, muß man einige Begriffe, die bei ihrer Behandlung benutzt werden, auf die allgemeinphilosophische Bedeutung zurückführen. Das ist angebracht gerade im Fall der Diskussion zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Es ist deshalb daran zu erinnern, daß die Erkenntnistheorie die Erkenntnis im allgemeinen als eine so gestaltete Relation zwischen Subjekt und Gegenstand versteht, daß das Subjekt die Beschaffenheiten des Gegenstandes mit den Wahrnehmungen und Begriffen erfassen kann. So verstanden eröffnen sich bei der philosophischen Interpretation des Erkenntnisphänomens zwei Alternativen. Entweder ist die Erkenntnis ein Nachbilden des Gegenstandes, oder sie stellt ein Erzeugen von ihm dar. Die erstgenannte Möglichkeit nennt man Objektivismus oder auch Realismus, die zweite Subjektivismus und auch Idealismus. Die objektivistische These und „e contrario" auch die des Subjektivismus wurde einmal von Nicolai Hartmann mit den folgenden Worten charakterisiert: Die Erkenntnis ist „nicht ein Erschaffen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist". (Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 1949 S. 1). 3

De iure belli ac pacis I, cap I 10.

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Juan Carlos Gardella

Epistemologisch besagt die objektivistische These, daß die drei genannten Elemente - Handlungen, Menschennatur und Relation zwischen ihnen - objektiv feststellbar sind in dem Sinne, daß eine solche Feststellung unabhängig von willkürlichen Neigungen und Abneigungen des erkennenden oder befehlenden Subjekts stattfinden kann. b) Eine sowohl ontologisch als auch epistemologisch extrem objektivistische These innerhalb des Naturrechts der Neuzeit - gewisse Richtungen des Spätmittelalters fortsetzend - entwickelte sich bei mehreren Autoren der spanischen Spätscholastik des 16. und 17. Jahrhunderts, wie etwa Francisco de Vitoria und Luis Molina, und noch radikaler bei Gabriel Väsquez\ Das Gerechte oder Ungerechte sei nicht im Willen oder der Vernunft Gottes - geschweige denn des Menschen - primär verankert, sondern in der Natur der Dinge selbst. Zwar bezieht sich diese Formel auf die „vernünftige Natur selbst"; diese enthält jedoch kein subjektives Moment in dem Sinne, in dem man es gerade in der Neuzeit zu verstehen beginnt. Mit dem Begriff der „vernünftigen Natur selbst" zielt man eigentlich auf eine sozusagen „objektivierte Subjektivität". 2. Folgen der objektivistischen

Position

Die objektivistische These führt zu gewissen Folgen auf konkreten Gebieten der Rechts- und Staatstheorie. Unter den wichtigsten seien hier die drei folgenden kurz analysiert, welche zu Ergebnissen führen, die mit dem heutigen Menschenrechtsverständnis unvereinbar sind: a) Kriterien, die für objektiv gehalten werden, führen zu als allgemeingültig und unwandelbar definierten Gerechtigkeitsleitsätzen und zu Systemen von ihnen, die eine große Erstarrung aufweisen. Wenn nämlich bei der Bestimmung von der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit einer Handlung und von den Eigenschaften der Menschennatur die Erkenntnis und der Wille keine wesentliche Rolle konstruktiver Art spielen - denn diese Bestimmungen sind nach der objektivistischen Interpretation ja schon unabhängig von Erkenntnis und Willen grundsätzlich vorhanden - kommt man naturgemäß zu Gerechtigkeitsleitsätzen, welche die gerechten und ungerechten Handlungen ein für allemal feststellen wollen. Dieser Gefahr waren sich schon die erwähnten Spätscholastiker der spanischen Schule bewußt. Denn - wie Welzel bemerkt - der Objektivismus führte dazu, daß „auch die entfernteren Konklusio4 S. H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1960, S. 95 ff über Francisco de Vitoria, Luis Molina, Gabriel Väsquez und die gesamte spanische Spätscholastik. Die Theorie von Francisco Suarez - selbst wenn vielleicht gegen seine Absichten - ist m. E. grundsätzlich nicht anders als Objektivismus zu deuten.

Rechtsphilosophie und Menschenrechte

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nen in das eigentliche Naturrecht einbezogen wurden"5. Im Unterschied zu früheren Naturrechtlern (unter ihnen auch Thomas von Aquin), die nur die höchsten Grundsätze, nicht aber die daraus gezogenen Konklusionen als allgemein gültig und unwandelbar ansahen, lehrten die Autoren dieser Schule, daß das Naturrecht „auch in seinen entfernteren Konklusionen überall dasselbe sein" müßte6. b) Kriterien, die man für objektiv hält, führen zu einer Ausweitung der Erkennbarkeit der Leitsätze, die „allen" sagen, wann eine Handlung gerecht oder ungerecht ist. Damit erschweren sie die Anerkennung der Rolle, welche die Gewissensautonomie bei der Bestimmung der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Handlungen spielt. Je objektiver diese Bestimmung verstanden wird, desto weniger entschuldigt deren Unkenntnis. Damit hängen auch die „Argumentationen" zusammen, die sich gegen die Anerkennung eines der wichtigsten Grundsätze des Strafrechts richten, nämlich des Grundsatzes „nulla poena sine culpa". c) Der Objektivismus erschwert auch das Verständnis des wichtigsten Axioms des modernen liberalen Strafrechts, nämlich des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege". Denn im Sinne des Objektivismus ist die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit einer Handlung schon vorhanden, bevor die entsprechende Bestimmung erlassen wurde und unabhängig von ihr, so daß man dazu neigt, dem Strafgesetz eine erfassende und nicht eine erzeugende Funktion zuzuschreiben. 3. Die Position des

Subjektivismus

Die subjektivistische These glaubt auch an Kriterien der Gerechtigkeit, aber sie behauptet, daß solche Kriterien gerade in Neigungen und Abneigungen jedes bewertenden Subjekts verankert sind, welche keine objektive Gültigkeit der Werturteile begründen können. a) Neben dem Objektivismus war auch der Subjektivismus in der Naturrechtslehre stark vertreten. Mehrere Richtungen verfochten die folgende Ansicht: Die Handlungen sind nicht deshalb von Gott als gerecht oder ungerecht angezeigt und befohlen, weil sie an sich gerecht oder ungerecht sind, sondern sie sind im Gegenteil deshalb gerecht oder ungerecht, weil Gott sie als solche angezeigt und diese von ihm verboten und jene geboten sind. In dieser sozusagen „theologischen" Etappe des Naturrechts wird die Rolle des erkennenden und befehlenden Subjekts Gott übertragen. Als der Säkularisierungsprozeß in der Neuzeit begann, verlagerte man die Rolle des Subjekts von Gott auf den Menschen. Mit der Theorie Th. Hobbes wurde diese Funktion spezifischer auf den Staat 5 6

H.Welzel, a.a.O. S.98. Ibidem, S. 98-99.

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übertragen. Nach Hobbes ist eine Handlung als solche, d. h. ihrer Natur nach, „indifferent, ein Adiapheron; ihren Wertcharakter erhält sie allein durch den Befehl (mandatum) eines Ubergeordneten"7. Gerecht oder ungerecht ist nur das, was als solches vom Staat bestimmt wird, denn so steht es in Hobbes Leviathan8 - „auctoritas, non veritas facit legem". b) Epistemologisch drückt sich der Subjektivismus in einer weit verbreiteten Auffassung der Werturteile aus: Da ihnen kein Wahrheitswert zukomme, seien sie keine echten Urteile, sondern nur ein maskierter Ausdruck der entsprechenden Bewertungen volitiv-gefühlsmäßiger und nicht kognitiver Art. Mit anderen Worten: Ausdrücke, die auf den ersten Blick Werturteile zu sein scheinen, bildeten eigentlich nur die Rationalisierung von Willen und Gefühl eines bewertenden Subjekts und somit letzten Endes der Interessen, die dahinter stehen und sich auf diese Art gegen andere Interessen zu behaupten versuchen. Dies führt zu einer Konzeption des Werturteils als Stellungnahme von bestimmten Subjekten, eine Stellungnahme übrigens, die als solche eine Tatsache ist und keinen Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Im Zusammenhang mit dieser Theorie, die das „sogenannte" Werturteil auf existierende Bewertungen reduziert, wird selbstverständlich die Möglichkeit eines Wirklichkeitsurteiles nicht ausgeschlossen, „mit dem die Beziehung eines Objektes zu dem darauf gerichteten Wunsch oder Willen eines oder auch vieler Menschen festgestellt wird"9. 4. Folgen der subjektivistischen Position Es ist nicht schwer, eine Kritik an der subjektivistischen These zu entwickeln, indem bestimmte Folgen aufgezeigt werden, die sich aus ihr für Problematiken der Theorie des Rechts und des Staates ergeben, wenn man diese These auf die in II. 3 a) und b) genannten Theorien beschränkt. Daß die Lehre Hobbes, soweit sie eine Begründung des politischen Absolutismus bedeutet, nach dem heutigen Verständnis der Menschenrechte negative Folgen hat, und daß sie zu ihm im Widerspruch steht, ist unbestreitbar. Ob die in II. 3 b) angesprochene Theorie des extremen Neupositivismus über das Werturteil im Einklang mit diesem Menschenrechtsverständnis steht oder nicht - darüber läßt sich streiten. Es kommt darauf an, ob den Werturteilen ein Anspruch auf Wahrheit oder Falschheit überhaupt abgesprochen oder auf irgendeine Weise zugeschrieben wird. Wie dem auch sei: man sollte nicht außer 7

H.Welzel, a . a . O . S. 117. Th. Hobbes, Leviathan, 26. Kapitel. ' S. H.Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1960, S.20. Kelsen erklärt, daß ein solches Urteil „nur die Beziehung zwischen zwei Seins-Tatsachen" feststellt, so daß es „nur ein besonderes Wirklichkeitsurteil" ist. 8

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acht lassen, daß der Subjektivismus sich nicht auf diese oder andere Versionen beschränkt, und ebensowenig vergessen, daß die grundsätzliche Anerkennung von „allen und jedem" in der heutigen Menschenrechtskonzeption mehr der subjektivistischen als der objektivistischen These entspricht. Außerdem sollte man nicht aus den Augen verlieren, daß sogar in der Theorie Hobbes ein wichtiger Grundsatz der heutigen Menschenrechtskonzeption - das Ausschließen rückwirkender Gesetze - gerade in der subjektivistischen These eine Begründung fand. objektivistischen 5. Kritische Würdigung der und der subjektivistischen These Versucht man zu erklären, wie die Menschheit zu den heute anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätzen gekommen ist, d.h. zu den Menschenrechtsmaßstäben, dann ist folgendes festzustellen: Eigentlich spielen sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus eine unentbehrliche Rolle bei der Interpretation der Gerechtigkeitskriterien in dem Sinne, daß sie sich insofern gegenseitig korrigieren und ergänzen, als beide Positionen das empiristische Postulat und seine Forderung „zurück zur Erfahrung" beinhalten. Diese Konvergenz sei hier anhand einer kurzen Analyse der Folgen aufgezeigt, welche beide Positionen bei einer Kritik der moralischen und rechtlichen Werturteile haben: a) Eine der Voraussetzungen für die Möglichkeit solcher Kritik bildet die objektivistische Auffassung der Werturteile als Feststellungen, von denen es sinnvoll ist zu sagen, daß sie entweder wahr oder falsch sein können. In zwei Punkten ist diese These allerdings einzuschränken: Einmal muß man sich darüber im klaren sein, daß hier nur eine prinzipielle Möglichkeit gemeint ist, was selbstverständlich keine hinreichende Bedingung der Objektivität von konkreten Werturteilen bedeuten kann. Mit anderen Worten: Es besteht immer die Möglichkeit, daß sich konkrete Werturteile, die nur Ausdruck willkürlicher Neigungen und Abneigungen des bewertenden Subjekts sind, mit dem guten Ruf der Objektivität zu „verkleiden" versuchen. Zum zweiten sollte man nicht übersehen, daß die Möglichkeit von Urteilen, welche die Übereinstimmung einer Handlung mit den Menschenbedürfnissen oder ihren Widerspruch dazu objektiv aussprechen, nicht ausreicht, um sie als Werturteile im eigentlichen Sinne dieses Wortes zu bestimmen. Hierbei ist der oben in II. 3 b) angesprochenen Theorie bis zu einem bestimmten Punkt recht zu geben: Werturteile drücken notwendigerweise eine Stellungnahme eines oder mehrerer Subjekte gegenüber den Inhalten aus. Mit anderen Worten: ihnen können Wirklichkeitsurteile vorangehen; sie werden aber erst dann zu Werturteilen, wenn sie von einem Subjekt als eigenes Motiv, d.h.

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volitiv-gefühlsmäßig angenommen werden, oder anders gesagt: wenn sie sich internalisieren10. b) Dabei handelt es sich zusammenfassend um zwei Hindernisse für die Entwicklung einer rationalen Kritik der moralischen und rechtlichen Werturteile: einerseits um die Gefahr einer „misplaced concreteness", vor der in einem anderen Zusammenhang A.N. Whitehead gewarnt hat11, andererseits um die eines Internalisierungsprozesses, der seinen empirischen Ausgangspunkt vergißt und den Werturteilen einen „a priori"-Status zuschreibt. In dieser doppelten Hinsicht spielt die subjektivistische Auffassung eine wesentliche Rolle für die Entfaltung einer Kritik der Bewertungen insofern, als sie den willkürlichen Charakter existierender Bewertungen aufdeckt, vor einem naiven Ernstnehmen der entsprechenden Rationalisierungen warnt und damit den Versuch ablehnt, diese Bewertungen einfach durch die begleitende Argumentation zu begründen. Indem er aber allen Werturteilen die Objektivität überhaupt abspricht, d.h. indem der Subjektivismus „extrem" wird, blockiert er gleichzeitig den Weg zu einer sinnvollen Kritik. Denn: Welchen Sinn könnte eine Kritik der existierenden Bewertungen haben, wenn man nicht zugleich alternative Urteile aufstellen kann, die irgendeinen objektiven Wert aufzeigen können? Deswegen, vor allem aber, weil sich die Feststellung der Menschenbedürfnisse und der Ubereinstimmung einer Handlung mit ihnen prinzipiell nicht ausschließen läßt, dauert der Kern der objektivistischen Position in der rechtsphilosophischen Entwicklung in gewisser Weise fort. Objektivistische und subjektivistische Auffassungen beziehen sich im Grunde auf zwei unentbehrliche Aspekte der Werturteile und können sich gegenseitig nicht ausschließen. 6. Grundgedanken zu einer empiristischen Auffassung der Gerechtigkeitskriterien Eine Analyse der Erfahrung ermöglicht den Anspruch auf Wahrheitswert der Werturteile. Sie erlaubt es zugleich, die Rolle der Subjektivität zu verstehen und so das empiristische Postulat zu begründen. Damit läßt 10 Über die Bedeutsamkeit des „Internalisierungsprozesses" für das Verständnis mehrerer Probleme der Normen und Werturteile s. J.C. Gardella, Interioridad de la moral y exterioridad del derecho, en Enciclopedia Iuridica Omeba, Buenos Aires 1963, B d . X V I S. 449—462, und ders.: La responsabilidad por la violación de los derechos humanos y la problemática de la culpabilidad penal, en: R. Bergaiii y ]. Bustos (directores y compiladores), El poder penal del estado-Homenaje a Hilde Kaufmann, Buenos Aires 1985, pp. 347-364, II. 11 A.N. Whitehead, bezieht sich auf die „fallacy of misplaced concretness", d.h. die fälschliche Zuschreibung konkreter Realität" (s. E. Buhser, in: Josef Speck, Hrsg., Grundprobleme der großen Philosophen, Philosophie der Gegenwart I, 1972, S. 274.

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sich auch der Weg zu einer Überwindung von Objektivismus und Subjektivismus zeigen, wofür drei umformulierte Definitionen vorgeschlagen werden sollen: a) Definition des Werturteils Ein Werturteil ist nicht nur eine Stellungnahme eines Subjektes oder mehrerer Subjekte, d. h. ein Phänomen volitiv-gefühlsmäßiger Art, das mehr oder weniger im Bewußtsein internalisiert wurde, sondern auch vor dem Internalisierungsprozeß - ein kognitives Phänomen, von dem es sinnvoll ist auszusagen, daß es Anspruch auf Wahrheitswert hat. b) Definition der Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit läßt sich durch den Begriff „Bedürfnisse" relativ präzise definieren. Es handelt sich um die „menschlichen Grundbedürfnisse", so, wie sie in den heutigen empirischen Humanwissenschaften verstanden werden12. Dies bezieht sich sowohl auf die bekannten biopsychischen Bedürfnisse (Essen, Schlaf, Sicherheit, positiv-affektive Antwort der Mitmenschen usw.) als auch auf diejenigen, die einige Psychologen als dem Menschen eigene Bedürfnisse bezeichnen, etwa die interpersonelle Relation, die Kreativität, die Identität des Einzelnen, die Tendenz zur Objektivität usw. Nach dem heutigen Stand der Humanwissenschaften lassen sich solche Bedürfnisse empirisch analysieren. Sie geben damit eine Basis, um die konkreten Verhaltensformen oder Handlungen als wertvoll oder wertlos bezeichnen zu können. Es genügt hierbei, darauf hinzuweisen, daß diese Bedürfnisse in der Praxis der Forschung der Humanwissenschaften unter der Form von „Paarbegriffen" erscheinen. Nennt man die Sammlung der menschlichen Grundbedürfnisse „Menschennatur", dann kann man der alten Naturrechtstheorie bis zu einem gewissen Punkt recht geben. c) Definition der Wahrheit Indem sie den Begriff der „Grundbedürfnisse" benutzt, setzt eine kritische Gerechtigkeitstheorie selbstverständlich auf irgendeine Weise einen empirisch feststellbaren Unterschied von „wahren" und „falschen" Bedürfnissen voraus. Dabei darf sie den „objektiven" Begriff der Wahrheit nicht benutzen, denn sonst taucht immer wieder die Frage auf, wer bestimmt, was ein „objektiv wahres" Bedürfnis ist. Nur der „intersubjektive" Begriff der Wahrheit und die damit zusammenhängende Argumentations- und Diskussionstheorie kann hier weiterhelfen. „Wahre" oder „falsche" Bedürfnisse sind demzufolge diejenigen, welche intersubjektiv durch den Prozeß einer rationalen Diskussion als solche bezeichnet werden. Das bedeutet keinen Verzicht auf den Begriff der „objekti12

S. E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, 1978, Zweites Kapitel.

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ven Wahrheit", denn dieser bleibt als Diskussions- und Argumentationsziel. Allerdings bedeutet es, daß man nur durch die Intersubjektivität - d. h. durch Diskussion und Argumentation - zu objektiven Kenntnissen kommen kann, d. h. zu Kenntnissen, die man für „objektiv" hält, deren Objektivität jedoch immer bestreitbar bleibt. Dies führt zu einer Position, die zwischen Objektivismus und Subjektivismus ihren Platz findet. III. Die Geltung der Gerechtigkeitsleitsätze Relativismus und Absolutismus Die obigen Bemerkungen zum Problem der Gerechtigkeitskriterien ermöglichen auch, die zutiefst widersprüchliche Art und Weise zu verstehen, wie sich die rechtsphilosophische Forschung entwickelt, wenn sie sich mit den Gerechtigkeitsleitsätzen befaßt, d.h. mit den Ergebnissen der Anwendung jener Kriterien. Zwar läßt sich auf diesem Gebiet ein gemeinsamer Nenner aller Denkrichtungen der Rechtsphilosophie feststellen, nämlich die Tatsache, daß sie im Verlauf ihrer Entwicklung früher oder später, ausdrücklich oder stillschweigend Stellung zu bestimmten Gerechtigkeitsleitsätzen nehmen. Jedoch bildet dies alles selbstverständlich nur einen formalen gemeinsamen Nenner. Inhaltlich ist nämlich das gesamte Gebiet von tiefen Gegensätzen geprägt, von denen der Gegensatz zwischen der absolutistischen und der relativistischen Betrachtungsweise dieser Stellungnahme zu den Gerechtigkeitsleitsätzen der relevanteste zu sein scheint. 1. Wenige Fachausdrücke der Rechtsphilosophie haben eine so heftige und bereichernde Polemik erfahren wie die beiden Termini des Gegensatzpaares „Relativismus-Absolutismus" 13 . Der Vereinfachung halber 13 Praktisch in allen Disziplinen entfaltete sich diese Polemik, aber vor allem in der Anthropologie war sie besonders leidenschaftlich und aufschlußreich. S. die klassischen Werke von R. Linton, The Study of Man: An Introduction, New York 1936, und M.J. Herskovits, Man and his Works. The Science of Cultural Antropology, New York 1948, V. 2 über den Kulturrelativismus und XXXVIII über den Ethnozentrismus. Was die Rechtsphilosophie anbetrifft, sei hier nur die Literatur genannt, welche zu den wesentlichen Punkten der Entwicklung dieser Polemik beigetragen hat, nämlich die klassischen Beiträge von: C. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, S. 24-28, ders. Rechtsphilosophie, Stuttgart 1950, S. 101-105; C.A. Emge, Uber das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus, 1916, vor allem II; H.Kelsen, Reine Rechtslehre, Leipzig u. Wien 1934, II und III, idem Wien 1960, S. 16 ff; 68-69, 364 ff, ders., Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953; U.Klug, Thesen zu einem kritischen Relativismus in der Rechtsphilosophie, in: Gedächtnisschrift für G. Radbruch, hrsg. von A. Kaufmann, 1968, S. 103-106; ders. Juristische Logik, 1982, § 18.4 S. auch: Chr. Gusy, Über Relativismus, in ARSP LXV/2 (1981) S. 503-524, O. Weinberger, Rechtspositivismus, Demokratie und Gerechtigkeitstheorie, in: RT Beiheft 4 (1982), S. 501-523, B.J. Narain, Absolutism vs Relativism in Social an Legal Philosophy: Human Rights, in: RT Beiheft 8 (1985), S. 351-356.

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wollen wir hierbei die Kelsenscht Formulierung dieser Polemik zum Ausgangspunkt einer Analyse machen. Nach Kelsen: „Die Norm der Gerechtigkeit... konstituiert einen absoluten Wert, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, die allein gültige zu sein, d. h.: wenn sie die Möglichkeit der Geltung ausschließt, die eine andere Behandlung von Menschen vorschreibt als sie selbst"14. Auf den ersten Blick scheint diese Formulierung unhaltbar zu sein, denn jede Gerechtigkeitsauffassung - sogar die relativistische - wird naturgemäß ihre eigene Gültigkeit behaupten und die der anderen verneinen. Den Erklärungen Kelsens entnimmt man nicht, wie ein solches Ausschließen der „Möglichkeit der Geltung" im Sinne des Relativismus zu verstehen ist. In dieser Hinsicht sind m. E. folgende Anmerkungen erforderlich: 2. Selbstverständlich handelt es sich hier zunächst einmal um die praktische Möglichkeit der Geltung anderer Gerechtigkeitsauffassungen, d. h. um das Toleranzprinzip, nach dem sich jedwede Gerechtigkeitsauffassung, wie auch immer ihr Inhalt gestaltet ist, ohne Hindernisse irgendwelcher Art durch Diskussion entwickeln und verbreiten darf15. 3. Darüber hinaus handelt es sich dabei um die Möglichkeit der logischen Geltung anderer Gerechtigkeitsauffassungen. Daß eine Theorie logisch gilt, bedeutet im allgemeinen, daß ihre Sätze mit anderen Sätzen nach bestimmten Operationsregeln in Einklang gebracht werden können. Dies gilt auch für die Gerechtigkeitstheorien. Daß die eine den Voraussetzungen für die logische Geltung entspricht, bedeutet selbstver-

H.Kelsen, Reine Rechtslehre, i960, S.402. Gegen die wertrelativistische Position Kelsens hat man eingewendet, daß es ein Selbstwiderspruch sei, absolute Wertmaßstäbe abzulehnen und zugleich die Toleranz als Wert aufzustellen. Man sollte - so diese Kritik - kohärent bleiben und demzufolge auch nicht die Toleranz für einen absoluten Wert halten. Auf eine detaillierte Art und Weise ist O. Weinberger (a. a. O. S. 512-514) auf die Analyse dieses Einwandes gegen Kelsen eingegangen, und er hat geantwortet, daß Kelsen „seine Begründung des Toleranzpostulates nicht einfach als deduktiv logische Folge des Wertrelativismus angesehen hat". M. E. ist zunächst einmal an die Bedeutung von „relativ" und „absolut" in diesem Zusammenhang zu erinnern. Wenn man dabei alle Werte als „relativ" bezeichnet, meint man notwendigerweise nicht, daß die entsprechenden Werturteile falsch seien oder daß ihre praktische Anerkennung in der Geschichte gleichgültig wäre (es sei in diesem Punkt auf die Meinung von U. Klug, Thesen zu einem kritischen Relativismus in der Rechtsphilosophie, S. 6 hingewiesen, daß „kritischer Relativismus und Nihilismus nicht identisch sind"). Wenigstens bei einigen Richtungen, die sich als relativistisch erklären, meint man nur folgendes: Alle Werte sind relativ, in dem Sinne, daß die entsprechenden Werturteile immer deshalb hypothetischer Art sind, weil sie von der Erfahrung irgendwie abhängen und nie „a priori" sein können. Wenn „relativ" so verstanden wird, kann man ohne Schwierigkeiten auch die Toleranz als einen relativen Wert bezeichnen, und dies sicherlich ohne Selbstwiderspruch. Die Toleranz ist gerade eines der besten Beispiele dafür, daß Werturteile von der Erfahrung abhängen. 14 15

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ständlich nicht, daß die logische Geltung anderer Gerechtigkeitstheorien ausgeschlossen ist. Diese Selbstverständlichkeit führt den Relativismus zur Idee einer Pluralität von Werturteilssystemen, die alle - wie auch immer ihr Inhalt sein mag - logisch strukturiert sind und sich kohärent darstellen lassen". 4. Demzufolge kann eine Gerechtigkeitstheorie dem Relativismus nach weder die praktische noch die logische Möglichkeit der Geltung einer anderen ausschließen. Einige Richtungen des Relativismus, diejenigen nämlich, die dem empiristischen Postulat folgen und sich zwischen Objektivismus und Subjektivismus bewegen (siehe oben II. 6), halten es nun für möglich, daß eine Theorie eine andere widerlegt. Ist dies vereinbar mit dem relativistischen Prinzip, nach dem eine Theorie die Möglichkeit der Geltung einer anderen nicht ausschließen kann? Um diese Frage beantworten zu können, sind zunächst einmal der epistemologische Status einer Gerechtigkeitstheorie und der damit zusammenhängende Begriff der Wahrheit in der empiristischen Philosophie zu überprüfen. a) Eine Gerechtigkeitstheorie muß zweifellos nach den Forderungen der Logik aufgebaut sein, es sei denn, sie beschränkt sich auf einen rein ideologischen Charakter. Da eine Gerechtigkeitstheorie zugleich eine empirische Basis hat, bedeutet die Rolle der Logik aber nicht, daß sie sich in eine logische Theorie verwandelt, so daß bei ihr ein Satz allein aufgrund des Widerspruchsatzes ausgeschlossen werden könnte. Eine derartige Verwandlung einer empirisch-logischen in eine logische Theorie bildet gerade den Kern der absolutistischen Gerechtigkeitsauffassungen. b) Innerhalb eines rein logischen oder mathematischen Systems läßt sich die Wahrheit eines Satzes in dem Sinne „eindeutig" bestimmen, daß man die Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung eines beliebigen Satzes mit anderen des entsprechenden Systems mittels der jeweiligen Operationsregel bestimmen kann, was übrigens auf der Seite des Subjekts ein totales Evidenzgefühl schaffen kann. Die absolutistischen Gerechtigkeitsauffassungen basieren auf dieser Art der Wahrheit, die eigentlich nur für die abgeleiteten Sätze eines formalen Systems gilt, und versuchen, den Geltungsbereich solcher Wahrheiten zu erweitern, indem sie erklären, daß auch die empirischen Sätze einer Gerechtigkeitstheorie in diesem Sinne wahr oder falsch sein können. Benennen wir als " S. in diesem Sinne die bekannte Darstellung personalistischer und transpersonalistischer Auffassungen nach G. Radbruch (Grundzüge der Rechtsphilosophie, zit., S. 94 ff, und Rechtsphilosophie, zit. S. 100 ff und §7).

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„absolut" diesen Begriff der Wahrheit, der die Übereinstimmung Satz-Satz in einem formalen System ausdrückt und der von den absolutistischen Konzeptionen dann auf empirische Gebiete - wo die Wahrheit als Ubereinstimmung Satz -Satzverhalt zu verstehen ist - verlagert wird. Da aber die Wahrheit empirischer Sätze vor allem als Relation Satz-Satzverhalt zu deuten ist, läßt sie sich damit auf die Wahrscheinlichkeit - und Intersubjektivität (siehe oben II. 6 c ) - zurückführen. Empirische Sätze bekommen eine mehr oder weniger starke Bestätigung durch die Erfahrung, je nach dem ob die Stärke oder Plausibilität ihrer Argumente und damit ihre intersubjektive Uberzeugungskraft größer oder kleiner ist, und haben in diesem Sinne einen hypothetischen Charakter. Sie können im übrigen kein totales Evidenzgefühl auf der Seite des Subjekts schaffen. Wenn die Widerlegung einer Gerechtigkeitstheorie durch eine andere auf Sätzen hypothetischer Art basiert, steht sie nicht im Widerspruch zu dem relativistischen Postulat: Sie kann nie als endgültig auftreten und kann demgemäß die Geltung der widerlegten Argumentation in diesem Sinne auch nicht ausschließen.

IV. Gerechtigkeitsprinzipien und -grundsätze und das Problem der Definition des Rechts 1. Gerechtigkeitsprinzipien und -grundsätze Die Gerechtigkeitsleitsätze, zu denen man mit Hilfe des einen oder des anderen Kriteriums kommt, lassen sich in Gerechtigkeitsprinzipien und Gerechtigkeitsgrundsätze einteilen. Die erstgenannten beziehen sich auf die Art und Weise, wie man zu handeln hat. Die Sätze „Tue das Gute, meide das Böse!" oder „Handle nur nach der Maxime, von der du zugleich wünschen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde!" bieten Beispiele dafür. Die zweitgenannten erklären einen mehr oder weniger allgemeinen Inhalt für gerecht, wie etwa der Satz „Jeder hat das Recht auf Gedankenfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung". a) Die Gerechtigkeitsprinzipien wurden in der rechtsgeschichtlichen Entwicklung oft formuliert und von unterschiedlichen Denkrichtungen vertreten. Mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen haben sie folgendes gemeinsam: Sie meinen immer, daß eine Handlung gerecht oder ungerecht ist, und erheben immer Anspruch darauf, sich in irgendeiner Form auf die Praxis zu beziehen. Im Unterschied zu den Gerechtigkeitsgrundsätzen besitzen diese Prinzipien jedoch einen so hohen Grad von Allgemeinheit und Abstraktion, daß man eigentlich mit Recht bezweifeln kann, ob sie wirklich gerechtigkeits- und praxisbezogen sind. Ein Teil der Rechtsphilosophie tendiert deshalb dazu, solche Prinzipien als

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„inhaltsleere Formel"17 (schärfer formuliert könnte man auch sagen: als bloße rhetorische Mittel) zu demaskieren. b) Zweifellos bilden die kritisierten Gerechtigkeitsprinzipien „inhaltsleere Formeln" in dem Sinne, daß sich mit ihrer Hilfe die entgegengesetzten Inhalte als gerecht oder ungerecht ableiten lassen. Sie spielen deshalb keine praktische Rolle, und es ist durchaus verständlich, daß sie als irrelevant für die Praxis angesehen werden. Einige von ihnen, etwa „das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen"18, stellen Urteile dar, die zwar a priori, jedoch analytischer Art sind, d. h. sie sind Prinzipien rein logischer Art, ebenso logisch unanfechtbar wie nutzlos für die Praxis. Andere bilden das Ergebnis einer Verallgemeinerung, die von in der Praxis gegebenen, inhaltlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen ausgeht, so daß der Versuch, diese Grundsätze auf eine einheitliche Formel zurückzuführen, natürlich zu unterschiedlichen Resultaten führen muß. c) Leitsätze mit unmittelbarer Relevanz für die Praxis, d. h. Gerechtigkeitsgrundsätze, findet man auf dem Gebiet der Menschenrechte. Die Menschenrechts- oder Grundrechtserklärungen, die die Ergebnisse eines Teiles der Rechtsentwicklung seit einigen Jahrhunderten darstellen, welche vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg in Form von Erklärungen und insbesondere von Konventionen ihren Ausdruck gefunden haben, bieten ein Material, in dem sich vor allem inhaltliche Gerechtigkeitsmaßstäbe klassischer und - noch stärker - gegenwärtiger Provenienz19 finden. 2. Die Gerechtigkeit und das Problem der Definition des Rechts Da die Gerechtigkeitsprinzipien inhaltsleere Formeln sind, kann man sie so definieren, daß sie in jeder positiven Rechtsordnung Anwendung finden. Von den Gerechtigkeitsgrundsätzen kann man dasselbe nicht 17 H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? zit., V, VI, VII, wo die bekanntesten dieser Formeln anhand ihres tautologischen Charakters einer scharfen Kritik unterzogen werden. Gewissermaßen demaskiert auch der Trialismus W. Goldschmidts den bloßen formalen Charakter einiger dieser Prinzipien. Man findet bei diesem Autor (Der Aufbau der juristischen Welt, 1963, S. 142 ff) den Unterschied zwischen zwei Arten von Gerechtigkeitsleitsätzen: „Der oberste Grundsatz besitzt diesen Rang, weil er der wichtigste ist. Die allgemeinen Grundsätze sind dagegen weniger wichtig, vielleicht sogar geradezu unwichtig; dagegen sind sie wegen ihrer formellen Natur allgemein und unverbrüchlich". Es sei hierzu terminologisch bemerkt, daß Goldschmidt von einem „obersten Grundsatz der Gerechtigkeit" im Unterschied zu „allgemeinen Grundsätzen" spricht, während wir im Text von „Gerechtigkeitsgrundsätzen" im Gegensatz zu „Gerechtigkeitsprinzipien" reden. Die beiden Schemata stimmen nur bis zu einem bestimmten Punkt überein. 18 Thomas von Aquin, Summa Theologica, II 1 qu. 94,2. " S. V.Frosini, Die Menschenrechte in der technologischen Gesellschaft, in: R T 13 (1982), S. 407—419; dieser Autor hat die Originalität der gegenwärtig erklärten Menschenrechte gegenüber den klassischen Menschenrechtsmaßstäben zu Recht betont.

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sagen. Einige positive Rechtsordnungen stimmen mit ihnen überein, andere nicht, oder besser gesagt: ein Teil der positiven Rechtsordnungen steht im Einklang mit gewissen Gerechtigkeitsgrundsätzen, ein anderer Teil stimmt mit anderen überein. Damit stellt sich die Frage, inwieweit Gerechtigkeitsgrundsätze und -prinzipien für die Definition des positiven Rechts überhaupt nötig sind. a) Auf den ersten Blick scheint es, daß diese Frage ganz einfach und ohne weiteres zu beantworten ist: Die Gerechtigkeitsprinzipien - der formale Begriff der Gerechtigkeit - können eine Rolle bei der Definition des Rechts spielen, während die Gerechtigkeitsgrundsätze, die einen sehr unterschiedlichen Inhalt der Gerechtigkeit ausdrücken, im Gegensatz dazu nicht als Definitionskriterien benutzt werden können. Dies zeigt sich ganz eindeutig, wenn man Theorien der Gerechtigkeit, wie etwa die von Ch. Perelman, analysiert. Er definiert „die formale oder abstrakte Gerechtigkeit" als „ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen". Mit diesem Begriff ließen sich alle konkreten Formen der Gerechtigkeit charakterisieren. Diese unterscheiden sich dadurch, daß „jede von ihnen bei der Anwendung der Gerechtigkeit ein anderes Charakteristikum für das ausschlaggebende hält, d. h. daß sie die Zugehörigkeit zu einer Wesenskategorie verschieden bestimmen. Sie liefern indes mehr oder weniger präzise Angaben über die Art und Weise, wie die derselben Wesenskategorie Zugehörigen zu behandeln seien"20. Von dieser und anderen Bestimmungen der formalen Gerechtigkeit kann man sagen, daß sie bei der Definition des positiven Rechts benutzt werden können, denn sie erfassen alle Inhalte, und dies deshalb, weil diese Bestimmungen inhaltlos sind. Daß bei der Definition des positiven Rechts keine Gerechtigkeitsgrundsätze benutzt werden dürfen, scheint auch klar zu sein. Bei genauerem Hinsehen ist dies alles aber nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. In der Tat diskutierte und diskutiert die Rechtsphilosophie noch heftig darüber. Sehen wir uns den Kern dieser Diskussion näher an: b) Nach einer rechtsphilosophischen Hauptrichtung sollte die Tatsache, daß das positive Recht immer mit der Gerechtigkeit zu tun hat, nur die einfache theoretische Feststellung sein, daß jede positive Rechtsordnung auf irgendeiner der in der Gesellschaft existierenden Gerechtigkeitskonzeptionen basiert, von deren Richtigkeit jedoch die Rechtsphilosophie bei der Definition des Rechts absehen sollte. In diesem Sinne ist das positive Recht immer als gerecht und ungerecht zu betrachten, oder 20

Ch.Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1967, S.28.

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wie Kelsen dies präzis formulierte - eine Rechtsordnung kann „mit dem einen Maßstab gemessen als gerecht gerechtfertigt, mit dem anderen aber als ungerecht verurteilt werden" 21 , was von der Rechtsphilosophie eine neutrale Betrachtungsweise bei der Definition des Rechts verlangt. Dies bedeutet, daß man das positive Recht mit Kriterien definiert, die von der einen oder der anderen Gerechtigkeitsauffassung unabhängig sind. Eine derartige neutrale Haltung verfällt nicht in Nihilismus, Defätismus oder Autoritarismus, wenn sie - wie es oft geschieht - das Problem der Definition des Rechts und das Gehorsamsproblem trennt: Die Bestimmung einer Ordnung als Rechtsordnung bedeutet nicht, daß man ihr deshalb gehorchen soll. Die Antwort auf die Gehorsamsfrage hängt nämlich von der Gerechtigkeitskonzeption ab, welche der Adressat dieser Ordnung für richtig hält.

c) Die Entwicklung der Rechtsphilosophie zeigt eindeutig, wie mühsam sich diese neutrale Haltung einen Weg bahnen konnte: Eine andere Hauptrichtung versucht nämlich, als positives Recht Ordnungen zu definieren, die einer bestimmten Gerechtigkeitsauffassung entsprechen, d. h. derjenigen, die von dieser Denkrichtung übernommen und in Form einer Theorie der Gerechtigkeit präsentiert wird. Rechtsverbindlichkeit könne man nur diesen Ordnungen zuschreiben, denn - das bildet die Voraussetzung solcher Denkrichtung - das Gehorsamsproblem und das Problem der Definition des Rechts ließen sich nicht trennen. d) Oft sagt man, daß die Wahl zwischen der neutralen und der nichtneutralen Betrachtungsweise begrifflich irrelevant sei und nur ein terminologisches Problem darstelle: Man könne entweder alle Ordnungen als Rechtsordnungen bezeichnen und dann nur einen Teil von ihnen diejenigen, die mit einer bestimmten Gerechtigkeitsauffassung in Einklang stehen - für rechtsverbindlich halten; oder man könne nur einen Teil der Ordnungen für Rechtsordnungen halten und ihnen Rechtsverbindlichkeit deshalb zusprechen, weil sie der „richtigen" Gerechtigkeitsauffassung entsprechen. So oder so komme man zu demselben Ergebnis. Meines Erachtens zeigt sich jedoch, daß bei dieser Kontroverse der terminologische Streit nicht nur „bloß terminologisch" ist, sondern daß er wichtige Folgen praktischer und methodologischer Art hat: e) Auf die praktischen Folgen beider Betrachtungsweisen bezieht sich H. L. A. Hart, und zwar wie folgt: Die Idee, „daß es etwas außerhalb des offiziellen Systems gibt, durch bezug worauf das Individuum in letzter Instanz sein Gehorsamsproblem lösen kann, läßt sich sicherlich unter solchen Menschen lebendiger erhalten, die daran gewöhnt sind, zu 21

H.Kelsen,

Reine Rechtslehre, i960, S.404.

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denken, daß Rechtsregeln ungerecht sein können, als unter solchen, die denken, daß nichts Ungerechtes jemals Rechtsstatus genießen kann" 22 . f ) Auf die methodologischen Folgen der neutralen und nicht-neutralen Betrachtungsweisen des Rechtsbegriffs möchten wir hier kurz hinweisen. Eine neutrale Haltung legt naturgemäß dem Rechtstheoretiker nahe, das Gebiet der positiv-rechtlichen Erfahrung - Normensysteme, Praxis, Gerechtigkeitskonzeptionen usw. - so weit und so gründlich wie möglich zu erforschen, und dies nicht nur, bevor er eine dieser Gerechtigkeitskonzeptionen in Form einer Theorie als die „richtige" darstellt, sondern auch nachher. Denn auch nachdem eine derartige Gerechtigkeitstheorie aufgestellt wird, verschließt er sich nicht mit der These, „das (was mit der gewählten Gerechtigkeitskonzeption nicht übereinstimmt) ist doch keine Rechtsordnung", den nötigen ständigen Zugang zu der rechtlichen Erfahrung. Die neutrale Haltung bei der Definition des positiven Rechts entspricht dem empiristischen Postulat. Dagegen führt die These „das Ungerechte kann nie Rechtsstatus haben" öfter als die entgegengesetzte dazu, - erstens - die Beschreibung und Erklärung von anderen Gerechtigkeitskonzeptionen zu vernachlässigen und - zweitens - die Gerechtigkeit vor allem als Sache der proklamierten Grundsätze und nicht des konkreten Funktionierens einer Rechtsordnung zu betrachten. Die nicht-neutrale Haltung bei der Definition des positiven Rechts entspricht dem Glauben an Wahrheiten apriorischer Art. V. Die Menschenrechtsmaßstäbe und die Rechtsphilosophie Das historische Phänomen einer Kodifizierung der Menschenrechte ist nicht zuletzt für die Rechtsphilosophie von höchster Bedeutung. Man bedenke, daß das Material der Erklärungen und Konventionen über Menschenrechte Gerechtigkeitsleitsätze umfassender Art enthält. Menschenrechte werden heute nämlich im weiten Sinne des Wortes verstanden. Die fortschrittlichste Forschungsrichtung auf diesem Gebiet, die sich gewissermaßen auch in die Praxis umzusetzen beginnt, lehrt die Existenz von drei Generationen von ihnen. Die bürgerlichen und politischen Menschenrechte bilden eine erste, auch „klassisch" genannte Generation. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen stellen den zweiten Katalog dar, auch „modern" genannt. Das Recht auf Frieden, Entwicklung und adäquate Umwelt bilden somit eine „dritte Genera22 H.L.A. Hart, Der Begriff des Rechts (The Concept of Law, Oxford 1961, ins Deutsche übersetzt von A. von Bayer, 1973), S. 290. Über die Gehorsamsproblematik s. auch E. Diaz, Legitimidad democrática: Libertad y criterio de las mayorías, in: Sociologia del diritto n. 1 1984 p. 109-120; ders. La justificación de la democracia, in: Rev. Sistema Nr. 66 (Mayo 1985), p. 3-23.

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tion", auch als „Solidaritätsrechte" bezeichnet23. Es liegt auf der Hand, daß sich die heutige Menschenrechtslehre, zumindest in ihren grundlegenden Aspekten, auf eine empirisch-praxisbezogenere Art und Weise mit dem Thema der Gerechtigkeit befaßt; einem Thema, das traditionell von der Rechtsphilosophie oft auf spekulative Art und Weise behandelt wurde. Die Beschäftigung mit der Menschenrechtsentwicklung kann also zu einer Erneuerung der rechtsphilosophischen Reflexion beitragen. Im folgenden wollen wir nur zwei der Punkte erwähnen, die in dieser Hinsicht von besonderem strategischem Wert sind:

1. Gerechtigkeitskriterien, -grundsätze und -prinzipien auf dem Gebiet der Menschenrechte Durch Menschenrechtserklärungen und -konventionen sowie (auf innerstaatlichem Gebiet) durch Verfassungen werden Gerechtigkeitsleitsätze positiviert. Dagegen enthalten diese Instrumente keine direkten Hinweise24 auf Gerechtigkeitskriterien, d. h. auf die Art und Weise, wie man zu diesen Leitsätzen gekommen ist. Auf der internationalen und regionalen Ebene erklärt sich dies daraus, daß solche Leitsätze das Ergebnis einer Ubereinstimmung von sehr unterschiedlichen Rechtskulturen und Ländern und deshalb von verschiedenen Konzeptionen von Gerechtigkeitskriterien sind. Im allgemeinen wollte man nicht viel über die Methodik streiten, sondern sich über allgemeine Leitsätze der Gerechtigkeit einigen. Und dieser Konsens geschah auf drei Ebenen, denn das genannte „Material" von Menschenrechten läßt sich in einem Drei-Stufen-System ordnen; auf internationalem, auf regionalem und auf staatlichem Niveau. Nun enthalten die Gerechtigkeitsleitsätze, welche die Bezeichnung „Menschenrechtsmaßstäbe" bekommen, nicht nur Gerechtigkeitsgrundsätze mit echter praktischer Bedeutung, sondern auch teilweise Gerechtigkeitsprinzipien. Vielleicht stellen sie nur Überbleibsel dar, die in der heutigen Periode der Rechtsentwicklung erhalten geblieben sind als Nachwirkungen einer vorherigen, spekulativ orientierten Periode. Vielleicht erklärt sich die Existenz solcher Prinzipien auch aus der Neigung der Machthaber, sehr allgemeine Formeln mit rhetorischem Effekt als 25 S. dazu K. Vasak, A 30-year Struggle, in Unesco Courier, Nov. 1977 p. 29; ders. Human Rights: As a Legal Reality, in: K. Vasak (General Editor), The International Dimension of Human Rights, Westport, Connecticut 1982, Vol. I p. 3-9; s. auch K. de Wey Mestdagh, The Rights of Development: From Evolving Principle to "legal" Right: in Search of its Substance, in: International Commission of Jurists (editor), Development, Human Rights and the Rule of Law, 1981, p. 143 foll. (s. insbesondere p. 148). 24 Sie beziehen sich aber indirekt auf methodische Aspekte. So z. B. die Artikel 19 und 21 der UN-Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und 19 und 25 des UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte.

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Fassade der Rechtfertigung zu benutzen. Wie dem auch sei: ihre Identifizierung und - wenn nötig - ihre Umwandlung in Grundsätze bilden eine sehr wichtige Aufgabe der Rechtsphilosophie von heute.

2. Eine rechtsphilosophische Klärung der Menschenrechtsmaßstäbe Wie jede philosophische - und rechtsphilosophische - Analyse zeigt der Versuch, die Elemente der Menschenrechtsmaßstäbe zu klären, zwei Charakteristika auf, nämlich die Tendenz der Universalität und einen hohen Grad von Gründlichkeit: Man fragt - erstens - nicht nach der Geltung des einen oder des anderen Menschenrechtsmaßstabs als solchem, sondern nach der Geltung der Menschenrechtsmaßstäbe schlechthin. Zwar geht die rechtsphilosophische Frage von einigen, so zahlreich wie möglich gesammelten Beispielen aus; die Schlüsse, zu denen man kommt, können sich auf den einen oder den anderen Maßstab als solchen beziehen, und diese konkrete und praktische Bezogenheit bildet zweifellos eine sehr wichtige rechtsphilosophische Aufgabe. Jedoch - und gerade, um diese Aufgabe besser zu erfüllen - tendiert die Fragestellung der Rechtsphilosophie zur Universalität. Sie tendiert - zweitens - auch zur Gründlichkeit. Man findet sich nämlich nicht mit der Tatsache der Anerkennung von Menschenrechtsmaßstäben bei den Kodifizierungen ab, sondern man fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Geltung als Gerechtigkeitsgrundsätze. Mit anderen Worten: Es wird die Rolle der Erfahrung, der Vernunft und der irrationalen Faktoren bei der Gewinnung von Maßstäben untersucht, deren Geltung vorausgesetzt ist. Diese vorausgesetzte Geltung bedeutet, daß die genannten Maßstäbe sich als ein Sollen ausdrücken und daß sie als solches vom heutigen Stand des ethischen Bewußtseins betrachtet werden. Dazu einige Bemerkungen: a) Logisch gesehen kann dieses Sollen - wie im Fall jeder rechtlichen und moralischen Norm - drei Formen annehmen: man gebietet, verbietet oder erlaubt25. Mit Beispielen: (1) Die Gerichte sind verpflichtet, die Angeklagten vor der Entscheidung anzuhören. (2) Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sind verboten. (3) Jedermann darf seine Meinung äußern. Vom logischen Standpunkt aus können die Menschenrechtsmaßstäbe mit allen diesen drei Arten von Sprache formuliert werden oder nur mit der einen oder der anderen Form. Aus axiologischen Gründen wählen die Menschenrechtserklärungen und -konventionen aber eine spezifische Art der Sprache, 25 S. eine Analyse der drei Arten dieser Sprache und ihrer Austauschbarkeit in U. Klug, „Acerca de la estructura lógica de las normas" ein: Revista Jurídica, Buenos Aires 1964, I-IV (s. auch U.Klug. Problemas de filosofía del derecho, Bueños Aires 1966, p.31 ss.).

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die lautet: „Jeder Mensch hat das Recht a u f . . . " , und die mit dem gewöhnlichen Sinn der „Dürfen"-Sprache nicht identisch ist. In ihr drückt sich die Idee des Vorrangs des Einzelnen vor allen Organisationen und Kulturwerken aus. b) An sich drücken die Menschenrechtsmaßstäbe ein Sollen aus. Außerdem werden sie vom menschlichen Bewußtsein als Sollen erfaßt. Dabei ist das Wort „Bewußtsein" im weiten Sinne zu verstehen, in einem Sinne, für den die Bezeichnung „ethisch" vorbehalten ist. Das „ethische Bewußtsein" umfaßt nämlich das rechtliche sowie das moralische Bewußtsein. Es ist das Ergebnis des Internalisierungsprozesses von sozialen Normen und vor allem von ihren Grundsätzen und Werten, welche je nach dem Grad der Internalisierung rechtlich oder moralisch genannt werden. c) Der Internalisierungsprozeß der Menschenrechtsmaßstäbe findet innerhalb des Bewußtseins statt, mehr seitens der Adressaten als seitens der Machthaber, denn diese Maßstäbe ziehen grundsätzlich feste Grenzen für die Ausübung der Macht. Außerdem vollendet sich ein solcher Prozeß nie einstimmig, sondern bestenfalls nur mehrheitlich. d) Die Menschenrechtsmaßstäbe bilden Gerechtigkeitsgrundsätze, die von den rechtlichen Normen zu unterscheiden sind. Diese sind bei der Definition der Tatbestände und Rechtsfolgen präziser als die Gerechtigkeitsgrundsätze, welche nicht mehr - und nicht weniger - als nur eben Grundsätze darstellen. Diese objektive Tatsache und die vorher erwähnte relative Schwäche des Internalisierungsprozesses von Menschenrechtsmaßstäben, vor allem wenn sie erst beginnen akzeptiert zu werden, erklären die häufigen Phänomene der Manipulation dieser Maßstäbe, sowohl bei ihrer Umwandlung in rechtliche Normen als auch bei der Auslegung, Rechtsfortbildung und Anwendung solcher Normen. e) Die Menschenrechtsmaßstäbe, d.h. die Gerechtigkeitsgrundsätze, sind Verallgemeinerungen von konkreten Bewertungen in Einzelfällen. Aufgrund von ihnen26 konstruiert man Gerechtigkeitsgrundsätze, indem verallgemeinert und abstrahiert wird. Im Unterschied zu den Gerechtigkeitsprinzipien, welche wegen ihrem höchsten Grad von Abstraktion irrelevant für die Praxis sind, stellen die Menschenrechtsmaßstäbe vor allem Gerechtigkeitsleitsätze dar, von denen ausgehend und im Lichte neuer Fälle praktische Lösungen ableitbar sind. 26 Dies ist die empiristische Erklärung eines solchen Phänomens, die m. E. die richtige ist. Die Formulierung des Apriorismus würde dagegen folgendermaßen lauten: „Anläßlich von ihnen entdeckt man Gerechtigkeitsgrundsätze".

Bilanz der Strafrechtsreform HANS JOACHIM HIRSCH

I. Es ist jetzt mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit die im Mittelpunkt der bundesdeutschen Strafrechtsreform stehende Neuregelung des Allgemeinen Teils in Kraft getreten ist, und auch die meisten Teilreformen des Besonderen Teils liegen inzwischen über zehn Jahre zurück. Dieser zeitliche Abstand erlaubt es, nunmehr eine Bilanz der Strafrechtsreform zu ziehen. Dabei geht es insbesondere darum, wie sie sich in praktischer Anwendung und theoretischer Sicht bewährt hat. Wenn man von der bisherigen Strafrechtsreform spricht, so handelt es sich vor allem um die zwischen 1969 und 1975 in Kraft getretenen fünf Strafrechtsreformgesetze (1. bis 5.StrRG) und die durch das neue Einführungsgesetz (EGStGB 1974) vorgenommenen Gesetzesänderungen. Die Betrachtung der Reform hat darüber hinaus die im Jahre 1976 durch das l . W i K G eingeführten Wirtschaftsstrafbestimmungen sowie das 1980 durch das 18.StÄG geschaffene neue Umweltstrafrecht und die in den zurückliegenden Jahren ergangenen sonstigen Strafrechtsänderungsgesetze einzubeziehen. Außerdem sind im Zusammenhang mit der Reform des StGB das Strafvollzugsgesetz von 1976 und die Erweiterung der Einstellung wegen Geringfügigkeit in § 153 a StPO zu nennen. Die nur schrittweise Änderung des Besonderen Teils entsprach bekanntlich nicht der ursprünglichen Planung. Auch nach dem Scheitern des eine umfassende Neukodifizierung vorsehenden E1962 ging man, wie erinnerlich, zunächst davon aus, daß eine Gesamtreform möglich sein würde. Aus diesem Grunde wurde das den neuen Allgemeinen Teil enthaltende 2.StrRG zwar bereits Mitte 1969 im Bundesgesetzblatt verkündet, als Termin des Inkrafttretens jedoch erst der 1.10.1973, das Ende der nächsten Legislaturperiode, bestimmt. Bis dahin sollte schrittweise die Reform des Besonderen Teils erfolgen 1 . Als sich dieser Termin als unrealistisch erwies, wurde eine weitere Verschiebung auf den 1.1.1975 vorgenommen. Auch sie vermochte indes nichts daran zu ändern, daß die bundesdeutsche Strafrechtsreform - im Unterschied 1 Vgl. den Ersten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsref o r m , BT-Drucks. V/4094.

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etwa zur österreichischen - ein Torso blieb, bestehend aus einer in das alte StGB eingeführten Neufassung des Allgemeinen Teils und einigen schrittweisen Teilreformen des Besonderen Teils. Nach 1975 ist dann auch für die noch mit dem Ziel der Gesamtreform betriebene abschnittweise Änderung des Besonderen Teils alsbald der Elan verlorengegangen2. II. Wichtigste Einzelpunkte der Reform des Allgemeinen Teils 1. Der neue Allgemeine Teil hält am Schuldstraf recht und dessen Flankierung durch Maßregeln (Zweispurigkeit) und andere spezialpräventive Vollstreckungsregelungen (Strafaussetzung zur Bewährung usw.) fest. Das neue Recht verwendet nicht nur in mehreren Vorschriften ausdrücklich das Wort „Schuld", sondern es bestimmt darüber hinaus auch ausdrücklich, daß die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumessung der Strafe bildet. In der grundsätzlichen Ausrichtung auf das Schuldstrafrecht waren sich der E1962 und der AE1966 einig3. Auch hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen betont, daß sich aus dem in Art. 20 Abs. 3 G G verankerten Rechtsstaatsprinzip das Erfordernis der Schuldangemessenheit der Strafe ergibt4. Denn nur das Schuldstrafrecht respektiert den Bürger als Person und bewahrt ihn davor, einer zu seinem individuellen Verhalten außer Verhältnis stehenden Repression ausgesetzt zu werden. Daß der Streit zwischen Indeterminismus und Determinismus nicht mit letzter Gewißheit im Sinne des ersteren zu entscheiden ist, berührt die Notwendigkeit eines dem Schuldgedanken Rechnung tragenden Strafrechts nicht. Dieser Gedanke ist nämlich, indem er die individuelle Vermeidbarkeit als Gesichtspunkt berücksichtigt, ein zugunsten des Täters wirkendes Prinzip5. Die Alternative wäre ein Strafrecht, das bereits das Unrecht der Tat und die Gefährlichkeit des Täters genügen ließe. Es kommt daher auch nicht von ungefähr, daß überall dort, wo eine Strafgesetzgebung das Schuldprinzip verletzt, der Ruf nach Beachtung oder Wiederherstellung erhoben wird. Im übrigen schließt das Schuldstrafrecht nicht aus, daß innerhalb der durch die Schuld gezogenen Grenzen der Strafe spezialpräventive Gesichtspunkte bei der Strafvollstreckung die erforderliche Beachtung finden, sei es durch Strafaussetzung zur Bewährung, sei es in der Ausgestaltung des Strafvollzugs. 2 Zur Geschichte der Reform nähere Angaben bei Jescbeck, Strafrecht, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S. 79 ff. 3 Vgl. E 1 9 6 2 , Begründung S.96ff; A E AT, S. 29 f. Für das Schuldstrafrecht auch aus kriminologischer Sicht Hilde Kaufmann, J Z 1962, 196 f. 4 BVerfGE 6, 389, 439; 20, 323, 331; 45, 187, 228. 5 Dazu Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1984, Vor § 3 2 Rdn.170.

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Die Grundentscheidung, am Schuldstrafrecht festzuhalten, stützt sich daher auf breite Zustimmung. 2. Ihren Schwerpunkt hat die Reform des Allgemeinen Teils bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Rechtsfolgenregelung. Die Anstöße, die vom Alternativentwurf 51 und der internationalen kriminalpolitischen Entwicklung ausgingen, spiegeln sich in dieser Akzentsetzung wider. a) Die Abschaffung der früheren Unterscheidung von Gefängnis- und Zuchthausstrafe durch die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe wird heute allgemein akzeptiert. Schon vorher bestand in der Praxis des Strafvollzugs kein wesentlicher Unterschied mehr. Andererseits bedeutete die Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe eine dauernde Stigmatisierung, die zumeist eine spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft unmöglich machte. Die Einheitsfreiheitsstrafe entspricht deshalb dem Bemühen, dem Verurteilten nach Verbüßung der Strafe die Rückkehr ins Sozialleben zu ermöglichen, und bildet heute keinen Gegenstand der Diskussion mehr. Eine ebenfalls wichtige Reform war die Ersetzung kurzer Freiheitsstrafen durch Geldstrafen, indem Freiheitsstrafen unter einem Monat abgeschafft und die Verhängung von Freiheitsstrafen unter 6 Monaten auf das Vorliegen besonderer Umstände beschränkt wurde (§§38, 47 StGB). Vor der Neufassung war diese Reform Gegenstand lebhafter Diskussion. Heute wird die Zurückdrängung der Freiheitsstrafe im Rückblick auf die in der Rechtspflege früher ausgeprägte Neigung, in viel zu vielen Fällen Freiheitsstrafen zu verhängen, als Fortschritt empfunden. Fraglich ist jedoch, ob der Gesetzgeber die ihm insoweit gestellte Reformaufgabe befriedigend bewältigt hat. Er meinte, man könne die betreffenden Fälle ausreichend und sachgemäßer durch die Geldstrafe ahnden. Der Anteil der Geldstrafe ist daher inzwischen auf über 80 % aller verhängten Strafen gestiegen6, wobei die stets Geldbußen im Gefolge habenden Ordnungswidrigkeiten noch nicht einmal berücksichtigt sind. Man hat inzwischen jedoch den Eindruck, daß die Reform zu stark durch die günstige damalige Wirtschaftslage beeinflußt worden ist. Damals verfügte nahezu jeder über ausreichende finanzielle Mittel. Bei ungünstigerer Wirtschaftslage, wie wir sie gegenwärtig haben, entsteht das Problem, daß den finanziell Schwachen die Ersatzfreiheitsstrafe droht und damit eine ungleiche Behandlung von finanziell bemittelten und weniger bemittelten Tätern eintritt. 5

" Näher darüber Grünwald, ZStW 80 (1968), 89. Vgl. Kaiser, Kriminologie, 7. Aufl. 1985, S. 173. Der Anteil der Geldstrafen betrug 1965 noch 63 %. 6

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Hinzu kommt bei der Geldstrafe, daß sie, wenngleich in geringerem Umfang als die Freiheitsstrafe, Auswirkungen auf die Familie und damit auf Personen hat, die an der Straftat unbeteiligt gewesen sind. Darüber hinaus leistet ihre Vollstreckung vielfach nichts Positives im Sinne der Resozialisierung des Verurteilten 7 . Auch wenn die Zurückdrängung der Freiheitsstrafe grundsätzlich begrüßt wird, stellt sich daher heute die Frage, ob es richtig war, die Geldstrafe als die ausschließlich in Betracht kommende Alternative anzusehen. Sie bildet sicherlich im Bereich der unteren und mittleren Kriminalität vielfach eine geeignete Strafart, aber eben doch nicht immer. Ein Mangel der Strafrechtsreform wird deshalb bereits an dieser Stelle deutlich. E r besteht in dem zu wenig gefächerten Sanktionenkatalog. Die Alternative nur von Freiheitsstrafe und Geldstrafe ist ungenügend. Moderner ist insoweit beispielsweise das englische Recht, indem es die Freiheitsstrafe auch durch die Verurteilung zu Community Service zurückdrängt 8 . Darüber hinaus wird zunehmend bewußt, daß die generelle Beseitigung der kurzen Freiheitsstrafe ein zu weitgehender Schritt gewesen ist. Die neueren Entwicklungen in anderen Staaten, insbesondere in den U S A und in Schweden, zeigen sehr deutlich, daß die kurze Freiheitsstrafe nicht völlig entbehrlich ist, sondern als „short sharp shock" eine wichtige kriminalpolitische Funktion hat9. Die ausländische Reformgesetzgebung ist deshalb in diesem Punkte zurückhaltender gewesen als die deutsche. Eine für die Praxis bedeutsame Neuerung bildete ferner die Erweite-

rung der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung. Bestand vorher nur die Möglichkeit der Aussetzung bei Freiheitsstrafen bis zu 9 Monaten, so muß das Gericht jetzt im Regelfall bei Verurteilungen zu Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr die Strafe zur Bewährung aussetzen. Darüber hinaus kann heute auch bei Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren unter besonderen Umständen Strafaussetzung erfolgen (§ 56 StGB) 1 0 . Diese Reform ist in die Praxis voll durchgeschlagen. Der Anteil der Strafaussetzungen hat sich verdoppelt. Heute werden mehr als 65 % der

7 Auch Hilde Kaufmann, in: Grünhut-Erinnerungsgabe, 1965, S.65, hat darauf hingewiesen, daß die Geldstrafe nicht in beliebigem Maße vermehrt werden kann und ihr zudem die erzieherische Wirkung oft fehlt. 8 Näher dazu Cross, The English Sentencing System, 1975, S. 15 ff; King, Community Service, 1982; B. Huber, J Z 1980, 638; Fuchs, Der Community Service als Alternative zur Freiheitsstrafe, 1985. ' Vgl. die Angaben bei Jescheck, ZStW 91 (1979), 1057f m . w . N . ; kritisch kürzlich

auch Weigend, JZ 1986, 260, 267.

10 Für eine Erweiterung der Strafaussetzungsmöglichkeit auf Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren hatte sich bereits im Jahre 1965 Hilde Kaufmann (Fn. 7), S. 90 ausgesprochen.

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ausgesprochenen Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt11. Bei Erstverurteilten bis zu 2 Jahren Freiheitsstrafe ist die Aussetzung inzwischen die Regel. Es bestehen Tendenzen, den Anwendungsbereich noch über den bisherigen Umfang hinaus zu erweitern12. Dabei spielen justizökonomische Erwägungen eine erhebliche Rolle. Man will auf diese Weise die Uberbelegung der Haftanstalten abbauen. Es ist jedoch zu beachten, daß nach der heutigen Gerichtspraxis die Verurteilung zu mehr als 2 Jahren Freiheitsstrafe das Vorliegen einer bereits recht gewichtigen Tat bedeutet, so daß in solchen Fällen kaum Raum für eine Strafaussetzung verbleibt, sollen die Strafdrohungen bei Täter und Öffentlichkeit noch als ernst gemeint empfunden werden. Im übrigen scheint sich auch in der Praxis der Strafaussetzung zur Bewährung der unzureichend gefächerte Sanktionenkatalog widerzuspiegeln. Da nämlich oft die Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig, die Geldstrafe aber als zu schwache Reaktion empfunden wird, versucht man, diese Lücke durch eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe zu schließen. Die Verurteilung zu Community service oder Wochenendarrest wäre in solchen Fällen wahrscheinlich doch die sachgerechtere Lösung - wenn es solche Sanktionen im Erwachsenenstrafrecht gäbe. b) Im Zusammenhang mit der Intensivierung der Geldstrafe ist die Einführung des Tagessatzsystems erfolgt (§40 StGB). Es handelt sich dabei um einen der wenigen Punkte, in denen die Reform ein neues Rechtsinstitut übernommen und damit für das deutsche Recht juristisches Neuland betreten hat. Diese Neuregelung gilt heute als ein besonders gelungenes Ergebnis der Reform. Sie wird in der Praxis entsprechend der gesetzgeberischen Intention gehandhabt, die Geldstrafe schlagkräftiger zu machen. Ein neues Rechtsinstitut im StGB ist auch die Verwarnung mit Strafvorbehalt, die bei Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen möglich ist (§ 59 StGB) 13 . Diese Regelung, die wenigstens einen positiven Ansatz in Richtung auf eine Differenzierung des auf die Alternative von Freiheitsstrafe oder Geldstrafe beschränkten Strafensystems hätte bieten können, ist jedoch ohne praktische Bedeutung geblieben. Die Vorschrift ist in den zurückliegenden Jahren nur in 0,2 % aller strafrichterlichen Abur-

Kaiser (Fn.6), S. 168. Die SPD-Fraktion hat eine Aussetzungsmöglichkeit bis zu 3 Jahren vorgeschlagen; vgl. Gesetzentwurf zum weiteren Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung, BTDrucks. 10/1116. Dagegen aber die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BTDrucks. 10/4391, S. 16, und jetzt das 23.StÄG vom 13.4.1986. " Der Vorschlag stammt aus § 57 AE, dort allerdings mit wesentlich weiterem Anwendungsbereich. Für die Einführung der Verwarnung mit Strafvorbehalt vorher bereits Welzel, Ndschr. I, S. 104, im Anschluß an den Entwurf Gürtner. 11 12

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teilungen angewandt worden14. Der Grund liegt einmal darin, daß der Gesetzgeber ihr nur Ausnahmecharakter zugebilligt hat15. Zum anderen hängt die geringe Bedeutung mit der starken Erweiterung der prozessualen Einstellungsmöglichkeiten zusammen. Diese haben dazu geführt, daß bei Straftaten von geringem Gewicht eine Einstellung des Strafverfahrens bei gleichzeitiger Bußgeldauflage bevorzugt wird16. Die Strafverfolgungsorgane empfinden eine solche Verfahrensweise als justizökonomischer. Durch die Fassung als Ausnahmeregelung und die Bevorzugung des § 153 a StPO ist auch verhindert worden, daß der §59 StGB bei der Geldstrafe die Funktion übernehmen konnte, die bei der Freiheitsstrafe die Strafaussetzung zur Bewährung hat. Das ist mißlich, weil sonst die seit der Reform ganz im Vordergrund stehende Geldstrafe durch ein flankierendes spezialpräventives Element sinnvoller und tätergerechter hätte gehandhabt werden können. c) Ein weiterer Schwerpunkt der Reform des Rechtsfolgensystems lag, der Tendenz des Reformgesetzgebers zum Ausbau der Resozialisierung entsprechend, bei den Maßregeln (§§61 ff StGB). aa) Bei den Besserungsmaßregeln nach §§ 63 und 64 StGB war die wohl wichtigste Neuerung, daß der Maßregelvollzug jetzt zeitlich vorgezogen, auf die Strafe angerechnet und der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt wird (§ 67 StGB) 17 . Von der Praxis ist dieses Vikariierungsprinzip voll akzeptiert worden; denn soll die Resozialisierungschance sinnvoll genutzt werden, muß man sie sofort wahrnehmen. Die vom Gesetz eingeräumte Möglichkeit, ausnahmsweise wie bisher zunächst die Strafe zu vollstrecken, spielt praktisch kaum eine Rolle18. Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob die Zweispurigkeit nicht hinsichtlich des Nebeneinanders von Strafe und Maßregeln der Besse14 Vgl. Horn, N J W 1980, 106; Heinz, ZStW 94 (1982), 663 f; kritisch zur „Denaturierung" dieses Rechtsinstituts Baumann, JZ 1980, 464. 15 Vgl. § 5 9 Abs. 1 Nr. 2 StGB und dazu BT-Drucks. V/4095, S.24f. 16 Auch Rieß, ZRP 1983, 93, konstatiert, daß die prozessuale Einstellungsmöglichkeit die Verwarnung mit Strafvorbehalt „zur Bedeutungslosigkeit herabgedrängt" hat. 17 Bei den Maßregeln der Sicherung dagegen ist die wichtigste Neuerung die Reform der Sicherungsverwahrung ( § 6 6 StGB) durch das 1. StrRG. Mit der Neufassung wurden die Voraussetzungen der Anordnung wesentlich verschärft, um nicht weiterhin - wie zuvor überwiegend Täter aus dem Bereich der geringen oder mittleren Vermögensdelinquenz zu erfassen; vgl. BT-Drucks. V/4094, S. 18 ff. Im Jahre 1968 war Sicherungsverwahrung in 268 Fällen angeordnet worden; vgl. Jescheck (Fn. 2), S.23. Seit 1970 sind die Zahlen ständig zurückgegangen. 1984 waren noch 36 Täter betroffen; vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafverfolgung 1984, S.32. " Vgl. O L G Karlsruhe N J W 1975, 1571; Hanack, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1978, § 6 7 Rdn.31 m . w . N .

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rung überhaupt überholt ist. Gemäß § 2 S. 1 StVollzG von 1976 ist es Ziel des Strafvollzugs, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Sache nach würde dies einschließen, im Rahmen der Freiheitsstrafe die erforderlichen therapeutischen Maßnahmen zu veranlassen. Andererseits ist zu bedenken, daß aus rechtsstaatlichen Gründen die Anordnung derartiger medizinischer Maßregeln doch einem Gericht überlassen bleiben muß. Hinzu kommt, daß das erkennende Gericht in den Fällen der §§ 63 und 64 StGB ohnehin vorher regelmäßig mit der Frage des Vorliegens der §§ 20 oder 21 StGB befaßt war, so daß es unmittelbarer als die Vollzugsbehörde informiert ist. Außerdem hätten Strafurteile, die sich auf die Strafe beschränken und die Anordnungen nach §§ 63 und 64 StGB den Vollzugsbehörden überlassen würden, einen zu abstrakten Charakter. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß es auch spezialpräventive Regelungen gibt, die außerhalb des Freiheitsentzugs stehen (z. B. Strafaussetzung zur Bewährung, Führungsaufsicht) und deshalb ohnehin vom erkennenden Gericht zu treffen sind. Daher ist es nach wie vor sachgemäß, die vorgenannten Maßregeln dem StGB und nicht erst dem StVollzG zuzuordnen". bb) Viel diskutiert worden ist die Aufnahme der sozialtherapeutischen Anstalt in den Maßregelkatalog. Der Vorschlag kam aus § 69 AE. Mit der Vorschrift (§ 65 StGB) war bezweckt, durch moderne therapeutische Mittel und soziale Hilfen auf solche kriminell besonders gefährdeten Tätergruppen einzuwirken, bei denen eine effektive Resozialisierung erwartet werden kann. Daß sie niemals in Kraft getreten und seit dem 1.1.1985 ganz gestrichen worden ist, liegt einmal daran, daß sie in ihrem Anwendungsbereich zu groß geraten war, um realisierbar zu sein. Geht es bei den als Vorbild dienenden dänischen und niederländischen Einrichtungen um sehr kleine und sehr personalintensive Anstalten, deren Insassen für das jeweils praktizierte Behandlungskonzept besonders ausgewählt sind20, wären durch die neue Vorschrift mindestens 3500 Plätze notwendig geworden21. 19 Eine spezifische Besonderheit des Betäubungsmittelrechts bildet die Zurückstellungsmöglichkeit des § 3 5 BtmG von 1982. Danach kann die Vollstreckungsbehörde, aber auch nur mit Zustimmung des erstinstanzlichen Gerichts, die Vollstreckung zurückstellen, wenn sich der Verurteilte in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Im Drogenbereich war diese Vorschrift erforderlich, da viele Drogenabhängige in den Strafvollzug und nicht in Therapie kamen, weil ihre Strafen mangels günstiger Sozialprognose nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnten. 20 Näher zu den genannten Einrichtungen Hilde Kaufmann, Kriminologie III, 1977, S. 160 ff. 21 BR-Drucks. 110/83, S. 18; Schwind, NStZ 1981, 122.

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Darüber hinaus war die Vorschrift inzwischen durch die tatsächliche und rechtliche Entwicklung des Strafvollzugs überholt. D o r t existieren auf der Grundlage des Strafvollzugsrechts bereits 11 Modellanstalten 22 . Der § 9 StVollzG von 1976 bietet eine Rechtsgrundlage für die Unterbringung in Betracht kommender Häftlinge in sozialtherapeutischen Einrichtungen. Eine ausdrückliche Vorschrift im StGB wurde daher entbehrlich, zumal es im Unterschied zu den im vorhergehenden erörterten §§63 und 64 StGB hier um Erziehungsmaßnahmen und damit dem Strafvollzug wesenseigene Aufgaben geht. Dagegen zeichnet sich nicht ab, daß auf sozialtherapeutische Einrichtungen wieder verzichtet wird. Zu einer solchen Entmutigung bieten die bisherigen Ergebnisse keinen Anlaß 23 . Die Streichung des § 65 StGB gibt deshalb nicht denjenigen Recht, die sich prinzipiell gegen ihn ausgesprochen haben. Vielmehr hatte die Vorschrift eine wichtige Signalfunktion für den Strafvollzug und den Inhalt des Strafvollzugsgesetzes. O b die Entwicklung ohne den „Druck", der von seiner Existenz ausging, so verlaufen wäre, ist zu bezweifeln. Andererseits zeigt die dem 2. StrRG vorangehende Debatte, in welchem Maße Etikettierungen in der wissenschaftlichen Diskussion von Einfluß sind. Hätte man Anfang der siebziger Jahre schon ein Strafvollzugsgesetz gehabt, und wäre es nur darum gegangen, in dieses den heutigen § 9 StVollzG einzufügen, hätte es vermutlich weniger grundsätzliche Auseinandersetzungen gegeben. 3. Für die Strafrechtspflege besonders folgenreich ist die Entwicklung, die sich aus der Abschaffung der Kategorie der Übertretungen ergeben hat. Diese dritte Deliktskategorie nach den Verbrechen und Vergehen bestand überwiegend aus gegen Allgemeininteressen gerichteten leichten abstrakten Gefährdungsdelikten. Da es für solche Verstöße gegen öffentlichrechtliche Vorschriften seit 1952 ein vom Strafrecht getrenntes Ordnungswidrigkeitenrecht gibt, erschien es konsequent, die Kategorie der Übertretungen im StGB zu beseitigen und die betreffenden Bestimmungen dem Ordnungswidrigkeitenrecht zuzuordnen. Zu den Ubertretungen gehörte aber auch der Mundraub (§ 370 N r . 5 StGB a. F.), der im Bereich der einfachen Ladendiebstähle große praktische Bedeutung hatte. Er geriet durch die Reform mit in den normalen Diebstahlstatbestand und wurde damit von einer Übertretung zu einem Vergehen aufgewertet. U m den sich daraus ergebenden fragwürdigen kriminalpolitischen Konsequenzen zu begegnen, wurde durch das EGStGB 1974 22

Vgl. Schock, ZRP 1982, 208. Zu den Erfahrungen vgl. die Berichte in: MSchrKrim. 1979, 322, 338, 348, 357; siehe auch Schüler-Springorum, in: Barbero Santos u.a., La Reforma Penal, Madrid 1982, S. 119; Kaiser, SchwZStR 103 (1986), 1, 9ff. 23

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der § 153 a StPO eingeführt. Man erweiterte also, und zwar noch akzentuiert für die Eigentums- und Vermögensdelinquenz, die Möglichkeit der Einstellung wegen Geringfügigkeit in der Weise, daß die Staatsanwaltschaft oder im Hauptverfahren der Richter unter der Bedingung, daß der Beschuldigte bestimmte Auflagen - zumeist eine Geldbuße erfüllt, das Verfahren einstellen kann. Diese durch die Beseitigung der Ubertretungskategorie verursachte verfahrensrechtliche Lösung wurde gleichzeitig zum allgemeinen Konzept für die Erfassung der Bagatellkriminalität ausgestaltet. Die Regelung hat nach anfänglicher Zurückhaltung erhebliche praktische Bedeutung erlangt24. Die in der Wissenschaft geäußerte Befürchtung, daß die Eröffnung der Möglichkeit, sich von der Anklage durch Zahlung einer Geldbuße gewissermaßen freizukaufen, zu ungleicher Behandlung von begüterten und finanziell schwachen Beschuldigten führen könnte25, ist durch die tatsächliche Entwicklung nicht widerlegt worden. Vor allem aber besteht das Bedenken fort, daß Beschuldigte hier von den Strafverfolgungsbehörden vielfach nur auf bloßen Tatverdacht hin, also ohne Nachweis der Tat, zur Zahlung einer Geldbuße genötigt werden. Auch scheint in Hauptverfahren die Versuchung zuzunehmen, strafprozessual gebotene Freisprüche dadurch zu umgehen, daß dem Angeklagten die Zahlung einer Geldbuße bei gleichzeitiger Einstellung nach § 153 a StPO aufgezwungen wird. Dabei handelt es sich vor allem um Fälle, in denen die Tat nicht nachweisbar ist, aber auch die Unschuld des Täters nicht feststeht. Hier drängt es offenbar manche Richter und Staatsanwälte zur Erteilung eines „Denkzettels" in Form einer Geldbuße. Außerdem erspart die Anwendung des § 1 5 3 a StPO dem Richter die Abfassung des freisprechenden Urteils. Auch soll die Bereitschaft zur Anwendung der Vorschrift in Hauptverhandlungen, die sich in den späten Nachmittag oder den Freitagnachmittag auszudehnen drohen, noch größer als sonst sein. Man wird diesen Teil der Reform kaum als vorbildlich bezeichnen können. Er geht nicht auf Vorschläge der Wissenschaft zurück, sondern ist im Bundesjustizministerium erdacht worden, als man dort das E G S t G B 1974 vorbereitete. Die prozessuale Regelung hat bewirkt, daß ein Dunkelfeld der Strafverfolgung entstanden ist, in dem die entscheidenden Strafverfolgungsorgane genügender verfahrensmäßiger Kontrolle entzogen sind. Hinzu kommt, daß sich die Regelung im Vorverfahren 24 Vgl. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1986, § 1 5 3 a Rdn.22, der für 1983 die Anzahl der Einstellungen auf etwa 200000 Fälle schätzt. Im Jahre 1977 waren es noch rund 9 0 0 0 0 Einstellungen; siehe Rieß, ZRP 1983, 94. Empirische Daten auch bei Meinberg, Geringfügigkeitseinstellungen von Wirtschaftsstrafsachen, 1985. 25 In diesem Sinne Hanack, in: Gallas-Festschrift, 1973, S. 358; Schmidhausen J Z 1973, 535; Hirsch, ZStW 92 (1980), 229.

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nicht mit der Funktion der Staatsanwaltschaft vereinbaren läßt, denn man überträgt dieser damit richterliche Kompetenzen 2 '. Indem die Einstellung an eine Bußgeldzahlung und dgl. geknüpft wird, werden hier der Sache nach Sanktionen angeordnet. Es zeigt sich an dieser Stelle ein weiterer grundsätzlicher Mangel der Strafrechtsreform. Anstatt für die sanktionsbedürftige Bagatelldelinquenz eine — wie das Ordnungswidrigkeitenrecht entkriminalisierte materiellrechtliche Lösung zu schaffen, hat sich der Gesetzgeber durch die Beseitigung der Übertretungskategorie diesen Weg verstellt. Als er sich in letzter Minute des Problems bewußt wurde, blieb nur noch die unbefriedigende prozessuale Lösung als Ausweg übrig. Für sie kann man sich auch nicht auf diejenigen ausländischen Verfahrensrechte berufen, die allgemein dem Opportunitätsprinzip folgen27. Denn dort geht es allein um die Frage der Strafverfolgung, nicht aber darum, daß deren Unterbleiben vom Erfüllen einer Sanktion abhängig gemacht wird, also eine Form des Unterwerfungsverfahrens stattfindet. 4. Große Beachtung hat man bei der Vorbereitung des neuen Allgemeinen Teils dagegen der dogmatischen Seite gewidmet. Das ergab sich schon daraus, daß die wissenschaftliche Diskussion bis Anfang der sechziger Jahre schwerpunktmäßig auf die Dogmatik des Allgemeinen Teils konzentriert war. Der E1962, der in diesem Bereich deutlich den Haupteinfluß auf das 2. StrRG gehabt hat, hatte hier seine Stärke. Die Theoretiker, die an ihm mitgewirkt haben, waren ganz überwiegend namhafte Strafrechtsdogmatiker. Neu hineingekommen in den Gesetzestext sind bekanntlich insbesondere Regelungen des Verbotsirrtums, des rechtfertigenden Notstands und des Irrtums beim entschuldigenden Notstand, Präzisierungen der Teilnahme- und Rücktrittsregelungen sowie die ausdrückliche Hervorhebung, daß das unechte Unterlassungsdelikt strafbar ist. Betrachtet man diese Neuregelungen, so bedeuten sie allerdings im wesentlichen nur eine Festschreibung des auch schon nach dem bisherigen Recht anerkannten Rechtszustands. Ihre praktische Bedeutung besteht mithin hauptsächlich darin, daß im Laufe der Jahrzehnte gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Übernahme durch die Rechtsprechung nun auch - gewissermaßen buchhalterisch - im Gesetzbuch ausdrücklich vermerkt werden. Hervorzuheben ist, daß das Gesetz sich dabei Lösungen zu eigen macht, die auf der Grundlage der personalen Unrechtslehre entwickelt worden sind, nämlich die Vorsatzakzessorietät bei der Teilnahme, die Behandlung des Verbotsirrtums Vgl. Hirsch (Fn. 25), S.231; so auch AE-Novelle zur StPO, 1980, S.6. Zu den betreffenden ausländischen Verfahrensrechten näher Weigend, pflicht und Ermessen, 1978, S. 167 f. 26 27

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nach der Schuldtheorie und die Vorsatzlösung bei irriger Annahme des entschuldigenden Notstands. Das Gesetz folgt damit einer Dogmatik, die weder objektivistisch noch subjektivistisch ist, sondern eine Ausbalancierung von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten vornimmt28. Es kommt daher auch nicht von ungefähr, daß sich in der Wissenschaft die personale Unrechtslehre mit Inkrafttreten des neuen Allgemeinen Teils durchgesetzt hat. Der Reformgesetzgeber war sich bewußt, daß die gesetzliche Festschreibung von dogmatischen Lösungen voreilig sein und die weitere wissenschaftliche Entwicklung blockieren könnte2'. Daß sich die Dogmatik des Allgemeinen Teils in Deutschland während der vorhergehenden 100 Jahre so fruchtbar entwickelt hat, war zu einem erheblichen Teil durch die Zurückhaltung der alten Fassung des StGB begünstigt worden. Mit Recht hat man deshalb im neuen Allgemeinen Teil einige Festlegungen vermieden, so etwa bezüglich der Definition von Vorsatz und Fahrlässigkeit oder bei den Garantenstellungen. Im Rückblick erweist es sich auch als vorteilhaft, daß es entgegen §§20, 39 Abs. 2 E1962 und § 19 Abs. 1 AE nicht zu einer Regelung des Irrtums über einen rechtfertigenden Sachverhalt gekommen ist. Die Entwicklung ist hier weiterhin in Fluß, wie die Hinwendung der eingeschränkten Schuldtheorie vom Vorsatzausschluß zur Verneinung der spezifischen Vorsatzschuld einer vorsätzlichen Tat zeigt30. Trotz der für den dogmatischen Bereich der Reform charakteristischen Perfektion zeigen sich inzwischen auch einige Schwächen. So war es sachlich verfehlt, die alte Regelung der Akzessorietätsfrage bei qualifizierenden und privilegierenden besonderen persönlichen Merkmalen beizubehalten (jetzt §28 Abs. 2 StGB). Diese aus dem Altbestand des StGB stammende Vorschrift paßt logisch nicht mit der im Jahre 1968 eingeführten Regelung zusammen, die jetzt in §28 Abs. 1 StGB steht. Denn wenn im Falle des Absatzes 2 nur Bestrafung wegen Beteiligung am Grundtatbestand möglich sein soll, dann ergibt sich als logische Konsequenz für strafbegründende besondere persönliche Merkmale, daß der Extraneus dort entgegen Absatz 1 überhaupt nicht bestraft werden dürfte. Will man ein derart sachwidriges Ergebnis vermeiden, so müßte auch für die Fälle des Absatzes 2 die Regelung lauten, daß der 28 Zur Ausgewogenheit von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten im dogmatischen System näher Hirsch, ZStW 94 (1982), 240 ff, 261 f, 266 ff, 271. 29 Vgl. BT-Drucks. V/4095, S.7f. 30 So Gallas, in: Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 177; Jescheck, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1979, Vor § 1 3 Rdn. 75; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 22. Aufl. 1985, Vor § 13 Rdn. 120; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 3.Aufl. 1985, § 1 6 Rdn.3; Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, 15.Aufl. 1985, S. 112; u. a.

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anstiftende oder unterstützende Extraneus wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum qualifizierten oder privilegierten Delikt zu bestrafen ist31. Der Gesetzgeber wird daher wohl nicht umhinkönnen, den Fehler des §28 StGB zu korrigieren31". Auch mehren sich die Zweifel, ob es sachlich richtig ist, den absolut untauglichen Versuch als strafbar anzusehen32. Es war daher verfrüht, in §23 Abs. 3 StGB die subjektive Versuchstheorie mittelbar festzuschreiben, indem dort selbst bei grobem Unverstand des Täters nur ein Absehen von Strafe oder eine Strafmilderung ermöglicht und damit vom Vorliegen eines strafbaren Versuchs ausgegangen wird. Unbefriedigend ist ferner die Ausbreitung der Kombination von besonders schweren Fällen mit Regelbeispielen. Man fragt sich, nach welchen sachlichen Gesichtspunkten der Gesetzgeber eigentlich den jetzt in § 12 Abs. 3 StGB ausdrücklich verankerten Unterschied zwischen ihnen und qualifizierenden Tatbestandsmerkmalen vornimmt. Besonders augenfällig wird diese Frage, wenn ohnehin die Strafrahmenuntergrenze unter der für Verbrechen bleibt und deshalb auch bei der Regelung als qualifiziertes Delikt weiterhin nur ein Vergehen vorliegen würde. Die Gesetzgebung läßt in diesem Bereich ein wissenschaftlich nachvollziehbares Konzept vermissen. Sehr umstritten war bereits während der Beratungen die durch §21 AE angeregte Neufassung der Vorschriften über die Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit. Der Gesetzgeber entschied sich für eine Erweiterung des Anwendungsbereichs, indem er als zusätzlichen Fall die „schwere andere seelische Abartigkeit" in die §§20 und 21 StGB aufnahm. Hierdurch sollten alle nicht somatisch begründbaren Störungen, wie Psychopathien, Neurosen und Triebanomalien, erfaßt werden. Er setzte sich damit über die Bedenken der Vertreter der sogenannten differenzierenden Lösung hinweg. Diese meinten, daß die seelische

31 Der im Schrifttum teilweise unternommene Versuch, die Widersprüchlichkeit dadurch auszuräumen, daß man den Absatz 2 als reine Strafzumessungsregelung behandelt (vgl. Wagner, Amtsverbrechen, 1975, S. 386; Cortes Rosa, ZStW 90 [1978], 413; Roxin, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1978, § 2 8 Rdn. 4 ff), ist wegen des auf eine Tatbestandslösung hindeutenden Wortlauts und einer sich mehr als 100 Jahre daran orientierenden Auslegung recht problematisch, zumal jene Umdeutung zu Lasten des jeweiligen Extraneus gehen würde und die Friktionen zwischen Absatz 1 und 2 auch auf der Strafzumessungsebene bestehen blieben. 3 , 1 Fehlerhaft war es auch, die besonderen persönlichen Merkmale in § 1 4 StGB zu definieren, da sie hier eine andere Bedeutung als in § 2 8 StGB haben; vgl. Lenckner (Fn. 30), § 1 4 Rdn. 8 m . w . N . 32 Vgl .Jakobs, ZStW 97 (1985), 763 f, und die Diskussion auf der Strafrechtslehrertagung 1985, vgl. den Tagungsbericht von Gropp, ZStW 97 (1985), 919 ff.

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Abartigkeit nur zur Schuldminderung führen könne". Sonst könnten sich viele Täter durch die völlige Exkulpationsmöglichkeit der strafrechtlichen Verantwortung gänzlich entziehen. Demgegenüber ging der Gesetzgeber davon aus, daß auch in Fällen der seelischen Abartigkeit eine völlige Schuldunfähigkeit möglich sei. In der Praxis ist der von den Gegnern der Neuregelung befürchtete Bruch der die Schuldunfähigkeit begrenzenden Dämme bisher ausgeblieben34. Die Anzahl der Fälle, in denen von den Gerichten Schuldunfähigkeit bejaht wird, hat sich seit der Reform nicht erhöht. Andererseits ist eine stetige Steigerung bei der Bejahung der verminderten Schuldfähigkeit zu beobachten. Sie ist von 1,25 % der erwachsenen Verurteilten vor der Reform auf jetzt 2,16 % jährlich gestiegen". Es wird vermutet, ohne daß darüber zuverlässige Angaben vorliegen, daß die Judikatur in Fällen schwerer seelischer Abartigkeit vermehrt verminderte Schuldfähigkeit annimmt. Der Sache nach scheint sich die Praxis daher im Sinne der differenzierenden Lösung zu entwickeln. Im übrigen ist weder unter Juristen noch unter Medizinern geklärt, wie der Begriff der schweren seelischen Abartigkeit zu umgrenzen ist. Die vom BGH 3 6 vertretene Differenzierung zwischen psychopathischen Charakterzügen und nicht vom Begriff erfaßten bloßen Charaktermängeln wird in der Psychiatrie als unbrauchbar abgelehnt37. Ein anderer juristischer Abgrenzungsvorschlag sieht vor, nur solchen Fällen seelischer Abartigkeit Bedeutung beizumessen, die entsprechend den übrigen Schuldunfähigkeitsmerkmalen Krankheitswert haben38. Sie sollen also in ihrer Schwere den „krankhaften seelischen Störungen" gleichwertig sein. Die Frage ist aber, bei Vorliegen welcher Voraussetzungen dies anzunehmen wäre. Bei alledem dürfte unter Juristen und Medizinern wohl wenigstens Einverständnis darüber bestehen, daß die Reform die Abgrenzungsprobleme der Schuldfähigkeit nicht beseitigt, sondern eher noch verschärft hat. Schließlich ist bei den dogmatischen Neuregelungen des Allgemeinen Teils noch zu registrieren, daß die gesetzliche Vertypung des bis dahin nur gewohnheitsrechtlich anerkannten rechtfertigenden Notstands ein 33 So noch §§24, 25 E 1 9 6 2 mit Begründung, S. 141 f; dagegen Hilde Kaufmann, JZ 1967, 140 ff. Zur Entstehungsgeschichte der jetzigen Regelung eingehend Lenckner, in: Göppinger/Witter (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie I, 1972, S. 109 ff. 34 Vgl. H.-L. Schreiber, NStZ 1981, 46; Rasch/Volbert, MSchrKrim. 1985, 137. 35 Rasch/Volbert (Fn.34), S.140. 36 Vgl. BGHSt. 14, 30; 23, 176, 190; B G H N J W 1982, 2009. 37 Näher H.-L. Schreiber, in: Jescheck (Hrsg.), Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, 1981, S. 80 ff. 3« So Lange, in: Leipziger Kommentar zum StGB, lO.Aufl. 1978, §§20/21 Rdn.48; Lenckner (Fn.30), § 2 0 Rdn.23.

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unerwartetes neues Problem heraufbeschworen hat: die Frage, ob der neue §34 StGB als Ermächtigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe dienen kann39. Indem die bisherige h. M. dies voreilig bejaht, setzt sie sich über die bestehenden öffentlichrechtlichen Einwände und die sich bereits in der Praxis abzeichnende Gefahr40 hinweg, daß man sich in Form des § 34 StGB eine Generalklausel zulegt, mit deren Hilfe man den Katalog der gesetzlichen Eingriffsbefugnisse nach Bedarf am Gesetzgeber vorbei ergänzt. In Wahrheit geht es bei den kritischen Fällen, nämlich lediglich solchen seltener Extremsituationen, um eine rein verfassungsrechtliche Problematik, die deshalb auch ausschließlich im Verfassungsrecht - und zwar eng umgrenzt - zu lösen und nicht einer „Jedermannsvorschrift" wie § 34 StGB zuzuordnen ist41. Die dies außer acht lassende tatsächliche Entwicklung läßt sich indes nicht als Argument dafür anführen, daß die gesetzliche Typisierung des rechtfertigenden Notstands besser unterblieben wäre. Vielmehr war es, nachdem der allgemeine rechtfertigende Notstand bereits seit Ende der zwanziger Jahre als übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund anerkannt und in vielfältiger Weise praktisch geworden war, an der Zeit, ihn ebenso wie die Notwehr im Gesetz zu vertypen. III. Wichtigste Punkte der Reform des Besonderen Teils 1. Der Reformgesetzgeber trat Ende der sechziger Jahre mit dem Ziel an, durch Reformen des Besonderen Teils die Strafbarkeit tatbestandlich einzuschränken, also mit dem Ziel tatbestandlicher Entkriminalisierung. a) Daß durch das 1969 ergangene l . S t r R G einige schon faktisch abgestorbene Strafbestimmungen, nämlich Ehebruch, Zweikampf und Sodomie, beseitigt und außerdem die Strafbarkeit der einfachen Homosexualität aufgehoben wurden, war eine überfällige Entrümpelung des StGB. Ihre Notwendigkeit steht nicht mehr zur Diskussion. Auch die Herunterstufung des schweren Diebstahls (§243 StGB) vom Verbrechen zu einem Vergehen war angesichts des weiten und teilweise willkürlich erscheinenden Anwendungsbereichs, den diese Vorschrift durch die Rspr. erlangt hatte, prinzipiell angezeigt. Sie wird heute ebenfalls allgemein gebilligt. Eine andere Frage ist freilich, ob die Entwicklung der schweren Eigentumsdelinquenz vielleicht weniger explosiv verlaufen wäre, wenn man den alten §243 StGB auf einen Bereich besonders gravierender Begehungsweisen eingegrenzt, diese aber weiter als Verbrechen eingestuft hätte. 39 40 41

Näher dazu Hirsch (Fn. 5), § 34 Rdn. 6 ff mit Nachw. zum Streitstand. Vgl. die Nachw. bei Hirsch (Fn. 5), § 34 Rdn. 8 u. 17. Hirsch (Fn. 5), §34 Rdn. 17.

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b) Im Unterschied zum l . S t r R G ist die Demonstrationsnovelle (3.StrRG 1970) weitgehend von der damaligen Tagespolitik bestimmt worden. Man wollte den Studentendemonstrationen, mit deren Zielen die linken Flügel der damaligen Regierungsparteien sympathisierten, nicht mit der Schärfe des bis dahin geltenden Rechts entgegentreten. Im Mittelpunkt stand die Einschränkung des Tatbestands des Landfriedensbruchs (§ 125 StGB). Dieser sah bis zur Reform die Strafbarkeit aller Personen vor, die sich bewußt in einer gewalttätigen Menschenmenge befinden, ohne daß sie selbst gewalttätig zu sein brauchen. An ihre Stelle trat die Beschränkung der Strafbarkeit auf denjenigen Personenkreis, der nachweislich an Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen als Täter oder Teilnehmer beteiligt ist. Diese Gesetzesänderung, die trotz Abratens der konsultierten Polizeifachleute erfolgte42, hat in der polizeilichen Praxis große Probleme, insbesondere körperliche Gefahren für die Polizeibeamten, heraufbeschworen. Die Diskussion ist darüber deshalb nie verstummt. In den daher nach dem Regierungswechsel von 1982 aufgenommenen Beratungen für eine erneute Reform zeigte sich jedoch alsbald, daß der liberale Koalitionspartner, der die Reform von 1970 mitgetragen hatte, nur zu geringfügigen Änderungen bereit war. Man war sich deshalb wohl auch darüber klar, daß das nach langem Hin und Her schließlich herausgekommene strafrechtliche „Vermummungsverbot" und der neue Tatbestand des Mitführens von Schutzwaffen43 an den in der Praxis entstandenen Problemen nur wenig ändern werden. Eine über die Tagespolitik hinausgehende Reform bildete dagegen wenigstens teilweise - die in der Demonstrationsnovelle enthaltene Neufassung der Strafbestimmung des Widerstands gegen die Staatsgewalt (§113 StGB). Hier hat man einer von der Wissenschaft seit langem erhobenen Forderung, dem Irrtum des Widerstandleistenden über die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung Relevanz zuzusprechen, Rechnung getragen. Andererseits wurde die Regelung so relativiert und verklausuliert, daß sie eine gedanklich klare Linie vermissen läßt. Darüber hinaus gerieten die Beratungen in ein ideologisches Fahrwasser, indem dort ernsthaft davon ausgegangen wurde, der Widerstand gegen Vollzugsbeamte sei ein privilegierter Fall der Nötigung und des Nötigungsversuchs. Auf diese Weise sind Friktionen entstanden, wenn der Widerstandleistende nicht mit Gewalt, sondern nur mit einem anderen empfindlichen

42 Siehe dazu die öffentliche Anhörung auf der 4. und 5. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Prot. 6, S. 29 ff. 43 Vgl. die Neufassung des § 1 2 5 Abs. 2 StGB durch das ÄndGStGB/VersG vom 18.7.1985, BGBl. I 1511.

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Übel droht. Um eine Reform der Reform des §113 StGB wird der Gesetzgeber auf die Dauer nicht herumkommen44. c) Eine Einschränkung der Strafbarkeit hatte weiterhin die 1973 erfolgte Reform des Sexualstrafrechts (4. StrRG) zum Ziel. Positiv war an ihr zum einen, daß sie die antiquiert wirkende Abschnittsüberschrift „Vergehen und Verbrechen wider die Sittlichkeit" durch die Formulierung „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" ersetzte und den verstaubten Begriff „Unzucht" beseitigte. Außerdem entsprach die Einschränkung insbesondere der Strafbestimmungen des Mißbrauchs von Abhängigen, der Prostitution und der Verbreitung pornographischer Schriften sowie das rigorose Zusammenstreichen des Kuppeleitatbestands dem die sexuelle „Selbstverwirklichung" betonenden Zeitgeist. Die anfangs nicht auf ungeteilten Beifall stoßende Reform dürfte heute zunächst einmal im wesentlichen akzeptiert sein - von Einzelpunkten abgesehen, wie etwa einem äußerst fragwürdigen Erzieherprivileg bei der Strafbestimmung der Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§180 Abs. 1 S.2 StGB). Die Reform des Sexualstrafrechts stellt im großen und ganzen eine Anpassung strafrechtlicher Vorschriften an die gewandelte gesellschaftliche Auffassung dar. Andererseits zeigt sich hier aber auch die Schnelligkeit, mit der sich solche Auffassungen wieder wandeln. Denn heute werden Teile der Liberalisierung des Sexualstrafrechts, etwa im Bereich der Pornographie, von der weiblichen Emanzipationsbewegung kritisiert. d) Ein dringend reformbedürftiger Bereich war die Abtreibungsstrafbarkeit. In großen Teilen des Bundesgebiets gab es nicht einmal eine gesetzliche Bestimmung für den medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch45, von anderen Indikationsfällen gar nicht zu reden. Auch entsprach die Klassifizierung der gewöhnlichen Fremdabtreibung als Verbrechen seit langem nicht mehr der sozialen Bewertung, so daß es nur folgerichtig war, daß bereits im 1. StrRG von 1969 eine Herabstufung zum Vergehen erfolgte. Zu einer heftigen weltanschaulichen Auseinandersetzung entwickelte sich jedoch die Beratung der eigentlichen Reform. Das 5. StrRG von 1974, das im Anschluß an den Mehrheitsvorschlag des Alternativkreises die Fristenlösung enthielt, wurde von der damaligen sozial-liberalen Koalition nur mit knapper Mehrheit im Parlament verabschiedet. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Fristenlösung zwar für verfassungswidrig46. Die von der damaligen Parlamentsmehrheit daraufhin 44 Näher zum Ganzen Hirsch, in: Klug-Festschrift II, 1983, S. 235 ff; teilweise anders Dreher, J R 1984, 401 ff. 45 Zur damaligen Gesetzeslage näher BGHSt. 2, 111 und 242. 46 BVerfGE 39, 1.

Bilanz der Strafrechtsreform

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beschlossene Indikationenlösung47 wurde jedoch durch die konturenlose allgemeine Notlagenindikation und die noch darüber hinausgehende Straffreiheit der Schwangeren stark verwässert. In der Praxis hat das dazu geführt, daß heute praktisch jede von der Schwangeren subjektiv empfundene Kollisionslage als Fall der Notlagenindikation behandelt wird48. Die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche wird auf jährlich 200 000 bis 300 000 geschätzt. In der Kriminalstatistik tauchen Fälle des noch strafbar verbliebenen Bereichs mit nur 24 Verurteilungen jährlich auf49. Bemerkenswert ist auch, daß das komplizierte Gebäude von Straftatbeständen, das für den Verstoß gegen Beratungspflichten eingeführt worden ist, in der Praxis keine Bedeutung erlangt hat. Die Neuregelung stößt nach wie vor auf Widerstand, insbesondere bei der katholischen Kirche, aber auch in Kreisen der Artzeschaft und in Teilen der Bevölkerung. Eine politische Mehrheit für eine erneute Änderung der Gesetzeslage ist jedoch nicht vorhanden. Sie existiert nicht einmal in bezug auf die Einhaltung der durch die geltende Indikationenregelung markierten Grenzen. Die Strafverfolgungsbehörden sind an diesem Bereich völlig uninteressiert. Wenn sie ihm Beachtung schenken würden, könnten sie dabei auch kaum auf Rückhalt in der Presse und bei den politisch verantwortlichen Organen rechnen. Die Rechtswirklichkeit besteht daher in einer verschleierten Fristenlösung. Faktisch ist deshalb kaum ein Unterschied zu den benachbarten Ländern festzustellen, in denen die Fristenlösung ausdrücklich gilt50. e) Das voluminöse EGStGB 1974, das gleichzeitig mit dem neuen Allgemeinen Teil am 1.1.1975 in Kraft trat, brachte außer der technischen Anpassung der Strafrahmen des Besonderen Teils an die Neuregelung des Allgemeinen Teils und der schon erwähnten Einführung des §153a StPO mehrere Neuformulierungen von Vorschriften des Besonderen Teils. Es ging dabei um Änderungen, bei denen der Gesetzgeber glaubte, daß sie unproblematisch seien und daher keiner öffentlichen Erörterung bedürften. Sie standen außerhalb des Blickfelds der auf die Strafrechtsreformgesetze fixierten Öffentlichkeit. Das um so mehr, weil der Entwurf des EGStGB 1974 nicht vorher publiziert wurde.

5. StrRG vom 18.6.1974, BGBl. I 1297. Siehe dazu den Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten §218 des Strafgesetzbuches, BT-Drucks. 8/3630, S. 81 ff. 49 Statistisches Jahrbuch 1985, S.343. 50 Zum Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich jüngst Koch, ZStW 97 (1985), 1043. Eine für das deutsche Recht sich jetzt stellende Frage ist, ob es nicht für die bereits selbständig lebensfähige Leibesfrucht einer qualifizierenden Strafdrohung bedarf; vgl. dazu Hirsch, JR 1985, 340 unter Hinweis auf „child destruction" im englischen Strafrecht. t. med. Georg Varrentrapp, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 39, 1895, S. 5 0 0 - 5 0 2 . Alexander Spiess, Zum Andenken an Dr. Georg Varrentrapp. Geh. Sanitätsrat und außerordentliches Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes. Nekrolog aus der Deutschen Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege, Braunschweig 1886, S . I - X I I . 12 Dr. med. Nikolaus Heinrich Julius, in: Albert Krebs/Nikolaus Heinrich Julius: „Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde" gehalten 1827 zu Berlin. Eine Studie, in: Albert Krebs, Hrsg. von Heinz Müller-Dietz, Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung, Berlin 1978, S. 123-136. 13 Prof. Dr. jur. Joseph Anton Mittermaier, in: Jürgen Friedrich Kammer, Das gefängniswissenschaftliche Werk C. A.J. Mittermaier, jur. Diss., Freiburg i. Br. 1971, S. 161 ff.

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Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts

Suringar (1790-1872), Präsident der Niederländischen Gefängnisgesellschaft; der Rechtslehrer Karl-Theodor Welcker (1790-1869), Mitglied der Abgeordnetenkammer Karlsruhe14. All diese Männer hatten bereits ihre Bewährungsprobe bei Aufgaben in dem Fachgebiet bestanden und waren zum Handeln für die Sache internationaler Gefängnisreform berufen. Nicht minder bedeutungsvoll waren die übrigen Teilnehmer an den Frankfurter Verhandlungen. Die 45 Deutschen und 32 Nichtdeutschen gehörten zu folgenden Berufsgruppen:15 Berufsgruppe Advokaten Ärzte Baumeister Gefängnisdirektoren Mitglieder von Gefängnisgesellschaften Geistliche Rechtslehrer Richter Ministerialbeamte

Deutsche 6 6 1 6 1 5 8 3 9

Nichtdeutsche

Insgesamt

3 2 1

9 6 3 7

5 4 3 6 8

6 9 11 9 17

-

An dem Kongreß in Brüssel 1847 nahmen 196 Poenologen teil. Sie stammten wiederum aus allen europäischen Kulturnationen und den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ihre berufliche Zusammensetzung entsprach in etwa der Zusammensetzung der Vertreter in Frankfurt am Main 184616. Zum Präsidenten der Versammlung von Frankfurt am Main wurde durch Akklamation Prof. Mittermaier und zum Sekretär Dr. Varrentrapp gewählt. Die zu Beginn der Verhandlungen erstatteten Lageberichte von Vertretern dreier deutscher Bundesstaaten: Preußen (Dr. N.H. Julius)-, Baden (E. v. Jagemann) und Nassau (Lindpaintner) und die dann folgenden aus Polen (Graf Skarbeck), Dänemark (David), Norwegen (Möinichen), Schweden (Netzel), Belgien (Ducpetiaux), Holland (Suringar), England (Russell), Frankreich (Ardit), Italien (Mittermaier), Nordamerika (Dwight), Genf (Ferrière) und Rußland (Procborow) ergaben ausreichenden Stoff zur Aussprache. Diese kreiste immer wieder um die Kernfrage: „Einzelhaft", ihre Gestaltung, ihre Vorteile und ihre Nachteile17. Bei den sich anschließenden Aussprachen traten in 14 Prof. Dr. jur. Karl Theodor Welcker, in: Heinz Müller-Dietz, Rechtslehrers und Politikers K.Th. Welcker, Freiburg i.Br. 1968. 15 Frankfurt a.M. 1846, S.8f. 16 Bruxelles 1847, p. 5. 17 Frankfurt a.M. 1846, S.16ff.

Das Leben des

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Albert Krebs

Frankfurt am Main zwei Außenseiter besonders ins Blickfeld der Versammlung. Es waren dies: der Sekretär der Bostoner Gefängnisgesellschaft, Rev. Louis Dwight (1793-1854), der in seinem Referat über das nordamerikanische Gefängniswesen zum Bedauern sämtlicher Teilnehmer nicht auf die Frage der beiden verschiedenen Vollzugsformen im Staate New York und im Staate Pennsylvanien einging. Die Teilnehmer hatten erwartet, daß Rev. Dwight als Vorkämpfer für das Prinzip der Gemeinschaftshaft in seinem Heimatland auch für das auburn'sche Prinzip eintreten würde. Er erwähnte es nur mit der Bemerkung: „das auburn'sche System beruht nicht auf Peitschenhieben, es ist diese Annahme ein großer Irrtum" 18 . Die Gründe für sein Schweigen ließen sich nicht ermitteln. Auf dem Kongreß in Brüssel 1847 berichtete über die nordamerikanischen Gefängnisse George Sumner aus Boston. Dabei stellte er sowohl das philadelphische als auch das auburn'sche System mit all' seinen Vor- und Nachteilen der Versammlung vor. Er endete mit dem Satze: „Die Überzeugung von der Unfehlbarkeit des auburn'schen Systems ist fast völlig verschwunden und das System der Trennung gewinnt täglich mehr Anhänger"". Der zweite Außenseiter auf dem Frankfurter Kongreß, der bereits erwähnte Obermaier, der ebenfalls seine Methoden und sein „System" nicht beschrieb, sondern nur gelegentlich sein Mißfallen an der Verhandlungsführung kundtat, verließ aus persönlichen Gründen die Tagung nach der dritten Sitzung20. Seine zwei Jahre nach der Frankfurter Versammlung veröffentlichte Stellungnahme: „Die Verhandlungen über die Gefängnisreform in Frankfurt am Main im September 1846 oder die Einzelhaft mit ihren Folgen" 21 verfehlten ihre Wirkung. - Zahlreiche Teilnehmer teilten in Frankfurt am Main zwar nicht seine Ansichten, respektierten aber seine integre Persönlichkeit und seine hervorragende Leistung im Strafvollzug an der Kaiserslauterer und Münchner Strafanstalt. Während Obermaier beharrlich schwieg, schilderten Besucher der von ihm geleiteten Anstalten ihre durchaus positiven Beobachtungen. Sie kennzeichneten seine Methode mit den Schilderungen zweier Begebenheiten. Einmal war bekannt geworden, daß ein Gefangener eine Meuterei anregen wollte. Obermaier ließ sämtliche Gefangene im Anstaltshof antreten, um sich und den Meuterer einen Kreis bilden, und wies diesen zurecht. - Der Gefangene „stand wie vernichtet da, und war Frankfurt a.M. 1846, S. 80. " Bruxelles 1847, p.49. 20 Frankfurt a.M. 1846, S. 126. 21 Georg Michael Obermaier, Die Verhandlungen über Gefängnisreform in Frankfurt am Main im September 1846 oder die Einzelhaft mit ihren Folgen, München 1848. 18

Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts

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von diesem Augenblick an gehorsam wie ein Kind und einer der ordentlichsten Gefangenen". Ein zweites, noch stärkeres Beispiel wurde ebenfalls gegeben. Gelegentlich eines Brandes in der Nachbarschaft der Strafanstalt München ließ Obermaier die Inhaftierten eine Wassereimerkette zur nächstgelegenen Wasserstelle bilden und ordnete an: „so, Kinder, löscht!". Die Gefangenen führten seine Weisung aus und kehrten danach in die Anstalt vollzählig zurück22. - Trotz dieses Achtungserfolges machte das System Obermaier nicht „Schule". Die Aussprachen nahmen auf beiden Kongressen einen breiten Raum ein und es herrschte unbegrenzte Redefreiheit. Die besonders interessierten Poenologen wiederholten die Argumente, die für die Einführung der Einzelhaft sprachen. Einwendungen wurden kaum erhoben. Bereits am Ende der zweiten Sitzung der Frankfurter Versammlung faßten die Teilnehmer folgenden Beschluß: „die Einzelhaft findet bei den Verurteilten im Allgemeinen ihre Anwendung mit all den Schärfungen und Milderungen, welche durch die Art der Vergehen und der Verurteilungen, durch die Individualität und Aufführung der Gefangenen bedingt sind, - so daß jeder Gefangene mit nützlicher Arbeit beschäftigt werde, jeden Tag in freier Luft sich Bewegung mache, religiösen, moralischen und Schulunterricht erhalte, am Gottesdienst teilnehme, Besuche des Geistlichen seines Glaubens, des Gefängnisvorstehers, des Arztes und der Mitglieder der Aufsichtskommissionen und Schutzvereine, erhalte, außer den anderen Besuchen, welche ihm durch die Hausordnung gewährt werden können". Aus einem Vermerk geht hervor, die Beschlüsse 1-3 und 5-8 sind teils einstimmig, teils fast einstimmig, Beschluß 4 mit großer Mehrheit angenommen worden23. Welche Gegenstimmen oder Stimmenthaltungen zum 2. Beschluß erfolgten, ließ sich nicht ermitteln. Die noch folgenden 6 Beschlüsse befaßten sich mit Einzelfragen zum Generalthema: Einzelhaft. Der 6. Beschluß warf besonders schwierige, architektonische Probleme auf24.

III. Die theoretischen Forderungen an die Durchführung der Einzelhaft im Anstaltsalltag bedingten eine Denkweise, die zum Teil zu völlig wirklichkeitsfremden Vorschlägen führte Der fast einstimmig gefaßte 6. Beschluß lautete: „Die Zellengefängnisse werden so erbaut werden, daß jeder Gefangene dem Gottesdienste seines Glaubens beiwohnen, den Geistlichen, welcher den Gottesdienst 22 25 24

Frankfurt a. M. 1846, S. 126 f. Frankfurt a.M. 1846, S. 112, 27. Frankfurt a. M. 1846, S. 271 f.

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verrichtet, sehen und hören und von ihm gesehen werden kann, alles jedoch, ohne dem Grundprinzip der Trennung der Gefangenen voneinander Eintrag zu tun". In der dem Beschluß vorangegangenen Aussprache, und trotz ernster Zweifel an einer befriedigenden Lösung, wurde die Entscheidung gefällt: das Prinzip der Einzelhaft müsse auch für die Teilnahme am Gottesdienst verbürgt bleiben25. Diese Forderung führte zwangsläufig zu wirklichkeitsfremden Denkweisen. Die „Ruhezeit" als architektonische Aufgabe im Sinne der Einzelhaft zu gestalten, war problemlos. Die Ausgestaltung der Schlafzellen, auch zu Arbeitszellen, schränkte freilich die Auswahl der Arbeit, und damit die Produktion von Wirtschaftsgütern ein. - Die Probleme mehrten sich bei der vorgesehenen täglichen Bewegung der Gefangenen in „frischer Luft" unter Beibehaltung der absoluten Trennung untereinander. Die Frage, wie sollte diese Trennung bei Unterricht und beim Gottesdienst unter den gestellten Bedingungen verwirklicht werden, barg kaum lösbare Probleme in sich. Ein Tagungsteilnehmer bemerkte nüchtern: „je mehr wir die Einzelheiten der Fragen behandeln, desto mehr Schwierigkeiten werden uns begegnen"26. Uber einige bei den Verhandlungen angedeuteten Lösungsversuche sei kurz berichtet. Dabei hat, wie bereits betont, der Historiker des Gefängniswesens ausschließlich die Aufgabe, die Ergebnisse seiner Forschungen darzulegen, Zusammenhänge aufzuweisen, nicht aber Werturteile zu fällen. Als Mittel zur Aufrechterhaltung absoluter Trennung beim Aufenthalt außerhalb der Einzelzelle sahen die Experten die „Gesichtsmaske" an. Diese Maske war eine Kopfbedeckung, die „vorne geschlossen und nur für die Augen zwei Öffnungen hatte"27. Wohl in Anknüpfung an diese Methode verwies der Kongreßteilnehmer Advokat von Baumhauer aus Utrecht auf die Schrift von von Froriep über die „Isolierung der Sinne" hin, in welcher künstliche Mittel angegeben werden, um alle Sinne „zu stopfen oder auszuschließen"28. Von Baumhauer führte dazu aus: „wir alle bezwecken nur ein System, ein sittliches, religiöses, unterrichtendes," . . . bei Trennung der Gefangenen untereinander anzuwenden, und „dass eigentlich eine Meinungsverschiedenheit nur in Frankfurt a.M. 1846, S.257. Frankfurt a.M. 1846, S.231. 27 Frankfurt a. M. 1846, S. 248. 28 D. Ludwig Friedrich von Froriep, Über die Isolierung der Sinne als Basis eines neuen Systems der Isolierung der Strafgefangenen. In der Königl. Pr. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt am 5. März 1846 vorgetragen von D. Ludwig Friedrich v. Froriep, des Ordens der K. Württembergischen Krone und des Großherzogl. S. Ordens des weißen Falkens Ritter, Großh. S. Obermedizinalrat zu Weimar und der K. Pr. Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Direktor (24 S.m.vier Tafeln) Weimar, Druck und Verlag des Landes-Industrie-Comptoirs, 1846. 25

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Betreff der Art und der Anwendung der Absonderung besteht. Einige bedienen sich des Stillschweigens, um die Gefangenen voneinander zu trennen, andere der Mauern. Der Unterschied liegt also nicht im System, sondern in der Methode. Die Ersten, um ihren Zweck zu erreichen, verboten dem Gefangenen zu sprechen, sie beraubten den Menschen seines edelsten Kleinods, der Sprache. Dem Gefangenen ward durch das Stillschweigen eine Strafe auferlegt, die der Folter von Tantalus ähnelt. Die Verteidiger des Schweigsystems wurden übrigens bald das Fehlerhafte ihres eigenen Systems gewahr, die Gefangenen verstanden sich und verkehrten schweigend miteinander durch Zeichen. Um das Schweigsystem (nichts anderes als Isolierung durch die Sinne) zum höchsten Grad der Vollkommenheit zu bringen, müßte man erst jede sinnliche Wahrnehmung, jede Mitteilung, mittelst der Sinne beseitigt haben. Daß eine konsequente Durchführung dieses Systems dazu führen müßte, beweist eine neulich erschienene Schrift des Herrn von Froriep, über die Isolierung der Sinne, in welcher in vollem Ernste künstliche Mittel angegeben werden, um alle Sinne zu stopfen oder abzuschließen. Ich brauche nicht auf das Unpraktische dieser Absperrungstheorie weiter hinzuweisen, man stelle sich nur die Stunden der Mahlzeit, des Gottesdienstes, des Unterrichts, jeden Augenblick des Tages vor, wo der Gebrauch des einen oder des anderen Sinnes unentbehrlich ist"29. Ohne zu den Ausführungen des Advokaten von Baumhauer oder des Herrn von Froriep Stellung zu nehmen, sei darauf hingewiesen, daß von Froriep bemerkt: er sei bemüht gewesen, „diese Ideen über Sinnisolierungen und deren Benutzung zur Isolierung von Strafgefangenen, an die Regierungen mehrerer größerer Staaten gelangen zu lassen, mit der Bitte, sie als Disziplinarstrafen einer Prüfung in Zucht- und Besserungshäuser unterwerfen zu lassen." Von Froriep fügte hinzu, er veröffentliche diesen Vortrag, „um durch ihn für meine Vorschläge öffentlich eine unparteiische praktische Prüfung zu erbitten"30. Ob und mit welchen Ergebnissen diese Prüfung erfolgte, war nicht zu ermitteln. - Im Verhandlungsbericht der ersten Versammlung für Gefängnisreform wird die Methode der Isolierung der Sinne als Mittel der Durchführung der Trennung bei Aufenthalten des Gefangenen außerhalb der Einzelzelle weder kommentiert, noch nochmals erwähnt. Die Suche nach praktischen Möglichkeiten der Aufrechterhaltung des Trennungsprinzips nach Verlassen der Zelle bewegte die Fachleute in dem infrage stehenden Zeitabschnitt in ungewöhnlichem Maße. Es wurde auch auf verschiedene Weise versucht, eine Lösung für die Trennung der Gefangenen bei Bewegungen an frischer Luft zu finden. 29 30

Frankfurt a.M. 1846, S.207. v. Froriep, (S. Anm.28), S.4.

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In dem ersten, nach dem Prinzip der Trennung erbauten Eastern Penitentiary in Philadelphia, erdachten die Architekten folgende Möglichkeit: Im Anschluß an jede Wohnzelle wurde, nur von ihr aus betretbar, ein von Mauern in Höhe der Zellenwände umgrenzter kleiner Spazierhof angebaut31. Eine andere Form von „Erholungshöfen" in den Zellengefängnissen mit streng durchgeführtem Isolierungssystem waren die im Freien liegenden radförmigen Räume, speichenartig voneinander getrennt, in der jeweils ein Gefangener sich zu ergehen hatte. Der Berichterstatter, ein Gegner dieses Prinzips, fährt fort, „trotzdem sich dieser Modus der Bewegung bei vollständiger Isolierung nur schwer durch einen anderen wird ersetzen lassen, so gibt er doch zu Bedenken Anlaß, daß der in einem engen Räume wie ein wildes Tier in dem Käfig einer Menagerie auf- und abwandelnde Gefangene seine Erholung nur in verkümmerter Weise genießen werde" 32 . Weitere Anforderungen an die Architekten stellten die Vollzugspraktiker; sie wünschten bauliche Einrichtungen, bei denen während des Unterrichts und während des Gottesdienstes das Prinzip der Trennung der Gefangenen gewahrt blieb. Die Aussprache hierüber in Frankfurt ward lebhaft und zum Teil leidenschaftlich geführt, sie fand einen Abschluß in dem bereits erwähnten 6. Beschluß. Besonders lebhaft setzten sich hierfür die französischen Teilnehmer ein, wobei der Generalinspektor Moreau-Christopbe mit brillanter Beredsamkeit die geistigen Grundlagen der architektonischen Lösungen aufzeigte und daraus Folgerungen für deren Gestaltung zog. Die erste Möglichkeit der Teilnahme am Gottesdienst, bei Wahrung der Trennung, wurde wiederum im Eastern Penitentiary in Philadelphia erprobt. Dort „wohnten die Sträflinge dem Gottesdienst und der Predigt bei, ohne ihre Zellen zu verlassen und zwar vermittelst der halbgeöffneten Türen und eines in der Mitte des Gefängnisses angebrachten Altars und einer Kanzel. Diese Art des Gottesdienstes war in jeder Hinsicht die einfachste, aber es fragt sich, ob sie auch in religiöser Beziehung die beste ist? Für die Quäker in Pennsylvanien mag sie genügen", meinte Moreau-Christophe, „für den katholischen Kultus ist sie unzureichend. Der Quäker trägt seinen Tempel in sich selbst, der Katholik dagegen, vielleicht weil er weniger religiös ist, legt Wert auf den Glanz äußerer Zeremonien. N u r durch Vermittlung der Sinne wird die Religion seinem 31 H.E. Barnes/N.K. Teeters, (s. Anm.7), p.403 m. Abb. Eastern State Penitentiary. The exercise yards, p. 404. 32 Prof. Kim, Sonstige Gefängnishygiene und die Krankenpflege, in: Franz v. Holtzendorff/Eugen v. Jagemann (Hrsg.), Handbuch des Gefängniswesens, Bd. II, Hamburg 1888, S. 197 f.

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Herzen zugänglich. Er verlangt den Gesang geistlicher Lieder, das Geläute der Glocken, er will das Spiel der Orgel hören, er braucht Kreuz, Weihrauch, Paniere"". Die zweite Form der Durchführung des Gottesdienstes im Sinne des 6. Beschlusses der Frankfurter Versammlung schien nach Moreau-Christophe mit der Einrichtung der Kapelle im Gefängnis Pentonville in London verwirklicht." Die Kapelle ist nämlich da, so wie das Gefängnisgebäude in Zellen abgeteilt . . . , für den Gottesdienst ist also ein besonderer Raum hergestellt"34. Der Holländer Suringar bekannte: „am vergangenen 2. August wohnte ich dem Gottesdienst in der Zellenkapelle in Pentonville bei. Die Erinnerung an diese feierliche und ergreifende Stunde wird mir ewig bleiben. Gegen 200 Gefangene saßen in den amphitheatralisch gebauten Stühlen. Sie konnten sich einander nicht sehen, aber alle sahen den Priester und wurden von ihm gesehen. Ich saß auf einer Bank in der Nähe der Kanzel und konnte also alles vollkommen beobachten . . . Nach dem Gottesdienste besuchte ich noch Einige in ihren Zellen und fand sie in andächtiger Stimmung . . . Wenn sie aus der Kirche herauskommen, setzt jeder eine Kopfbedeckung auf, die vorne geschlossen ist und nur für die Augen zwei Offnungen hat. Ich hatte anfangs einen gewissen Widerwillen gegen die Mütze und gegen die Kapelle selbst, aber derselbe verschwand, als ich die Sache von nahem betrachtete und sah, wie einfach es war. Eine solche Kapelle sollte in jedem Gefängnis sein und zwar mit allen Verbesserungen, welche die Fortschritte der Baukunst lehrt" 35 . Noch eine dritte Form zur Teilnahme am Gottesdienst bei beständiger Trennung der Gefangenen untereinander beschrieb wiederum MoreauChristophe unter bezug auf den anwesenden Konstrukteur, den Architekten Haron-Romain. „Stellen Sie sich, meine Herren, einen kolossalen Bienenkorb vor, von der Form eines Kegels oder einer hohlen, runden Pyramide. An seiner inneren Wand sind 450 Zellen angebracht, welche rund um in fünf Reihen von je 90 Zellen in Art von Bienenzellenreihen übereinanderliegen. Diese fünf Zellenreihen sind von fünf kreisförmigen Baikonen begleitet und das ganze Gebäude durch eine enorme gläserne Kuppel bedeckt. In der Mitte des durch den freien, mittleren Raum gebildeten großen runden Hofes erhebt sich ein hoher Aussichtsturm. Auf diesem steht der Altar, welcher von oben durch den gläsernen Dom erleuchtet ist, unter demselben eine Orgel, deren feierliche Töne bis in die Zelle jedes einzelnen Sträflings widerhallen. In der Höhe der zweiten Zellenreihe sind vier Kanzeln an dem Turm angebracht, von denen aus 33 34 35

Frankfurt a.M. 1846, S.238. Frankfurt a.M. 1846, S.254. Frankfurt a.M. 1846, S.248.

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jedesmal von einem Vierteil der in vier Abteilungen geschiedenen Gefangenen die Predigt und der Unterricht gehört werden kann" 36 . Im Laufe der Aussprache wurden gegen die „Zellenkirche", das heißt gegen die getrennten Sitze (stalls) und gegen die „Bienenkorbkirche", Bedenken geäußert. Ganz allgemein wurde gefordert, eine Kirche müsse durchaus nur als Kirche bestimmt sein. - Die in Deutschland im Laufe der Entwicklung im XIX. Jahrhundert erbauten Vollzugsanstalten wurden sämtlich mit einem von den übrigen Räumen abgetrennten Kirchenraum ausgestattet. Bis Ende 1918 wurde vielfach bei Vollzug der Einzelhaft auch die Einrichtung der „stalls" beibehalten 37 . Neben diesen architektonischen Problemen wurde eine weitere Anregung erwähnt, die ebenfalls das System der Einzelhaft unter allen Umständen beibehalten wollte, aber ihre Härte zu mildern versuchte. Prof. Hefter, Geheimer Obertribunalrat, Berlin, warf die Frage auf, „wo ist denn die schlechte Gesellschaft, in welche der Gefangene gebracht werden soll? Man kann ihn in g u t e Geselschaft bringen, und es ist Sache der Verwaltung dafür zu sorgen" 38 . Hefter erinnerte damit an das Grundprinzip; Einzelhaft nicht um der Einzelhaft willen, sondern um der Trennung von schädlichen Einflüssen, ausgehend von der Gemeinschaft der Gefangenen. Das schwierige Thema wurde von dem Belgier Ducpetianx aufgegriffen: „nichts würde hindern, von Zeit zu Zeit diejenigen Gefangenen, welche sich am besten betragen und unverwerfliche Beweise ihrer Besserung gegeben haben, in die Gesellschaft der Angestellten des Gefängnisses zuzulassen. Man könnte sie auf Abende abwechselnd zum Vorsteher, zu dessen Gehilfen, zum Geistlichen, zum Lehrer und zum Arzt einladen. Durch diese Herablassung würde man sie in ihren eigenen Augen heben und teilweise ihre Rückkehr in die Gesellschaft vorbereiten" 39 . Diese Frage, die eine Fülle von Problemen in sich barg, gehörte mit zu dem Themenbereich der Anstaltsbesucher, der Aufsichtskommissionen, der Schutzgesellschaften und der Gefängnisvereine, das heißt, der Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte am staatlichen Strafvollzug. Mit den Vokabeln „schlechten" und „guten" Gefangenen mit „nichtswürdigen Subjekten" wird, wie bereits erwähnt, das Thema berührt, das Präsident Mittermaier in seiner Begrüßungsansprache bei Eröffnung der Versammlung 1846 kurz umschrieben hatte. Nach einem Hinweis auf die Fortschritte der Naturwissenschaften und auf den Forscher Liebig, der Frankfurt a.M. 1846, S.239. Karl Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde unter Berücksichtigung der Kriminalstatistik und Kriminalpolitik, Stuttgart 1889, S.250. „stalls" s. „Kirche der Königlichen Strafanstalt Moabit" Tafel 7. 38 Frankfurt a.M. 1846, S. 195. 35 Frankfurt a.M. 1846, S.205. 36

37

Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des XIX. Jahrhunderts

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„eine solche geistige Revolution hervorgebracht habe", fuhr Mittermaier fort: „Was brauchen wir denn? Wir müssen den Ärzten folgen, wenn etwas Tüchtiges aus uns werden soll, müssen wir vor Allem die Natur der Kranken, die Natur des Verbrechers studieren. Das war nun bisher gleich fertig, man dachte sich ein paar Beispiele, nannte den Titel des Verbrechens und sagte, mit welcher Strafe es belegt wird. Wir müssen erst, wie die Arzte, die Krankheit und dann aber auch die Natur der Heilmittel aufsuchen. Hier haben die neueren Arzte etwas Großes durch ihre Zergliederung getan und sind zu ungeheueren Umgestaltungen gekommen. Wir haben noch lange nicht die Natur der Heilmittel, die wir anwenden wollen, studiert". Mittermaier wünscht eine Beratung über die „Ursache, über die Natur eines Verbrechens, über die Natur des Menschen" und er wünscht „über die Natur der Heilmittel Erfahrungen zu sammeln, um dann eine Analyse" dazu anstellen zu können40. Haben damals die Poenologen die von Mittermaier aufgezeigten Probleme wirklich erkannt? Bei der Lektüre der beiden Kongreßberichte wird der fachlich interessierte Leser in eine Atmosphäre des Aufbruchs versetzt, die zugleich die Verantwortung für die Gesellschaft und für das Geschick des Straffälligen spüren läßt. Die in den Berichten und Aussprachen geäußerten Denkweisen nehmen stets Bezug auf den Menschen im Freiheitsentzug mit seinen Besonderheiten, und zwar sowohl auf den dem Strafvollzug Unterworfenen als auch auf den im Strafvollzug im staatlichen oder gesellschaftlichen Auftrag Tätigen41. IV. Einige Denkweisen über die Auswirkungen der Einzelhaft in bezug auf die Gefangenen und die Bediensteten in den Strafanstalten In dem Programm für die Verhandlungen über Poenitentiarreform in Frankfurt 1846 wurde das Thema: „Ist die getrennte Haft auch auf die Weiber, Kinder und die angeklagten oder verurteilten Militärgefangenen" anzuwenden und in welchem Maße und mit welchen Milderungen zur Aussprache gestellt. Weiter waren Verhandlungen über Schutzvereine und Rettungsanstalten für jugendliche Gefangene vorgesehen42. Während der Frankfurter Versammlung wurde das Thema jugendliche Gefangene aufgegriffen und beschlossen, die Verhandlungen zu diesem Thema bis zum nächsten Jahre auszusetzen. „Ich bin der Ansicht, daß die Frage in Betreff der unerwachsenen Missetäter, deren Besserung, die Quellen vieler Verbrechen und der Uberfüllung unserer Strafhäuser

40 41 42

Frankfurt a.M. 1846, S. 19. Frankfurt a.M. 1846, S. 123. Frankfurt a.M. 1846, S. 7.

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verstopfen würde, wie sie jetzt in allen Ländern stattfindet, zu wichtig ist, um bereits in der gegenwärtigen Versammlung erwogen zu werden. Es wäre besser, sie bis zu der Versammlung des nächsten Jahres aufzusparen und unterdessen alles auf diese Frage Bezügliche zu sammeln, um sie gehörig zu erörtern. Denn diese Fragen, welche die Lasteranfänge berühren, sind nicht nur die wichtigsten, sondern auch die hoffnungsreichsten". Dies äußerte Dr. Julius, der „deutsche Howard". Und so geschah es43. Die in Brüssel hierüber geführte Aussprache war leidenschaftlich. Auch die Probleme der Pariser „gamins", der „petits vauriens" wurden aufgezeigt, stellvertretend zur Kennzeichnung der Notlage in den europäischen Großstädten 4 4 . Auf die Leistungen Johann Hinrich Wicherns im Rauhen Hause bei Hamburg und auf die von de Metz in Mettray bei der Behandlung so gefährdeter und geschädigter junger Menschen wurde hingewiesen. Das „Familienprinzip", das Wichern im Rauhen Hause bei Hamburg anwendete, fand besondere Würdigung, und es wurde alles vermieden, was das Rauhe Haus und Mettray als Zwangserziehungsanstalten erscheinen lassen konnte 45 . Die „Familie" galt dort als der natürliche sittliche Kreis, in welchem das Gute in das menschliche Gemüt hineingelegt, in welchem es gepflegt und geschützt werden soll. Dieses Prinzip sollte die Grundlage aller Rettungsanstalten, auch der landwirtschaftlichen Kolonien für Minderjährige werden. In Brüssel wurde folgende erste Resolution gefaßt: Des maisons spéciales d'éducation correctionelle seront affectées aux jeunes condamnés. Le régime auquel seront soumis les détenus dans ces maisons sera combiné avec le système de l'emprisonnement individuel appliqué dans les conditions les moins rigoureuses, avec le placement des enfants dans les colonies agricoles ou leur mise en apprentissage chez des cultivateurs, des artisans ou des industriels, et l'intervention des sociétés de patronage" 46 . Das Thema: die Behandlung der weiblichen Gefangenen wurde in Frankfurt überhaupt nicht, in Brüssel nur kurz erörtert, und dabei auch zu klären versucht, welche Stellung Elizabeth Fry, „the Newgate Angel" (1780-1845) zur Einzelhaft einnahm. Der Sekretär der niederländischen Gefängnisgesellschaft Mollet, der bereits am Frankfurter Kongreß teilgenommen, und dort gegen das auburn'sche und gegen das genfer System, für das System der völligen Trennung, gesprochen hatte, berichtete in Brüssel über sein Gespräch mit Elizabeth Fry kurz vor deren Tod. Frau Fry habe beklagt: „die langdauernde Einsamkeit (solitude) mache die ihr 43

Frankfurt a . M . 1846, S . 2 6 5 .

44

Bruxelles 1847, p. 6 5 - 6 7 , 78.

45

Bruxelles 1847, p. 8 5 - 8 7 . Bruxelles 1847, p. 180.

46

Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts

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Unterworfenen krank". Er habe dazu geäußert: „die Einsamkeit sei keine absolute, da der Gefangene täglich Besuche empfangen könne". Abschließend habe Frau Fry erklärt: „eile approuverait de tout son cœur le sytème, persuadée qu'il est impossible, dans le régime de la communauté, qu'aucun prisonier se transforme jamais complètement" 47 . Die nicht erfolgte Aussprache über Behandlung von Frauen „in der Einzelhaft" ist mit der Auffassung zu erklären: die aufgestellten Prinzipien und die angestellten Denkweisen sollten für beide Geschlechter gelten. In diesem Zusammenhang ist weiter festzuhalten, daß an den Verhandlungen in Frankfurt am Main keine, an denen in Brüssel eine Frau teilnahm. Zu dem 1846 öffentlich bekanntgegebenen Programm gehörte nicht die Behandlung der Haftart für „politische Gefangene." Erst im Laufe der Verhandlungen kam darauf die Rede. Wortführer in dieser Aussprache war zunächst der belgische Generalinspektor Ducpetiaux, der bekannte: „ich selbst habe vor einigen Jahren als politischer Gefangener die Härte des Gefängnisses erfahren. Man hat mich der Folter der Zelle und der absoluten Vereinzelung unterworfen, und ich bediene mich des Wortes Folter mit Absicht. Die Folter bestand für mich in der Trennung von meinen Mitgefangenen, die mit mir für die nationale Sache gestritten hatten. Man hat mich bedroht . . . , mich in die gemeinschaftlichen Säle der gewöhnlichen Verbrecher zu bringen, und diese Drohung ist mir entsetzlicher gewesen, als selbst die absolute Vereinsamung" 48 . - Eine weitere Erfahrung aus der Zeit der Julirevolution in Frankreich im Jahre 1830 brachte Moreau-Christophe, der frühere Generalinspektor der Gefängnisse des Seine-Departements, in die Aussprache ein. „Oft waren (damals) die Gefängnisse überfüllt mit Carlisten, Buonopartisten, Republikanern, oft war es der einzige Punkt, wo die Parteien, welche früher gar keine Berührung miteinander gehabt hatten, sich fanden, sich verständigten und sich die Hand reichten zu gemeinsamen Unternehmungen"49. Damit standen sich in Frankfurt zwei Auffassungen gegenüber. Die eine wünschte Einzelhaft auch für politische Gefangene, die andere eine Ausnahmebestimmung für diese Gruppe. - „Wir haben den großen Grundsatz der Einzelhaft festgestellt, wir haben ihn angenommen mit allen Milderungen, die für nötig beachtet werden können, dies muß uns genügen, darauf müssen wir uns beschränken" 50 . Dieser mehrheitlich vertretenen Auffassung fügte sich die Minderheit. Solche Kompromisse sind kennzeichnend für die gesamte Haltung der Teilnehmer an beiden Kongressen. 47 48 49 50

Bruxelles 1847, Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. Bruxelles 1847,

p. 90. 1846, S. 222.229. 1846, S. 224. p. S. 231 f.

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Die von den Teilnehmern an den Kongressen in Frankfurt und Brüssel zum Teil selbst miterlebte und geförderte Entwicklung des Prinzips der Einzelhaft, das seinen Ausgang vom Quäkerstaate Pennsylvanien genommen hatte, läßt dessen christlichen Hintergrund schon in der Vokabel „Zelle" erkennen 51 . Mit daraus ist die Bedeutung der Stellung des Strafanstaltsgeistlichen und auch die Anteilnahme der Kongreßteilnehmer bei Erörterung der architektonischen Probleme hinsichtlich der Gestaltung der Räume für den Gottesdienst verständlich52. Gelegentlich der Brüsseler Tagung bei Behandlung der Personalfragen wurde das Werk der „régénération morale" betont und in diesem Zusammenhang die Mitwirkung von „agents moraux" gefordert. Gegen die Stimmen von zwei Teilnehmern beschloß die Brüsseler Versammlung folgende dritte Resolution: „Ii est indispensable que le service intérieur des prisons cellulaires soit réparti entre deux espèces d'agents: les agents moraux et les agents matériels. Il est utile que les agents moraux soient formés à cette mission par un noviciat qui leur donne les conditions désirables d'instruction et de dévouement à l'œuvre. A cet effet l'État pourra appeler à concourir à l'œuvre de la réforme morale des prisonniers, les associations religieuses et les sociétés de patronage qui s'organiseront dans ce but. Pour tous les besoins ordinaires de la vie, le service des cellules doit se faire par les agents matériels dûment contrôlés; les communications morales et religieuses des condamnés auront lieu régulièrement avec les agents moraux chargés d'exercer, en même temps, une surveillance douce et persuasive sur les détenus. Les moyens de correction jugés nécessaires ne seront jamais employés que par les agents matériels. Le directeur de la maison doit avoir le même pouvoir sur tous les agents. La surveillance spéciale des femmes détenues doit être en tous cas confiée à des personnes de leur sexe"53 Diese Differenzierung in „agents moraux" und „agents matériels" bedeutete keine Sensation bringende Feststellung. Folgerichtig schlössen sich diesen Denkweisen die Überlegungen über die Mitwirkung kirchlicher Vertreter und weitergehender, die der religiösen Orden an. - Der Erzbischof von Mainz, Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteier 51 H. E. Barnes, (s. Anm. 1), p. 84, 125, 129. - Gustav Radbruch, Die Einzelhaft kann ihre religiöse, gleichviel ob quäkerische oder katholische Konzeption nicht verleugnen, auch ihrer säkularisierten Gestalt innewohnt immer noch ein verborgenes Depot religiöser Heilskräfte, in: Die Psychologie der Gefangenschaft. (Erste Veröffentlichung, in: ZStGW.1911 (32) S. 339/354. - Abgedruckt in: ZStrVollz. 1952 (3) S. 143). 52 S. Kap. III. vorliegender Abhandlung. 55 Bruxelles 1847, p. 185.

Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des XIX. Jahrhunderts

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(1811-1877), dachte dieses Problem zuende und wünschte im Jahre 1858 die Trennung der hessischen Strafanstalten nach Konfessionen und die Ubergabe der katholischen Strafanstalten an geistliche Korporationen. Vorangegangen waren die Forderungen des evangelischen Theologen und Gründers des Rauhen Hauses bei Hamburg, Johann Hinrich Wichern (1808-1881), die dort ausgebildeten Mitarbeiter sollten in preußischen Gefängnissen als Bedienstete tätig werden. - Die Pläne von Wichern zerschlugen sich nach einem mißlungenen Versuch der Beschäftigung seiner Mitarbeiter in der preußischen Strafanstalt Moabit54. - Die Wünsche Kettelers wurden von der Großherzoglichen hessischen Regierung nicht erfüllt55. Auf die Bedeutung der Mitwirkung von Vertretern der Gesellschaft, also nichtbeamteten Kräften, bei Überwachung des Freiheitsentzugs, unabhängig von der jeweiligen Konfessionszugehörigkeit in „Aufsichtskommissionen" verwiesen die liberalen Vertreter einer zeitgemäßen Gefängnisreform. So forderte der Präsident Mittermaier 1846 in Frankfurt am Main in seiner Schlußansprache an die erste internationale Versammlung als Krönung aller Bemühungen die Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte bei Erfüllung der Vollzugsaufgaben. „Ich habe noch einen Wunsch. Nichts ist es mit allen unseren Beschlüssen, wenn nicht eines geschieht. Wir müssen eine Masse tüchtiger Bürger haben, welche als Glieder des Aufsichtsrates kontrollierend wirken, damit wahres Vertrauen entstehen, damit nicht etwa eine einseitige Laune oder vorgefaßte Meinung des Direktors eine Härte übt. Wenn es dahin kommt, daß die edelsten Bürger Mitglieder solcher Aufsichtsräte werden, - und der Geist, der bei Gott im Deutschen lebt, der Geist der Gemütlichkeit spricht dafür, daß Männer sich finden, die kein Opfer scheuen, - dann wird es besser werden. Die Zeit ist ernst und wird immer ernster, der Opfer werden viele gefordert werden"56. Die Verhandlungen in Brüssel 1847 lassen erkennen, daß die Themenstellung sich nach der Frankfurter Versammlung 1846 erweiterte. Im Sinne der Ausführungen Mittermaiers über „das Studium der Natur des Verbrechers" sah das Tagungsprogramm für 1847 als letztes Verhand54

Max Busch, Der Erzieher bei Johann Hinrich Wichern. Eine Untersuchung zum Berufsbild des Erziehers, phil. Diss. Frankfurt a. M. 1954, S. 135 ff. Hermann Kriegsmann, (s. Anm. 8), S. 74. 55 Ernst Emil Hoffmann, Das Gefängniswesen in Hessen. Seine geschichtliche Entwicklung und jetzige Lage, iur. Diss., Gießen 1900, in: Blätter für Gefängniskunde, Bd. 33, 1900, Sonderheft, S.26. 56 Frankfurt a.M. 1846, S.276. - Albert Krebs, Der „Anstaltsbeirat" (§§162 bis 165 StVollzG). Eine sozialgeschichtliche Studie über das Mitwirken gesellschaftlicher Kräfte bei dem staatlichen Vollzug der Freiheitsstrafe, in: E. W. Hanack /P. Rieß/ G. "Wendisch (Hrsg.), Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75.Geburtstag am 12.Juni 1982, Berlin/ New York 1982, S.707f.

