Zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik: Heidegger, Schelling und Jacobi 9783787328017, 9783787328000

Ausgangspunkt des Bandes ist die Frage, worum das »spätere« Denken Heideggers, das Denken nach Sein und Zeit, wesentlich

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Zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik: Heidegger, Schelling und Jacobi
 9783787328017, 9783787328000

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PA R A DE IGM ATA 33

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

KONSTA NZE SOMMER

Zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik Heidegger, Schelling und Jacobi

FELIX MEINER VER L AG H A MBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2800-0 ISBN eBook: 978-3-7873-2801-7

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds der VG Wort. www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2015. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Spei­cherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Bookfactory, Bad Münder. Werkdruck­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

I N H A LT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 K A PI T E L I

Die Freiheitsschrift

1. Annäherung von außen: Die Freiheitsschrift als Wendepunkt . . . . . . . . . . . . 35 2. Das Dilemma – System und Freiheit – Spinoza und Jacobi . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Schellings Weg zur Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.1 Ein »Gegenstück zu Spinoza« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.2 Die Ichschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.3 Die Briefe über Dogmatismus und Kritizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.4 Die Identitätsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Die Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Die Einleitung der Freiheitsschrift – erste Verhältnisbestimmungen zu Jacobi und Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.2 Der Hauptteil der Freiheitsschrift und seine Grundstrukturen . . . . . . 109 4.3 Die Stuttgarter Privatvorlesungen: Strukturmodelle und Vermittlungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4.4 Die Freiheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5. Das Scheitern der Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 K A PI T E L I I

Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme: Heideggers Auseinandersetzung mit Schelling Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

A. Die Vorlesung von 1936: Identifikation mit Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Einleitung: Die Perspektive der Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

6 Inhalt

1. Die Notwendigkeit eines Systems der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1.1 Der Ausgangspunkt der Interpretation: »Die Unumgänglichkeit des Fragens nach dem System der Freiheit« – Das Problem von System und Freiheit nach Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1.2 Der Pantheismus als Grundlage des Systems der Freiheit – die Einheit von Sein und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Eine »Metaphysik des Bösen«? Sein als Wollen und Werdebewegtheit und die menschliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2.1 Dualität und Identität – das Problem des Bösen und die Bestimmung des Seins als Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2.2 Die menschliche Freiheit – Teil des Systems oder Ansatz zur Sprengung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Schellings Scheitern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 B. Die Vorlesung von 1941: Abgrenzung von Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Einleitung: Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Die »begriffsgeschichtlichen Erörterungen« als Hinführung? . . . . . . . . . . . . . 251 2. Die »Wurzel« der Schellingschen Unterscheidung von Grund und Existenz – »Wollen« als Zentrum der Kritik an Schelling und der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2.1 Die Umwertung des Begriffes »Wollen« und die »Kehre« . . . . . . . . . . 255 2.2 Sein als Wollen – das Fundament der Freiheitsschrift? . . . . . . . . . . . . 258 2.3 Die Rolle des Wollens im Blick auf die gesamte Metaphysik . . . . . . . 265 3. Heideggers Verhältnis zu Schelling: Kritik oder Affirmation? . . . . . . . . . . . . . 269 C. Der Satz vom Grund – heimliche Auslegung der Freiheitsschrift? . . . . . . . . 281 Einleitung: Der Zusammenhang zwischen Der Satz vom Grund und Heideggers Schellingauslegungen . . . . . . . . . . . 281 1. Die beiden Tonarten des Satzes vom Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1.1 Metaphysisches Denken: der Satz vom Grund als »großmächtiges Prinzip« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 1.2 Wandel der »Tonart«: der Satz vom Grund als »Sage vom Sein« . . . . . 292 2. Der Zusammenhang der Sage vom Sein mit der Auslegung der Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Inhalt 7



2.1 Vergleich der Begriffe Grund, Existenz und Ungrund in den Vorlesungen von 1936 und 1941 mit den Begriffen Grund, Sein und Ab-grund in Der Satz vom Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2.2 Die Strukturverhältnisse: Identität, Dualität und Abgründigkeit . . . . 301 K A PI T E L I I I

Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi 1. Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 1.1 Denkwege – Parallelen zwischen Schelling und Heidegger . . . . . . . . 319 1.2 Kehre und Übergang zum neuen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 1.3 Der Übergang als Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 2. Gemeinsamkeiten: Die Radikalität des Übergangs im Sprung . . . . . . . . . . . . 335 2.1 Der Sprung als Zentrum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 2.2 Die Eigenwilligkeit des Sprunges und der durch den Sprung charakterisierten Denklandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 2.3 Die Beschaffenheit des Absprungbodens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 3. Ambivalenzen und Unterschiede – Grund und Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . 358 3.1 Der Satz vom Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 3.2 Der Zusammenhang von Grund und Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 4. Die Aufhebung der Radikalität – Zeit und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 4.1 Sukzession versus ewige Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 4.2 Grundzüge der Seinsgeschichte – Ambivalenzen und Probleme . . . . . 377 4.3 Der Übergang als Kehre – Aufhebung des Sprunges unter der Perspektive des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 5. Übergang zum neuen Denken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 5.1 Seinsgeschichte als Umkehrung der Erklärungsrichtung . . . . . . . . . . 398 5.2 Modifikation der Denklandschaft – der Zusammenhang von Verbindung und Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 5.3 Die Rolle der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 5.4 Schelling, Heidegger und Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418

Quellen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

VORWORT

Methodisches Diese Arbeit ist ursprünglich als Untersuchung zu Heidegger entstanden. Sie möchte in diesem Sinne vor allem einen Beitrag leisten zur Aufklärung dessen, worum das »spätere« Denken Heideggers, das Denken nach Sein und Zeit, bzw. das Denken der »Kehre« und der Seinsgeschichte, wesentlich kreist. Dabei soll es vor allem darum gehen, Heideggers auf Anhieb oft kryptische Texte in einen Kontext rational nachvollziehbarer Argumente zu versetzen und sie auf diese Weise einerseits zugänglich, andererseits aber auch auf konkrete Art und Weise kritisierbar zu machen.1 Der Zugang zu Heidegger erfolgt dabei über Schellings Freiheitsschrift, über Heideggers Auseinandersetzung mit diesem Text und über die Präsenz bestimmter Figuren aus Schellings Philosophie in Heideggers späterem Denken. Dieser Zugang bedarf zunächst keiner weiteren Begründung, sofern der grundlegende Bezug zwischen Schellings Freiheitsschrift und Heideggers Denkweg mittlerweile wohl als unbestritten gelten darf. In weiterer Perspektive aber führt sie vermittelt über die Freiheitsschrift und deren historisch-theoretischen Hintergrund auch auf einen Zusammenhang mit zwei weiteren Philosophen, Baruch de Spinoza und Friedrich Heinrich Jacobi, Denker, deren Namen in der Auseinandersetzung mit Heidegger keine oder so gut wie keine Rolle spielen. Auf diese Weise setzt die Arbeit vier sehr unterschiedliche Denker, die zu unterschiedlichen Zeiten und vor unterschiedlichen theoretischen Hintergründen gelebt und gedacht haben, miteinander in Bezug. Die Untersuchung sieht sich dadurch allerdings bestimmten Vorbehalten ausgesetzt, weil sie in gewisser Weise unterstellt, dass alle vier hier versammelten Denker auf ihre je eigene Weise an ein und derselben Sache gearbeitet haben. Solche Bedenken scheinen durchaus berechtigt und sind darum an dieser Stelle nicht ohne Weiteres abzuweisen. 1  Dabei wird die politische Dimension nahezu vollständig ausgeblendet. Das scheint nach dem Erscheinen der ›Schwarzen Hefte‹ und vor dem Hintergrund der derzeitigen Diskussion um Heideggers Antisemitismus vielleicht rechtfertigungsbedürftig. Tatsächlich ist die vorliegende Arbeit vor dem Bekanntwerden der antisemitischen Äußerungen Heideggers entstanden. Andererseits aber hat sich an der Notwendigkeit, Heideggers Denken erst einmal rational zugänglich zu machen, dadurch auch nichts geändert. Eine Analyse der grundlegenden Argumente und Denkfiguren – die zudem im Kontext metaphysikkritischer Positionen auch jenseits des Heideggerschen Werkes präsent sind – ist im Hinblick auf die Diskussion um die politischen Verstrickungen Heideggers ebenfalls relevant.

10 Vorwort

Weil letztlich nur die Arbeit im Ganzen einsichtig machen kann, ob und wie ein solcher Vergleich berechtigt ist, soll an dieser Stelle zur Rechtfertigung der Methode zunächst nur auf die konkreten Bezugnahmen hingewiesen werden, die alle vier, zumindest aber die drei im Titel genannten Denker tatsächlich unmittelbar miteinander verbindet. So wird im ersten Kapitel deutlich, dass Schelling sich in der Freiheitsschrift explizit auf Jacobi und Spinoza bezieht, mit denen er sich zeit seines Lebens kritisch, gleichzeitig aber auch in der Weise positiver Aneignung auseinandergesetzt hat. Das zweite Kapitel, in dem es um den Bezug zwischen Schelling und Heidegger geht, kann sich darauf stützen, dass Heidegger den »wesentlichen Bezug« seines Denkens zu Schellings Freiheitsschrift bereits zum Ausgangspunkt seiner frühen Vorlesung von 1936 macht. Schwieriger hingegen scheint der Fall im dritten Kapitel zu liegen, weil der Bezug zwischen Heidegger und Jacobi zunächst nur vermittelt über Schelling überhaupt gegeben scheint. Dennoch macht gerade der Vergleich der vernunft- bzw. metaphysikkritischen Strukturen bei Heidegger und Jacobi deutlich, dass eine direkte Auseinandersetzung Heideggers mit Jacobi, trotz der fehlenden expliziten Verweise, durchaus als wahrscheinlich gelten kann. Dass im Titel dieser Arbeit neben Heidegger und Schelling nur Jacobi, nicht aber Spinoza genannt wird, lässt sich daher unter anderem damit rechtfertigen, dass ein solch direktes Verhältnis zwischen Heidegger und Spinoza vielleicht in Zweifel gezogen werden kann. Andererseits aber liegt der Grund dafür auch in dem Ansatz, der vor allem den metaphysikkritischen Absichten Heideggers einen entscheidenden Stellenwert einräumt. Der Zusammenhang seines Denkens mit wesentlichen Merkmalen der spinozischen Philosophie wird daher nicht eigens zum Gegenstand der Untersuchung. Er bleibt aber gleichwohl in den Überlegungen überall präsent und lässt damit die Möglichkeit offen, Heidegger und Spinoza über diese Untersuchung hinaus aufeinander zu beziehen und sie auf dieser Grundlage tatsächlich in einen Dialog eintreten zu lassen.2 Diese Arbeit will also keineswegs den einzelnen Philosophen ihre jeweilige Einzigartigkeit absprechen, ebensowenig wie sie versucht, bestimmte Denker auf die Position anderer Denker zu reduzieren, sie zu bloßen Vorläufern oder Nachahmern zu erklären. Vielmehr soll im Laufe der Arbeit ein Panorama entstehen, welches

2  Ein

solcher Versuch findet sich bereits bei Jean Marie Vaysse, der Heidegger und Spinoza über eine »mise en dialogue« miteinander in Beziehung setzen möchte (Vaysse (2004)). Interessant ist dabei vor allem der Umstand, dass Vaysse selbst in Spinoza einen Kritiker an der traditionellen Metaphysik erkennt, die er mit dem Gedanken von Transzendenz wesentlich verbunden sieht. Meines Erachtens bleibt dieser Versuch dennoch unbefriedigend, weil beide Positionen mehr oder weniger unvermittelt nebeneinander stehenbleiben. Was fehlt, ist ein einheitlicher Bezugsrahmen, den die vorliegende Untersuchung in gewisser Weise ergänzt.

Methodisches 11

das Thema von Metaphysik und Metaphysikkritik als vielfältigen und komplexen Problembereich erkennen lässt, in dem sich die jeweiligen Positionen verorten und kritisieren lassen.

* * *

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die weitgehend unveränderte Fassung meiner Dissertation, die 2014 von der Ruhr-Universität Bochum angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Birgit Sandkaulen, der ich meinen Zugang zur Philosophie verdanke und die mich stets ermutigt und an das Gelingen des Projekts geglaubt hat. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Walter Jaeschke für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie Dr. Marko Fuchs für die guten Ratschläge in letzter Sekunde. Im Hinblick auf die finanzielle Unterstützung danke ich der Friedrich-SchillerUniversität Jena für die Gewährung eines Landesgraduiertenstipendiums und der VG Wort für den Druckkostenzuschuss. Nicht zuletzt danke ich auch meinem Mann Rupert, ohne dessen umfassende Unterstützung diese Arbeit nicht hätte entstehen können.

E I N L E I T U NG Einleitung

Von Heideggers Denken geht unbestreitbar eine große Faszination aus. Daher gilt Heidegger, nicht zuletzt auch wegen seiner außerordentlichen Wirkungsgeschichte, als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Andererseits aber ist ebenso unbestreitbar, dass Heidegger – und zwar nicht nur als Denker, sondern auch als Person – zugleich polarisiert wie vielleicht kein anderer Philosoph. Gleichwohl kann man noch in der Polarisierung, in den extremen Reaktionen also, die Heideggers Denken auslöst, einen Beleg für die besagte Faszination erkennen.3 Wie auch immer man sich Heidegger gegenüber verhalten mag – Gleichgültigkeit zumindest scheint sein Denken selten hervorzurufen. An Heidegger, so kann man daher mit gutem Recht sagen, scheiden sich die Geister. Er wird verehrt und verachtet, als Prophet eines neuen Denkens gefeiert und als bloßer Scharlatan kritisiert.4 Tatsächlich handelt es sich damit bei Heidegger wohl um den seltenen, wenn nicht einzigartigen Fall eines Philosophen, dessen Bedeutung einerseits unübersehbar ist, weil er uns die Welt auf eine ganz besondere Weise aufzuschließen scheint, und dessen Denken 3  Vgl.

z. B Marten (2003a), S. 332: »Gesuchte Theorie- und Wissenschaftsferne, versuchte Sprachmagie und Prophetie, voll ausgereizte geistige Ernsthaftigkeit und Frömmigkeit, äußerste Sensibilität für Konsequenzen von Aufklärung und technologischem Fortschritt verdichten sich in ihm zu einem Faszinosum, das zu verdunkeln auch in Zukunft keiner argumentativen Bedenklichkeit und Redlichkeit gelingen wird.« 4  Vergleichbare Überlegungen finden sich wohl in den meisten Einleitungen zu Auseinandersetzungen mit Heidegger. Vgl. z. B. Immel (2007), S. 9: »Der Name Martin Heideggers sticht vor allem aus zwei Gründen aus der abendländischen Philosophiegeschichte heraus: zum einen steht sein Name für ein Denken, das eine radikale Abkehr von beinahe der gesamten abendländischen Philosophietradition markiert. Zum anderen – und dies ist in der öffentlichen Wahrnehmung sehr viel stärker ausgeprägt – scheiden sich an Martin Heidegger die Geister wie an kaum einem anderen Protagonisten der Philosophiegeschichte. So wird Heidegger nicht eben selten als politisch braun angehauchter, provinzieller Begriffeklöppler und Halberemit aus dem Schwarzwald gesehen, während andere in ihm den größten Denker des 20 Jahrhunderts erblicken, den ›heimlichen König im Reiche des Denkens‹«. Vgl. außerdem Figal (1992), S. 7: »Das Werk Martin Heideggers ist selten gelassen aufgenommen worden. Es hat Bewunderung ebenso erregt wie – zum Teil erbitterte – Kritik.« Vgl. Inwood (1999), S. 8: »Heidegger war (möglicherweise zusammen mit Wittgenstein) der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts. Er war (möglicherweise zusammen mit Hegel) der größte Scharlatan, der sich je die Bezeichnung ›Philosoph‹ angemaßt hat, ein Meister des leeren Tiefsinns«. Auch Alfred Denker stellt seine einleitenden Überlegungen zur »Einführung in Leben und Denken Martin Heideggers« unter den Titel »Warum Heidegger?«, weil sich in der Öffentlichkeit »das Bild Heideggers in den letzten Jahrzehnten von einem großen Denker in eine unsympathische und fragwürdige Figur und einen philosophischen Scharlatan gewandelt« (Denker (2012), S. 9) habe.

14 Einleitung

andererseits auch wie eine bloße Spielerei mit Worten aufgefasst werden kann, bei der letztlich ›nichts‹ gesagt wird und bei der die Welt, die er uns doch scheinbar aufschließen wollte, am Ende anscheinend gar nicht mehr vorkommt.5 Ganz besonders gilt dies für die späteren Werke, in denen sich Heidegger immer hermetischer gegen jede äußere Annäherung abzugrenzen scheint. Dieser Versuch der Abgrenzung aber, anders gesagt Heideggers Anspruch, etwas ganz Neues zu denken, bezeichnet zugleich einen wichtigen Punkt, aus dem sich die Faszination, gleichzeitig aber auch die Polarisierung, d. h. die radikale Trennung zwischen »begeisterten Anhängern und verärgerten Skeptikern«6 erklären lässt. Die ganz eigene Sprache beispielsweise, die die Annäherung an Heidegger erschwert, ist selbst Ausdruck der Suche nach einem Solchen, das sich in der traditionell philosophischen Terminologie nicht oder nur unzureichend erfassen lässt. In diesem Sinne ist auch Sein und Zeit schon Teil des ganz neuen Denkens, weil es nicht nur einen neuen Ansatz zu verfolgen scheint, sondern diesen Ansatz auch in der Entwicklung einer ganz eigenen Begrifflichkeit ausdrückt.7 Dass gerade diese eigene Sprache einen Großteil der Faszination ausmacht, eine Sprache, die zunächst vielleicht den Eindruck erweckt, konkreter, plastischer und unmittelbarer zu sein als die abstrakte, nüchterne, vermeintlich objektive Begrifflichkeit der traditionellen Philosophie, ist vielfach belegt.8 Gleichzeitig aber trägt gerade die neue Sprache 5 

In diesem Sinne scheint es mir verfehlt, Heidegger – wie etwa Inwood (1999) dies tut (vgl. Anm. 3) – mit Hegel zu parallelisieren, dessen Denken aus der Perspektive sprachanalytischer Ansätze als haltlose Spekulation erscheinen mag, bei der die Begriffe in Wahrheit gar nichts aussagten. Andererseits ist aber doch nicht zu übersehen, dass Hegel mit seiner Realphilosophie die Welt in ihrer konkreten Vielfalt ganz anders thematisiert als Heidegger. 6  Wetz (2003), S. 290. 7  Sein und Zeit ist dennoch von der obigen Darstellung in gewisser Weise auszunehmen, weil sich dieses Werk eigentlich erst im Nachhinein, also von der Perspektive des späteren Heidegger aus, als Vorbereitung zu einem ganz neuen Denken versteht. Im Vergleich mit dem späteren Denken scheint Sein und Zeit durchaus auf rationale und mehr oder weniger unmittelbare Weise zugänglich zu sein. Dieses Werk Heideggers polarisiert daher auch nicht mehr oder weniger als beliebige philosophische Texte anderer Autoren. In diesem Sinne spaltet sich die Leserschaft eher in solche, die Sein und Zeit interessant finden, die späte Philosophie Heideggers aber ablehnen und in andere, die in Sein und Zeit allenfalls den unausgereiften Ansatz zu einem neuen Denken erkennen wollen. 8 Dieser Charakter der Sprache Heideggers wird z. B. in den Erinnerungen Hans-Georg Gadamers deutlich: »Wenn Heidegger dozierte«, so Gadamer, »sah man die Dinge vor sich, als ob sie körperhaft greifbar wären« (Gadamer (1977), S. 213). Den gleichen Gedanken bringt er auch in einer anderen Schrift zum Ausdruck, die Dieter Thomä in der Einleitung zum HeideggerHandbuch zitiert: »Seine eigene Sprache aber war so, daß man bei jedem seiner Sätze etwas sah, und zwar nicht als ein vorübergehendes Aufblitzen, sondern wie etwas Rundes und Plastisches, das man von allen Seiten betrachten lernte, so daß es wie leibhaftig da war.« (Heidegger-Handbuch, S. XV). Demgegenüber kritisiert Günther Anders in Bezug auf Sein und Zeit, seinerseits mit guten Argumenten, die »Schein-Konkretheit« der Philosophie Heideggers (›Die Schein-Konkretheit von Heideggers Philosophie‹, New York 1948, in: Anders (2001), S. 72–115). Dass die tat-