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lungsthema die Behandlung der Frage vor: „Quelles sont les causes principales de la criminalité et de l'augmentation du nombre des offenses et des récidives? A quels remèdes convient-il de recourir pour prévenir celles-ci, ou, du moins, pour en diminuer le nombre57? V. Zur Weiterentwicklung der Probleme des Freiheitsentzuges Die Voraussage Mittermaiers bei seiner Frankfurter Schlußansprache: „die Zeit ist ernst und wird immer ernster, der Opfer werden viele gefordert werden" erwies sich als richtig. Vor allem bedingt durch die deutsche Revolution 1848/49 konnte die auf der Brüsseler Tagung für 1848 vorgesehene dritte Zusammenkunft der Poenologen erst 10 Jahre später zur Fortsetzung der Erörterung über „Einzelhaft" und andere Haftfragen einberufen werden58. Die Berichterstattung über die Beratungen der dritten Sektion „Congrès international de bienfaisance de Francfort-sur-le-Mein. Session de 1857" über „réforme pénitentiaire" läßt schon in der Bezeichnung des Kongresses den Wandel seiner Zielsetzung gegenüber den beiden vorangegangenen Versammlungen in Frankfurt am Main 1846 und Brüssel 1847 erkennen. - Eine Berichterstattung über seinen Verlauf und vor allem seine Bedeutung, der Denkweisen zum Problem der Einzelhaft und anderen Fragen des Freiheitsentzuges würden den Rahmen der vorliegenden Abhandlung sprengen. Eine besondere Studie hierüber wird zu gegebener Zeit vorgelegt59.

Bruxelles 1847, p. 16. Congrès international de bienfaisance de Francfort-sur-le-Mein. Session de 1857. Tome I. Francfort-s. M., Bruxelles, Gand, Leipzig 1858. 59 Die Studie: Albert Krebs, Die Verhandlungen der ersten internationalen Versammlung für Gefängnisreform, zusammengetreten September 1846 in Frankfurt am Main, erschien - nach Fertigstellung der vorliegenden Studie - in: Festschrift für Günter Blau zum 70. Geburtstag am 18. Dezember 1985, Hrsg. von H.-D. S c h w i n d / U . B e r g / R . D . Herzberg/G. Geilen/G.Warda. Berlin/New York 1985, S.629-650. 57 58

Die Bestimmune der Tatschuld und Bemessung der Strafe nach der vom Täter entwickelten „kriminellen Energie" Ein Beitrag zur Entfernung pseudo-kriminologischer Begrifflichkeit aus dem Strafrecht MICHAEL WALTER

I.

Mit dem Verhältnis der Kriminologie zum Strafrecht hat sich Hilde Kaufmann wiederholt beschäftigt. Diesem Thema widmete sie insbesondere ihre vielbeachtete Bonner Antrittsvorlesung1, bei der sie folgende Position bezog: Gemeinsamer Ausgangspunkt für Kriminologie und Strafrecht sei der verantwortlich handelnde Mensch. Kriminologische Forschung untersuche Anlagen und Umwelt des Täters, mithin die verschiedenen kriminogenen Faktoren. Doch erhebe sie nicht den Anspruch, damit schon alle Bedingungen einer Tat zu erfassen. Vielmehr werde die grundsätzliche Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln, von der das Strafrecht ausgehe, seitens der Kriminologie anerkannt. Die kriminologische Behandlungsforschung ziele gerade darauf ab, die Fähigkeit zur verantwortlichen Selbstbestimmung zu entwickeln und zu festigen. Diese Sicht dürfte zwar das inzwischen wesentlich weitere Spektrum kriminologischer Forschung, zu dem Konstitutions- und Kontrollprozesse von Kriminalität ebenso hinzugehören wie viktimologische Aspekte, nicht mehr vollständig wiedergeben. Im Hinblick auf die Grenzziehung zum Strafrecht erscheint die Position Hilde Kaufmanns indessen unverändert gültig: Während die Annahme individueller Verantwortlichkeit für ein Strafrecht eine notwendige Voraussetzung darstellt, vermag kriminologische Forschung sie zu relativieren, ohne deswegen jedoch im Ausgangspunkt abzuweichen. Die Grenzlinie beider 1 Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? in: J Z 1962, S. 193 f; zur Vor- und Nachgeschichte dieser Fragestellung vgl. Neumann u. Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 1. Offenbar verleitet die Attraktivität, die dieser provozierenden Formulierung eigen ist, zu immer neuen, wenn auch thematisch abweichenden Varianten, s. Schüler-Springorum: Was läßt der Strafvollzug für Gefühle übrig?, in: Festschrift für Blau, 1985, S.359f.

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Wissenschaften liegt weder im Ausgangspunkt noch im Forschungsgegenstand, sondern in den Erkenntnisinteressen und Methoden. Wenn die anschließenden Ausführungen Probleme der Bestimmung individueller Verantwortlichkeit aufgreifen, markiert den Scheidepunkt der Begriff der Tatschuld, der unmißverständlich das strafrechtliche Verarbeitungsinteresse anzeigt. Kriminologische Theorie kann sich auf entsprechende Begriffe nicht einlassen, sie nur „respektieren" 2 . Kriminologische Befunde erweisen höchstens einzelne empirische Grundannahmen, auf die das Strafrecht als sozialgestaltendes Recht zurückgreift, als unhaltbar. Da Theorien und Begriffe von wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen und Methoden abhängen und diese, wie gesagt, bei strafrechtlichen und kriminologischen Fragestellungen verschieden sind, müssen Begriffe, die einerseits in straf(maß)begründenden Kontexten verwendet werden, aber andererseits in einem kriminologischen Gewände einherkommen, einen gewissen Argwohn hervorrufen. Der folgende Beitrag befaßt sich mit einem solchen Grenzgänger, dem Begriff der kriminellen Energie. Der Text schließt an eine frühere Arbeit an3 und geht der Frage nach, ob der Begriff der kriminellen Energie innerhalb der strafrechtlichen Dogmatik und dort zur Bestimmung der Tatschuld und Bemessung der Strafe eine legitime Funktion erfüllt. Anknüpfend an Hilde Kaufmanns Koexistenzthese versucht der Beitrag, eine schon traditionelle Vermengung von Kriminologie und Strafrecht durch eine Rückbesinnung auf die strafrechtliche Eigenbegrifflichkeit aufzuheben sowie das Gefahrenpotential dieses Mischbegriffs der kriminellen Energie aufzuzeigen.

II. 1. Wie eine Musterung des Schrifttums deutlich macht4, spielt bisher der Begriff der kriminellen Energie im Rahmen von Tatschulderwägungen eine ganz erhebliche Rolle. Mit dem Hinweis auf unterschiedliche Ausmaße krimineller Energie hat zunächst das Bundesverfassungsgericht zwei problematische Regelungen des materiellen Strafrechts für verfassungskonform erklärt, nämlich die generelle Heraufsetzung der Mindeststrafe auf 6 Monate bei einem Rückfall gemäß § 48 Abs. 1 StGB 5 2 Vgl. Hilde Kaufmann, (Fn. 1), S. 196, die insoweit allerdings noch weitergehend eine „Harmonie" zwischen Strafrecht und Kriminologie behauptet. 3 Läßt sich der Handlungsunwert an der aufgewendeten „kriminellen Energie" ermessen?, GA 1985, S. 197 f. 4 Herrn Assessor H. Geiter danke ich auch an dieser Stelle für umfangreiche Zuarbeit und kritisch-anregende Gespräche. 5 S. BVerfGE 50, S. 125 f (134).

Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie"

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sowie die Regelung der §§211, 21 StGB, die die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe auch im Falle erheblich verminderter Schuldfähigkeit zuläßt6. Die betreffenden Argumentationen spiegeln zwar in allererster Linie den strafrechtswissenschaftlichen Stand, doch ist weder die indirekt erteilte verfassungsrechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung zu leugnen noch der darüber hinausweisende Umstand, daß gerade der Gesichtspunkt der kriminellen Energie auserkoren wurde, die Verfassungsmäßigkeit zu stützen. 2. Betrachtet man die Formulierungen des positiven Rechts, fällt sogleich §46 Abs. 2 StGB ins Auge, der für die Strafbemessung unter anderem den bei der Tat „aufgewendeten Willen" als beachtenswert (genau: als „namentlich in Betracht kommend") bezeichnet. Die gängigen Kommentierungen zu dieser Bestimmung verweisen auf die Bedeutung der Nachhaltigkeit des Willens für die Ermittlung der kriminellen Energie7. Stree spricht von einem „neuen Kriterium für die Strafzumessung" 8 , doch war dieser Aspekt auch bereits vor Schaffung des § 46 StGB und des früheren § 13 StGB rechtlich anerkannt'. Hier erreicht der Begriff die wohl größte Nähe zum inzwischen geschriebenen Recht. Allerdings handelt es sich, wenn man der Kommentierung folgt, nicht um eine abschließende Verortung der kriminellen Energie im allgemeinen Strafzumessungsrecht, denn mit dem fraglichen Terminus wird ebenfalls zur Erläuterung anderer in §46 Abs. 2 StGB aufgeführter Gesichtspunkte gearbeitet10. In Beiträgen, die sich der schwierigen Aufgabe stellen, die praktizierten Grundsätze der Strafbemessung der Fachwelt näherzubringen, ist kriminelle Energie ein wiederkehrender Merkposten von anhaltender Aktualität". Aufschlußreich erscheinen daneben Detailanalysen, die zugleich etwas über die quantitative Verbreitung entsprechender Argumentationsfiguren aussagen. So ermittelte eine Untersuchung über die

S. BVerfGE 50, S. 5 f (13). S. schon den Text in GA 1985, S. 198. « Schönke/Schröder/Stree, Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1985, § 4 6 Rdn. 16. 9 S. insbes. K.Peters, Praxis der Strafzumessung und Sanktionen, in: Krim. Gegenwartsfragen, Heft 10, hrsg. v. Göppinger u. Hartmann, 1972, S.52 u. 53; vgl. a. den dort abgedr. Beitrag von Leferenz (S. 19 u. 26); eine exemplarische Zusammenfassung der vorgesetzlichen Strafzumessungsrechtsprechung gibt Jagusch, Die Praxis der Strafzumessung, systematische Darstellung der Strafzumessungsgründe anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Sonderausgabe aus dem LK, 8. Aufl. 1956, B IV 5. 10 Z. B. zur Erfassung belastender oder entlastender Umstände bei der Ausführung der Tat, s. LK-G.Hirsch, 10. Aufl. 1985, § 4 6 Rdn.45, oder zur Einschätzung des Verhaltens nach der Tat, s. Hertz, Das Verhalten des Täters nach der Tat, 1973, S. 65 u. S. 107. 11 S. etwa die Berichte von Mösl in der NStZ, z . B . 1981, S. 132 u. 133; 1983, S. 164; 1984, S. 162 u. S. 492. 6 7

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Strafzumessung beim Bankraub' 2 , daß von 348 Verurteilungen 141 Aussagen zum „Ausmaß der verbrecherischen Energie" enthielten ( = 40,5 %), wobei dieser Gesichtspunkt 122 Mal für eine Strafschärfung und 19 Mal für eine Strafmilderung herangezogen worden ist13. Die dortigen Angaben liefern nicht lediglich erste Anhaltspunkte über die vorherrschende Richtung, in die derartige Strafzumessungserwägungen weisen. Sie zeigen ebenfalls geradezu beispielhaft die Komplexität des Gegenstandes, den es zu erörtern gilt: „Meist am Ende einer ganzen Reihe einzelner Strafzumessungstatsachen wurde ein abschließendes Werturteil über die vom Täter bewiesene Sozialschädlichkeit und -gefährlichkeit, d.h. seine verbrecherische Energie, gefällt"14. Der Begriff hat in der praktischen Anwendung demnach eine Sammelfunktion. Seine Bedeutung strahlt auf verschiedene die Tatschuld betreffende Momente aus, deren Fäden dann gebündelt werden. Zugleich aber werden Gesichtspunkte der Gefährlichkeit erfaßt, die die Verhaltensprognose betreffen und präventive Überlegungen auf den Plan rufen. Der Begriff ist in diesem Sinne sehr „flexibel". Es scheint sich um einen Topos zu handeln, der recht unterschiedliche Einzelinhalte ab- oder zudeckt und insbesondere im Klima einer unsicheren und ungeklärten Strafzumessungsdogmatik gedeiht15. 3. Wie der Hinweis auf die Rechtsprechung zeigt, läßt sich die Bedeutung eines rechtlichen Begriffs abgesehen von seinem innersystematischdogmatischen Stellenwert auch an dem tatsächlich-praktischen Gebrauch und den damit verbundenen Außenwirkungen ablesen. Dieser letztgenannte Gesichtspunkt thematisiert die Adressatenperspektive, besagt also etwas zum Kommunikationsvorgang, durch den den Bürgern kriminelle Energie vorgehalten und solchermaßen vermittelt wird. Nicht wenige dogmatische Konstrukte, wie etwa bestimmte scharfsinnige Unterscheidungen zwischen positivem Tun und Garantenunterlassen oder Abgrenzungen zwischen einzelnen Eigentums- und Vermögensdelikten (deren Notwendigkeit und Wert nicht bestritten werden soll!) gehen ja sehr wahrscheinlich an den Normadressaten vorbei, werden 12 Wolfram Lorenz, Strafzumessung beim Bankraub, 1972 veröff. i . d . Reihe: Kriminologie, Abhandlungen über abwegiges Sozialverhalten, hrsg. v. Würtenberger. 13 S. Lorenz, (Fn. 12), S . 3 9 ; diese Untersuchung bezieht sich zwar auf Strafakten, die vor der Einführung des § 13 (und späteren § 4 6 ) bearbeitet worden sind (aus den Jahren 1964—1966), hat aber wegen der im Grunde gleichgebliebenen Rechtslage wenig an Aktualität verloren; vgl. a. K.Peters, ( F n . 9 ) , S . 5 7 (betr. Betrug, Meineid u . a . Del.).

Lorenz, a. a. O . So auch z. B . in Schweden, w o so gut wie keine gesetzlichen Strafzumessungsregeln existieren und die regionalen Abweichungen im Strafmaß beträchtlich sind, vgl. Cornils, Landesbericht für Schweden i . J e s c h e c k (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, 1983, S. 781 f (809). 14 15

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mithin „außen" gar nicht wahrgenommen. Zu diesem Kreis gehört der Begriff der kriminellen Energie aber offenbar nicht, sondern er gehört zu dem Vokabular, das Widerhall und Reaktionen auslöst und Schlagworte abgibt. Das belegen zur Genüge Prozeßberichte in den Massenmedien, die teilweise ganz unter den Stern der kriminellen Energie gestellt werden. Verweise auf kriminelle Energie dürften mehr als andere rechtliche Begründungen den Zirkel einer eher esoterischen Fachlichkeit durchbrechen und auch von Uneingeweihten interessiert aufgenommen, wenn auch nicht unbedingt verstanden werden. Eine gewisse Vorstellung von der individuellen Bedeutung, die die „Feststellung" krimineller Energie für die Delinquenten und diejenigen besitzt, die mit ihnen in Kontakt treten, vermittelte dem Verfasser eine zufällige Begegnung mit einem Anstaltsgeistlichen. Der war zur Universitätsbibliothek aufgebrochen, um dort in kriminologischen Wörterbüchern eine nähere Definition der kriminellen Energie nachzuschlagen. Nachdem er nicht hatte kundig werden können, weil zumindest die gegenwärtige Kriminologie diesen Begriff nicht verwendet, trug er sein Anliegen vor: Da in vielen Urteilen „seiner" Gefangenen deren besondere kriminelle Energie hervorgehoben worden war, wollte er mehr über diese Diagnose erfahren und mit seinen Schützlingen den betreffenden Befund gemeinsam religiös-menschlich verarbeiten. Das Beispiel zeigt, daß empirisch klingende Formeln unter der Autorität des Richterspruchs für Realität gehalten werden können und daß damit die vom Etikettierungsansatz benannte Gefahr besteht, daß solche Einschätzungen über einen justiziellen Herstellungsprozeß zu einer fatalen Wirklichkeit im Sinne einer negativen Fremd- und Selbsteinschätzung werden. III. 1. Soll es aber darum gehen, die Eigenbegrifflicbkeit des Strafrechts hochzuhalten, erweist sich dann nicht gerade die kriminologische Abstinenz als unerheblich oder gar als wünschenswert? Die Antwort lautet nein, weil Eigenbegrifflichkeit nicht als antiempirische Gegenwirklichkeit mißverstanden werden darf. Soweit das Strafrecht auf empirisch zugängliche Realitäten bezug nimmt, werden zwar die betreffenden Begriffe wegen des normativen Verwendungszusammenhangs mit korrespondierenden Begriffen aus empirischen Theorien kaum identisch sein, müssen sich jedoch an dem Erfahrbaren, das sie gestalten wollen, ausrichten. Unter voller Anerkennung des normativen Regelungsbedarfs sind als erstes die Notwendigkeiten zu klären, eine bestimmte Rekonstruktion der Wirklichkeit vorzunehmen. Erst danach brauchen die empirische Tuchfühlung und eine empirisch vertretbare Façon gesucht zu werden. Im Hinblick auf unseren Gegenstand fragt sich daher

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konkret, ob vom rechtlichen Konzept aus überhaupt ein vernünftiger Grund benannt werden kann, auf ein Modell zurückzugreifen, das, wie es der Begriff der kriminellen Energie impliziert, mit der fragwürdigen Vorstellung von der willensmäßigen Uberwindung angenommener Hindernisse arbeitet16. Um diese Überprüfung vorzunehmen und um dem Sujet möglichst nahezukommen, werden anschließend zunächst die im Schrifttum genannten Fallgestalten aufgeführt. Der Beitrag kann sich dabei auf Konstellationen beschränken, in denen kriminelle Energie als Schuldmerkmal verstanden wird. Es bleiben hier deshalb die Fälle mit einem bereits gesteigerten Handlungsunwert insoweit ausgeklammert, wie die Annahme einer erhöhten Tatschuld schon reflexhaft aus der verantwortlichen Ausführung der unwertigen Handlung folgt17. Die Struktur des Begriffs, der, wie erwähnt, von unterschiedlich hohen oder starken Hindernissen ausgeht, die willensmäßig übersprungen bzw. überwunden werden, zeichnet eine Zweiteilung in dem Sinne vor, daß Ausgangslagen mit herabgesetzten Hemmschwellen von Ausgangslagen mit heraufgesetzten Hemmschwellen unterschieden werden können. 2. Die erstgenannte Fallgruppe, bei der eine besonders geringe kriminelle Energie angenommen wird, betrifft insgesamt verschiedene Formen und Grade einer Täterverführung. Der Sache nach werden zum einen sozialpsychologische Phänomene wie Gruppendruck oder gruppendynamische Zwänge erfaßt, denen sich der Täter nicht entgegengestellt hatte18. Solches Nachgeben, z.B. gegenüber dem Anführer einer Gleichaltrigengruppe von Jugendlichen, wird als Kontrapunkt verbrecherischer Willenskraft angesehen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist weiter anerkannt, daß etwa auch die Tatförderung durch einen sogenannten V-Mann schuldmindernd für den „gelockten" Täter wirkt", worin man gleichfalls das Zugeständnis geringerer verbrecherischer Energie findet 20 . Als drittes bleiben schließlich die sonstigen Fälle der bewußten oder unbewußten Tatförderung, vor allem durch das Tatopfer, soweit sie nicht schon zur Annahme eines geminderten Hand-

" Vgl. meinen Beitrag, (Fn.3), S. 198. 17 Dazu s. die früheren Ausführungen (Fn. 3), S. 204 f. 18 S. z.B. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 176 u. 177; Preisendanz, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 1978, §46 A n m . 3 b ; vgl. a. LK-G.Hirsch, (Fn. 10), §46 Rdn. 71; vgl. a. d. kritischen Beitrag von Willi Schumacher in: N J W 1980, S. 1880 f. " S. etwa B G H in: NStZ 1984, S.78f; B G H in: Strafvert. 1982, S. 221 f; O L G Stuttgart in: M D R 1980, S. 1038. 20 S. Seelmann in: ZStW Bd. 95 (1983), S. 797f (819 u. 820) sowie a. Schönke/Schröder/ Stree, (Fn. 8).

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lungsunwertes führen. Der Verletzte, ferner aber ebenso Dritte können Tathemmungen beseitigen21; der Willensaufwand bei einem betrügerischen Vorgehen soll beispielsweise wegen des nachlässigen Verhaltens eines Finanzbeamten vermindert sein22. 3. Die meisten Fallgestalten, bei denen kriminelle Energie zur Erfassung der Tatschuld bemüht wird, gehören freilich zur zweiten Fallgruppe. a) Als besondere Barrieren, die mit Willenskraft überwunden werden, stellt man sich zunächst bestimmte Pflichtigkeiten vor. Sie können aus Ehrenämtern resultieren, etwa der Stellung als Vorstandsmitglied einer evangelischen Kirchengemeinde, wenn der Täter gegen Grundsätze verstieß, zu denen er sich in der Öffentlichkeit durch die Amtsübernahme bekannt hatte23. In eine ähnliche Richtung weist eine spätere Entscheidung eines Oberlandesgerichts, das einem Arzt bei einer folgenlosen Trunkenheitsfahrt den Strick weniger aus der Pflichtenkomponente, sondern vorrangig aus einem „besonders guten" Wissen um alkoholbedingte Ausfallerscheinungen gedreht hatte24. Ferner soll ein „verstärkter gesetzwidriger Wille" am Werke sein, wenn gerade ein Arzt versucht, zur Verschleierung einer vorausgegangenen Trunkenheitsfahrt die Blutproben zu vertauschen25. Obwohl die hervorgehobene Position in den genannten Beispielen nicht mit der Tat in Verbindung stand, wurde die Strafschärfung regelmäßig darauf gestützt, daß die mit den Amtern oder Aufgaben verbundenen Pflichten dem Täter ein besonderes Ansehen verliehen hätten, welches zu mißachten eine besondere Energieentfaltung vorausgesetzt habe26. Abgesehen von generalpräventiven Erwägungen wird angenommen, daß beispielsweise ein „Richter als T ä t e r . . . möglicherweise mehr innere Widerstände beseitigen muß als ein Bürger in weniger spezifisch exponierter Stellung"27. b) Hemmschwellen sind nach verbreiteter Auffassung nicht nur exponierte Stellungen, ebenso gehört die Sorge um die eigene Existenz in der Bundesrepublik Deutschland dazu. Diese Existenz aufs Spiel zu setzen, 21 S. schon Jagusch, (Fn. 9) B III 7 u. 7 a; vgl. jetzt etwa Schönke/Schröder/Stree, (Fn.8). 22 Vgl. BGH bei Mösl in: NStZ 1983, S.494. 23 So BGH in: NJW 1961, S. 1591 f (Delikt: versuchte Abtreibung). 24 S. OLG Frankfurt in: NJW 1972, S. 1524f; hinsichtlich ähnlich gelagerter Fälle, die nicht mehr eine den Handlungsunwert erhöhende Pflichtverletzung (in Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten) betreffen, vgl. die Angaben bei Schönke/Schröder/ Stree, (Fn.8), §46 Rdn.35. 25 S. Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S.489 (Fn.2). 26 S. Bruns, (Fn. 25), S. 486 u. 487, unter Bezugnahme auf BGH bei Daliinger in: MDR 1957, S. 528. 27 S. SK-Horn, 3. Aufl. 1985, §46 Rdn. 73.

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indem man als Ausländer die spätere Ausweisung riskiere, sei ein Ausdruck erhöhter verbrecherischer Energie 28 . c) Vor allem wird angenommen, daß sich kriminelle Energie in einer unerwünschten oder ausbleibenden Verarbeitung kriminalrechtlich einschlägiger und eigentlich auch weniger einschlägiger Vorerfahrungen äußere. Die inzwischen obsolete Rückfallvorschrift des § 48 StGB29 ist nur die Spitze eines Eisberges, der Berg wird bleiben 30 . Ein früheres Verfahren, das mit einem Freispruch endete 31 , unschuldig erlittene Untersuchungshaft 3 2 , ein vorheriges Fahrlässigkeitsdelikt 33 wie natürlich vorausgegangene vorsätzliche Delikte 34 werden allesamt als potentielle Warnsignale verstanden, deren Überhören oder -sehen eine Willenssteigerung und damit eine Tatschulderhöhung im Sinne der allgemeinen Zumessungsvorschrift des §46 StGB beinhalte. Bemerkenswert erscheint das Gefälle, das hier zwischen der Theorie und der praktischen Rechtsanwendung besteht. Es läßt sich aus der Kommentierung der im Schrifttum oft erörterten Rückfallvorschrift des früheren §48 StGB ersehen. Vom Ansatz her wurde regelmäßig auf den Wortlaut verwiesen („und ist ihm . . . vorzuwerfen, daß er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen..."), der jede schematische Strafschärfung verbot 35 . Ging es aber schließlich um die Schwierigkeit, wie denn der Richter die gesetzlichen Merkmale feststellen soll, las man hilfreiche Hinweise wie den, daß beim Fehlen entgegenstehender Umstände f ü r gleichartige Delikte von einer Vorwarnung auszugehen sei36. Im übrigen hatte man eventuelle Probleme, die aus Fragen nach der Realität der Warneffekte erwachsen könnten 37 , im Wege der Interpretation ausgeräumt. Vorausgesetzt wurde lediglich, daß der Täter die Möglichkeit besessen habe, das vorherige Geschehen als Warnung zu begreifen und sich in diesem Sinne motivieren zu lassen38. Damit stand 28 S. B G H bei Mösl in: NStZ 1981, S. 133, vgl. ferner Bruns, (Fn. 18), S.201 u. 202 u. Schönke/Schröder/Stree, (Fn. 8), §46 Rdn.36. 29 S. 23.StrÄndG vom 13. April 1986, Art. 1, Ziff. 1 (in Kraft seit l . M a i 1986). 30 Abgetragen würde er am ehesten dadurch, daß man die bei § 48 vorgetragene Kritik auf die Interpretation des §46 bezöge. 31 S. Bruns, (Fn. 18), S.227 u. S.285 u. 286 mit Hinw. auf die BGH-Rechtsprechung. 32 S. B G H bei Holtz in: M D R 1979, S.635. 33 S. Jagusch, (Fn. 9), B IV 7 b ff. 34 S. Lackner, Strafgesetzbuch, 16. Aufl. 1985, §46 A n m . 4 b) aa); B G H in: NStZ 1982, S. 326. 35 S. insbes. BVerfGE 50, S. 125 f (137). 36 S. z.B. Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch, 42.Aufl. 1985, §48 Rdn. 10; LKG. Hirsch, (Fn. 10), §48 Rdn.36 Jescheck, Lb., 3. Aufl. 1978, S.718. 37 S. schon Stratenwertb, Tatschuld und Strafzumessung, 1972, S. 17. 38 S. etwa Lackner, (Fn. 34), §48 Anm. 3 b) aa); eine weitere Ausdehnung ergäbe sich, falls man mit einem sozialen Schuldbegriff eine mehr generalisierende Betrachtungsweise

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die allenorts betonte Zurückhaltung im Ergebnis weitgehend nur auf dem Papier39. Bei einer Berücksichtigung wiederholter Auffälligkeit im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung dürfte kaum eine größere Zurückhaltung zu beobachten sein, im Gegenteil. Für die Delinquenten sind also warnende Barrieren schnell gefunden, für die Rechtsanwendung Schwellen strafrechtlicher Theorie schnell abgebaut. Vor dem Hintergrund des Uberwindungsmodells lassen sich die mit Energie überwundenen Hindernisse in den unter 3. a) bis c) aufgeführten Fallgruppen als individuelle Stützen auffassen. Anders als andere Delinquenten werden - entsprechend der immanenten Logik - Menschen in einer besonderen Pflichtenstellung, Menschen, die mit der Tat besonders große Nachteile riskieren, und besonders gewarnte Menschen verstärkt zur Normbefolgung angehalten. Sie haben so gesehen günstigere, weil angeblich gefestigtere, Ausgangsbedingungen, die sie gewissermaßen zu normtreuen Bürgern prädestinieren. Verstoßen sie dennoch gegen Strafvorschriften, müssen sie über ein persönliches kriminelles Potential verfügen, das dann als kriminelle Energie bezeichnet wird. 4. Dieser Terminus findet aber auch noch darüber hinaus Anwendung. Es gibt Fallgruppen, für die eine individuell höhere Hürde vor dem Tatentschluß nicht benannt werden kann, bei denen es teilweise überhaupt schwerfällt, ein größeres Hindernis, das überwunden wird, zu umschreiben. Schon um zu vermeiden, daß die betreffenden Fallgestalten durch die Einordnung in das bisher verwendete Einteilungsschema interpretativ verfremdet werden, bietet es sich an, insoweit mit den Begriffsverwendern auf eine besondere Beschaffenheit des Verhaltensentschlusses abzustellen, der regelmäßig durch eine Art überschießender Innentendenz gekennzeichnet werden kann. a) Zu dieser Fallgruppe gehört als erstes der Uberzeugungstäter. Dessen Normverletzung stellt keine einmalige Entgleisung dar, sondern geschieht in grundsätzlicher Nichtanerkennung des Geltungsanspruchs der Norm. Sein Wille sei, da er sich aus einer inneren Überzeugung herleite, besonders intensiv und lasse den Täter darum in erhöhtem Maße schuldig werden40.

zugrunde legt und nach der Motivierbarkeit eines vorgestellten Durchschnittsmenschen fragt, vgl. hierzu Krümpelmann in: GA 1983, S.337f. 39 Zur früheren Diskussion um die Reichweite des § 1 7 bzw. §48 s. insbes. Horstkotte in: J Z 1970, S.152f. 40 S. Ebert, Der Uberzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 1975, S. 57; s. a. Jagusch, (Fn. 9), B IV 3; diese Auffassung ist von der Rechtsprechung allerdings nicht durchgängig und einheitlich zugrunde gelegt worden, vgl. dazu Baumann in: MDR 1963, S. 87f (89, 90).

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b) Eine überschießende Innentendenz wird ferner darin gesehen, daß der Täter zu bestimmten Zeiten gehandelt hat. Kriminelle Energie verrate die „besondere Verschlagenheit" bei Nacht41, doch auch wer am „lichten Tage" zu Werke geht, braucht darum nicht besser dazustehen, weil gerade diese Unverfrorenheit „besonders dreist" sein könne42. c) Häufig wird die kriminelle Energie auch aus der Eigenart des Handlungsaktes selbst erschlossen. Zunächst stellt man auf die Intensität des Vorgehens ab. Erfaßt werden vor allem Fallgestalten, bei denen der Täter „doppelt genäht" hatte, also beispielsweise drei gezielte Schüsse auf den Nacken seines Nebenbuhlers abgegeben43 oder dem Opfer viele Messerstiche beigebracht und noch ein zweites Messer geholt hatte, nachdem das erste ausgefallen war44. Unter den Gesichtspunkt der Intensität wären auch Verhaltensweisen zu bringen, die als beharrlich oder hartnäckig bezeichnet werden. Zu diesen gehört etwa das Festhalten an einer Falschaussage trotz gerichtlicher Vorhalte und erneuter Ermahnung zur Wahrheit45. Direkt oder mittels einer Indizkonstruktion werden hier aber ebenfalls und gerade Sachverhalte herangezogen, die nach der eigentlichen Tatbegehung eingetreten sind, wie die Sicherung der Vorteile der Tat46, die Spurenbeseitigung47 und das Leugnen der Tat48. Ja sogar das prozeßtaktisch motivierte Geständnis vermag nach vertretener Ansicht eine „größere verbrecherische Tatkraft" anzuzeigen, die dann das Schuldurteil beeinflußt49. Von Formen intensiver Begehung können extensive Handlungsweisen unterschieden werden, die gleichfalls mit dem Begriff der kriminellen Energie belegt werden. So hat. der Bundesgerichtshof die Annahme „äußerst geringer krimineller Energie" als unvereinbar mit dem Befund angesehen, daß der Angeklagte nahezu zehn Jahre lang seine Einnahmen unvollständig verbucht und zu wenig Steuern entrichtet hatte50. Von den Deliktsarten her gesehen spielt dieser Aspekt vor allem beim fortgesetzten Delikt und bei Dauerdelikten eine Rolle. In beiden Fällen unterstellt S. LK-G. Hirsch (Fn. 10), §46 Rdn.45. Bruns, (Fn.18), S. 180. 43 S. BGH bei Böhm in: NStZ 1983, S.448. 44 Vgl. BGH in: NJW 1985, S. 870. 45 Vgl. BGH bei Mösl in: NStZ 1984, S.493. 46 Hertz, (Fn. 10), meint, sie könne eine „Verfestigung der kriminellen Energie im Täter" bedeuten (s. S. 107). 47 S. BGH bei Haitz in: MDR 1977, S.982; vgl. a. LK-G.Hirsch, (Fn.10), §46 Rdn. 94; Schönke/Schröder/Stree, (Fn. 8). 48 Vgl. BGH in: VRS 22, 343 (345) u. BGHSt. 1, 105 f. « Jagusch, (Fn. 9), B VI b. 50 S. BGH bei Mösl in: NStZ 1981, S. 132. 41

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man dann auch erwartungsgemäß einen stärkeren verbrecherischen Willen51. Entsprechendes gilt, soweit bei kürzeren Geschehensabläufen das „verbrecherische Wollen" über die verwirklichte Tat hinausging52. d) Wenn mit der Intensität der Handlung die kriminelle Energie zunimmt (und umgekehrt), ist es nur folgerichtig, in der Variante der Begehung durch positives Tun, also in der Handlung überhaupt, mehr kriminelle Energie wiederzufinden als in der des Unterlassens gemäß §13 StGB 53 .

IV. Eine Musterung der einzelnen Fallgestaltungen unter Tatschuldgesichtspunkten führt teils zu Ubereinstimmungen und teils zu Divergenzen mit den vorgetragenen Ergebnissen. 1. Für die erste Fallgruppe, die Verführungsfälle, leuchtet die Annahme einer geminderten Tatschuld ein. Versteht man unter Tatschuld die von der Warte eines sozialen Wertesystems aus gesehen vorwerfbare Bildung eines Tatentschlusses, hängt die Begründung und ebenso das Ausmaß der Tatschuld von der individuellen Entscheidungsfreiheit ab. Sie wird, worauf schon der Wortlaut des Gesetzes verweist, durch ein bestimmtes Minimum an Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bedingt, s. §§ 20 StGB und 3 J G G . Sozialpsychologisch verständliche Verhaltensanreize, Verführungs- und Drucksituationen beeinträchtigen zumindest die Autonomie der Verhaltenssteuerung. Unter der Voraussetzung, daß dieses real erfaßbare Phänomen im Rahmen einer normativ-wertenden Beurteilung als strafrechtserheblich angesehen wird, ergibt sich dann eine verminderte Tatschuld, ohne daß dabei die Notwendigkeit entsteht, den Begriff der kriminellen Energie zu bemühen. Um insoweit alle erwähnten Fallgestalten einzubeziehen, muß man allerdings auch ungezielte und unbewußte Angriffe auf die Steuerungsautonomie anerkennen, also deren Beeinträchtigung durch unbewußte verführerische Handlungen und objektive Arrangements für möglich halten. Das aber ist zwanglos durchführbar, weil umgekehrt nicht einzusehen wäre, warum es für die Handlungsfreiheit des Verführten darauf ankommen soll, inwieweit andere einen solchen Effekt in ihre Vorstellungen und Absichten einbezogen haben. 2. Aus der Perspektive dieses Ansatzes würden die vorne unter III. 3. zusammengefaßten Fallgruppen eher durch das Gegenteil einer Beein51 52 53

Zusammenfassend Bruns, (Fn. 18), S. 177 f. S. z . B . LK-G.Hirsch, (Fn. 10), § 4 6 Rdn.71. S. statt vieler Jescheck, (Fn. 36), S. 496.

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trächtigung der Steuerungsautonomie charakterisiert sein. Die hervorgehobene soziale Stellung als Arzt oder Richter, die Sorge des Ausländers um die weitere Existenz in der Bundesrepublik Deutschland und eine besondere Warnung durch vorausgegangene justizielle Maßnahmen ließen sich als zusätzliche Stützen begreifen, die eine Orientierung an den jeweiligen sozialen Werten erleichtern. Vom Schuldgrundsatz her zwingend ist eine derartige Folgerung indessen nicht. Die Annahme einer Beeinträchtigung der Steuerungsautonomie schließt nämlich nur die Vorstellung einer vollständigen Autonomie ein, nicht aber die, daß es noch jenseits der vollen Freiheit ein Mehr geben müsse. Abgesehen vom Realitätsbezug, ob die Annahme entsprechender Stützungen des Verhaltens nicht auf eine unvertretbare Fiktion hinausläuft, stellt sich somit die Frage nach der rechtlichen Funktionalität dieser Konstruktion. Zumindest im Hinblick auf die verschärfte strafrechtliche Haftung bei der Übernahme etwa kirchlicher Ehrenämter ist sie offensichtlich nicht gegeben. Denn es ist schlichtweg nicht einzusehen, warum jemand, der sich freiwillig für gemeinschaftliche Einrichtungen einsetzt und zur Verfügung stellt, bei gleicher Handlungsweise mehr büßen soll als ein anderer, der ansonsten nur seinen eigenen Interessen nachgeht54. Das gilt im Grunde sinngemäß auch für berufsunspezifische Delikte von Ärzten, außerdienstliche Vergehen von Richtern und allgemeine Straftaten sonstiger sozialer Repräsentanten. Sie dürfen wegen ihrer Stellung nicht privilegiert, aber andererseits auch nicht härter bestraft werden55. Unter Schuldgesichtspunkten dysfunktional erscheint auch die schärfere Bestrafung des Ausländers, der mit der Straftat seine Ausweisung riskiert. Eine eventuelle Bereitschaft zur Selbstschädigung kann ja kaum einen ausreichenden Grund liefern, das Maß vorab noch voller zu machen56. Eine Straferhöhung ließe sich höchstens mit der äußerst anfechtbaren Unterstellung einer geringeren Strafempfindlichkeit halten. Auch die Berücksichtigung des Umstandes, daß möglicherweise eine ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen wird, vermag eine höhere Tatschuld nicht zu erklären, denn diese Auswirkungen wären solche der strafrechtlichen und polizeilichen Reaktion, die nicht dem Delinquenten angelastet werden können. Hier wie vor allem bei der Rückfallschärfung wird offenbar, daß eine Argumentation, die auf die Tatschuld abhebt, letztlich das Thema Vgl. a. Arndt in: NJW 1961, S. 1591 u. 1592. S. a. Hanack in: NJW 1972, S.2228. 56 Bei einem Beamten, der seine Entlassung riskiert hat, ist man - soweit ersichtlich noch nie auf die Idee gekommen, die Strafe zu schärfen. Im Gegenteil wird hier inzwischen überwiegend die Auffassung vertreten, daß die Strafe wegen der beruflich-disziplinarischen Nachteile zu mildern (!) sei, s. Bruns, (Fn. 18), S.254 mit weit. Hinw. 54

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verfehlt. Geht es doch um die Befürchtungen oder Ängste, die wachgerufen werden, wenn staatliche Sanktionsdrohungen scheinbar nichts fruchten: Erfüllen sich die Wirksamkeitserwartungen nicht, muß das am gefährlichen Täterwillen liegen. Die Güte des Sanktionssystems wird nicht angezweifelt. Die Art und Weise der Verarbeitung geht im Gegenteil in die andere Richtung, es wird „more of the same" verabreicht". Dieser Gedanke ist kein tatschuldbezogener, sondern ein präventiver. Er ist präventiv in dem Sinne, daß Prävention nicht lediglich mit einer Schuldstrafe erstrebt wird, vielmehr wird die Strafbemessung selbst schon von präventiven Erwägungen beeinflußt, wobei deren Qualität an dieser Stelle nicht bewertet werden soll. Die ganze Konstruktion von der erhöhten Tatschuld durch Mißachtung von Vorwarnungen hat allein eine harmonisierende Funktion 58 und würde sofort fallengelassen werden, könnten die obengenannten Befürchtungen und Ängste in einer anderen Weise sozial bewältigt werden. Wir stoßen auf eine Leistung des Begriffs der kriminellen Energie, die ihn so brauchbar macht, nämlich die Verquickung von Tatschuld- und Präventionsgesichtspunkten. Darauf wird später noch näher einzugehen sein. 3. Ein weiterer Fall, bei dem von Tatschuld die Rede ist, obwohl Prävention gemeint wird, ist der des Uberzeugungstäters. Eine besondere Intensität seines Willens ergibt sich erst, soweit man die Festigkeit und Konstanz der Uberzeugung heranzieht, also ihr Fortbestehen in der Zukunft und die Schwierigkeit, diesen Block aufzulösen oder auch nur zu beeinflussen. Von der Gesinnung her handelt der Uberzeugungstäter oft wertbewußter als andere Delinquenten. Die beim Uberzeugungstäter anzutreffende Wertverschiebung dürfte regelmäßig weniger verwerflich sein als die opportunistische Haltung derjenigen, die sich um eine soziale Wertordnung nicht scheren. Die präventive Orientierung tritt auch durch eine Explikation des mitgedachten Uberwindungsmodells hervor. Der Überzeugungstäter setzt sich in actu über den Geltungsanspruch der Norm wie jeder andere hinweg, er überwindet höchstens insofern mehr, als er eine bestimmte normative Wertung grundsätzlich nicht anerkennt. Das aber betrifft die Gefahrprognose, die Wahrscheinlichkeit weiterer Normverstöße. 4. Während mit dem Begriff der kriminellen Energie bei den Figuren des Rückfall- und des Überzeugungstäters eine Vermischung von TatschuldS. insoweit Stratenwerth, (Fn.37), S. 18. Im Hinblick auf den Erfolg des Unternehmens schreibt schon Zipf: „Unter Schuldgesichtspunkten ist es bis heute letztlich nicht geglückt, eine Strafschärfung wegen Rückfalls mit einem ernstgenommenen Tatschuldprinzip zu harmonisieren". (Die Strafzumessung, 1977, S.93). 57 58

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und Präventionsaspekten erreicht wird, kommt bei den Tageszeitfällen (III. 4. b)) noch eine zusätzliche Begriffsfunktion zum Vorschein. Der Begriff schafft die Möglichkeit, dem Täter mit einer gewissen Beliebigkeit böse Eigenschaften zuzuschreiben. Wagt er die Tat am Tage, ist er dreist, handelt er im Schutze der Nacht, ist er verschlagen. Ist es am relativ anständigsten, die Delikte morgens oder abends zu begehen? Die Schwelle zum grundlosen Moralisieren und Phantasieren scheint endgültig überschritten59. Legitim können derartige Unterscheidungen doch nur sein, falls mit den genannten Begehungsmodalitäten etwas Gehaltvolles zur Rechtsgutsgefährdung ausgesagt wird60. Eine höhere Tatschuld kann hier nur aus einem gesteigerten Handlungsunwert abgeleitet werden. 5. Entsprechendes gilt für Fallgestalten, die durch die Intensität der Verletzungshandlung gekennzeichnet sind. Die Intensität der Verletzungshandlung beeinflußt regelmäßig das Ausmaß, die Wahrscheinlichkeit oder die Geschwindigkeit eines Objektschadens 61 . Ist das ausnahmsweise nicht so, wie bei affektiv-unrationalem Verhalten, z . B . einem wahllosen Zuschlagen auf das Opfer, steht höchstens eine Schuldminderung in Frage. Grenzt man davon die Fälle ab, die oft als ein besonders hartnäckiges Vorgehen charakterisiert werden, müssen zum Auffinden der richtigen Lösung zwei Gesichtspunkte unterschieden werden. Die Hartnäckigkeit kann einmal im Sinne einer konstanten Verbissenheit und Unbelehrbarkeit verstanden werden, wie das für den genannten Fall des uneinsichtigen Zeugen (s. III. 4. c)) naheliegt. Dessen Unzugänglichkeit macht kaum die konkrete Tat gefährlicher und ist analog der Situation beim Uberzeugungstäter oder - im Hinblick auf gerichtliche Vorhalte und Ermahnungen - analog der beim Rückfalltäter zu beurteilen. Insoweit handelt es sich folglich um Momente, die aus präventiven Erwägungen für erheblich gehalten werden. Zum anderen läßt sich eine erhöhte Tatschuld aber auch unabhängig von solchen präventiven Gesichtspunkten aus der Überlegung herleiten, daß ein Täter angesichts von Widerständen seinen Tatentschluß aufrecht erhalten hat. Wir treffen im Grunde auf die gleiche Sachstruktur wie bei der Unterscheidung zwischen positivem Tun und Überlassen. Das Tun wie die Fortsetzung des Tuns beeinflußt zunächst den Handlungsunwert62 und damit reflexiv auch die Tatschuld. Will man indessen daneben noch eine gesonderte Schuldabstufung vornehmen, kann das sehr wohl ohne Zuhilfenahme 59 60 61 62

Vgl. a. Maisch in: N J W 1975, S.566 (567). S. des näheren meinen Beitrag in GA 1985, dort S.208. S. Fn. 60. S. Fn. 60.

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des Begriffs der kriminellen Energie erfolgen. Wer handelt oder wer weiterhandelt, nutzt seine Handlungsfreiheit im Vergleich zur Unterlassungsvariante umfassender, weil er über das Geschehenlassen und eine eventuelle Resignation hinaus in ein Geschehen steuernd eingreift. Mit dem stärkeren Mißbrauch der Handlungsfreiheit ist zugleich ein höheres Maß an Schuld verbunden. Im Rahmen der Tatschuld muß mithin nur neben dem eingangs thematisierten Ausmaß der Entscheidungsfreiheit das Ausmaß der Nutzung der Handlungsfreiheit berücksichtigt werden. Die Einbeziehung des Nachtatverhaltens in das Schuldurteil über Indizkonstruktionen erscheint zumindest soweit bedenklich, wie belastende Momente zeitlich rückverlagert werden, ohne daß dafür ein stringenter Nachweis geführt wird. Die Annahme, der Täter sei, weil er später Vorteile gesichert und Spuren beseitigt habe, von vornherein mit besonderem Kalkül zu Werke gegangen, unterstellt eine Geradlinigkeit des Verhaltens, die keineswegs gegeben zu sein braucht. Der Anteil, der dem Begriff der kriminellen Energie an dieser fragwürdigen Konstruktion zukommt, ist der einer Vereigenschaftung situativer Momente, wodurch sich eine gewisse Dauerhaftigkeit trotz des Fehlens eines ausreichenden empirischen Belegs leicht behaupten läßt. Im übrigen betreffen umsichtige Planungen im Stadium der Tatbegehung ebenso wie solche vor der Tatbegehung bereits den Handlungsunwert63. Ein gesondertes Schuldmoment könnte außerdem wiederum aus dem Gesichtspunkt abgeleitet werden, daß ein berechnendes Vorgehen eine umfassendere und somit in diesem Kontext vorwerfbarere Nutzung der Handlungsfreiheit beinhaltet. Die Berücksichtigung des Tatleugnens und sogar des prozeßtaktischen Geständnisses zeigt erneut die verdeckte Präsenz präventiver Erwägungen an. Wer Schwierigkeiten macht, sich unzugänglich zeigt oder als besonders raffiniert erscheint, bereitet Sorgen bezüglich seines künftigen Legalverhaltens. Aber abgesehen von der Tatschuldferne solcher Gedankengänge entstehen zusätzliche rechtsstaatliche Bedenken. Die nachteilige Berücksichtigung eines Geständnisses, weil es nur aus prozeßtaktischen Gründen abgegeben worden sei, würde, denkt man diesen Ansatz weiter, letztlich auch dazu führen, daß die Wahl eines Verteidigers als straferhöhend in Betracht käme. Was schließlich die Variante extensiver Tatbegehung und den Entschluß dazu anbelangt, kann auf das Vorstehende verwiesen werden. Details nur der Deliktsorganisation sind unerheblich, es ist beispielsweise gleichgültig, ob die Beute in einer Fuhre abtransportiert wird oder wegen der begrenzten Ladekapazität des Wagens in mehreren Etappen. Unterschiedliche Qualitäten der Rechtsgutsgefährdung werden bereits 63

S. Fn. 60.

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über den Handlungsunwert erfaßt. Soweit noch Raum für eine eigenständige Tatschuldbestimmung verbleibt, wäre wiederum an die verstärkte negative N u t z u n g der Handlungsfreiheit anzuknüpfen. V. 1. Ziehen wir Bilanz, ergibt sich, daß der Begriff der kriminellen Energie für die Bestimmung der Tatschuld nicht benötigt wird. In den Fällen, in denen mit diesem Terminus Variationen der Tatschuld aufgespürt werden sollen, geht es entweder gar nicht um die Tatschuld, sondern um präventive Aspekte, oder die Tatschuld ist sachgerecht in anderer Weise erfaßbar. Abgestellt werden kann dabei - abgesehen von der Entscheidung zu unterschiedlich pflichtwidrigem Verhalten - auf das Ausmaß der Entscheidungsfreiheit und das Ausmaß der N u t z u n g der Handlungsfreiheit. Der in §46 Abs. 2 StGB genannte „bei der Tat aufgewendete Wille" ist geringer, wenn die Entscheidungsfreiheit herabgesetzt war, er ist stärker, wenn der Täter seine Handlungsfreiheit im Vergleich zu anderen Fallgestaltungen umfassender genutzt hat. 2. Als problematische Funktionen des Begriffs der kriminellen Energie haben sich folgende herausgestellt: die Ermöglichung beliebiger negativer Zuschreibungen, die Vereigenschaftung situativer Momente und insbesondere die Einfassung präventiver Erwägungen in Schuldkategorien. Dieser letztgenannte Vorgang bedarf noch der weiteren Analyse, damit die Leistungsfähigkeit des Begriffs in ihrer Gesamtheit deutlich wird. VI. 1. Die Notwendigkeit, Tatschuldmerkmale und präventive Überlegungen zu entflechten und auseinanderzuhalten, ist heute weitgehend anerkannt 64 . Sie besteht insbesondere, wenn man das Strafrecht von der Tatschuldseite her begrenzen und andererseits an präventiven Erfordernissen ausrichten will65. Je mehr der Schuldbegriff präventiv eingefärbt wird, desto weniger vermag er die Begrenzungsfunktion zu erfüllen. Umgekehrt erleichtert ein Konglomerat aus Schuld- und Präventionsmomenten auch nicht gerade eine empirische Kontrolle der besonderen Präventionserwägungen. Beides nun, eine Aushöhlung der Begrenzungsfunktion der Tatschuld wie eine empirische Ignoranz, ja sogar Sperre, sind aber die Früchte des Argumentierens mit krimineller Energie. 64

Eine Ausnahme bildet freilich Jakobs' Ansatz, der gerade auf der gegenteiligen Annahme basiert, daß Schuld (general)präventiv zu bestimmen sei, s. Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S.32 u. Lb. S.397. 65 S. Stratenwerth, (Fn. 37), S. 37.

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Die Aushöhlung des Tatschuldbegriffs erfolgt in der Weise, daß zwar auf Entstehungsgründe des Tatentschlusses Bezug genommen, also ein schuldrelevanter Bereich angesprochen wird, dieser dann aber mit der Persönlichkeitsstruktur und gefährlichen Eigenschaften assoziiert wird, die meist wenig konkretisierte Befürchtungen hinsichtlich des künftigen Verhaltens wachrufen. Sprachlich findet die Verquickung ihren Ausdruck darin, daß Schuld und Gefährlichkeit in einem Atemzuge genannt werden und als im Grunde austauschbare Größen erscheinen". Die Rede ist etwa von einer „Gefährlichkeit des verbrecherischen Willens", den eine „gesteigerte Schuldenergie" hervorbringt67, von der Schulderhöhung durch eine „besonders gefährliche kriminelle Intensität"68 usf. Vereinzelt wird die über den Tatwillen bewerkstelligte Gleichsetzung von Schuld und Gefährlichkeit direkt zum empfohlenen Prinzip erhoben69. Nach einer Analyse einschlägiger Urteile lesen wir, es werde regelmäßig „ein Urteil komplexer Art gefällt, das nicht nur eine bestimmte Seite der Täterpersönlichkeit beleuchtet, sondern umfassend vielen Einzelmerkmalen Rechnung trägt"70. Durch die Verankerung der behaupteten gefährlichen Willensenergie bei der Schuld wird sodann eine empirische Ignoranz in dem Sinne erreicht, daß die Gefährlichkeit nicht real belegt zu werden braucht. Man ist der Mühe enthoben darzutun, warum weitere schädigende Handlungen zu besorgen seien. Im Gegensatz zu dieser Konstruktion ist die Gefährlichkeit ja keine einer Person inhärente Eigenschaft, sondern hängt von einem ganzen Bedingungsgeflecht ab. Diese Komplexität wird anhand irgendwelcher Tatmodalitäten schlicht auf das Wesen des Täters reduziert. Daß unter bestimmten sozialen Rahmenbedingungen beispielsweise besonders gefügige und angepaßte Menschen sehr gefährlich werden können (NS-Täter) und - wie wir wissen - Delinquenten, die Gewaltdelikte begangen haben, zum Teil eine überdurchschnittlich günstige Kriminalprognose aufweisen, findet solchermaßen natürlich kaum Berücksichtigung. Darüber hinaus kommt die Einförmigkeit der Folgerungen, die an das Energieurteil anknüpfen, einer empirischen Sperre gleich. Prävention heißt hier immer ein Mehr an Ubelszufügung, und dieses Mehr erfährt aus der Verquickung mit dem Schuldgedanken noch seine Scheinlegitimation. Daß sich eine Strafschärfung bei einer empirischen Uberprüfung als präventiv gänzlich unwirksam oder gar schädlich herausstellen könnte, ist vom Konzept her nicht vorgesehen. 66 67 68 69 70

S.a. Hillenkamp in: GA 1974, S.208f (215 Fn.58). S. Jagusch (Fn. 9), A III 1 a. S. BGH in: NJW 1982, S.2264 (2265). Hertz im Anschluß an Lange, (Fn. 10), S.81 u. 82. S. Lorenz, (Fn. 12), S. 39.

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VII. 1. Befürchtungen einer unsystematischen und der rationalen Kontrolle letztlich entzogenen Ausuferung strafrechtlicher Eingriffe erweisen sich damit als begründet. Die Gefahr, daß mit dem Begriff der kriminellen Energie praktisch aus dem Nichts heraus über eine scheinbar kriminologische Begründung eine gegenüber empirischer Kritik immunisierte Strafschärfung hergeleitet werden kann, läßt sich zusammenfassend in folgendem StufenModell darstellen: a) Ein nahezu beliebig ausgewähltes Sachverhaltsmoment wird als Ausdruck krimineller Energie angesehen. (Beispiel: Begehung der Tat am „lichten Tage") b) Es erfolgt eine negative Etikettierung/Zuschreibung. (Beispiel: dreistes, skrupelloses Verhalten) c) Das Verhalten wird vereigenschaftet. (Beispiel: In der Tat haben latente Dreistigkeit und Skrupellosigkeit Ausdruck gefunden.) d) Es wird ein Gefahrurteil abgeleitet. (Beispiel: Dreistigkeit und Skrupellosigkeit - das Energiepotential - machen/macht künftige Normbrüche wahrscheinlich.) e) Es erfolgt eine Strafschärfung aus präventiven Beweggründen. f) Für d) und e): Die Parallelität von Schuld- und Gefahrurteil („komplexe Würdigung") bedingt eine empirische Immunisierung: Das Gefahrurteil und die aus dem Gefahrurteil hergeleitete Strafschärfung werden wegen der Verquickung mit dem Schuldurteil erfahrungswissenschaftlich abgeschottet. 2. In der gegenwärtigen strafrechtlichen Grundlagendiskussion wird die Vermischung von Schuld- und Präventionsaspekten, also ein wesentliches Charakteristikum des bisherigen Verständnisses von krimineller Energie, abgelehnt, aber weiter mit diesem Topos gearbeitet. Seine Bedeutung soll nur außerhalb des Tatschuldbereichs liegen71. Während mit diesem Begriff bislang überwiegend individualpräventive Anliegen wie die künftige Abschreckung und Abschirmung des Delinquenten assoziiert wurden, geht es Schünemann nunmehr in Fortführung des Roxinschen Konzepts um generalpräventive Gesichtspunkte. Er rechtfertigt die Existenz und Anwendung des Strafrechts damit, daß strafrechtliche Sanktionen die Geltung der sanktionsbewehrten Normen bestärkten. Zur Steuerung dieser Integrationsprävention komme es darauf an, die durch Taten jeweils ausgelösten Erschütterungen des N o r m -

71

S. Stratenwerth, (Fn.37), S. 18; B. Schünemann rechtssystems, 1984, S. 188 f.

i. Grundfragen des modernen Straf-

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geltungsbewußtseins der Bevölkerung zu ermessen und zu gewichten. In diesem Kontext verwendet Schünemann den Begriff der kriminellen Energie zur Kennzeichnung des von einer Tat auf die Allgemeinheit ausgehenden Bedrohungsgrades 72 . Zwar bezieht sich der Begriff vordergründig weiter auf die Qualität der Tathandlung. Doch dienen die schon unter diesem Blickwinkel gefährlich-diffusen Inhalte letztlich dazu, ein kollektives Strafbedürfnis, also wenig greifbare Reaktionen „der" Bevölkerung vorwegahnend zu erfassen, sowie dazu, einen Ansatzpunkt für Kategorisierungen entsprechender Bedrohungsgefühle abzugeben. Auch wenn Schünemann selbst die Notwendigkeit weiterer Explikationen betont und solche in Aussicht stellt73, muß man nach alledem bereits jetzt befürchten, daß eine Mischung angesetzt worden ist, die bisher feststellbare Gefahren noch um eine neue brisante Dimension, nämlich die vermutete Kriminalitätsverarbeitungskapazität in der Bevölkerung, erweitert. Damit hinge die kriminelle Energie nicht mehr nur vom Täter ab, sondern auch davon, bei wieviel Strafe sich die Menschen zu beruhigen scheinen. Soll es nun auch auf deren gute oder böse Willensenergie ankommen?

72 75

S. Schünemann (Fn. 71), S. 191 f. S. Schünemann, (Fn.71), S. 193.

Strafzumessung und ihre Auswirkung auf den Vollzug"' JÜRGEN BAUMANN

I. Einleitung Es ist heute wie früher schwer, über Probleme der Strafzumessung zu referieren. Früher war es schwer, weil die wissenschaftliche Durchdringung dieses Gebietes zu wünschen übrig ließ: Strafzumessungsrecht als terra incógnita. So beklagte noch von Weber in seiner Arbeit „Die richterliche Strafzumessung", 1956, daß die Strafzumessung zumeist ein „Glückspiel" sei. Sarstedt berichtete auf dem 41. Deutschen Juristentag 1955 in Berlin von den 2 Kammern eines Landgerichts, von denen die eine jeweils eine vierfach höhere Strafe verhängte, als die andere Kammer, wohlgemerkt bei gleichem oder ähnlichem Sachverhalt. - Heute ist es schwer, über Strafzumessung zu referieren, weil die wissenschaftliche Bearbeitung ihrer Probleme nahezu unübersehbar geworden ist. Nicht nur die herausragenden Arbeiten des Erlanger Kollegen Bruns haben diesen Umschwung herbeigeführt. Eine große Zahl wichtiger Monographien1 und eine ungeheure Zahl von Abhandlungen und Aufsätzen hat zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Strafzumessung beigetragen. Daß die Praxis der Gerichte nach wie vor zu wünschen übrig läßt, sei jedoch nicht verschwiegen. Versuchen wir gleichwohl, trotz dieser Schwierigkeiten, einen Blick auf die Strafzumessungsproblematik zu werfen, der auch für den nichtdeutschen Juristen interessant sein könnte. II. Bedeutung der Rechtsfolge im Strafrecht 1. Gerade eine auf das subtilste verfeinerte Strafrechtsdogmatik, insbesondere im Bereich der allgemeinen Strafrechtslehren, ist oft in der Gefahr, die Bedeutung der Rechtsfolgebestimmung zu unterschätzen. Während den Rechts Voraussetzungen höchste Aufmerksamkeit geschenkt wird und auch wissenschaftliche Arbeiten in diesem Bereich äußerster Akribie das größte Interesse erwecken, scheint bei den Rechts* Vortrag, gehalten am 29.11.1985 als Einführungsreferat vor der Griechischen Gesellschaft für Strafrecht in Athen. ' Zuletzt etwa Streng, F., Strafzumessung und relative Gerechtigkeit. Heidelberg 1984.

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folgen weniger Scharfsinn erforderlich und genießen wissenschaftliche Arbeiten in diesem Bereich weniger Anerkennung. Das zeigt sich schon bei der Ausbildung junger Juristen. An der Universität kommen in den Lehrveranstaltungen die Rechtsfolgen des Strafrechts fast immer (auch aus Zeitgründen) zu kurz. Man versucht an manchen Universitäten (so auch in Tübingen) dem dadurch entgegenzuwirken, daß Sondervorlesungen über die Rechtsfolgen des Strafrechts angeboten werden. In der Referendarausbildung spielen Fragen der gerechten Strafzumessung kaum eine Rolle, und in beiden Staatsexamen kommen kaum je Prüfungsarbeiten vor, die ihren Schwerpunkt im Bereich der Strafzumessung hätten. Das ist die traurige Bestandsaufnahme. Alles das geschieht ungeachtet der Tatsache, daß die Akzentverlagerung vom 7tf£strafrecht auf das Täterstrafrecht seit dem Marburger Programm (von Franz von Liszt, 1882) allmähliche aber unaufhaltsame Fortschritte gemacht hat. Auch die Reform von 1969/1975 (1. und 2. Strafrechtsreformgesetz) hat uns weitere Akzente im Rechtsfolgenbereich beschert, die überwiegend täterstrafrechtliche Züge tragen. Ich nenne hier nur neben den Strafzumessungsrichtlinien in § 46 StGB: das Absehen von Strafe nach § 60 StGB, die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach §59 StGB, die Erweiterung der Strafaussetzung zur Bewährung und der Strafrestaussetzung, die allgemeine Rückfallvorschrift des §48 a. F. StGB, die ultima-ratio-Klausel für die kurzfristige Freiheitsstrafe in § 47 StGB und die Institution der Führungsaufsicht nach §§ 68 ff StGB. Das heute geltende Recht erlaubt, je nach Beurteilung der Täterpersönlichkeit, für ein und dasselbe Tatgeschehen Sanktionen, die zwischen dem geschlossenen Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem bloß warnend erhobenen Zeigefinger liegen. Auf diese Weise wird gerechte Strafzumessung zunehmend wichtiger, kommt in ihrer Bedeutung fast gleich der Bejahung oder Verneinung der Tatbestandserfüllung durch das erkennende Gericht. Um so ärgerlicher werden hier unverständliche und nur auf richterlicher „Intuition" beruhende Diskrepanzen. Was soll noch akribische Tatbestandsfeststellung, wenn im Bereich der Strafzumessung die Reaktion des Staates auf die Straftat auf Null gestellt werden kann? Wie steht es hier mit dem Gleichheitsgrundsatz unserer Verfassung, wie vereinbart sich das alles mit dem Rechtsstaatsprinzip? 2. Auch das neben dem Rechtsstaatsprinzip in unserer Verfassung verankerte Sozialstaatsprinzip fördert die Bedeutung gerechter Strafzumessung. Wird die gerechte Strafe zunehmend als ultima ratio der Rechtspolitik aufgefaßt (Strafe nur, wo andere Mittel versagen), ist die Strafe noch weitergehend nur ultima ratio auch der allgemeinen Sozialpolitik (wie

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ich es in vielen Arbeiten vertreten habe), so muß die im Einzelfall zugemessene Strafe auch den Anforderungen der Rechtspolitik und Sozialpolitik genügen. Strafe muß remedium sein für fehlende Sozialisation des Täters, muß sozialpolitisch wirksam sein, muß „strafen aber auch heilen". Je mehr die Erkenntnis an Raum gewinnt, daß Strafe ein sozialpolitisches Mittel ist, desto gewichtiger wird im Einzelfall nicht nur die gerechte, sondern auch die sozialpolitisch effektive und zweckmäßige Strafzumessung. Daß wir hier schon ein Optimum an Balance zwischen den Zwecken der Generalprävention und der Spezialprävention erreicht hätten, wird niemand behaupten können. Solange unsere Rückfallquoten so hoch liegen, spricht zumindest einiges dagegen, daß Strafe derzeit bei uns sozialpolitisch zweckmäßig und effektiv eingesetzt werde. 3. Nun liegen die Defizite bei uns nicht nur beim Gesetzgeber und bei der Anwendung des materiellen Rechts. Fast ebenso wichtig sind die Defizite im Bereich des Strafprozeßrechts. Dem kundigen Thebaner ist längst bekannt, daß die Bonität und Effektivität eines Strafrechts, zumal eines Tatstrafrechts mit starkem täterstrafrechtlichem Akzent, wesentlich von der Konzeption und Güte des Strafprozeßrechts abhängt. Nun ist aber unser Strafprozeßrecht überwiegend tatstrafrechtlich konzipiert, zielt ab auf und instrumentalisiert die Aufdeckung der Tat in einem stark formalisierten Verfahren. Die Aufklärung der Täterpersönlichkeit, die Kriminaldiagnose und Prognose, das alles steht keinesfalls im Vordergrund, ist kaum je Gegenstand der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Zur „Individualisierung" der Rechtsfolge fehlt uns ein angemessenes und effektives Verfahren. Diese Erkenntnis hat bei uns schon seit geraumer Zeit den Wunsch nach einer Gesamtreform der Strafprozeßordnung genährt (die jedoch derzeit in weiter Ferne liegen dürfte2). Auch hat das Unbehagen mit einem Strafprozeß, der mehr auf ein Tatstrafrecht zugeschnitten war, zu Überlegungen geführt, die Hauptverhandlung in Strafsachen neu auszugestalten, und sie in zwei eigenständige Abschnitte zu zerlegen: Ein Präinterlokutverfahren, mit allen Förmlichkeiten ausgestattet und in der Regel öffentlich durchgeführt, soll die Frage der Tatbegehung klären. Steht die Tatbegehung nicht fest, so Freispruch, steht sie fest, so wird das in einem „Schuldinterlokut" oder „Tatinterlokut" festgestellt. Erst dann, also bei Feststellung der Tatbegehung und nach dieser Feststellung schließt sich ein Postinterlokutverfahren an, in der Regel nichtöffentlich, in welchem es um die Aufhellung der Täterpersönlichkeit und die Findung der hiernach angemessenen Rechtsfolge geht, also um die 2 Näher dazu mein Beitrag „Die Situation des deutschen Strafprozesses" in: Festschrift für Klug, hrsg. v. G. Kohlmann. Köln 1983, S. 459 ff.

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„Individualisierung der Strafe". Der Arbeitskreis Alternativentwurf hat im Mai 1985 ein entsprechendes und ausformuliertes Modell dazu vorgelegt. N o c h aber scheitert die Verwirklichung vieler, wenn nicht aller schönen wissenschaftlichen Arbeiten zur Strafzumessung zumeist daran, daß entsprechende prozessuale Möglichkeiten nicht vorhanden sind.

III. Strafgerechtigkeit 1. Nach dem zuvor Ausgeführten müßten eigentlich sowohl im Bereich des materiellen Strafrechts, wie im Bereich des Strafprozeßrechts alle Bemühungen um das Problem der Strafgerechtigkeit kreisen. Aber schon bei der Verwertung dieses terminus entsteht sofort die bange Frage, was denn nun „Strafgerechtigkeit" überhaupt sei. Die Frage nach der Strafgerechtigkeit zu stellen, ist fast noch boshafter, als zu fragen: „Was ist Gerechtigkeit". Hier wie dort gibt es viele wortreiche aber zumeist nicht völlig überzeugende Erklärungen. Wissen wir nicht sicher, was „Gerechtigkeit" ist, wie können wir dann wissen, was „Strafgerechtigkeit" sein soll! Hinzu kommt besonders im Strafrecht der alte Theorienstreit um Sinn oder Zweck der Strafe. Wie heißt es doch bei Senneca: „nam ut Plato ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur". Philosophen haben also schon immer über den Begriff der „Strafgerechtigkeit" und nicht nur über den allgemeinen der „Gerechtigkeit" gegrübelt. Rekapitulieren wir kurz die Bedeutung der Straftheorien für die jeweils dazu passende Strzizumes-

sungsxhtont: a) Wer mit Kant und Hegel, um nur die bedeutendsten unserer Philosophen zu nennen, eine absolute Straftheorie vertritt, nicht nach einem Zweck des Strafrechts fragt, sondern jeden Täter nach dem bestrafen will, „was seine Taten wert sind", der hat es bei der Strafzumessung scheinbar leicht. Scheinbar leicht, weil er mit der Strafe keine Zwecke verfolgen muß und die Ausrichtung der Strafe nach der Tatschuld einen gewissen Automatismus zu verbürgen scheint: Tat mit Tatschwere 19 ergibt Strafschwere 19. Scheinbar leicht, weil wir nicht einmal genau wissen, wann eine Tat schwer und wann sie leicht ist. Kommt es dabei auf den Erfolg der Tat an, oder auf die Art des Täterangriffs, oder auf den Grad der Verunsicherung der Rechtsgemeinschaft, um nur ein paar mögliche Kriterien zu nennen? Interessiert hauptsächlich das Maß der Rechtsgwtverletzung oder das der Rechtsß/Zzc&tverletzung? In moderne Kategorien übersetzt: interessiert das Maß des Erfolgsunwertes oder das des Aktunwertes? Oder eine Kombination von Akt- und Erfolgsunwert, und wenn dies, welche Kombination in welchem Gewichtsverhältnis?

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Schließlich ist zu bedenken, daß auch bei der absoluten Theorie also bei einer Bestrafung nach dem Maß des vom Täter schuldhaft angerichteten Unrechts, doch das Schuldprinzip zu beachten ist: nulla poena sine culpa. Schuld im Sinne individueller Verantwortlichkeit verweist aber wieder auf die Struktur der Täterpersönlichkeit. Daraus folgt notwendig, daß sogar bei der absoluten Straftheorie und bei einem reinen Tkistrafrecht Strafzumessung ohne Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit nicht erfolgen darf. Zumessungsgerechtigkeit ist also auch auf der Grundlage dieser beiden scheinbar die Arbeit erleichternden Prämissen nicht durch einfaches Ablesen auf einer Skala der Rechtsgütervalenzen möglich, Strafzumessungsgerechtigkeit steht also auch hier auf schwankendem Boden. b) Noch schlimmer wird es bei der Einführung des Strafzweckes der Generalprävention. Klar ist, daß, wenn dabei am Schuldstrafrecht festgehalten werden soll, Strafrecht also nicht zu einem präventivpolizeilichen Mittel entarten soll, alle soeben erörterten Schwierigkeiten bestehen bleiben. Auch ein generalpräventives Schuldstrafrecht kann von der individuellen Schuld der Täterpersönlichkeit nicht absehen. Hinzu kommt die völlige Ungewißheit, wie Bestrafungen bei ganz bestimmten Delikten auf ganz bestimmte potentielle Tätergruppen wirken würden. Wie soll sich bei dieser Unsicherheit generalpräventiv begründete Strafzumessungsgerechtigkeit herstellen lassen? Zum Glück hat sich bei uns in Literatur und Rechtsprechung der Grundsatz durchgesetzt, daß das schuldangemessene Maß der Strafe aus generalpräventiven Gründen nicht überschritten werden darf (während § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB hier recht unklar formuliert). Aber dieses Verbot der Überschreitung der schuldangemessenen Strafe ist nicht viel wert, wenn die Schuldangemessenheit selbst nicht klar erkennbar ist, mit der Folge, daß die h. M. eine „Punktstrafe" der Schuldangemessenheit nicht anerkennt (Konsequenz der sog. „Vereinigungstheorie" bei den Strafzwecken ist daher die „Spielraumtheorie" bei der Strafzumessung im Einzelfall). Die Unsicherheit des Einflusses generalpräventiver Überlegungen bei der Strafzumessung wird also durch das Gebot der Schuldangemessenheit keineswegs verringert. Sie wird vergrößert durch Vermehrung der unsicheren Maßstäbe um den selbst wieder höchst unsicheren weiteren Maßstab generalpräventiver Zwecksetzung. c) Schon nach diesen Ausführungen ist offenkundig, daß die allergrößte Verunsicherung im Bereich der Strafzumessungsgerechtigkeit eintreten muß, wenn man eine schuldangemessene Strafe unter spezialpräventiver Zwecksetzung verhängen will. Steigerbar ist diese Unsicherheit lediglich dadurch, daß man vielleicht gleichzeitig noch generalpräventive Zwecke verfolgen will. Und genau das ist bei uns h. M. und Rechtsprechung:

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Vereinigungstheorie der Strafzwecke mit der Folge der Spielraumtheorie bei der Einzelstrafzumessung: Berücksichtigung general- und spezialpräventiver Strafzwecke im Rahmen der Tatschuldangemessenheit! Kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß die Gewinnung spezialpräventiver Maßstäbe zur Strafzumessung voraussetzen würde, daß der Erziehungs- oder Abschreckungsbedarf beim einzelnen Täter genau ausgelotet werden könnte, daß Täterdiagnose und Täterprognose auch nur einigermaßen zuverlässig möglich wären! Darauf, daß, selbst wenn diese Möglichkeit bestünde, unser Straiprozeßrecht derartige Diagnosen und Prognosen kaum durchführbar erscheinen läßt, war schon oben hingewiesen. Wie also soll sich Strafzumessungsgerechtigkeit, ebenso wichtig wie Strafgerechtigkeit bezüglich des Ob der Tatbegehung, erreichen lassen? Müssen wir resignierend vom Wunsch nach Zumessungsgerechtigkeit Abschied nehmen? Würde das aber nicht rückwirken auf die Strafgerechtigkeit, in der Weise, daß wir gar nicht bestrafen dürfen, wenn wir nicht wissen, wie wir gerecht bestrafen sollen? 2. Erwarten Sie bitte von mir keine Patentlösung. Die wüßte ich selbst gern. Ich habe sie auch in der heute so reichhaltigen Literatur zur Strafzumessung nicht gefunden. a) Jedenfalls ist die gesetzliche Regelung, die wir in §46 StGB haben, nur sehr wenig hilfreich. Denn § 46 Abs. 1 ist vom Gesetzgeber mit der Formulierung: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe" bewußt unklar gehalten. In den früheren Entwürfen hieß es noch, daß die Schuld die Strafe begrenze, daß die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten dürfe. Man hat den Begriff der „Grundlage" bewußt so unklar gewählt, um auch aus spezialpräventiven Gründen die angemessene Tatschuld überschreiten und auch unterschreiten zu können (so Begründung des E62 S. 96, 181). In der Literatur fanden sich sogar Stimmen, die glaubten, die schuldangemessene Strafe auch aus generalpräventiven Gesichtspunkten überschreiten zu dürfen. Ein m. E. klarer Verstoß gegen das Schuldprinzip, sowohl bei der Überschreitung aus spezialpräventiven, als auch erst recht aus generalpräventiven Gründen. Im letzteren Fall wird wirklich der bestrafte Mensch unter Verstoß gegen das Schuldprinzip zum bloßen Mittel gemacht, um auf andere einzuwirken. Mit Recht nennt daher Bruns die Regelung in § 46 Abs. 1 Satz 1 eine „Leerformel" 3 . Satz 2 des Abs. 1 ist später durch den Sonderausschuß des Dt. Bundestages für die Strafrechtsreform eingefügt worden. Er

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Bruns, H.-J.: Strafzumessungsrecht. 2.Auflage, Köln u.a. 1974, S.309.

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enthält den Tropfen „spezialpräventiven Öls", wenn er anordnet, daß bei der Strafe auf der „Grundlage" der Schuld auch die Wirkungen für das künftige Leben des Täters zu beachten seien. b) Noch ärger steht es mit den Strafzumessungsgesichtspunkten, die der Gesetzgeber in §46 Abs. 2 aufgestellt und zur Abwägung des Gerichts bei der Strafzumessung gestellt hat. Hier wird Strafzumessung nur scheinbar rationalisiert, denn das Verhältnis der jeweiligen Gesichtspunkte zueinander ist völlig offengelassen, wohl auch gar nicht genau regelbar. Wieviel wiegen die Beweggründe des Täters, wenn sie nach Ansicht des Richters miserabel sind, im Verhältnis zum Bemühen des Täters, den Schaden wiedergutzumachen? 6 Punkte minus gegen 4 Punkte plus, oder umgekehrt 4 Punkte minus gegen 6 Punkte plus? Noch diffuser wird die Sache, wenn man bedenkt, daß viele der in § 46 Abs. 2 aufgezählten Gesichtspunkte durchaus ambivalent sind. Wie ist eine unglückliche Kindheit des Täters und früher Kontakt mit asozialem Milieu („Vorleben des Täters" in §46) zu werten? Strafmildernd wegen der Verführungssituation und deshalb geminderter Schuld? Oder, unter spezialpräventiven Gesichtspunkten, strafschärfend, weil den Bedarf an Umerziehung und Einwirkung auf den Täter steigernd? Sind gute „wirtschaftliche Verhältnisse" strafmildernd zu berücksichtigen, weil sie in gewissen Fällen die Rückfallgefahr mindern ( = spezialpräventive Betrachtung), oder soll man strafschärfend argumentieren, daß die Schuld eines Täters, der nicht aus wirtschaftlicher Not gehandelt hat, größer ist? Ist nicht alles nach wie vor richterlicher „Intuition" überlassen? Früher einmal hatte ich bei der Besprechung von Urteilen, die auf das Vorleben des Täters im NS-Regime abstellten, zu meinem größten Erstaunen festgestellt, daß die starke Einbindung in der Jugend in die NS-Ideologie zu höchst unterschiedlicher Bewertung führte. Mal wurde sie strafmildernd berücksichtigt, weil ja der Täter schon in der Jugend verführt worden war — mal strafschärfend, weil man glaubte, einer verfestigten Ideologie kräftig entgegenwirken zu müssen. 3. Auch der Alternativentwurf der deutschen und schweizerischen Strafrechtslehrer zum AT eines StGB (von 1966, 2. Aufl. 1969), hat eine Patentlösung nicht gefunden. Aber sein Vorschlag scheint mir noch im großen ganzen einigermaßen praktikabel, wenn er das Mindestmaß der zuzumessenden Strafe nach generalpräventiven-rechtsgüterschutzorientierten Kriterien festlegen wollte, das Höchstmaß der zuzumessenden Strafe aber nach der Tatschuld des Täters (also Tatschuld als klare Grenze, nicht als verschwommene „Grundlage"). Und dann sollte der Richter allein unter spezialpräventlven Gesichtspunkten von der Untergrenze ausgehend in Richtung Obergrenze die gerechte und effektive Strafe finden.

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Obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, daß ein Strafrecht soziale Zwecke verfolgen muß, will man es sozial-rechtlich und nicht bloß metaphysisch-sittlich rechtfertigen - obwohl ich deshalb nach wie vor meine, daß Strafzumessung ein Maximierungsproblem beider Strafzwecke sein müsse ( = möglichst viel Spezialprävention bei gleichzeitig möglichst viel Androhungsgeneralprävention) - glaube ich doch, daß für die praktische Arbeit der Strafzumessung die Notlösung des AE vorzuziehen sei. Denn wer kann schon die Verfolgung ganz unterschiedlicher Strafzwecke so ausbalancieren und die Zweckerreichung nach beiden Richtungen hin so maximieren oder optimieren, wenn unsere Tatsachengrundlage so schwankend und unsere Diagnose- und Prognosemöglichkeiten so unvollkommen sind! Strafgerechtigkeit also nur eine Wunschvorstellung? Kaum je erreichbar und in der Praxis wohl stets anzustreben, aber wohl immer auf ein notwendig vergröberndes Instrumentarium angewiesen?

IV. Das Urteil und sein Vollzug Dieses Ergebnis ist gewiß deprimierend und gern hätte ich eine bessere Lösung angeboten. Aber Euphemismus ist bei einer so grundlegenden Frage, wie der nach der Strafgerechtigkeit, wohl nicht angebracht. 1. Statt nun das Problem noch mit weiteren Fragestellungen zu belasten, was leicht wäre (man denke nur an die seit dem letzten Deutschen Juristentag wieder stärker diskutierte Frage der Opferberücksichtigung und der Genugtuungsfunktion der Strafe), möchte ich hier abschließend noch auf einen Aspekt hinweisen, der in der öffentlichen Diskussion noch keine besondere Rolle spielt. Dies ganz zu Unrecht, denn zur Bedeutung der Rechtsfolge im Strafrecht (dazu oben II) und zur Strafzumessungsgerechtigkeit und Strafgerechtigkeit (dazu oben III) gehört schließlich auch der Blick auf die Realität der zugemessenen Strafe. Geldstrafe und Geldstrafe ist zweierlei, je nachdem, ob in einem Fall die Geldstrafe vollstreckt, im anderen aber nach Art. 293 E G StGB (in den Ländern übrigens nach ganz verschiedenen Maßstäben) in Ableistung gemeinnütziger Arbeit umgewandelt, oder aber nach § 459 a StPO mit Zahlungserleichterungen versehen wird. Nach § 459 d StPO kann die Vollstreckung der Geldstrafe ganz unterbleiben, nach § 459 f StPO unterbleibt auch die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe, wenn die Vollstreckung eine unbillige Härte bedeuten würde. In der Realität höchst verschieden wirkende Geldstrafen (im Bereich der Schuldsühne, im Bereich der Spezial- oder Generalprävention und was die Genugtu-

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ung für das Tatopfer angeht)! Die Geldstrafe, die das erkennende Gericht verhängt, kann also später zu etwas völlig anderem werden, als sich der strafzumessende Richter vorgestellt hat. Noch stärker springt das ins Auge bei der vollstreckten (also nicht zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe. Freiheitsstrafe ist nach § 10 des seit dem 1.1.1977 geltenden Strafvollzugsgesetzes grundsätzlich und soweit möglich und verantwortbar im offenen Vollzug durchzuführen. Geschlossener Vollzug, also ständige Einsperrung, soll die Ausnahme sein für Gefangene, bei denen Fluchtgefahr oder Mißbrauchsgefahr besteht. Der offene Vollzug unterscheidet sich vom geschlossenen fast stärker, als sich offener Vollzug von Nichtbestrafung oder Strafaussetzung zur Bewährung unterscheidet. In seiner „offensten Form" wird der offene Vollzug im sog. „Freigang" vollzogen (§11 Abs. 1 N r . 1 StVollzG), d. h., der Gefangene ist nur abends in der Anstalt. Tagsüber ist er ohne Aufsicht bei irgendeiner Firma, oft sogar bei der bisherigen, tätig. Auf dem Weg von der Arbeit in die Anstalt läßt man ihn oft auch noch bei seiner Familie vorbeigehen, damit auch diese Kontakte erhalten bleiben. Vergleichbar vielleicht der semidetenzione im neuen italienischen Strafrecht, also der Halbgefangenschaft nach Art. 53 ff des italienischen StGB in der Fassung von 1981. Freiheitsstrafe, auch vollstreckte, ist also nicht gleich Freiheitsstrafe. Die Realität der Freiheitsstrafe zeigt sich erst im Vollzuge, auf den der verurteilende und strafzumessende Richter keinen Einfluß hat. Muß aber nicht die Realität der Strafe berücksichtigt werden, wenn wir von Strafgerechtigkeit sprechen? 2. Zwei grundverschiedene

Überlegungen lassen sich hier anstellen:

a) Immer wieder begegnen Versuche, auch im Vollzug der Freiheitsstrafe Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die mit der Tatschuld des Verurteilten in Zusammenhang stehen. So ist mancher geneigt, offenen Vollzug dann nicht vorzunehmen, wenn der Täter schwere Schuld auf sich geladen hat. Das ist aber nicht der Standpunkt des Strafvollzugsgesetzes, wenngleich in diesem Gesetz einzelne Hinwendungen zu diesem Prinzip begegnen. Zu erinnern ist hier etwa an § 13 Abs. 3 StVollzG, nach welchem Urlaub aus der Haft bei Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe erst nach 10 Jahren Vollzug der Freiheitsentziehung erfolgen darf. Zu erinnern ist auch an die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften der Länder zum StVollzG. Wenn in diesen Verwaltungsvorschriften etwa zu § 13 (Urlaub aus der Haft) in N r . 3 bestimmte Verurteilte vom Urlaub ganz ausgeschlossen werden (also auch dann, wenn eine gute Prognose bezüglich Rückkehr und Mißbrauchsausschluß besteht), oder, wenn in Nr. 4 Gefangene, die noch mehr als 18 Monate zu verbüßen haben, als ungeeignet für den Urlaub bezeichnet werden.

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b) Die andere Überlegung geht dahin, daß bei so unterschiedlichem Vollzug von Freiheitsstrafen (und so unterschiedlicher Vollstreckung von Geldstrafen) es doch eigentlich Aufgabe des erkennenden Gerichts sein müßte, zu bestimmen, ob nun etwa ein geschlossener Vollzug oder aber ein offener Vollzug (d.h. eine nur „halbe Freiheitsstrafe", eine semidetenzione) erfolgen soll. Das um so mehr, je mehr man sich bemüht, Strafzumessung gerechter und gleichzeitig effektiver zu machen. Es ist deshalb kein Zufall, daß der Arbeitskreis Alternativentwurf bei seinem oben (zu 113) geschilderten Arbeiten an einer Reform der Hauptverhandlung in Strafsachen, also bei seinem Bemühen, in einem intensiven Postinterlokutverfahren zu einer besseren Zumessung der Strafe zu kommen, die Frage aufwerfen mußte, ob man nicht dem erkennenden Gericht auch eine Aussage über bestimmte Arten des Vollzuges zugestehen oder gar abverlangen sollte. Wenn nach unseren Modellen der Strafrichter sich sehr intensiv mit der Täterpersönlichkeit und ihren kriminogenen Defiziten befaßt (im Bereich von Arbeit, Freizeitgestaltung, Schul- und Berufsausbildung, allgemeinem Sozialverhalten), so müßte er konsequent auch stärker auf den Vollzug der Strafe Einfluß nehmen, zumal Strafvollzug nicht gleich Strafvollzug ist. Es hat bei uns schon einzelne Urteile gegeben, in denen der erkennende Richter zur Art und zur näheren Ausgestaltung des Vollzuges im Urteilstenor (also nicht nur in den Urteilsgründen) Stellung genommen hat. Wir haben dieser Frage viel Aufmerksamkeit und Diskussion zugewandt. Gegen diese verbindliche Bestimmung des Vollzuges im Urteilstenor (was an sich aus Gründen der Strafgerechtigkeit vorzuziehen gewesen wäre) sprechen folgende Gründe: Entscheidungen im Vollzuge müssen flexibel sein, der Vollzug kann nicht durch den Urteilstenor ein für alle mal festgelegt werden. Das geht nicht, weil das Vollzugsverhalten des einzelnen Verurteilten nicht völlig prognostizierbar ist. Auch können sich im Vollzug neue Situationen ergeben. Der Gefangene kann krank werden, die Familienverhältnisse können sich ändern. Umgekehrt kann es im Vollzug neue stabilisierende Momente geben, etwa Kontakte zu resozialisierungsgünstigen Bezugspersonen. In den Anstalten können neue Ausbildungs- und Schulmaßnahmen angeboten werden. Alte Maßnahmen können entfallen. Auch das Interesse des Gefangenen an derartigen Maßnahmen kann sich ändern. Bestimmte Schulausbildung oder Berufsausbildung kann sich als zu schwierig herausstellen. Fluchtgefahr kann eintreten, die vorher nicht vorhanden war, usw. Alles das kann der erkennende Richter (besonders bei länger dauernden Freiheitsstrafen) nicht voraussehen - also kann er es auch nicht autoritativ im Urteilstenor festlegen. Würde man anders entscheiden, so müßte man die Möglichkeit schaffen, den Urteilstenor, der

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solche Anordnungen enthält, immer wieder zu ändern. Das aber wäre sehr mißlich für die formelle und materielle Rechtskraft der richterlichen Entscheidung. Als „zweitbeste" Lösung wurde von uns geprüft, ob man nicht, um möglichst viel Entscheidungskompetenz beim erkennenden Gericht anzusiedeln, gleichwohl aber Flexibilität zu erhalten, die Bestimmung des Gerichts in einem mit dem Urteil zu verkündenden Beschluß ansiedeln könnte. Derartige Beschlüsse haben wir bereits nach § 268 a StPO bei der Strafaussetzung zur Bewährung; über diese wird im Urteil entschieden - dagegen erfolgt die Festlegung der Bewährungszeit, der Auflagen und Weisungen, sowie die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer in einem gleichzeitig mit dem Urteil zu verkündenden Beschluß. Dieser ist nach §305a StPO auch isoliert (mit der Beschwerde) anfechtbar, so daß das Urteil schon in Rechtskraft erwachsen kann. Auf diese Weise würde wenigstens ein Nachteil der Tenorlösung, nämlich die Verzögerung des Eintretens der Rechtskraft bei Streit um die Vollzugsanordnungen des Richters, entfallen. Freilich blieben die anderen Nachteile bestehen. Auch der Beschluß müßte immer wieder den im Vollzug bestehenden und sich ändernden Verhältnissen angepaßt werden. Rechtssicherheit und Strafgerechtigkeit wären so kaum erreichbar. Immer wieder müßte, und zwar sehr schnell, der Beschluß an im Vollzug auftretende neue Gesichtspunkte angepaßt werden, mit der großen Gefahr, daß diese Anpassung oft zu spät käme. So blieb nur die Lösung, dem erkennenden Gericht Hinweise auf die Art und die Ausgestaltung des Vollzuges in den Urteilsgründen zu ermöglichen. Das haben wir in §267 Abs. 4 unseres Alternativentwurfs einer Novelle zur Reform der Hauptverhandlung (1985) vorgeschlagen. In einer Sollvorschrift (nicht immer wird der erkennende Richter zu einer klaren Stellungnahme gelangen können) wird vorgeschrieben, daß der Richter in den Urteilsgründen „zur Art und näheren Ausgestaltung des Vollzuges, insbesondere auch zu den dem Verurteilten während des Vollzuges zu gewährenden Hilfen" Stellung nehmen soll. Diese Stellungnahme hat Empfehlungscharakter (Begründung des AE S. 78), bindet den Vollzug also nicht und schon keineswegs auf Dauer. Allerdings soll die Vollzugsbehörde nur im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens von dieser Empfehlung abweichen. - Was den Umfang der Stellungnahme angeht, so soll der Richter möglichst Stellung nehmen zu den Punkten, die im „Vollzugsplan" (nach § 7 StVollzG von der Anstalt aufzustellen) eine Rolle spielen, also: offener - oder geschlossener Vollzug, Arbeitseinsatz, Berufsausbildung, Umschulung, Schulbildung, Außenbeschäftigung, Freigang, Art der Anstalt, Maßnahmen zur Entschuldung und zur Vorbereitung der Entlassung, usw.

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3. Auf diese Weise kann der Richter (hoffentlich zu erwartende) genauere Überlegungen zur Strafzumessung gleichzeitig für die Realität seiner Strafzumessung nutzbar machen, Sozialisationsdefizite nicht nur schlicht mit der Verhängung der Strafe, sondern mit Überlegungen zum Wie der Strafe bekämpfen. Erst so wird Strafzumessung mehr als ein reines Verdikt über Tat und Täter und erst so wird gesagt, wie die Freiheitsstrafe aussehen soll und wird damit Strafgerechtigkeit, wenn schon nicht hergestellt, so doch wenigstens angestrebt. Gleichwohl bleibt gerechte Strafzumessung wohl immer die schwierigste Aufgabe unserer Strafgerichte, und die Aufgabe, die am unvollkommensten gelöst ist. Aber gerade deshalb ist diese Aufgabe auch die lohnendste und gerade deshalb sollte man die Aufgabe auch richtig formulieren: als Zumessung nicht nur von Monaten oder Jahren Freiheitsstrafe, sondern als Zumessung einer ganz bestimmten und kriminalitätsbekämpfenden Sanktion. Nicht eine Zahl von Monaten oder Jahren Freiheitsstrafe und nicht eine Summe bei der Geldstrafe interessiert uns und darf uns interessieren - sondern das in seinem Vollzug wirksame Remedium gegen begangene und drohende Kriminalität.

Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall Zur Beschränkung der Strafrestaussetzung durch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 67 Abs. 5 StGB KLAUS

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Hilde Kaufmann hat niemals den Versuch gemacht, „echte Schuld" zu leugnen oder das Strafrecht abzuschaffen1. Aber sie hat dessen Veränderung mit gleicher Eindringlichkeit gefordert und angenommen, daß Strafrecht, beschränkt auf bestimmte Personengruppen, nämlich auf Jugendliche, „Abnorme in einem erweiterten Sinne des Wortes" und auf Hangtäter, durch Sonderregelungen, gemeint sind Maßregeln der Besserung, „ersetzt" werden kann2. Darüber hinaus stand die „Frage nach der richtigen Ausgestaltung des Reaktionssystems" im Zentrum ihrer wissenschaftlichen Forschung3. Dieses Ziel glaubte sie mit Recht nur auf dem Weg einer vorherigen empirischen Erhellung der kriminologischen Faktizität erreichen zu können, denn „die Kenntnis der Entstehungszusammenhänge ist die notwendige Voraussetzung für die Frage der Rechtsfolgen" 4 . Unter den Rechtsfolgen aber nahm die Sozialtherapie eine zentrale Stellung ein, und bei aller Skepsis über die bisher geleisteten Vorarbeiten der Psychologie und Soziologie lautete das Ergebnis des dritten Bandes ihres Lehrbuches: „Es gibt keine Alternative zur Sozialtherapie, wie langsam auch immer die Verbesserung ihrer Methoden vor sich gehen mag"5. Diesen Grad der Erkenntnis hat die „Gegenreform" und der gegenwärtige Gesetzgeber noch nicht erreicht. I. Der Sanktionsnotstand, der im folgenden erörtert wird, besteht darin, daß in den Fällen, in denen neben einer Freiheitsstrafe beim Verurteilten 1 Kaufmann, Hilde, S. 193-199 (197). 2 Kaufmann, Hilde, 3 Kaufmann, Hilde, Stuttgart 1971, S. 14. 4 Kaufmann, Hilde, 5 Kaufmann, Hilde, S. 202.

Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? J Z

1962,

a.a.O. (Anm. 1), S. 196. Kriminologie I, Entstehungszusammenhänge des Verbrechens, a.a.O. (Anm. 3), S. 14. Kriminologie III, Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart 1977,

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eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach §63 StGB oder §64 StGB (§§ i. f. sind solche des StGB) angeordnet und diese vor der Strafe vollzogen worden ist, auch dann die Entlassung nicht vor Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe verfügt werden darf, wenn die Behandlung des Straftäters vorher erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Der Grund liegt in der restriktiven Auslegung des § 67 Abs. 5 durch die Oberlandesgerichte6. Sie deuten Satz 1 - „Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes auch dann nach § 57 Abs. 1 zur Bewährung aussetzen, wenn noch nicht zwei Drittel der verhängten Strafe durch die Anrechnung erledigt sind" dahin, daß der Gesetzgeber nur die Frist des §57 Abs. 1, nicht aber die des Absatzes 2 erfassen wollte, der die Voraussetzungen regelt, bei deren Vorliegen ein Strafrest ausnahmsweise schon nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe ausgesetzt werden darf. Gegen diese Auslegung und für die Befreiung der Aussetzung des Strafrestes von jeder Mindestverbüßung haben Hanack7 und Marquardt gute Gründe geltend gemacht. Zum gleichen Ergebnis kommen LacknerTröndlew und Lencknernicht aber Horn12 und Stree". Der Bundesrat glaubt nun den Streit mit einer nackten Gesetzesänderung, d. h. einer solchen ohne zureichende Begründung, beenden zu können. Er schlägt folgende Gesetzesänderung vor: „Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 zur Bewährung aussetzen, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist." Die Begründung lautet: „§ 67 Abs. 5 Satz 1 StGB-Entw. klärt die Streitfrage, ob eine Aussetzung des Strafrestes auch dann zulässig ist, wenn noch nicht die Hälfte der Strafe durch Anrechnung erledigt ist (vgl. Stree in Schönke-Schröder, StGB, 21. Aufl., § 6 7 Rdn.4). Die vom Entwurf vorgeschlagene Lösung beruht auf der Erwägung, daß die breite Palette der

' O L G Hamm M D R 1977, S. 334; O L G Celle J R 1978, S. 421 ; O L G Karlsruhe M D R 1981, S. 867; O L G Stuttgart NStZ 1984, S. 77. 7 Hanack, Emst-Walter, Probleme des Vikariierens und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§§67, 64 StGB), in: J R 1978, S. 399-403. 8 Marquardt, Helmut, Dogmatik und kriminologische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maßregel, Berlin 1972. ' Lackner, Karl, Strafgesetzbuch, 16. Aufl., München 1985, Anm. 5 zu §67. 10 Tröndle, in: Dreher-Tröndle, Strafgesetzbuch, 41. Aufl., München 1983, Rdn. 6 zu §67. 11 Lenckner, Theodor, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie I, Hg., H. Göppinger u. H. Witter, Berlin 1972, S. 3-286. 12 Horn, Eckhard, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I, AT, 3. Aufl., Frankfurt, Stand Sept. 1985, Rdn. 7 zu §67. 13 Stree, Walter, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 22. Aufl., München 1985, Rdn.4 zu §67.

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Strafzwecke auch in dem hier in Frage stehenden Bereich nicht völlig zugunsten des Rehabilitationsgedankens aufgegeben werden darf. Ebenso dürfte der Gleichbehandlungsgrundsatz eine noch weitergehende Privilegierung des Untergebrachten verbieten" 1 4 .

Wird dieser Vorschlag Gesetz - der Rechtsausschuß hat ihm schon zugestimmt15 - , dann dürfte nicht nur, sondern dann wird ein Sanktionsnotstand zementiert. II. Die folgende Erörterung versucht das zu verbinden, was Hilde Kaufmann offenbar methodologisch schon vorgeschwebt hatte, nämlich die „Einzelfallanalyse methodisch auszubauen"16 und der juristischen Argumentation als notwendig vorgelagerte, empirisch gesicherte Kenntnis dienstbar zu machen. Für den Verfasser (Verf.) bedeutet dieser Weg nicht zugleich auch die Übernahme der theoretischen Implikationen der Phänomenologie im Sinne Husserls, der solche „Sichtbarmachung" im übrigen zuzuordnen ist, und schon gar nicht die Abkehr vom Forschungsparadigma des kritischen Rationalismus mit den insbesondere aus der Psychologie und Soziologie übernommenen statistischen Verfahren. Der Einzelfall soll lediglich das Charakteristische einer Fallgruppe plakativ belegen, wobei einzuräumen ist, daß bei hinreichend weiter Differenzierung kein Fall wie der andere ist und daß man nie sicher sein kann, den adäquaten Fall stellvertretend erfaßt zu haben. Nur: Jedes korrigierende statistische Verfahren ebnet zugleich die einmalige Farbigkeit des Einzelfalles ein. Der Verf. will sie hier; er muß daher das Risiko eines Fehlgriffs akzeptieren. III. Der Fall erscheint zunächst banal. Die angeklagte Probandin (Prob.) entwendete im Zeitraum von November bis Januar 1983 in neun Fällen Handtaschen, die von Kundinnen während des Einkaufens in Warenhäusern für einen Augenblick unbeaufsichtigt gelassen waren. Sie entnahm ihnen Bargeld, Schecks und Scheckkarte und warf das Übrige in Papierkörbe. Von den 61 erbeuteten Schecks benutzte sie 20 zum Einkaufen und fälschte dabei die Unterschrift. Der Schaden - eingelöste Schecks und Bargeld - betrug circa 8 350,- DM. Auch zur Jahreswende

14 Bundesrat, Entwurf eines . . . Strafrechtsänderungsgesetzes, in: Bundestagsdrucksache 3 7 0 / 8 4 , (S. 5, 13). 15 Rechtsausschuß des Bundestages (6. Ausschuß), Bundestagsdrucksache 1 0 / 4 3 9 1 ; 10. Wahlperiode. 16 Kaufmann, Hilde, a.a.O. ( A n m . 3 ) , S . 2 6 0 .

in: Beschlußempfehlung und Bericht,

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1983/84 entwendete die Prob, in vier nachgewiesenen Fällen Handtaschen und Waren aus Selbstbedienungsläden und Warenhäusern. Bei den gestohlenen oder mit gefälschten Schecks gekauften Waren, handelte es sich um ein buntes Sammelsurium vom Damennachthemd über Kosmetika, Herrenhemden, Lebensmittel, bis hin zu Schreibtischgarnitur, Büchern, Solarmobil, Schottenrock und Herrenanzug. Ferner fällt auf, daß die Prob., obwohl sie im September 83 beim Diebstahl ertappt und von der Polizei - weil sie mit der Beute fliehen wollte und wild um sich schlug - überwältigt werden mußte, bis zum April 84 weiter stahl, wobei sie noch zweimal von einem Hausdetektiv festgenommen wurde. Zur ersten Exploration - Verf. hatte ein Gutachten zur angemessenen Sanktion zu erstellen - erscheint ganz unerwartet eine zutiefst verunsicherte Frau, der man eine solche „kriminelle Energie" spontan absprechen möchte. Sie zittert vor Angst, antwortet devot und mit leiser Stimme, weint häufig und erscheint unansprechbar gestört. Diese Hilflosigkeit eines in seiner Existenz offenbar nachhaltig zerrütteten Menschen haben auch die jeweiligen Anklagevertreter gespürt. Bei der vorletzten Verurteilung beantragte der Staatsanwalt zwar sechs Monate Freiheitsstrafe, blickte dann aber auf die scheue Angeklagte, senkte den Blick und fügte tonlos hinzu: „Auf Bewährung". Das strafrechtlich relevante Verhalten begann etwa 1975 mit einem Ladendiebstahl, der aber ohne Staatsanwaltschaft beigelegt wurde. Danach erfolgten folgende Verurteilungen: - 1976/77 wegen Ladendiebstahls zu 200,- D M Geldstrafe, - 1979 wegen Ladendiebstahls zu fünf Tagessätzen zu je 10,- D M Geldstrafe, - 1979 wegen Diebstahls zu 40 Tagessätzen zu je 10,- D M Geldstrafe, - 1980 wegen Diebstahls zu zwei Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, - 1981 wegen Diebstahls zu drei Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, - 1983 wegen Diebstahls zu einem Monat Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung. O b diese Verurteilungen und die angeklagten Tathandlungen das tatsächliche Ausmaß der Diebstähle erfassen, konnte nicht eruiert werden. 1. Lebenslauf der Probandin Bereits die äußere Lebensgeschichte weist Besonderheiten auf: Die heute 40jährige Prob, wurde unehelich geboren und kam gleich nach der Geburt zu Pflegeeltern, die sie im Alter von vier Monaten adoptierten. Sie absolvierte erfolgreich die Grundschule und besuchte das Gymna-

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sium bis zum Alter von 16 Jahren. D a sich ihre Leistungen nun verschlechterten, wechselte sie zur Mittelschule über, machte dort aber die mittlere Reife. Der Leistungseinbruch ist wahrscheinlich auf ein traumatisches Ereignis zurückzuführen, das sie bis heute nicht verarbeitet hat. Im Alter von 15 Jahren erklärte ihr eine Nachbarin auf der Straße, offenbar mit dem Unterton der Gehässigkeit, daß sie ein Adoptivkind sei. Diese Nachricht traf die völlig unvorbereitete Prob, nachhaltig, wurde von ihr als existenzvernichtend empfunden, wohl insbesondere deshalb, weil die Pflegeeltern ihrem Kind in der Wohnsiedlung einfacher Arbeiter und kleiner Angestellter die Sonderrolle, etwas Besseres zu sein, zudiktiert hatten. Es wurde verhätschelt und verwöhnt und vor allem von den Nachbarkindern isoliert (Spielverbot, weißes Kleidchen). Die Prob., die diese Selbsteinschätzung internalisiert hatte, dachte an Selbstmord, wurde aber von einer verständigen Lehrerin, der sie sich anvertraut hatte, davon abgebracht. Nach der mittleren Reife arbeitete die Prob, als kaufmännische Angestellte. Bereits im Alter von 18 Jahren heiratete sie einen Mann aus der Nachbarschaft und lebte mit ihm im Haus der Adoptiveltern. In dieser Zeit war die Adoptivmutter die Tonangebende im Haus. Sie starb nach 2/2 Jahren, der Adoptivvater heiratete erneut und zog aus. Von der Familie ihres Mannes wurde die Prob, wie eine „Tochter" aufgenommen. Die gemeinsamen Wochenendaktivitäten endeten aber im Verlauf der Jahre, weil sich die Prob, zurückzog, insbesondere als ihre Schwiegermutter krank und pflegebedürftig wurde. Als im vierten Ehejahr ein Sohn geboren wurde, gab die Prob, ihre Arbeit auf und widmete sich nur noch der Familie. Ein Jahr später wurde eine Tochter geboren. N o c h etwa fünf Jahre nach der Geburt ihrer Kinder lebte die Prob, ein vergleichsweise unauffälliges Leben. Danach begann ein Prozeß der Persönlichkeitsspaltung - nicht im psychotischen Sinne - , der im nachhinein fast dem Phänomen des double conscience nahekommt. Die Prob, fühlte sich von ihrem Mann und ihren Kindern zunehmend ausgeschlossen, nicht zu ihnen gehörig. Sie artikulierte diesen Zustand einmal mit den Worten: „die drei und ich". Zugleich verband sich mit dem Gefühl des Ausgeschlossenseins das Gefühl der Minderwertigkeit, das sich zunehmend steigerte und heute Grundlage ihrer geradezu devoten Haltung ist: „Mein Mann ist so klug; er kann alles, repariert alles im H a u s " . „Ich kann nichts und bin nichts". N u r die Diebstähle scheint sie wirklich und aktiv gelebt zu haben. Die Ursachen für diese Isolierung ließen sich nicht eindeutig aufhellen. Sicher dürfte das Bedürfnis der Prob, nach Zuwendung und Zärtlichkeit von ihrem Ehemann nicht befriedigt worden sein. Auch die sexuellen Kontakte vollzogen sich nach ihrem Empfinden als zu nüch-

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tern. Zwar kam ihr Mann drei- bis viermal in der Woche in ihr Bett, war aber nach zwei bis drei Minuten „fertig". Im 13. Ehejahr, die Prob, war jetzt 31 Jahre alt, rissen die sexuellen Beziehungen zwischen den Eheleuten ganz ab, der Ehemann zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus, wohnte seitdem im Erdgeschoß und wurde verdächtigt, eine Freundin zu haben, ein Verdacht, den die Prob, heute als Irrtum hinstellt. Sie selbst dagegen freundete sich mit einem finanziell verschuldeten Nachbarn, einem Gymnasiallehrer, an. Daraus entstand nach etwa einem Jahr ein festes Verhältnis mit regelmäßigen sexuellen Kontakten. Außergewöhnlich an diesem Verhältnis war, daß die Prob, ihren Freund kontinuierlich mit Geld (ihr Mann mußte ihr das gemeinsame Konto sperren) und Waren aus den Diebstählen versorgte - ein Strafverfahren wegen Hehlerei mußte eingestellt werden, weil der Vorsatz nicht nachweisbar war und daß sie in die Rolle einer Dienerin gedrängt wurde mit möglicherweise sado-masochistischer Färbung. Daß sie seinen Garten umgrub, während er im Haus die Zeitung las, kann noch als rollenspezifische Profilierung interpretiert werden. Abnorm dagegen war, daß er beim Kauf zweier Stühle von einem die Füße verkürzen ließ, damit sie niedriger am Tisch sitzen und die Hände nach Art braver Schulmädchen auflegen konnte. Später räumte die Prob, auch ein, daß sie geschlagen worden war. Noch während der Exploration sprach sie mit einer Mischung aus Angst und Hochachtung von einem „so gebildeten Herrn" und wunderte sich eigentlich immer noch, daß „er sich ihr überhaupt zugewandt hatte". Im Prozeß hat sie ihn aus Angst vor seiner Macht voll gedeckt und entlastet. Dieses Verhältnis, in dem sie immerhin auch Zärtlichkeit (Streicheln) erfahren hatte, bestand bis kurz vor der letzten Verurteilung, also etwa sechs Jahre lang. Während dieser Zeit versorgte sie zwei Haushalte, den ihrer Familie und den ihres Freundes. Den ersten ernsthaften Selbstmord versuchte sie kurz vor ihrer dritten Verurteilung. Sie fuhr mit einem Pkw frontal gegen einen entgegenkommenden Tanklastwagen und überlebte ohne bleibende Verletzungen. Danach kam sie in ambulante psychotherapeutische Behandlung, die mit Unterbrechungen etwa vier Jahre lang durchgeführt wurde. Nach ihrer großen Diebstahlsserie von Handtaschen machte sie einen zweiten Selbstmordversuch mit Schlaftabletten und wurde zur stationären Behandlung in eine psychiatrische Klinik auf die Dauer von vier Wochen eingewiesen. 2. Bezugspersonen der Probandin Zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung - vor der letzten Verurteilung - wird die Prob, nur von einem Gedanken beherrscht: Sie hat Angst, zu „Gefängnis" verurteilt zu werden. Eine vollzogene Freiheitsstrafe würde sie auch mit hoher Wahrscheinlichkeit vollkommen zerstö-

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ren und praktisch therapieunfähig machen. Diese Befürchtung läßt sich aus ihrer gegenwärtigen Lage begründen. Der Tagesablauf der Prob, verläuft ereignislos und ist auf ein Minimum von Interaktionen mit ihren Familienmitgliedern beschränkt und ohne emotionale Resonanz. Ihre Tätigkeiten bestehen im Saubermachen und Essenvorbereiten. Zu gemeinsamen Aktivitäten k o m m t es nicht. Die Prob, ist froh, wenn sie sich nach der Küchenarbeit nachmittags zu ihrem Sohn ins Wohnzimmer setzen „darf". Sie muß aber still sein (stricken) und darf ihn nicht stören (Schularbeiten). Selbst am Weihnachtsabend - die Prob, muß alle Vorbereitungen alleine treffen - gehen „die drei" voraus in die Messe, während sie den Tisch abräumt und spült, warten aber nicht auf sie. Die Prob, lebt praktisch n e b e n ihrem Mann und ihren Kindern. Die Familie hat die Selbstisolierung der Prob, mitvollzogen und fordert sie nicht mehr auf, sich am familiären Geschehen zu beteiligen. Ihr Mann äußert schon lange ihr gegenüber keine Zeichen der Zuwendung oder Vertraulichkeit. Körperliche Kontakte kommen nicht vor. Es gelingt beiden nicht, ihre ehelichen Konflikte zu verbalisieren oder gar zu lösen. Selbst nach lautstarkem Streit folgt keine versöhnende Aussprache. Im Außenfeld allerdings tritt der Ehemann für die Prob, ein, bezahlt die Rechnungen des Anwalts und hat noch niemals mit Scheidung gedroht. Diese formale Anständigkeit mag in seiner katholischen Erziehung begründet sein. Aber nicht nur ihr Mann, sondern auch ihr Sohn hat offenbar die dienende Rolle der Prob, als „getretenes H ü n d c h e n " akzeptiert, ohne daß er Gefühle äußert, die so etwas wie Zuneigung oder mitmenschliche Wärme ausdrücken. Den besten emotionalen Kontakt hat die Prob, noch zu ihrer Tochter, der aber auch durch Gehorsam gekennzeichnet ist. Wenn die Tochter die weitere Psychotherapie verbietet, dann bricht die Prob, sie ab. Erst als sie sich die Fortsetzung flehend zum Geburtstag wünscht, „erlaubt" es die Tochter. D i e Prob, projiziert ihre Situation sehr deutlich in die Tafel 3 G F des Thematic Apperception Test ( T A T ) : „Drinnen sitzen alle zusammen. Sie ist ausgeschlossen. Mit ihr spricht man nicht. Sie läßt man auch nicht mitreden. Sie fragt sich, wie soll das anders werden? Sie geht auch lieber raus. D a s ist besser so. Alleine kann man viel besser weinen. Sie will nicht, daß die anderen ihr Leid sehen. Ich weiß nicht, warum die anderen so lustig sind. Sie selber hat nichts erlebt, kann nichts erzählen. Im H a u s e erlebt man ja nichts. A B : Sie wird zum Friedhof gehen. A B : Weil ich das auch mache. Ich gehe auch auf den Friedhof und erzähle meiner M a m a (Adoptivmutter) alles. Sie hat nicht viel H o f f n u n g , daß das anders wird".

Als Ausnahme erscheint nur ein Ubertragungsverhältnis zur Psychotherapeutin zu bestehen, das aber ebenfalls durch Unterwürfigkeit gekennzeichnet ist. Die Prob, projiziert ihr verklärtes Mutter-KindVerhältnis auf die Arztin, die die Mutterrolle einnimmt. Keine Beziehungen bestehen dagegen zu ihrem Adoptivvater und dessen zweiter Frau. Es entspricht geradezu einem Lehrbuchfall, daß die Prob, ein Kätzchen hat, das „sich immer an sie schmiegt und auf sie wartet". Als Ergebnis ist mithin festzuhalten, daß die Prob, in emotionaler Isolierung die inferiore Rolle der geprügelten Dienerin übernommen hat. Ausgestoßen von der Familie und schamlos ausgenutzt vom Freund, hat sie einen Grad von Hilflosigkeit erreicht, in der Wirklich-

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keit und Vorstellung anfangen, ineinander überzugehen. Die Prob, erklärt ihrer Therapeutin am Telefon, daß es sie (die Prob.) gar nicht gäbe. Sie sei auf dem Weg zum Telefon am Spiegel vorbeigekommen und habe sich nicht mehr gesehen. „Aber dann hat die Frau D o k t o r mich zurückgeschickt und gesagt, schauen sie in den Spiegel, da können sie sich sehen. U n d dann habe ich mich gesehen und gewußt: Es gibt mich doch". Unter dem Eindruck dieser fragilen Lage überrascht ein Ereignis, auf das Verf. durch puren Zufall gestoßen ist. Ein Mann mittleren Alters meldet sich, bittet um einen Termin und erzählt dann, er habe die Prob, auf dem letzten Faschingsball kennengelernt. Sie sei dort mit ihrer Freundin gewesen. Er liebe sie. Sie sei eine so tolle Frau. Er sei zwar verheiratet, aber das mache nichts. Er lasse sich scheiden. Die Prob, möchte er heiraten und erbittet dazu jede Hilfe. Double conscience ähnliches Verhalten oder Ausagieren unbefriedigter Bedürfnisse nach Aktivität, Einfluß und Zuwendung? Die Prob, äußert sich über diesen Sachverhalt genausowenig wie über die näheren Umstände der Diebstähle. Sie schweigt, zittert, weint und sagt, daß sie sich nicht erinnere. N u r die Delikte, die ihr von der Polizei nachgewiesen sind, gibt sie zu, aber mit der Begründung, wenn die Polizei das sage, wird es wohl stimmen. Man könnte meinen, sie lüge geschickt, um günstig beurteilt zu werden. Immerhin hatte sie nicht einmal ihrer Psychotherapeutin die Existenz des ersten Freundes mitgeteilt, so daß ihr Ehemann als böser Macho und Unterdrückter von Frauenrechten eingestuft wurde. Tatsächlich wird man annehmen müssen, daß bei der Prob, taktierendes Lügen und Verdrängung fließend ineinander übergehen. 3. Hypothesen

zur

Ätiologie

Eine adäquate Sanktion m u ß die Ursachen der Störung berücksichtigen. Zunächst haben ein Psychiater und eine von der Medizin herkommende Psychotherapeutin unabhängig voneinander festgestellt, daß eine Erkrankung psychotischer Art nicht vorliegt. Auch einen Fall von „pathologischer Kleptomanie" wird man ablehnen müssen. In diesen Fällen offenbaren sich die Frauen dem Gutachter gegenüber und berichten, daß sie aus einem „unwiderstehlichen Drang" gehandelt oder „orgasmusartige sexuelle Gefühle" während des Stehlakts erlebt hätten 17 . Derartige Beobachtungen liegen hier nicht vor. 17 Floru, L., Der Begriff des pathologischen Stehlens, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1957, S. 72-88; Schumann, Hans-Joachim von, Entschuldbare Eigentumsdelikte, Hamburg 1975, S. 64 ff; Dietrich, Heinz, Manie - Manomanie - Soziopathie und Verbrechen, Stuttgart 1968, S. 43 ff.

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Eine psychoanalytische Interpretation liegt zwar nahe, dürfte aber wohl nur den Psychoanalytiker überzeugen. Man könnte annehmen, das Trauma der Adoption und die Unfähigkeit des Adoptivvaters, die Vaterrolle beizubehalten, haben dazu geführt, daß die Vaterfigur negativ besetzt, verdrängt, die Mutterrolle hingegen positiv besetzt und kindlich verklärt worden ist. Die „Fluchtheirat" spricht dafür, daß die Prob, nicht einen Partner, sondern eine Vaterfigur als Ersatz gesucht hat. Diese Erwartung hat ihr Ehemann nicht erfüllen können. Die Diebstähle wären dann Handlungen, um die Vaterfigur herauszufordern, sei es in Form von Racheakten wegen der fehlenden Zuwendung im Kindesalter oder in Form von Aufmerksamkeitshandlungen, um die gegenwärtige Zuwendung, wenn auch nur in Form von Beschimpfung zu erhalten. Näher dürfte die schon oben erwähnte Hypothese von der zwanghaften Kompensation unterdrückter Bedürfnisse der Zuwendung, des Einflusses und der Aktivität auf der Grundlage einer infantilen und existentiell verunsicherten Persönlichkeit sein. Unter dieser Annahme läßt sich auch die rationale Klarheit, ja geradezu Gerissenheit der Prob, bei der Ausführung der Delikte - abwarten bis eine Kundin ihre Handtasche unbeobachtet läßt und blitzschnelles Zugreifen - leicht einordnen. Die Funktion der Diebstahlshandlung liegt in der zeitweiligen Befreiung von der permanenten Bedrückung, wobei anzunehmen ist, daß positive Gefühle der eigenen Stärke, des Wohlbehagens und wohl auch der Freude auftreten. Einfügen läßt sich in diese Hypothese auch die sprühende Aktivität der Prob, auf dem Faschingsball, da das kompensatorisch-ausagierende Verhalten nicht notwendigerweise ein deliktisches Verhalten sein muß. Für ihre Rolle als unterdrückte Dienerin des Hauses kommt ein allein besuchter Faschingsball ohnehin einem abweichenden Verhalten gleich. Die beiden Sachverständigen sprechen von einem „depressiven Syndrom bei hysterischer Grundstruktur" oder von einer „schweren neurotischen Persönlichkeitsstörung von Krankheitswert", wobei der Diebstahl selbst als „depressive Durchbruchshandlung" zu deuten sei. Sie billigen der Prob. §21 StGB zu. 4. Art der

Sanktion

Problematisch ist die Folgerung, die der Richter aus diesen Befunden ziehen soll. Lassen wir die Frage des Schuldausgleichs als Geheimnis des Richters beiseite, dann wird man zu den zur Verfügung stehenden Sanktionen sagen dürfen: Eine Geldstrafe wird wegen der unveränderten Bedingungskonstellation wohl ohne Einfluß bleiben und eine Freiheitsstrafe wird das Gericht wegen der bisher erfolglosen Strafaussetzungen nicht noch einmal aussetzen können.

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Würde eine Freiheitsstrafe vollzogen, so bliebe die Prob, nicht nur ohne Behandlung, sondern würde weiter in die emotionale Isolierung hineingedrängt werden. Das Stigma „im Gefängnis gewesen", würde ihre inferiore Rolle in der Familie und ihr negatives Selbstbild noch verstärken, und ihr Ehemann hätte wegen der ablehnenden Reaktion der Nachbarschaft noch größere Schwierigkeiten, auf seine Frau zuzugehen. Der Gefängnisaufenthalt und die daraus folgende Stigmatisierung könnte also bei der Prob, zum totalen Zusammenbruch und zum Selbstmord führen. Die geeignete Sanktion müßte mithin die drei wichtigen Aspekte der - möglichst geringfügigen Stigmatisierung, der - Erhaltung noch vorhandener Bindungen in der eigenen Familie und der - Ermöglichung einer weiterführenden psychotherapeutischen Behandlung berücksichtigen. Steht eine solche Maßregel dem Richter zur Verfügung?

IV. Nach dem Gesetz hat der Richter zunächst wegen des Schuldausgleichs auf eine Strafe zu erkennen. Das Landgericht hat daher die Prob, zu zwei Gesamtfreiheitsstrafen von insgesamt 25 Monaten verurteilt und eine Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt. Da eine bloße Freiheitsstrafe aber den Sanktionsbedürfnissen des Falles nicht gerecht wurde und die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit gemäß §21 vorlagen, hat es zugleich die Unterbringung der Prob, in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 angeordnet und vorsorglich - wegen Suizidgefahr - die sofortige Einweisung verfügt. Als Kernfrage bleibt, ob § 63 geeignet ist, den Sanktionsnotstand, der in diesem und in vergleichbaren Fällen auftritt, zu beseitigen. Die Frage stellt sich insbesondere aus zwei Gründen. Einmal ist die Maßregel der sozialtherapeutischen Anstalt (§65) nun endgültig dem Sparen am falschen Platz mit der Folge zum Opfer gefallen, daß der Richter bei den therapiebedürftigen Fällen der verminderten Schuldfähigkeit - mit Ausnahme der Suchtfälle nach § 64 - auf die Maßregel des § 63 beschränkt ist. Zum anderen kann die Maßregel der Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus,wie oben dargelegt, wegen der restriktiven Rechtsprechung der Oberlandesgerichte erst dann beendet werden, wenn sie mindestens bis zur Hälfte der gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe vollzogen ist. Das aber bedeutet das Wegsperren dieser Fallgruppe im psychiatrischen Krankenhaus, und zwar nach erfolgreicher Therapie.

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Die Einweisung dieser Verurteilten erfolgt nach dem Grundgedanken des §63: Es soll die Gesellschaft vor den gefährlichen Straftätern geschützt werden, denn die „Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat" muß ergeben, „daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist". Der Grad der Gefährlichkeit in § 63 wird aber - mit Recht - niedriger angesetzt als in § 66, nach dem die Sicherungsverwahrung angeordnet wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügen bereits Delikte der mittleren Kriminalität, was auch immer das sein mag: im entschiedenen Fall eine Serie von Einbrüchen mit einem Gesamtschaden von 1500,- DM18. Die Folge der Reduzierung des Gefährlichkeitsgrades ist eine Zunahme der Bedeutung des Merkmals therapiebedürftig. Nach Rechtsprechung und Literatur erfolgt die Einweisung nicht nur zur Sicherung des Täters, sondern - als Nebenzweck - auch zu seiner Besserung. Nach manchen hat sogar der „Resozialisierungs- oder Rehabilitationsgedanke grundsätzlich Vorrang vor dem Sicherungszweck" 1 '. Zwar widerspricht m. E. diese Tendenz dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62), doch spiegelt sie das vernünftige Bedürfnis der Praxis wider, die Fälle, die therapiebedürftig und therapiegeeignet sind, mit Hilfe des Merkmals „gefährlich" über §63 wenigstens der Psychotherapie eines psychiatrischen Krankenhauses zuzuführen. Dieser Weg kann aber kein Ersatz der leichtfertig gestrichenen Maßregel sozialtherapeutische Anstalt sein. Bei einem Teil der Fälle, nämlich bei den Eigentums- und Vermögensdelikten unterhalb des Einbruchs in Serie, dürfte das Merkmal „für die Allgemeinheit gefährlich" und damit die Voraussetzungen des §63 gar nicht vorliegen. Auch unsere Prob, hätte nach dem jetzigen gesetzlichen Sanktionensystem in den Erst- und, nach dem mit Sicherheit folgenden nächsten Delikt, in den Regelvollzug eingewiesen werden müssen. Darüberhinaus sind die psychiatrischen Krankenhäuser für diese Einweisungsfälle contra legem nur bedingt eingerichtet. Wird nämlich ein Verurteilter nach §63 als „gefährlich" eingewiesen, wird er notwendigerweise in der geschlossenen (forensischen) Abteilung untergebracht, und zwar ohne Rücksicht auf sein eigenes Krankheitsbild. Da diese Abteilung mit den „schweren Fällen" belegt ist, muß er einmal mit diesen auf engem Raum zusammenleben und bleibt darüberhinaus praktisch ohne Psychotherapie, weil auf einer geschlossenen (forensischen) Station mit Psychopathen und Oligophrenen eine solche Behandlung nur in Ansätzen möglich ist. So war es im BGHSt, N J W 1976, S. 1949. Müller-Dietz, Heinz, Rechtsfragen der Unterbringung nach §63 StGB, in: NStZ 1983, S. 145-152 und S. 203-207, (S. 148). 18

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vorliegenden Fall trotz zahlreicher Telefonate, die im Regelfall nicht geführt werden, nicht möglich, in Bayern und außerhalb Bayerns ein zuständiges psychiatrisches Krankenhaus zu finden, das eine geeignete Therapie hätte anbieten können. Daher hat auch unsere Prob, die geschlossene Abteilung als erdrückende Bedrohung ihrer Existenz erlebt und mit panischer Angst reagiert. Man wird wohl zugeben müssen, daß weder ihre „schwere neurotische Persönlichkeitsstörung" noch ihre „Gefährlichkeit" eine solche Form von Freiheitsentzug rechtfertigen. Das Gericht trifft kein Vorwurf: Es hat in seinem Sanktionsnotstand mit Bezug auf die Zukunft nur das geringste Übel gewählt. Nun mag man einwenden, daß der Klinikchef als zuständiger Vollzugsleiter für den Maßregelvollzug den Verurteilten in die offene Abteilung verlegen und damit einer Psychotherapie zuführen kann. Rechtlich hat er diese Befugnis, faktisch muß er sie mit größter Zurückhaltung ausüben. E r haftet nämlich der Öffentlichkeit gegenüber dafür, daß ein Entweichen, mit oder ohne Rückfall, nicht auftritt und das ist für einen Arzt eine außerhalb seiner normalen Tätigkeit liegende Aufgabe, deren Bewältigung regelmäßig mit Verunsicherung einhergeht. In dieser Pflichtenkollision kann er nicht einmal auf gesetzliche Regelungen, dem Strafvollzugsgesetz vergleichbar, zurückgreifen, und darüberhinaus verfügen psychiatrische Krankenhäuser regelmäßig nicht - wie die Konzeption der sozialtherapeutischen Anstalt - über halboffene Einrichtungen. Schließlich findet er - örtlich sicher unterschiedlich - bei der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde keine dialogische Unterstützung, denn der zuständige Staatsanwalt pflegt sich grundsätzlich für unzuständig zu erklären: Der Jurist ist froh, daß der Arzt der Gesellschaft gegenüber für einen eventuellen Rückfall haftet. Findet sich aber ein couragierter Arzt, der das Risiko der Behandlung übernimmt, dann wird er sozusagen zusätzlich justizförmig torpediert: Er kann eine erfolgreiche Therapie nicht für beendet erklären. Der Verurteilte muß nach dem Gesetz entweder im psychiatrischen Krankenhaus bleiben oder in die Strafanstalt übersiedeln, solange jedenfalls, bis er die Hälfte der Strafzeit in irgendeiner Form verbüßt hat. Wird diese resozialisierungsfeindliche Auslegung vom Gesetzgeber zwingend vorgegeben? Die Oberlandesgerichte und einige Stimmen in der Literatur versuchen ihre Auffassung, unterschiedlich differenziert und akzentuiert, im wesentlichen mit zwei Argumenten zu stützen: - Die Auslegung des § 67 Abs. 5, insbesondere die Berücksichtigung des Wortlauts und des Willens des historischen Gesetzgebers, spräche für die Beseitigung nur der 2 /i-Mindestverbüßung und - die Beseitung auch der /2-Mindestverbüßung verletzte den Schuldund den Gleichheitsgrundsatz (Gerechtigkeitsargument).

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Auf den Wortlaut des § 67 Abs. 5 stellt Horn20 ab. Er meint, weil nur eine Befreiung von § 57 Abs. 1 StGB formuliert sei, habe § 57 Abs. 2 Gültigkeit, andernfalls - so unausgesprochen - hätte der Gesetzgeber auch § 57 Abs. 2 ausdrücklich ausschließen müssen. Die Voraussetzungen für dieses argumentum e contrario liegen aber nicht vor. Wie Klug21 nachgewiesen hat, ist diese Form des Schließens nur erlaubt, „wenn die betreffenden Rechtsvoraussetzungen die jeweiligen Rechtsfolgen intensiv oder gegenseitig implizieren"22. Wir können auch formulieren, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge „Strafrestaussetzung" n u r an die Rechtsvoraussetzung „Verbüßung von weniger als % der Strafe" geknüpft hätte, ist der Umkehrschluß erlaubt, keine Aussetzung, wenn '/2 der Strafe noch nicht verbüßt ist. Aus dem Gesetz läßt sich gerade diese Einschränkung nicht entnehmen. Die Formulierung „ a u c h d a n n nach § 57 Abs. 1 aussetzen" spricht für eine kumulative Erweiterung und gegen die Annahme einer „notwendigen Voraussetzung" für die Rechtsfolge. Wie offen die Formulierung ist, zeigt das Vorhandensein weiterer Rechtsvoraussetzungen, denn die Reststrafenaussetzung ist auch erlaubt, wenn 2A der Strafe, aber noch nicht die gesamte, verbüßt ist. Ob der Gesetzgeber also die Strafrestaussetzung „nur" an die Rechtsvoraussetzung des § 57 Abs. 1 knüpfen wollte, ist mithin im Streit und Gegenstand der Auslegung. Wer mit dem argumentum e contrario den Beweis führt, versucht in Wahrheit, mit der erwünschten Rechtsfolge die Rechtsvoraussetzungen für diese Rechtsfolge zu belegen23. Das O L G Celle24 hat daher zurecht ausgeführt, daß der Wortlaut des § 67 Abs. 5 beide Deutungen - nur Befreiung von der %-Grenze und Befreiung auch von der '/^-Grenze - zuließe. Den Willen des historischen Gesetzgebers zieht insbesondere das O L G Celle25 heran, und zwar die Protokolle des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform. In diesem Gremium war die Frage kontrovers, ob die Strafe nach Erledigung der Maßregel, d. h. nach erfolgreicher psychotherapeutischer Behandlung, auszusetzen sei oder ob der Therapierte wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung in die Strafanstalt zu verlegen sei, damit er nicht besser davonkomme im Vergleich zu dem allein zu Freiheitsstrafe Verurteilten. Freilich würde diese Lösung bedeuten, daß mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit der Therapieerfolg im Anschlußvollzug wieder verlorenginge. Abgeordnete der SPDHorn, Eckhard, a.a.O. (Anm. 12), Rdn. 7 zu §67. Klug, Ulrich, Juristische Logik, 3. Aufl., Berlin 1966, S. 124. 22 Klug, Ulrich, a.a.O. (Anm. 21), S. 128. 23 Vgl. auch Larenz, Karl, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin 1975, S. 376. 24 O L G Celle, J R 1978, S.421 (422). 25 O L G Celle, J R 1978, S.421 (422). 20 21

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Fraktion hatten zwar den Vorschlag eingebracht, zugunsten der Resozialisierung auf jede weitere Strafverbüßung zu verzichten, der von der Mehrheit der Länder auch akzeptiert wurde (gegen die Stimme Bayerns, bei Enthaltungen von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und dem Saarland)26, doch hat der Sonderausschuß dieser Lösung nicht zugestimmt 27 . Maßgeblich war das oben genannte „Gerechtigkeitsargument", wobei von den selteneren Fällen - acht Jahre Freiheitsstrafe - paradigmatisch ausgegangen wurde. Im weiteren Verlauf der Diskussion über diesen Punkt trübt sich der klare Wille des historischen Gesetzgebers. Das Ausschußmitglied Müller-Emmert bringt in der 146. Sitzung eine „Kompromißlösung" ein, nämlich die Formulierung des heute geltenden § 67 Abs. 5. Er begründet sie: „Damit wäre - in Verfeinerung der von ihm in der 131. Sitzung beantragten Formulierung - klar auf den § 57 Abs. 1 Bezug benommen und zum Ausdruck gebracht, daß im Einzelfall auch die %-Grenze des § 57 unterschritten und der gesamte Strafrest ausgesetzt werden könne"28.

In der sich anschließenden kurzen Diskussion wird die Frage des § 57 Abs. 2 nicht aufgeworfen, so daß schlicht unklar bleibt, wovon die Ausschußmitglieder bei der Abstimmung ausgingen. Berücksichtigt man, daß Müller-Emmert eine „Kompromißlösung" eingebracht hat, die auf die Ablehnung der radikalen Resozialisierungslösung zu beziehen ist, so klingt die Auffassung des O L G Celle plausibel: „Der Senat halte es jedoch für ausgeschlossen, daß dieser Fassung eine so weitgehende Bedeutung zukommen sollte . . ." 29 . Man kann das Kompromißmerkmal aber auch auf die Kann-Formulierung beziehen. Der Kompromiß läge dann darin, daß der Richter nicht gezwungen ist, bei Vorliegen der Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung auszusetzen, sondern daß die Strafvollstreckungskammer im Einzelfall, z . B . auch unter Berücksichtigung des Gerechtigkeitsarguments (Schuldausgleich) 30 , die Strafaussetzung versagen kann. Auch die Begründung im zweiten schriftlichen Bericht für den Verzicht auf die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB bringt keine Klarheit.

Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, Protokolle V, S.2025. Sonderausschuß, a.a.O. (Anm.26), S.2328. 28 Sonderausschuß, a.a.O. (Anm. 26), S. 3247/3248). 29 O L G Celle, J R 1978, S.421 (422). 30 Vgl. Hanack, Ernst-Walter, in: Leipziger Kommentar (LK), Hg., 10. Aufl., Berlin 1985, Rdn.20, 21 zu §67. 26 27

H.-H.Jescheck,

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„Nach Ansicht des Ausschusses ist nicht einzusehen, warum der Verurteilte, obwohl der Maßregelzweck erreicht ist, in solchen Fällen anschließend noch stets im Vollzug zurückbehalten werden soll, bis zu % der Strafe verbüßt sind" 31 .

Es leuchtet daher ein, daß Lenckner meint, der Gesetzgeber habe sich im letzten Augenblick für die Beseitigung der Grenzen des § 57 Abs. 1 und 2 StGB entschieden 32 . Dennoch: Sicher wird man sagen können, der Wille des historischen Gesetzgebers kommt in den Materialien nicht klar zum Ausdruck. Dann reicht er aber zur Auslegung eines Gesetzes nicht aus. Eine vergleichsweise sichere Auslegung folgt m. E. aus der ratio legis des § 67 Abs. 5 (teleologische Auslegung) und aus der systematischen Stellung der betroffenen Vorschriften. § 67 soll den Konflikt regeln, der dann entsteht, wenn die Maßregel erfolgreich vor der Strafe vollzogen worden, die gleichzeitig verhängte Strafe aber noch nicht durch Anrechnung erledigt ist. Die wiederholt ausgesprochene Zielsetzung besteht darin, die Erhaltung der mit der Maßregel erreichten Besserung nicht aufs Spiel zu setzen 33 . N u r deshalb wurde eine weitere Verbüßung von Freiheitsstrafe ausschließlich für den Fall vorgesehen, daß „Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen" (§67 Abs. 5, Satz 2); niemals z.B. aus Gründen der Generalprävention 34 . Die Auslegung, nach der die Hälfte der Freiheitsstrafe verbüßt werden muß (§ 57 Abs. 2), gerät mit dieser Zielsetzung in unauflösbaren Widerspruch. Die Verlegung des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalt zur Verbüßung der Freiheitsstrafe ist wegen der Beschränkung gemäß § 67 Abs. 5 Satz 2 grundsätzlich verwehrt. U n d die nur noch verbleibende Möglichkeit des Aufenthaltes im psychiatrischen Krankenhaus verstößt gegen den Grundsatz, eine Maßregel aufzuheben, wenn ihr Zweck erreicht ist ( § 6 7 d Abs. 2). Diese Aporie vermeidet die Strafrestaussetzung, die auch von der Begrenzung der Vi-Verbüßung absieht. Die weitere systematische Auslegung stützt dieses Ergebnis. §57 Abs. 1 regelt den Grundfall der Strafrestaussetzung. H a t der Verurteilte ein Mindestmaß der Strafe (2A) verbüßt, besteht eine positive Prognose und willigt er ein, so hat das Gericht den Strafrest zwingend auszusetzen. Abs. 2 stellt zu dieser Grundsituation einen Ausnahmefall dar, weil er zusätzliche Merkmale erfordert und weil er lediglich als KannVorschrift formuliert ist. Auch § 67 Abs. 5 Satz 1 stellt eine Ausnahme-

31 2. Schriftlicher Bericht zum 2. Strafrechtsreformgesetz, BT-Drucksache V/4095, 5. Wahlperiode, S. 32. 32 Lenckner, Theodor, a.a.O. (Anm. 11), S. 232. " Hanack, Ernst-Walter, a.a.O. (Anm.39), Rdn. 18 zu §67; Marquardt, a.a.O. (Anm. 8), S. 105. 54 2. Schriftlicher Bericht, a.a.O. (Anm. 31), S.32.

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regelung zu § 57 Abs. 1 dar. Soll aber in der Ausnahmevorschrift von einer Voraussetzung der Grundregel abgesehen werden - hier von dem Erfordernis der Mindestverbüßung - , dann genügt eine Verweisung auf die Grundregel. Eine Bezugnahme auf eine weitere Ausnahmeregelung (§57 Abs. 2) darf der Gesetzgeber nur vornehmen, wenn er auch die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung einbeziehen will, hier: die Mindestverbüßung von einem Jahr Freiheitsstrafe und „besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten" 35 . Der Hinweis auf die Auslegungsregel, wonach Ausnahmetatbestände restriktiv zu interpretieren seien - hier: Nur Befreiung von der K-Mindestverbüßung - , geht im vorliegenden Fall fehl. Da die Oberlandesgerichte diese systematische Stellung der §57 Abs. 1 und §67 Abs. 5 nicht berücksichtigen, geraten sie in einen weiteren Widerspruch: Sie übernehmen zwar eine Voraussetzung des § 57 Abs. 2, nämlich die Zeitsperre der Halbverbüßung, lehnen aber die übrigen als irrelevant ab36. Wer aber eine unausgesprochene Verweisung annimmt, muß auch die übrigen Merkmale der Vorschrift berücksichtigen, will er sich nicht dem Vorwurf der Willkür aussetzen. Die systematische Stellung führt also zu dem Ergebnis, daß der Gesetzgeber - nicht notwendig auch der historische - mit der Verweisung auf § 57 Abs. 1 nicht nur von der sondern auch von der XAMindestverbüßung befreien wollte. Bleibt zu fragen, ob Schuld- und Gleichheitsgrundsatz wirklich verletzt sind, wenn der Verurteilte, der zu Freiheitsstrafe und Maßregel verurteilt worden ist, schon vor Verbüßung der Hälfte seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung entlassen wird, während derjenige, der „nur" zu einer gleichlangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, diese bis zu % oder - im Ausnahmefall (§ 57 Abs. 2) - bis zu Vi verbüßen muß, ehe er in die Freiheit entlassen werden darf? Notwendig ist zunächst, das fiktive Beispiel von acht Jahren Freiheitsstrafe, mit dem im Sonderausschuß die unerhörte Schwere der Verletzung des Gleichheitssatzes belegt wurde, auf die regelungsbedürftige Faktizität, die ja immerhin empirisch meßbar ist, zurückzuführen. Die Anlaßtat, deretwegen bei den Probanden im Material von Marquardt die Maßregel der Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus (damals § 42 b StGB) angeordnet wurde, verlangte nur in 7,7 % eine Zuchthausstrafe, in 92,3 % reichte eine Gefängnisstrafe für den Schuldausgleich aus. 64 Probanden (= 82 %) wurden mit einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 2 Jahren, 7 (= 9 %) zu zwei bis drei Jahren und nur 6 (= 8 %) zu einer Freiheitsstrafe zwischen vier und fünf Jahren Gefäng35 36

A . A . O L G Stuttgart, OLGSt § 6 7 Nr.2, S.51. So O L G Stuttgart, OLGSt § 6 7 Nr. 3, S.7.

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nis, bzw. zwischen vier und zehn Jahren Zuchthaus (= 3 Fälle von 78) verurteilt37. Diese Daten korrespondieren mit dem vorliegenden „typischen" Fall. Berücksichtigt man die durchschnittliche Therapiedauer, die gegenwärtig für neurotische Störungen auf durchschnittlich 10-12 Monate geschätzt wird - die durchschnittliche Behandlungsdauer der im übrigen nach §63 eingewiesenen Straftäter beträgt 4—5 Jahre38 - , wird deutlich, daß der Streit um eine ideologische Position geführt wird. Im Regelfall wird ja ohnehin die Hälfte der Strafzeit durch die notwendige Therapiezeit verbraucht. Die hohen Zuchthausstrafen betreffen grundsätzlich psychotische Straftäter, bei denen eine Psychotherapie - wenn überhaupt - nur sehr begrenzt möglich ist, so daß diese Täter aus Sicherheitsgründen zu verwahren sind. Auch im vorliegenden Fall ist die Psychotherapie bereits so erfolgreich gewesen, daß die Prob, schon einen längeren Urlaub in ihrer Familie verbringen konnte, so daß es sehr unwahrscheinlich ist, daß die gesamte „zu verbüßende" Therapiezeit auch benötigt wird. Das Problem der vorzeitigen Entlassung würde dann auch hier resozialisierungshemmend auftreten. Zu entscheiden ist also darüber, ob es besser ist, in einem Teil der therapiegeeigneten Fälle eine Psychotherapie rechtzeitig zu beenden und damit ihren Erfolg zu sichern oder ob in einigen wenigen Fällen das Vergeltungsbedürfnis so schwer wiegt, daß die Verhinderung einer drohenden Ungleichbehandlung nicht einmal dem Richter über eine gesetzliche Kann-Regelung anvertraut werden darf. Die Entscheidung dieser Frage hängt sicherlich vom ideologischen Standpunkt ab. Für mich ist die Unterschreitung einer schuldangemessenen Strafe — und darauf liefe ja eine vorzeitige Reststrafaussetzung hinaus - schon deshalb vertretbar, weil die ausgeworfenen Strafhöhen wegen der Irrationalität der Strafzumessung innerhalb einer ziemlich offenen Bandbreite ohnehin nicht vergleichbar sind. Wer in X vor die Kammer Y kam - in Anwaltskreisen als „Jüngstes Gericht" apostrophiert, im Gegensatz zur „Herz-Jesu-Kammer" - , erhielt für seinen Einbruch schon wegen des spiritus loci ein Jahr Freiheitsstrafe mehr zudiktiert. Darüberhinaus wirkt in erster Linie der Schuldspruch, d.h. die öffentliche Verurteilung, als Reaktion auf eine Regelverletzung normstabilisierend und damit generalpräventiv. Die Rechtsadressaten nehmen eine Reduzierung der Strafverbüßung zugunsten einer Resozialisierung nur wahr, wenn sie zum Regelfall wird. So assoziiert der Bürger mit lebenslanger Freiheitsstrafe etwa 20 Jahre, aber nicht den Tod des Verurteilten in der StrafanMarquardt, Helmut, a.a.O. (Anm. 8), S. 103, 104. Bischof, H. L., Behandlungsdauer strafrechtlich Untergebrachter im psychiatrischen Krankenhaus, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1985, S. 29-34 (30). 37 J!

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stalt. Im übrigen wird die Normgeltung durch Resozialisierung nicht gefährdet. Bei der vorliegenden Fallgruppe handelt es sich aber um extreme Ausnahmefälle, die nur die Gerechtigkeit der Verurteilungen zueinander betrifft. Unter Anerkennung dieser Sachverhalte ist der Spezialprävention im Verhältnis zum Schuldausgleich grundsätzlich größeres Gewicht beizumessen. Mit Recht hat Hanack auch auf die Unterschiedlichkeit der Fallgruppen aufmerksam gemacht, die eine unterschiedliche Bewertung rechtfertigt. Wenn auch die verminderte Schuldfähigkeit im Strafmaß schon zum Ausdruck kommt, so bleibt doch das zusätzliche Merkmal der psychischen Störung oder Krankheit, das eine besondere Zuwendung (Behandlung) durch die Rechtsgemeinschaft nach dem Sozialstaatsprinzip verlangt. Fördert der Verurteilte seine Psychotherapie durch intensive Mitarbeit, kann hierin so etwas wie ein positives Nachtatverhalten (§46 Abs. 2 StGB) als strafmindernd bewertet werden 39 . Wenn dagegen Horn geltend macht40, der einzelne Angeklagte würde sich die Möglichkeit der vorzeitigen Strafrestaussetzung dadurch erschleichen, daß er sich zu Strafe und Maßregel verurteilen läßt, übersieht er die Filter des Sachverständigengutachtens, des verurteilenden Gerichts, der psychiatrischen Behandlung und der erneuten richterlichen Beurteilung durch die Strafvollstreckungskammer. Wer hier anfangs „erfolgreich" war, wird spätestens in der psychiatrischen Behandlung auffallen und über § 67 Abs. 5 Satz 2 - als Profi - in den Strafvollzug überwiesen werden. Und wer zweifelnd meint, es könne doch der eine oder andere „durchrutschen", der sollte akzeptieren, daß die „Gerechtigkeit", die mit einer auch den extremsten Ausnahmefall erfassenden „wasserdichten" Regelung erreicht wird, die Gerechtigkeit im Regelfall - hier: rechtzeitige Beendigung erfolgreicher Psychotherapie - erschlägt. Im Ergebnis kann das „Gerechtigkeitsargument" mithin nur den überzeugen, der vom abstrakten Vergeltungsdenken ausgeht. Vergegenwärtigt man sich die vorgesehene gesetzliche Änderung auf dem Boden des Streitstandes, wird deutlich, daß sich der Gesetzgeber zum Zugpferd der Gegenreform macht. In Wahrheit wird nicht nur eine unklare Formulierung korrigiert, sondern der Vollzug der Maßregel psychiatrisches Krankenhaus weiterhin und zusätzlich behindert. Zu befürchten ist nämlich, daß die Kann-Formulierung des § 57 Abs. 5 in Verbindung mit der positiv genannten /2-Mindestverbüßung restriktiv ausgelegt werden wird. N u r wer in die Nähe des Regelfalles - Mindestverbüßung von % der Strafe - kommt, hat Chancen, daß sein Strafrest ausgesetzt wird. Die Streichung der Maßregel sozialtherapeutische

39 40

Hanack, Emst-Walter, a.a.O. (Anm.7), S.402. Horn, Eckhard, a.a.O. (Anm. 12), Rdn. 7 zu §67.