Einleitung 15

Heideggers auch viel zum esoterischen Charakter seines Denkens und zu spontanen Reaktionen des Befremdens seitens der Leser bei. Dennoch ist die sprachliche Ebene eben nur ein besonderer Ausdruck des eigentlichen Problems, das in Heideggers Anspruch liegt, etwas ganz Neues, im tradi­ tionellen Denken Ungedachtes (bzw. Verdecktes) und mit den Mittel der traditionellen Metaphysik letztlich auch Undenkbares in den Blick zu bringen. Der Versuch einer radikalen Abgrenzung zu allen bisherigen Formen von Philosophie scheint dabei zwei Arten von Denken so grundlegend voneinander zu trennen, dass sich in letzter Konsequenz vielleicht auch nur zwei Möglichkeiten bieten, sich zu Heideggers neuem Ansatz zu verhalten: Entweder, man teilt die Einsichten Heideggers, ist damit unmittelbar auf der Seite des ganz neuen Denkens und kann dieses gewissermaßen immanent beurteilen,9 oder aber man verfügt nicht über derartige Einsichten, bleibt folglich ›draußen‹ und das Denken Heideggers bleibt notwendig fremd und unzugänglich. Was hier vielleicht erst einmal plakativ klingt, ist allerdings keineswegs trivial, sondern markiert eines der wesentlichen Themen in Heideggers späteren Texten: das Problem des Übergangs zu einem solch anderen Denken. Zugleich aber bezeichnet dieser Punkt auch ein wesentliches methodisches Problem der Auseinandersetzung mit Heidegger, weil die Frage nach dem Übergang in gewisser Weise auch die Frage ist, wie man sich an Heideggers eigenes Denken des Übergangs überhaupt annähern kann. Wie ist eine Annäherung für denjenigen möglich, der nicht über bestimmte exklusive Einsichten verfügt und der folglich nicht für sich in Anspruch nehmen kann und will, bereits zu wissen, worum es Heidegger wirklich geht? Dass die Forschungsliteratur zu diesem Thema oft nur bedingt hilfreich ist, erklärt sich wohl aus dem Umstand, dass ein Großteil der Literatur von »begeisterten Anhängern« sächliche oder scheinbare Konkretheit nicht nur die Redeweise von Sein und Zeit betrifft, betont etwa Ute Guzzoni: »Ich denke, es ist eine wichtige Auszeichnung des späteren Denkens von Heidegger, die u. a. auch zur Betonung des Wohnens führt, daß das Denken einen entscheidenden Schritt aus seiner über zweitausendjährigen abstrakten Allgemeinheit hinauswagt in die Konkretheit des Bereichs zwischen Himmel und Erde, der als solcher der Bereich des menschlichen Wohnens ist« (Guzzoni (2009), S. 120, Herv. U.G.). In gewisser Weise also bleibt Heideggers Sprache immer plastisch, wiewohl sie im Rahmen des neuen, seinsgeschichtlichen Denkens die schwierige Aufgabe hat, zugleich ursprünglich und insofern unmittelbar und ›nah‹ am Menschen wie auch »zukünftig«, d. h. besonders fremdartig zu sein. Allerdings ist das Problem der Sprache bei Heidegger ein ganz eigenes, dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann. 9  Dieses Problem kann erneut durch eine Schilderung Gadamers illustriert werden. Heidegger nämlich blieb, so Gadamer, »in sein Fragen und Denken gebannt, mit dem Fuß vorwärts-tastend, ob er festen Grund unter sich finde, verdrossen, wenn man nicht erriet, wo er Halt suchte, und außerstande, anderen zu helfen als durch die Wucht seines eigenen denkenden Einsatzes« (Gadamer (1977), S. 219). Gadamer allerdings wertet die esoterische Tendenz von Heideggers Denken und Sprache nicht negativ, sondern versteht sie als Ausdruck einer »Sprachnot, die nur einer erfährt, der etwas zu sagen hat« (ebd.).

16 Einleitung

verfasst wird, die sich, der oben geschilderten Logik folgend, immanent im Denken und Reden Heideggers bewegen.10 Manche von ihnen scheinen denn auch gar nicht den Anspruch zu haben, das Denken Heideggers für solche aufzuschließen, die nicht über besondere Erfahrungen und Einsichten verfügen und die mit anderen Worten noch nicht längst verstanden haben, worum es denn eigentlich gehen soll.11 Dass Heidegger selbst diese Tendenz befördert, weil er sich mit einer Aura des Unverständlichen umgibt,12 ist kaum von der Hand zu weisen, woraus sich der nicht selten geäußerte Verdacht erklären lässt, dass Heidegger in Wahrheit auch gar nicht verstanden werden möchte. Dennoch bedeutet dies keineswegs, dass Heidegger die Möglichkeit einer Annäherung ›von außen‹ kategorisch ablehnen würde – im Gegenteil. »Für Zugänglichkeit, aber gegen Verständlichkeit« (ÜA 147), das fordert Heidegger in einer, zugegebenermaßen besonders dunklen Schrift mit dem Titel Über den Anfang – ein Motto, das man mit umgekehrter Betonung vor allem positiv, d. h. als Votum für eine Zugänglichkeit seines Denkens lesen könnte. Auch das von 10  Als Beispiel für eine solch immanente Darstellung sei hier ein Abschnitt von Volker Caysa zitiert. Dieser schreibt z. B.: »In der Sprache der Dichtung wird das zu Denkende in der Art eines weisenden Offenbarmachens zunächst geraunt, dann gesagt und dadurch das zu Bleibende gestiftet. Das Ringen um eine neue Begrifflichkeit für das Sein bewegt sich deshalb notwendig in vagen Assoziationen; schärfste Gedankenoperationen werden begleitet von einem Etymologisieren, das willkürlich scheint, phänomenologische Nüchternheit wird begleitet von verwegener, aber ungesicherter Beschwörung eines neuen Seinshorizontes« (Caysa (1994), S. 62). Wiewohl diese Schilderung durchaus zutreffend ist, bleibt die darin erkennbare affirmative Haltung offenbar ebenso ungestützt wie die benannte »Beschwörung des Seinshorizontes«. Im Fall solch immanenter Interpretationen wird allerdings das, was Heidegger sagen möchte, kaum aufgehellt. Gelegentlich ist wohl eher das Gegenteil der Fall. In diesem Sinne hat sich Heidegger auch wiederholt von seinen »Anhängern« distanziert. Dass Heidegger von Beginn an Nachahmer fand, die Heideggers eigentliche Absichten wohl eher konterkarierten, zeigt erneut ein Bericht Gadamers: »Dieser Wirbel radikaler Fragen, in den Heidegger einen hineinriß, nahm im Munde der Nachahmer karikaturhafte Ausmaße an. Offen gestanden, ich möchte nicht gerne ein damaliger Kollege von Heidegger gewesen sein. Überall traten Studenten auf, die es dem Meister ausgezeichnet abgeguckt hatten, ›wie er sich räuspert und wie er spuckt.‹ Diese jungen Leute verunsicherten mit ›radikalen Fragen‹, deren Leerlauf durch ihren Anspruch verdeckt wurde, so manches Seminar, und wenn sie ihr dunkles Heidegger-Deutsch hervorbrachten, mag manchem Professor die Erfahrung eingefallen sein, die Aristophanes in der Komödie beschreibt, wie die von Sokrates und den Sophisten geschulte attische Jugend über die Stränge schlug« (Gadamer 1977, S. 216). 11  In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit – wie längst deutlich geworden sein dürfte – nicht oder nur mittelbar der besonderen Faszination geschuldet, die von Heideggers Denken ausgeht. In dem hartnäckigen Versuch, bestimmten Texten von Heidegger kohärente und überzeugende Argumentationen abzuringen, entstand bei der Verf. immer wieder der Eindruck, dass es sich am Ende doch nur um ein sinnentleertes Spiel mit Worten handelt. Gleichwohl blieb dieser Eindruck immer ambivalent, dabei auch die Ambivalenz des Heideggerschen Denkens widerspiegelnd, die Thema der Arbeit sein wird. 12  Vgl. Adornos Darstellung in Jargon der Eigentlichkeit. Dort heißt es: »Keineswegs ist Heidegger unverständlich, wie Positivisten ihm rot an den Rand schreiben; aber er legt um sich das Tabu, ein jegliches Verständnis fälsche ihn sogleich« (475).

Einleitung 17

Heidegger gern verwendete Wort »Besinnung« weist darauf hin, dass das, worüber er sprechen will, über eine bestimmte Art von Nachdenken durchaus erreicht werden kann. Nicht umsonst sind Heideggers Vorträge und Vorlesungen, allen voran vielleicht die in dieser Arbeit untersuchte Vorlesung über den Satz vom Grund, oft so konzipiert, dass sie den Hörer da abholen, wo er steht, und von da aus versuchen, ihn über eine Art dekonstruktivistischer Auseinandersetzung mit der Metaphysik an den Übergang und damit an das neue Denken heranzuführen. Heideggers Denken des Übergangs ist an seine kritische Auseinandersetzung mit der Metaphysik wesentlich gebunden. So betrachtet scheint es nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu notwendig, von der Metaphysik auszugehen, von dem also, was Heidegger als Metaphysik bestimmt und womit er sich interpretierend auseinandersetzt. Unter dieser Perspektive kommt in der vorliegenden Arbeit Schelling ins Spiel, besser gesagt, dessen Freiheitsschrift, der Heidegger besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Dabei soll zwar nicht gesagt sein, dass dieser Zugang über Schelling der einzig mögliche oder auch nur der beste Weg ist, sich Heidegger anzunähern. Denn letztlich ist auch Heideggers ›späteres‹ Denken wohl nicht so einseitig,13 wie es manchem Leser auf den ersten Blick scheinen mag. In diesem Sinne schließt sich die Arbeit den Worten des Herausgebers des Heidegger-Handbuches, Dieter Thomä, vollkommen an, der den Vorzug des Bandes gerade in der Vielfalt der Zugangs- und Darstellungsweisen der unterschiedlichen Beiträge sieht, mit denen Heidegger »zugänglich« gemacht werden soll.14 Doch auch wenn es wohl noch zahlreiche andere Möglichkeiten der 13 

Das liegt natürlich auch daran, dass sich Heideggers Denken nach Sein und Zeit keineswegs auf einen einheitlichen Nenner bringen lässt. Die Rede vom ›späteren‹ Denken ist daher eher eine Verlegenheitslösung, die vorerst nicht viel mehr signalisiert, als dass mit Sein und Zeit ein wesentlicher Teil von Heideggers Denkweg und die wahrscheinlich wirkmächtigste Schrift Heideggers, die damit auch einen Großteil der Heideggerforschung beschäftigt, aus den Überlegungen weitgehend ausgeblendet wird. Vgl. zu der Rede vom »späteren Heidegger« auch George Pattison (2000), der das Denken des »later Heidegger« einem »early Heidegger« entgegenstellt, den er ebenfalls mehr oder weniger mit Sein und Zeit identifiziert: »If the ›early‹ Heidegger can, more or less justifiable, be identified with one major work, Being and Time, the ›later Heidegger‹ is scattered across a range of works of different types on varied topics« (Pattison (2000), S. 21). Zu der Frage einer genaueren Bestimmung dieses »later Heidegger« vgl. das erste Kapitel mit dem Titel: »Is there a later Heidegger?« (ebd., S. 1–23). Vgl. außerdem Ute Guzzoni, die ebenfalls von einem »späteren« Denken Heideggers spricht: »In diesem Sinne ist der spätere Heidegger, um den es hier zu tun sein soll, ein anderer als der ›frühe Heidegger‹, zunächst vor allem als der Heidegger von Sein und Zeit« (Guzzoni (2009), S. 12). 14  Vgl. Dieter Thomä (Hg): Heidegger-Handbuch, Stuttgart 2003, S. IX (Herv. Thomä). Tatsächlich ragt dieser Band m. E. aus der Zahl der Publikationen zu Heidegger positiv heraus, nicht zuletzt aufgrund der genannten unterschiedlichen Herangehensweisen, die zusammengenommen ein sehr komplexes Bild Heideggers ergeben. Daneben aber versammelt dieser Band gerade solche Autoren, die keine Heidegger-Anhänger im oben genannten Sinne sind. Deutlich wird dabei, wovon auch die Verf. selbst, wieder mit Dieter Thomä überzeugt ist: daß »Kritik und Anerkennung sich nicht ausschließen« (ebd. XV).

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Annäherung geben dürfte, bietet sich Schelling insofern besonders an, als Heidegger selbst seine Auseinandersetzung mit Schelling unter den Titel einer Überwindung der Metaphysik rückt. Schellings Scheitern in der Freiheitsschrift sei »das Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs«, und seine Interpretation ein Versuch, über die Auseinandersetzung mit Schelling an den Übergang zu einem neuen Denken heranzuführen.15 Dieser Ansatz scheint allerdings zunächst einmal nicht neu zu sein. Schon Günther Anders hat in seiner unter dem Titel »Trotz-Philosophie« stehenden Auseinandersetzung mit Sein und Zeit einen entscheidenden Bezug zwischen Heidegger und Schelling hergestellt, weil sich die angeblich ganz neue Frage nach der Unterscheidung von Sein und Seiendem historisch auf Schelling zurückbeziehen lasse.16 Dass 15  In

ähnlicher Weise könnte man daher auch für Nietzsche als Ausgangspunkt der Überlegungen plädieren, weil Nietzsche in dem zitierten Passus vom »Wetterleuchten eines neuen Anfangs« in einem Atemzug mit Schelling genannt wird, und weil Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche entscheidende Parallelen zur Auseinandersetzung mit Schelling aufweist. Schon die zeitliche Nähe der beiden Nietzsche-Vorlesungen zu den beiden Schellingvorlesungen von 1936 und 1941, sowie der Umstand, dass die frühe Deutung unter positiven, die spätere Deutung hingegen unter negativen Vorzeichen steht, belegt diese Übereinstimmung. Daher erstaunt es auch nicht, dass der Versuch, Heideggers späteres Denken vermittelt über seine Auseinandersetzung mit Nietzsche aufzuschließen, mehrfach unternommen wurde. Vgl. z. B. Michael Skowron: Nietzsche und Heidegger. Das Problem der Metaphysik, FfM 1987, Harald Seubert: Zwischen erstem und anderem Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens, Köln u. a. 2000 und Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche, Nietzsche-Interpretationen III, Berlin, New York 2000. 16  »Daß, wie Heidegger behauptet, das Problem Ontologie – Ontik, also die Unterscheidung von Sein und Seiendem, von der abendländischen Philosophie seit Aristoteles nicht wieder in Gang gebracht worden sei, ist eine Behauptung, die einfach unwahr ist. ›Es sind zwei ganz verschiedene Sachen, zu wissen‹, heißt es bei Schelling, ›was ein Seiendes ist, quid sit, und dass es ist, quod sit.‹ (Schelling 1858) Wenn die Transzendentalphilosophie die Freiheit des Subjekts zum Grundthema gemacht hat, so hat sie damit – was die Formulierungen von Kant bis Schelling beweisen – nichts anderes vorgehabt, als den fundamentalen Unterschied zwischen dem ›bedingten‹ Objekt (das ›Seiendes‹ ist) und dem ›Unbedingten‹ (das kein Seiendes ist, sondern ›Seyn‹) zum Gegenstand der Philosophie zu machen« (Anders (2001), S. 216). Einen entscheidenden Bezug sieht er zudem in der »Umwandlung der ›Freiheitsphilosophie‹ in eine Ontologie« gegeben, die er als »Verfall der Freiheit zum Seyn« bewertet, und die »völlig deutlich in Schellings ›positiver Philosophie‹« sei. »Daß aber Heidegger diese noch einmal aufgewärmte Spätform des Problems der Transzendentalphilosophie als Neuigkeit offeriert, entzieht sich aller Erklärung; daß er es kann, beweist nur, daß Schelling immer noch unbekannt ist« (ebd., S. 217). Vgl. auch den folgenden Abschnitt über »Ontologie und Ontik«: »Diese Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem, die der Ausgangspunkt der Heideggerschen Philosophie ist und von der er behauptet, dass sie im Laufe der zweieinhalbtausend Jahre von der Philosophie versäumt worden sei – ist in der Tat nicht einfach mit formallogischen Tricks abzutun. Aber man hat zu fragen, in welcher Situation diese Unterscheidung auftaucht – und ›in welcher Situation‹ bedeutet hier ein doppeltes: 1. in welcher Situation des Menschen taucht ›Sein‹ (sowohl als bloßes erschreckendes Vorhanden-Sein der Welt, wie als eigenes Da-Sein auf? 2. in welcher historischen Situation taucht diese Unterscheidung auf? Ad 1. In Nichtstun. In der Angst, In der Vereinsamung. Ad 2. Siehe Schelling.«

Einleitung 19

Schelling zugleich auch und vor allem als wichtiger Bezugspunkt für Heideggers späteres Denken gelten kann, und dass man folglich im Ausgang von der Philosophie der Freiheitsschrift einen Zugang zu Heideggers Denken der Kehre wie zu späteren Figuren in seinem Denken gewinnen kann, ist darüber hinaus eine Einsicht, die sich mittlerweile wohl allgemein durchgesetzt hat.17 Daneben gilt, dass sowohl der Freiheitsschrift selbst als auch der Auseinandersetzung Heideggers mit der Freiheitsschrift in der letzten Zeit einige Aufmerksamkeit zugekommen ist.18 Gleichwohl bleiben die Untersuchungen zum Verhältnis von Schelling und Heidegger meist auf bestimmte Einzelaspekte beschränkt,19 weshalb nach wie vor gilt, was die HerausDie kritische Auseinandersetzung Anders’ mit Heidegger ist zwar häufig in polemischem Tonfall verfasst, dabei aber oft äußerst pointiert und treffend formuliert. Da seine Kritik zudem teilweise in eine ähnliche Richtung zu zielen scheint wie diejenige Jacobis, weil Anders wie Jacobi versucht, die praktischen Kontexte gegenüber einer rein spekulativen bzw. ästhetischen Haltung stark zu machen, wird Anders vor allem im letzten Kapitel noch häufiger erwähnt werden. 17  Vgl. z. B. Hühn (2010), S. 35: »Dass die Philosophie Schellings mehr als die jedes anderen idealistischen Denkers zur unmittelbaren Vorgeschichte des heideggerschen Denkens gehört, ist […] seit der einschlägigen Habilitationsschrift des Heideggers Schülers Walter Schulz ein offenes Geheimnis«. 18  Durch das 200jährige Jubiläum ist die Freiheitsschrift gerade in der letzten Zeit vermehrt thematisiert worden. Vgl. z. B. Ferrer/Diogo (2012). Heideggers Auseinandersetzung mit Schelling ist vor allem im Zusammenhang mit der Herausgabe der Seminarnotizen, Mitschriften und Protokolle (Jantzen/Hühn (2010) sowie GA 86) in den Blick gerückt worden. 19  Im Zentrum stehen dabei vor allem bestimmte Parallelen wie die Rede von der »Seynsfuge«, die ihre Vorlage in Schellings Unterscheidung zwischen Grund und Existenz finde, das Verständnis der Zeit oder die Heraushebung bestimmter »Erfahrungen«, die dem Denken Heideggers wie Schellings zugrundeliegen sollen. Vgl. dazu J. Hennigfeld, der einige Beispiele für die »Thematisierung der Bezüge« zwischen Schelling und Heidegger auflistet (Hennigfeld (2001), S. 14). Vgl. außerdem Lore Hühn, die in ihrem einleitenden Beitrag zur Herausgabe der Seminarnotizen eine ganze Reihe von Parallelen formuliert und zugleich ein Panorama an Möglichkeiten aufzeigt, anhand derer das Verhältnis zwischen Heidegger und Schelling über die bisher erforschten Perspektiven hinaus erweitert werden könnte (Hühn (2010)). Eine Untersuchung der Entwicklung in Heideggers Auseinandersetzung mit Schelling findet sich bei Dietmar Köhler, der beide Schelling-Vorlesungen Heideggers (sowie Heideggers Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes) im Zusammenhang untersucht. Dabei kommt Köhler zu dem Ergebnis, dass »die Bedeutung von Heideggers Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels und Schellings, abgesehen von der beträchtlichen Wirkungsgeschichte, die seine Auslegungen im zwanzigsten Jahrhundert erfahren haben, nicht zuletzt darin liegen [könnte], daß im Spiegel jener Auseinandersetzung auch näherer Aufschluß über Heideggers eigenen philosophischen Werdegang zu gewinnen ist« (Köhler (2006), S. 265). Köhler allerdings eröffnet diese Möglichkeit nur, ohne sie dann noch eigens zu bearbeiten. Daneben bleibt seine Darstellung der beiden Vorlesungen Heideggers zu Schelling ziemlich kurz, was noch mehr auf den einschlägigen Text von Christian Iber zutrifft, der die Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling für das Heidegger-Handbuch zusammenfasst und in diesem Rahmen nur wenige Züge der Auseinandersetzung herausheben kann (Iber (2003)). Der Versuch, eine umfassendere Perspektive zu erreichen, findet sich bei Hans-Joachim Friedrich, der im Ausgang vom Problem des »Ungrunds« einige Parallelen zwischen Heidegger und Schelling aufzeigt, ohne dabei allerdings

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geber von Heideggers Schelling-Seminar (1927/28) in ihrem Vorwort betonen, dass nämlich mit dem Verhältnis zwischen Heidegger und Schelling eine »philosophiegeschichtliche Konstellation in Frage stehe, die in ihren verschiedenen rezeptions- und motivgeschichtlichen Bezügen bis heute bei weitem noch nicht vollständig ausgelotet und erforscht ist.«20 Der entscheidende Unterschied zwischen der vorliegenden Studie und den bisher zu diesem Thema erschienenen Arbeiten liegt zunächst vor allem in der abweichenden Interpretation der Freiheitsschrift von Schelling begründet, die den weiteren Untersuchungen im Blick auf Heidegger als Grundlage dient. Als Ausgangspunkt dient hierbei die Frage, ob und wodurch die These Heideggers gerechtfertigt sein könnte, dass es sich bei Schellings Freiheitsschrift um ein ganz besonderes Werk handle, in dem sich einerseits das Wesen des metaphysischen Denkens überhaupt ausdrücke und in dem sich andererseits auch schon der Übergang zu einem demgegenüber ganz anders verfassten Denken andeute. Dabei geht es im ersten Kapitel zunächst einmal darum, diesen Fragen unabhängig von Heideggers späterer Deutung nachzugehen und die Freiheitsschrift zunächst in ihren historischen Kontext zurückzustellen. Dies geschieht einerseits durch die Einordnung der bei Heidegger isoliert betrachteten Schrift in den Zusammenhang der Denkentwicklung Schellings. Zum anderen aber ist diese Verortung wesentlich dadurch bestimmt, dass die Freiheitsschrift auf einen ganz bestimmten historisch-systematischen Kontext bezogen wird, der Schellings Denken – so eine grundlegende These der Arbeit – von Beginn an wesentlich geprägt hat, und der gleichwohl in der Schellingforschung bisher nur wenig berücksichtigt wurde. Wie die vorliegende Studie zeigen soll, ist dieser Kontext nicht nur für das Verständnis Schellings von Bedeutung, sondern darüber hinaus geeignet, die Frage nach Metaphysik und Metaphysikkritik bei Heidegger auf eine neue Art und Weise zu erschließen. Bei diesem theoretischen Hintergrund, mit dem sich Schelling unmittelbar auseinandergesetzt hat, handelt es sich um die Vernunftkritik Friedrich Heinrich Jacobis, die zugleich den mit dieser Kritik in den Fokus der Auseinandersetzung geratenden ›Gegner‹ Jacobis, Baruch de Spinoza, mit ins Spiel bringt. Diese Perspektive auf Schellings Denken ist bisher nur unzureichend aufgearbeitet. Das gilt einerseits schon für Rolle, die Spinoza im Blick auf Schellings Denkweg zugemessen wird. Ein solcher Einfluss wird, (wenn überhaupt), im Allgemeinen nur bei den frühen und mittleren Schriften zugestanden, während die Freiheitsschrift gerade die endgültige Abkehr Schellings von diesem Bezugspunkt zu belegen scheint. Dass es sich so letztlich nicht verhält, ist eine der Thesen, die das erste Kapitel verdeutlichen soll. Als noch wichtiger allerdings die gesamte Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling selbst zum Thema zu machen (Friedrich (2009)). 20  Hühn/Jantzen (2010), S. 1.

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kann der in der Forschung oft völlig vernachlässigte Umstand gelten, dass die Philosophie Spinozas ja allererst durch die in kritischer Absicht formulierte Darstellung Jacobis zu einem entscheidenden Bezugspunkt der Philosophie des deutschen Idealismus wurde. In diesem Sinne ist das Vorbild, als das Spinoza für Schelling einerseits fungiert, von der durch Jacobi formulierten Kritik an Spinoza, und damit auch von den von Jacobi formulierten vernunftkritischen Ansichten nicht zu trennen. Tatsächlich wird sich im ersten Kapitel zeigen, dass gerade die frühen Auseinandersetzungen Schellings mit Spinoza, die Ichschrift ebenso wie die Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, zu erkennen geben, dass er Spinozas Philosophie zunächst ganz wesentlich durch die Vermittlung über Jacobi, das heißt im unmittelbaren Zusammenhang mit Jacobis vernunftkritischen Thesen zur Kenntnis nimmt. Erst in seinen natur- und identitätsphilosophischen Schriften beginnt Schelling dann, sich auf Spinoza selbst zu beziehen und eine eigenständige Sicht auf Spinoza zu entwickeln. In diesem Sinne aber muss anerkannt werden, dass die Vernunftkritik Jacobis in ihrer konkreten Form für Schellings Denkweg ebenso bedeutsam ist wie der Bezug auf Spinoza – ein Aspekt, der in der Schelling-Forschung bisher fast gänzlich unbeachtet blieb.21 Als Motiv für diese neue Interpretation Schellings kann nun einerseits die Absicht gelten, Schellings Freiheitsschrift über die bisher erforschten Perspektiven 21  Das

gilt auch noch für den erst kürzlich erschienenen Tagungsband zur Freiheitsschrift (Ferrer/Pedro (2012). Zwar wird im Zusammenhang mit der Freiheitsschrift oft darauf verwiesen, dass es sich hierbei auch um eine Antwort auf Jacobis Kritik am Vernunftsystem handle. Gleichwohl wird die Position Jacobis dabei wohl fast immer schon durch die Brille Schellings gesehen. Das zeigt sich z. B. bei Thomas Buchheim, der in seiner Einleitung zum Text der Freiheitsschrift deutlich auf die Rolle Jacobis und Spinozas hinweist (Buchheim (1997)), der aber in der Einleitung zu Buchheim (2004) deutlich macht, dass er Jacobi -– bei allem Scharfsinn, den er ihm attestiert – letztlich nicht ernst nehmen kann, weil er mit dessen Position wesentlich »Denkverbote« assoziiert. (Buchheim (2004), S. 8). Ähnliches gilt für Jochem Hennigfeld, der bei seiner Interpretation der Freiheitsschrift die Position Jacobis offenbar sachlich für weitgehend irrelevant hält: »Nach Fuhrmans […] bezieht sich die Wendung: ›Einer alten, jedoch keineswegs verklungenen Sage zufolge …‹ primär auf Jacobi und dessen Pantheismusvorwurf. Dieser Bezug lässt sich sicherlich nicht von der Hand weisen. Wichtiger ist jedoch, dass Schelling hier eine bestimmte Problemstellung systematisch exponiert. Diese Problemstellung ist nicht an bestimmte Namen gebunden« (Hennigfeld (2001), 35). Tatsächlich aber ist wohl eher das Gegenteil der Fall: die Problemstellung ist systematisch nur dann wirklich zu erschließen, wenn man die konkreten Positionen Jacobis und Spinozas in die Interpretation einbezieht. Eine Ausnahme bilden hier Siegbert Peetz (1995), der die Rolle Jacobis für Schellings Denken unterstreicht und Birgit Sandkaulen, die schon in ihrer frühen Untersuchung zu Schelling den Bezug auf Jacobis Vernunftkritik herausgestellt hat (Sandkaulen (1990)). Mit ihrer grundlegenden Studie zu Jacobi (Sandkaulen (2000)) hat sie dessen Position allererst strukturell aufgeschlossen und sie als eigenständige und ernstzunehmende Position in die Diskussion über die klassische deutsche Philosophie eingebracht. Das Verständnis der Position Jacobis, das in der vorliegenden Arbeit zum Tragen kommt, geht wesentlich auf diese Interpretation von Birgit Sandkaulen zurück.

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hinaus gerecht zu werden. Insofern besitzt das erste Kapitel auch unabhängig von seiner Funktion im Rahmen der gesamten Arbeit eine eigenständige Bedeutung, wie sich schon am Umfang dieses Kapitels ablesen lässt, der – angesichts dessen, dass es in der Arbeit vor allem um Heidegger gehen sollte – unverhältnismäßig scheinen könnte. Andererseits aber ist diese neue Sicht auf Schelling auch für die Absicht der gesamten Arbeit entscheidend, und dies nicht nur, weil sie als Grundlage der weiteren Untersuchung dient. Entscheidend ist zudem der Umstand, dass der Versuch, eine angemessene Sicht auf Schelling zu entwickeln teilweise auch als Versuch verstanden werden muss, diesen aus einer von vornherein durch die Interpretation Heideggers geprägten Sichtweise zu befreien. Eine solche eigenständige Interpretation scheint nun aber schon deshalb unumgänglich, weil nur so der Gedanke einer Annäherung an Heidegger seinen Sinn behält. Anders gesagt: Der Versuch, sich durch ein Anderes an das Eigene des Heideggerschen Denkens heranzuarbeiten, setzt voraus, dass dieses Andere erst einmal als ein Anderes, Eigenständiges verstanden ist. Im Falle Schellings aber ist eine solch eigenständige Interpretation insofern schwierig, als weite Teile der Schellingrezeption von der Schellinginterpretation Heideggers maßgeblich beeinflusst sind.22 Die Schwierigkeit besteht also unter anderem darin, nicht von vornherein in Schelling das ›hineinzulesen‹, was hinterher bei Heidegger wieder ›herausgelesen‹ werden soll.23 Denn die Frage nach der Angemessenheit der Schellingdeutung Heideggers ist durch Heideggers Bestimmung 22 

Vgl. zu diesem Problem die jeweiligen Hinweise im ersten Kapitel. die Arbeit eine intensive Auseinandersetzung mit Heideggers Schellinginterpretation erforderte, ist die Verf. von dem Problem über den Einfluss der Sekundärliteratur hinaus vermutlich mit betroffen. Denn Heideggers Texte sind, wie Günther Figal formuliert, »als Interpretationen erschließend. Wer sich auf sie einlässt, hat an ihrer erschließenden Kraft Anteil und hat die von Heidegger interpretierten Texte immer schon im Licht seiner Interpretationen gesehen. Das lässt sich nicht rückgängig machen« (13). Müller-Lauter reflektiert das Problem anhand des Verhältnisses von Heidegger und Nietzsche auf eine Weise, der sich die Verf. im Blick auf Schelling anschließen möchte: »Auszugehen ist davon, daß die unbestreitbare ›Beeinflussung‹ Heideggers durch Nietzsche nichts mit »Abhängigkeit« zu tun hat. Ob formale und daraus resultierende strukturelle Verwandtschaften Heideggers mit Nietzsche, die im Voranstehenden schon anklangen, derartigen Einflüssen entsprungen sind oder ob sie nicht die Voraussetzung für seine ›Beeinflußbarkeit‹ bildeten, wird sich nur in sehr begrenzten Zusammenhängen klären lassen. Jedenfalls dürfen nicht die Divergenzen schon der grundlegenden Intentionen von Nietzsche und Heidegger verdeckt werden. Damit soll wiederum die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, die von Heidegger herausgestellte »Unvergleichlichkeit« der Grundstellungen der beiden Anfänge zu problematisieren. Zuletzt gilt freilich für Nietzsche und nicht weniger für Heidegger das Wort aus Ecce homo. »Verwechselt mich vor allem nicht«, in dem, wie Manfred Riedel ausgeführt hat, die Abgründigkeit sowohl schon ihres Selbstverständnisses wie auch ihrer an Mißverständnissen reichen Wirkung zum Ausdruck kommt. Schon gar nicht darf man die beiden Denker so ›miteinander‹ zusammenbringen, daß man den einen vom anderen her ausschließlich als ›Vorläufer‹ oder ›Nachfolger‹ versteht« (Müller-Lauter (2000), S. 205). 23  Sofern

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der Freiheitsschrift als ›Gipfel‹ des metaphysischen Denken mit der Frage nach der Angemessenheit seiner Metaphysikkritik und der Möglichkeit und Notwendigkeit eines neuen Denkens unmittelbar verbunden. Im Blick auf die Funktion, die dem ersten Kapitel im Rahmen der gesamten Arbeit zukommt, ist es insofern notwendig, mit dem Problemfeld von Vernunftsystem und Vernunftkritik bei Spinoza und Jacobi einen Deutungshorizont zu eröffnen, der mit der Problemlage bei Heidegger nicht von vornherein übereinstimmt. Andererseits aber scheint es ebenso unerlässlich, von einem gewissen Bezug zwischen Heidegger und Schelling tatsächlich auszugehen. Denn wo im einen Fall Heidegger und Schelling mehr oder weniger als Einheit betrachtet werden, müsste im anderen Fall der Eindruck entstehen, dass Schelling und Heidegger völlig unterschiedliche Ansätze verfolgen und sich infolgedessen gar nicht aufeinander beziehen lassen. In diesem Falle müsste das Projekt einer Annäherung an Heidegger von vornherein sinnlos erscheinen. Tatsächlich aber findet sich ein derartiger Bezugspunkt zwischen Heidegger und dem vorliegenden Interpretationshorizont in Heideggers Rede vom Scheitern der Freiheitsschrift, weil diese auf ein zunächst nicht näher bestimmtes Dilemma verweist, das in der Freiheitsschrift seinen Ausdruck finden soll. Ein solches Dilemma aber führt andererseits gerade die Vernunftkritik Jacobis vor Augen, die mit der These von der Unvereinbarkeit von System und Freiheit auf einen inneren Widerspruch im systematischen Philosophieren »aus einem Stück« zielt, an dem das System in seinem Anspruch, Welt erklären zu können, letztlich – so könnte man sagen – scheitern muss.24 Die Frage nach der Vergleichbarkeit des von Jacobi aufgezeigten Dilemmas und der Problemlage, die sich in Heideggers Forderung nach einem Übergang zum neuen Denken ausdrückt, bleibt an dieser Stelle der Arbeit allerdings noch weitgehend ausgeblendet. Im Rahmen des 24 

Einen ähnlichen Zusammenhang deutet Lore Hühn an, die darauf verweist, dass der »Disput zwischen Jacobi und Schelling« im »›Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung‹« (Hühn (2010), S. 8) im Hintergrund der Nihilismusdebatte stünde, die bei Heidegger ihre Fortsetzung finde. Diese Streitsachen spielten »heute nicht ohne Grund eine Schlüsselrolle in der Debatte um die Anfänge des Nihilismus in der deutschen Philosophie des 19 Jahrhunderts« (ebd.). Dabei stehe »der Selbstwiderspruch des Nihilismus […] im Zentrum von Schellings Auseinandersetzung mit Jacobi.« Allerdings ist Lore Hühn zugleich davon überzeugt, dass nicht nur Jacobi, sondern vor allem Schelling selbst »die nihilistischen Grundvoraussetzungen eines ausschließlich am Wollen orientierten Selbst- und Weltverhältnisses bewusst mach[e]« (ebd.) In diesem Sinne gründen sich ihre Überlegungen auf eine von der hier vorgelegten Interpretation abweichende Deutung, derzufolge Schelling wesentlich als Kritiker einer Willensmetaphysik verstanden werden müsse. »Zum gemeinsamen Kernbestand« der Positionen Heideggers und Schellings gehöre »insbesondere die von Schelling in seiner Freiheitsschrift vorgetragene Fundamentalthese vom ›Wollen als Urseyn‹, mithin der Befund, dass die Entscheidung, die Auslegung alles Seienden durch das Interpretament des Willens zu leisten, die abendländische Metaphysik im Ganzen kennzeichnet« (ebd. S. 13). Vgl. dazu auch die Hinweise in Kapitel II der vorliegenden Arbeit, in dem es unter anderem um die Bestimmung der Metaphysik als »Willensmetaphysik« geht.

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ersten Kapitels soll es vorerst nur um die Frage gehen, wie sich Schelling auf seinem Denkweg mit den vernunftkritischen Thesen Jacobis auseinandersetzt. Dabei ist zunächst offensichtlich, dass Schelling nicht bereit ist, das Dilemma, von dem bei Jacobi die Rede war, als ein solches zu akzeptieren. Seine Systementwürfe stellen allesamt Versuche dar, Jacobis These von der Unvereinbarkeit von System und Freiheit durch die Realisierung eines Systems der Freiheit zu widerlegen. Allerdings wird sich im ersten Kapitel zeigen, dass Schellings untersuchte Systementwürfe aus der Perspektive Jacobis nicht geeignet sind, die von Jacobi bezeichneten Probleme zu beheben. Schelling gelingt es nicht, ein System zu entwerfen, das so konsequent rational verfasst ist wie dasjenige Spinozas und zugleich den Einsichten und Kritikpunkten Jacobis Rechnung trägt. Weil Schelling aber an seiner Zielsetzung festhält, ist er genötigt, stets neue, mehr oder weniger stark modifizierte Ansätze zu entwickeln. Die von Heidegger besonders ausgezeichnete Freiheitsschrift stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Nach wie vor der Idee vom »Gegenstück zu Spinoza« verpflichtet, der Absicht also, System und Freiheit in einem einheitlichen Vernunftsystem zu verbinden, kann sie daher auf der einen Seite selbst als metaphysisches System ›aus einem Stück‹ verstanden werden, das seinerseits durch den von Jacobi gekennzeichneten Widerspruch gekennzeichnet ist. Auf der anderen Seite aber fallen die überaus komplizierten Lösungsversuche, die die Freiheitsschrift zur Überwindung der von Jacobi diagnostizierten Probleme präsentiert, ihrerseits so selbstwidersprüchlich aus, dass die Freiheitsschrift letztlich weder als rational zu verstehendes System, noch aber als überzeugender alternativer Ausweg aus dem Dilemma gelten kann. In diesem Sinne scheint auch aus der Perspektive der Vernunftkritik Jacobis tatsächlich zu gelten, dass Schellings Freiheitsschrift scheitert. Allerdings verbindet sich mit dem so bestimmten Scheitern keineswegs die Aussicht auf eine Überwindung des metaphysischen Denkens, wodurch von vornherein die Differenz zu der für Heidegger bedeutsamen Funktion des Dilemmas bezeichnet ist.25 Gerade weil es sich bei dem Problem um ein veritables Dilemma handelt, muss die Möglichkeit eines ganz neuen Denkens aus Jacobis Sicht von vornherein in Klammern gesetzt werden. Die Lösungsversuche Schellings bringen aus dieser Sicht weder ein neues Dilemma, noch aber eine Möglichkeit zur Auflösung desselben in den Blick; sie belegen aber auf ihre Weise die Gültigkeit der Problemanalyse Jacobis. Vor dem Hintergrund dieser Schellingdeutung beschäftigt sich das zweite Kapitel dann mit Heideggers Interpretationen der Freiheitsschrift. Dieses Kapitel sieht sich – vor allem im Blick auf die Absicht, sich in der Auseinandersetzung mit diesen 25  Zugleich liegt hier auch die entscheidende Differenz der vorliegenden Studie zu den meisten Forschungsbeiträgen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Schellings und Heideggers Denken beschäftigen. Denn diese gehen meistens mit Heidegger davon aus, dass Schelling als Kritiker der bisherigen Metaphysik gelten kann, der irgendeine neue Erfahrung oder Einsicht für sich in Anspruch nehmen kann, die ihn zum »Vordenker« für Heidegger prädestiniert.