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Anstalt verlangt aber im Gegenteil eine Erweiterung der psychotherapeutischen Möglichkeiten im psychiatrischen Krankenhaus. Was ferner verwundert, ist, daß dieser „Schritt in die falsche Richtung" gegangen wird ohne daß die Gegenreform es für notwendig erachtet, die Problematik einer Gesetzesänderung aufzuarbeiten und z . B . die zu regelnde Materie empirisch zu erfassen - eine elementare Notwendigkeit jeder guten Gesetzgebung41. O b dieser Justizminister die Vorarbeiten für eine überlegte Gesetzesänderung noch schaffen wird, ist wohl eher skeptisch zu beurteilen, obwohl er der Partei angehört, die seinerzeit die Reform des Strafrechts maßgeblich mitgetragen hatte.

41

Noll, Peter, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 86 ff.

Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? ECKHARD H O R N

Man ist sich heute im wesentlichen darüber einig: Zulässig ist der Widerruf der Strafvollstreckungs-Aussetzung zwar auch noch nach Ablauf der Bewährungszeit, aber nicht zeitlich unbeschränkt. Maßgebend für die Bestimmung dieses Zeitpunktes ist insbesondere der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes1. Das von dem Vertrauensschutz-Aspekt abgezogene Maß hat in der Praxis freilich zu den unterschiedlichsten Ergebnissen geführt. Damit gerät die Leistungsfähigkeit dieses Gesichtspunktes als eines generellen Maßstabs erst einmal in Zweifel. Ferner wird sich jeder, der das "Wort „Vertrauensschutz" nicht nur als Floskel gebraucht, sondern sich auch etwas dabei denkt, fragen einmal, ob die jeweils gemeinte Einstellung des Delinquenten mit dem Wort „Vertrauen" eigentlich korrekt umschrieben ist, zum andern, wieso diese Einstellung - wäre sie denn tatsächlich „Vertrauen" - des Schutzes teilhaftig werden muß - durch Ablehnung des Aussetzungswiderrufes trotz Vorhandenseins sämtlicher Widerrufsvoraussetzungen im übrigen. I. Darstellung der Rechtsprechung 1. Die Frage der zeitlichen Beschränkung eines Aussetzungswiderrufs wird in der Rspr. an unterschiedlichen Terminen festgemacht. So wird einmal auf das Ende der Bewährungszeit, ein anderes Mal auf den Eintritt der Rechtskraft der Aburteilung der als Bewährungsbruch erscheinenden Straftat, meist auf beide Zeiträume, gelegentlich aber auch auf andere Umstände (Mitteilung des Widerrufsantrages der StA) abgestellt. So ist es denn auch kein Wunder, wenn die jeweils für noch hinnehmbar gehaltenen Zeiträume erheblich differieren. Während das OLG Koblenz2 einen Widerruf nahezu zwei Jahre nach Ablauf der Bewährungszeit für „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar" gehalten hat, sah das OLG Hamm3 auch noch drei Jahre nach dem Ablauf der 1 Dreher/Tröndle, § 5 6 f Rdn. 2 a; Ruß LK, § 5 6 f Rdn. 12; vgl. a. Stree, § 56 f Rdn. 13. Zur Rspr. s. den nachfolgenden Text. 2 M D R 1985, 70. 3 JMB1. N W 1982, 166.

Scbönke/Scbröder/

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Bewährungszeit kein Hindernis für einen Widerruf. Von dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Verurteilung wegen einer in der Bewährungszeit begangenen Straftat ab gerechnet lehnt das OLG Hamm* einen Widerruf ab, weil „schon über ein Jahr" vergangen ist, während ein anderer Senat des gleichen Gerichts 5 trotz eines Zeitraums von 22 Monaten zwischen der rechtskräftigen neuen Verurteilung und der Mitteilung des Widerrufsantrages widerruft. 2. Als Begründung für die Ablehnung des Widerrufs wird in der Rspr. fast durchgehend angegeben, der Widerruf sei „ungebührlich lange hinausgezögert" worden. Die „Ungebühr" wird entweder schon im Ablauf einer (mehr oder weniger) langen Zeitspanne 6 gesehen oder aber mit Versäumnissen der Justiz begründet. So war beispielsweise ein Verurteilter nahezu VA Jahre nach seiner Stellungnahme zum Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft 7 „aus vom Senat nicht zu erkennenden Gründen" „trotz zahlreicher Erinnerungen nicht beschieden" worden. Das OLG Hamm8 meint, das Vertrauen des Verurteilten, es werde jetzt nicht mehr widerrufen, sei „durch das Verhalten der Gerichte gestützt" worden: „Nachdem dem Verurteilten am 31.12.1982 vom A G zum ersten Mal mitgeteilt worden war, daß die StA den Widerruf der Strafaussetzung beantragt habe, hörte er zunächst über ein Jahr lang nichts mehr von dem Widerrufs verfahren. Erst mit Schreiben der Strafvollstreckungskammer vom 12.1.1984, also nach der letzten neuen Verurteilung, wurde ihm mitgeteilt, daß gegenwärtig die Frage des Widerrufs geprüft werde. Danach hörte der Verurteilte bis zum 17.10.1984, also mehr als 9 Monate, wiederum nichts mehr über den angekündigten Widerruf". Auch das OLG Celle9 beschränkt seine Argumentation dafür, daß der Widerruf jetzt unzulässig sei, nicht allein auf den Zeitablauf. Vielmehr wird sorgfältig geprüft, dargelegt und begründet, warum eine Entscheidung „innerhalb von drei Monaten nach Eintritt der Rechtskraft" hätte geschehen können. 3. Interessant ist aber auch, mit welcher Begründung die Rspr. einen Widerruf zugelassen hat. So hindert nach dem OLG Hamm10 auch ein Zeitraum von 3 Jahren seit dem Ablauf der Bewährungszeit den Widerruf nicht, weil die Strafvollstreckungskammer „den rechtskräftigen Abschluß des neuen Strafverfahrens abwarten" durfte, der späte Eintritt StV 1985, 198. O L G Hamm NStZ 1984, 363. 6 O L G Koblenz M D R 1985, 70. 7 O L G Stuttgart StV 1985, 380. 8 StV 1985, 198. ' NdsRpfl. 1980, 92. 10 JMB1. N W 1982, 167. 4

5

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der Rechtskraft „entscheidend auf den vom Verurteilten eingelegten Rechtsmitteln" beruhte, und schließlich der Widerruf nach Verwerfung der Revision „unverzüglich" erfolgt ist. Das OLG Stuttgart" hat den Widerruf auch noch zwei Jahre nach Ablauf der Bewährungszeit aus zwei Gründen zugelassen: Einmal sei „die Verzögerung allein der Eigenart der begangenen Straftaten und dem zeitaufwendigen Verfahrensgang zuzuschreiben", zum andern habe die Strafvollstreckungskammer den Verurteilten wiederholt ausdrücklich darauf hingewiesen, „daß ein Widerruf auch noch nach Ablauf einer längeren Zeit möglich ist". Das OLG Karlsruhe12 hat den Zeitablauf von 16 Monaten seit Rechtskraft der Aburteilung nicht als so außergewöhnlich angesehen, daß „rechtsstaatliche Grundsätze, insbesondere der Vertrauensschutz, dem Widerruf der Strafaussetzung entgegenständen"; zwar könne eine „ausgesprochen verzögerliche Handlung" u . U . einen Widerruf unzulässig machen, „ungebührliche Verzögerungen in der Sachbehandlung" seien jedoch im vorliegenden Fall „nicht ersichtlich". Das OLG Hamm13 hat einen nachträglichen Widerruf zugelassen, weil die Widerrufsentscheidung „nicht grundlos", sondern deshalb zurückgestellt worden ist, weil der Ausgang mehrerer gegen den Verurteilten anhängiger Strafverfahren abgewartet werden sollte: „Der Verurteilte kann, wenn ein anderes Verfahren wegen einer während der Bewährungszeit begangenen Tat noch gegen ihn läuft, auch nicht davon ausgehen, daß der Ausgang dieses Verfahrens auf die früher gewährte Strafaussetzung ohne Einwirkung bleiben wird". Einen besonderen Grund dafür, daß ein Vertrauensschutz für den Verurteilten „schlechterdings nicht entstehen" konnte, obwohl zwischen der Rechtskraft der neuen Verurteilung und der Mitteilung des Widerrufsantrages an den Verurteilten 22 Monate vergangen waren, liefert das OLG HammH: Es sei dabei „auch abzuwägen zwischen dem Zeitablauf einerseits und dem Gewicht der neuen Straftaten und der für sie verhängten Strafen andererseits". Angesichts der neuen Verurteilung „zu der empfindlichen Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten" mußte sich der Verurteilte sagen, „daß sich lediglich die justizförmige Abwicklung des hier auf jeden Fall zu erwartenden Widerrufsverfahrens - aus welchen Gründen auch immer verzögert hatte". Das LG Hamburg15 hat einen Vertrauensschutz des Verurteilten - trotz Beanstandung des Vorgehens der StA - mit der Begründung verneint, „daß sich der Verurteilte nicht an die Weisung

11 12 13 14 15

Die Justiz 1982, 273. Die Justiz 1976, 436. JMB1. N W 1977, 274. NStZ 1984, 363. MDR 1977, 159.

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hielt, jeden Aufenthaltswechsel umgehend mitzuteilen, sondern in der Bundesrepublik Deutschland herumreiste und dabei mehrere Diebstähle beging. Unter diesen Umständen mußte er aber davon ausgehen, daß die ihm vom A G München zugebilligte Bewährungsfrist widerrufen würde". II. Analyse der Rechtsprechung Der vorstehende Uberblick über die Rspr. läßt erkennen, daß das Argument „Vertrauensschutz" eigentlich zwei Aspekte hat, die freilich meist ineinander hineinspielen: Einmal wird die Situation des Verurteilten ins Auge gefaßt, wenn die Unzulässigkeit des Aussetzungswiderrufs damit begründet wird, daß der Betroffene mit dem Widerruf jetzt nicht mehr zu rechnen brauche, daß er „Vertrauensschutz" genieße. Zum andern wird der Akzent eher darauf gesetzt, daß die Widerrufsentscheidung ungebührlich lange hinausgezögert worden sei; hier richtet sich der Blick in erster Linie auf Behörden und Gerichte, die mit der (Vorbereitung der) Widerrufsentscheidung befaßt sind. 1. Was die Einstellung des Verurteilten angeht, so läßt sich sehr schnell erkennen, daß sie mit dem Wort „Vertrauen" fehlerhaft und irreführend beschrieben ist. Denn die Fälle, in denen sonst im öffentlichen Recht von Vertrauensschutz die Rede ist, liegen immer so, daß der Bürger auf die Bestandskraft oder das Fortwirken eines staatlichen Aktes oder einer behördlichen Äußerung vertraut. An einem staatlichen Akt oder dem Ausspruch eines Amtsträgers, an einem Beziehungsgegenstand für Vertrauen fehlt es aber hier gerade: Die Bewährungszeit läuft ab, der Widerruf bleibt aus, es geschieht gar nichts. Was sich in der Psyche des Verurteilten abspielt, wenn er einige oder gar eine lange Zeit nach Ablauf der Bewährungszeit und nach seiner Verurteilung wegen der neuen Straftat „von der Justiz" nichts mehr hört, läßt sich allenfalls beschreiben als „hoffen" (vermuten, wünschen, erwarten), daß der Widerruf der Aussetzung der Strafe wegen der alten Tat in Vergessenheit gerät16. 2. Nun liegt aber der Akzent, der von der Rspr. mit dem Wort Vertrauensschutz verbunden wird, offenbar mehr auf dem Schutz: Es geht nicht so sehr darum, daß der Delinquent mit dem Widerruf nicht mehr rechnet, sondern, daß (und von wann ab) er nicht mehr mit ihm zu rechnen braucht, sich also nicht mehr sagen muß, „daß sich lediglich die justizförmige Abwicklung des . . . Widerrufsverfahrens - aus welchen Gründen auch immer - verzögert" 17 .

» Ebenso KG JR 1958, 189. 17 OLG Hamm NStZ 1984, 362.

.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf?

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Die Antwort der Gerichte auf die Frage, von welchen Kriterien dieser Schutz getragen wird, ist allerdings durchgängig merkwürdig inhaltsleer18. Meistens bleibt es bei schlichten Behauptungen: „Nach Ablauf von nahezu l'A Jahren seit seiner Stellungnahme konnte und mußte der Verurteilte, der diese Verzögerung nicht zu vertreten hat, nicht mehr mit einem Widerruf rechnen"". Oder: Nach mehreren, zeitlich weit auseinander liegenden Mitteilungen darüber, daß die StA den Widerruf beantragt habe und gegenwärtig die Frage des Widerrufs geprüft werde, und einem Zeitraum von weiteren 9 Monaten „konnte der Verurteilte mit einiger Berechtigung darauf vertrauen, daß auch die dritte Verurteilung . . . jetzt nicht mehr zu einem Widerruf führen würde" 20 . Oder: Dem Verurteilten konnte sich „der Gedanke ohne weiteres aufdrängen, in seinem Fall werde ein Widerruf unterbleiben. Je länger die Entscheidung nach Eintritt der Rechtskraft der neuen Verurteilung unterblieb, desto begründeter mußte eine solche Annahme für den Beschwerdeführer werden" 21 . 3. Es gibt aber auch Begründungsansätze dafür, daß der Staat schon vor Ablauf der Vollstreckungsverjährungsfrist (§§79, 79 a StGB) seinen Vollstreckungsanspruch vollständig verlieren soll. Dabei stellen die Gerichte mit Vorliebe auf - allerdings niemals des weiteren explizierte „Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit" ab: So soll es „mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar" sein, den Verurteilten „zu lange in Ungewißheit über die Entscheidung der Widerrufsfrage zu belassen" 22 . Dieser Ansatz bedarf der Vertiefung. Dabei verbietet sich jedoch ein „direkter Durchgriff" zum Grundgesetz. Vielmehr ist - solange es an einer gesetzlichen Regelung für die Behandlung von Fällen mit überlanger Verfahrensdauer fehlt - zunächst einmal durch Auslegung des Strafund Strafverfahrensrechts dafür zu sorgen, daß aus einer „rechtsstaatswidrigen Verletzung des Beschleunigungsgebots" die „verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen" gezogen werden 23 .

III. Auslegung der §§56f, 56 g StGB Für das Gericht, das für die Regelung des Schicksals der ausgesetzten Freiheitsstrafe zuständig ist, kommen von Gesetzes wegen nach Ablauf der Bewährungszeit drei Entscheidungsmöglichkeiten in Frage: AussetKrit. a. Schroeder J Z 1974, 684. " O L G Stuttgart StV 1985, 380. 20 O L G Hamm StV 1985, 199. 21 O L G Celle NdsRpfl. 1980, 93. 22 O L G Koblenz MDR 1985, 70. 23 BVerfG NJW 1984, 967. 18

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zungswiderruf nach § 56 f Abs. 1, „Verlängerung" der Bewährungszeit nach § 56 f Abs. 2 oder Straferlaß nach § 56 g Abs. 1. Jede dieser Entscheidungen ist an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gebunden. Liegen diese vor, so ist aber auch jede der genannten Entscheidungen obligatorisch: Sind die Voraussetzungen für einen Widerruf gegeben, so ist der Widerruf, reichen jedoch Maßnahmen nach § 56 f Abs. 2 aus, so ist ein entsprechender Beschluß geboten; das Gericht ist zum Straferlaß verpflichtet, wenn die Voraussetzungen für einen Widerruf (oder jedenfalls diejenigen für eine Verlängerung der Bewährungszeit nach § 56 f Abs. 2) fehlen. Dieses „Wenn" ist nun aber nicht allein als Bedingung („sofern"), sondern jdf. prinzipiell auch zeitlich („sobald") zu verstehen. Denn es gibt keinen Gesichtspunkt, der es erlauben würde, eine obligatorische Entscheidung aufzuschieben. Sind die gesetzlichen Voraussetzungen

erfüllt, so muß das zuständige Gericht die entspr. Entscheidung züglich treffen.

unver-

1. Das bedeutet zunächst für den Widerruf: Ist dem zuständigen Richter das Vorhandensein aller notwendigen Widerrufsvoraussetzungen bekannt, so kann er nicht nur, sondern er muß auch den Widerruf aussprechen (oder nach § 56 f Abs. 2 vorgehen) - und zwar ohne vermeidbare Verzögerung. Aber auch das Umgekehrte gilt: D e r Widerruf (oder die nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit, die ihrerseits erst einmal durch das Vorhandensein sämtlicher Widerrufsvoraussetzungen bedingt ist), darf und muß unterbleiben, wenn und solange es an den jeweiligen gesetzlichen Voraussetzungen fehlt. Das ist in den - hier allein interessierenden Fällen des § 56 f Abs. 1 Nr. 1 immer der Fall, wenn das Gericht schon nicht sicher ist, ob in der Bewährungszeit tatsächlich eine den Widerruf begründende neue Straftat begangen worden ist. Ein Gericht, das vom Vorhandensein eines i. S. des § 56 f Abs. 1 N r . 1 tatbestandsmäßigen „Bewährungsbruchs" nicht überzeugt ist, darf die Vollstreckungsaussetzung nicht widerrufen. Ein Widerruf ist ihm aber auch dann untersagt, wenn es - im Zeitpunkt seiner Entscheidung - das Vorhandensein von (neuen) Umständen feststellt, die jetzt eine günstige Prognose tragen (etwa, weil sich der Delinquent nach der neuen Straftat bis zum Entscheidungszeitpunkt deutlich positiv geändert hat). Denn Widerrufsbedingung ist in den Fällen des § 56 f Abs. 1 N r . 1 nicht allein die neue Straftat, sondern bei richtiger Auslegung dieser Vorschrift 24 - auch das Fehlen von Umständen, deren es für eine günstige Prognose bedarf. 24

Horn SK, §56f Rdn. 13.

.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf?

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Weist der Delinquent im Zeitpunkt der Entscheidung über die Widerrufsfrage eine günstige Prognose auf, so wird sich so mancher zunächst als kritisch empfundene Fall des Ablaufs einer überlangen Zeit zwischen dem Begehen der neuen Straftat und der Entscheidung der Widerrufsfrage25 in Wohlgefallen auflösen: Ist der Delinquent in dieser langen Zeit nicht mehr weiter aufgefallen - und Umstände dieser Art dürfen und müssen Berücksichtigung finden! 2 '-, wird er also jetzt günstig beurteilt, so ist auch ein Widerruf nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 trotz der neuen Straftat jetzt nicht mehr möglich. Da es insoweit an einer Widerrufsvoraussetzung fehlt, scheidet auch die Möglichkeit einer Verlängerung der Bewährungszeit nach § 56 f Abs. 2 aus27. 2. Daß auch der (obligatorische) Straferlaß unverzüglich ergehen muß, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür dem zuständigen Gericht vorliegen, ist zwar dem § 56 g Abs. 1 („Straferlaß, wenn kein Widerruf") zu entnehmen. Eine simple Umsetzung des Bedingungssatzes in einen Befristungssatz (also: „Straferlaß ist geboten, wenn und sobald kein Widerruf erfolgt") scheitert jedoch daran, daß an einen schlichten Nichtakt keine Zeiten anknüpfen können. Soll der Nichtwiderruf eine Rechtsfolge (den Straferlaß) auslösen können, so bedarf er einer inhaltlichen Qualifikation. Es kommt darauf an, ob der Widerruf ausbleibt „wegen fehlender Widerrufsmöglichkeit" oder „trotz bestehender Widerrufsmöglichkeit". a) Was die erste Fallgruppe (Nichtwiderruf mangels Widerrufsmöglichkeit) angeht, so ist am wenigsten problematisch folgende Konstellation: Das Gericht erkennt nach Ablauf der Bewährungszeit, daß es an den Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf fehlt - sei es, daß diese gar nicht entstanden (kein „Bewährungsbruch"), sei es, daß sie wieder weggefallen (inzwischen günstige Prognose) sind - : Hier muß es die Strafe unverzüglich erlassen. b) Im Prinzip nichts anderes gilt, wenn sich die Uberzeugung des Gerichts vom Fehlen der notwendigen Widerrufsvoraussetzungen nicht sofort, sondern erst (u.U. sehr viel) später einstellt (das Gericht kann einen widerrufsbegründenden Bewährungsbruch zwar noch nicht zu seiner Uberzeugung feststellen, muß aber z. B. angesichts eines laufenden Ermittlungsverfahrens in dieser Sache mit entsprechenden Erkenntnissen rechnen): Geboten ist unverzüglicher Straferlaß, sobald sich der Zweifel über das Vorhandensein der Widerrufsvoraussetzungen für den S.'dazu a. u. IV. Vgl. O L G Karlsruhe Justiz 1976, 436: Die weitere Entwicklung des Täters zeigt „neue und günstige . . . Aspekte auf, die nicht unberücksichtigt bleiben können." 27 Horn SK, § 5 6 f Rdn.30. 25

26

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Eckhard H o r n

zuständigen Richter als endgültig unbehebbar darstellt 28 . Solange es an den Voraussetzungen sowohl für den Widerruf als auch für den Straferlaß fehlt, schwebt der Verurteilte mithin in Ungewißheit darüber, ob er die verhängte Freiheitsstrafe denn nun nach Aussetzungswiderruf verbüßen muß oder ob sie ihm erlassen wird. O b dieser Schwebezustand vom Verurteilten - u. U . bis zum Eintritt der Vollstreckungsverjährung - zu Recht erduldet werden muß, kann zweifelhaft werden dort, wo bei der Aufklärung der notwendigen Voraussetzungen für den Widerruf (also des tatbestandsmäßigen Bewährungsbruchs) Verzögerungen auftreten, die den den Widerruf vorbereitenden Stellen anzulasten sind. D a aber ein Widerruf nur erfolgen kann, wenn dem zuständigen Widerrufsrichter das Vorhandensein der Widerrufsvoraussetzungen zu seiner Uberzeugung bekannt ist, bedeutet das „objektive" Gegebensein etwa des Bewährungsbruchs insoweit gar nichts. Es genügt auch nicht, daß ein anderes Gericht diesen bereits (rechtskräftig) abgeurteilt und auch die den Widerruf vorbereitende Staatsanwaltschaft davon Kenntnis hat. Für die Frage, von welchem Zeitpunkt an eine Widerrufsmöglichkeit besteht, kann nicht auf ein hypothetisches Datum („Wann hätte die Widerrufsentscheidung bei fehlerfreiem Procedere der beteiligten Justizorgane ergehen können?") abgestellt werden. Es kommt vielmehr allein auf den tatsächlichen Kenntnisstand des Widerrufsrichters an. Erst wenn sein Tatsachenzweifel nach der einen oder anderen Richtung gelöst ist, darf er auf Widerruf oder auf Straferlaß entscheiden. Auch in den Fällen, in denen bei der Vorbereitung der Widerrufsentscheidung „geschlampt" worden ist, bleibt der Widerruf mithin aus (muß er ausbleiben) mangels (und nicht trotz) vorhandener Widerrufsmöglichkeit. Verzögerungen bei der Vorbereitung einer Widerrufsentscheidung erlauben grundsätzlich (s. aber unten IV.) keinen vorzeitigen Straferlaß. c) Der Fall liegt jedoch anders, wenn dem zuständigen Richter das Vorhandensein sämtlicher Widerrufsvoraussetzungen bekannt ist: Er kann nicht nur, sondern er muß unverzüglich widerrufen. Tut er es nicht, läßt er die Sache liegen, überzieht er deutlich", so ist der gesetzliche Widerrufszeitpunkt „verpaßt". D a „trotz bestehender Widerrufsmöglichkeit" nicht unverzüglich widerrufen worden ist, ist jetzt Straferlaß geboten.

28 Ähnl. K G J R 1967, 307: spätestens, „wenn keine begründete Aussicht besteht, daß weitere Erkenntnisse über die Lebensführung des Verurteilten gewonnen werden können". 29 Vgl. den Fall O L G H a m m StV 1985, 199: über 9 Monate nach der Mitteilung, „daß gegenwärtig die Frage des Widerrufs geprüft werde".

.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf?

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IV. Modifikationen durch das „Beschleunigungsgebot"? Nun kann es aber Fälle geben, in denen das Auslegungsergebnis (Straferlaß weder zulässig noch geboten, solange die Zweifel des Widerrufsrichters behebbar scheinen) als zu rigoros (bis hin zur „Rechtsstaatswidrigkeit") erscheint, weil der Abstand zwischen der die Bewährungsstrafe auslösenden Tat und der Entscheidung über die Vollstreckung der hierfür verhängten Strafe nur noch schwer nachvollziehbare Dimensionen gewinnt. 1. Zunächst muß jedoch auch in diesem Zusammenhang noch einmal30 darauf hingewiesen werden, daß mit zunehmender Länge des Widerrufsverfahrens der Delinquent immer größere Chancen für einen Straferlaß schon dadurch erhält, daß die (über ihn bei Widerruf abzugebende) Prognose sich dauernd verbessert, wenn und weil er sich - nach dem Bewährungsbruch und auch nach Ablauf der Bewährungszeit - bewährt. Schon hierher gehört mithin der gelegentliche Hinweis der Gerichte darauf, daß sich der allzu lange ausgebliebene Widerruf verbiete, weil der Delinquent inzwischen wieder „Fuß gefaßt" habe31. Die kritischen Fälle beschränken sich danach auf jene, in denen trotz einer auch noch im Laufe eines längeren Widerrufsverfahrens nicht verbesserten Prognose Zweifel daran, daß in der Bewährungszeit eine widerrufsbegründende Straftat begangen worden ist, (auch) aus „justizverschuldeten" Gründen für längere Zeit nicht ausgeräumt werden können. Hier ist zu erwägen, ob der Zeitpunkt für den Straferlaß nicht vorverlegt werden muß - vor die Erkenntnis, daß die Widerrufsvoraussetzungen wohl nicht mehr beweisbar sein werden. 2. Für die Lösung dieser Problemfälle lassen sich die Darlegungen des BVerfG32 zu den Kriterien einer rechtsstaatswidrigen Verletzung des Beschleunigungsverbots im Erkenntnisverfahren fruchtbar machen. Danach soll von Bedeutung sein nicht nur die Gesamtdauer des Verfahrens, sondern auch „der durch die Verzögerung der Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung" 33 . Die Frage der „Verzögerung der Justizorgane" hat sich zwar zu orientieren an „Umfang und Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes"; aber dieser Gesichtspunkt spielt für die Widerrufsentscheidung im Vollstreckungsverfahren jedenfalls nach der rechtskräftigen Aburteilung des Bewährungsbruchs - die immer abgewartet werden darf! - kaum noch eine Rolle. 50

"

S. bereits o. III. 1. Vgl. O L G Karlsruhe Die Justiz 1976, 436.

N J W 1984, 967. D e r Aspekt des Rechtsstaats erlaubt mithin die Verwendung von Fakten, die unter dem Aspekt des StGB (o. I I I . 2 . b) als unzulässig erkannt worden sind! 52

33

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Eckhard Horn

Schließlich sind auch Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit zwischen der Verfahrensdauer und der „Schwere des Tatvorwurfs" (hier: der Schwere des noch nicht zur Überzeugung des Widerrufsrichters feststehenden Bewährungsbruchs 34 ) sowie das „Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen" des Verurteilten zu bedenken. Dabei sollte das Gewicht der von den Gerichten häufig angesprochenen „Unsicherheit" des Delinquenten über Fortgang und Ausgang des Widerrufsverfahrens aber nicht allzu hoch veranschlagt werden. Schließlich weiß er am besten, ob er die Bewährung gebrochen, also den Widerruf jedenfalls insoweit eigentlich zu erwarten hat35. Er kann also allenfalls in seiner Hoffnung enttäuscht werden - auf „Vollstreckungsdefizit" oder „Gnade". Der Bemühung „des allgemeinen Gebots der Rechtssicherheit" 36 bedarf es übrigens auch dort nicht, wo man es für geboten hält, den Delinquenten in die Lage zu versetzen, „sich rechtzeitig auf die Konsequenzen einzustellen, die sich daraus (seil.: aus einem Widerruf) für seinen persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Lebensbereich ergeben können": Diese Möglichkeiten kann man ihm auch noch durch schlichte vollstreckungs- und vollzugsrechtliche Maßnahmen einräumen. Es ginge deshalb einfach zu weit, wenn der Widerruf schon dann ausgeschlossen würde, wenn der wegen eines Bewährungsbruchs rechtskräftig Verurteilte nicht „alsbald Mitteilung" darüber bekommt, „ob die Bewährung widerrufen oder andere Maßnahmen des § 56 f StGB gegen ihn ergriffen werden sollen". V. Ergebnisse 1. Ein Widerruf (bzw. nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit) nach Ablauf der Bewährungszeit ist zulässig nur und erst - dann aber auch unverzüglich geboten - , wenn die Widerrufsvoraussetzungen zur Uberzeugung des zuständigen Gerichts feststehen. Daraus folgt: Widerruf ist unzulässig, wenn der Verurteilte zum Zeitpunkt der Entscheidung eine günstige Prognose aufweist. Widerruf ist unzulässig, wenn und solange sich das zuständige Gericht über das Vorhandensein der Widerrufsvoraussetzungen im Zweifel befindet. 2. Straferlaß ist zulässig nur und erst - dann aber auch unverzüglich geboten - , wenn das Fehlen einer der Widerrufsvoraussetzungen zur Uberzeugung des zuständigen Gerichts feststeht. Daraus folgt: 34

35 36

S. den Fall O L G Hamm NStZ 1984, 363.

KG JR 1958, 189.

L G Hamburg MDR 1977, 159.

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Straferlaß ist unzulässig, wenn und solange sich das zuständige Gericht über das Vorhandensein oder Fehlen der Widerrufsvoraussetzungen im Zweifel befindet. 3. Wird der zulässige Widerruf durch das zuständige Gericht ungebührlich verzögert, so ist ohne weitere Umstände Straferlaß geboten. 4. Ist die Verzögerung der Entscheidung über Widerruf oder Straferlaß durch andere Justizorgane verursacht, so kann in extremen Fällen und unter bestimmten Voraussetzungen Straferlaß geboten sein.

Die .Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform ENRIQUE BACIGALUPO

I. Jeder Gesetzgeber steht vor der Alternative: „freies Ermessen innerhalb enger Strafrahmen oder weite Strafrahmen mit konkreten Richtlinien zur Ausübung des rechtlich gebundenen Ermessens" 1 . In der Bundesrepublik Deutschland gab es vor der Reform von 1969 Stimmen, die eine radikale Verengung der Strafrahmen verlangten 2 , während in Spanien, wo der Gesetzgeber 1848 die Freiheit der Richter im Bereich der Strafzumessung stark beschränken wollte, verlangt wird, daß der Richter mehr Freiheit haben sollte. Der deutsche Gesetzgeber von 1969 ist jenen Stimmen nicht gefolgt; der spanische Entwurf eines StGB von 1980 will auch an dem traditionellen System von 1848 festhalten. Die Erkenntnis dieser Situation rechtfertigt eine rechtsvergleichende Untersuchung der tatsächlichen Unterschiede beider legislatorischen Systeme: dies soll Gegenstand meines Aufsatzes sein. II. Das legislatorische System der Strafzumessung ist ein Punkt, in dem die iberoamerikanische und die spanische Gesetzgebung voneinander abweichen. Seit 1921, als das geltende argentinische StGB in Kraft trat, orientieren sich die iberoamerikanischen Länder an schweizerischen und deutschen Modellen, zu deren Einführung die spanische Rechtsgeschichte viele Anregungen gab3. In der Familie der spanischsprachigen Rechtsordnungen wirken also zwei legislatorische Strafzumessungssysteme nebeneinander, eine Situation, die wahrscheinlich auch die Zukunft kennzeichnen wird; allerdings wird das alte spanische System von 1848 im Laufe der Zeit zur Ausnahme werden.

1

Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 75. Sarstedt, ZStW 69 (Sonderheft 1957), S. 133 ff. 5 Vgl. Lardizabal, „Discuso sobre las penas", Hrg. Francisco Bueno Arüs, 1976. Bacigalupo, ZStW 91 (1980), S. 747 ff. 2

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Enrique Bacigalupo

Das herkömmliche spanische Strafzumessungssystem, das aus dem StGB von 1848 stammt, strukturiert den Strafzumessungsvorgang in drei Phasen: Erstens muß der Richter eine unter den vier möglichen, im Gesetz fixierten Strafen bestimmen, die anzuwenden ist. Die einzelnen Strafarten enthalten eine Abstufung sowohl hinsichtlich des Strafrahmens als auch hinsichtlich der Schwere der Straftat. Für den Fall, daß die Straftat nicht vollendet wurde oder der Angeklagte nur als Teilnehmer handelte, bestimmt das Gesetz, daß die Strafe gemildert werden muß. Zweitens muß der Richter entscheiden, ob strafschärfende oder -mildernde Umstände, die das StGB in Art. 9 und 10 anführt, gegeben sind. Das Gericht muß die Gesamtdauer der Strafrahmen in drei Stufen einteilen, innerhalb derer die endgültige Strafe gefunden werden soll. Das Gesetz enthält die Regeln, nach denen die strafschärfenden oder -mildernden Umstände rechnerisch eine der drei Stufen des Strafrahmens bestimmen. Drittens bestimmt das Gesetz die Dauer der Strafe innerhalb der gewonnenen Stufe des Strafrahmens; Strafzumessungstatsachen nennt das Gesetz hier nicht. Wenn keine strafschärfenden oder -mildernden Umstände vorliegen, wird die Strafe innerhalb des vollen Strafrahmens fixiert. Hier nennt das Gesetz die Strafzumessungstatsachen: „die Schwere der Tat und die Persönlichkeit des Täters" (Art. 61, 4). Diese Regelung findet nur auf vorsätzliche Straftaten (Art. 565, III) Anwendung; bezüglich der fahrlässigen Handlungen gelten besondere Bestimmungen, die prinzipiell auf dem Handlungsunwert basieren, ausnahmsweise aber auch den Erfolgsunwert als strafschärfenden Grund heranziehen (Art. 565, V). Beschränken wir uns nur auf die Strafzumessung im Bereich der vorsätzlichen Taten, dann wird deutlich, daß dieses System zwei verschiedene Untersysteme enthält. Man muß unterscheiden, ob strafschärfende oder -mildernde Gründe eingreifen oder nicht. Das Eingreifen derartiger Umstände bestimmt die Weite des Strafrahmens sowie das Ermessen des Gerichts bei den Strafzumessungstatsachen. Greifen die im Gesetz genannten Gründe ein, dann wird die Weite des Strafrahmens entsprechend kleiner, während die Freiheit des Gerichts bei der Bestimmung der Strafzumessungstatsachen keine Schranken findet. Wenn dagegen kein solcher Umstand gegeben ist, sind die Strafzumessungstatsachen im Gesetz fixiert, während die Weite des Strafrahmens größer ist, d. h. das Gericht bestimmt die Dauer der Freiheitsstrafe, der Aberkennung von Rechten oder den Betrag der Geldstrafe innerhalb des allgemeinen Strafrahmens dieser Strafarten, ohne den Strafrahmen in drei Stufen zu teilen.

Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform

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Das Vorliegen mildernder Umstände eröffnet sogar die Möglichkeit, eine Strafe unter dem Minimum des allgemeinen Strafrahmens auszuwerfen, wenn zwei bzw. ein besonders schwerwiegender Milderungsgrund gegeben sind. Eine solche Möglichkeit ist nicht vorhanden, wenn es sich um nicht unter strafmildernden Umständen begangene Straftaten handelt. Hier darf die Strafe nicht unter dem Minimum des allgemeinen Strafrahmens liegen, auch wenn die Schwere der Tat und die Persönlichkeit des Täters für eine solche Milderung sprechen. Der Entwurf 1980 hat diese Regelung vereinfacht. Vorsätzliche und fahrlässige Straftaten werden in einem einzigen System geregelt; im übrigen bleibt der Entwurf aber beim alten System, wie ich anfangs bereits erwähnt habe. Die erste Frage, die sich aus diesem legislatorischen System ergibt, bezieht sich auf seine kriminalpolitischen Gründe. Warum soll der Gesetzgeber zwei verschiedene Systeme für die Strafzumessung bei den vorsätzlichen Straftaten anbieten, je nachdem, ob die Tat mit oder ohne strafschärfende bzw. -mildernde Umstände begangen wird? Man könnte zunächst der Versuchung nachgeben, den Unterschied durch die Strafzwecklehre zu erklären. Dafür spricht vor allem die Geschichte dieses zweifachen Systems. Der theoretische Geist der Reform von 1944, durch die die besondere Regelung eingeführt wurde, orientierte sich stark an spezialpräventiven Gesichtspunkten", um die sich der Gesetzgeber von 1848 kaum gekümmert hatte. Deshalb bestimmt die 1944 eingeführte Regelung (Art. 6 1 , 4 ) als Strafzumessungstatsachen die „Schwere der Tat und die Persönlichkeit des Täters". Da diese Strafzumessungstatsachen nicht gemeint sind, wenn strafschärfende oder -mildernde Gründe gegeben sind, könnte das zweigliedrige System dadurch erklärt werden, daß die Strafe verschiedene Zwecke in den beiden Kategorien von Straftaten verfolgt. Dies wäre nichts anderes als eine Folge der allgemein anerkannten Prämisse, nach der die Strafzumessungstatsachen ihre Relevanz der Strafzwecklehre verdanken 5 . Die h. M. sollte sich diesen Gesichtspunkten anschließen, soweit sie davon ausgeht, daß die „Beziehung auf die Persönlichkeit des Täters kontradiktorisch zu dem ganzen System der richterlichen Strafzumessung" ist6. Jedoch wäre diese Erklärung des Systems nur dann richtig, wenn überhaupt ein logisches Verhältnis zwischen den Strafzwecken und der Berücksichtigung von schärfenden oder mildernden Gründen bestünde. Daß die Strafzwecklehre aber

4 Vgl. Juan del Rosal, „La personalidad del delincuente en la técnica penal", 2. Aufl. 1953. 5 Vgl. Bruns, a. a. O., S. 196 ff, 357. 6 Vgl. Mir Puig, „Introducción a las bases del Derecho Penal", 1976, S. 100ff; J.R. Casabó Ruiz, in „Comentarios al Código Penal", II, 1973, S. 16.

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bisher eine solche Beziehung nie für sinnvoll gehalten hat, bedarf hier keiner besonderen Begründung. Aufgrund der Strafzwecklehre hat es keinen Sinn, die Spezialprävention davon abhängig zu machen, ob der Täter sich maskiert hat oder nicht, um die Straftat zu begehen, ob also ein strafschärfender Grund des Art. 10 zu berücksichtigen ist. Niemand hat bisher diese Meinung vertreten. Das spricht für das richtige Verständnis von Lehre und Praxis; aber das Gesetz hindert eine solche Unterscheidung nicht. Die Unvereinbarkeit des Gesetzeswortlauts mit einer sinnvollen kriminalpolitischen Begründung sowie die Uberzeugung, daß die Einführung der Persönlichkeit des Täters als Strafzumessungstatsache ein Fehler des Gesetzgebers war, hat in der Theorie zu einer berichtigenden Auslegung des Gesetzes geführt 7 . Auf der anderen Seite neigt die Praxis zu Lösungen, die eine gewisse Unabhängigkeit dem Gesetz gegenüber zu begründen versuchen 8 . Die Ablehnung der heutigen Situation ist übrigens bemerkenswert 9 und nicht neu10. Die dogmatische Aufgabe, die diese Problematik stellt, besteht darin, den Text des Gesetzes mit einer kriminalpolitischen Erklärung, die die Wissenschaft für plausibel hält, zu versehen. Ein Teil der Lehre hat versucht, diese dogmatische Aufgabe zu lösen, indem sie auf die Analogie verwies (z. B. Rodríguez Devesa). Sie will die ohne strafschärfende bzw. -mildernde Umstände begangenen Taten auch aufgrund der Schwere der Tat und der Persönlichkeit des Täters bewerten. Aber auf diese Weise kann man nur einen Aspekt des Problems lösen, denn die Analogie ist im spanischen Strafrecht nur in „bonam partem" zulässig". Wie sollte in den Fällen der mit strafschärfenden oder -mildernden Gründen begangenen Handlungen entschieden werden, wenn die Betrachtung der Persönlichkeit des Täters als Strafzumessungstatsache zu einer schärferen Strafe führt? Außerdem erheben sich auch logische Bedenken gegen diese Lösung, da die Analogie hier in zwei verschiedenen Richtungen wirken könnte: Man kann die Fälle der mit schärfenden oder mildernden Gründen begangenen Straftaten aufgrund der spezialpräventiven Klausel des Art. 61,4 entscheiden wie auch umgekehrt, also kann die sowohl auf die Vergeltung wie auf die Generalprävention abstellende Klausel des Art. 61, 7 auch auf die Fälle, die ohne strafschärfende oder -mildernde Umstände begangen worden sind, ange-

Vgl. Rodríguez Devesa, „Derecho Penal Español", 7. Aufl. 1979, S.878. Vgl. Córdoba Roda, in „Rev. Jur. de Cataluña", 1974, S. 119 ff. ' Vgl. Quintero Olivares, in „Cuadernos de Política Criminal", 4 - 1978, S.49ff. 10 Vgl. Silvela, El Derecho Penal, II, 1903, S. 311 ff; Jiménez de Asúa, „AI servicio del Derecho Penal", 1930. 11 Rodríguez Devesa, a . a . O . , S.243, 878. 7 8

Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform

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wandt werden. In der Tat handelt es sich hier nicht um die Anwendung der Analogie, sondern um die einfache Eliminierung einer Regel ohne weitere Begründung. Man bevorzugt eine bestimmte Straflehre und macht diese Auffassung zur Gesetzesauffassung. Gleich berechtigt wäre es aber, das Gegenteil zu behaupten. Analogie setzt voraus, daß das Gesetz nur einen Teil der möglichen Fälle geregelt hat, während ähnliche Fälle nicht geregelt wurden. Die Möglichkeit der Analogie fällt aber weg, wenn das Gesetz ähnliche Fälle aufgrund verschiedener Kriterien geregelt hat. Mit der Analogie kann ein Prinzip ausgedehnt werderj,; was man mit der Analogie nicht kann, ist ein Prinzip auslöschen. Dagegen könnte man argumentieren, daß diese Problematik nichts anderes als ein Einzelfall der Antinomie der Strafzwecke ist, die jede Vereinigungstheorie kennzeichnet 12 . Hierum handelt es sich jedoch nicht. Will man von einer Vereinigungstheorie ausgehen, dann wird die Frage der Antinomie der Strafzwecke in beiden Systemen der Strafzumessung des vorsätzlichen Verbrechens auftauchen. Die Problematik der spanischen Strafzumessung bezieht sich auf die schwer zu begründende zweifache Auffassung von der Strafe, nicht auf die Antinomie der Strafzwecke. Eine andere Möglichkeit wäre die folgende: Man kann eine Auffassung von der Strafe als vorgesetzliche Theorie der Strafe verstehen, nämlich eine Theorie, die nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes induziert worden ist. Die strafschärfenden und -mildernden Umstände werden dann aufgrund eines einzigen Kriteriums erklärt. Diese Ansicht könnte damit begründet werden, daß das Gesetz weder über die Vergeltung noch über die Prävention ein Wort gesagt hat. Neigen wir z. B. zur spezialpräventiven Auffassung von der Strafe, dann wären die strafschärfenden und -mildernden Gründe Symptome eines bestimmten Ausmaßes an Asozialität in der Persönlichkeit des Täters. Aber durch diese Methode läßt sich nicht erklären, warum das Ermessen des Richters unterschiedliche Grenzen hat, wenn strafschärfende oder -mildernde Umstände gegeben sind oder diese nicht eingreifen. Anders gesagt: Wenn die Interpretation von einer einzigen Auffassung über die Strafe ausginge, dann bliebe das zweifache System ohne Erklärung. Zusammenfassend: Weder die Analogie noch eine einzige Straflehre ermöglichen es, die oben beschriebene dogmatische Aufgabe zu erfüllen. Das System ist mit einer sinnvollen kriminalpolitischen Auffassung nicht vereinbar.

12

Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl. 1978, S. 103 ff.

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III. Das spanische System der Strafzumessung wurde aber in der Zeit der Kodifizierung (1848) nicht wegen seiner kriminalpolitischen Plausibilität in das Gesetz aufgenommen, sondern weil man glaubte, auf diese Weise das Ermessen des Richters zugunsten der Rechtssicherheit wesentlich begrenzen zu können. Stehen wir nicht vor einem Fall, in dem kriminalpolitische Gesichtspunkte vor Bedürfnissen der Rechtsstaatlichkeit weichen müssen? Um die tatsächliche Weite des Richterermessens im spanischen System untersuchen zu können, müssen wir von der logischen Struktur des richterlichen Strafzumessungsakts ausgehen. Ist die Strafzumessung auch eine Form der Rechtsanwendung, dann sollten die intellektuellen Operationen des Richters in den Rahmen eines kontrollierbaren Systems eingegliedert werden. Dabei hat die moderne deutsche Dogmatik die Strafzumessungslehre als eine mehrschichtige Problematik gekennzeichnet. Solche Mehrschichtigkeit ist nicht nur ein Charakteristikum des deutschen Gesetzes; sie kennzeichnet die Tätigkeit des Richters bei der Strafzumessung unabhängig vom anzuwendenden Gesetz. Diese verschiedenen Schichten, in denen sich diese Problematik entfaltet, sind folgende: 1. die Bestimmung des Strafzwecks: es handelt sich um die Entscheidung zugunsten der Vergeltung, der General- bzw. der Spezialprävention oder einer konkreten Strukturierung aller dieser Zwecke innerhalb einer Vereinigungstheorie. O b die Generalprävention angesichts der spanischen Verfassungsbestimmungen in der Strafzumessung eine legitime Rolle spielen kann, soll hier dahingestellt bleiben. Auch das Problem der Kriterien gehört hierher, nach denen die Vereinigungstheorien die Antinomie der Zwecke entscheiden; 2. aus dem Strafzweck lassen sich die Strafzumessungsfaktoren oder -tatsachen ableiten. Von diesen, auch reale Gründe der Strafzumessung genannt, müssen sich die Tatbestände der strafschärfenden und -mildernden Umstände, die das spanische StGB ausdrücklich in einem ausführlichen Katalog aufstellt, unterscheiden; 3. die Bestimmung der Bewertungsrichtung, sungstatsachen zu bewerten sind;

nach der die Strafzumes-

4. die Umwertung dieser Bewertung der Strafzumessungsfaktoren in die Quantität der Strafe, also in Gefängnisjahre, Betrag der Geldstrafe usw. Versuchen wir jetzt zu prüfen, ob das spanische System die Weite des richterlichen Ermessens mehr als andere Systeme reduzieren kann. a) Der erste Vorgang, die Definition der Strafzwecke, besteht darin: der

Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform

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Strafzweck wird aus dem strafschärfenden und -mildernden gesetzlichen Gründekatalog „induziert". Das Ergebnis ist aber nicht befriedigend, da diese Umstände sich sowohl aus absoluten als auch aus relativen Theorien erklären lassen. Die mildernden Umstände werden, wenn wir von einer absoluten Theorie ausgehen, als beträchtliche Beschränkung der Freiheit des Täters zu einer normalen Motivation zur Zeit der Handlung verstanden. Sie könnten aber auch vom Standpunkt einer spezialpräventiven Straflehre aus als Situationen definiert werden, die die Motivation des Täters so stark beeinflußt haben, daß die begangene Handlung symptomatisch weniger als sonst wiegt. Und letztlich ist auch eine Erklärung aufgrund der Generalprävention möglich, da - so kann argumentiert werden - die Nichtbeachtung dieser mildernden Umstände bedeuten würde, daß sich das Strafrecht in Terror verwandelt hat. Nichts anderes geschieht bei den strafschärfenden Gründen. Vom Standpunkt der absoluten Theorien aus sind diese Umstände Ausdruck einer größeren Vorwerfbarkeit. Auch der Rückfall kann in diesem Sinne verstanden werden, wenn man, wie das deutsche StGB, die erhöhte Vorwerfbarkeit in der Einstellung des Täters sieht, der sich die früheren Strafen nicht hat zur Warnung dienen lassen. Außerdem lassen sich die strafschärfenden Gründe bruchlos aus dem Gedanken der Spezialprävention erklären, weil nämlich der Täter bei der Tatbegehung eine größere kriminelle Energie aufgewandt hat. Und auch die Generalprävention ermöglicht ein Verständnis der strafschärfenden Umstände, weil eine schärfere Strafe größere abschreckende Wirkung auf die Allgemeinheit ausübt. Wenn alle Theorien zu gleichen Ergebnissen der „Induktio" führen, bleibt nur eine rationale richterliche Entscheidung als Voraussetzung der Gesetzesanwendung. Diese Entscheidung wird von der spanischen Verfassung nicht eingeschränkt. Nach Art. 25.2 der Verfassung soll der Vollzug der Spezialprävention dienen. Die Lehre13 sieht darin keinen Grund, andere für die Strafzumessung relevanten Gesichtspunkte auszuschließen; die Vereinigungstheorie muß nicht aufgegeben werden. Der relative Freiraum des Richters bei der Formulierung der Vereinigungstheorie ist in Spanien nicht kleiner als in der Bundesrepublik Deutschland oder in Frankreich, da nichts außer den anerkannten methodologischen Prinzipien den spanischen Richter hindert, eine bestimmte Koppelung der Repression und Prävention zu bestimmen, wie es auch im legislatorischen System der Fall ist, wo die Strafzumessung den Anspruch einer Mathematisierbarkeit nicht erhebt.

13

Vgl. Gimbernat

Ordeig, in „Doctrina Penal" 7 - 1979, S.581.

564

Enrique Bacigalupo

b) Die zweite Ebene der Überprüfung des Ermessensspielraums eines spanischen Gerichts ist die Bestimmung der Strafzumessungsfaktoren. Eine solche Bestimmung ist abhängig von der Strafzwecklehre, da die Frage, welche Strafzumessungsfaktoren relevant sind, nur innerhalb des theoretischen Rahmens irgendeiner Straftheorie beantwortet werden kann. Das Gesetz nennt Strafzumessungstatsachen nur dann, wenn keine strafschärfenden oder -mildernden Gründe eingreifen (Art. 61, 4): in diesem Fall sind Grundlage der Strafzumessung die Persönlichkeit des Täters und die Schwere der Tat. Wenn dagegen ein schärfender oder mildernder Umstand gegeben ist, dann schweigt das Gesetz. Dabei entspricht der Spielraum des Ermessens der relativen dogmatischen Freiheit, mit der der Richter die Strafzwecke festgesetzt hat. Die Strafzumessungsrelevanz eines Umstands wird aus der Strafzwecklehre abgeleitet, und die Strafzwecklehre setzt die Grenzen fest, innerhalb derer beispielsweise die Persönlichkeit des Täters für die Strafzumessung bedeutsam ist. O b w o h l die Lehre, wie gesagt, hier ein entscheidendes Argument für die Spezialprävention sieht, dürfte die Persönlichkeit des Täters auch im Rahmen einer Vergeltungslehre geltend gemacht werden. Dies ist gerade der Sinn der sog. „Persönlichkeitsschuld". Solange der Schuldbegriff auch abhängig von einer Feststellung des Richters ist, braucht die Persönlichkeit des Täters in einem reinen Schuldstrafrecht nicht aufgegeben zu werden. Dieses Beispiel zeigt uns also, daß der Freiraum des Richters im Bereich der Strafzumessungstatsachen in Spanien so weit wie in der Bundesrepublik Deutschland ist. c) In der dritten Phase der Strafzumessung sollen die Strafzumessungsfaktoren für oder gegen den Angeklagten bewertet werden. Dazu ergeben sich aus dem spanischen StGB keine Kriterien. Wiederum sind die Grenzen des Ermessens eines spanischen Richters also nicht enger als die eines deutschen Gerichts. Bruns14 meint dagegen, daß sich das deutsche Recht „in diesem Punkt von zahlreichen ausländischen Gesetzen unterscheidet, die eine Normierung der Strafschärfungs- und Strafmilderungsgründe enthalten und in den einschlägigen Katalogen die Bewertung der einzelnen Strafzumessungstatsachen genau festlegen, z. B. in Osterreich, in der Schweiz und vor allem in Italien". Bezüglich der spanischen und italienischen Rechte trifft diese Meinung m. E. nicht zu: Die sog. strafschärfenden und -mildernden Umstände sind nämlich sowohl im spanischen als auch im italienischen Recht nichts anderes als Tatbestandsmerkmale, die ebenso wie andere in einzelnen Straftatbeständen genannte besondere Umstände auf den Strafrahmen wirken. Diese Strafschärfungsgründe beziehen sich auf die Gesinnung des 14

Vgl. Bruns, a . a . O . , S.618.

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Täters, seine Beweggründe und die Art der Begehung der Tat, sind also nichts anderes als Teile des Tatbestands. N u r der Rückfall hat wohl eine eigene Bedeutung, die hier aber nicht zu untersuchen ist. Unterscheiden sich nun die Strafschärfungsgründe von den Strafzumessungsfaktoren nicht, dann dürfte das Verbot der Doppelverwertung nicht gelten, weil die Bestimmung der Strafe innerhalb des Strafrahmens wieder aufgrund einer Verwertung der Strafschärfungsgründe erfolgen soll, die bereits vorher den Strafrahmen bestimmt haben. Das Verbot der Doppelverwertung gilt aber im spanischen S t G B , wo es in Art. 59 ausdrücklich formuliert ist. Mit anderen Worten: Die Strafzumessungsfaktoren sollten mit den Strafschärfungs- und Milderungsgründen nicht verwechselt werden, die nur die Funktion haben, den Strafrahmen zu bestimmen, wie es im spanischen und italienischen Recht geschieht. Bei diesen Systemen gehören die Strafschärfungsgründe sowie die Milderungsgründe nämlich eher in die gesetzliche Strafzumessung als in die richterliche Strafzumessung 15 . d) Schließlich ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz kein Kriterium, das die Umwertung der Strafzumessungsfaktoren in die Quantität der Strafe bestimmt. Auch hier richtet sich das Gericht nach allgemeinen Prinzipien, die eine gewisse Konkretisierung der abstrakten Strafrahmen ermöglichen. Das Ermessen eines spanischen Richters kennt hier dieselben Grenzen, denen sich auch der deutsche Richter gegenübersieht. Wenn wir nun eine Bilanz ziehen, läßt sich feststellen, daß das spanische System keine besondere Limitierung des richterlichen Ermessens kennt, abgesehen von dem allgemeinen Grundsatz, nach dem das Ermessen nicht in Willkür ausarten darf16. Die Folge ist somit deutlich: die kriminalpolitischen Mängel des spanischen Strafzumessungssystems können durch rechtsstaatliche Argumente nicht gerechtfertigt werden. Die kriminalpolitische Aufgabe des Gesetzgebers ist es daher, nach Alternativen zu suchen. IV. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft und der Gesetzgebung liegt die Alternative zu diesem Strafzumessungssystem in der Richtung, die das argentinische S t G B 1921 bereits eingeschlagen hat. Dieses System unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen, das in der Bundesrepublik Deutschland seit 1975 gilt. Wie anfangs gesagt wurde, ist diese Orientierung seit mehr als 50 Jahren die herrschende Meinung in der Wissenschaft und auch in den iberoamerikanischen Strafrechtsreformor15 Vgl. Bacigalupo, in „Rev. de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense de Madrid", Nr. 3 - 1981, S. 55 ff. 16 Vgl. Bacigalupo, a.a.O.

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ganen. Die Adaption eines solchen Systems in Spanien würde zunächst eine entsprechende Modernisierung der legislatorischen Technik der Tatbestandsbildung erforderlich machen. Die Strafschärfungsgründe müßten in die einzelnen Tatbestände des Besonderen Teils aufgenommen werden. Dies ist in der Tat nur eine Folge des Mangels an Allgemeingültigkeit, die diese Umstände in der Regel zeigen. Es handelt sich überwiegend um begleitende Umstände, die nur in Beziehung auf besondere Tatbestandsgruppen ihre Funktion sinnvoll ausüben können. N u r der Rückfall dürfte eigentlich als ein allgemeiner Strafschärfungsgrund angesehen werden. Bei den anderen 16 im spanischen S t G B geregelten Strafschärfungsgründen ist das nicht der Fall. U m nur ein Beispiel zu geben: Der Gebrauch von Presse oder Rundfunk (Art. 10, N r . 4) wird eigentlich als strafschärfender Umstand vor allem bei den Äußerungsdelikten relevant. Die Ausführung der Handlung im Dunkeln hat nur einen Sinn für die Strafschärfung, wenn auf diese Weise die Verteidigung des Opfers erschwert wird, was beim Hochverrat oder der Hingabe eines nicht gedeckten Schecks wohl nicht der Fall ist; die Verkleidung des Täters sollte eine strafschärfende Funktion haben, wenn es um eine Handlung geht, bei der die Täuschung ein Tatbestandsmerkmal ist oder die Begehung erleichtert. Der E 1980 hat diese Situation zum Teil geändert, indem er den Katalog der Strafschärfungsgründe stark reduziert hat. M. E. ist dies aber nicht die richtige Lösung, wenn der Gesetzgeber eine moderne Technik einsetzen will, wie es aus den Motiven ersichtlich ist. Die legislatorische Technik des geltenden Rechts und des E 1980 bringt auf der anderen Seite keine erhöhte Rechtssicherheit. Wann ein Strafschärfungsgrund zu Lasten des Täters geht, ist eine Frage, deren Beantwortung der Gesetzgeber dem Gericht überläßt. Die Praxis hat bisher eine in der Regel einwandfreie Ergänzung der einzelnen Tatbestände durch „allgemeine" Strafschärfungsgründe vorgenommen. Das Gesetz schließt aber keineswegs absurde Entscheidungen aus, wie z. B. die Schärfung der Strafe wegen einer Beleidigung, weil sie während eines Schiffbruchs begangen wurde (Art. 10, Nr. 11). Solche falsche Tatbestandsbildung kann das Gesetz ausräumen, indem es die Strafschärfungsgründe in die einzelnen Tatbestände einführt und auf einen allgemeinen Katalog verzichtet. Anders sieht die Zukunft der Straimilderungsgrüride aus. Das deutsche Publikum ist davor zu warnen, diese mit den besonderen gesetzlichen Milderungsgründen des § 49 S t G B zu verwechseln. Im spanischen S t G B geht es auch um die Aufstellung eines Katalogs mit begleitenden Umständen im Allgemeinen Teil, die eine Milderung jeder Straftat bewirken. Die praktische Bedeutung besteht in folgendem: wenn ein Milderungsgrund eingreift, dann soll das Gericht die Strafe innerhalb des

Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform

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unteren Drittels des Strafrahmens festsetzen. D a der Katalog aber auch eine Klausel enthält, nach der allen weiteren ähnlichen Umständen dieselbe Bedeutung zuerkannt wird (Art. 9, Nr. 10), stellt der ganze Katalog nur eine Reihe von Beispielen dar, aus denen die Milderungskriterien zu induzieren sind. Der indirekte Weg, den der Gesetzgeber durch diese kasuistische Methode eingeschlagen hat, ist aber nicht überzeugend. Dabei wird häufig die Ambivalenz der begleitenden Umstände verkannt, indem sie nur abstrakt betrachtet werden. Der Affekt z. B., der durch gewaltsame Reizung hervorgerufen wird (Art. 9, Nr. 8), sollte sich im Rahmen einer Vergeltungstheorie nur dann strafmildernd auswirken, wenn die Reaktion des Täters auf nicht vorwerfbaren Motiven beruht. Diese Voraussetzung verlangt das Gesetz aber nicht. Unter spezialpräventiven Gesichtspunkten dürfte dieser Umstand wohl eher als Strafschärfungsgrund angesehen werden, da es sich normalerweise um einen Täter handelt, der seine Reaktionen im Sozialleben nicht völlig beherrschen kann. Genauso wie die meisten Strafschärfungsgründe sollten einige Strafmilderungsgründe in die einzelnen Tatbestände des Besonderen Teils eingebaut werden; die restlichen Strafmilderungsgründe sollten durch Richtlinien zur Bewertung der Tat ersetzt werden. Die Frage, die diese Modernisierung des Strafzumessungssystems aufwirft, betrifft die Gesichtspunkte, nach denen diese Richtlinien zu formulieren sind. In der spanischen Strafrechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts war nicht die Prävention problematisch, sondern das Schuldprinzip. Deshalb mußte sich die Darstellung zunächst auf den Gegensatz von Schuldprinzip und Prävention in der Strafzumessung konzentrieren. Seit der Kodifizierung (1848) wird der Lehre von der Schuld in Spanien nur als Strafvoraussetzung Bedeutung zuerkannt. In der Strafzumessung dagegen spielte sie keine Rolle. Da die Schuld - so wie sie in Spanien in der Zeit der Kodifizierung verstanden wurde - zu einer Präsumtion geführt hat, die in der Praxis übermäßige Strafen erlaubte, haben die Reformisten Anfang dieses Jahrhunderts auch kein rechtsstaatliches Argument gefunden, um diese Begründung des Strafrechts beizubehalten. Nach dem Schulenstreit, in dessen Verlauf die Meinungen zu einer spezialpräventiven Begründung des Strafrechts neigten, die sich in der Gesetzgebung kaum widerspiegelte, hat die Lehre zur Generalprävention zurückgefunden. Der Trend beginnt ganz deutlich mit zwei Monographien von José Anton Oneca". Einmal versuchte Anton Oneca eine Begründung der Zweispurigkeit des Strafrechtsfolgensystems auf der Grundlage der Prävention: nach seiner Arbeit basiert die Strafe auf der 17

„La utopia penai de Dorado Montero", 1951.

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Enrique Bacigalupo

Generalprävention, die Maßregel auf der Spezialprävention. Auf der anderen Seite hielt er die stark auf die Spezialprävention gerichteten Lehren des spanischen Correccionalismo, die vor allem Pedro Dorado Montero vertrat, für utopisch. Inzwischen sieht die herrschende Meinung die Generalprävention als einzige Rechtfertigung der Strafe an18, und der Schuld wurde kürzlich sogar als Voraussetzung der Strafe jede Funktion abgesprochen. Diese Tendenz lehnt jede Bezugnahme auf die Schuld in der Strafzumessung aus zwei Gründen ab: erstens, weil sie davon ausgeht, daß das Schuldprinzip überflüssig sei, da das richterliche Ermessen nur durch das Legalitätsprinzip begrenzt werden sollte. Zweitens, weil die Grenzen, die sich aus der Schuld ergeben könnten, aus der Generalprävention selbst zu entnehmen seien. Das erste Argument, also die Uberflüssigkeit der Grenzen, die sich aus der Schuld ergeben, weil sie mit denen des Legalitätsprinzips übereinstimmen, nämlich mit den Grenzen des Strafrahmens, setzt voraus, daß Schuldprinzip und Legalitätsprinzip dieselbe Bedeutung haben. Und gerade dies ist falsch. Während das Schuldprinzip die Ausschöpfung des vom Gesetzgeber gegebenen Strafrahmens limitiert, weil die konkrete Strafe als Obergrenze die Schwere der Schuld nicht überschreiten darf, obwohl der Strafrahmen darüber hinausgeht, begrenzt das Legalitätsprinzip nur den Strafrahmen selbst. Gerade die Versuche, den Wirkungsbereich des Legalitätsprinzips aus dem Schuldprinzip abzuleiten", wären logisch unmöglich, wenn es sich nicht um verschiedene Prinzipien handelte. In Wirklichkeit bedeutet das Legalitätsprinzip die Bindung des Richters an den gesetzlich gegebenen Strafrahmen. Das Schuldprinzip ist also dann überflüssig, wenn man ausschließlich von der Generalprävention ausgeht, nicht aber weil Schuldprinzip und Legalitätsprinzip dasselbe bedeuten. Es ist klar, daß das Schuldprinzip nur eine Rolle in der Strafzumessung spielen kann, wenn die Schuld allein oder mit anderen Zwecken die Strafe legitimiert, es sei denn, daß die schuldangemessene Strafe für eine Voraussetzung der präventiven Wirkung gehalten wird. Aber eine solche Argumentation schuldet bisher den empirischen Beweis, ohne den ihre Uberzeugungskraft praktisch gleich Null ist. Das zweite Argument, das die h. M. gegen die Funktion der Schuld in der Strafzumessung anführt, lautet: Die Generalprävention bedarf keiner Grenzen, weil sie selbst nach ihrer inneren Gesetzlichkeit die unerwünschten Konsequenzen ausschließen könne. In diesem Sinne sagt " Gimbernat Ordeig, in: Festschrift für Henkel, 1974, S. 151 ff; Luzón Peña, „Medición de la Pena y sustitutivos penales", 1979. " Vgl. Sax, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Handbuch der Grundrechte, III, 2, S. 909 ff.

Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform

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man: „Allen Verbrechen mit der äußersten Strafe zu begegnen und damit von der Ungleichheit der von ihnen herbeigeführten sozialen Erschütterung - die schwerer wiegt, je wertvoller das verletzte Rechtsgut ist, und bei gleichen Rechtsgütern, je nachdem, ob es sich um ein vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten handelt - abzusehen, ist unannehmbar, weil es in der Natur der Sache liegt, daß die Strafe nicht verschwenderisch, sondern nur behutsam angewandt werden kann; denn sonst würde man Verwirrung in die menschlichen Kontrollmechanismen bringen, was zur Folge hätte, daß die Auswirkung der Strafe auf die soziale Verhaltenssteuerung verlorenginge" 1 ' 1 . Hier stehen wir wiederum vor einer empirischen Aussage, die aber nicht zu verifizieren bzw. bisher nicht verifiziert worden ist. Jedenfalls scheint sie mir als bloße Vermutung unrichtig; gleich strenge Strafen für alle Verbrechen bringen keine Verwirrung in den Kontrollmechanismus des Menschen. Die Anpassung der Kontrollmechanismen hängt nicht von der Differenzierung der Härte der Strafen, sondern nur von der Androhung bzw. der Verhängung der Rechtsfolgen ab. Auch wenn ein „gesichertes Wissen" über die Strafe und andere Kriminalsanktionen gering ist20, erlaubt uns die einfache Beobachtung, hier zu sagen, daß die Abschreckungswirkung einer angedrohten bzw. verhängten Strafe mit ihrer Gerechtigkeit nicht zusammenfällt. Und wenn man nur auf die menschlichen Kontrollmechanismen abstellt, dürfte die Definition der Generalprävention nur auf der Abschreckung basieren. Was dagegen von einer Differenzierung der Strenge abhängig sein könnte, ist die Erziehung des Gerechtigkeitsgefühls der Bürger. Aber eine solche Begründung der Generalprävention durch eine Erziehungsfunktion des Strafrechts wurde bisher in Spanien nicht postuliert. Sie kann auch nicht implizit in dem hier kritisierten Gesichtspunkt stecken, weil sie die Relevanz der Schuld für die Generalprävention ablehnt. Andererseits haben die Autoren, die die Schuld als Rechtfertigung der Strafe verfechten, die Folgerungen des Schuldprinzips für die Strafzumessung nicht gezogen. Vielmehr werden solche Konsequenzen in die Auseinandersetzung mit der Auffassung einer letztlich auf die Generalprävention gerichteten Straftheorie nicht einbezogen 21 . Die Diskussion beschränkt sich vielmehr auf die dogmatischen Aufgaben der Schuld im Bereich der Strafvoraussetzungen, so daß die Frage einer äußeren Limitierung der Prävention durch die Schuld noch außerhalb der Diskussion der Strafrechtsreform bleibt: Eine Klausel also, wie sie sich im

Gimbernat Ordeig, ZStW 82 (1970), S. 379 ff (397). Vgl. Kaiser, in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 923 ff. 21 Vgl. Córdoba Roda, Culpabilidad y Pena, 1977; Cerezo Mir, in: Anuario de Derecho Penal Ciencias Penales, Madrid, 1980. 1,1

20

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deutschen StGB (n. F.) in § 46 findet, nach der die Schuld des Täters Grundlage für die Zumessung der Strafe ist, wird in das zukünftige spanische StGB wahrscheinlich nicht eingeführt werden, wenn es erlaubt ist, aus dem Stand der strafrechtlichen Diskussion über diese Frage die entsprechende Voraussage zu wagen. Es bleibt noch die verfassungsrechtliche Frage kurz zu erörtern, ob die 1978 in Kraft getretene Verfassung die Schuld als Rechtfertigung der Strafe bestimmt. Die Verfassung erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und dies für die Grundlage der politischen Ordnung und des sozialen Friedens (Art. 10). Nach Art. 9 garantiert die Verfassung auch die Rechtssicherheit. Obwohl die Verhältnismäßigkeit der Strafe zur Straftat nicht erwähnt wird, kann sie aus dem Schutz der Würde des Menschen abgeleitet werden. Jedenfalls erfordert der Schutz der Menschenwürde nicht zwangsläufig, daß sich die Strafe nach dem Schuldmaß richtet. Wenn begrifflich die Schuld durch ihre allgemein anerkannte unsichere Bestimmbarkeit und ihren höchst kontroversen Inhalt gekennzeichnet ist22, dürfte es kein Gebot der Rechtssicherheit sein, die Verhältnismäßigkeit auf ihr aufzubauen. Die unsichere Bestimmung der Präventionsbedürfnisse wird durch die unsichere Grenze der Schuld nicht geringer. Trotzdem schließt die Verfassung eine Begründung der Strafe aus der Schuld nicht aus. Art. 25.2 der Verfassung spricht in erster Linie nur über den Vollzug von Strafen und Maßnahmen, die die Wiedererziehung und Resozialisierung des Verurteilten zum Ziel haben. Diese Bestimmung ist mit einer Vereinigungslehre vollkommen vereinbar. Dieses Verständnis entspricht nicht der üblichen Interpretation der gleichlautenden Klausel der deutschen Verfassung (GG Art. 1), was aber nicht bedeuten soll, daß es sich um gegensätzliche Auslegungen derselben Bestimmung handelt. In der Auslegung der Verfassungen spielen auch die nationalen Traditionen eine Rolle, die zu berücksichtigen sind. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Idee der Würde des Menschen von der Tradition des deutschen Idealismus so sehr geprägt, daß Menschenwürde und Prävention nur unter bestimmten Voraussetzungen vereinbar sind (z.B. Spielraumtheorie oder Stellenwerttheorie). Das ist aber in Spanien nicht der Fall, wo sich eine Philosophie durchgesetzt hat, die die Zwecklosigkeit der Strafe als Verletzung der Menschenwürde versteht.

22

Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 6.

La libertad religiosa como derecho fundamental de los internos en instituciones penitenciarias A N T O N I O BERISTAIN

I. Importancia y ambivalencia del derecho a la libertad religiosa El derecho a la libertad religiosa en las instituciones penitenciarias (algo así como el derecho a la libertad religiosa en general) es uno de los derechos fundamentales más importantes y más necesitados de estudio. Pero, uno de los que menos se habla, menos se discute y menos se fomenta, por varios motivos. Entre otros, por la dificultad en definir la religión, por su extraordinario poder, y por su ambivalencia en cuanto a los efectos sociales que produce. Algunos especialistas en derechos humanos ven y hacen ver la religión, a lo largo de la historia y en nuestros días, como autora de execrables crímenes contra la humanidad, como obstáculo frente al avance de la cultura y de la ciencia, como fomentadora de sentimientos vengativos, represivos, sadistas y masoquistas . . . Además, desde otro punto de vista, el nacional-catolicismo se opone frontalmente al derecho que aquí comentamos. La politización excesiva, obcecante y unilateral, de lo sacro amenaza con frecuencia a las sociedades de todos los tiempos y lugares. Actualmente en las Escuelas de Berlin (Oeste), este año de 1985, se teme una politización parcial de la enseñanza religiosa1. Estas y otras críticas brotan tanto desde fuera de las diversas religiones como desde dentro de ellas. Y, desde dentro de la más admitida en nuestro mundo cultural: el cristianismo. Recordemos, como ejemplo", el documento preparado por más de veinte instituciones (católicas muchas de ellas) en Brasil, presentado al Romano Pontífice para protestar y recurrir contra la sanción impuesta recientemente al teólogo Leonardo Boff, sin haber observado (según el documento) las más elementales normas procesales exigidas por la justicia (»Deux avocats brésiliens presentent un recours en gráce pour Leonardo Boff«, en L'actualité réligieuse dans le Monde, N°25, julio-agosto 1985, pp. 16ss.). Las sombras, las manchas y los crímenes de las religiones no obstan para que se pueda y se deba reconocer que la religión (bien entendida) 1

Cfr. Bildung und Wissenschaft, Bonn, 1985, n° 1-2 (sp) p . 6 .

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Antonio Beristain

significa uno de los valores más nobles y beneficiosos para la humanidad, aunque con frecuencia haya contribuido a causarle graves daños. Como indica Erich Fromm2, un mapa no basta para guiarnos en la acción, también necesitamos una meta que nos señale a dónde ir. Los animales no tienen esos problemas. Sus instintos les ofrecen un mapa y también metas; pero, ya que nosotros no somos determinados por los instintos y tenemos un cerebro que nos permite pensar en muchas direcciones a donde podemos ir, necesitamos un objeto de devoción total, un punto para enfocar todos nuestros esfuerzos y una base para nuestros valores efectivos, y no sólo declarados. Necesitamos ese objeto de devoción para dirigir nuestra energías en una dirección, para trascender nuestra existencia aislada, con todas sus dudas e inseguridades, y para satisfacer nuestra necesidad de darle sentido a la vida. Desde parecida problemática Julio Caro Baroja considera también la importancia de dar un sentido trascendente a la vida, por ejemplo, cuando afirma: «¿Cuáles son los ideales del hombre de hoy?. Yo creo que el hombre contemporáneo sufre un acondicionamiento por una misión acaso rebajada y empobrecida que le atribuye el materialismo histórico. Reducir la existencia del hombre a una lucha de clases me parece mucho reducir, . . . El mundo utilitario en el que vivimos - sea capitalista o marxista - es un mundo bastante soberbio y bastante asqueroso. Es un mundo sin horizontes para hacer una vida rica«3. Por lo tanto, el derecho a la libertad religiosa merece ser estudiado y desarrollado en la sociedad carcelaria y en la sociedad extracarcelaria. Pero, sin dogmatismos, sin fanatismos; con una cosmovisión humana y mistérica, como la presentan, por ejemplo, el Concilio Vaticano II, el penalista protestante, Ministro de Justicia de Alemania, G. Radbruch, el escultor y escritor Jorge Oteiza, Erich Fromm ... Según el jurista alemán, «Religión es la última afirmación de lo existente, el risueño positivismo, el formular un sí y un amén sobre todas las cosas, el amor sin consideración al valor o desvalor del amado, la felicidad más allá de la suerte o la desgracia, el perdón más allá de la culpabilidad o justicia, la paz, el más que es superior a todo sentido común y sus problemas, la alegre y metafísica «ligereza-ingenuidad» de los hijos de Dios a los cuales todo coopera para su bien» 4 .

2 Erich Fromm, ¿Tener o ser?, Trad. de Carlos Valdés, Ed. Fondo de Cultura Económica, México-Madrid, 1980, p. 135. 5 Julio Caro Baroja, Emilio Temprano, Disquisiciones antropológicas, Madrid, 1985, p. 192. 4 Gustav Radbruch, Aphorismen zur Rechtsweisheit, Ed. Vandenhoeck Sí Ruprecht, Góttingen, 1963, pp. 86 ss.

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El Concilio Vaticano II, en su Constitución «Sobre la iglesia en el mundo de hoy», Números 21 y 27, ha afirmado: «La iglesia sabe perfectamente que su mensaje está de acuerdo con los deseos más profundos del corazón humano, cuando reivindica la dignidad de la vocación del hombre, devolviendo la esperanza a quienes desesperan ya de sus destinos más altos. Su mensaje, lejos de empequeñecer al hombre, difunde luz, vida y libertad para el progreso humano. . . . Numerosos mártires dieron y dan preclaro testimonio de esta fe, lo cual debe manifestar su fecundidad imbuyendo toda la vida, incluso la profana, de los creyentes, e impulsándolos a la justicia y al amor, sobre todo respecto al necesitado». . . .«cuanto viola la integridad de la persona humana, como, por ejemplo, las mutilaciones, las torturas morales o físicas, los conatos sistemáticos para dominar la mente ajena; cuanto ofende a la dignidad humana, como son las condiciones infrahumanas de vida, las detenciones arbitrarias, las deportaciones, la esclavitud, la prostitución, la trata de blancas y de jóvenes; o las condiciones laborales degradantes, que reducen al operario al rango de mero instrumento de lucro, sin respeto a la libertad y a la responsabilidad de la persona humana: todas estas prácticas y otras parecidas son en sí mismas infamantes, degradan la civilización humana, deshonran más a sus autores que a sus víctimas y son contrarias al honor debido al Creador». El antes citado Erich Fromm (p. 133) entiende por religión «cualquier sistema de pensamiento (en sentido amplio) y acción compartido por un grupo, que ofrece al individuo un marco de orientación y un objeto de devoción». En este sentido, ninguna cultura del pasado, del presente, y parece que del futuro, puede considerarse como carente de religión . . . El dilema no es ¿religión o no religión? sino ¿qué tipo de religión?. ¿Es algo que fomenta el desarrollo humano, los poderes humanos específicos, o que los paraliza? . . . Cuanto más un animal asciende por las etapas de la evolución, menos se determina su conducta por los instinctos programados filogenéticamente. En todas las capas de la vida humana, desde la más elemental biológica de comer y dormir, hasta la más noble de la estética, aparece la religión como elemento indispensable, como catalizador de integración. Atinadamente escribe a este respecto Jorge de Oteiza5: . . .«el arte consiste, en toda época y en cualquier lugar, en un proceso integrador, religador, del hombre y su realidad, que parte siempre de 5 J. de Oteiza, Quousque tándem . . . ! 4' ed. Editorial Hordago, Zarauzt, 1983, n° 77 s. Cfr. Ana M' Guasch, Arte e ideología en el País Vasco (1940-1980). Un modelo de análisis sociológico de la práctica pictórica contemporánea. Ed. Akal, Madrid, 1985, pp. 210 ss. K.Brunner, sub voce «Religión», en Staatslexikon T. 6, Freiburg, 1961, columnas 820 ss.

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una nada que es nada y concluye en otra Nada que es Todo, un Absoluto, como respuesta límite y solución espiritual de la existencia. Todo el proceso del arte prehistórico europeo acaba en la Nada trascendente del espacio vacío del cromlech neolítico vasco . . . . . . Sin esta sensibilidad religiosa que trasciende directamente de lo estético a todo lo humano, ni las ciencias se integran en la vida (las ciencias, donde sus más grandes hipótesis y descubrimientos han sido producto de intuición de naturaleza estética), ni las religiosas, los diversos tipos de creencias y de fe, en el hombre, ni el propio religioso en su religión, ni el artista mismo en la realidad. Pues esta realidad de la vida, que es la del arte, es una realidad política, trascendente, religiosa». Acertadamente afirmó Charles Darwin que la pérdida del gusto por la dimensión religiosa y estética en la vida puede llevar a los investigadores a una pérdida de la felicidad y a un daño para el intelecto, y más probablemente para la moral, al debilitarse la parte emocional de la persona. El proceso descrito por Darwin acerca de sí mismo ha continuado6 desde su época a un ritmo rápido; la separación de la razón y de los sentimientos (y de la religión) es casi completa. Pero, llama la atención que no han sufrido este deterioro de la razón gran parte de los principales investigadores en la mayoría de las ciencias más revolucionarias y exigentes (por ejemplo, la física teórica) y que se han sentido profundamente preocupados por las cuestiones filosóficas y espirituales, primeras figuras como K.Einstein, N. Bohr, L.Szillard, W. Heisenberg y E. Schródinger. En resumen, aunque la religión no cabe en un concepto formal, pero sí podemos decir que es lo transcendente, lo que desde más allá de la lógica da sentido a todo, incluso a la muerte y al crimen, desvela que en el alma del hombre hay más mundos que en el Universo galaxias y que de su mirada, hoy, ignoramos continentes enteros. Estamos todavía en la mera entrada de la famosa cueva, en la prehistoria de la integración metapersonal, más allá del dolor7. Lo mismo que arte no es representar una cosa bella, sino representar bellamente una cosa, así también, religión no es cumplir los mandamientos para disfrutar de Dios y estar con Dios en el cielo, sino disfrutar de Dios, estar con Dios en la tierra y en el cielo para cumplir los mandamientos (o, en cierto sentido no cumplirlos, pues Dios tiene por oficio el Erich Fromm, ¿Tener o ser?, p. 145. Agustín Andreu, La noche y el día, en El Ciervo, Barcelona, julio-agosto 1985, p. 6. Dietrich Rüschemeyer, en Staatslexikon, T. 6, Freiburg, 1961, columnas 824 ss. Annie Wellens, Joseph Thomas, Claude Viard, Pierre Vallin, en Christus, n° 111, Paris, 1981, pp. 340 ss. 6

7

La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias

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perdonar siempre) 8 . Así, la espiritualidad es un derecho fundamental de todos, tanto de los que vivimos en libertad como de los que yacen en las cárceles.

II. La libertad religiosa como derecho (y valor) fundamental de todas las personas. Paradójica situación actual El derecho de todo ciudadano a la libertad religiosa figura entre los derechos fundamentales reconocidos legalmente en el ámbito internacional y nacional (español); pero, no suficientemente conocido, ni reconocido, ni respetado en la práctica; ni suficientemente desarrollado en «cantidad y calidad». Debe, pues, ser formulado, comentado y practicado más de acuerdo con las exigencias dinámicas de nuestros valores culturales de la postmodernidad. Como todos los derechos elementales de la persona, el derecho a la libertad de conciencia no brota de las declaraciones legales sino que las precede. Brota de la dignidad ínsita en toda persona y de la realidad social; no surge de las leyes, ni de los detentadores del poder. Surge como imprescindible institución para cumplir la función social integradoral. Autorizadas investigaciones sociológico-jurídicas evidencian que la religión prima actualmente, no menos que en otras épocas históricas, entre los valores más apreciados en Europa y fuera de Europa 10 . En esta línea se manifiestan, entre otros, tanto el libro »Les valeurs du temps présent: l'Europe au Carrefour«, de Jean Stoetzel, catedrático de Psicología Social de la Sorbona (y de J . L i n z junto con otros especialistas internacionales), como la investigación, fundamentada en encuestas a veinte mil personas, presentada y comentada en la Conferencia de la Asociación Americana de Investigación de la Opinión Pública, celebrada en Wisconsin, el año 1984. Según el estudio norteamericano, la inmensa mayoría de las personas dan notable importancia a Dios en la vida; concretamente, el grado de esta vivencia oscila en los diversos países entre 4 y 8 en la escala de 1 a 10.

8 Hilde Kaufmann, „Schuld" und „Sünde". Eine Anfrage an die Theologie, en Theologische Quartalschrift, München, 1980, pp. 177ss. 9 Dietrich Riischemeyer, en Staatslexikon, T. 6, Freiburg, 1961, columnas 824 y ss. 10 En sentido parecido (no idéntico), también podían citarse algunas investigaciones criminológico-teológicas como la antes indicada de Hilde Kaufmann, „Schuld" und „Sünde". Eine Anfrage an die Theologie, en la revista Theologische Quartalschrift (1980).

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Tab. 1 : Importancia de Dios en la vida Países europeos de la C E E

Escala de 1 a 10

Bélgica Dinamarca España Francia Reino Unido Holanda Irlanda Italia R. F. de Alemania

5,9 4,5 6,4 4,7 5,7 5,3 8,0 7,0 5,7

Otros países EE UU Canadá Finlandia Suecia Noruega

8,2 7,4 6,2 4,0 5,3

Merecen conocerse también algunas páginas, al menos las básicas para nuestro tema, del libro de Stoetzel". Por ejemplo, el gráfico sobre la práctica religiosa en los países Europeos que varía según se indica en la figura siguiente (p. 311). Tab.2: Proporción, en tanto por ciento, de diversas actitudes entre los católicos, protestantes y los sin religión

Dedican algunos momentos a rezar, meditar Importancia de Dios (índices) Encuentran en la religión fuerza y apoyo Encuentran en la religión una respuesta . . . A los problemas morales A los problemas familiares A las necesidades espirituales No existe más que una religión verdadera Confían en la Iglesia La religión se hará más importante Posición en la escala política (índice)

Católicos 68 669 61 45 41 51 33 64 20 529

Protestantes 51 553 42 30 31 43 18 46 18 572

Sin religión 26 239 7 10 8 14 4 10 9 412

Los índices varían de 100 a 1000 11 Jean Stoetzel, ¿Qué pensamos los Europeos?. Encuesta sobre los valores morales, sociales, políticos, educativos y religiosos, en: Alemania Federal, Bélgica, Dinamarca, España, Francia, Gran Bretaña, Holanda, Irlanda e Italia. Prólogo de Juan J . Linz. [Colaboran Elizabeth Noelle-Neumann, del Institut für Demoskopie, Allensbach, República Federal Alemana; Juan J.Linz, de Data, Madrid; Helene Riffault, de Faits et Opinions, París; y Gordon Heald, de Social Surveys, Gallup, Londres]. Madrid, Mapfre, 1982.

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L a libertad religiosa en los instituciones penitenciarias

IR 977

E. 516 IT. 4 64

H 349

B 361

R.FA. 304

F

GB 202

157 0 85

(Este gráfico, si se compara con los datos del informe norte americano, vemos que coincide casi en su totalidad).

Tab. 3: Carácter político o religioso dominante en los grupos paradójicos (Extremistas de izquierda religiosos, extremistas de derecha irreligiosos)

Extremistas políticos de izquierda

Asiduidad religiosa Creen en un Dios personal Rezan o meditan

Extremistas Término de izquierda medio religiosos

o)

Extremistas en cuanto a la importancia de Dios (2)

Extremistas políticos 0 ) + (2) Carácter de 2 Datos dominante derecha (3) (4) (5) m

122

570

346

388

18 41

54 86

36 64

57 81

R RR R

Término Extremistas medio en cuanto a (l) + (2) la importancia de Dios 2

Extremistas de derecha irreligiosos

(7)

(8)

Carácter Datos dominante (10)

501

66

284

26

RR

50 70

10 25

30 48

9 30

RR R

«

578

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Aun personas que se consideran sin religión adoptan algunas actitudes religiosas como la meditación, los rezos, el encuentro en la religión de respuestas a los problemas morales, familiares, y a las necesidades espirituales, la confianza en la institución eclesial, la esperanza de que a la religión se dará con el tiempo más importancia, la dedicación de algunos momentos a prácticas cultuales, como aparece en la página 134 del citado libro. También los grupos paradójicos ofrecen algunos datos dignos de consideración respecto a las creencias, la oración y la asiduidad religiosa (p. 126). Las actitudes y comportamientos religiosos, entendiendo por tales la práctica cultual, la creencia en Dios, la importancia que se reconoce a la Divinidad, el sentimiento de fuerza y amparo en la vida espiritual, la frecuencia o no frecuencia de rezos o meditaciones, varían según los países (p. 123). La importancia de Dios va en proporción con la colaboración gratuita, como indica el gráfico siguiente, que refleja el tanto por ciento de los entregados a actividades gratuitas según la importancia que atribuyen a Dios (p. 217). De modo similar, el sentimiento de la importancia de Dios aparece también unido proporcionalmente a la búsqueda del sentido de la vida, como lo muestra este último gráfico (p. 112). Tab. 4: Indices de algunas actitudes y comportamientos religiosos por profesiones, basados en medias en el conjunto europeo Direct, y profesio. liberales

Trabajad. TraTramanuales bajad. bajad. no cualif. no Parados manuales cualif. manual.

Actitudes y comportamientos

Agricul.

Asiduidad religiosa Se declaran religiosos Creen en Dios Importancia de Dios Encuentran fuerza y amparo en la religión Rezan o meditan

113 103 117 111

97 98 97 99

75 94 96 95

77 89 93 83

57 78 87 84

55 76 79 79

122 102

98 109

84 81

82 97

63 74

59 69

Media Coeficiente de variación (X 100)

111

100

88

87

79

70

6.4

4.2

9.1

7.9

13.7

13.7

La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias

579

Con claridad e insistencia importantes normas legales reconocen y exigen el respecto a (y desarrollo de) la libertad religiosa. Recordemos, como paradigma, el artículo 18 del Pacto Internacional de Derecho Civiles y Políticos que dice12: «1. Toda persona tiene derecho a la libertad de pensamiento, de conciencia y de religión; este derecho incluye la libertad de tener o de adoptar la religión o las creencias de su elección, así como la libertad de manifestar su religión o sus creencias, individual o colectivamente, tanto en público como en privado, mediante el culto, la celebración de los ritos, las prácticas y la enseñanza, 2. Nadie será objeto de medidas coercitivas que puedan menoscabar su libertad de tener o de adoptar la religión o las creencias de su elección. 12 Pacto Internacional de Derechos Civiles y Políticos. Adoptado por la Asamblea General el 16 de diciembre d e l 966, y que entró en vigor en España conjuntamente con el Protocolo el día 23 de M a r z o de 1976. Cfr. B. O . E . del 30 de Abril 1977.

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3. La libertad de manifestar la propia religion o las propias creencias estará sujeta únicamente a las limitaciones prescritas por la ley que sean necesarias para proteger la seguridad, el orden, la salud o la moral públicas, o los derechos y libertades fundamentales de los demás. 4. Los Estados Partes en el presente Pacto se comprometen a respetar la libertad de los padres y, en su caso, de los tutores legales, para garantizar que los hijos reciban la educación religiosa y moral que esté de acuerdo con sus propias convicciones». A pesar de las repetidas declaraciones en todos los cuerpos legales en pro de la libertad religiosa, todavía hoy en muchos países los poderes políticos, económicos y religiosos13 violan frecuente y gravemente este 13 Con más frecuencia de lo debido, algunas autoridades religiosas anteponen a los derechos fundamentales del otro, su subjetiva idea de caridad en beneficio del otro (contra la justa voluntad de éste). Cfr. Antoine Garapon, L'âne portant des reliques. Essai sur le rituel judiciaire, Le Centurion, Paris, 1985, pp. 197 ss.

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derecho elemental, según lo constatan datos y documentos fehacientes de personas particulares y de instituciones dignas de crédito (véase Amnistía Internacional, en sus informes anuales y en otros informes monográficos sobre este problema, por ejemplo: el informe titulado Encarcelamiento político en la República Popular China, Barcelona, 1979)14. El artículo editorial de la revista América (de Estados Unidos) del 14 mayo 1983, informa entre otros datos que: El 22 de marzo de 1983 en Shanghai, dos jesuítas, Vicente Zhu Hongsheng (67 años) y José Chen Yung-tang (75), han sido condenados respectivamente a 15 y 11 años de prisión, por supuestas «actividades contrarevolucionarias», es decir, por vivir como sacerdote de la Iglesia católica (Romana). Días después otros dos jesuítas, Esteban Chen Cai-jun (66 años) y Estanislao Shen Bai-shun (80 años), serían también condenados a dos años y medio y a 10 años de cárcel. Según otras informaciones15, el P. Francisco Javier Chu murió el 28 de diciembre de 1983 en un campo de trabajo poco distante de Shanghai. Los últimos 23 años había estado en la cárcel, 7 de los cuales en un campo de «reforma». La causa de estas condenas y sanciones es el «delito» contrarevolucionario de pertenecer a la Compañía de Jesús, en otras palabras, su profesión religiosa. En diciembre de 1983 aparecieron en la prensa noticias de que durante ese año 90 dirigentes religiosos habían sido detenidos en China; pero, no se brindaron detalles sobre las personas en cuestión. No obstante se informó posteriormente sobre datos concretos de algunos de ellos, que fueron procesados, acusándoles de «mantener vínculos con el Vaticano» (Amnistía Internacional, Informe 1984, p.214). III. El derecho a la libertad religiosa de las personas en las instituciones penitenciarias. Realidad sociológica y legislación Si la legalidad internacional y nacional de los países pertenecientes a nuestro ámbito cultural reconocen el derecho a la libertad religiosa a todos los ciudadanos, lógicamente han de reconocer este derecho también a las personas obligadas a permanecer internadas en instituciones penitenciarias. En este campo se están dando importantes pasos hacia adelante en la teoría, en la legislación y en la práctica, aunque todavía queda mucho por avanzar y conquistar. 14 Amnistia Internacional, Informe 1984, Madrid, 1984, pp. 211 ss. y pp. 326 ss. Amnistía Internacional considera que la única razón de encarcelamiento, de muchas de estas personas, sons sus creencias religiosas consideradas heréticas por las autoridades iraníes. Cfr. Der Spiegel, 1 0 . 1 . 1 9 8 3 , p p . 9 3 0 s s . 15 Revista Jesuítas, Anuario de la Compañía de Jesús, Roma, 1985, p. 117.

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Como escribe Elias Neumanu, «en pleno luminoso auge de los derechos humanos habría que destacar que los presos conservan derechos que hay que garantizar, especialmente el derecho a intensificar sin trabas sus sentimientos espirituales». Las normas legales intentan corregir la lamentable realidad social, pero encuentran dificultades que surgen dentro y fuera de la cárcel. Los estudios modernos de los teólogos y de los juristas (en sentido amplio, incluyente también de los criminólogos, de los sociólogos, etc.) coinciden en prestar atención especial a tres posibilidades-facilidades para la vida religiosa: 1° en la cárcel, 2° desde la cárcel hacia afuera, y 3 o desde fuera hacia la cárcel. En y desde la cárcel la vida religiosa puede desarrollar una fuerza inmensa17, puede significar un «espacio vacío» pero prepotente, que parte de los mass media y parte de la sociedad posmoderna desean negar y anegar. El poder totalizador de ciertos Estados modernos no ve bien esos «espacios libres» alejados de su control. Control que desean extender hasta los cuerpos, hasta las almas, principalmente en la cárcel arreligiosa. No basta reconocer a los internos su derecho a vivir su espiritualidad en la cárcel; es necesario reconocer también su derecho a vivir su espiritualidad en conviviencia con los de fuera de los muros carcelarios. Esta convivencia crece en doble dirección - centrífuga y centrípeta pues, parece indudable que los internos pueden y deben enriquecerse ellos y enriquecer a los demás, con las visitas «de los de fuera». N o menos enriquecedoras, para ambas partes, resultan las salidas de los internos a las comunidades religiosas de fuera. Todos los Congresos de las Naciones Unidas sobre prevención del delito y tratamiento del delincuente han destinado una sección especial al estudio exclusivo de las Reglas Mínimas para el tratamiento de los reclusos. Dos de las cuales dicen así: «Religión. 41.1. Si el establecimiento contiene un número suficiente de reclusos que pertenezcan a una misma religión, se nombrará o admitirá un representante autorizado de ese culto. Cuando el número de reclusos lo justifique, y las circunstancias lo permitan, dicho representante deberá prestar servicio con carácter continuo. 41.2. El representante autorizado nombrado o admitido conforme al párrafo 1. deberá ser autorizado para organizar periódicamente servicios religiosos y efectuar, cada vez que corresponda, visitas pastorales particulares a los reclusos de su religión. 16 Elias Neuman, Crónica de Muertes Silenciadas. Villa Devoto, 14 de marzo de 1978, Buenos Aires, marzo 1985. 17 Aumónerie genérale catholique des prisons, Prison, Ma Paroisse, Fayard, París, 1984. Cardenal S.Wyszynski, Diario de la Cárcel, Trad. de José Luis Legaza, B A C Popular, Madrid, 1984. Hilde Kaufmann, Ejecución penal y terapia social, tradución del alemán por Juan Bustos, Ed. Depalma, Buenos Aires, 1979, pp. 113 ss., 339 ss.

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41.3. N u n c a se negará a un recluso el derecho de comunicarse con el representante autorizado de una religión. Y , a la inversa, cuando un recluso se oponga a ser visitado por el representante de una religión, se deberá respetar en absoluto su actitud. 42. Dentro de lo posible, se autorizará a todo recluso a cumplir los preceptos de su religión, permitiéndole participar en los servicios organizados en el establecimiento y tener en su poder libros piadosos y de instrucción religiosa de su confesión».

Para el Séptimo Congreso de las Naciones Unidas sobre prevención del delito y tratamiento del delincuente (Milán, 26 de agosto - 6 de setiembre de 1985) el Secretario General de las Naciones Unidas ha preparado un Informe sobre la aplicación de las Reglas Mínimas. Tiene en cuenta las investigaciones anteriores sobre el tema y la Consulta hecha a todos los Gobiernos, a la cual contestaron 58 países (también España), De los 58 países que respondieron cinco países no utilizaron el cuestionario que se les envió previamente. De los 53 países que lo utilizaron, 46 países dicen que aplican las Reglas 41 y 42 sobre la religión, 4 países dicen que las aplican parcialmente, un país contesta que las reconoce en principio, y dos países contestan que no las aplican. En general, en las contestaciones se admite la necesidad de respetar las creencias y prácticas religiosas, incluso el conceder dietas alimenticias especiales por motivos (preceptos) religiosos. Un país (el Informe no dice su nombre) hace una referencia especial a estas Reglas 41 y 42, subrayando que la expresión religiosa es libre y, por lo tanto, una cuestión privada. La religión se considera un tema de la Iglesia separada del Estado. Por consiguiente, a pesar de lo dispuesto en la Regla 41(1), este país no se siente obligado a organizar servicios religiosos en la prisión. El Consejo de Europa, en la Resolución (73) 5, adoptada por el Comité de Ministros, el 19 de enero de 1973, recomendó a los Gobiernos de los Estados miembros de dicho Consejo que su legislación y práctica (nacional) penitenciaria se inspire en las Reglas Mínimas para el tratamiento a los reclusos que se formulan en el Anexo a dicha Resolución, y que siguen casi al pie de la letra, salvo algunas modificaciones, la orientación marcada en las Reglas de las Naciones Unidas (Véase A. Beristain, Crisis del Derecho represivo (Orientaciones de organismos nacionales e internacionales), Madrid, Edicusa, 1977, pp. 179 ss.). En las dos Reglas que se refieren a nuestro tema, sólo se cambian algunas palabras sin importancia mayor. Ahora en el texto europeo el título dice «Asistencia religiosa y moral», y la Regla 41 (correspondiente a la 42 de las Naciones Unidas) establece que «Cada recluso deberá estar autorizado, dentro de lo posible, a cumplir las exigencias de su vida religiosa, espiritual y moral, permitiéndole participar en los servicios o reuniones organizados en el establecimiento, y tener en su poder los libros necesarios». En España la libertad religiosa de las personas en instituciones penitenciarias aparece reconocida en el artículo 54 de la Ley Orgánica 1/

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1979, de 26 de septiembre, General Penitenciaria ( B O E . n°239, de 5 de octubre), según el cual «La Administración garantizará la libertad religiosa de los internos y facilitará los medios para que dicha libertad pueda ejercitarse». Este breve artículo se desarrolla en los artículos 180,181,292 y 293 del Reglamento Penitenciario de fecha 9 de mayo de 1981 (BOE. nos 149-151, de 23-25 de junio). Parecidas normas establecen Bélgica, Francia, Italia, Portugal, Reino Unido de Gran Bretaña, República Federal de Alemania, Suecia, etc. Tanto dentro de las cárceles como fuera de ellas, la vida religiosa va avanzando en el sentido concreto que ahora estudiamos, aunque todavía se necesitan cambiar muchas ideas y muchos sentimientos y muchas instituciones. Actualmente en España los capellanes penitenciarios18 se reúnen con relativa frecuencia y trabajan en colaboración con sacerdotes y laicos de fuera de la cárcel; ejercitan su ministerio en un sentido menos exclusivamente «interno» que antes; se preocupan por colaborar a la crítica seria (pero constructiva) de las instituciones penitenciarias en general, etc. Las conclusiones formuladas en la última reunión de los capellanes españoles (enero de 1985, en Madrid) patentizan esta orientación progresiva, en la línea del Concilio Vaticano II. Por ejemplo, cuando afirman: «La Iglesia en libertad no puede desentenderse de la Iglesia en prisión. El preso salió un día de la comunidad, pero un día tendrá que reintegrarse de nuevo en ella. La comunidad no debe olvidarse de él, debe acompañarlo y acogerlo luego con generosidad y con amor. Dentro del campo de la «Pastoral General de la Diócesis», la Pastoral Penitenciaria debe ser parcela preferida, a la que el Obispo debe atender como a la parte más necesitada de su servicio pastoral. Que el Sr. Obispo haga la «Visita Pastoral» a la prisión y que, en fechas señaladas (Navidad, Fiesta de Nuestra Señora de la Merced, etc.), vaya a visitar a los reclusos, manifestando así su celo pastoral por esta comunidad eclesial, que vive entre rejas y que es como un sacramento vivo de la presencia de Jesucristo en el mundo. En todas las Diósesis se debería crear un Secretariado de Pastoral Penitenciaria, con conexión con Cáritas Diocesana y que tendría como misión la programación de la Pastoral Penitenciaria en sus diversos aspectos (atención al recluso y a sus familiares, asistencia postcarcelaria, concienciación de la sociedad y de las comunidades cristianas) y la formación de los agentes de la Pastoral Penitenciaria integradores del Consejo Pastoral Penitenciario. 18 Afortunadamente ni los capellanes, ni sus colaboradores laicos en la España de hoy se parecen en nada a aquellos de la postguerra civil, de los años 1 9 3 6 - 1 9 3 9 y siguientes.

La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias

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La Iglesia local es el marco más apropiado para las actividades de la Iglesia concernientes a la reducción y prevención de la criminalidad. Debe unirse a otros grupos locales para estudiar los problemas de la delincuencia y luchar contra ella y alentar a abogados, psicólogos, psiquiatras, sociólogos y otros especialistas católicos para que ofrezcan sus servicios a los delincuentes y a sus familiares. La Parroquia debe acompañar en todos sus pasos a los feligreses que sufran pérdida de libertad». En realidad, actualmente los laicos de las diversas iglesias entran más que antes en las prisiones españolas para convivir la religión en comunidad con los internos. Y, aunque todavía poco, también algunos laicos individualmente y en grupo acogen a los internos y ex-internos en las parroquias y en instituciones clericales extracarcelarias, en actos culturales, cultuales, litúrgicos y en acciones de fe y justicia. Las Memorias anuales de la Dirección General de Instituciones Penitenciarias españolas reflejan sólo una parte de lo religioso-espiritualsocial que se hace-vive dentro de los muros carcelarios (y fuera de ellos). C o m o indica la Memoria de Instituciones Penitenciarias publicada en Madrid, el año 1965", la labor principal de los capellanes (y de los seglares) es callada y oculta; por lo tanto, difícil de reflejar en estadísticas. Muchas entrevistas y conversaciones serían computables en números; pero, no en importancia. A veces, una charla con el capellán y/o con el seglar que visita frecuentemente la cárcel en nombre de la Iglesia puede abrir la puerta a la recuperación y / o a la intensificación de la vida espiritual del recluso. Más fácilmente pueden darse cifras acerca de los sacramentos y otras formas de vida religiosa dentro de las instituciones penitenciarias; pero, esos datos sólo reflejan la parte externa, la menos importante de la vida que, por antonomasia, podemos llamar interna. Durante el año 1964 hubo un total de 34 niños y 11 adultos bautizados en las cárceles del Estado. Durante el mismo período de tiempo se celebraron 45 matrimonios como Sacramento litúrgico, y 143 primeras comuniones. H u b o 29 visitas pastorales o de prelados: en la prisión central Sanatorio Antituberculoso de Guadalajara, en las prisiones provinciales de Albacete, Badajoz, Burgos, Cádiz, Córdoba, Granada, Huelva, Huesca, León, Lérida, Lugo, Murcia, Orense, Palma de Mallorca, San Sebastián, Sevilla, Tarragona, Teruel y Valencia (hombres), así como en la prisión de Partido del Ferrol del Caudillo, de Vigo y de Orihuela. Dentro del Nacional-Catolicismo imperante en aquellos años, la Memoria da cuenta de que ha habido en las Instituciones penitenciarias

" Dirección General de Prisiones, Memoria, Madrid, 1965, pp. 61 ss.

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nueve conversiones, e informa a continuación acerca del porcentaje de los internos que han cumplido con pascua. Es el siguiente20: C U M P L I M I E N T O PASCUAL Prisiones Centrales:

% P. reclusa

Sanatorio Antituberculoso Penitenciario de Guadalajara Centro de Maternología y Puericultura de Madrid Sanatorio Psiquiátrico Penitenciario de Madrid Hospital Penitenciario de Madrid Reformatorio de Adultos de Ocaña Central de Mujeres de Segovia Instituto Geriátrico Penitenciario de Málaga . Talleres Penitenciarios de Alcalá de Henares . Central de Mujeres de Alcalá de Henares . . . Central de Burgos Central de Gijón Central de Puerto de Santa Maria Central de San Miguel de los Reyes (Valencia) Prisiones Provinciales: Provincial de Albacete Idem de Almería Idem de Badajoz Idem de Barcelona (Hombres) Idem de Barcelona (Mujeres) Idem de Bilbao Idem de Burgos Idem de Cáceres Idem de Castellón Idem de Ciudad Real Idem de Córdoba Idem de Cuenca Provincial de Gerona Idem de Granada Idem de Guadalajara Idem de Huelva Idem de Huesca Idem de Jaén Idem de La Coruña Idem de Las Palmas de Gran Canaria Idem de León Idem de Lérida

20

40,1 95 92 40 18 77 74 38 90 25 27 11 26

100 88 100 22 48 65 80 69 30 82 53 100 25 85 60 80 50 98 51 90 76 70

Idem de Logroño Idem de Lugo Idem de Madrid (Hombres) Idem de Madrid (Mujeres) Idem de Málaga Idem de Murcia Idem de Orense Idem de Oviedo Idem de Palencia Idem de Palma de Mallorca Idem de Pamplona Idem de Pontevedra Idem de Salamanca Idem de San Sebastián Idem de Santander Idem de Segovia Idem de Sevilla Idem de Soria Idem de Tarragona Idem de Tenerife Idem de Teruel Idem de Toledo Idem de Valencia (Hombres) Idem de Valencia (Mujeres) Idem de Valladolid Idem de Vitoria Idem de Zamora Idem de Zaragoza (Hombres) Idem de Zaragoza (Mujeres) Prisiones de Partido y Colonias: Alcázar de San Juan Prisión de Partido de Algeciras Preventiva de Cartagena Idem de Ceuta Idem de El Ferrol del Caudillo Idem de Jerez de la Frontera Idem de Melilla Colonia Agrícola Penitenciaria de Nanclares de la Oca Idem Agrícola de Tefía (Fuerteventura) . . . . Idem Penitenenciaria de El Dueso (Santoña) . Prisión de Partido de Santiago de Compostela Idem de Santa Cruz de la Palma Idem de Vigo

Dirección General de Prisiones, Memoria, Madrid, 1965, p.63.

85 60 18 50 86 62 100 33 93,93 60 89 62 97 45 80 50 50 93 10 50 75 100 40 75 54 72 96 65 100

10 76 80 100 100 100 100 45 70.58 20 100 90 50

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U n cambio radical empieza a experimentar la asistencia religiosa y la figura del capellán en la cárcel a lo largo del año 1978, como aparece en el Informe General 1979, de Carlos García. Valdés (con la colaboración de Joaquín Rodríguez Suárez y Ricardo Zapatero Sagrado). Este informe 21 acierta al constatar que «Es un hecho claro que el Capellán, en estos últimos tiempos, ha visto muy mermada su catergoría y prestigio. Su presencia en el establecimiento penitenciario resulta a veces atractiva, a veces repulsiva, y con frecuencia, indiferente, cuando no contestada. La figura del Capellán ha sufrido un proceso de desmitificación, que, en último análisis, le ha resultado muy beneficioso . . . El Capellán no debe amparerse en las estructuras oficiales para imponer su doctrina, porque, además, la religión no es ni siquiera una doctrina o una ideología, es, más bien, una vida, algo que ha de encarnar en la propia persona y hacer normativa de conducta.» Pocos años después, concretamente el Informe General respecto a los 12 meses de 1982, que apareció publicado el año 1984, ofrece los porcentajes respecto a los internos católicos, no católicos y que no profesan religión alguna en los establecimientos penitenciarios 22 . También se informa que se han celebrado 8 bautismos y 21 matrimonios por el rito eclesial. El bautismo que se celebró en el Dueso, fué por el rito de la Iglesia Adventista del 7° día. En el mismo Informe General 1982 (pp.68ss.) aparece una nueva orientación de la asistencia religiosa más abierta que en años anteriores, pues, se comenta que iglesias, confesiones y comunidades religiosas no católicas prestan asistencia también en diversos establecimientos, por ejemplo, en Cartagena, Córdoba, Puerto de Santa María, San Sebastián, Santa Cruz de Tenerife y Toledo por los miembros de la Asociación Testigos de Jehová; en los de Lugo, Puerto de Santa María, Santa C r u z de Tenerife y Santoña por las Iglesias Cristianas Adventistas del 7° día, de España; en el complejo femenino de Madrid, por la Comunidad Cristiana del Evangelio Eterno y por la Iglesia de Cristo en Madrid; en el establecimiento de Murcia p o r la Iglesia Evangélica Bautista de Murcia; en el de Málaga por la Comisión de Defensa Evangélica Española; en los 21 Carlos Garría Valdes, Informe General 1979, Dirección General de Instituciones Penitenciarias, Alcalá de Henares (Madrid), 1979, p. 175. 22 Dirección General de Instituciones Penitenciarías, Informe General 1982, Madrid, 1984, pp.223ss. En diciembre de 1985 aparece el Informe General, publicado por la Dirección General de Instituciones Penitenciarias, correspondiente a los años 1983-1984. Los datos relativos a la asistencia religiosa, pp.599ss., son prácticamente parecidos a los que se citan en el texto; en concreto, en el año 1983 se celebraron 16 Bautismos Católicos y uno por la Iglesia Evangélica, en 1984, 7 Bautismos Católicos, el año 1983, 17 matrimonios, y el año 1984, 19 matrimonios por el rito Católico.

Tab. 5: Internos católicos, no católicos y que no profesan religión alguna en los Establecimientos Penitenciarios Centros

Internos no católicos

%

Albacete Algeciras Alicante Alcalá, Cumplimiento Alcázar de San Juan Burgos Cáceres, I Cáceres, II Cartagena Castellón Ciudad Real Cuenca El Dueso Figueras Gijón Granada Huelva Huesca La Coruña León Logroño Madrid, Hombres Madrid, Psiquiátrico Melilla Nanclares de la Oca Ocaña, I Ocaña, II Orense Oviedo Palencia Palma de Mallorca Pamplona Pontevedra Salamanca San Sebastián Santa Cruz de la Palma Santander Segovia, Cumplimiento Segovia, Ebrios Sevilla Soria Tarragona Teruel Toledo Valencia, Hombres Valladolid Vigo Zaragoza

3,55 3,00 14,22

Internos que no profesan religión alguna

%

2,39 -

4,00

-

-

-

-

8,00 5,40 5,00 2,20 5,00 2,00 9,61 13,95 6,00 3,82 4,30 5,75 20,00 12,00 3,00 5,00 9,00 10,50 71,40 -

2,00 2,00 12,00 -

4,00 12,00 8,00 29,00 9,00 2,00 -

10,00 2,00

7,00 -

2,80 3,00 -

1,93 0,69 8,00 1,18 1,00 1,75 -

2,00 -

5,00 2,00 3,00 5,30 15,00 -

8,00 -

26,00 5,90 2,00 6,00 2,00 -

4,00 8,00

-

-

2,00

-

-

-

10,00 0,92 -

7,00 1,00 4,00 4,00

2,00 -

3,00 11,00 2,00 5,00

Internos católicos

%

94,07 97,00 81,78 100,00 100,00 85,00 94,60 95,00 95,00 92,00 98,00 88,46 85,36 86,00 95,00 94,70 92,50 80,00 86,00 97,00 90,00 89,00 86,50 23,30 85,00 98,00 98,00 80,00 100,00 70,00 82,10 90,00 65,00 89,00 98,00 100,00 86,00 90,00 100,00 98,00 100,00 88,00 99,08 100,00 90,00 88,00 94,00 91,00

La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias

589

de Algeciras, Jerez de la Frontera y Puerto de Santa María por la Federación de Iglesias Evangélicas Independientes de España; en el del Puerto de Santa María por la Iglesia de Cristo en Rota; y en el de Léon por la Iglesia Evangélica. El número de sacerdotes que forman el cuerpo de capellanes para atender a los internos católicos el año 1982 eran 39, como funcionarios de carrera, a los que se añadían 42 sacerdotes autorizados a ejercer la asistencia religiosa en los establecimientos penitenciarios23. Estos capellanes realizan además de los actos de culto, administración de sacramentos, catequesis, obras en el área social-asistencial penitenciaria, tratando de elevar el nivel cultural del interno especialmente, en el aspecto religioso. Su tarea tiene horizontes muy abiertos24. En la «Memoria-Circular de las actividades de esta Dirección General en 1983 y Proyectos de actuación en 1984» no hay referencias a la asistencia religiosa. Esta multicopiada (no impresa) Memoria circular, de 109 páginas, de la Dirección General de Instituciones Penitenciarias, está fechada en Madrid el 13 de febrero de 1984. En otros países, por ejemplo en México, frecuentemente grupos de cristianos se internan voluntariamente un par de días en la cárcel, para, con los presos, hacer cursillos de cristianidad u otras jornadas eclesiales (en el sentido amplio de la palabra) y no eclesiales. IV. La religión en favor de las libertades del preso Hasta hace pocos años, generalmente, la mayoría de los juristas y de los gobiernos entendían la religión como un instrumento al servicio del poder político para «dominar», para «convertir», a los privados de libertad. Baste leer algunos documentos oficiales de las autoridades estatales francesas del siglo pasado. En sentido parecido escribían no pocos penitenciaristas españoles. Todavía hoy, entienden equivocadamente el derecho a la libertad religiosa del interno quienes la consideran como instrumento para «domesticar», para «catequizar», etc. En países musulmanes, por ejemplo en Egipto y en Irán, la religión dentro de las instituciones penitenciarias sirve ciegamente al Estado y coopera eficientemente con él para coaccionar la libertad psicológica del preso25. 23 Cuando escribo estas páginas (Octubre 1985) hay en España 36 capellanes funcionarios y 48 capellanes designados directamente por el Obispo y aceptados por la Administración. Evaristo Martin Nieto, en Vida Nueva, n° 1502, 1985, pp. 23 ss. 24 François Haumesser, »L'aumônier de prison, porteur d'une courageuse espérance«, en Le Supplément. Revue d'éthique et de théologie morale, Intervenir en prison, N ° 151 (décembre 1984), pp. 49 y ss. 25 Amnistía Internacional, Informe 1984, Madrid, 1984, p p . 3 2 2 s s .

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Desde nuestro punto de vista, una de las principales metas de las religiones es precisamente insistir en la necesidad ineludible de que las instituciones penitenciarias deben pretender (y facilitar efectivamente) la personalización, la integración social, es decir, la liberación interna y externa del preso26. A pesar de las críticas que merecen los abusos pasados (y presentes) de la mal programada dimensión resocializadora de las instituciones penitenciarias, debemos caer en la cuenta de que la religión entendida a la luz del evangelio (por ejemplo) exige que la persona en la cárcel no quede reducida a un objeto de castigo, ni mucho menos. La religión coloca a la persona en el centro de todo el sistema, y de todos los sistemas, y concretamente la religión por medio de sus teólogos, de sus capellanes penitenciarios, y de su jerarquía, insiste en la necesidad de luchar en favor de los internos hasta lograr la justicia, e incluso por encima de la justicia (legal, internacional, formal). Hace ya más de 20 años, en 1961, Karl Rabner escribió ampliamente acerca de la necesidad radical para el bautizado de encontrar a Cristo el Señor en los presos: «Nosotros encontramos a Cristo en los presos, todavía más, debemos encontrarle allí, pues allí es donde realmente está, y donde más fácilmente le encontramos como Salvador y como Redentor»27. Los capellanes de las instituciones penitenciarias aunque a veces, sobre todo en la época del nacional-catolicismo, en diversos países y en diversas épocas han colaborado más con el poder que con los internos, sin embargo, siempre han levantado su voz y han luchado prácticamente en favor de los internos, especialmente destacan hoy los trabajos de los Capellanes en Norteamérica28, en Alemania29, Inglaterra30, Francia", Bélgica32, Suiza33 y, últimamente, también España34. Dietrich Rüschemeyer, en Staatslexikon, T. 6, Freiburg, 1961, columnas 824 ss. Karl Rahner, Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, 3" ed., Tyrolia, Innsbruck, 1961, p. 448: Wir finden Christus den Herrn in den Gefangenen; wir sollen ihn finden, er ist da wirklich so zu finden, daß wir ihm selbst für uns zu unserem Heil und unserer Seligkeit begegnen. 28 A. Beristain, «Liberación religiosa en y desde las cárceles» en Cuadernos de Política Criminal, N° 21 (1983) pp. 648 y ss. 29 Gudrun Diestel, Peter Rassow, Otto Schäfer, Ellen Stuhbe: Kirche für Gefangene Erfahrungen und Hoffnungen der Seelsorgepraxis im Strafvollzug, München, Chr. Kaiser, 1980. 30 Canon L. Lloyd Rees, "Setting the Scene", en The Chaplaincy Contribution to Penal Thought and Practice, Seminar in co-operation with the Council of Europe, London, 1981, pp. 2 y ss. 31 Aumônerie générale catholique des prisons, Prison, Ma Paroisse, Fayard, Paris, 1984. 32 François Villon, Prisons, en Pro Mundi Vita: Dossiers, revista trimestral, Bruselas, noviembre, 3/1984, pp.3ss. 26 27

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En el Congreso organizado por el Consejo de Europa y los capellanes en el Reino Unido, Agustine Harris insistió que el homo-pius debe calificar de inhumanas las cárceles que no pretendan la repersonalización con medios y límites legítimos y éticos, y que debe luchar para conseguirlo; él formuló en este sentido frases sumamente severas como cuando calificó de inmoral e injusta toda cárcel que no contenga un elemento real y eficaz de resocialización o, al menos, un deseo auténtico de lograr ese fin. Desgraciadamente el sistema penal de nuestras sociedades, afirmó, prescinde y desconoce la belleza, la poesía, el humor y la cordialidad (sensitiviti). Estos rasgos, estas dimensiones esenciales de lo humano están desterradas de nuestras cárceles35. Las conclusiones y observaciones de este Congreso celebrado en Londres, en 1980, coinciden, principalmente, en que todos los ciudadanos deben respetar al preso y esforzarse para permitirle que pueda disfrutar (también dentro de la cárcel) de todos sus derechos, y pide a los fieles que aprecien y amen a los presos como a Jesucristo. Este mensaje evangélico está muy lejos de haber fermentado toda la masa de la sociedad. Los capellanes de 15 Naciones Europeas y de Argentina reunidos en el Congreso Internacional celebrado en Madrid, en septiembre de este año 1985, han escrito atinadamente que los «Obispos no están informados de la realidad de las prisiones . . . tendríamos que hacer también una catequesis a los Obispos sobre estos problemas 36 . Los capellanes deben estar debidamente formados acerca de esos problemas jurídico-teológico-criminológicos, para no caer en posturas demagógicas superficiales, para no confundir el derecho con la caridad, ni confundir el cristianismo con el humanismo, para no tratar a los laicos con trasnochado paternalismo . . . Algunos críticos confunden el derecho del Juez a juzgar y sancionar un hecho delictivo, con el abuso del poder cuando pretende sancionar y castigar el mal ontològico.

33 «Caritas Suiza y la Ayuda a la población penal», en A. Beristain, «La reforma penal también desde la Universidad», en Reformas penales en el mundo de hoy, Edersa, Madrid, 1984, pp. 279 y ss. 54 E.Martín Nieto, «Congreso Internacional de Capellanes Generales de prisiones», Madrid 1985, en Vida Nueva, N° 1502 (9 noviem. 1985), pp. 2259 y ss. Véase también el libro La Cárcel, A. Beristain, «Liberación religiosa en las cloacas carcelarias», pp. 229 y ss. Idem, Cfr. «Asistencia religiosa. Comentario al art. 54 de la Ley Orgánica General Penitenciaria», en Varios, Comentarios a la legislación penal, Tomo VI, Edersa, Madrid, 1986, pp. 803-855. 35 Augustine Harris, The Penal System - A Theological Assessment, en The Chaplaincy Contribution to Penal Thought and Practice, Seminar in co-operation with the Council of Europe, Londres, 1981, pp. 6ss. 36 Evaristo Martín Nieto, en Vida Nueva, n° 1502, 1985, pp.23ss.

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Del mensaje final del Congreso Internacional de capellanes generales de prisiones, merece destacarse ahora una de las peticiones que dirigen a los responsables de la Iglesia, concretamente cuando piden que, las comunidades cristianas parroquiales sean conscientes de su responsabilidad con las comunidades cristianas que existen «intra muros», pues las dos son células del mismo cuerpo de Jesucristo, que es la Iglesia37. Esta responsabilidad de las Comunidades cristianas de fuera de la cárcel debe atender a las peculiaridades temporales y geográficas de los internos. En cada época, la libertad espiritual del preso ha de tomar en consideración algunos datos concretos. Por ejemplo, hoy en día entre las libertades especialmente en peligro dentro de las cárceles, en el último tercio del siglo X X (y que la religión ha de respetar y fomentar) recordemos la libertad del preso a no ser objeto de experimentos médicos cosificantes, la libertad del preso frente a ciertos desarrollos de la ciencia y de la tecnología. Merece leerse, a este respecto, el Informe presentado en el Consejo de Europa por la delegación de Francia sobre «La protección de la persona humana y de su integridad física e intelectual en el contexto de los progresos de la biología, de la medicina y de la bioquímica» (Estrasburgo, 1985). Como indicábamos antes, las Comunidades externas deben también tener en cuenta las peculiaridades de cada lugar. Actualmente en Euskadi la mujer (no menos que el hombre) puede y debe jugar un papel decisivo en la vida religiosa de y con las personas privadas de libertad pues nuestra tradición ha insistido en la importancia básica de la «señora de la casa», la Etxekoandre, y la «sacerdotisa», Andereserora, como ministros principales de la religión, de la casa, del culto doméstico. La casa es templo (cementerio) cuyo culto corre a cargo de los que en la casa viven. Todo esto ha contribuido a elevar el aprecio y consideración en que ha sido tenida la mujer, y proviene de la situación o condición (contraria al derecho germánico) en nuestros tiempos forales que conceden la elección del heredero según el orden de la naturaleza al primogénito, varón o hembra, y este primogénito sucedía a los padres en el gobierno de la casa (si bien, los padres podían alterar este orden)38. Si, con Oteizase puede afirmar que la nueva labor del artista es la puesta del arte al servicio de todo comportamiento para la vida y la E. Martín Nieto, en Vida Nueva, pp. 23 ss. " Marcel Nussy Saint-Saéns, Contribution a un essai sur la coutume de Soule, pág. 69 (Bayonne, 1942). Cfr. José Miguel de Barandiarán, Mitología Vasca, Ed. Txertoa, San Sebastián, 1983, p. 71. 3 ' Jorge de Oteiza, Quousque tándem . . . ! , 4' ed., Ed. Hordago, Zarautz, 1983, núms. 109 ss. Miguel Pelay Orozco, Oteiza. Su vida, su obra, su pensamiento, su palabra, La Gran Enciclopedia Vasca, Bilbao, 1978, pp. 79 y ss. 37

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ciudad, de modo semejante y quizás con más motivo, se puede y debe decir que la labor del homo pius es la puesta de la religión al servicio de todo comportamiento para la vida y la ciudad dentro y/o fuera de la cárcel (en cuanto liberadora del complejo edipiano egocéntrico-centrípeto). Si para Don José Miguel de Barandiarán los cromlechs vascos son recintos sagrados40, si el cromlech vacío es la anticipación del espacio religioso . . . para muchos la celda carcelaria puede ser (desgraciadamente?) como el cromlech vasco primitivo, un espacio de reflexión para la conciencia íntima. La jerarquía católica y protestante de diversos países, por desgracia no tanto la del Estado Español, se ha hecho eco de este problema en sus orientaciones escritas y en el dato de destinar a capellanes penitenciarios a personas de especial valía. N o podemos menos de recordar aquí la declaración de la Comisión Social del Episcopado Francés que escribió a las comunidades cristianas y a los prisioneros, el 7 de Abril de 1981, doliéndose del hacinamiento en las cárceles, protestando por la situación deshumanizante de la mayoría de los internos, especialmente de los jóvenes, protestando de que los que vivimos en libertad exageramos nuestro deseo de seguridad y llegamos incluso a justificar sanciones que destrozan al hombre y pidiendo que se imite en Francia (yo diría que también en España y en el País Vasco), lo que ciertos países Europeos ya están introduciendo, es decir, sanciones más orientadas hacia la reparación de los daños causados a las víctimas (demasiado olvidadas) más que hacia la sanción, más que hacia el castigo41. Por fin, en sentido todavía más fuerte se ha declarado en varios de sus escritos el Arzobispo de Milán, el jesuita Cardenal Carlo M' Martini. V. La «libertad» religiosa del interno ayuda a la espiritualidad del externo A pesar del reconocimiento legal de la libertad espiritual dentro de la cárcel, en verdad la religión entre los muros carcelarios sufre continuamente - como todo lo prisional — mermas importantes de libertad. Por eso, al titular este apartado entrecomillamos la palabra «libertad». Esta lamentable realidad no obsta para que el desenvolvimiento espiritual dentro de la cárcel alcance - paradójicamente - altas cotas en algunos 40 Ana M" Guasch, Arte e ideología en el País Vasco (1940-1980). U n modelo de análisis sociológico de la práctica pictórica contemporánea, Ed. Akal, Madrid, 1985, p.208. 41 »Comme en certains pays européens, des sanctions plus orientées vers la réparation des dommages causés aux victimes, par trop oubliées, que vers le châtiment«. Commission Sociale de l'Episcopat, »Communautés chrétiennes et prisonniers«, en La Documentation Catholique, N°37, Paris 1981.

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aspectos. Tantas que en determinados campos se llega a darnos lecciones a los que estamos fuera, y se llega a lograr frutos de mejor calidad42. En este marco, hoy que tanto se habla en favor de la moral social, de la moral pública43, podemos pedir: «Dejémonos moralizar por los presos». Esta frase, «Dejémonos moralizar por los presos», produce en la mayoría de las personas que la oyen una reacción de extrañeza y de rechazo. Sin embargo, en quienes la escuchan con atención y la ponen en práctica hace brotar una nueva cosmovisión del sistema penitenciario, del mundo prisional y del mundo libre. Hace brotar también una nueva cosmovisión del mensaje evangélico. Muchos al escuchar esta petición («dejémonos moralizar por los presos») se escandalizan o se sonríen negativamente. Los que no hemos estado presos, ni hemos frecuentado el trato con los privados de libertad, pensamos y sentimos como indiscutible algo que no es del todo cierto, que dista mucho de la realidad. Vemos a los presos como personas diferentes que nosotros, como personas sin corazón, sin amigos, como lobos entre lobos . . . Instintivamente rechazamos la idea de que frutos evangélicos puedan crecer dentro de los muros carcelarios. Allí se encuentran, pensamos, los residuos de la sociedad; allí está el sumidero de la criminalidad; allí lo opuesto al espíritu. Debemos, pues, alejarnos de esos antros de suciedad y corrupción. Otra impresión muy distinta brotará en nosotros si estudiamos objetiva y seriamente la realidad, si nos acercamos a los presos de hoy y/o si nos acercamos a los presos de ayer. Entonces palparemos, sentiremos como evidente algo muy distinto. Comprenderemos que debemos dejarnos moralizar por los presos. Todavía más, constataremos que ya antes de ahora, sin caer en la cuenta, nos estábamos dejando moralizar por los presos. Sobre todo, por algunos de ellos. Se trata, en el fondo, de otro planteamiento epistemológico del mundo prisional y del mundo espiritual. Conviene, pues, insinuar aquí algo acerca de ambos mundos desde una perspectiva epistemológica metarracional, personal, histórica, universal y omnijetiva44. El mundo prisional abunda en rasgos y caracteres fundamentalmente opuestos al mundo libre (recordemos la criminalidad no-convencional, la injusticia estructural, etc.). Ahora nos limitamos a considerar parte de 42 Card. S. Wyszynski, Diario de la cárcel, tradución de J. L. Legaza, BAC popular, Madrid, 1984. 43 José Luis L.Aranguren, Talante, juventud y moral, Madrid, Ed. Paulinas, 1975. Idem, Propuestas morales, Madrid, Tecnos, 1985, especialmente págs. 105 ss. Idem, Etica, 3a ed., Madrid, Alianza Ed., 1983, especialmente págs. 210 ss. Atinadamente escribió Ortega «No es posible vivir desmoralizado, sin moral«. 44 Michael Talbot, Mysticisme et Physique Nouvelle. Traducido del americano por A. Kielce, Le Mail, Mercure de France, 1984, pp.9ss.

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esos rasgos, esos ambientes carcelarios, apoyándonos en personas concretas que han estado presas. Una persona contemporánea nos sale al encuentro en nuestro caminar por este campo: Dietrich Bonhoeffer. Pasó el primer año y medio de su cautiverio en la sección militar de la cárcel de Berlin-Tegel, desde el 5 de abril de 1943 hasta el 8 de diciembre de 1944; después fué trasladado a otra cárcel y por fin fué ejecutado el 9 de abril de 1945. Entresacamos algunos párrafos de las cartas que Bonhoeffer pudo mandar a sus amigos desde la prisión45. Allí se le abren los ojos al valor y a la necesidad de aceptar y abrazar a todos: «El encuentro con Jesús significa ciertamente la inversión de todas las valoraciones humanas. Así ocurrió en la conversión de Pablo . . . Cierto es que Jesús atendió a seres que vivían al margen de la sociedad humana, a prostitutas y publicanos; pero, no únicamente a ellos puesto que vino para la entera humanidad. Jesús no puso nunca en duda la salud, la fuerza, la felicidad humanas, ni las consideró jamás como un fruto podrido. De lo contrario, ¿por qué habría curado a los enfermos y devuelto la fuerza a los débiles?» (p. 201). La experiencia carcelaria ayuda a Bonhoeffer para comprender «el elemento esencial de la revelación de Cristo según los evangelios y San Pablo» (p. 198), elemento esencial que lo encuentra en el «vivir hasta el fin su vida terrena» (p. 198), pues «La esperanza cristiana en la resurrección se diferencia de la esperanza mitológica por el hecho de que remite al hombre de un modo totalmente nuevo . . . a su vida en la tierra». El centro de gravedad para nuestro preso no se halla más allá de la muerte, en la resurrección, sino que se halla en la vida terrena. Pocas páginas después (p.209) insiste: «Dios nos hace saber que hemos de vivir como hombres que logran vivir sin Dios». Etsi Deus non daretur, incluso si Dios no existiera. Sobre esta base logra Bonhoeffer una «interpretación no religiosa de los conceptos bíblicos» (p.208), y hace entrar en juego la «interpretación mundana» (p.210) desde la pregunta clave «¿Quién soy?», a la que responde rebosante de esperanza más que blochniana «sea quien sea, tú me conoces, tuyo soy, ¡Oh Dios!» (P-211)Desde los primeros siglos de la Iglesia han influido en la cosmovisión cristiana las ideas y los sentimientos de personas encarceladas: Desde Jesucristo privado de libertad por Pilatos, pasando por las epístolas que escribe San Pablo en la cárcel, y los fundadores-modelos de las órdenes religiosas que estuvieron presos como Ignacio de Loyola, Juan de la Cruz, etc. 45 Dietrich Bonhoeffer, Resistencia y sumisión. Cartas y apuntes desde el cautiverio, 2' ed. Traductor M. Faber-Kaiser, Ariel, Barcelona, 1971. René Marle, Dietrich Bonhoeffer. Testigo de Jesucristo entre sus hermanos, Mensajero, Razón y Fe 1968, versión castellana de A. Morales, especialmente págs. 200 y ss.

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Nos moralizan desde la cárcel no sólo las palabras y los escritos de los presos, también sus hechos cotidianos y sus hechos no cotidianos. Aquí recordaré un dato reciente. Me refiero al ofrecimiento de Maximiliano Kolbe para morir en sustitución de su compañero de cautiverio, que ocurrió el día 14 de agosto de 1941, hacia las dos de la tarde, en Auschwitz 46 . Alguién puede objetar que todo lo anteriormente indicado se refiere a presos políticos, no a presos comunes. A tal objeción respondemos: I o . También los presos políticos son presos. Y su número total supera cifras que nos debían abochornar, como lo muestran los informes anuales de Amnesty Internacional, de otras asociaciones nacionales e internacionales, privadas, eclesiásticas, etc. 2 o . También los presos comunes brindan acciones y mensajes (orales y escritos) parecidos a los de sus colegas políticos, aunque quizá menos llamativos y menos «ilustrados» y, desde luego, menos difundidos. En este punto los capellanes y los ex-prisioneros pueden hablar más y mejor que yo carente de esta cercanía a los «hechos» y a los protagonistas. Quizás sus lecciones hablan un lenguaje tan elevado que no llegamos a captarlo. Con frecuencia se constata en los oprimidos y en los marginados una mayor sensibilidad a la nueva evangélica que pide respetar al distinto, amar al enemigo, reconocer sus derechos, pensar en el otro más que en sí mismo, también invitarles a levantar su cabeza y su dignidad47. Cuando se ha perdido todo (o se ha dado todo), cuando alguien se siente profundamente destrozado, arruinado, sólo queda una de estas dos salidas: o se repliega sobre sí mismo, se cierra a los demás, se agria, se desespera, se suicida . . . o, al contrario, se abre de par en par totalmente al perdón, al consuelo 48 , a la comprensión intuitiva y apasionada de toda la finitud y desolación de los otros y, así, se autorrealiza en el nivel más alto y noble de lo humano, de lo amoroso gratuito. Como escribió Welzel: las situaciones límite (muerte-delito-cárcel) despiertan energías insospechadas en la víctima. Quien aprecie el mensaje y el ejemplo de Jesús de Nazaret tiene que asombrarse continuamente si reflexiona sobre el programa que formula para el juicio definitivo, para el juicio sobre el amor. Según Jesús, ama de

46 Giulio Masiero, P. Maximiliano M" Kolbe, Misionero y «víctima de la caridad» en el sótano del hambre en Auschwitz, Segunda edición, 1975, Elizondo (Navarra), pp. 196 ss. 47 Jean-Yves Calvez, »Faut-il vraiment associer foi et justice?«, en Christus, N°127, julio 1985, pp. 281 ss. Michael Anquetil, »La prison comme communauté de vie«, en Le Supplément. Intervenir en prison, n° 151 (diciembre 1984) pp. 112ss. „Befreiung von dem Knüppel des Schuldbegriffes, . . . den Zuspruch." Hilde Kaufmann, „Schuld" und „Sünde", Eine Anfrage an die Theologie, en Theologische Quartalschrift, München, 1980, pp. 183 ss.

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verdad quien visita y acoge a los presos. La frase evangélica formula con una claridad rotunda la identificación de Jesús con los presos. Ante la extrañeza de los justos que le preguntan ¿Cuándo te vimos y te visitamos en la cárcel?, Jesús les responde: «cuando visitaste a un preso me visitaste a mí»49. Si la religión pretende la integración social que aboca en el encuentro con Dios 50 , uno de los mejores caminos de lograrlo (en la cosmovisión evangélica) es la cercanía - identificación agápica - con los presos. Amplia y seriamente argumenta Karl Rahney51 que donde mejor se encuentra a Cristo es en el preso (am besten) y lo explica especialmente en un párrafo (pp.455s.) en el que repite media docena de veces la palabra vacío (Leere) y casi otras tantas la palabra morir (Sterben) y nuestra nada (Nichts) . . . Reconoce esa negación radical como el mejor camino para encontrar a Cristo y dar el salto (del vacío) a la totalidad del encuentro (en comunidad, en «ecclesia») con Dios, todos en Dios. Zusammenfassung In seinem Aufsatz über die Religionsfreiheit als Grundrecht der Strafgefangenen stellt der Verfasser zunächst die zwei Dimensionen der Religion dar, die gleichermaßen Gefangene wie die in Freiheit Lebenden betreffen, nämlich die repressive auf der einen und die kritische, befreiende und integrierende auf der anderen Seite. Anschließend wird ein Uberblick über Einschätzung und Bedeutung der Religion in den Gesellschaften mehrerer Länder gegeben. Die von den Vereinten Nationen und dem Europarat geforderten Mindestregelungen für die Religionsausübung in Gefängnissen werden geschildert. Es folgt die Darstellung der gesetzlichen Ausgestaltung der Religionsausübung im spanischen Strafvollzug, wobei andere Länder rechtsvergleichend mitberücksichtigt werden. Schließlich wird auch die Praxis der Religionsausübung und der geistlichen Betreuung in den Haftanstalten untersucht. Der Autor fordert, daß die Religionsfreiheit zur Verteidigung und Durchsetzung aller Menschenrechte von Gefangenen dienen muß, die immer noch regelmäßig verletzt werden. Er gelangt zu dem Schluß, daß die Religionsfreiheit in den Gefängnissen - sofern dabei sowohl die transzendentalen Bezüge wie die Alltagsprobleme beachtet als auch die 4 ' Evangelio según Mateo, Cap. 25, versículos 37ss. «Entonces los justos le replicarán: Señor, ¿cuándo estuviste en la cárcel y fuimos a verte?, y el Rey les contestará: os lo aseguro, cada vez que lo hicisteis con un hermano mío de esos más humildes lo hicisteis conmigo«. 50 Dietrich Rüschemeyer, Staatslexikon, Tomo 6, Freiburg, 1961, columnas 825 ss. 51 Karl Rahner, Sendung und Gnade, Beiträge zur Pastoraltheologie, 3' ed. Tyrolia, Innsbruck, 1961, pp.455ss.

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Agape und Vergebung Gottes vermittelt werden - auch zur Reinigung und Kräftigung der geistigen Werte der in Freiheit lebenden Menschen beitragen kann und muß, indem sie ihnen hilft, Trost und Befreiung sowie Vergebung ihrer Schuld zu finden. (Vgl. H . K a u f m a n n , „Schuld" und „Sünde". Eine Anfrage an die Theologie, in: Theologische Quartalschrift 1980, 183 ff.).

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I. Nach Theorie und Praxis heutiger Verbrechenskontrolle wird dem Strafvollzug als Vollziehung freiheitsentziehender Kriminalsanktionen noch immer eine wichtige Aufgabe zugewiesen. Dies gilt für das In- und Ausland. Alle kritischen Einwände oder gar Forderungen nach Abschaffung haben an der Existenz des Strafvollzugs substantiell nichts zu ändern vermocht. Hat sich diese Institution auch behauptet, so ist sie doch unverändert problematisch. Dies kann gar nicht anders sein, wenn und soweit in ein so wichtiges Rechtsgut wie die Freiheit eingegriffen wird. Wieviel durch die Erneuerung des Strafvollzugs inzwischen erreicht sein mag, die bestehenden oder wieder aufgebrochenen Mängel verdeutlichen die fortdauernde Problemlage, das labile Gleichgewicht und die Notwendigkeit zur wissenschaftlichen Beobachtung. Dieser Forschungsaufgabe und damit der „Verwissenschaftlichung der Strafvollzugslehre, die stets in Gefahr ist, zur Vollzugskunde abzusinken, oder ideologisches Residuum zu werden", fühlte sich Hilde Kaufmann verpflichtet1; dazu hat sie vor allem mit dem dritten Band ihres kriminologischen Lehrwerks „Strafvollzug und Sozialtherapie" überzeugend beigetragen2. Die Erfahrung, daß „mißlingende Reformen... regelmäßig in Rückschritte umzuschlagen" pflegen3, veranlaßte die Autorin zur unnachsichtigen Kritik an realitätsfernen Auffassungen 4 und zu einem behutsamen schrittweisen Vorgehen. Sie wandte sich aber nicht weniger deutlich gegen die „unbekümmerte Verwendung des Strafbegriffs und herkömmlicher Strafpraxen, die weithin aus den Augen verloren hatten, daß Objekt des Strafens immer Menschen mit ihrer jeweiligen Lebens- und Problemgeschichte sind" 5 . In Grundfragen ebenso entschieden wie engagiert der Hilfe am straffälligen Menschen

Vgl. Hilde Kaufmann: Eine Antwort. MschrKrim. 61 (1978), 263-266 (265). Kriminologie III: Strafvollzug und Sozialtherapie. Stuttgart 1977. 5 Vgl. Fn. 1. 4 Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik? J Z 1972, 78-81. 5 Kaufmann, H. (Hrsg.): Jugend - Kriminalität und wir. Repression oder Vorbeugung durch Erziehung. Oeffingen 1974, Vorwort S.8. 1

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zugewandt, vernachlässigte sie weder die vergleichende Vergewisserung über die ausländische Praxis der Kriminalsanktionen noch Alternativen zur Freiheitsstrafe wie die Strafaussetzung zur Bewährung. Gerade ihr zwei Jahrzehnte zurückliegendes Plädoyer für die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung - wie die Gesetzgebungsgeschichte zeigt, eine kriminalpolitisch noch immer aktuelle Frage stützte sich auf den Blick ins Ausland, die sorgfältige Analyse des dort gewonnenen Erfahrungswissens und die vorsichtige Prüfung der Ubertragbarkeit ausländischer Problemlösungen auf das deutsche Sanktionenrecht6. Die komparative Analyse, sei es im historischen oder im internationalen Vergleich, ist darüber hinaus vorzüglich geeignet, die Ortsbestimmung des nationalen Strafvollzugs zu erleichtern und über Soll und Haben bei vergleichbaren kriminalpolitischen Vollzugsformen zu unterrichten. Die Vollzugsvergleichung ist wegen der unterschiedlichen Vorgaben des nationalen Strafrechts und der unverzichtbaren Einbeziehung der Vollzugswirklichkeit stets mit außerordentlichen Schwierigkeiten belastet7. Überdies kann der Freiheitsstrafvollzug nicht isoliert betrachtet werden. Er befindet sich vielmehr eingebettet in den übergreifenden Zusammenhang vergleichender Pönologie und Kriminalpolitik. Dies leuchtet ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß innerhalb der Gesamtsysteme zur Verbrechenskontrolle einzelne Subsysteme wie die Freiheitsstrafe teilweise austauschbar und durch funktionale Äquivalente ersetzbar sind8. Ob und inwieweit Austauschbarkeit bei einer als im wesentlichen gleichbleibend unterstellten Verbrechenslage möglich ist, kann vor allem der internationale Vergleich zeigen. Nur bei solch weitgesteckten komparativen Perspektiven lassen sich der Grad der Implementierung rechtlicher Programmvorgaben und die Beachtung der 6 Kaufmann, H.: Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt bleiben auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? In: Erinnerungsgabe für Max Grünhut. Stuttgart 1965, 61-91. 7 Dazu schon Müller-Dietz, H.: Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems. Heidelberg u.a. 1979, 248, 251 f; zum Handicap der Rechtsvergleichung..., das darin begründet ist, daß von den Anregungen am meisten die Länder profitieren (könnten), die international am weitesten hinten liegen, und daß Anregungen dort fehlen, wo ähnliche Regelungen „vorliegen"; Walter, M.: Stellung und Bedeutung der Freiheitsstrafe aus rechtsvergleichender Sicht. ZfStrVo. 34 (1985), 325 ff (327). 8 Vgl. dazu Dünkel, F., Spieß, G. (Hrsg.): Alternativen zur Freiheitsstrafe - Strafaussetzung zur Bewährung im internationalen Vergleich. Freiburg i. Br. 1983; Heinz, W.: Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der Bundesrepublik Deutschland. In: Festschrift für H.-H. Jescheck. Berlin 1985, 955 ff; Walter, M.: Ambulante Behandlung im Kriminalrecht. In: Festschrift für D.Oehler. Köln u.a. 1985, 693ff; Jescheck, H.-H.: Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender Darstellung. In: Jescheck (Hrsg.): Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht. Baden-Baden 1984, 1939-2163.