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Interpretationen an Heideggers eigenes Denken anzunähern – mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert. Kompliziert wird die Lage vor allem dadurch, dass Heidegger gar keine einheitliche Interpretation der Freiheitsschrift vornimmt, die nun der Interpretation aus dem ersten Kapitel gegenübergestellt werden könnte. Anstelle einer solch einheitlichen Interpretation legt Heidegger zwei ganz unterschiedliche, in mancher Hinsicht sogar gegensätzliche Deutungen vor. Während Heidegger sich in der frühen Vorlesung durchaus positiv auf Schelling bezieht, ja, eine »wesentliche Bindung«26 zwischen Schellings Freiheitsschrift und seinem eigenen Denken explizit hervorhebt, präsentiert sich die zweite Vorlesung so kritisch, dass eine positive Bezugnahme Heideggers auf Schelling hier gänzlich ausgeschlossen scheint. Dieser Gegensatz betrifft zugleich auch die Frage nach dem von Heidegger geforderten Übergang zum neuen Denken und nach der Rolle, die Schelling dabei zugewiesen wird. In der Vorlesung von 1936 wird Schelling selbst als eine Art Übergangsfigur präsentiert, gewissermaßen als Verbindungsglied zwischen dem metaphysischen und dem ganz neuen Denken. In der Vorlesung von 1941 hingegen erscheint er als Vollender des metaphysischen Denkens, von dem aus der Übergang zum neuen Denken gerade ausgeschlossen sei. Zunächst einmal scheint diese geänderte Haltung zu Schelling auf einen Wandel im Denken Heideggers selbst hinzuweisen, einen Wandel zudem, der eine Radikalisierung der Metaphysikkritik Heideggers und damit auch eine Verschärfung des Problems der Annäherung an Heideggers eigenes Denken mit sich bringen dürfte. Sollte es sich dabei um einen wirklich fundamentalen Wandel handeln, so könnte dieser die Möglichkeit einer positiven Bezugnahme Heideggers auf Schellings Freiheitsschrift in der Zeit nach 1941 von vornherein eher unplausibel scheinen lassen. Tatsächlich kann man wohl auch mit Recht von einer Art ›Kehre‹ sprechen, die Heidegger zwischen 1936 und 1941 vollzogen hat – einer ›Kehre‹ aber, die zugleich keineswegs die positive Bezugnahme Heideggers auf Schellings Freiheitsschrift ausschließt. Denn wie sich im Verlauf des zweiten Kapitels zeigen wird, verbirgt sich hinter diesen beiden auf den ersten Blick gegensätzlich scheinenden Schellingdeutungen auch und vor allem eine fundamentale Unentschiedenheit Heideggers, wie er Schelling zwischen metaphysischem und neuem Denken tatsächlich zu verorten habe. Gerade deshalb aber gilt, dass für den Versuch einer Annäherung an Heideggers eigenes Denken nicht nur die Vorlesung von 1936 von Interesse ist, obwohl sich hier wohl die meisten positiven Bezugspunkte in Form bestimmter Problemstellungen und Denkfiguren finden lassen. Vielmehr erhält die Untersuchung der Vorlesung von 1941 dadurch eine eigenständige Bedeutung, dass sich durch den vermeintlich fundamentalen Wandel das grundlegend zwiespältige Verhältnis Heideggers zu Schelling erst eigentlich offenbart, das zugleich Heideggers Verhältnis 26 

VL 36, 13.

26 Einleitung

zum metaphysischen Denken überhaupt kennzeichnet und das sich in der Rede vom Scheitern der Freiheitsschrift in gewisser Weise andeutet.27 Die Vorlesung von 1936 allerdings macht zunächst einmal ganz deutlich, dass sich das fragliche Dilemma, an dem Schelling Heidegger zufolge scheitert, keineswegs mit dem Problemhorizont deckt, auf den die Schellinginterpretation des ersten Kapitels zurückgeht. Tatsächlich weist Heidegger den historischen Hintergrund der Freiheitsschrift, den sogenannten ›Pantheismusstreit‹ und die Bezüge zu Spinoza einerseits wie zu Jacobi andererseits als für die Sache selbst irrelevant zurück. Andererseits aber erweist sich als ebenso charakteristisch wie problematisch, dass Heideggers Interpretation letztlich kein alternatives Dilemma aufzeigen kann, das die Rede vom Scheitern der Freiheitsschrift rechtfertigen würde und damit die Notwendigkeit eines neuen Denkens in den Blick bringen könnte. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Heidegger sich hier Schelling gegenüber außerordentlich affirmativ verhält, dass er Widersprüche nicht hervorhebt, sondern verdeckt und zu Anzeichen einer besonderen Ursprünglichkeit des Denkens erhebt. Die Betonung der »wesentlichen Bindung«, die zu einer grundlegenden Identifizierung Heideggers mit Schelling führt, lässt die Möglichkeit zur Kritik und damit letztlich auch die Frage nach dem neuen Denken hinfällig werden. Schelling erfüllt – so der Eindruck, den die Vorlesung insgesamt erweckt – selbst bereits alle Merkmale des Denkens, das Heidegger gegen die abendländische Metaphysik in Stellung bringen will.

27  Die

unlängst erschienenen Seminarnotizen machen ihrerseits deutlich, für welche Probleme Heidegger sich bei Schellings Freiheitsschrift besonders interessiert und sie zeigen auf ihre Weise die Ambivalenz des Heideggerschen Verhältnisses zu Schelling an. Sie gehen aber nicht über die in den Vorlesungen von 1936 und 1941 vorgetragenen Gedanken hinaus und werden daher im Rahmen dieser Arbeit nur ergänzend herangezogen. Dass Heidegger ein ambivalentes Verhältnis zur Metaphysik hatte, wird von einigen Interpreten hervorgehoben. So attestiert Jean Grondin bereits dem frühen Heidegger eine »Zwiespältigkeit im Verhältnis zur Metaphysik«, die gleichzeitig das »Grundgeschehen im Dasein« sein solle und »die Tradition, die dieses Geschehen verdeckt«. (Grondin (2003)). Besonders häufig wird diese Auffassung aber im Zusammenhang mit Heideggers Schellingrezeption vertreten. Sebastian Schwenzfeuer formuliert z. B., dass Heideggers »Verhältnis zu Schelling« ebenso ambivalent bleibe, »wie sein Verhältnis zur Metaphysik (als dem Kollektiv der abendländischen Philosophie« (Schwenzfeuer (2010), S. 232). Lore Hühn weist auf die Ambivalenz der Schellingrezeption Heideggers hin, weil »sie bei aller eingestandenen Affinität zu der von Schelling gemachten Grundunterscheidung zwischen ›dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist‹, dem Idealisten abspricht, den damit philosophiegeschichtlich erstmals in den Blick gebrachten letzten Schritt über die Grundstellung der Willensmetaphysik hinaus wirklich eingelöst und vollzogen zu haben« (Hühn (2010), S. 5). Demgegenüber ist Frank Werner Veauthier der Auffassung, dass »die Radikalisierung der Metaphysikkritik durch Heidegger« – im Unterschied zu »anderen bedeutenden metaphyiskkritischen Positionen der Gegenwartsphilosophie« – »jedes Paktieren mit der Metaphysik und jede Zweideutigkeit in der Stellungnahme zu ihr ausschließt« (Veauthier (1992), S. 20).

Einleitung 27

Die Wendung, die sich 1941 vollzieht, lässt sich vor diesem Hintergrund auf unterschiedliche Weise interpretieren. Einerseits scheint sie an die Position von 1936 anzuschließen, indem sie auf der Notwendigkeit eines neuen Denkens beharrt, das in Schellings Freiheitsschrift noch nicht erreicht sein soll. In diesem Sinne scheint sie nur zu ergänzen, was der Interpretation von 1936 fehlte: die kritische Sicht auf Schelling, die die inneren Wesensmerkmale und zugleich damit auch die innere Problematik des metaphysischen Denkens deutlich machen kann, die das notwendige »Scheitern« der Metaphysik und damit die Notwendigkeit eines neuen Denkens begründen sollen. Andererseits aber ließe sich mit demselben Recht annehmen, dass sich Heideggers Vorstellung von diesem Problem, und folglich auch die Vorstellung vom neuen Denken selbst gewandelt hat. Für diese Sicht scheint vor allem der Wandel zu sprechen, der sich in der Umdeutung des Begriffs »Wollen« ausdrückt, der in der Vorlesung von 1936 noch positiv ausgezeichnet, in der Vorlesung von 1941 hingegen als Zeichen der vollständigen Seinsvergessenheit des metaphysischen Denkens gewertet wird. Ein Denken, das an Schelling anschließt, kann dem Verständnis von 1941 zufolge selbst nur eine Form von Willensmetaphysik darstellen, die durch das neue Denken gerade überwunden werden soll. Im vorliegenden Kontext allerdings kommt es darauf an zu zeigen, dass es letztlich gar nicht entscheidend ist, welche der beiden Deutungen man für überzeugender hält. Entscheidender ist hingegen, dass sich sich in der Vorlesung von 1941 das Problem wiederholt, das schon die Vorlesung von 1936 kennzeichnete: Auch die radikal kritische Sicht auf Schelling ermöglicht es nicht, eine Art von Dilemma in den Blick zu bringen, das die ›inneren Schwierigkeiten‹ der Metaphysik verdeutlichen könnte. Womöglich könnte man an dieser Stelle einhaken und darauf hinweisen, dass hier ja auch gar nicht mehr die Rede von einem »Scheitern« der Freiheitsschrift ist, wodurch auch die Frage nach dem möglichen Dilemma in den Hintergrund zu treten scheint. An die Stelle der Rede vom »Scheitern« tritt die von der »Vollendung« der Metaphysik, die an bestimmten wesentlichen Merkmalen metaphysischen Denkens ausgewiesen werden soll. Dem ist zu entgegnen, dass die Dimension des Scheiterns gleichwohl im Moment der Kritik und damit in der Behauptung erhalten bleibt, dass das Wesen der Metaphysik in ihrer Seinsvergessenheit, anders gesagt, im Scheitern ihres Versuches liege, Sein wahrhaft zu erfassen. Allerdings soll die vorliegende Untersuchung deutlich machen, dass es Heidegger in der Vorlesung von 1941 weder gelingt, die wesentlichen Merkmale metaphysischen Denkens kenntlich zu machen, noch auch den Zusammenhang dieser Merkmale mit der angeblichen Seinsvergessenheit des metaphysischen Denkens zu verdeutlichen und dass sein Versuch, Schelling als den Vollender einer solchermaßen bestimmten Metaphysik auszuweisen, ebenso wenig überzeugen kann. Wie sich zeigen soll, ist dieses Problem nicht nur in der Textgestalt der Vorlesung begründet, wie man vielleicht vermuten könnte, wenn man die fragmentarisch bleibenden Skizzen betrachtet. Denn

28 Einleitung

bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Heideggers Verhältnis zu Schelling auch hier noch ambivalent bleibt und der Anschein radikaler Kritik im im Zusammenhang mit dem geforderten Übergang zum neuen Denken nur die andere Seite zur umfassenden Identifikation bildet, die die erste Schellingvorlesung kennzeichnete. In beiden Fällen aber kann gezeigt werden, dass sich die unklare Haltung Heideggers – die mit einer unklaren Kritik an Schelling einhergeht – mit dem ungelösten Problem einer eindeutigen Kennzeichnung dessen verbindet, worin die »im Anfang der abendländischen Metaphysik gesetzten Schwierigkeiten« selbst bestehen sollen. In beiden Fällen bleibt daher undeutlich, wogegen sich das neue Denken abgrenzen und in welche Richtung es sich bewegen solle. So betrachtet aber stellt die Vorlesung von 1941 keinen wirklichen Wandel in der Haltung Heideggers zu Schelling dar und damit auch keine Aufhebung des »wesentlichen Bezugs«, der sich in der Vorlesung von 1936 unter der Form weitgehender Identifikation ausdrückte. Insofern kann auch nicht die Rede davon sein, dass Heidegger in der Vorlesung von 1941 Schelling endgültig bewältigt und seine Auseinandersetzung mit dessen Freiheitsschrift abgeschlossen habe. Stattdessen lässt sich der vermeintliche Rückgang des Interesses an Schelling nach der Vorlesung von 1941 wohl eher darauf zurückführen, dass sich Schelling zwischen den beiden Denkweisen der Metaphysik auf der einen und des neuen Denkens auf der anderen Seite offenbar nicht eindeutig verorten lässt. Dadurch aber wird einerseits nachvollziehbar, dass Heidegger bei seinen weiteren metaphysikkritischen und seinsgeschichtlichen Darstellungen (wobei ›Seinsgeschichte‹ in etwa dem geforderten neuen Denken entspricht) nicht mehr explizit auf Schelling zu sprechen kommt, wodurch andererseits gerade nicht gesagt ist, dass er sich nicht auch im Weiteren an den Problemen abarbeitet, die die beiden Schellingvorlesungen kennzeichnen. Dass dies tatsächlich der Fall ist, soll nun im dritten Teil dieses Kapitels deutlich werden, in dem es um die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit Schellings Freiheitsschrift unter dem Titel des eigenen Denkens Heideggers geht und in dem in gewisser Weise schon ein Ziel der vorliegenden Arbeit erreicht wird. In der zu diesem Zweck herangezogenen Vorlesung aus dem Jahr 1955/56, Der Satz vom Grund, lassen sich vor allem auf der Seite des neuen, nunmehr seinsgeschichtlich zu nennenden Denkens grundlegende Figuren der Freiheitsschrift wiederfinden, die Heidegger schon 1936 als besonders ursprünglich ausgezeichnet hatte. Legt man den in weiten Teilen dunkel bleibenden Aussprüchen des ›Sagens vom Sein‹ die Freiheitsschrift und ihren Argumentationskontext zugrunde, so werden Zusammenhänge und Problemlagen erkennbar, die unabhängig von dieser Bezugnahme mehr oder weniger unzugänglich bleiben. Dabei bestätigt sich zudem, dass die zunächst unabhängig von Heidegger vorgenommene Schellingdeutung im ersten Kapitel bereits Probleme in den Blick bringen konnte, die Heideggers eigenes Denken mit betreffen.

Einleitung 29

Diese Übereinstimmungen zwischen Heideggers Rede vom Sein und seiner frühen Interpretation der Schellingschen Freiheitsschrift scheinen allerdings zwei mögliche Deutungen zuzulassen: Entweder, Heideggers neues Denken ist selbst Metaphysik, weil es die gleichen Figuren und Strukturen in Anspruch nimmt wie Schelling, oder aber Schelling selbst ist bereits kein Metaphysiker mehr, sondern ein Vertreter von oder zumindest ein Wegweiser ins neue Denken. Tatsächlich scheinen die meisten Interpretationen, die in Schellings Freiheitsschrift das Ende des Idea­ lismus erkennen, sich der zweiten Deutung anzuschließen, sofern sie die Auffassung vertreten, dass in der Freiheitsschrift eine neuartige Einsicht in die Grenzen des Vernunftdenkens zum Tragen komme. Schelling erscheint in dieser Perspektive wesentlich als Metaphysikkritiker, auf dessen kritische Einsichten Heidegger in gewisser Weise zurückgreift und die er – manchen Interpreten zufolge – noch über Schelling hinaus radikalisiert.28 Vor dem Hintergrund der Vernunftkritik Jacobis allerdings zeigt sich, dass die Freiheitsschrift nicht eigentlich zu einer solchen Einsicht hinführt, sondern im Gegenteil gerade den Versuch darstellt, die von Jacobi bereits formulierte Einsicht in eine derartige Grenze zu überwinden. Dass die Freiheitsschrift zugleich auch als ein Philosophieren an der Grenze vernünftigen Denkens betrachtet werden kann, ist damit weniger als das Resultat der Überlegungen Schellings, sondern als Ergebnis der Aufgabe zu betrachten, die sich die Freiheitsschrift stellt, und die von der Perspektive Jacobis aus von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Als der Versuch einer Integration vernunftkritischer Einsichten in das Vernunftsystem ist Schellings Freiheitsschrift damit von Beginn an als ein in sich widersprüchliches Unternehmen gekennzeichnet. Dass nun Heidegger seinerseits Schelling gegenüber ambivalent bleibt, dass er mit anderen Worten nicht eindeutig festlegen kann, worin Schelling positiv über das metaphysische Denken hinausgeht und worin er negativ dem metaphysischen Denken verhaftet bleibt, ließe sich somit gerade darauf zurückzuführen, dass Schelling selbst weniger eine Grenze aufzeigen, als die von Jacobi aufgezeigte Grenze im Rahmen eines Vernunftsystems überwinden möchte. Im Unterschied zu Schelling aber kommt es Heidegger grundlegend darauf an, die wesentliche Unzulänglichkeit des metaphysischen Denkens herauszustellen, um zugleich damit die Forderung nach einem demgegenüber ganz anders verfassten Denken in den Blick zu bringen. In diesem Sinne scheint es vorschnell, Heidegger selbst als metaphysischen Denker zu charakterisieren und dabei den kritischen Impuls seines Denkens zu vernachlässigen. Eine solche Interpretation scheint sich schon allein dadurch zu verbieten, dass Heidegger gerade in seiner Rolle als Kritiker des metaphysischen Denkens, das in letzter Konsequenz auf völlige Verfügbarkeit, Rationalisierung und Technisierung unserer Welt zu führen scheint, eine 28 

Auf die entsprechenden Interpretationen wird im Verlauf der Arbeit hingewiesen.

30 Einleitung

große Wirkung entfaltet hat. Im Gegensatz zum umstrittenen und unzugänglichen seinsgeschichtlichen Denken scheint das kritische Potential seiner Philosophie mehr oder weniger unbestritten und nach wie vor zeitgemäß.29 Das zeigt sich nicht zuletzt an der Verbreitung bestimmter auf Heidegger zurückzuführender Schlagworte wie »Ontotheologie«, »Willensmetaphysik« oder »Subjektphilosophie«, die sich zum Teil noch in den Feuilletons großer Tageszeitungen finden lassen. Zwar soll schon im Rahmen des zweiten Kapitels gezeigt werden, dass diese Begriffe, allen voran der des »Willens«, von Heidegger zu unklar bestimmt werden, um als Kritikpunkte am metaphysischen Denken wirklich überzeugen zu können. Letztlich sind auch sie von dem vielfach erwähnten Problem der Ambivalenz mit betroffen – ein Umstand, der gerade der schon zu Anfang erwähnten Radikalität, die sich in Heideggers Forderung nach einem Übergang zum neuen Denken ausdrückt, zu widersprechen scheint. Tatsächlich werfen die im Zusammenhang mit der Schellingauslegung untersuchten Probleme bereits ein bestimmtes Licht auf Heidegger, das sowohl die Radikalität der Kritik wie auch die Überzeugungskraft der kritischen Argumente von vornherein unter Vorbehalt stellt. Dennoch ließe sich vielleicht einwenden, dass es auch die Wahl der in sich so widersprüchlichen Freiheitsschrift als Bezugspunkt sein könnte, die den eindeutigen und radikalen kritischen Impuls des Heideggerschen Denkens in den Hintergrund treten lässt. Aus diesem Grund führt die Untersuchung an dieser Stelle auf Jacobi und die Frage nach dem Dilemma der Metaphysik zurück, das bereits im Zusammenhang mit dem ersten Kapitel als Bindeglied zwischen der in dieser Arbeit unabhängig von Heidegger vorgenommenen Interpretation Schellings und den Schellingdeutungen Heideggers hervorgehoben wurde. Anders als das zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik offenbar schwer zu verortende Denken Schellings nämlich führt Jacobis Position tatsächlich ein Dilemma vor Augen, das durch die Überwindungsversuche Schellings weniger beseitigt denn bestätigt wird. In diesem Sinne soll nun im dritten Kapitel der Versuch unternommen werden, die eindeutig kritische Seite des Heideggerschen Denkens mithilfe eines Vergleichs zwischen den kritischen Unternehmen Jacobis und Heideggers genauer in den Blick zu nehmen. Dieser Vergleich soll vor allem deutlich machen, was im Zusammenhang mit Schelling – wie sich im zweiten Kapitel zeigen wird – nur bedingt möglich ist: woran Heideggers Kritik an der Metaphysik genau ansetzt und worauf er mit seinem ›neuen‹ Denken zielt.

29  So

formuliert z. B. Günter Figal, dass »Heideggers spektakulärste Wirkung in der gegenwärtigen Philosophie […] das nachmetaphysische Denken« sei (Figal (1997), S. 185), wobei Figal selbst allerdings Zweifel an der Auffassung bekundet, »ob man Heidegger wirklich für ein ›nachmetaphysisches‹ Denken in Anspruch nehmen« könne (ebd., S. 187). Zwar erkunde Heidegger »in der Tat die Möglichkeiten eines Denkens und Sprechens der bisherigen Metaphysik«, die Frage sei »allerdings, ob es als nichtmetaphysisches Denken möglich und erforderlich« sei (ebd.).

Einleitung 31

Gegen einen solchen Vergleich scheint zwar zu sprechen, dass Heidegger sich nirgends positiv auf Jacobi bezieht, sondern vielmehr in der ersten Schellingvorlesung den sogenannten ›Pantheismusstreit‹ und damit auch die kritische Position Jacobis als systematischen Hintergrund der Freiheitsschrift zurückweist. Aus diesem Grund geht die vorliegende Untersuchung auch nicht vom Problem der Vereinbarkeit von System und Freiheit aus, das für Schelling die zentrale Rolle spielte. Weder der Vorwurf des Fatalismus noch aber der des Atheismus oder das Problem eines fehlenden oder unzureichenden Personalitätsverständnisses sind Schwierigkeiten, die Heidegger bei seiner Metaphysikkritik ernsthaft beschäftigen würden. Der Vergleich der kritischen Unternehmungen bei Heidegger und Jacobi nimmt seinen Ausgang vielmehr tatsächlich von der benannten Ausgangssituation, von der Behauptung Heideggers also, dass das metaphysische Denken an inneren Schwierigkeiten scheitere, dass es, mit anderen Worten, in einem Dilemma stecke, aus dem der problematische Übergang zum neuen Denken herausführen soll. In diesem Sinne rückt das Problem des Übergangs selbst in den Blick und damit unter anderem die Frage, auf welche Weise ein solcher Übergang vollzogen werden kann und soll. Dabei bedient sich Heidegger einer Figur, die bei Schelling keine, bei Jacobi dafür eine umso wichtigere Rolle spielt: der Figur des Sprungs. Im Ausgang von dieser Figur zeigt sich, dass der strukturellen Anlage nach mehr Gemeinsamkeiten zwischen den beiden kritischen Unternehmen bestehen, als nach der offenen Kritik Heideggers an Jacobi zu erwarten gewesen wäre. Über die strukturellen Parallelen hinaus lassen sich sogar Begriffe und Formulierungen in Heideggers seinsgeschichtlichen Schriften finden, die aus dem Denken Jacobis vertraut sind. Dieser Umstand legt immerhin den Verdacht nahe, dass sich Heidegger tatsächlich stärker mit Jacobi befasst hat, als es die expliziten Äußerungen in der Vorlesung von 1936 vermuten lassen. Gleichwohl bestätigt der Vergleich mit Jacobi letztlich den Befund des zweiten Kapitels, sofern auch in diesem Zusammenhang deutlich wird, dass und wie Heidegger zwischen den Positionen radikaler Kritik einerseits und der Anknüpfung an traditionelle metaphysische Denkmuster andererseits beständig schwankt. Dennoch kann der Vergleich mit Jacobi deutlicher machen als die Auseinandersetzung mit Schelling, worin die wesentlichen Probleme der Metaphysikkritik Heideggers bestehen. Als zentral erweist sich dabei vor allem die Frage nach der positiven (Seins-)Erfahrung und ihrer inhaltlichen Bestimmung. Während Jacobi mit der Erfahrung des Handelns ein konkretes Phänomen ins Zentrum seiner Kritik stellt, bleibt die »ursprüngliche Seinserfahrung«, von der bei Heidegger häufiger die Rede ist, unbestimmt. Die Rede von der Erfahrung bezeichnet letztlich nicht mehr als eine Leerstelle in Heideggers Denken, die dem korrespondiert, was Heidegger den »Entzug« des Seins nennt. Im Vergleich mit der Vernunftkritik Jacobi soll daher in der vorliegenden Arbeit auch eine gängige Interpretation problematisiert werden, die diese gewissermaßen

32 Einleitung

negative Erfahrung der Einheit von Sein und Nichts als überzeugende Grundlage von Metaphysikkritik auffasst. Zwar scheint es auf Anhieb vielleicht einleuchtend, dass diese Erfahrung – gerade deshalb, weil sie keine positive Erfahrung eines Unbedingten, sondern die Erfahrung des ›Nichts‹ und der ›Grundlosigkeit‹ ist – geeignet sein könnte, die Kritik an der Metaphysik zu motivieren und zu begründen. Definiert man nämlich Metaphysik als den Versuch, im Ausgang von einem gegebenen ›Unbedingten‹ ein einheitliches und umfassendes System der Welt aufzustellen, so scheint unmittelbar auf der Hand zu liegen, dass eine Position, die die Abwesenheit eines solch gegebenen ›Unbedingten‹ behauptet, als metaphysikkritisch eingestuft werden muss. Den hochtrabenden Ansprüchen der Metaphysik gegenüber scheint ein solches Denken eine ›Selbstbescheidung‹ der Vernunft zu fordern oder, anders gesagt, der Einsicht in die Endlichkeit des Seins zu entsprechen. Wie sich zeigen soll, erscheint diese unmittelbar vielleicht naheliegende und möglicherweise auch einleuchtende Interpretation im Lichte der Konfrontation mit Jacobi zugleich fragwürdig, weil unter anderem deutlich wird, dass mit derart einfachen Gegenüberstellungen wenig gewonnen ist. Denn die Feststellung, dass sich ein Unbedingtes positiv erfahren lasse, ist – wie Jacobis Position deutlich macht – keineswegs identisch mit der Behauptung, dass sich auf diesem Unbedingten eine positive Philosophie, ein metaphysisches System im genannten Sinne errichten lasse. Ebensowenig aber gilt umgekehrt, dass die Behauptung, das Unbedingte sei – wenn überhaupt – nur als Abwesenheit erfahrbar, notwendig als Absage an das Unternehmen einheitlicher Welterklärung zu verstehen ist. In gewisser Weise präsentiert sich die Position Heideggers (und in der Rückprojektion auch diejenige Schellings) in der Gegenüberstellung zu Jacobi wie eine Art negativer Metaphysik, anders gesagt, wie eine positive Philosophie eines negativen Unbedingten. An die Stelle des alles begründenden, durch und durch vernünftig zu verstehenden Grundes tritt dabei der dunkle Ungrund, ein metaphysisches Konstrukt aus rationalen und irrationalen Anteilen, von dem ausgehend bei Schelling die Geschichte der Welt, bei Heidegger die Geschichte der abendländischen Metaphysik erklärt und entwickelt werden soll. In ihrer Absicht auf eine einheitliche Erfassung der Welt aber bleibt auch die Philosophie des sich entziehenden Grundes den Problemen unterstellt, die Jacobi als die entscheidenden Schwierigkeiten des reinen Vernunftdenkens diagnostiziert. Im Zusammenhang mit der Kritik Jacobis wird unter anderem deutlich, was auch Heidegger selbst hervorhebt, dass nämlich, wer Metaphysik kritisieren will, sich zunächst auf die Komplexität ihrer Problemhorizonte wie auf die geschichtlichen Gestalten metaphysischer Entwürfe einlassen muss. Deutlich wird aber auch, dass die radikale Grenze, die Heidegger zwischen Metaphysik und neues Denken zu setzen versucht, gerade das Problem des intimen Zusammenhangs zwischen beiden Seiten vernachlässigt. Problematisch ist das Fehlen einer positiven Erfahrung deshalb, weil diese Erfahrung für den Übergang unabdingbar ist, weil sie beide

Einleitung 33

Seiten, das zu kritisierende metaphysische und das demgegenüber anzustrebende ›neue‹ Denken verbinden und damit den Übergang allererst ermöglichen könnte. Vor dem Hintergrund des Vergleichs mit Jacobi aber wird deutlich, dass der problematische Übergang bei Heidegger selbst noch als ein Moment der – nunmehr negativ gewendeten – Metaphysik aufzufassen ist. Ohne eine solche Erfahrung fällt der Maßstab für die Kritik ebenso aus wie die Grundlage für das Denken, das jenseits des Übergangs stehen soll. Weil eine solche inhaltlich bestimmte und gegebene Erfahrung nirgends erkennbar wird, erscheint Heideggers neues Denken leer und die Kritik an der Metaphysik in ihrer konkreten Ausprägung – d. h. in ihrer Konzentration auf die Begriffe von Wollen und Subjektivität – unbegründet. In diesem Sinne bleibt die schon zu Beginn herausgestellte radikale Abgrenzung Heideggers zwischen Metaphysik und neuem Denken ein zentrales Problem des Heideggerschen Denkens, weil es aus der Perspektive Jacobis nur ein metaphysisches Erklärungsmodell durch ein anderes, negatives ersetzt und gerade deshalb nicht in den Blick bringen kann, worauf es wesentlich aus zu sein scheint: ein vom metaphysischen Zugriff befreites Selbst- und Weltverhältnis.

K A PI T E L I Die Freiheitsschrift Kapitel I · Die Freiheitsschrift

1. Annäherung von außen: Die Freiheitsschrift als Wendepunkt »Nein, [ein vollständiges System] findet sich in keinem von Herrn Schellings Büchern. Bei ihm gibt es nicht, wie bei Kant und bei Fichte, ein Hauptbuch, welches als Mittelpunkt seiner Philosophie betrachtet werden kann. Es wäre eine Ungerechtigkeit, wenn man Herrn Schelling nach dem Umfange eines Buches und nach der Strenge des Buchstabens beurteilen wollte. Man muss vielmehr seine Bücher chronologisch lesen, die allmähliche Ausbildung seines Gedankens darin verfolgen, und sich dann an seiner Grundidee festhalten. Ja, es scheint mir auch nötig, dass man bei ihm nicht selten unterscheide, wo der Gedanke aufhört und die Poesie anfängt.«30 In dieser, 1834 in der Schrift Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland von Heinrich Heine getroffenen Aussage finden sich bereits grundlegende Probleme angesprochen, die auch die heutige Diskussion über Schelling noch prägen. Die Frage danach, wie man Schelling angesichts seiner zumindest äußerlich offenkundigen Wandelbarkeit zu lesen und interpretieren habe, bleibt eine Herausforderung an jede Auseinandersetzung mit Schelling, auf die auch Heidegger in seiner Vorlesung von 1936 Bezug nimmt. Schon Schelling selbst verweist in der Freiheitsschrift auf dieses Problem, indem er seine bis dahin aufgestellten Systementwürfe als »Bruchstücke eines Ganzen« bezeichnet, »deren Zusammenhang einzusehen eine feinere Bemerkungsgabe als sich bei zudringlichen Nachfolgern, und ein besserer Wille, als sich bei Gegnern zu finden pflegt«, erforderte.« (FS 334). Eines der einschlägigen großen Werke über Schelling von Xavier Tilliette von 1970 trägt diesem Problem daher auch schon im Titel Rechnung. Schellings Denken sei eine »philosophie en devenir«31 ein Denken also, das sich besonders dadurch auszeichne, stets im Werden begriffen zu sein, ohne einen endgültigen Ausdruck zu finden. Ob es angesichts dieser Wandlungen und Neueinsätze in Schellings Werk so etwas wie eine »Grundidee« gebe, wie Heine nahelegt, oder ob es sich tatsächlich um eine mehr oder weniger kontinuierliche Annäherung an das eine System handelt, wie Schelling suggeriert, ist aber keinesfalls ausgemacht. Gegenstand der Diskussion über Schelling ist daher immer auch die Frage nach möglichen Brüchen und entscheidenden 30 

Heine [1834] (1967), S. 130. (1970).

31  Tilliette

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

Übergängen oder Wendepunkten, an die sich zugleich die Frage nach der Bewertung derselben anschließt. Ob sich in den möglichen Wendepunkten eine zukunftsweisende Einsicht oder vielmehr ein Rückfall hinter bereits gewonnene Einsichten erkennen lasse, auch das bleibt bis heute umstritten. Potenziert betrifft dieses Problem gerade die Freiheitsschrift von 1809, die hier im Fokus der Betrachtungen steht, weil sie von Heidegger als entscheidender Wendepunkt interpretiert wird. Wie kaum eine andere Schrift Schellings scheinen die Abhandlungen über das Wesen der menschlichen Freiheit die Leserschaft seit Beginn ihrer Entstehung zu polarisieren. Während die einen schon früh von der »offenbaren Absurdität«32 dieses Textes sprechen, nennen andere ihn »ein Meisterstück an Klarheit und Tiefe«33. Und wo manche die Schrift heute für eine der tiefgründigsten und nicht zu übergehenden Abhandlungen über das Böse halten,34 finden andere, der Begriff des Bösen sei unzureichend und habe keinerlei phänomenologische Erschließungskraft.35 Keinesfalls also herrschte damals oder heute Einigkeit darüber, dass es sich bei der Freiheitsschrift tatsächlich um »eine der bedeutendsten Schriften der klassischen deutschen Philosophie«36 oder, wie Heidegger formuliert, um »Schellings größte Leistung« und zugleich um »eines der tiefsten Werke der deutschen und damit der abendländischen Philosophie« (VL 36, 2) handelt.37 Am ehesten scheint man sich noch in der Einschätzung einig, dass die Freiheitsschrift einen wichtigen Übergangspunkt innerhalb der Schellingschen Denkentwicklung markiert,38 wenngleich auch hier die Frage danach, ob es sich bei diesem um einen tatsächlichen Bruch mit dem Vorangegangenen handelt, und ob dieser eventuelle Bruch positiv oder negativ zu werten sei, unterschiedlich beantwortet wird. Ohne weiter auf die konkreten Inhalte und Probleme der Freiheitsschrift einzugehen, lässt sich bereits ein äußerliches Merkmal anführen, das die These vom Wende32 

Dies das zeitgenössische Urteil von F. J. Fries, der sich in dem Streit zwischen Schelling und Jacobi mit einem »Votum für F. H. Jacobi« eindeutig auf die Seite Jacobis stellte. (Fries [1812] (1994), S. 371). 33  Auch diese Bewertung stammt noch aus der frühen Rezeptionsphase der Freiheitsschrift, aus einer »Geschichte der neueren Philosophie« von Kuno Fischer (Fischer (1902), S. 633). 34  Vgl. z. B. Irlenborn (2000), S. 155: »Mit seiner Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit präsentiert Schelling bekanntermaßen eine der tiefsten Erörterungen über das Problem des Bösen in der abendländischen Literatur.« 35  Vgl. Jaeschke (1996), S. 217: »Schelling setzt den Begriff des Bösen so an, daß dessen Wirklichkeit – und das heißt hier ganz unmetaphysisch: dessen tatsächliche und tägliche Erfahrung – um nichts plausibler wird«. 36  Sturma (1995a), S. 255. 37  Vgl. zu dieser Einschätzung die Darstellung von Ludwig Gejsen, der auch einen Überblick über die jüngere Forschung bis 2004 gibt. (Vgl. Gejsen (2009), Zweites Kapitel: Die Freiheitsschrift in der Rezeption, S. 51-95). 38  So schreibt etwa Robert F. Brown: »Few would deny, that the Freiheitsschrift commences a distinctive Phase of Schelling’s philosophical development […]« (Brown (1996), S. 110).



Annäherung von außen: Die Freiheitsschrift als Wendepunkt 37

punkt zunächst zu bestätigen scheint. Abgesehen von einer Streitschrift gegen Jacobi, die hauptsächlich als persönliche Abrechnung mit dem dauernden Gegner und Kritiker der Schellingschen Philosophie gesehen werden kann, ist sie das letzte größere, zur Veröffentlichung bestimmte Werk. In Anbetracht der Tatsache, dass Schelling zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch mehr als die Hälfte seines Lebens vor sich hatte, scheint dieser Umstand nach einer Erklärung zu verlangen und so zu vielfältiger Spekulation anzuregen. Spontan drängen sich zwei mögliche Deutungen auf. Denkbar wäre, dass Schelling mit dieser Schrift der große Wurf gelungen ist und das System damit abgeschlossen wurde. Diese Deutung kann jedoch nach einem einzigen Blick auf die Schrift selber wie auf die Fortentwicklung des Schellingschen Denkens, die sich aus den zahlreichen späteren Vorlesungen ablesen lässt, endgültig ausgeschlossen werden. Eine andere Möglichkeit wäre die Interpretation, dass Schelling mit dem Verfassen der Freiheitsschrift oder nach Abschluss derselben zu der Einsicht gekommen ist, das angestrebte philosophische System (worum es sich dabei genau handelt, soll vorerst gänzlich außer Acht gelassen werden), könne eben nicht in Form von abgeschlossenen Schriften dargestellt werden. Philosophie könne das System nicht realisieren, sondern nur nach seiner Realisierung streben. Dies wäre so gesehen eine einleuchtende Konsequenz aus der ohnehin vielfältig konstatierten Wandelbarkeit des Schellingschen Denkens. Erkennt man diese als für das Denken selber konstitutiv an, ist es nur konsequent, das Vorhaben einer endgültigen Niederlegung in der fixierten Form einer veröffentlichten Schrift fallenzulassen. Heidegger hebt im eröffnenden Abschnitt der Vorlesung von 1936 die äußerlich exponierte Stellung der Freiheitsschrift in ganz besonderer Weise hervor, indem er zunächst die rege Produktion Schellings vor dem Erscheinen der Freiheitsschrift betont. Seit der frühen Ichschrift habe sich über 15 Jahre hinweg eine »stürmische Entfaltung seines Denkens« vollzogen, bei der jedes Jahr »eine oder mehrere Abhandlungen« erschienen seien. Vor diesem Hintergrund erscheint das »Schweigen« nach der Freiheitsschrift besonders auffällig, so dass ihm eine besondere, tiefere Bedeutung zugemessen werden muss. Der »45jährige Zeitraum bis zu seinem Tode 1854«, so Heidegger, »bedeutet weder ein Ausruhen auf dem bisher Erreichten noch gar ein Erlöschen der denkerischen Kraft. Wenn es nicht zur Gestaltung des eigentlichen Werkes kam, dann liegt das an der Art der Fragestellung, in die Schelling seit der Freiheitsabhandlung hineinwuchs. Nur von hier aus kann die Zeit des Schweigens begriffen werden – oder besser umgekehrt: Die Tatsache dieses Schweigens wirft ein klares Licht auf die Schwierigkeit und Neuartigkeit des Fragens und auf das klare Wissen des Denkers um all dieses« (VL 36, 3). Allerdings lässt sich einwenden, dass von einem wirklichen »Schweigen« wiederum nicht die Rede sein kann. Immerhin hat Schelling nach der Freiheitsschrift nicht der Philosophie überhaupt den Rücken gekehrt, sondern seine Tätigkeit auf