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fundamentalen Grundsätze wie Humanität, Gerechtigkeit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, aber auch Erfolge und Mißerfolge sowie die Bedeutung von unterschiedlichen Gefangenenraten abschätzen. Interesse und Bedürfnis zur vergleichenden Betrachtung der Strafvollzugssysteme reichen weit zurück. Entscheidender Beweggrund für die komparative Sicht war stets, nicht nur etwas über die Nachbarstaaten zu wissen, sondern auch von ihnen zu lernen, um die eigenen Verhältnisse distanzierter zu sehen und möglichst zu verbessern. Diese Antriebskraft wird nicht dadurch gelähmt oder auch nur geschwächt, daß die Skepsis gegenüber der Freiheitsstrafe in der Gegenwart erneut gewachsen und mit ihr die tragende Kriminalpolitik geradezu in eine Krise geraten ist'. Obgleich man heute im Inund Ausland wiederum daran zweifelt, ob durch Freiheitsentziehung Menschen überhaupt „gebessert", d.h. wirksam befähigt werden können, ein Leben in Freiheit ohne Straftaten zu führen, bleibt der Freiheitsstrafvollzug auf absehbare Zeit eine herausragende Tatsache, welche auch die vergleichende Erörterung rechtfertigt. Ferner verdeutlichen national übergreifende Belastungen wie das Rauschgiftproblem, die Überfüllung der Strafanstalten und der fast chronische Mangel an öffentlichen Finanzmitteln nicht nur das Fehlen einer deutschen Sondersituation, sondern machen zugleich die Frage danach dringlich zu erfahren, wie andere Vollzugssysteme derartige Belastungen bewältigen. Vergleichende Analyse von Strafvollzugssystemen kann in diesem Rahmen freilich keinen weltweiten Vergleich meinen. Nur die für die beabsichtigte Vergewisserung relevanten Systeme können in die komparative Betrachtung eingeschlossen werden. Als bedeutsam gelten in erster Linie die allgemein prägenden Systeme der Niederlande und Skandinaviens. Aber auch die benachbarten Vollzugssysteme Österreichs und der Schweiz verdienen wegen räumlicher Nähe und Verwandtschaft im Recht besondere Beachtung. Ferner können Orientierungen über einschlägige Problemlösungen in England, Frankreich, den USA und Japan nicht außer Betracht bleiben. Ist damit die relevante Bezugsgruppe der für den Vergleich in Frage kommenden Strafvollzugssysteme annähernd umrissen, so bedarf der Begründung, nach welchen Kriterien sich der Strafvollzugsvergleich richten soll10. Eine ergiebige Analyse muß sicherlich ebenso Aussagen über Ziele und Aufgaben des Strafvollzugs, über Rechtsstellung und Rechtsschutz des Strafgefangenen wie über Organisation, Arbeit, Fortbildung und Behandlung sowie über die Erfolgsabschätzung enthalten. Auf diese Weise kann der Vollzugsvergleich dazu befähigen, sachkundig und kritisch-distanziert die inländischen Reformergebnisse an ausländischen Lösungsversuchen zu messen. Schließlich kann der Strafvollzug künftig nur dann seine Aufgabe sinnvoll erfüllen, wenn er nicht erstarrt, sondern sich für Neuerungen des In- und Auslandes offenhält".

Belangvolle Vergleichskriterien liefern danach die rechtlichen Programmvorgaben und deren Einlösung, also Vollzugsrecht und Vollzugs' Jescheck, H.-H.: Die Krise der Kriminalpolitik. ZStW 91 (1979), 1037ff; dazu Schultz, H.: Krise der Kriminalpolitik? In: Festschrift für H.-H. Jescheck (Fn. 8), 791 ff (810), mit dem Hinweis, daß eine Krise der Kriminalpolitik erst eintrete, wenn sich die zweihundertjährige Tendenz umkehren würde. 10 Vgl. Müller-Dietz, H.: Probleme der Strafvollzugsvergleichung. In: Festschrift für Günter Blau. Berlin u. a. 1985, 515-535 (531 ff). 11 Blau, G. (Hrsg.): Die Reform des Strafvollzugs im Lichte internationaler Reformtendenzen. Bochum 1981, 3 f.

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Wirklichkeit. Da Strafvollzug weltweit, jedenfalls aber in Europa, rechtlich normiert und organisiert ist, liegt es nahe, zunächst dem Grad seiner Verrechtlichung sowie dem Rechtsschutz des Strafgefangenen besondere Aufmerksamkeit zu widmen12. II. Der Strafvollzug beruht international verbreitet auf einer gesetzlichen Grundlage. Obwohl in neuerer Zeit in vielen Staaten spezielle Vollzugsgesetze entstanden sind (z. B. in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Italien, den Niederlanden, Osterreich und Ungarn; in Spanien wurde sogar eine Regelung in die neue Verfassung aufgenommen), herrschen im ganzen noch Strafprozeß- und vollstreckungsrechtliche Lösungen (z. B. Frankreich und Skandinavien sowie in den sozialistischen Staaten) vor. Aber auch die Regelung der grundsätzlichen Fragen des Strafvollzugs im materiellen Strafrecht (z. B. in der Schweiz) ist nicht ungewöhnlich. Gegenüber dem überall sichtbaren Prozeß der Verrechtlichung des Strafvollzugs tritt die formale Zuordnung zu den einzelnen Rechtsgebieten zurück. Auf das einzelstaatliche Handeln im Strafvollzug hat sich vor allem die am 4 . 1 1 . 1 9 5 0 in R o m unterzeichnete europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgewirkt. Sie gilt nach entsprechenden Ratifikationen der Unterzeichnerstaaten als nationales Recht. Allerdings haben die europäischen Staaten das Recht auf Individualbeschwerde ihrer Bürger und die Zuständigkeit der Europäischen Menschenrechtskommission erst allmählich und zum Teil sehr zögernd anerkannt 13 . Ferner hat die Europäische Menschenrechtskommission in den ersten fünfzehn Jahren ihrer Tätigkeit nur wenige Individualbeschwerden für zulässig befunden. Immerhin hat sich die Sachlage im Laufe der siebziger Jahre insofern gewandelt, als nunmehr die überwiegende Zahl der Individualbeschwerden von Gefangenen gegen Großbritannien und nicht mehr gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben wird. Auffällig wenig Individualbeschwerden werden von Bürgern skandinavischer Staaten vorgebracht, relativ viele von Bürgern der Schweiz. E t w a 10 Prozent dieser Beschwerden wurden für zulässig erklärt.

Die Abänderung oder gar legislative Neuschöpfung des Strafvollzugsrechts in vielen Staaten während des letzten Jahrzehnts hat sich jedoch weitgehend unabhängig von dieser Spruchpraxis entwickelt. Immerhin sollen die anerkannten Mindestgrundsätze für die Behandlung der Strafgefangenen überall in Europa berücksichtigt werden. Dennoch ist dieser Aufnahme- und Umsetzungsprozeß unter rechtsstaatlichen Gesichts12 Zur Rechtslage bis Anfang der achtziger Jahre Kaiser, schen Vergleich. Darmstadt 1982, 208 ff.

G.: Strafvollzug im europäi-

13 Nachweise bei Mikaelsen, L.: European Protection of H u m a n Rights. Alphen aan den Rijn / Germantown / Md. 1980, 20 f; ferner Kaiser, G.: Zweckstrafe und Menschenrechte. SJZ 80 (1984), 3 2 8 - 3 4 2 .

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punkten nicht stets gleichermaßen befriedigend verlaufen. So herrschen z . B . in England weithin Verwaltungsvorschriften vor, welche klare Vorgaben im Hinblick auf strafrechtliche Grundgedanken vorsehen. In der Schweiz hat man angesichts der Fülle von Verordnungen und unveröffentlichten Bestimmungen noch 1983 von einem „skandalösen Maß an Rechtsunsicherheit" gesprochen 14 . Freilich wird die Beachtung der Mindestgrundsätze in den Berichten und Stellungnahmen der einzelnen Regierungen durchweg behauptet, auch in Osteuropa. Wie jedoch Erfahrungsberichte des Europarats oder der Vereinten Nationen erkennen lassen, erfolgt die Durchsetzung der Mindestgrundsätze noch immer nicht problemlos. In verstärktem Maße trifft dies für die Frage des Rechtsschutzes zu, insbesondere für die gerichtliche Kontrolle. W o diese gesetzlich nicht vorgesehen ist, springt gelegentlich auch die Rechtsprechung ein, wie etwa im Fall der englischen „Board of Visitors", welchem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 1984 in einem Urteil die Stellung eines unabhängigen Gerichts zugeschrieben wurde15, was sicherlich Lage und Aussichten des sich dorthin wendenden Strafgefangenen verbessert. Selbst Frankreich - wo Maßnahmen im Vollzug als verwaltungsinterne Maßnahmen gelten und damit nach traditioneller Auffassung nicht gerichtlich überprüfbar sind - scheint sich nach einem Urteil des „tribunal des conflits" aus dem Jahr 1983 eine - wenn auch zögernde - Wandlung anzudeuten 16 . Verschiedene Modelle und Lösungen suchen den Rechtsschutz der Gefangenen zu gewährleisten. Neben verwaltungsinterner Kontrolle (z. B. in England und Frankreich, hier trotz eines Strafvollzugsgerichts) oder Uberprüfung durch unabhängige Aufsichtskommissionen (z. B. in den Niederlanden 17 ) und dem sogenannten Ombudsman (etwa in Schweden) besteht auch die Zulassung gerichtlicher Kontrolle (in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, in Osterreich und Schweden). Außerdem kommt wie erwähnt die Anrufung der Europäischen Menschenrechtskommission in Betracht, zwar zahlenmäßig mit abnehmender, jedoch qualitativ mit erheblicher „generalpräventiver" Bedeutung. Nach dem Grad der Verrechtlichung des Strafvollzugs und der gerichtlichen Uberprüfung nimmt das westdeutsche Vollzugssystem fraglos 14 Stratenwerth, G. / Bernoulli, A.: Der schweizerische Strafvollzug. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Aarau u.a. 1983, 6f. 15 Entscheidung vom 2 8 . 6 . 1 9 8 4 , EuGRZ 1985, 534. " Spartiol, M.: Frankreich. In: Eser, A. / Huber, B. (Hrsg.): Strafrechtsentwicklung in Europa. Freiburg i.Br. 1985, 277 ff (296 f). 17 Vgl. dazu Vinson, T.: Impressions of the Dutch Prison System. Publication No. L X X X I V of the Research and Documentation Centre, Ministry of Justice. The Hague 1985, 36 ff.

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einen der vorderen Plätze ein. Darin mögen Stärke und Schwäche zugleich liegen, wie es bereits die alte Kontroverse zwischen Freudenthal und v. Liszt zur Rechtsstaatlichkeit und Resozialisierung vor mehr als 70 Jahren erkennen läßt18. Ist der Prozeß der Verrechtlichung auch im Bereich des Strafvollzugs weitgehend geboten, jedenfalls aber unaufhaltsam, so bedeutet dies gleichzeitig die Einschränkung des Spielraums für kriminalpädagogische und -therapeutische Interventionen sowie für die Experimentierfreudigkeit und schöpferische Phantasie. Diese Spannung besteht unverändert fort. Schon der neuere Streit über Ziel und Aufgaben des Strafvollzugs läßt dies erkennen. III. Unter dem Einfluß der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen und der neuen Sozialverteidigung, teilweise auch aufgrund psycho- und verhaltenstherapeutischer Fortschritte, herrschte bis in die jüngste Zeit international die Resozialisierung als Vollzugsziel ungebrochen vor19. Diese Zielsetzung wurde 1978 sogar in die neue spanische Verfassung übernommen. Die Niederlande, Dänemark und Schweden galten vor allem als Schrittmacher einer derartigen Bewegung. Nachhaltig hat sich diese Richtung besonders im Strafvollzug der sozialistischen Staaten niedergeschlagen, aber auch im Vollzugsrecht Österreichs, der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, ferner abgeschwächt in England und Frankreich. Seit den siebziger Jahren hat bekanntlich in Skandinavien, England und den USA die Abkehr von der sogenannten Behandlungsideologie eingesetzt20. Dieser Auffassungswandel setzte sich am radikalsten in den USA durch. Dort heißt es zu den bisherigen Resozialisierungsbemühungen lapidar: „nothing works".

Neuerdings werden vor allem die Vermeidung von Haftschäden und die Vorbereitung zur Entlassung als vorherrschende Vollzugsaufgaben propagiert. So setzt man sich z . B . in England für „humane Containment" oder neuerdings in Verbindung mit der Resozialisierung für „positive custody" ein21. Die Beachtung derartiger Gesichtspunkte als Gestaltungsprinzipien ist für den Vollzug fraglos wichtig. Doch die

18

Dazu Kaiser, G. / Kerner, H.-J. / Schöch, H.: Strafvollzug. 3. Aufl. Heidelberg 1982,

53. " Böhm, A.: Zum Einfluß von Vollzugstheorien auf internationale Vereinbarungen zur Behandlung Gefangener. In: Festgabe für W.Preiser, Baden-Baden 1983, 183ff (194ff). 20 Dazu Kaiser, G.: Resozialisierung und Zeitgeist. In: Festschrift für Th. Würtenberger, Berlin 1977, 359 ff. 21 Mott,].: Adult Prisons and Prisoners in England and Wales 1970-1982: a review of the findings of social research. London 1985, 9ff.

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605

V e r s e l b s t ä n d i g u n g s o l c h e r A u f g a b e n z u H a u p t z i e l e n des Strafvollzugs erscheint f r a g w ü r d i g . Sollte n ä m l i c h darin d e r H a u p t z w e c k des Strafvollzugs

liegen,

so w ä r e es einfacher,

ökonomischer

und

humaner,

ü b e r h a u p t auf d e n s t a t i o n ä r e n Strafvollzug z u v e r z i c h t e n . V o r n e h m l i c h die F r e i h e i t z u

entziehen,

um

Haftschäden

zu vermeiden

und

zur

E n t l a s s u n g v o r z u b e r e i t e n , erschiene widersinnig. K a n n dies a b e r p r i m ä r nicht gewollt sein, d a n n stellt sich die F r a g e n a c h d e m ü b e r g e o r d n e t e n Z w e c k , d e m d e r Strafvollzug letztlich dient. In d e r n e u e r e n T h e o r i e d i s k u s s i o n w e r d e n neoklassische

Ziele,

dere G e n e r a l p r ä v e n t i o n u n d V e r g e l t u n g , häufiger g e n a n n t .

insbesonDerartige

R ü c k g r i f f e u n d ihre B e g r ü n d u n g e n bleiben j e d o c h unbefriedigend. Die sogenannte Renaissance der Strafe, also das Postulat, wonach die Freiheitsstrafe als ein Übel erlebt werden soll, vermittelt allein noch keine zureichende, eindeutig konkretisierbare und widerspruchsfreie Zielsetzung für den Strafvollzug, ganz abgesehen von einem gestaltenden Einfluß auf die Vollzugsrealität. Denn trotz der neoklassischen Ausrichtung in mancher Theorie (vor allem in den USA), möchte kaum jemand ernsthaft den Weg zurückgehen. Vor allem liefert die Generalprävention keine Begründung dafür, warum gerade kurze Freiheitsstrafen mit einem hohen Grad an Vollzugslockerungen und einer geringen Gefangenenzahl abschrecken oder zur Rechtstreue motivieren sollen. Auch die Vergeltung vermag eine derartige Vollzugspraxis (geringe Gefangenenzahl, kurze Freiheitsstrafen, zahlreiche Vollzugslockerungen) nicht zu rechtfertigen. Ein genau abgestuftes System von Strafen und Rechtspositionen (Vergünstigungen) im Strafvollzug würde dem unterschiedlichen Schweregrad des Unrechts weit besser entsprechen. Aber gerade diese folgerichtigen Konsequenzen sind offenbar nicht gewollt oder werden kaum für belangvoll erachtet22. Die Sicherung oder Unschädlichmachung („incapacitation") wird zwar neuerdings überwiegend im englischsprachigen Schrifttum propagiert, gleichwohl unabhängig davon trotz vielfältiger Kritik weithin mitberücksichtigt und angewandt. Die vergleichsweise hohen Gefangenenzahlen in den sozialistischen Staaten und der Anstieg langer Freiheitsstrafen in Osteuropa belegen dies, obschon der ausdrückliche Rückgriff auf die Unschädlichmachung selten ist. Soweit dieser unumgänglich ist wie z. B. bei der Sicherungsverwahrung, sucht man verschämt davon abzurücken. Allerdings wird dieser Auffassungswandel mehr deklaratorisch bekundet oder verbal geäußert. Denn die alte Vollzugspraxis dauert nahezu unverändert fort. Teilweise weist wie in Dänemark und Schweden sogar das Behandlungsvokabular verräterisch darauf hin. Deshalb erscheint selbst die verbale Abkehr als äußerst zweifelhaft25. Gleichwohl trifft zu, daß die Behandlung als Strategie der Verbrechenskontrolle („treatment against crime") ihre Bedeutung verloren, jedoch innerhalb des Strafvollzugs und - wie man hinzufügen muß - auch in einem weiten Bereich der ambulanten 22 Vgl. etwa Naucke, W.: Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff. Stuttgart 1985, 40, mit dem Vorschlag, „wirkliche Verbrechen und vergeltende Strafen in einem Strafgesetzbuch, abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle in einem Interventionsgesetzbuch zu sammeln". 23 Kritisch Christie, N.: Limits to Pain. Oxford 1981, 14; neuerdings Löfmarck, M.: Neo-Klassizismus in der nordischen Strafrechtslehre und -praxis: Bedeutung und Auswirkungen. Vortrag anläßlich des Deutsch-skandinavischen Strafrechts-Kolloquiums im MaxPlanck-Institut Freiburg i. Br., Mai 1985, 10.

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Sanktionierung wie bei Strafaussetzung und Bewährungshilfe weithin behalten hat. Denn es ist nicht zu verkennen, daß sich die von der Behandlungsideologie getragene jahrzehntelange Vollzugsreform nachhaltig auf die europäische Vereinheitlichung, auf die Humanisierung, Lockerung und die Hilfsangebote im Strafvollzug ausgewirkt hat.

Weder die Praxis in Skandinavien mit Ausnahme Finnlands noch jene der Niederlande fügt sich daher einem der neoklassischen Ziele. Wie bereits in den fünfziger und sechziger Jahren ist dort der Strafvollzug weithin pragmatisch an dem orientiert, was dem Geist der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen nahekommt und man in der Bundesrepublik Deutschland „Resozialisierung" oder in der Schweiz „Erziehung" nennt. Selbst die Differenzierung des Strafvollzugs entspricht weder der Vergeltung noch der Generalprävention, aber auch generell nicht der Unschädlichmachung, sondern am ehesten der vermuteten Gefährlichkeit, den unerwünschten Sozialisationseinflüssen und den potentiellen Behandlungsbedürfnissen. Dennoch bleibt die Zielsetzung ebenso wichtig wie problematisch. Wegen ihrer Eingriffsintensität bedarf die Freiheitsstrafe gesteigerter Rechtfertigung der staatlichen Strafe. Darüber hinaus ist die Bestimmung des Vollzugsziels für die Auslegung des Gesetzes und die Handhabung des Vollzugs von weitreichender Bedeutung. Man braucht hierbei nur an die anfechtbare Rechtsprechung zu den Vollzugslockerungen in der Bundesrepublik Deutschland zu erinnern. Trotz beachtlicher Anstrengungen und Erfolge in der Nachkriegszeit ist der Strafvollzug und mit ihm die Kriminalpolitik unversehens in eine Sinnkrise geraten 24 . Zwar ist der neueren Kritik darin zu folgen, wenn sie darauf beharrt, für mehr Ehrlichkeit in der Setzung von Strafzielen und ihren Verwirklichungsmöglichkeiten im Strafvollzug zu sorgen. Insofern begegnen sowohl der Behandlungsideologie als auch dem progressiven Vollzug, der als vorzügliches Disziplinierungsinstrument weithin praktiziert wird, überzeugende Bedenken. Allerdings spricht nichts dafür, daß man „konventionelle Lügen" nur bei der Resozialisierung fände, aber Generalprävention oder Vergeltung davon verschont blieben. Vor „falscher Rhetorik" sind keine kriminalpolitische Richtung und kein Strafzweck gefeit. Hier hilft nur die Insistenz auf wacher Beobachtung, unnachsichtiger Analyse und wissenschaftlicher Kritik. IV. Obwohl anerkannte Gestaltungsgrundsätze im Vollzugswesen wie Differenzierung, Klassifikation und Vermeidung von Haftschäden inzwischen zum festen Bestand internationalen Vollzugswissens zählen 24 Dazu jedoch kritisch Schultz (Fn. 9) und Schwind, H.-D.: Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik. In: Gedächtnisschrift für H.Kaufmann. Berlin 1986, 95ff.

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und außerdem eine gewisse Vereinheitlichung der Praxis erreicht ist, sind die verbleibenden Unterschiede im Strafvollzug noch immer erheblich. Erwartungsgemäß werden die Programme nicht stets verwirklicht. So ist z. B. in Frankreich wegen der Überbelegung oft nicht einmal die Trennung von Straf- und Untersuchungsgefangenen gewährleistet. Dasselbe gilt für Italien und vor allem auch Spanien, wo - trotz gesetzlich vorgeschriebener Klassifizierung und deren wiederholter Uberprüfung alle sechs Monate - oft keinerlei Klassifizierung im Vollzugsalltag stattfindet.

Teilweise beruhen die Divergenzen schon auf den national geprägten Strafgesetzbüchern, insbesondere den strafrechtlichen Sanktionensystemen, ferner auf der unterschiedlichen Handhabung der Freiheitsstrafen, teilweise aber auch auf der nur allmählich beeinflußbaren Infrastruktur des Strafvollzugs. Schon die Zahl (z.B. Schweiz: 160; England: 112; Schweden: 70 lokale zu je 20 bis 60 Plätzen und 20 Reichsanstalten), Größe und Ausstattung der Vollzugsanstalten sind verschieden. Man vergegenwärtige sich nur, daß die Schweiz über fast genausoviele Strafanstalten (rd. 160) verfügt wie die zehnmal volkreichere Bundesrepublik Deutschland. Nicht minder große Divergenzen bestehen im Zahlenverhältnis zwischen dem Personal und den Gefangenen sowie in dem Kostenaufwand25. Der Personalschlüssel liegt in Westeuropa durchschnittlich zwischen 1 : 3 und 1 :2, wobei allerdings Dänemark, Irland, Schweden (1 :1,5) und die Niederlande (fast 1 : 1 ) mit einem wesentlich günstigeren Verhältnis herausragen. Immerhin weisen die Niederlande und die Schweiz bei annähernd gleichem Bestand an Gefangenen einen Unterschied auf, wonach in den Niederlanden mehr als doppelt soviel Vollzugspersonal als in der Schweiz tätig ist.

Auch die Unterbringung von Gefangenen wird unterschiedlich gehandhabt. Während die sozialistischen Staaten ebenso wie Japan die gemeinschaftliche Unterbringung der Strafgefangenen favorisieren, herrscht in Westeuropa nach Zielsetzung und weitgehender Praxis die Einzelunterbringung vor. Nur die Uberbelegung des Strafvollzugs steht der Verwirklichung dieses Ziels entgegen. Dieser Schwierigkeit suchen eine Reihe von Ländern wie die Niederlande, neuerdings auch die Schweiz, durch Einführung und Praktizierung sogenannter Wartelisten zu mildern. Die Ermächtigung zu einer derartigen Handhabung wird dem Vollstreckungsrecht oder entsprechenden vollstreckungsrechtlichen Verwaltungsvorschriften entnommen. Ferner werden in Europa die Öffnung und Lockerung des Vollzugs durch Einrichtung offener Anstalten, Freigang und Hafturlaub höchst unterschiedlich gehandhabt. Ländern mit weitgehender Öffnung des 25 Van der Linden, B.: Enquiry Concerning the Cost of Prisons. In: Prison Information Bulletin No. 4/1984, lff.

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Vollzugs (z. B. die skandinavischen Staaten) stehen andere mit sehr restriktiver Gewährung von Vollzugslockerungen gegenüber (z.B. die sozialistischen Staaten). Selbst ähnliche Regelungsmöglichkeiten und entsprechende Gestaltungsprinzipien wirken sich nicht selten verschieden aus. Im ganzen scheinen Dänemark und Schweden am weitesten den Vollzug gelockert zu haben. Demgegenüber ist der offene Vollzug in Frankreich, Osterreich, den Niederlanden und in den sozialistischen Staaten, obschon aufgrund sehr unterschiedlicher Sanktionsstile, Konzeptionen und Rahmenbedingungen, nachrangig. Die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz nehmen eine mittlere Position ein, wobei die Schweiz in jüngster Zeit erheblich aufgeholt hat. Dies ist um so erstaunlicher, als die schweizer Sanktionspraxis in der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen den Niederlanden und Schweden kaum nachsteht. Uberall jedoch zeigen die Erfahrungen, daß sich der gelockerte und offene Vollzug in beträchtlichem Umfang verwirklichen läßt, ohne daß Sicherheit und Generalprävention übermäßigen Schaden erleiden müssen. Hingegen tritt die Behandlung von alten Gefangenen, von Ausländern und psychisch Kranken oder abnormen Persönlichkeiten an Aufmerksamkeit noch immer zurück, obgleich die hier auftretenden Probleme teilweise einen beachtlichen Aufwand zur Bewältigung erfordern. Man denke nur an das differenzierte Angebot von Speisen verschiedener Konfessionen oder gesundheitliche Bedürfnisse. Der Maßnahmenvollzug an psychisch Abnormen wird teils innerhalb des Justizvollzugs, teils außerhalb dessen rechtlich organisiert und durchgeführt, ohne daß eindeutig zu erkennen wäre, welcher Problemlösung der Vorzug gebührte. Dies gilt vor allem für die Gruppe der vermindert zurechnungsfähigen Verurteilten, die zu verwahren sind. Auch der Strafvollzug an Frauen, international kaum 3 bis 5 Prozent an allen Gefangenen übersteigend, findet in Investition und Reformanstrengungen lediglich geringe Beachtung. V. Uberall in Europa, ja in der ganzen Welt, bildet die Arbeit den zentralen Vollzugsinhalt. So besteht denn auch in vielen Ländern Arbeitspflicht (neben der Bundesrepublik Deutschland z.B. in Österreich, Dänemark, Frankreich und den Niederlanden). Dies gilt selbst dann, wenn für sie keine gesetzliche Programmvorgabe besteht. Sie macht vor allem einen beachtlichen Teil der Vollzugswirklichkeit aus und hilft, den Alltag zu bewältigen. Die Bedeutung der Arbeit wird namentlich dort erkennbar, wo die Gefangenen arbeits- und beschäftigungslos sind. Ein Beispiel hierfür ist Frankreich, wo oft erhebliche

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609

Probleme bestehen, geeignete Arbeitsplätze z . B . für Freigänger zu finden, und die Arbeitslosigkeit überhaupt schon sehr hoch ist. Auch in Osterreich sind etwa 21 Prozent der Gefangenen arbeitslos26, in Großbritannien etwa 25 Prozent. In den Niederlanden dagegen scheint es keine Probleme zu geben27. Vor allem Außenbeschäftigung und Freigang sind belangvoll und in ihrer Bedeutung in Ost und West anerkannt, obschon unterschiedlich häufig praktiziert. So wichtig aber auch die Arbeit betrachtet wird, die Gewährung von Arbeitsvergütung ist weithin noch problematisch. Oftmals besteht diese lediglich in einer geringen Vergütung, wie z. B. in Osterreich 2,70 bis 4,50 S. pro Stunde. Demgegenüber erhält der Gefangene beispielsweise im finnischen offenen Vollzug normalen Arbeitslohn, von dem ihm allerdings nur 25 Prozent zur Verfügung stehen. Selbst in den Niederlanden ist diese Aufgabe kaum befriedigend gelöst. Allerdings scheint man im Ausland die Frage nicht überall als so entscheidend zu betrachten, wie man dies nach der innerdeutschen Diskussion annehmen könnte.

Demgegenüber gelten staatliche Betreuung, Hilfen, Überwachung und kaum nachstehend Aus- und Fortbildung als vorrangige Gesichtspunkte. Doch ist nur ein kleiner Teil der Gefangenen bereit und in der Lage, die entsprechenden Bildungsprogramme mit Ausdauer und Erfolg zu durchlaufen. Uberforderungssituationen und Enttäuschungen machen sich alsbald bemerkbar. VI.

Mittel zur Stützung der Gefangenen und zur Hilfe der Entlassenen

gelten überall als bedeutsam. Dennoch halten sich die entsprechenden Anstrengungen allgemein in engen Grenzen. Am weitesten reicht die soziale Unterstützung in Skandinavien und den Niederlanden. Dort sind die Strafgefangenen und -entlassenen den Sozialhilfebedürftigen im wesentlichen gleichgestellt. Hingegen kennt z . B . Japan keinerlei soziale Hilfe durch Sozialarbeiter. Hier verläßt man sich offenbar auf die Stützung durch informelle Gruppen. Geringe Straffälligkeit und Gefangenenzahl zeigen, daß dieser Weg in der japanischen Gesellschaft gangbar und sinnvoll erscheint, während westliche Gesellschaften in diesem Bereich durch gemeindliche Initiativen oder ehrenamtliche Helfer tätig werden müssen. Die Behandlung im Sinne der Anwendung therapeutischer Mittel ist, soweit überhaupt vorhanden, überall selten. Selbst in den Niederlanden wird nur ein kleiner Prozentsatz der Gefangenen von Therapieprogrammen erfaßt, in der Bundesrepublik Deutschland noch weniger. Auch in Osterr. Bundesregierung: Sicherheitsbericht 1983. Wien 1984. Ancel, M. / Chemithe, P.: Les systèmes pénitentiaires en Europe occidentale. Paris 1981, 144, 147; siehe ferner Schölten, H.-J.: Niederlande. In: Eser/Huber (Fn. 16), 489 f. 26

27

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der Epoche der sogenannten Behandlungsideologie war es kaum anders, wenn man von der Umwandlung der ehemals therapeutischen Einrichtung Herstedtvester in Dänemark absieht. In diesen Zusammenhang paßt die Abschaffung der Sozialtherapie als Maßregel durch den Gesetzgeber im Jahr 1984, eine Bestimmung, welche bekanntlich niemals in Kraft gesetzt worden war28. Man wird davon ausgehen müssen, daß heute wie ehemals mehr verwahrt als behandelt wird, selbst wenn man die untergebrachten Straffälligen in psychiatrischen Kranken- und Entziehungsanstalten mit einbezieht. Der Begriff der Behandlung ist allerdings nicht eindeutig. Schon die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1955 verwenden den Behandlungsbegriff im weiten Sinne und schließen dabei den betreuenden, helfenden Umgang mit dem Gefangenen mit ein. Dieser weiten Auffassung folgen nicht nur das westdeutsche Strafvollzugsgesetz, sondern auch die große Zahl der ausländischen Regelungen. Lockerung und Öffnung des Vollzugs sowie bedingte Entlassung gelten überall als wichtige Instrumente wirksamer Vollzugs- und Vollstreckungspolitik, obschon mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Dabei erscheint erwähnenswert, daß die bedingte Entlassung quantitativ sehr unterschiedlich gehandhabt wird, in Osterreich z.B. nur in 11 Prozent der Fälle. Dagegen ist in Schweden die gesetzliche Voraussetzung 1983 erleichtert worden, so daß die bedingte Entlassung schon nach der Hälfte der Haftzeit möglich ist; außerdem wurde die „Kann"- zur „Sol^'-Bestimmung29. Das Spektrum der Behandlung schließt einerseits die Fortsetzung des disziplinierenden Progressiwollzugs ein - so z. B. in Italien das Instrument der Strafkürzung sowie in Spanien die Straftilgung bei Arbeit oder sonstigem positiven Auffallen des Gefangenen30, die beide eindeutig Belohnungscharakter haben - , andererseits den bewußt gewollten, obgleich riskanten Versuch zur Wiedereingliederung der Gefangenen31. In der Praxis mögen die Ziele ineinander übergehen, da primär auf den Erfolg, d.h. formal auf das äußere Legalverhalten abgestellt wird. Die Gründe für die erfolgreiche oder mißglückte soziale Integration treten oftmals zurück. So gilt z. B. die Schuldenproblematik und ihre Bewältigung bei entlassenen Strafgefangenen im Ausland nur 28 Hingegen soll nach Schultz, H.: Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafgesetzbuchs. Bern 1985, 243 ff; die Einführung einer sozialtherapeutischen Anstalt als Einrichtung des Maßnahmenvollzugs vorgeschlagen werden. 29 Cornils, K.: Schweden. In: Eser/Huber (Fn. 16), 663ff (673). 30 Vgl. Maurer, M.: Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Spanien. In: Jescheck (Fn. 8), 929 ff (978). 31 Dazu kritisch vor allem Böhm, A.: Probleme der Strafvollzugsforschung, insbesondere bezüglich Vollzugslockerungen. In: Kury, H. (Hrsg.): Kriminologische Forschung in der Diskussion: Berichte, Standpunkte, Analysen. Köln 1985, 575-603.

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selten (z.B. in der Schweiz) als ein Thema, dem hohe Priorität zuerkannt wird. VII. Die Strafvollzugssysteme, insbesondere jene Westeuropas, weisen nach alledem beachtliche

Übereinstimmung, aber auch erhebliche

Diver-

genzen auf. Gemeinsamkeiten in der Behandlung der Gefangenen, in der Struktur des Vollzugsstabs sowie in der Organisation und Verwaltung des Vollzugs beruhen entweder auf Tradition oder Angleichungsprozessen, die wiederum durch die sogenannten Mindestgrundsätze und die Europäische Menschenrechtskonvention ausgelöst und getragen werden. Unabhängig davon kennt fast jedes der nationalen Systeme herausragende Vollzugsleistungen und weiterführende Experimente, aber auch Schwächen. Wir begegnen also verschiedenen Vollzugsmodellen mit unterschiedlichen Kriterien und Schwerpunkten. Die Gefangenenrate liefert dafür fraglos einen wichtigen Anhaltspunkt. Sie kann aber nicht als alleiniger Maßstab gelten. Andernfalls nähmen Griechenland, Island oder Zypern und nicht die Niederlande oder Schweden eine Spitzenstellung ein. Würde man hingegen lediglich auf die geringe Verurteilungsrate zu Freiheitsstrafen abstellen, so rückte international Japan an die Spitze; legte man schließlich den Grad der Verrechtlichung als entscheidend zugrunde, hätte die Bundesrepublik Deutschland gute Chancen, einen der oberen Ränge einzunehmen.

Wir begegnen also nicht einer einseitigen Häufung negativer oder positiver Merkmale bei den einzelnen Ländern, obschon Vollzugsprofile in der einen oder anderen Richtung deutlich werden. Doch internationaler Bekanntheitsgrad, Anziehungskraft und tatsächliche Fortschrittlichkeit des Strafvollzugs müssen keinesfalls stets zusammentreffen. Obgleich die Hindernisse nicht verkannt werden sollen, die der Würdigung aufgrund internationalen oder interkulturellen Vergleichs entgegenstehen, kann man Strafvollzugssysteme sowohl nach ihrem repressiven Gehalt, nach der Reichweite ihrer Überwachung, nach ihrer rechtsstaatlichen Qualität als auch nach ihrem Sozialisationspotential zu messen suchen und einander gegenüberstellen. Doch immer steht die Frage im Mittelpunkt, wieviele Strafen in welcher Art und Höhe im Sinne eines präventiven Optimums notwendig sind. Als Vergleichs- und Beurteilungskriterien sollen danach Punitivität, Rechtsstaatlichkeit und Rechtsschutz sowie Sozialisation und Humanisierung dienen. Hinweise auf den Grad der Punitivität können in erster Linie der vergleichenden Sanktionenstatistik und den vergleichenden Gefangenenraten entnommen werden. Um die Intensität der Strafen zu messen, ist es erforderlich, nach mindestens zwei Aspekten zu unterscheiden:

- Erstens nach der Häufigkeit in der Verhängung von bestimmten Kriminalsanktionen und

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- zweitens nach der tatsächlichen Ausgestaltung ihrer Vollstreckung. Als das verbreitete Maß, die Strafliärte zu erfassen, dient herkömmlich die durchschnittliche Zahl der von Strafgefangenen verbüßten Monate. Danach schneiden etwa die skandinavischen Staaten (mit Ausnahme von Finnland) und die Niederlande, aber auch die Schweiz sehr günstig ab. Dieses Maß sagt allerdings nichts über die Größe der Population aus, welche Freiheitsstrafen überhaupt und gegebenenfalls wiederholt unterworfen ist. Deshalb verfehlen auch Maße wie die Gefangenenziffer die Möglichkeit, allein die Strafintensität zureichend auszudrücken. Um dies zu veranschaulichen, ist es hilfreich, sich zwei Staaten vorzustellen, von denen der eine kurze Freiheitsstrafen gegenüber einem relativ großen Bevölkerungsteil ausspricht (etwa Schweden) und der andere lange Freiheitsstrafen gegenüber nur einem kleinen Prozentsatz seiner Bürger verhängt (etwa die Bundesrepublik Deutschland).

Welche Lösung den Vorzug verdient, ist wegen der Wertentscheidungen schwierig zu beantworten. Die vergleichende Analyse sollte aber für beide Aspekte genügend empfindlich bleiben. Dies bedeutet wiederum, sowohl die Verurteilungshäufigkeit zu Freiheitsstrafen als auch die Höhe der Gefangenenrate zu berücksichtigen. Darüber hinaus müßte wohl die gesamte Breite der Verbrechenskontrolle miterfaßt werden, um auszudrücken, wieviele Bürger zeitweilig mit strafrechtlichen Mitteln sanktioniert oder überwacht werden. Die Weite des Kontrollnetzes spielt bekanntlich in Wissenschaft und Kriminalpolitik zunehmend eine Rolle. Man denke etwa an den umstrittenen sogenannten Net-widening-Effekt im Rahmen der Diversion 32 . Deshalb müssen strenggenommen auch Intensivüberwachung durch Bewährungshilfe und Führungsaufsicht, ferner Vollzugslockerung und Sanktionenverzicht sowie weitere formelle Kontrollstrategien wie Sanktionen der Staatsanwälte, Anordnung von Geldbußen, Verfahren der Konfliktkommissionen und Untersuchungshaft mitbeachtet und in den Schutz der Mindestgrundsätze einbezogen werden. Der größte Erkenntnisfortschritt wird denn auch in dem möglichst reichen Einsatz von unterschiedlichen Messungen und Methoden vermutet. Diese Erwartung deckt sich methodologisch mit jener zur Messung von Kriminalität.

Vergleicht man in Europa die Verurteilung zur Freiheitsstrafe bezogen auf die Zahl derjenigen Personen, die in der Bevölkerung von Freiheitsstrafen überhaupt betroffen sind, dann werden in den Niederlanden und in Schweden durchschnittlich erheblich mehr Personen pro 100000 der jeweiligen Bevölkerung zu Freiheitsstrafen verurteilt, als dies etwa im Bundesgebiet oder in England und Wales, geschweige in Japan, der Fall ist. 32

1983.

Vgl. Heinz

(Fn.8), 976; Kerner, H.-J. (Hrsg.): Diversion statt Strafe? Heidelberg

613

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A u c h andere e u r o p ä i s c h e L ä n d e r wie F r a n k r e i c h , Italien, Ö s t e r r e i c h u n d die S c h w e i z verurteilen w e s e n t l i c h häufiger z u

Freiheitsstrafen,

w e n n m a n d e r e n Z a h l e n jeweils auf die B e z u g s g r u p p e n der e n t s p r e c h e n den B e v ö l k e r u n g bezieht. D a ß sie m i t A u s n a h m e Ö s t e r r e i c h s - b e z o g e n auf die jeweilige B e v ö l k e r u n g - d e n n o c h kleinere G e f a n g e n e n p o p u l a t i o n e n aufweisen, w i r f t die Frage

auf, w i e diese Staaten es fertigbringen,

solche vergleichsweise geringen G e f a n g e n e n r a t e n z u e r r e i c h e n . O f f e n b a r dient eine g e m i s c h t e Strategie v o n k u r z e n Freiheitsstrafen, Entlassungen, Strafverkürzung,

bedingten

Gnadenerlassen und sonstigem

Sank-

t i o n s v e r z i c h t dieser Z i e l s e t z u n g . D i e s w i r d anschaulich, w e n n m a n sich vergegenwärtigt,

d a ß die d u r c h s c h n i t t l i c h e

D a u e r der

Freiheitsstrafe

1 9 8 3 in d e r S c h w e i z 1,8, j e d o c h i m B u n d e s g e b i e t 6 , 4 M o n a t e b e t r u g . N a c h N o r d i r l a n d w e i s t die B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n e b e n G r i e c h e n l a n d den h ö c h s t e n D u r c h s c h n i t t in der I n h a f t i e r u n g s d a u e r a u f " . D e r internationale Vergleich

der

Gefangenenzahlen

veranschaulicht,

daß e u r o p ä i s c h , ja w e l t w e i t b e t r a c h t e t die N i e d e r l a n d e m i t e t w a 3 4 p r o 1 0 0 0 0 0 d e r B e v ö l k e r u n g i m J a h r 1 9 8 5 n o c h i m m e r die niedrigste G e f a n g e n e n q u o t e aufweisen, w e n n m a n v o n Island, M a l t a u n d Z y p e r n absieht. Allerdings spiegelt auch die Entwicklung in den Niederlanden die allgemeine Bewegung im Gefängniswesen wider. Denn Anfang der siebziger Jahre betrug die Gefangenenrate in den Niederlanden noch etwa 22 pro 100 000 der jeweiligen Bevölkerung. Das von dem niederländischen Justizministerium 1985 vorgelegte Strategiepapier über „Gesellschaft und Verbrechen" sieht im Hinblick auf den Verbrechensanstieg und den befürchteten Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit für die nächsten Jahre eine Erweiterung der Vollzugskapazität um 5 neue Anstalten mit 2250 Plätzen vor. Dies bedeutet eine weitere Erhöhung der Vollzugskapazität um rd. 50 Prozent. Dieser Planung liegt nicht zuletzt ein erheblicher Anstieg in der Durchschnittsdauer der verhängten Freiheitsstrafen zugrunde. Entfielen 1970 noch 3 Prozent der unbedingten Verurteilungen auf Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr, so 1983 schon 12 Prozent. Seit Mitte der siebziger Jahre mußte daher die Strafvollzugskapazität um mehr als die Hälfte auf 4800 Plätze im Januar 1985 erhöht werden. Mit den für das Jahr 1990 angestrebten 7070 Plätzen wird der Strafvollzug - verglichen mit den ersten siebziger Jahren - voraussichtlich mehr als die doppelte Kapazität erreicht haben. Die Niederlande bewegen sich mit 34 Anstalten an der unteren Grenze Europas3*. Auch England will z. B. bis Ende dieses Jahrzehnts 11 neue Anstalten errichten. I m ü b r i g e n b e t r a g e n die Gefangenenraten

in Japan 3 5 e t w a 4 5 ,

in

S c h w e d e n 5 8 , d e r S c h w e i z 6 8 , F r a n k r e i c h 8 0 , G r o ß b r i t a n n i e n 8 5 , der 33 Vgl. Tournier, P.: Statistics Concerning Prison Populations in the Member States of the Council of Europe. In: Prison Information Bulletin No. 5/1985, 16ff; speziell zur Schweiz Riklin, F.: Zur Diskussion über die kurzen Freiheitsstrafen und die Alternativen im europäischen Ausland. In: Der Strafvollzug in der Schweiz 1985, 122 ff. 34 Ministry of Justice Netherlands (Ed.): Society and Crime. A Policy Plan for the Netherlands. The Hague 1985, 4, 15 ff. 35 Government ofJapan, Research and Training Institute, Ministry of Justice: Summary of the White Paper on Crime 1984, 109.

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Bundesrepublik Deutschland 100 und Österreich 112 pro 100000 der Bevölkerung. Finnlands Gefangenenrate ist von 99 (1978) auf 86 (1982) gesunken36. Für die USA wird die Gefangenenrate bezogen auf das Jahr 1983 gar mit 270, für die D D R mit 274 (1978), Polen mit 305 (1980) und die UdSSR mit 350 bis 660, jeweils pro 100 000 der Bevölkerung, angegeben37. Immerhin läßt der historische Rückblick bezüglich der Population der Gefangenen Anfang der dreißiger Jahre erkennen, daß damals Deutschland nach der H ö h e der Gefangenenrate „unter den europäischen Großmächten" eine Spitzenstellung einnahm, gefolgt von Polen und Italien, während England und Wales, Schweden, Belgien und die Niederlande relativ gesehen einen der unteren Ränge einnahmen 3 '.

Aufgrund der genannten Befunde und der vergleichenden Betrachtung hat die niederländische Theorie der Verbrechenskontrolle auf dem Gebiet des Strafvollzugs zunehmend Modellcharakter gewonnen. Auch wenn, wie gegenwärtig beabsichtigt, die Vollzugskapazität um weitere 50 Prozent erhöht werden soll, ist die niedrige Gefangenenpopulation in den Niederlanden noch immer erstaunlich, zumal die dortige Verbrechensentwicklung und Kriminalitätsbelastung den entsprechenden Befunden in den übrigen westeuropäischen Staaten kaum nachstehen. Das pönologische Modell der Niederlande beruht bisher vor allem auf der Praxis, kurze Freiheitsstrafen zu verhängen. Der Durchschnitt aller vollstreckten Freiheitsstrafen liegt daher ähnlich wie in der Schweiz bei etwa 2 Monaten verglichen mit 3—4 Monaten in Schweden und 21 Monaten in den USA. Allerdings muß man dabei berücksichtigen, daß die Niederlande neben der Praktizierung kurzer Freiheitsstrafen auch von Zeit zu Zeit zum Mittel eines kollektiven Gnadenerlasses greifen, um die Gefängnispopulation niedrig zu halten, daß sie ferner ebenso wie Schweden und die Schweiz potentielle Gefangene auf eine sogenannte Warteliste setzen, bis der erforderliche Platz in den Vollzugsanstalten frei wird, und daß schließlich die Bevölkerung bis in die achtziger Jahre hinein eine derartige Praxis auch weitgehend toleriert hat. Daß sich dies inzwischen etwas geändert haben dürfte, läßt das erwähnte kriminalpolitische Strategie-Papier des niederländischen Justizministeriums erkennen. Wie sehr es nämlich bei einer derartigen Handhabung auf die verständnisvolle Bereitschaft der Bevölkerung ankommt, zeigen Untersuchungen und Diskussionen zum Beziehungsfeld „Strafvollzug und Öffentlichkeit". Wenn aber die Bevölkerung wegen rigider Wertvorstellungen oder aus Verbrechensangst nicht geneigt ist, eine auf Reso-

36

Lahti, R.: Kriminalität, Kriminologie und Kriminalpolitik in den nordischen W o h l -

fahrtsstaaten. In: K u r y ( F n . 3 1 ) , Tab. S. 167, 169ff. 37 Nachweise bei Kaiser (Fn. 12), 231 f; sowie Christie 38 Vgl. Kaiser (Fn. 12), 231 ff.

( F n . 2 3 ) , 32.

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zialisierung oder Mitverantwortung angelegte Vollzugspolitik mitzutragen oder zumindest ohne ernstliche Proteste hinzunehmen, dann dürfte es kaum möglich sein, mit niedrigen Gefangenenzahlen auszukommen. Dies veranschaulichen nicht nur die vergleichende Betrachtung kollektiver Gnadenerlasse in den Niederlanden und im Bundesgebiet während der letzten zwanzig Jahre, sondern auch die einschneidenden Wandlungen in den Niederlanden selbst 39 . Wirft man in diesem Zusammenhang einen Blick auf die Vereinigten Staaten, so zeigt sich die hohe Kriminalitätsbelastung in den städtischen Ballungszentren als einer der Einflußfaktoren auf den vollzogenen Stimmungswandel. In Extremfällen führt die Reaktion der Bevölkerung sogar zur Selbstjustiz.

VIII. Bei alledem geht es nicht nur um Sicherheit und Generalprävention, sondern auch um Grundeinstellungen zu Schuld und Strafverbüßung sowie um die Gewährleistung von Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Notwendigkeit und Bedeutung derartiger Ziele werden jedoch international unterschiedlich eingeschätzt. Solche Divergenzen beeinflussen auch Art und Inhalt der Strafe sowie Umfang und Struktur des Strafvollzugs. Erwartungsgemäß werden dazu verschiedene Meinungen vertreten. Keinesfalls aber kann man, wie gelegentlich gefordert40, Strafrechtspflege und Strafvollzug von Bewegung und Belastung der Kriminalität völlig „abkoppeln" in der Annahme, daß es auf die Anstrengungen der Strafrechtspflege gar nicht ankomme. Bezüglich der sogenannten Kontrolldelikte, die also von der Verfolgungsintensität stark abhängig sind, wäre eine solche Hypothese ohnehin fehlerhaft. Für den Vergleich der Strafvollzugssysteme ist ferner das Potential an Sozialisation und Humanisierung zu beachten. Bedeutsam ist hierfür das weltweit verbreitete Bekenntnis zu den Mindestgrundsätzen in der Behandlung der Strafgefangenen. Die Anerkennung eines Mindeststandards im Strafvollzug wird sicherlich nicht nur verbal geäußert, sondern auch in der Praxis, obschon regional unterschiedlich, zu verwirklichen gesucht. Als Beispiel dafür, was Humanisierung leisten kann, könnte auf Italien verwiesen werden: Dort soll das neue Strafvollzugsgesetz erstmals eine „Bresche in die Mauer jahrhundertelanger Abgeschlossenheit geschlagen" haben41. In der Durchsetzung der Mindestgrundsätze

39

Ministry of Justice

(Fn. 34), 1, 21.

Etwa von Christie ( F n . 2 3 ) ; Balvig, F.: Crime in Scandinavia: Trends, Explanations and Consequences. In: Bishop, N . ( E d . ) : Scandinavian Criminal Policy and Criminology 1 9 8 0 - 8 5 . Copenhagen 1985, 7ff, mit Graphik: Wright, M.: In Place of Punishment. Vortrag gehalten am Max-Planck-Institut Freiburg i. Br. am 4. O k t o b e r 1985; zurückhaltend hingegen Burgstaller, M.: Empirische Daten zum neuen Strafrecht. Ö J Z 38 (1983), 6 1 7 f f (626) und ders. mit Csäszär, F.: Ergänzungsuntersuchungen zur regionalen Strafenpraxis. Ö J Z 4 0 (1985), 4 1 7 ff (426 f). 40

41 So Grevi, V.: Das italienische Strafvollzugsgesetz. Eine Bilanz fünf Jahre nach der Reform. Z S t W 94 (1982), 4 9 7 ff.

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scheint der stärkste Motor für die weitere Humanisierung sowie Vereinheitlichung des Strafvollzugs zu liegen, und zwar über die politische Spaltung Europas oder anderer Regionen hinaus. Gleichwohl bleibt die Strafvollzugsphilosophie, oder genauer das konkret anzustrebende Vollzugsziel problematisch. Wenn, wie in Skandinavien, England und einigen anderen Staaten das Ziel des Strafvollzugs hauptsächlich darin bestehen soll, zur Entlassung vorzubereiten, dann drängt sich sogleich die Frage auf, wozu man den Straftäter überhaupt in den Strafvollzug schickt. Denn ließe man ihn in Freiheit, könnte man sich die Entlassungsvorbereitung sparen. Die Angleichung des Vollzugs an die Außenwelt oder die Vermeidung von Haftschäden würde dann entbehrlich. Diese paradox erscheinende Situation ist bislang nicht überzeugend bewältigt. Doch so grundsätzlich und tiefgreifend dieser theoretische Streit auch sein mag, in der Praxis ist man sich über den Vollzug und über seine Reformrichtung weitgehend einig. Plädiert etwa Schweden für die Öffnung der Strafanstalten und die Ausweitung der Kontakte des Gefangenen mit der Außenwelt einschließlich Hafturlaub, so verspricht es sich davon einen ebenso wichtigen wie normalen Beitrag zur Verbesserung der Haftbedingungen und für die Humanisierung der Gefängnisse42. Hingegen begreift die Gefängniskommission der Beneluxländer den Hafturlaub als Teil individueller Behandlung, indem er als ein Mittel die erwünschten Kontakte mit der Außenwelt ermöglicht. Demgemäß schlägt man vor, daß die Behandlung auch den Kontakt mit der Außenwelt einschließen und zu diesem Zweck Hafturlaub soweit wie möglich als ein Teil der Behandlung verstanden werden soll43. Sachlich also besteht selbst in den Reformvorstellungen, wie dieses Beispiel veranschaulicht, kein Unterschied; nur die Bezeichnung ist verschieden. Was die einen als „Behandlung" zu nennen pflegen, möchten die anderen lieber als „Humanisierung" bezeichnet wissen.

Vergleicht man die Niederlande und Schweden oder Dänemark, so können die skandinavischen Staaten mit den Niederlanden zwar noch nicht mit der Gefangenenrate, wohl aber im Personalbestand ernsthaft konkurrieren. Der Kostenaufwand ist in Skandinavien durchweg doppelt so hoch wie in den Niederlanden. Im übrigen vertraut man in Schweden und Dänemark hauptsächlich auf den offenen Vollzug, und zwar erheblich mehr als andernorts in Europa, sowie auf den Einsatz und die Arbeit freiwilliger Helfer. Als ebenso aktuelles wie ungelöstes Problem gilt nicht nur in Europa, sondern weltweit die Frage nach der Behandlung und ernstlichen Beeinflussung von Rückfalltätern. Hier sind zwar die Lösungs- oder Reak42 Vgl. Martinsson, B. / Bishop, N.: Current Problems in Prison Administration. Information Paper to the Vllth United Nations Congress on the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders., Norrköping 1985. 43 Vgl. Council of Europe (Ed.): Report of the Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners. Strasbourg 1980, 88.

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tionsansätze vielfältig, die Fortschritte und Erfolge aber recht begrenzt. Bei der Würdigung der Vollzugsmodelle wird man denn auch diesen Aspekt mit zu berücksichtigen haben, obschon der Strafvollzug sicherlich in seiner Bedeutung für die Kriminalitätsbekämpfung nur einen schwachen Beitrag leisten kann. Ihn in diesem Zusammenhang aber gänzlich zu ignorieren 44 , erschiene im Hinblick auf die Erfolge der Verbrechenskontrolle in Japan und in den sozialistischen Staaten als verfehlt. Auch die deutschen Erfahrungen mit der sozialtherapeutischen Behandlung in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten unterstreichen die Bedeutung. Eine jüngst vorgelegte Meta-Evaluation sozialtherapeutischer Behandlung anhand von 15 Begleitforschungsprojekten weist im ganzen immerhin einen moderaten Effekt sozialtherapeutischer Behandlung bei schwierigen Karrieretätern aus45. Sonderprobleme ergeben sich vor allem durch den Drogenkonsum, der fast überall in Westeuropa erhebliche Schwierigkeiten im und außerhalb vom Strafvollzug aufwirft, ohne daß sich bereits überzeugende Lösungen abzeichneten. Insbesondere in Schweden hat Drogenmißbrauch in Strafanstalten schon aufgrund der Gesetzesänderung von 1984 zu haftverschärfenden Maßnahmen geführt44. Außergewöhnliche Aufgaben stellt aber auch der Vollzug an Ausländern und Minoritätenangehörigen sowie Jugendlichen, Frauen, an geisteskranken und alten Menschen. Angesichts der übermächtigen allgemeinen Vollzugsprobleme erscheinen aber diese Sonderfragen als nachrangig und treten in der Diskussion stark zurück.

IX. In der vergleichenden Längsschnittbetrachtung erscheint als eines der Problemschwerpunkte die langfristige Inhaftierung. Zum Beispiel in Osterreich haben die Strafen von über einem Jahr überdurchschnittlich zugenommen. Auch die Mehrzahl der in Italien verhängten Freiheitsstrafen liegt zwischen 1 bis bzw. über 5 Jahren 47 . In Schweden dagegen liegen nur wenige Strafen über einem Jahr und fast keine über 4 Jahre 48 . Weitere Problemschwerpunkte bilden die sichere Unterbringung gefährlicher Straftäter, intensivere Durchsetzung der Mindestgrundsätze und

So z.B. Christie (Fn.23), 33. Vgl. Lösel, F., u. a.: Meta-Evaluation der Sozialtherapie. Qualitative und quantitative Analysen und Vorschläge zur Behandlungsforschung in sozialtherapeutischen Anstalten des Justizvollzugs. Abschlußbericht. Universität Bielefeld 1985, 371, 373, 389, 414 f; siehe ferner Schüler-Springorum, H.: Die sozialtherapeutischen Anstalten - Ein kriminalpolitisches Lehrstück? In: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann. Berlin 1986, 178 ff; anders jedoch Göppinger, H.: Kriminologie. 4. Aufl. München 1980, 411 ff. 46 Vgl. National Prison and Probation Administration (Ed.): Kriminalvärd 1983/84. Norrköping 1984, 7, 45 und 56 mit Tabellen. 47 HEUNI (Helsinki Institute for Crime Prevention and Control Affiliated with the United Nations): Criminal Justice Systems in Europe. Helsinki 1985, 108. 48 Kriminalvärd (Fn. 45), 84. 44

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Rechtsschutz, teilweise auch Drogenkonsum und Überbelegung der Strafvollzugsanstalten. Mag im Längsschnitt der Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz an quantitativer Bedeutung erheblich verloren haben, so trifft dies für andere Länder wie für Großbritannien oder die USA nicht in entsprechendem Umfang zu. Qualitativ jedoch hat der Freiheitsstrafvollzug erheblich an Gewicht gewonnen. Der Bedeutungszuwachs liegt vor allem in der Einschätzung der Freiheit und der Freiheitsentziehung sowie im Schutz der Menschenrechte. Aufgrund der Bilanzierung von Soll und Haben im internationalen Strafvollzug zeigt sich, daß nicht nur größere Staaten experimentierfreudig und innovativ sind. Im Gegenteil. Gerade bei kleineren Staaten lassen sich unabhängig von den Niederlanden oder den skandinavischen Ländern herausragende Leistungen erkennen, erscheinen eine oder zwei Institutionen besonders vorbildlich. Dies gilt etwa für Mittersteig in Osterreich oder für Saxerriet in der Schweiz. Auch darüber hinaus vermag die Schweiz einige vorbildliche Anstalten im Erwachsenen- und Jugendvollzug vorzuweisen, zumal der Jugendvollzug dort nur ein Bruchteil jenes anderer Länder ausmacht. Dennoch gilt die Schweiz international im allgemeinen nicht als ein Modell für einen zukunftsweisenden Strafvollzug - zu Unrecht. Offenbar spielt die Werbung, das Image, also das Sich-gut-verkaufen-Können auch in diesem Bereich eine wichtige Rolle. Danach stellt sich die Frage, wo denn die deutschen Vorbilder bleiben. Oder trifft etwa die vernichtende Kritik Conrads49 am deutschen Strafvollzug noch immer zu? Eine solche Annahme wäre allerdings verfehlt, auch wenn die Suche nach einem eigenständigen deutschen Modell vergeblich bleibt. Immerhin werden Öffnung und Lockerung des Strafvollzugs im Bundesgebiet weithin praktiziert50, ohne allerdings neu zu sein. Selbst an den sozialtherapeutischen Experimenten ist wenig Neues zu entdecken, obschon die Voraussetzungen der Anweisung und Bedingungen der Durchführung ganz andere sind als in den früheren Vorbildanstalten Dänemarks und der Niederlande. Am ehesten könnte die Sicherung der Rechtsstellung von Strafgefangenen durch Gesetz und gerichtliche Kontrolle als mustergültig erscheinen. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls dann auf, wenn man sich die Beschwerdesysteme in Österreich, der Schweiz, in Frankreich, England oder sogar in Skandinavien vor Augen führt. 49 Conrad, C. P.: Crime and its Correction. An International Survey of Attitudes and Practices. Berkeley 1965, 146 f. 50 Dazu Dünkel, F. / Rosner, A.: Die Entwicklung des Strafvollzuges in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970. 2. Aufl. Freiburg i.Br. 1982.

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Obschon sich gemeinsame Profile der Vollzugssysteme in West- und Osteuropa abzeichnen, lassen sich die Unterschiede in Konzept, Gestalt und Wirklichkeit des Strafvollzugs nicht verkennen. Schon die Gefangenenrate streut erheblich: nach den verfügbaren Informationen zwischen 270 und 660, jeweils bezogen auf 100 000 Einwohner. Sie ist in den Staaten Osteuropas durchweg um das Mehrfache höher. Die wahrnehmbaren Unterschiede beschränken sich aber nicht auf den stationären Vollzug. Sie folgen vielmehr aus den jeweiligen Eigentümlichkeiten des Gesamtsystems der Sozialkontrolle nach Strafgesetz, Strafzumessungspraxis, Strafvollzug und Einstellung der Öffentlichkeit zum Strafvollzug sowie zur Kriminalität. Dementsprechend lassen sich im westeuropäischenBereich die verschiedenen Konzepte und Stile des Vollzugs nach einem skandinavisch-niederländischen Modell unterscheiden, mit der Favorisierung kurzer Freiheitsstrafen. Diese werden zwar auch in der Schweiz bevorzugt verhängt, jedoch häufig in Verbindung mit bedingter Verurteilung. D e m stehen Länder wie England und Italien gegenüber, bei denen sich der Strafvollzug offensichtlich in einer Krise befindet. D e r verbreitete Kriminalitätsanstieg in Westeuropa während der letzten Jahrzehnte führte erneut zu härteren sowie längeren Freiheitsstrafen und wiederum zum Anstieg der Vollzugspopulation mit all seinen Begleit- und Folgeproblemen. Verglichen damit pflegt man im osteuropäischen Bereich ohnehin längere Freiheitsstrafen zu verhängen, während der Bereich kürzerer und mittlerer Freiheitsstrafen zunehmend durch zur Bewährung ausgesetzte Sanktionen und Geldstrafen ersetzt wird. Besserung, ja Umerziehung des Strafgefangenen gilt aber für die sozialistischen Staaten unverändert als Vollzugsziel 51 .

Die Situation in den Vereinigten Staaten wiederum ist völlig anders gelagert. Seit einigen Jahren ist unter dem Stichwort der „Privatization of Corrections" eine Übernahme von Haftanstalten durch Privatunternehmen in der Diskussion. Modellcharakter besitzt dabei ein Projekt in Florida, das von den Befragten immerhin als ein „less desirable place" bezeichnet wird. Dagegen ist die behauptete Kostenersparnis anscheinend nicht sehr gravierend 52 . Uberhaupt scheint dieses Modell mehr ideologisch begründet zu sein (parallel zur derzeitigen Privatisierungsphilosophie in der amerikanischen Politik). Denn es gibt vielerlei Problemkreise, deren Lösung bisher nicht überzeugend gelungen ist ( L e v i n son nennt z. B. solche gesetzlicher, wirtschaftlicher, ethnischer Art u.a.). Dennoch ist der Trend augenblicklich ungebrochen: Im Januar 1985 gab es bereits 26 „private sector prison industries" 53 . Ferner lassen 51 Lammich, S.: Die Freiheitsstrafe und deren Vollzug in den sozialistischen Ländern unter besonderer Berücksichtigung Polens. In: 8. Strafverteidigertag v. 1 8 . - 2 0 . Mai 1984. München 1985, 184 ff. 52 Vgl. Levinson, R.B.: Privatization in Corrections: The Issues. The Prison Journal, Juli 1 9 8 6 ; National Institute ofJustice ( E d . ) : The Privatization of Corrections. Washington / D . C . 1985. 53 National Institute of Justice ( E d . ) : The Private Sector and Prison Industries. W a s h i n g t o n / D . C . 1985, 6.

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der erhebliche Anstieg der offiziell registrierten Kriminalität, eine äußerst hohe Gefangenenrate54 - wobei sich vor allem Farbige unter den Inhaftierten befinden - sowie die Einrichtung von Großanstalten die Verwirklichung des Behandlungskonzepts von vornherein kaum aussichtsreich erscheinen, zumal in den USA im Gegensatz zu Westeuropa - z.B. wurde 1983 auch in den Niederlanden der Anwendungsbereich der Geldstrafe mit dem Ziel der Zurückdrängung kurzer Freiheitsstrafen erweitert55 - von der Geldstrafe verhältnismäßig wenig Gebrauch gemacht wird. Gerade dieser Aspekt unterstreicht die Notwendigkeit, die Interventionsmöglichkeiten mit Hilfe der Freiheitsstrafe in den Zusammenhang mit der allgemeinen Sanktionspraxis zu rücken. X. In der Gegenwart werden nicht nur hierzulande wieder mehr Strafen verhängt und häufiger lange Freiheitsstrafen ausgesprochen als vor einem Jahrzehnt. So zählt man heute fast wieder ebensoviele Strafgefangene wie Mitte der sechziger Jahre. In England wurden 1981, als ein Spitzenwert von 45 500 Inhaftierten erreicht war, sogar zwei Behelfsgefängnisse eröffnet. Wiederum sind Justizvollzugsanstalten überbelegt und Strafgefangene teilweise unwürdig untergebracht. Für Frankreich werden besonders die baulichen Mängel hervorgehoben. Aber auch Italien und Spanien sind hier zu nennen. Für Spanien wird der Gedanke an eine erfolgreiche Resozialisierung unter den zum Teil katastrophalen Vollzugsbedingungen als geradezu grotesk bezeichnet. Die USA kennen ähnliche Probleme: Der 112. Kongreß der American Correctional Association hat sich 1982 unter dem Leitmotiv „Managing Overcrowding with Limited Resources" mit der Situation befaßt. Allein 10000 Petitionen betreffen die Haftsituation in den amerikanischen Gefängnissen56.

Erneut rügen die Gerichte die Rechtswidrigkeit derartiger Unterbringung, und müssen die Justizverwaltungen ihre Vollstreckungspolitik ändern. In solcher Zeit hat es der Behandlungsgedanke erwartungsgemäß schwer, sich zu behaupten. Doch gibt es andere, bessere Strategien? Ambulante Sanktionen allein kommen bei wiederholt Rückfälligen in der Regel nicht mehr in Betracht. Damit entfallen für diese Tätergruppe auch Sanktionsformen, die im Ausland unter der Bezeichnung des „community service" oder im deutschsprachigen Bereich unter dem 54 Austin, J. / Krisberg, B.: Incarceration in the United States: The Extent and Future of the Problem. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences No. 478 / March 1985, 15 ff. 55 Schölten (Fn.27), 489 ff. 56 Vgl. Evans, D. C.: Managing Overcrowding with Limited Resources. In: American Correctional Association (Ed.): Proceedings of the 112th Annual Congress of Correction. Toronto 1982. College Park / Md. 1983, 173 ff (174).

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Begriff der gemeinnützigen Arbeit erörtert werden. Das Modell der kurzen Freiheitsstrafen erscheint für Mehrfach- und Intensivtäter als überlegene Problemlösung kaum akzeptabel, und zwar auch dann nicht, wenn es im Ausland empfohlen und unter Hinweis auf Hegel zu legitimieren versucht wird57. Die bloße Verlängerung der Freiheitsstrafe zum Zwecke der Abschreckung und Unschädlichmachung führt nicht nur zu höheren Gefangenenzahlen, sondern widerspricht auch der Mitverantwortung und Sozialstaatlichkeit. Unter diesem Aspekt gibt es, wie schon Hilde Kaufmann gesehen hat58, „keine Alternative zur Sozialtherapie, wie langsam auch immer die Verbesserung über Methoden vor sich gehen mag".

57 58

Heijder, A.: Can we Cope with Alternatives? Crime and Delinquency 26 (1980), 1 ff. Kaufmann (Fn.2), 202.

Aufgaben und Arbeitsweise der Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen KARL PETER ROTTHAUS

Ende der sechziger Jahre hat die Strafvollzugskommission Fragen der Dienstaufsicht im Strafvollzug, insbesondere die nach der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Mittelbehörden, ausführlich und streitig erörtert. Stellt die Mittelbehörde nicht eine schädliche Distanz zwischen Anstalt und Zentrale her? Sind mehrere dezentrale Bezirke einem zentralen Landesamt vorzuziehen? Sollen diese Vollzugsämter weiterhin von den Generalstaatsanwälten oder aber von Vollzugsfachleuten geleitet werden?1 Im Ergebnis neigte die Kommission zu der Empfehlung, auf die Mittelinstanz zu verzichten. Sie wollte jedoch größere Bundesländer nicht dazu nötigen, die in den preußischen Nachfolge-Ländern überkommene Dreistufigkeit der Vollzugsorganisation aufzugeben. Dementsprechend ermöglicht §151 Abs. 1 S.2 StVollzG den Landesjustizverwaltungen, „Aufsichtsbefugnisse auf Justizvollzugsämter (zu) übertragen". Die streitige Frage selbst wurde für Nordrhein-Westfalen lange vor dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes im Jahre 1977 beantwortet, als durch das Gesetz über die Einrichtung selbständiger Justizvollzugsämter 2 zum 1.4.1970 eine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Mittelinstanz geschaffen wurde. Das Land Niedersachsen folgte zwei Jahre später mit einem landeszentralen Justizvollzugsamt in Celle3. Die anderen Bundesländer kennen keine Mittelinstanz. Sie sind entweder, wie Baden-Württemberg und Bayern, bei der überkommenen

' Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, VI. Band: Chudoba, Zur Frage der Organisation des Strafvollzugs, S. 22-36; Ruprecht, Organisation der Strafvollzugsverwaltung, S. 37—47; XII. Band: Müller-Dietz (Berichterstatter), Vollzugsgemeinschaften und Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten, S. 103-122; Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands, Stellungnahme zu Fragen der Neuorganisation des Strafvollzuges, 1968; Derselbe, Denkschrift über die Neuorganisation des Strafvollzugs in Nordrhein-Westfalen, Hövelhof o . J . 2 Gesetz vom 24.2.1970 G V N W S. 168. 3 A V des Nieders. Ministers der Justiz v. 7.6.1972 - 4400 - 305.6 - Verwaltungsanordnung zur Durchführung des Niedersächs. Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes ( A G G V G Ns).

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Zweistufigkeit geblieben oder haben, wie Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, den Generalstaatsanwälten diesen Aufgabenbereich entzogen und den Justizministerien übertragen. Die in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen heute bestehenden Justizvollzugsämter sind indessen keine neue Einrichtung. Erstmals wurden selbständige Aufsichtsbehörden für den Strafvollzug im Jahre 1923 unter der Bezeichnung ,Strafvollzugsamt' in Preußen eingerichtet". Die Amter haben sich in der Weimarer Zeit bewährt, auch wenn sie - gerade innerhalb der Justiz - zum Teil kritisch gesehen wurden5. Nach der Machtergreifung machten die Nationalsozialisten die Verselbständigung des Vollzugs gegenüber den Generalstaatsanwaltschaften für den ihnen unerwünschten ,Erziehungsvollzug' verantwortlich. Die Strafvollzugsämter wurden noch im Jahre 1933 aufgehoben und ihre Aufgaben wiederum den Generalstaatsanwälten übertragen6. Seit der Zeit der Einrichtung der heutigen Justizvollzugsämter ist von ihnen in der fachlichen Diskussion kaum noch die Rede gewesen. Deshalb soll hier im Zusammenhang mit Problemen der Dienstaufsicht im Strafvollzug im allgemeinen der Frage nachgegangen werden, wie sich die für Nordrhein-Westfalen gefundene Lösung bewährt hat. Zur Veranschaulichung sei die eine der beiden Mittelbehörden kurz beschrieben: Das Justizvollzugsamt Köln Dieses Amt ist die Mittelbehörde der Vollzugsverwaltung für die Bezirke der Oberlandesgerichte Köln und Düsseldorf. Sein Amtsbezirk entspricht damit etwa dem des Landschaftsverbandes Rheinland. Ein zweites Justizvollzugsamt - zuständig für den westfälischen Landesteil hat seinen Sitz in Hamm. Dem Justizvollzugsamt Köln unterstehen 17 selbständige Justizvollzugsanstalten, darunter 2 Jugendstrafanstalten, mit insgesamt 11 Zweiganstalten und 4 weiteren Nebenstellen sowie 5 Jugendarrestanstalten. In diesen Anstalten waren 1984 im Jahresdurchschnitt knapp 8000 Insassen untergebracht: 7385 Männer 454 Frauen 125 Jugendarrestanten 7964 Zu den Einrichtungen des Geschäftsbereichs gehört auch die Justizvollzugsschule des Landes Nordrhein-Westfalen in Wuppertal. Dort 4 Preußisches Gesetz v. 2 0 . 1 0 . 1 9 2 2 - GS S.309; Hasse, Die Gefangenenanstalten in Deutschland und die Organisation ihrer Verwaltung, S. 38 ff, in: Bumke (Hrsg.), Deutsches Gefängniswesen, Berlin 1928.

5 6

Anm. 1 Chudoba S. 25 ff.

Preußisches Gesetz v. 1 . 8 . 1 9 3 3 GS S.293.

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werden die Anwärter des mittleren Dienstes ausgebildet. Außerdem finden in der Schule Fortbildungsveranstaltungen statt. Das Justizvollzugsamt beschäftigt etwa 65 Mitarbeiter. Zehn Dezernate werden von Beamten des höheren Vollzugs- und Verwaltungsdienstes mit der Befähigung zum Richteramt geleitet. Die interdisziplinäre Natur vollzuglicher Arbeit findet darin ihren Ausdruck, daß bei dem Vollziigsamt außerdem eine Arztin, ein Diplom-Psychologe, ein Schulrat und ein Sozialarbeiter als Fachdezernenten 7 tätig sind. In dem Bezirk des Justizvollzugsamts sind insgesamt etwa 3570 Bedienstete beschäftigt. Die größte Gruppe bilden die Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes mit 2530 Angehörigen, denen neben ihrer überkommenen Aufgabe im Zuge der Strafvollzugsreform eine Vielzahl von betreuerischen Aufgaben übertragen worden ist. Außerdem sind im Geschäftsbereich des Vollzugsamts folgende Laufbahnen vertreten: 55 49 20 27 59 135 104 301

Beamte des höheren Vollzugs- und Verwaltungsdienstes Psychologen (einschl. Soziologen) Ärzte Geistliche Pädagogen Beamte des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes Sozialarbeiter Beamte des mittleren Verwaltungsdienstes (einschl. Schreib- und Telefondienst) 188 Beamte des Werkdienstes und 104 Sonstige Mitarbeiter

Das Justizvollzugsamt ist Einstellungsbehörde für den mittleren und gehobenen Dienst. Dem Justizvollzugsamt ist die unmittelbare Dienst- und Fachaufsicht über die Justizvollzugsanstalten und die Jugendarrestanstalten seines Bezirks übertragen. Am anschaulichsten geschieht das durch die regelmäßige Besichtigung dieser Einrichtungen. Daneben sind zahlreiche Beschwerden und Eingaben der Gefangenen zu bearbeiten. Das Vollzugsamt vertritt das Land in bürgerlichrechtlichen, arbeitsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Rechtsstreitigkeiten. An Rechtsbeschwerdesachen, die aus Vollzugsangelegenheiten entstanden sind und für

7 Die Notwendigkeit der Besetzung der Aufsichtsbehörden mit „eigenen Fachkräften" folgt aus § 1 5 1 Abs. 2 StVollzG: „An der Aufsicht über das Arbeitswesen sowie über die Sozialarbeit, die Weiterbildung, die Gesundheitsfürsorge und die sonstige fachlich begründete Behandlung der Gefangenen sind eigene Fachkräfte zu beteiligen; soweit die Aufsichtsbehörde nicht über eigene Fachkräfte verfügt, ist fachliche Beratung sicherzustellen."

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deren Entscheidung im Lande N W das O L G Hamm8 allein zuständig ist, ist es beteiligt (§111 Abs. 2 StVollzG). Die oberste Dienst- und Fachaufsicht für den Justizvollzug liegt beim Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, bei dem eine besondere Strafvollzugsabteilung besteht. Personal- und Haushaltsangelegenheiten des Vollzugs werden allerdings in der Verwaltungsabteilung des Justizministeriums bearbeitet. Die bei den Beratungen der Strafvollzugskommission geäußerte Forderung, auch diese für die personelle und sachliche Ausstattung der Anstalten und damit für die Gestaltung des Vollzuges bedeutsamen Angelegenheiten der Vollzugsabteilung zuzuweisen, blieb unberücksichtigt'. Erinnert man sich daran, daß die Aufgaben des Justizvollzugsamts Köln in den fünfziger Jahren von den beiden Generalstaatsanwälten in Köln und Düsseldorf im „Nebenamt" mit bis zu etwa 50 % ihrer Arbeitskraft10 und je einem Vollzugsdezernenten erfüllt wurden, so scheint das den schon in der Weimarer Zeit erhobenen Vorwurf .vermeidbaren Aufwands'11 zu bestätigen. Es entsteht der Verdacht, als hätten die Justizvollzugsämter Parkinsons Gesetz12 in besonders konsequenter Weise befolgt. Doch ist der Personalbedarf der Justizvollzugsämter des Landes Nordrhein-Westfalen bereits vor Gründung der Amter sehr genau13 geschätzt worden. Später im Jahre 1978 hat eine, vom Justizminister beauftragte, nicht nur aus Vollzugsfachleuten gebildete Arbeitsgruppe Geschäftsumfang und Geschäftsverteilung der Vollzugsämter geprüft und die personelle Ausstattung für sachgerecht befunden. Die Entwicklung der Vollzugsämter ist eine Folge der durch die Strafvollzugsreform notwendig gewordenen Personalvermehrung in den Justizvollzugsanstalten. Die Entwicklung des Vollzugssystems Bis in die Mitte der sechziger Jahre gab es in Nordrhein-Westfalen kein differenziertes System von Vollzugseinrichtungen, sondern eine zufällig zustande gekommene Ansammlung von Vollzugsanstalten unterschiedlicher Art und Größe. Diese Anstalten waren Teil des preußischen Vollzugssystems gewesen, das großräumig, die Grenzen des neugeschaffenen Bundeslandes überschreitend, angelegt war. Die Einweisung erfolgte ausschließlich durch die Staatsanwaltschaften als Voll8 Vgl. § 1 7 9 Ziff. 4 c StVollzG = §121 Abs. 3 GVG. ' Chudoba a.a.O. S. 22. 10 Chudoba a.a.O. S.33. 11 Meyer, Zur Justizreform, J W 1930/746 zitiert nach Chudoba a.a.O. S. 25 f. 12 Parkinson, Parkinsons Gesetz u. a. Untersuchungen über die Verwaltung, deutsch 1958. 13

Tagungsberichte a.a.O. VI. Band: Bendel (Niederschrift) S. 6.

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Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen

streckungsbehörden. Neben den vom Strafgesetz vorgegebenen Gruppierungen (Haft, Gefängnis, Zuchthaus) gab es nur noch die Grobsortierung nach Erstbestraften und Gefangenen des Regelvollzugs. In Ostwestfalen und im Münsterland wurden Gefangene mit Außenarbeit im gelockerten Vollzug, überwiegend aber als sogenannte Arbeitskommandos in der Landwirtschaft und der Landeskultur unter Aufsicht durch bewaffnete Beamte beschäftigt. Im Regelfall blieb der Gefangene bis zu seiner Entlassung in der Anstalt, in die er bei Strafbeginn aufgenommen worden war. Schulische Fortbildung fand in der Freizeit in den größeren Anstalten statt, in denen ein Lehrer tätig war. Berufsausbildung gab es als Nebenprodukt in einzelnen Anstalten mit auf die Bedürfnisse des Vollzugssystems, nicht auf die der Fortbildung ausgerichteten Versorgungsbetrieben ( z . B . Schreinerei, Schlosserei, Druckerei). „Fürsorger" waren nicht einmal in allen großen Anstalten eingesetzt. Nur in den beiden geschlossenen Jugendstrafanstalten des Landes gehörte je ein Psychologe zum Personal. Eine offene Jugendstrafanstalt war unter dem Einfluß der Britischen Besatzungsmacht eingerichtet worden, hatte aber keine Ausstrahlung auf das System. - Die Entwicklung des Vollzugs wird anschaulich, wenn man die Personalvermehrung im Bezirk des Justizvollzugsamts Köln in den wichtigsten Laufbahnen betrachtet: 1970 27 8 22 30 1002 49

Höherer Vollzugs- und Verwaltungsdienst Psychologen Pädagogen Sozialarbeiter Allgemeiner Vollzugsdienst Werkdienst

1985 55 49 59 104 2530 188

Mit Hilfe dieses Personalzuwachses konnte das Justizministerium ein Einweisungsverfahren nach Behandlungsbedürfnissen 14 und ein System von schulischen und beruflichen Fortbildungsmaßnahmen 15 einrichten, die sich an den Bedürfnissen der Gefangenen orientieren. Vor allem aber gelang es in Nordrhein-Westfalen, der Vorgabe des Strafvollzugsgeset14 Altenhain, Organisation des Strafvollzuges in den einzelnen Bundesländern, in: Schwind/Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, Berlin 1976, S. 35 ff; Diepolder, Das Einweisungsverfahren nach §152 Abs. 2 StVollzG im Lande Nordrhein-Westfalen und Einwirkungsmöglichkeiten des Verteidigers darauf, ZfStrVo 1982/200 ff; Koepsel, Das Auswahlverfahren für langstrafige männliche erwachsene Gefangene in Nordrhein-Westfalen, ZfStrVo 1976/125 ff; jOers., 10 Jahre Einweisungsanstalt Hagen/Westfalen - Besondere Probleme zentraler Diagnosezentren, ZfStrVo 1982/195 ff; Thole, Die Klassifizierung der Gefangenen im Erwachsenenstrafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen, MschrKrim 1975/261 ff. 15 Justizministerium N R W : Das Berufsbildungsangebot in Justizvollzugsanstalten des Landes N R W .

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Karl Peter Rotthaus

zes entsprechend (§10), den offenen Vollzug so auszubauen, so daß heute mehr als ein Drittel der Strafgefangenen in offenen Einrichtungen untergebracht ist16. Bei der Steuerung und Koordination dieses Systems haben die Vollzugsämter wichtige Aufgaben zu erfüllen. Weitere Aufgaben der Justizvollzugsämter sind die Verteilung der Haushaltsmittel im Rahmen der Mittelzuweisung durch das Justizministerium, Verteilung der Personalstellen im Rahmen der Bezirksstellenpläne, Planung der Neubauten und der Bauunterhaltung, zentrale Beschaffung wichtiger Investitions- und Konsumgüter, Koordination des Arbeitsbetriebswesens, um eine möglichst behandlungsfreundliche und wirtschaftlich ergiebige (§37 Abs. 2 StVollzG) Beschäftigung der Gefangenen zu erreichen. Für die letztgenannten Aufgaben sind beim Vollzugsamt Köln ein Jurist, der zugleich Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Bauingenieurwesen ist, als Dezernent und ein weiterer Diplom-Ingenieur als Sachbearbeiter tätig17. Das Justizvollzugsamt als Beschwerdeinstanz Entsprechend der allgemeinen Entwicklung hat auch im Strafvollzug die Zahl der Dienstaufsichtsbeschwerden, der Widerspruchsverfahren und der Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach §§109 ff StVollzG erheblich zugenommen. Im Jahre 1960 betrug die Fallzahl im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf mit Einschluß der Eingaben an den Petitionsausschuß 120 bei einer Durchschnittsbelegung von 4782. Daraus errechnet sich eine Häufigkeitsziffer von 25 auf tausend Gefangene. Im Jahre 1984 betrug die Zahl der im Justizvollzugsamt Köln zu bearbeitenden Dienstaufsichtsbeschwerden, Widerspruchsverfahren, Anträge auf gerichtliche Entscheidungen und Petitionen 2627 bei einer Durchschnittsbelegung von 7964; das ergibt eine Häufigkeitsziffer von 335 wiederum auf tausend Gefangene. Diese Zunahme hängt weniger damit zusammen, daß Gefangene heute Mißstände im Vollzug eher beim Namen nennen. Sie ist vielmehr eine Folge der Differenzierung des Vollzuges. Gegenstand der Anträge und Eingaben sind nämlich nicht die vollzugsüblichen Beschränkungen, sondern die Nichtgewährung von Lockerungen (offener Vollzug, Ausführung, Ausgang, Urlaub, §§11-13 StVollzG), die Ablehnung von Wünschen, die den Verkehr mit der Außenwelt (§§ 24—33 StVollzG) und den Besitz von Gegenständen zur Freizeitgestaltung im weitesten Sinne (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Hörfunk, Fernsehen, Bastelwerkzeug, Sportgerät u. ä. §§68, 69, 70, 83

16 17

Justizministerium N R W (Inge Donnepp): Vgl. o. Anm. 7.

Offener Strafvollzug in N R W .

Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen

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StVollzG) zum Gegenstand haben18. Hier geht es jeweils um schwierige Ermessensentscheidungen. Den Vollzugsbehörden scheint es oftmals nicht zu gelingen, ihre Entscheidungen für die Gefangenen nachvollziehbar zu begründen. Das kann seine Ursache haben in der kaum vermeidbaren Verknappung der Begründung bei Ablehnung der massenhaft beantragten Vollzugslockerungen und sonstigen Erlaubnisse, aber auch in dem wirklichkeitsfremden Selbstbild der Gefangenen, die die Gegengründe nicht zu erkennen oder wenigstens nicht zu akzeptieren vermögen. Keine Untersuchungen zur Frage der Zweckmäßigkeit von Mittelbehörden Nach der Einrichtung der Justizvollzugsämter ist die Zweckmäßigkeit dieser Institution für die Bundesrepublik Deutschland oder einzelne Bundesländer nicht mehr untersucht worden. Es blieb bisher die Frage unbeantwortet, ob die Distanz zur Praxis, die eine Mittelbehörde für das Justizministerium bewirkt, die Arbeit der zentralen Behörde erschwert. Umgekehrt ist bisher nicht untersucht worden, welche Vorteile es für die Mittelbehörden in Nordrhein-Westfalen hat, daß sie nur einen Bezirk in der Größe des halben Vollzugssystems des Landes zu überschauen und zu steuern haben. Demgegenüber ist die zusätzliche Arbeit zu bedenken, die durch die Notwendigkeit der Abstimmung der Tätigkeit der beiden Vollzugsämter entsteht. Die beiden Amtsbezirke stellen kein abgeschlossenes, autarkes System dar, sondern sind in vielfältiger Weise aufeinander angewiesen. So befindet sich die Mehrzahl der offenen Haftplätze im westfälischen Amtsbezirk. Dort gibt es das „Pädagogische Zentrum" für das ganze Land. Die Berufsförderungsstätte im geschlossenen Bereich gehört zum rheinischen Landesteil, die des offenen Bereichs liegt in Westfalen. Die Justizvollzugsschule - Josef-Neuberger-Haus - ist in Wuppertal, also im Rheinland gelegen. Das im Aufbau befindliche zentrale Justizvollzugskrankenhaus entsteht in Fröndenberg in Westfalen. Alle diese Einrichtungen dienen dem gesamten System. Die Aufgabe der Koordination wird zum großen Teil vom Justizministerium geleistet, das manche Angelegenheiten abschließend regelt, so daß sich die Arbeit der Vollzugsämter auf die Weitergabe von Weisungen beschränkt. Außerdem müssen die Vollzugsämter in manchen Bereichen ihre Arbeit untereinander abstimmen. Als unmittelbar Betroffener kann ich zur Frage der Zweckmäßigkeit dieser Regelung kein objektives Votum abgeben. Ich neige zu der Auffassung, daß sich die heutige Organisation in Nordrhein-Westfalen bewährt hat und sehe 18

109.

Vgl. Rotthaus

(Sammelbesprechung der) Kommentare zum StVollzG, NStZ 1984,

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die Vorteile darin, daß die Ämter ihren Bezirk leichter überblicken, daß sie weniger zur Unfehlbarkeit verpflichtet sind als ein Ministerium und deshalb experimentieren und auch Fehler machen können. Im Verhältnis zum Anstaltsleiter ist der Präsident des Justizvollzugsamts eher ein älterer Kollege, so daß ein unbefangenes Gespräch möglich ist. Die Vollzugsämter stehen zudem auch weniger im Blickpunkt der Politik und sind weniger als Ministerien dem Druck politischer Strömungen ausgesetzt. Das erleichtert eine beständige und gleichmäßige Arbeit.

Die Praxis der Dienstaufsicht durch das Justizvollzugsamt Art und Umfang der Dienstaufsicht in früherer Zeit und heute durch eine große differenzierte Behörde sind kaum miteinander zu vergleichen. Der einzige Dezernent bei der Generalstaatsanwaltschaft konnte nur ein begrenztes Maß von Informationen über die Anstalten seines Bezirks verarbeiten. Die Beziehung zwischen Aufsichtsbehörde und Anstalt war durch große Distanz gekennzeichnet. Die Bereitschaft, Fehler innerhalb des Systems festzustellen und damit zuzugestehen, war geringer als heute. Interventionen der Aufsichtsbehörde waren selten. Für die Anstaltsleiter ungewöhnlich, lösten sie oft leidenschaftliche Emotionen aus. Heute dagegen gibt es einen ständigen, immer wieder auch kritischen Dialog zwischen den verschiedenen Ebenen der Vollzugsverwaltung. Das zeigen die Mappen der täglichen Posteingänge und die Abrechnungen über Fernsprech- und Telexgebühren. Die Dezernenten kennen die Anstalten, außer den Anstaltsleitern auch die leitenden Mitarbeiter und wenigstens diejenigen von den übrigen Mitarbeitern wie von den Gefangenen, die als Sorgenkinder besonderen Arbeitsaufwand verursachen. Besteht auf diese Weise aber nicht die Gefahr, daß der Dezernent sich zu sehr mit „seiner Anstalt" identifiziert, die Zustände dort kritiklos gutheißt und vielleicht sogar Hemmungen entwickelt, von ihm erkannte Mängel zu rügen. Die Besorgnis ist nicht völlig unbegründet. Sie gilt aber nicht nur für den Vollzug, da jede Aufsichtsbehörde ja auch ihre eigene Arbeit kontrolliert. Tatsächlich sind aber kritische Hinweise an die Anstalten sehr viel häufiger als früher. Außerdem lassen sich Fehlentscheidungen durch Erörterungen im Vorfeld vermeiden.

Die Dienstauf sieht durch das Justizministerium Trotzdem hält es das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen für notwendig, die Anstalten - zwar nicht wie für die Justizvollzugsämter vorgeschrieben Jahr für Jahr flächendeckend - aber doch schwerpunktmäßig zu besichtigen. Diese Besichtigungen haben eine doppelte Wirkung. Einmal bekommen Vertreter des Justizministeriums auf diese Weise einen unmittelbaren Eindruck von den Justizvollzugsan-

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stalten. Außerdem schärft die Tatsache der Besichtigungen durch das Ministerium den Blick der Beamten der Justizvollzugsämter. Die Ämter möchten nicht gern vom Ministerium auf Fehler hingewiesen werden, die sie übersehen haben. Doch gilt auch für das Justizministerium, daß es seine eigene Arbeit kontrolliert. Tendenziell möchte es seine Grundsatzentscheidungen bestätigt finden. Es mag der Zentrale nicht immer leicht fallen zu hinterfragen, ob sich in einem langwierigen Entscheidungsprozeß erarbeitete Neuregelungen wirklich bewähren und ob bewährte Regelungen bei sich schnell verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen heute noch gültig sind. Dienstaufsicht über Justizvollzugsanstalten kein Thema wissenschaftlicher Erörterungen In der zu einem breiten Strom angeschwollenen Literatur zum Strafvollzug wird das Thema der Dienstaufsicht kaum behandelt. Krebs, der jahrzehntelang den hessischen Strafvollzug leitete, hat - soweit ich sehe niemals näher über diese Tätigkeit berichtet. Auch die ihm gewidmete Festschrift würdigt ihn in dieser Rolle nicht19. In Helga Einseies Bericht über ihre Arbeit im Vollzug20 finden sich allerdings Hinweise auf ihre Beziehung zu den Aufsichtsbehörden. Ihre Erfahrungen hängen eng mit den Personen zusammen, die in für die Entwicklung ihrer Anstalt wichtigen Jahren in den Aufsichtsbehörden tätig waren: Fritz Bauer und Albert Krebs. Trotzdem ergibt sich aus ihren knappen Bemerkungen, daß sie die Neuerungen in eigener Verantwortung, unter wohlwollender Beobachtung durch die Aufsichtsbehörden einführte. Meine eigenen Erfahrungen als Leiter einer sozialtherapeutischen Anstalt waren ähnlich21. In beiden Fällen handelte es sich freilich um besondere Anstalten. Frau Einsele hatte sich das Ziel gesetzt, dem in Deutschland vernachlässigten Frauenvollzug ein eigenes menschlicheres Gesicht zu geben, die sozialtherapeutischen Anstalten haben den gesetzlichen Auftrag, neue Formen des Vollzuges zu entwickeln. Eine Aufsichtsbehörde muß dagegen alle Einrichtungen des Bezirks im Blick behalten. Die gleichmäßige kontinuierliche Entwicklung aller Anstalten wird ihr deshalb wichtiger sein als Neuerungen in einer einzelnen, wenn von vornherein feststeht, daß sie sich auf die anderen kurzfristig nicht übertragen lassen. Uberein-

19 Heinz Miiüer-Dietz (Hrsg.) Freiheitsentzug - Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung - von Albert Krebs, Berlin 1978; dort nur eine knappe Bemerkung in dem Beitrag „Lothar Frede, Leiter des Gefängnisses in Thüringen von 1912-1933" S. 242; Busch/Edel (Hrsg.) Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug, Neuwied 1969. 20 Helga Einsele / Gisela Rothe, Frauen im Strafvollzug, Reinbek 1982, S.29, 42 f, 71. 21 Rotthaus, Die Zusammenarbeit zwischen Oberbehörde und Sozialtherapeutischer Anstalt, ZfStrVo SH Sozialtherapie und Behandlungsforschung, S. 18 ff.

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stimmend findet sich in beiden Berichten die Erkenntnis, daß es möglich, aber auch notwendig ist, der Aufsichtsbehörde aufrichtig und offen zu berichten. Der Versuch, eine Anstalt gegen die Aufsichtsbehörde zu reformieren, kann nicht gelingen. Recht ausführlich, wenn auch skeptisch und kritisch, befaßt sich Koepsel in seiner Erläuterung zu § 151 StVollzG mit Fragen der Dienstaufsicht22. Er bezweifelt, daß die Aufsichtsbehörden der Verpflichtung nach Nr. 1 Abs. 1 W zu § 151 StVollzG gerecht werden können, „stets über den gesamten Vollzug unterrichtet" zu bleiben. Zum Beleg kann er in schonender Zurückhaltung darauf hinweisen, „daß die Aufsichtsbehörden von deutlichen Fehlentwicklungen im Vollzug ( z . B . Hamburg, Köln, Mannheim) stets ,überrascht' wurden" 23 . Böhm empfiehlt den Aufsichtsbehörden Zurückhaltung und Beschränkung „auf die Rahmenplanung und Globalsteuerung" des Vollzuges. Er stellt dabei die Frage, „ob es zulässig und richtig ist, wenn Nr. 4 W zu § 11 und Nr. 7 Abs. 3 zu § 1 3 Lockerungen und Urlaub bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten von der Zustimmung der Aufsichtsbehörde abhängig machen" 24 . Die Rechtsfrage ist inzwischen hinreichend geklärt. Die Aufsichtsbehörde hat kein „Selbsteintrittsrecht", kann also nicht anstelle des Anstaltsleiters handeln, wohl aber diesen anweisen, in einem bestimmten Sinne zu entscheiden (Durchgriffsrecht) 25 . Diese Differenzierung hat eher prozessuale Bedeutung für die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer. Sachlich ist die Frage zu beantworten, ob das von Böhm abgelehnte Erfordernis der Zustimmung der Aufsichtsbehörde, das im Wege von Richtlinien in Nordrhein-Westfalen noch auf weitere Risikogruppen von Gefangenen ausgedehnt wurde, sinnvoll zu begründen ist. Dabei ist zunächst einzuräumen, daß Aufsichtsbehörden die Zweckmäßigkeit von einzelnen Behandlungsmaßnahmen aus der Ferne weniger gut beurteilen können als die Behandler in der Anstalt, die den Gefangenen persönlich kennen. Die durch das Zustimmungserfordernis bewirkte Kontrolle kann die Anstalt aber dazu zwingen, ihre Entscheidung sorgfältig abzuwägen und zu begründen. Die Verteilung der Verantwortung auf mehrere Schultern bedeutet zugleich einen Schutz des Anstaltsleiters gegenüber Angriffen der Öffentlichkeit bei Fehlschlägen von Lockerungen. Eine sachliche Hilfe kann die Regelung in den Fällen sein, wo die Behandler durch den Gefangenen unter Druck gesetzt werden oder wo sie sich selbst unter Erfolgszwang setzen, wenn z . B . frühe Lockerungen als Behandlungserfolg mißverstanden werden. 22 23 24 25

in: Schwind/Böhm (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz. Rdn.8 zu §151. Böhm, Strafvollzug, Frankfurt 1979, S. 42. Koepsel a.a.O. Rdn.5 zu §97, Rnd.2 vor §§151 ff.

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Die Schwierigkeit, Behandlung zu beaufsichtigen Zwischen nachgeordneten Behörden und Aufsichtsbehörden besteht ein natürliches Spannungsverhältnis. Nachgeordnete Behörden halten die aufsichtliche Tätigkeit meist für entbehrlich, während Aufsichtsbehörden immer wieder bestätigt finden, daß sie durch ihre Intervention das Schlimmste gerade noch verhindern konnten. Die Spannungen verschärfen sich, wenn die Arbeit der beiden Ebenen unterschiedliche Inhalte hat. Die Vollzugsanstalten sind hier neben Schulen ein typisches Beispiel, sie haben es eher mit Menschenbehandlung, die Aufsichtsbehörden eher mit Aktenvorgängen zu tun. Koepsel spricht deshalb von einem „Unbehagen hinsichtlich der Tätigkeit der Aufsichtsbehörden", das bei einem großen Teil der Bediensteten in den Justizvollzugsanstalten vorhanden sei und das er auf grundlegende Strukturmängel der Aufsichtsbehörden, die Vorherrschaft juristischer Kontrolle und die Vernachlässigung helfender Fachberatung, zurückführt 26 . Ich zögere, dieser Annahme zuzustimmen. Als Anstaltsleiter habe ich mich zwar ebenfalls öfter erfolglos um Hilfen durch die Aufsichtsbehörde bemüht. Im Nachhinein kam ich dann meist zu dem Ergebnis, daß es richtiger war, die Lösung auf der Ebene der Anstalt zu suchen. Freilich gibt es in den Anstalten - besonders in denen, die sich auf therapeutische Behandlung hin orientieren - Konflikte, die sich intern nicht lösen lassen. Es treten dort störende Interaktionen auf zwischen den beteiligten Personen - Leiter, Mitarbeiter und Gefangenen - , die so fein gesponnen sind, daß sie sich von der Leitung nicht klären lassen. Hier kann, weil Amtsautorität hinderlich ist, auch ein Fachberater der Aufsichtsbehörde nicht helfen. Das Team der Anstalt braucht Supervisión, eine fachliche Beratung von außerhalb des Behördensystems 27 . Die parlamentarische Verantwortung für den Strafvollzug Obwohl die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten vielschichtig und schwierig ist, kommt ein Verzicht auf sie und die Beschränkung der Kontrolle auf den Rechtsweg nach § 109 StVollzG nicht in Betracht. Das ergibt sich aus § 151 Abs. 1 StVollzG, der den Landesjustizverwaltungen diese Aufgabe überträgt, aber auch aus der parlamentarischen Verantwortung des Ministers für sein Ressort nach Art. 55 Abs. 2 LV NW 28 . 26 a.a.O. Rdn. 20 zu § 151; Zu demselben Ergebnis kommt das ,Committee of Inquiry into the United Kingdom Prison Services' in dem sogenannten May-Report, London 1979,

S. 75 f f :

many ofthose employed in the Service feel a deep sense of dissatisfaction grown

up hetween the establishments in the field on the one hand and headquarters at the Home O f f i c e in London on the other" (S. 76). 27 Driehold u.a., Die Sozialtherapeutische Anstalt, Göttingen 1984, S.94ff. 28 Rotthaus in: Schwind/Böhm, Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, Rdn. 6 zu §156.

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Diese verfassungsmäßige Vorgabe ist eine Realität, nicht eine bloß theoretische Möglichkeit. Ein Gefängnisskandal kann den Chef der Justizverwaltung eines Bundeslandes nach den Erfahrungen der Vergangenheit eher gefährden als fehlerhafte Tätigkeit der Anklagebehörden. Die Schwierigkeit und Vielschichtigkeit des Problems steht in merkwürdigem Gegensatz zu seiner spärlichen Behandlung in der Literatur. Die streitigen Erörterungen in der Strafvollzugskommission beschränkten sich im wesentlichen auf die Frage, ob es einer Mittelbehörde bedürfe und ob es geboten sei, die in den preußischen Nachfolge-Ländern überkommene Eingliederung der Vollzugsämter in die Generalstaatsanwaltschaften aufzugeben. Die Tagungsberichte2' vermitteln den Eindruck eines Schlagabtausches unter Juristen. Obwohl es auch damals Länder mit und ohne Mittelbehörde gab, werden die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Organisation von Aufsicht nicht deutlich. Gewiß, der Untersuchungsgegenstand ist schwierig, doch zeigt der Bericht der Mzj-Kommission, daß er sich untersuchen und darstellen läßt. Die Untersuchungskommission hat die Mängel der Tätigkeit der zentralen englischen Aufsichtsbehörde anschaulich dargestellt und äußerst kritisch gewürdigt30. Reformvorschläge beginnen folgerichtig mit Anregungen für eine neue Organisation der Aufsichtsbehörden, unter denen als eine mögliche Lösung die Empfehlung einer Stärkung der Mittelinstanzen, der Regional Offices, bemerkenswert ist31. Die Dienstaufsicht durch eine unabhängige Stelle Verfolgt man den Gedanken, daß eine unabhängige Stelle den Vollzug beaufsichtigen soll, konsequent weiter, so gelangt man zu der Forderung, die Besichtigung der Justizvollzugsanstalten - nach englischem Vorbild - einem Chef-Inspekteur des Vollzugswesens zu übertragen. Auf diese Weise lassen sich Vollzugsgestaltung und Kontrolle vollständig trennen. Der Chef-Inspekteur muß dann nach Qualifikation und Besoldung dem Leiter der Vollzugsabteilung gleichstehen und wie dieser Zugang zum Minister haben32. Damit der Chef-Inspekteur die Anstalten wirksam kontrollieren und Anregungen für die Fortentwicklung des Vollzuges geben kann, muß er mit seinen Mitarbeitern einen großen Teil der Informationen verarbeiten, die von der Vollzugsabteilung bereitgehalten werden. Diese Organisation der Aufsicht ist sehr aufwendig und deshalb nicht empfehlenswert. Eine andere Lösung, die eine unabhän-

29

Anm.l.

50

Anm. 26, Kap. 5 Organisation S. 74 ff. a.a.O. S. 99 Nr. 573. a.a.O. S. 92 ff.

31 32

Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen

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gige Kontrolle sicherstellt, ist die unter anderem von K e r n e t vorgeschlagene Einführung eines Ombudsmans für das Vollzugswesen. Auch eine solche Erweiterung des Kontrollsystems wäre jedoch mit erheblichem zusätzlichen Aufwand verbunden. Zur Zeit befassen sich in Nordrhein-Westfalen bereits zwei parlamentarische Ausschüsse, der Eingabenausschuß und der Rechtsausschuß, regelmäßig mit Vollzugsangelegenheiten. Die Einführung eines Ombudsmans, eines parlamentarischen Beauftragten für den Vollzug, erscheint mir deshalb nur dann sinnvoll, wenn bei ihm die parlamentarische Behandlung von Einzelfragen aus diesem Sachgebiet zusammengefaßt würde. Eine entsprechende Ausgestaltung des verfassungsmäßig garantierten Petitionsrechts dürfte durch Gesetz möglich sein, wenn die abschließende Behandlung der an die Volksvertretung gerichteten Eingaben durch diese sichergestellt bleibt und der Ombudsman insoweit nur Vorarbeit leistet. Es wären freilich große organisatorische Umschichtungen erforderlich, die den Abschied von vertrauten und in der Praxis bewährten Einrichtungen und Verfahrensweisen bedeuten. Doch sollte die erfolgreiche Arbeit des Wehrbeauftragten dazu ermutigen, über diese Möglichkeiten nachzudenken.

Ausblick Die vorstehenden Überlegungen sind zwangsläufig fragmentarisch, weil es an Vorarbeiten fehlt. Die Regelung der Dienstaufsicht im Justizvollzug ist aber keine bedeutungslose Randerscheinung, sie verdient die Aufmerksamkeit empirischer Untersuchung und kritische Würdigung. Zum einen ist die bestmögliche Nutzung der beschränkten personellen und sachlichen Mittel im Vollzug von einer planmäßigen überörtlichen Steuerung abhängig. Zum anderen hat die Aufsichtsbehörde den gesetzlichen Auftrag, die Respektierung der Rechte der Gefangenen zu gewährleisten.

33 Kerner, in: Kaiser/Kerner/Schöch, R d n . 5 , §12 Rdn.10.

Strafvollzug, 3. Aufl., Heidelberg

1982,

§8

IV. Strafrecht

Die integrierende Lehre vom Tatbestand I G O R ANDREJEW

I. Karl Peters hat einmal darauf verwiesen, daß die Lehre vom materiellen Strafrecht sich immer mehr von den Prozeßfragen entfernt1. Dies bezieht sich vorab auf die deutsche Wissenschaft. Aber es betrifft ebenfalls die Theorie des Strafrechts in allen Ländern Osteuropas, wo sich der Einfluß der deutschen Doktrin geltend machte, darunter auch in Polen, wo ich diese Gedanken niederschreibe2. Die Zersplitterung der Lehre vom Strafrecht in zwei Disziplinen (und sogar in drei, wenn der Strafvollzug hinzukommt) tritt durch die Gründung getrennter Lehrstühle mit Fachkundigen, die wenig Interesse daran finden, was in Nachbardisziplinen vor sich geht, immer mehr in Erscheinung. Zwischen der Lehre vom materiellen Recht und der Lehre vom Prozeß kam es zur Spaltung, die die Grenzen einer vernünftigen Spezialisierung bei weitem überschreitet. Es sei daran erinnert, daß viele strafrechtliche Probleme nicht gehörig beleuchtet werden können, falls ihren sowohl prozessualen als auch materiellen Aspekten nicht gebührende Beachtung geschenkt wird. Zahlreiche Beispiele liefert die Fachliteratur aus verschiedenen Ländern. Es fällt aber auch nicht schwer, Beispiele für die integrierende Erfassung vieler Institutionen zu finden. Ein hervorragendes Vorbild eines solchen Herangehens an die Institution des Strafrechts liefert das Schaffen von Hilde Kaufmann, und ganz besonders ihre Monographie „Strafanspruch - Strafklagrecht", herausgegeben 1968 in Göttingen. In letzter Zeit trat ein weitergehendes Phänomen zutage, nämlich das integrierende Herangehen nicht nur an die einzelnen Institutionen, sondern auch an die allgemeinen Hauptbegriffe des Strafrechts wie Verbrechen, Handlung, Schuld, Strafe. Man kann die Feststellung wagen, daß es bereits Anzeichen einer Wende in der strafrechtlichen 1 K.Peters: Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, 1963 („Recht und Staat"). 2 Das Problem der Desintegration der Lehre vom materiellen und prozessualen Strafrecht habe ich in einem Aufsatz unter diesem Titel in der poln. Monatsschrift „Staat und Recht" 12/1984 behandelt.

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Igor Andrejew

Denkweise sind3. Wir lassen uns nicht mehr mit der Behandlung des Strafrechts als einer Gesamtheit von Gedanken- oder Seinsstrukturen zufriedenstellen. Wir wollen wissen, wie Bestimmungen und Institutionen dieses Rechts funktionieren, wie und mit welchem Erfolg sie angewendet werden. Ein solches Herangehen ließe sich als dynamisch bzw. dialektisch bezeichnen, unter Berücksichtigung dessen, daß es mit der prozessualen Praxis eine Bindung nicht nur im Sinne des Inhalts von rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, sondern auch im Sinne des Weges, den die Entscheidung im Strafverfahren durchläuft, bevor sie rechtskräftig wird, aufweist. Ein Beispiel für ein solches Herangehen ist die Theorie des gesetzlichen Straftatbestands, die die Aspekte des materiellen und des prozessualen Rechts integriert, kurzum - die integrierende Theorie des Straftatbestands. Die Grundthese dieser Theorie lautet: Der gesetzliche Tatbestand bestimmt, worin der Deliktstypus dieser oder jener Art besteht; somit bestimmt er, welche Sachverhalte im Strafverfahren zu beweisen sind, sollte die Verurteilung wegen eines solchen Delikts erfolgen. Dieser Beweisaspekt der Tatbestandsmerkmale ist in Betracht zu ziehen, sowohl dann, wenn es um die Formulierung des Begriffs des gesetzlichen Tatbestands geht, als auch dann, wenn die Gesetzgebungspraxis untersucht wird, die in der Formulierung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale besteht, und letztlich auch dann, wenn die Anwendung der Strafrechtsvorschriften in der Praxis der Verfolgungs- und Justizorgane unter die Lupe genommen wird4.

3 Vgl. K. Lüderssen, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Beweisrechts, ZStW 85 (1973). W.Naucke: Grundlinien einer rechtsstaatlich-praktischen allgemeinen Straftatlehre, 1979. H.Jäger, Subjektive Verbrechensmerkmale als Gegenstand psychologischer Wahrheitsfindung, in: Kriminologie im Strafprozeß, 1980. G.Arzt, Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten auf das materielle Strafrecht, in: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, 1980. K. Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß, 1984. 4 Die Konzeption solcher integrierenden Lehre vom Tatbestand wurde in der Monographie von I. Andrejew, Gesetzliche Tatbestandsmerkmale, Warschau 1959, umrissen. In der Zusammenfassung dieses Buches in deutscher Sprache (S. 259) sind folgende Sätze zu finden: „Die gesetzlichen Merkmale bestimmen, welche Eigenschaften ein Ausschnitt der konkreten Wirklichkeit aufweisen muß, um als ein Verbrechen (Vergehen) gemäß dieser oder jener Vorschrift des Strafgesetzes qualifiziert werden zu können." „In der Praxis besteht die Bedeutung der Merkmale einer Straftat darin, daß sie im Strafgerichtsverfahren bewiesen werden müssen." Vgl. denselben Autor: Erkennung des Tatbestands (poln.), Warschau 1968. Zur Integrierung der Lehre vom materiellen Recht mit den Prozeßproblemen vgl. auch I. Andrejew, Entwicklung der Lehre vom Tatbestand des Verbrechens in sozialistischen Ländern, Archivum Iuridicum Cracoviense, Vol. X I X / X V . Text der ursprünglich am 27.10.1978 im Max-Planck-Institut in Freiburg gehaltenen Vorlesung.

Integrierende Lehre vom Tatbestand

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II. Auf der erwähnten Grundthese fußend, gelangt man zur Stellungnahme zu zahlreichen, in der Vergangenheit des öfteren umstrittenen Fragen. Es fällt z.B. der Begriff des allgemeinen Tatbestands ab, der noch im XIX. Jahrhundert so lebhaft erörtert wurde. Heute wird nur vom besonderen Tatbestand gesprochen, d. h. von den nach der gesetzlichen Bestimmung der erkennbaren Straftat zu beweisenden Sachverhalten. Dieser Begriff ist nötig sowohl in der Rechtssetzung wie auch in der Rechtsanwendung. Sein Hauptanliegen ist eine derartige Sensibilisierung des Gesetzgebers auf die Formulierung des von ihm zu verabschiedenden Gesetzes, daß diese auf den Umfang der Designate nach Möglichkeit eindeutig hinweist. Der gesetzliche Tatbestand ist für denjenigen verbindlich, der ihn im konkreten Tatgeschehen erkennt. Wichtig ist für beide, sich im klaren zu sein über den Unterschied zwischen den im Sinne des Gesetzes feststellbaren Wirklichkeitsmerkmalen und anderen Tatsachen, die womöglich ebenfalls sehr bedeutend, aber im Gesetz nicht bestimmt sind. Aus der Grundthese ergibt sich, daß Rechtswidrigkeit und Schuld zum Tatbestand nicht gehören. Rechtswidrigkeit und Schuld werden indirekt festgestellt, indem der gesetzliche Tatbestand festgestellt wird, falls zugleich Umstände, die die Rechtswidrigkeit (z. B. Notwehr) oder Schuld (z. B. Befehl des Vorgesetzten) ausschließen, nicht nachzuweisen sind. In diesem Zusammenhang sei die Konzeption der sog. negativen Tatbestandsmerkmale erwähnt, die in der Fachliteratur zu Recht kritisiert wird 5 . Die Rechtswidrigkeit und Schuld ausschließenden Gründe werden nur in bestimmten Fällen erkannt, die Tatbestandsmerkmale immer. Die Bewußtmachung des Situationsunterschiedes, wann die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale zu beweisen sind und wann die Umstände, die Rechtswidrigkeit und Schuld ausschließen, verweist auf die Unverhältnismäßigkeit zwischen der praktischen Bedeutung des Tatbestandes und diesen Sonderumständen. Diese UnVerhältnismäßigkeit wird spürbar, wenn man bestrebt ist, in der verbreiteten deutschen Triade Tatbestand - Rechtswidrigkeit - Schuld die aufeinander folgenden Phasen der Verbrechenserkennung zu sehen. Meistens nämlich kommt der Nachweis der Verwirklichung des Tatbestandes der Feststellung der Tatrechtswidrigkeit und Täterschuld gleich. In der Praxis erfolgt der

5 Vgl. die wissenschaftliche Kritik an dieser Konzeption in der Monographie von H.J. Hirsch: Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960.

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Igor Andrejew

Schuldnachweis gleichzeitig mit der dem betreffenden Menschen6 zugerechneten Tatbestandsverwirklichung. Es ließe sich die Frage stellen, ob unter dem gesetzlichen Tatbestand lediglich die äußerliche Charakteristik der Strafhandlung zu verstehen wäre, oder auch die dem Täter zuzumutenden psychischen Tatsachen. Es dürfte keinen Zweifel geben, daß zu den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen diejenigen gehören, die die in den Sonderbestimmungen des Gesetzbuches verankerten psychischen Tatsachen bestimmen, z.B. Zueignungsabsicht nach §242 StGB der Bundesrepublik Deutschland. Wenn es hingegen um allgemeine Formeln geht, die dolus und sonstige sog. Schuldformen charakterisieren, so sei betont, daß sie nicht in jedem Rechtssystem gesetzlich bestimmt sind. Ohne weiter zu greifen: Solche allgemeinen Formeln sind im österreichischen Strafgesetzbuch (§§5, 6) verankert, nicht aber im StGB der Bundesrepublik Deutschland, wo ihre Bestimmung der Rechtsprechung und der Doktrin überlassen ist. Der Unterschied in den Gesetzbüchern dürfte nach dem Grundsatz, daß die Funktion des gesetzlichen Tatbestands in der Sensibilisierung auf das Gesetz liegt, keinesfalls übergangen werden. Weiter: Falls in den Vorschriften des Gesetzbuches die Bestimmung der sog. Schuldformen verankert ist, gibt es keinen Grund dafür, von den Tatbestandsmerkmalen solche auszuschließen, die sich aus derartiger Bestimmung in Verknüpfung mit der Bestimmung der äußerlichen Deliktseite ergeben. Daß die Bestimmungen der Schuldform „vor die Klammer", die den besonderen Teil des Gesetzbuches umfaßt, gesetzt werden, gehört zur legislativen Technik, die nicht darüber zu entscheiden hat, ob eine Tatsache Tatbestandsmerkmal ist, sofern diese Tatsachen im Strafverfahren zu beweisen sind. Die Tatbestandsmerkmale sind ein dankbarer Gegenstand der Klassifizierung. Man kann sie in zahlreiche Arten gliedern. Vom Standpunkt der Straftatbestimmtheit aus dürfte am wesentlichsten die Gliederung in scharf umrissene Merkmale sein und in jene, die flexibler umrissen sind, je nach Einschätzung der deutenden bzw. gesetzanwendenden Person. Eine solche Gliederung ist selbstverständlich relativ: selbst ein anscheinend am schärfsten umrissenes Merkmal wie z.B. „Mensch" (der in der Regel in der Vorschrift über Tötung vorkommt) hört auf, scharf zu sein, wenn es um die Grenze zwischen „Mensch" und „Leibesfrucht" geht. 6

In dieser Wahrnehmung dürfte man eine Art Anlehnung an die verklungene psychologische Schuldtheorie sehen. Dies wäre allerdings nur scheinbar. Der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes ist für das prozessuale Verständnis der Schuld als Vorwerfbarkeit der Tat, die die gesetzlichen einer konkreten Person zugerechneten Tatbestandsmerkmale verwirklicht. Gemeinsam mit sog. die Schuld ausschließenden Umständen entfällt die Vorwerfbarkeit der zugerechneten Tat.

Integrierende Lehre v o m Tatbestand

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Im Hinblick auf den vom Tatbestand erfaßten Stoffumfang sind solche Merkmale auszusondern, die das Schutzobjekt bestimmen, andere, die die äußerliche Seite der Straftat, ferner solche, die deren Subjekt, und nicht zuletzt solche, die dessen psychische Seite umreißen. Während das Schutzobjekt nicht immer im Gesetz bestimmt wird (in der Vorschrift selbst bzw. im Gesetztitel), werden andere Merkmalsarten in der Regel mehr oder weniger bestimmt. III. Die Verbindung des Tatbestands mit der Praxis umfaßt sowohl die Gesetzgebungspraxis als auch die Strafverfolgungs- und Justizpraxis. In der Gesetzgebungspraxis macht sich dieser Zusammenhang bei der Typisierung der Straftat, d. h. bei der Wahl der Tatbestandsmerkmale zur Beschreibung der Straftat bemerkbar. In der Strafverfolgungs- und Justizpraxis erfolgt die Erkennung des gesetzlichen Tatbestandes im konkreten Ereignis. Diese Erkennung beruht auf der Subsumtion der Tat unter die Vorschrift des Strafgesetzes, oder - wird der Fall nicht von der Seite des Gesetzes, sondern des konkreten Tatgeschehens her betrachtet - auch auf der Zuordnung der Tat zum Tatbestand. Die Subsumtion oder eine solche Zuordnung wird auch in anderen Sprachen die juridische Qualifizierung der Tat genannt7. Um Mißverständnisse zu vermeiden, werde ich die Termini Typisierung und Subsumtion gebrauchen. Die Fragen der Typisierung sind recht unterschiedlich. An Beispielen der Gesetzgebung in verschiedenen Ländern könnte man Wahrnehmungen sammeln, welche Argumente verwendet werden, um diese oder jene Erfassung der Deliktstypisierung zu verwenden, z . B . bei Totschlag, Körperverletzung, Diebstahl, Betrug, Erschleichung einer Leistung und ähnliches mehr. Im vorliegenden Aufsatz gibt es allerdings keinen Platz für solche allgemeinen Bemerkungen 8 . Indessen halte ich es für angebracht, zwei wesentliche Voraussetzungen für eine gute Typisierung hervorzuheben: zum ersten - die Typisierung hat darauf zu verweisen, worin das Verbrechen besteht; und zum anderen - die Straftat soll so bestimmt werden, daß die Beweisführung in einem redlich durchgeführten Strafverfahren möglich ist. 7 Das W o r t Qualifikation wird in diesem Sinne unter anderem in französischer und polnischer Sprache verwendet. In deutscher Sprache dagegen wird das W o r t Qualifizierung, wie es scheint, lediglich im Sinne des qualifizierten Typus, d . h . eines mit einer strengeren Strafe im Hinblick auf zusätzliche Merkmale im Vergleich zum Grundtypus bedrohten Deliktstypus gebraucht.

' Dieser Fragenkreis verfügt über eine umfangreiche Fachliteratur zu einzelnen Deliktsarten. Vgl. z. B. A. Eser zur Abgrenzung von Mord, Totschlag und Kindestötung in seinem Gutachten D zum 53. Deutschen Juristentag, 1980.

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Die theoretische Erarbeitung der Typisierung schafft Grundlagen für die Einschätzung der Deliktstypen aus der Sicht ihrer Bestimmtheit. Nebst den gebührendermaßen bestimmten und sogar übertrieben steifen Deliktstypen kommen mittlerweile sehr flexible und manchmal gar ungenügend bestimmte vor. Somit gibt es traditionelle, aus der Vergangenheit ererbte und gegebenenfalls so an Interpretation reich gewordene Deliktstypen, daß der Umfang ihrer Designate keinem Zweifel unterliegt. Selbstverständlich kann sich der Umfang dieser Typen je nach Bedarf der Strafpolitik verändern. Es kommen neue Typen hinzu, deren Umfang wenig überschaubar und deren Interpretation noch nicht festgelegt ist. Offensichtlich sind in der Strafgesetzgebung eines jeden Landes Beispiele für unterschiedlich bestimmte Deliktstypen zu finden. Diese Beispiele dürften zu der Überlegung bewegen, welche die Ursachen für eine derart unterschiedliche Bestimmtheit sind. Sie kann sich aus politischen Gründen ergeben, aber die Ursachen dafür können auch in ungenauer Arbeit oder in den eigenartigen Schwierigkeiten, die bei der Typisierung auftreten, liegen. Diese Schwierigkeiten haben zur Folge, daß die Verfasser der Gesetze, um der übertriebenen Kasuistik nicht zu verfallen, auf die Bestimmung der Folge als Tatbestandsmerkmal einer vollendeten Tat verzichten. Fällt die synthetische Erfassung der Tatfolge schwer oder ist es nicht völlig klar, worauf die Straftatschädlichkeit beruht, wenn die Tatauswirkung im Bereiche der feinfühligen, in der Rechtssprache schwerlich auszudrückenden Empfindlichkeit des Geschädigten liegt, kann der Gesetzgeber dazu greifen, die Straftat als ein formelles oder ein Gefährdungsdelikt zu erfassen 9 . Geht es um die zweite Voraussetzung, so kann festgestellt werden, daß für ihre Erfüllung die Gründer der Strafgesetzbücher sorgten, sie war auch die Anregung zur Entstehung mancher Vorschriften. Ein klassisches Beispiel für den Deliktstypus, der in das Gesetzbuch in Voraussicht der Schwierigkeiten bei der Uberführung eines Hehlers, daß er sich dessen bewußt war, daß die von ihm erworbenen Güter vom Verbrechen herrühren, eingeführt wurde, ist die fahrlässige Hehlerei. Die Typisierung ist gleichbedeutend mit der Kriminalisierung im Sinne der Entscheidung der Staatsmacht, deren Inhalt die Bestimmung einer Verhaltensweise als Verbrechen oder Vergehen ist. Aber Typisierung und Kriminalisierung sind keine Synonyme. Ein neues Gesetz kann eine Tat, bereits als Straftat bezeichnet, typisieren, aber es kann auch anders typisieren. Es kann die mehr kasuistischen Bestimmungen durch eine mehr synthetische Vorschrift ersetzen. U n d umgekehrt: Die einen weiteren Kreis von Designaten umfassende Vorschrift kann durch eine ' Vgl. L. Gardocki, Vereinfachte Typisierungsformen, in der Sammlung „Probleme der Straftatentypisierung", Warschauer Universität „Studia Iuridica", Vol. 10/1982.

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mehr kasuistische Typisierung ersetzt werden. Mit anderen Worten: Die Typisierung (oder Enttypisierung) kann mit neuer Kriminalisierung (oder Entkriminalisierung) in Erscheinung treten; dies kann allerdings auch bei nicht veränderter Kriminalisierung geschehen. Welche sind die häufigsten Gründe für eine neue Typisierung? Einige dieser Gründe lassen sich verhältnismäßig leicht anführen. Natürlicherweise kann zu solchen Ursachen die Entscheidung über eine neue Kriminalisierung gehören. Aber die Aussonderung einer Tatgruppe in Form eines neuen Deliktstypus kann sich auch aus der (wirklichen oder angeblichen) Notwendigkeit ergeben, in der Rechtsprechungspraxis eine besondere Deliktsart zu verdeutlichen und deren härtere (oder mildere) Strafbarkeit herbeizuführen, sowie nicht zuletzt aus der Notwendigkeit heraus, diese Tatgruppe mit einer gesonderten juridischen Zuordnung zu erfassen sowie sie in Statistiken, Repertorien usw. einzutragen. Die Strafgesetzgebung Kontinentaleuropas ist heutzutage im allgemeinen mehr synthetisch als vor zwei oder anderthalb Jahrhunderten. In der Strafrechtsdoktrin wurde seinerzeit eine umfangreiche Argumentation gegen die übermäßige Kasuistik der Strafgesetzbücher entwickelt. Heute kommen auch umgekehrte Vorgänge vor, zumal manche Deliktstypen schwerlich synthetisch erfaßbar sind und dadurch entweder in einige parallele bzw. qualifizierte und privilegierte Deliktstypen gegliedert sind, oder auch sie werden in einer gesetzlichen Vorschrift mit alternativ bestimmten Tatbestandsmerkmalen verankert. Das bundesdeutsche Gesetzbuch von 1975 hat noch eine Typisierungsart aufgenommen: sog. Regelbeispiele besonders schwerer Fälle. Aus Platzmangel kann ich mich nicht in eine detaillierte Einschätzung dieses Typisierungsverfahrens einlassen.

IV. Die Klarheit über die Zusammenhänge zwischen Straftattypizität und der Erkennungspraxis der Tatbestandsmerkmale, die durch die Tatzuordnung zur Gesetzesvorschrift gekrönt wird, läßt eine nüchternere Einsicht in das Funktionieren dieser Typizität und der sie bildenden Merkmale zu. Heute begnügen wir uns nicht mehr mit der Feststellung, daß die Subsumtion sich auf den Syllogismus zurückführen läßt. Wir interessieren uns für den Subsumtionsmechanismus, d. h. für die komplizierten Denktätigkeiten, die letzten Endes darauf schließen lassen, daß eine bestimmte Straftat begangen worden ist. Und in diesem Denkoperationenablauf kompliziert ist sowohl die Wahl der Vorschrift wie auch die Klarstellung des Sachverhalts, wobei, ähnlich wie die Vorschriftswahl mit der fortschreitenden Erkenntnis des Sachverhalts erfolgt, es zur Präzisierung des Sachverhalts kommt, oder mit anderen

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Worten zu dessen vereinfachter Beschreibung unter dem Blickwinkel einer oder mehrerer Vorschriften, die die Straftat bestimmen. Wir können sagen, daß die Straftatzuordnung eine solche Annäherung der Gesetzesvorschrift und der vereinfachten Tatgeschehensbeschreibung bedeutet, daß die beiden Elemente (Vorschrift und Beschreibung) so sehr einander entsprechen, daß die in beiden verwendeten Wörter Synonyme oder gar die gleichen sind. Der enge Rahmen meines Referats erlaubt mir nicht, die Problematik der juridischen Zuordnung zum gesetzlichen Tatbestand weiterzuentwickeln. Ihr Bereich ist äußerst umfangreich. Sie betrifft sowohl die Eigenart der Erkennung verschiedener Tatbestandskategorien wie auch die Unterschiede bei ihrer Erkennung in den aufeinander folgenden Phasen des Strafverfahrens. Einen besonderen Platz in der Zuordnungstheorie nehmen die Sonderarten der Subsumtion in Fällen sogenannter Idealkonkurrenz ein oder wenn die Zulässigkeit der Wahlfeststellung erwogen wird. Bemerkenswert ist ebenfalls eine merkwürdige Erscheinung, die ich „Abgleiten" der Subsumtion von der strengeren Vorschrift auf eine mildere nenne, die scheinbar u. a. dazu bestünde, um die Anwendung zu finden, wenn das Ausschöpfen der in der strengeren Vorschrift bestimmten Tatbestandsmerkmale nicht zu beweisen ist10. Vom umfassenden Fragenkreis des Subsumtionsumfangs möchte ich noch ein Problem herausgreifen, das bereits in der Fachliteratur reichlich behandelt wurde 11 ; es geht nämlich um die Erkennung der psychischen Vorgänge, die das ausmachen, was im Strafrecht mit Schuldformen bezeichnet wird, folglich vor allem Vorsatz (dolus), im konkreten Tatgeschehen. Die Feststellung psychischer Vorgänge bei einem anderen Menschen erfolgt aufgrund äußerer Tatsachen, zu denen auch die Äußerungen des Täters selbst gehören. Doch diese Aussagen können unaufrichtig sein, und manchmal ist auch der Einzelmensch nicht imstande festzustellen, welche psychischen Vorgänge sein Verhalten begleitet haben. In diesem Zusammenhang sei eines hervorgehoben. Wenn wir die mit dem Verhalten des Täters einhergehenden psychischen Vorgänge (richtiger wäre zu sagen: Wenn wir dem Täter zumuten, daß in seiner Psychik zur Tatzeit bestimmte Vorgänge aufgetreten sind) bestimmen, beziehen wir diese Vorgänge auf konkrete äußerliche Tatsachen, in denen wir die Verwirklichung der äußeren Seite der Straftat wahrnehmen. Diese Feststellung, vielleicht banal, bildet den Ausgangspunkt zu Erwägungen

10 Die Vorschrift, auf die die Qualifizierung gewöhnlich „abgleitet", hat in der deutschen Doktrin - wie ich erfahren habe - die Benennung Auffangtatbestand. 11 Angefangen mit W. Platzgummer: Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964.

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über psychische Vorgänge, die zu unterschiedlichen Abarten des dolus gehören. Gegenüber der äußeren Wirklichkeit verwendet der Täter in der Regel keinesfalls den Wortlaut des Strafgesetzes, in der Tatzeit vermag er diese Wirklichkeit sogar überhaupt nicht zu verbalisieren. Es genügt, daß er sich über diese Wirklichkeitsmerkmale im klaren ist, in denen der Richter die Verwirklichung des Deliktstypus sieht. Dies dehnt sich auf sämtliche Wirklichkeitsmerkmale aus, nicht nur auf diejenigen, welche im Gesetz in der spezifischen Rechtssprache ausgedrückt werden, wie z. B. „ U r k u n d e " oder „Beamte" 1 2 . Wer eine Uhr stiehlt, muß die auszuführenden Handlungen nicht unbedingt verbalisieren, denn der Einzelne denkt in seinem Handeln mit Konkreten. In seinem Bewußtsein dürfte sogar das Wort „Sache" überhaupt nicht erscheinen, der Täter dürfte es sogar nicht „ U h r " genannt haben, aber wenn er sich bewußt ist, daß „das", was er nimmt, irgendwelchen Wert darstellt und ihm nicht gehört, dann können wir sagen, daß sein Verhalten von psychischen Vorgängen begleitet wurde, die den dolus ausmachen. Die Feststellung, daß das psychische Verhältnis des Täters sich nicht auf den Gesetzestext, sondern auf die Wirklichkeit ausrichtet, die diesem Text entspricht, kann Zweifel klären, falls bei der Tatbeschreibung Zahlen vorkommen (z. B. § 176 I S t G B der Bundesrepublik Deutschland).

V. Die Lehre vom Tatbestand konzentriert sich folglich nicht nur auf den Begriff der Tatbestandsmerkmale selbst, auf deren Umfang und Arten, sondern sie dehnt sich ebenfalls auf den umfangreichen Fragenkreis der gesetzlichen Typisierung der Straftat als Gesamtheit intellektueller Tätigkeiten und als deren Ergebnis aus; sie umfaßt ferner die Anpassungspraxis der die Straftat bestimmenden Vorschriften an die konkrete Wirklichkeit. Von einer solchen Lehre darf gesagt werden, daß sie die rechtsmateriellen und prozessualen Aspekte des gesetzlichen Tatbestands integriert.

12 Daher ist die Formulierung „die Parallelwertung in der Laiensphäre" der Wirklichkeit nicht adäquat, denn sie bezieht sich auf die bei weitem allgemeineren Vorgänge.

Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz WOLFGANG SCHÖNE

Es ist der Erinnerung wert, daß Hilde Kaufmann in einer frühen Arbeit1 auf ein strafrechtsdogmatisches Thema eingegangen ist, das heute - etwas anders gewendet - erneut Interesse beansprucht: das Verhältnis von Strafgesetz und Tatbestand und seine Konsequenzen für die Strafbarkeit. Damals ging es um die Überprüfung der These, daß eine Strafvorschrift wie §240 StGB der Schuldtheorie entgegenstehe. Das Ergebnis dieser Untersuchung gilt, wie mir scheint, auch heute noch: Die Schwierigkeiten beruhen darauf, daß der Gesetzgeber mit seinem Strafgesetz die Aufgabe der Beschreibung des tatbestandsmäßigen Verhaltens nur unvollkommen gelöst und es der Rechtsanwendung überlassen hat, die Festlegung der Tatbestandsgrenzen nachzuholen. Wird aber ein derartiger „offener" Tatbestand vom Einzelfall ausgehend und mit Wirkung für alle Fallgestaltungen gleicher Prägung „geschlossen", so kann unschwer die fehlende Vorstellung vom Vorliegen der Umstände des gewissermaßen „nachgearbeiteten" Tatbestands als Vorsatzmangel ( = Tatbestandsirrtum) und die fehlende Vorstellung vom Unerlaubtsein seiner Verwirklichung als Mangel des Unrechtsbewußtseins ( = Verbotsirrtum) eingestuft und der Schuldtheorie gemäß behandelt werden. Allgemeiner formuliert: Manche Probleme bei der Erfassung und Handhabung von Strafbarkeitsvoraussetzungen sind nicht dogmatischer, sondern legislatorischer Art; es geht um die Folgen der Schwierigkeit, strafrechtlich relevantes Verhalten so zu beschreiben, daß das Strafgesetz den Einsichten in die Struktur des Verbrechens - im Sinne Bindings verstanden - ebenso entspricht wie den Anforderungen des Verfassungssatzes „nullum crimen sine lege stricta". Die Stichworte „offener Tatbestand", „Gesetzesbestimmtheit" und „Irrtumsregelung" markieren ein Spannungsfeld, das sich nicht auf die vorsätzlichen Verbrechen beschränkt. Vielmehr umfaßt es auch und gerade die Fahrlässigkeitstaten. Um zwei neuere Beispiele zu nennen: So zieht Arzt nicht zuletzt aus dem Fehlen einer tatbestandsmäßigen Vertypung regelmäßig verbotener Gefährdungen den Schluß, daß bei den Fahrlässigkeitsverbrechen Tatbestands- und Verbotsirrtum ineinander übergehen und daß deshalb (wenigstens) hier die Vorsatztheorie zu 1

Vianden-Grüter,

G A 1954, S. 359 ff.

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gelten habe 2 . Und Bohnert versucht, die Klippen einer Verfassungswidrigkeit der Fahrlässigkeitsbestrafung dadurch zu umschiffen, daß er an die Stelle vieler, allenfalls teilumschriebener Tatbestände (nur) einen Tatbestand setzt, der mit demjenigen der Vorsatztat identisch und mithin ebenso „geschlossen" ist3. Diese Denkanstöße bieten Anlaß genug, die gesamte Dogmatik der Fahrlässigkeitsverbrechen einschließlich ihrer normtheoretischen Grundlagen aufzurollen und alle Tiefen des Dilemmas auszuloten, in das die divergierenden Ansprüche von Verfassung und Kriminalpolitik die Strafgesetzgebung stürzen. Dennoch muß dieser Beitrag sich auf zwei Fragen beschränken: Tragen die skizzierten Gedanken wirklich die mit ihnen verbundene Kritik an einer (bestimmten) Fahrlässigkeitskonzeption, die auf dem Boden der finalen Handlungslehre entwickelt worden ist und der auch Hilde Kaufmann4 nahegestanden hat? Und was vermag diese Prüfung zur Verifizierung oder Falsifizierung der abweichenden Auffassungen über die Voraussetzungen eines Fahrlässigkeitsverbrechens beizutragen? I. Auf dem Prüfstand steht eine Konzeption der Fahrlässigkeitsverbrechen, deren dogmatischer Gehalt sich erst aus ihren normentheoretischen Grundlagen 5 voll erschließt. a) Will die Rechtsordnung ihre Güter davor schützen, von Menschen beeinträchtigt zu werden, so darf sie nicht nur den Eintritt einer Verletzung oder Gefährdung mißbilligen; vielmehr muß sie den Einfluß des Menschen auf die Ereignisse steuern: sein Verhalten. Die Mittel zur Steuerung menschlichen Verhaltens sind an dessen Natur gebunden. Folglich bestehen sie in Sollsätzen, die allen oder bestimmten Menschen aufgeben, entweder eine finale Handlung vorzunehmen oder von einer solchen abzusehen: „allgemeine" oder „besondere" (Bestimmungs-) Normen jeweils in der Form eines Gebotes oder Verbotes. Aliud non datur. Die Rechtssätze, die die Struktur von Geboten oder Verboten aufweisen, unterscheiden sich untereinander nur durch den Inhalt der Finalität, die verwirklicht werden oder unterbleiben soll. Immer dann, wenn gemessen an diesem Kriterium - eine andere finale Handlung anbefohlen 2

ZStW 91, S. 857 ff. ZStW 94, S. 68 ff. 4 Hilde Kaufmann, Die ungewollte Straftat, Rundfunkvortrag RIAS, März 1975 (ungedrucktes Manuskript). 5 Vgl. zum Folgenden Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 30 ff, 37 f; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 3 ff. 3

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oder verboten wird, handelt es sich um eine eigenständige Bestimmungsnorm; dabei ist mit der „anderen" finalen Handlung die Gesamtheit aller Handlungen mit derselben Finalität gemeint. Unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes kommen für den Erlaß eines Verbotes alle finalen Handlungen in Betracht, die rechtsgutsschädlich sind, und für den Erlaß eines Gebotes alle finalen Handlungen, die rechtsgutsförderlich sind. Dazu gehören einmal (und in erster Linie) alle diejenigen finalen Handlungen, deren Finalität die Beeinträchtigung oder Erhaltung des betreffenden Gutes umfaßt. Zum anderen können das aber auch alle Handlungen sein, bei denen die Rechtsgutsbeeinträchtigung oder -erhaltung nicht im Finalzusammenhang steht, sondern lediglich eine unfinale Folge ist; denn bleibt eine solche wegen ihrer Auswirkung schädliche finale Handlung aus oder wird die wegen ihrer Auswirkung nützliche Handlung vorgenommen, so entfällt damit ja gewissermaßen automatisch - auch der unerwünschte Erfolg. Je wertvoller und/oder anfälliger ein Rechtsgut ist, desto mehr finale Handlungen gerade auch der zweiten Fallgruppe müßten verboten oder geboten werden. Indessen beschneidet jede Bestimmungsnorm die Verhaltensspielräume des einzelnen und mittelbar auch der Rechtsgemeinschaft. Schon wenn es um Handlungen geht, die finale Rechtsgutsbeeinträchtigungen darstellen, ist dieser Preis nicht selten zu hoch; das zeigen manche Rechtsguts Verletzungen und noch mehr Rechtsgutsgefährdungen, deren Herbeiführung trotz entsprechender Finalität nicht verboten ist6. Erst recht gilt das für finale Handlungen, die eine Rechtsgutsbeeinträchtigung zur unfinalen Folge haben oder gar nur haben können; sie samt und sonders zu verbieten, hieße das Sozialleben zum Erliegen bringen. Und was für Verbote zu sagen ist, trifft für Gebote in noch höherem Maße zu; denn Gebote lassen dem Betroffenen keine Verhaltensalternativen. Bestimmungsnormen sind also immer auch das Ergebnis einer Auswahl. Dafür gibt es kein Patentrezept. Vor allem aber werden die Auswahlkriterien selbst nicht zu Normmerkmalen; sie stehen hinter der Norm. Damit läßt sich sagen: Wenn eine Norm existiert, dann steht fest, daß sie ihre Existenz dem Anliegen der Vermeidung einer Rechtsgutsbeeinträchtigung verdankt und daß ihr Gegenstand eine finale Handlung ist, deren Charakter bei Verboten rechtsgutsfeindlich und bei Geboten rechtsgutsförderlich ist; das kann sich im Normgegenstand deutlich widerspiegeln, muß es aber nicht. Dagegen läßt sich nicht sagen: Schon deshalb, weil ein Rechtsgut schutzwürdig ist und weil eine finale Hand-

6 So ist weder die „einfache" vorsätzliche Beschädigung noch die vorsätzliche Gefährdung fremden Vermögens (bei Strafe) verboten.

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lung seiner Existenz feindlich oder seiner Erhaltung förderlich ist, gibt es auch eine entsprechende Bestimmungsnorm. Die Feststellung, welche Verbote und Gebote existieren, ist schwierig, weil das Gesetz die Bestimmungsnormen nur selten so formuliert, wie dies ihrem Wesen entspricht. Zwar gibt es Beispiele dafür, daß verbotene oder gebotene Handlungen beschrieben werden7. In aller Regel wird aber nicht die Norm selbst, sondern eine Norm Verletzung angegeben und mit einer Rechtsfolge verknüpft. Aus einem solchen klassischen Vollstrafgesetz - „wer die Handlung a vornimmt, wird mit x bestraft" - muß also auf die Verhaltensnorm zurückgeschlossen werden: „Du sollst die Handlung a unterlassen (vornehmen)!". Dieser Rückschluß ist einfach, wenn das Strafgesetz ein Verhalten beschreibt; er ist schwer bis unmöglich, wenn es dafür lediglich Indizien gibt. Daß der Gesetzestext lediglich Hinweise auf die gemeinten Handlungen enthält, gilt nicht nur8, wohl aber insbesondere dort, wo „das Gesetz fahrlässiges Handeln... mit Strafe bedroht" (§ 15 StGB). Bei Vorschriften, die immerhin diejenigen finalen Handlungen beschreiben, aus denen die fahrlässige Verursachung der Rechtsgutsbeeinträchtigung hervorgegangen sein muß9, mag das nicht ganz so deutlich sein; bei Strafgesetzen wie §222 StGB, die lediglich eine Rechtsgutsbeeinträchtigung, die Kausalität und das Fahrlässigkeitserfordernis nennen, ist das unübersehbar. Ein Rückgriff auf §276 B G B hilft da nicht weiter. Die Definition fahrlässigen Handelns als „Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" leidet unter dem Widerspruch, daß eine Handlung nicht ihr Gegenteil - die Unterlassung der Anwendung von Sorgfalt - sein kann. Eine Interpretation, daß fahrlässig handelt, wer bei einer Handlung Sorgfalt außer acht läßt, liefe auf denselben Widerspruch hinaus: Handeln strictu sensu kann nicht Handlung plus Unterlassung sein. Soll die Normlogik gewahrt bleiben, so müßte der Gesetzestext schon so gelesen werden, daß fahrlässig handelt, wer eine Handlung vornimmt, die die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt; aber damit wird die Frage, welche finalen Handlungen diese Eigenschaft aufweisen und Gegenstand eines Verbotes sind, noch nicht beantwortet. Das verlockt, den Widerspruch im Text des §276 B G B nach der anderen Seite hin aufzulösen. Wird die Aussage darüber, wann jemand fahrlässig „handelt", nicht auf ein Handeln im Sinne des Handlungsbegriffs, sondern untechnisch auf fahrlässiges „Verhalten" bezogen, scheint es möglich, die gesuchten Verhaltensbeschreibungen normlogisch bruchlos in der Unterlassung von Sorgfalt zu sehen. Vgl. z.B. § 6 Arzneimittelgesetz. Vgl. z.B. §185 StGB. 9 Vgl. z.B. §315 StGB: fahrlässige Verursachung einer Gefahr durch Führen eines Fahrzeugs - „Delikt mit finalem Kern" (Armin Kaufmann). 7 8

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Der Gedanke wird gewöhnlich in das Wort von der „gebotenen Sorgfalt" gekleidet; das Recht erwarte Sorgfalt bei der Auswahl und Anwendung der Handlungsmittel, wenn der Mensch seine Ziele verwirkliche10. Die Attraktivität dieses Ansatzes beruht darauf, daß er auf jedes Handlungsprojekt paßt. Die Bedenken beginnen jedoch schon damit, daß das Außerachtlassen von „Sorgfalt" nur dann eine Unterlassung ist, wenn es um die Nichtvornahme einer dem Subjekt möglichen finalen Handlung geht. In diesem Sinne mag es durchaus Fälle de? Unterlassung von Prüfungshandlungen und Vorsichtsmaßnahmen und mit ihnen entsprechende Gebote geben". Wenn aber jemand bei jeder Handlung in bewußten Akten alle Folgen analysieren müßte, käme jede menschliche Tätigkeit zum Erliegen. Es kommt hinzu: Die Einhaltung der - angeblich - gebotenen Sorgfalt durch Bedenken aller Folgen der Verwirklichung eines Handlungsprojekts würde als solche nichts zum Rechtsgüterschutz beitragen: es geht ja nicht darum, daß das Handlungsprojekt nunmehr „sehenden Auges" verwirklicht wird, sondern darum, daß es von vornherein ein Projekt bleibt, wenn das Recht es nicht akzeptieren kann - und das heißt, wenn es gegen die Regeln des Rechts verstößt! Damit weist die fälschlich so genannte Sorgfalts„pflicht" auf die Bestimmungsnormen zurück, die unmittelbar an die Handlungsprojekte anknüpfen und deren Unterbleiben oder Vornahme sicherstellen. Das „quidquid agis, prudenter agas et respice finem" der Römer ist kein eigenständiges Gebot, weil ein Befehl, Normbefehle zu beachten, überflüssig ist. Dennoch hat die Lebensweisheit durchaus ihren Sinn: als Hinweis auf einen Weg, wie (eine Haftung für) die Verletzung von Bestimmungsnormen vermieden werden kann. Pointiert und metaphorisch zugleich: Nicht Sorgfalt ist geboten, sondern die Sorgfalt gebietet, daß bestimmte finale Handlungen unterbleiben und andere vorgenommen werden! Man mag die entsprechenden Verbote und Gebote Sorgfaltsnormen nennen, solange man sich dessen bewußt bleibt, daß „Sorgfalt" ihre raison d'etre, nicht aber ihr Gegenstand ist. Die Gegenstände der Bestimmungsnormen - die finalen Handlungen, die zu unterlassen oder vorzunehmen sind - werden mit dem Hinweis auf die Sorgfalt bestenfalls bestimmbar, sind aber damit leider! - noch nicht bestimmt. b) Die Elemente eines Fahrlässigkeitsverbrechens folgen aus den normlogischen Grundlagen: Das Verbrechen ist ein strafbares Delikt, und das Delikt seinerseits ein Verhalten, das eine Bestimmungsnorm verletzt, nicht durch einen Erlaubnissatz gedeckt ist und vorgeworfen werden kann. 10

Wekel, Strafrecht, S.37f.

" Struensee,

JZ 1977, S.217ff;

Schöne,

J Z 1977, S. 150ff, 158.

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1. Bestimmungsnormen werden verletzt durch die Vornahme der verbotenen und die Nichtvornahme der gebotenen Handlung, und eben damit stehen die zentralen Merkmale des (Leitbild-)Tatbestands fest. Wohlgemerkt: Da es immer um finale Handlungen geht, gehören stets auch „subjektive" Komponenten dazu. Sobald das letzte Teilstück der verbotenen Handlung gesetzt oder der letzte Zeitpunkt zur Verwirklichung der gebotenen Handlung verstrichen ist, ist das Verhalten im vollen Umfang normwidrig/tatbestandsmäßig; der Eintritt der Handlungs/o/ge«, die der Handelnde nicht mehr beeinflussen kann, ohne erneut zu handeln, gehört auf ein anderes Blatt mit dem Rubrum „objektive Bedingung der Strafbarkeit". Das tatbestandsmäßige Verhalten widerspricht der einzelnen Bestimmungsnorm. O b es auch der gesamten Rechtsordnung zuwiderläuft und mithin nicht nur normwidrig, sondern auch rechtswidrig ist, entscheidet sich an Hand der Erlaubnissätze. Die Vorwerfbarkeit rechtswidrigen Verhaltens hängt ab von der Fähigkeit zur Pflichtbefolgung; der Täter muß in der Lage sein, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Bei Fahrlässigkeitsdelikten bedeutet das häufiges Fehlen aktueller Unrechtseinsicht und gemäß § 1 7 S t G B Rekurs auf die Vermeidbarkeitsfrage: konnte der Täter in der gegebenen Situation zu der fehlenden Einsicht kommen? In diesem Zusammenhang spielen vorhergesehene oder vorhersehbare Folgen des Verhaltens eine Rolle, die für die Unterscheidung von bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit bedeutsam sind. W o das Gesetz die Strafbarkeit einer vorwerfbaren Normverletzung von der Realisierung der Rechtsgutsbeeinträchtigung - dem „Erfolgssachverhalt" - abhängen läßt, steht dieses Merkmal außerhalb der Deliktsvoraussetzungen. Solange deren logisch zwingendes Verhältnis zueinander berücksichtigt bleibt, ist die Einordnung der schuldindifferenten Bestrafungsvoraussetzungen in den Verbrechensaufbau im übrigen eine Frage der Zweckmäßigkeit 14 . Bei den Fahrlässigkeitsdelikten sprechen derartige Erwägungen für eine Behandlung vor dem Tatbestand. Der Erfolgssachverhalt ist nämlich bei der Prüfung der Strafbarkeitsvoraussetzungen in zweifacher Weise von Bedeutung. Zum einen geht es um die Subsumtion der tatsächlichen Ereignisse unter denjenigen Teil des Strafgesetzes, der über die Strafbarkeit deliktischen Verhaltens entscheidet. Zum anderen handelt es sich um einen - häufig den einzigen 12 Vgl. auch Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S. 147. 13 Vgl. z.B. Welzel, Strafrecht, S. 131 ff; Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik, S. 132 ff. 14 Dazu näher Schöne, Cuadernos de Politica Criminal (Madrid) 1977, S. 63 ff.

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- Anhaltspunkt für die Auffüllung des Beschreibungsdefizits bezüglich des normwidrigen/tatbestandsmäßigen Verhaltens - eine Aufgabe, die gelöst sein muß, ehe der Blick, wie bei der Rechtsanwendung üblich, zwischen den Fakten und dem Strafgesetz hin- und herpendeln kann. 2. Bei der Rechtsanwendung im Zusammenhang mit Fahrlässigkeitstaten verquicken sich Subsumtion und Suche nach dem subsumtionsfähigen Strafgesetz. Wird diese Verquickung unter Beachtung der Vorgabe aufgelöst, daß einerseits nur die Vornahme (Nichtvornahme) einer finalen Handlung tatbestandsmäßig sein kann und andererseits der Tatbestand der Strafgesetze ein so strukturiertes Verhalten beschreiben muß, so erscheinen einige Phänomene, die auf den ersten Blick wie Tatbestandsmerkmale aussehen, in einem anderen Licht; sie sind - cum grano salis - Tatbestandsermittlungsmerkmale: Wenn ein Tatbestand existiert, so beruht er auf einer N o r m , deren Gegenstand mangels Beschreibung nur so aufzufinden ist, daß die zum Normerlaß führenden Erwägungen (nach)vollzogen werden. Ausgangspunkt ist dabei die Rechtsgutsbeeinträchtigung , um deren Vermeidung willen die N o r m existiert. Weil die Beeinträchtigung vermieden wird, wenn Handlungen unterbleiben, die sie zur Folge haben können, oder Handlungen vorgenommen werden, die die Erhaltung bewirken können, sind nur solche Handlungen betroffen, die eine entsprechende Eignung aufweisen; insofern ist die „objektive Vorhersehbarkeit" der Folgen ein Auswahlkriterium. D e m Vorteil der Rechtsgutserhaltung, den der Normerlaß mit sich brächte, stehen Belastungen der N o r m adressaten gegenüber, so daß nicht jede zur Beeinträchtigung oder Erhaltung des Gutes geeignete Handlung ver- oder geboten sein kann. Die normativen Erwägungen, die hier zur Entscheidung notwendig sind, werden mit dem Stichwort „erlaubtes Risiko" nur wenig treffend beschrieben, weil sie in Wahrheit der Bestimmung des „verbotenen Risikos" dienen; dabei spielen beispielsweise die Bedeutung des Rechtsguts, der Grad der Eignung und die Häufigkeit der Handlung und die Auswirkungen eines Ver- oder Gebots auf das Sozialleben eine Rolle, ohne daß ein fester Maßstab angegeben werden könnte. Auch die Überlegungen, die zum (sog. Rechtswidrigkeits-)Zusammenhang zwischen Verhalten und Beeinträchtigung angestellt werden, betreffen einen Aspekt der Normsetzung: es ist nicht nur und so sehr das „ob", sondern vielmehr das „wie" von Beeinträchtigung und Kausalverlauf, das mit dem „Schutzzweck der N o r m " korrespondiert. Alles dies läuft auf die von Welzel's herausgearbeitete Fragestellung hinaus, ob ein vorausschauender und sich seiner Verantwortung gegen15

Strafrecht, S. 131 ff.

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über den Belangen des Gemeinschaftslebens bewußter Angehöriger des Verkehrskreises, in den die jeweilige finale Handlung oder ihre Unterlassung fällt, sich so, wie geschehen, verhalten hätte. Daß es dabei um Tatbestandsbildung und nicht um Subsumtion geht, zeigt sich daran, daß es auf „objektive Vorhersehbarkeit", „erlaubtes Risiko" und „Schutzzweck der N o r m " gar nicht mehr ankommt, wenn einmal über den Normerlaß Einigkeit besteht; unter die Leitsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die das sorgfaltswidrige Verhalten konkretisieren, läßt sich trefflich subsumieren.

II. Aber eben nicht unter die Strafgesetze. Muß dann nicht Art. 103 Abs. 2 G G die Bestrafung von Fahrlässigkeitstaten wenigstens in aller Regel unmöglich machen? a) Der „Verdacht der Verfassungswidrigkeit", den Bohnert gegen die „ihrer Definition nach offenen Tatbestände" richtet16, hat durchaus seine Berechtigung, wenn auch der Adressat etwas anders lauten müßte: es sind die bestehenden Strafgesetze. In der Tat - wo die Strafgesetze die Voraussetzungen der Strafbarkeit nicht oder nur unvollständig beschreiben, kann der Mangel nicht ohne weiteres dadurch behoben werden, daß die Rechtsprechung die fehlenden Merkmale nach einem bestimmten methodischen Prinzip aus den gesetzlichen Anhaltspunkten 17 entwickelt; denn es würde weiterhin an der Grundlage einer lex scripta et stricta fehlen, nicht nur für die jeweils ersten Verurteilungen, die sich vielleicht - zu einer ständigen Rechtsprechung entwickeln, sondern auch für eine solche ständige Rechtsprechung selbst. Richtig ist auch, daß es kaum denkbar ist, alle Verhaltensweisen, die dem Recht sorgfaltswidrig erscheinen, zum Gegenstand von Ver- oder Geboten zu machen und die entsprechenden Strafgesetze zu formulieren. Die Einführung abstrakter - dann vorsätzlicher - Gefährdungsdelikte nach dem Vorschlag Radbruchs18 und selbst eine kontinuierliche Uberführung gefestigter Rechtsprechung in Gesetzesform wäre lediglich eine Teillösung - gemessen an der faktischen Reichweite der bestehenden und an Zahl ständig zunehmenden Regelungen. Die Frage ist nur, was daraus folgt. Sicher die Notwendigkeit, die normlogischen und strafrechtsdogmatischen Grundlagen des Befundes immer wieder neu zu

ZStW 94, S. 71. Mißverständlich Bohnert, ZStW 94, S. 79. Selbstverständlich geht es Welzel nicht um eine Ableitung von Pflichten allein aus methodischen Prinzipien, sondern um das methodische Prinzip, Pflichten aus den gesetzlichen Anhaltspunkten zu entwickeln. '» VDB V (1905), S. 201. 16

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überdenken. Vorbehaltlich neuer Einsichten dazu ist ebenso sicher aber auch, daß der Befund nicht gegen „offene" Tatbestände spricht; die Unmöglichkeit, eine Lücke zu schließen, ist kein Einwand gegen deren Vorhandensein! Mit dem Hinweis auf die Erfordernisse, die an ein Vollstrafgesetz zu stellen sind, und auf die Schritte, die bis zu seiner subsumtionstauglichen Formulierung noch getan werden müssen, verdeutlicht die Lehre von den offenen Tatbeständen lediglich einen Sachverhalt, der verfassungsrechtlich problematisch werden kann - mehr nicht! Der Lehre deshalb verfassungsrechtliche Bedenklichkeit zu bescheinigen, liefe auf das „Argument" hinaus, daß nicht sein kann, was nicht sein darf - der Folgen wegen. Indessen: Strafrechtsdogmatik hat nicht nur die Aufgabe, die Struktur der Strafbarkeitsvoraussetzungen abzuklären, sondern auch, eben dadurch die normativen Hintergründe aufzuhellen und so Art wie Ausmaß von Regelungsdefiziten aufzudecken. N u n Gesteht insofern kein Regelungsdefizit, als Art. 103 Abs. 2 G G unzweideutig sagt, welche Rechtsfolge es hat, „wenn die Strafbarkeit nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde": es darf nicht bestraft werden. Wohl aber eitsteht ein Defizit, wenn das Strafrecht sich mit dieser Rechtsfolge nicht abfinden kann oder will, etwa weil im Falle der Unanwendbarkeit derjenigen Gesetze, die fahrlässiges Verhalten unter Strafe stellen, ein Instrument zur Erhaltung von Rechtsgütern entfiele. Es wäre falsch, diesen Konflikt zwischen Gesetzeslage, Verfassungsanspruch und Kriminalpolitik durch juristische Konstruktionen zu verschleiern, weil die normativen Probleme sich auf die Dauer doch als stärker erweisen als jedes Harmoniebedürfnis. Es reicht wohl auch nicht aus, sich auf den Charakter des Strafrechts als einer praktischen Wissenschaft zurückzuziehen 19 und die Spannungen zwischen Kriminalpolitik und Verfassungsgarantie einseitig zu Gunsten der ersten zu lösen. Dagegen ist es legitim, allen Möglichkeiten nachzugehen, den Konflikt von beiden Seiten her wenigstens zu begrenzen. 1. Wenn die bestehenden Strafgesetze die Voraussetzungen der Fahrlässigkeitsverbrechen unvollständig beschreiben, kann die Rechtsfolge des Art. 103 Abs. 2 G G nur noch durch den Nachweis ausgeschlossen werden, daß der Verfassungssatz an gesetzlicher Bestimmtheit in Wahrheit gar nicht mehr verlangt. Es geht also nicht um die Forderung, daß die Verfassung vor der Kriminalpolitik zu kapitulieren habe, sondern um die immanenten Grenzen des Grundsatzes „nullum crimen sine

" Vgl. Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen Strafrecht, 1965, S. 10 f; dazu richtig Bohnert, ZStW 94, S. 70 f.

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lege". Ihnen nachzugehen ist Sache des Verfassungsrechts. Das Strafrecht liefert dazu lediglich die Fragen - beispielsweise, ob eine „prinzipielle" Unmöglichkeit des Erlasses subsumtionsfähiger Strafgesetze, wie sie im Zusammenhang mit den Fahrlässigkeitstaten allenthalben angenommen wird, die Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit so zu mindern erlaubt, daß die Rechtsfolge des Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr greift. Verfassungswidrigkeit dort, wo der Gesetzgeber mehr leisten könnte, aber nicht geleistet hat, und keine Verfassungswidrigkeit, wo er nicht mehr leisten kann?! Allerdings - die Behauptung der Impotenz des Gesetzgebers hat auch ihre Tücken: sie bezieht sich nur auf die Summe aller potentiellen, kriminalpolitisch wünschenswerten Strafgesetze, nicht aber auf die jeweilig einzelne Strafbestimmung. Vom Standpunkt der Verfassung aus läßt sich ebenso gut verlangen, nur die wichtigsten Regelungen zu treffen und im übrigen auf die Mittel des Strafrechts zu verzichten. Der „schwarze Peter" läge damit wieder beim Strafrecht, das - vielleicht gar nicht zu Unrecht - gezwungen wäre, sich über seine kriminalpolitischen Bedürfnisse schärfer Rechenschaft abzulegen. Vielleicht wäre es auch akzeptabel, an die Reaktion des Strafgesetzgebers auf die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Bestrafung unterlassener Erfolgsabwendungen anzuknüpfen? Wenn es schon „unmöglich" ist, alle wünschenswerten Strafgesetze so auszuformulieren, wie es ihrer Verbrechensstruktur entspricht, sollten dann nicht wenigstens die Vorgaben für die Bildung der Strafvorschriften gesetzlich bestimmt sein? § 13 StGB ist ein Beispiel für ein solches „Rezept", an das sich auch der Gesetzgeber halten müßte, wenn er selbst die einzelnen Strafbestimmungen über Unterlassungsverbrechen in die übliche Form von Vollstrafgesetzen gießen wollte, statt dafür die Rechtsprechung in Anspruch zu nehmen20. Die genannte Vorschrift entspricht gewiß noch nicht dem Maximum des insoweit Erreichbaren. Das mag hier auf sich beruhen. Im Bereich der Fahrlässigkeit interessiert lediglich der Denkanstoß, der aus der Sicht der Verfassung wenigstens eine gewisse Berechenbarkeit der Gesetzesbildung sichern und dem Strafrecht eine Möglichkeit der Bestrafung eröffnen würde, wo die Bestimmungsnorm und das entsprechende Strafgesetz sich mit hoher normativer Plausibilität aufdrängt, wenn die Richtlinie eingehalten wird. Ob eine solche Konzession an die Kriminalpolitik überhaupt zulässig wäre, ist - wie gesagt - Sache des Verfassungsrechts. Wenn ja, dürfte freilich nicht bei §276 BGB stehengeblieben werden. Vielmehr müßte

20 Dazu näher Schöne, S. 324 ff.

Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz,

1974,

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man in Richtung auf eine Fixierung des methodischen Prinzips weiterdenken, das Welzel für die Ermittlung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens entwickelt hat, und es noch stärker auf seine Funktion hin präzisieren, Strafgesetze bilden zu helfen. 2. Wenn die Spannungen zwischen Verfassung und Strafrecht gemildert werden sollen, darf nicht nur über eine - teleologische? - Reduktion des Art. 103 Abs. 2 G G nachgedacht werden. Auch das Strafrecht muß seinen Beitrag leisten durch eine selbstkritische Revision seiner Mittel und seiner kriminalpolitischen Anliegen; je weniger Regelungsbedarf „angemeldet" wird, desto mehr Kräfte sind frei für eine verfassungskonforme Strafgesetzgebung. Die Bedeutung der Fahrlässigkeitsproblematik ist in den letzten Jahrzehnten fast explosionsartig gewachsen. Das liegt zu einem guten Teil an immer neuen Gefahrenpotentialen, die eine mechanisierte und industrialisierte Welt mit sich bringt und auf deren Anwachsen das Strafrecht keinen Einfluß hat. Es gibt aber auch eine Tendenz, nachgerade automatisch in fast jedes neue Gesetz Straf- oder Bußgeldandrohungen für fahrlässige Zuwiderhandlungen aufzunehmen. Dieses Bemühen um lükkenlosen Rechtsgüterschutz birgt die Gefahr unnötiger oder übermäßiger Reaktionen. Das gilt einmal für Details wie den Gedanken, Freisprüche wegen mangelnden Vorsatznachweises zu verhindern, oder das Anliegen, unwillkommene Ergebnisse der sog. eingeschränkten Schuldtheorie zu korrigieren, oder den Wunsch, die sog. „Rechtsfahrlässigkeit" in den Griff zu bekommen. Das gilt aber auch ganz allgemein: Das Instrument der Fahrlässigkeitsbestrafung wird um so stumpfer, je häufiger der Bürger das Gericht mit dem Gefühl verläßt, der Staat hätte ihn nicht erst „hinterher" durch den Richter über richtiges und falsches Verhalten aufklären dürfen und verhänge eigentlich keine Strafe für vorwerfbares Fehlverhalten, sondern erhebe eine Risikosteuer auf die Teilnahme am Gemeinschaftsleben. Dasselbe anders und mit leichter Blickwendung vom Gesetzgeber zum Richter formuliert: Der entscheidende Beitrag des Strafrechts liegt so paradox das klingt - in der „Lehre von den offenen Tatbeständen" selbst. Die Einsicht nämlich in die unabweisbare Konsequenz, daß die Rechtsprechung de lege lata gezwungenermaßen im Gewände der Rechtsanwendung Recht setzt, birgt die Chance des Bewußtseins erweiterter Verantwortung und damit größerer Zurückhaltung - geht es doch jeweils nicht um einen Einzelfall bloßer „Zurechnung einer irrtumsbedingten Erfolgsverursachung" 2 ', sondern erst einmal um die Kreation 21

lich«.

Vgl. Bohnert, ZStW 94, S. 77: „Das Irrtumsmoment ist der Fahrlässigkeit wesent-

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von Verhaltensanweisungen für jedermann und dann erst um den Vorwurf ihrer Verletzung durch Fehlverhalten. Je ungenauer, je „überraschender" diese Leitlinien sind, desto häufiger müßte dem Täter nicht nur ein Verbotsirrtum, sondern auch dessen Unvermeidbarkeit bescheinigt werden - ein Ergebnis, das praktisch auf die Rechtsfolgen des Art. 103 Abs. 2 GG hinausliefe und theoretisch auf das „Versagen" des Gesetzgebers zurückführt, sobald die Gründe für die Unfähigkeit des Täters zur Pflichtbefolgung analysiert werden: der Mensch kann nicht durch Verhaltensanweisungen motiviert werden, die nicht existieren. b) Da weder die Verfassung das Feld völlig räumen noch das Strafrecht auf Fahrlässigkeitsstrafbestimmungen gänzlich verzichten wird, ist der Wunsch verständlich, das Heil in dem Nachweis zu suchen, daß die Tatbestände der Fahrlässigkeitsverbrechen gar nicht „offen" sind, sondern ganz im Gegenteil „geschlossen". Für Bohnert folgt dies daraus, daß sich vorsätzliche und fahrlässige Verbrechen nur durch die innere Beziehung des Täters zu dem verursachten Erfolg unterschieden und somit die Tatbestände der Fahrlässigkeitsverbrechen identisch seien mit denjenigen der vorsätzlichen Verbrechen, deren gesetzliche Bestimmtheit außer Frage stehe22. Der gemeinsame Tatbestand von Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat ist für Bohnert zunächst einmal die Verursachung des Erfolges. Ob diese Rückkehr zu einem allein am Erfolgsunwert orientierten Tatbestandsbegriff dogmatisch richtig ist, mag zunächst dahinstehen; in bezug auf „das Bestimmtheitserfordernis im (?) Fahrlässigkeitstatbestand" jedenfalls ist Skepsis angebracht. Das Wort „Tatbestand" ist bekanntlich vieldeutig und zwingt je nach der Funktion, in deren Dienst es eingesetzt wird, zur Unterscheidung zwischen dem „Garantietatbestand" (Lang-Hinrichsen) als Summe aller derjenigen Voraussetzungen der Rechtsfolge, die dem Grundsatz „nullum crimen sine lege" unterliegen, und anderen Tatbestandsbegriffen, die aus der Gesamtheit aller Rechtsfolgevoraussetzungen jeweils diejenigen herausheben, die z.B. den Gegenstand des Unrechtsurteils oder der Rechtfertigungsfrage oder des Tatbestandsirrtums ausmachen23. Dementsprechend müßte gezeigt werden können, daß der Fahrlässigkeitstatbestand i. S. von Bohnert mit dem Garantietatbestand identisch ist, ehe aus der gesetzlichen Bestimmtheit seiner Merkmale auf eine Erledigung der verfassungsrechtlichen Problematik geschlossen wird. Hier muß freilich schon der Wortlaut der Verfassung hellhörig machen. Das Postulat der gesetzlichen Bestimmtheit gilt der „Strafbarkeit" und damit allen Voraussetzungen, von denen eine Bestrafung 22 25

ZStW 94, S. 74 ff, 80. Vgl. Engisch in: Festschrift für Edmund Mezger, 1954, S. 1 2 7 f f , 130 ff.

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abhängt. Dazu gehört selbstverständlich auch für Bohnert mehr als nur die Verwirklichung des Erfolgssachverhalts: erst die Sorgfaltswidrigkeit und „andere tatbestandliche Prüfungsgegenstände (objektive Zurechnung, erlaubtes Risiko, Erfolgseintritt auch bei rechtmäßigem Alternatiwerhalten und dergleichen)"24 entscheiden darüber, ob die Erfolgsverursachung Gegenstand eines Vorwurfs sein kann. Die Zugehörigkeit dieser Merkmale zu den einzelnen Aufbaustufen des Verbrechens mag streitig und ihre Ausklammerung aus einem engen Tatbestand(sbegriff) durchaus möglich sein; wenn es sich einmal um „Schwachstellen" handelt, so bewirken Verlagerungen innerhalb des Verbrechensaufbaus qua Gesetzesbestimmtheit der Strafbarkeit nichts. Und um Schwachstellen geht es - nicht nur bei der Sorgfaltswidrigkeit! Das Gesetz sagt nichts zu der normativen Frage, wann eine Verknüpfung von Handlung und Erfolg als Zufall zu behandeln (!) ist oder wann die Grenze vom erlaubten zum verbotenen Risiko überschritten wird25. Dennoch ist ein gewisser, freilich gedämpfter26 Optimismus zu beobachten, den einschlägigen Vorschriften auf dem skizzierten Weg zur Verfassungskonformität verhelfen zu können. Dabei wirkt die Vorstellung mit, die Fahrlässigkeitsbestimmungen seien an Klarheit nicht zu übertreffen, weil sie jede Erfolgsverursachung einbezögen; wenn dennoch stets geprüft werden müsse, ob die strafrechtliche Haftung an weiteren normativen Hürden scheitert, so handele es sich um Ausnahmen, die zu Gunsten des Täters wirkten und deshalb ihrerseits nicht gesetzlich bestimmt zu sein brauchten27. Allerdings: O b die Strafbarkeitsgrenzen unmittelbar und positiv - gewissermaßen vom Punkt „Null" aus - beschrieben werden oder indirekt und negativ - durch partielle Zurücknahme weitergehender Aussagen, deren Vorläufigkeit und Korrekturbedürftigkeit von vornherein feststeht - , ist eine Frage der Regelungsiec/?«z&. Wenn das Ergebnis auf beiden Wegen zu gewinnen ist, so kann es keinen Unterschied machen, welcher Weg gewählt wird; anderenfalls ließe sich die Verfassungskonformität des Ergebnisses durch die bloße Wahl des einen oder des anderen Weges beliebig manipulieren. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Das Problem, ob die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens so geregelt ist, daß sie das Prädikat „gesetzlich bestimmt" verdient, ist mit der Reduktion des Tatbestands der Fahrlässigkeitsverbrechen auf die Erfolgsverursachung nicht gelöst, mag diese noch so präzis umschrieben sein. Auf den Nachweis, daß Vorsatzund Fahrlässigkeitsverbrechen entsprechend eng definierte Tatbestände ZStW 94, S. 68 f. Eben deshalb lassen sich diese Fragestellungen auch nicht einfach aus der Betrachtung ausklammern; so aber Bohnert, ZStW 94, S.77. 26 Bohnert, ZStW 94, S. 80. 27 A. a. O. 24

25

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gemeinsam haben, kann insoweit also verzichtet werden. Daher geht es bei der weiteren Auseinandersetzung mit der „Konkordanzthese" vorrangig nur noch um diejenigen Aspekte, die auch für die Dogmatik der Fahrlässigkeitsverbrechen eine Rolle spielen. 1. Bohnert bezweifelt, daß Welzel „die Fassung der Tatbestände im Strafgesetzbuch gemeint" haben könne, wenn er die Vorsatztatbestände „geschlossen" und die Fahrlässigkeitstatbestände „offen" nenne. Die bloße Anfügung der „Strafbarkeit der fahrlässigen Begehung" könne die Beschreibung der Vorsatztat nicht derart weitreichend modifizieren, und auch die Wendung „durch Fahrlässigkeit" habe „keinen besonderen Inhalt" 28 . Die Antwort darauf verlangt vor der sachlichen Klarstellung den Versuch einer terminologischen Verständigung. Das Wort „Tatbestand" ist vieldeutig. Deshalb sollte an seiner Stelle nur von „Strafgesetz" die Rede sein, wenn es um den Text der gesetzlichen Bestimmung geht. Das erlaubt es, die Sachfrage im Zusammenhang mit den sog. „offenen Tatbeständen" dahin zu formulieren, ob das Strafgesetz die Voraussetzungen der Strafbarkeit hinreichend genau beschreibt. Die Antwort hängt nicht nur von der Fassung des Strafgesetzes ab, wie Bohnert ganz zu Recht bemerkt, sondern auch von der Art und Zahl der Merkmale, die nach rechtswissenschaftlicher Erkenntnis die Strafbarkeit auslösen. Die Abhängigkeit des jeweiligen Ergebnisses von den Vorgaben der Fragestellung wird besonders deutlich, wenn bestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen wie Vorwerfbarkeit und Nichteingreifen von Rechtfertigungsgründen ausgeklammert und unter dem Stichwort „Tatbestand" je nach dem wissenschaftlichen Standort unterschiedliche Merkmalsgruppen daraufhin überprüft werden, ob das Strafgesetz sie nennt. Strenggenommen wird dabei immer von einem geschlossenen Tatbestand aus gedacht und untersucht, ob alles das, was nach dem jeweiligen Tatbestandsbegriff im Strafgesetz geregelt sein müßte, tatsächlich auch geregelt ist, und strenggenommen kann dann auch nur das Strafgesetz als „offen" bezeichnet werden - wenn es zu einem dieser Merkmale schweigt. In der Sache überrascht es nicht, daß Welzel und Bohnert den Regelungsinhalt der Strafgesetze, die vorsätzliches und fahrlässiges Verhalten unter Strafe stellen, schon auf der Ebene des Tatbestandes gegensätzlich beurteilen; denn sie gehen von Tatbestandsbegriffen aus, die mit der Orientierung am Erfolgsunwert (Kausalität) und Handlungsunwert (Finalität) unterschiedlich weit gefaßt sind. Angesichts dessen spielen aber auch schon - zugegeben - geringe Abweichungen im Text der 28

ZStW 94, S. 74.

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Strafgesetze eine entscheidende Rolle. Wenn ein Strafgesetz von Erfolg, Kausalität und Vorsatz spricht, so stehen damit alle gemeinten Handlungen fest. Wird in einem solchen Strafgesetz das Wort „vorsätzlich" durch „fahrlässig" ersetzt, so steht nur noch fest, daß ein Verhalten beschrieben wird, das in bezug auf die Erfolgsverursachung unvorsätzlich ist. Eine abschließende Verhaltensbeschreibung liegt darin nicht, es sei denn, man wollte sich mit Handlungen beliebiger Finalität und so der Sache nach doch mit bloßen Erfolgsverursachungen im Tatbestand begnügen. Eben das aber ist ein Regelungsgehalt, den kein Finalist und im Ergebnis - qua Verbrechen - auch sonst niemand akzeptiert! Es bleibt also dabei: die Strafgesetze, die Fahrlässigkeitstaten zum Gegenstand haben, enthalten keine abschließende Beschreibung der Strafbarkeitsvoraussetzungen. Ob die Merkmale, deren Beschreibung offen bleibt, Tatbestandsmerkmale im dogmatischen Sinne sind und ob dann nicht nur von „offenen Strafgesetzen", sondern auch von „offenen Tatbeständen" gesprochen werden kann, wie Welzel dies von seiner Position aus zwar friktionsfrei, aber vielleicht auch mißverständlich getan hat, ist qua Gesetzesbestimmtheit unerheblich. Umgekehrt sagen die divergierenden Aussagen über die Offenheit der Tatbestände nichts über die Richtigkeit des jeweiligen Tatbestandsbegriffs. 2. Bohnert stützt seine Konkordanzthese weiterhin auf die Identität der Norm und ihre Schutzrichtung: „Rechtsgut und Verhaltensanweisung sind prinzipiell gleich"29. So richtig die erste Aussage ist, so wenig überzeugt die zweite; die in der Tat gemeinsame Zielvorgabe, die Beeinträchtigung eines Rechtsguts zu verhindern, läßt sich nicht in eine einzige Verhaltensanweisung umsetzen, die diese Bezeichnung auch verdient. Selbst wenn z.B. der Satz „du sollst nicht töten!" umgewandelt wird in „du sollst nicht den Tod eines anderen verursachen!", kann dieser Befehl nicht mehr bewirken als das Abstandnehmen der Adressaten von allen Handlungsprojekten, die die Todesverursachung zum Gegenstand haben - im Verletzungsfall die Grundlage der strafrechtlichen Haftung wegen einer Vorsatztat! Das wird dem Anliegen des Rechtsgutsschutzes natürlich nicht gerecht, und so bedarf es weiterer Anweisungen bezüglich solcher Handlungsprojekte, die etwas anderes zum Gegenstand haben als die Realisierung des Erfolges, diesen gleichwohl aber mit sich bringen können. Ein jeder Rechtsbefehl dieser Art aber belegt, daß die Ahndung einer Zuwiderhandlung an eine andere Bestimmungsnorm anknüpft als das Tötungsverbot.

29

ZStW 94, S. 75.

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A propos Bestimmungsnorm! Bohnert spricht von dem „verbotenen Erfolg" oder von der „verbotenen Beziehung (sc. der Handlung) auf den Erfolg" 30 . Das legt nahe, daß „die (!) Norm", auf deren Grundlage Bohnert seinen Tatbestandsbegriff entwickelt, entgegen seinem eigenen Ausgangspunkt gar keine Verhaltensanweisung ist, sondern ein Rechtssatz, der zum Unterschied von einer Bestimmungsnorm als Bewertungsnorm bezeichnet zu werden pflegt. Ob das Wort „Norm" im Zusammenhang mit einem negativen Werturteil über eine Rechtsgutsbeeinträchtigung glücklich gewählt ist, mag dahinstehen; entscheidend ist, daß dieses - als solches selbständige - Werturteil erst „weiterverarbeitet" werden muß, ehe daraus Wirkungen für den Rechtsgüterschutz erwachsen können; das Verbot eines Erfolges oder einer Kausalkette geht an dem einzig sinnvollen Adressaten vorbei31. Vielleicht werden die zitierten Formulierungen aber auch nur mißverstanden. Dann ginge es in der Tat um eine Verhaltensanweisung, aber um eine solche, die sich auf jede Handlung bezieht, die eine Erfolgsverursachung zur Folge auch nur haben kann. Gegen die Existenz einer solchen Bestimmungsnorm aber spricht die Weite des Regelungsbereichs: jede Handlung, die einen Erfolg ausgelöst hat, wäre normwidrig - Unglück und Zufall eingeschlossen. Alle Bemühungen um objektive Zurechnung, erlaubtes Risiko usw. sprechen dagegen, daß dieser Ausgangspunkt zu halten ist. 3. Die Konkordanzthese soll die „Geschlossenheit" und Gesetzesbestimmtheit der Fahrlässigkeitstatbestände nachweisen: Besitzt der Tatbestand einer vorsätzlichen Tat diese Eigenschaft, kann das beim Tatbestand der entsprechenden fahrlässigen nicht anders sein, wenn beide miteinander übereinstimmen. Das Bild der Identität ist solange ungetrübt, als beide Tatbestände nur aus dem Erfolgssachverhalt - der Verursachung der Rechtsgutsbeeinträchtigung - bestehen. Das ändert sich sofort, wenn in einem Tatbestand ein weiteres Element erscheint, wie dies für die Fahrlässigkeitsverbrechen allgemein angenommen wird. Es geht um die - wie Bohnert sagt - „Sorgfaltspflicht". Dieses Merkmal soll der Konkordanz jedoch nicht abträglich sein: Wenn die Sorgfaltspflicht zum Tatbestand der fahrlässigen Verbrechen gerechnet werde, gelte dies auch für den Tatbestand der Vorsatztaten. Die gewissermaßen subsidiäre Existenz dieses Elements falle dort nur nicht auf: Beim fahrlässigen Verbrechen sei die Sorgfaltspflicht eine notwendige Voraussetzung für den Vorwurf der Erkennbarkeit der Gefahr. Diese Warnfunktion werde bei der Vorsatztat dadurch über30 31

ZStW 94, S. 78, 79 und passim. Vgl. Welzel, Strafrecht, S. 37.

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spielt, daß der Täter den Erfolg herbeiführen wolle und über die Gefährlichkeit seines Verhaltens nicht unterrichtet werden müsse32. Die Analyse dieses Ansatzes wird durch einen gewissen Widerspruch in den Äußerungen über die Sorgfaltspflicht erschwert. Einerseits wird dieses Element als die „vorhersehbare Beziehung von Handlung und Erfolg" definiert. Andererseits soll der „Inhalt des Verstoßes gegen die Sorgfaltspflicht" darin liegen, „trotz (sc. einer) erkennbaren Gefahr gehandelt zu haben". Beide Formulierungen werfen Fragen auf: Wie kann die Sorgialtspflicht in einer vorhersehbaren Beziehung von Handlung und Erfolg bestehen, wenn doch sonst von Pflichten immer nur im Zusammenhang mit einem Verhalten gesprochen wird? Wie ist das Verhältnis der Pflichtverstöße, wenn ihr Inhalt einmal in der Erfolgsverursachung und einmal darin besteht, trotz einer erkennbaren Gefahr gehandelt zu haben? Die Beantwortung dürfte auf sich beruhen, wenn es nur um terminologische Unschärfen ginge. Doch das ist nicht so. Um unter Vernachlässigung der Bezeichnung als „Pflicht" zunächst auf die „vorhersehbare Beziehung von Handlung und Erfolg" einzugehen, so soll es sich um ein objektives, von den Tätervorstellungen unabhängiges Merkmal handeln, nämlich die „objektive Gefährlichkeit des Verhaltens für den Erfolg". Das bedeutet: Der Tatbestand erfaßt nicht mehr alle Erfolgsverursachungen, sondern nur noch, und zwar von vornherein nur noch, einen Teil. Dabei wird dieser Ausschnitt nicht an unmittelbar subsumtionsfähigen Seinskriterien festgemacht, wie dies bei der Kausalität i. S. der Bedingungstheorie geschieht, sondern an durch und durch normativen Vorgaben hinsichtlich der Bedingungen der Prognoseentscheidung; das wird am ersten derjenige bestätigen, der mit der Einbeziehung der sog. objektiven Vorhersehbarkeit in den Tatbestand aus einem auch im eigenen Selbstverständnis juristischen „sozialen" Handlungsbegriff4 (etwa i. S. von Eberhard SchmidtJ5 oder Engisch16) die systematischen Konsequenzen für den Verbrechensaufbau zieht. 32 ZStW 94, S. 78. Gewisse, meist nicht bemerkte Überlagerungen von Vorsatz- und Fahrlässigkeitstatbeständen gibt es in der Tat. Sie kommen aber nicht dadurch zur Entstehung, daß in beiden Fällen zwingend eine Sorgfaltspflicht existiert und verletzt wird, sondern dadurch, daß im Einzelfall - zufällig - in einem Sachverhalt mehrere Gesetzesverletzungen zusammentreffen. Wer einen anderen vorsätzlich erschießt, verletzt nicht nur das Tötungsverbot hinter §212 StGB, sondern u.U. auch vorher schon ein Verbot hinter § 222 StGB, mit einer geladenen Waffe auf einen Menschen anzulegen. 35 Bohnert, ZStW 94, S. 78. 34 Vgl. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau?, 1973, S. 37 ff, 69 ff, 74 ff; Bloy, ZStW 90, S. 609 ff. 35 Der Arzt im Strafrecht, 1939, S. 75 f, 78. 36 In: Probleme der Strafrechtserneuerung (Kohlrausch-Festgabe), 1944, S. 141 ff, S. 161.

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Es ist hier nicht der Ort, eine kritische Auseinandersetzung37 damit fortzusetzen, daß diese Entwicklung unter dem Stichwort „objektive Zurechnung" auch auf das vorsätzliche Verbrechen übergreift. Sich ihr aber um der Konkordanzthese willen anschließen, hieße einen viel zu hohen Preis dafür zahlen; denn es ginge ja gerade die „Geschlossenheit" und „Gesetzesbestimmtheit" der Vorsatztatbestände verloren, die die Übernahme des Tatbestandsbegriffs in den Bereich der Fahrlässigkeit überhaupt erst so verlockend macht. Wäre es dann nicht besser, die Konkordanz durch einen Verzicht auf das Erfordernis der objektiven Vorhersehbarkeit zu retten? Die Einführung des Merkmals wird mit seiner „Warnungsfunktion"38 erklärt; es sei notwendig, „um den Vorwurf der Erkennbarkeit der Gefahr an den Täter richten zu können". Indessen ist das genannte Element bei den Vorsatztaten - auch für Bohnert — wenigstens praktisch überflüssig, weil der Täter, „der den Erfolg will, . . . bezüglich der Gefährlichkeit seines Verhaltens nicht erst unterrichtet werden"39 muß. Bei den Fahrlässigkeitstaten dürfte Bohnert aber auch nicht auf dieses Merkmal angewiesen sein. Der Fahrlässigkeitsvorwurf soll nämlich lauten, „die Handlung vorgenommen zu haben, obwohl der Handelnde die verbotene Beziehung auf den Erfolg hätte erkennen können"40. Damit ist das subjektive Element der individuellen Fähigkeit zur Voraussicht des nachmals realisierten Erfolges angesprochen. Diese Fähigkeit kann aber für jede und nicht nur für eine wegen ihrer Eignung zur „Vorwarnung" ausgewählte Kausalkette erfragt werden; nur wird im Ergebnis die Verursachung eines Erfolges um so seltener vorgeworfen werden können, je weniger Anhaltspunkte für den Eintritt der Täter gehabt hat. Allerdings wird hier auch mit dem „Vorwurf der Erkennbarkeit der Gefahr" argumentiert. Darin liegt gegenüber dem Vorwurf der Erfolgsverursachung eine erhebliche Akzentverschiebung, die schon bei der Frage nach dem Verhältnis von Erfolgsvermeidungs- und Sorgfaltspflicht angeklungen ist. Unter dem Aspekt einer Warnungsfunktion spielt dann möglicherweise die Vorstellung mit, daß die Verursachung eines Erfolges, die mangels Vorsatzes keine Vorsatztat ist, qua Fahrlässigkeitsstrafdrohung nur dann vorgeworfen werden kann, wenn dem Täter der Irrtum ( = das Fehlen einer Strafbarkeitsvoraussetzung im Sinne einer ganz anderen Vorschrift!?!) zum Vorwurf gereicht - wegen Verstoßes gegen die (Sorgfalts-)Pflicht, einsehbare Gefahren zu erkennen. Dabei geht es nicht um die Verletzung immerhin denkbarer eigen57 38 39 40

Vgl. Armin Kaufmann, Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S.251 ff. Bohnert, ZStW 94, S. 78. Bohnert, a . a . O . A.a.O.

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ständiger Vorschriften, die die Aufklärung gefährlicher Situationen usw. zum Gegenstand haben, sondern um eine Voraussetzung für den Schuldvorwurf bezüglich der Erfolgsverursachung. Von den bekannten Einwänden 41 gegen den regressus ad infinitum, der sich damit unvermeidbar anbahnt, ganz abgesehen: um ein Tatbestandsmerkmal, wie es hier interessiert, handelt es sich nicht! Ginge es wirklich nur um die behauptete Warnungsfunktion, so könnte auf das Element der „Sorgfaltspflicht" oder der „objektiven Vorhersehbarkeit" bei den Fahrlässigkeitstaten also verzichtet werden. Indessen geht es der herrschenden Meinung, deren Ergebnisse Bohnert übernimmt, mit Recht um ein anderes Problem: Wo die Folgen eines Tuns nicht nur für den Täter unvorhersehbar sind oder das Verhalten sich im Rahmen der für ein Leben in Gemeinschaft unumgänglichen Risikoverteilung hält, soll die Fahrlässigkeitshaftung nicht erst auf der Ebene des Vorwurfs von Fehlverhalten, sondern schon auf der Ebene des Fehlverhaltens selbst beschränkt werden können. Die Umsetzung dieses Anliegens durch ein Merkmal des Fahrlässigkeitstatbestands ist jedoch unumgänglich: Wenn ein Verhalten mit unfinalen Folgen trotz deren Eigenschaft als Rechtsgutsbeeinträchtigung kein fe/j/verhalten zu sein braucht, so hat auch die allgemeine Prognose, daß die Handlung die unerwünschte Folge haben kann, nicht mehr die notwendige Leitfunktion. Erst eine beschreibende Unterscheidung der erfolgsträchtigen, aber teils „richtigen", teils „falschen" Verhaltensweisen schließt die Tatbestandsgrenzen - oder ganz genau: die Grenzen der Tatbestände der einschlägigen Strafgesetze. c) Als Ergebnis ist festzuhalten: Der Versuch, die Fahrlässigkeitsstrafbestimmungen mit Hilfe eines Konkordanznachweises bezüglich der Tatbestandsmerkmale an der Gesetzesbestimmtheit derjenigen Strafgesetze teilhaben zu lassen, die Vorsatztaten unter Strafe stellen, ist - leider - gescheitert. „Das Unbehagen über die geringe Bestimmungswirkung der Fahrlässigkeitstatbestände" 42 bleibt also weiterhin bestehen. Gleichwohl ist die erneute Auseinandersetzung mit der Offenheit der Strafgesetze nicht ohne Gewinn. Die Rückbesinnung auf die Struktur der Fahrlässigkeitsverbrechen ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für Ziel und Methode der Tatbestandsbildung und schafft außerdem Klarheit über die allgemeinen Regeln, die für die Bestrafung fahrlässigen Verhaltens gelten.

41 42

Vgl. Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik, S. 91 f. Bohnert, ZStW 94, S.71.

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III. Als Beispiel dafür ein skizzenhafter Hinweis auf die Frage, inwieweit die allgemeinen Irrtumsregelungen der §§16, 17 StGB auch bei den Fahrlässigkeitsverbrechen anwendbar sind. a) Für die Auffassung, die das Rückgrat eines fahrlässigen Verbrechens in einer finalen Handlung sieht, liegt die Antwort auf der Hand. Ebenso wie in bezug auf die sorgfaltswidrige ( = tatbestandsmäßige) finale Handlung andere dogmatische Kategorien wie z.B. Versuch/Vollendung auszumachen sind, gilt dies auch für die Irrtumsfälle. Das kommt deshalb wenig zu Bewußtsein, weil die Bemühungen um die Fahrlässigkeit sich in der Praxis auf die Ermittlung von Sorgfaltswidrigkeit im Einzelfall konzentrieren und das Ergebnis weniger unter dem Gesichtspunkt einer tatbestandlichen Typenbildung gesehen wird. Denkt man sich aber das unsorgfältige Verhalten als in der üblichen Gesetzes- oder Leitsatztechnik beschrieben, läßt sich zwischen der Unkenntnis der Merkmale, die zum objektiven Teil des so „geschlossenen" Tatbestandes gehören, und dem Fehlen der Einsicht, durch das Verhalten Unrecht zu tun, ebenso leicht oder schwer unterscheiden wie bei einer Vorsatztat. Gesetzt, die „Schließung" des §222 StGB ergebe u.a., daß tatbestandsmäßig handelt, wer einen trunkenen Radfahrer mit einem Seitenabstand von weniger als 2 m überholt. Dann erfüllt der Fahrer, der um alle Umstände bis auf die Trunkenheit des späteren Unfallopfers (und natürlich die weitere Entwicklung des Geschehens bis zu dessen Tod) weiß, mit einem Uberholen im Abstand von 1,5 m den objektiven Teil dieses Tatbestandes, nicht aber den subjektiven - eine unmittelbare Parallele zu §16 Abs. 1 Satz 1 StGB43. Kennt der Fahrer die Trunkenheit, so erfüllt er den Tatbestand und es kommt nur noch ein Verbotsirrtum in Betracht, wenn nämlich die Einsicht fehlt, daß dieses Uberholmanöver Unrecht ist. Das mag daran liegen, daß F sich über das Verbotensein seines Verhaltens keine Vorstellungen macht oder daß er der Leitsätze der Rechtsprechung zum „normalen" Uberholen eingedenk den von ihm eingehaltenen Seitenabstand auch beim Überholen Trunkener für rechtlich unbedenklich hält. Worauf auch immer der Mangel an Unrechtseinsicht beruht, über den Vorwurf des Verhaltens entscheidet nunmehr nur die Fähigkeit des Täters, in der konkreten Situation zu der richtigen Einsicht zu gelangen und sich danach auch zu richten (§17 StGB).

43 § 1 6 Abs. 1 Satz 2 StGB ist dann so zu lesen, daß dieses Subsumtionsergebnis nicht daran hindert, das Verhalten auch unter dem Gesichtspunkt anderer (Sorgfalts-)Tatbestände zu prüfen.

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b) Die skizzierte Lösung, die von Armin Kaufmann44 inauguriert worden ist, stützt sich auf die strenge Schuldtheorie und ihre gesetzliche Umschreibung in § 17 StGB. Demgegenüber möchte Arzt4i diese Lehre soweit einschränken, daß sie Fahrlässigkeitstaten nicht mehr erfaßt. Für diese partielle Rückkehr zur Vorsatztheorie plädiert Arzt vor allem mit drei Argumenten: UnUnterscheidbarkeit von Tatbestand und Rechtswidrigkeit, Mangel einer für die Schuldtheorie wesentlichen Warnfunktion der Fahrlässigkeitstatbestände und Schlechterstellung des Täters durch eine pauschale Verdrängung der Fahrlässigkeit durch den Verbotsirrtum. Es ist nicht nur aus sprachlichen Gründen reizvoll, daß auf Fahrlässigkeitstaxen eine Vorsatztheorie angewendet werden soll; denn es stellt sich sofort die Frage, wie denn die geforderten identischen Rechtsfolgen für Tatbestands- und Verbotsirrtum aussehen sollen. Ginge es um einen Vorsatztatbestand, so wäre als Antwort nur dessen Unanwendbarkeit sicher, während im übrigen Probleme entstünden: theoretische wegen der Frage, ob im Verbotsirrtumsfall auf einen Fahrlässigkeitstatbestand ausgewichen werden darf, der möglicherweise nur auf die sog. Tatfahrlässigkeit gemünzt ist, und praktische, wenn es an entsprechenden Strafbestimmungen fehlt. Ist die Parallele hier die Unanwendbarkeit der Fahrlässigkeitsbestimmung, innerhalb derer die Irrtümer spielen? Und muß man dann nicht in aller Regel vergeblich nach „Ausweichbestimmungen" Ausschau halten? Natürlich will Arzt die Bestrafungsmöglichkeiten nicht in derart rigoroser Weise kappen; strafrechtliche Haftung soll - qua Rechtsfahrlässigkeit?! - durchaus sein, aber eben nach Fahrlässigkeits- und nicht nach Verbotsirrtumsmaßstäben. Während über das kriminalpolitische Anliegen, das Arzt verfolgt, relativ schnell Einigkeit zu erzielen sein wird, soll zu den dogmatischen Überlegungen eine Gegenthese formuliert werden: Statt Wende zur Vorsatztheorie Verwirklichung der Schuldthorie! 1. Arzt wendet sich mit Recht dagegen, daß die Rechtsprechung dann, wenn die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums zu beurteilen ist, schärfere Maßstäbe anlegt als bei der Einstufung eines Verhaltens als fahrlässig46. Diese Praxis geht auf ein Mißverständnis in bezug auf den Kern des Schuldvorwurfs - das „Andershandeln&öranew" - zurück, das sich bereits in die grundlegende Entscheidung BGHSt. 2, 194 ff eingeschlichen hat: So richtig es ist, daß ohne Unrechtseinsicht keine Entscheidung 44 45 46

Strafrechtsdogmatik, S. 146 f. ZStW 91, S. 857 ff, 884. Vgl. z.B. BGHSt. 4, S.236ff.

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gegen das Unrecht fallen kann, so unrichtig ist der Schluß von dem Fehlen der Unrechtseinsicht auf deren Unmöglichkeit. Weil das Gericht aber dennoch - also nach der eigenen Prämisse trotz Unfähigkeit zur Entscheidung strafen will 4 " tritt praktisch an die Stelle des vermeidbaren Verbotsirrtums der verschuldete, und aus der Frage, ob der Täter auf dem Wege der Gewissensanspannung oder Erkundigung zur Unrechtseinsicht gelangen konnte, wird die andere, ob er in vorwerföarer Weise die Gewissensanspannung oder Erkundigung unterlassen hat. Obwohl die Wortwahl des § 17 StGB dieser Entwicklung entgegensteuern sollte, muß sich in der Praxis noch der Gedanke durchsetzen, daß der einzige „Maßstab" im Zusammenhang mit der Behandlung eines Verbotsirrtums die Fähigkeit des Täters ist, zur richtigen Einsicht zu gelangen. Das ist noch dazu im Zusammenhang mit dem Grundsatz „in dubio pro reo" eine viel schärfere Bremse für überzogene Strafbarkeitsgrenzen als eine Zurechnung von Rechtsirrtümern nach einem Fahrlässigkeitsmaßstab. 2. Auch in einem zweiten Punkt verdient Arzt zunächst Zustimmung: Wo die Rechtsprechung ihren gegenüber der Fahrlässigkeit verschärften Maßstab für die Beurteilung der Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern auf die „Warnfunktion" stützt47, die von der zuvor konstatierten Tatbestandserfüllung ausgehe, ist die Prämisse in der Tat angreifbar, soweit zwischen Erfüllung des Tatbestandes und Warnung eine Art gesetzmäßiger Zusammenhang gesehen wird. Je weiter der Täter sich außerhalb des Kernstrafrechts oder im Bereich der Fahrlässigkeit bewegt, desto weniger vermag ihn - in aller Regel, aber eben auch nicht immer - das Wissen um das Vorliegen der Tatumstände zu einem Weiterdenken in Richtung auf eine Einsicht in die Rechtswidrigkeit seines Handlungsprojekts zu veranlassen48. Indessen, und nun ist Widerspruch angebracht, darf daraus nicht geschlossen werden, daß die Schuldtheorie in Fällen sozialethischer Farblosigkeit (oder Offenheit) des Tatbestandes nicht angewandt werden kann49. Sie kann nicht nur, sie muß sogar angewendet werden, aber so, wie § 17 StGB dies mit dem Erfordernis der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums verlangt: wenn die Tatbestandserfüllung im konkreten Einzelfall eine geringe oder gar keine indizielle Wirkung hat, spricht vieles für die Unfähigkeit des Täters zur normgemäßen Motivation und für Freispruch! Die Schuldtheorie darf nicht nur unter dem Aspekt

BGHSt. 2, S. 194 ff, 200 f. BGHSt. 4, S. 236 ff, 243. 41 Kohlrausch/Lange, StGB, 42. Aufl., 1959, Anm. IV4b vor §1; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 281 ff. 49 So aber ausdrücklich Arzt, ZStW 91, S. 885 Anm. 65. 47

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gesehen werden, Vorsatzstrafe auch in Verbotsirrtumsfällen möglich zu machen; vielmehr muß auch ihr anderer Aspekt berücksichtigt werden, Schuldzuweisungen jenseits der individuellen Fähigkeit zur Unrechtseinsicht zu verhindern. Gerade diese Gefahr aber kann nicht ausgeschlossen werden, wenn in bezug auf die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums normative Fahrlässigkeitsmaßstäbe eingesetzt werden. 3. Nicht nur wegen der Irrtumskonsequenzen bedeutsam ist die These, daß bei der Schließung der Fahrlässigkeitsstrafbestimmungen Tatbestands- und Rechtswidrigkeitsüberlegungen in einem situationsbezogenen Sorgfaltsmaßstab untrennbar miteinander verschmolzen werden. Träfe das zu, gäbe es in der Tat weder unterschiedliche Gegenstände für Wissen und Irrtum noch das normale Zusammenspiel von Verbotsnorm und Erlaubnissatz. Angesichts der von Arzt zitierten Beispiele - erste Hilfe am Unglücksort mit unzureichenden Mitteln, Flugzeuglandung auf der zu kurzen, schneefreien statt auf der ausreichend langen, aber verschneiten Piste will es wirklich als Komplikation erscheinen, „wenn man im Tatbestand mit einer von der konkreten Situation gelösten und deshalb irrealen Sorgfaltswidrigkeit argumentiert und die Rechtfertigung dann auf die Einhaltung der angesichts der realen Situation erforderlichen Sorgfalt stützt" 50 . Indessen fließen in diese Argumentation mehrere Aspekte ein, die besser getrennt werden sollten. Dabei ist weniger daran gedacht, daß die Auswahl der Beispiele insofern eine Rolle spielen könnte, als bei der Beurteilung des Verhaltens nicht nur eine Berechtigung, sondern auch eine Verpflichtung zur Operation oder zur Landung bedeutsam ist; Arzt und Pilot dürften ja nicht einfach untätig bleiben (§§ 323 c, 212, 13 StGB). Eher handelt es sich darum, ob manche Komplikationen sich dadurch erledigen, daß Gedanken zum erlaubten Risiko, die im Zusammenhang mit den Beispielen angestellt worden sind, in Wahrheit nicht in den Bereich der Rechtfertigung, sondern schon zur Ermittlung der allgemeinen und von Notsituationen unabhängigen Verhaltensstandards gehören, die dann in den Tatbestandsbeschreibungen ihren Niederschlag finden. Noch wichtiger erscheint, daß die Kritik am Vorgehen an Hand des Schemas „Regel/Ausnahme" nicht schon dann zwingend ist, wenn es sich als unnötige Komplikation erweist, sondern erst, wenn es unmöglich ist. Entscheidend aber ist folgendes: Auch wenn man die Lösung eines Einzelfalles ganz konkret aus den Umständen der Situation heraus entwickelt und jede Verschiebung der Situation wieder eine andere Lösung erforderlich machen würde, gilt sie, sobald die Entscheidung einmal gefallen ist, jedenfalls für alle identischen Situationen! Darin liegt 50

ZStW 91, S. 870.

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der Beginn einer Typenbildung, die in Verhaltensnormen mündet, unabhängig von Erlaubnissätzen. Die Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit setzt sich also in der Sache durch, auch wenn die Arbeit am Einzelfall sofort auf die Unrechtsfrage zielt. c) Die Forderung nach einer Einschränkung der strengen Schuldtheorie für den Bereich der Fahrlässigkeit findet also, wie sich zeigt, in der Offenheit der entsprechenden Strafbestimmung keine Stütze; die besseren Gründe sprechen nicht nur für eine Beibehaltung der gesetzlichen Regelung, sondern darüber hinaus auch für eine noch striktere Anwendung des § 1 7 StGB.

Notwehr bei Angriffen Schuldloser und bei Bagatellangriffen F R I E D R I C H - W I L H E L M KRAUSE

„Hatte die ältere Strafrechtsdiskussion zumeist ganz einseitig nur den Schutz von potentiellen und wirklichen Opfern vor Augen, so besteht heute gelegentlich die Gefahr, nunmehr die Probleme der Täterpersönlichkeit zu sehen und darüber das Opfer aus den Augen zu verlieren", schrieb Hilde Kaufmann 19741. Mit dem Opfer sollen sich auch die folgenden Ausführungen beschäftigen, ist doch der Umfang seiner Befugnis, sich in Notwehr zu verteidigen, in den letzten Jahrzehnten „in den Strudel der Kontroverse" geraten2 und zu besorgen, daß aus Furcht vor allzu schneidiger Verteidigung das Notwehrrecht in seiner Substanz tangiert wird. Die „Gretchen-Frage" der heutigen Notwehrdiskussion ist die einer sinnvollen Notwehreinschränkung3. Alle Autoren sind sich darüber einig, daß zumindest bei „ganz außergewöhnlicher" Unverhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter das Notwehrrecht einzuschränken ist4. Auch die Rechtsprechung hält eine Verteidigung dann für unzulässig, wenn sie „völlig maßlos" erscheint5. Man denke etwa an den berühmten Schulfall, daß der gelähmte Eigentümer den kindlichen Obstdieb mit dem Jagdgewehr aus dem Kirschbaum schießt6. Die Frage ist nur, wo aus der durch Notwehr gerechtfertigten eine strafbare Handlung wird. Wie aber auch immer man die Grenze ziehen mag, unmittelbar aus dem Wortlaut des § 32 StGB läßt sie sich wohl schwerlich herleiten, will man ihn nicht recht willkürlich und subjektiv auslegen. Und allemal bleibt das Problem der Vereinbarkeit einer solchen einschränkenden Interpretation mit Artikel 103 Abs. 2 GG, weil damit die Strafbarkeit für die jenseits dieser - wie auch immer gedachten - Grenze liegenden Fälle

1 Die Kriminalität Jugendlicher und wir; Repression oder Vorbeugung durch Erziehung. Reihe: Psychologisch gesehen - 20, Oeffingen 1974, S. 10f. 2 Maurach, Deutsches Strafrecht, AT (4.), 1971, S.307. 3 Wagner, Individualistische oder überindividualistische Notwehrbegründung, 1984, S. 38. 4 S. hierzu die Ausführungen von Spendet, LK (10.), §32 Rdn. 318 mit Nachweisen. 5 Spendet, a. a. O. 6 S. Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 314 mit Anm. 602.

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postuliert wird, eine Strafbarkeit, die doch offenbar aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu entnehmen ist7. Es allein der Rechtsprechung im Einzelfall zu überlassen, ob sie eine Verteidigung - noch - als Notwehr anerkennt oder bereits als unzulässig ansieht, ist wenig hilfreich, würde in Grenzfällen die Ausführung der Notwehr zu einem Lotteriespiel machen. Der Bürger jedoch muß wissen, was strafbar ist und was nicht. So sind namentlich in neuerer Zeit viele Überlegungen angestellt worden, Kriterien für eine vernünftige Einschränkung der Notwehr zu finden, sei es mit Hilfe der Gedanken des Rechtsmißbrauchs, der Güterabwägung, der Verhältnismäßigkeit oder der Zumutbarkeit 8 . Hierauf sei an dieser Stelle nicht näher eingegangen. Die folgenden Ausführungen sollen sich vielmehr auf einen Teilausschnitt beschränken, wobei von bestimmten Prämissen ausgegangen wird, die freilich ihrerseits heftig umstritten sind und von deren näherer Begründung an dieser Stelle ebenfalls abgesehen werden soll. Zum einen: Entsprechend ihrer historischen Entwicklung sieht man in der Notwehr einmal das Recht des einzelnen auf Selbstschutz, bzw. in der Variante der Nothilfe das Recht, dem rechtswidrig Angegriffenen mit dessen wirklichem oder zumindest mutmaßlichem Willen zu Hilfe zu kommen. Schon bei den Digestenjuristen seit Hadrian dürfte der Satz anerkannt gewesen sein „nam adversus periculum naturalis ratio permittit se defendere'". Später wird dann die bekannte Formel entwickelt „vim vi repellere licet" 10 . Es wäre lebensfremd, dieses quasi Urrecht des Menschen, sich in Notwehr verteidigen zu dürfen, antasten zu wollen angesichts der Tatsache, daß die Polizei als Repräsentant der Staatsgewalt nicht allgegenwärtig sein kann (wie schrecklich auch, wenn sie es wäre!). Der Satz, daß „als .Kampfmittel der Allgemeinheit gegen das Unrecht' (H. Mayer) . . . § 53 StGB (§ 32 heutiger Zählung) in einer Gesellschaft, deren Zivilisation auf der Errichtung eines staatlichen Gewaltmonopols beruht, ein sozialer Atavismus" sei", begegnet erhebli-

7 Anders Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT (3.), 1978, S. 276, weitere Nachweise bei Suppert, Studien zur „notwehrähnlichen Lage", 1973, S. 56 Anm. 75. S. hierzu Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S. 216, ders., L K (10.) vor § 32 Rdn. 35, Spendel, a. a. O., § 32 Rdn.308 mit Nachweisen und F. W. Krause, GA 1979, 330. ' Zur Fülle der Literatur s. die Nachweise bei Spendel, a. a. O., Rdn. 254 ff. ' S. Pernice, Labeo, Römisches Privatrecht im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit, Neudr. Aalen 1963, II 1 (2.) S. 75. Gai. 1. 7 ad ed. prov. = D 9, 2, 4 pr.; s. auch D 9, 2, 45, 4; D 43, 16, 3, 9. 10 D 1, 1, 3; D 9, 2, 45, 4; D 43, 16, 1, 27. Zum ganzen s. F. W. Krause, Festschrift für Bruns, 1978, S. 71 f. 11 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S.373.

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chen Bedenken. Das kriminalpolitische Ziel ist weder eine dem Verbrechen gegenüber permissive oder gar resignierende, noch eine einer „wahren Totschlagsmoral"12 huldigende Gesellschaft13, sondern ein erträgliches Leben unter der Werteordnung des Grundgesetzes. Darüber hinaus dient die Notwehr der Bewährung der Rechtsordnung. Das wird zwar teilweise bestritten, kann aber, wie mir scheint, nicht fraglich sein. Es kommt nicht darauf an, ob bei der Notwehr der Angegriffene subjektiv den Kampf des Rechts gegen das Unrecht führt14, ob er sich dessen bewußt oder ob es ihm völlig gleichgültig ist, sondern entscheidend ist allein die Existenz des Instituts der Notwehr: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen, der Verbrecher soll wissen, daß ihm erheblicher, unter Umständen gefährlicher Widerstand entgegengesetzt werden kann, und er weiß es auch! Damit erfüllt schon die bloße Existenz des Notwehrrechts eine unerläßliche kriminalpolitische Funktion. Wo beides zusammentrifft, Selbstschutz plus Bewährung der Rechtsordnung, sollte die uneingeschränkte Notwehrbefugnis nicht angetastet werden. Im Interesse der Rechtssicherheit sind ihre Voraussetzungen jedoch tunlichst exakt zu normieren, einer Aufweichung und Verunsicherung des Notwehrrechts ist entgegenzutreten15. Wie aber ist die Forderung, das Notwehrrecht in den Fällen „völlig maßloser" Verteidigung einzuschränken, in Einklang zu bringen mit dem Postulat, eine Verunsicherung des Notwehrrechts zu vermeiden? Sicherlich kann bei einer Einschränkung in derart extremen Fällen von einer Aufweichung des Notwehrrechts kaum die Rede sein. Doch enthält selbst die Formel von der „ganz ungewöhnlichen" Unverhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter16 einen Unsicherheitsfaktor, der eine verschiedenartige subjektive Auslegung zuläßt. Da sich eine umfassende, an objektiven Kriterien orientierte Formel zur Einschränkung der Notwehr schwerlich finden läßt, generalklauselartige Formulierungen letztlich doch immer unbefriedigend bleiben, soll der Versuch unternommen werden zu prüfen, ob sich nicht jedenfalls in bestimmten Teilbereichen solche zu einer sinnvollen Einschränkung tauglichen Kriterien aufzeigen lassen. Das kann geschehen durch eine spezifische, auf die Bedürfnisse der Notwehr im System unserer Rechts-

12

Geyer, Handbuch des deutschen Strafrechts, hrsg. von v. Holtzendorff, 4. Bd. 1877,

S. 94. 13 Man denke an den amerikanischen Spielfilm Death Wish („Ein Mann sieht rot") mit Charles Bronson. 14 Was Frank, StGB (18.), § 5 3 A n m . I 2 (S. 161) für eine weltfremde Auffassung hält. 15 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.308. 16 Spendel, a . a . O . , §32 Rdn.318.

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Ordnung zugeschnittene Interpretation des Begriffs des rechtswidrigen Angriffs im Sinne des § 32 StGB 17 . Während die Durchsetzung des Rechts um des Rechtsfriedens willen nach Maßgabe der jeweils in Betracht kommenden Prozeßordnung in einem unter Umständen langwierigen Verfahren zu erfolgen hat, darf der Bürger den „gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff" sofort und gegebenenfalls unter Verletzung der Rechtsgüter des Angreifers von sich oder einem Dritten abwenden, soweit dies zur Verteidigung erforderlich ist. Damit wird der Angriff zum „Zentralbegriff des Notwehrrechts" 18 : das Recht braucht dem angreifenden Unrecht nicht zu weichen. Vom angreifendem Unrecht etwa bei einem reinen Tierangriff zu sprechen, wäre wenig sinnvoll19. Gegen die in den letzten Jahren nahezu einhellig vertretene Meinung, daß Notwehr gegen Tierangriffe nicht in Betracht komme - hier reichten die Notstandsvorschriften aus - hat sich neuerdings Spendel gewandt20: Das Ergebnis sei ganz unbefriedigend, ja geradezu sinnwidrig, zum einen, weil damit der in seinen Sachgütern Angegriffene Tieren gegenüber ein schwächeres Abwehrrecht hätte als gegenüber Menschen, sodann, weil §228 B G B nur Angriffe fremder, nicht jedoch herrenloser Tiere auf andere Sachgüter decken würde, und es schließlich „wenig einleuchtend (sei), wieso man zum Schutze des eigenen alten Hundes den viel wertvolleren Rassehund des Nachbarn niederschießen darf, falls ihn sein Eigentümer hetzt, nicht aber töten dürfen soll, falls der fremde Hund bösartig von selbst den eigenen anfällt"21. Abgesehen von dem prinzipiellen Einwand, daß ein „rechtswidriger" Angriff von einem Tier ohnehin nicht ausgehen kann: Gar so sinnwidrig dürfte die herrschende Meinung aber doch nicht sein. Ist das Ergebnis wirklich unbefriedigend, um das von Spendel gebrachte Beispiel aufzugreifen22, daß dem Landwirt auf Grund des §228 B G B eine unverhältnismäßige (obgleich notwendige) Abwehr versagt ist, wenn sein Feld von einem wildgewordenen Rennpferd oder einem ausgebrochenen Zirkuselefanten zertrampelt wird, weil das kostbare (z.B. mit 300000 D M gehandelte) Pferd oder der dressierte (z. B. 50 000 D M kostende) Dickhäuter ungleich mehr wert wäre, als die einen Verkaufserlös von weni17 S. hierzu F. W. Krause, GA 1979, 330 ff mit weiteren Nachweisen. Grundsätzlich hierzu Hirsch, Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs, in: Festschrift für Dreher, S. 211 ff. 18 Hellmuth Mayer, Strafrecht, AT, 1967, S.96. 19 Vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, S.214. 20 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.39ff. 21 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.40 u. 41. 22 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.40.

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gen tausend Mark einbringende Ernte? Hier ist nicht willkürlich von einem Rechtsbrecher Schaden verursacht worden, sondern es handelt sich um ein unglückliches Ereignis, das durch zivilrechtliche Möglichkeiten z . B . der §§833 BGB, 29 f BJagdG befriedigend ausgeglichen werden kann. Ist demgegenüber die Situation nicht eine ganz andere, wenn etwa, um ein weiteres von Spendel in diesem Zusammenhang verwendetes Beispiel aufzugreifen, Rocker mit ihren Motorrädern mutwillig das Feld des Landwirts verwüsten wollen? Liegt hier nicht ein Angriff vor, bei dem sich für ihre Taten verantwortliche Täter bewußt über das Recht hinwegsetzen? Auch der Hinweis, daß §228 B G B nur zum Zuge komme, wenn die Gefahr von fremden Sachen drohe, nicht jedoch von herrenlosen, ist nicht zwingend. Soweit nicht Sonderregelungen des Jagdrechts entgegenstehen - die für die hier interessierenden Fragen ohnehin kaum von Belang sein dürften - , wird in der zivilrechtlichen Literatur doch offenbar einhellig angenommen, daß §228 B G B zumindest analog in bezug auf herrenlose, dem Jagdrecht unterliegende Tiere23 oder solche Tiere, deren Aneignung verboten ist24, gilt. Und es wäre auch kein Grund ersichtlich, weshalb das nicht so sein sollte. Theoretisch wäre sogar der Fall denkbar, daß § 228 B G B - entsprechend - zur Verteidigung gegen eigene Sachen in Betracht käme, von denen eine Gefahr droht, wenn diese Sachen dem Pfand-, Nutzungs- oder Nießbrauchsrecht eines Dritten unterliegen. Erst recht muß das gelten etwa bei der Tötung eines angreifenden herrenlosen, nicht dem Jagdrecht unterliegenden Tieres. Die Tötung eines solchen Tieres an sich enthält ohnehin keine Rechtsgutverletzung, und es ist nicht einzusehen, weshalb in derartigen Fällen eine Güterabwägung nach §228 B G B unangebracht sein soll. Möglicherweise in Betracht kommende Verletzungen von Tier- oder Naturschutzbestimmungen oder dgl. können gegebenenfalls unter dem Gesichtspunkt des § 34 StGB gerechtfertigt sein. Zum Argument schließlich, es sei wenig einleuchtend, wieso man zum Schutz des eigenen alten Hundes den viel wertvolleren Rassehund des Nachbarn niederschießen dürfe, falls ihn sein Eigentümer hetzt, nicht aber, falls der fremde Hund bösartig von selbst den eigenen anfalle: Das Problem liegt hier doch offensichtlich in der Wertung. Der Schaden darf bei §228 B G B nicht „außer Verhältnis" zur Gefahr stehen. Der angreifende Hund darf zwar getötet werden, wenn er zumindest ebenso wertvoll oder auch wertvoller, in der Regel aber nicht „unverhältnismä23 Vgl. etwa Enneccerus/Nipperdey, §241 Fn. 7; Ermann/Hefermehl (7.), §228 Rdn. 1; RGRK-Jobannsen, §228 Rdn.5; Soergel/Fahse (11.), §228 Rdn. 15; Staudinger/Dilcher (12.), Rdn. 11. 24 Enneccerus/Nipperdey, a. a. O.

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ßig" wertvoller ist als der angegriffene. Und weiter, bei §228 B G B kann das Affektionsinteresse sehr wohl mit berücksichtigt werden25, und das läßt vernünftige Ergebnisse zu26. Der Fall müßte sonach schon ganz extrem liegen, wenn der angreifende Hund des Nachbarn nicht unter Notstandsgesichtspunkten zum Schutz des eigenen Hundes getötet werden könnte. Es dürfte daher, wie mir scheint, keine Notwendigkeit bestehen, von der überwiegenden Auffassung abzugehen, daß es der Notwehrregelung zur Verteidigung gegen Tierangriffe nicht bedarf - hier führen die Notstandsregelungen mit ihrer jeweiligen Güterabwägung zu angemessenen Ergebnissen - , daß Notwehr immer einen von Menschen ausgehenden Angriff voraussetzt. Neben den eingangs erwähnten Fällen „völlig maßloser" Verteidigung, bereiten Fragen der Notwehr gegen Schuldlose Schwierigkeiten, scheut man sich doch offenbar, die rigorose Ausübung des Notwehrrechts gegen Kinder und Geisteskranke - zumindest uneingeschränkt zuzulassen. Hingegen wird es als unbefriedigend empfunden, die Notwehrbefugnis gegen Betrunkene einschränken zu wollen27. Zwar sind sie ihrer Sinne nicht mächtig und man darf ihr Tun nicht mit denselben Maßstäben messen wie das Nüchterner, nur eben, sie haben ihre fehlende oder verminderte Schuldfähigkeit selbst zu vertreten28. Die von einigen Autoren geforderte Beschränkung des Notwehrrechts bei Angriffen Schuldloser29 wird daher unter anderem hauptsächlich deshalb abgelehnt, weil man nicht bereit ist, eine Privilegierung betrunkener Angreifer hinzunehmen30.

25 Palandt/Danckelmann (36.), §228 Rdn.2; Jauernig u.a. (3.), §228 Rdn.2; Soergel/ Fahse (11)., §228 Rdn. 18 mit weiteren Nachweisen. 26 Vgl. das Beispiel bei Soergel/Fahse (11.), §228 Rdn. 19: „Läuft ein fremdes Reitpferd über meinen Hof und droht meinen Rassehund zu zertrampeln, so bin ich zur Tötung des Pferdes berechtigt, weil der Wert des Rassehundes nicht außer Verhältnis steht zum Wert des Pferdes..." Man bedenke, daß man heute normalerweise den Wert eines Reitpferdes zwischen 2000 bis 100000 DM, den eines Rassehundes zwischen 250 und 2500 DM ansetzen kann! 27 Als Beispiel einer das Rechtsgefühl wenig befriedigenden Entscheidung sei B G H N J W 62, 308 genannt. S. hierzu F. W. Krause, Festschrift für Bruns, S. 85. 28 Auf die praktisch gänzlich unbedeutenden Fälle des unverschuldeten Rausches braucht nicht näher eingegangen zu werden, es handelt sich dann um Angriffe Schuldloser (s. dazu den folgenden Text). 29 Vgl. die bei Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 63 Anm. 125 zitierten Autoren; ferner Bertel, ZStW 84 (1972), S. 11; Haas, Notwehr und Nothilfe, 1978, S. 234 ff., 356; Jakobs, Strafrecht AT, 1983, S.316 Rdn. 16; Otto, Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 140 ff. 30 Vgl. etwa Spendet, § 3 2 Rdn. 63.

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Bevor daher im folgenden die Frage erörtert werden soll, ob es eines uneingeschränkten Notwehrrechts zur Verteidigung gegen Angriffe Schuldloser wirklich bedarf, sei die Besonderheit des Angriffs durch Betrunkene angesprochen. Hat der betrunkene Angreifer, wie es die Regel sein wird, fahrlässig oder gar vorsätzlich den Rausch herbeigeführt, dann mag zwar ein in actu schuldloser Angriff vorliegen, aber sicherlich nicht der Angriff eines

Schuldlosen! Durch seine Trunkenheit hat der Angreifer schuldhaft den Gefährdungszustand, die Gefahr einer unkontrollierten Handlungsweise, hier die Gefahr eines möglichen Angriffs auf fremde Rechtsgüter herbeigeführt. In dem rechtswidrigen Angriff (der Rauschtat) hat sich die Gefährdung konkretisiert. Und um dieser Gefährdung willen, die der Betrunkene hätte vermeiden können und die ihm vorgeworfen werden kann, trifft ihn auch das Risiko einer möglicherweise drastischen Verteidigung, die sich nur an der Erforderlichkeit zu orientieren hat, nicht aber auf die Verhältnismäßigkeit der in Frage stehenden Rechtsgüter Rücksicht zu nehmen braucht. Es sind dieselben Erwägungen, auf denen die Strafbarkeit des Vollrausches, §323a StGB, beruht. Wenn dort die Strafe nicht schwerer sein darf als die, die für die im Rausch begangene Tat angedroht ist, und generell die Höchststrafe auf 5 Jahre Freiheitsstrafe beschränkt ist, so kann daraus für eine Einschränkung der Notwehr nichts hergeleitet werden, denn Notwehr hat keinen Strafcharakter, Notwehr und Strafe sind disparate Dinge51. Es besteht sonach generell kein Anlaß, die Notwehrbefugnis gegenüber Betrunkenen einzuschränken. Gleiches gilt für den unter dem Einfluß von Drogen stehenden oder den auf Grund des Rauschmittels nur vermindert schuldfähigen Angreifer. Hingegen ist es angebracht, die Notwehrbefugnis gegenüber schuldlos Handelnden einzuschränken. In der Sache stimmt man weitgehend darin überein, nur eben sieht man darin keine prinzipielle Einschränkung der Notwehrbefugnis, sondern argumentiert - wie auch in den Gesetzesmaterialien - , daß in derartigen Fällen die sozialethisch gebotene Einschränkung bereits im Merkmal der Gebotenheit der Verteidigung enthalten sei32. Man könnte in der Tat die praktische Bedeutung dieses Streits als gering ansehen33, wenn es nur um die Frage ginge, ob die für erforderlich gehaltene Einschränkung den „Angriff" im Sinne des § 32 StGB entfallen

31 52 35

Das dürfte heute allgemeiner Auffassung entsprechen. Roxin, ZStW 93 (1981), S. 83. Roxin, a. a. O., S. 82.

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lasse, diesem den Charakter des Rechtswidrigen nehme34 oder sich dies bereits aus der Gebotenheit der Verteidigung ergebe. Die Rechtsdogmatik jedoch darf die Frage der Zuordnung der Einschränkung nicht offen lassen. Sie ist im übrigen auch keineswegs ohne Bedeutung im Hinblick auf Artikel 103 Abs. 2 GG. Scheidet man - folgt man der hier vertretenen Auffassung - die Rauschtat nach § 323 a StGB aus, verbleiben nach allgemeinen Regeln als schuldlos Handelnde im wesentlichen die Kinder, § 19 StGB, die Jugendlichen, denen die Reife gemäß § 3 JGG fehlt, die gemäß § 20 StGB Schuldunfähigen, die im entschuldigenden Verbotsirrtum, § 17 StGB, im entschuldigenden Notstand, §35 StGB, oder unter den Voraussetzungen des § 33 StGB in Notwehrüberschreitung Handelnden 35 . Die Frage ist, ob gegenüber Angriffen Schuldloser die oben angestellten Erwägungen bezüglich des „Selbstschutzes plus Bewährung der Rechtsordnung" einer Einschränkung der Notwehrbefugnis entgegenstehen. Sicherlich hat der Angegriffene einen solchen Angriff nicht schutzlos hinzunehmen, mangelnde Schuld kann kein Freibrief für den Angreifer sein. Das Recht auf Selbstschutz steht außer Zweifel. Aber der Geisteskranke, das Kind oder der schuldlos Irrende stellt mit seinem Angriff die Rechtsordnung nicht in Frage, weil er sie entweder nicht erfassen kann oder weil er, ohne daß man ihm einen Vorwurf daraus machen kann, nicht erkennt, daß sein Tun objektiv gegen das Recht gerichtet ist. Gegenüber ihrem Tun bedarf es nicht der „Bewährung" der Rechtsordnung36. So wird denn auch von einer Mindermeinung im Schrifttum die Auffassung vertreten, daß ihnen gegenüber das „schneidige" Notwehrrecht nicht vonnöten sei37, die Notstandsbestimmungen einen zureichenden Schutz böten und die Fälle, in denen der Verteidiger die Schuldlosigkeit des Angreifers nicht erkenne, über die Irrtumsregelungen angemessen zu lösen seien. Dieser Weg hätte unbezweifelbar den Vorteil, auf der einen Seite den Gedanken der Bewährung der Rechtsordnung zu unterstreichen, auf der anderen Seite böte er eine wünschenswerte Einschränkung der Notwehr: Zur Literatur s. Roxin, a . a . O . Weitere mögliche Fälle der Entschuldigung mögen im folgenden außer Betracht bleiben, da sie für die hier interessierenden Fragen keine wesentlich andere Betrachtung erfordern. " Hierzu instruktiv Hirsch, Festschrift für Dreher, S. 2 1 7 u. 222 ff. 37 Otto, Grundkurs Strafrecht, Allg. Strafrechtslehre (2.), 1982, S.94; ders., Festschrift für Würtenberger, S. 138 f f ; Samson in SK StGB, § 3 2 R d n . 2 1 ; Schmidhäuser, Strafrecht A T , Lehrbuch (2.), 1975, S.348 (9/95); ders., Strafrecht A T (2.), 1984, S . 1 5 6 (6/67); Stratenwerth, Strafrecht A T I (3.), 1981, Rdn.435; F. W. Krause, Festschrift für Bruns, S. 83 f f ; ders., G A 1979, S.335; s. ferner die in oberer A n m . 2 9 zitierten Autoren. 34 55

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durch das den Notstandsregelungen immanente Prinzip der Güterabwägung würden für das Rechtsempfinden unerträgliche Ergebnisse vermieden. Auf Notwehr könnte sich nicht berufen, wer auf den kindlichen Obstdieb schießt, auf Notwehr könnte sich nicht berufen, wer, wie in dem vom O L G Hamm N J W 77, 590 = J Z 77, 195 entschiedenen Fall, den anderen in den Irrtum versetzt, es liege ein Angriff vor, und sich dann gegen dessen vermeintliche Verteidigung selbst zur Wehr setzt38. Bedenken gegen diesen Lösungsweg können sich ergeben, wenn der Verweis auf die Notstandsregelungen unzulässig wäre, das Schutzbedürfnis des Angegriffenen nicht befriedigen würde oder Lücken aufwiese. Wenn vereinzelt die Auffassung vertreten wird, daß § 32 StGB eine abschließende Regelung für von Menschen ausgehende Angriffe darstelle, so kann dem nicht gefolgt werden 3 ': Es kann sehr wohl Notstandssituationen gegenüber „rechtmäßigen" Angriffen geben, nur kommt dann nicht das „schneidige" Notwehrrecht, sondern das Notstandsrecht mit seinen wohlabgewogenen Güterabwägungs- und Zumutbarkeitserfordernissen zur Anwendung. Und wenn das sogar schon in bestimmten Fällen rechtmäßiger Angriffe gilt, muß es um so mehr gelten bei rechtswidrigen Angriffen Schuldloser, sofern man mit den Autoren übereinstimmt, die bei Angriffen Schuldloser die Notwehrbefugnis einschränken wollen. §228 B G B berechtigt nur zur Beschädigung oder Zerstörung einer fremden Sache, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, gibt jedoch keine Befugnis zur Verteidigung unmittelbar gegen Menschen40. §34 StGB rechtfertigt Notstandshandlungen, „wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt" 41 . Damit wäre aber eine nicht unbedeutende Körperverletzung oder gar Tötung bei nicht anders abwendbaren Angriffen auf Sachwerte (bei Diebstahl, Raub, Sachbeschädigung, Brandstiftung oder dgl.) ebensowenig gedeckt wie etwa die Tötung eines Geisteskranken, der 38 Der Angriffene hatte schuldhaft den Eindruck erweckt, er stehle in seinem Betrieb, und wehrte sich heftig, als ein von der Geschäftsleitung Beauftragter ihn am Verlassen des Werksgeländes hindern wollte, bevor nicht der Kofferraum seines Wegens durchsucht worden war. Das O L G Hamm hat hier die Ausübung des Notwehrrechts als rechtsmißbräuchlich angesehen. 35 S. hierzu eingehend Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn.93 und Sch.-Schr.-Lenckner (21.), § 34 Rdn. 6 am Ende. Anderer Ansicht Seelmann, Das Verhältnis von § 34 StGB zu anderen Rechtfertigungsgründen, 1978, S.64f. 40 Vgl. Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn. 72. 41 S. hierzu Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn. 77.

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sich in seinen Wahnvorstellungen verfolgt glaubt und zur Schußwaffe greift, oder die des Amokläufers, da im rechtlichen Sinne jedenfalls nicht Menschenleben gegen Menschenleben abgewogen werden kann angesichts der Tatsache, daß „jedes Leben für das Recht einen absoluten Höchstwert darstellt" 42 . Die Frage ist, ob in derartigen Fällen über § 35 StGB ein zureichender Schutz gewährt werden kann. Abgesehen davon, daß hiernach die Handlung nur entschuldigt wird - gegen sie damit unter Umständen Notwehr zulässig wäre - , bezieht sich § 35 StGB nur auf Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit und entschuldigt lediglich die eigene Gefahrenabwehr oder die zugunsten eines Angehörigen oder einer sonst nahestehenden Person. Die Handlung zum Schutz eines anderen Dritten wäre somit nicht entschuldigt, auch nicht die zum Schutz anderer Rechtsgüter als Leben, Leib oder Freiheit. Auch die in der Literatur erörterten Gedanken eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstands, wie sie im Anschluß an die „Euthanasie"Prozesse der Nachkriegszeit ( O H G 1, 335 und 2, 126) oder an die in BVerfGE 32, 98 angestellten Überlegungen zu der in Art. 4 G G garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit entwickelt worden sind, lassen sich auf die hier erörterten Fragen nicht übertragen. Es erscheint auch unbillig, gegen denjenigen, der den schuldunfähigen Amokläufer erschießt, weil anders die Rettung weiterer, dem Retter allerdings fremder Menschenleben nicht möglich ist, den Vorwurf zu erheben, er habe sich über die Rechtsordnung hinweggesetzt, gegen das Recht verstoßen, jedoch auf Grund der Notstands- oder notstandsähnlichen Situation Nachsicht verdient, so daß man gegen ihn den Schuldvorwurf nicht erhebe oder zumindest auf Strafe verzichte43. So wird man einräumen müssen, daß es Ausnahmesituationen bei der Verteidigung gegen Angriffe Schuldloser geben kann, in denen die Versagung der Notwehrbefugnis und die Verweisung auf das Notstandsrecht nicht zu befriedigen vermag. Die beiden Extremsituationen sind gekennzeichnet durch das Beispiel des Gelähmten, der das Kind aus dem Kirschbaum schießt, weil er anders den Kirschendiebstahl nicht verhindern kann einerseits, und desjenigen, der zur Rettung weiterer Menschenleben den schuldunfähigen Amokläufer erschießt andererseits. Im ersten Fall wäre die Gewährung, im zweiten Fall die Versagung der uneingeschränkten Notwehrbefugnis in hohem Maße unbefriedigend. Angesichts dieses Dilemmas wäre zu überlegen, ob man bei Angriffen Schuldloser - sofern die Verteidigung nicht ohnehin aus §34 StGB gerechtfertigt ist - Notwehr nur im Rahmen einer Güterabwägung 42 43

Sch.-Schr.-Lenckner (21.), §34 Rdn.23. Grundsätzlich zu diesem Fragenkreis Hirsch, LK (10.) vor §32 Rdn. 200 ff.

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zuläßt, wie sie sinnvoll in § 228 B G B vorgesehen ist, nämlich nur, soweit der Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr steht. Damit wäre, da es hier einer Bewährung der Rechtsordnung nicht bedarf, dem Schutzbedürfnis des einzelnen in zureichender Weise Rechnung getragen; soweit er Einschränkungen erleidet, wären diese zumutbar: Das Kind dürfte nicht aus dem Kirschbaum geschossen werden, und wenn zivilrechtlich kein Ersatz für das gestohlene Obst zu erlangen wäre, müßte der Schaden hingenommen werden. Der geisteskranke Amokläufer dürfte in dem angeführten Beispiel erschossen werden, denn anders als bei §34 StGB wäre jetzt nicht abzuwägen, ob das geschützte Interesse das verletzte wesentlich überwiegt, eine Abwägung, die, wie ausgeführt, nicht zulässig wäre, wenn Menschenleben gegen Menschenleben steht, sondern es wäre jetzt nur zu prüfen, ob der Schaden (Tod des Amokläufers) außer Verhältnis zur Gefahr steht (Tod weiterer Dritter). Und eine solche Frage wäre eindeutig zu beantworten. Auch der der erwähnten Entscheidung des O L G Hamm (NJW 77, 590 = J Z 77, 195) zugrunde liegende Fall könnte auf diese Weise befriedigend gelöst werden: Der in vermeintlicher Notwehr handelnde schuldlos Irrende dürfte nicht durch mit Körperverletzungen verbundener Gewalt daran gehindert werden, den Kofferraum des Wagens zu öffnen, um kontrollieren zu können, ob hier im Betrieb gestohlenes Gut versteckt ist: Verletzung der Körperintegrität steht außer Verhältnis zur Verletzung der in §240 StGB geschützten Freiheit der Willensentschließung (nämlich den Kofferraum zu öffnen). Im allgemeinen wird dem sich Verteidigenden die fehlende Schuld des Angreifers erkennbar sein. Weder vergibt er sich dann etwas, wenn er seine Verteidigung an der Güterabwägung orientiert, noch nimmt das allgemeine Rechtsbewußtsein Schaden, wenn in derartigen Fällen das Notwehrrecht nicht in seiner Härte und Schneidigkeit, sondern nur abgewogen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung kommt. Irrtumsfälle könnten in entsprechender Anwendung der Regelungen der §§ 16 und 17 StGB angemessen gelöst werden. Abgesehen von den soeben erörterten Fällen der Angriffe Schuldloser bedarf es noch in einem weiteren Bereich der Einschränkung der Notwehrbefugnis. Es sind dies die Fälle der Behandlung der Notwehr bei von schuldfähigen Tätern ausgehenden - Angriffen auf geringwertige Güter. Im wesentlichen stimmt man in der Sache darin überein, daß es hier irgendwo eine Grenze für die uneingeschränkte Ausübung der Notwehr geben muß. Wohl kaum ein Autor dürfte bei „ganz außergewöhnlicher Unverhältnismäßigkeit" das harte Notwehrrecht zulassen wollen. Das Problem ist nur, objektive Kriterien aufzuzeigen, in welchem Bereich die Notwehr in welcher Weise zu beschränken ist.

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Daß es sich hierbei um Abwehr angreifenden Unrechts handelt, ist nicht zu bestreiten, ebensowenig, daß auch hier das Recht dem Unrecht grundsätzlich nicht zu weichen braucht, daß man sich auch gegen Bagatellangriffe wehren darf. Aus diesem Grunde wäre es auch nicht gerechtfertigt, selbst bei Bagatellangriffen die Notwehrbefugnis völlig ausschließen zu wollen. Jedoch muß eine Grenze gefunden werden, wo die Anwendung der zur erfolgreichen Abwehr an sich erforderlichen Verteidigung gänzlich maßlos erscheint angesichts des krassen Mißverhältnisses zwischen dem Wert des Angriffsobjekts und des durch die Verteidigung verletzten Rechtsguts44. Nur eben, „wo soll überhaupt die Grenze zwischen dem noch verteidigungsfähigen wertvolleren und dem nicht mehr verteidigungswürdigen geringerwertigen Rechtsgut gezogen werden"45? Spendet ist beizupflichten, daß - von ganz krassen Ausnahmefällen abgesehen die heutige Tendenz abzulehnen sei, das Notwehrrecht mit dem Hinweis auf die Nichtverhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter einzuschränken oder sogar, soweit eine unter Umständen zielgerichtete Tötung zur Verteidigung von Sachgütern rundweg für unzulässig erklärt wird, ganz auszuschließen46. Aber um diese „ganz krassen Ausnahmefälle" gerade geht es hier, um den Versuch, die Grenze des Notwehrrechts berechenbar zu machen, Notwehr auch im Bereich der kleinen, der Alltagskriminalität nicht zum Glücksspiel werden zu lassen. Wollte man dem gebrechlichen Alten das Recht nehmen, auf den kräftigen jungen Wohnungseinbrecher, der es nur auf Bargeld abgesehen hat, und seien es auch nur 50 DM, zu schießen und ihn unter Umständen zu töten, wenn er sich anders nicht wehren kann, dann würde sich in der Tat die Rechtsordnung selbst aufgeben, das wäre geradezu eine Einladung an den Verbrecher. Im Anschluß an Oetker argumentiert H. Mayer47, wenn der angegriffene Wert allzu gering sei, so werde der Angriff zum bloßen Unfug, gegen welchen nur die Unfugabwehr zulässig sei; diese dürfte sich nur unblutiger Mittel bedienen. Niemand bezeichne es als Angriff, wenn der ungezogene Zechgenosse einem anderen dessen Bier austrinken wolle. Richtig ist, daß zwar unangenehme, aber sozial übliche Belästigungen wie Schieben oder Stoßen in einer Menschenmenge oder dergleichen48 in 44 Dieses Problem nimmt in der Literatur seit langem einen breiten Raum ein. Verwiesen sei auf Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 307-320 und die dort Zitierten. 45 Spendel, a. a. O., § 32 Rdn. 319 unter Hinweis auf M. E. Mayer und Schmidhäuser. 46 A . a . O . , § 3 2 Rdn.320; anders neuerdings Frister, GA 1985, 553ff. 47 Strafrecht AT, Stuttgart 1953 S.204 mit weiteren Nachweisen S.209 A n m . 4 0 ; s. ferner Maurach/Zipf, AT 1 (6.), S.340 Rdn. 17 und Sch.-Schr.-Lenckner (21.), § 3 2 Rdn. 49. 48 Weitere Beispiele bei Sch.-Schr -Lenckner, a. a. O., Rdn. 49.

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der Regel ebensowenig einen „Angriff" im Sinne des § 32 StGB darstellen wie etwa als Scherz gemeinte 'Plumpheiten. Hier wird man angesichts der Gesamtumstände mehr auf die Intention des Belästigenden abstellen müssen. Hingegen dürfte allein die Berücksichtigung des materiellen Werts des angegriffenen Rechtsguts kein zureichendes Kriterium zur Abgrenzung gegenüber dem Unfug sein. Nimmt der Stadtstreicher dem Passanten eine Mark weg, um sich ein weiteres Bier leisten zu können, so ist das Raub und kein Unfug. Verteidigt der auf frischer Tat betroffene Dieb, der dem Passanten eine Mark gestohlen hat, diesem gegenüber seine Beute, so ist das ebenfalls kein Unfug, sondern ein Verbrechen nach §252 StGB. Verabreden sich Schüler, in der Pause in einem Geschäft Waren zu stehlen, um sich gegenseitig ihre Geschicklichkeit und ihren Mut zu beweisen, so ist ihr Tun kriminell, nämlich Diebstahl, selbst wenn die Beute noch so klein ist, und nicht bloß Unfug. Ist dem zwar zuzustimmen, daß sich die bloße Unfugabwehr nur unblutiger Mittel bedienen dürfe, so wird sich doch eine allgemein akzeptierte, an objektiven Kriterien orientierte Definition des „Unfugs" im Gegensatz zum „rechtswidrigen Angriff" im Sinne des §32 StGB nicht finden lassen. Auch bleibt die Frage offen, ob bei der Unfugabwehr die Verteidigung mit Hilfe nur unblutiger Mittel an Proportionalitätserwägungen gebunden ist. Zwar wird wohl kaum jemand H. Mayer widersprechen, um dessen scherzhaftes Beispiel aufzugreifen49, daß niemand eine zänkische Ehefrau erschlagen darf, weil er anders ihren Redefluß nicht zu hemmen vermag. Aber darf man sie in den Keller sperren? Wohl kaum! Darf man die wertvolle Stereoanlage seines Nachbarn oder die teure Verstärkerausrüstung einer in der Nähe gastierenden Band zerschlagen, wenn man sich in seiner Nachtruhe gestört fühlt und die Polizei wegen anderweitiger Einsätze verhindert ist, für Ruhe zu sorgen? So vermag die prinzipiell richtige Unterscheidung von „Angriff" und bloßem „Unfug" und dessen unblutiger Abwehr in Grenzfällen auch nicht weiterzuhelfen. Einerseits kann es keine Frage sein, daß man sich auch im Bagatellbereich gegen Angriffe wehren darf, hier jedoch eine zur erfolgreichen Abwehr zwar erforderliche, aber in ihren Auswirkungen völlig maßlose Verteidigung nicht hingenommen werden kann. Andererseits ist eine exakte, an Hand objektiver Kriterien festlegbare und allseits akzeptierte abstrakte Abgrenzung gegenüber diesem Bagatellbereich nicht möglich. So bleibt zu überlegen, ob sich nicht aus der diesen Ausführungen vorangestellten These, daß jedenfalls dort, wo die Gedanken des Selbst-

49

A. a. O., S. 204.

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schutzes und der Bewährung der Rechtsordnung zusammentreffen, die Notwehrbefugnis nicht angetastet werden darf, eine Lösung auch für das hier anstehende Problem ableiten läßt. Das Selbstschutzinteresse kann auch bei Bagatellangriffen nicht bestritten werden. Es läßt sich aber darauf verweisen, daß der Gedanke der Bewährung der Rechtsordnung immerhin dort Einschränkungen hinnehmen kann, wo selbst das staatliche Verfolgungsinteresse, das im Legalitätsprinzip seinen Niederschlag findet, wegen des Bagatellcharakters des Angriffs auf die Rechtsordnung eingeschränkt ist. Und das trifft zu auf die Fälle „absoluter" Geringfügigkeit 50 nach § 153 StPO, ferner auf die des §383 Abs. 2 StPO, jedoch nicht auf die anderen Fälle der §§ 153 äff StPO, bei denen von Strafverfolgung oder von Strafe abgesehen werden kann51. Innerhalb dieses Bereiches ist es vertretbar und angemessen, die Notwehrbefugnis in der Weise zu beschränken, daß eine „völlig maßlose Verteidigung" durch § 32 StGB nicht mehr gedeckt wird. Es kommt also nicht auf die Relation der in Frage stehenden Rechtsgüter an, sondern auf die Gesamtwürdigung des Geschehens, wobei die konkreten Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. In diesem Rahmen kann naturgemäß auch die Frage der Verhältnismäßigkeit eine Rolle spielen. Die Wegnahme einiger Kartoffeln in Zeiten der Hungersnot oder Lebensmittelbewirtschaftung wäre sonach anders zu bewerten als in Zeiten allgemeinen Wohlstandes. Allerdings ist es nicht zu verkennen, daß dem Kriterium der „geringen Schuld" in §153 StPO eine juristische Wertung zugrunde liegt, über deren Auslegung Zweifel bestehen können und gerade in plötzlich auftretenden Notwehrsituationen kaum Zeit für eine gelassene Abwägung aller Umstände bleiben kann. Auf der anderen Seite jedoch besteht auch für die Strafverfolgungsorgane bezüglich der Anwendung des § 153 StPO kein unbeschränktes Ermessen, sondern es handelt sich bei dem Begriff der „geringen Schuld" im Sinne dieser Bestimmung um einen unbestimmten Rechtsbegriff 52 , hinsichtlich dessen sich eine gewisse Praxis eingependelt hat; Literatur und Rechtsprechung sind um seine Konkretisierung bemüht 53 . Und damit liegt bereits mehr vor als eine bloß unbestimmte Allgemeinklausel, ist immerhin eine gewisse Objektivierung angebahnt und dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 G G

50

Roxin, Strafverfahrensrecht (18.), 1983, S.67; s. auch Montenbruck, JR 1985, 117. Vgl. F. W. Krause, Festschrift für Bruns, S. 86 f. 52 LR-Meyer-Goßner (23.), § 153 Rdn. 37 u. 38 mit weiteren Nachweisen. 53 S. Meyer-Goßner, LR (23.), § 153 Rdn. 38 sowie die dort § 153 vor Rdn. 1 Zitierten sowie Warda, Dogmtische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962, S.96 und Bloy, Zur Systematik der Einstellungsgründe von Strafverfahren, GA 1980, S. 161 ff., 172. 51

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etwas entgegengekommen. Verbrechen würden schon auf Grund des ausdrücklichen Wortlauts des §153 StPO ausscheiden, Vergehen mit höherer Mindeststrafe zumindest regelmäßig nicht unter § 153 StPO fallen, weil das Gesetz durch die erhöhte Strafuntergrenze zum Ausdruck gebracht hat, daß es das Verschulden nicht als gering erachtet54. So wäre es eine Möglichkeit, auf §153 StPO - und Gleiches gilt insoweit für § 383 Abs. 2 StPO - zu verweisen und zu sagen, daß in den Fällen, in denen die Strafverfolgungsorgane wegen absoluter Geringfügigkeit nicht zu verfolgen brauchen, auch für den Bürger die Notwehrbefugnis eingeschränkt ist, hier dem an sich harten Notwehrrecht Grenzen gesetzt sind. Völlig maßlose Verteidigung kann in diesem Bereich nicht mehr als „dem Recht gemäß", als „gerechtfertigt" akzeptiert werden. Meist wird der Angriffene oder der ihm zu Hilfe Eilende aus seiner Laiensphäre - und mehr kann nicht verlangt werden - die Umstände bewerten können, die den Angriff als geringfügig im Sinne des § 153 StPO erscheinen lassen. Irrt er sich, kommt man allemal über die Irrtumsregelungen der § § 1 6 und 17 StGB zu angemessenen Ergebnissen. Der Unsicherheitsfaktor der Zuordnung eines Angriffs als „geringfügig" wäre bei dem Verweis auf die entsprechenden Kriterien des § 153 StPO auf ein erträgliches Maß reduziert. Stimmt man dem zu, dann liegt es nahe, auch in dem Bereich des so beschriebenen Bagatellangriffs - in gleicher Weise wie bei Angriff Schuldloser - die Notwehrbefugnis gemäß der Verhältnismäßigkeitsklausel des § 2 2 8 B G B einzuschränken: Verteidigung nur so weit, als der durch sie zu erwartende Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr steht55. Die vorgetragenen Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Notwehr kann es nur gegen von Menschen ausgehende Angriffe geben. An dem Satz, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, sollte nicht gerüttelt, die Notwehr als Bestandteil unserer Rechtsordnung - allen Zeitströmungen zum Trotz - nicht in Frage gestellt werden. Unerträglich jedoch wäre eine Pervertierung dieser Institution zur Rechtfertigung einer zur erfolgreichen Abwehr zwar notwendigen, in ihrem Ergebnis aber maßlosen Verteidigung bei Bagatellangriffen. Ferner bedarf es der Bewährung der Rechtsordnung mit

KMR-Müller (7.), § 1 5 3 R d n . 5 . D e r Verfasser hatte früher einmal vorgeschlagen, im Bereich der Bagatellangriffe die Notwehrbefugnis entsprechend den Kriterien des § 3 4 StGB einzuschränken (Festschrift für Bruns, S. 87 f.). Diese Auffassung wird aufgegeben, weil sie die Verteidigungsbefugnis zu sehr einschränkt. 54

55

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Hilfe dieses den Angreifer unter Umständen hart treffenden Rechts nicht gegenüber Angriffen Schuldloser, zu denen die Betrunkenen nicht zählen. Um aber auch in diesem Bereich - bei Bagatellangriffen und Angriffen Schuldloser - den Umfang der Verteidigungsbefugnis nicht zufälliger Interpretation zu überlassen, wird vorgeschlagen, hier den Umfang der Verteidigung nach den Kriterien des §228 B G B zu beschränken. Als Bagatellangriff wäre ein Angriff anzusehen, der nach den Gesamtumständen ein solcher von geringer Schuld im Sinne des §153 StPO ist. Ein Irrtum des Angriffenen oder ihm zu Hilfe Eilenden über den Bagatellcharakter des Angriffs oder über die mangelnde Schuld des Angreifers kann durch die entsprechende Anwendung der §§16 und 17 StGB angemessen berücksichtigt werden.

Grundlage und Rechtsnatur des Notstands im spanischen Strafgesetzbuch* JOSÉ CEREZO M I R

Es ist für mich nicht nur eine Ehre, sondern auch ein tiefes inneres Bedürfnis, Hilde Kaufmann durch die Mitwirkung an dieser Gedächtnisschrift zu danken. Ich lernte sie Ende der fünfziger Jahre an der Universität Bonn kennen, und mich verband mit ihr seither eine enge kollegiale Freundschaft. Ihr großes wissenschaftliches Können vereinigte sich mit außergewöhnlichen menschlichen Qualitäten. Als Beitrag zu der Gedächtnisschrift widme ich ihr einen Ausschnitt des noch unveröffentlichten Kapitels über den Notstand meines „Curso de Derecho penal español. Parte General". Der Text wurde hierzu an einigen Stellen etwas gekürzt. Die Regelung des Notstands im spanischen Recht ist völlig anders als die des deutschen Rechts. Unser Zivilgesetzbuch enthält keine Bestimmungen über den Notstand, und das Strafgesetzbuch kennt nur den Ausschließungsgrund + der Ziff. 7 des § 8. Diesem zufolge ist von strafrechtlicher Verantwortung befreit: „Wer, veranlaßt durch einen Notstand, um ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden, ein Rechtsgut eines anderen verletzt oder einer Pflicht zuwiderhandelt, vorausgesetzt daß folgende Voraussetzungen vorliegen: Erstens. Das zugefügte Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein. Zweitens. Die Notstandslage darf nicht absichtlich durch den Täter herausgefordert worden sein. Drittens. Der Notstandstäter darf nicht aufgrund seines Berufs oder Amts die Verpflichtung haben, sich zu opfern." Bis zu der anläßlich der Teilreform des Strafgesetzbuchs von 1944 in § 8, Ziff. 7 erfolgten Einbeziehung der Fälle, in denen das zugefügte Übel gleich groß wie das zu vermeidende ist, sah die herrschende Meinung den Notstand als einen Rechtfertigungsgrund an, der in dem

* Übersetzung von cand. iur. Anke Voswinkel. + = eximente (span.) = Ausschließungsgrund als allgemeine Bezeichnung für alle Gründe, welche eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen (Anmerkung der Übersetzerin).

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Prinzip des überwiegenden Interesses begründet war1. Bis dahin war für die Annahme dieses Ausschließungsgrundes erforderlich, daß das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende war. Mit der Einbeziehung der Fälle einer Kollision gleichgewichtiger Interessen in denselben Ausschließungsgrund glaubten Antón Oneca und Rodríguez Muñoz, sich vor der Alternative zu befinden, die Gesamtheit des Ausschließungsgrunds entweder als einen einfachen Schuldausschließungsgrund zu begreifen oder anzunehmen, daß die Vorschrift trotz der formalen Einheit einen Rechtfertigungsgrund und einen Schuldausschließungsgrund beinhaltet2. Die Möglichkeit, die Gesamtheit des Ausschließungsgrunds als einfachen Schuldausschließungsgrund anzusehen, lehnten Antón Oneca und Rodríguez Muñoz ab. „Es widerstrebt uns jedoch zu glauben", sagte Antón Oneca, „daß jedes Notstandsdelikt bloß schuldlos ist: Wenn wir uns eines fremden Boots bemächtigen, um jemanden, der zu ertrinken droht, zu retten, oder einen halb Erstickten, um ihn wiederzubeleben, auf der Suche nach Wärme und Kleidung gegen den Willen des Eigentümers in ein fremdes Haus bringen, darf man keine Notwehr gegen unser wohltätiges Tun zulassen3." Antón Oneca und Rodríguez Muñoz kamen deswegen zu der Ansicht, daß der Notstand im Fall einer Kollision ungleichgewichtiger Interessen, bei dem das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, einen auf dem Prinzip des überwiegenden Interesses fußenden Rechtfertigungsgrund darstellte, während der Notstand im Fall einer Kollision gleichgewichtiger Interessen ein bloßer Schuldausschließungsgrund wäre4. Diese Beurteilung fand starken Anklang und bildet noch heute die herrschende Meinung in unserem Land5. Der Grund der Schuldausschließung in den Fällen einer 1 Siehe z . B . P.Jerónimo Montes, Derecho penal español, Parte General, I, Madrid 1917, S. 455 ff; Cuello Calón, Derecho Penal, I, Parte General, 3. Aufl., Barcelona, 1935, S. 371 ff; Castejón, Derecho penal, Parte general, Madrid, 1931, S. 123; Rodríguez Muñoz, Bemerkungen zu seiner Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal von Ed. Mezger, I, Ed. Rev. de Derecho Privado, Madrid, 1935, S. 378 f; I. Sánchez Tejerina, Derecho Penal Español, I, 3. Aufl., Madrid, 1942, S.235; und Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, Buenos Aires, 3. Aufl., 1976, S.358. 2 Siehe Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, Madrid, 1949, S.266 und 271 f und Rodríguez Muñoz, Bemerkungen zu seiner Ubers, des Tratado de Derecho Penal von Ed. Mezger, I, Madrid, 1955, S. 450 f. 3 Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 266. 4 Antón Oneca forderte zur Anerkennung des Rechtfertigungsgrunds, daß das zu vermeidende Übel schwer und offenkundig höherwertig als das verursachte ist; siehe a. a . O . , S.266 und 271. 5 Siehe Cuello Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , 18. Aufl., Barcelona, 1980, S. 407 ff; Ferrer Sama, Comentarios al Código Penal, I, Murcia 1946, S.200ff; Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S.359, 368 ff und 394; Díaz Palos, Estado de necesidad, Sonderdruck von la N . E . J . Seix, Barcelona, S. 32 ff; Sáinz Cantero, La exigibilidad de conducta adecuada a la norma en Derecho Penal, Universidad

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Kollision gleichgewichtiger Interessen liegt nach Meinung unserer Strafrechtler in der Unzumutbarkeit normgerechten Verhaltens. Einige Autoren äußerten Vorbehalte oder Kritik an der übermäßigen Weite des Ausschließungsgrunds in den Fällen der Nothilfe bei der Kollision gleichwertiger Interessen6. Antón Oneca schlug eine einschränkende Auslegung des Schuldausschließungsgrunds in diesen Fällen vor: „Nur wenn zwischen dem Helfenden und dem Hilfsbedürftigen eine solche Verbindung besteht, daß jener gezwungen ist, die fremde Notlage als eigene anzusehen, ist die Nothilfe möglich. Diese wird zwischen den engsten Verwandten oder ganz ausnahmsweise zwischen durch ähnliche Gefühle verbundenen Personen vorliegen 7 ." Die herrschende Meinung sieht sich in ihrer Ansicht, daß der Notstand dann, wenn das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, einen Rechtfertigungsgrund bilde, nicht durch die Regel 2 des §20 gehindert, die die zivilrechtliche Verantwortung in den Anwendungsfällen des § 8, Ziff. 7 bestimmt. Nach dieser Vorschrift werden die Personen zivilrechtlich haftbar gemacht, zu deren Gunsten das Übel verhütet wurde. Diese Verantwortlichkeit ist also nicht Folge einer unerlaubten Handlung, sondern folgt aus dem Prinzip der Geschäftsführung ohne Auftrag oder der ungerechtfertigten Bereicherung8. Von der herrschenden Meinung in der spanischen Strafrechtswissenschaft über die Rechtsnatur des Ausschließungsgrunds des Notstands weicht Gimbernat ab. Er meint, daß der Notstand sowohl in den Fällen eines Konflikts ungleichwertiger Güter als aus bei der Kollision gleichwertiger Güter die Natur eines Rechtfertigungsgrundes besitze9. Entgede Granada, 1963, S. 122 ff und Lecciones de Derecho Penal, Parte General, II, Ley penal. El delito, Barcelona, 1982, S. 377 ff und III, Culpabilidad, Punibilidad, Formas de aparición, Barcelona, 1985, S. 106 f; ]. Bustos, Manual de Derecho Penal Español, Parte General, Barcelona, 1984, S.246f und 405 f; und die Urteile des Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo) vom 29. September 1965 (A.4018), 15. Juni 1971 (A.2877), 6. Juli 1971 (A. 3443), 5. Februar 1974 (A. 380), 24. September 1974 (A.3404), 5. Oktober 1974 (A. 3910), 26. November 1975 (A.4591), 26. Oktober 1979 (A.3753), 21. Juni 1982 (A. 3564), 22. April 1983 (A.2300) und 11. Oktober 1983 (A.4733). 6 Siehe in diesem Sinn Ferrer Sama, Comentarios al Código Penal, I, S. 202; Cuello Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , S. 414; und Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S. 395 ff. 7 Siehe Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 272, dessen Kriterium Cuello Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , S. 415 und Díaz Palos, Estado de necesidad, S.55f beipflichten. 8 Siehe in diesem Sinn Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 266; Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S. 374 f; Díaz Palos, Estado de necesidad, S. 69 ff; und Sáinz Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General, II, S. 378. ' Siehe E. Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, in Estudios de Derecho Penal, 2. Aufl., Madrid, 1981, S. 155 ff und besonders S. 162 ff (Gimbernat veröffentlichte diese Arbeit zuerst in deutscher Sprache in der Festschrift für

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gen der Differenzierungstheorie10 hält er also eine Einheitstheorie aufrecht. Gimbernat ist der Ansicht, daß das Recht in der Rechtswidrigkeit entscheide, was es in allgemeiner Weise allen gegenüber verbieten will, während es in der Schuld nur gegenüber solchen Personengruppen auf die Strafe verzichten muß wegen des Mangels an Abschreckungs- und Hemmungswirkung. Es handelt sich hierbei nicht um eine Frage des Wollens, sondern des Könnens. Nach Gimbernat betrifft der Notstand gleichermaßen wie die Notwehr Handlungen, die das Recht nicht verbieten will, obwohl es das könnte, denn die Strafe könnte eine Hemmungswirkung entfalten. Dies sei hingegen nicht der Fall beim Strafausschluß für Unzurechnungsfähige oder beim unvermeidbaren Verbotsirrtum. In diesen Fällen könne die Strafe ihre Abschreckungswirkung nicht entfalten. Hier strafe das Recht nicht, und zwar nicht, weil es nicht wolle, sondern weil es nicht könne11. Diese Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld und folglich zwischen Rechtfertigungsgründen und Schuldausschließungsgründen danach, ob die Strafe Hemmungswirkung besitzt oder nicht, überzeugt mich nicht12. Obwohl es im allgemeinen richtig ist, daß die Strafe Hemmungswirkung entfalten kann, gibt es sowohl bei der Notwehr als auch beim Notstand Fälle, in denen das nicht so ist oder dies zumindest fraglich erscheint: Man denke an die Fälle des rechtswidrigen Angriffs auf das Leben oder die körperliche Unversehrtheit bei der Notwehr und die Fälle des Konflikts zwi-

H.Welzel zum 70. Geburtstag, 1974, S. 485 ff), Introducción a la Parte General del Derecho penal español, Universidad Complutense, Madrid, 1979, S.62f, und Vorwort zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho penal, Madrid, 1984, S. 13ff. Beigetreten sind dieser These Gimbernats seine Schüler D.M. Luzón Peña, Aspectos esenciales de la legítima defensa. Barcelona, 1978, S. 243 ff und A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 288, 299 ff und besonders 311 ff. 10 Die spanische Differenzierungstheorie über die Rechtsnatur des Notstands deckt sich nicht mit der deutschen Theorie gleichen Namens. Im deutschen Recht weist man dem §228 BGB die Natur eines Rechtfertigungsgrunds zu, obwohl das zugefügte Übel größer als das zu vermeidende sein kann. Im entschuldigenden Notstand des § 35 des deutschen Strafgesetzbuchs kann das verursachte Übel größer als das abzuwendende sein. Zur Verhinderung einer Körperverletzung z.B. ist es möglich, eine andere Person des Lebens zu berauben; siehe in dieser Hinsicht Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 21. Aufl., 1982, §35 Nr. 38, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, 3. Aufl., 1981, S. 181 und Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., §35 Nr. 62 f. 11 Siehe E. Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 162 ff. 12 Abgesehen davon, daß, worauf Küper hinweist, das Verbot aller von Rechtfertigungsgründen umfaßten Verhaltensweisen den Rahmen einer zweckmäßigen und gerechten Prävention überschreiten würde; siehe W. Küper, Der entschuldigende Notstand - Ein Rechtfertigungsgrund?, Bemerkungen zur kriminalpolitischen „Einheitstheorie" Gimbernat Ordeigs, JZ 1983, S.92 und die Erwiderung Gimbernats im Vorwort zum Buch von Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 14 ff.

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sehen zwei menschlichen Leben oder der körperlichen Unversehrtheit zweier Personen beim Notstand13. Gimbernat erkennt dies an, meint aber, man müsse sich bei der Bestimmung der Rechtsnatur eines Ausschließungsgrunds an das halten, was im größten Teil der Fälle geschieht14. Konsequent wäre jedoch, jedem der genannten Ausschließungsgründe eine Doppelnatur beizumessen; in den Fällen, in denen die Strafe Abschreckungs- oder Hemmungswirkung hätte, würde es sich um einen Rechtfertigungsgrund handeln und in den Fällen, in denen die Strafe der besagten Wirkung beraubt wäre, läge ein reiner Schuldausschließungsgrund vor. Andererseits ist die Abschreckungs- oder Hemmungswirkung der Strafe bei einigen Unzurechnungsfähigen nicht völlig ausgeschlossen15 und, was den unvermeidbaren Verbotsirrtum betrifft, könnte man zugunsten der Unbeachtlichkeit des Verbotsirrtums Erwägungen der Generalprävention vorbringen. Die Auferlegung einer Strafe in den Fällen des unvermeidbaren Verbotsirrtums könnte als Antrieb dienen, in jedem Fall die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verhaltens mit größerer Sorgfalt zu prüfen16. Andererseits bliebe bei der Ansicht, derzufolge das Verhalten des Notstandstäters im Fall einer Kollision gleichwertiger Interessen rechtmäßig ist, gegenüber diesem kein Raum für die Notwehr. Gimbernat ist der Meinung, dies führe zu gerechteren Ergebnissen, denn die Notwehr als Reaktion auf einen rechtswidrigen Angriff sei nicht dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit unterworfen. Gegenüber dem Verhalten eines Notstandstäters im Fall eines Konflikts gleichgewichtiger Güter kann man sich hingegen nach Gimbernat seinerseits auf Notstand berufen. Seiner Meinung nach führt das zu gerechteren Ergebnissen, denn beim Notstand herrsche ja das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, und das zugefügte Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein. Der sich an die berühmte Planke des Karneades klammernde Schiffbrüchige könne sich gegenüber dem, der sie ihm entreißen will, nicht auf Notwehr berufen, aber natürlich auf Notstand. Damit würden beide gleichgestellt, was zu einer gerechteren Lösung führe17. Das ist jedoch nicht 13 Uber die erhebliche Verminderung und gegebenenfalls den Ausschluß der Hemmungswirkung der Strafe in den vom entschuldigenden Notstand umfaßten Fällen, siehe Küper a. a. O., S. 93 f. 14 Siehe Gimbernat, Vorwort zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 23, Anmerkung 26. 15 Siehe meinen Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamentales del Derecho Penal, Madrid, 1982, S. 183 f und die dort angeführten Autoren. 16 Siehe meinen Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamentales del Derecho Penal, S. 182 f und die dort angeführten Autoren. 17 Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 168 ff. Luzón Peña schlägt hingegen de lege ferenda die Schaffung des defensiven Notstands vor, der die Verursachung eines etwas größeren Übels als das zu vermeidende erlauben soll,

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richtig, denn mit der Ansicht, die Handlungen beider seien rechtmäßig, würde sich das Recht selbst enthalten, den Konflikt zu lösen, und die Lösung desselben würde dem Recht des Stärkeren übertragen18. Die von Gimbernat vorgeschlagene Lösung schließt außerdem die Möglichkeit ein, sich auf Notstand gegenüber einem durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt Handelnden zu berufen. Danach wäre es möglich, den Notstand zum Beispiel gegenüber einem Notwehrtäter anzuführen. Gimbernat versucht, diese Schwierigkeit zu vermeiden, indem er ausführt, daß alle anderen Rechtfertigungsgründe (Notwehr, Handlungen in Erfüllung einer Pflicht oder in rechtmäßiger Ausübung eines Rechts, Berufs oder Amts, etc.) eine positive Bewertung der von ihnen erfaßten Verhaltensweisen mit sich brächten, während der Notstand im Fall eines Konfliktes gleichwertiger Rechtsgüter keine positive Verhaltensbewertung einschließe. Diese Notstandshandlung sei erlaubt und befinde sich in Ubereinstimmung mit dem Recht, aber sie werde von der Rechtsordnung nicht positiv bewertet19. Positive Wertschätzung erfahre hingegen wenn die Notstandshandlung die Person oder Sache trifft, von der die Gefahr ausgeht. Wie Luzón Peña sagt, „würde es sich um die Verallgemeinerung des Gedankens handeln, der dem §228 des deutschen B G B für den konkreten Fall der durch Tiere oder Sachen verursachten Gefahren zugrunde liegt"; siehe Luzón Peña, Aspectos esentiales de la legítima defensa, S. 249 f Anm. 438. In seiner neuen Arbeit „Legítima defensa y estado de necesidad defensivo" in Comentarios a la legislación penal, V, vol. I o , Madrid, 1985, S. 269 f schlägt Luzón sogar schon die Anwendung eines übergesetzlichen Rechtfertigungsgrunds des defensiven Notstands durch Analogie zu den Rechtfertigungsgründen der Notwehr und des Notstands vor. Einmal abgesehen von der Frage der Zweckmäßigkeit der Einführung dieser neuen Notstandsfigur in unserem Recht (siehe in dieser Hinsicht Anmerkung 63) bekundet der Vorschlag Luzóns deutlich die Unzulänglichkeit der Lösung, die die Möglichkeit der Notwehr gegenüber der Handlung des Notstandstäters im Fall eines Konflikts gleichgewichtiger Interessen ablehnt, oder anders gesagt, die Unzulässigkeit der Einschränkung, die in diesem Fall das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit bei der Reaktion auf die Notstandshandlung aufstellt, d. h. daß das verursachte Übel nicht größer als das zu vermeidende sei. 18 Siehe auch in diesem Sinn Küper, a.a.O., S.94f. Der Einwand ist auch gegenüber der These von Carboneil gültig, nach welchem der Notstand im Fall eines Konflikts gleichwertiger Interessen nur dann ein Rechtfertigungsgrund ist, wenn keine Aufteilung der Güter vorausgegangen ist, die durch die Notstandshandlung geändert werden könnte; er führt das Beispiel der Planke des Carneades an, wenn die zwei Schiffbrüchigen sie gleichzeitig ergreifen; siehe / . C. Carbonell Mateu, La justificación penal, Madrid, 1982, S. 60. 19 Dies ist nach Gimbernat der wahre Inhalt der Neutralitätstheorie, die er ablehnt. Nach ihr sind die Tathandlungen im Notstand im Fall einer Kollision gleichgewichtiger Rechtsgüter weder rechtmäßig noch rechtswidrig, sondern rechtlich neutral, gleichgültig oder bloß unverboten. In der Bundesrepublik Deutschland vertritt sie zur Zeit H. Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 189ff und Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1967, S.92f und 133 und Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 327ff. Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 166 ff. Gegen die Theorie der Neutralität oder vom

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die Notstandshandlung im Fall einer Kollision ungleichwertiger Güter, wenn das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende sei. Darum könne man sich auf Notstand gegenüber einem Notstand in den Fällen des Widerstreits zwischen gleichgewichtigen Rechtsgütern berufen, aber nicht in denen eines Konflikts ungleichgewichtiger Güter. Diese Unterscheidung unter den Rechtfertigungsgründen entbehrt meines Erachtens der Grundlage. Bei den Rechtfertigungsgründen (Erlaubnissätze) erlaubt das Recht ein tatbestandsmäßiges Verhalten dann, wenn bestimmte Umstände vorliegen20, und wenn das so ist, dann weil es dieses Verhalten unter den besagten Umständen positiv bewertet. Wenn ein Verhalten von einem Rechtfertigungsgrund erfaßt ist, wenn es erlaubt ist, dann liegt der Grund in seiner positiven Bewertung durch das Recht. In den Fällen eines Konflikts gleichwertiger Rechtsgüter bliebe daher kein Raum für eine Berufung auf den Notstand gegenüber einem Notstand, wenn der Ausschließungsgrund auch in solchen Fällen die Rechtsnatur eines Rechtfertigungsgrundes hätte21. Nach Auffassung von Gimbernat führt die Differenzierungstheorie in den Fällen einer Kollision gleichwertiger Rechtsgüter auf den Gebieten der Teilnahme und des Irrtums zu unzulässigen Konsequenzen. Die Teilnehmer müßten bestraft werden, da die Handlung des Täters nur schuldlos und damit rechtswidrig sei22, und der Irrtum über die den Notstand begründenden Umstände ebenso unbeachtlich sein müsse wie die irrtümliche Annahme des Täters, schuldlos zu sein23. Die Argumentation erscheint mir nicht überzeugend, denn die Bestrafung der Teilnehmer ist möglich und gerecht, vorausgesetzt, es liegt nicht auch bei ihnen ein Schuldausschluß vor. In unserem Strafgesetzbuch gibt es keine rechtsfreien Raum siehe insbesondere Hirsch, Strafrecht und rechtsfreier Raum, Festschrift für P. Bockelmann zum 70. Geburtstag, 1979, S. 89 ff und bei uns A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 158 ff. 20 Siehe mein Curso de Derecho Penal Español, Parte General, I, Introducción. Teoría jurídica del delito/1, 3. Aufl., Madrid, 1985, S.403. 21 Der Versuch Cuerda Riezus, die besagte Möglichkeit gangbar zu machen, vermag auch nicht zu überzeugen. Nach Cuerda Riezu erteilt das Recht beim Notstand im Fall eines Konflikts gleichwertiger Rechtsgüter dem Täter eine Befugnis (oder eine Pflicht) zur Verletzung des Rechtsguts einer anderen Person; aber besagter Befugnis (oder Pflicht) entspricht keine Duldungspflicht seitens der Person, die die Notstandshandlung trifft, die sich auch auf die gleiche Befugnis berufen kann; siehe Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 311 ff. Wenn der Notstand im Fall einer Kollision gleichgewichtiger Güter ein Rechtfertigungsgrund wäre, würde das Verhalten rechtmäßig sein und die Verletzung des Rechtsguts der von der Notstandshandlung betroffenen Person wäre kein Übel, denn der Begriff des Übels ist ein normatives Element des Ausschließungsgrunds des Notstands, das einen Bezug auf die Wertungen des Rechts mit sich bringt. 22 Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 160. 23 Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 161 f und 165 f.

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Irrtumsregelung über die Schuldausschließungsgründe, aber meiner Meinung nach sollte man die Regelung über den Verbotsirrtum in § 6 bis a), Abs. 3, analog (Analogie „in bonam partem") anwenden. Das würde für die Differenzierungstheorie keine Inkonsequenz bedeuten24, denn bei unvermeidbarem Irrtum schließt die irrtümliche Annahme des Vorliegens von Umständen, die einen Schuldausschließungsgrund begründen, die Schuld aus, d. h. die persönliche Vorwerfbarkeit des rechtswidrigen Verhaltens. Und bei vermeidbarem Irrtum mindert sie die Schuld25. Nur der Irrtum über die Schuldfähigkeit, d. h. die irrtümliche Annahme des Vorliegens von Unzurechnungsfähigkeit begründenden Umständen (Wahnsinn, vorübergehende Geistesstörung, Minderjährigkeit etc.) muß logischerweise unbeachtlich sein, denn sie beeinträchtigt die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seines Verhaltens zu verstehen oder dieser Kenntnis entsprechend zu handeln, tatsächlich nicht26. Roldan lehnt ebenfalls die Auffassung ab, derzufolge der Notstand im Fall eines Konflikts zwischen gleichgewichtigen Rechtsgütern im spanischen Strafgesetzbuch als Schuldausschließungsgrund anzusehen sein soll. Für ihn ist der Notstand in unserem Strafgesetzbuch in jedem Fall ein Rechtfertigungsgrund. Er hält es für unhaltbar, die Annahme eines Schuldausschließungsgrundes mit dem Gedanken der Unzumutbarkeit normgerechten Verhaltens zu begründen. Beim Notstand im Fall eines Widerstreits gleichwertiger Güter werde die Nothilfe, d.h. das Einschreiten Dritter, ohne jede Einschränkung zugelassen. Das zu vermeidende Übel kann nicht nur das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit betreffen, sondern sogar irgendein Rechtsgut vermögensrechtlicher Art. Der Gedanke der Zumutbarkeit, der auf dem Selbsterhaltungstrieb beruht, könne nicht den Ausschluß der Verantwortlichkeit in allen Fällen eines Konflikts gleichwertiger Rechtsgüter

24 Wie Gimbernat (a. a. O.) und Roldan Barbero, Estado de necesidad y colisión de intereses, Cuadernos de Política Criminal, Nr. 20, 1983, S. 545 annehmen. 25 Siehe dazu Küper, a. a. O., S. 94. Für den Schuldausschluß in den Fallen der auf einem unvermeidbaren Irrtum beruhenden Annahme des Vorliegens von einen Schuldausschließungsgrund begründenden Umständen ist es meiner Meinung nach ebenso wie beim tatsächlichen Vorliegen eines Schuldausschließungsgrundes unbeachtlich, daß der Täter in einigen Fällen in irgendeinem Maß noch fähig wäre, sich durch die Norm motivieren zu lassen. Wenn die Fähigkeit zur Motivierung durch die Norm oder zu rechtskonformem Handeln erheblich beeinträchtigt ist, kann die Rechtsordnung keinen Vorwurf machen. Anderseits würde dem Schuldausschluß in den Fällen des vermeidbaren Irrtums die Grundlage genauso wie beim vermeidbaren Verbotsirrtum fehlen. Die Erwiderung Gimbernats auf die Einwände Küpers erscheint mir deshalb in diesem Punkt nicht überzeugend; siehe Gimbernat, Vorwort zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho penal, S. 24 ff. 26 Siehe in diesem Sinn Küper, a. a. O. S. 94.

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begründen27. Da für Roldan die Tathandlung im Notstand im Fall einer Kollision gleichwertiger Rechtsgüter rechtmäßig ist, besteht seiner Ansicht nach dieser gegenüber für Notwehr kein Raum, sondern nur für den Notstand. Das Verhalten der Teilnehmer ist immer straflos und der Irrtum über die den Ausschließungsgrund begründenden Umstände wäre ein Verbotsirrtum28. Gegen die Kritik Roldans läßt sich einwenden, daß, wenn schon die Schuldausschließung in allen Fällen eines Konflikts gleichgewichtiger Rechtsgüter unbefriedigend bleibt, der Ausschluß der Rechtswidrigkeit noch weniger annehmbar ist. Die Tathandlung im Notstand im Fall einer Kollision gleichwertiger Rechtsgüter wäre rechtmäßig, im Einklang mit dem Recht. In den Fällen der Nothilfe wäre jede beliebige Person befugt, einzugreifen und sich die Rolle des Schiedsrichters anzumaßen, und ihr Verhalten wäre rechtmäßig, ohne daß man sich ihm gegenüber also auf Notwehr berufen könnte29. Man könnte wegen der oben gegenüber der These Gimbernats vorgebrachten Gründe auch den Notstand nicht anführen. Die Teilnehmer wären auf jeden Fall straflos. Nur mittels einer restriktiven Auslegung des Notstands im Fall eines Konflikts gleichgewichtiger Interessen auf der Grundlage des Schuldbegriffs ist es, wie wir sehen werden, möglich, zu befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Mir Puig weicht ebenfalls von der herrschenden Meinung ab, obwohl er die Existenz eines rechtfertigenden und eines entschuldigenden Notstands einräumt. Er hält den Ausschließungsgrund des Notstands in § 8, Ziff. 7 des spanischen Strafgesetzbuchs für einen Rechtfertigungsgrund. Die Fälle des entschuldigenden Notstands muß man seiner Meinung nach als von dem Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst in § 8, Ziff. 10 umfaßt betrachten30, und wenn das nicht möglich ist, soll ein Ausschließungsgrund durch Analogie anzuerkennen sein31. Der Aus27 In seiner Arbeit „Estado de necesidad y colisión de intereses" (S. 525) meint Roldan sogar, daß die Idee der Unzumutbarkeit normadäquaten Verhaltens verbunden ist mit der Vorstellung vom Notstand als Konflikt von Rechtsgütern und nicht von Interessen. 28 Siehe H. Roldan Barbero, La naturaleza jurídica del estado de necesidad en el Código Penal Español: crítica a la teoría de la exibilidad de la conducta adecuada a la norma, Fundación Juan March, Serie Universitária, n° 124, Madrid 1980, S. 34 ff und Estado de necesidad y colisión de intereses, S. 509 ff. 29 Siehe in diesem Sinn auch J, Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español, Parte General, S. 245. 30 Nach der Ziff. 10 des § 8 ist von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreit, „wer veranlaßt durch eine unüberwindliche Angst vor einem gleich großen oder größeren Übel handelt." 31 Siehe Mir Puig, Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General, von Jescheck, I, Barcelona, 1981, S. 505 ff, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., in Estudios Jurídicos en honor del profesor Octavio Pérez-Vitoria, I, Barcelona, 1983, S. 505 ff und Derecho Penal, Parte General, Barcelona P.P.U., 1984,

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schließungsgrund des § 8, Ziff. 7 könne nicht den rechtfertigenden und den entschuldigenden Notstand einschließen, denn in ihm wird eine einheitliche Behandlung verlangt, und andererseits passen die Weite der erlaubten Nothilfe, das Fehlen einer Beschränkung der geschützten Rechtsgüter auf die höchstpersönlicher Art und das Erfordernis eines objektiven Vergleichs der Übel nur für eine Regelung des Notstands als Rechtfertigungsgrund32. Mir Puig besteht darauf, daß im Ausschließungsgrund des Notstands nicht die kollidierenden Rechtsgüter, sondern das verursachte und das zu vermeidende Übel zu vergleichen seien. Auch bei Gleichwertigkeit der Güter werde das zugefügte Übel trotzdem fast immer größer sein, denn jede tatbestandsmäßige Handlung bringe eine Störung der Rechtsordnung mit sich, und, wenn es sich bei dem verletzten Rechtsgut um ein individuelles handele, werde es zugleich eine anomale Einmischung in die Sphäre des Rechtsgutsträgers bedeuten. Nur wenn das zu vermeidende Übel gleichfalls in einem tatbestandsmäßigen Verhalten bestehe und deshalb auch eine Störung der Rechtsordnung bedeute, könnten die Übel gleichgroß sein. Für die Anwendung des Notstands als Rechtfertigungsgrund reiche es daher nicht aus, daß die Rechtsgüter gleichen Wert haben, und auch nicht, daß das zu rettende Gut gegenüber dem verletzten nur geringfügig höherrangig sei, denn der Unterschied zwischen den Gütern werde in diesem Fall normalerweise ausgeglichen durch die Störung der Rechtsordnung. Es sei daher erforderlich, daß das gerettete Gut das verletzte wesentlich übertreffe". Wie Mir Puig ins Gedächtnis ruft, ist es richtig, daß nach der Notstandsregelung des § 8, Ziff. 7 unseres Strafgesetzbuchs nicht das gerettete und das verletzte Rechtsgut zu vergleichen sind, sondern das verursachte und das zu vermeidende Übel. Einwände können dagegen erhoben werden, daß Mir Puig in die Gewichtung der Übel die Störung der Rechtsordnung einbezieht, denn diese wird in ihrem Bestand und Ausmaß durch das Ergebnis der Interessenabwägung bedingt sein34. S. 389 f und 401 f, dessen These Silva Sánchez, Sobre el estado de necesidad en Derecho penal, español, Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales, 1982, fase. 3 o , S. 664 beipflichtet. 32 Siehe Bemerkungen zur Übersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General, von Jescheck, I, S. 505 f, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., S. 506 und Derecho Penal, Parte General, S. 389. 53 Siehe Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General, von Jescheck, I, S.507f, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., S. 506 ff und 515 ff und Derecho Penal, Parte General, S. 389 f und 401 f. 34 Siehe Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 3 4 Nr. 69, der die von Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 21. Aufl., 1982, § 3 4 Nr. 22 und Nr. 40, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 113f, 123 ff und G. Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1983, S. 351 vertretene Gegenmeinung zurückweist.

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Wenn das verursachte Übel kleiner als das abzuwendende ist, stimmt das Verhalten mit den Zielen der Rechtsordnung überein. Eine Störung der Rechtsordnung ist nur dann anzunehmen, wenn das zugefügte Übel gegenüber dem zu vermeidenden größer oder gleich groß ist, und im letzteren Fall wird der Eingriff in die Rechtsordnung ausgeglichen durch den Schutz, den sie durch die Abwendung des gleich großen Übels erfährt". Andererseits darf man bei der Interessenabwägung nicht nur den Wert der Rechtsgüter und den anomalen Eingriff in die Sphäre des Verletzten berücksichtigen, sondern auch, ob die Rechtsgüter verletzt oder nur gefährdet wurden, die Schwere der Verletzung oder der Gefahr, ob die Verletzung wiedergutzumachen ist oder nicht, sowie gegebenenfalls den Handlungsunwert. Im Ergebnis hält Mir Puig den Notstand für einen Rechtfertigungsgrund, wenn das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist und wenn beide Übel gleich groß sind. Ist das verursachte Übel größer als das abzuwendende, wird das Verhalten von dem Ausschließungsgrund des § 8, Ziff. 7 nicht erfaßt, aber man wird es auch nicht, wie Mir Puig vorschlägt, als unüberwindbare Angst i. S. d. Ziff. 10 desselben Paragraphen verstehen können, denn danach ist nur derjenige entschuldigt, der auf Veranlassung einer unüberwindlichen Angst vor einem gleich großen oder größeren

Übel handelt. N a c h der

herrschenden Meinung erfolgt die Bewertung der Übel beim Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst wie bei dem des Notstands nach objektiven, von der Wertung des Handelnden unabhängigen Kriterien3'. Auch Mir Puig ist der Ansicht, daß die Bewertung nach objektiven Kriterien zu erfolgen hat, aber er hält eine Unterscheidung für möglich: „Während man sich im rechtfertigenden Notstand fragen muß, ob das Übel aus der Sicht eines Durchschnittsbürgers, der den kollidierenden Rechtsgütern unparteiisch gegenübersteht, gleich groß oder größer ist, ist diese Frage bei der unüberwindlichen Angst aus der Sicht eines Durchschnittsbürgers in der Situation des Täters zu beantworten. Hier ist zu fragen: Welches Übel würde ein Durchschnittsbürger, der sich der gleichen Bedrohung ausgesetzt sieht wie der Täter, für größer erachten? Während zwischen Leben und körperlicher Unversehrtheit der unparteiische Durchschnittsbürger ersterem höheren Wert beimessen muß, kann er den Verlust einer Extremität als schwerwiegender für ihn ansehen als das Übel, das die Tötung eines anderen Menschen auch für ihn darstellen muß." „Damit der angenommene Durchschnittsbürger 55 Siehe in diesem Sinn J. Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español, Parte General, S.250. 36 Siehe, was den Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst betrifft, meinen Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamentales del Derecho Penal, Madrid, 1982, S. 193.

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(normative Annahme) seine Unparteilichkeit verlieren kann, ist es," nach Mir Puig, „notwendig, daß das ihn bedrohende Übel eines seiner höchstpersönlichen Rechtsgüter, wie das Leben, die körperliche Unversehrtheit... gefährdet." „Deshalb wird sich der entschuldigende Notstand, der durch den Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst des §8, Ziff. 10 erfaßt werden kann, beschränken müssen auf die Fälle, in denen sich höchstpersönliche Rechtsgüter in Gefahr befinden37." Das Unterscheidungskriterium, das Mir Puig zwischen der Bewertung der Übel im Ausschließungsgrund des Notstands und dem der unüberwindlichen Angst vorschlägt, erscheint mir nicht überzeugend. In beiden Fällen muß die Abwägung der Interessen und folglich der Übel anhand der Wertungen des Rechts vollzogen werden. Es handelt sich um eine Interessen- und Übelabwägung durch die Rechtsordnung3S. Außerdem ist es möglich, daß der Täter nicht auf Veranlassung einer unüberwindbaren Angst handelt, obwohl er sich im Notstand befindet39. Man könnte einen Ausschließungsgrund auch nicht aus einer Analogie zu § 8, Ziff. 10, wegen der Existenz einer abnormen Motivation ähnlich der unüberwindlichen Angst herleiten, da diese Vorschrift ausdrücklich erfordert, daß die Angst durch Drohung eines gleich großen oder größeren Übels hervorgerufen worden ist. Um das Problem der Grundlage und Natur des Ausschließungsgrunds des Notstands im spanischen Strafgesetzbuch einer befriedigenden Lösung zuzuführen, ist vor allem die Annahme der herrschenden Meinung einer Überprüfung zu unterwerfen, derzufolge der Notstand unter der Voraussetzung, daß das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, immer einen Rechtfertigungsgrund bildet40. Wenn ein Chirurg einer gesunden Person ohne ihre Einwilligung eine Niere entfernt, damit

37 Siehe seine Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General, von Jescheck, I, S. 507, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., S. 508 f und Derecho Penal, Parte General, S. 529 und 531 f. 38 Siehe in diesem Sinn auch Cobo del Rosal-Vives Antón, Derecho Penal, Parte General, Universidad de Valencia, 1984, S.579. 39 Siehe in diesem Sinn auch J. Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español, Parte General, S. 246 und A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 251 (Anmerkung 11). 40 Cobo de Rosal-Vives Antón fordern, damit das Verhalten rechtmäßig ist, daß die Tathandlung geeignet ist, das höherrangige Interesse zu retten: siehe Derecho Penal, Parte General, S . 4 3 3 f und 572. Das zugunsten ihrer These angeführte Argument, daß beim Versuch das Unrecht „außer dem verbrecherischen Entschluß die Geeignetheit der Ausführungshandlung fordert", entbehrt der Grundlage in unserem Strafgesetzbuch, wo im 2. Absatz vom § 5 2 der untaugliche Versuch bestraft wird. Andererseits ist es keine Notstandshandlung, wenn das Verhalten ungeeignet zur Abwendung des Übels ist, und der Notstand als Grundvoraussetzung des Ausschließungsgrunds dürfte schon deshalb fehlen.

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ein K o l l e g e eine O r g a n t r a n s p l a n t a t i o n m i t d e m Ziel, e i n e m P a t i e n t e n das L e b e n z u r e t t e n , d u r c h f ü h r e n kann 4 1 , ist das v e r u r s a c h t e Ü b e l kleiner als das a b z u w e n d e n d e . O b w o h l er sich einer K ö r p e r v e r l e t z u n g 4 2 u n d eines Freiheitsdeliktes 4 3 strafbar g e m a c h t hat, unterliegt es k e i n e m Zweifel, daß in u n s e r e r R e c h t s o r d n u n g das m e n s c h l i c h e L e b e n ein h ö h e r e s G u t darstellt als die k ö r p e r l i c h e U n v e r s e h r t h e i t u n d die F r e i h e i t . U m sich dessen z u v e r g e w i s s e r n , g e n ü g t es, die S t r a f d r o h u n g e n der D e l i k t e gegen das L e b e n ( A r t . 4 0 5 ff), der K ö r p e r v e r l e t z u n g s d e l i k t e ( A r t . 4 1 8 ff) u n d der D e l i k t e gegen die F r e i h e i t u n d Sicherheit ( A r t . 4 8 0 ff) z u vergleichen. In d e r V e r f a s s u n g w i r d ebenfalls das R e c h t auf L e b e n als das erste d e r G r u n d r e c h t e in T i t e l I, K a p . 2 , 1. A b s c h n i t t angesehen 4 4 4 5 . W e n n eine

41 Wenn der Chirurg, der die Niere entnimmt, derselbe wäre, der die Transplantation bei seinem Patienten durchführen sollte, ständen wir vor einer Pflichtenkollision: der Pflicht, den Patienten zu heilen und der von der Vornahme einer verbotenen Handlung, der Herbeiführung der Körperverletzung, Abstand zu nehmen. Nach meinem Urteil ist die Pflichtenkollision im spanischen Strafgesetzbuch nicht vom Ausschließungsgrund des Notstands, sondern von §8, Ziff. 11 erfaßt: „Wer in Erfüllung einer Pflicht oder in rechtmäßiger Ausübung eines Rechts, Berufs oder Amts handelt." Siehe meinen Aufsatz „Noción del estado de necesidad, como requisito básico de la eximente del n° 7 del art. 8o del Código penal español. Estado de necesidad y colisión de deberes", der demnächst in der neuen Festschrift für Luis Jiménez de Asúa anläßlich seines 15. Todestages erscheinen wird. " Es würde sich um die absichtliche Verstümmelung eines Hauptorgans, die vom §419 mit Zuchthaus von 12 Jahren und 1 Tag bis 20 Jahren (reclusión menor) bestraft wird, handeln. 43 Ein Nötigungsdelikt des 1. Absatz des §496, mit Haftstrafe von 1 Monat und 1 Tag bis 6 Monaten (arresto mayor) und Geldstrafe von 30 000 bis 300 000 pesetas bestraft, das von dem Körperverletzungsdelikt konsumiert würde. 44 Siehe in diesem Sinn Lorenzo Martín Retortillo, Derechos fundamentales en tensión (¿Puede el juez ordenar una transfusión de sangre en peligro de muerte aún en contra de la voluntad del paciente?), in Poder Judicial, N° 13, Dicbre. 1984. 45 Ein Fall der Pflichtenkollision ist meiner Meinung nach der berühmte Fall, der durch Beschluß des 2. Senats des Obersten Gerichtshofs vom 14. März 1979 entschieden wurde, und in dem ein Richter einen Arzt zur Vornahme einer Bluttransfusion ermächtigte, der diese zur Rettung des Lebens einer Patientin für notwendig erachtete, an der man einen chirurgischen Eingriff vorgenommen hatte und die sich der Transfusion wegen ihrer religiösen Uberzeugungen als Mitglied der Vereinigung der Zeugen Jehovas widersetzte. In Konflikt traten die Pflicht, einer hilflosen, sich in offenkundiger und schwerer Gefahr befindlichen Person (§489 bis) Hilfe zu leisten, gepaart mit einer Garantenpflicht, und die Pflicht, ein Delikt gegen die religiöse Freiheit nach §205 zu unterlassen. Das Verhalten des Richters könnte erst von dem Ausschließungsgrund des § 8 Ziff. 11 als Handlung in Erfüllung einer Pflicht umfaßt werden. Siehe zu dem besagten Beschluß des Obersten Gerichtshofs die aufschlußreiche Anmerkung von Miguel Bajo Fernández, La intervención médica contra la voluntad del paciente, Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales, 1979, fase. 2°, S.491 ff. Siehe auch Lorenzo Martín Retortillo, Derechos fundamentales en tensión (¿Puede el juez ordenar una transfusión de sangre en peligro de muerte aún en contra la voluntad del paciente?), a.a.O., über den Beschluß der zweiten Abteilung des 1. Senats des Verfassungsgerichts vom 20. Juni 1984, der eine gegen die Beschlüsse des

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Person eine andere tötet, um mehrere menschliche Leben zu retten, z.B. wenn sie den Besitzer eines Motorboots tötet, der sich gewaltsam dagegen widersetzt, daß man dieses zur Rettung Schiffbrüchiger benutzt, ist das zugefügte Übel geringer als das zu vermeidende"6. Nach der herrschenden Meinung wäre das Verhalten rechtmäßig, wenn die übrigen Voraussetzungen des Ausschließungsgrunds des Notstands vorlägen. Dennoch ist es nicht möglich, diese Verhaltensweisen als rechtmäßig zu betrachten, da sie einen schweren Anschlag auf die Menschenwürde darstellen. In beiden Fällen wird ein menschliches Wesen als reines Werkzeug für die Verfolgung anderer Ziele benutzt, und das bedeutet einen schweren Angriff gegen seine Würde47. Meines Erachtens bedarf die herrschende Meinung jedoch einer Einschränkung: Auch wenn das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, ist der Notstand nur dann als Rechtfertigungsgrund anzusehen, wenn die Tathandlung nicht einen schweren Verstoß gegen die Menschenwürde bedeutet48. Man könnte einwenden, daß die Achtung der Menschenwürde ein weiteres Interesse ist, das in der Abwägung der Interessen und folglich in der der Übel berücksichtigt werden soll49. Es scheint mir 2. Senats des Obersten Gerichtshofs vom 22. Dezember 1983 und 25. Januar 1984 eingelegte Verfassungsbeschwerde ablehnte, die die Zurückweisung der gegen einen Richter wegen der Delikte der Nötigung, gegen die religiöse Freiheit und der groben Fahrlässigkeit mit tödlichem Ausgang erhobene Klage betraf. Der Richter hatte eine Bluttransfusion „zur Lösung verschiedener Blutungsprobleme aufgrund vorangegangener Niederkunft" gegen den Willen der Patientin und ihres Mannes, beide Zeugen Jehovas, genehmigt. In den Beschlüssen vom 22. Dezember 1983 und 25. Januar 1984 verneinte der Oberste Gerichtshof, daß in dem Verhalten des Richters die Tatbestandselemente der Delikte, derer man ihn beschuldigte, vorlagen, während er in dem Beschluß vom 14. März 1979 das Vorliegen des Notstands aus dem § 8, Ziff. 7 anerkannte. 46 In der deutschen Strafrechtswissenschaft lehnt der größte Teil der Strafrechtler hingegen jede quantitative Abwägung menschlichen Lebens ab; siehe z . B . Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 291, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 143 (der jede quantitative Abwägung höchstpersönlicher Rechtsgüter wie das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Ehre ablehnt), Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, §34 Nr. 23 f, Der rechtfertigende Notstand, S. 27 ff, insbesondere S. 30 f und Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., §34 Nr. 65. Bei uns hält J. Bustos, Manual de Derecho Penal Español, Parte General, S. 249 diesen Gesichtspunkt aufrecht. 47 Siehe in diesem Sinn Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 178, der Kant heranziehend sagt: „Denn der Mitmensch darf niemals bloß als Sache, sondern muß stets auch als Selbstzweck betrachtet werden." 48 Siehe in diesem Sinn auch Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl., 1973, S. 26 ff, Rodrigues Devesa-Serrano Gómez, Derecho Penal Español, Parte General, 9. Aufl., Madrid, 1985, S. 579 und G. Rodríguez Mourullo, Consideraciones generales sobre la exclusión de la antijuridicidad, in Estudios Penales, Libro Homenaje al Prof. J. Antón Oneca, Ediciones Universidad de Salamanca, 1982, S. 513. 49 So Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, § 34 Nr. 33 ff und besonders Nr. 47, Der rechtfertigende Notstand, S. 111 ff, Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger

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j e d o c h n i c h t richtig z u sein, die G e l t u n g eines materiellen G e r e c h t i g keitsprinzips, das eine i m m a n e n t e S c h r a n k e des positiven R e c h t s d a r stellt, b l o ß als ein w e i t e r e s in die A b w ä g u n g e i n z u b e z i e h e n d e s Interesse z u betrachten 5 0 .