38

Kapitel I · Die Freiheitsschrift

Vorlesungen verlagert, anstatt Texte zur Veröffentlichung auszuarbeiten. Während Heidegger aber selbst angibt, dass es sich doch um die eindrucksvolle Anzahl von etwa 90 Vorlesungen handle, die aus dem Nachlaß überliefert seien, betont er zugleich, dass »zwischen Vorlesungen und dem gestalteten und in sich stehenden Werk […] nicht nur ein gradweiser, sondern ein wesentlicher Unterschied« bestehe (VL 36, 3 f.).39 Unabhängig aber von der Frage, ob dieser Unterschied so entscheidend ist, wie Heidegger meint, ist darüber hinaus fraglich, inwieweit dieser äußerlich zu verzeichnende Bruch inhaltlich interpretiert werden kann, und ob das »Schweigen« allein auf die besondere »Schwierigkeit und Neuartigkeit des Fragens« notwendig verweist. Letztlich sind all diese Fragen natürlich erst auf der inhaltlichen Ebene zu beantworten. Und doch könnte es bei dieser äußeren Annäherung zunächst von Interesse sein, auch Schellings eigene Position zur untersuchten Frage in die Betrachtung einzubeziehen. Wenn es sich doch so offensichtlich um einen radikalen Wandel handeln soll, dürfte es zunächst erstaunen, dass Schelling selbst dieses Werk kaum als ein solches, als ein ganz neues Werk also, präsentiert. Im Gegenteil scheint er schon dadurch, dass er sie als Teil eines Bandes veröffentlicht, der sowohl frühe als auch mittlere Schriften gemeinsam mit der Freiheitsschrift versammelt, eindeutig den Zusammenhang der Schrift mit seiner denkerischen Entwicklung nahelegen zu wollen.40 Auch die Äußerung in der Vorrede zu diesem Band, über die Freiheitsschrift finde »der Verfasser nur weniges zu bemerken« (FS 334) verweist wohl kaum auf ein »klares Wissen« Schellings von der »Schwierigkeit und Neuartigkeit des Fragens«. Im Gegenteil präsentiert Schelling die Schrift keineswegs als Neueinsatz, sondern als Teil eines bereits entwickelten Systems, das seine endgültige Form noch nicht gefunden habe. Die Freiheitsschrift selbst als »ideeller Teil« stellt demnach keineswegs das gesamte System dar, wenngleich sie eine entscheidende Weiterentwicklung des bisher aufgestellten reellen Teils bildet. Erst »durch die Ergänzung mit dem ideellen, in welchem Freiheit herrscht« (VII, 350), soll der reelle Teil (also wohl die vor 39 

Allerdings ließe sich durchaus fragen, ob es sich bei der Freiheitsschrift selbst tatsächlich um so etwas wie ein »in sich stehendes Werk« handelt. Michael Baumgartner etwa ist der Auffassung, dass die Freiheitsschrift »in der Reaktion auf Angriffe und Polemiken der Tagesdiskussion entstanden« und daher »in manchen Details übereilt konzipiert sowie ausgeführt« sei (Baumgartner (1996), S. 114). Überhaupt bleiben auch die Schriften aus der Zeit zwischen der Entstehung des Systems des transzendentalen Idealismus und der Freiheitsschrift größtenteils Systementwürfe, die ganz im Sinne der obigen Bemerkung Schellings eher als »Bruchstücke eines Ganzen« denn als »in sich stehende Werke« interpretiert werden können. Insofern könnte man mit einigem Recht Einwände gegen Heideggers Trennung in veröffentlichte Werke und Vorlesungen erheben. Darüber hinaus ist auch fraglich, was das im Hinblick auf Heideggers eigenes Werk zu bedeuten hätte, eine Frage, die allerdings an das letzte Kapitel verwiesen werden soll. 40  Tilliette spricht sogar davon, dass Schelling die Schrift in diesem Band »sozusagen versteckt« habe (Tilliette (1975), S. 95.



Annäherung von außen: Die Freiheitsschrift als Wendepunkt 39

der Freiheitsschrift entwickelte Naturphilosophie, wie man annehmen könnte) »der Erhebung in das eigentliche Vernunftsystem fähig werden« (ebd.). Auch wenn man leicht sieht, dass weder die Naturphilosophie noch vor allem die zeitgleich entstandene Identitätsphilosophie, sofern sie nicht ohnehin unter dem Titel der Naturphilosophie formuliert wurde, ursprünglich als bloß reeller Teil des Systems konzipiert waren, ist doch auffällig, wie Schelling versucht, die Überlegungen der Freiheitsschrift in einem bereits bestehenden Systemkontext zu verorten. Neu soll die Freiheitsschrift also bloß insofern sein, als sie sich zum ersten Mal zu den Fragen nach »Freiheit des Willens, Gut und Bös, Persönlichkeit usw.« (VII, 334) äußert, wobei zugleich deutlich wird, dass diese Bestimmungen das bisher aufgestellte System nur ergänzen, keinesfalls aber im Widerspruch dazu stehen oder es gar aufheben sollen. Auch im Rückblick, das zeigt sich in den Münchner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie, wird die Freiheitsschrift nicht im Sinne eines Wendepunktes hervorgehoben. Schelling ist hier wiederum auffällig bestrebt, seine Denkentwicklung in einen kontinuierlichen Zusammenhang zu bringen. Dieser Darstellung zufolge scheint es so, als habe er immer nur an dem einen System gearbeitet, das er nun unter dem Titel »Naturphilosophie« im Zusammenhang präsentiert. Auf welche Schriften er dabei im Einzelnen rekurriert, bleibt weitgehend im Dunkeln. Der Punkt aber, an dem die Freiheitsschrift in dieser Darstellung anzusiedeln wäre, dürfte der sein, an dem die Problematik von Notwendigkeit und Freiheit ins Blickfeld gerückt wird, der also, an dem »der Gegensatz, der durch die ganze Folge hindurchging […] seinen höchsten Ausdruck als Gegensatz von Nothwendigkeit und Freiheit« erhalten soll (X, 115). Die Freiheitsschrift bezeichnete damit den »Punkt des Systems, wo es in die Sphäre des Handelns, die praktische Philosophie überging, wo demnach die moralische Freiheit des Menschen, der Gegensatz des Guten und Bösen und die Bedeutung dieses Gegensatzes […] zur Sprache kam« (ebd.). Dieser Darstellung zufolge nimmt der Text auch im Rückblick einen klar bestimmten Ort innerhalb des Systems ein, das »von dem Tieffsten, das sich uns darstellt, bis zu dem Höchsten, dessen die menschliche Natur fähig ist, Eine Linie, Ein stetiger und nothwendiger Fortschritt« sein soll (X, 119). Von einem Bruch ist in Bezug auf den Ort der Freiheitsschrift innerhalb des Systems also keine Rede. Nun enden Schellings Ausführungen allerdings nicht nach dieser vollständigen Darstellung des Systems, sondern setzen diesem nun tatsächlich eine fundamentale Kritik entgegen. Was bisher geschildert wurde, einschließlich des Übergangs zum praktischen Teil, verblieb Schellings weiterer Darstellung zufolge auf dem Boden der von ihm nunmehr als »negativ« gekennzeichneten Philosophie, die »nur von den Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen« (X, 125) handelte, und der eine andere, »positive«, sich auf die Existenz beziehende Philosophie entgegenzusetzen sei. Im Gegensatz zur Freiheitsschrift, die damit allenfalls einen systeminternen Übergang zu bezeichnen scheint, stellt dies

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

offenbar einen wahrhaften, beabsichtigten und radikalen Bruch mit seiner bisherigen Philosophie dar. Vor allem der Terminus »Existenz« könnte im Hinblick auf Heidegger hellhörig machen. Und doch wird gerade Schellings Versuch, der negativen eine positive Philosophie gegenüberzustellen, von Heidegger als Rückfall in traditionelle Denkmuster abgelehnt, durch die der in der Freiheitsschrift aufscheinende Übergang wieder verschüttet wird. Ob diese Einschätzung treffend ist, bleibt fraglich. Ebenso fraglich ist es allerdings, ob man Schellings eigener Darstellung überhaupt trauen darf. Zweifel scheinen durchaus angebracht, wenn man davon ausgeht, dass hier ganz unterschiedliche und zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Entwürfe in einem völlig kohärenten System vereinigt sein sollen. Hinter der These von dem kontinuierlich entstandenen einen System könnte ja einfach nur die Weigerung stehen, Fehler und Irrwege einzugestehen und damit den Kritikern Recht zu geben. Bei der Freiheitsschrift dürfte zusätzlich im Hintergrund gestanden haben, dass es um die Verteidigung des Systems gegen zwei schwerwiegende Einwände geht, um den Vorwurf des Atheismus einerseits und den des Fatalismus andererseits. Indem Schelling die Freiheitsschrift nicht als Neueinsatz, sondern eher als inhaltliche Ergänzung präsentiert, will er zugleich deutlich machen, dass beide Vorwürfe auch seine bis dahin entwickelten Systementwürfe nicht treffen. Zieht man diese Motive in Betracht, so muss Schellings eigene Darstellung, die einen Bruch geradezu auszuschließen scheint, nicht notwendig zutreffen. Eine radikale Umorientierung durch den Entwurf der Freiheitsschrift ist dadurch zumindest nicht endgültig ausgeschlossen.41 Heideggers These von der Neuartigkeit der Freiheitsschrift sowie all diejenigen Interpretationen, die eine ähnliche Ansicht vertreten, scheinen damit also noch nicht widerlegt zu sein. Tatsächlich scheint sogar die Mehrheit der Interpreten hier nicht nur eine unter vielen Wandlungen innerhalb der Schellingschen Denkentwicklung zu sehen, sondern einen besonders grundlegenden Einschnitt, der die Freiheitsschrift unter den vielen Systementwürfen als herausragendes Werk auszeichnet. Hier ist häufig die Rede von einer wie auch immer gearteten neuen Einsicht oder Erfahrung,42 die die Freiheitschrift als besonders zukunfts- und wegweisend erscheinen lässt. Allerdings ist durchaus anzunehmen, dass Heideggers Schelling41 

Zur Selbstdarstellung Schellings in Hinblick auf diese Frage vgl. auch Zaborowski (2004), S. 48 ff. 42  Werner Marx etwa hebt die »Einsicht« hervor, »daß die Nachtseite, daß das Dunkle, das Abgründige wesenhaft mit zu der Tagseite menschlichen Seins gehört« ( Marx (1981), S. 57). Hideki Mine spricht davon, dass »die verlorene Vergangenheit des ewigen Gottes« Schellings »Grunderfahrung« sei (Mine (1983), S. 27). Auch Damir Barbaric betont, dass sich Schelling »an der ›Schwelle‹ zu einer ganz neuen und andersartigen Lebens- und Denkerfahrung« befunden habe, »die ihrerseits die gesamte abendländische Epoche der Metaphysik in Frage stellt« (Barbaric (1996), S. 274). Kai Hochscheid spricht von einer »Grund-erfahrung«, die er auch als »Grenzerfahrung des begrifflichen Denkens« (Hochscheid (2008), 242) bestimmt.



Annäherung von außen: Die Freiheitsschrift als Wendepunkt 41

interpretation, die sich nahezu ausschließlich auf diese eine Schrift stützt, zu dieser Tendenz maßgeblich beigetragen hat.43 Dass die Diskussion über die Freiheitsschrift bis heute von einer gewissen bedeutungsvollen Aufladung geprägt ist, mag eben nicht zuletzt daher kommen, dass Heideggers Vorlesung von 1936 – ungeachtet des eigenen Anliegens, das Heidegger mit der Interpretation verfolgt – bisweilen wie eine Art Kommentar zu Schelling verstanden wird. Heideggers Einfluss dürfte es zudem zu danken sein, dass etwa die Frage nach dem »Scheitern«, eine im Blick auf philosophische Texte zunächst wohl eher unübliche Kategorie, immer wieder in den Betrachtungen auftaucht.44 Dieses Scheitern scheint ebenso bedeutungsvoll 43 

Diese Auffassung vertritt auch Günter Zöller: »Bei der dargestellten allgemeinen Nähe der Freiheitsschrift zum zeitgenössischen kantisch-nachkantischen Freiheitsdiskurs und den namhaft gemachten Übereinstimmungen von Schellings Schrift speziell mit Kant und Fichte muß es überraschen, dass in der Literatur seit langem, immer wieder und immer noch vielerorts die Singularität von Schellings Freiheitsschrift betont wird. Die Schrift von 1809 gilt weiterhin als Solitär – und dies sowohl im Werk Schellings als auch im weiteren zeitgenössischen Kontext. In diesen Rang ist Schellings Text aber wohl erst befördert worden durch Heideggers einschlägige Vorlesung […]« (Zöller (2012), S. 266). 44  Auch Odo Marquard weist 1975 darauf hin, dass die »Interpretationsfigur Scheitern« von Heidegger her »rührt« (Marquard (1975), S. 26). Dass Heideggers Interpretation die Forschung nachhaltig beeinflusst hat, wird von verschiedenen Interpreten hervorgehoben. So formuliert z. B. Jean Grondin, dass es »für manche als ein Sakrileg erscheinen« möge, es sich aber »nicht in Abrede stellen« lasse, »daß ein Großteil der Renaissance und vor allem der philosophischen Präsenz Schellings in der Gegenwart auf die Tiefenwirkung« von Heideggers Vorlesung zurückginge (Grondin (1999), S. 67). Andererseits aber ändert dies nichts daran, dass der Einfluss Heideggers auf bestimmte Teile der Schellingrezeption nach wie vor kaum zu überschätzen ist. Selbst in Texten, die wesentlich mit Schelling, und nicht mit Heideggers Schellinginterpretation beschäftigt sind, finden sie ihren zum Teil explizit erwähnten, zum Teil unausgewiesenen Eingang. Als Beispiel sei hier die Studie von Gianluca Solla mit dem Titel: »Schatten der Freiheit« zitiert, deren These, die Freiheitsschrift bedeute die »Aufgabe der Abhandlung als Gattung«, indem sie das hervorbringe, »was sie [als Gattung] überwindet« (Solla (2006), S. 39), klarerweise eine Interpretation der Interpretation Heideggers darstellt. Auch im Folgenden zeigt sich, dass die Sicht Sollas sich sprachlich und inhaltlich weitgehend an Heidegger anschließt, etwa, wenn es heißt: »Die Aufgabe der Freiheit vollzieht sich somit nicht einfach in der Ablehnung der Frage der Freiheit, wohl aber in der Aufgabe einer ›Ontologie der Macht‹ (welche der abendländischen Tradition innewohnt und auf dem Übergang a potentia ad actum gründet) im Zeichen der sie bedrängenden Ohnmacht. Dies entspricht dem Versuch, den Ort dessen, das sich ereignet – den Ort des Ereignisses – anzuzeigen, nicht als Ort einer Möglichkeit, die sich verwirklicht, sondern als Ort und Ereignis des Unmöglichen, des Unberechenbaren« (ebd., S. 42, Herv. G. S.) Ein weiteres Dokument für diesen Einfluss ist z. B. die Studie »Der Mensch im Mythos« von Markus Gabriel, in der schon die im Untertitel verwendete Bezeichnung »Ontotheologie« darauf verweist, dass hier Heideggersches Gedankengut im Hintergrund der Analyse steht. Ausgesprochen wird dies dort, wo die Aussicht formuliert wird, die hier entwickelte Interpretation Schellings erlaube, »ein neues Licht auf Heideggers Bestimmung des Seins als Ereignis zu werfen, der Schelling in gewissem Maße vorgearbeitet hat« (Gabriel (2006), S. 7). Auch die Arbeit über das »Problem der Freiheit in der Spätphilosophie Schellings« von Hideki Mine zeigt sich eindeutig von Heidegger geprägt, wenn die Rede davon ist, dass Schel-

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

wie die oben genannte Einsicht, weil sich im Scheitern ein Dilemma ausdrückt, das die Notwendigkeit einer Überwindung in den Blick bringen soll und damit ebenso zukunfts- und wegweisend zu sein scheint. Das Scheitern sei, so Heidegger »kein Versagen und nichts Negatives, im Gegenteil. Das ist das Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs. Wer den Grund dieses Scheiterns wahrhaft wüßte und wissend bewältigte, müßte zum Gründer des neuen Anfangs der abendländischen Philosophie werden« (VL 36, 4). Wiewohl nur wenige Interpreten letztlich so weit gehen würden wie Heidegger, gilt doch für viele als ausgemacht, dass es sich bei dem Neuansatz der Freiheitsschrift um einen Umbruch von entscheidender Tragweite handelt, der mehr ist als ein einfacher Wandel in der Denkentwicklung Schellings.45 Doch scheint man sich auch unter den Vertretern dieser Ansicht zunächst nur darüber einig, dass die Freiheitsschrift einen bedeutsamen Einschnitt darstellt. Worin aber die Bedeutung selbst bestehen solle und worin das Dilemma, an dem die Freiheitsschrift zu scheitern scheint, oder welches die grundlegende Einsicht sein solle, die dort ihren Ausdruck findet, dies lässt sich anscheinend so eindeutig nicht beantworten. Verschiedene Begriffe und Probleme konkurrieren darum, die entscheidenden Neuerungen darzustellen. Das neue Konzept der Persönlichkeit etwa soll ein Hinausgehen über die reine Subjektphilosophie darstellen,46 die Diskussion des Bösen eine Leerstelle der idealistischen Philosophie füllen oder dieselbe an ihre Grenzen führen,47 ein neues Rationalitätsverständnis erkennbar werden.48 Deutlich lings »Vollendung der Metaphysik« zugleich »die Erschließung der Grenze der Metaphysik« sei und »für die Wende zu einem Anfang des Denkens« vorbereite (Mine (1983), S. 11). 45  Gunter Wenz etwa schreibt im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band über die Rezeptionsgeschichte der Freiheitsschrift: »Die Freiheitsschrift markiert nicht nur eine Neuorientierung Schellings, sondern eine folgenreiche Wendung in der Philosophie des Deutschen Idealismus insgesamt. Während Hegels Denken seiner Vollendung in totaler Vermittlung und im absoluten Begriff zustrebte, brachte Schelling entschieden zur Geltung, was sich nicht dem Begriff und einer ihm entsprechenden Seinsordnung fügt, sondern als ein Ungefügtes und Widerständiges entgegentritt, um nicht nur Unfug, sondern ein Unwesen zu treiben, das abgründig böse ist« (Wenz (2010) , S. 5). Selbstverständlich gibt es auch andere Positionen, solche, die die Einheitlichkeit des Schellingschen Denkens in den Vordergrund rücken möchten. Zur Frage, was die Besonderheit der Freiheitsschrift ausmacht und was sie dazu prädestinieren könnte, zu einer entscheidenden Umbruchstelle stilisiert zu werden, tragen diese Deutungen allerdings weniger bei; sie werden daher in den folgenden Betrachtungen weitgehend außer acht gelassen. 46  Vgl. z. B. Sturma (2004). Dort heißt es etwa, mit seinen »personalitätstheoretischen Überlegungen« strebe Schelling »eine Revision herkömmlicher Auffassungen zu subjektphilosophischen Konstitutionsverhältnissen an« (Sturma (2004), S. 56). 47  Vgl. z. B. Werner Marx (1981) oder auch Sturma (1995) Der Begriff des Bösen reiße, wie es dort heißt, »innerhalb der philosophischen Theorie eine Kluft auf, die in und von dieser selbst nicht mehr überbrückt werden kann« (Sturma (1995), S. 155). 48  Siegbert Peetz etwa ist der Auffassung, dass Schelling in der Freiheitsschrift »ein Rationa-



Annäherung von außen: Die Freiheitsschrift als Wendepunkt 43

wird dabei zumindest, dass es sich fast immer um ein Problem der Überschreitung oder zumindest der Auslotung bestimmter Grenzen handelt, was auf die These Heideggers, hier handle es sich um die Vollendung der Metaphysik und damit auch um das Problem der Überwindung ihrer Grenzen, zurückführt. Die bedeutungsvolle Einsicht, die den Umbruch einleitet und das bedeutungsvolle Scheitern – beide Momente scheinen kaum greifbar. Infolgedessen ist naheliegend, dass es auch Stimmen innerhalb der Diskussion über die Freiheitsschrift gibt, die die stattfindende Wandlung eher skeptisch beurteilen. Kritiker sehen in Schellings späterem Denken vor allem eine Abkehr vom philosophischen Denken und eine Hinwendung zu religiösem Mystizismus, die weniger auf einer bestimmten Einsicht als vielmehr auf der Abwesenheit einer solch grundlegend neuen Einsicht begründet ist. Bereits seine Zeitgenossen standen Schellings denkerischer Entwicklung größtenteils kritisch gegenüber,49 wie sich bei Jacobi, Fries oder, erneut, bei Heine nachlesen lässt. Heines drastische Worte, Schelling sei »abtrünnig geworden von seiner Lehre« und »zurückgeschlichen in den Glaubensstall der Vergangenheit«50 mögen – vielleicht bewusst – über den Umstand hinweggehen, dass auch der spätere Schelling in gewisser Weise den rationalen Ansprüchen seiner früheren Systementwürfe durchaus verpflichtet bleibt.51 Gleichwohl aber gibt es bis heute Stimmen, die eine Abwendung Schellings von den Kriterien der Begründbarkeit an der Freiheitsschrift kritisieren.52 Die Fragen, ob es sich bei der Freiheitsschrift tatsächlich um einen Wendepunkt handelt, wie entscheidend dieser Wendepunkt sei und wie er darüber hinaus gewerlitätskonzept [entwickle], welches dem Freiheitsbegriff eine neue Dimension erschließt, angesichts derer das begriffliche Instrumentarium versagt« (Peetz (1995), S. 188). 49  Vgl. hierzu die Darstellung Buchheims in der Einleitung zur Ausgabe der Freiheitsschrift 1997, S. XXXIII ff. 50  Heine [1834] (1967), S. 134 f. 51  Das zeigt sich vor allem und ganz eindeutig an den Entwürfen dessen, was Schelling später die »negative Philosophie« nennen wird. Vgl. dazu z. B. die Studie von Albert Franz (1992), der sich ganz auf die rational zugängliche Argumentation der Spätphilosophie Schellings konzentriert. So gesehen verwehrt sich Walter Ehrhardt zu Recht gegen die »Infamie« Heines, der damit die Schellingforschung für lange Zeit von einer ernsthaften Beschäftigung mit der Spätphilosophie Schellings abgehalten habe (Ehrhardt (1996), S. 240). Ehrhardt geht es dabei allerdings nicht um die positive Bewertung eines stattfindenden Wandels, sondern um die Betonung der Kontinuität in Schellings Philosophie. 52  Vgl. v. a. Jaeschke (1996). Walter Jaeschke relativiert seine Kritik allerdings dahingehend, dass es sich nicht um einen »gleichsam unbedachten Abfall« Schellings von der Methodik einer der Rationalität verpflichteten Philosophie, sondern um eine »absichtliche Korrektur des Philosophiebegriffs« handle. Problematisch werde dieser Versuch dennoch, vor allem angesichts des Umstandes, dass Schelling gleichzeitig am »traditionellen Wissenschaftsanspruch der Philosophie« festhalte (Jaeschke (1996), S. 214). Diese Diskussion geht aber über die hier verhandelte äußerliche Ebene der Betrachtung bereits hinaus und wird an gegebener Stelle wieder aufgenommen.