Die Heranziehung

dieses P r i n z i p s im R a h m e n

der

I n t e r e s s e n a b w ä g u n g w ü r d e diese i n s o w e i t i h r e r genauen G r e n z e n u n d klaren K o n t u r e n b e r a u b e n , als d a m i t ein W e r t u r t e i l w e s e n t l i c h a n d e r e r A r t eingeführt w ü r d e 5 1 . W e n n das z u g e f ü g t e Ü b e l kleiner als das z u v e r m e i d e n d e ist, a b e r ein s c h w e r e r V e r s t o ß gegen die M e n s c h e n w ü r d e b e g a n g e n w u r d e , sollte das V e r h a l t e n r e c h t s w i d r i g u n d i h m g e g e n ü b e r die N o t w e h r zulässig sein. D e r N o t s t a n d k ö n n t e in diesen F ä l l e n n u r die N a t u r eines S c h u l d a u s s c h l i e ß u n g s g r u n d s h a b e n . U m eine befriedigende L ö s u n g in diesen F ä l l e n z u erreichen, f o r d e r n einige spanische Strafrechtler u n t e r d e m E i n f l u ß d e r d e u t s c h e n Strafr e c h t s w i s s e n s c h a f t für die A u s g e s t a l t u n g des N o t s t a n d s als R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d , d a ß das v e r u r s a c h t e Ü b e l kleiner als das a b z u w e n d e n d e u n d die H a n d l u n g Erreichung

eines

a u ß e r d e m ein angemessenes

billigen

Zwecks

(billiges)

Mittel

zur

sein müsse 5 2 . E s handelt sich u m eine

V o r a u s s e t z u n g , die in d e r R e g e l u n g des r e c h t f e r t i g e n d e n N o t s t a n d s in § 3 4 des d e u t s c h e n S t r a f g e s e t z b u c h s v e r a n k e r t ist u n d die die V o r s t e l l u n gen Graf

zu Dohnas

z u m V o r b i l d hat 53 . I h r e R e i c h w e i t e w i r d in d e r

Kommentar, 10. Aufl., §34 Nr. 53 ff und besonders Nr. 68 und 79 ff, Carboneil, La justificación penal, S. 54, Cobo-Vives, Derecho Penal, Parte General, S. 432 Anmerkung 22 und S.433 und Mir Puig, Bemerkungen zur Übersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General, von Jescheck, I, S. 508, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, T, C.P., S. 516 f und Derecho Penal, Parte General, S.402. 50 Siehe meinen Curso de Derecho Penal Español, Parte General, Introducción, Teoría Jurídica del delito/1, S. 19 f und die dort aufgeführte Literatur, insbesondere Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S.28, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962, S. 239 f und Derecho natural y positivismo jurídico, in Más allá del Derecho natural y del positivismo jurídico (trad. y notas de Ernesto Garzón Valdés), Cordoba, Argentina, 1962, S. 41 ff. 51 Siehe in dieser Hinsicht Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStrW 80, 1968, S.27. 52 Siehe C. M* Romeo Casabona, El médico y el Derecho Penal, I, La actividad curativa, S. 379 ff, Muñoz Conde, Teoría general del delito, Bogotá, 1984, S. 109 und E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal Español, II, El hecho punible, Madrid, 1985, S. 80. Miguel Bajo Fernández meint, daß das zugefügte Übel größer als das zu vermeidende sei und es deshalb nicht möglich sei, den Ausschließungsgrund des Notstands anzuwenden (weder als Rechtfertigungsgrund, noch als Schuldausschließungsgrund), wenn das Verhalten „den grundlegenden Werten der Rechtsgemeinschaft" nicht angepaßt ist; siehe La intervención médica contra la voluntad del paciente, a. a. O., S. 494 f. 53 Siehe A. Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl., 1950, S. 35, der die sogenannte Zwecktheorie („ein richtiges Mittel für einen richtigen Zweck", d.h. in Übereinstimmung mit dem Recht) gegenüber dem Prinzip der Güterabwägung aufstellte zur Begründung eines rechtfertigenden Notstands (damals übergesetzlich). Siehe in dieser Hinsicht Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 288.

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modernen deutschen Strafrechtswissenschaft stark diskutiert. Nach Jescheck bedeutet das Erfordernis, daß die Handlung mit den sozialethischen Wertungen und den grundlegenden Prinzipien, die die Rechtsordnung gestalten, in Einklang stehen muß. Es würde also ein zusätzliches Erfordernis zu dem der Interessenabwägung darstellen, d.h. zu dem, daß die bewahrten Interessen erheblich über den verletzten stehen müssen54. Lenckner hingegen meint, daß diese Wertungen und Grundprinzipien in der Interessenabwägung berücksichtigt werden können, wenn man diese in der gebührenden Weite auslegt. Die Voraussetzung der Angemessenheit der Handlung zur Vermeidung der Gefahr wäre folglich überflüssig. Die Handlung wäre immer und nur angemessen, wenn die verletzten Interessen wesentlich geringer als die bewahrten wären55. Für Hirsch stellt das Erfordernis der Angemessenheit nur eine Kontrollklausel dar, die als Warnsignal dazu dient, das Ergebnis der Interessenabwägung sorgfältig zu prüfen56. Meinerseits bin ich der Auffassung, daß diese Voraussetzung, die im Ausschließungsgrund des Notstands in § 8, Ziff. 7 des spanischen Strafgesetzbuchs nicht festgeschrieben ist, rein formaler Natur ist und daß alle sozial-ethischen Wertungen und die die Rechtsordnung gestaltenden Prinzipien in der Interessenabwägung berücksichtigt werden können. Einzige Ausnahme stellt die Achtung der Menschenwürde dar, weil es sich in diesem Fall um ein materielles Gerechtigkeitsprinzip, das a priori gilt, handelt, und das dem positiven Recht eine immanente Schranke setzt. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß einige der Erfordernisse, die von den deutschen Autoren in das der Angemessenheit einbezogen werden, im Ausschließungsgrund der Ziff. 7 des § 8 unseres Strafgesetzbuchs ausdrücklich aufgeführt werden: daß die Notstandslage nicht absichtlich von dem Täter herbeigeführt wurde und daß der Notstandstäter nicht wegen seines Berufs oder Amts verpflichtet ist, sich zu opfern. Wenn das zugefügte Übel gleich groß wie das zu vermeidende ist, ist es aus der bei der Analyse der Meinungen Gimbernats, Roldans und Mir Puigs dargelegten Gründen unmöglich, die Handlung als rechtmäßig zu betrachten. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, daß jeder beliebi5< Siehe Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 291 f. Eine unabhängige Bedeutung der Voraussetzung der Angemessenheit erkennen auch an z . B . Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 144, Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, a . a . O . , S.26ff, Mauracb-Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1, 6. Aufl., 1983, S. 364 ff und Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 12. Aufl., 1982, S. 74 ff. 55 Siehe Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, § 34 Nr. 46 f, Der rechtfertigende Notstand, S. 70 f, 111 ff und 128 ff. Das Erfordernis der Angemessenheit sehen ebenfalls als überflüssig an z. B. Baumann/Weber, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl., 1985, S. 351 und Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, 1966, S. 51. 56 Siehe Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 3 4 Nr. 79 ff.

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gen Person die Rolle des Schiedsrichters bei der Konfliktlösung eingeräumt würde. Ihre Handlung wäre rechtmäßig, und ihr gegenüber wäre weder für die Notwehr noch für den Notstand Raum. Aber es ist auch nicht möglich, wie die herrschende Meinung anzunehmen, daß die Handlung in jenen Fällen immer schuldlos sei57. Notwendig ist vielmehr eine einschränkende Auslegung des Ausschließungsgrunds des Notstands im Fall eines Konflikts gleichwertiger Interessen vorzunehmen. Vor allem ist zu berücksichtigen, daß bei der Kollision gleichwertiger Interessen das Unrecht schon vermindert ist. Auf jeden Fall gilt dies für den Handlungsunwert, denn der Täter begeht die tatbestandsmäßige Handlung zur Wahrung anderer, rechtlich geschützter Interessen von gleicher Bedeutung, und wenn es ihm gelingt, diese Interessen zu bewahren, dürfte der Erfolgsunwert ebenfalls geringer sein58. Um einen Schuldausschließungsgrund anzuerkennen, ist es notwendig, daß sich mit der Verminderung des Unrechts - was schon eine Verringerung der Schuld bedeutet, denn diese besteht in der persönlichen Vorwerfbarkeit des rechtswidrigen Verhaltens - ein Ausschluß oder eine erhebliche Verminderung der Fähigkeit des Täters, in Ubereinstimmung mit den Normen zu handeln, verbindet. Nur wenn diese Fähigkeit erheblich verringert ist, wird man von ihm keinen Gehorsam gegenüber dem Recht fordern können und seine Handlung deshalb entschuldigt sein59. 57 Bacigalupo ist der Ansicht, daß beim Notstand im Fall eines Konflikts gleichgewichtiger Interessen oder, wenn das gerettete Interesse nicht wesentlich höher als das verletzte ist, die Zurechenbarkeit (Jiménez de Asúa) oder die Tatverantwortung (Maurach), ein mittleres Element zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld, ausgeschlossen wird; siehe E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal Español, II, El hecho punible, S. 89 ff und 93. 58 In der modernen deutschen Strafrechtswissenschaft wurde herausgestellt, daß beim entschuldigenden Notstand (heute geregelt im § 35) auch eine Verringerung des Unrechts liege, und zwar sowohl des Handlungsunwerts von dem Moment an, in dem der Täter die tatbestandsmäßige Handlung zur Rettung eines eigenen oder fremden Rechtsguts (Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit) verwirklicht, als auch des Erfolgsunwerts; siehe in diesem Sinn Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 156 ff, Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 178 f, Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S.388, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 178 f, Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Vor §32 Nr. 111 und §35 Nr. 5, Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., Vor §32 Nr. 183 und §35 Nr. 4, 53 und Rudolphi, in Rudolphi, Horn, Samson, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., 1983, §35 N r . 1 ff. 59 Der größte Teil der deutschen Strafrechtler unterscheidet zwischen Schuldausschließungsgründen, die wirklich die Schuld ausschließen, und Entschuldigungsgründen, bei denen eigentlich das Recht eine vorhandene, aber wenig schwere Schuld entschuldigt. Zur ersten Gruppe würden die Unzurechnungsfähigkeit und der unvermeidbare Verbotsirrtum gehören, während in der zweiten Gruppe der Notstand und alle übrigen, auf dem Grundsatz der Unzumutbarkeit fußenden Schuldausschließungsgründe (die ihrerseits eine Verminderung des Unrechts in sich tragen) umfaßt sind; siehe Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 151 ff, Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 178f,

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Diese einschränkende Auslegung findet eine feste Stütze in der Forderung des § 8, Ziff. 7, wonach die Handlung des Täters durch einen Notstand veranlaßt sein muß. Der Täter muß daher das Vorliegen eines Notstands kennen, und dieser muß das ausschlaggebende Motiv seines Handelns sein. Wenn man eine Gefahr von sich selbst fernhalten will, wird sich der Schuldausschließungsgrund normalerweise ergeben, wenn das gefährdete Rechtsgut persönlicher Art ist. Es ist jedoch möglich, daß er auch vorliegt, wenn Vermögensgüter von im Verhältnis zur wirtschaftlichen Kapazität des Täters beachtlichem Wert gefährdet sind. In den Fällen der Nothilfe dürfte der Schuldausschluß nur möglich sein, wenn das Übel einem Rechtsgut droht, dessen Träger ein Vewandter, Freund oder eine nahestehende Person des Täters ist60. Nur in solchen Fällen könnte das einem Dritten drohende Übel die Fähigkeit des Täters, entsprechend den Forderungen der Rechtsordnung zu handeln, ausschließen oder erheblich mindern. Für die Feststellung, ob das normgerechte Handeln dem Täter zumutbar ist oder nicht, sollte man das Verhalten berücksichtigen müssen, das eine einsichtige, die Forderungen der Rechtsordnung achtende Person in der jeweiligen Situation an den Tag legen würde61. Der Notstand wird auch dann einen Schuldausschließungsgrund bilden können, wenn das verursachte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, aber das Verhalten einen schweren Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt. Jedoch ist auch dafür erforderlich, daß sich mit der Verminderung des Unrechts ein Ausschluß oder eine erhebliche Verminderung der Fähigkeit zu normgerechtem Handeln beim Täter derart verbindet, daß ihm die Rechtsbefolgung nicht zuzumuten ist. In den erwähnten Beispielen der Entfernung der Niere für eine Organtransplantation oder der Tötung eines Bootsbesitzers dürfte die Anwendung des Ausschließungsgrunds des Notstands als Schuldausschließungsgrund unter der Bedingung stehen, daß aus irgendeinem Grund (Verwandtschaft, Freundschaft etc.) die Fähigkeit zu normgerechtem Handeln ausgeschlossen oder erheblich vermindert war.

Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 385 ff, Lenckner, in SchönkeSchröder, Strafgesetzbuch, Vor zu §32, Nr. 108 und §35 Nr. 5 und Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, S.98f. Diese Unterscheidung scheint mir eigentlich unnötig zu sein, denn wenn die Schuld von sehr geringer Schwere ist, kann man annehmen, daß sie das Niveau der strafrechtlichen Schuld nicht erreicht; siehe in dieser Hinsicht Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 179 und 180 ff und Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Vor zu §32 Nr. 182. 60 Siehe in diesem Sinn schon Antön Oneca und die in Anmerkung 7 zitierten Autoren. 61 Ein normatives Kriterium entsprechend dem Vorschlag von Eb. Schmidt: Verhalten des „loyalen Staatsbürgers"; siehe dazu H. Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für Ed. Mezger zum 70. Geburtstag, 1954, S.307.

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Wenn die Tathandlung im Notstand nur schuldlos ist, ist ihr gegenüber die Notwehr möglich, und das Verhalten der Teilnehmer wird strafbar62, letzteres allerdings nur, wenn auch bei ihnen nicht ein Ausschluß oder eine erhebliche Verringerung der Fähigkeit zu normgemäßem Handeln festzustellen ist. De lege ferenda wäre es meiner Meinung nach empfehlenswert, den Notstand als Rechtfertigungsgrund und als Schuldausschließungsgrund getrennt zu regeln in der Weise, daß man die Nothilfe ohne irgendeine Einschränkung im ersten Fall annimmt und im zweiten nur, wenn das Übel ein Rechtsgut bedroht, dessen Träger ein Verwandter, Freund oder eine nahestehende Person des Täters ist. Zweckmäßig wäre auch, den Notstand als Schuldausschließungsgrund auf jene Fälle zu beschränken, in denen sich ein Rechtsgut persönlicher Art oder ein Vermögensgut von solchem Wert derart in Gefahr befindet, daß man von dem Täter nicht verlangen kann, sich der Gefahr auszusetzen oder vom Eingriff bei der Nothilfe Abstand zu nehmen. Das zugefügte Übel dürfte beim schuldausschließenden anders als beim rechtfertigenden Notstand größer als das zu vermeidende sein, es sei denn, es steht ganz außer Verhältnis63,64.

62 Siehe in diesem Sinn Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S. 369 und Díaz Palos, Estado de necesidad, S. 34. 63 Mir erscheint der Vorschlag von Luzón Peña nicht überzeugend, einen neuen Ausschließungsgrund des defensiven Notstands zu schaffen, der die Herbeiführung eines etwas größeren Übels als des zu vermeidenden erlauben würde, wenn die Notstandshandlung die Person oder Sache trifft, von der die Gefahr ausgeht; siehe Anmerkung 17; ein Vorschlag, dem Silva Sánchez beipflichtet für die aus Angriffen von Tieren oder Sachen hervorgegangenen Gefahren, aber nicht für die, die von Menschen herrühren, aber nicht die Voraussetzungen einer Handlung erfüllen; siehe Sobre el estado de necesidad en Derecho Penal español, S. 672 ff. Wenn das verursachte Übel größer als das zu vermeidende ist, steht das Verhalten nicht im Einklang mit den Zielen der Rechtsordnung und darf deshalb nicht als rechtmäßig angesehen werden. 64 In dem vom spanischen Justizministerium unterbreiteten Vorschlag des Vorentwurfs eines neuen Strafgesetzbuchs von 1983 (§22 Nr. 6) wird dennoch die Fassung des Ausschließungsgrunds des Notstands praktisch unverändert beibehalten: „Wer veranlaßt durch einen Notstand, um ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden, ein Rechtsgut verletzt oder einer Pflicht zuwiderhandelt, vorausgesetzt, daß folgende Voraussetzungen vorliegen: Erstens. - Das zugefügte Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein. Zweitens. - Die Notstandslage darf nicht absichtlich vom Täter herausgefordert worden sein. Drittens. - Der Notstandstäter darf nicht aufgrund seines Berufs oder Amts die Verpflichtung haben, sich zu opfern."

Der Rücktritt mit Delikts vorbehält ROLF DIETRICH HERZBERG

I. Ausgangsfall: BGHSt. 33, 142 Der Bundesgerichtshof hat kürzlich ein Urteil1 gefällt, das der undurchsichtigen Diskussion unseres Themas neue Impulse geben könnte. Dogmatisch über den konkreten Fall hinaus bemüht, macht es gleich mehrere Aussagen von theoretischem Interesse und nutzt ein vergleichsweise solide scheinendes Kriterium für eine Folgerung, die verblüfft und Zweifel weckt, ob die bisherigen Lösungsversuche überhaupt eine richtige Grundlage haben. Der Angeklagte A wollte in seiner Wohnung der Zeugin P sexuelle Gewalt antun. Nach einem Messerstich, der sie gefügig machen sollte, floh P ins Bad. A folgte ihr, stieß sie auf den geschlossenen Toilettendekkel und packte ihren Kopf, um sie zum Mundverkehr zu nötigen. Davon nahm er schnell wieder Abstand, blieb aber zur gewaltsamen Befriedigung seines Geschlechtstriebs entschlossen und zerrte P an den Haaren zurück ins Wohnzimmer, wo er, ständig mit dem Messer drohend, schließlich den Geschlechtsverkehr erzwang. L G und B G H gehen übereinstimmend davon aus, daß P den Versuch des gewaltsamen Mundverkehrs, für sich betrachtet, freiwillig aufgegeben habe. Man fragt sich bei der Lektüre zunächst, warum die Gerichte dies betonen und verhältnismäßig eingehend begründen. Da der Angeklagte den auf der Toilette unternommenen Versuch der sexuellen Nötigung (§178 StGB) in der qualifizierten Form der Vergewaltigung bis zur Vollendung getrieben hat, läuft es ja so oder so auf die bloße Bestrafung nach §177 StGB hinaus; eine Anwendung des §178 StGB, die der Rücktritt verbieten könnte, kommt, so scheint es, ohnehin nicht in Betracht. Klarheit verschaffen die Gründe des B G H am Ende (unter III): Beide Gerichte geben dem die P besonders entwürdigenden Angriff auf der Toilette Eigengewicht und fragen, ob er für die Strafzumessung (§ 177 II StGB!) berücksichtigt werden dürfe. Das L G verneint das, weil wegen des freiwilligen Rücktritts das fragliche „Teilgeschehen als den

1 v. 13.2.1985 - 3 StR 481/84 ( L G Mannheim), B G H S t . 33, 142 = N S t Z 1985, 358 (mit Anm. von Streng).

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Angekl. aus Rechtsgründen nicht belastend ausgeschieden"2 werden müsse. Der B G H dagegen bejaht die Frage. Er meint, die Freiwilligkeit der Abstandnahme von der Erzwingung des Mundverkehrs könne dem A nicht nützen, weil kein Aufgeben der weiteren Ausführung der Tat i. S. von § 24 I I , 1. Alt. StGB vorliege. Es geht, argumentiert der Senat, hier nicht „um zwei selbständige T a t e n . . . Der bereits vor und dann wieder mit Abbruch des Versuchs, den Mundverkehr zu erzwingen, gefaßte bestimmte Entschluß zur Vergewaltigung faßt beide Akte zu einer Handlung zusammen". Vorsorglich mißt der B G H seine Lösung an dem besonders rücktrittsfreundlichen Kriterium von Lenckner3 und stellt fest, nach dessen Beurteilung sei der Rücktritt „bei mehreren zeitlich aufeinanderfolgenden A k t e n . . . ausgeschlossen, wenn die weiteren Akte mit dem zunächst begonnenen Versuch in so engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stehen, daß alle Akte sich als eine Einheit darstellen". So liege es hier; der Versuch des Mundverkehrs müsse deshalb den Angeklagten bei der Strafzumessung belasten. Merkwürdig, für das Strafmaß soll es also keine Rolle spielen, ob A vom Mundverkehr freiwillig oder gezwungenermaßen abgelassen hat. Er mag aus Scham und Mitleid oder nur deshalb aufgehört haben, weil ein schmerzhafter Biß ihn das Fürchten lehrte, der Teilversuch zählt und belastet ihn. Nicht, daß der B G H hier etwas mißverstanden hätte. Die sexuellen Attacken des A sind zweifellos als eine tatbestandliche („natürliche") Handlungseinheit zu werten, und dies ist das Kriterium der Lehre, auf deren Zustimmung das Urteil Wert legt: Nach ihr soll auch das freiwillige Abbrechen eines Einzelaktes kein wirksamer Rücktritt sein, wenn der Täter - wie hier - entschlossen bleibt, das Delikt durch Akte zu vollenden, die mit dem abgebrochenen eine Handlungseinheit bilden würden4. Aber eben diese Prämisse wird durch die im Urteil stringent gezogene Folgerung, durch die strafschärfende Zurechnung eines freiwillig aufgegebenen Versuchs so, als sei der Täter gescheitert oder zum Aufhören gezwungen worden, erschüttert und diskreditiert. Weiteres zu diesem Punkt sei hier noch zurückgestellt. Für die genauere Nachprüfung ist es zweckmäßig, die Fragen des Rücktritts mit 2 BGHSt. 33, 147. - Natürlich kann v o m L G hier nur gemeint sein, daß die sexuelle Nötigung ausscheide, soweit A sie (freiwillig) unterlassen hat; nach der Sachverhaltsschilderung erfüllt bereits das, was A auf der Toilette realisiert hat (Entblößung, Ziehen des Kopfes „in Richtung seines Unterleibs"), den § 178 StGB. 5 Vgl. Festschrift für Gallas, 1973, S. 303 f. 4 Vgl. neben Lenckner, a . a . O . ( F n . 3 ) , etwa Jakobs, A T , 1983, 2 6 / 1 0 ; Küper, J Z 1979, 7 7 9 f ; Stratenwerth, A T I, 3. Aufl. (1981), R d n . 7 1 4 : „Der Täter hat auf die Ausführung der Tat solange nicht verzichtet, wie er sich Handlungen vorbehält, die nur einen unselbständigen Teilakt der Begehung desselben Delikts darstellen w ü r d e n . . . der Aufschub enthält (dann) keinen Rücktritt."

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Deliktsvorbehalt, ausgehend von den einzelnen Aussagen des lehrreichen Urteils, in sachlich gebotener Reihenfolge abzuhandeln. Im Licht der sich dabei ergebenden Lösungen wird es leichter fallen, zu entscheiden, wer in der Kernfrage des konkreten Falles recht hat: das Landgericht oder der Bundesgerichtshof. II. Wegfall des Problems bei unfreiwilligem Aufschub Zur Bereinigung des Problemfeldes scheint es mir zunächst wichtig, die fallspezifische Schrittfolge im Gedankengang des B G H auch auf der abstrakt-dogmatischen Ebene zu beherzigen. Der Senat läßt sich auf die Frage, ob und inwieweit der Vergewaltigungsvorbehalt des Angeklagten einen relevanten Rücktritt ausschließe, erst ein, nachdem er (gegen die Staatsanwaltschaft!) die Freiwilligkeit des Teilverzichts bejaht hat. Das ist vorbildlich und schärft den Blick für einen Argumentationsfehler, der viele literarische Beiträge vorschnell einen (mehr oder minder) vorbehaltsfreien Rücktritt fordern läßt. Das Schrifttum will diese Notwendigkeit meistens mit Beispielen einleuchtend machen, in denen der Täter die Tat wegen einer „Störung"5 aufschiebt oder ein unerwartetes Hemmnis ihn einen Umweg einschlagen läßt. Bei Ebert etwa liest sich das so: „Der Täter muß von der Tat endgültig Abstand nehmen. Ein vorübergehendes Innehalten genügt nicht. Beispiel: Dieb T unterbricht die Suche nach den zu stehlenden Sachen und geht in Deckung, weil er im benachbarten Zimmer Geräusche hört. Noch bevor er die Suche, wie geplant, fortsetzen kann, wird er entdeckt... Kein strafbefreiender Rücktritt, da T die weitere Tatausführung nicht aufgegeben hat"6. Solch ein Fall beweist nicht, was er beweisen soll. Selbst wenn die Geräusche den T statt nur zum Abwarten zur Flucht und endgültigen Aufgabe veranlaßt hätten, läge kein strafbefreiender Rücktritt vor. Denn risikoerhöhende Störungen, wirkliche oder vermeintliche, machen den Rückzug, wenn er stattfindet, fraglos unfreiwillig. Daß er nicht notwendig war, daß der Täter sich vielleicht auch für bloßes Abwarten hätte entscheiden können, ändert daran nichts. Kurzum: Anpassungsreaktionen bei ernsthaften Störungen und Hemmnissen, übertriebene sowohl wie - erst recht natürlich - angemessene und notwendige (Sichverstecken und Abwarten), sind allemal unfreiwillig7. Daß der Täter nicht „endgültig" Abstand Vgl. Roxin, ZStW 77, 99. AT, 1985, S. 112. - Vgl. ferner etwa Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S.381; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 22. Aufl. (1985), § 2 4 Rdn.38 (der Dieb will warten, bis die Bewohner das Haus verlassen haben). 7 Eingehend zu diesen Fällen und im Randbereich differenzierend Walter, Der Rücktritt vom Versuch als Ausdruck des Bewährungsgedankens im zurechnenden Strafrecht, 1980, S. 86-88. 5 6

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nimmt, ist in solchen Fällen für die Verneinung eines rechtlich relevanten Rücktritts gar nicht entscheidend8. Die Plausibilität der Lösung ist darum dogmatisch eher eine Gefahr als ein Argument: Sie suggeriert die Maßgeblichkeit eines Erfordernisses, das dann an Beispielen, für die es sich erst bewähren könnte, nicht mehr genügend überprüft wird. Wer die Wahrheit sucht, sollte also ganz bewußt immer von Fällen ausgehen, in denen die Freiwilligkeit des Aufschubs außer Zweifel steht, deutlicher noch als im BGH-Fall. Ein aufschlußreicher Sachverhalt wäre etwa der einer versuchten Tötung auf Verlangen, die der Täter hinausschiebt, weil er es im Augenblick „einfach nicht übers Herz bringt". Er zieht bei seiner unheilbar kranken Frau die tödliche Injektionsspritze in letzter Sekunde zurück, bleibt aber fest entschlossen, die Tat auszuführen, sobald er mehr Kraft hat. Später kommt es dann nicht mehr zur Tat, weil die Kranke sich unbemerkt selbst den Tod gibt. Hier käme es wirklich allein darauf an, ob das Entschlossenbleiben des Versuchstäters seinem Aufhören die Qualität eines „Aufgebens der weiteren Ausführung der Tat" i.S. von §24 StGB nimmt. Es mag sich freilich herausstellen, daß es manchmal leichter ist, die strafbefreiende Wirkung des Innehaltens wegen des Deliktsvorbehaltes zu verneinen als wegen der Unfreiwilligkeit des Unterbrechungsentschlusses. So vielleicht im bekannten Fall BGHSt. 7, 296. Der Täter brach den auf Vergewaltigung gerichteten Angriff ab, weil die Überfallene ihm widerstandslose Hingabe nach kurzem Ausruhen in Aussicht stellte, blieb aber (möglicherweise) mißtrauisch entschlossen, nötigenfalls doch noch gewaltsam sein Begehren zu stillen; als Spaziergänger auftauchten, mußte er fliehen. Der Streit um die Freiwilligkeit des vom Täter geübten vorläufigen Verzichts ist hier so schwer zu entscheiden', daß es ökonomischer sein könnte, ihn auf sich beruhen zu lassen und auf die (logisch ohnehin vorrangige) Frage, ob überhaupt ein Aufgeben der weiteren Tatausführung vorliegt, eine vielleicht allgemein überzeugende Antwort zu suchen.

8 Das entwertet für unser Problem auch den von den meisten als Beispiel herangezogenen Fall RGSt. 72, 349: Das Opfer bemerkte den schlechten Geschmack des zyankalivergifteten Kaffees. Daß es ihn dennoch trinken würde, schien noch nicht ausgeschlossen, doch mußte die Täterin fürchten, mit ihrem Anschlag gescheitert zu sein und belangt zu werden. Deshalb goß sie den Kaffee aus. Daß sie „nach wie vor bestrebt" war, „denselben Erfolg auf anderem Wege zu erreichen" (RGSt. 72, 351), ist unerheblich; auch bei endgültigem Verzicht wäre der Mordversuch unfreiwillig aufgegeben oder gar als fehlgeschlagen anzusehen und deshalb strafbar; vgl. hierzu auch Bottke (Fn. 6), S. 394 f. 9 Vgl. einerseits das Urteil, andererseits Roxin, in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 258 ff. Hier wie dort beruhen die Erwägungen zur Freiwilligkeit auf der Annahme, daß dem Täter der Vorbehalt, wieder Gewalt zu üben, nicht nachzuweisen sei; vgl. BGHSt. 7, 297 und Roxin a. a. O., Fn. 30.

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Rücktritt mit Deliktsvorbehalt

III. Umstellung des Tatentschlusses auf ein anderes Deliktsverhalten als wirksamer Rücktritt Obwohl der B G H konkret am Ende einen (strafmaß-)relevanten Rücktritt verneint, macht er in abstracto beachtliche Aussagen, die das auch von der Judikatur bislang behauptete Erfordernis eines „endgültigen und vollständigen" Rücktritts einschränken, also dem strafbefreienden Rücktritt Räume öffnen, die andere ihm verweigern. 1. Der Übergang zu einem anderen

Straftatbestand

Überraschend ist zunächst das Sichbescheiden mit einem Aufgeben der „Straftat im Sinne eines materiellrechtlichen Straftatbestandes" (unter I 2 b, aa). Der Versuch eines tatbestandlich spezifizierten Deliktes soll also jedenfalls dann strafbefreiend getilgt sein, wenn der Täter freiwillig auf die Weiterführung dieses Deliktes verzichtet - mag er auch im selben Augenblick in die Planung und Vorbereitung oder gar schon in den Versuch eines anderen Delikts hinüberwechseln. Dem zuzustimmen muß denen schwerfallen, die die Strafbefreiung an eine wie immer gemeinte „Rückkehr zur Legalität"10 oder „Rückkehr in die Bahnen des Rechts" 11 binden wollen. Streng widerspricht von diesem Verständnis der ratio legis her dem Urteil mit Entschiedenheit. „Für einen Rücktritt fehlt es bei Steigerungen des Unwerts, d. h. bei nahtloser Fortführung des Rechtsgutsangriffs auf höherem Niveau, folglich immer an der wichtigsten Grundvoraussetzung. Die . . . Differenzierung allein danach, ob durchgängig gegen denselben Straftatbestand verstoßen wird, ist somit schon im Ansatz verfehlt". Das betont Streng besonders für den Fall, in dem das Zweitdelikt schon in der Vorbereitung steckenbleibt, der Rücktritt nach dem B G H also folgerichtig totale Straffreiheit bewirkt: „Ohne Rücksicht auf die ratio der Rücktrittsprivilegierung würde allein ein Tatbestandswechsel in extremer Form prämiert"12. Das Schrifttum hat sich bislang diesen für alle Rücktrittstheorien unbequemen Fall kaum vorgelegt: Die Konstellation eines Täters, der selbstherrlich, ohne irgendeine ihm dies nahelegende Änderung der äußeren Lage, auf ein anderes Delikt umsteigt. Eine Ausnahme macht Wessels, der, ganz i. S. von Streng, die Lösung aus dem Gesetzessinn ableitet und von daher einen wirksamen Rücktritt bedenkenfrei verneinen zu dürfen glaubt: „Daß nach dem Sinn und Zweck des §24 auch 10 So vor allem Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (1973), S.37; Festschrift für Heinitz (Fn.9), S.256; ZStW 80, 708. 11 Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts vom Versuch in Theorie und Praxis, 1976, S. 314, mit zahlreichen Nachweisen sinngleicher Äußerungen bei anderen Autoren. 12 NStZ 1985, 359 f. Beispiel bei Streng: Der Tresorknacker stellt seine nächtliche Arbeit aus Bequemlichkeit ein, um am Morgen die Öffnung zu erpressen.

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derjenige keine Strafbefreiung verdient, der an Ort und Stelle vom Betrugsversuch zur Beraubung des in seiner Wohnung aufgesuchten Opfers übergeht, beim Angriff auf das fremde Vermögen somit nur das Mittel der Täuschung durch das brutalere Mittel der gewaltsamen Wegnahme ersetzt, dürfte einleuchten"13. Dem BGH hat das anscheinend nicht eingeleuchtet, und ich meine, er hat recht. Man vergleiche die kontroversen Standpunkte sogleich anhand der beiden Sachverhalte, für die der Streit seine volle Relevanz hätte, weil er über die Strafbarkeit schlechthin entschiede: Der Täter in Wessels' Beispiel beginnt schon mit seiner Täuschung, bricht sie dann aber ab, weil er sich seiner Hinterlist schämt, und beschließt, sich den erstrebten Gewinn allein durch offenehrliche Beraubung seines Gesprächspartners zu verschaffen. Und nun entweder: Noch ehe er dazu ansetzt, erscheinen Skatfreunde des Opfers, und das deliktische Vorhaben zerschlägt sich insgesamt; oder: Der Täter setzt zum Raub an, läßt sich aber vom Opfer „zur Vernunft bringen" und verzichtet freiwillig auch auf dieses Delikt. Im ersten Fall liegt eine Straftat allein in Gestalt des Betrugsversuchs vor. Was den Raub betrifft, so befindet sich der Täter in der Situation eines Besuchers, der ohne Raubentschluß das Haus betreten hat und erst im Sessel sitzend einen solchen Entschluß faßt, ihn aber noch durch keine Handlung zu verwirklichen begonnen hat. Mag man auch schon in der Entschließung als solcher eine erste „Vorbereitung" sehen, als Versuchsanfang genügt sie - selbstverständlich - nicht. Somit kommt für die Bestrafung alles auf die Frage an, ob der Besucher von seinem Betrugsversuch wirksam zurückgetreten ist. Hier scheint es mir nun rundum einleuchtend und allein haltbar, die Frage mit dem BGH zu bejahen. Der Täter hat den Betrug aus Scham aufgegeben. Wer wegen des gleichzeitig gefaßten Raubentschlusses entweder das „Aufgeben der weiteren Tatausführung" oder die „Freiwilligkeit" verneint, setzt die eigene Hypothese, was der Sinn des Gesetzes zu sein habe, über das Gesetz selbst. Ein Verbrechensentschluß ist strafrechtlich ein nullum, solange der Planende mit ihm im Stadium strafloser Vorbereitung bleibt. Er rechtfertigt für sich allein weder die Bestrafung wegen eines Versuchs des geplanten Verbrechens, noch darf er herangezogen werden, um einen vorangegangenen Rücktritt zu entwerten. Die Versagung der Straffreiheit wäre geradezu eine Rechtsverweigerung. Wer ohne äußeren

13 AT, 14. Aufl. (1985), § 14 IV 4. - Eingehende Erörterung des Problems anhand eines Examensklausurfalles bei Seier, JA-Übungsblätter 1978, 199; 1979, 9 f. Seier bejaht im Einklang mit der hier vertretenen Ansicht einen wirksamen Rücktritt vom Betrugsversuch, obwohl der Täter ohne Unterbrechung auf eine räuberische Erpressung umsteigt.

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Druck, nur weil er sich schämt, aus einem Betrugsversuch aussteigt und im Hinblick auf den nunmehr geplanten Raub die Schwelle zum Versuch noch nicht überschritten hat, ist zunächst einmal freiwillig in den straffreien Bereich zurückgekehrt. Die Lösung von Streng und Wessels ist eine getarnte Bestrafung des bösen Willens. Die Kluft zwischen Theorie und sachrichtiger Beurteilung eines konkreten Verhaltens wird vielleicht noch größer und deutlicher im zweiten Fall. Ihn müßte, wer eine „Rückkehr in die Legalität" oder „hinreichende Normbefolgungsbereitschaft" fordert, folgerichtig gleichfalls i. S. einer Bestrafung nach §§263, 22 StGB entscheiden. Denn das strafbefreiende Aufgeben der Betrugstat kann nur im Fallenlassen eines aktuell vorhandenen Täuschungsentschlusses, d.h. hier im Ubergang zum Raubentschluß liegen. Wer den Willen zur Unrechtssteigerung „bestraft", indem er dem Rücktritt die Wirksamkeit abspricht, schneidet sich nun selbst den Rückweg ab. Er kann, wenn später der Raub freiwillig und ohne Deliktsvorbehalt aufgegeben wird, die stehengelassene Betrugsstrafbarkeit nicht mehr wegkonstruieren und muß bestrafen, obwohl der Täter aus Scham und Besinnung schrittweise, aber vollständig zur Legalität zurückgekehrt ist. Natürlich sind solche Fehlbeurteilungen nicht ernsthaft zu befürchten. Aber verräterische Konsequenzen verschwinden nicht dadurch, daß man sie nicht zieht oder den Fall verschweigt, der sie ans Licht brächte. Man kann sich solche Steigerungsentschlüsse noch schrecklicher vorstellen: Jemand will seinem Feind schaden und setzt zur Zerstörung von dessen Mobiliar an. Ihm tut es aber um die schönen Sachen leid, und er beschließt, doch lieber die Heimkehr des Eigentümers abzuwarten und dann ihn selbst totzuschlagen. Wird der Mord tatsächlich begangen oder versucht, so ist allein nach §211 StGB zu strafen, scheitert der Plan schon vorher oder kommt es zum freiwilligen Rücktritt, entfällt Strafe ganz. Denn wer aus Achtung vor dem Vermögenswert fremder Sachen von ihrer Zerstörung absteht, gibt autonom und rechtzeitig seinen realisierbaren Zerstörungsversuch auf und muß deshalb insoweit nach dem klaren Wortlaut des § 24 StGB straffrei werden. Alles andere ist eine Frage seines zukünftigen Handelns, das vielleicht in Sekundenschnelle eine neue, andere Versuchsstrafbarkeit begründen wird, aber in jedem Fall abzuwarten bleibt. Wer zweifelt, führe sich nur einmal die Gegenlösung vor Augen: Sie ignoriert einfach, daß unsere Täter die Deliktsvollendung aus Scham bzw. aus Achtung vor wirtschaftlichen Werten unterlassen haben, und tut, als seien ihre Versuche fehlgeschlagen oder unfreiwillig abgebrochen worden. Für die Rücktrittslehren haben die Fälle des frei beschlossenen Umstiegs auf ein anderes, vielleicht schwereres Delikt etwas bitter Enttäuschendes. Von einem „Ausdruck des Willens zur Rückkehr in die

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Legalität"14 oder einem „Durchbrach der Normbefolgungsbereitschaft" als hinreichendem Zeichen der „Bewährung des Täters" 15 kann hier wohl kaum sinnvoll die Rede sein, und schulterklopfende Belobigung der „Reaktion eines im entscheidenden Augenblick anständigen Menschen" 16 oder kriminalpolitische Beschwichtigung, der Täter habe sich „als ungefährlich erwiesen", so daß „Strafe weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen erforderlich" sei17, würde sarkastisch wirken; auch denkt der Täter gar nicht daran, eine „goldene Brücke zum Rückzug" zu beschreiten. Trotzdem liegt in seinem Umstieg zum schlimmeren Unrecht ein strafbefreiender Rücktritt. Wie so oft zeigt sich auch hier: Aus der dem Gesetz unterstellten ratio die Entscheidung zweifelhafter Einzelfälle abzuleiten ist so beliebt und bequem wie unfruchtbar und irreführend. Umgekehrt wird es richtiger: Erst aus sachgerechten Lösungen von Fall zu Fall, die streng am Gesetzeswortlaut zu messen sind, kann man, unter dem Vorbehalt jederzeitiger Korrektur, die ratio langsam erschließen und genauer bestimmen18. Für §24 StGB jedenfalls muß man sich eingestehen, daß die verbreitetste Formulierung des Grundes der Strafbefreiung, die „Rückkehr des Täters in die Legalität", die Fälle der Gesetzesanwendbarkeit nicht auf den gemeinsamen Nenner bringt und dort, wo es darauf ankommt, die Rechtsfindung nicht zuverlässig anleitet, ja mitunter verfälscht. Beibehalten kann man die Redeweise allenfalls in einem so formalen Sinne, daß sie nahezu wertlos erscheint. Denn gewiß, ein bißchen sind die Täter unserer Beispiele zur Legalität zurückgekehrt, weil sie speziell auf den Betrug und die Sachzerstörung verzichtet haben. Bedenkt man, daß andere vielleicht erst diese Delikte vollendet und dann außerdem noch geraubt und getötet oder diese Entschlüsse gefaßt hätten, verhalten sie sich vergleichsweise legal, was man denn auch mit Blick auf die §§263, Roxin, ZStW 80, 708. Walter (Fn. 7), S. 23 f. Walters eher beiläufige Beurteilung des für seine Gesamtkonzeption gefährlichen Falles ist aufschlußreich. Der Einbrecher, der „vor Ort" das Werkzeug wieder einpackt, weil ihm eine Kränkung nachgeht und er „nun doch erst einmal seinen Widersacher verprügeln möchte", lasse „keine hinreichende Normbefolgungsbereitschaft erkennen" (S. 78, 79). Das ist ein halbherzig gebildetes Beispiel. Anscheinend scheut "Walter die Zuspitzung, daß der Täter um der vorrangigen Rache willen sich von seinem nur heute durchführbaren Diebstahlsprojekt endgültig verabschiedet. So verändert hätte der Fall den Widerspruch zwischen dem Gesetz und der eigenen Theorie offen hervortreten lassen: Der Verzicht ist autonom beschlossen und unbestreitbar „freiwillig", hat aber den ausschließlichen Sinn unverzüglicher Deliktsbegehung. 16 Roxin, in: Festschrift für Heinitz (Fn. 9), S.266. 17 Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Samson, Systematischer Kommentar zum StGB (SK), Bd. 1, AT, Stand Sept. 1984, § 2 4 Rdn. 18. 18 Mein eigener Deutungsversuch erscheint 1987 als Aufsatz unter dem Titel „Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch - von der Strafzwecklehre zur Schulderfüllungstheorie." 14

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303 StGB als Zeichen ihrer Ungefährlichkeit nehmen mag. Gerettet allerdings wären so die fraglichen Theorien nicht. Denn die angebotenen Ratio-Erklärungen sollen ja die Entscheidung leiten, ob i. S. von §24 StGB ein freiwilliges Aufgeben der Tatausführung anzunehmen ist. Nun ginge es andersherum: Immer dann wären „hinreichende Normbefolgungsbereitschaft" und „Rückkehr zur Legalität" zu konstatieren, wenn man zuvor erkannt hat, daß ein freiwilliges Aufgeben der Tatausführung vorliegt. Einen ganz eigentümlichen Versuch, hier die Theorie mit der stimmigen Fallentscheidung zu versöhnen, hat Jakobs unternommen 1 '. Einerseits bestätigt er den heute meistgewählten Ansatz der „Bewertung des Beweggrundes zum Rücktritt" und die bekannten Leitformeln. Andrerseits will er aber doch einen strafbefreienden Rücktritt bejahen, wenn der Täter z. B. den Versuch einer nach § 315 c StGB strafbaren Trunkenheitsfahrt abbricht, um seine Beifahrerin „an Ort und Stelle zu vergewaltigen", oder, in derselben Absicht, die zunächst mit Tötungsabsicht ins Wasser gestoßene Frau wieder herauszieht. Das erklärt er so: „Die Frage lautet, warum der Täter den Versuch nicht mehr will, nicht aber, was er statt dessen will". Es geht bei der Freiwilligkeit „um den Beweggrund für das Scheiternlassen des Versuchs der konkreten Tat, nicht aber um den Beweggrund dessen, was der Täter anstelle des Versuchs plant. Also kann ihn das Unrechtliche der neuen Planung nicht belasten". Das ist eine Begründung, die auf andere Fälle zielt. Jakobs' Unterscheidungen greifen nur, wenn der Täter für den Rücktritt einen anderen Beweggrund hatte als den, die Frau zu vergewaltigen, er diesen Entschluß also erst nach dem Rücktritt gefaßt hat. Es versteht sich, daß dann die Bewertung des einsichtigen Aufhörens oder des mitleidigen Rettens als „Rückkehr in die Bahnen des Rechts" keine Schwierigkeiten macht. So liegen die kritischen Fälle aber nicht. Gerade wenn man mit Jakobs allein nach „dem Beweggrund für das Scheiternlassen des Versuchs" fragt, ergibt sich, daß der Täter ausschließlich zum Zweck der Verbrechensbegehung zurückgetreten ist und sein Rücktritt das Gegenteil einer Besinnung auf die Rechtstreue offenbart. So liefert Jakobs die Beispiele, die die von ihm für richtig befundene Theorie am allerschlechtesten verkraftet. Denn während in unseren Fällen dem Täter wenigstens noch zu bescheinigen war, daß er das erste Delikt (den Betrug) unnötigerweise zugunsten des zweiten (des Raubes) geopfert hat, ist die Notzucht nur durchführbar, wenn der Täter auf die Autofahrt bzw. auf die Tötung (einstweilen) verzichtet. In Wahrheit, so muß man folgern, ist die herrschende, d.h. die normativ-kriminalpolitische Deutung der „Freiwilligkeit" gar nicht Jakobs' Standpunkt. Das zeigt sich auch durchaus in 19

AT (Fn.4), 26/34, 35, 41.

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dessen abstrakter Darstellung. Denn zu Anfang lehnt Jakobs die Messung des Rücktritts an der Legalität im ganzen, wie die h. A. sie fordert, ausdrücklich ab. Hier fragt Jakobs, m. E. ein vortrefflicher Ansatz, ob „die Erfüllung des Rücktrittstatbestandes dem Zurücktretenden als seine Leistung zuzurechnen" sei20. So gesehen geht die konkrete Fallösung natürlich glatt auf: Wie die böse Tat der Vergewaltigung ist auch der gute Verzicht, den sie voraussetzt, dem Täter nicht abgezwungen worden und ihm darum als sein Werk zuzurechnen. 2. Tatbestandsinterne

Entschlußumstellung

Wer unsere Gründe für die Anerkennung eines wirksamen Rücktritts überzeugend findet, wird schon bemerkt haben, daß sie nicht dort liegen, wo der B G H sie sieht: Die Beachtlichkeit auch eines Verzichtes mit Deliktsvorbehalt erklärt sich nicht daraus und ist nicht darauf beschränkt, daß die versuchte Tat und das neu beschlossene Delikt verschiedenen Straftatbeständen unterfallen. Der Ablauf: Versuch freiwillige Aufgabe mit gleichzeitiger Rückkehr in die straflose Vorbereitung - neuer Versuch oder vorheriges Scheitern, ist genausogut in der Form denkbar, daß beide Deliktsentschlüsse sich auf denselben Straftatbestand beziehen. Ein Beispiel: Verbittert wegen ihrer Kündigung, ergreift Putzfrau P bei der Arbeit im Schlafzimmer ein Schmuckstück, um es zu stehlen. Als ihr Gewissen sie mahnt, etwas so Persönliches der Hausherrin nicht zu entwenden, legt sie es zurück, beschließt aber zugleich, sich für ihre Anständigkeit zu belohnen und im Laufe des Tages bei günstiger Gelegenheit ein paar Geldscheine aus der Kassette im Schreibtisch wegzunehmen. Auch hier muß man auf der Hut sein, sich durch Hypothesen zum Grundgedanken des §24 StGB, die es ja gerade zu überprüfen gilt, das Urteil vorschreiben zu lassen. Wer das beachtet, kann an der Lösung eigentlich kaum zweifeln. Die Skrupel beim ersten Ansetzen zum Diebstahl haben P freiwillig in den straffreien Bereich bloßer Tatentschlossenheit und damit auch (zwar nicht der Gesinnung, wohl aber) dem äußeren Verhalten nach „in die Legalität" zurückkehren lassen. Was immer nun geschieht, es kann allenfalls eine neue Strafbarkeit begründen. Dies müßte man, wie vorgreifend festgestellt sei, selbst dann so sehen, wenn Schmuck- und Geldwegnahme ggf. eine Handlungseinheit bilden würden; denn diese Rechtsfigur löst nicht die nach Kategorien der Versuchslehre zu beantwortende Frage, ob der Täter nach einem Einzelakt sofort neu ansetzt oder ein Stadium bloßer Planung und Vorbereitung durchschreitet. Die Richtigkeit unserer Lösung beweisen auch hier die Ergebnisse. Findet sich die erhoffte „günstige Gelegenheit" nicht, scheitert P also, 20

AT (Fn. 4), 26/30.

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ohne ihren Entschluß zur Geldwegnahme auch nur ansatzweise zur Tat gemacht zu haben, dann müßte, wer P wegen des Vorbehaltes auf ihren Versuch festnageln will, vor der Tatsache des vom Gewissen motivierten Verzichtes die Augen schließen und die P behandeln, als ob sie erwischt und an der Vollendung gehindert worden wäre. Man könnte dagegenhalten, wer einen Versuch erst einmal strafbar begangen habe, dürfe sich nicht wundern, daß er ihn nicht schon durch Ubergang in erneute (gedankliche) Deliktsvorbereitung tilge; er müsse vielmehr die Deliktsentschlossenheit überhaupt aufgeben. Aber das heißt doch im Grunde nichts anderes, als daß unter dem Deckmantel der Bestrafung eines vergangenen Versuchs ein übriggebliebener böser Wille bestraft wird, der sich in keiner Handlung manifestiert hat. Kommt es dagegen tatsächlich zum zweiten Versuch oder gar zum vollendeten Gelddiebstahl, so würde die „natürliche Handlungseinheit" oder der „Fortsetzungszusammenhang" die Ungereimtheiten vermutlich verwischen. Folgerichtig wäre es aber für die Gegenansicht, bei der Gewichtung der Gesamttat beide Objekte in Ansatz zu bringen, d. h. die P so zu bestrafen, als habe sie Geld und Schmuck gestohlen oder zu stehlen versucht - eine offenkundig falsche Basis für die Strafzumessung.

IV. Die Handlungseinheit als Kriterium der Wirksamkeit des vorbehaltsbelasteten Rücktritts? 1. Ausformungen

im

Schrifttum

Das letzte Beispiel hat uns ins Zentrum des Problems geführt. So, wie dieses sich in der gegenwärtigen Diskussion darstellt, geht es vor allem um Fälle, in denen der den Versuch abbrechende Täter entschlossen bleibt, denselben Straftatbestand später doch noch zu verwirklichen, und zwar so, daß der neue Anlauf sich nach Zeit, Angriffsrichtung und Begehungsweise vom ersten nicht allzu sehr unterscheidet. Auffallend viele Äußerungen sind freilich kaum zu verwerten, weil sie sich in formelhafter Betonung der Notwendigkeit eines „endgültigen und vollständigen" Rücktritts erschöpfen201 oder nur vage andeuten, daß nicht jedweder Deliktsvorbehalt den Rücktritt unbeachtlich mache20b. Geht man jedoch die präziseren Stellungnahmen durch, so erkennt man eine ihnen gemeinsame Basis der Problemformulierung und, daraus entwikkelt, zwei Hauptansichten. Vgl. etwa Baumann-Weber, AT, 9. Aufl. (1985), S.504; Geilen, AT, 5. Aufl. (1980), S. 177; Welzel, AT, 11. Aufl. (1969), S. 198. 20b Vgl. etwa Jescheck, AT, 3. Aufl. (1978), S.439; Lackner, StGB, 16. Aufl. (1985), §24 Anm. 3 a, aa; Schmidbauer, AT (Studienbuch), 2. Aufl. (1984), 11/82.

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D e n A u s g a n g s p u n k t teilt a u c h der B G H . E r fragt, o b „die z u n ä c h s t beabsichtigte sexuelle H a n d l u n g u n d die später geplante z w e i selbständige Straftaten i. S. des § 5 3 S t G B w ä r e n " 2 1 . D a s ist angelehnt an die b e s o n d e r s genaue, ihrerseits Lenckner v o n Küper,

folgende P r o b l e m k e n n z e i c h n u n g

auf den sich d e r B G H a u s d r ü c k l i c h b e r u f t : „ H a t der T ä t e r

seinen Deliktsplan n i c h t endgültig aufgegeben, s o geht es e n t s c h e i d e n d d a r u m , o b ( u n d w a n n ) das geplante spätere V e r h a l t e n m i t d e m bisherigen n o c h eine einheitliche T a t bildet, o d e r o b es bereits eine , n e u e ' andere T a t darstellt" 2 2 . D i e s e g e m e i n s a m e F r a g e s t e l l u n g , die m a n in g r o b e r U n t e r s c h e i d u n g oft als die „ k o n k r e t e " der „ a b s t r a k t e n " e n t g e gensetzt 2 3 , hat allerdings nicht a u c h einen einheitlichen M a ß s t a b für die P r ü f u n g der T a t i d e n t i t ä t h e r v o r g e b r a c h t . W ä h r e n d v o r allem Stratenwertb

Lenckner,

u n d tendenziell a u c h das B G H - U r t e i l allein auf die „ t a t b e -

standliche H a n d l u n g s e i n h e i t " abstellen 2 4 , w o l l e n Küper

u n d andere den

w i r k s a m e n R ü c k t r i t t a u c h d a n n v e r n e i n e n , w e n n bei d e r v o r b e h a l t e n e n T a t „ A n g r i f f s o b j e k t u n d A u s f ü h r u n g s w e i s e gleichartig sind u n d

der

T ä t e r Z e i t u n d O r t des späteren H a n d e l n s bereits k o n k r e t ins A u g e

BGHSt. 33, 145. Küper, J Z 1979, 779; sachlich übereinstimmend Lenckner (Fn.3), S.303f; Ebert (Fn.6), S. 112; Otto, AT, 2. Aufl. (1982), S.211; Stratenwertb (Fn.4), Rdn.714. 23 Vgl. etwa Streng, JZ 1984, 652; Bottke (Fn.6), S.373-378. Man gewinnt bei genauerem Studium allerdings den Eindruck, daß es bei den der abstrakten Betrachtungsweise zugeordneten Autoren lediglich an der Präzisierung dessen fehlt, was ihnen als „endgültiges und vollständiges Aufgeben" genügt, und daß bei solcher Nachbesserung die Differenz weitgehend verschwände; lehrreich dazu die vergleichende Bestandsaufnahme bei Bottke, a. a. O. Stratenwertb (Fn. 4), Rdn. 714, nennt das Ganze, vermutlich zu Recht, „eine Scheinkontroverse". - Eine deutlich abgesetzte „abstrakte" Sichtweise verficht lediglich Walter (Fn. 7), S. 100 f: Auch wenn das vorbehaltene Handeln eine neue Tat wäre (der Täter also „die weitere Ausführung der Tat aufgibt") und z. B. Mitleid (!) das Motiv des Aufhörens ist („weil das Opfer gar zu fröhlich des Weges kommt"), soll im Licht der ratio legis der Mangel an Endgültigkeit der Aufgabe die Strafbefreiung verhindern können. Hier verdrängt eine selbstgemachte Ratio-Hypothese offen das Gesetz. Walter verzichtet ausdrücklich darauf, durch anpassende Deutung eines Merkmals beides halbwegs in Einklang zu bringen (S.67: „Ob Freiwilligkeit... als hinreichende Normbefolgungsbereitschaft interpretierbar erscheint, darf letztlich dahinstehen"; wieso?). Er tut einfach so, als käme es statt auf die Freiwilligkeit darauf an, daß im Aufgeben der weiteren Tatausführung „hinreichende Normbefolgungsbereitschaft" hervortrete. Aber selbst als Vorschlag de lege ferenda scheint mir das nicht praktikabel. Es wird hier besonders deutlich, wie beliebig ausfüllbar Walters Schlüsselbegriff ist: Wie weit muß die Normbefolgungsbereitschaft „hinreichen"? Genügt es, wenn der Täter sein fröhliches Opfer ein Jahr, einen Monat, einen Tag lang in Ruhe lassen will? 24 Vgl. Lenckner (Fn.3), S.304; Stratenwertb (Fn.4), Rdn.714, 711, 1210ff, 1219; übereinstimmend wohl auch Krauß, JuS 1981, 884. BGHSt. 33, 146 referiert zwar die auch die Fortsetzungstat einbeziehende Rspr. des BGH, läßt die eigene Zustimmung aber in der Schwebe und verneint den wirksamen Rücktritt aufgrund des Lencknerschen Kriteriums. 21

22

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gefaßt hat" 25 . Die Differenz der Standpunkte kann man wohl dahin beschreiben, daß Küper den von Lenckner ausdrücklich verworfenen „Fortsetzungszusammenhang" als zweiten einheitsstiftenden Gesichtspunkt anerkennt, um die Diskrepanz mit dem eigenen Verständnis der ratio legis abzuschwächen26. Denn schon Lenckner selbst hatte angesichts der Konsequenzen seiner Lehre („strafbefreiender Rücktritt, wenn der Täter den Tötungsversuch abbricht, um dem Opfer noch eine letzte Schonfrist bis zum nächsten Tag zu geben") ein Mißbehagen nicht unterdrücken können und sie für §24 Abs. 1 StGB als vielleicht „weniger einleuchtend" bezeichnet27. Den Standardfall zur Veranschaulichung liefert der Dieb, der die Tat abbricht und aufschiebt: A ist in ein urlaubsleeres Haus eingestiegen und beschließt angesichts der reichen Beute großherzig, seinen Freund B zu holen und partizipieren zu lassen. Ohne schon etwas mitzunehmen, geht er wieder hinaus. Will er in wenigen Minuten zurück sein, weil er B in einer nahen Kneipe weiß, würden wohl beide Ansichten den wirksamen Rücktritt verneinen. Anders, wenn A das Unternehmen in die nächste Nacht verschiebt; dann würde der Rücktritt nach Lenckner zählen, während er nach Küper unbeachtlich bliebe. 2. Kritik Hier kann es nicht um die Entscheidung für die eine oder andere Ansicht gehen; fragwürdig ist vielmehr schon ihr gemeinsamer Ansatz. Das wertende Zusammenfassen zeitlich getrennter Einzelakte zu juristischen Handlungseinheiten und die sie bezeichnenden dogmatischen Begriffe haben, jedenfalls primär und von Hause aus, den Sinn, realgetätigte Einzelakte zu einer Handlung zu verschmelzen; also etwa den Sinn der Vermeidung von Tatmehrheit (§53 StGB), wenn ein zunächst gescheiterter Versuch alsbald - erfolglos oder erfolgreich - wiederholt worden ist oder im Beispiel A und B Stück für Stück ihre Beute hinausgetragen haben. Man blickt sozusagen in die Vergangenheit und sieht einzelne Akte, die sich in ihr realisiert haben. Diese ihnen gemein-

25 So Ebert (Fn. 6), S. 112, deutlich im Anschluß an Küper, J Z 1979,780; ähnlich Vogler, in: Jescheck/Ruß/Willms (Hrsg.), StGB, Leipziger Kommentar (LK), 10. Aufl. (1983), § 2 4 Rdn.79; Scbönke/Schröder/Eser (Fn.6), § 2 4 Rdn.40. 26 Vgl. Küper, J Z 1979, 780: Der die Durchführung nur vertagende Versuchstäter „manifestiert in seinem Verhalten... deutlich den Willen, nicht in die Legalität zurückzukehren, und bleibt für die Rechtsordnung weiterhin aktuell gefährlich"; daß er zur Eingrenzung der Sache nach die Figur des Fortsetzungszusammenhangs heranzieht, deutet Küper freilich nur an (in Fn. 48). 27 A . a . O . (Fn.3), S.305.

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same Eigenschaft stellt von vornherein eine gewisse Einheitlichkeit her, die die juristisch-wertende Zusammenfassung erleichtert. Sub specie der Rücktrittsfrage stellt sich das Problem der Verklammerung völlig anders. Man m u ß für A im Augenblick seiner Entschlußänderung und U m k e h r mit Blick in die Zukunft entscheiden, ob man einerseits den verwirklichten Versuch und andererseits noch ausstehendes, möglicherweise sogar auf Dauer unterbleibendes Handeln als eine „ T a t " i. S. von § 24 S t G B bewerten darf. D a ß für die A n t w o r t nicht die in der K o n k u r renzlehre entwickelten Kriterien der Handlungseinheit maßgeblich sein sollen, mag man schon im Wechsel des gesetzlichen Terminus angedeutet sehen: Idealkonkurrenz wird durch „dieselbe Handlung" (§ 52 S t G B ) geschaffen, Rücktritt setzt das Aufgeben weiterer Ausführung „der Tat" voraus. Das kann indes Zufall sein. M e h r Gewicht hat die Überlegung, daß die Teile, die man zur normativen Einheit machen will, hier ja schon deshalb schwer zusammenzufügen sind, weil sie auf den verschiedenen Ebenen der Aktualität und der Potentialität liegen. Man kann daraus, daß ein real getätigter Einzelakt eventuell, d. h. im Fall der Realisierung auch des geplanten weiteren Handelns, seine Eigenbedeutung verlieren würde, nicht schließen, daß er schon jetzt nur unselbständiger Teil einer Handlungseinheit ist. Die Mißachtung dieses Befundes durch die, die ihre Lösungen aus dem herrschenden Ansatz ableiten, rächt sich in schweren Mängeln an Sachgerechtigkeit und prozessualer Praktikabilität. Man gebe sich doch einmal Rechenschaft über Sinn und Gewinn des Festhaltens an der Strafbarkeit trotz des freiwilligen Zurückweichens! Entweder verwirklicht der Versuchstäter seinen Deliktsvorbehalt. D a n n interessiert sich kein Mensch mehr für den abgebrochenen ersten Anlauf; daß er, wie behauptet wird, trotz des Abbruchs als Versuch strafbar geblieben sei, kann gegenüber der Endtat, sei diese nun das vollendete Delikt oder auch wieder nur Versuch, überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Eine etwaige Strafzumessung dürfte ihn gerechterweise nicht erschwerend berücksichtigen, ein etwaiger Rücktritt würde ihn selbstverständlich miterfassen. O d e r der Täter überschreitet nicht abermals die Deliktsschwelle, weil sich schon vorher sein Erneuerungsvorhaben zerschlägt. D a n n hängt nach der h. A . , was in unserem Zusammenhang merkwürdigerweise kaum beachtet wird, die prozessuale Strafberechtigung im Grunde allein von der Einlassung des Täters ab. Sagt er, er sei zu einem neuen Anlauf nur (mehr oder weniger stark) geneigt, aber noch nicht „entschlossen" gewesen, so wird die Bestrafung fast immer daran scheitern, daß die Grundvoraussetzung für die Annahme eines Versuchs, die Tatentschlossenheit, unbeweisbar ist. D e n n es ist ja unbedingt lebensnah und glaubwürdig, daß jemand, der, räumlich und zeitlich von der geplanten Tat entfernt, nur vorbereitend

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agiert, sich die eigentliche Entschließung noch offenhält28. Dies zu berücksichtigen und den Beweis des Gegenteils dem Richter gar nicht erst aufzubürden ist geradezu der Sinn der Straflosigkeit bloßer Planung und Vorbereitung. Wird also im Beispiel der A, nachdem er sich aus freien Stücken zunächst ohne Beute zurückgezogen hat, außerhalb des Hauses gestellt, so ist es fast sinnlos, nach einem etwaigen Erneuerungsvorbehalt zu forschen. Dasselbe gilt für Lenckners Fall des Mordversuchstäters, der seinem Opfer noch einen Tag schenkt. Solange der Täter den Versuch nicht wirklich erneuert hat, wird ihm niemand nachweisen können, daß er dazu (in einem der Versuchslehre genügenden Sinne) „entschlossen" war. Gibt er dies aber (törichterweise) zu oder kann es ihm (ausnahmsweise) nachgewiesen werden, dann würde nach h. A. (in umstrittenen Grenzen) die Bestrafung möglich. Doch fordert das den noch schwerer wiegenden Einwand materieller Ungerechtigkeit heraus. Denn ein Versuchstäter, der freiwillig in den Bereich bloßer Vorbereitung zurückgekehrt ist29, würde behandelt wie jemand, der mit seinem Versuch gescheitert ist oder ihn unfreiwillig abgebrochen hat. V. Das richtige Kriterium: Verlassen der Versuchssituation Das richtige Kriterium hat sich im Fortgang der Untersuchung schon vollkommen herausgebildet. Ob trotz Wiederholungsvorbehalts ein freiwilliges Aufgeben Strafbefreiung bewirkt, hängt nicht ab von einem mehr oder minder eng zu fassenden Zusammenhang des getätigten Versuchs mit der potentiellen Deliktsbegehung, die sich der Täter vorbehalten hat. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob der Rückzug den Täter aus der Versuchssituation wieder herausführt. Daß das gedankliche Umdisponieren bei verbliebener Tatentschlossenheit den gleichzeitigen Eintritt in ein neues Versuchsvorfeld (Vorbereitungsstadium) bedeuten mag, ist unerheblich. Die Strafbarkeit muß auch dann durch neues unmittelbares Ansetzen neu begründet werden. Dieses Kriterium gewährleistet nicht nur, wie dargelegt, gerechtere Entscheidungen, es ist ersichtlich auch dem sachlichen Problem, das es lösen soll, angemessener. Denn der Rücktritt ist gewissermaßen die Umkehrung des Versuchs. So, wie trotz fester Deliktsentschlossenheit erst das „Ansetzen" 28 Mag man für diese auch die Bildung eines die Unterlassungstendenz nur überwiegenden Handlungswillens genügen lassen (wie es Roxin, in: Gedächtnisschrift für H . S c h r ö der, 1978, S. 159 f, einleuchtend fordert). 29 U n d damit, wenn es denn darauf ankommen soll, im entscheidenden Sinne auch „in die Legalität". Küpers entgegengesetzte Wertung (oben Fn. 26) übersieht, daß jemand, der sich vom aktuellen Versuch in den Bereich bloßer Vorbereitung wieder zurückzieht, nur noch in legaler Weise Böses plant.

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den Verlust der Straffreiheit bewirkt, so muß umgekehrt das freiwillige, die unmittelbare Gefahr beendende „Absetzen" auch die Wiedererlangung der Straffreiheit bedeuten. Höhere Anforderungen ethisieren oder kriminalpolitisieren das Gesetz über seinen Wortlaut hinaus und führen zu verkappter Bestrafung eines nur planenden bösen Willens sowie zur Anwendung sachfremder Maßstäbe, die ganz anderen Regelungsbedürfnissen zu dienen bestimmt sind. Um die strafbefreiende Wirkung eines Umkehrens oder Aufhörens mit Deliktsvorbehalt zu ermitteln, muß man also immer den Täter allein nach seinem neuen Plan beurteilen und fragen, ob er sich mit ihm in der Versuchs- oder Vorbereitungsphase befindet. Verdeutlicht an den letzten Beispielen: Wer in einem fremden Haus steht und entschlossen ist, hinauszugehen und nach einigen Minuten oder 24 Stunden mit einem Freund zum Stehlen zurückzukehren, oder wer sich mit seinem gekidnappten Opfer unterhält und dabei gewillt ist, es am nächsten Tag zu töten, befindet sich noch außerhalb der Zone des strafbaren Versuchs; das „unmittelbare Ansetzen" zur Tatbestandsverwirklichung ist im Plan schon zeitlich fixiert, aber noch nicht durch Handeln realisiert. Dagegen hat das freiwillige Abbrechen einer konkreten Versuchshandlung keinen strafbefreienden Effekt, wenn der Versuch ungebrochen weiterläuft. Der Einbrecher, der die Zerstörung einer teuren Fensterscheibe zur Schonung des Eigentümers im letzten Augenblick doch noch unterläßt und sogleich einen anderen, unschädlichen Einstieg wählt, kehrt hinsichtlich des schweren Diebstahls keine Sekunde lang ins Vorbereitungsstadium zurück. Mithin wird insoweit auch nicht die Versuchsstrafbarkeit aufgehoben und neubegründet, sondern sie bleibt durchlaufend bestehen. Dieser Unterschied ist freilich rein dogmatisch und praktisch belanglos. Ginge der rücksichtsvolle Einbrecher zuerst noch einmal zum Auto, um eine Zigarette zu rauchen und eine Taschenlampe zu holen, so wäre der Versuch und mit ihm die Strafbarkeit durch eine Zwischenphase der Abwendung und neuen Vorbereitung kurz unterbrochen, aber die Strafzumessung für den danach vollendeten schweren Diebstahl würde das nicht im geringsten beeinflussen. Interessant wird es erst, wenn der Täter nach dem freiwilligen U m disponieren unfreiwillig aufgibt oder die Planverwirklichung schlicht unmöglich wird. Hier kommt dann alles darauf an, ob wertende Beurteilung ihn nach seinem freiwilligen Aufschub noch in der Versuchs- oder in einer neuen Vorbereitungssituation sieht. Als Beispiel diene B G H S t . 7, 296. Geht man hier mit dem Gericht davon aus, daß der durch die Bitte des Opfers motivierte Verzicht auf die sofortige Vergewaltigung als freiwillig zu bewerten sei, und unterstellt man weiter, daß der Täter nach Ablauf der Galgenfrist den etwaigen Widerstand gewaltsam zu brechen

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fest entschlossen war, so wäre zu fragen: Begeht schon einen Versuch, wer eine Frau durch Drohung zu bleiben zwingt und vor die Alternative stellt, sich ihm aus eigener Lust binnen kurzer Frist hinzugeben oder vergewaltigt zu werden? Die Antwort kann wohl nicht zweifelhaft sein. Der Deliktsentschluß liegt vor, nur die Ausführung ist abhängig gemacht vom Fristablauf und von der Verweigerung freiwilliger Hingabe; das unmittelbare Ansetzen ist bei dieser Planung schon in der Begründung von Gewalt über das Opfer zu sehen. Ein Gegenbeispiel bietet der oben gebildete Fall der versuchten Tötung auf Verlangen, die aufgeschoben wird, weil der Täter es im Augenblick „einfach nicht übers Herz bringt", und die sich dann wegen des unerwarteten Selbstmordes erübrigt. Wer tödliches Gift bereithält, dieses dem Opfer aber erst nach Stunden injizieren will, bewegt sich noch in der Zone strafloser Vorbereitung. Der Versuchstäter ist also durch Absetzen der Spritze wirksam zurückgetreten. Die beiden letzten Beispiele zeigen die Notwendigkeit der Differenzierung innerhalb einer Konstellation, die unter dem Rücktrittsaspekt meistens gleichmäßig beurteilt wird. Otto bildet den Fall, daß A beim Einbruchsversuch das Haustürschloß des B schon gelockert hat und nun beschließt, heimzukehren und den Diebstahl erst am nächsten Abend zu begehen. Einer schon immer verbreiteten Ansicht folgend30, macht Otto (als Verfechter der „konkreten" Betrachtungsweise) die Strafbefreiung hier davon abhängig, ob A später durch Herausstoßen des Schlosses „an die bisher geleistete Arbeit anknüpfen" oder von vorn beginnen, z. B. durchs Fenster steigen will31. Indes ist so die Frage falsch gestellt und geeignet, den zutreffenden Ansatz der konkreten Sichtweise praktisch wiederaufzuheben. Irgendeine Erleichterung, die der freiwillig aufschiebende Täter später auszunutzen gedenkt, wird nach dem ersten Ansetzen fast immer zurückbleiben, sei es auch nur die genauere Kenntnis tatrelevanter Umstände. Richtigerweise muß man fragen, ob schon ein Versuch vorläge, wenn A von Anfang an vorgehabt hätte, erst am nächsten Abend die halb geleistete Einbruchsarbeit zu vervollständigen und den Diebstahl zu begehen. Die heute klar herrschende Ansicht würde die Frage wegen des großen zeitlichen Abstandes zwischen der realisierten Schutzminderung und der geplanten Wegnahme verneinen32. Sie sähe den A bis zum „Ansetzen" am zweiten Abend noch in der Vorbereitungsphase. Dem muß sich die Beurteilung des Rücktrittsfalles gerechterweise anpassen. A hat dort zwar schon einen Versuch begangen, aber danach freiwillig so umdisponiert, daß ihn die h. A. folgerichVgl. die Zusammenstellung bei Bottke (Fn.6), S. 374 f. Otto (Fn. 22), S. 211 f. 32 Vgl. nur Roxin, JuS 1979, 6 f (mit eingehender Begründung und zahlreichen Nachweisen). 30

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tig jetzt wieder im straffreien Vorfeld der Deliktsausführung sehen muß. Gleiches gilt in unserem Beispiel des Versuchstäters, der die von seiner kranken Frau verlangte Tötung im letzten Augenblick doch nicht begeht und um Stunden aufschiebt. Läßt er das Gift in der Spritze, so hält er damit zwar ein Stück schon geleisteter Arbeit fest, doch stellt es sich in der neuen Situation nur als straffreie Vorbereitung künftiger Ausführung dar. Der gegen Ottos Lösung gerichtete Vergleichsfall ist freilich umstritten. Mag auch die Annahme des späten Versuchsbeginns den Vorzug verdienen, so zeigt die schwankende Beurteilung doch an, daß neben dem zeitlichen Aspekt auch der Umstand des schutzmindernden Einbruchs in die Opfersphäre nicht ganz ohne Bedeutung ist und daß er die zeitliche Entferntheit der eigentlichen Tatausführung bis zu einem gewissen Grade aufwiegen kann. Wer auf der Straße vor dem Haus, in das er gleich durch ein zufällig offenes Fenster einsteigen will, ein paar Minuten stehenbleibt, um die Lage zu sondieren, ist noch nicht strafbar. Wer aber dasselbe tut, nachdem er zuvor das Fenster zerstört hat, hat mit diesem Handeln das Versuchsstadium schon betreten, selbst wenn das nachfolgende Abwarten von Anfang an eingeplant war. Entsprechend wäre ein spontan beschlossener taktischer Rückzug so geringen Ausmaßes auch nicht geeignet, den Täter strafaufhebend aus der Versuchssituation herauszuführen. N u r diese Begründung trägt die Bestrafung des Täters, der für den Fall, daß das O p f e r sein Versprechen freiwilliger Hingabe nicht bald einlöst, zur Vergewaltigung entschlossen bleibt. Die zeitliche Distanz, die den Täter nach der Umstellung seines Planes von der Tat wieder trennt, stünde der Annahme eines andauernden Versuches an sich entgegen. Da der Täter aber durch den Uberfall die Tabuschranke schon durchbrochen hat und das Opfer in seiner Gewalt festhält, ist der Aufschub nicht entscheidend. Allerdings hat solcher Ausgleich frühe Grenzen. Wer ein Mädchen mit dem Entschluß gefangensetzt, es zu vergewaltigen, falls binnen einer Stunde zärtliche Werbung nicht zum Ziel führt, begeht Freiheitsberaubung, aber noch keinen Notzuchtsversuch. Entsprechend wieder die Beurteilung des Rücktrittsfalles: Auch wenn der Täter von einem anfänglichen Vergewaltigungsversuch aus Scham zur zärtlichen Werbung hinüberwechselt, bewegt er sich während dieser friedlichen Stunde außerhalb des sexualdeliktischen Bereichs, was hier für §24 StGB den Ausschlag geben muß. Die herrschende Strafzwecklehre ist es vor allem, die so mäßige Anforderungen zu großzügig findet. In umfassender Auseinandersetzung mit ihr ein anderes Verständnis der ratio legis zu begründen, ist hier nicht der Ort 33 . Doch sei immerhin aufgezeigt, wie angreifbar die 33

Ich verweise auf meine in Fn. 18 angekündigte Studie.

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strengen Lösungen dieser Lehre von ihrem eigenen Kriterium her erscheinen. Roxin hält es für „ohne weiteres e i n l e u c h t e n d . . d a ß der Täter seinen Plan endgültig aufgegeben haben muß, wenn er die Straffreiheit erlangen will". Denn es bedeute „das Verschieben der Ausführung auf die nächste, günstigere Gelegenheit natürlich keine Rückkehr in die Legalität" 34 . Aber einleuchtend und natürlich scheinen eher die gegenteiligen Annahmen. Wer aus freien Stücken aus einem Versuch aussteigt und das Delikt jetzt nur noch für einen späteren Zeitpunkt vorhat und vorbereitet, verstößt nicht mehr gegen das Gesetz. Der aufschiebende Täter verbleibt in deliktischer Entschlossenheit, aber in die Legalität kehrt er zurück. Entgegen üblicher Beteuerung begnügen sich die Verfechter des Kriteriums in derartigen Fällen gerade nicht mit einer Rückkehr zu legalem Verhalten, sondern sie fordern ein innerliches Abschwören, einen Wandel zu rechtstreuer Gesinnung. Diese innere Widersprüchlichkeit ist leicht erklärlich. Da die Strafzwecklehre fragt, ob unter Präventionsaspekten die Bestrafung des Versuchstäters trotz des autonom beschlossenen Aufschubs noch angezeigt ist, kann es ihr nicht reichen, daß der Täter in die Legalität zurückgekehrt ist. Vielmehr muß sein Rücktritt beweisen oder wenigstens indizieren, daß er die Gesellschaft mit Delikten vom Typus der Versuchstat vorläufig nicht mehr bedroht. Es ist unmöglich, das materielle Kriterium präventiver Bedürfnisse mit dem formellen der Rückwendung zu legalem Verhalten zur Deckung zu bringen. Man muß sich entscheiden, und zwar für das formelle. Andernfalls wäre der Freispruch nicht einmal mehr gesichert, wenn z. B. ein Heranwachsender seine ersten Notzuchtsversuche aus Scham und Anstandsgefühl noch aufgegeben hat. Schwinden erkennbar seine Hemmungen und nimmt seine Gefährlichkeit von Mal zu Mal deutlich zu, so kann aus spezialpräventiven Gründen die Strafbehandlung, die §24 StGB hier eindeutig verbietet, dringlich geboten erscheinen. VI. Wirkung des Rücktritts bei durchlaufendem Versuch Lösung des Ausgangsfalles Der Satz, es komme für die Strafbefreiung darauf an, ob das freiwillige Abbrechen den Täter aus der Versuchssituation wieder herausführe, bedarf aber noch klarstellender Ergänzung. Die nahtlose Fortführung des strafbaren Versuchs nach einem freiwilligen Handlungsverzicht bedeutet nicht, daß der Verzicht schlechthin unbeachtlich wäre. Genaugenommen hat jede freiwillige Preisgabe einer konkreten Handlung, die den Versuchstatbestand erfüllt, strafbefreiende Wirkung, nämlich inso34

Kriminalpolitik und Strafrechtssystem (Fn. 10), S.38.

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fern, als jedenfalls sie die Versuchsstrafe nicht mehr tragen und bei der Bemessung der Strafe für das sogleich weiterversuchte bzw. vollendete Delikt nicht mehr zählen kann. Denn natürlich muß es einen Unterschied machen, ob im Beispiel der Einbrecher sich umbesinnt, weil es ihm um die schöne Scheibe leid tut oder weil er das Fenster vergittert vorfindet. Selbst wenn der Diebstahlsversuch nicht unterbrochen wird, tritt der Täter im ersten Fall von ihm insoweit wirksam zurück, als der Versuch im Bemühen liegt, durch das Fenster ins Haus zu gelangen". Zum Ausgangsfall zurückkehrend, können wir also nach allem sagen, daß der B G H recht hat mit der Annahme, der Angeklagte habe durch den freiwilligen Verzicht auf den Oralverkehr seine Strafbarkeit nach §§ 178, 22 StGB nicht getilgt. Der Maßstab der Handlungseinheit (zwischen aufgegebenem und geplantem Handeln) ist zwar der falsche, aber er führt hier zufällig zum richtigen Ergebnis, weil A entschlossen und mit permanenter Gewaltanwendung auch tätig bemüht blieb, sich an P geschlechtlich zu befriedigen; der Versuch zur sexuellen Nötigung lief also ununterbrochen weiter und wurde in der gesteigerten Form der Vergewaltigung sogar zur Vollendung geführt. Fehlerhaft ist aber der Schluß, daß ein Rücktritt, der gegebene Versuchsstrafbarkeit nicht aufhebe, deshalb schlicht unbeachtlich und gänzlich unwirksam sei. Wenn das Aufgeben des Versuchs, der P den Mundverkehr aufzuzwingen, freiwillig war (was beide Gerichte annahmen), dann hat das Landgericht die richtige Konsequenz gezogen: Dieses Teilgeschehen mußte bei der Strafzumessung „als den Angeklagten aus Rechtsgründen nicht belastend ausgeschieden" werden. VII. Anwendung des Kriteriums auf den beendeten Versuch Das Problem des Rücktritts mit Deliktsvorbehalt stellt sich, vielleicht entgegen dem ersten Anschein, nicht nur für den unbeendeten Versuch. Der Arzt, der seine Frau vergiftet hat, den Anblick ihrer gräßlichen Schmerzen aber nicht erträgt und ihr deshalb den Magen auspumpt, mag dabei entschlossen bleiben, den Anschlag alsbald mit einem schneller wirkenden Mittel zu wiederholen. Die oben abgelehnte Lehre müßte also auch hier fragen, ob die vorbehaltene Erneuerung im Falle ihrer Realisierung mit dem ersten Versuchsakt eine Handlungseinheit bilden 35 Vgl. auch Streng, N S t Z 1985, 3 6 0 f, der in solchen Fällen von einem „untechnischen Rücktritt" spricht; das ist aber eine unnötige Abschwächung, die die unmittelbare Anwendbarkeit des § 2 4 StGB verdunkelt. Ganz übersehen wird diese bei Bottke (Fn. 6), S. 381 ff. E r betrachtet einseitig die Fälle „zweckdienlichen" Änderns der Vorgehensweise und sieht deshalb mit Verneinung des „Aufgebens der weiteren Tatausführung" die Sachfrage beantwortet. Wie aber, wenn der Umstieg zweckwidrig ist und der Schonung des Opfers dienen soll?

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würde36, und sähe deshalb ihre Lösungen allen schon vorgetragenen Einwänden ausgesetzt. Ja, diese Kritik gewinnt in solchen Fällen sogar zusätzliche Kraft. Denn daß beim beendeten Versuch kaum jemand fragt, ob der Zurücktretende seinen Versuch denn auch nicht wiederholen wolle, kommt nicht von ungefähr. Aktive Erfolgsabwendung führt den Versuchstäter besonders augenfällig aus der Versuchssituation heraus. Man kann nicht gleichzeitig sich gegen die Tatbestandserfüllung anstemmen und auf sie zusteuern. Nur dort, wo der Deliktsvorbehalt eines schlicht innehaltenden Täters die optische Täuschung eines sozusagen „schwebenden" Versuchs erzeugt (obwohl der Täter in Wahrheit in das Vorbereitungsstadium zurückgekehrt ist), hat es auf den ersten Blick etwas Einleuchtendes, daß die Strafbefreiung so noch nicht erobert sein kann. Ja, es mag sogar sein, daß diejenige Lehre, die die Lösung besonders rücktrittsfreundlich an das Kriterium der natürlichen Handlungseinheit binden will, dabei überhaupt nur Fälle der andauernden Versuchssituation vor Augen hat37. Da diese überdeutlich ein Ende findet, wenn der Täter aktiv die Vollendung verhindert, hat die Verweigerung des Privilegs hier nie so recht Fuß fassen können; ein kaum beachteter Umstand, der indirekt anzeigt, worauf es für die Strafbefreiung auch beim unbeendeten Versuch in Wahrheit ankommt. Hier ist auch der Grund zu suchen für die früher sogar gesetzliche Besserstellung dessen, der durch Gegenaktivität besonders deutlich und entschieden aus dem Versuch aussteigt: §46 Nr. 2 StGB a. F. forderte beim beendeten Versuch statt Freiwilligkeit nur das Nichtentdecktsein der Handlung. Daß eine entsprechende Regelung in §310 StGB heute noch gilt, bewirkt Friktionen mit dem neuen §24 StGB, die man durch dessen kriminalpolitische Aufladung nicht noch verschärfen sollte. So muß, wer bei §24 StGB auf dem „Durchbruch der Normbefolgungsbereitschaft" oder ähnlichem besteht, die Strafbefreiung verweigern, wenn der Täter, etwa durch Auspusten des Streichholzes, schon vom unbeendeten oder beendeten Versuch zurücktritt, weil er demnächst oder anderswo eine noch größere Feuersbrunst entfachen will38. Dagegen müßte man einem eindeutigen Gesetzeswortlaut gehorchen, wenn der Täter aus demselben

So folgerichtig Lenckner (Fn. 3), S. 301 f; Küper, JZ 1979, 779. In diesem Sinne fast schon emdeutigjakobs (Fn. 4), 26/10, der auf die Handlungseinheit des neuen Ansetzens nicht mit dem ersten Versuch, sondern mit dessen Unterbrechung (!) abhebt und mit Blick auf den Vorbehalt des Täters vollkommen zutreffend betont: „Nicht mindestens in das Versuchsstadium getretene deliktische Pläne sind irrelevant". 38 Ausdrücklich so lösen Ulsenheimer (Fn. 11), S.341, und Bottke (Fn.6), S. 501 f (Fn.291), den Fall; ein nachdenklich stimmendes Beispiel dafür, daß nach vermeintlich erreichtem Wissen um die ratio legis das Gesetz selbst der Rechtsfindung kaum noch Zügel anlegen kann: §310 StGB wird von keinem der beiden auch nur erwähnt. 56 37

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Grund nach der Deliktsvollendung den noch unentdeckten Brand im Anfangsstadium löscht. Es versteht sich nach dem Gesagten, daß es Fälle des Rücktritts vom beendeten Versuch sein müssen, die sich den für die Strafzwecklehre folgerichtigen Lösungen am stärksten widersetzen. Wenn ein Terrorist zurück ins Gerichtsgebäude läuft und die von ihm gelegte Zeitbombe entschärft, weil er aus Rücksicht auf eine Besuchergruppe (deren Gefährdung ihm anfangs gleichgültig gewesen war) die Explosion doch lieber auf einen anderen Tag verschieben will, dann kann solcher Aufschub natürlich nicht reichen, dem Täter zu bescheinigen, er habe sich als ungefährlich erwiesen und den rechtserschütternden Eindruck seiner Tat aufgehoben. Es ist ja weiterhin von ihm das Schlimmste zu befürchten. Daß er die konkrete Tat aus einer Mitleidslaune heraus zurückgenommen hat, wirkt zufällig und kann angesichts der festen Wiederholungsabsicht niemanden beruhigen. Andrerseits erfüllt das dramatische, mit eigener Gefährdung verbundene Verhindern der Tatvollendung so eindeutig den Wortlaut des § 24 StGB, daß unverhohlen vom Gesetz sich lösen müßte, wer hier die von der Strafzwecktheorie geforderte Entscheidung fällen wollte. Bottke, einer ihrer engagiertesten Anhänger, hat sich durch Bildung eines ähnlichen Beispiels in diese Zwickmühle hineinbegeben39. Mit Spannung liest man, wie er aus ihr wohl herausfinden will. Sein Weg ist der, daß er die Theorie verbal anwendet und in der Sache verrät, indem er so tut, als sprächen gerade Strafzweckerwägungen für die Strafbefreiung (trotz der im Deliktsvorbehalt sich offenbarenden „beträchtlichen kriminellen Energie"!). Höchst aufschlußreich führt Bottke uns hier also das prinzipielle Dilemma der herrschenden Strafzwecktheorie vor. Daneben ist es vergleichsweise unwichtig, daß der getarnte Verzicht auf die theoretische Konsequenz in dem konkreten Beispiel, das Bottke gebildet hat, die richtige Lösung nicht bewirkt, sondern verfehlt. Bottke stellt sich nämlich vor, daß der Terrorist zur Rettung seines überraschend eintretenden Vaters die Bombe entschärft, die er andernfalls hätte explodieren lassen. Bei solcher Motivation stellt sich der Meinungsstreit um die Frage des Wiederholungsvorbehaltes gar nicht. Der Rücktritt ist jedenfalls deshalb unwirksam, weil T die Vollendung nicht freiwillig verhindert. Wer seinen Vater in Lebensgefahr sieht, trifft ja nach rechtlichem Maß nicht einmal dann eine zurechenbar-freie Entscheidung, wenn er ihn durch eine Straftat rettet (vgl. §35 StGB). Um wieviel weniger kann man sie

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A . a . O . (Fn.6), S.395ff.

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dann als freiwillig bewerten, wenn er nur tut, was zu tun er sowieso verpflichtet war40! VIII. Der Rücktritt bei verwirklichter Handlungseinheit Die Reihenfolge, daß nach einem freiwilligen Verzicht das erneute Handeln unfreiwillig unterbleibt, kann sich umkehren: Putzhilfe P öffnet schon die Schublade, um einen Hundertmarkschein zu stehlen, als die Hausfrau H ins Zimmer kommt und dadurch unwissentlich die Tat verhindert. P will sie nun irgendwann im Lauf des Vormittags begehen, und sie greift später auch unbeobachtet nach dem begehrten Geldschein. Ihr Gewissen und die Angst, verdächtigt zu werden, lassen sie aber dann doch zurückweichen. 1. Die Relevanz realisierter Handlungseinheit Auch diese Konstellation fällt in den Bereich des Themas, denn es setzt nicht voraus, daß der unter dem Vorbehalt der Deliktserneuerung stehende Rücktritt ein freiwilliger ist. Auf den ersten Blick scheint es nun, als müsse man vom hier eingenommenen Standpunkt aus den Fall so engherzig wie den umgekehrten großzügig entscheiden. Denn weil P nach dem ersten Versuch unfreiwillig ins Vorbereitungsstadium zurückfällt, legt unser Kriterium es nahe, die Strafbarkeit dieses Versuchs endgültig zu bejahen - wie ja auch umgekehrt dieser Versuch bei freiwilligem Abbruch endgültig straffrei geworden wäre. Hruschka hält es für eine unausweichliche Konsequenz der „konkreten", auch vorläufige Abstandnahme als wirksamen Rücktritt akzeptierenden Betrachtung, daß ein freiwilliger Rücktritt niemals einen früher verübten, unfreiwillig aufgegebenen Versuch tilgen könne41. a) Diese Annahme (die Hruschka sachwidrig findet und als Indiz für die Unrichtigkeit der konkreten Sichtweise nimmt) ist jedoch vorschnell. Gibt P den ersten Versuch freiwillig auf, so muß man für diesen Zeitpunkt entscheiden, ob sie sich trotz ihres Wiederholungsvorbehalts Strafbefreiung verschafft. Denn die Wiederholung (die die Frage unerheblich machen würde) kann sich zerschlagen, und spätestens dann muß man Farbe bekennen, welche Rechtswirkung der vorbehaltsbelastete, aber freiwillige Verzicht gehabt hat. Bricht P dagegen den ersten Anlauf unfreiwillig ab, dann steht fest, daß dieser Versuch jedenfalls bis auf weiteres strafbar ist. Darüber hinaus zu sagen, daß er dies nun unabän40 Näher begründet wird die Anwendung rechtlicher Zurechenbarkeitskriterien zur Bestimmung der Freiwilligkeit des Rücktritts in meinem noch unveröffentlichten Aufsatz (vgl. Fn. 18). 41 J Z 1969, 499.

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derlich sei, besteht kein Anlaß, denn eine Rechtswirkung schreibt §24 StGB ja nur demfreiwilligen Rücktritt zu. Entschieden werden muß hier also erst, wenn P einen Verzicht übt, der als freiwilliger Rücktritt zu bewerten sein könnte. Er ist im Beispiel darin zu sehen, daß P beim zweiten Mal die begonnene Wegnahme doch noch unterläßt. Dieser Verzicht tilgt sicher die unmittelbar voraufgegangene Versuchshandlung, aber möglicherweise auch die erste und deren Strafbarkeit. So ansetzend erkennt man leicht, daß P's Rückkehr in die Vorbereitungssituation nach dem unfreiwilligen Abbruch nicht die Bedeutung haben kann, die sie nach freiwilligem Verzicht gehabt hätte. Der erste und der spätere Versuchsakt liegen nun nicht auf den getrennten Ebenen des Aktuellen und des Potentiellen (vgl. oben IV 2), sie sind vielmehr beide real geworden und lassen sich dank dieser Gemeinsamkeit zu einer wirklichen Handlungseinheit zusammenfügen42 - in den Grenzen natürlich, die die Lehre von den Konkurrenzen zieht. Die Berechtigung und Reichweite der dort angebotenen Figuren stehen hier nicht zur Debatte. Geht man für das Beispiel davon aus, daß die beiden Versuchsakte zusammen einen einheitlichen Versuch bilden, dann bietet sich natürlich die Lösung an, den zweiten freiwilligen Rücktritt vom Versuch des Gelddiebstahls auf den Gesamtversuch zu erstrecken, weil dieser sich ja auf nicht mehr richtete, als P zuletzt freiwillig hat liegenlassen: einen Hundertmarkschein; Gesamtversuch und endlicher Verzicht decken sich nach Gegenstand und Umfang43. b) Diese rücktrittsfreundliche Lösung wird auch vom B G H und im Schrifttum vertreten44; Gegenstimmen gibt es, soweit ersichtlich, nicht. Das ist erstaunlich, denn wer weiter nachdenkt, stößt auf einen gewichtigen Zweifel. Man denke sich, P nähme, weniger kaltblütig, beim Eintreten der Hausfrau vor Angst und Schreck von ihrem Vorhaben endgültigen Abstand. Dann bliebe es bei dem einen Versuchsakt und bei dem einen, zweifellos unfreiwilligen, Rücktritt. P wäre nach §§242, 22 StGB zu bestrafen. Soll sie der Strafe dadurch entgehen können, daß sie, 42 Während man sich oben mit der konditionalen Feststellung begnügen mußte, daß sie gegebenenfalls eine solche bilden würden, 43 Nicht präjudizieren würde die Lösung die ganz andere Frage, ob der Verzicht auf den letzten Teilakt eines Versuchskomplexes auch dann auf die voraufgegangenen Einzelakte zurückwirkt, wenn der Täter mit diesen bereits den Wendepunkt des beendeten Versuchs erreicht hatte (Verzicht auf den letztmöglichen Schuß nach mehreren Fehlschüssen); eingehend dazu Herzberg, in: Festschrift für Blau, 1985, S. 97ff. 44 Vgl. vor allem BGHSt. 21, 319: Der Täter hatte den Versuch eines Einbruchsdiebstahls zunächst unfreiwillig abgebrochen, zugleich aber die Wiederholung beschlossen. Den zweiten Versuch, den der B G H in Fortsetzungszusammenhang mit dem ersten sieht, gab er dann freiwillig auf. Vgl. ferner Bottke (Fn.6), S. 400 ff; Hruschka, J Z 1969, 495 ff; Maurach/Gössel/Zipf, AT, Teilb. 2, 6. Aufl. (1984), §41 V c ; Vogler, in: L K (Fn.25), § 2 4 Rdn. 81.

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statt sofort endgültig aufzugeben, zunächst noch zur Wiederholung entschlossen bleibt und abermals einen Versuch begeht? Das Argument, der kaltblütig planende und nach Stockungen ungerührt weiterhandelnde Täter dürfe im Vergleich mit dem zaghaften, der nach einem Fehlschlag die Flinte ins Korn wirft, keine Rücktrittsvorteile gewinnen, begegnet uns auch in anderen Zusammenhängen. Es ist aber nirgendwo stichhaltig, weil die jeweils nebeneinander gestellten Fälle in Wahrheit nicht vergleichbar sind45. Nur im Ausgangsfall vollzieht P einen vollwertigen Rücktritt. Sie gibt den Diebstahl auf in einer Situation höchster Versuchung und leichtester Ausführbarkeit. Damit beweist sie ihre Fähigkeit zur Umkehr auch dort, wo sie praktisch schon am Ziel ist. Im Vergleichsfall bleibt P diesen Beweis schuldig. Sie kehrt nicht um, sondern zeigt nur, daß sie in einer Lage der Verhinderung ihren Deliktsplan nicht auf die Zukunft umstellt. Das ist gewiß auch schon etwas, vor allem bei guten Wiederholungschancen, und kann für die Strafzumessung ins Gewicht fallen. Als strafbefreiender Rücktritt genügt es aber nicht, weil P die weitere Diebstahlsausführung eben nicht freiwillig, sondern unter dem Zwang plötzlich veränderter Umstände aufgegeben hat. 2. Folgerungen a) Rücktritt nur bei neuer Versuchssituation Aus den genannten Grundsätzen kann man Weiteres ableiten. Zunächst ergibt sich die harte, aber wohl unverzichtbare Rücktrittseinschränkung, daß nach unfreiwilligem Abbruch auch der zur Wiederholung gewillte Täter sich die Strafbefreiung nur verschaffen kann, indem er in einer (handlungseinheitlichen) neuen Versuchssituation freiwillig zurücktritt. Daß P ihren zunächst gefaßten Entschluß, den Diebstahl später doch noch auszuführen, irgendwann schlicht fallen läßt, genügt nicht. Sie muß ihn schon aufgeben, nachdem sie zuvor neu angesetzt hat. Das scheint die kriminalpolitische Logik auf den Kopf zu stellen, ist aber in Wahrheit gerade aus praktischen Gründen schlechterdings zwingend. Denn „da könnte ja jeder kommen" und behaupten, daß er nach seinem strafbaren Versuch und unfreiwilligen Rückzug anfangs zu einem neuen Anlauf fest entschlossen gewesen sei, sich jedoch später eines Besseren besonnen habe. Der Wille, nach einem Fiasko es neu zu versuchen, ist immer schwankend und anfällig. Wahrheit und Lüge einer solchen Verteidigung sind nicht aufklärbar. Wäre etwa der Angeklagte im Fall BGHSt. 21, 319 beim gescheiterten Einbruchsversuch beobachtet und in der Wirtschaft, wo er einen Mittäter suchte, gestellt worden, so wäre die 45 Zu anderen Streitpunkten und der dortigen Verwendung des Arguments in: Festschrift für Blau (Fn.43), S. 113, 116 f.

Herzberg,

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Behauptung: „Zuerst wollt' ich noch, dann hab ich's drangegeben", durchaus glaubwürdig oder jedenfalls unwiderleglich. Aber auch abgesehen von der Unmöglichkeit der Aufklärung kann solches Vorbringen, selbst wenn es die Wahrheit ist, nicht beachtlich sein. Das Aufgeben des Wiederholungsentschlusses im Vorbereitungsstadium ist nun einmal kein „Aufgeben der weiteren Ausführung der Tat", weil die Versuchstat, die wahlweise weiter ausgeführt oder aufgegeben werden könnte, z. Z. gar nicht läuft. b) Rücktritt durch Verzicht auf aussichtsreiche Umstellung? Weiterhin ist zu betonen, daß ein durch ungünstige oder sogar die Vollendung momentan unmöglich machende Umstände veranlaßtes Aufgeben des Deliktsentschlusses nicht deshalb zum strafbefreienden Rücktritt wird, weil der Versuchstäter zugleich wissentlich auf aussichtsreiches Abwarten oder Suchen nach anderen Angriffswegen verzichtet. Der Einbrecher, der die Hausbewohner im Schlaf anzutreffen hoffte und nun bemerkt, daß der Hausherr noch dem ARD-Nachtkonzert lauscht, hält sich zwar den Rücktritt offen, wenn er in seinem Versteck wartet, bis der Musikliebhaber ins Bett gegangen ist. Trotz des unfreiwilligen Aufschubs würde er also seinen Versuch tilgen, wenn er, um das rührende Beispiel von Bottke aufzugreifen, „auf dem Tisch eine Todesanzeige liegen sieht" und daraufhin weggeht, „weil er nicht noch mehr Kummer bereiten will"46. Dagegen bleibt der Versuch strafbar, wenn das Hemmnis den Täter sofort vertreibt, weil ihm das Abwarten zu unsicher oder zu lästig ist. Das gleiche müßte gelten, wenn er die Lust verliert, weil von seinen Schlüsseln keiner ins Schloß der Kellertür paßt, mag er sich auch der Möglichkeit bewußt sein, auf anderem Weg vielleicht doch ins Haus zu können. Anders wiederum, wenn er während des Scheiterns an der Kellertür ein offenes Fenster sieht, das Versagen der Schlüssel aber als Zeichen des Himmels nimmt und auf den leicht möglichen Einstieg verzichtet. c) Entsprechung von Gesamtversuch und Rücktritt Abschließend sei noch auf einen Punkt hingewiesen, der in den ohnehin spärlichen Beiträgen zum Rücktritt vom handlungseinheitlichen oder fortgesetzten Versuch kaum herausgestellt wird. Wie schon angedeutet, kann es zur Straftilgung nicht genügen, daß mehrere Einzelakte einen einheitlichen unbeendeten Versuch bilden und der Täter nach dem Ansetzen zum letzten Teilakt dessen Durchführung freiwillig aufgibt. Vielmehr muß hinzukommen, daß dieser Verzicht umfänglich dem entspricht, was der Täter insgesamt zu erreichen versucht hat. Ein 44

A . a . O . (Fn.6), S.403.

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Beispiel: A tastet im Umkleideraum einer Turnhalle Jacken und Mäntel nach Portemonnaies ab. Als er die Hoffnung fast schon verloren hat, wird er beim allerletzten Mantel doch noch fündig. Nach kurzem Besinnen steckt er das Portemonnaie aber wieder zurück, weil er die Verdächtigung seiner Person und etwaige Strafe doch lieber vermeiden will. Hier bilden viele Einzelakte, die (bis auf den letzten) je für sich genommen fehlgeschlagene unbeendete Versuche darstellen, eine Handlungseinheit. Bei der Frage, ob A sich durch den freiwilligen Verzicht insgesamt straffrei gemacht hat, muß man unterscheiden. Ging der Plan dahin, ein einziges Portemonnaie zu stehlen und mit dem erstbesten zu verschwinden, so wirkt die Tataufgabe auf alle Versuchsakte zurück; denn A hat auf das, was er an deliktischem Schaden anrichten wollte, vollen Umfangs verzichtet. Hingegen bleibt A wegen der gescheiterten Versuche strafbar, wenn er so viel wie möglich stehlen wollte. Denn ein großes, auf viele Objekte gerichtetes und in das Versuchsstadium vorangetriebenes Deliktsvorhaben kann man nicht dadurch annullieren, daß man auf die allein greifbare Beute eines einzigen Objektes verzichtet. Der Täter erbringt so nicht den Beweis, daß er auch im Falle eines von Anfang an verheißungsvoll-ergiebigen Tatverlaufs die weitere Ausführung freiwillig aufgegeben hätte. IX. Ergebnisse Die hauptsächlichen Ergebnisse der Studie lassen sich wie folgt umreißen: 1. Der freiwillige Rücktritt wirkt auch bei fortdauernder Deliktsentschlossenheit strafbefreiend, wenn er die Versuchssituation aufhebt. Zu beurteilen ist das allein nach dem neuen, veränderten Vorhaben des Täters. Wenn und solange er die nunmehr konkret gewollte Deliktsbegehung noch nicht i. S. des „unmittelbaren Ansetzens" begonnen hat, sondern sie nur plant oder vorbereitet, ist er straffrei. Das gilt auch, wenn die geplante Tat im Fall ihrer Ausführung mit dem abgebrochenen Versuch eine Handlungseinheit bilden würde. 2. Fehlschlag des Versuchs oder unfreiwilliger Rücktritt lassen die Strafbarkeit des Versuchstäters unberührt. Ihre Aufhebung durch einen späteren freiwilligen Rücktritt ist aber nicht schlechthin ausgeschlossen. War der erste Versuch noch unbeendet, bildet er mit dem zweiten eine Handlungseinheit und entspricht der nun freiwillig geleistete Verzicht im Umfang dem ursprünglichen Erstrebten, dann wirkt der Rücktritt hinsichtlich der gesamten Versuchstat strafbefreiend.

On Punishing and Individual Rights JAIME MALAMUD GOTI"'

1. For those of us who knew Professor Hilde Kaufmann, her unquestionable scholarly values were only overshadowed by a humanitarian and generous sense of friendship. The following lines pursue to shed some light on questions that I have dwelled on for some time; they are but a pretext to contribute to the memory of Professor Kaufmann.

2. There are several ways of characterizing a punitive measure. However, a definition of a sanction that takes into account its goals and the ways these goals are pursued, would not draw much criticism from scholars. It may be asserted from this point of view that punishment - in the broadest of all senses - consists in deterring potential agents of undertaking a certain conduct and that deterrence is based on depriving the "responsible" person of a "good" 1 . In my view the term "good" is ambiguous and, in consequence, both theorists and judges are being usually lead into a confusion. This confusion surfaces when administrative sanctions are applied, especially if the agent and the person "responsible" are frequently not identical. It is well known that even among those legal systems that are most concerned with individual rights it is a common practice to impose punitive measures on objective basis. Objectivity implies here not only the lack of intent or negligence but, further, that the punished party has not even - objectively - infringed a legal norm. Everyday examples of these sanctions are found among car owners fined for illegal parking or proprietors of warehouses where dangerous or contaminating substances are found. Criminal law theorists are quite familiar with positions that rely either on the quality of the illegal action or the importance of the sanction exacted upon somebody in order to distinguish between administrative * I am thankful to Professor Carlos Nino for discussing this paper with praiseworthy patience; I also profited from Carlos Rosenkrantz who has usefully contributed to this work. 1 This criterion has been chosen by the Argentinian Supreme Court to define a punitive sanction (see "Fallos", vol.184 p. 162; vol.185, p. 188; vol.200, p . 4 9 5 ; vol.202, p . 2 9 3 ; vol.205, p. 173, etc.).

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faults and criminal offenses. This has not much to do with the subject with which I deal here. What I intend to demonstrate is that although the agent must have done something in particular - and with a certain state of mind - to justify the deprivation of certain "goods", other "goods" do not require that such circumstances are present. Some sanctions might consist in restraints that do not demand the same justification. The distinction between both types of sanctions depends on two topics: first, if there is an - irrestricted - right to property or to freedom. Second, if by rights we refer to entities that have always the same weight in a political scheme. 1 propose to clarify three questions that seem decisive to me: (a) If there is a right to freedom; (b) If it is possible to draw a clear distinction between moral and legal rights; (c) If some constitutional clauses that protect property and basic liberties as the ones concerning cults, expression and association, have some special status in a legal system. 3. Conservatives tend to think, in the first place, that property rights possess the quality of providing a platform on which individual freedom is possible. They also claim that there is a right to freedom, in general. As a corolary, property rights should be almost unlimited; any act that imposes restraints upon said rights requires of a strong justifying reason2. Dworkin has given excellent grounds for maintaining that there is no such an unrestricted right to freedom3. His argument is, in essence, the following: citizens, who prize their rights highly will surely challenge any attempt to suppress their freedom to express themselves or to worship a god. None of these citizens would be ready to impugn rules imposed by city authorities to restrict automobile access to some areas confined only to pedestrians, or regulations placing time limits on banking activity. The reason to repel the first class of prohibitions and not the second does not depend - as many have thought - on the amount of liberty involved. It is visible that people must refrain more often from things they want to do because of traffic regulations than for legal restraints on the things they wish to say in public, or publish their political points of view. If we were to determine what kind of rules impose more stringent limits upon our actions it will be obvious that liberty is far more restrained by rules that hardly anyone would think of challenging. To begin with, very few people will find in their interest to do something that is prohibited by the first class of norms as those related to publishing rebelious ideas or practice a religion considered by the state as 2 The best known thesis in this sense is that of Nozick's (Anarchy, State & Utopia, Oxford, 1974). 3 Taking Rights Seriously, Harvard University Press, 1977.

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opposing a general feeling. Those who have an interest in either spreading out their antigovernmental views or worship their god, will find that the law very seldom restraints these practices in a minimally civilized country. The opposite happens to drivers who find that they are permanently obliged to perform certain conducts and refrain from other practices by traffic regulations that pervade daily life. Dworkin's explanation of why certain legal prohibitions seem to us tolerable and others do not, is the following: he claims that the distinctive characteristic lies in a certain conception of individual autonomy. For a political morality concerned with individual rights, persons deserve respect and consideration on the side of public officials. It is, then, essential that the government abstains from interfering with those liberties that give sense to each one's life as a whole: To speak in public, worship a god, elect a job. Prohibiting any such activity would mean a denial of the aforementioned commitment to autonomy. In other words, a political or ethical conception that places individual rights as having a fundamental place in a political arrangement should prescribe that all individuals be worthy of respect and consideration. This does not imply that officials that create or enforce legal rules should give up thinking that there are correct and incorrect plans of life, the fact is that the impartial attitude on their part is the correct attitude4. For the reasons shown it can be asserted that there is no such right to freedom as Mill claimed5, but rights concerning certain liberties connected with autonomy. The latter relate narrowly to the recognition by the government of each individual's plans of life. 4. Individual rights are characterized in many ways that depend on the context in which they are mentioned. It is here worth-while distinguishing between legal rights and moral rights (or rights derived from reason)6. While the former depend o each country's normative system, the latter are originated in relationships among individuals and are indépendant of positive law. The existence of moral rights remains intact even if the country's laws negate them; it can be asserted, for instance, that one should not be treated rudely although no positive rule forbids such treatment. In fact, it is legitimate to impugn positive rules that restrain moral rights such as the right to associate or to practice a cult. 4 Scheffler, Natural Rights, Equality and the Minimal State, in Reading Nozick, Essays on Anarchy, State & Utopia, edited by Jeffrey Paul, Basil Blackwell, Oxford, 1981, p. 148. 5 Mill, On Liberty, in Utilitarianism, etc., edited by Mary Warnock, Massachussets, 1974, p. 126. 6 For an example see Scanlon, Nozick on Rights, Liberty and Property, in Philosophy and Public Affairs 6, p. 3.

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For those who reject the existence of objective moral rules, valid to judge any positive system, the distinction I made is fictitious. Ethical relativists for example, will claim that there is no more to morality than the generalized beliefs of members of a community and that no system of rules escapes this narrow relationship with a particular society 7 .1 cannot here tackle this complicated subject; it may be suggested, however, that we are often critical towards the law imposed by Khomeini for considering it abhorrent. This type of attitude is a consequence of an assumption that there are normative standards by which any conduct or social arrangement could be validly assessed, including positive legal systems. Moral rights are, thus, intimately related to the subject of a right to freedom dealt with in the previous para-graph. There is a moral right to certain liberties that constitute a cluster of interests whose satisfaction provide sense to our existence according to each one's conception of the meaning of life. 5. It is worthy of consideration, within the constraints of this brief essay, the status of constitutional individual rights and liberties. I shall start by pointing out that it does not seem reasonable to suppose that members of any religious congregation are entitled to invoke their freedom of cult against a legal prohibition of performing loud musical sessions in residential quarters after midnight. The validity of this retraint could hold against such claims, not only because of the possibility that third parties' rights could be affected if the music went on until late, but also because it makes sense to assert that such regulation does not stand in the way of anybody's willingness to worship a god. One can easily distinguish the time limiting rule from others that prescribe that certain cults be practiced in a way such that would alter the very sense that worshipers attach to that practice. There is a critical difference, in my view, between being entitled to do something by a rule that places limits upon a prohibitive norm (such as assaulting someone during a rugby match) and challenging a legal rule because it places restraints upon constitutional rights as would be the case of somebody being discriminated because of his race or religion. The first case shows the way in which different rules place limits to one another. When worshipers of a cult invoke a right the Constitution grants them, they are in fact challenging certain norms for reasons based on principle. What provides grounds for such claim is that due respect and consideration are deemed violated by the statute. 7 Against this position see Bustos Ramires, in Doctrins Penal, Buenos Aires, 1984, p. 405, in "Bases Críticas de un N u e v o Derecho Penal" Respuesta a algunos "equívocos" of Jaime Malamud Goti; see also Buchanan, The Marxian Critique of Justice an Rights, Canadian Journal of Philosophy, Supplementary Volume VII, 1981, p. 269.

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The point is that such constitutional clauses as those that protect religious and political freedom should be understood as the acknowledgement of moral rights8. When a rugby player invokes specific regulations to legitimize the violence he applies upon another person, he appeals to the rules of the same positive system that prohibits assaults. When a Jehova witness impugns draft regulations on the basis that he has a right to remain loyal to his creed as the Constitution entitles him to, the case is different. The latter example aims to show that constitutional clauses like the ones concerning freedom of cult should be taken to be - an construed as primarily moral rights. 6. Not very long ago American president Ford opposed gun control legislation favored by less conservative politicians'. The main reason to take such stand, as the president declared, derived from the belief that if controlling meassures were enforced, the government would be "punishing" innocent citizens as a consequence of offenses committed by others. The arguments developed above aim to show a confusion that leads conservatives to equate criminal punishment with regulation. This confusion consists in failing to distinguish between "goods" that are moral rights and "goods" that are not. As a consequence, any deprivation of a "good" performed for a legal violation is considered a criminal sanction. The kind of justification we require for stripping someone of a "good" depends on whether such "good" involves a moral right. If it does, the appeal to a social benefit does not suffice as a reason; if it does not, then reasons stemming from social utility will serve the purpose. Although it is clear that punishment should be useful in deterring certain conducts, such usefulness proves unsatisfactory to give due account of the allocation of the sanction. In fact, there could be good reasons for punishing an innocent party for deterring a certain behaviour under given circumstances. It becomes evident, however, that the question of adjudication requires justifying reasons other than the sole social usefulness of the legal measure10. Moral rights place stringent limits upon grounds for justification. While it is accepted that every rational political decision should be based on its social utility, the existence of moral rights renders that reason ' See, Is there a Right to Disobey the Law on Moral Grounds?, Jaime Malamud Goti, in Rechtstheorie (in press). ' Dworkin, Liberalism, in Public and Private Morality, edited by Stuart Hampshire, 1980, p. 113. 10 Hart, Punishment and Responsibility, Oxford 1968; Nino, A Consensual Theory of Punishment, in Philosophy & Public Affairs, Fall 1983, Volume 12, Number 4.

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insufficient. Social utility will not be enough to override a conflicting interest protected by a moral right11. A political doctrine concerned with individual rights must consider that the existence of such rights imply "entrenching" some individual interests from policies based on collective benefits. The preceeding assertion can only make sense if it is restricted to moral rights. If it were referred to legal rights a vicious circularity seems inevitable: we would be testing the justifiability of political arrangements and social institutions choosing to the wrong path. The procedure will consist in appealing to rules that flow from that very same positive system insofar as rules bestow liberties and immunities upon individuals. The fact that legal rights spring from constitutional clauses does not alter this scheme because we will not be able to escape an obvious alternative. Either such clauses acknowledge moral rights or they constitute only highly ranked legal rights. In the former case their being moral rights will be the decisive feature; in the latter case we would be seeking for justification grounds to legitimize the positive system from within the same system. Reasons grounded solely on collective utility cannot suffice to impose punitive sanctions that affect (moral) rights; a stronger justification reason is needed in these cases. This reason consists in that the right suppressed by the prescribed sanction be relinguished by its holder (we conceive this as culpability or assumption of the sanction, as it has been recently expounded12). The aforementioned requirement does not apply when sanctions involve nothing more than the deprivation of a mere interest. The difference between a simple interest and an interest shielded by a right could be explained this way: While one may conceive the first one as based on improving certain standards of life - such as comfort or passing wants - rights are connected to important parts of plans of life13. The first kind may be overriden by more important interests, even if they originate in different individuals. We do not attach these interests so narrowly to a person that we would find it unfair to cancel them for the sake of other persons. Reasons of general welfare or collective interests will tip the balance against the preservation of such an interest. A ban imposed on selling beef on mondays on economic grounds seems plausible although it might frustrate individual's passing wants to purchase that commodity. There does not seem to be a sensible reason to 11 Nino, Los límites de la responsabilidad penal, Astrea, Buenos Aires, 1980, p. 218 y ss. 1! Nino, see footnotes 10 and 11 above. 13 Feinberg, Harm to Others, Oxford University Press, 1984.

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morally impugn the governmental decision to shift its financial aid from one sector to another if it is done on welfare basis. It may be argued against the expounded stand that sometimes we would be dealing with vested rights, and that punishment should require more to affect these rights. This could be true even if vested legal rights that sanctions restrain are not moral ones. If the bearer of a vested right has been duly warned that he might jeopardize it if a certain result is not averted, there seem to be enough reasons to cancel this right should the transgression be commited 14 . 7. If the "good" upon which the sanction is applied is a legal property right its justifiability will vary with our political stand. If a conservative point of view is endorsed, then any restraint upon property is also one that affects (moral) rights, as Nozick has claimed15. O n such basis, Nozick has gone as far as to maintain that the government should confine its activity to protect the life and limb of individuals and enable parties to a contract to enforce it. Any other function vested upon the state would transgress the Kantian principle of inviolability of persons, that proscribes to utilize an individual in the furtherance of anybody else's interest. Although there is much more to Nozick's Anarchy than I intend to deal with here, it is interesting to notice how some important distinctions are overlooked. The following hypotheses might show the point: (a) There is a critical difference between stripping somebody of those things that constitute a part of his or her goals in life - or of means for the furtherance of such goals - or things contingent to such aims - or their promotion. In fact the law often provides control over resources that are neither enjoyed nor utilized by their owner. (b) It is essential to distinguish between that ownership that is imaginable in a state of nature and the ownership that consists in entitlements that spring from formal legal extension of the former kind (once again, it is necessary to see the difference between moral and legal rights). It is necessary to delineate the boundry between the right we have over commodities that constitute a relevant part of our lives and other things on which the state might bestow a right on the grounds of an institution such as inheritance. In this last case one could only conceive an additional welfare to the beneficiary that would not originate claims against the government if it chose to disregard such arrangement. 14 It could be also argued that rights are vested under several conditions. The concression. Ex post fact rules should always be ruled out. 15 See Footnote 2, above.

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For a political conception based on individual rights there is no such unrestricted property right as there is not either an unlimited right to freedom". It must be therefore pointed out that in some political schemes more control over things is granted than moral rights would demand. As only a view based on the general interest can give an account for the extension of legal institutions, it follows that overriding collective interests may lead to the cancellation of such legal rights without the consent of the party involved. It is therefore conceivable that regulatory sanctions restrain people's property (or even liberty) without basing liability on consent. The utility of such measures is a necessary condition of their rationality which leads to the requisite of the evitability of the corresponding conduct17. The state could impose fines on corporations for the purpose of cutting down on the earnings of the shareholders. This could prove to be a good means to encourage either a change of the firm's policy, or choosing other directors when the opportunity arrives. On the same grounds car owners are usually fined for traffic offenses commited by other users to whom the automobile was entrusted. This could promote a better judgement from the owner the next time someone wants to borrow the car. It is claimed that both shareholders and car owners were not even negligent. However, if sanctions are effective to some extent, the reasons based on collective interest will suffice to justify them. Administrative or regulatory sanctions may be imposed on the grounds shown only where the interests involved are not those one would relate to each one's plans of life or to the amount of respect and concern persons must be treated with. These considerations will prevent the state from appealing to collective benefits for imposing meaningful restraints upon individual freedom or property. A stigmatizing sanction should also be ruled out on the same principles. 8. I think the questions posed at the beginning of this article have been answered. The conclusion derives from the distinction between rights and liberties that spring from positive law (based on collective welfare) and those others that originate in the autonomy of persons. When legal rights consist solely in the protection of general welfare interests, reasons based on the same social welfare will suffice to cancel such rights. A conservative political conception that assigns property the

" See above, note 6. 17 Malamud-Goti, Review of the United Nations Latin American Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, Ilanud, 1985, Numbers 15 and 16, p. 98.

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rank of an unrestricted moral right must reject this solution. Such doctrine will find it hazardous to maintain that a meaningful life is the basis of (moral) rights. How could it consistently be claimed - as Nozick does - that rights are means to guarantee a significant life and that, as a consequence of the sanctity of private property, people have only a right to some distributable commodities among all those that are necessary to lead a meaningful life? My answer to this question is the following: only a system of rights that protect not only liberty but also the welfare of citizens, can the government secure a reasonably well off life to a reasonable number of the people.

Bemerkungen zum strafrechtlichen Staatsschutz aus der Sicht der Identitätstheorie JOACHIM HELLMER

I. Wenn man die Entwicklung des Strafrechts in den letzten 80 Jahren sieht, kann man nur staunen, in welcher Weise sich hier der Staat als eigenes Schutzobjekt breitgemacht und gegen alle möglichen und unmöglichen Risiken abgesichert, ja in welcher Weise er das ursprünglich auf unmoralische oder schwer sozialschädliche Verhaltensweisen beschränkte Strafrecht mißbraucht hat, seine - meist recht kurzlebigen politischen Ziele zum Gegenstand von Gerechtigkeits- und Sicherheitserfordernissen zu machen, und zwar über die Jahrzehnte hinweg in erstaunlicher Kontinuität und wachsender Intoleranz gegen alle seine Absichten und Aktivitäten nur im entferntesten störenden Verhaltensweisen 1 . Auch der demokratische Rechtsstaat macht hier keine Ausnahme. Die „pluralistische" Gesellschaft hat diese Entwicklung nicht etwa unterbrochen. Dafür legt die Nachkriegsgeschichte ein beredtes Zeugnis ab. Nach einem kurzen Zwischenspiel der Bescheidung mit einem einzigen Paragraphen (Art. 143 a. F. G G ) ist der Staatsschutz seit dem ersten Strafrechtsänderungsgesetz (StAG) von 1951 immer weiter ausgebaut worden, und zwar weit über das hinaus, was es je vorher in Deutschland gegeben hat. Diese Entwicklung ist unter dem heutigen Aspekt besonders verwunderlich, weil das sogenannte klassische Strafrecht mehr und mehr entkriminalisiert wurde. Aus zwei Tatbeständen, mit denen sich das Kaiserreich geschützt hat - Hochverrat und Landes-

1 Unter Staatsschutz wird hier in erster Linie der Schutz von Bestand und Sicherheit des Staates verstanden, wie es auch in der Uberschrift zum ersten Abschnitt des Besonderen Teils des S t G B zum Ausdruck kommt. Eine scharfe Trennung zum Schutz der Verfassung hin ist nicht möglich, weil der Staat sich meist auch dort schützt, wo er die Verfassung zu schützen vorgibt (zum Beispiel schon in § 80 StGB), wie er denn überhaupt den Begriff „Verfassungsschutz" gern dort anwendet, wo es um reinen Staatsschutz geht, zum Beispiel bei den „Verfassungsschutzämtern", die nicht etwa die Aufgabe haben, über die Einhaltung der Grundrechte durch den Staat zu wachen, sondern im Gegenteil reines Instrument zur Überwachung der Bürger sind.

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verrat2 - sind inzwischen über 60 Tatbestände geworden, die fast ein Drittel des besonderen Teils des Strafgesetzbuches ausmachen und im Umfang des Verbotenen das ursprüngliche, klassische Strafrecht, das den einzelnen Bürger schützen soll, überholt haben. Dazu trägt nicht nur die Anzahl der Bestimmungen bei, sondern auch ihre mehr oder weniger schwammige und leicht ausdehnbare Fassung, die für den Bürger nicht mehr einwandfrei erkennen läßt, wann er die Grenze des Erlaubten überschreitet. Noch bedenklicher als diese Entwicklung scheint mir die Tatsache zu sein, daß die Strafrechtswissenschaft gegen diese gefährlichen Tendenzen nicht Sturm gelaufen ist, sondern daß man sie einfach hingenommen und sich mehr oder weniger darauf beschränkt hat, die Bestimmungen zu kommentieren, als handele es sich bei der ständigen Erweiterung des Gesetzes um einen ganz normalen Vorgang, dessen rechtsethische Beurteilung außerhalb der Kompetenz der Strafrechtswissenschaft liegt3. Man hat die bedenkliche Entwicklung sogar damit zu rechtfertigen versucht, daß eine Demokratie verletzlicher sei als ein autoritärer Staat und daß sie daher auf mehr Schutz angewiesen sei als dieser4. Dies allerdings ist wenig logisch. Die Diktatur rechtfertigt erhöhten strafrechtlichen Staatsschutz mit der notwendigen Wachsamkeit gegenüber Andersdenkenden, und die Demokratie, die sich rühmt, auch Andersdenkenden Raum zu geben, braucht erhöhten Staatsschutz, um durch sie nicht gefährdet zu werden? Das gibt keinen Sinn. Eines steht doch fest: je umfangreicher der strafrechtliche Staatsschutz, um so geringer die Bewegungsfähigkeit des Bürgers. An dieser Tatsache führt keine Überlegung vorbei. Wenn der Staat die Freiheit des Bürgers sich selbst (dem Staat) gegenüber nicht glaubte, in diesem Maße einschränken zu müssen, wären doch alle Verbote, durch die er sich schützen will, überflüssig. Also dokumentiert er mit diesem Ubermaß an Verboten seine Furcht vor (berechtigter oder unberechtigter) Kritik und sein Mißtrauen gegenüber dem Bürger. Man kann sogar einen

2 Zur historischen Entwicklung in den letzten 100 Jahren Eduard Kern, Der Strafschutz des Staates und seine Problematik, Tübingen 1963; Zur Entwicklung insbesondere seit 1945 u. a. F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970; ders., Das Strafrecht zum Schutz von Verfassung und Staat, in „Verfassungsschutz und Rechtsstaat", hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Köln usw. 1981, S. 219 ff. 5 Kritisch allerdings z. B. Copic, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, 1967 und Grünwald, Meinungsfreiheit und Strafrecht, kritische Justiz 1979, S. 291 ff. Grundsätzliche Kritik wird vor allem von politischer Seite geübt, nicht von strafrechtlicher, s. z. B. S. Cobler, Die Gefahr geht von den Menschen aus (der vorverlegte Staatsschutz), Berlin (Rotbuch-Verlag) 1976. 4 Th. Basten, Von der Reform des politischen Strafrechts bis zu den Antiterrorgesetzen, Köln 1983, S. 33 ff.

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Circulus vitiosus feststellen: je größer das Mißtrauen, um so mehr Gesetze; und je mehr Gesetze, um so mehr wächst das Mißtrauen weiter an. Das gilt für jede Form von Staat, für die Diktatur ebenso wie für die Demokratie; und es gilt auch, daß er, je höher er sich selbst einschätzt, um so eher geneigt ist, jede gegen sich gerichtete Tätigkeit als kriminelles Unrecht zu betrachten und mit um so empfindlicheren Mitteln zu reagieren. Insofern ist der Umfang des strafrechtlichen Staatsschutzes wahrscheinlich auch ein Indiz für das in einem Staat herrschende Klima der Meinungsfreiheit5. Daß unsere Politiker den heutigen Umfang unseres strafrechtlichen Staatsschutzes für unbedenklich halten, ist nicht verwunderlich; denn sie haben diesen Staatsschutz ja so geschaffen, wie er ist, die Sozialliberalen ebenso wie die Christdemokraten. Schließlich hält jeder Politiker sein Werk für das beste und ist daran interessiert, die Macht in Händen zu behalten, weil er unterstellt, daß sie bei ihm am besten aufgehoben ist. Daß aber die Strafrechtswissenschaftler nicht warnend darauf hingewiesen haben, daß das Strafrecht keine Metze ist, die der Politik zu dienen hat, erscheint mir unverständlich, vor allem in Anbetracht der Übermacht des Staates, an der wir in den letzten hundert Jahren gelitten haben und die für die krasse Unterdrückung der Bürgerrechte in unserem Land und schließlich die kriegerischen Auseinandersetzungen, in die wir mehrmals verwickelt waren, gesorgt hat. Hilde Kaufmann, der wir mit dieser Schrift gedenken, hat einmal - wie ich meine, nicht zu Unrecht - gerügt, daß manche Kriminologen ihre Wissenschaft zum Zwecke der Gesellschaftskritik betreiben6. Genauso muß man aber auch feststellen, daß politische Parteien, die den Staat tragen, das Strafrecht benutzen, um ihre Macht gegenüber dem Bürger (auf undemokratische Weise) zu festigen und abzusichern. Politisierung des Strafrechts - nicht diejenigen tun das, die sich gegen eine solche Verfestigung der Staatsmacht im Strafrecht wenden, sondern die, die das Strafrecht mißbrauchen, ihre politische Auffassung vom Staat durchzusetzen. 5 Ein Vergleich des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik mit dem in anderen westlichen Staaten ist kaum möglich, weil der historische Hintergrund, vor dem jede gesetzliche Regelung zu sehen ist, von Land zu Land verschieden ist. Diese Abhandlung hätte ich nicht geschrieben, wenn sich nicht gerade unser Staat mehrmals zu einer den Bürger erdrückenden und alles Leben bedrohenden Macht aufgeschwungen hätte. Im übrigen ist aber festzustellen, daß sich der Staat auch in westlichen Demokratien mit einem viel zu starken strafrechtlichen Schutz versehen hat, z.B. in Italien und in Frankreich (anders in England), vgl. Jescheck/Mattes (Hrsg.), Die strafrechtlichen Staatsschutzbestimmungen des Auslandes, 2. Aufl., Bonn 1968, S. 105 ff, 161 ff, 405 ff. In diesen Ländern stellen aber die althergebrachten Bürgertraditionen ein genügendes Gegengewicht dar, und es ist in ihnen bisher zu keinen solchen Exzessen des Staates gegen den Einzelnen gekommen wie bei uns.

6

Hilde Kaufmann,

JZ 1972, S. 78 ff.

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II. In politischen Kreisen herrscht offenbar weitgehend Unkenntnis darüber, was eigentlich Strafrecht ist, insbesondere was man mit ihm „anfangen" kann und was nicht. Hierzu einige Bemerkungen, wofür wir zur Verdeutlichung die Identitätstheorie heranziehen, die wir in langjähriger Forschungsarbeit entwickelt haben. Die Identitätstheorie besagt: Jeder Mensch ist hinsichtlich seiner Rechtsposition in der Gesellschaft mit jedem anderen Menschen identisch 7 . Die Verletzung eines anderen ist also eine Identitätsverletzung, verursacht durch einen Mangel an Identitätsbewußtsein, der im allgemeinen mit abnehmendem zwischenmenschlichen Vertrautheitsgrad wächst, weshalb in kleinen Gemeinschaften die Kriminalität im Prinzip gering, in großen und größer werdenden Gesellschaften dagegen umfangreich ist und wachsende Tendenz hat8. Diese Erkenntnis legt auch dem Strafrecht und seinem Gebrauch gewisse inhaltliche Verpflichtungen auf. Wenn das Strafrecht nämlich Mittel zur Bekämpfung der Kriminalität sein will - und das ist unbestritten der Fall - muß es auch zur Bewußtmachung der Identität beitragen, darf jedenfalls nicht dem bereits weit verbreiteten Mangel an Identitätsbewußtsein weiter Vorschub leisten. Unter diesem Aspekt sind besonders bedenkenswert: Die ständige Änderung der Gesetze, Die besondere Situation des Staatsschutzes und seine Vorverlegung in strafrechtsfreie Gebiete, Die freie Verantwortung und Kommunikationsfähigkeit des Bürgers. 1. Was sich die Politiker bei der ständigen Änderung der Gesetze, hier vor allem der Strafgesetze, denken, ist unerfindlich'. Wahrscheinlich gehen sie von der Annahme aus, daß nicht mehr oder nur noch seltener 7 Näher Hellmer, Identitätstheorie und Gemeindekriminalität, Arch. Krim. 161 (1978), S. 1 ff; den., Verdirbt die Gesellschaft?, Kriminalität als zwischenmenschliches Verhalten, Zürich (Edition Interfrom) 1981. 8 Aus dem gleichen Grunde haben z. B. Städte eine größere Kriminalität als das Land, Hafen-, Durchgangs- und Industriegebiete mit stark fluktuierender Bevölkerung eine größere als Gebiete mit alteingesessener Bevölkerung und Norddeutschland im allgemeinen eine größere als Süddeutschland ( H e l l m e r , Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins, Bundeskriminalamt 1972). Das gleiche ist übrigens hinsichtlich der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung der Fall, näher Hellmer, Kriminalität und Anzeigeverhalten aus der Sicht der Identitätstheorie, Der Kriminalist 1981, S. 492 ff. ' Innerhalb von 6 Jahren (1975-1981) ist das StGB zwölfmal geändert worden, davon allein durch acht Strafrechtsänderungsgesetze (13.-20. StAG), nachdem gerade kurz vorher eine grundsätzlich neue Basis gefunden worden war (durch das 8. StAG vom 25.6.1968 und das EGGStGB vom 2.3.1974). Baumann, Festschrift für Wassermann, S. 247 ff (252) spricht von der unseligen Praxis von ad-hoc-Gesetzen, die mit dem sogen. Freiheitsschutzgesetz von 1951 begonnen worden sei.

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getan wird, was sie verbieten. Diese Annahme hat aber gewisse Voraussetzungen, die mindestens seit Anselm v. Feuerbach fester Bestandteil jeder Kriminalpolitik sind, nämlich daß das Gesetz für jedermann klar und verständlich ist, daß es feste Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem zieht und daß es allgemein bekannt ist. Daran fehlt es heute ganz und gar, vor allem durch die ständigen Gesetzesänderungen. Sind schon die meisten Tatbestände des politischen Strafrechts, zum Beispiel ein so wichtiger Tatbestand wie Landfriedensbruch (§125 StGB) so verklausuliert abgefaßt, daß sie kaum einem Juristen ständig gegenwärtig sind, vor allem nicht im entscheidenden Augenblick der Handlung, geschweige denn einem juristischen Laien (wie anders zum Beispiel bei Diebstahl oder Sachbeschädigung!), so wird die rechtliche Situation noch undurchsichtiger, wenn einzelne Tatbestandsmerkmale neu hinzukommen oder bisher geltende Tatbestandsmerkmale ablösen oder wenn die gleichen Tatbestandsmerkmale abwechselnd gelockert und wieder verschärft werden, wobei sich die Diskussionen allein auf den Ebenen der Parteijuristen abspielen und es zum Schluß nicht mehr deutlich genug ist, ob nun eine Änderung erfolgt ist und wenn ja, welche. In welcher Weise gerade im strafrechtlichen Staatsschutz die Paragraphen dauernd hin- und hergeschoben, neu eingeführt, wieder gestrichen, geändert, erweitert und wieder eingeschränkt worden sind, ist geradezu unbeschreiblich10. Es gibt einige neue Literatur über Gesetzgebungslehre, die Frage der ständigen Änderung von Gesetzen und ihrer Voraussetzungen ist aber stark vernachlässigt". Meines Erachtens muß man zwei Arten von Gesetzesänderungen unterscheiden: eine wird durch grundlegende Wandlung der tatsächlichen Verhältnisse erforderlich, die andere ist einfach durch Änderung der herrschenden politischen Richtung bedingt. Um Letztere handelt es sich in den meisten Fällen, auch zum Beispiel bei § 125 StGB. Hinzu kommt noch die Änderung oder Erweiterung der Rechtsprechung aufgrund ein und desselben Tatbestandes. Hier handelt es sich m. E. nicht nur um ein Ubersehen der notwendigen Voraussetzungen wirksamer Abschreckung, sondern auch um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wenn bisher straffreie Verhaltensweisen plötzlich als kriminelles Unrecht angesehen werden, wie zum Beispiel bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Gewalt" in §240 StGB 12 . Vgl. F.-C. Schroeder, a . a . O . , S.220ff. Bei H.Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, Heidelberg, 1982 (UTB 1204) habe ich allerdings auf S. 19 den Vermerk gefunden, daß Rechtsnormen dauerhaft sein sollen, damit sich der Bürger auf sie verlassen kann. 12 Vgl. Zipf, Kriminalpolitik, 2.Aufl. Heidelberg/Karlsruhe 1980, §5, 2.12 (S.llOf). Zur Diskussion über das Verbot der Rückwirkung vgl. auch Nancke, Die Mißachtung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots 1933-1945, in: N.Horn (Hrsg.), Europäisches 10 11

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Der „Änderungswirbel", vor allem im politischen Strafrecht, widerspricht nicht nur in eklatanter Weise rechtsstaatlichen Grundsätzen, nach denen der Bürger die Normen des Rechts, insbesondere die des Strafrechts kennen muß, damit er sein Verhalten nach ihnen richten kann (ein Strafrecht, das ihn hierüber im Unklaren läßt, wirkt lediglich als Falle und kommt staatlichem Terror gleich), sondern er verhindert auch die Bildung von Identitätsbewußtsein, da ja die Rechtsposition, hinsichtlich derer alle Bürger identisch miteinander sind, nicht genügend bestimmt ist, ja schlechthin unbestimmbar wird. Damit steht er auch jedem kriminalpolitischen Bemühen, die Kriminalität zu verringern, entgegen. Wer nicht weiß, was verboten ist, tappt hinsichtlich der Rechtsposition der eigenen Person und damit auch des andern im Dunkeln. Das betrifft nicht nur die aktuelle Situation, sondern die gesamte Bedeutung des Strafrechts. Gerade dieses Rechtsgebiet, das über so einschneidende Möglichkeiten der Persönlichkeitseinschränkung verfügt, muß ganz eindeutige Bestimmungen enthalten". Denn nicht zuletzt wegen dieser weitreichenden Möglichkeiten der Persönlichkeitseinschränkung trägt es ja den Charakter eines ethischen Dekalogs, dem der Bürger entnehmen können soll, wo die unübersteigbaren Grenzen seines Freiheitsraumes sind. Ein oft und schnell geändertes Gesetz verliert diesen Charakter automatisch und gibt zu erkennen, wie flach es ethisch verwurzelt ist. 2. Damit sind wir beim inhaltlichen Aspekt. Der Staatsschutz hat es nämlich besonders schwer, in der Bevölkerung durchzudringen, weil es sich bei dem „Anderen", um dessen Verletzung es geht, nicht um eine physische Person handelt, die man erkennen kann, sondern um ein abstraktes, juristisches Gebilde, das nicht faßbar ist. Identitätsbewußtsein bildet sich in der Regel durch Identifizierung mit jemandem oder etwas. Sich mit jemandem zu identifizieren, der als Person nicht erkennbar ist, stößt schlechthin auf Schwierigkeiten. Hier gibt es allenfalls den Umweg über die Person, die für den Staat da ist, die ihm dient. Im Zeitalter der Bürokratie und der unübersichtlichen, anonymen Vermögensmassen bestehen aber auch hier Hindernisse. Eine Identifizierung des Bürgers mit dem Staat ist natürlich auch heute möglich, aber nur auf der Grundlage der Erkenntnis, daß der Staat für den Bürger da ist, nicht der Bürger für den Staat. Der Bürger ist der eigentliche Souverän, nicht der Staat. Der Staat kann sich ja heute nicht mehr darauf berufen, daß er die höchste Verkörperung des Sittlichen sei, Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Coing, Band I, 1982, S. 225 ff und Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, passim. 13 Vgl. Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht (Recht und Staat 417), Tübingen 1973.