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

tet werden müsse, können natürlich erst auf der konkreten inhaltlichen Ebene geklärt werden. Der Untersuchung liegt dabei die Überzeugung zugrunde, dass über diese Frage nur vor dem Hintergrund einer zumindest grob in den Blick genommenen Denkentwicklung Schellings geurteilt werden kann.53 Dabei versucht die vorliegende Darstellung, den geschilderten Alternativen auf gewisse Art zu entkommen, indem sie für die Kontinuität der Denkentwicklung plädiert, die zugleich die Kontinuität eines Dilemmas ist, das sich in allen in den Blick genommenen Schriften – auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße, aber gleichwohl erkennbar – niederschlägt.54 Während der Begriff des Dilemmas aber auf die These Heideggers Bezug zu nehmen scheint, spricht die Rede von der »Kontinuität des Dilemmas« gerade gegen eine besondere Auszeichnung der Freiheitsschrift, die vor diesem Hintergrund nur in einer Lösung des Problems, nicht aber in einem Scheitern an diesem Problem bestehen könnte.55 Schon dadurch ist klar, dass der bezeichnete Problemhintergrund mit dem Dilemma, auf das Heidegger anspielt, kaum ohne Weiteres identifiziert werden kann. Gleichwohl geht die Untersuchung bewusst den Weg, Schellings Freiheitsschrift zunächst unabhängig von der Deutung durch Heidegger in den Blick zu nehmen.56 In welchem Maße und auf welche Weise die durchaus unterschiedlichen Problemkontexte dennoch zusammenhängen, soll erst später, im Zusammenhang mit Heideggers Schellingauslegung,

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Dieser Gedanke ist nicht neu. Er drückt sich beispielsweise in dem Tagungsband der Schellingtagung aus, die schon unter dem Titel »Schellings Weg zur Freiheitsschrift« stand (Baumgartner/Jacobs (1996)). 54  Eine ähnliche Position vertritt Holger Zaborowski in dem Artikel »Geschichte, Freiheit Schöpfung und die Herrlichkeit Gottes. Das ›System der Freiheit‹ und die unaufhebbare Ambivalenz der Philosophie Schellings« (Zaborowski (2004)). Wie schon der Titel des Aufsatzes deutlich macht, geht Zaborowski davon aus, dass Schellings »Philosophie von einer systematischen und aus philosophischer Perspektive unaufhebbaren Doppeldeutigkeit gekennzeichnet ist« (ebd., S. 43). Diese ergebe sich aus einer »grundlegende[n] Aporie des modernen Systemdenkens« (ebd.), die sich im Problem der Vereinbarkeit von System und Freiheit ausdrücke (ebd., S. 44). Insofern handle es sich um einen kontinuierlichen Denkweg, der »eine Richtung und ein inneres Zentrum habe: das System der Freiheit« (ebd., S. 51). 55  Ganz anders sieht dies Katia Hay, die in ähnlicher Weise von einer kontinuierlichen Problemlage ausgeht. Es handle sich daher nicht um einen Bruch, sondern um die Verfeinerung und Lösung eines in seinen vorherigen Werken ungelösten Problems« (Hay (2012), S. 169). Dieses Problem scheint letztlich nicht nur ungelöst, sondern in gewisser Weise unlösbar, weshalb Hay wie Heidegger hier eine Notwendigkeit des Scheiterns erblickt (ebd, S. 256). Philosophie bleibe wesentlich Prozess (ebd.) und damit »unabschließbar« (ebd, S. 250). Was die Freiheitsschrift nach dieser Deutung dann doch besonders auszeichne, sei der Umstand, dass sie die Notwendigkeit des Scheiterns gerade in den Blick bringe und selbst reflektiere. Trotz aller Originalität der Untersuchung Hays scheint diese grundlegende These allerdings ihrerseits von Heideggers Interpretation beeinflusst zu sein. 56  Vgl. dazu die Einleitung zur vorliegenden Arbeit.



Das Dilemma – System und Freiheit – Spinoza und Jacobi 45

genauer untersucht werden. Doch von welchem Problem, von welchem Dilemma ist nun eigentlich die Rede?

2. Das Dilemma – System und Freiheit – Spinoza und Jacobi »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit können teils den richtigen Begriff derselben angeben; […] teils können sie den Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltsicht betreffen. Da jedoch kein Begriff einzeln bestimmt werden kann, und die Nachweisung seines Zusammenhangs mit dem Ganzen ihm auch erst die letzte wissenschaftliche Vollendung gibt; welches bei dem Begriff der Freiheit vorzugsweise der Fall sein muß, der, wenn er überhaupt Realität hat, kein bloß untergeordneter oder Nebenbegriff, sondern einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems sein muß: so fallen jene beiden Seiten der Untersuchung hier, wie überall, in Eins zusammen« (FS 336). Ziel und Rahmen der Untersuchung könnten nicht klarer abgesteckt werden, als Schelling dies hier in den eröffnenden Worten der Freiheitsschrift tut. Entscheidend für die Bestimmung des Begriffes der Freiheit ist dessen Zusammenhang mit »dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltsicht«, oder anders ausgedrückt, mit dem wissenschaftlichen System. Was allerdings eigentlich für jeden Begriff gilt, betrifft den der Freiheit in ganz besonderem Maße, denn dieser soll nur dann Realität haben können, wenn er nicht nur irgendeinen Teil des Systems darstellt, sondern wenn er als einer der herrschenden Begriffe, als Zentrum des Systems aufgewiesen werden kann. Und obwohl Schelling dies vorerst nur als Behauptung in den Raum stellt, so als verstünde sich das Gesagte von selbst, obwohl also dieser Umstand offenbar so klar ist, dass man ihn bereits als Voraussetzung an den Anfang der gesamten Abhandlung stellen kann, scheint die Behauptung so selbstverständlich doch nicht zu sein – im Gegenteil. Sie ist vielmehr eine Gegenposition zu der These, Freiheit und System müssten sich gegenseitig ausschließen, wie es einer »alten, jedoch keineswegs verklungenen Sage zufolge« heißt, derzufolge »der Begriff der Freiheit mit dem System überhaupt unverträglich sein, und jede auf Einheit und Ganzheit Anspruch machende Philosophie auf Leugnung der Freiheit hinauslaufen« (ebd.) solle. Was hier als »alte, aber keineswegs verklungene Sage« präsentiert wird, ist die Kritik Friedrich Heinrich Jacobis, die dieser zuerst in den Spinozabriefen 1785 vorgetragen, und in immer weiteren Auseinandersetzungen mit den Entwürfen Kants, Fichtes, Hegels und Schellings stets in der Diskussion präsent gehalten hatte. Die Sage ist keineswegs verklungen – das jüngste Beispiel dafür und zugleich eine der äußerlichen Veranlassungen der Freiheitsschrift ist ihre im Vergleich mit Jacobi allerdings stark verkürzte Darstellung des so genannten Indierbuches von Fried-

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

rich Schlegel. Letzteres mag zugegebenermaßen den Ausschlag gegeben haben, dass Schelling eine eigens der Untersuchung der Freiheit gewidmete Schrift in Angriff genommen hat. Zugleich ist die Lösung des Freiheitsproblems aber keine neue Motivation für Schelling. Immer will seine Philosophie wesentlich Philosophie der Freiheit sein, nicht erst hier, wo der Begriff selbst zum ersten Mal explizit im Titel erscheint. Dass aber jede Philosophie, also auch eine Philosophie der Freiheit, systematisch sein muss, ist selbst keine Neuigkeit, sondern ein zentrales Anliegen zumindest der drei ›Idealisten‹ Fichte, Schelling und Hegel. Spätestens seit Fichtes Begriffsschrift ist eindeutig klar, dass eine Philosophie, die den Anspruch hat, Wissenschaft zu sein, die also nicht bloß die Liebe zur Weisheit, sondern das Wissen selbst zum Ausdruck bringen soll, die Form eines Systems haben müsse.57 Zugleich steht mit der Figur der Tathandlung auch bei Fichte der Begriff der Freiheit im Zentrum des Systems, wie sich etwa an folgendem Zitat ablesen lässt: »Hierin liegt nun der ganze Stoff einer möglichen Wissenschaftslehre, aber nicht diese Wissenschaft selbst. Um diese zu Stande zu bringen, dazu gehört noch eine, unter jenen Handlungen allein nicht enthaltene Handlung des menschlichen Geistes, nemlich die, seine Handlungsart überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben. Da sie unter jenen Handlungen, welche alle nothwendig und die nothwendigen alle sind, nicht enthalten seyn soll, so muss es eine Handlung der Freiheit seyn. – Die Wissenschaftslehre entsteht also, insofern sie eine systematische Wissenschaft seyn soll, gerade so, wie alle möglichen Wissenschaften, insofern sie systematisch seyn sollen, durch eine Bestimmung der Freiheit«.58 Beide Aspekte, die Freiheit als zentrales Anliegen sowie die Voraussetzung, dass Philosophie Wissenschaft sein müsse, die nur als System realisiert werden könne, die Forderung nach Freiheit und die nach System können also beide vielmehr als Konstanten in Schellings Denken denn als Neuerungen gelten. So erstaunt es eigentlich, dass das Problem hier noch einmal ganz explizit aufgegriffen werden muss. Wenn sich alle Systeme Schellings bisher als Systeme der Freiheit verstanden haben, wie kommt es dann, dass diese Problematik nun noch einmal zum Gegenstand einer eigenen Schrift gemacht werden muss? Wie es scheint, ist die »Sage« aus gutem Grund nicht verklungen – der Forderung nach einem System der Freiheit, das den Nachweis liefern könnte, inwiefern System und Freiheit nicht nur keinen Gegensatz bilden, sondern im Gegenteil auf so intime Weise miteinander verbunden sind, dass die Freiheit »einen der herrschenden Mittelpunkte« des Systems ausmacht, ist offenbar noch nicht genüge getan. 57  Vgl. z. B. Fichtes Ausführungen in der Begriffsschrift. »Einen Begriff wissenschaftlich erörtern«, so heißt es dort, »nenne ich das, wenn man den Ort desselben im System der menschlichen Wissenschaften überhaupt angiebt, d. i. zeigt, welcher Begriff ihm seine Stelle bestimmen und welchem anderen sie durch ihn bestimmt werde«, (Begriffsschrift 55). 58  Begriffsschrift, S. 71.



Das Dilemma – System und Freiheit – Spinoza und Jacobi 47

Der Umstand aber, dass das Projekt, das nicht nur Schelling, sondern auch Fichte von Beginn an zu verwirklichen suchte, nach Jahren der Arbeit noch immer nach einem Neueinsatz verlangt, nach einer Schrift, die die Freiheit – und zwar hier ganz explizit die menschliche Freiheit – und ihre Vereinbarkeit mit dem System zum Thema macht, verweist durchaus darauf, dass es sich bei dem Problem um ein wahres Dilemma handelt. Jacobi ist sich der Zumutung auch sehr wohl bewusst, die seine Analyse für die Philosophie darstellt. Da er den Anspruch der Vernunft auf Konsequenz und Einheit, der zur Systemforderung der Philosophie führt, durchaus anerkennt, nennt er sein Denken dann auch konsequenterweise nicht mehr Philosophie, sondern »Unphilosophie« (2 (1), 194).

Vernunftsystem versus Freiheit – die Vernunftkritik Friedrich Heinrich Jacobis 59 Die Philosophie »aus Einem Stück« (2 (1), 200) muss notwendig das Phänomen der Freiheit leugnen. Zu diesem Ergebnis kommt Jacobi in seiner Auseinandersetzung mit Spinoza, dessen System er als das Paradigma der »Allein-philosophie« (2 (1), 197) betrachtet. Dass damit Spinoza einerseits zum Vorbild für das nachkantische Philosophieren wird, indem man durchaus das Projekt einer Philosophie aus einem Stück verfolgt, ist nur die eine Seite. Andererseits ergibt sich aus dieser Diagnose gleichzeitig die Kritik, die Fichte, Schelling und Hegel je auf ihre Weise an Spinoza üben. Philosophie als Wissenschaft muss systematische Form haben und sie darf dennoch das Phänomen der Freiheit nicht so behandeln, wie es bei Spinoza der Fall ist. Im Gegenteil, wie gesehen soll Freiheit vielmehr den Mittelpunkt des Systems ausmachen. Jacobis Kritik aber richtet sich nicht nur gegen das konkrete System Spinozas, sondern eben zugleich gegen jede Form von Vernunftsystem, denn »jeder Weg der Demonstration geht«, Jacobi zufolge, »in Fatalismus aus« (Spin 225). Doch wie kommt Jacobi zu diesem Verdikt? Friedrich Heinrich Jacobi betritt 1785 mit den sogenannten Spinozabriefen, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn die Bühne des philosophischen Geschehens in Deutschland. Er eröffnet damit einen Diskurs, der gemeinsam mit der Vernunftkritik Kants nachhaltig die Philosophie seiner Zeit bestimmt. Wie bereits Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft 1781 stellt auch Jacobi eine Art der Vernunftkritik vor, die sich dennoch stark von dem transzendentalen Ansatz Kants unterscheidet. Jacobi orientiert seine Kritik an einem für ihn beispielhaften Modell des konsequenten Philosophierens, an der Philosophie Spinozas. 59  Bei dieser Darstellung handelt es sich um die unveränderte Übernahme aus einem Text, in der die Verf. das hier detailliert ausgeführte Projekt bereits skizziert hat. Vgl. Urban (2006).

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

Diese stelle den Gipfel des »Philosophierens aus einem Stück« dar, der zumindest »von Seiten des logischen Verstandesgebrauches« (1 (1), 347) nicht zu widerlegen sei. Jacobi zufolge hat die Metaphysik stets mit einem Problem zu kämpfen, das Spinoza zumindest scheinbar in den Griff bekommen hatte. Metaphysik nämlich habe nicht nur mit Bedingtem, sondern wesentlich auch mit Unbedingtem zu tun, und sei genötigt – um ein einheitliches Weltbild zu erzielen – beides, also Bedingtes und Unbedingtes, miteinander in Beziehung zu setzen. Dieses Grundproblem äußert sich unter anderem in der Frage nach dem Zusammenhang von Unendlichem und Endlichem, Ewigem und Zeitlichem – in der Frage also, wie ein Gott, der unendlich und ewig ist, eine endliche und zeitliche Welt schaffen kann, d. h. wie ein Anfang aus der Ewigkeit heraus denkbar ist. Von dem Grundsatz »a nihilo nihil fit« ausgehend also verwarf Spinoza »jeden Übergang des Unendlichen zum Endlichen; […] und setzte an die Stelle des emanierenden ein nur immanentes Ensoph; eine inwohnende, ewig in sich unveränderliche Ursache der Welt, welche mit all ihren Folgen zusammengenommen – Eins und dasselbe wäre« (Spin 24). Indem die Welt der einzelnen, endlichen Dinge mit dem Absoluten und Unendlichen Eins wird, durch eine Immanenzphilosophie also, verschwinden die Probleme des Übergangs. Man ahnt bereits, dass dieser Schachzug nicht ohne Verlust auf mindestens einer der beiden Seiten, der des Unendlichen oder der des Endlichen, bleiben kann. Wie sich herausstellen wird, betrifft der Verlust tatsächlich beide Seiten, indem er sowohl im Hinblick auf Gott als auch im Hinblick auf den Menschen zumindest in Jacobis Augen eine Reduktion darstellt. Diese macht sich nun zuallererst im praktischen Bereich bemerkbar. Spinozas Philosophie muss aufgrund ihrer wichtigsten Merkmale diejenige Art von Freiheit leugnen, die sich in intentionalem Handeln äußert, denn dieses setzt voraus, dass das Bewusstsein der Handlung, der Wille zu dieser Handlung, der Ausführung selbst vorausgeht. Dass Bewusstsein vor der Handlung da sei, ist jedoch der Philosophie Spinozas zufolge eine bloße Täuschung. Um Jacobis Kritik genauer zu erläutern, ist zunächst eine kurze Skizze der in diesem Punkt entscheidenden Strukturen der spinozischen Ontologie nötig. Die Substanz, das ›immanente Ensoph‹, ist das Unendliche, das Ewige, Gott. Sie drückt sich in unendlich vielen Attributen aus, unter denen der unendliche Verstand sie jeweils erkennt. Wir mit unserem endlichen Verstand erkennen nur zwei dieser Attribute, Denken und Ausdehnung, die jedoch jeweils die ganze Essenz der Substanz ausdrücken. Die Substanz wiederum ist mannigfaltig differenziert in ihren unendlichen Modifikationen. Eine Modifikation der Substanz wird vom unendlichen Verstand jeweils in der Form eines jeden Attributes erkannt; für uns, die wir nur Ausdehnung und Denken erkennen, entsprechen einer Modifikation jeweils ein Ausdruck innerhalb des Attributs Denken und einer innerhalb des Attributs Ausdehnung. Somit ist kein Ding wesentlich nur körperlich oder wesentlich nur geistig, sondern es ist wesentlich eine Modifikation