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wie bei Hegel14 und manchen, die sich heute noch auf ihn berufen15, sondern er hat diese Auffassung durch sein eigenes Verhalten längst widerlegt und muß sich heute in jedem Akt neu beweisen, er muß mit jedem seiner Akte nachweisen, daß er notwendig ist, und notwendig ist er eben nur, soweit er den einzelnen Bürger schützt. Wir wollen und können hier keine staatsrechtliche Diskussion führen, nur muß auf die Voranstellung der Grundrechte in unserer Verfassung und auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 G G hingewiesen werden, aus denen diese Konzeption klar hervorgeht 16 . Insofern drängt die Identitätstheorie zu einer Durchsetzung des demokratischen Gedankens auch im Strafrecht: Die Politiker müssen sich heute bei jedem neuen Gesetz, das sie machen, überlegen, ob dieses unbedingt notwendig ist, den Bürger zu schützen, sie müssen sich an die Souveränität des Bürgers halten, und sie müssen deshalb, weil sich das Gesetz zugleich an die Bürger richtet, dieses auch so abfassen, daß es den Bürgern jederzeit gegenwärtig sein kann. Dem widerspricht der heutige strafrechtliche Staatsschutz nicht nur durch seinen Umfang und seine Position an erster Stelle im Besonderen Teil des StGB (er belegt dort gleich die ersten sieben Abschnitte), sondern auch durch die Verletzung allgemeiner dogmatischer Grundsätze, zum Beispiel des Grundsatzes, daß eine Tat - wenn schon nicht vollendet, so doch mindestens - versucht sein muß, um strafrechtliche Folgen zu zeitigen. Dieser Grundsatz gilt ja auch hinsichtlich des Schutzes des Individuums. Der strafrechtliche Staatsschutz ist aber voll von Strafdrohungen schon für Versuche des Versuchs (§§ 80 a, 83, 89-90 b, 98, 99) und sogar schon für Vorbereitungen auf den Versuch des Versuchs (§§ 84-86 a, 87 Nr. 1-6, 88, 100, 129, 129 a)17. Eine solche Vorverlegung des Staatsschutzes in an sich strafrechtsfreies Gebiet bedeutet einen eindeutigen Bruch mit strafrechtlichen und rechtsstaatlichen Traditionen und darüber hinaus eine Bevorzugung des strafrechtlichen Staatsschutzes gegenüber dem strafrechtlichen Individualschutz, die das Bemühen um Identifizierung des Bürgers mit der Rechtsposition

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§257 ff. Z. B. F.-C. Schroeder, der sich gegen eine Abwertung des strafrechtlichen Staatsschutzes als „politisches Strafrecht" wendet und sich dabei auf ]. F. H. Ahegg und dessen Auffassung beruft, daß der Staat „wesentlich eine sittliche Natur und Existenz" habe (a.a.O., S.219). 16 Ebenso Zipf, a.a.O., S.35. Bei Heller, Staatslehre, 6.Aufl. 1983, kommt die Stellung des Bürgers gegenüber der Staatsmacht, historisch bezeichnend, noch sehr undeutlich zum Ausdruck (das Buch wurde 1932 verfaßt); ganz anders jetzt Stein, Staatsrecht, 9. Aufl. Tübingen 1984, S. 213 ff (214). Vgl. auch Callies, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1974. 17 Th. Basten, a.a.O., S.81. 14 15

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des Staates noch weiter erschwert18. Der Gesetzgeber der letzten Jahrzehnte läßt mit solchen Übertreibungen die Erfordernisse der Bildung von Identitätsbewußtsein, die gerade heute in der Massengesellschaft strengstens beachtet werden sollten, nicht nur außer acht, sondern er stellt sich sogar schroff gegen sie, d.h. er erweist sich als schlechter Kriminalpolitiker, der das Gegenteil von dem schafft, was er erreichen will19: Mißtrauen und Entfremdung statt wachsendes Vertrauen; Angst, in eine Falle zu treten, statt sich auf sicherem (erlaubtem oder unerlaubtem) Boden zu bewegen. 3. Verunsichernd wirken sich insbesondere die §§90, 90 a, 90 b und 353 b StGB aus. Hier ist schon einmal der Grundsatz der Bestimmtheit verletzt: Was heißt „verunglimpfen"? Hierunter kann man notfalls auch jede Kritik an bestimmten Zuständen in unserem Staat verstehen, die den Politikern nicht gefällt (zum Beispiel, daß sich faschistoide Tendenzen in ihm ungehindert breitmachen können)20. Es ist sicher schwierig, für „Verunglimpfen" einen bestimmteren Begriff zu finden, der das gleiche ausdrückt. Aber das ist eben das Fatale am politischen Strafrecht, daß es präzisen Begriffen schwer zugänglich ist, weil lediglich politische Vorstellungen, die oft auch noch rasch wechselnd sind, durchgesetzt werden sollen. Auf solche, schon wertende Begriffe gebaute Vorschriften wirken, was eben gerade rechts staatlich bedenklich ist, als Einschüchterung, an sich erlaubte, aber unerwünschte Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Ahnlich wie im Verwaltungsrecht hängt es hier vom Ermessen der zuständigen Beamten, im Strafrecht also vom Staatsanwalt ab, ob er

18 Dafür sprechen übrigens auch die Zahlen. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik (hrsg. v. Bundeskriminalamt Wiesbaden) wurden 1975: 3596 Staatsschutzdelikte (meist Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats) registriert, 1976: 5085; 1977: 7220; 1978: 7376; 1979: 7580; 1980: 9078; 1981: 16545; 1982: 14364; 1983: 14766. Innerhalb von 8 Jahren ist also eine Vervierfachung eingetreten (die Nötigungsfälle waren bisher nur mit geringen Zahlen dabei, auch sie steigen aber in den letzten Jahren stark an, von 1982 auf 1983 allein von 278 auf 1026 Fälle; es ist sicher nicht falsch anzunehmen, daß dieser mit äußerster Skepsis zu betrachtende Tatbestand seine erneute Bedeutung nur auf politischem Feld gewonnen hat). " Wer sich zur Rechtfertigung des extensiven Staatsschutzes auf die Verbrechen und noch mehr - auf die Absichten der R A F beruft (z. B. F.-C. Schroeder, der sogar Texte der R A F zitiert, a. a. O., S. 227 ff) möge daran denken, daß das Gefühl des Bedrohtseins noch nie ein guter Ratgeber für die Gesetzgebung war (erinnert sei an das Schicksal des l.StÄG!) und daß die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik noch niemals ernstlich in Gefahr war (was nicht an den Strafgesetzen liegt!). 20 So etwa das Vorwort der 47 Hochschullehrer zur Nachveröffentlichung des „Buback-Nachrufs", das vom KG Berlin im Eröffnungsbeschluß vom 10.5.1978 als Staatsverunglimpfung angesehen wurde (zitiert nach Grünwald, a. a. O., S. 294).

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Sanktionen für erforderlich hält, also Anklage erhebt oder nicht21. In einer solchen Unsicherheit dürfte in einem Rechtsstaat eigentlich kein Bürger schweben. Die Einsicht hierfür scheint dem Gesetzgeber der Bundesrepublik abhanden gekommen zu sein. Zur Unsinnigkeit und Unnötigkeit gerade dieser Vorschriften in kriminalpolitischer Hinsicht hat bereits Grünwald ausführlich Stellung genommen22. Die Vorschriften der §§ 90-90 b StGB, vor allem §90a, sind ein typisches Beispiel dafür, wie übertrieben ernst sich unser Staat nimmt und mit welcher Arroganz und Empfindlichkeit er auf Äußerungen des Bürgers reagiert. In einem französischen Film sah man kürzlich, wie die Marseillaise gespielt wurde, während zwei Männer sich im Pissoir unterhalten, und in einem amerikanischen Film, wie zu einer wilden Schießerei in einer Kneipe die Nationalhymne ertönt. Von einem deshalb eingeleiteten Strafverfahren ist nichts bekannt. Bei uns dagegen haben sich elf Richter, darunter fünf Bundesrichter, mit der Frage befaßt, ob eine „bildlich mit Urin besprenkelte Bundesfahne die Freiheit der Kunst aus dem Feld schlagen und zu einer Bestrafung wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole führen kann"23. Sind die Franzosen und Amerikaner schlechtere Patrioten als wir, gefährden sie ihren Staat mehr als wir? Und nächste Frage: Wenn es so wäre, hätten wir dann Grund, nach allem, was unser deutscher Staat in den letzten 50 Jahren angerichtet hat, patriotischer zu sein als die Bürger anderer westlicher Völker? Und schließlich die dritte und entscheidende Frage: Ist das Strafrecht das richtige Mittel, Patriotismus durchzusetzen? Wir meinen, daß das nicht der Fall ist und daß ein hierzu mißbrauchtes Strafrecht nicht zur Bildung von Identitätsbewußtsein des Bürgers gegenüber dem Staat beiträgt, sondern im Gegenteil Mißtrauen und Ablehnung gegenüber dem Staat fördert. III. Der beste Staatsschutz ist die Verfassungstreue der Bürger, wie ich meine. „Halt, so einfach ist das nicht!" werden manche Politiker sagen: „Was hilft die Verfassungstreue der Bürger, wenn ein paar unbelehrbare und zu allem entschlossene Staatsfeinde das System umstürzen wollen?" Diese Fragestellung ist aber irreführend. Jeder unserer Politiker weiß, daß die überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung hinter dem Staat steht, wie er in unserem Grundgesetz von 1949 konzipiert ist. Das 21 Einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die hier für die Rechtsprechung entstehen, vermitteln Träger! Mayer/Krauth, Das neue Staatsschutzstrafrecht in der Praxis, in: „25 Jahre Bundesgerichtshof" ("Hrsg. Krüger-Nieland), München 1975, S. 227 ff (242 ff). 22 Grünwald, a.a.O., S.295. 23 Vgl. „Die Zeit" Nr. 38 vom 13.9.1985.

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Problem ist ein ganz anderes, nämlich ob die sogenannte schweigende Mehrheit der Bevölkerung nicht auch zu staatsfeindlichen Umtrieben schweigen könnte. Davor haben unsere Politiker nicht zu Unrecht Angst. Aber hier kann nicht das Strafrecht helfen, sondern hier liegt ein Versäumnis unserer Politiker vor, das den Staat in der Tat leicht ins Wanken bringen kann: Eine Regierung, die die schweigende Mehrheit liebt und pflegt, weil sich mit ihr leichter regieren läßt, darf sich nicht wundern, wenn diese Mehrheit auch in bezug auf staatsfeindliche Tätigkeiten nicht zu den notwendigen Gegenaktivitäten bereit und fähig ist". Unser Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit zu allem geschwiegen, was Hitler getan hat, und nach 1945 hat es in seiner überwiegenden Mehrheit zur Wiedereinführung der Wehrpflicht, zur Wiederaufrüstung, zur Notstandsverfassung und zu vielem anderen geschwiegen, was das ursprüngliche Staatskonzept von 1949 nicht unwesentlich geändert hat. Ein Staat, der sich auf die schweigende Mehrheit der Bevölkerung stützt, ist immer auf ein umfangreiches strafrechtliches Staatsschutzrecht angewiesen. Wenn wir also sagen: Der beste Staatsschutz ist die Verfassungstreue der Bürger, so geht es uns vor allem um eine aktive Verfassungstreue, und d.h.: Die Mehrheit der Bürger muß zu einem kritischen, auf die Grundsätze der Verfassung gegründeten politischen Bewußtsein und der Staat muß zu einer strikten Einhaltung von Buchstaben und Geist der Verfassung angehalten werden 25 . Aus der Sicht der Identitätstheorie: Dem Bürger muß dauernd Gelegenheit gegeben werden, sich mit dem Staat zu identifizieren und dadurch Identitätsbewußtsein ihm gegenüber zu bilden. Wenn dies geschieht, braucht der Staat keine Angst zu haben, daß er durch ein paar Abenteurer gefährdet wird. Dies wäre Programmpunkt Nr. 1 auch einer wirksamen Kriminalpolitik. Es ist bedauerlich, daß die Strafrechtswissenschaft dies infolge der strikten Trennung zwischen Strafrecht einerseits und (empirischer) Staatslehre und öffentlichem Recht andererseits und aus Furcht, den Staatsrechtlern ins Handwerk zu pfuschen, nicht sieht. Im übrigen 24 Kennzeichnend ist auch, daß unsere Politiker das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs.4 GG nur als Staatsnotstandsrecht auslegen, d.h. als Recht, allenfalls für die Regierung Widerstand zu leisten, nicht gegen sie. Näher G. F. Rühe, Widerstand gegen die Staatsgewalt?, Berlin 1958, S. 80; v. Münch, Widerstand als Verfassungsproblem, in: „Widerstand in der Demokratie", Landesverband für politische Bildung, Hamburg 1983, S. 21 ff. 25 Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, insbesondere Kap. VIII und IX (Reclam-Ausgabe, S. 114 ff). Unmittelbar nach 1945 waren diese Dinge auch erheblich bekannter als heute, vgl. z.B. H. Rauschning, Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt, in: „Bericht über die Tagung der Hochschule für Politische Wissenschaften München und der Evangelischen Akademie Tutzing, Berlin 1956.

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lassen sich auch praktische Folgerungen aus dem vorangestellten theoretischen Grundkonzept ableiten. Ein strafrechtliches Staatsschutzrecht, das mithilft, Identitätsbewußtsein zu bilden, müßte sich zunächst einmal streng an die interpersonalen Grundsätze des menschlichen Verkehrs halten, d.h. vom Dekalog der hergebrachten strafrechtlichen Verbote ausgehen, also vom Verbot der Tötung, der Körperverletzung, der Freiheitsberaubung, der Schädigung fremden Eigentums usw. und sich auch in den Grenzen der für diese Verbote in Jahrhunderten entwickelten allgemeinen Regeln (über Versuch, Teilnahme, Irrtum pp) halten. Begriffe und Verhaltensdefinitionen, die nicht klar verständlich sind und auf denen die übertrophierten Teile des Staatsschutzes beruhen, wirken einer Identifizierung mit dem Staat und damit der Bildung von Identitätsbewußtsein entgegen 26 , zum Beispiel das „Zuwiderhandeln" nach §84 Abs. 3, das „Verunglimpfen" nach § 9 0 a Abs. 1 Ziff. 2, das „Verraten von Staatsgeheimnissen" nach §§ 93 ff, die „landesverräterische Fälschung" nach § 100 a usw. Der Staat ist zunächst über seine (verantwortlichen) Personen und sein Eigentum und Vermögen angreifbar. Warum genügt da nicht die Verwendung der allgemein bekannten Begriffe wie Sachbeschädigung, Beleidigung, Betrug, Diebstahl, vor allem Mord und Totschlag und Körperverletzung? Bezeichnend ist auch, daß bei den Anschlägen auf Ponto, Buback und Schleyer nicht in erster Linie von Mord und Geiselnahme gesprochen wurde, sondern von Staatsgefährdung. Und während Gesetzgebung und Rechtsprechung im Bereich des klassischen Strafrechts und des Individualschutzes ständig daran arbeiten, neue Techniken der Abolition und der Bagatellisierung zu entwikkeln27, werden in Verfahren, in denen der Staat berührt ist, immer strengere Maßstäbe angelegt 28 . Wo der Staat aber wirklich auf Schutz angewiesen erscheint, ist zu fragen: (1) Ist das Strafrecht das richtige Mittel, um Schutz zu gewähren? (2) Lassen sich die Tatbestandsmerkmale so abfassen, daß der Bürger sie versteht und in sein Bewußtsein aufnimmt? (3) Ist die Bestimmung geeignet, Identitätsbewußtsein (im Verhältnis zum Staat) zu fördern oder zerstört sie womöglich im Gegenteil Ansätze

Vor allem bei der Jugend, vgl. Baumann, a. a. O., S. 247 ff (249). Zuletzt sogar bei Mord, wo der Strafrahmen bekanntlich nach unten durchbrochen worden ist, vgl. BGHSt. 30, 105. 28 Bezeichnenderweise ist die ausdehnende Rechtsprechung zum Gewaltbegriff in § 240 StGB überwiegend anhand von Fällen entwickelt worden, in denen es sich nicht um eine Verletzung des zwischenmenschlichen Verhältnisses, sondern der „öffentlichen Ordnung" handelte (vgl. NJW 1969, 63, 1127, 1543, 1776; BGHSt. 8,102; 23, 46). S. auch Baumann, a.a.O., S.253. 26

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zur Bildung eines solchen Bewußtseins (zum Beispiel durch zu weit gehende Abstraktheit oder Obrigkeitlichkeit)? Bedingung eines gesunden strafrechtlichen Staatsschutzes ist auch, daß man das Ganze der gesellschaftlichen Wirkkräfte im Auge behält. Basten hat versucht, diese Kräfte in ein System zu bringen29. Er unterscheidet zunächst zwischen Normalzustand und Bürgerkrieg bzw. Revolution. Im letzteren Fall greife die Notstandsverfassung ein. Im ersteren gäbe es dagegen drei Stufen, zunächst die allgemeine Gesellschaftspolitik, die auf Beseitigung bzw. Eindämmung der sozialen Spannungen ausgerichtet sein müsse; sodann die polizeiliche Gefahrenabwehr, die mit kriminologischer Forschung beginne und schließlich mit Zwangsrechten und Zwangsmaßnahmen ende, und die dritte Stufe mit individuellen und kollektiven Sanktionen, wie „Berufsverbot" und Strafrecht, und zwar nach dem Ultima-ratio-Prinzip. Die Stufenfolge ist nach unserer Auffassung richtig gesehen, nur die Inhalte nicht. Basten legt die Betonung vor allem auf eine Gesellschaftspolitik, die in staatlicher Globalsteuerung und politischer Korrektive an der Einkommensverteilung besteht. Das aber würde unserer Auffassung nach den Staat noch stärker machen, als er schon ist, und damit dem identitätstheoretischen Erfordernis der gleichberechtigten Partnerschaft und Selbstverantwortung des Bürgers, auf die allein eine aussichtsreiche Kriminalpolitik (und auch ein wirksamer Staatsschutz) gegründet werden können, widersprechen. Entscheidend ist auf der gesellschaftlichen Ebene u.E., daß mit Gemeinde-, Jugend-, Bevölkerungs- und kulturpolitischen Maßnahmen eine Atmosphäre hohen Identitätsbewußtseins (der Bürger untereinander und zwischen Bürger und Staat) hergestellt wird (was viel umfassender ist als die Beseitigung sozialer, aus Einkommensunterschieden herrührender Spannungen), und daß Zwang und Strafe wirklich auf ein nur unterstützendes Minimum beschränkt werden. Ich glaube, von dieser Sicht ist der Staat, sei er von CDU oder SPD regiert, heute noch weit entfernt. Vielleicht ist es aber noch Zeit, ihn vor weiterer, im wesentlichen selbstverschuldeter Entfremdung vom Bürger und vor dem Gebrauch von Ersatzmitteln, vor allem strafrechtlicher Art, zu bewahren.

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Th. Basten, a.a.O., S. 337 ff.

Zur strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) beim „Kampf um das gemeinsame Kind" Überlegungen de lege lata und de lege ferenda KLAUS G E P P E R T

„Wenn Täter und Opfer", schreibt Ulrich Weber\ „gleichermaßen das Beste des Kindes wollen, ist die Tragödie perfekt. Kindesentziehung wird zur Verzweiflungstat." Hinsichtlich der „Opfer" ist hier die Rede von jenen Elternteilen, die nach zerbrochener Ehe den gerichtlichen Kampf um das gemeinsame Kind endgültig oder nur vorläufig gewonnen und das alleinige Personensorgerecht zugesprochen bekommen haben, und „Täter" meint den anderen Eltern teil, erfahrungsgemäß sehr oft: den Vater, der sich mit der gerichtlichen Entscheidung nicht abfinden / ihr zuvorkommen will und sein Kind dem Zugriff des „Siegers" entzieht, bei gemischt-nationalen Ehen sehr oft: ins Ausland verbringt. In solchen Fällen ist das Mitgefühl der Mitmenschen zunächst deutlich beim Opfer, also bei der Mutter, der der Vater das Kind weggenommen hat; der Ruf nach harten Reaktionen des Strafrechts ist dann nicht zu überhören. Ist das Kind freilich wieder glücklich in der Obhut der Mutter, so kann sich erfahrungsgemäß auch der Täter wieder des Mitgefühls der gleichen Zeitgenossen sicher sein - und zwar um so mehr, je näher der Tag der strafgerichtlichen Hauptverhandlung rückt. Die Forderung, das Strafrecht habe hier das Feld zu räumen, ist jetzt nicht selten. Im übrigen ist dieses Verlangen durchaus nicht neu. Wir können davon lesen schon in einer Entscheidung aus dem Jahre 1916, wo es vom Reichsgericht freilich nachdrücklich zurückgewiesen worden ist2. Ansonsten finden wir in der einschlägigen Kommentarliteratur übereinstimmend die de lege lata sicherlich zutreffende Feststellung, daß Täter einer strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) auch die Eltern selbst sein können, insbesondere ein Elternteil gegenüber dem anderen3. ' In: Arzt-Weber, Strafrecht Besonderer Teil: Lehrheft 1 (Delikte gegen die Person), 2. Aufl. 1981, S. 195. 2 Urteil vom 29.2.1916 - V 17/16: Leipz. Zeitschrift 1916, 693. 3 Siehe statt vieler: SchönkeJSchröder/Eser, StGB Kommentar, 22. Aufl. 1985, Rdn. 14, LK-Vogler, StGB, 10. Aufl. (August 1979), Rdn. 26, SK-Horn, StGB II, 3. Aufl. (September 1981), Rdn. 10, Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl. 1985, Rdn. 3 und Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Anm.2 - jeweils zu §235.

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Man findet im Schrifttum freilich auch Bemerkungen wie die, daß die Strafvorschrift des §235 StGB 4 bisher keine besondere Bedeutung erlangt habe5 und „kaum ein Komplex in der Praxis eine geringere Rolle spiele"6. Wieder andere stellen sogar fest, bei Neuregelung der Entführungstatbestände durch das Erste Strafrechtsreformgesetz des Jahres 1969 sei „bedauerlicherweise versäumt worden, sich die Frage nach der kriminalpolitischen Berechtigung... grundsätzlich neu" zu stellen7. In dieser Situation scheint die Frage nicht ganz abwegig zu sein, ob §235 StGB zwischenzeitlich nicht in eine Dimension hineingewachsen ist, die dem Gesetzgeber des vergangenen Jahrhunderts so vielleicht doch nicht vorgeschwebt hat und angesichts deren der Gesetzgeber von heute korrigierend eingreifen sollte. I.

Bevor ich - bezogen und beschränkt auf den hier interessierenden Täter- und Opferkreis - auf dem Hintergrund des geltenden Rechts und aus dessen möglichen Schwächen Überlegungen de lege ferenda anstellen möchte, gilt es zunächst, das soziale Umfeld dieses strafrechtlichen Problems etwas näher zu erhellen. 1. Bleiben wir zunächst bei der s£ra/rechtlichen Perspektive unseres Themas und werfen wir, a) da wir mit eigenem Zahlenmaterial nicht aufwarten können 8 , vorweg einen Blick in die amtlichen Kriminalstatistiken. Dieser Blick bestätigt schnell, daß unserem Problem zumindest zahlenmäßig offenbar keine kriminalstrafrechtlich große Bedeutung zukommt 9 . So berichtet schon 4 Die Vorschrift ist zusammen mit den § § 2 3 6 bis 238 StGB durch das l . S t r R G vom 2 5 . 6 . 1 9 6 9 (BGBl. 1/645) geändert und neugefaßt worden - was unser Thema angeht, freilich nur in geringfügiger Weise: die angedrohten Strafen haben sich geändert, das Schutzalter wurde von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt und das Vergehen zu einem Antragsdelikt (§238 I StGB) umgestaltet. Einschlägige Gesetzesmaterialien: vor allem Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform Band V, S. 2375 ff sowie Bundestagsdrucksache V/4094, S. 34 ff; weitere Nachweise bei LK-Vogler, zu §235 oder bei Dreher/Tröndle, § 2 3 5 Rdn. 1. 5 LK-Vogler, zu §235. 6 So, freilich bezogen auf die Entführungstatbestände insgesamt, wörtlich Eberhard Schwarz, Entwicklung und Reform der Entführungsdelikte (§§235-238 StGB), 1972, S. 129. 7 So beispielsweise Eser (Scb/Schr, Vorb. zu §§235 bis 238). 8 Ein suchender Blick in die kriminologische und kriminalistische Lehr- und Handbuchliteratur läßt den Verf. freilich auch nicht fündig werden: kriminalphänomenologisch scheint - soweit mir ersichtlich - unser Thema noch nicht behandelt. ' Mit statistischem Material bis zum Stand des l.StrRG (1969) siehe vor allem Eberhard Schwarz, Entführungsdelikte (Fn.6), S. 116 ff. Danach ergeben sich keine

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bei den B e r a t u n g e n des 1. S t R G 1 0 , d a ß w e g e n K i n d e s e n t z i e -

h u n g ( § 2 3 5 S t G B ) i m J a h r e 1 9 6 6 insgesamt n u r 4 2 E r w a c h s e n e v e r u r t e i l t w o r d e n sind, w o b e i die V e r u r t e i l u n g z u G e l d s t r a f e deutlich ü b e r w o g u n d in d e n a c h t z e h n Fällen v o n Freiheitsstrafe alle diese Strafen u n t e r 9 M o n a t e n lagen u n d z u r B e w ä h r u n g h ä t t e n a u s g e s e t z t w e r d e n k ö n n e n . N i c h t signifikant anders lagen die diesbezüglichen Z a h l e n in d e r Z e i t davor 1 1 . W e r f e n w i r einen e t w a s detaillierteren B l i c k auf das kriminalstatistische Z a h l e n m a t e r i a l , w i e es uns beispielsweise ab 1 9 8 0 bis ( a u g e n b l i c k lich) 1 9 8 3 vorliegt 1 2 : So wurden ausweislich der vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden jährlich herausgegebenen Strafverfolgungsstatistik in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) im Jahre 1980 wegen Kindesentziehung (§235 StGB) insgesamt 98 Personen abgeurteilt: - von diesen abgeurteilten 98 Personen (100%) waren 73 Männer (74,5%) und 25 Frauen (25,5 %). - Verurteilt wurden 24 Personen (100 %), und zwar 18 Männer (75 %) und 6 Frauen (25 %). - Freigesprochen wurden 14 Personen (100%), und zwar 10 Männer (71,4%) und 4 Frauen (28,6 %). - Ohne weitere Sanktionen eingestellt wurden 56 Fälle (100%), und zwar gegenüber 42 Männern (75 %) und 14 Frauen (25 %). Für das Jahr 1981 lauten die entsprechenden Zahlen wie folgt: - Von insgesamt 111 Abgeurteilten (100%) waren 83 Männer (74,8%) und 28 Frauen (25,2 %). - Verurteilt wurden 36 Personen (100 %), und zwar 28 Männer (77,7 %) und 8 Frauen (22,3 %). - Freigesprochen wurde nur 1 Person (ein Mann). - Eingestellt schließlich wurden 65 Verfahren (100%), und zwar gegenüber Männern 45 (69,3%) und gegenüber Frauen in 20 Fällen (30,7%). Im Jahre 1982 wurden - 123 Personen abgeurteilt, und zwar 93 Männer (75,6%) und 30 Frauen (24,4%). - Verurteilt wurden nur 47 Personen, und zwar 37 Männer (78,7%) und 10 Frauen (21,3%). - Freispruch erfolgte gegenüber 4 Männern (66,6 %) und gegenüber 2 Frauen (33,4 %). - Einstellung erfolgte in insgesamt 66 Fällen, und zwar gegenüber 51 Männern (77,3 %) und gegenüber 15 Frauen (22,7%).

wesentlich anderen Aburteilungsziffern, als sie nachfolgend im Text für die Jahre 1980 bis 1983 aufgeschlüsselt werden. 10 Protokolle Band V, S.2379. 11 Siehe E.Schwarz, Entführungsdelikte (Fn.6), S. 122f. 12 Die nachfolgenden Zahlen entstammen der amtlichen Strafverfolgungsstatistik, wie sie alljährlich vom Stat. Bundesamt Wiesbaden herausgegeben wird (veröffentlicht in: Rechtspflege Fachserie 10, Reihe 3 - Strafverfolgung). Die vom Bundeskriminalamt herausgegebene „polizeiliche Kriminalstatistik" ist für unseren Beitrag unergiebig, weil die dort aufgeführten Zahlen einheitlich für alle Entführungsdelikte (§§234, 235, 236 und 237 StGB) gelten.

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Auf weitestgehend gleicher Linie liegen die zuletzt veröffentlichten Zahlen. So wurden im Jahre 1983 - insgesamt 105 Personen abgeurteilt: 75 Männer (71,4%) und 30 Frauen (28,6%). - Verurteilt wurden 30 Männer (76,9%) und 9 Frauen (23,1 %). - Freispruch erfolgte in 4 Fällen, und zwar dreimal gegenüber Männern (75%) und einmal gegenüber einer Frau (25 %). - Nochmals abschließend die interessanten Zahlen zur Einstellung: von insgesamt 60 Einstellungen waren 41 gegen Männer (68,3 %) und 19 gegen Frauen gerichtet (31,7%).

Diese nackten Zahlen lassen alle einen einheitlichen Trend erkennen: Bei nicht signifikant sich ändernden Aburteilungsziiiem dominieren die Männer mit durchschnittlich 72 und 75 % ebenso wie bei den entsprechenden Verurteilungszahlen (75 bis 78 % ) . Damit deckt sich auch die Relation der Freisprüche, und damit deckt sich auch - nicht unwichtig - zumindest in etwa die Zahl der Einstellungen, bei denen die Männer mit durchschnittlich 69 bis 78 % ebenfalls vorneliegen. Insoweit können zumindest diese Zahlen die von „scheidungsgeschädigten" Vätern bzw. ihren Verbänden gelegentlich zu hörende Klage nicht erhärten, Strafanzeigen wegen Kindesentziehung führten gegenüber Müttern in aller Regel zur Einstellung, gegenüber Vätern hingegen in umgekehrter Regelmäßigkeit zur Anklage. b) Freilich ist in allen diesen Zahlen nicht aufgeschlüsselt, ob es sich dabei um jenes soziale Konfliktfeld handelt, für das schlagwortartig „Kampf um das gemeinsame Kind" steht. Nun bemißt sich aber die Relevanz eines Delikts immerhin teilweise auch nach seinem Echo in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, und insofern ist - mit aller Vorsicht - der Freigabe obergerichtlicher Entscheidungen zur Veröffentlichung eine gewisse Indizwirkung wohl nicht abzusprechen. Daher soll der Versuch unternommen werden, aus der Veröffentlichung einschlägiger Entscheidungen unterschiedliche Fallgruppen herauszufiltern, um auf diesem Weg ein etwas genaueres Bild von der sozialen Wirklichkeit dessen zu erhalten, was man seit langem „Muntbruch" nennt: Von jeher erkennbar am Rande lagen jene Fallgruppen, bei denen Hintergrund einer „Kindesraub"-Anklage entweder der Streit der leiblichen Eltern, früher meist der nichtehelichen Mutter mit einem Amtsvormund13 oder der Kampf der Eltern um die „richtige" konfessionelle Erziehung bildet14. Selten geworden sind inzwischen Entscheidungen, bei denen ein Alterer (meist: ein Mann) dadurch in den Bereich strafbarer Kindesentziehung geraten ist, daß er mit einer jüngeren Person

13 Vgl. insofern RG, GA 53 (1906), 287 und RGSt. 29, 199 sowie BGHSt. 1, 364 und OLG Bremen, JR 1961, 107. 14 Vgl. RGSt. 15, 340 (Urt. v. 28.1.1887) und RGSt. 24, 133 (Urt. v. 27.4.1893).

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beispielsweise zum „Schmied nach Gretna Green" geflüchtet oder „nur so" von zu Haus abgehauen und auf Trebe gegangen ist15. Seit langen Jahrzehnten und bis heute sind es - jedenfalls, was die bekanntgewordenen obergerichtlichen Entscheidungen angeht - zahlenmäßig etwa gleichgewichtig zwei Fallgruppen, die im Bereich des § 2 3 5 StGB kriminalphänomenologisch dominieren. Es sind dies einmal jene Fälle, die gesetzessystematisch eigentlich „hinter" § 2 3 5 StGB stehen, bei denen nämlich ein Außenstehender in das Personensorgerecht der Eltern eingreift, eine Bestrafung wegen §§236 und 237 StGB jedoch - meist aus Beweisgründen - an dort genannten weiteren Tatbestandserfordernissen scheitert16; eine Bestrafung aus §235 StGB wirkt hier manchmal wie eine Art „Verlegenheitslösung". Zum andern sind es aber immer wieder eben die Fälle von Kindesentziehung im innerfamiliären Bereich, bei denen also vor/in/nach einer familiengerichtlichen Auseinandersetzung ein Elternteil im „Kampf um das gemeinsame Kind" dem anderen Elternteil dieses Kind wegnimmt17. c) Einen sicheren Beweis für die zahlenmäßige Relation dieser beiden Fallgruppen liefert dieser Befund freilich auch nicht. Daher habe ich

15 Siehe insofern schon früher RGSt. 18, 273 (Urt. v. 30.11.1888) sowie BGH, MDR 1968, 728. - Keine obergerichtliche Judikatur fand sich übrigens, das sei am Rande vermerkt, zum Stichwort Jugendsekten" und „Jugendsektenunwesen", wo Vogler (LK, zu §235) künftig die besondere kriminalpolitische Bedeutung dieser Strafvorschrift vermutet. 16 Siehe diesbezüglich schon RG, DR 1940, 2060 sowie insbesondere BGHSt. 1, 199, BGHSt. 16, 58 und BGHSt. 32, 183. Siehe darüber hinaus auch BGH, MDR 1962, 750 (4 StR 21/62), NJW 1963,1412 (1 StR 90/63), MDR 1968, 728 (5 StR 164/68), J R 1971,511 (2 StR 247/71) sowie NJW 1981, 2015 (1 StR 487/80); siehe insofern auch drei unveröffentlichte Entscheidungen des Bundesgerichtshofes: 21.11.1958 - 5 StR 501/58; 20.12.1960 1 StR 553/60; 1.12.1970 - 5 StR 516/70. Siehe schließlich O L G Hamm, JMB1. NRW 1966, 236 (5.4.1966 - 3 Ss 32/66) sowie O L G Hamm (25.5.1978 - 5 Ws 50/78). 17 Aus der Judikatur schon des Reichsgerichts siehe RGSt. 17, 90 (27.1.1888), RGSt. 22, 166 (15.10.1891), RGSt. 48, 325 (22.5.1914), RGSt. 48, 427 (27.10.1914), RG (29.2.1916), Leipz. Zeitschrift 1916, 693 sowie RGSt. 66, 254 (30.5.1932). Der Bundesgerichtshof hat - soweit ersichtlich - zu dieser Fallgruppe expressis verbis nur in zwei Entscheidungen Stellung bezogen: vgl. die umstrittene Entscheidung BGHSt. 10, 376 (13.9.1957 - 1 StR 269/57) sowie zuvor schon B G H (21.5.1951 - 3 StR 196/51) = LM Nr. 1 zu §235 StGB. Aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte vgl. in zeitlicher Reihenfolge: (1) O L G Stuttgart (13.3.1968 - 1 Ss 95/68) NJW 1968, 1341. (2) O L G Hamm (Beschl. v. 20.1.1970 - 3 Ss 1188/69) NJW 1970, 578. (3) O L G Schleswig (22.7.1980 - 1 Ws 237/80) MDR 1980, 1042. (4) O L G Düsseldorf (29.10.1980 - 2 Ss 393/80) J R 1981, 386 (mit Anm. Bottke S. 387) = NStZ 1981, 103. (5) O L G Hamm (7.5.1981 - 1 Ws 221/82) MDR 1982, 1040 = J R 1983, 513 (mit Anm. Oehler S.514).

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mich bei einigen mir bekannten Berliner Jugendstaatsanwälten, die nach hiesiger Übung für alle § 2 3 5 StGB-Verfahren zuständig sind, nach ihrer persönlichen Erfahrung und Einschätzung erkundigt. Die Antworten können natürlich nicht zwingend auf Bundesdurchschnitt „hochgerechnet" werden, lassen aber zumindest für andere großstädtische Ballungsräume vergleichbare Schlußfolgerungen zu. U m die Antworten richtig einschätzen zu können, muß daran erinnert werden, daß im Bundesdurchschnitt in den letzten Jahren nur etwa 100 bis 125 Personen strafgerichtlich abgeurteilt worden sind. Im Bereich der Berliner Justiz sind - um diese Zahl nachzuliefern - im Jahre 1983 insgesamt nur fünf Personen - vier Männer und eine Frau - wegen Kindesentziehung (§ 235 StGB) abgeurteilt worden, wobei sogar nur eine Person (ein Mann) verurteilt wurde; in den restlichen Fällen ist das Verfahren eingestellt worden 18 . Aus dem Arbeitsbereich Berliner Jugendstaatsanwälte wurde mir auf diesem Hintergrund berichtet18*: - daß jene Fallgruppe „Kindesentziehung durch Außenstehende" in der Praxis keine nennenswerte Rolle spiele; das seien allenfalls Einzelfälle. - Es wird bestätigt, daß die Verfahren wegen Kindesentziehung praktisch ausnahmslos jener innerfamiliären Auseinandersetzung zuzuordnen sind und daß dabei die Männer - in Berlin vor allem aus dem Bereich moslemischen Glaubens und Südeuropäer zahlenmäßig sehr deutlich dominieren. - Es wird berichtet, daß es in den letzten Jahren durchschnittlich bis zu 50 Strafverfahren nach Anzeige und auf Strafantrag des Personensorgeberechtigten Verletzten (meist: der Mutter) und immerhin durchschnittlich doch zehn bis fünfzehn Anklagen gegeben habe. Die geringe Zahl der jährlichen yliurteilungen wird - was einleuchtet mit dem „Strafantrag" (§238 Abs. 1 StGB) und damit erklärt, daß der Strafantrag vom Verletzten bewußt als taktische Waffe eingesetzt wird, um auch mit Hilfe der Strafverfolgungsbehörden das Kind zurückzubekommen. Sobald die Mutter ihr Kind wieder in ihrer Obhut habe, würde der Strafantrag in der Mehrzahl aller Fälle wieder zurückgenommen - was bekanntlich „bis zum rechtskräftigen Abschluß des Strafverfahrens" zulässig ist (§ 77 d Abs. 1 Satz 2 StGB).

2. Nach alledem können wir feststellen, daß die kriminalpolitische Bedeutung des § 2 3 5 StGB - in Berlin wie entsprechend wohl auch im Bundesdurchschnitt - jedenfalls für den uns beschäftigenden Bereich 18 Zitiert nach dem Sonderheft 348 (6/84) des Statistischen Landesamtes Berlin: „Rechtskräftig abgeurteilte Personen in Berlin (West) 1983, S. 20. 181 Mit diesen Erfahrungen decken sich übrigens auch jene Zahlen, von denen wir in einer (nach Abschluß des vorliegenden Manuskripts veröffentlichten) Berichtsserie in der „Berliner Morgenpost" - freilich ohne belegte Quellen - lesen können: - ausweislich des Berichts vom 19. Januar 1986 seien in Berlin seit 1975 etwa 625 bis 1000 Fälle von „legalem Kidnapping" (Entführung durch die eigenen Eltern) ins Ausland bekanntgeworden, - im Bundesgebiet gebe es jährlich schätzungsweise 1000 Fälle von Kindesentführungen durch die eigenen Eltern (Bericht vom 2. Februar 1986).

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auch zahlenmäßig gewichtiger ist, als die nackten v4&urteilungs- oder gar Verurteilungsziffern dies vermuten lassen. Wir können zugleich aber auch erkennen, daß das Strafrecht diesbezüglich offenbar nur einen „Nebenkriegsschauplatz" darstellt. U m bei diesem martialischen Bild (das freilich angesichts der schlimmen Wunden, die in diesem Bereich letztlich allen Beteiligten zugefügt werden, nicht fehl am Platze ist) zu bleiben: der „Hauptkriegsschauplatz" liegt bei den Familiengerichten, wo die Eltern scheiternder/gescheiterter Ehen den Kampf um das Recht der „elterlichen Sorge" (§ 1626 Abs. 1 B G B ) bezüglich ihres Kindes in erster Linie auszutragen haben. Die Eltern haben die elterliche Sorge - das Gesetz spricht seit der Sorgerechtsnovelle des Jahres 1979 nicht mehr von „elterlicher Gewalt", um mit dem neuen Begriff mehr als bisher den Gedanken der Elternverantwortung und den Pflichtcharakter der elterlichen Rechtsstellung zum Ausdruck zu bringen" - grundsätzlich „in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen" auszuüben (§ 1627 Satz 1 BGB). Die Personensorge umfaßt insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht (§ 1631 Abs. 1 Satz 1 BGB), in das bei Kindesentziehungen typischerweise eingegriffen wird. Nach § 1 6 3 2 Abs. 1 B G B erwächst hieraus das „Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es den Eltern oder einem Elternteil widerrechtlich vorenthält". Kommt es zur Scheidung oder zum Getrenntleben der Eltern, so ist die Situation der Personensorge folgende: (1) Bei Scheidung der Eltern bestimmt das Familiengericht zugleich, „welchem Elternteil die elterliche Sorge für ein gemeinschaftliches Kind zustehen soll" (§ 1671 Abs. 1 BGB). Bei Anfechtung lediglich der Sorgerechtsentscheidung ist Beschwerde möglich (§§629a Abs. 2 Satz 1, 621 e Abs. 1 ZPO); sofern das O L G die weitere Beschwerde zugelassen hat, ist auch diese zulässig (§621 e Abs. 2 ZPO). Die Gestaltungswirkung der Sorgerechtsentscheidung tritt erst nach formeller Rechtskraft ein, frühestens nach Rechtskraft auch des Scheidungsausspruchs (§ 629 d ZPO). Demgemäß kommt vorläufigen Regelungen der Personensorge besondere Bedeutung zu. Nach Maßgabe von § 620 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 ZPO kann das Gericht - auf Antrag oder ggf. von Amts wegen - über das elterliche Sorgerecht eine einstweilige Anordnung treffen. Erging dieser Beschluß auf Grund mündlicher Verhandlung, ist gegen ihn sofortige Beschwerde zulässig (§ 620 c ZPO); sofern die von einem Elternteil beanstandete Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erging, eröffnet ihm § 620 b Abs. 2 ZPO die Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung (wichtig: und mit ihr die Möglichkeit einer sofortigen Beschwerde) herbeizuführen. Nach Verstreichenlassen der zweiwöchigen Notfrist (§ 577 Abs. 2 ZPO) bzw. mit der Beschwerdeentscheidung des O L G ist die einstweilige Anordnung formell rechtskräftig, d.h. das Personensorgerecht ist - das kann natürlich auch für § 235 StGB besonders bedeutsam werden (siehe insofern die Konstellation von RGSt. 48, 325) - für die Dauer der einstweiligen Anordnung wirksam dem einen oder dem anderen Elternteil übertragen. Nach § 620 f " Mit weiteren Nachweisen, auch zur Entstehungsgeschichte, vgl. diesbezüglich vor allem M K - H w , Ergänzung zu § 1626 BGB, Rdn. 1 ff.

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Abs. 1 ZPO verlieren einstweilige Anordnungen ihre Wirksamkeit erst „beim Wirksamwerden einer anderweitigen Regelung". (2) Bei dauerndem Getrenntleben20 gilt nach Maßgabe von § 1672 Satz 1 B G B materiellrechtlich Entsprechendes; auch verfahrensrechtlich ergeben sich keine Besonderheiten. Freilich ergeht eine familiengerichtliche Sorgerechtsentscheidung in aller Regel nur auf Antrag eines Elternteils; nur wenn „andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre", entscheidet das Gericht von Amts wegen (§ 1672 Satz 2 BGB). D a s „Wohl Gerichte

ihre

des

Kindes"

ist i m ü b r i g e n die L e i t s c h n u r , a n d e r die

Sorgerechtsentscheidung

auszurichten

haben

(§ 1671

A b s . 2 B G B ) . D a ß d i e s e r Begriff 2 1 a u c h d a n n , w e n n m a n ihn als „ R e c h t auf E r z i e h u n g z u leiblicher, seelischer u n d gesellschaftlicher T ü c h t i g keit" (§ 1 A b s . 1 J W G ) verdeutlicht22, m e h r rechtspolitisches Ziel und programmatische

Idee

denn

einzelfall-praktikables

Wertungs-

und

A b g r e n z u n g s k r i t e r i u m ist, liegt a u f d e r H a n d . E s w i r d a u c h n i e m a n d bestreiten wollen, daß dieser Begriff „ K i n d e s w o h l " eher schönfärberisch ist u n d i m Z u s a m m e n h a n g m i t S o r g e r e c h t s e n t s c h e i d u n g e n m i t

gutem

G r u n d d u r c h die B e z e i c h n u n g des „ k l e i n e r e n Ü b e l s " z u e r s e t z e n w ä r e , g e h t es bei d e r S o r g e r e c h t s e n t s c h e i d u n g n a c h z e r b r o c h e n e r E h e

doch

d a r u m , die F o l g e n d e s Z u s a m m e n b r u c h s d e r E l t e r n e h e f ü r d a s K i n d m ö g l i c h s t g e r i n g z u h a l t e n u n d diejenige L ö s u n g z u f i n d e n , die d a s K i n d - w e n n es s c h o n eine v o n z w e i g r u n d s ä t z l i c h g l e i c h w i c h t i g e n t ä g l i c h e n B e z u g s p e r s o n e n v e r l i e r e n m u ß - a m w e n i g s t e n b e l a s t e t . N u n g e h t es in v o r l i e g e n d e m B e i t r a g a b e r n i c h t d a r u m , d a s „ K i n d e s w o h l " als r i c h t e r l i c h e n E n t s c h e i d u n g s m a ß s t a b n ä h e r z u p r ä z i s i e r e n u n d die R e c h t s p r e chung der Familiengerichte

dahin z u

überprüfen,

ob

sie V a t e r

und

M u t t e r in d i e s e m S i n n w i r k l i c h g l e i c h b e r e c h t i g t b e h a n d e l n 2 3 - a u c h w e n n

20 Die Legaldefinition des § 1567 Abs. 1 B G B legt die Voraussetzungen des Begriffs „Getrenntleben" nunmehr einheitlich für den Bereich des gesamten Familienrechts fest (vgl. MK-Hinz, Ergänzung zu §1672 B G B , Rdn.3). 21 Zu diesem Begriff siehe - jeweils mit weiterführenden (Literatur- und vor allem Rechtsprechungs-)Nachweisen - monographisch vor allem Michael Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff. Die richterliche Entscheidung über die elterliche Sorge beim Zerfall der Familiengemeinschaft (1983) sowie Luthin, „Elterliche Sorge, Umgangsbefugnis und Kindeswohl. Neueres aus Rechtsprechung und Schrifttum", FamRZ 1984, 114ff und Kropholler, „Das Kindeswohl als Rechtsbegriff", J Z 1984, 164ff. Vgl. auch M M k , Ergänzung zu § 1666 Rdn. 24 ff und zu § 1671 Rdn. 19 ff sowie Palandt-Diederichsen, BGB (44. Aufl. 1985), §1671 Anm.3. 22 Vgl. WL-Hinz, Ergänzung zu § 1666 Rdn. 24. 23 Der weithin bekannten Klage der geschiedenen/getrennt lebenden Väter, sie würden auf Grund traditioneller, doch überholter Rollenvorstellungen von den Familiengerichten bei der Sorgerechtsentscheidung benachteiligt, steht neuerdings die Gegenklage der Frauen, sie würden in Wahrheit langsam aber sicher im Recht der Eltern-Kind-Beziehung von den Familiengerichten „diskriminiert" (siehe insofern Zenz und Salgo in ihrem Gutachten „zur Frage der Diskriminierung der Frau im Recht der Eltern-Kind-Beziehung": herausgegeben in Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und

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die kriminalstatistischen Zahlen zu §235 StGB einen Abbau des traditionellen „Mutter-Bonus" und einen anwachsenden Trend „zum Vater" bislang jedenfalls nicht bestätigen. Ungeachtet all dessen ist mit dem Begriff „Kindeswohl" immerhin negativ die eindeutige Feststellung verbunden, daß es jedenfalls nicht Eigeninteressen der Eltern sein dürfen, an denen die Sorgerechtsentscheidung auszurichten ist, daß die Sorgerechtsentscheidung somit auch nicht Mittel personaler Selbstbehauptung nach zerbrochener Ehe sein darf. Im Hinblick auf unser Thema in diesem Zusammenhang im übrigen drei Bemerkungen: a) Zur Verdeutlichung des unscharfen „Kindeswohl"-Begriffes dienen der Rechtsprechung als Orientierungshilfen bekanntlich das „Förderungsprinzip" einerseits, wonach derjenige Elternteil die Sorge erhält, von dem das Kind für den Aufbau seiner Persönlichkeit zukünftig die bessere Unterstützung zu erwarten hat, und das sog. „Kontinuitätsprinzip" andererseits24. Diesem Kontinuitätsprinzip zufolge ist für die Entwicklung eines Kindes in der Regel die Lösung am vorteilhaftesten, die die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der Erziehung am wenigsten stört; für diesen Grundsatz kann das Gesetz selbst in Anspruch genommen werden, hat das Gericht bei seiner Sorgerechtsentscheidung nach Maßgabe des § 1671 Abs. 2. / 2. Halbsatz BGB doch „die Bindungen des Kindes, insbesondere an seine Eltern und Geschwister, zu berücksichtigen". Im Hinblick darauf können wir bei Hinz lesen25: „Ein Wechsel des Sorgeberechtigten wird im allgemeinen dem Wohl des Kindes abträglich sein und kann nur durch das Vorliegen triftiger Gründe gerechtfertigt werden. Das bedeutet zunächst, daß die elterliche Sorge in der Regel demjenigen Elternteil zu übertragen ist, der das Kind bereits längere Zeit vor der Scheidung allein betreut hat, wenn das Kind dort in geordneten Verhältnissen lebt, einwandfrei versorgt wird und ein Wechsel der so entstandenen Bindungen und Umweltbedingungen eher schädlich wirken müßte. Im Ergebnis gibt also bei annähernd gleicher Eignung zur Erziehung und Betreuung des Kindes das Stetigkeitsprinzip den Ausschlag."

Von dieser Aussage her, die man wohl als Trend unserer Familiengerichte verallgemeinern darf26 und der an sich auch gar nicht widersprochen werden soll, gewinnen natürlich alle vorläufigen Regelungen des Sorgerechts ihren besonderen Stellenwert. Die Familiengerichte können nicht nachdrücklich genug immer wieder darauf hingewiesen werden, im

Gesundheit, Band 133, Stuttgart 1983). Zu diesem Streit und den dabei ausgetauschten Zahlen siehe mit weiterführenden Nachweisen neuerdings Luthin, FamRZ 1984, 115. 24 Weiterführend zu beiden Prinzipien: MK-Hinz, Ergänzung zu § 1671 Rdn.23 bis 26 und Palandt-Diederichsen, §1671 Anm.3a und 3 b; speziell zum Kontinuitätsgrundsatz siehe M. Coester, Kindeswohl (Fn.21), S. 176 ff. 25 UK-Hinz, Ergänzung zu §1671 Rdn.26. 26 Vgl. Kropholler, JZ 1984, 165.

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Hinblick auf die sprichwörtlichen „vollendeten Tatsachen" (sprich: im Hinblick auf das Gewicht des Kontinuitätsprinzips bei der späteren endgültigen Sorgerechtsentscheidung) den Sachverhalt auch bei „nur" vorläufiger Sorgerechtszuteilung besser aufzuklären, als dies bislang gelegentlich zu geschehen scheint27. b) Von diesem Kontinuitätsgrundsatz aus kann natürlich auch eine Kindesentführung besondere Bedeutung erlangen. Man mag dies rechtspolitisch bedauern, für den verletzten Elternteil im Einzelfall sogar als zutiefst ungerecht empfinden und auch davon sprechen, daß hier „faustrechtartige Elemente" ins deutsche Familienrecht eingeführt seien und daß der ohnehin „fragwürdige Satz von der normativen Kraft des Faktischen auf die Spitze" getrieben worden sei28. Es bleibt die fast schon resignierende, gewiß aber doch konsequent „kindeswohl"-ausgerichtete Feststellung, daß sich Kindesentziehung personensorgerechtlich letztlich oft auszuzahlen scheint. Denn ebenso wie Eheverfehlungen nicht mehr als taugliches Kriterium für Sorgerechtsentscheidungen anerkannt werden29, die gleiche Ansicht scheint sich bei unseren Familiengerichten zunehmend auch für (jedenfalls: längere Zeit zurückliegende) Kindesentführungen durchgesetzt zu haben. Insofern erst jüngst das OLG Düsseldorf, freilich bezogen auf einen Fall, in dem eine (deutsche) Mutter ihr Kind aus dem Ausland gegen den Willen des Vaters ins Inland zurückgebracht hatte30: „Da es allein auf das Kindeswohl ankommt, ist jedoch eine Sanktion gegen die Mutter auf diesem Wege nicht zulässig. . . . Es kann zwar unterstellt werden, daß der Vater zur Ausübung der elterlichen Sorge ebenfalls geeignet ist; aber gleichwohl verbietet es der Gesichtspunkt der Risikovermeidung, ohne plausiblen Grund eine tiefgreifende Änderung in den Lebensumständen des Kindes herbeizuführen."

27 Besonders problematisch erscheint mir in diesem Zusammenhang die nicht selten anzutreffende „Großzügigkeit" der (hier: Vormundschafts-)Gerichte, einem Antrag eines Elternteils auf Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts im Wege einstweiliger Anordnung Folge zu leisten (vgl. §1631 Abs. 1 und Abs. 3 BGB). In den allermeisten Fällen ist ein solcher Antrag der geplante erste Schritt im harten Kampf der Eltern um das Personensorgerecht; mehr Sachverhaltsaufklärung als bisher erscheint hier geboten: „audiatur et altera pars!" 28 So Schlosshauer-Selbach, FamRZ 1981, 536 (freilich bezogen auf den Fall einer Kindesentführung aus dem Ausland zurück in die Bundesrepublik). 29 Mit weiterführenden Nachweisen dazu vor allem M. Coester, FamRZ 1977, 217 ff: Eheverfehlungen seien allenfalls dort - mit gebotener Vorsicht! - auch bei der Sorgerechtsentscheidung zu berücksichtigen, wo sich aus der Eheverfehlung ein Hinweis für zukünftig (!) fehlende Eignung zur Erziehung herleiten lasse. 30 Beschluß vom 16.12.1983 - 1 WF 336/83 = FamRZ 1984, 194 (195): unter Hinweis auf die einschlägige Grundsatzentscheidung BGHZ 78, 293 (29.10.1980 - IVb ZB 586/80) = NJW 1981, 520 = MDR 1981, 215 = FamRZ 1981, 135.

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c) Auf dieser Linie liegt auch eine Entwicklung, die bei Kindesentführung mit Auslandsberührung - meist bei Scheitern gemischt-nationaler Ehen, indem gemeinsame minderjährige Kinder entweder vom In- ins Ausland oder umgekehrt entführt {aktive Entführungen) oder anläßlich eines Besuches im In- bzw. Ausland dem sorgeberechtigten Elternteil nicht zurückgegeben werden (passive Entführungen) - zu erheblicher praktischer Relevanz und Komplikationen vielfacher Art und im übrigen zu besonderer rechtlicher Brisanz mit umfangreicher (internationalprivatrechtlicher) Judikatur geführt hat31. So versuchen Eltern verschiedener Staatsangehörigkeit nicht zuletzt deshalb, mit dem Kind in den Anwendungsbereich des eigenen Rechts zu kommen, weil sie nach aller praktischer Erfahrung darauf bauen können, daß der Richter ein Kind lieber dem eigenen Recht unterwirft als einem fremden. In diesem Zusammenhang nun gewinnt das „Haager Abkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen" (im folgenden: MSA) vom 5.10.1961, das für die Bundesrepublik Deutschland am 17.9.1971 in Kraft getreten ist32 und in seinem Anwendungsbereich die allgemeinen Regeln des internationalen Privat- und Verfahrensrechtes verdrängt33, besondere Bedeutung. Denn nach Art. 1 MSA sind für Sorgerechts- und andere dem Schutz des Kindes dienende Regelungen die Gerichte/Verwaltungsbehörden desjenigen Staates zuständig, in dem der Minderjährige seinen „gewöhnlichen Aufenthalt" hat, wobei die Gerichte nach dem sog. Grundsatz des Gleichlaufs bei dieser Entscheidung dann ihr eigenes Recht anzuwenden haben (Art. 2 MSA). Ein „gewöhnlicher Aufenthalt" in diesem Sinn ist nach anerkannter Rechtsprechung dann zu bejahen, wenn der Minderjährige eine gewisse Zeit an einem Ort verweilt und 31 Weiterführend und mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen siehe diesbezüglich vor allem Wuppermann, „Zum Haager Minderjährigenschutzabkommen. Einige Grundprobleme aus der Sicht der Rechtsentwicklung", in: FamRZ 1974, 414 ff (speziell zu den Fällen der Kindesentführungen: a . a . O . S.416ff) und Siehr, „Kindesentführungen ins Ausland", in: Amtsvormund 1977, 219ff sowie schon Siehr, „Kindesentführungen ohne Ende - aber: II y a des juges ä Accra!" in: FamRZ 1976, 255 ff. Speziell zur „Herausgabe eines vom nichtsorgeberechtigten Elternteil oder einem Dritten entführten Kindes (In- und Auslandsfälle)" siehe den gleichnamigen Beitrag von Ingeborg Christian in „Der Amtsvormund" (AV) 1983, 417-440 und 689-696. Rechtsvergleichend siehe insbesondere die verdienstvolle Monographie von Rainer Hüßtege, „Der Uniform Child Custody Jurisdiction Act. Rechtsvergleichende Betrachtungen zu internationalen Kindesentführungen". Schriftenreihe der Wiss. Gesellschaft für Personenstandswesen und verwandte Gebiete, neue Folge Band 20, Frankfurt 1982. Zu „neuen rechtlichen Möglichkeiten bei Kindesentführung in die USA" siehe die Redaktionsmitteilungen im Amtsvormund 1984, 805 ff. 32 BGBl. 1971 11/217 und 1150 ( = veröffentlicht auch in FamRZ 1972, 57 ff). Zur Erläuterung siehe den Kommentar von Helga Oberloskamp (1983). 33 Vgl. B G H Z 60, 68 (71).

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sozial integriert ist; als Faustregel nimmt die Rechtsprechung an, daß hierfür eine Dauer von sechs Monaten in der Regel ausreicht. Ein „gewöhnlicher Aufenthalt" sei ferner dann vorhanden, wenn ein längeres Verweilen an einem Ort zwar noch nicht vorliegt, jedoch beabsichtigt ist und diese Absicht durch entsprechende Handlungen verdeutlicht wird34. O b diese Grundsätze auch im Fall vorangegangener Entführung gelten, war in Literatur und Rechtsprechung lange Zeit heftig umstritten. Noch vor einigen Jahren ging die wohl überwiegende Ansicht dahin, eine Änderung des „gewöhnlichen Aufenthaltes" in solchen Fällen mit der Begründung abzulehnen, daß Kindesentführung und Rechtsbruch nicht sanktioniert werden dürfen35. Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 29. Oktober 198036 ist diesbezüglich freilich eine deutliche Kehrtwende zu erkennen. Unter Hinweis auf Sinn und Zweck des Haager Minderjährigen-Schutzabkommens, das „auf den Schutz des Minderjährigen und nicht in erster Linie auf die Wahrung der Elternrechte ausgerichtet" sei, wird jetzt auch in den Entführungsfällen ganz überwiegend ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt' im Aufnahmestaat dann angenommen, „wenn es zu einer sozialen Einbindung des Minderjährigen in die Lebensverhältnisse am neuen Aufenthaltsort und damit zu einer tatsächlichen Verlegung des Daseinsmittelpunktes gekommen ist". Der entführende Elternteil hat es zwar nicht in der Hand, gegen den Willen des anderen sorgeberechtigten/mitsorgeberechtigten Elternteils einen sofortigen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes' zu bewirken, wohl aber nach einer Dauer von in aller Regel schon sechs Monaten. Damit können Entführungen nach relativ kurzer Zeit zum gerichtlich bestätigten „legal kidnapping" werden, wobei sich — mit dieser hier ganz wertfrei zu verstehenden Feststellung sei die kleine Bestandsaufnahme sozialer Wirklichkeit heutiger Kindesentziehung abgeschlossen - Entführung für den entführenden Elternteil wiederum meist „gelohnt" haben dürfte 37 . 34 Mit entsprechenden Nachweisen siehe Oberloskamp (Fn. 32), Art. 1 MSA Rdn. 119 ff. 35 So vor allem O L G Karlsruhe, FamRZ 1976, 708 und BayObLG, FamRZ 1972, 578 (579); vgl. im Schrifttum vor allem Wuppermann, FamRZ 1972, 247 und 1974, 416 sowie Schlosshauer-Selbach, FamRZ 1981, 536 ff. Weitere Nachweise für diese Rechtsansicht bei B G H , FamRZ 1981, 135 (136) und bei Oberloskamp (Fn.32), Art. 1 MSA Rdn. 131. 36 IVb ZB 586/80 = B G H Z 78, 293 (Fn. 30): eben hier und bei Oberloskamp (Fn. 32), Art. 1 MSA Rdn. 130 und 133 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Judikatur und Schrifttum. Aus jüngster Zeit siehe insofern noch B G H ( 1 3 . 7 . 1 9 8 3 - IVb ZB 31/83) FamRZ 1983,1008 = N J W 1 9 8 3 , 2 7 7 5 sowie O L G Düsseldorf ( 1 6 . 1 2 . 1 9 8 3 - 1 W F 336/83) FamRZ 1984, 194. 37 Wörtlich denn auch der B G H in seiner Grundsatzentscheidung (FamRZ 1981, 135, 138): „Dem Umstand, daß die Mutter mit dem Kind gegen den Willen des (mit-)

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II. 1. Beginnen wir unseren Gang durch das geltende Recht mit der Klärung des geschützten Rechtsgutes, hängt davon doch der tatbestandliche Anwendungsbereich strafbarer Kindesentziehung maßgebend ab: Entgegen anerkanntermaßen verfehlten systematischen Standorts wird Kindesentziehung (§235 StGB) heute38 nicht mehr als Freiheitsdelikt, sondern als Angriff auf die sog. „muntgewalt" verstanden. Als geschütztes Rechtsgut sieht man nicht (mehr) die Freiheit des Minderjährigen, sondern eben die „munt", d.h. das familienrechtliche Sorgerecht, wie es in § 1626 B G B den Eltern bzw. in § 1705 B G B der Mutter eines nichtehelichen Kindes, gemäß §§1773, 1793 und 1800 B G B dem „Vormund" und nach Maßgabe der §§1909 ff B G B einem „Pfleger" gesetzlich zusteht 39 . Die literarische Kontroverse, ob § 2 3 5 S t G B daneben „auch" 40 oder sogar „mittelbar" 41 den Schutz des Minderjährigen bezweckt, scheint mir mehr ein Streit um Worte denn in der Sache berechtigter Gegensatz zu sein. Denn man ist sich allenthalben einig, daß jedenfalls die Einwilligung des Minderjährigen die Tatbestandsmäßigkeit der Kindesentziehung nicht beseitigen kann 42 . Ansonsten will der Hinweis, §235 S t G B habe „auch" oder „mittelbar" den Schutz des Minderjährigen im Auge, nichts anderes zum Ausdruck bringen, als schon der Gesetzgeber der Sorgerechtsnovelle mit dem Verzicht auf den Begriff ,elterliche Gewalt' und dem neuen Terminus ,elterliche Sorge* zum Ausdruck bringen wollte - nämlich deutlich machen, daß das elterliche Sorgerecht nicht im Interesse der Eltern und nicht um seiner sorgeberechtigten Vaters in die Bundesrepublik verzogen ist, mußte das O L G auch in diesem Zusammenhang keine ausschlaggebende Bedeutung zumessen. Nach deutschem Recht war diejenige Regelung zu treffen, die dem Wohl des Kindes am besten entsprach. Wenn daher das O L G aufgrund einer rechtsfehlerfreien Abwägung der gesamten Umstände zu dem Ergebnis gelangte, daß das Kind am besten unter der Obhut der Mutter verblieb, mußte es ihr die elterliche Sorge auch dann übertragen, wenn die Mutter bei der Trennung das Kind gegen den Willen des Vaters mit sich genommen hatte." 58 Mit älteren Nachweisen und zum Diskussions- und Streitstand früherer Jahre siehe Wolfgang Regel, „Entziehen" und „Entführen" Minderjähriger. Zur Auslegung der §§ 235, 236 StGB. Diss. jur. Münster 1975, S.7ff. 39 Siehe insofern statt vieler: Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 1, LK-Vogler, Rdn. 1, Dreher/Tröndle, Rdn. 2, SK-Horn, Rdn. 2, Lackner, Anm. 1 - jeweils zu § 235, Maurach/ Schroeder, Strafrecht Besonderer Teil: Teilband 1, 6. Aufl. 1977, S. 119, Blei, Strafrecht II, 12. Aufl. 1983, S. 81, Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.330, Otto, Grundkurs Strafrecht: Die einzelnen Delikte, 2. Aufl. 1984, S.313 und Haft, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 1985, S. 119. 40 So beispielsweise Otto, GK II (Fn.39), S.313, Blei, StR II (Fn.39), S.81 und Kohlhaas, Unsere Jugend (UJ) 1958, 320. 41 So beispielsweise L K - Vogler, Rdn. 1 und Dreher/Tröndle, Rdn. 2 - jeweils zu § 235. 42 . . .und allenfalls für die Strafzumessung bedeutsam werden kann: vgl. schon RGSt. 24, 133 ff.

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selbst willen, sondern im Interesse des Minderjährigen geschützt ist. Eben dies hat schon im Jahre 1887 das Reichsgericht gesehen, wenn es im Hinblick auf den Zweck des §235 StGB in Band 15, 340 (343) in fast schon klassischer Form formulierte: „Als solcher ist der Schutz der elterlichen oder vormundschaftlichen Erziehungs- und Aufsichtsrechte zu bezeichnen, durch deren Beeinträchtigung zugleich die Persönlichkeit des Minderjährigen vermöge der jenen Rechten entsprechenden Pflichten gegen denselben betroffen wird."

Geschützt ist also das elterliche/familienrechtliche Sorgerecht als solches und nicht nur die tatsächlich ausgeübte elterliche Gewalt, was natürlich für die Frage des tatbestandlichen „Entziehungs"-Erfolges von Bedeutung sein wird. Und da eben das Sorgerecht als solches geschützt wird, wird sein Bestand vorausgesetzt. Das OLG Stuttgart hat demnach zu Recht den Tatbestand des § 235 StGB in einem Fall verneint, wo ein Vater durch falsche Angaben vor dem Vormundschaftsgericht erreicht hatte, daß seiner geschiedenen Ehefrau das Sorgerecht über ein gemeinsames Kind gerichtlich entzogen wurde 43 . Wer diese Entscheidung mit dem Hinweis kritisiert, vom Gesetzeszweck her müßten gerade solche Fälle in den tatbestandlichen Schutzbereich des §235 StGB gezogen werden 44 , verkennt, daß es bei dieser Strafvorschrift nicht um die Interessen der Personensorgeberechtigten um ihrer selbst willen, sondern um der Erziehungsfürsorge für das Kind willen geht. §235 StGB will nicht die Usurpation eines personensorgerechtlichen Herrschaftsverhältnisses pönalisieren, sondern im Interesse des minderjährigen Kindes ein Auseinanderfallen von Sorg erecht und Sorgepflicht verhindern 45 . 2. Auf diesem Hintergrund läßt sich nun weiter klären, wer als möglicher Täter strafbarer Kindesentziehung in Betracht kommt und wer zum Kreis möglicher Opfer gehören kann: a) Die Frage nach dem Kreis tauglicher Täter ist leicht zu beantworten nämlich: grundsätzlich jeder außer dem Minderjährigen selbst und damit prinzipiell auch Eltern gegen den anderen Elternteil 46 . Der Minderjährige selbst kann, wie schon aus dem Wortlaut des §235 StGB folgt, selbstverständlich weder Täter noch, da die Vorschrift auch seinem (eines Minderjährigen!) Schutz dient, Teilnehmer sein47. Damit aber ist 43 NJW 1968, 1341 (1342). Dazu weitestgehende Zustimmung in der Literatur: vgl. L K - V o g l e r , Rdn. 9, Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 8, Dreber/Tröndle, Rdn. 7 und Lackner, Anm.3 - je zu §235 StGB. 44 So Otto, GK II (Fn. 39), S.314 und SK-Horn, §235 Rdn. 2. 45 So LK -Vogler, §235 Rdn. 9: unter Hinweis auf die überzeugenden Ausführungen von W.Regel, Diss. Münster (Fn.38), S.80ff. 46 Siehe insoweit schon die Nachweise in Fn. 3.

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auch ein Dritter - Außenstehender oder im Einzelfall auch ein Elternteil gegenüber dem anderen - straflos, wenn er einem Minderjährigen bei der Se/^stentziehung Hilfe leistet48. Nachdem das Reichsgericht die Frage, wann in diesem Sinn von einer Se/&5ientziehung gesprochen werden dürfe, auf der Basis der damals herrschenden subjektiven Theorie schon früh (RGSt. 18, 273 ff) nach dem Täterwillen beurteilt hat, wird es nach heutigen Abgrenzungskriterien für die Strafbarkeit des Dritten in diesem Punkt darauf ankommen, ob sein Tatbeitrag die täterschaftlichen Voraussetzungen des §235 StGB erfüllt oder ob nicht in Wahrheit der Minderjährige selbst den „animus auctoris" hat oder die „Zentralfigur" ist, von der die Initiative zur Tat ausgeht45. Mit Hilfe dieses - soweit ersichtlich - allenthalben anerkannten Lösungsansatzes lassen sich denn offenbar meist die uns beschäftigenden Problemfälle lösen, sofern ein von den Eltern umkämpftes minderjähriges Kind nur ein gewisses Alter der Reife erreicht hat und der Wunsch zum Wechsel von einem zum anderen Elternteil dominierend vom Kind selbst ausgeht. Jedenfalls werden aus der Praxis diesbezüglich keine besonderen Schwierigkeiten geschildert; die Praxis scheint - sicherlich insoweit nicht zuletzt dank der Hilfe des § 1671 Abs. 3 Satz 2 BGB 5 0 - in diesem Bereich auch ohne gesetzlich festgeschriebene Schutzaltersgrenze einigermaßen zurechtzukommen. b) Nach alledem kann - daran ist de lege lata kein Zweifel möglich Täter einer strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) grundsätzlich auch ein Sorgeberechtigter gegenüber einem mitsorgeberechtigten anderen Elternteil sein. Die in §196 Abs. 1 des StGB-Entwurfes von 1962 vorgesehene Tatbestandseinschränkung „wer . . . ohne selbst zur Perso-

47 Je zu § 2 3 5 StGB L K - Vogler R d n . 2 7 , Schönke/Schröder/Eser Rdn. 14, SK-Horn Rdn. 10 und Dreher/Tröndle Rdn. 2; so jedenfalls auch im Ergebnis Maurach/Schroeder, B T 2, S.90. 48 Siehe mit weiteren Nachweisen E. Schwarz, Entführungsdelikte (Fn. 6), S. 152 ff und Regel, Diss. Münster ( F n . 3 8 ) , S. 109ff; vgl. auch Otto, Festschrift für Richard Lange (1976), S. 197 (210 ff). - In § 86 J W G (Vereitelung der Fürsorgeerziehung/Freiwilligen Erziehungshilfe) begegnet uns auch eine F o r m strafbarer Teilnahme an Selbstentziehung. § 86 J W i j dient freilich nicht dem Schutz der Muntgewalt ( § 2 3 5 StGB hätte gesetzeskonkurrierenden Vorrang), sondern der Wirksamkeit öffentlicher Fürsorgeerziehung: vgl. BGH, NJW 1981, 2015. 49 Vgl. L K - V o g l e r , § 2 3 5 Rdn. 28. 50 Nach dieser durch die Sorgerechtsnovelle 1979 neu eingefügten Vorschrift gewinnt der Kindeswille dann besondere Bedeutung, wenn das über 14jährige Kind einen vom elterlichen (gemeinsamen) Vorschlag abweichenden Vorschlag macht. Siehe M K - H i n z , Ergänzung zu § 1 6 7 1 B G B Rdn. 54 ff.

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nensorge berechtigt zu sein"51 hat als negatives Tatbestandsmerkmal gerade keinen Eingang in die Neufassung des §235 StGB gefunden52. Wohl aber muß, um nunmehr vom möglichen Opfer strafbarer Kindesentziehung zu reden, dieses Opfer notwendig Inhaber bzw. Mitinhaber des elterlichen oder des entsprechenden sonstigen familienrechtlichen Sorgerechtes sein. Entscheidend ist dabei die formelle Wirksamkeit des (vollen) Personensorgerechts, mag dieses endgültiger oder nur vorläufiger Natur sein. Stellt man hinsichtlich des geschützten Rechtsgutes auf das familienrechtliche Personensorgerecht ab, wie es gesetzlich in den §§1626 ff B G B den „Eltern", in den §§1754 Abs. 1, 1626 ff B G B den Adoptiveltern53, in §§ 1705,1626 ff B G B der Mutter eines nichtehelichen Kindes, nach Maßgabe der §§1773, 1793, 1800, 1631 ff B G B dem „Vormund" und gemäß §§1909 ff, 1666 B G B schließlich einem „Pfleger" zusteht bzw. zugesprochen werden kann, so war es nur konsequent, daß das OLG DüsseIdorf Pflegeeltern nur dann in den tatbestandlichen Schutzbereich des §235 StGB gezogen hat, wenn diesen z . B . gemäß § 1666 B G B auch formal das Personensorgerecht übertragen worden war54. Diese Entscheidung hat denn auch in der Literatur soweit ersichtlich - allenthalben nur Zustimmung gefunden55, zumal dadurch jedenfalls bei Eingriffen durch Außenstehende in aller Regel auch keine Strafbarkeitslücken entstehen; denn im Entziehen eines Kindes aus dem tatsächlichen Macht- und Fürsorgebereich dieser Personen wird zugleich meist auch ein Eingriff in die Rechtsstellung des/der formal Personensorgeberechtigten liegen56. Auf der gleichen Linie tatbestandlicher Einschränkung liegt im übrigen auch das OLG Hamm", 51 Mit Begründung a. a. O. S. 350. Die gleiche tatbestandliche Einschränkung sah insoweit auch §131 Abs. 1 Alternativ-Entwurf eines StGB: Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person / erster Halbband (1970) vor. 52 Ausführlich und mit entsprechenden Nachweisen dazu Schwarz, Entführungsdelikte (Fn.6), S. 150 ff; vgl. auch Regel, Diss. Münster (Fn.38), S. 180 ff. 53 Nach §1755 Abs. 1 Satz 1 BGB erlischt für die abgebenden Eltern das rechtliche Verwandtschaftsverhältnis - mit der Folge, daß die abgebenden Eltern auch den Schutz des § 2 3 5 StGB verlieren: vgl. auch Schönke/Schröder/Eser, § 2 3 5 Rdn. 13. 54 Urt. v. 2 9 . 1 0 . 1 9 8 0 - 2 Ss 393/80 = J R 1981, 386 (mit Anm. Bottke a . a . O . S.387ff) = NStZ 1981, 103. 55 Vgl. vor allem Bottke, J R 1981, 387 ff und denselben, Strafrechtlose Pflegekinder? § 2 3 5 StGB und seine Grenzen; in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt (ZblJugR) 1981, 426ff. Siehe ferner (u.a.) Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 13, LK-Vogler, Rdn. 14, Lackner, Anm. 2, Dreher/Tröndle, Rdn. 5 und SK-Horn, Rdn. 7 - jeweils zu § 2 3 5 StGB. 56 So ausdrücklich auch B G H (23.4.1963 - 1 StR 90/63), N J W 1963, 1412 (1413) und O L G Düsseldorf, J R 1981, 386 (387); vgl. auch Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 13 und LKVogler, Rdn. 8 und 17 - je zu § 2 3 5 StGB und mit weiteren Nachweisen. 57 Beschl. v. 2 8 . 6 . 1 9 8 2 - 1 Ws 221/82 = MDR 1982, 1040 = Amtsvormund 1982, 926 = J R 1983, 513 (mit Anm. Oehler S. 514).

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wenn es erst jüngst - und zwar sehr zu Recht - ausdrücklich darauf hinweist, daß strafbare Kindesentziehung tatbestandlich nur dann vorliegt, wenn der betroffene Elternteil Inhaber des Personensorgerechts ist. Damit aber schlechterdings unvereinbar scheint mir eine Rechtsansicht zu sein, wie sie - soweit ersichtlich: mit einer einzigen Ausnahme58 - in Rechtsprechung und Literatur weitestgehend übereinstimmend vertreten wird und derzufolge der Inhaber eines elterlichen Besuchs- und Verkehrsrechts auch dann in den tatbestandlichen Schutzbereich des § 235 StGB fällt, wenn dieser Elternteil nicht (mehr) personensorgeberechtigt ist. So jedenfalls hat das Reichsgericht zum damaligen Besuchsund Verkehrsrecht nach Maßgabe von §§ 1636,1635 BGB a. F. entschieden und in der einschlägigen Entscheidung RGSt. 66, 254 (255) zur Begründung dafür ausgeführt, das Besuchs- und Verkehrsrecht des schuldig geschiedenen Ehegatten sei für diesen trotz des Verlustes des Personensorgerechts „kein bloßer Ausfluß der Blutsverwandtschaft, sondern... in der elterlichen Gewalt begründet". Diese Ansicht wurde mit gleicher Begründung durch eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1957 und zwischenzeitlich durch weitere obergerichtliche Entscheidungen bekräftigt59, und eben diese Ansicht hat im strafrechtlichen Schrifttum offenbar ebenso breite Zustimmung gefunden wie in der Familienrechtsliteratur60. Gleichwohl, diese Rechtsansicht

58 Siehe insofern Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl. 1980, Fn. 6 auf S. 828. Freilich hat Gernhuber nicht recht, wenn er a. a. O. im nächsten Satz bemerkt, die für die Gegenansicht in Anspruch genommene Entscheidung BGH NJW 1957, 1642 ( = BGHSt. 10, 376) betreffe einen „erziehungsberechtigten Elternteil". Das stimmt nicht; die genannte Entscheidung betrifft exakt den uns beschäftigenden Fall, daß Opfer ein Vater ist, dem nur das Besuchsrecht (und nicht mehr das Personensorgerecht) zusteht. Unklar, jedenfalls ohne überzeugende Begründung insoweit Maurach/Schroeder, B T 2, S. 89: „Jedoch kann die bloße Vorenthaltung des persönlichen Verkehrs zwischen dem Kinde und dem nicht sorgeberechtigten Elternteil nicht nach §235 StGB beurteilt werden; anders bei ,Vereitelung', d. h. bei positiver Entziehung des bereits eingeräumten Verkehrs (RGSt. 66, 254; BGHSt. 10, 376)." 59 BGHSt. 10, 376 = NJW 1957, 1642. Aus neuerer Judikatur ferner O L G Bremen, J R 1961, 107 und O L G Hamm, MDR 1982, 1040. 60 Aus dem strafrechtlichen Schrifttum siehe zustimmend u.a. LK-Vogler Rdn. 1 und 14, SK-Horn Rdn. 5, Dreher/Tröndle Rdn. 3; Lackner Anm.2 - jeweils zu §235 StGB; siehe ferner Blei, Strafrecht II (Fn. 39), S. 83, Bockelmann, Strafrecht Besonderer Teil/2 (1977), S. 94, Wessels, Strafrecht Besonderer Teil/1 (9. Aufl. 1985), S. 89, Welzel, Strafrecht (Fn. 39), S. 330 und recht ausführlich, teilweise mit vorsichtiger Skepsis, schließlich Regel, Diss. Münster (Fn.38), S. 28 ff. Im zivilrechtlichen Schrifttum findet BGHSt. 10, 376ff Zustimmung u.a. bei ErmanRonke Rdn. 5, Soergel-Lange, BGB (11. Aufl. 1981), Rdn. 5 und bei Staudinger-Schwoerer, B G B (10./11. Aufl. 1966), R d n . 8 f f - jeweils zu §1634 BGB; siehe insoweit auch Dolle, Familienrecht Band II (1965), S.320.

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läßt sich nicht zuletzt für die „Befugnis zum persönlichen Umgang mit dem Kind", wie sie § 1634 Abs. 1 Satz 1 B G B n. F. auch dem Elternteil zugesteht, „dem die Personensorge nicht zusteht" (!), weder mit der Überlegung, dieses Recht sei Ausfluß oder jedenfalls Restbestandteil der Personensorge61, noch dadurch halten, daß man darauf abstellt, das Sorgerecht umfasse auch die Befugnis zum persönlichen Verkehr, also sei auch diese Befugnis allein als quasi 7e*7personensorgerecht durch §235 StGB mitgeschützt62. Die Ansicht läßt sich auch nicht mit den Überlegungen stützen, wie wir sie noch in BGHSt. 10, 376 (378) finden können. Dort nämlich hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, auch das Besuchs- und Verkehrsrecht des «zcÄfsorgeberechtigten Elternteils enthalte, eben weil die Befugnis zum persönlichen Verkehr aus dem Sorgerecht folge, ein Erziehungsrecht, und mit dem weiteren Hinweis, daß es „gerade der Zweck des §235 StGB (sei), dieses Erziehungsrecht zu schützen", den tatbestandlichen Schutzbereich des §235 StGB von hier aus auch auf das bloße Besuchs- und Verkehrsrecht erstreckt. Alles dies stimmte m. E. schon vor der Personensorge-Novelle des Jahres 1979 nicht, und es ist vor allem und jedenfalls nach Inkrafttreten des neuen Personensorgerechts (1. Januar 1980) schon familienrechtlich einfach nicht (mehr) richtig. So geht der Zweck des persönlichen Umgangsrechtes nach § 1634 B G B alter wie neuer Fassung anerkanntermaßen nur dahin, „dem Verkehrsberechtigten zu ermöglichen, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Aussprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Kinde aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, aber auch dem Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen"63. Selbst die Autoren, die das Recht zum persönlichen Umgang nach wie vor als Restbestandteil des Personensorgerechts begreifen, stellen ausdrücklich klar, daß der verbliebene Rest an Personensorge ausschließlich der Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen und gegenseitigem Liebesbedürfnis, doch keinesfalls der Erziehung dient und damit weder ein Erziehungsrecht noch eine Erziehungspflicht beinhaltet64. Im übrigen ist es heute nur noch eine Minderheit, die auch die ,Befugnis zum persönlichen Umgang mit dem Kind' (§1634 B G B n. F.) - wie einst noch das Reichsgericht65 das So vor allem RGSt. 66, 254 ff und BGHSt. 10, 376 ff. In dieser Richtung wohl LK-Vog/er, § 2 3 5 Rdn. 1. 63 So wörtlich schon B G H Z 42, 364 (371). Siehe auch B G H Z 51, 219 (222), B G H N J W 1984, 1951 (1952) sowie BVerfG 31, 194 (206). 64 So nachdrücklich Gernhuber, Familienrecht, S. 830 und MK-Hinz, §1634 Rdn. 13; vgl. auch Palandt-Diederichsen, § 1634 Anm. 1 b. 65 Siehe vor allem RGZ 153,238 (241 ff); zuvor schon RGZ 141,319 (320) und R G Z 64, 47 (49). 61

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Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind"

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damalige Besuchs- und Verkehrsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils - als Restbestandteil des Personensorgerechts begreift66. Man sollte sich in diesem Zusammenhang zudem vor Augen führen, daß es dem Reichsgericht bei Herleitung des Besuchsrechts aus der Personensorge vor allem darum ging, angesichts fehlender spezialgesetzlicher Möglichkeiten erziehungs-ungeeignete Eltern auch vom Umgang mit dem Kind ausschließen zu können. Dieser Konstruktion bedarf es heute nicht mehr, da §1634 BGB n. F. ausdrücklich Einschränkungen des Rechts zum persönlichen Umgang aus Gründen des „Kindeswohles" vorsieht67. Nach alledem wird die Befugnis des nichtsorgeberechtigten Elternteils zum persönlichen Umgang mit dem Kind - so jedenfalls die herrschende Meinung im Schrifttum und so vor allem die Rechtsprechung68 - heute überwiegend aus dem natürlichen Elternrecht abgeleitet. Im übrigen erscheint dieser Streit um die rechtstheoretische Begründung des Verkehrsrechtes eher müßig69 - und zwar /eweiswürdigung betrifft. Es ist aber unzweifelhaft, daß das System der freien Beweiswürdigung 26 auch die freie Beweisführung 27 gewährleisten soll und gewährleistet 28 . In der Lehre wird beim Gebrauch des Begriffs der freien Beweiswürdigung dann, wenn er zur Bezeichnung des entsprechenden Beweissystems dient, sehr oft - zur Vermeidung von Mißverständnissen - betont, dieser Begriff bezeichne dasjenige Beweissystem, in dem der Richter bei der Beweisführung und der Beweiswürdigung frei ist. c) Das den Begriff des „ethischen Beweissystems" kennzeichnende Wort „ethisch" 29 läßt - abstrakt gesehen - keine genaue Inhaltsbestimmung zu. Der Kenner der historischen Entwicklung versteht darunter aber die Abschaffung legaler Beweisregeln, die Gewährung einer richterlichen Bewegungsfreiheit bei der Beweisführung etc. Das Wort „ethisch" verdeutlicht insofern die Überlassung der Verantwortung für

Beide Freiheiten gehören zum neuen System (siehe oben 1 b, c), Patarin, S. 51. Dieser Begriff wird im deutschen Raum vorgezogen. G. Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S.3 spricht vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung und kennzeichnet seine Arbeit als „allgemein verfahrensrechtlich angelegt". Einen vergleichenden Uberblick gibt Nagel, S. 72 ff. 24 Dedes, S. 267. 25 So z.B. versteht G. Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S.323ff, den Begriff der Beweiswürdigung. 26 Es ist auch bemerkenswert, daß das Gesetz von „freier Überzeugung" und nicht von „freier Beweiswürdigung" spricht. Obwohl Walter dies auf S. 86 ff richtig betont, baut sein Gedankengang auf der grammatischen Auslegung des Begriffs „Beweiswürdigung" auf. 27 Nobili, II principio del libero convincimento del giudice, 1974, S.38. S. auch in Spanien, Volkmann-Schluck, Der spanische Strafprozeß, 1979, S. 133 ff. 28 Patarin, S.51; Meurer, S. 364 ff. 2 ' Meiner Meinung nach ist das Wort „ethisch" besser am Platze. Walter S. 69, spricht von den „moralischen" Beweisen. 22

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eine geordnete Durchführung des Beweisverfahrens an den Richter. Dieses Wort spielt insoweit eine wichtige Rolle, als damit Inhalt und Reichweite der richterlichen Freiheit angegeben werden und klargestellt wird, daß die Verantwortung von den gesetzlichen Bestimmungen auf den Richter übertragen ist30. Richtiger scheint nach dem oben Gesagten der Begriff „ethische Beweise" 31 zu sein, um den Kern des Beweissystems anzugeben 32 . Der Begriff der freien Beweiswürdigung ist dagegen zutreffender, wenn man nur die eigentliche Beweis Würdigung vor Augen hat. d) Man könnte auch den Begriff der freien Beweisführung und Beweiswürdigung einführen 33 , der das gesamte Beweisverfahren umfassen würde. Jedoch dürfte dieser Begriff mancherorts als zu weitgehend betrachtet werden. II. Die freie Überzeugung 1. Die historischen

Grundlagen

a) Die freie Uberzeugung als Interpretation des Begriffs der conviction intime ist - für unsere Epoche 34 - durch die Gesetzgeber der französischen Revolution geschaffen worden 35 , die die Geschworenenbank eingeführt haben. Die conviction intime sollte den Geschworenen 36 die Möglichkeit geben, zutreffend Recht zu sprechen. Die Geschworenen waren als nicht-beamtete Richter nicht in der Lage, gesetzliche Bestimmungen auszulegen und anzuwenden. Die conviction intime sollte ihnen diese Möglichkeit gewähren. Nach Art. 342 37 des Code d'instruction criminelle 38 von 180839 «la loi ne demande pas compte aus jurés des moyens par lesquels ils se sont convaincus; elle ne leur prescrit point de règles desquelles ils doivent faire particulièrement dépendre la plénitude et la suffisance d'une p r e u v e . . . La loi ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute

30 Für die Verbindung des Beweissystems mit dem Prinzip der Wahrheitserforschung: Nobili S. 32, 40, 450 ff. 31 So auch der Titel des Art. 177 der griechischen StPO. 32 Dedes, S.268. 33 Dazu führt die Auffassung von Patarin, S. 51, der von einer zweifachen Regel spricht, deren Bestandteile die Freiheit der Beweise und die conviction intime sind. 34 In einer älteren Epoche war sie im altgriechischen Recht bekannt. Vidal-Magnol, Cours de droit criminel II, 1949, S. 886; Gillieron, S.201. 35 Gillieron, S. 198, identifiziert les preuves morales mit der intime conviction. 36 Patarin, S. 37. 37 G. Walter, S. 1 m. w. Nachw. 38 So auch der Inhalt des entsprechenden Artikels des Dekrets von 1791. 39 Zur Entwicklung im Schweizerischen Recht: Gillieron, S. 201 ff.

Grundprobleme des Beweisverfahrens

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la mesure de leurs devoirs. Avez-vous une intime conviction». Die conviction40 intime deckt nach dem Wortlaut dieser Bestimmung das ganze Beweisverfahren ab, denn darunter fallen «les moyens, la plénitude et la suffisance d'une preuve». b) Es ist also nicht nur die historische Herkunft der conviction intime (die das System der legalen Beweise ersetzt hat), sondern auch der Text der entsprechenden Bestimmungen, die uns klar machen, daß die conviction intime Beweismittel41, ordnungsgemäße Beweisaufnahme und Beweiswürdigung42 einschließt43. Die Hervorhebung dieser Punkte, die sich auf das gesamte Beweis verfahren beziehen, zwingt zu der Annahme, daß die conviction intime nunmehr das neue Beweissystem44 sein sollte45. 2. Die weitere

Entwicklung

Diese anfängliche Figur des „neuen" Beweissystems hatte nicht lange Gültigkeit. Erstens, weil die Geschworenengerichte nur einen kleinen Teil der Straffälle aburteilten, während der größte Teil von den Gerichten mit beamteten Richtern46 verhandelt wurde, deren Aufgabe eben die Auslegung und Anwendung gesetzlicher Bestimmungen war. Zweitens, weil die Verpflichtung zur Begründung der Urteile den Charakter einer pauschalen Begründung überschritten hat, um die Uberprüfung durch höhere Gerichte zu ermöglichen47. Drittens, weil nach fast allgemeiner Ansicht die Sachverhaltsaufklärung nicht dem freien Ermessen der Geschworenen oder Richter unterliegt. Die ordnungsgemäße Sachverhaltsaufklärung bildet einen Hauptpunkt in der Uberprüfung durch die höheren Gerichte und wird hierfür von erheblicher Bedeutung bleiben48.

Über diesen Begriff Levy-Bruhl, La preuve judicidaire, Paris 1964, S.21 ff. Nach Vidal-Magnol II, S. 1043; Patarin, S.37, wird nach dem neuen System die Zulässigkeit und Würdigung der Beweismittel nicht vorausbestimmt. Vgl. VolkmannSchluck S. 136, 146/7. 42 Also alle diejenigen Punkte, die von den Bestimmungen des legalen Beweissystems geregelt waren, Vidal-Magnol II, S. 1042 Anm. 3; Patarin, S. 37. 43 Walter hat daher auf den Text der beiden Zitate zu Beginn seiner Arbeit nicht genau geachtet. 44 Von System sprechen: Vidal-Magnol II, S. 1037; Gillieron, S. 198 ff; Patarin, S.51. 45 Dies hat G. Walter, S. 68 ff, übersehen, mit der Folge, daß seine historische Darstellung lückenhaft ist. 46 Eine Sonderfrage stellen die gemischten Gerichte dar. 47 Über die ursprüngliche Figur und die nachfolgende Entwicklung: Vidal-Magnol II, S. 1043, Anm. 3; Nagel, S. 72ff. 41 Niese, Zur Frage der freien richterlichen Überzeugung, GA 1954, S. 148 ff. 40 41

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3. Die Einschränkungstendenzen Durch diese Aspekte war die weitere Entwicklung vorausbestimmt. Lehre und Rechtsprechung haben nach den Regeln gesucht, die die richterliche Tätigkeit bestimmen sollten. Ergebnis dieser Bemühungen ist die Einschränkung richterlicher Freiheit und die Errichtung von Grenzen, die dem allgemeinen Rechtsgefühl nach einem geordneten Verfahrensablauf besser entsprechen. Es ist auffallend, daß diese Einschränkungen ein Phänomen in all den Ländern darstellen, die das „neue" System übernommen haben. Dies beweist die Notwendigkeit solcher Prinzipien49, die das Beweisverfahren - wenn auch elastischer regeln sollen50. Die Einschränkungstendenzen sind zwei Richtungen gefolgt: Einer gemäßigteren, der französischen, die Einschränkungen in der Erweiterung der Begründungsanforderungen gesucht hat51. Einer strengeren, der deutschen, die jegliche Freiheit im Bereich der Beweisführung negiert und nur im Bereich der Beweiswürdigung eine Art von Freiheit akzeptiert, deren Charakter allerdings sehr umstritten ist. Die freie Uberzeugung als Begriff eines Beweissystems ist kein eindeutiger Begriff und läßt viele Deutungen zu52. Zur Untersuchung und Uberprüfung dieser Auffassungen ist die Analyse des Beweisverfahrens erforderlich, denn die Unterschiede innerhalb der Auffassungen beruhen auf Kontroversen über die Gestalt des Beweisverfahrens. Vorher sind aber einige Ausführungen über den Begriff der freien Beweiswürdigung selbst angebracht. III. Die freie Beweiswürdigung 1. Die historischen

Grundlagen

Die trotz des auch damals erhobenen Widerstands erfolgte Abschaffung des legalen Beweissystems durch die französische Revolution sollte zu einer völligen Entbindung des Richters von jeglichen Einschränkun-

4 ' Gillieron, S. 208, meint, daß damit zum System der legalen Beweise zurückgekehrt werde. 50 Die Frage wird auch von Patarin, S. 53 ff, behandelt. Er ist der Meinung, daß gewisse Bestimmungen der wissenschaftlichen Erkenntnis nützlich sein können. 51 Es ist außerdem darauf hinzuweisen, daß, obwohl Art. 342 des Code d'instruction criminelle von 1808 inzwischen nicht mehr in Kraft ist, Lehre und Rechtsprechung in Frankreich dennoch die allgemeine Geltung des Prinzips der conviction intime anerkannt haben. Vgl. Patarin, S.37; siehe aber auch Art. 427 des Code de Procédure Pénale (seit 1958). 52 Eingehende Darstellung bei C. Walter, S. 68 ff.

Grundprobleme des Beweisverfahrens

935

gen führen. Das einzige, was von ihm verlangt wurde, war die Bildung einer conviction intime53. Dieser Gedanke ist für die Geschworenengerichte angemessen, für die die Abschaffung ja auch erfolgt ist54. Für die übrigen Gerichte geht sie zu weit, da die Beweisführung und Beweisaufnahme nicht von sämtlichen Regeln entbunden werden können55. Auch die Verpflichtung zu einer eingehenden Urteilsbegründung hat langsam aber sicher zur Einschränkung der anfänglich zu weit gehenden richterlichen Freiheit geführt56. Am stärksten vertritt diese Einschränkungstendenzen die deutsche Wissenschaft 57 , die den Begriff der freien Beweiswürdigung geschaffen hat. Die deutsche Lehre hat, wie bereits erwähnt worden ist, von Anfang an einen eigenen Weg eingeschlagen. Obwohl alle Gesetzestexte den Begriff der freien Uberzeugung brauchen, hat die Wissenschaft den der freien Beweiswürdigung vorgezogen. Dies hat mehrere Gründe: Erstens die anfänglich rein subjektive Auslegung des Begriffs der Uberzeugung. Zweitens die Ablehnung der Auffassung, wonach der Begriff der Uberzeugung das gesamte Beweisverfahren erfaßt. 2. Die Ansichten

in der deutschen

Wissenschaft

Von der deutschen Wissenschaft wird das Beweisverfahren in zwei oder mehr Bereiche unterteilt, deren wichtigste die Beweisführung und Sachaufklärung einerseits sowie die Beweiswürdigung andererseits sind. Im erstgenannten Bereich wird ein Ermessensspielraum mit Ausnahme einiger Grenzfälle nicht zugestanden. Vielmehr hat der Richter die Tat umfassend aufzuklären (Aufklärungspflicht) 58 . Im zweiten Bereich wird ein solcher Ermessensspielraum angenommen, wobei über dessen Ausgestaltung jedoch viele gegensätzliche Ansichten bestehen. Die deutsche Wissenschaft hat daher den Begriff der freien Beweiswürdigung vorgezogen, den sie wörtlich auslegt, so daß er nur die Würdigung der Beweise selbst erfaßt59. Nicht überzeu53 Zur historischen Entwicklung: Nobili, II principio del libero convincimento del judice, 1974, und Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979; auch Kässer, S. 166ff. 54 Patarin, S. 37. 55 G. Walter, S. 69 ff; Kässer, S. 38 ff. 5i G. Walter, a. a. O. 57 Die Reichweite dieses Problems kann man erst erfassen, wenn man die beiden Arbeiten von Walter und Kässer, S. 57 ff, studiert. Zu den Auffassungen von Peters, Roxin und Stree vgl. G. Walter, S. 136 ff. 58 Peters, 3. Auflage, S.610; Hahn, Materialien zur StPO I, II (1885/6), S.28, 29, 52 f, 2431, 1900, Fn.5; Köhler, NJW 1979, S.349; Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, §29. 59 Hierin ist meines Erachtens der Grund für die deutsche Auffassung zu finden.

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gend erscheint deswegen die Ansicht, daß dieser Begriff, wie er im deutschen Recht ausgelegt wird, gleichbedeutend mit der freien Uberzeugung60 (der conviction intime der französischen Gesetzgebung) sei61. Die weitere Untersuchung des Problems hängt daher von der Analyse der Einzelheiten des Beweisverfahrens ab, die ein Beweissystem abdekken sollen62. IV. Umfang, Gestalt und Phasen des Beweisverfahrens 1. Der Umfang des Beweisverfahrens Das Beweisverfahren der Hauptverhandlung beginnt mit der Anführung des ersten Beweismittels63 und endet mit dem Beginn der Verkündung64 des Urteils. Es umfaßt also weitgehend die gesamte Verhandlung, denn außerhalb des Beweisverfahrens stehen lediglich der Aufruf zur Sache und die Verkündung des Urteils. 2. Die Gestalt des Beweisverfahrens Das Beweisverfahren wird vom Gesetz als „Verhandlung" bezeichnet. Es enthält die Einführung der Beweismittel, die Angabe der Beweistatsachen, die Stellungnahme der Prozeßbeteiligten etc. Die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen setzen voraus, daß die Beweismittel bereits gesammelt sind und nur ihre Einführung und Uberprüfung der Verhandlung vorbehalten bleiben. In den meisten Fällen wird sich jedoch ergeben, daß diese Sammlung infolge mangelnder Sorgfalt oder auf Grund fehlender Kenntnisse nicht vollständig ist. Diese Feststellung hat die Unterbrechung oder Vertagung65 der Sache und die Fortführung der Verhandlung mit sämtlichen Beweismitteln zur Folge. Ein korrektes Beweis verfahren setzt die Einführung der (wichtigsten) Beweismittel und die ständige Uberprüfung ihrer Vollständigkeit voraus.

60 So aber wiederum G. Walter, S. 86 ff, obwohl er selbst auf S. 2 von zwei Polen spricht, zwischen denen das Prinzip der freien Beweiswürdigung angesiedelt sei. 61 So zutreffend Nagel, S. 79. 62 Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., S. 73 spricht zwar nicht von einem System, betont aber, daß der Grundsatz „im ganzen Verfahren und für alle Organe gilt". G. Walter, S. 350 f, sagt gegen Ende seiner Arbeit: Das Beweisrecht insgesamt, da sich der Grundsatz freier Beweiswürdigung nicht isoliert von seiner Umhüllung durch das ganze Beweissystem betrachten läßt; vgl. auch Patarin, S.37. 6J So nach Art. 350, 351 der griechischen StPO. 64 Zu dieser Problematik Dedes, Strafverfahrensrecht, 6. Aufl., S. 483, 504. 65 Sie ist nicht immer notwendig.

Grundprobleme des Beweisverfahrens

3. Phasen des

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Beweisverfahrens

Das Beweisverfahren bietet eine kontinuierliche Abwechslung von Eindrücken, vorläufigen Urteilen und vorläufigen Überzeugungen, die den Gang des Verfahrens unaufhörlich abändern. Hierfür gibt es vielfältige Beispiele: Im Laufe der Vernehmung eines Zeugen wird festgestellt, daß ein bislang unbekannter Kronzeuge existiert, der vorgeladen und vernommen werden muß. Die Vernehmung eines weiteren Zeugen widerlegt bisherige Eindrücke und nötigt zu einer erneuten Uberprüfung bereits erhobener Beweise. Die Feststellung einer Tatsache widerlegt eine bisherige Beweiswürdigung usw. Diese unaufhörliche Abänderung" könnte zu dem Schluß führen, daß eine Unterteilung des Beweisverfahrens in Teile oder Phasen nicht zu befürworten ist. Trotz aller Bedenken erscheint eine Unterteilung wegen der Verschiedenartigkeit der Funktionen einer jeden Phase jedoch nötig und begrüßenswert. Eine systematische und logische Ordnung des Beweisverfahrens führt zu folgenden Ergebnissen: Die Verhandlung über die Beweismittel setzt deren sachgerechte Sammlung voraus. Die Verantwortung hierfür trägt das erkennende Gericht. Die Uberprüfung der gesammelten Beweismittel auf Vollständigkeit und ihre eventuelle Vervollständigung stellt nun die erste Phase des Beweisverfahrens dar. Die zweite Phase wird durch die Erhebung der Beweise gebildet, die unter den Grundsätzen der Öffentlichkeit, der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit sowie der Konzentration erfolgt67. Sie ist eine der schwierigsten und wichtigsten Aufgaben innerhalb des Beweisverfahrens. Die dritte Phase wird durch die Würdigung der erhobenen Beweise gekennzeichnet und als vierte folgt die Phase der Uberzeugungsbildung. Nach einer anderen Auffassung sind die erste und zweite sowie die dritte und vierte Phase zu konzentrieren, so daß man zu einer Zweiteilung gelangt. Die logische Basis und die funktionelle Verschiedenheit der vier Phasen sind jedoch ernsthafte Gründe, die für eine Vierteilung sprechen. Die mit einer zeitlichen Trennung eventuell verbundenen Schwierigkeiten oder sogar mögliche Überschneidungen der verschiedenen Phasen können - wie mir scheint - die Verschiedenartigkeit ihrer Funktion nicht widerlegen. Die Eigenständigkeit der Problematik jeder dieser Phasen68 ist übrigens seit geraumer Zeit allgemein anerkannt". Vgl. Grunsky, S. 4 4 7 ff. Zu deren Bedeutung: Nagel, Die Grundzüge des Beweisrechts im europäischen Zivilprozeß, 1967, S. 53 ff; Gössel § 2 0 C , § 2 2 A . 68 In Art. 177 der griech. S t P O kann man unterscheiden zwischen a) Feststellung von Tatsachen, b) Würdigung der Beweise, c) Bildung der Überzeugung. Gössel, § 30, spricht von freier Beweiswürdigung und Überzeugung. 66

67

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V. Ergebnis 1. Die Phasen des Beweisverfahrens und der Begriff der freien Uberzeugung a) Die Existenz dieser vier Phasen des Beweisverfahrens ist der Grund dafür, daß der Begriff der freien Uberzeugung von der Wissenschaft zur Kennzeichnung des Beweisverfahrens nicht akzeptiert wird. Wer einen komplexen Beweisverfahrensbegriff bejaht, kann mit dem Terminus der freien Überzeugung hauptsächlich nur die vierte Phase bezeichnen. Auch wer einen gemäßigteren Weg einschlägt und eine Zweiteilung des Beweisverfahrens vornimmt, kann hiermit wiederum nur dessen zweiten Teil kennzeichnen. Der Begriff der freien Uberzeugung könnte das gesamte Beweisverfahren nur dann wiedergeben, wenn dieses einphasig wäre und die freie Uberzeugung die Rolle eines allgemeinen Prinzips spielte. Dieser Gedanke war in der Zeit der französischen Revolution das eigentliche Motiv für die Übernahme des Begriffs, dergestalt, daß die Wahrheit nicht durch vorgegebene Beweisregeln gefunden und erzielt werden kann, sondern auf die Verantwortung und das Gewissen der Richter gestützt werden soll70. b) Die Erkenntnis der mit dieser Lösung verbundenen Gefahren hat in kurzer Zeit zu einer Einschränkung der erteilten Befugnisse geführt71. Die verschiedenen Phasen des Beweisverfahrens zwingen nun dazu, den Begriff der freien Überzeugung auf seinen eigentlichen Bereich zu beschränken, d. h. auf den Bereich, in dem die Überzeugung die wichtigste Rolle spielt. c) Die Unmöglichkeit der Erfassung des gesamten Beweisverfahrens durch den Begriff der freien Überzeugung hat manche Wissenschaftler zur Schaffung eines ergiebigeren Begriffes veranlaßt. So ist der Begriff der freien Beweiswürdigung72 entstanden73. Wir werden uns im folgenden diesem Begriff zuwenden. " So ist zu erklären, daß Aufklärung und Würdigung getrennte Fragen darstellen, obwohl sie beide dem Bereich der freien Beweiswürdigung unterfallen. Ein Rückgriff auf diesen Grundsatz ist daher nicht immer „fälschlicherweise" gemacht oder sogar fehlerhaft, wie dies G. Walter, S. 295, meint. 70 Patann, S.37; Gillieron, S. 199 ff. 71 Eine weitere Einschränkung wird in Frankreich von Patarin, S. 53 ff, gefordert. Vgl. Levy-Bruhl, S. 49. Für die Schweiz vgl. Gillieron, S. 205 ff. 72 G. Walter behandelt diese Frage nicht, denn er folgt der Ansicht, die für eine Identifizierung beider Begriffe eintritt. 75 Im Vergleich zum Begriff der freien Uberzeugung deckt die freie Beweiswürdigung eine zentralere Phase des Beweisverfahrens ab, obwohl sie die Rolle eines allgemeinen Prinzips nicht so gut erfüllen kann wie die freie Uberzeugung.

Grundprobleme des Beweisverfahrens

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2. Die Phasen des Beweisverfahrens und der Begriff der freien Beweiswürdigung a) Das System der legalen Beweise hat durch seine Regeln das gesamte Beweisverfahren abgedeckt, d. h. sowohl die Beweisführung und Aufnahme der erlaubten Beweismittel als auch die Beweiswürdigung mit der nachfolgenden Entscheidungsfindung. Die Abschaffung dieser Regeln durch das System der freien Uberzeugung schafft den Eindruck einer völligen Freiheit für alle Phasen des Beweisverfahrens. So entsteht die Frage nach der Grenze dieser Freiheit innerhalb der einzelnen Phasen. b) Die Antwort der deutschen Wissenschaft geht dahin, für die erste und zweite Phase des Beweisverfahrens viele Zulässigkeitsschranken 74 abzuschaffen. Dies bedeutet aber keine eigentliche Freiheit, da die Verpflichtung des Richters zur Aufklärung der Tat seine Verantwortung erhöht hat. c) Im System der legalen Beweise konnte der Richter so vorgehen, wie es ihm die vom Gesetz vorgenommene Würdigung der Beweise vorschrieb75 und allein auf ein Geständnis oder die Aussage zweier Zeugen sein Urteil stützen. Im System der freien Beweiswürdigung wird dagegen (zumindest) auf die sorgfältige Sammlung der wichtigsten Beweismittel entscheidender Wert gelegt76. d) Die Aufklärungspflicht des Richters findet ihre Grenze in den Bestimmungen der StPO über die Ablehnung 77 von Beweisanträgen78. Die Ablehnung eines Beweisantrags muß sich auf diese Bestimmungen stützen 79 . Die freie Uberzeugung kann dort nur bei sehr spezifischen Auslegungsproblemen als letzte Stütze, als Richtschnur 80 , wieder eine Rolle spielen81. e) Für die dritte und vierte Phase des Beweisverfahrens, die Beweiswürdigung und die Überzeugungsbildung, genießt der Richter größere 74 Wenn man von einer Abschaffung eines numerus clausus der Beweismittel nicht sprechen will. 75 Gillieron, S. 199. 76 Deshalb ist der Gedanke einer Trennung der Aufklärungs- von der Würdigungsfrage angebracht. 77 Art. 333, §2, 334, §2 der griech. StPO und §244 III, IV der deutschen StPO; Gössel §29B. 78 Grunsky, S.441, demzufolge „ein Beweisantrag nur unter gewissen, sehr engen Voraussetzungen abgelehnt werden darf". 79 Grünwald, Honig-Festschr., 1970, S. 53 ff. 80 Sie spielt also bei Grenzfällen noch immer eine Rolle. 81 Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., S. 73, sagt z.B.: „Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung hat zwar in erster Linie für die Entscheidung Bedeutung, die aufgrund der Hauptverhandlung ergeht; er gilt aber im ganzen Verfahren und für alle O r g a n e . . . " .

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Bewegungsfreiheit, da die Würdigung der Beweise, mit einigen Ausnahmen, ihm obliegt. Doch sind auch gegen diese Freiheit manche Stimmen laut geworden 82 . f ) Der Beweiswürdigung folgt die Uberzeugungsbildung. Sie ist so eng mit der Würdigung verbunden, daß sie sehr oft als identisch mit ihr betrachtet wird. Hierzu verleitet vielleicht auch der Begriff der freien Beweiswürdigung82". Die Identifizierung der zwei Phasen scheint mir aus mehreren Gründen nicht richtig zu sein, denn - der systematische Aufbau des Beweisverfahrens erfordert die analytische Figur, d. h. die Differenzierung in Sammlung, Verhandlung, Würdigung und Uberzeugung; - die methodische Betrachtung des Beweisverfahrens führt zu demselben Ergebnis, da die Würdigung logische Voraussetzung der Uberzeugung ist; - die Uberprüfung der Gerichtsurteile, insbesondere durch das Revisionsverfahren, differenziert zwischen Mangel der Begründung und mangelhafter Uberzeugung. Die erstere stellt einen verfahrensrechtlichen Revisionsgrund dar, während die zweite einen materiell-rechtlichen Grund abgibt; - die theoretische Unterscheidung der Phasen ist für die Einordnung der entsprechenden Probleme und folgerichtig auch für ihre Lösung notwendig. Diese Feststellungen ergeben die Antwort auf die Frage, warum der Begriff der „freien Beweiswürdigung" 83 nicht das gesamte Beweisverfahren abdecken kann (obwohl er im Vergleich zum Begriff der freien Uberzeugung vielleicht aussagekräftiger ist). Zur Kennzeichnung des Beweissystems ist der Begriff der ethischen Beweise ergiebiger, denn er umfaßt ohne Schwierigkeiten das gesamte Beweisverfahren. 3. Schlußbetrachtungen Dieses Ergebnis setzt voraus, daß ein einheitlicher Begriff eines Beweissystems noch notwendig ist. Die Differenzierung in vier Phasen des Beweisverfahrens ermöglicht demgegenüber eine andere Lösung, und zwar die gegenwärtig im deutschen Schrifttum vertretene, derzufolge eine selbständige und differenzierende Antwort für jede einzelne Phase vorgezogen wird. Diese Lösung entspricht der wissenschaftlichen 82

G. Walter, S. 68 ff; Gössel, §30 C III. " Vgl. Gössel, § 3 0 C . 83 Man kann auch nicht behaupten, daß die Würdigung der Beweise den zentralen oder wichtigsten Teil des Beweisverfahrens ausmacht, da die sachgerechte Aufklärung einen ebenso wichtigen Gegenstand des Beweisverfahrens bildet. 82

Grundprobleme des Beweisverfahrens

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Entwicklung, die eine vertiefende Problematisierung des Beweisverfahrens ermöglicht und deswegen zu begrüßen ist. B. Prinzipien des Beweisverfahrens I. Die allgemeinen Bestimmungen des Beweisverfahrens 1. Einleitung Das Hauptgewicht des Strafverfahrens liegt auf der Hauptverhandlung, in der die angeklagte Tat abgeurteilt wird84. Den wichtigsten Teil der Hauptverhandlung bildet wiederum das Beweisverfahren85 als ihr Schwerpunkt86. Diese Bewertung des Beweisverfahrens unterstreicht die Bedeutung, die dem Beweis in der Hauptverhandlung zukommt 87 . Wenn das gesamte Verfahren einen fair trial88 darstellen soll, dann muß ein wesentlicher Teil dieser Verpflichtung sich auf den wichtigsten Teil der Hauptverhandlung, das Beweisverfahren, beziehen. Oder umgekehrt: das Beweisverfahren in der Hauptverhandlung muß ein faires Verfahren garantieren, damit das ganze Verfahren als ein fair trial bezeichnet werden kann. Dies setzt Prinzipien voraus, die das Beweisverfahren normieren 8 '. 2. Die allgemeinen

Bestimmungen

a) Prinzipien, die das Beweisverfahren normieren, sind gewöhnlich die allgemeinen, einleitenden oder sonstigen Bestimmungen, die als Prinzipien bezeichnet werden können. Ein erster Blick in die einschlägigen Bestimmungen der Strafprozeßordnungen beweist deren Inhaltsarmut. Die Bestimmungen der ZPO enthalten hinsichtlich des Beweissystems, der Beweismittel und der Beweislast generelle Aussagen90. Ahnliches gilt für die entsprechenden Bestimmungen der StPO". Diesen allgemeinen 84

Roxin,

Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., S . 2 3 6 .

Oben IV 1, 2 ; Levy-Brubl, L a preuve judiciaire, 1964, S. 7, 23, gibt dem Beweis die Bezeichnung „Seele des Verfahrens". 86 Abgesehen von einigen Ausnahmen wie der Beendigung einer Sache durch Gerichtsbeschluß im Zwischenverfahren. 87 G. Walter, S. 7; Lüderssen, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Beweisrechts, Z S t W 85, S. 288 ff und Kässer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1974, S. 1, betonen die grundsätzliche Bedeutung des Beweises als Voraussetzung einer richtigen Entscheidung. 85

88 B V e r f G E 26, 71 = N J W 1969, 1423; B G H S t . 24, 131; X I I . Internationaler Kongreß für Strafrecht, Thema 3 N r . 1; Gössel, § 2 0 B . 89 Levy-Bruhl, S. 7, bringt sein Erstaunen zum Ausdruck über die ungenügende Erforschung der Probleme und Grundsätze des Beweisverfahrens. 90 Art. 3 3 5 (351) ff für die griech. Z P O . Die geklammerten Zahlenangaben enthalten die alte Nummerierung, die man in dem W e r k der Professoren Baumgärtel/Rammos „Das griechische Zivilprozeß-Gesetzbuch", 1969, findet. 91

Art. 177 ff der griech. StPO.

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folgen besondere Regelungen92 über die Verwendung der betreffenden Beweismittel". b) Ein oberflächliches Lesen dieser Bestimmungen erweckt den Eindruck eines breiten Spielraums: für die Parteien des Zivilprozesses wegen der dort geltenden Verhandlungsmaxime94, und für den Richter im Strafprozeß wegen der Geltung des Grundsatzes der freien Überzeugung95. c) Dieser Eindruck ist trügerisch und zumindest so nicht richtig, da der Richter auch im Zivilprozeß trotz Geltung der Verhandlungsmaxime nicht völlig von der Erforschung der materiellen Wahrheit96 entbunden ist97 und er im Strafprozeß, in dem die Inquisitionsmaxime gilt, von dieser Verpflichtung nicht entbunden werden kann. d) Prinzipien, die als Grundvoraussetzungen eines geregelten Beweisverfahrens zu dienen haben, werden vom Gesetz für das Beweisverfahren unmittelbar nicht aufgestellt98. Sie werden als Prinzipien der Hauptverhandlung aufgeführt, deren Bedeutung aber hauptsächlich im Beweisverfahren liegt99. e) Lehre und Rechtsprechung bemühen sich seit geraumer Zeit, solche Prinzipien mittels Auslegung der einschlägigen Bestimmungen zu ermitteln100 oder selbständig zu erstellen. Einen Beweis hierfür liefert die umfangreiche Literatur und Rechtsprechung101 zur Aufklärungspflicht102 in der Bundesrepublik Deutschland103.

92 Art. 180-238 der griech. StPO und Art. 3 5 2 ^ 6 5 (368-482) der griech. ZPO. "Allgemeine Grundsätze oder Prinzipien, die speziell das Beweisverfahren betreffen, werden nicht aufgeführt. 94 Art. 106 (107) der griech. Z P O (obwohl der Richter aufgrund von Art. 107 (108) auch eigene Initiative ergreifen kann. Dasselbe gilt eigentlich für alle europäischen Gesetzgebungen, Nagel, S. 40 ff. 95 Art. 177 der griech. StPO. % Vgl. Krauss, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, Festschr. für Schaffstein, 1975, S. 411; Nagel, S. 83 ff. 97 Nagel, Die Grundzüge des Beweisrechts im europäischen Zivilprozeß, 1967, S. 40 ff und § 139 ZPO. 9« Vgl. Grunsky, S.411, 435, 449. 99 Vgl. Nagel, S. 53 ff. 100 Uber die Verfahrensgrundsätze vgl. Grunsky, S. 16. 101 Die kaum noch zu überschauen ist. 102 Wessels, JuS 1969, S. 1 ff; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976; Engels, Aufklärungspflicht, 1979. 103 Die Aufklärungspflicht wird nur beispielhaft erwähnt. Diese Bemerkung trifft auch für andere Probleme zu.

Grundprobleme des Beweisverfahrens

943

II. Die Überprüfung des Beweisverfahrens 1. Die Überprüfung

in zweiter

Instanz

Die Beweisführung und Beweiswürdigung des ersten Rechtszuges werden durch die Berufungsinstanz überprüft105 und nötigenfalls vervollständigt106, korrigiert oder sogar vollständig107 neu durchgeführt108. 104

2. Die Überprüfung

durch die

Revisionsgerichte

a) Der ordnungsgemäße Verlauf des Beweisverfahrens wird in der Revisionsinstanz expressis verbis überprüft. In der Bundesrepublik Deutschland, wo die nicht richtige Auslegung oder Anwendung der Bestimmungen der StPO oder der ZPO 109 eine Gesetzesverletzung darstellen, bereitet dies keine Schwierigkeiten. In Griechenland wird diese Uberprüfung in der Form von fünf Revisionsgründen im Zivilprozeßgesetzbuch ausdrücklich vorgesehen. b) In Art. 559 (577) des griechischen Zivilprozeßgesetzbuches110 werden unter den Nummern 8 bis 13 als Revisionsgründe aufgeführt, daß (8.) das Gericht unter Verletzung des Gesetzes nicht vorgebrachte Tatsachen berücksichtigt oder vorgebrachte und für den Ausgang des Prozesses wesentliche Tatsachen nicht berücksichtigt hat, (9.)... (10.) das Gericht Tatsachen, die für den Ausgang des Prozesses wesentlich sind, unter Verletzung des Gesetzes ohne Beweis als wahr angenommen oder über diese Tatsachen keinen Beweis angeordnet hat, (11.) das Gericht Beweismittel, die nach dem Gesetz nicht zugelassen sind, oder nicht vorgebrachte Beweise unter Verletzung des Gesetzes berücksichtigt oder Beweismittel, auf die sich eine Partei berufen hat, nicht berücksichtigt hat. (12.) das Gericht die Vorschriften über die Beweiskraft der Beweismittel verletzt hat, (13.) das Gericht die Vorschriften über die Beweislast verletzt hat und infolgedessen eine Behauptung der Partei, welcher die Beweislast auferlegt worden war, als nicht bewiesen zurückgewiesen hat.

104

105 106 107

Ü b e r die Phasen dieses Verfahrens oben A IV 1, 2, 3.

Nagel, S. 79 ff. Grunsky, S. 436/7, 449. Vgl. Grunsky, S. 436/7.

108 Dies gilt für das Strafverfahren, weil den Berufungsgerichten eine eigene und selbständige Verantwortung zur Erforschung des Sachverhalts und der Wahrheit obliegt. 109

§ § 3 3 7 , 338 S t P O , § § 5 5 0 , 551 Z P O .

Baumgärtel/Rammos, S. 175 und Rammos, Kurzlehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 1041, 1045 ff; Beys, Zivilprozeßrecht, S. 2176 ff. 110

944

Christos Dedes

Diese Revisionsgründe unterstreichen zweifellos die Bedeutung des Beweisverfahrens und widerlegen jegliche Behauptung eines breiten Spielraums oder einer Ermessensfreiheit des Richters. c) Aus den erwähnten Bestimmungen geht der Standpunkt des Gesetzgebers klar hervor. Der Gesetzgeber betrachtet als wesentliche Gesetzesverletzungen, daß - kein Beweis über erhebliche Tatsachen angeordnet ist, - Tatsachen ohne Beweis als wahr erachtet sind, - vorgebrachte Beweismittel nicht berücksichtigt sind, - nicht vorgebrachte Beweismittel berücksichtigt sind, - Vorschriften über die Beweislast verletzt werden, - Vorschriften über die Beweiskraft verletzt werden. III. Die Beweisgrundsätze 1. Die Beweisgrundsätze der ZPO a) Die Grundsätze des Beweisverfahrens, die aus den vorerwähnten Bestimmungen hervorgehen, kann man wie folgt zusammenfassen: - Über die erheblichen Tatsachen des Falles soll das Gericht Beweis anordnen, denn ohne Beweis darf (von wenigen Ausnahmen abgesehen) keine Tatsache als wahr angenommen werden. - In der Beweisaufnahme sollen alle vorgebrachten Beweismittel" 1 berücksichtigt werden. - In der Entscheidung dürfen keine Beweise berücksichtigt werden, die in der (Haupt-)Verhandlung nicht vorgebracht werden. - Die Erforschung der Wahrheit soll die Beweislast- und Beweiskraftregeln berücksichtigen. b) Der oben aufgestellte Katalog von Beweisgrundsätzen, die aus den Vorschriften des Revisionsverfahrens hervorgehen, könnte als zufriedenstellend betrachtet werden, würde man noch einen Grundsatz hinzufügen. Es handelt sich dabei um einen dem zweiten verwandten Grundsatz, der die Pflicht des Richters betrifft, für die gewissenhafte Suche und Sammlung der Beweismittel Sorge zu tragen112. Dieser Grundsatz wird in den Revisionsgründen der griechischen Z P O nicht erwähnt113, da die Geltung der Verhandlungsmaxime einer solchen Regel prinzipiell im Wege steht und er nur in den wenigen Fällen, in denen der Richter unter Berufung auf Art. 107 (108) selbst 111

Mit einigen wenigen Ausnahmen.

Oben IV 2, 3. F ü r das deutsche Recht stellt jede Verletzung einer Rechtsnorm einen Revisionsgrund dar, § 337 S t P O . 112

113

Grundprobleme des Beweisverfahrens

945

eingreifen kann, in Erscheinung tritt. Gerade diese Bestimmung des Art. 107 der griechischen ZPO beweist jedoch die Existenz einer solchen Verpflichtung des Richters, deren Reichweite lediglich diskutiert werden kann" 4 . 2. Die Beweisgrundsätze der StPO a) In der StPO gilt die Inquisitionsmaxime, derzufolge die Pflicht zur Beweismittelsammlung den Richter trifft. Lehre und Rechtsprechung betonen diese „Aufklärungspflicht" genügend. §244 Abs. 2 der deutschen StPO weist klar auf diese Pflicht des Richters hin und die Uberprüfung der richtigen Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift durch die Revisionsinstanz hat bedeutend zur Klärung dieser Frage beigetragen. Art. 351 der griechischen StPO betont ausdrücklich die Pflicht des Richters zur Klärung der Sache, ohne sie jedoch ebenso ausdrücklich auf die Verpflichtung zur Sammlung aller Beweismittel zu erstrecken, wie dies in §244 Abs. 2 der deutschen StPO vorgesehen ist. Art. 327 der griechischen StPO verpflichtet die Staatsanwaltschaft, alle „wesentlichen" Zeugen zu laden. Art. 340 (356) der griechischen Z P O und Art. 177 der griechischen StPO postulieren die freie Beweiswürdigung, ohne eine direkte Verbindung zu der Pflicht zur Aufklärung der Sache herzustellen. Meiner Meinung nach ist zu fordern, daß diese Befugnis des Richters erst im Anschluß an die Sammlung der (zumindest wichtigsten)115 Beweismittel116 Platz greifen117 darf118. b) Eine Gesetzesverletzung bildet in der griechischen StPO einen Revisionsgrund nur dann, wenn sie sich gegen eine Vorschrift des materiellen Strafrechts richtet. Die Verletzung strafverfahrensrechtlicher Vorschriften kann direkt gerügt werden, wenn sie unter die wenigen strafprozessualen Gründe zu subsumieren ist. Die in das Gesetz aufgenommenen Revisionsgründe nennen die Verletzung einer Beweisregel nicht direkt; dasselbe gilt für eine Verletzung der Aufklärungspflicht. Die Bedeutung dieser letztgenannten Pflicht nötigt meines Erachtens jedoch zur ausdrücklichen Einführung eines

114 Was ähnlich auch für die Bundesrepublik Deutschland gelten soll, S. 165 ff. 115

Grunsky,

F ü r den Strafprozeß: aller, der bedeutendsten und wichtigsten.

Derjenigen, die von den Parteien vorgebracht oder durch den Richter angeordnet worden sind. 117 O b e n C II. 118 Kässer, S. 88, Kirsch, Entscheidungsprozesse, 1970, S . 6 4 , die die vorherige Sammlung aller Informationen als Voraussetzung einer richtigen Feststellung betrachten. 116

946

Christos Dedes

Revisionsgrundes der Verletzung der Aufklärungspflicht11'. Gegenwärtig versuchen Lehre und Rechtsprechung, alle bedeutenden Verletzungen bei den wenigen vorhandenen Revisionsgründen, die zudem einen unscharfen Charakter aufweisen120, unterzubringen. Das Beweisverfahren und die Anwendung der Grundsätze über die Hauptverhandlung, die auch für das Beweisverfahren gelten, werden unter den Revisionsgrund der Verletzung der Öffentlichkeit 121 subsumiert und unter diesem Gesichtspunkt überprüft122. 3.

Ergebnis

a) Für den Strafprozeß gelten demnach ähnliche Prinzipien wie für den Zivilprozeß, die man zusammenfassend wie folgt formulieren kann: - Der Richter soll Beweis über alle rechtserheblichen Tatsachen des Falles erheben, da ohne Beweisaufnahme keine Tatsachen als wahr angenommen werden können. - Der Richter soll gewissenhaft und vollständig123 alle Beweismittel sammeln, die von Bedeutung sind124. - Die Beweismittel sollen der Uberprüfung in der Hauptverhandlung unterzogen werden (Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit, Mündlichkeit125 usw.). - In der Entscheidung dürfen nur diejenigen Beweise berücksichtigt werden, die in der Verhandlung erhoben worden sind. b) Von diesen Grundsätzen oder Prinzipien können - wie von allen Prinzipien - unabhängig davon, ob sie dem gesetzten oder nicht gesetzten Recht angehören126, selbstverständlich Ausnahmen gemacht werden127.

Oder nach anderen Beweisgrundsätzen, wie dies für den Zivilprozeß gilt. Wie z. B. der Revisionsgrund der absoluten und relativen Nichtigkeit, Art. 170, 171, 173 der griech. StPO. 121 Vgl. §338 Abs. 6 der deutschen StPO und §551 Abs. 6 der deutschen ZPO. 122 Darüber hinaus kann man sich auf die Revisionsgründe der absoluten und relativen Nichtigkeit oder der mangelhaften Begründung berufen. 123 Über die Vollständigkeit Grunsky, S. 180. 124 Oder alle ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel ausschöpfen, wie Roxin, S. 253, sagt. 125 Grunsky, S.213. 126 Kässer, S.31. 127 Nagel, S. 85. 120

Beweiserhebung und Beweiswürdigung DIETER MEURER

Hilde Kaufmann hat ihren wissenschaftlichen Ruf mit der 1968 erschienenen Monographie „ Strafanspruch, Strafklagrecht" begründet. An die strafprozessualen Anfänge der hier zu ehrenden Strafrechtlerin und Kriminologin erinnert mein Beitrag zu ihrem Gedächtnis. I. Beweiserhebung und abschließende Beweiswürdigung sind einander folgende Stationen auf dem Weg zum Strafurteil. Im Rahmen des Strengbeweises unterliegen sie nicht austauschbaren Maximen: Die Beweiserhebung ist gebunden; die Beweiswürdigung ist frei. Das ergibt sich schon aus dem Gesetz. Gemäß §261 StPO entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Uberzeugung. Die Vorschrift besagt nichts über den Gegenstand der Beweisaufnahme. Dieser bestimmt sich nicht nach freier Uberzeugung, sondern aufgrund der Anwendung von §§244 Abs. 2, 264 Abs. 1, 243 Abs. 3, 265, 266 StPO. Auch über den Umfang der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nicht nach Uberzeugung, sondern aufgrund seiner Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und unter Umständen sogar gegen seine Uberzeugung, wenn nach den gesetzlichen Voraussetzungen ein Beweisantrag nicht abgelehnt werden kann (§244 Abs. 3-5 StPO) oder die Voraussetzungen der §§245, 246 StPO vorliegen. Was endlich das Tatbestandsmerkmal „Inbegriff der Verhandlung" angeht, so ist es in §264 Abs. 1 StPO als „Ergebnis der Verhandlung" enthalten und wird im übrigen durch die §§226 ff StPO konkretisiert, die als spezielle Normen der Regelung des §261 StPO insoweit vorgehen.

II. Dennoch werden in Rechtsprechung und Schrifttum unter Bezugnahme auf die Tatbestandsmerkmale „Inbegriff der Verhandlung" und „Ergebnis der Beweisaufnahme" prozessuale Zweifelsfragen erörtert, die auch ohne Rückgriff auf §261 StPO beantwortet werden könnten. 1. Das belegt in aller Deutlichkeit die bislang noch nicht vorfindliche Durchsicht amtlicher Sammlungen der Entscheidungen des Reichsge-

Dieter Meurer

948

richts, des O b e r s t e n G e r i c h t s h o f s für die britische Z o n e u n d des B u n desgerichtshofs 1 .

Die Revisionsgerichte

StPO

dann verletzt

nicht nur

gehen d a v o n aus,

sein k a n n , w e n n

daß

der Tatrichter

§261 die

juristische B e d e u t u n g des U b e r z e u g u n g s b e g r i f f s v e r k a n n t hat, s o n d e r n a u c h d a n n , w e n n das T a t s a c h e n m a t e r i a l auf p r o z e ß r e c h t l i c h fehlerhaft e m W e g e g e w o n n e n w o r d e n ist u n d deshalb G e g e n s t a n d richterlicher U b e r z e u g u n g n i c h t hat sein dürfen. A n d e r e r s e i t s w i r d klargestellt, w a n n B e w e i s r e c h t s n o r m e n n i c h t v e r l e t z t sind o d e r u n t e r w e l c h e n V o r a u s s e t z u n g e n p r o z e s s u a l e F e h l e r die U b e r z e u g u n g s b i l d u n g u n b e r ü h r t lassen 2 .

1 Erfolgreiche Revisionen, die in den amtlichen Sammlungen unter §261 StPO ausgewiesen werden: RGSt.: 1, 81 ff (Glaubwürdigkeit eines Geständnisses aufgrund „anderweit ermittelter Umstände"); 2, 76 ff (Verwertung einer Urkunde, die nicht Gegenstand der Verhandlung war); 16, 327ff (Gerichtskundige Tatsache nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht); 17, 287ff (Vernehmung des Sachverständigen im Beratungszimmer); 20, 321 ff (Verlesung eines polizeilichen Protokolls); 33, 319 f (Freispruch wegen Beihilfe, weil Haupttäter freigesprochen wurde); 40, 54 f (Nichtverlesung eines Buches); 57, 264 f (Ausschluß der Öffentlichkeit ohne Anhörung der Beteiligten); 67, 417ff (Verwertung des Ergebnisses einer früheren Hauptverhandlung); 71, 326 ff (Privatgespräch des Richters mit Zeugen); 71, 341 ff (Nicht aufgeklärte Tatumstände); OGHSt.: 2, 334 f (Urkundenverwertung ohne Verlesung in der Hauptverhandlung); BGH St.: 2, 99 ff (Verstoß gegen §252 StPO); 2, 163 ff (Kinderaussage; Sachkunde von Lehrerinnen zweifelhaft); 3, 213ff (Ablehnung eines Beweisantrags); 3, 218ff (Nichtberücksichtigung des Mitverschuldens bei Strafzumessung); 5, 34 ff (Unzulässige Ablehnung erbkundlichen Vergleichs); 5, 278 ff (Verwertung eines nichtverlesenen Briefes); 6, 70 ff (Abweichung von Blutgruppengutachten); 7, 238ff (Keine Würdigung des Gutachtens); 10, 65ff (Vorlage); 12, 311 ff (Verstoß gegen §244 StPO); 13, 1 ff (Verwertung eines Gutachtens, das nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war); 13, 73 ff (Einsichtnahme eines Schöffen in Anklageschrift); 14, 162ff (Widersprüchliche Würdigung); 20, 281 ff (Verstoß gegen §163 a StPO); 21, 157ff (BÄK 1,3%); 22, 26ff (Vernehmungsprotokoll nicht Gegenstand der Hauptverhandlung); 22, 113 ff (Verwertung eines Zeugnisverweigerungsrechts); 24, 170ff (Keine neue Beratung); 25, 365 ff (Vorlage: Haltereigenschaft); 28, 310 ff (Wahrunterstellung und Beweiswürdigung); 29,18 ff (Beurteilung eines Radarfotos); 29, 109 ff (Verwertung der Aussage eines Zeugen vor der Polizei, der für das Gericht nicht erreichbar ist); 30, 74ff (Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten); 30, 131, 141 (Nichtbeiziehung von „Spurenakten"); 30, 172, 176 (Anordnung des persönlichen Erscheinens); 30, 317ff (Aussage nach Vorhalt eines abgehörten Telefongesprächs); 31, 395, 401 (Fehlende Belehrung bei polizeilicher Beschuldigtenvernehmung); 32, 32 ff (Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung); 32, 140ff (Teilweise Mitwirkungsverweigerung eines Zeugen). 2 Erfolglose Revisionen, die unter §261 StPO angeführt sind: RGSt.: 25, 134ff (Verwertung einer unbeeideten Zeugenaussage); 28, 171 (Gerichtskundige Tatsache ordnungsgemäß zum Gegenstand der Verhandlung gemacht); 31, 185 ff (Allgemeinkundige Tatsachen ordnungsgemäß zum Gegenstand der Verhandlung gemacht); 33, 303 (Abweichung von rechtskräftigem Urteil zulässig; Gegenstand der Beweiswürdigung nur Inbegriff der Verhandlung); 36, 371 ff (Verlesung einer amtlichen Urkundenübersetzung); 39, 62ff (Prüfungskompetenz des Strafgerichts auch für öffentlichrechtliche Fragen); 40, 48 ff (Keine Pflicht zur Vornahme von Experimenten); 45, 403 ff

Beweiserhebung und Beweiswürdigung

949

Je nach Zuordnungsgesichtspunkt können zwei Fallgruppen unterschieden werden: a) In der ersten geht es um die Auslegungsfrage, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen von Richtern es ausschließen, daß Uberzeugung „aus dem Inbegriff der Verhandlung" gewonnen wird. Hierher gehören die Fälle blinder, tauber, schlafender3 und sich selbst ablenkender Richter4. Diskutiert wird die Verwendung entgegen den Prinzipien des Strengbeweises außerhalb der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Wissens durch Privatgespräche, besonderer Ortskenntnis aus frü-

(Schriftversuche im Beratungszimmer; Sachverständigen aber in der Hauptverhandlung vernommen); 47, 235 (Kein numerus clausus der Beweismittel; unzulässige Protokollrüge); 47, 2 7 0 f f (Kein Verfahrensfehler bei Feststellung des inneren Tatbestandes); 48, 269ff (Fehlerhafte Belehrung von Ärzten über Schweigepflicht); 50, 154ff (Urteil beruht nicht auf privater Inaugenscheinnahme); 52, 69 ff (Zulässigkeit selbständiger Uberprüfung der Buchführung); 55, 20 (Verwertung zulässiger Zeugnisverweigerung); 57, 264 f (Keine neue Bildung der Geschworenenbank, da reine Rechtsfragenentscheidung); 61, 3 5 9 f (Verwertung einer als wahr unterstellten Tatsache); 65, 434 ff (Verwertung stenografischer Aufzeichnungen); 67, 279ff (Gespräch eines Geschworenen mit Sachverständigen außerhalb der Verhandlung); OGHSt.: 1, 110 ff (Vorhalt aus polizeilichem Geständnisprotokoll); BGHSt.: 2, 25 ff (Sachverständiger außerhalb der Hauptverhandlung über deren Ergebnis informiert); 2, 248ff (Rüge des § 2 6 7 StPO); 4, 191 ff (Blinder Richter); 6, 292ff (Offenkundigkeit ordnungsgemäß verwertet); 10, 6 5 f f (Unvereidigter Zeuge); 11, 74ff (Niederschrift der Urteilsformel während Plädoyer); 11, 213 ff (Verletzung der Belehrungspflicht nach § 5 5 Abs. 2 StPO); 13, 250 ff (Nichtberuhen des Urteils auf unzulässiger Gutachtenführung); 15, 347ff (Keine Verletzung von §252 StPO); 17, 337ff (Vorberatung); 17, 382 ff (V-Mann-Aussage); 19, 193 ff (Tonbandaufnahme zur Gedächtnisstütze); 21, 170 ff (Verstoß gegen § 136 a StPO); 22, 268 ff (Verwertung von Befundtatsachen); 22, 372ff (Verlesung richterlichen Protokolls); 23, 156ff (Ermüdungserscheinungen beim Kraftfahrer); 23, 213 ff (Aussage eines Polizeibeamten); 26, 5 6 f f (Offenkundigkeit); 27, 355ff (Verwertung von Tonbändern); 31, 86ff (Abstandsmeßverfahren); 33, 83 ff (Verlesung polizeilicher Vernehmungsniederschrift ohne Personalangaben); 33, 119ff (Vorübergehende Abtrennung des Verfahrens); 33, 178 ff (Zeuge vom Hörensagen); 33, 217, 221 ff (Auskunftsperson beim Augenschein). 3 Vgl. z . B . B G H S t . 4, 191 ff; 5, 354ff; 11, 74ff; 18, 51 ff (Teilnahme blinder Richter nur bei Augenscheinseinnahme unzulässig); RGSt. 60, 63, 64 (Keine Teilnahme tauber Richter); R G J W 1936, 3473; B G H S t . 2, 14 ff (Unzulässigkeit der Teilnahme festschlafender Richter; unerheblich, wenn Richter nur „vorübergehend in ihrer Aufmerksamkeit durch Ermüdungserscheinungen beeinträchtigt" sind, „nicht sehr lange" schlafen, „einen Moment einnicken" oder „einen einmaligefn] oder gelegentliche[n] .schnarchenden T o n ' " von sich geben; RGSt. 60, 63, 64). Vgl. auch B G H NStZ 1982, 41. 4 Vgl. z . B . B G H N J W 1962, 2212 (Unterhaltung zweier Richter und Briefzensur des dritten Richters während der Schlußausführungen des Verteidigers); B G H S t . 11, 74ff (Niederschrift der Urteilsformel während der Schluß Vorträge); O L G Hamburg VRS 10, 374; O L G Hamm D A R 1956, 254; O L G Köln N J W 1955, 1291; O L G Celle VRS 12, 446 ff.

950

Dieter Meurer

heren Verfahren usw. 5 Auch inhaltliche Probleme der Offenkundigkeit, Allgemeinkundigkeit und Gerichtskundigkeit von Tatsachen und Erfahrungssätzen 6 im Zusammenhang mit deren prozeßordnungsgemäßer Einführung 7 werden unter dem Gesichtspunkt freier Beweiswürdigung erörtert. b) Die zweite, eine reiche Kasuistik bildende Fallgruppe betrifft alle sonstigen Sachverhalte prozeßordnungswidriger Beweisgewinnung und Verwendung. Eine nicht unerhebliche Rolle spielt die Frage, ob und inwieweit berechtigte, vollständige oder teilweise Aussageverweigerung (Schweigen) des Beschuldigten 8 oder eines zur Zeugnisverweigerung

5 Vgl. z . B . RGSt. 50, 154ff (Private Augenscheinseinnahme); 67, 279ff (Privatgespräch eines Geschworenen mit einem Sachverständigen außerhalb der Hauptverhandlung); RGSt. 69, 120 ff (Einsichtnahme des Ermittlungsergebnisses in Anklageschrift durch Laienrichter); B G H S t . 2, 25 ff (Information des Sachverständigen außerhalb der Hauptverhandlung); B G H S t . 13, 73 ff (Einsicht eines Schöffen in Anklageschrift); O L G Karlsruhe VRS 12, 450 (Gespräch Vorsitzender/Staatsanwalt in Gegenwart von Schöffen); O L G Hamm D A R 1958, 140 (Gespräch des Amtsrichters mit anderem sachverständigen Richter); K G VRS 17, 285 ff; O L G Hamburg N J W 1952, 1271; O L G Hamm V R S 12, 448 ff (Besondere Ortskenntnis des Richters, die nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurde); O L G Zweibrücken VRS 30, 312 f (Kenntnis des Richters aus anderen Verfahren); O L G Oldenburg J R 1954, 70 (Wissen aus früheren Verfahren gegen denselben Angeklagten, ohne ordnungsgemäße Einführung in Verhandlung); O L G Frankfurt N J W 1952, 638 (Privates Wissen eines Beisitzers über Zeugen); O L G Köln JMB1NW 1954, 167 (Probefahrt); O L G Hamm J M B 1 N W 1966, 213 (Erörterung des Verfahrensgegenstandes in Gegenwart von Laienrichtern); O L G Hamm JMB1NW 1953, 165f (Aussageverweigerung eines Zeugen in vertagter Hauptverhandlung); ferner noch O L G Koblenz M D R 1980, 689 (Kommissarische Zeugenvernehmung). 6 Vgl. z . B . RGSt. 58, 308ff (Feldzug während des Baltikumkrieges 1919); RGSt. 22, 239ff (Reliquieneigenschaft des heiligen Rockes in Trier); RGSt. 28, 171 ff (Charakter einer Zeitung); RGSt. 31, 185 ff (Erregter und lebhafter Nationalcharakter der Polen); R G J W 1888, 178 (Börsenordnung); R G D J Z 1900, 362 (Offenkundigkeit, daß Luther nicht durch Selbstmord gestorben ist); R G Recht 1913, Nr. 1547 (Lage und Entfernung von Örtlichkeiten); R G GA 39, 342 f (Geschichte einer politischen Bewegung; moralische Verkommenheit einer Person); B G H S t . 6, 292 ff (Offenkundigkeit, daß die FDJ-West mit den Zielen der S E D übereinstimmt); B G H S t . 26, 56 ff, 59 (Offenkundigkeit der Preis- und Rabattgestaltung als Geschäftsgeheimnis); O L G Düsseldorf M D R 1980, 869 (Offenkundigkeit der wesentlichen Abläufe des Geschehens in Mogadischu 1977). 7 Vgl. z . B . RGSt. 16, 327ff (Gerichtskundige Tatsache nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht); 28, 171 (Gerichtskundige Tatsache ordnungsgemäß zum Gegenstand der Verhandlung gemacht); 31, 185 ff (Allgemeinkundige Tatsache und Gegenstand der Verhandlung); B G H S t . 6, 292ff (Offenkundigkeit ordnungsgemäß verwertet); 26, 56 ff (Gerichtskundige Erfahrungssätze der Wirtschaftswissenschaften ordnungsgemäß verwertet); B G H StrVert. 1981, 223 (Offenkundige Tatsachen müssen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden). 8 Vgl. z . B . B G H S t . 20, 281, 283 (Schweigen bei polizeilicher Vernehmung); B G H S t . 32, 140, 144 (Schweigen zu einer von mehreren Taten in der Hauptverhandlung); B G H M D R 1971, 18 (Schweigen in der Hauptverhandlung).

Beweiserhebung und Beweiswürdigung

951

b e r e c h t i g t e n Z e u g e n 9 bei d e r Ü b e r z e u g u n g s b i l d u n g v e r w e r t e t w e r d e n darf.

Diskutiert

wird

die B e u r t e i l u n g

von

Sachverhalten,

in

denen

A n g e k l a g t e o d e r Z e u g e n in d e r H a u p t v e r h a n d l u n g b e r e c h t i g t s c h w e i gen, im V o r v e r f a h r e n o d e r in d e r gerichtlichen V o r u n t e r s u c h u n g aber A n g a b e n z u P r o t o k o l l gegeben h a b e n . P r o b l e m e fehlender o d e r u n z u länglicher B e l e h r u n g i m V o r v e r f a h r e n o d e r in d e r H a u p t v e r h a n d l u n g , d e r V e r l e s u n g r i c h t e r l i c h e r P r o t o k o l l e , des V o r h a l t s aus polizeilichen Aufzeichnungen und der Verwertung von Privaturkunden werden erörtert. A u c h W i r k u n g e n r e c h t s w i d r i g e r B e w e i s e r z w i n g u n g u n d E r m i t t lung s o w i e F r a g e n d e r U m g e h u n g des U n m i t t e l b a r k e i t s p r i n z i p s d u r c h V e r n e h m u n g m i t t e l b a r e r T a t z e u g e n sind G e g e n s t a n d d e r c h u n g z u d e m P r o b l e m , w a n n ein p r o z e ß o r d n u n g s w i d r i g „Ergebnis

der

Beweisaufnahme"

die z u r V e r u r t e i l u n g

Rechtspregewonnenes

erforderliche

Ü b e r z e u g u n g ausschließt 1 0 . 2. K o m m e n t a r e d e h n e n den A n w e n d u n g s b e r e i c h des § 2 6 1 S t P O n o c h w e i t e r aus, b e z i e h e n j e d o c h a u c h die in d e r R e c h t s p r e c h u n g gebildeten F a l l g r u p p e n in ihre E r l ä u t e r u n g e n ein. Diese w e r d e n - je n a c h K o m m e n t i e r u n g s t e c h n i k - v e r s c h i e d e n e n P r o z e ß m a x i m e n w i e den P r i n z i p i e n d e r U n m i t t e l b a r k e i t 1 1 , Mündlichkeit 1 2 u n d des r e c h t l i c h e n Gehörs 1 3 u n t e r 9 Z.B. BGHSt. 22, 113f (Zeugnisverweigerung eines Angehörigen); BGHSt. 32, 140, 142 (Verweigerung einer Blutprobe ohne Berufung auf Zeugnisverweigerungsrecht). 10 Vgl. ferner BayObLGSt. 1958, 84 ff (Grundlage der Uberzeugungsbildung nur Erklärung auf Vorhalt, nicht Vorhalt selbst); OLG Köln VRS 21, 444 ff (Notwendigkeit der Erörterung eines beim „letzten Wort" abgelegten Geständnisses); OLG Stuttgart DAR 1957, 243 (Verwertung ungeprüfter Schutzbehauptungen zu Lasten des Angeklagten); BGH bei Daliinger MDR 1971, 15, 18 (Schweigen in Ausübung des Aussageverweigerungsrechts); O L G Oldenburg MDR 1969, 501 f (Wertung des Schweigens zum Nachteil des Angeklagten); O L G Hamm JMBlNW 1970, 71 f (Schweigen im Vorverfahren und „Schutzbehauptung" in der Hauptverhandlung); O L G Hamm JMBlNW 1970, 238 f (Schweigen eines „forensisch erfahrenen" Angeklagten im Hauptverfahren); BGH GA 1969, 307f (Schweigen bei polizeilicher Erstvernehmung); O L G Braunschweig VRS 30, 300 ff („Widerlegung" von Angeklagteneinlassung durch Hinweis auf Schweigen im Vorverfahren); BGH bei Daliinger MDR 1972, 16, 18 („Teilschweigen" des Angeklagten); O L G Hamm NJW 1970, 821 f (Zeuge vom Hörensagen); BGH GA 1968, 305 ff (Verwertung von Tatortskizzen und Lichtbildern); BayObLGSt. 1958, 84 ff (Verlesung erstinstanzlicher Urteile anstelle von Beweisaufnahme); B G H bei Dallinger MDR 1973,190, 192 (Verwertung von Vorstrafakten); O L G Hamm VRS 27, 286f (Vorhalt von Vorstrafen); O L G Bremen GA 1959, 308 ff (Verwertung eines abgehörten Telefongesprächs ohne Wissen des Teilnehmers); KG NJW 1966, 605 f (Verwertung berechtigter Zeugnisverweigerung); ferner z.B. noch BGH NStZ 1981, 296 (teilweise Aussageverweigerung von Angehörigen); BGH StrVert. 1984, 233 (Auskunftsverweigerung eines Zeugen). 11 Z.B. Löwe/Rosenberg/Gollwitzer, StPO 23.Aufl. 1978, §261 Rdn. 1; Karlsruher KommentiT-Hürxthal, StPO, 1982, §261 Rdn. 1. 12 Z.B. LR-Gollwitzer, a.a.O.; KK-Hürxthal, a.a.O.; Kleinknecht/Meyer, StPO, 37. Aufl. 1985, §261 Rdn. 1, 7. 13 Vgl. z.B. KMR-Paulus, StPO, 7.Aufl. 1980, §261 Rdn.5; KK-Hürxthal ( F n . l l ) Rdn. 1.

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stellt, die ihrerseits aus §261 StPO abgeleitet werden. Verwiesen wird u.a. auf §§24414, 26415, 267 StPO 16 , auf das Revisionsrecht 17 , die Lehre von den Beweisverboten 18 , auf „forensische Wahrheit" 19 und auf die Unterscheidung zwischen Strengbeweis und Freibeweis20. Auch einzelne Beweismittel werden erörtert 21 oder es wird auf entsprechende Ausführungen verwiesen22. Darüber hinaus sollen sich aus §261 StPO Erkenntnisse über den „Grundsatz der umfassenden Beweiswürdigung" 23 , die Unterscheidung von Befund- und Zusatztatsachen beim Sachverständigenbeweis24, das Problem unerreichbarer Beweismittel25, die Verwendung stenografischer Protokolle, Mitschriften oder Tonbandaufnahmen bei der Beratung26 sowie zu Spezialproblemen des Indizienbeweises 27 ergeben28. 3. Im monographischen Schrifttum und in der Aufsatzliteratur zum Prinzip der freien Beweiswürdigung wird die Rechtsprechung, aber auch Kommentierungen zu den Begriffen „Ergebnis der Beweisaufnahme" und „Inbegriff der Verhandlung" überwiegend nicht erwähnt 2 '. Umgekehrt erörtern Einzelschriften und sonstige Abhandlungen zu den in Kommentaren und Lehrbüchern angeführten, aus §261 StPO „abgeleiteten" oder „übergeordneten" Prozeßmaximen zwar die Rechtspre14

Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 6. Kleinknecht/Meyer, a . a . O . Rdn. 7. 16 Z.B. LR-Gollwitzer (Fn. 11) Rdn.50. 17 Z.B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 38; LR-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn.51; KKHürxthal (Fn. 11) Rdn. 51 ff; KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn. 30 f. 18 LR-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn. 107; Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 13; K K - H ü r x thal (Fn. 11) Rdn. 34 ff. 19 Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 1. 20 Z.B. KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn.40. 21 Z.B. KMK-Paulus (Fn. 13) R d n . 2 2 f f ; KK-Hürxthal (Fn. 11) Rdn.24ff. 22 Z.B. LK-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn.20. 23 Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 6. 24 LR-Gollwitzer (Fn. 11) Rdn. 20; KK-Hürxthal (Fn. 11) Rdn.26. 25 Z.B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 12. 26 Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 10; LR -Gollwitzer (Fn. 11) Rdn. 46. 27 Z.B. KK-Hürxthal (Fn. 11) R d n . 6 4 f f ; KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn.28. 28 Zur Verwertung der Rechtsprechung vgl. ferner noch Eh. Schmidt, Lehrkommentar, Teil II, 1957, §261 Rz.2-9, 19-25; Dalcke/Fuhrmann/Schäfer, Strafrecht und Strafverfahren, 37. Aufl. 1961, §261 Anm.2. 29 Vgl. zunächst die Nachw. in meinen Beiträgen: Beweis und Beweisregel im deutschen Strafprozeß, Oehler-Festschr. 1985, S. 357ff sowie: Beweiswürdigung und Strafurteil, Kirchner-Festschr. 1985, S. 249 ff sowie schließlich: Denkgesetze und Erfahrungsregeln, Ernst Wolf-Festschr. 1985, S. 483 ff. Siehe aber auch Kunert, GA 1979, 401 ff, 413, der zutreffend ausführt: „Etwas überspitzt könnte man geradezu sagen: Je freier die Würdigung, desto gebundener muß die Präsentation der Beweismittel sein." Ferner die vorzüglichen Beiträge von Herdegen, NStZ 1984, 97ff, 200 ff, 337ff und Niemöller, StrVert. 1984, 431 ff. 15

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chung; Zusammenhänge mit freier Beweiswürdigung aber werden folgerichtig nicht weiter vertieft30. Das Gleiche gilt für Urteilsanmerkungen und Aufsätze zu Spezialproblemen, die ihrer Zwecksetzung entsprechend weitgehend fallbezogen argumentieren31.

III. Der Wortlaut der Tatbestandsmerkmale „Inbegriff der Verhandlung" und „Ergebnis der Beweisaufnahme" des §261 StPO dient also Rechtsprechung und Kommentierungen als Anknüpfungspunkt der Erörterung unterschiedlichster prozessualer Probleme, deren Zuordnung zu §261 StPO nicht zwingend ist, weil sie die Beweiserhebung, deren personelle und sachliche Voraussetzungen, nicht aber Fragen der Beweiswürdigung betreffen. So werden diese Problemlagen denn auch im Spezialschrifttum unter dem Gesichtspunkt der jeweils verletzten Einzelvorschrift oder Verfahrensmaxime erörtert32. 1. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, es sei unerheblich, unter welchen rechtlichen Oberbegriffen die angeführten Probleme diskutiert werden, sofern dies mit der Systematik des Strafverfahrensrechts vereinbar ist und eine sachgerechte Beantwortung von Einzelfragen ermöglicht. Die unterschiedliche Schwerpunktbildung in Rechtsprechung und Schrifttum beruht so gesehen möglicherweise nicht auf grundsätzlichen Gegensätzen, sondern auf einer abweichenden Klassifizierung des gleichen Problemkreises. Das ist der Fall, wenn jede Verletzung einer das Beweisverfahren betreffenden Norm zugleich als Verstoß 50 Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls neuere Monographien, die ihrerseits umfassende Schrifttumsangaben enthalten. Vgl. z.B. Lohr, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, 1972, S. 73 ff; Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren, 1976, S. 112 ff; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 14 ff; Kuckuck, Zur Zulässigkeit von Vorhalten aus Schriftstücken in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens, 1977, S. 97 ff; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S.34f; Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im Strafprozeß, 1984; siehe aber auch die vorzügliche Monographie von Geppert, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 1979. 31 Vgl. etwa Eb. Schmidt, Anm. zu BGHSt. 13, 73 J R 1961, 31 (Einsichtnahme von Schöffen in Anklageschrift); Sarstedt, Anm. BGH J R 1958, 350 f, a. a. O. 351 f (Besondere Fachkunde); Marr, Anm. zu BGH NJW 1962, 2212, a.a.O. 1963, 309f; Sarstedt, Anm. zu O L G Hamburg J R 1966, 273 f, a . a . O . 274; Swarzenski, Anm. zu BGH JZ 1958, 30 f, a. a. O. 31 f; Hoffmann, NJW 1959, 1526; Baudisch, NJW 1960, 135 f; Lienen, NJW 1960, 136 f; Seibert, NJW 1965, 2282 ff; Schmidt-Leichner, NJW 1966, 169 ff; Stree, JZ 1966, 593ff; Güldenpfennig, Anm. zu O L G Oldenburg NJW 1969, 806 a.a.O. 1867; Ostermayer, Anm. zu O L G Oldenburg a. a. O. S. 1187; Wessels, JuS 1966, 169 ff, vgl. aber auch z.B. Geppert, Oehler-Festschr. 1985, S.323ff und Geerds, Blau-Festschr. 1985, S.67ff sowie die Nachw. aus neuerer Zeit in den angeführten Kommentierungen. 32 Vgl. die Nachw. in Fn.30, 31.

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gegen §261 StPO angesehen werden könnte: Wenn also ein in welcher Verfahrenslage und aus welchen Gründen auch immer prozeßordnungswidrig gewonnenes „Ergebnis der Beweisaufnahme" oder eine verfahrenswidrig nicht nur „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpfte Uberzeugung" stets die Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung zur Folge hätte. Ist dies richtig, so kann die einheitliche Problemzuordnung unter dem Gesichtspunkt des §261 StPO nicht beanstandet werden. Berechtigt wäre dann aber auch, daß das Schrifttum zur freien Beweiswürdigung die hier geschilderten Probleme weitgehend ausklammert, weil diese Frage unter den spezielleren Aspekten der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit, des rechtlichen Gehörs", der Unterscheidung von Strengbeweis und Freibeweis usw. beantwortet wird. Umgekehrt bestünde bei der Behandlung dieser „Spezialgebiete" im Schrifttum keine Notwendigkeit, jeweils vertieft auf Probleme der freien Beweiswürdigung einzugehen. 2. Solche und ähnliche Erwägungen mögen neben dem Wortlaut des §261 StPO zu der dargestellten Problemhäufung geführt haben. Sie sind indes schon deshalb wenig hilfreich, weil sie den wesentlichen Unterschied zwischen gebundener Beweiserhebung und freier Beweiswürdigung außer acht lassen, mithin Voraussetzungen und Gegenstand der Sachverhaltsgewinnung ohne Begründung unter einem Aspekt behandeln. Sie führen letztlich zu der Konsequenz, §261 StPO sei als eine Art Generalermächtigung zur Beweiserhebung und -Würdigung anzusehen, der gegenüber das gesamte Beweisrecht der Strafprozeßordnung als mehr oder weniger überflüssig erscheinen muß. Auch lassen sich durch freie Beweiswürdigung nicht Beweiserhebungsfehler heilen34. Gegen eine solche Denkweise spricht bereits § 337 StPO, der Zulässigkeit und Begründetheit der Revision von einem Gesetzesverstoß, auf dem das Urteil beruht, abhängig macht, nicht aber davon, welche Auswirkungen Verfahrensfehler auf die Beweiswürdigung gehabt haben. Wissenschaftliche Betrachtungsweise hat deshalb danach zu fragen, welche Gründe zu einer Diskussion im Rahmen der Beweiswürdigungsproblematik geführt haben.

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Vgl. z. B. nur Prittwitz (Fn. 29), der den Beweismittelcharakter des Beschuldigten als Auskunftsperson ablehnt und die Probleme über den Grundsatz des rechtlichen Gehörs löst (S. 219 ff). 34 Die Heilung von Verfahrensmängeln ist in der StPO nur unvollkommen normiert. Sie kann z. B. durch Zeitablauf (arg. §§ 16, 25 Abs. 1 StPO) oder Nachholung (arg. § 33 a Satz 1 StPO) erfolgen. Der Problemkreis ist im Schrifttum nur ausschnittsweise untersucht worden; vgl. z.B. LR-Hanack, 24. Aufl. 1986, §338 Rdn.3; Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) §337 Rdn.39. Grundlegend immer noch Scbmid, JZ 1969, 757ff.

Beweiserhebung und Beweiswürdigung

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IV. Die Erörterung von Beweiserhebungsproblemen im Rahmen des § 261 StPO hat eine lange Tradition. Sie beruht auf einer gesetzlichen Regelungslücke, die erst 73 Jahre nach Verkündung der Strafprozeßordnung endgültig geschlossen wurde. 1. In der ursprünglichen Fassung enthielt die Strafprozeßordnung keine §244 Abs. 2 StPO entsprechende Vorschrift, nach der das Gericht von Amts wegen alle zur Erforschung der Wahrheit bedeutsamen Umstände aufzuklären hat35. Auch der Beweiserhebungsanspruch der übrigen Prozeßbeteiligten war nur unvollkommen geregelt. Festgelegt war lediglich, daß zur Ablehnung von Beweisanträgen ein Gerichtsbeschluß erforderlich sei (§ 243 Abs. 2 RStPO), daß das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Ladung von Zeugen oder Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen könne (§243 Abs. 3 RStPO) und daß eine Beweiserhebung nicht deshalb abgelehnt werden dürfe, weil das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache zu spät vorgebracht worden sei (§245 Abs. 1 RStPO). Vor diesem gesetzlichen Hintergrund entwickelte das Reichsgericht unter Bezugnahme auf die zu keinem Zeitpunkt abgeänderten §§153 Abs. 2 RStPO (heute §155 Abs. 2 StPO), 260 RStPO (§261 StPO) 36 das später gesetzlich normierte Beweiserhebungsrecht37. Das oberste Gericht gab zu erkennen, daß die nicht normierte Wahrheitserforschungspflicht den Umfang der Beweiserhebung, umgekehrt aber auch die Ablehnung von Beweisanträgen bestimme38. Es trat der Vorwegnahme der Beweiswürdigung (Beweisantizipation) nachdrücklich entgegen und legte dar, daß nach der Erfah55 D e r Entwurf zur Strafprozeßordnung enthielt in § 2 0 7 die dem Prinzip der freien Beweiswürdigung entsprechende Maxime der freien Beweiserhebung: „Den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt das Gericht, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein." ( H a h n / S t e g e m a n n , Die gesamten Materialien zur S t r a f p r o z e ß o r d n u n g . . . , 2 . A u f l . 1885, S . 2 8 ) . Das Gesetz aber normierte das Gegenteil, indem es grundsätzlich das Gericht verpflichtete, den Beweis in dem von den Prozeßbeteiligten gewollten Umfang zu erheben (§ 245 i. V. mit § 2 2 0 Abs. 1 StPO). Die Reichstagskommission sah in der Vorschrift des Entwurfs eine ungerechtfertigte Beschränkung von Anklage und Verteidigung in der Durchführung der Beweisaufnahme und einen Widerspruch zu § 2 2 0 S t P O . Z u den Einzelheiten der Auseinandersetzung vgl. Hahn/Stegemann, a . a . O . , S . 8 4 7 f f , 1180, 1357ff, 1 5 8 2 f , 1621, 1 6 5 7 f , 1898ff, 2014, 2019.

Beide Vorschriften wurden 1924 ( R G B l . I, S . 3 2 2 ) lediglich neu numeriert. N a c h w . zu der Rspr. des R G finden sich bei Alsberg/Nüse/Meyer, D e r Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, unter den jeweiligen Stichworten. 36

17

31 Vgl. dazu und zum folgenden die umf. N a c h w . aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung bei Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 17. Aufl. 1927, § 2 4 4 A n m . 8 - 1 5 . § 2 4 4 Abs. 2 R S t P O lautete 1927: „Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder wenn die V o r nahme einer Beweishandlung eine Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich macht."

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rung der Gebrauch eines zur Verfügung stehenden nicht offensichtlich untauglichen Beweismittels das Bild des zu beurteilenden Geschehensablaufs selbst dann wider Erwarten verändern könne, wenn das Gericht glaubt, die Feststellung einer Tatsache unbedenklich auf bisher erhobene Beweise stützen zu können. Von diesem Grundgedanken ausgehend bezeichnete das Reichsgericht die Umstände, die es ausnahmsweise rechtfertigen, einen Beweisantrag, sei es als unzulässig, sei es als unbegründet zu verwerfen: Unzulässig ist ein Beweisantrag, wenn feststeht, daß der Antragsteller seinen Beweiserhebungsanspruch mißbraucht, indem er ihn in Verschleppungsabsicht geltend macht oder andere verfahrensfremde Zwecke verfolgt. Die absolute Unerheblichkeit der behaupteten Tatsache, der totale Mangel an Beweisbedürftigkeit, Unbrauchbarkeit und Unerreichbarkeit des angegebenen Beweismittels hingegen haben die Ablehnung als unbegründet zur Folge. Beim Beweis durch Sachverständige und durch Augenschein gilt aus der Eigenart dieser Beweisarten als Besonderheit, daß das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden hat, ob es Grund hat, sich ihrer zu bedienen. 2. Mit der ausdrücklichen Übernahme der Wahrheitserforschungspflicht in das Gesetzesrecht (1935) 39 war indes die Notwendigkeit, Probleme der Beweiserhebung im Rahmen des §261 S t P O zu erörtern, keineswegs entfallen. Durch gesetzgeberische Maßnahmen und durch Verordnungen wurde nämlich seit 1924 das Beweiserhebungsrecht der Parteien, das gemäß § 2 4 4 Abs. 2 R S t P O a. F. lediglich für Übertretungs- und Privatklagesachen nicht galt, immer weiter abgebaut 40 und

" Gesetz v. 28.6.1935 (RGBl. I, S.44). §244 Abs. 2 RStPO lautete nunmehr: „Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist." 40 Die Emminger-Reform (VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege v. 4.1.1924, RGBl. I, S. 11) führte, obwohl der Wortlaut des §244 Abs. 2 RStPO: „In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Laiengerichten in der Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein" (Hervorhebungen vom Verf.) nahezu unverändert in §245 Abs. 2 RStPO übernommen wurde, zu einer ersten Veränderung. Infolge der Beseitigung der erstinstanzlichen Strafkammern, deren Zuständigkeit auf die Schöffengerichte überging, und der vergrößerten Zuständigkeit des Einzelrichters wurde stillschweigend der Bereich erweitert, in dem das Ermessen des Gerichts den Umfang der Beweisaufnahme bestimmte. Nachdem dies durch Gesetz v. 22.12.1925 (RGBl. I, S. 475) wieder rückgängig gemacht worden war, trat das Gesetz v. 27.12.1926 (RGBl. I, S. 529) „Auswüchsen des Parteibestimmungsrechts" durch erstmalige Normierung des Ablehnungsgrundes der Prozeßverschleppung entgegen.

Beweiserhebung und Beweiswürdigung

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schließlich vollends abgeschafft. 1932 4 1 w u r d e das B e w e i s a n t r a g s r e c h t in allen S a c h e n v o r d e m A m t s g e r i c h t u n d d e m L a n d g e r i c h t als B e r u f u n g s instanz beseitigt, 1 9 3 9 schließlich i m V e r o r d n u n g s w e g e v o r g e s c h r i e b e n , daß jedes G e r i c h t in jeder Sache einen B e w e i s a n t r a g ablehnen k ö n n e , „ w e n n es n a c h s e i n e m freien E r m e s s e n die E r h e b u n g des B e w e i s e s z u r E r f o r s c h u n g der W a h r h e i t n i c h t für e r f o r d e r l i c h hält" 4 2 . D e r z u n e h m e n den R e c h t l o s i g k e i t des B e s c h u l d i g t e n t r a t das R e i c h s g e r i c h t u n t e r B e r u fung auf § § 2 4 4 A b s . 2 n . F . , 2 6 1 R S t P O entgegen 4 3 . D e n

Mißbrauch

t a t r i c h t e r l i c h e r B e w e i s e r h e b u n g s f r e i h e i t sahen die R e v i s i o n s g e r i c h t e als V e r s t o ß gegen die Pflicht z u r materiellen W a h r h e i t s e r f o r s c h u n g d u r c h u m f a s s e n d e B e w e i s w ü r d i g u n g an, die u n a b h ä n g i g v o n den B e w e i s a n t r ä gen der P a r t e i e n existiere 4 4 . V o n diesem Z u s t a n d w a r m a n g e l s gesetzlic h e r R e g e l u n g a u c h in den ersten N a c h k r i e g s j a h r e n auszugehen 4 5 . 3.

E r s t 1 9 5 0 w u r d e das strenge B e w e i s a n t r a g s r e c h t in der v o m R e i c h s g e -

r i c h t e n t w i c k e l t e n F o r m d u r c h § § 2 4 4 ff S t P O o h n e w e s e n t l i c h e E i n -

41 Not-VO v. 14.6.1932 (1. Teil Kap.I Art. 3 §1) (RGBl. I, S.285). Das Gesetz v. 28.6.1935 (Fn.39) normierte sodann erstmalig die reichsgerichtliche Rechtsprechung, behielt jedoch die Beschränkung des Beweiserhebungsrechts der Parteien bei. So lautete §245 RStPO Abs.l: „In Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz darf das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält. Dies gilt auch in anderen Verhandlungen für den Beweis durch Augenschein oder durch Sachverständige." Abs. 2: „Im übrigen kann in der Verhandlung vor den Gerichten, bei denen nach dem Gesetz allgemein die Berufung ausgeschlossen ist, die Erhebung eines Beweises nur abgelehnt werden, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, wenn wegen Offenkundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der Prozeßverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr." Abs. 3: „Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses." 42 §24 der Vereinfachungs-VO v. 1.9.1939 (RGBl. I, S. 1685). 43 Dazu und zur Geschichte der Aufklärungsrüge Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. 1983, S. 197ff mit Nachw. aus Rspr. und Schrifttum. 44 Siehe dazu die Kommentierung des § 261 RStPO von Niethammer in dem 1940 unter dem Titel „Neues Strafverfahrensrecht" erschienenen zweiten Nachtrag zur 19. Aufl. des Kommentars von Löwe/Rosenberg (1934) sowie Niethammers beschwörende Mahnungen, die Wahrheitserforschungspflicht und das Beweisantragsrecht mit größtem Ernst wahrzunehmen, die die Einleitung der ersten Nachkriegsauflage dieses Kommentars in beeindrukkender Weise durchziehen (20. Aufl. 1958, S.57ff). 45 Umf. Nachw. zur strafprozessualen Nachkriegsgesetzgebung bei LK-Schäfer, 23. Aufl. 1976, Einl. Kap. 3, Rdn.45ff.

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schränkung in das Gesetzesrecht46 eingefügt. Es gilt abgesehen von Privatklagesachen (§384 Abs. 3 StPO) und Ordnungswidrigkeiten verfahren (§77 OWiG) heute ohne Ausnahme. Seitdem aber sind die historischen Gründe entfallen, personelle Mängel von Berufsrichtern und Schöffen sowie Probleme der Beweiserhebung im Rahmen des §261 StPO zu erörtern.

V. Systematische Betrachtungsweise hat somit danach zu fragen, welcher Einzelnorm oder Prozeßmaxime die jeweiligen Problemlagen nach heute geltendem Strafprozeßrecht zuzuordnen sind. 1. Personelle Mängel von Berufsrichtern und Schöffen werden nach richtiger Ansicht als absoluter Revisionsgrund i. S. des § 338 Nr. 1 StPO behandelt47. Diese Norm setzt voraus, daß „das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war". Nun enthalten aber weder die Strafprozeßordnung noch das Gerichtsverfassungsgesetz Vorschriften darüber, ob und ggf. welche körperlichen Beeinträchtigungen die Teilnahme von Richtern an Verhandlungen ausschließen. Diese Regelungslücke wird zutreffend dadurch geschlossen, daß Rechtsprechung und Schrifttum problematische Sachverhalte nach abgeleiteten Verfahrensmaximen beurteilen, die u.a. in §261 StPO zum Ausdruck kommen, aber auch aus den übrigen Vorschriften der §§226 ff StPO gefolgert werden können. So verstößt die Teilnahme blinder, tauber und stummer Richter letztlich gegen das Unmittelbarkeitsprinzip und die Mündlichkeitsmaxime, die gebieten, Angeklagte, Zeugen und Sachverständige zu befragen, anzuhören und zu beobachten, Urkunden zu verlesen sowie Beweise in Augenschein zu nehmen (z.B. arg. §§238, 240, 243, 249ff, 264 Abs. 1 StPO) 48 . Vorübergehende Erkrankung, Schlaf und Unaufmerksamkeit sind ebenfalls danach zu beurteilen, inwieweit sie nach der konkreten Fallgestaltung gegen die angeführten Verfahrensprinzipien

44 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit v. 2 0 . 9 . 1 9 5 0 (BGBl. S.455). In diesem Zusammenhang wurde das Verfahren zur Behandlung von Beweisanträgen auf Vernehmung von Sachverständigen erstmalig in § 244 Abs. 4 StPO ausdrücklich geregelt. 47 Vgl. dazu z . B . die umfassende Übersicht bei LR-Hanack (Fn.34) Rdn.38ff. Nach der älteren Rspr. des R G lag der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO nur vor, wenn Richter an Urteilen mitgewirkt hatten, die nicht in gesetzlicher Weise berufen waren (RGSt. 22, 106 ff. - Geschworene - ; ferner R G J W 1925, 1007; R G GA 68, 360; R G L Z 1920, 804). Die Änderung der Rspr. setzte mit RGSt. 60, 63 ff (schlafender Schöffe) ein und wurde bis heute (BGHSt. 4 , 1 9 1 ff - blinder Richter - ) beibehalten (vgl. die Nachw. in Fn. 3). 48 Einzelheiten bei LR-Hanack, a. a. O.

Beweiserhebung und Beweiswürdigung

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verstoßen49. Diese Abwägung wie auch die freibeweisliche Feststellung andauernder körperlicher Mängel haben ohne jede Rücksicht darauf zu erfolgen, ob die Beweiswürdigung im konkreten Fall beeinträchtigt worden ist: Gemäß § 338 StPO wird unwiderleglich vermutet, daß das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Schon diese Erwägung zeigt, daß die Erörterung körperlicher Mängel von Richtern im Rahmen des §261 StPO nicht auf den inneren Zusammenhang mit Problemen der Beweiswürdigung zurückzuführen ist. 2. Probleme des privaten richterlichen Wissens, von Offenkundigkeit, Allgemeinkundigkeit und Gerichtskundigkeit betreffen das Unmittelbarkeitsprinzip und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs.

a) Keine Beweiswürdigung ist ohne allgemeines „privates Wissen des Richters" möglich. Darum geht es jedoch hier nicht. Die Zweifelsfragen beziehen sich vielmehr auf besondere, Schuld und Strafe betreffende außerhalb der Hauptverhandlung gewonnene Kenntnisse sowie auf die Übernahme „amtlichen Wissens" aus den Akten ohne prozeßordnungsgemäße Einführung 50 unter Umgehung des rechtlichen Gehörs. b) Um die gleiche Problematik geht es bei Offenkundigkeit, Allgemeinkundigkeit und Gerichtskundigkeit. Derartige Tatsachen und Erfahrungssätze betreffen das Unmittelbarkeitsprinzip, das insoweit durchbrochen wird, als eine Beweiserhebung, die zur Anwendbarkeit des §261 StPO gerade vorausgesetzt wird, überflüssig erscheint. Was die Verpflichtung angeht, offenkundige, allgemeinkundige und gerichtskundige Tatsachen und Erfahrungssätze zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen, handelt es sich letztlich um ein Problem des rechtlichen Gehörs, das gebietet, die Prozeßbeteiligten nicht dadurch zu überrumpeln, daß der Verhandlung entzogene Tatsachen bei der Feststellung von Schuld und Strafe berücksichtigt werden51. 3. Um Probleme der Beweiserhebung und nicht der Beweiswürdigung handelt es sich letztlich auch bei Schweigen von Angeklagten (§§136 Abs. 1 Satz 2, 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) und Zeugen (§§52 ff StPO), Zweifelsfragen forensischer Wahrheit (§244 Abs. 2 StPO), der Unterscheidung von Strengbeweis und Freibeweis und von Befund- und Zusatztatsachen beim Sachverständigenbeweis. Gleiches gilt für Probleme unerreichbarer Beweismittel (§244 Abs. 3 Satz 2 StPO), der Verwendung stenografischer Protokolle bzw. von Tonbandaufnahmen 49 Das kommt bei Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) § 338 Rdn. 14 f sowie bei (Fn. 13) §338 Rdn. 31 ff nicht hinlänglich zum Ausdruck. so Vgl. die Nachw. in Fn. 1 und 2. 51 N a c h w . in Fn. 1 f sowie 6 f.

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und auch für die Grundlagen des Indizienbeweises52. Zweifelsfragen sind unter Berücksichtigung der jeweiligen Verfahrensmaxime bzw. Vorschrift zu beantworten, die eine entsprechende Regelung enthalten. Ist danach die Beweiserhebung rechtens und prozeßordnungsgemäß durchgeführt, sind die Ergebnisse nach freier Uberzeugung unter Berücksichtigung des Inbegriffs der Verhandlung zu würdigen. VI. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß §261 StPO in Rechtsprechung und Schrifttum als eine Art „Auffangtatbestand" Verwendung findet, dem die Funktion zugeschrieben wird, Regelungslücken aufzufüllen. Ein Großteil der in diesem Zusammenhang erörterten Zweifelsfragen sind vor dem Hintergrund des derzeitigen Gesetzesstandes richtiger Ansicht nach als Probleme der Beweiserhebung anzusehen und demgemäß in diesem Zusammenhang zu untersuchen und zu entscheiden. Das gilt insbesondere für die gesetzlich normierte Wahrheitserforschungspflicht und für das Recht der Beweiserhebung (§§244 ff StPO), deren Erörterung im Rahmen des §261 StPO aus systematischen und historischen Gründen abzulehnen ist. Nur so kann dem Eindruck entgegengewirkt werden, daß §261 StPO (wiederum)53 mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung stillschweigend oder unbewußt die Funktion zugeschrieben wird, Beweiserhebungsfehler durch „Beweiswürdigung" zu heilen. Die strikte Trennung von gebundener Beweiserhebung und freier Beweiswürdigung in Anerkennung vielfältiger Wechselwirkung ist eine unverzichtbare Errungenschaft des modernen Strafprozesses.

52 Die angeführten Vorschriften enthalten keine Beweiswürdigungsregeln, sondern Bewe'iserhebttngsregeln. Zu dieser Unterscheidung vgl. meinen Beitrag in Oehler-Festschr. 1985, S. 357 ff m. weit. Nachw. 53 Vgl. sub IV.

Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen zur Schuldfähigkeitsbegutachtung in der Hauptverhandlung? FRITZ LOOS

In dem vielfältigen publizistischen Echo auf das Strafverfahren gegen den früheren FDP-Landesvorsitzenden von Rheinland-Pfalz Hans-Otto Scholl ist eine Verfahrensepisode nicht sonderlich beachtet worden: Anfang August 1985 beschloß das Gericht, einen Sachverständigen zur Begutachtung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu bestellen und den Gutachter zur Beobachtung des Angeklagten während der weiteren Beweisaufnahme dauernd an der Hauptverhandlung teilnehmen zu lassen; Scholl lehnte es damals noch strikt ab, sich hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit psychiatrisch untersuchen zu lassen. Nach der Verkündung des Beschlusses erklärte Scholl, der bis dahin seine Verteidigung in der Hauptverhandlung selbst aktiv betrieben hatte, er werde von nun an nichts mehr sagen1. An dieser Reaktion des Angeklagten Scholl soll uns natürlich weder die konkrete Motivation interessieren noch die Tatsache, daß er sich nicht konsequent an seinen Plan zu schweigen gehalten hat; auch ist die weitere Entwicklung des Verfahrens für uns unerheblich. Vielmehr soll diese Reaktion, die ja auf den ersten Blick ganz unabhängig von den Umständen im einzelnen nicht ganz unverständlich erscheint, nur Anlaß sein, einer allgemeinen Prozeßrechtsfrage nachzugehen. Ist es strafverfahrensrechtlich unproblematisch, einen Sachverständigen in der Hauptverhandlung anwesend sein zu lassen, damit er dort Material für die Begutachtung der Schuldfähigkeit des Angeklagten sammelt2? Die Frage stellt sich mit etwas anderen Akzenten grundsätzVgl. F A Z vom 8.8.1985. Soweit ich der Tagespresse (vgl. F A Z vom 8.8.1985 und SZ vom 7. und 8.8.1985) entnehmen konnte, betraf der Streit in der damaligen Hauptverhandlung gegen Scholl die Frage, inwieweit die Entscheidung des Gerichts, die Schuldfähigkeit des Angeklagten begutachten zu lassen, eine Vorentscheidung über die Täterschaft enthielt, nicht aber die im Text aufgeworfene Rechtsfrage. Selbstverständlich geht es im folgenden nicht darum, ob im Verfahren gegen Scholl in concreto korrekt prozessiert worden ist, zumal man annehmen kann, daß durch den weiteren Verlauf der Hauptverhandlung (vgl. F A Z vom 30.11.1985) die hier interessierende Frage zumindest an Bedeutung verloren hat. 1

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lieh auch, wenn der Beschuldigte vor der Hauptverhandlung psychiatrisch oder psychologisch untersucht und/oder in einem psychiatrischen Krankenhaus beobachtet worden ist (§81 StPO). Unter zwei Gesichtspunkten drängen sich Bedenken auf: Der Angeklagte kann sich in seinen Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt sehen, aber auch die Aufklärungsmöglichkeiten für das Gericht können tangiert sein. Ohne die Problematik näher juristisch zu qualifizieren, kann man einsehen, daß ein Angeklagter die Sorge hat, bei seinen Einlassungen, Erklärungen und Fragen dem psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen Anhaltspunkte für eine ihn belastende Begutachtung zu liefern, und er daher lieber schweigt; diese Sorge kann bestehen, gleichgültig ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist, ob er eher das Gutachterergebnis, schuldfähig zu sein, oder aber eine Exkulpation oder Dekulpation fürchtet. Der Entschluß zu schweigen kann zugleich die Verteidigung und die Aufklärungsmöglichkeiten zum Tathergang beeinträchtigen: Das Gericht, das mit der Zuziehung des Sachverständigen zur Beobachtung der Beweisaufnahme seine Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Angeklagten erfüllen will, kann sich damit Erkenntnisquellen zum äußeren Tathergang, aber auch zu subjektiven Deliktsmerkmalen verstopfen. Das gilt wohl in besonderem Maße, wenn der Angeklagte unschuldig ist, da er dann nicht oder doch nur durch seinen Verteidiger und damit unter Umständen unter verfahrensdynamischen Gesichtspunkten zu spät - Verfestigungen von Uberzeugungen lassen sich später möglicherweise nur schwer wieder auflockern - auf Umstände aufmerksam machen kann, die nur er kennt. Wenn Kommunikationsschwierigkeiten zwischen dem Angeklagten und seinem (Pflicht-)Verteidiger bestehen, können sich die Probleme steigern. Andererseits trägt auch der schuldige Angeklagte, selbst wenn er leugnet, häufig genug gegen seinen Willen zur Wahrheitsfindung bei. Die Entscheidung, einen psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen zur Beobachtung der Hauptverhandlung heranzuziehen, kann aber auch dann bedenklich sein, wenn der Angeklagte sich nicht zu völligem oder auch nur teilweisem Schweigen entschließt. Mag in einem solchen Falle des sich weiter aktiv verteidigenden Angeklagten auch die Aufklärung des Tathergangs weniger beeinträchtigt sein, so ist doch auch hier unübersehbar, daß die Verteidigungsmöglichkeiten tangiert sein können. Das wird besonders deutlich bei einem Angeklagten, für den auch nur das gutachterliche Votum „Verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen" 3 sogar ohne gerichtliche Bestätigung eine Art 3 Die Frage, wie ein solches Votum regelgerecht durch den Sachverständigen zu formulieren wäre (vgl. z.B. Schreiber, Wassermann-Festschrift 1985, S. 1007, 1017ff), steht hier selbstverständlich nicht an.

Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 3

bürgerlichen Tod darstellen kann, demgegenüber eine Bestrafung wegen einer nicht sonderlich gravierenden Tat, solange nur keine Zweifel an seiner uneingeschränkten Verantwortlichkeit aufkommen, eine quantité négligeable sein kann. Ein solcher Angeklagter wird immer erwägen müssen, ob er mit dem Hinweis auf entlastende Momente nicht das Risiko läuft, Material für Zweifel an seiner „geistigen Gesundheit" zu liefern, und ob er darum nicht besser auf eine Mitteilung verzichten soll; wenn er vermutet, daß gerade sein Verhalten gegenüber Zeugen, sei es das Opfer, seien es Bezugspersonen aus seinem Alltag, vom Sachverständigen als aufschlußreich angesehen werden wird 4 , wird er seine Aufmerksamkeit in solchen Situationen teilen müssen. Daß eine dauernde Beobachtung durch einen Psychiater oder Psychologen zu einer Verunsicherung führen kann, ist jedenfalls zu vermuten; damit kann die in der Hauptverhandlung ohnehin beeinträchtigte Fähigkeit zu Übersicht und vernünftigen Abwägungen 5 zusätzlich erheblich vermindert werden. Angesichts der soeben skizzierten Befürchtungen überrascht es, daß die Anwesenheit des psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen zur Begutachtung der Schuldfähigkeit während der ganzen Beweisaufnahme oder doch zumindest während großer Teile derselben bisher kaum als ein besonderes Problem empfunden wird 6 . Das gilt zunächst und vor allem für den juristisch-strafprozessualen Aspekt. Soweit ersichtlich, ist in der Rechtsprechung bisher nur die entgegengesetzte Fragestellung, ob nämlich alles Nützliche geschehen ist, um dem Gutachter ein möglichst breites Material für seine Begutachtung zu

4 Vgl. Göppinger, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie II (hgg. von Göppinger und Witter), 1972, S. 1531, 1555. 5 Vgl. Barbey, Das forensisch-psychiatrische Interview, Schriftenreihe des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie des Bundesgesundheitsamts (SozEp-Berichte 1/1980), S. 34, 59 f m. w. Nachweisen. 6 Unter den hier angesprochenen rechtlichen Aspekten wird die Anwesenheit des Sachverständigen in der gesamten Hauptverhandlung auch im AE Novelle zur Strafprozeßordnung, Reform der Hauptverhandlung, bearbeitet von Baumann u.a. (1985) nicht erörtert. Zwar wird die Möglichkeit, die Anwesenheit des Sachverständigen in der zweigeteilten Hauptverhandlung häufig auf die Rechtsfolgenverhandlung zu beschränken, als positiv eingeschätzt, weil dadurch das von Haddenbrock (NJW 1981, 1302 ff) herausgestellte Dilemma des Sachverständigen, durch seine Persönlichkeitsanalyse inadäquate Indizien für oder gegen die Täterschaft des Angeklagten zu liefern, vermieden werden könne (a.a.O. S. 56); außerdem wird auf die Zeitersparnis für den Sachverständigen verwiesen (a. a. O. S. 4, 6). Die hier angesprochenen Gesichtspunkte - Konflikt zwischen Aufklärung zur Schuldfähigkeit und Verteidigungsinteressen bzw. Tathergangsaufklärung, der auch schon de lege lata Lösungen erheischt - werden aber nicht thematisiert.

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verschaffen, thematisiert worden 7 . Wenn in der Literatur Dünhaupt8 die Notwendigkeit der dauernden Anwesenheit von Sachverständigen in der Hauptverhandlung in Frage stellt, wird nicht nur eine Ausnahme für die Sachverständigen zur Begutachtung der Schuldfähigkeit gemacht, sondern vor allem nur die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit einer solchen Anwesenheit für eine zutreffende Begutachtung erwogen; daß Aufklärungsinteressen hinsichtlich des Tatvorgangs, vor allem aber Verteidigungsinteressen entgegenstehen könnten, wird nicht bedacht. Für die psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen stehen verständlicherweise nicht solche Gegeninteressen, sondern die Fragen nach der diagnostischen Ergiebigkeit von Beobachtungen in der Hauptverhandlung im Vordergrund. Insofern werden Zweifel geäußert, ob die Beobachtung in der Hauptverhandlung ohne vorherige Untersuchung überhaupt für eine adäquate Begutachtung ausreichen kann, aber auch ob die Beobachtung in der Hauptverhandlung auch nur wesentliche zusätzliche Aufschlüsse nach einer vorangegangenen Untersuchung (sei es durch ein psychiatrisch-forensisches oder psychologisch-forensisches Interview', sei es durch bloße Beobachtung nach einer Einweisung nach §81 StPO, sei es durch beides10) zu geben vermag. Angesichts der Tatsache, daß hier bisher kein juristisches Problem gesehen wird, ist es 7 Hinsichtlich der Begutachtung der Schuldfähigkeit BGH NJW 1968, 2298, 2299; vgl. auch B G H 27, 166, 167. Die zur notwendigen Anwesenheit des Sachverständigen während der gesamten Hauptverhandlung oder doch wesentlicher Teile - übrigens wohl alle auf Revision des Angeklagten - veröffentlichten Entscheidungen (vgl. etwa RG J W 1927, 2040; BGH 2, 25, 2 7 f ; 19, 367, 368ff; B G H bei Spiegel DAR 1977, S. 175h); B G H bei Spiegel DAR 1983, S.205 Nr. 15; vgl. auch BGH 23, 1 f) betreffen meist nicht die Begutachtung der Schuldfähigkeit. Das mag damit zusammenhängen, daß der psychiatrische oder psychologische Sachverständige regelmäßig während der gesamten Hauptverhandlung anwesend ist oder doch zumindest ab dem Zeitpunkt, zu dem etwa in der Beweisaufnahme Zweifel hinsichtlich der Schuldfähigkeit aufkommen. So hält etwa auch LR"-Gollwitzer, §226 Rdn. 16 die ständige Anwesenheit des Sachverständigen für die Begutachtung der Schuldfähigkeit in der Hauptverhandlung für meist „notwendig oder doch zweckdienlich", weil es auf die Kenntnis der Vorgänge in der Hauptverhandlung für die Erstattung des Gutachtens ankomme (nur wenig zurückhaltender Dünhaupt, NdsRpfl. 1969, S. 131, 132). 8 NdsRpfl. 1969, S. 131 f. - J.-E. Meyer, MschrKrim 1981, S.224, 226 plädiert zwar auch für eine Beschränkung der Anwesenheitspflicht des psychiatrischen Sachverständigen, aber im wesentlichen wegen der Zeitersparnis für den Gutachter. Vgl. auch AE-StPO (Fn. 6), S.4, 56 und Schüler-Springorum, Festschrift Stutte, 1979, S. 307, 317 f. ' Die Terminologie ist insoweit offenbar nicht einheitlich; ich folge hier Barbey (Fn. 5), S. 9 ff, 202. 10 Jedenfalls hinsichtlich der zusätzlichen Beobachtung in der Hauptverhandlung offenbar optimistisch Göppinger (Fn. 4), S. 1555; generell skeptisch Barbey (Fn. 5), S. 34, 59 f (vgl. auch Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S.405: „Der Gerichtssaal i s t . . . der ungeeignetste Ort, in das geistig-seelische Leben eines Menschen einzudringen." Vgl. aber auch a.a.O. S.326f.).

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verständlich, daß, soweit ersichtlich, von psychiatrisch-psychologischer Seite keine Äußerungen über den „Störfaktor Sachverständiger" in der Hauptverhandlung vorliegen. Bei den folgenden Ausführungen ist also zu berücksichtigen, daß die oben angestellten Vermutungen, mit denen auch weiter argumentiert wird, bislang empirisch nicht abgesichert sind, sondern auf der „Alltagspsychologie" des Verfassers beruhen11. Eine Ergänzung meiner Überlegungen von psychologisch-psychiatrischer Seite wäre wünschenswert und für die Stringenz der Argumentation zumindest teilweise auch erforderlich. In der folgenden Untersuchung sollen zunächst die gesetzlichen Grundlagen durchmustert werden, aus denen sich für das Gericht eine Pflicht zur Beiziehung des Sachverständigen zwecks Beobachtung in der Hauptverhandlung ergeben kann (I), danach werden die schon in der Einleitung skizzierten Bedenken gegen eine solche Beiziehung näher analysiert (II). Anschließend werden Kriterien herausgearbeitet, die zur Beurteilung des Konflikts zwischen Anwesenheitserfordernis und Verteidigungsinteressen (bzw. Tathergangsaufklärung) durch das Tatgericht dienen können (III). Im Schlußabschnitt (IV) sollen Überlegungen darüber angestellt werden, wie sich die Folgen aus der hier aufgeworfenen Problematik abmildern lassen. I.

Sachverständige gehören nicht zu den Personen, deren dauernde Anwesenheit in der Hauptverhandlung durch §226 StPO (mit der Konsequenz des §338 Nr. 5 StPO) gesetzlich vorgeschrieben ist. Aus §226 StPO läßt sich daher auch eine Anwesenheitspflicht für den psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen nicht herleiten12. Die in der Regel in den Erläuterungswerken zur Strafprozeßordnung hinzugefügte Bemerkung, daß es bei diesen Sachverständigen aber meist notwendig sei, daß sie der gesamten Hauptverhandlung beiwohnten13, muß also aus anderen Rechtssätzen hergeleitet werden. 11 Gespräche mit Erna Duhm, Herbert Maisch, Elisabeth Müller-Luckmann und Ulrich Venzlaff, für deren spontane Außerungsbereitschaft ich herzlich danke, haben mich aber darin bestärkt, daß meine Vermutungen nicht aus der Luft gegriffen sind. - Natürlich gibt es in der Psychologie generell Untersuchungen darüber, welchen Einfluß der Beobachter auf den Probanden hat (sogar bei psychologischen Tests wird die bloße Anwesenheit des Testleiters als Störvariante vermutet und untersucht; vgl. Hartmann, Psychologische Diagnostik, 1970, S.56; zur Störvariablen Untersucher beim forensisch-psychiatrischen Interview Barbey (Fn. 5), S. 70 ff. u Kleinknecht/Meyer, 37. Aufl. 1985, § 2 2 6 Rdn.6; YM^.7-Paulus, Vorb. § 2 2 6 Rdn.49 (beide mit weiteren Nachweisen). 13 LR"-Gollwitzer, § 2 2 6 Rdn. 16; KK-Treier, §226 Rdn.9. - Weitergehend hält es Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, S.232 („im Hinblick auf § 8 0 " ) sogar bei allen Sachver-

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Unergiebig für unser Problem sind auch die Vorschriften der §§ 246 a i. V. m. 80 a StPO. § 246 a S. 1 statuiert die Pflicht, in der Hauptverhandlung einen Sachverständigen zu vernehmen, wenn mit der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, seiner Einweisung in eine Entziehungsanstalt oder mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung zu rechnen ist; dabei muß sich der Sachverständige in den Fällen der §§63, 64 StGB auch über die Schuldfähigkeit des Angeklagten äußern14. § 2 4 6 a S.2 und § 8 0 a StPO, die trotz ihrer Formulierung als Sollvorschriften allgemein als zwingend angesehen werden15, bestimmen, daß dem Sachverständigen vor der Hauptverhandlung Gelegenheit zu einer Untersuchung des Beschuldigten zu geben ist, wenn die erwähnten Sanktionen in Betracht kommen. Uber die Art und Weise, wie dem Sachverständigen die Information über die Anknüpfungstatsachen zugänglich gemacht werden kann bzw. soll, geben die Vorschriften keine Auskunft. Rechtsprechung und Literatur sind denn auch darin einig, daß sich aus § 246 a keine Notwendigkeit einer dauernden Anwesenheit des Sachverständigen in der Hauptverhandlung ergibt16. Da auch sonst die Strafprozeßordnung eine ausdrückliche Regelung einer über die Gutachtenerstattung hinausgehenden Anwesenheitspflicht des psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen in der Hauptverhandlung nicht enthält, kann schließlich nur die allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts (§244 II StPO) 17 Ausgangspunkt der Überlegungen sein. Die Aufklärungspflicht umfaßt auch die Pflicht, dem Sachverständigen die notwendigen Anknüpfungstatsachen entweständigen für regelmäßig zweckmäßig, sie an der ganzen Hauptverhandlung teilnehmen zu lassen. 14 B G H 9, 1, 3; Y^MK7-Paulus, § 2 4 6 a Rdn.2. 15 RG 68, 198, 327; 69, 129; B G H 9, 1, 3; LR"-Meyer, § 80 a Rdn. 3; LR"-Gollwitzer, § 246 a Rdn. 9 (die beiden letzteren mit weiteren Nachweisen). 16 B G H 27, 166, 167; B G H bei Dallinger MDR 1953, 725; KMSJ-Paulus, §246a Rdn. 5; LR"-Gollwitzer, § 246 a Rdn. 8 (die beiden letzteren mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur). 17 Uber das Beweisantragsrecht dürfte kein Anspruch auf Anwesenheit des Sachverständigen über die Gutachtenerstattung hinaus gegeben sein. Die Art und Weise der Vermittlung der Anknüpfungstatsachen an den Sachverständigen kann nicht nach § 244 IV durch den Beweisantragsberechtigten festgelegt werden; vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, S.92; anders wohl nur zu §81 die h. M. (vgl. Nachweise bei Alsberg/Nüse/Meyer, a . a . O . S. 100 F n . 6 4 ; dagegen Meyer a . a . O . ) ; wird einem Antrag auf Beiziehung eines Sachverständigen stattgegeben (jedenfalls beim Sachverständigenbeweis dürfte die Aufklärungspflicht zumindest nicht hinter § 2 4 4 IV StPO zurückbleiben (vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl. 1985, §43 A 4 mit Nachweisen), so daß das Gericht mit der Durchführung der Begutachtung auch zugleich seine Aufklärungspflicht erfüllt), hat das Gericht die Vermittlung der Anknüpfungstatsachen in der gleichen Weise zu betreiben, wie wenn der Sachverständige nach § 244 II beigezogen wird.

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der mitzuteilen oder ihm Gelegenheit zu ihrer Ermittlung zu geben18. Bestimmungen darüber, in welcher Weise das geschehen kann, finden sich in den §§80 ff StPO. Um eine Untersuchung zu ermöglichen, stehen die Eingriffsrechte nach §§ 81, 81 a zur Verfügung. Daneben kann nach § 80 Abs. 1 und Abs. 2 das Gericht den Sachverständigen durch Akteneinsicht informieren, ihm aber insbesondere auch die Teilnahme an Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten ermöglichen und ihm gestatten, seinerseits Fragen zu stellen; die bei den Allgemeinen Vorschriften ( l . B u c h der StPO) angesiedelte Bestimmung des §80 gilt selbstverständlich auch für die Hauptverhandlung19. Die Vorschriften der §§ 80 ff StPO enthalten Kann-Bestimmungen für das Gericht; welche Möglichkeiten das Gericht wählt, um dem Sachverständigen die notwendige Kenntnisnahme zu ermöglichen, wird danach zu beurteilen sein, auf welche Weise eine möglichst optimale Information bzw. Befunderhebung gewährleistet werden kann. Dieses aus der Aufklärungspflicht resultierende grundsätzliche Optimierungsgebot richtet sich an das Gericht, ohne daß daraus ein Recht des Sachverständigen folgt20. Freilich wird gerade im Interesse einer Erkenntnisoptimierung das Gericht Anregungen des Sachverständigen tunlichst folgen. Die Auswahl der nach dem Vorstehenden in Betracht kommenden Erkenntnismöglichkeiten wird stets wesentlich davon abhängen, ob der Beschuldigte bereit ist, an einem psychiatrisch-forensischen oder psychologisch-forensischen Interview ebenso mitzuwirken wie an psychologischen Tests; eine Pflicht des Beschuldigten besteht insoweit nicht21, erst recht kann kein Zwang ausgeübt werden. Auch die Beobachtung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 81 StPO kann sich, nicht zuletzt aus Gründen einer UnVerhältnismäßigkeit des Eingriffs, verbieten. In derartigen Fällen kann die Beobachtung in der Hauptverhandlung als einzige Erkenntnisquelle übrigbleiben. Uber die Anwesenheit des Sachverständigen wird dann nach der Vorschrift über die Sachleitung in §238 II StPO zu entscheiden sein22.

18 B G H 2, 25, 27; 19, 367, 368 ff; B G H N J W 1968, 2298, 2299; KK-Pelchen, § 8 0 Rdn.4; LK23-Meyer, § 8 0 Rdn.9; LR"-Gollwitzer, § 2 4 6 a R d n . 8 ; Eb. Schmidt, Lehrkommentar StPO, Teil II 1957, § 8 0 Rdn.2, 3; Jessnitzer, Der gerichtliche Sachverständige, 8. Aufl. 1980, S. 190 (alle mit weiteren Nachweisen). 19 B G H 2, 25, 27. 20 So richtig Peters (Fn. 10), S.346 mit dem Hinweis darauf, daß der Sachverständige kein Strafverfolgungsorgan (d.h. mit eigenen Beteiligungsrechten) ist; vgl. auch Eb. Schmidt (Fn. 18), § 80 Rdn. 1; zumindest mißverständlich formuliert von Schlächter, Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 526.3. 21 B G H N J W 1968, 2297 f; Kleinknecht/Meyer, Einl. Rdn. 80 i. V. m. § 81 Rdn. 11; Eb. Schmidt (Fn. 18), §81 Rdn. 23, 24; Arzt, J Z 1969, 438. 22 Vgl. Gössel (Fn. 13), S. 190.

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Die grundsätzlich auf Optimierung angelegte Aufklärungspflicht ist aber nicht grenzenlos. Der Bundesgerichtshof23 hat das so formuliert, daß die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden müsse. Wie schon in der Einleitung angedeutet, kann die Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit mit Verteidigungsinteressen, aber auch mit anderweitigen Aufklärungsbedürfnissen in Konflikt geraten. Diese möglicherweise konkurrierenden Rechte bzw. Pflichten sind nun zu untersuchen. II. Rechtliche Anknüpfungspunkte für die in der Einleitung skizzierten, vom „Störfaktor Sachverständiger" ausgehenden Beeinträchtigungen können die Aufklärungspflicht hinsichtlich des Tathergangs und die Verteidigungsinteressen des Angeklagten sein. Die letzteren sollen näher beleuchtet werden, weil hier die Beeinträchtigung plastisch erscheint, aber auch, weil die Gegenargumente sich deutlicher erschließen. Allerdings bewegt man sich, wenn man die Verletzung eines Rechts auf sachgemäße Verteidigung durch die Beiziehung eines Sachverständigen annimmt, in einem nicht gut gesicherten Gelände. Das positive Strafverfahrensrecht enthält keine allgemeine Schutzvorschrift dieses Inhalts, auch nicht Art. 6 III MRK. Bekanntlich wird zu § 338 Nr. 8 StPO darum gestritten, ob ein solches Recht anzunehmen ist, was dann, wenn die formale Voraussetzung des §338 Nr. 8 (Gerichtsbeschluß) erfüllt ist24, im Falle der Verletzung zur Revisibilität führt, oder ob eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung i. S. des § 338 Nr. 8 nur bei Verstoß gegen spezielle gesetzliche Vorschriften zum Schutze der Verteidigungsinteressen gegeben ist25. Letztlich dürfte aber doch insoweit Einigkeit bestehen, daß schwerwiegende Eingriffe in die Verteidigung prozeßrechtswidrig sind, gleichgültig ob man ein Recht auf sachgemäße Verteidigung annimmt oder ob man sich auf die gerichtliche Fürsorgepflicht oder den fair-trial-Grundsatz 26 , eventuell auch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs27 beruft28. Bei der Vagheit sämtlicher hier in Betracht gezogener Verfahrensprinzipien stellt sich in unserem Zusammenhang B G H 14, 358, 365. Der weitere Streit, ob § 338 Nr. 8 einen absoluten oder relativen Revisionsgrund enthält, kann hier dahinstehen. 25 Vgl. zum Streitstand LR 2 *-Hanack, §338 Rdn. 126 ff. Die erstere Auffassung ist für die neuere Diskussion von Baldus, Ehrengabe für Bruno Heusinger, 1968, S. 373 ff begründet worden; sie scheint neuerdings an Boden zu gewinnen; vgl. die Nachweise bei Kleinknecht/Meyer (Fn. 12), §338 Rdn. 59 und LK"-Hanack, §338 Rdn. 127 Fn.338. 26 So Roxin (Fn. 17), § 53 E II 2 d. 27 Vgl. Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren, 1976, S. 184 ff. 23

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jeweils dieselbe schwierige Frage, welche psychische Beeinträchtigung hinzunehmen ist, welche aber nicht mehr. Generell wird man psychische Beeinträchtigungen nicht aus dem Bereich rechtlich relevanter Beschränkungen der Verteidigung ausnehmen können29. Das läßt sich schon aus der Funktion des § 169 S. 2 GVG, jedenfalls auch eine Verteidigung ohne besondere psychische Belastungen zu sichern, herleiten30. Eine schwere psychische Belastung des Angeklagten kann aber bei der Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Beobachtung in der Hauptverhandlung gegeben sein. Denn der Angeklagte, der einerseits gegen den Vorwurf kämpft, ein straftatbestandliches Unrecht verwirklicht zu haben, andererseits befürchten muß, daß aus seinem Verhalten vom Gutachter gravierende Schlüsse hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit gezogen werden, sieht sich in einen „Zweifrontenkrieg" verwickelt, der eine für ihn unzumutbare Situation darstellen kann. Die von Krauß in seinem Vortrag auf der Kieler Strafrechtslehrertagung31 so eindrücklich beschriebenen Unterschiede zwischen dem Kampf des Bürgers um sein Recht gegen den ihn anklagenden Staat in der gerichtlichen Hauptverhandlung einerseits, der Begutachtungssituation andererseits werden hier übergangen: die Sphären werden nicht einmal rein zeitlich getrennt. Die Auseinandersetzung „man versus State", der Einsatz des Prozeßsubjekts Angeklagter muß beeinträchtigt werden, wenn der Angeklagte zugleich Objekt einer psychiatrischen oder psychologischen Beobachtung ist. Mag man auch bezweifeln, daß mit der von Krauß32 so stark herausgestellten Objektssituation generell die Beziehung Beschuldigter - psychiatrischer/psychologischer Sachverständiger zutreffend beschrieben ist33, so scheint doch für die Beobachtung in der Hauptverhandlung eine derartige Charakterisierung nicht unangemessen. Die Annahme einer rechtlich relevanten Beeinträchtigung der Verteidigung kann man von zwei Gesichtspunkten aus bestreiten. Einerseits kann man darauf verweisen, daß der Angeklagte, dessen mögliche Ex2 ' So auch Baldus (Fn. 25), S.381. Im Revisionsrecht würde sich die Stellung des Angeklagten bei der Heranziehung der zuletzt genannten Prinzipien insofern verbessern, als er nicht in der Tatsacheninstanz einen Gerichtsbeschluß nach § 238 II StPO herbeigeführt haben müßte (insofern aber wohl wieder anders Schlucktet, Fn. 20, Rdn. 742). 29 Vgl. z . B . Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, 2.Aufl. 1964, Rdn.414ff; Baldus (Fn. 25), S. 379. 30 Vgl. zur Bedeutung von B G H 10, 202 in der Entstehungsgeschichte des § 1 6 9 S.2 GVG LR"-Schäfer, Einl. Kap. 13 Rdn. 101 ff, insbes. Rdn. 103. 31 ZStW Bd. 85 (1973), S. 320 ff, insbes. S. 342 ff. 32 Krauß (Fn. 31), S.343, 347. 33 Dagegen z. B. Plewig, Funktion und Rolle des Sachverständigen aus der Sicht des Strafverteidigers, 1983, S. 63. In der Tendenz offenbar anders neuerdings auch Krauß, Z S t W B d . 9 7 (1985), S. 81 ff.

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oder Dekulpation das Gericht in seine Prüfungsüberlegungen einbezogen hat, unweigerlich gezielten Beobachtungen in dieser Richtung durch die Richterbank ausgesetzt ist34. Die Situation für den Angeklagten verschärft sich, wenn Berufs- oder Laienrichter ihrerseits aufgrund ihrer Ausbildung über besonderen psychologischen oder psychiatrischen Sachverstand verfügen. Einer solchen Situation standhalten zu müssen, ist das allgemeine prozessuale Risiko des Angeklagten, so daß eine verfahrensrechtlich relevante Beeinträchtigung seiner Verteidigungsmöglichkeiten nicht vorliegt. Ein Schluß, daß dann auch die Zuziehung des Sachverständigen in der Hauptverhandlung zulässig sein müsse, verbietet sich aber, weil die beiden Situationen letztlich doch unvergleichbar sind. Dabei scheint mir der entscheidende Unterschied nicht in der sachverständigen Kompetenz zu liegen, wenn auch allein wegen seiner Professionalität der Gutachter den Richtern überlegen35 und damit für den Angeklagten „gefährlicher" sein wird. Ausschlaggebend ist vielmehr die unterschiedliche Rolle der Richter einerseits, der Sachverständigen andererseits. Die Richter - und zwar nicht nur der Vorsitzende, sondern auch die Beisitzer und Laienrichter - sind in die Kommunikation über Schuld und Unschuld, über Tathergang und Tatbeteiligte involviert, während der Sachverständige die Position des distanzierten Beobachters einnehmen kann. Gerade durch diese letztere Position aber wird der Angeklagte zum Objekt in der oben beschriebenen Weise36. Bagatellisieren ließe sich andererseits die Beeinträchtigung auch unter dem ganz anderen Gesichtspunkt, daß bei Abwesenheit des Sachverständigen in der Hauptverhandlung eine nachträgliche Information des Gutachters durch das Gericht zu erfolgen hätte37, und jedenfalls diese Beeinträchtigung unvermeidbar wäre. O b man dem mit dem rechtlichen Argument begegnen könnte, es seien auch mittelbare Beeinträchtigungen zu vermeiden, oder ob man in Recht und Pflicht zur Information des 34 Vgl. dazu allgemein Leferenz, in: Kriminalbiologische Gegenwartsfragen, 1962, S.l, 10 f. 35 Der - m. E. übrigens nicht unproblematische - Fall des professionellen Psychiaters oder Psychologen in der Rolle des Laienrichters dürfte wohl zu vernachlässigen sein. 36 Die Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Beobachtung zur Begutachtung der Schuldfähigkeit. Soweit es um die Begutachtung der Glaubwürdigkeit des Angeklagten - zu ihrer generellen Zulässigkeit vgl. die Nachweise bei Schlüchter (Fn. 20), Rdn. 169, 274 - geht, wären m. E. zumindest erhebliche Modifikationen erforderlich. Vgl. zur Pflicht des Zeugen, die Begutachtung, aber auch die Anwesenheit des Sachverständigen in der Hauptverhandlung zu dulden, BGH 23, 1, 2 (insoweit zustimmend auch Peters, Fn. 10, S. 327); vgl. auch BGH 19, 367. 37 Zur entsprechenden Informationspflicht des Gerichts vgl. BGH 2, 25, 27 f; BGH 27, 166, 167 (in BGH 27, 166 freilich aus §246a StPO hergeleitet). Weitere Nachweise bei LR *-Meyer, §80 Rdn. 9; LR "-Gollwitzer, §246a Rdn. 8; KK-Pelchen, §80 Rdn. 4.

Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 1

Sachverständigen nur die Konsequenz aus der oben angesprochenen Pflicht des Angeklagten, die Beobachtung durch das Gericht zu dulden, sehen will, kann letztlich dahinstehen. Denn die mittelbare Beeinträchtigung durch die drohende spätere Information durch das Gericht ist eine wesentlich geringere als die durch die Beobachtung durch den Sachverständigen; zur Begründung kann auf den schon angesprochenen Unterschied der Beobachtung durch das Gericht einerseits, den Sachverständigen andererseits verwiesen, aber auch das Defizit an Information, das ein Bericht des Vorsitzenden gegenüber der unmittelbaren Beobachtung aufweist, erwähnt werden. Die bisherigen Überlegungen zur Beeinträchtigung der Verteidigungsinteressen haben, ohne daß die Frage ausdrücklich thematisiert worden ist, zur Voraussetzung gehabt, daß die Zuziehung des Sachverständigen zur Beobachtung des Angeklagten in der Hauptverhandlung gegen den Willen der Verteidigung, insbesondere gegen den Willen des Angeklagten erfolgt. Wenn der Angeklagte mit der Beobachtung in der Hauptverhandlung einverstanden ist, wird man von einer Beeinträchtigung der Verteidigungsinteressen, die ja vom Angeklagten und seinem Verteidiger zu definieren sind, nicht ausgehen können. Freilich stellen sich beim Einverständnis des Angeklagten, dessen Schuldfähigkeit zur Debatte steht, eine Reihe von Fragen, die hier nur angedeutet werden können. Rechtlich und tatsächlich wird es schwierig sein, zu beurteilen, ob die Wirksamkeitsvoraussetzungen vorliegen. Man mag rechtlich an die Auffassung anknüpfen, daß für das Einverständnis eines Probanden zur Untersuchung der Schuldfähigkeit (forensisches Interview, Tests) seine tatsächliche Fähigkeit, Bedeutung und Tragweite zu überschauen, hinreichend, aber auch erforderlich ist38. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß der Angeklagte auch in der Lage sein muß, seine Beeinträchtigung bei der Verteidigung durch die Beobachtung in der Hauptverhandlung zu beurteilen. Immerhin wird das Einverständnis des Angeklagten auch in tatsächlicher Hinsicht ein Indiz für das Maß der Beeinträchtigung der Verteidigungsinteressen sein. Ein solches Indiz dürfte dagegen bei der gegenwärtigen Praxis nicht unbedingt die schweigende Hinnahme der Zuziehung des Sachverständigen zur Beobachtung in der Hauptverhandlung sein. Daran knüpft sich die Frage, ob die Fürsorgepflicht des Gerichts es gebietet, nach Einverständnis oder Ablehnung zu fragen bzw. über die mögliche Relevanz des Widerspruchs gegen die Zuziehung aufzuklären 39,40 . 38 Vgl. Jessnitzer, Der gerichtliche Sachverständige, 8. Aufl. 1980, S. 202; so wohl auch Peters (Fn. 10), S.327. 39 Damit würde dann gegebenenfalls eine Beanstandung nach § 238 II S t P O provoziert, die einen Gerichtsbeschluß nach dieser Vorschrift herbeiführte. - Vgl. zu einer parallelen Problematik B G H 13, 394, 398 und dazu Peters (Fn. 10), S . 3 2 7 sowie ders., Die prozeß-

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Aus den zuletzt aufgeworfenen Fragen erhellt noch einmal, daß hier nicht die These aufgestellt werden soll, die Zuziehung des Sachverständigen zu dem bezeichneten Zweck führe regelmäßig zu einer Beeinträchtigung der Verteidigungsinteressen. Im Falle des Widerspruchs des Angeklagten bedarf es aber m. E. guter Gründe, eine wesentliche Beeinträchtigung von vornherein auszuschließen. Was daraus für die Daueranwesenheit des Sachverständigen folgt, läßt sich erst aus einer Abwägung mit dem Aufklärungsinteresse hinsichtlich der Schuldfähigkeit herleiten.

III. Von vornherein ist klar, daß eine „glatte" Lösung des Konflikts zwischen Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit einerseits und Verteidigungsinteressen im Zusammenhang mit der Aufklärungspflicht hinsichtlich des Tathergangs andererseits nicht zu finden ist. Die Strafprozeßordnung hat die Problematik nicht berücksichtigt, aber auch de lege ferenda hat man sich, soweit ersichtlich, mit ihr nicht befaßt. Es ist auch zweifelhaft, ob für derartige Konflikte überhaupt generelle Lösungen gefunden werden können. Für die gerichtliche Entscheidung, ob nach § 80 der Sachverständige zur gesamten Beweisaufnahme hinzugezogen werden soll oder nicht, lassen sich daher nur Gesichtspunkte für eine Abwägung der konfligierenden Interessen in bestimmten Fallgruppen aufführen41. 1. Die Problematik wird sich in aller Regel nicht stellen, wenn der Angeklagte in vollem Umfang geständig ist. Jedenfalls dürften dann die immer noch verbleibenden Verteidigungsinteressen und die Aufklärungsnotwendigkeiten zum Tathergang so weit zurücktreten, daß der Vorrang der Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit und damit gegebenenfalls der Beobachtung des Angeklagten in der Hauptverhandlung eindeutig ist. 2. Bei Hauptverhandlungen dagegen, in denen über den Tathergang gestritten wird, wird die Schwere des erhobenen Vorwurfs ein nicht zu übergehendes Kriterium sein. Freilich ist das wohl nur für die Bagatellfälle ein nicht-ambivalentes Kriterium. Steht nur eine verhältnismäßig

rechtl. Stellung des psychologischen Gutachters, in: Handbuch der Psychologie, 11. Band (hgg. von Undeutsch), S. 768, 786. 40 Die Aufklärungspflicht zum Tathergang wird natürlich durch das Einverständnis des Angeklagten nicht ohne weiteres entsprechend eingeschränkt (vgl. Schmidt-Hieber, JuS 1985, 292). Aber auch insoweit wird man dem Einverständnis indizielle Bedeutung dafür zuschreiben können, daß die Aufklärung nicht wesentlich beeinträchtigt wird. 41 Die folgenden Überlegungen setzen zunächst die Praxis der ungeteilten Hauptverhandlung voraus. Zur geteilten Hauptverhandlung vgl. unten unter IV 2.

Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 3

geringe Geldstrafe zu erwarten, wird es - jedenfalls solange der Angeklagte und/oder sein Verteidiger die Schuldfähigkeit nicht in Zweifel ziehen - ohnehin fragwürdig sein, in Grenzfällen, d.h. wenn nicht gravierende Verdachtsmomente für schwere psychotische Abweichungen bestehen, die Schuldfähigkeitsfrage aufzuwerfen42. Um so leichter wird die Entscheidung dafür fallen, den Angeklagten, der um seine strafrechtliche Makelfreiheit und damit um seinen Ruf kämpft, nicht in seiner Verteidigung zu behindern. 3. Geht es dagegen um schwerere oder gar schwerste strafrechtliche Vorwürfe, steigt das Gewicht der korrekten Aufklärung des Tathergangs und der unbeeinträchtigten Verteidigung ebenso wie das der für die Bestimmung der adäquaten Sanktion ausschlaggebenden richtigen Beurteilung der Schuldfähigkeit. Hier ist der Konflikt schwer auflösbar, soweit die Beobachtung durch den in der Hauptverhandlung anwesenden psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen einen nennenswerten Ertrag verspricht. a) An der diagnostischen Ergiebigkeit einer solchen Beobachtung bestehen aber erhebliche Zweifel, wenn, wie zunächst im Anlaßfall Scholl, der psychiatrische oder psychologische Sachverständige weder Gelegenheit zu einem forensischen Interview (u.U. in Kombination mit der Benutzung des testdiagnostischen Instrumentariums) noch zu einer stationären Beobachtung (§81 StPO) gehabt hat. Die artifizielle Situation der Hauptverhandlung, der seelische Druck, unter dem der Angeklagte steht und der durch die Beobachtungssituation noch gesteigert werden kann, wird außer in Fällen manifester Psychosen die Möglichkeit der Gewinnung aufschlußreichen Beobachtungsmaterials für eine Schuldfähigkeitsdiagnose praktisch ausschließen43. Wegen dieser beschränkten Erkenntnismöglichkeiten dürfte daher auch bei gravierenden strafrechtlichen Vorwürfen größte Zurückhaltung bei der Zuziehung des Sachver42 Anders offenbar Schmidt-Hieber (Fn. 40), S. 292, der allerdings das Verhältnismäßigkeitsproblem gar nicht anspricht. Wie hier wohl AE-StPO (Fn. 6), S. 56 f. Vgl. auch Schüler-Springorum (Fn. 8), S.312f. 43 Selbstverständlich liegt die Beurteilung hier wieder nicht in der Kompetenz des Juristen. In der forensisch-psychiatrischen Literatur wird darauf hingewiesen, daß die Herstellung einer Vertrauensbeziehung zwischen Psychiater und Proband regelmäßig notwendige Voraussetzung für die Gewinnung diagnostisch ergiebigen Materials ist (vgl. Hallermann, Einführung in die Rechtsmedizin, in: Handwörterbuch der Rechtsmedizin, Bd. I 1973, S. I X f; zustimmend Barbey, Fn. 5, S. 81 ff; damit wird natürlich auch der Wert einer bloßen Anstaltsbeobachtung bei fehlender Mitwirkungsbereitschaft des Beschuldigten in Frage gestellt). Zur Störvariablen „Gerichtssaalatmosphäre" vgl. Barbey, a. a. O., S. 34 f, 59 f; Cabanis, MMW 1969, S.2234, 2236 und von strafprozessualer Seite Peters (Fn. 10), S.405. Für freundliche Auskünfte und die Einsicht in ein Gutachten danke ich Ulrich Venzlaff.

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ständigen zur Hauptverhandlung zur erstmaligen Beobachtung des Angeklagten geboten sein44. b) Der Regelfall der Beiziehung des Sachverständigen in der Hauptverhandlung liegt freilich wohl so, daß vor der Hauptverhandlung eine Exploration und/oder eine stationäre Beobachtung nach §81 StPO stattgefunden hat, die Beobachtung in der Hauptverhandlung also nur der Ergänzung des für die Diagnose zur Verfügung stehenden Materials dient. Eine Beeinträchtigung der Verteidigung durch die Anwesenheit des Sachverständigen in der Hauptverhandlung wird durch die Zustimmung zur Exploration vor der Hauptverhandlung auch nicht ausgeschlossen. Faktisch mag die persönliche Begegnung mit dem Gutachter Vorbehalte abgebaut haben, andererseits kann der Angeklagte im Zeitpunkt der Hauptverhandlung aber auch sein früheres Einverständnis bedauern. Rechtlich verliert der Angeklagte durch sein früheres Einverständnis jedenfalls sein Widerspruchsrecht nicht. Noch klarer ist die mögliche Beschränkung der Verteidigung, wenn der Beschuldigte sich gegen seinen Willen einer stationären Beobachtung unterziehen mußte, aber zu einer Kooperation mit dem Gutachter nicht bereit war. Anders als in den Fällen, in denen der Sachverständige den Beschuldigten erstmalig in der Hauptverhandlung sieht, wird man, wenn durch Exploration und/oder Beobachtung eine Materialbasis gegeben ist, der ergänzenden Information durch die Beobachtung der Hauptverhandlung den Wert nicht absprechen können45. Der Streit um Täterschaft und Tathergang kann Informationen über das Beziehungsgeflecht Angeklagter - (präsumtives) Opfer, Angeklagter - Zeuge (Bezugspersonen) bringen, die für die Beurteilung der Schuldfähigkeit gerade zum Zeitpunkt der Tat, auf den es ja ankommt, entscheidend sein können. Besonders deutlich wird das, wenn es um die Schuldfähigkeit bei Affekttaten geht. Auch für die Beratung bei Sanktionsauswahl und -bestimmung46 kann die Teilnahme an der Hauptverhandlung dann wichtig sein, wenn sie über die in der konkreten Tat dokumentierte Gefährlichkeit des Täters Auskunft gibt.

44 Anders liegt es, wenn der Sachverständige in der Hauptverhandlung zugezogen wird, um lediglich zu klären, ob es Anhaltspunkte gibt, die eine stationäre Beobachtung nach § 81 StPO rechtfertigen. Hier spitzt sich dann der Konflikt mit den Verteidigungs- und Tataufklärungsinteressen zu. 45 Vgl. Göppinger (Fn.4), S. 1555. 46 Vgl. z. B. zur Beratung hinsichtlich der in § 246 a StPO angesprochenen Maßregeln L R "-Gollwitzer, § 246 a Rdn. 1 und Kaatsch, Die Zuziehung des medizinischen Sachverständigen im Strafprozeß bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung, Med. Diss. Würzburg 1983. Aber auch für die Strafzumessung kann natürlich der Sachverständige u. U. wesentliche Hinweise geben.

Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 5

Jedenfalls wird aber auch in diesen Fällen sorgfältiger als bisher üblich47 zu untersuchen sein, ob im konkreten Fall die Daueranwesenheit des Sachverständigen für die Aufklärung der Schuldfähigkeit wirklich erfolgversprechend ist. Uber die Chancen für eine Korrektur oder jedenfalls eine notwendige Ergänzung der bisherigen Begutachtungsgruridlagen wird am ehesten der Sachverständige Auskunft geben können, der deshalb befragt werden sollte. Erst nach Klärung der Möglichkeiten, die Aufklärung zur Schuldfähigkeit zu verbessern, kann dann die auch in diesen Fällen beim Widerspruch des Angeklagten gegen die Anwesenheit notwendige Abwägung der konfligierenden Interessen durchgeführt werden48. IV. 1. Eine fallweise (höchstens fallgruppenweise) Abwägung der für oder gegen die Anwesenheit des beobachtenden Sachverständigen sprechenden Gesichtspunkte belastet das Strafverfahren mit einer neuen Schwierigkeit. Das Gericht muß sich auf dem schmalen Grat zwischen der Verletzung der Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit einerseits, der Verletzung der Pflicht zur Tathergangsaufklärung, vor allem aber der Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeit andererseits bewegen. Nimmt man eine pflichtwidrige Verletzung in einer der beiden Richtungen an, eröffnen sich Revisionsmöglichkeiten nach §§337, 338 Nr. 849 StPO. Die Annahme regelmäßig konfligierender Verfahrensprinzipien ist natürlich höchst unerwünscht, weil damit das Damoklesschwert der Urteilsaufhebung - und dazu in meist ohnehin besonders komplizierten Prozessen - über dem Verfahren schwebt. Eine Abmilderung der Problematik läßt sich nur in der Weise denken, daß die Revisionsgerichte den Tatgerichten einen genügend breiten Ermessensspielraum bei der Abwägung der konfligierenden Grundsätze belassen. Immerhin muß aber der den Widerspruch des Angeklagten gegen die Daueranwesenheit des Sachverständigen zurückweisende Beschluß nach §238 II StPO die Gründe erkennen lassen, warum der Aufklärung der Schuldfähigkeitsfrage der Vorrang eingeräumt worden ist50. Vgl. oben bei und in Fn. 7. Bei Hauptverhandlungen, die sich über längere Zeit hinziehen, wird die dauernde Anwesenheitspflicht von Gutachtern mit außerforensischen (haupt)beruflichen Aufgaben verständlicherweise wenig geschätzt. Zurückhaltung bei der Daueranwesenheitspflicht könnte also den durchaus erwünschten Nebeneffekt haben, besonders qualifizierten Gutachtern die Übernahme von Sachverständigenaufgaben zu erleichtern. Ein leichtfertiges Sich-Hinwegsetzen über noch bestehende Aufklärungsbedürfnisse wird man gerade bei ihnen nicht zu befürchten haben. Vgl. dazu auch Meyer (Fn. 8), S. 226. 47

48

49 N a c h letzterer Bestimmung, wenn ein entsprechender Gerichtsbeschluß nach § 2 3 8 II S t P O vorliegt. 50

Vgl. LW-Wetidisch,

§ 3 4 Rdn. 7 zur Begründung von Ermessensentscheidungen.

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Fritz Loos

2. Man könnte daran denken, daß eine generelle Lösung durch die Zweiteilung der Hauptverhandlung, insbesondere nach dem Schema des Tatinterlokuts 51 erreichbar wäre52. Danach könnte der erste Teil der Hauptverhandlung bis zum (formellen oder informellen53) Interlokut, in dem der Angeklagte als Bürger gegen den Staat kämpft, in Abwesenheit des Sachverständigen durchgeführt werden, während er dann zur Sanktionsverhandlung, welche nach dem Tatinterlokut die Schuldfähigkeitsfrage einschließt, herangezogen wird. Von einer Zweiteilung der Hauptverhandlung darf man sich freilich auch keine „glatte" Lösung versprechen. Die Rekonstruktion der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt kann, wie oben54 angesprochen, z . B . bei Affekttaten die Anwesenheit des Sachverständigen in der Tatverhandlung unter Hintanstellung von Gegeninteressen gebieten55. Immerhin würde aber die Teilnahme des Sachverständigen an der gesamten Sanktionsverhandlung, die ja Aufklärung über die Persönlichkeit des Angeklagten bringen soll56, zur Vervollständigung der Gutachtergrundlagen beitragen, so daß vielfach leichter auf die Anwesenheit in der Tatverhandlung verzichtet werden könnte. Die vorstehenden Überlegungen sollten auf ein Problem aufmerksam machen. Ein Patentrezept zur Lösung scheint mir weder de lege lata noch de lege ferenda in Sicht. Das kann aber kein Grund dafür sein, dem Schutz der Verteidigungsinteressen nicht auch in diesem Zusammenhang die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

51 Vgl. Schöch/Schreiber, ZRP 1978, S. 63, 66; Dölling, Die Zweiteilung der Hauptverhandlung, 1978, S. 44 ff, 145; AE-StPO (Fn.6), S.5f, 53 ff. Aus psychiatrischer Sicht vgl. zur Zweiteilung, freilich ohne die hier erörterte Problematik, Haddenbrock, N J W 1981, S. 1302ff (vgl. auch Fn.6). 52 Vgl. zur Beschränkung der Anwesenheit des Sachverständigen auf die Rechtsfolgenverhandlung AE-StPO (Fn.6), S.4, 56; vgl. auch §214 V AE-StPO (S.47). Dazu auch Meyer (Fn.8), S.226. 53 Vgl. Kleinknecht, StPO, 35. Aufl. 1981, §244 Rdn.22-26. 54 Unter III 3 b). 55 Auch diese Problematik wird in AE-StPO (Fn.6), S.56 nicht angesprochen (vgl. auch Fn. 6). 56 Dölling (Fn.51), S.52f, 146, 247ff; AE-StPO (Fn.6), S.5, 54f, 72ff.

Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren, insbesondere im Stadium der Wiederaufnahme KARL HEINZ GÖSSEL

A. Die Zulässigkeit und ihre Rechtswirkungen in ihrer Verschiedenartigkeit I. Die

Problematik

Der Tod des Beschuldigten ist mit Kleinknechts Worten ein Verfahrenshindernis besonderer Stärke, ein „Superverfahrenshindernis" 1 , welches die Fortführung des Verfahrens sogar ohne förmliche Einstellung hindern soll2 - gleichwohl aber kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch zugunsten eines verstorbenen Verurteilten betrieben werden, wie in §§ 361 Abs. 1; 371 Abs. 1 StPO ausdrücklich vorgesehen. Weil nun aber die physische Existenz des Angeklagten überwiegend und zu Recht als eine Sachentscheidungsvoraussetzung 3 und damit als eine Voraussetzung der Zulässigkeit des Strafverfahrens4 angesehen wird, kann die „Zulässigkeit" im Strafverfahren kaum ein Gegenstand sein, der während aller Stadien des Verfahrens die gleichen Auswirkungen hat. Entsprechendes gilt für eine verspätete und deshalb unzulässige Berufung. In diesem Fall wird das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig, womit ein Verfahrenshindernis für das weitere Verfahren entstanden ist; wird dieses Prozeßhindernis aber nicht erkannt, so kann das gleichwohl ergangene Berufungsurteil dennoch in Rechtskraft erwachsen und gerade deshalb die Wiederaufnahme des Verfahrens begründen. Ein weiteres Beispiel sei genannt: Wird etwa in erster Instanz die örtliche Zuständigkeit und damit eine die Zulässigkeit des Verfahrens betreffende Prozeßvoraussetzung zu Unrecht angenommen, so ist dies nach der Vernehmung des Angeklagten zur Sache in der Hauptverhandlung nach §16 StPO sogar unbeachtlich. Schon diese Beispiele bieten hinreichend Anlaß, sich mit dem Gegenstand „Zulässigkeit" und seinen Auswirkungen näher zu befassen. Dies soll vornehmlich unter dem Blickwinkel des 1

Kleinknecht M D R 1972, 1051. Kleinknecht/Meyer, StPO 37. Aufl., § 2 0 6 a Rdn. 8. 3 Vgl. z . B . L R - R i e ß , StPO 24. Aufl., § 2 0 6 a Rdn.53. 4 Vgl. z . B . Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 2. Aufl., Rdn. 119. 2

978

Karl Heinz Gössel

Wiederaufnahmeverfahrens geschehen: wie unten näher aufgezeigt werden wird, ist die „Zulässigkeit" in diesem Verfahrensstadium ein besonders mehrdeutiger Begriff. II. Wesen der

Zulässigkeit

Im Strafverfahren wird die Zulässigkeit allgemein als eine prozessuale Wertkategorie verstanden 5 , die sowohl auf das Verfahren insgesamt 6 , als auch auf einzelne Prozeßhandlungen 7 angewendet werden kann. Unter Prozeßhandlungen lassen sich diejenigen verfahrensgestaltenden Verhaltensweisen der Prozeßsubjekte verstehen, die „nach Voraussetzungen und Wirkungen vom Prozeßrecht geregelt sind" 8 ; sie sind dann zulässig, wenn diejenigen Voraussetzungen vorliegen, die das Gericht berechtigen, sich mit dem Inhalt des Antrags, also der erstrebten Prozeßgestaltung, zu befassen 9 . Auf das Verfahren insgesamt angewendet, bedeutet Unzulässigkeit, daß bestimmte Umstände die Sachentscheidung über Schuld und Strafe als Ziel des Strafverfahrens nicht zu erreichen erlauben, sei es, daß bestimmte Voraussetzungen zur Erreichung dieses Ziels - Prozeßvoraussetzungen — nicht vorliegen, sei es, daß bestimmte Umstände - Prozeßhindernisse - die Erreichung dieses Zieles hindern 10 . Vom Boden dieser weithin anerkannten Auffassungen aus kann damit gesagt werden, daß die „Zulässigkeit" ein Urteil darstellt. Wird das Urteil „zulässig" gefällt, so bedeutet dies, daß ein bestimmter Weg beschritten werden darf, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, oder, genauer, um einen bestimmten Inhalt zu verwirklichen - ob dieses Ziel auch wirklich erreicht, ob dieser Inhalt auch verwirklicht werden kann, ist freilich eine Frage der Begründetheit des zulässig eingeschlagenen Verfahrens zur Erzielung einer Sachentscheidung oder auch nur einer bestimmten Verfahrensgestaltung im einzelnen. Vgl. dazu z. B. Eb. Schmidt Rdn. 232 a. a. O. (Fn. 4). LK-Schäfer, StPO 23. Aufl., Einl. Kap. 11 Rdn.6; Eb. Schmidt Rdn. 119 a.a.O. (Fn.4); Gössel, Strafverfahrensrecht 1977, §15 A I ; BGHSt. 15, 287, 290. 7 Eb. Schmidt Rdn. 121 a.a.O. (Fn.4); s. ferner Gössel §15 A l l a.a.O. (Fn.6) und LR-Schäfer wie Fn. 6. 8 Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen 1950, S. 85; diese Auffassung hat weithin Anerkennung gefunden: vgl. z.B. LR-Schäfer Einl. 10 Rdn. 1 a.a.O. (Fn.6); Peters, Strafprozeß 4.Aufl. §32 I I ; Gössel, §19 B I a.a.O. (Fn.6). Auf den Streit, ob dieser Begriff nicht weiter zu fassen und z. B. auch auf prozeßrelevante Realakte zu erstrecken ist - Roxin, Strafverfahrensrecht 19. Aufl. § 22 A II; Kleinknecht/Meyer Einl. Rdn. 95 a. a. O. (Fn. 2), s. a. KMR-Sax, StPO 7. Aufl. Einl. X Rdn. 1 ff - kommt es hier deshalb nicht an, weil die Anwendung der Kategorien der Zulässigkeit davon unabhängig ist. ' Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S.394, 428; Eb. Schmidt Rdn. 235, 244 a.a.O. (Fn.4) - die von Eb. Schmidt Rdn.241 für die Bewirkungshandlungen vorgeschlagene Anwendung der Kategorie der Beachtlichkeit führt zum gleichen Ergebnis - gegen Eb. Schmidt insoweit KMR-Si** Einl. X Rdn. 3 a. a. O. (Fn. 8). 10 S. o. Fn. 6. 5

6

Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren

979

Das damit gelegte Fundament ist allerdings schwach gegründet; indessen wäre eine eingehende Auseinandersetzung mit allen hier aufgeworfenen Fragen Gegenstand einer bisher noch nicht ausreichend gefestigten Lehre von den prozessualen Wertkategorien 11 , die an dieser Stelle jedenfalls nicht entwickelt werden kann. Es erscheint indessen durchaus möglich, schon mit dem hier verwendeten Begriff der Zulässigkeit die Probleme aufzuzeigen, welche die „Zulässigkeit" insbesondere im Wiederaufnahmeverfahren aufwirft. III.

Verschiedenartigkeit der

Rechtswirkungen

Konnte soeben unter II die Zulässigkeit wesensmäßig bestimmt werden, so zeigen doch die unter I erwähnten Beispiele, daß dem nämlichen Gegenstand „Zulässigkeit" nicht stets die gleichen Rechtsfolgen zugeordnet werden können. Dies ist nach den Ausführungen unter II indessen leicht einzusehen: Zulässigkeit ist kein absoluter Gegenstand, sondern ein Urteil, das eine bestimmte Relation zum Gegenstand hat: zulässig ist ein Strafverfahren immer nur in bezug auf das eine Ziel der Erreichung einer Sachentscheidung, und eine Prozeßhandlung ist ebenso nur zulässig in bezug auf das mit ihr zu erreichende Ziel. Die Zulässigkeit ist damit stets abhängig von einem bestimmten zu erreichenden Ziel, einem bestimmten zu verwirklichenden Inhalt - und diese Ziele und Inhalte können nur auf Wegen erreicht oder verwirklicht werden, die der jeweiligen Prozeßsituation angemessen sind. Steht auch der T o d des Angeklagten der Fortdauer des Strafverfahrens grundsätzlich entgegen, so doch nicht im Wiederaufnahmeverfahren: das Ziel der Rehabilitation eines rechtskräftig Verurteilten durch eine Sachentscheidung kann auch noch in der Durchführung eines Strafverfahrens gegen einen Verstorbenen erreicht werden - im voraufgegangenen Verfahren genügt es nach der Auffassung der StPO, eine rechtskräftige Sachentscheidung zu verhindern. Die Zulässigkeit und ihre Rechtswirkungen sollen deshalb weiters unter dem Blickwinkel bestimmter Verfahrensstadien betrachtet werden. Dabei erscheint die Betrachtung vom Stadium des Wiederaufnahmeverfahrens aus besonders interessant, weil von hier aus drei verschiedene Bezugspunkte der Zulässigkeit zu berücksichtigen sind: einmal die Zulässigkeit des voraufgegangenen Verfahrens, dessen rechtskräftige Sachentscheidung mit der Wiederaufnahme angegriffen wird sowie die Zulässigkeit der im voraufgegangenen Verfahren vorgenommenen Prozeßhandlungen, zum anderen die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens selbst und die der hier vorzunehmenden Prozeßhandlungen und

11

S. dazu Eb. Schmidt Rdn.227ff a . a . O . (Fn.4).

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endlich, die Zulässigkeit des wiederaufgenommenen Verfahrens einschließlich der darin vorzunehmenden Prozeßhandlungen.

B. Die Zulässigkeit in dem Verfahren, das erstmals zu einer rechtskräftigen Sachentscheidung führt In den oben unter A I erwähnten Beispielen zeigt sich bereits, daß die fehlende Zulässigkeit des Verfahrens die verschiedensten Rechtswirkungen haben kann: die Beendigung des Verfahrens mit (z. B. § 206 a StPO) oder ohne förmliche Einstellung (Tod des Angeklagten), aber auch deren Unbeachtlichkeit durch schlichten Fortschritt des Prozeßgangs (§16 StPO) oder durch den Eintritt der Rechtskraft. Dies bietet Anlaß, die einzelnen Voraussetzungen der Zulässigkeit des Verfahrens insgesamt samt ihren Rechtswirkungen näher zu betrachten, darüber hinaus aber auch die Zulässigkeit einzelner Prozeßhandlungen: hier kann z . B . die Nichteinhaltung von Rechtsmittelfristen einmal zum Verfahrenshindernis der Rechtskraft führen, sie kann aber auch durch die Rechtskraft der Rechtsmittelentscheidung geheilt werden, wie sich ferner durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Wirkungen einer verspäteten Rechtsmitteleinlegung beseitigen lassen. I. Die Zulässigkeit des (vorauf gegangenen) Verfahrens insgesamt (die Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse) 1. Für das gesamte

Verfahren

bedeutsame

Prozeßvoraussetzungen

a) Wie schon am Beispiel der örtlichen Zuständigkeit aufgezeigt, gibt es Prozeßvoraussetzungen und ebenso Prozeßhindernisse, die nur bestimmte Stadien des Strafverfahrens betreffen bzw. nur vorübergehend von prozessualer Bedeutsamkeit sind. Es gibt aber auch Prozeßvoraussetzungen und -hindernisse, die vom ersten Augenblick der Strafverfolgung bis hin zum letzten Moment der letztmaligen Entscheidungsfällung Voraussetzungen einer Sachentscheidung sind oder diese verhindern können: so führen etwa die UnStatthaftigkeit der Strafverfolgung (§13 GVG), die fehlende Unterwerfung des Beschuldigten unter die deutsche Strafgerichtsbarkeit (z. B. §§ 18 ff GVG), die Schuldunfähigkeit von Kindern (§ 19 StGB), Verhandlungsunfähigkeit, Verjährung (§§ 78 ff StGB), Begnadigung, Amnestie, fehlender Strafantrag (§77 ff StGB), Rechtshängigkeit und Rechtskraft im Regelfall stets zur Einstellung des Verfahrens: im Vorverfahren durch die Staatsanwaltschaft nach §170 Abs. 2 StPO, im gerichtlichen Verfahren durch Beschluß nach §206a außerhalb der Hauptverhandlung oder durch Urteil nach §260 Abs. 3 StPO in der Hauptverhandlung.

Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren

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b) Schon daran zeigt sich, daß selbst solche Prozeß Voraussetzungen oder -hindernisse, die für die Dauer des gesamten Verfahrens bis hin zum erstmaligen rechtskräftigen Abschluß von Bedeutung sind, je nach Verfahrensstadium und Prozeßsituation (innerhalb oder außerhalb der Hauptverhandlung) durchaus verschiedene Wirkungen haben können mögen sie auch, jedenfalls nach den bisherigen Darlegungen, stets zur Einstellung führen. Aber abgesehen von den verschiedenen Rechtskraftwirkungen einer Einstellung im Vorverfahren nach §170 Abs. 2 StPO einerseits (keine) und der nach §§206a, 260 Abs. 3 StPO andererseits (grundsätzlich nur formelle Rechtskraft, ausnahmsweise auch materielle Rechtskraft12), führt das Fehlen dieser Prozeßvoraussetzungen oder das Vorliegen dieser Prozeßhindernisse auch nicht stets oder ausnahmslos zur Verfahrenseinstellung: im Zwischenverfahren ist in diesen Fällen bei richtiger Behandlung entweder die Anklage zurückzunehmen (§ 156 StPO) oder aber Nichteröffnungsbeschluß nach § 204 StPO zu erlassen. Im Rechtsmittelverfahren ist die auch hier mögliche und notwendige Einstellung mindestens nach §260 Abs. 3 StPO mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils zu verbinden; ob auch hier eine Einstellung nach § 2 0 6 a StPO in Betracht kommt, ist im Hinblick darauf strittig, daß § 206 a StPO für eine Urteilsaufhebung keine Grundlage biete13 - für die hier verfolgten Zwecke soll auf diesen Streit jedoch deshalb nicht eingegangen werden, weil hier lediglich die Verschiedenheit der Rechtswirkungen der (fehlenden) Zulässigkeit aufgezeigt werden soll. 2. Nach Abschluß des Vorverfahrens zu betrachtende Prozeßvoraussetzungen Die Einstellung als Regelfolge ist auch in den Fällen vorgesehen, in denen eine Prozeßvoraussetzung erst später die weitere Zulässigkeit des Verfahrens begründet, so bei Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluß. Fehlen sie, so kommt regelmäßig Einstellung nach §§206a, 260 Abs. 3 StPO in Betracht, bei fehlender Anklage im Zwischenverfahren auch Nachholung der Anklage oder Nichteröffnungsbeschluß nach §204 StPO. Im Rechtsmittelverfahren ist ebenso wie bei den für das gesamte Verfahren bedeutsamen Prozeßvoraussetzungen oder -hindernissen nach § 2 6 0 a Abs. 3 StPO zu verfahren und das angefochtene Urteil aufzuheben bzw. § 206 a StPO anzuwenden14.

12 Vgl. KMR-Stfx Einl. XIII Rdn. 12, ferner KUR-Paulus § 2 0 6 a Rdn.61 jeweils a . a . O . (Fn.8). 15 Zum Streitstand s. LR-Rieß, § 2 0 6 a Rdn. 14ff a . a . O . (Fn.3). 14 S. dazu aber oben 1 b und Fn. 13.

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3. Die Prozeßvoraussetzung der gerichtlichen Zuständigkeit im besonderen Besonderheiten gelten beim Fehlen der Prozeßvoraussetzung der gerichtlichen Zuständigkeit, die über §§ 141 ff GVG auf die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft gleichsam „durchschlägt" - bei fehlender Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft ist das Verfahren im Ermittlungsverfahren an die zuständige Staatsanwaltschaft abzugeben, ohne daß dadurch die Wirksamkeit der bisherigen Prozeßhandlungen berührt wird15. Erweist sich nach Anklageerhebung die Unzuständigkeit des angegangenen Gerichts, so bietet auch hier § 156 StPO den einfachsten Weg: die Rücknahme der Anklage und erneute Anklage zum zuständigen Gericht. Dieser Weg ist jedoch nicht selten wegen divergierender Auffassungen von Staatsanwaltschaft und Gericht nicht gangbar. Die auch jetzt grundsätzlich mögliche gerichtliche Einstellung wegen der fehlenden Prozeßvoraussetzung der gerichtlichen Zuständigkeit wäre indes gewiß nicht prozeßökonomisch: deshalb auch zeigt sich in zahlreichen Vorschriften der StPO der Wille des Gesetzgebers, das Verfahren so schnell wie möglich an das zuständige Gericht gelangen zu lassen, damit sich auf diese Weise die hier bloß der formellen Rechtskraft fähige Einstellung vermeiden läßt, die u . U . noch vielfältige negative Kompetenzkonflikte zur Folge haben kann. Dabei ist hinsichtlich der einzelnen Zuständigkeitsarten zu unterscheiden. a) Hält sich das angegangene Gericht im Zwischenverfahren für sachlich unzuständig, so wird das Hauptverfahren entweder nach §209 Abs. 1 StPO vor dem sachlich zuständigen Gericht niederer Ordnung eröffnet oder aber dem für zuständig erachteten Gericht höherer Ordnung nach §209 Abs. 2 StPO zur Entscheidung vorgelegt. Nach der Eröffnung des Verfahrens hat das Gericht seine sachliche Zuständigkeit weiterhin von Amts wegen zu prüfen (§6 StPO), darf jedoch die Sache vor der Hauptverhandlung nach §225a StPO, in der Hauptverhandlung nach § 270 StPO an ein Gericht höherer Ordnung verweisen, während es nach §269 StPO nicht mehr berücksichtigen darf, daß in Wahrheit ein Gericht niederer Zuständigkeit zuständig wäre - diese Vorschriften schließen eine Einstellung wegen Fehlens der Prozeßvoraussetzung der sachlichen Zuständigkeit nach §§206a, 260 Abs. 3 StPO aus". Entsprechendes gilt für das Rechtsmittelverfahren: auch hier führt das Fehlen der sachlichen Zuständigkeit nicht etwa zur Einstellung, sondern zur Verweisung an das zuständige Gericht (§328 Abs. 3; §354 Abs. 3; §355 15 16

LK-Schäfer, § 142 GVG Rdn.23 a.a.O. (Fn.6). LR -Wendisch, § 6 Rdn. 4 ff a. a. O. (Fn. 3).

Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren

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StPO), jetzt allerdings unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. b) Bei fehlender örtlicher Zuständigkeit ist diese im Eröffnungsverfahren nach jetzt wohl h. A. durch besonderen Beschluß festzustellen 17 , nach dessen Rechtskraft die Staatsanwaltschaft zum örtlich wirklich zuständigen Gericht anklagen kann. Bei einem etwaigen negativen Kompetenzkonflikt durch einen zweiten Unzuständigkeitsbeschluß wird der Weg zur Zuständigkeitsbestimmung nach § 14 StPO frei. Der Beschluß über die fehlende Zuständigkeit tritt an die Stelle einer etwaigen - nicht möglichen - Einstellung und auch eines Nichteröffnungsbeschlusses 18 ; nach Erlaß des Eröffnungsbeschlusses kann die fehlende örtliche Zuständigkeit nur noch auf Rüge des Angeklagten ebenfalls zu einem Beschluß über die Unzuständigkeit führen wie im Eröffnungsverfahren, nicht aber zur Verfahrenseinstellung" - sobald mit der Vernehmung des Angeklagten zur Sache begonnen worden ist, ist die fehlende örtliche Zuständigkeit nach § 16 StPO ohne weitere Auswirkung auf das Verfahren - ihr Fehlen ist durch Verfahrensfortschritt geheilt. c) Die funktionelle Zuständigkeit ist nach h. A. keine Prozeßvoraussetzung20, so daß ihr Fehlen die Zulässigkeit des Verfahrens insgesamt nicht betrifft und hier nicht weiter betrachtet zu werden braucht. II. Die Zulässigkeit von Prozeßhandlungen im voraufgegangenen Verfahren Nach den Vorarbeiten u. a. von Goldschmidt und Eb. Schmidt wird nicht mehr bestritten werden können, daß auch Prozeßhandlungen und nicht bloß das Verfahren insgesamt als zulässig oder unzulässig bewertet werden können - allerdings haben beide Autoren die Anwendbarkeit dieser Wertkategorie in unterschiedlicher Weise beschränkt: während Goldschmidt sie nur auf nichtrichterliche Erwirkungshandlungen für anwendbar erklärt21, will Eb. Schmidt neben den nichtrichterlichen Erwirkungshandlungen auch die richterlichen Erwirkungshandlungen der sachleitenden Anordnungen nach §238 StPO und der gerichtlichen Anrufung anderer (höherer) Gerichte unter der Kategorie der Zulässigkeit bewerten 22 - die sog. Bewirkungshandlungen halten beide Autoren

17

LR-Wendisch, § 16 Rdn. 8 f a. a. O. (Fn. 3). LR -Wendisch, § 16 Rdn. 8 f a. a. O. (Fn. 3). " A . A . LK-Wendisch, §16 Rdn. 10 a.a.O. (Fn.3). 20 BGHSt. 13, 378, 382; Gössel, §16 CIV a.a.O. (Fn.6). 21 Goldschmidt, S.369, 457, 498, 514, a.a.O. (Fn.9). 22 Eb. Schmidt, Rdn. 232, 235, 243-247, a.a.O. (Fn.4). 18

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als beachtlich oder unbeachtlich für bewertbar23, die richterlichen Bewirkungshandlungen zudem unter weiteren Kategorien24, wie z. B. der der inhaltlichen Richtigkeit oder Unrichtigkeit25. Zur eingehenden Klärung der Frage der Zulässigkeit von Prozeßhandlungen wäre es erforderlich, Begriff und Gegenstand der Prozeßhandlung ebenso zu untersuchen wie die Anwendbarkeit der Wertkategorie der Zulässigkeit darauf - trotz der bedeutenden Vorarbeiten u.a. von Goldschmidt und Eb. Schmidt harrt diese Problematik noch einer eingehenden Untersuchung, die an dieser Stelle indes schon aus Gründen des Umfangs nicht geleistet, sondern allenfalls angeregt werden kann. In dieser Betrachtung, die generell der Bedeutung der Zulässigkeit im Strafverfahren gewidmet ist, soll es genügen, drei Gruppen von Prozeßhandlungen unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit zu untersuchen und die sich daran anknüpfenden Rechtswirkungen: für sonstige Prozeßhandlungen werden diese Ergebnisse ebenfalls von Bedeutung sein. 1. Rechtsmittelerklärungen Als erste Gruppe seien die Erklärungen über Rechtsmittel genannt: wegen ihrer offensichtlichen Gestaltung der prozessualen Rechtslage (Einlegung: z. B. Begründung der Zuständigkeit eines höheren Gerichts; Verzicht: Eintritt der Rechtskraft) werden sie einhellig und unbestritten als Prozeßhandlungen aufgefaßt; ebenso werden sie allgemein z.B. im Hinblick auf die Statthaftigkeit des jeweiligen Rechtsmittels und der Einhaltung der jeweiligen Frist- und Formvorschriften als zulässig oder unzulässig bewertet. a) Ebenso allgemein anerkannt sind die Folgen einer zulässigen Rechtsmittelerklärung: das mit ihr verfolgte prozessuale Ziel (Nachprüfung der Sachentscheidung in der höheren Instanz; Beendigung des Verfahrens durch Eintritt der Rechtskraft) kann nunmehr erreicht werden, womit gleichzeitig der Weg zur Verwirklichung eines bestimmten Inhalts frei wird, natürlich nicht aber die Verwirklichung selbst (z. B. Freispruch als Sachentscheidung; bei Rechtsmittelrücknahme wird eine unabhängig von der Rücknahme ergangene vorherige Sachentscheidung lediglich rechtsbeständig) eintritt, die eine Frage der Begründetheit der zulässigen Rechtsmittelerklärung ist (s.o. All). b) Eine unzulässige Rechtsmittelerklärung kann den Weg zur Verwirklichung eines bestimmten Inhalts nicht eröffnen und damit auch nicht das mit ihr verfolgte prozessuale Ziel erreichen. Deshalb läßt sich sagen, 23 24 25

Goldschmidt, S.457, 498 a.a.O. (Fn.9); Eb. Schmidt Rdn.241, 251 a.a.O. (Fn.4). Eh. Schmidt Rdn. 248 ff a. a. O. (Fn. 4). Goldschmidt, S. 498 f a. a. O. (Fn. 9).

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daß eine unzulässige Rechtsmittelerklärung jedenfalls nicht die mit ihr beabsichtigten Rechtswirkungen haben kann, wohl aber andere, vom Erklärenden nicht erstrebte. Eine unzulässige Rechtsmitteleinlegung führt zwar nicht zu der erstrebten Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung durch ein höheres Gericht, wohl aber mittelbar mit Ablauf der Rechtsmittelfrist zum Prozeßhindernis der Rechtskraft mit den oben I I a bereits dargelegten Rechtsfolgen; Entsprechendes gilt im Fall einer unzulässigen Revisionsbegründung (§§344 bis 346 StPO). Einem unzulässigen Rechtsmittelverzicht (z. B. mangels Abgabe gegenüber einem tauglichen Adressaten) dagegen kommen keinerlei Rechtswirkungen zu: das Verfahren wird fortgesetzt, und eine etwa gleichwohl behauptete Unzulässigkeit kann nur noch im Rechtsmittelwege geltend gemacht werden. 2. Verhandlungsleitende Anordnungen In einer zweiten Gruppe sollen die verhandlungsleitenden Anordnungen i. S. des §238 Abs. 2 StPO betrachtet werden. Da es sich hierbei um Prozeßhandlungen handelt, sind solche Anordnungen nicht mehr in Abgrenzung zu einer angeblich formellen Verhandlungsleitung durch ihre angeblich sachleitende Qualität zu bestimmen, sondern mit einer inzwischen überwiegend vertretenen Meinung danach, ob sie sich verfahrensgestaltend auswirken26. Daß solche Anordnungen unter der Wertkategorie der Zulässigkeit beurteilt werden können, wird zwar von Goldschmidt verneint27, jedoch zu Unrecht. Abgesehen davon, daß das Gesetz eine solche Bewertung in §238 Abs. 2 StPO selbst vorschreibt28, ist zur Zulässigkeit einer verhandlungsleitenden Anordnung z.B. deren Statthaftigkeit zu fordern, worunter zu verstehen ist, daß sie nach den prozeßrechtlichen Regeln überhaupt vorgenommen werden darf29, daneben u. U. auch die Einhaltung einer bestimmten Form (z.B. Ablehnung eines Beweisantrags durch Verfügung des Vorsitzenden anstatt gemäß §244 Abs. 6 StPO durch Gerichtsbeschluß). Die Unzulässigkeit derartiger Maßnahmen führt entweder zu deren Unterbleiben u.U. auf den Rechtsbehelf des §238 Abs. 2 StPO hin, sonst zur Berücksichtigung im Rechtsmittelwege, u. U. zur Revisibilität unter den Voraussetzungen der §§337, 338 StPO.

26 LK-Gollwitzer, § 2 3 8 R d n . 2 1 a . a . O . ( F n . 3 ) ; s. a. Gössel, § 2 1 A l l a l a . a . O . ( F n . 6 ) jeweils m. w. N a c h w .

S. 514 a . a . O . ( F n . 9 ) . W i e hier schon Eb. Schmidt R d n . 2 4 3 f a . a . O . ( F n . 4 ) ; im Ergebnis ebenso L R Gollwitzer, § 2 3 8 R d n . 3 1 a . a . O . ( F n . 3 ) . 29 Gössel, §21 A l l b l a . a . O . (Fn.6). 27 21

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3.

Beweisanträge

Als dritte und letzte Gruppe der hier zu behandelnden Prozeßhandlungen seien die Beweisanträge erwähnt. Daß auch sie als Erwirkungshandlungen unter der Kategorie der Zulässigkeit bewertbar sind, ist allgemein anerkannt 30 - ein Beweisantrag ist z. B. unzulässig, wird er nicht von einem antragsberechtigten Verfahrensbeteiligten gestellt31. Dies gilt entgegen Meyer auch dann, wenn mangels ausreichend genauer Angabe des Beweisthemas oder des Beweisträgers ein sog. Beweisermittlungsantrag vorliegt 32 : auch in diesem Fall wird eine Sachverhaltsermittlung beantragt, so daß sich das Vorliegen eines Beweisantrags schwerlich leugnen läßt - dieser aber ist in unzulässiger Form gestellt. Davon ist die Unzulässigkeit der beantragten Beweiserhebung zu unterscheiden: es ist möglich, mittels eines zulässigen Beweisantrags die Erhebung eines Beweises zu verlangen, der z . B . von § 2 5 2 StPO verboten ist: ein derartiger Beweisantrag ist als unbegründet abzulehnen 33 . Die Unzulässigkeit des Beweisantrags selbst wie die der beantragten Beweiserhebung führt bei richtiger Behandlung zur Antragsablehnung nach §244 Abs. 6 StPO - im übrigen können Zulässigkeit und Unzulässigkeit in diesem Zusammenhang wie bei der zweiten hier behandelten Gruppe der verfahrensleitenden Anordnungen nur im Rechtsmittelwege berücksichtigt werden, insbesondere zur Revisibilität i.S. der §§337, 338 StPO führen. C. Die Zulässigkeit im Wiederaufnahmeverfahren Ist die Rede von der Zulässigkeit im Wiederaufnahmeverfahren, so denkt man verständlicherweise zunächst an die Zulässigkeit dieses Verfahrens selbst, ferner an die Zulässigkeit einzelner Prozeßhandlungen in diesem Verfahren. Die Zulässigkeit des voraufgegangenen Verfahrens, dessen rechtskräftige Sachentscheidung mit dem Rechtsbehelf der Wiederaufnahme angegriffen wird, zu bedenken, scheint kein Anlaß zu bestehen: ist doch die (fast) alles heilende Rechtskraft Voraussetzung zur Durchführung der Wiederaufnahme. Indessen soll mit der Wiederaufnahme gerade diese Rechtskraft mit dem Ziel einer dem Verurteilten günstigeren, oder, im Falle des §362 StPO, ungünstigeren Entscheidung durchbrochen werden - und dies kann u. U . dadurch erreicht werden, daß die fehlerhafte Beurteilung einer Zulässigkeitsfrage im voraufgegan-

30 Vgl. z . B . LR-Gollwitzer, §244 Rdn. 186 a . a . O . (Fn.3); Goldschmidt, S.394 a . a . O . (Fn. 9); Eh. Schmidt Rdn. 235 f a. a. O. (Fn. 4); Gössel, § 29 C 1 c a. a. O. (Fn. 6). 31 LR-Gollwitzer wie Fn. 30. 32 Alsherg-Nüse-Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, S. 89. " Zutr. LK-Gollwitzer wie Fn. 30.

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genen rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren geltend gemacht wird. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die mit der Wiederaufnahme erstrebte günstigere oder ungünstigere Entscheidung erst in dem dem Wiederaufnahmeverfahren nachfolgenden wiederaufgenommenen Verfahren (§§370 Abs.2; 371, 373 StPO) erreicht werden kann - damit ist es denkbar, daß Zulässigkeitsfragen im wiederaufgenommenen Verfahren auf die begehrte neue und veränderte Sachentscheidung Einfluß haben. Im folgenden sollen deshalb zunächst die Zulässigkeit im voraufgegangenen rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren in seiner Bedeutung für das Wiederaufnahmeverfahren erörtert werden (u. I), sodann Zulässigkeitsfragen des Wiederaufnahmeverfahrens selbst (u. II) und endlich die etwaige Bedeutung der Zulässigkeit im wiederaufgenommenen Verfahren (u. III). I. Zulässigkeitsfragen im voraufgegangenen Verfahren Ist im voraufgegangenen Verfahren eine Zulässigkeitsfrage falsch beurteilt worden, so kann u. U. deshalb die an sich gebotene Verfahrenseinstellung (bei fehlerhafter Bejahung eines Strafantrags oder sonst einer Prozeßvoraussetzung) unterblieben sein. 1. Einstellung als Ziel der Wiederaufnahme Ob allerdings die Wiederaufnahme mit dem Ziel der Einstellung des Verfahrens erreicht werden kann, erscheint deshalb fraglich, weil der hier regelmäßig einschlägige Wiederaufnahmegrund der restitutio propter nova (§ 359 Nr. 5 StPO) als zulässige Wiederaufnahmeziele allein die Freisprechung oder eine geringere Bestrafung (bzw. mildere Maßregelanordnung) in Anwendung eines milderen Strafgesetzes anerkennt. Hier ist indessen zu bedenken, daß die Wiederaufnahme nach §359 StPO generell zu Gunsten des Verurteilten zulässig ist: damit kann mit dem Wiederaufnahmeantrag nach §359 StPO grundsätzlich jede Entscheidung erstrebt werden, die den Verurteilten im Entscheidungstenor weniger belastet als die angefochtene Entscheidung, sofern die Zielbeschränkung des § 363 StPO (keine Wiederaufnahme zum Zwecke milderer Bestrafung aufgrund desselben Strafgesetzes oder nach §21 StGB) beachtet wird. Damit aber ist die Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten auch statthaft, wird mit ihr zwar nicht Freisprechung, wohl aber die Einstellung des Verfahrens begehrt. Daß die Angabe der Wiederaufnahmeziele in § 359 Nr. 5 StPO abschließend sei und deshalb die Einstellung des Verfahrens für den dort behandelten Fall der restitutio propter nova kein zulässiges Wiederaufnahmeziel sein soll, kann schon deshalb nicht angenommen werden, weil das in § 359 StPO vorab genannte Wiederaufnahmeziel einer günstigeren Entscheidung für alle einzelnen Wiederaufnahmegründe einheitlich gelten muß und überdies

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die Einstellung in ihren Wirkungen einer Freisprechung weitgehend gleichsteht und deshalb ebenso behandelt werden muß34. Daraus folgt, daß die Wiederaufnahme jedenfalls dann statthaft sein kann, wenn eine fehlerhafte Beurteilung der Zulässigkeitsfrage nicht zu der an sich gebotenen Einstellung des voraufgegangenen Verfahrens geführt hat. Hier ist indessen ferner zu bedenken, daß nur rechtskräftig abgeschlossene Verfahren wiederaufgenommen werden können (Zulässigkeitsvoraussetzung der Wiederaufnahme selbst; s. dazu u. II 1 a aa). Berücksichtigt man, daß der Gedanke der Rechtskraft selbst eng mit dem Akkusationsprinzip verbunden ist35, welches die grundsätzlich bedingungslose Geltung der richterlichen Entscheidung über den Verfahrensgegenstand anstrebt36, so kann mit Rechtskraft i. S. der §§359, 362 StPO nur die materielle Rechtskraft gemeint sein, deren Gegenstand nach §155 Abs. 1 und §264 Abs. 1 StPO die Sachentscheidung über Unrecht, Schuld und deren Rechtsfolge ist. Erst die materielle Rechtskraft führt zum Verbrauch der Strafklage und zur Sperrwirkung des „ne bis in idem"37, zu deren Durchbrechung der Rechtsbehelf der Wiederaufnahme zur Verfügung gestellt wird - die bloß formelle Rechtskraft steht bekanntlich einer neuerlichen Uberprüfung der formell rechtskräftigen Entscheidung in einem erneuten Verfahren nicht entgegen38 und bedarf somit zu ihrer Durchbrechung der Wiederaufnahme gar nicht. Damit aber kann im Wiederaufnahmeverfahren nur eine Einstellung erstrebt werden, welche die Strafklage verbraucht und also in materielle Rechtskraft erwachsen kann. 2. Folgen fehlerhafter Beurteilung der Zulässigkeit im voraufgegangenen Verfahren für das Wiederaufnahmeverfahren Nunmehr läßt sich die Bedeutung von Zulässigkeitsfragen des voraufgegangenen Verfahrens für das Wiederaufnahmeverfahren beurteilen: Mängel der Zulässigkeit im voraufgegangenen Verfahren, die zur Einstellung dieses Verfahrens mit strafklageverbrauchender Wirkung hätten führen müssen, können im Wiederaufnahmeverfahren geltend gemacht werden, sofern die übrigen Voraussetzungen eines der gesetzlichen Wiederaufnahmegründe vorliegen. Zu solchen Mängeln gehört zunächst das Vorliegen solcher Prozeßhindernisse, die unmittelbar zu einer strafklageverbrauchenden Einstel34

L R - G ö W , §359 Rdn.124 a.a.O. (Fn.3). H. Mayer, Die konstruktiven Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens und seine Reform, GerS 99 (1930), 299, z.B. S.311. 36 H.Mayer, S.311, 302 a.a.O. (Fn.35). 37 LR-Gollwitzer Rdn. 29 vor §296 a. a. O. (Fn. 6). 38 Eb. Schmidt Rdn. 268 a.a.O. (Fn.4); Geppert, Gedanken zur Rechtskraft und zur Beseitigung strafprozessualer Beschlüsse, GA 1972, 165, 170f. 35

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lung führen: Strafunmündigkeit, fehlender Strafan trag, Amnestie, Strafverfolgungsverjährung, entgegenstehende Rechtskraft 3 ' - nicht aber z. B. bloße Rechtshängigkeit und auch nicht Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten, die bloß zu einer in formelle Rechtskraft erwachsenden Einstellung führen. Ferner sind solche Zulässigkeitsmängel zu beachten, die mittelbar zu einer strafklageverbrauchenden Einstellung führen, wie etwa eine verspätete Berufungseinlegung, die über die Rechtskraft der mit der Berufung angefochtenen Entscheidung zum Prozeßhindernis entgegenstehender Rechtskraft führt. II. Die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens und die Zulässigkeit von Prozeßhandlungen im Wiederaufnahmeverfahren Das Wiederaufnahmeverfahren gliedert sich bekanntlich in die beiden Abschnitte des Aditionsverfahrens und des Probationsverfahrens. Das Aditionsverfahren, in dem die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs der Wiederaufnahme geprüft wird, endet mit dem Beschluß über die Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags als unzulässig nach § 368 Abs. 1 StPO oder dem über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme; dieser Zulassungsbeschluß wird allgemein als unerläßlich für die weitere Fortführung des Verfahrens in das Probationsverfahren angesehen, auch wenn das Gesetz einen solchen Beschluß nicht ausdrücklich vorsieht40. Im Probationsverfahren wird die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags geprüft; es endet mit dem Beschluß über die Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags als unbegründet (§ 370 Abs. 1 StPO) oder über die Anordnung der Wiederaufnahme und die Erneuerung der Hauptverhandlung nach § 370 Abs. 2 StPO, sofern nicht nach § 371 StPO ohne Erneuerung der Hauptverhandlung entschieden werden kann. Wie sich schon aus dem Wortlaut des § 368 Abs. 1 StPO ergibt, bedarf das Wiederaufnahmeverfahren zu seiner Durchführung damit bestimmter Zulässigkeitsvoraussetzungen. Dabei lassen sich zwei Arten solcher Voraussetzungen unterscheiden: einmal die in §368 Abs. 1 StPO ausdrücklich erwähnten speziellen Rechtsbehelfsvoraussetzungen, wie z. B. ein Wiederaufnahmeantrag in der Form des §366 StPO (s. dazu u. 1), zum anderen die allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen, die, wie z.B. die Statthaftigkeit der Strafverfolgung, Zulässigkeitsvoraussetzung aller Stadien des Strafverfahrens einschließlich der Wiederaufnahme sind, mindestens aber auch in anderen gerichtlichen Verfahrensstadien als nur dem der Wiederaufnahme eine Sachentscheidung über Schuld und Strafe (s. dazu o. B I ) betreffen (s. dazu u. 2). "

Z u r W i r k u n g der Doppelbestrafung s. L R - G ö s s e / , § 3 5 9 R d n . 7 2 f a . a . O . ( F n . 3 ) .

40

K M R - / W « J , § 3 6 8 R d n . l a . a . O . ( F n . 8 ) • , Kleinknecht/Meyer,

(Fn.2).

§370 Rdn.2 a.a.O.

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1. Die speziellen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Wiederaufnahmeverfahrens Wie die Rechtsmittel (vgl. § 365 StPO), so verlangt auch der Rechtsbehelf der Wiederaufnahme des Verfahrens das Vorliegen spezieller Zulässigkeitsvoraussetzungen, bei deren Fehlen das mit der Prozeßhandlung der Wiederaufnahme inhaltlich verfolgte Ziel vom Gericht gar nicht erst geprüft wird: diese Merkmale können damit auch Prozeßhandlungsvoraussetzungen der Wiederaufnahme genannt werden (o. A II). a) Diese Voraussetzungen sind während des gesamten Wiederaufnahmeverfahrens in seinen beiden Stadien des Aditionsverfahrens und des Probationsverfahrens zu beachten; fehlen sie, so führt dies zur Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags als unzulässig nach § 368 Abs. 1 StPO, auch noch im Probationsverfahren, weil der voraufgegangene Beschluß über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme keine Sachentscheidung enthält41 und deshalb keinerlei Bindungswirkung entfalten kann42. Jedoch gilt hinsichtlich der Formvorschriften des § 366 Abs. 2 StPO eine Ausnahme: wegen der bloß formellen Wirkung der Einstellung nach §368 Abs. 1 StPO im Probationsverfahren wäre die erneute formgerechte Einbringung des Antrags jederzeit möglich, weshalb es aus prozeßökonomischen Gründen durchaus sinnvoll erscheint, dem einmal erlassenen Zulassungsbeschluß hinsichtlich der von § 366 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Förmlichkeiten eine Bindungswirkung zuzuerkennen43. Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nach § 368 StPO sind die folgenden speziellen Prozeßhandlungsvoraussetzungen der Wiederaufnahme zu prüfen: aa) Die Statthaftigkeit, die bei Vorliegen eines tauglichen Anfechtungsgegenstandes zu bejahen ist, worunter jede materiell rechtskräftige Entscheidung über die Schuld- und Straffrage zu verstehen ist44, auch wenn sie nur in Form eines Beschlusses ergeht45. Ferner ist hier die Berechtigung zur Wiederaufnahme46 nach §§365, 296 bis 298, 301 StPO zu nennen wie auch eine Beschwer des Rechtsbehelfsführers, die sich aus

LR -Gössel, §370 Rdn.9 a.a.O. (Fn.3). Allgemeine Meinung, vgl. z.B. KMR-Paulus, §370 Rdn.4 a.a.O. (Fn.8); Kleinkriecht/Meyer, §370 Rdn.2 a.a.O. (Fn.2); Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, 3.Band: Wiederaufnahmerecht 1974, S. 141. 45 KMK-Paulus und Kleinknecht/Meyer wie Fn. 42. 44 S. oben I I . 45 Dieser umstrittenen Frage kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachgegangen werden; eingehend dazu LR-Go'W, Rdn.30ff, 46ff vor §359 a.a.O. (Fn.3). 44 Eingehend dazu Dünnebier, Die Berechtigten zum Wiederaufnahmeantrag, Festgabe für Karl Peters zum 80. Geburtstag 1984, S.333. 41

42

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dem Entscheidungstenor ergeben muß47, und endlich ein bestimmter Antrag (§ 366 Abs. 1 StPO), welcher der in § 366 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form bedarf (Unterzeichnung der Antragsschrift durch einen Verteidiger oder Rechtsanwalt oder Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle). Ferner gehört zur Zulässigkeit nach § 368 Abs. 1 StPO die Geltendmachung eines der in §§ 359, 362 StPO gesetzlich aufgeführten Wiederaufnahmegründe, die Schlüssigkeit des Wiederaufnahmeantrags48 und schließlich die Anführung geeigneter Beweismittel. bb) Die zutreffende Beurteilung der Geeignetheit der Beweismittel als Zulässigkeitsvoraussetzung der Wiederaufnahme nach § 368 Abs. 1 StPO wird indessen insofern erschwert, als auch die restitutio propter nova des § 359 Nr. 5 StPO die Geeignetheit von neuen Tatsachen oder Beweismitteln verlangt - dies macht eine Klärung des Verhältnisses der von § 368 Abs. 1 StPO verlangten Geeignetheit der Beweismittel zu der des § 359 Nr. 5 StPO notwendig. Schon der Wortlaut des § 359 Nr. 5 StPO verlangt, daß die Geeignetheit der neuen (Tatsachen oder) Beweismittel auf die Erreichung der zulässigen Wiederaufnahmeziele (o. I I ) zu beziehen ist49 - damit macht diese Vorschrift die Existenz neuer (Tatsachen oder) Beweismittel zur inhaltlichen Voraussetzung des gesetzlichen Wiederaufnahmegrundes der restitutio propter nova (z. B.: der Zeuge X sagt tatsächlich aus, daß sich der Verurteilte zur Tatzeit in stationärer Behandlung und nicht am Tatort befand). Hier also kann die Geeignetheit der Beweismittel nur die Frage der inhaltlichen Begründetheit der Wiederaufnahme betreffen, nicht aber deren Zulässigkeit. Die von § 368 Abs. 1 StPO verlangte Geeignetheit der Beweismittel bezieht sich auf die im Wortlaut vorauf als Zulässigkeitsvoraussetzung genannte Geltendmachung von gesetzlichen Wiederaufnahmegründen und über diese mittelbar auch auf die Erreichung der Wiederaufnahmeziele. Hier wird indessen nicht inhaltlich die Existenz solcher Beweismittel (s. obiges Beispiel) verlangt, sondern bloß deren auf die einzelnen Wiederaufnahmegründe bezogene und insoweit schlüssige „Anführung" - damit aber erweist sich § 368 Abs. 1 StPO als eine verfahrensrechtliche Norm über die Notwendigkeit eines Nachweises des betreffenden Beweismittels durch bloße schlüssige Benennung (z.B.: der Zeuge X wird bekunden, daß der Verurteilte zur Tatzeit stationär behandelt wurde und nicht am Tatort war). Die von § 368 Abs. 1 StPO verlangten 47 Neumann, System der strafprozessualen Wiederaufnahme 1932, S.49; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, Handbuch 1983, S.237. 48 LR-Gösse/, §368 Rdn.5f a.a.O. (Fn.3). 49 Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S.431; Demi, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1979, S.66.

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Beweismittel müssen also den Nachweis der inhaltlichen Voraussetzungen der jeweiligen einzelnen Wiederaufnahmegründe ermöglichen, einschließlich der der restitutio propter nova und damit auch den Nachweis jener in § 359 Nr. 5 StPO genannten zur Erreichung der Wiederaufnahmeziele tauglichen neuen Tatsachen oder Beweismittel. b) Wie bereits oben a erwähnt, sind die speziellen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Wiederaufnahme nicht bloß im Aditionsverfahren, sondern grundsätzlich mit der Ausnahme der von §366 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Förmlichkeiten auch im Probationsverfahren zu beachten. Das Probationsverfahren verlangt indes den Beschluß über die Zulassung der Wiederaufnahme nach §368 Abs. 1 StPO (o. vor 1) als zusätzliche Voraussetzung: das Fehlen des Zulassungsbeschlusses steht dem Erlaß der Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens nach §370 Abs. 2 StPO und auch den Entscheidungen nach §371 StPO entgegen - ebenso aber, wie beim Fehlen der in § 368 Abs. 1 StPO genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen das Wiederaufnahmeverfahren noch nachträglich für unzulässig erklärt werden kann (o. a), so kann auch noch im Probationsverfahren der bisher fehlende Zulassungsbeschluß nachgeholt werden. 2. Die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen im Wiederaufnahmeverfahren Wie bereits oben A II erwähnt, gibt es Umstände, die als sog. Prozeßvoraussetzungen oder -hindernisse eine Sachentscheidung über Schuld und Strafe des Angeklagten nicht zu erreichen erlauben und deshalb jedenfalls in allen gerichtlichen Stadien des Verfahrens zu beachten sind. Inwieweit einige der wichtigsten dieser allgemeinen Prozeßvoraussetzungen das Wiederaufnahmeverfahren beeinflussen, soll im folgenden betrachtet werden. a) Die UnStatthaftigkeit der Strafverfolgung (§ 13 GVG), die fehlende Unterwerfung des Beschuldigten unter die deutsche Strafgerichtsbarkeit (z.B. §§18ff GVG), die Schuldunfähigkeit von Kindern (§19 StGB), Verjährung, Amnestie, Begnadigung und fehlender Strafantrag stehen nicht bloß der Durchführung des Hauptverfahrens entgegen, sondern der Durchführung jedes Stadiums eines Strafverfahrens und damit grundsätzlich auch dem des Wiederaufnahmeverfahrens. Indessen ist im Wiederaufnahmeverfahren zu differenzieren: standen die genannten Umstände schon dem zu einem rechtskräftigen Schuldspruch oder sonst zu einer materiell rechtskräftigen Entscheidung (o. 11) führenden voraufgegangenen Verfahren entgegen, so muß das Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Beschuldigten mit dem Ziel der Verfahrenseinstellung

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regelmäßig50 möglich sein - treten die genannten Umstände allerdings erst nach Rechtskraft der mit der Wiederaufnahme angegriffenen Entscheidung auf51, so stehen sie grundsätzlich auch einer Sachentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren entgegen; in den Fällen nachträglich (nach Rechtskraft der mit der Wiederaufnahme angefochtenen Entscheidung) eintretender Unzulässigkeit nach §§ 13 ff; 18 ff G V G allerdings kann bei der Wiederaufnahme zugunsten der Verurteilten dem Betroffenen eine Rehabilitation nicht verwehrt werden. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Verurteilten dagegen ist bei Vorliegen der genannten Prozeßhindernisse nicht möglich. Liegen derartige Prozeßhindernisse vor, so sind mehrere Rechtswirkungen denkbar: einmal die Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags als unzulässig nach § 368 Abs. 1 StPO, die Einstellung durch Beschluß nach § 206 a StPO und schließlich, wie in der Literatur häufig vertreten, bei Auftreten dieser Prozeßhindernisse vor Abschluß des Probationsverfahrens durch eine Entscheidung nach § 371 Abs. 2 oder § 373 Abs. 1 StPO 52 . Es ist jedoch kaum einzusehen, etwa das noch im Aditionsverfahren befindliche Wiederaufnahmeverfahren noch bis zum Zulassungsbeschluß nach § 368 StPO oder gar bis zu einer Entscheidung nach § 371 Abs. 2 oder §373 Abs. 1 StPO weiter zu treiben, obwohl feststeht, daß die genannten Umstände eine Sachentscheidung in jedem Fall verhindern: hier ist das Wiederaufnahmeverfahren nach der in jedem Verfahrensstadium geltenden Vorschrift des § 206 a StPO 53 sofort einzustellen. Entsprechendes gilt, steht dem Wiederaufnahmeverfahren eine den Wiederaufnahmegrund verbrauchende rechtskräftige Wiederaufnahmeentscheidung nach §§368, 370 StPO entgegen54. b) Hinsichtlich der Verfahrenshindernisse der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft ist zunächst zu beachten, daß mit der Rechtskraft der mit der Wiederaufnahme angefochtenen Entscheidung das Verfahrenshindernis der Rechtshängigkeit in das der Rechtskraft gleichsam übergeht. Die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung aber ist Voraussetzung des Wiederaufnahmeverfahrens und kann dieses deshalb nicht hindern. so Hinsichtlich unterbliebener Anwendung eines Straffreiheitsgesetzes s. LR-Gösse/, Rdn. 100 vor § 359 a. a. O . (Fn. 3). 51 Z u m Strafantrag vgl. allerdings § 7 7 d Abs. 1 S . 2 S t G B : N a c h rechtskräftigem Abschluß des Strafverfahrens kann ein Strafantrag nicht mehr zurückgenommen werden. 52 L R - M e y e r - G o ß n e r , § 2 0 6 a Rdn. 15 a . a . O . ( F n . 3 ) ; KMK-Paulus, § 2 0 6 a Rdn. 15 a . a . O . (Fn. 8); Peters, S. 158 ff a . a . O . (Fn. 4 2 ) ; Meyer-Goßner, Zur Anwendung des § 2 0 6 a S t P O im Rechtsmittel- und Wiederaufnahmeverfahren G A 1973, 366, 375. 53 Ebenso Kleinknecht/Meyer, § 2 0 6 a R d n . 6 a . a . O . ( F n . 2 ) ; O L G Frankfurt N J W 1983, 2398. 54 Vgl. z . B . KMK-Paulus, § 3 6 6 Rdn. 17 a . a . O . (Fn. 8), der indes anders als hier Unzulässigkeit i. S. von § 368 S t P O annehmen dürfte.

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Ist das Verfahrenshindernis der Rechtskraft im voraufgegangenen Verfahren übersehen worden, so kann nach den obigen Ausführungen unter 12 das Wiederaufnahmeverfahren mit dem Ziel der Einstellung nach § 206 a StPO betrieben werden. c) Auf die Verhandlungsfähigkeit des Verurteilten als einer allgemeinen Prozeß Voraussetzung kann jedenfalls grundsätzlich auch im Wiederaufnahmeverfahren nicht verzichtet werden. Daher ist es nicht möglich, eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten durchzuführen, der verhandlungsunfähig ist. Bei der Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten gilt nach dem derzeitigen Wortlaut des Gesetzes an sich nichts anderes. Indessen ist hier zu bedenken, daß § 361 StPO die Wiederaufnahme auch zu Gunsten des verstorbenen Verurteilten zuläßt. Würde man dem Wortlaut des Gesetzes folgen, so würde der schwer erkrankte oder aus sonstigen Gründen dauernd Verhandlungsunfähige seine Rehabilitation durch Aufhebung eines Fehlurteils zu seinen Lebzeiten nicht mehr erreichen können - deshalb ist in diesem Fall § 361 StPO analog anzuwenden und die Verhandlungsunfähigkeit im Wiederaufnahmeverfahren demnach kein die Unzulässigkeit des Verfahrens bedingender Umstand55. d) Bei Fehlen der in § 367 StPO, § 140 a G V G festgelegten Zuständigkeit zur Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens dürfte, wie schon bei der Zuständigkeit im voraufgegangenen Verfahren, eine Verfahrenseinstellung kaum prozeßökonomisch sein, weshalb auch hier der oben B 1 3 erwähnte Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, das Verfahren alsbald an das zuständige Gericht gelangen zu lassen. Sollte dies nicht schon, wie regelmäßig, durch eine bloße Weiterleitung der Akten unter Vermittlung der Staatsanwaltschaft erreicht werden können, so sollten §§269, 270 StPO bei fehlender sachlicher Zuständigkeit angewendet werden: bei Zuständigkeit eines höheren Gerichts sollte beschlußmäßige Verweisung möglich sein, während die an sich gegebene Zuständigkeit eines Gerichtes niederer Ordnung in entsprechender Anwendung des §269 StPO unbeachtet bleiben und erst im Beschluß nach §370 Abs. 2 StPO zur Anordnung der Wiederaufnahme vor dem zuständigen Gericht in entsprechender Anwendung des §354 Abs. 3 StPO führen sollte; Gleiches sollte für die Nichteinhaltung von Spezialzuständigkeiten in entsprechender Anwendung der § § 6 a , 355 StPO gelten und ebenso für die fehlende örtliche Zuständigkeit in analoger Anwendung der §§16, 355 StPO.

55

LR-Gosse/, Rdn.95 vor § 3 5 9 a . a . O . (Fn.3).

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Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren

III. Die Zulässigkeit im wiederaufgenommenen

Verfahren

Im wiederaufgenommenen Verfahren ist auch für die Beurteilung der Zulässigkeit von entscheidender Bedeutung, daß der Wiederaufnahmebeschluß nach § 3 7 0 Abs. 2 S t P O das Verfahren in den Zustand zurückversetzt, in dem es sich vor Erlaß der mit der Wiederaufnahme angefochtenen Entscheidung befunden hatte 56 . Weil damit das Verfahren in das Stadium des voraufgegangenen Verfahrens versetzt ist, sind hier die Zulässigkeitsfragen grundsätzlich nicht anders zu beurteilen, als oben unter I für das voraufgegangene Verfahren dargelegt. Jedoch sind wegen des durchlaufenen Wiederaufnahmeverfahrens folgende Modifikationen zu beachten:

1. Der

Wiederaufnahmebeschluß

Der Beschluß über die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 3 7 0 Abs. 2 S t P O ist eine Voraussetzung für die Durchführung des neuen Sachentscheidungsverfahrens, der in seinen Wirkungen dem Eröffnungsbeschluß verglichen werden kann. Allerdings entspricht der Wiederaufnahmebeschluß diesem schon deshalb nicht völlig, weil wegen der Zurückversetzung des Verfahrens in den Zustand vor Erlaß der angefochtenen Entscheidung Anklage und Eröffnungsbeschluß des voraufgegangenen Verfahrens den Gegenstand auch des wiederaufgenommenen Verfahrens bestimmen. Im übrigen sind etwa fehlende Sachentscheidungsvoraussetzungen des Wiederaufnahmeverfahrens ohne Einfluß auf das wiederaufgenommene Verfahren: wie immer fehlerhaft das Wiederaufnahmeverfahren selbst auch durchgeführt worden sein mag, und sei es auch ohne den Zulassungsbeschluß des § 368 S t P O , ist nach Erlaß des Wiederaufnahmebeschlusses nach § 3 7 0 Abs. 2 S t P O bedeutungslos geworden.

2. Gerichtliche

Zuständigkeit

Die gerichtliche Zuständigkeit zur Durchführung des wiederaufgenommenen Verfahrens ist abweichend von der des voraufgegangenen Verfahrens geregelt: sie liegt nunmehr bei dem nach § 367 S t P O , § 140 a G V G zuständigen Gericht 57 . Bei fehlender Zuständigkeit ist ebenso zu verfahren wie bei Zuständigkeitsmängeln im Wiederaufnahmeverfahren (s.o. 112 d).

56 57

H. M., vgl. z. B. Kleinknecht/Meyer, § 370 Rdn. 10 a. a. O. (Fn. 2) m. w. Nachw. LR-Gössel, §370 Rdn.48 a.a.O. (Fn.3).

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3. Verhandlungsfäbigkeit Bei fehlender Verhandlungsfähigkeit ist das (wiederaufgenommene) Verfahren nicht etwa einzustellen 58 : wie schon im Wiederaufnahmeverfahren die entsprechende Anwendung des §361 StPO vorgeschlagen wurde (o. II 2 c), so hier die entsprechende Anwendung des §371 Abs. 1 StPO 5 '.

» So aber O L G Frankfurt N J W 1983, 2398. ' Hassemer, Verhandlungsunfähigkeit des Verurteilten im Wiederaufnahmeverfahren, N J W 1983, 2353; Kleinknecht/Meyer, §371 Rdn.6 a . a . O . (Fn.2). 5

5

Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann I. Selbständige

Schriften

Das Verbrechen und Vergehen gegen den Personenstand, Bonn, Jur. Diss. 1950. Steigt die Jugendkriminalität wirklich? Bonn 1965. Strafanspruch, Strafklagrecht. Die Abgrenzung des materiellen vom formellen Strafrecht, Bonner Habil.Schrift, Göttingen 1968. Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971. Menschsein zwischen Zwang und Schuld, Thematische Gottesdienste, Regensburg 1973. Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren (in Zusammenarbeit mit Claus Hartmann, Klaus Höfer, Helmut Marquardt, Hans Rausch), München 1975. Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1977.

II. Aufsätze u. a. Hinweise für die kriminologische Auswertung von Ermittlungs- und Strafverfahrensakten, in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 36 (1953), S. 180-186. Der Irrtum über Voraussetzungen, die für § 240 II StGB beachtlich sind, in: Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1954, S. 359-364. Verbotsirrtum als Strafausschließungsgrund? Wochenschrift 1955, S. 1057-59.

in: Neue

Juristische

Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? in: Juristenzeitung 1962, S. 193-199. Gramaticas System der Difesa Sociale, in: H.Welzel u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hellmuth v.Weber, Bonn 1963, S. 418-444.

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Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann

Buchbesprechung von Göppinger, Hans E.: Die gegenwärtige Situation der Kriminologie. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1964. 42 S. (Recht und Staat, H . 288/289), in: Juristenzeitung 1964, S.696. Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt bleiben auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? in: H . Kaufmann u. a. (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Grünhut, Marburg 1965, S. 61-91. Beleidigung und falsche Anschuldigung, in: R.Sieverts u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., Berlin 1966, Bd. 1, S. 75-81. Das Bild der Frau im älteren kriminologischen Schrifttum, in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 50 (1967), S. 143-153. Die Regelung der Zurechnungsunfähigkeit im E 1962, in: Juristenzeitung 1967, S. 139-144. Literaturbericht: Jugendstraf recht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 79 (1967), S. 822-830. Das Verhältnis von §3 J G G zu §51 StGB in: Juristenzeitung 1969, S. 358-364. Hellmuth von Weber f , in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 53 (1970), S.273. In Memoriam Hellmuth von Weber, Reden gehalten am 15. Mai 1971 bei der Gedächtnisfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn von Franz Ferschl und Hilde Kaufmann, Bonn 1972, S. 8-27. Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik, in: Juristenzeitung 1972, S. 78-81. Literaturbericht: Jugendstrafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 84 (1972), S. 134-141. Repression oder Vorbeugung? in: H . Kaufmann (Hrsg.), Jugend-Kriminalität und wir, Oeffingen 1974, S. 12-29. Jugendstrafrechtsreform de lege lata? in: G.Stratenwerth u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Welzel, Berlin 1974, S. 897-915. Die Gefängnissubkultur, in: G.Deimling u. J . M . Häußling (Hrsg.), Erziehung und Recht im Vollzug der Freiheitsstrafe, Wuppertal 1974, S. 105-116. Strafgedanke und Behandlungsvollzug, in: Blätter für Strafvollzugskunde, S.5-6, Beilage zum „Vollzugsdienst" N r . 3, 1974.

Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann

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Die ungewollten Straftaten als Probleme des Rechts und der Rechtswissenschaft heute, in: Universitas 1975, S. 599-608. In Memoriam Hans v. Hentig, Reden gehalten anläßlich der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 15.Januar 1975 von Klaus Schiaich, Karl Engisch, Hilde Kaufmann, Köln, Bonn 1976, S. 27-37. Strafvollzugsreform und Klassifikation, in: G. Warda u. a. (Hrsg.), Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, Berlin, N e w York 1976, S. 587-596. Eine Antwort, in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 61 (1978), S. 263-266. Die kriminologische Lehrveranstaltung als allgemeine Orientierungshilfe für Studierende? in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 63 (1980), S. 379-384. Maßstäbe für die Bewertung der Gleichheit und Ungleichheit von Mann und Frau, in: Handbuch der christlichen Ethik, Hrsg. A . H e r t z u.a., Bd. 3, Freiburg, Basel, Wien 1982, S. 317-333.

Veröffentlichungen in spanischer Sprache I. Selbständige Schriften Principios para la reforma de la ejecución penal. Biblioteca de Ciencias Penales, Bd. 1, Buenos Aires 1977. Ejecución penal y terapia social. Buenos Aires 1979. Delincuentes juveniles - diagnosis y juzgamiento. Biblioteca de Ciencias Penales, Bd. 6, Buenos Aires 1983. II. Aufsätze u. a. Q u e deja en pié la criminología del derecho penal? in: Anuario de derecho penal y ciencias penales, Tomo XVI, Fascículo II. Madrid 1963, p. 235-250. La criminología como crítica social, in: Nuevo Pensamiento Penal Año 2, N o . 1, Buenos Aires 1973, p. 61-68. Derecho penal de culpabilidad, concepto de la pena y ejecución orientada por el tratamiento, in: Nuevo Pensamiento Penal, Año 3, Buenos Aires 1974, p. 109-120.

1000

Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann

La función del concepto de la pena en la ejecución del futuro, in: Nuevo Pensamiento Penal, Año 4, No. 5, Buenos Aires 1975, p. 21-32. Principios fundamentales de una reforma de la ejecución penal, in: Capítulo criminológico 5, Maracaibo 1977, p. 205-219. Represión o prevención de menores? in: Doctrina penal, Año 1, Buenos Aires 1978, p. 461-474. Carta abierta a la redacción y a los lectores de «Nuevo Foro Penal», in: Nuevo Foro Penal, Medellín, Colombia, Año 1, No. 3, 1979, p. 7-10. Concepciones del hombre en derecho penal y criminología, in: Doctrina Penal, Año 4, 1981, No. 13, p. 15-28.

Hilde Kaufmann zum Gedächtnis Reden anläßlich der Akademischen Trauerfeier für Frau Professor Dr. Hilde Kaufmann am 25. Juni 1981 von Peter Hanau, Günther Kaiser, Helmut Marquardt, Kölner Universitätsreden Nr. 57, Krefeld 1981.