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der Substanz. Dem Körper des Menschen im Attribut Ausdehnung entspricht im Attribut Denken der Geist bzw. die Seele des Menschen. Da beide, Idee und körperliche Entsprechung, oder Körper und geistige Entsprechung nur unterschiedliche Ausdrücke für ein und dieselbe Modifikation sind, müssen sie notwendig zur gleichen Zeit sein. Außerdem kann es keinerlei Wechselwirkungen zwischen den Attributen geben, d. h. eine Idee kann keinen Körper beeinflussen, ebenso wie ein Körper keine Idee hervorbringen kann. Folglich ist nach Spinoza ausgeschlossen, dass der Mensch einen Willen hat, der sich etwas zum Ziel setzt, das er danach zur Ausführung bringt. Tat und Gedanke der Tat sind stets zur gleichen Zeit und kausal voneinander unabhängig, denn sie sind nur zwei Ausdrücke für ein und dieselbe Modifikation. Spinoza bekennt sich offen dazu, die oben genannte Art von Freiheit auszuschließen. Er hält sie für eine Täuschung, die zu bekämpfen sein erklärtes Ziel darstellt, denn erst durch wahre Erkenntnis gelange man auch zur wahren Freiheit, die in der Einsicht in die Notwendigkeit der Wesensgesetze der Substanz besteht. Jacobis Kritik setzt dennoch genau hier an: »Die ganze Sache bestehet darin, dass ich aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus, und gegen alles, was mit ihm verknüpft ist, schließe« (Spin 28). Indem Jacobi sich durchaus nicht davon überzeugen lässt, dass Endursachen nur eine Täuschung des endlichen menschlichen Verstandes darstellen, sondern darauf beharrt, dass er »keine lebendigere Überzeugung« habe, »als daß ich tue, was ich denke, anstatt daß ich nur denken sollte, was ich tue« (Spin 40), kann er sich mit den praktischen Folgerungen aus der Philosophie Spinozas nicht zufrieden geben. Doch wie soll der Einspruch möglich sein, wenn eine Widerlegung seitens des logischen Verstandesgebrauchs ausgeschlossen ist? Jacobi rettet sich durch einen »Salto mortale« aus der Sache. Was man sich darunter vorzustellen habe, soll hier zunächst nicht weiter thematisiert werden. Doch heißt dies nicht, dass Jacobi nur einfach nicht einsehen wollte, dass Spinoza schlicht die Wahrheit, wenn auch eine solche unbequemer Natur, zu Tage gefördert hätte. Dass nämlich Spinoza nicht zu widerlegen sei, heißt noch lange nicht, dass dessen Position zweifelsfrei bewiesen sei. Im Gegenteil: »das System des Spinoza mag sich in dem, was es positives hat, ohne sonderliche Mühe widerlegen lassen; seine Erklärung des Daseins einzelner Dinge, einer sukzessiven Welt, ist nicht allein unzulänglich, sondern beruht auf einem erweislichen inneren Widerspruche« (Spin XX). Wenn sein System dennoch nicht einfach widerlegt werden kann, dann beruht das auf dem Umstand, dass die Alternative, die Gegenposition also, »denselbigen Fehler [hat], und zwar mit dem besonderen Nachteil, daß ihre Widersprüche sich auffallender machen lassen, als die Widersprüche der Spinozistischen« (Spin XX). Der Sprung aus der konsequenten Philosophie ist also zwar der Sprung aus dem systematischen Philosophieren und die Absage an die Möglichkeit absoluter Vernunfterkenntnis, ohne aber deshalb ein Sprung wider die Vernunft, aus dem vernünftigen

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Philosophieren etwa in bloßen Irrationalismus zu sein, wie es Jacobi von seinen Kritikern immer wieder zum Vorwurf gemacht wurde.60 Wie, so ließe sich jetzt wohl fragen, kommt es aber überhaupt zu der Möglichkeit dieser zwei Positionen, die offensichtlich beide mit denselben Problemen zu kämpfen haben und zwischen denen schließlich ein »Machtspruch« (1 (1), 350) entscheiden muss? Diese Frage führt nun an den Anfang zurück und in das Problem des Überganges vom Unendlichen zum Endlichen hinein, das darin begründet liegt, dass sich die Frage nach dem Anfang Jacobi zufolge nicht auf rationale Art lösen lässt, weil sich der Anfang als ein Unbedingtes prinzipiell unserem Begreifen entzieht. Unser Begreifen nämlich setze den Vergleich eines Dinges mit einem anderen voraus, d. h. »wir können nur Ähnlichkeiten demonstrieren; und jeder Erweis setzt etwas schon Erwiesenes zum voraus« (Spin 225). Diese Voraussetzung seinerseits begreifen zu wollen, hieße, sie ebenfalls mit anderem zu vergleichen und so fort, wodurch ein unendlicher Regress entstünde. Ein wirklich Unbedingtes, die wirkliche, gesuchte Voraussetzung, die den Beweisen letzte Gültigkeit erteilen könnte, findet sich auf diese Weise nicht. Die Voraussetzung selbst muss sich also notwendig dem Zugriff des Verstandes entziehen, ihr »Prinzipium« folglich ein anderes sein: »Offenbarung« (Spin 225). Dieser Begriff der Offenbarung hat allerdings nichts mit einer positiven, religiösen Offenbarung zu tun, sondern meint zunächst nur folgendes: Wäre uns dieses Prinzipium nicht gegeben, so wären wir gar nicht in der Lage, nach einem Unbedingten zu fragen.61 Die Probleme mit dem Anfang und dem Unbedingten sind also unhintergehbar. Wenn die Position Spinozas nun Anspruch darauf erhebt, die Probleme durch die Einsetzung eines ›immanenten Ensophs‹ gelöst zu haben, kann diese Lösung doch wohl in Wirklichkeit nur den Anschein einer Lösung darstellen. Dass es sich genau so verhält, zeigt sich eben an dem entstehenden Fatalismus, den die konsequent 60 

Vgl. z. B. Heine [1834] (1967), S. 75. Dass der Begriff der Offenbarung bei Jacobi unabhängig von einer spezifisch theologischen Deutung verwendet wird, zeigt sich beispielsweise im Gespräch über Idealismus und Realismus, bei dem Jacobi die Bedeutung der Begriffe Glaube und Offenbarung unter anderem im Zusammenhang mit dem Problem der Wahrnehmung einer realen Außenwelt erläutert. Man könnte wohl sagen, dass die Verwendung dieses Begriffs insofern irreführend ist, als er eben aus einem theologischen Kontext stammt und Jacobi damit eine, wie Susanna Kahlefeld formuliert, »Profanierung« des Begriffs vornimmt (Kahlefeld (2000), S. 140). Insofern sind die Mißverständnisse derer, die in Jacobi einen »Glaubensphilosoph« erkennen, der die Vernunfterkenntnis ablehne, durchaus durch die Begrifflichkeit Jacobis mit bedingt. Andererseits aber geht es beim Begriff der Offenbarung eben vor allem, worauf auch Kahlefeld hinweist, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen, und damit zugleich um das, was Walter Jaeschke die »Korrespondenzstruktur« der Vernunft nennt (Jaeschke (2004), S. 209). Im Übrigen setzt sich Jacobi selbst im Rahmen des Gesprächs über Idealismus und Realismus mit diesem Einwand auseinander, der ihm schon von seiten seiner Zeitgenossen gemacht wurde. Vgl. JWA 2/1, 24. 61 



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»vernünftige« Philosophie nach sich zieht. Dass sie dennoch, solange nicht nach Freiheit oder Fatalismus gefragt wird, eine scheinbar akzeptable Lösung darstellt, beruht auf einem fundamentalen Grundzug – einem fundamentalen Fehler, wie Jacobi sagen würde – der in der Vermischung zweier Begriffe besteht, die eigentlich unterschieden werden müssten, den beiden Begriffen von Grund und Ursache. Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis ist ein solches, das genuin auf Erfahrung beruht, auf der Erfahrung nämlich, dass wir handeln, dass wir also als Ursachen tätig sind, indem wir Wirkungen hervorbringen. Für dieses Verhältnis konstitutiv ist der Faktor der Zeit, denn die Ursache ist von der Wirkung verschieden, und zwar so, dass die Ursache notwendig vor der Wirkung sein muss. Das Grund-FolgeVerhältnis hingegen ist eine logische Beziehung, die keinerlei Beziehung zur Zeit aufweist. Der Begriff der Folge ist in dem des Grundes enthalten, wodurch beide, Grund und Folge, gleichzeitig vorhanden und gegeben sind. Ein Unterschied der Zeit tritt nur dann zwischen sie, wenn das erkennende Subjekt aus einer Tatsache eine andere folgert, d. h. im Erkenntnisprozess des Subjekts. Sieht man jedoch von dieser subjektiven Komponente ab, dann verschwindet dieser Unterschied, anders als beim Ursache-Wirkungs-Verhältnis.62 Eine Vereinigung dieser beiden Prinzipien findet im Satz des zureichenden Grundes statt, der unser Alltagsverständnis betrifft. Alle Dinge, mit denen wir umgehen, sind endliche Dinge, natürliche Dinge, die in einem Vermittlungszusammenhang, d. h. in einer Kausalkette stehen. In dieser Kausalkette ist jede Ursache auch eine Wirkung, denn einen Anfang aus dem Nichts heraus gibt es in der Welt der natürlichen Dinge nicht. Ganz anders verhält es sich bei metaphysischen Fragen, die ja gerade auf das Unbedingte zielen, auf eine Ursache also, die nicht zugleich Wirkung ist. Findet hier eine Vermischung der beiden Prinzipien statt, so verwandelt sich die vermeintliche Ursache in einen Grund, das wirkliche in ein logisches Verhältnis. Der Erfahrungsanteil, der dem Begriff der Ursache zugrunde lag, die Erfahrung nämlich, dass die Ursache vor der Wirkung und damit real von ihr getrennt ist, fällt damit aus der Konzeption hinaus. Die Identifizierung des Erfahrungsbegriffes mit dem logischen Verhältnis führt schließlich dazu, dass die Vorstellung von absichtlichem Handeln, die den Begriff der Ursache voraussetzt, ebenfalls mit der Theorie in Konflikt gerät. In dem Maße, in dem die Theorie die Ursache in einen Grund transformiert, verschwinden die spezifischen Anteile, die der Ursachebegriff ursprünglich transportierte. Handlung verwandelt sich so in Geschehen, Entstehen in »immer schon entstanden Sein«, freie, geschaffene Wesen in Modifikationen der Substanz, die diese notwendig, nach den Gesetzen der Natur, hervorbringt, bzw. immer schon hervorgebracht hat. Diese Vermischung von Grund und Ursache bildet den zentralen Gegenstand der Kritik Jacobis. Entscheidend mit der 62 

Vgl. Beilage VII der Spinozabriefe.

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

Vermischung von Grund und Ursache verbunden sind die Fragen nach der Freiheit, nach der Person und nach der Zeit, die sich alle Jacobis Analyse zufolge dem Begreifen entziehen; denn das Verfahren des Verstandes, das darin besteht, Unterschiede zu setzen und sie wieder aufzuheben, erlaubt ihm nicht, die genannten Probleme zu erfassen. Doch wie soll man nun Jacobi zufolge mit diesen Befunden umgehen? Der Mensch besitzt laut Jacobi eine doppelte Natur. Einerseits steht er in Bezug zum Unbedingten, insofern er sich als ein frei handelndes Wesen erfährt und ein Bewusstsein des Unbedingten hat. In Bezug zum Bedingten hingegen findet er sich, insofern er Teil der Natur ist, die kein Unbedingtes zu erkennen gibt, sondern nur von einem Bedingten auf anderes Bedingtes verweist. Aufgrund dieser Doppelnatur gibt es für den Menschen zwei Möglichkeiten: Entweder, er entscheidet sich für den Verstand und für das konsequente Philosophieren »aus einem Stück«, dann muss er sich damit zufrieden geben, selbst Teil einer Natur zu sein, die ewig nur sich selbst hervorbringt. Oder aber er entscheidet sich dagegen. Tut er dies im Sinne Jacobis, so entscheidet er sich nicht einfach für die andere Seite, sondern erkennt die Doppelnatur des Menschen an. Mit dieser Entscheidung gegen die »Alleinphilosophie« erkennt er seine Endlichkeit und damit die Unmöglichkeit an, ein Unbedingtes, somit auch die Freiheit, zu beweisen und zu erklären. Dass Jacobi dabei dennoch keinen Gleichstand zwischen den beiden Positionen annimmt, geht daraus hervor, dass es sich bei der Vorstellung des Unbedingten um die Voraussetzung des Bedingten handeln soll. Die Entscheidung, die zwischen den beiden Positionen getroffen wird, wird also nicht willkürlich getroffen, ohne deshalb logisch zwingend zu sein. Damit sprengt sie notwendig die Voraussetzungen des konsequenten, des systematischen Philosophierens. Entweder also Vernunftphilosophie im Sinne Spinozas, die Freiheit ausschließt, oder aber eine dualistische Position, die Freiheit zwar nicht begreiflich machen, sich aber auf die Gewissheit der Freiheit stützen kann. Eine dritte Position, die zwischen Allein- und Unphilosophie vermittelte, wird von Jacobi strikt ausgeschlossen. Damit geht es Jacobi weder darum, alles begreiflich zu machen, noch darum, die Vernunft zu ›schmähen‹ oder dem Philosophieren zugunsten eines blinden ›Rückfalls‹ in einen positiven Glauben einen Riegel vorzuschieben. Statt dessen zielt seine Vernunftkritik darauf, die Grenze des Erkennens aufzufinden, und damit Übergriffe der Rationalität auf ein ihr unzugängliches Gebiet, mit den daraus resultierenden Folgen für unser Selbstverständnis, zu verhindern. Die Vernunftkritik Jacobis scheint also tatsächlich ein Dilemma der Philosophie vor Augen zu führen, auf das die Freiheitsschrift – der eröffnende Passus zeigte es – offenbar reagiert. Schelling macht sich in der Freiheitsschrift zur Aufgabe, ein System der Freiheit zu entwerfen und damit die kritische Position Jacobis zu widerlegen. Dennoch ist der Bezug auf diese Problemstellung allein nicht geeignet, die herausragende Rolle der Freiheitsschrift zu begründen, da sie, wie gezeigt werden



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soll, bereits die frühen Schriften Schellings entscheidend mitbestimmt. Eine Auszeichnung der Freiheitsschrift wäre vor diesem Hintergrund nur dadurch zu begründen, dass sie eine von den früheren Versuchen grundlegend verschiedene und im Unterschied zu diesen auch erfolgreiche Widerlegungsstrategie verfolgte. Um dies aber genauer beurteilen zu können, um verstehen zu können, warum Schelling in der Freiheitsschrift noch einmal und ganz explizit auf das Problem der Vereinbarkeit von System und Freiheit zurückkommt, soll zunächst eine Skizze der Denkentwicklung Schellings gegeben werden, die sich an der genannten historischsystematischen Konstellation von Spinoza und Jacobi orientiert. Diese Darstellung muss notwendig von zahlreichen anderen Einflüssen absehen, die Schellings Denkentwicklung ebenso wesentlich beeinflusst haben. Sie ist aber vor allem deshalb unverzichtbar, weil die Schellingforschung zwar immer wieder den Einfluss Spinozas konstatiert hat, den Bezug auf die Spinozakritik Jacobis in ihrer konkreten Form aber weitgehend außer Acht lässt.63 Der Versuch, eine knappe Darstellung der Denkentwicklung Schellings zu geben, ist vor allem mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass Schelling entgegen seiner Selbstdarstellung keineswegs kontinuierlich an einem einheitlichen System arbeitet, sondern stets neue und auf den ersten Blick durchaus unterschiedlich scheinende Konzepte vorlegt. Um eine Kontinuität des Problems deutlich zu machen, ist es daher notwendig, die Darstellung auf wenige Strukturen zu konzentrieren, die im Zusammenhang mit Jacobis Kritik eine grundlegende Rolle spielen. Verkompliziert wird die Lage zudem dadurch, dass Schelling mit seinen Darstellungen stets nahelegt, dass es um eine Widerlegung oder Überwindung Spinozas ginge, während in Wahrheit viel eher Jacobi mit seiner These, nicht nur das System Spinozas, sondern jedes konsequente Vernunftsystem müsse notwendig auf eine Leugnung der Freiheit hinauslaufen, derjenige ist, dem die Widerlegung gelten müsste.64 Schelling will mit seiner Kritik an Spinoza jeweils deutlich machen, dass es sich bei dessen System eben nicht, wie Jacobi behauptet, um das Muster einer konsequenten Vernunftphilosophie, sondern um eine defizitäre Form des Systems handelt, die mit einem System der Freiheit überboten werden kann. Das wiederum heißt, dass Schelling nicht diejenigen Kritikpunkte anvisiert, die die zentrale Rolle bei Jacobi spielen, 63 

Selbst dort, wo der Bezug auf Jacobi erwähnt wird, wird diesem oft keine wirkliche Relevanz zugeschrieben. Vgl. zu diesem Problem auch die Hinweise in der Einleitung zur vorliegenden Arbeit. 64  Dies könnte unter anderem ein Grund dafür sein, dass die Auseinandersetzung Schellings mit Spinoza in der Forschung stärker zur Kenntnis genommen wird als die Auseinandersetzung mit Jacobi, die ihren expliziten Niederschlag nur im Denkmal auf Jacobi zu finden scheint, in dem Jacobis Position durchweg abgelehnt wird. Eine positive Bezugnahme auf Jacobi wirkt daher auf den ersten Blick vielleicht unplausibel. Daneben dürfte auch der Umstand eine Rolle spielen, dass Jacobis Vernunftkritik erst in den letzten Jahren, maßgeblich angeregt durch die Analyse von Birgit Sandkaulen, überhaupt als eine ernstzunehmende Position wahrgenommen wird.

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

sondern andere ›Fehler‹ Spinozas in den Mittelpunkt seiner Kritik stellt – Fehler, die dessen Denken aber bei genauerer Betrachtung gar nicht zuzuschreiben sind. Die folgende Darstellung dient daher auch dazu, aufzuzeigen, inwiefern in den jeweiligen Systementwürfen von einer wirklichen Überwindung Spinozas letztlich nicht die Rede sein kann. Dabei ist es immer wieder nötig, die tatsächliche Position Spinozas gegenüber Schellings Darstellung deutlich zu machen. Da hier aber Spinozas Philosophie in all ihrer Komplexität nicht vollständig dargestellt werden kann, sollen im jeweiligen Kontext nur so wenige Aspekte seines Denkens erläutert werden, dass deutlich wird, inwiefern Schellings Kritik im Wesentlichen auf einer meist einseitig-verkürzten Darstellung Spinozas beruht. Dabei geht es zugleich nirgends darum, Schellings eigene Philosophie als eine einfache Wiederholung Spinozas aufzufassen oder ihn gar als Spinozisten zu ›verleumden‹.65 Der Umstand, dass Schellings Versuche keine gelungenen Überwindungen Spinozas darstellen, soll vor allem eines deutlich machen: dass es ihm mit seinen vermeintlichen Widerlegungen nicht gelingt, Jacobis Kritikpunkte am Systemdenken aus dem Weg zu räumen und damit das Dilemma selbst aufzuheben.

3. Schellings Weg zur Freiheitsschrift 3.1 Ein »Gegenstück zu Spinoza« Schellings Haltung Spinoza gegenüber ist durchaus zwiespältig und übernimmt damit in gewisser Weise das Verhältnis, das bereits Jacobis Spinozakritik prägte. Auf der einen Seite ist er voller Bewunderung für diesen Denker, so sehr, dass er gar so weit geht, sich selbst als Spinozisten zu bezeichnen.66 Andererseits aber steht die Bewunderung für Spinoza immer auch unter dem Vorbehalt, dass Spinozas System im Namen der Freiheit durch ein anderes System überwunden werden muss. Diese Haltung findet sich am besten in der Forderung ausgedrückt, ein »Gegenstück zu Spinozas Ethik« aufzustellen, ein System also, das sich einerseits an Konsequenz mit Spinoza messen könne, andererseits aber auch dem von Jacobi eingeforderten Selbstverständnis des Menschen als einer frei handelnden Person Rechnung tra-

65  Wobei

darauf hingewiesen werden muss, dass die Verf. die Philosophie Spinozas keineswegs negativ bewertet und insofern auch mit der Bezeichnung »Spinozist« keinerlei Abwertung verbindet. Dieser Hinweis ist deshalb nötig, weil in der Literatur zur klassischen deutschen Philosophie nach wie vor eine weitgehend negative Einstellung zu Spinoza vorzuherrschen scheint. Einen besonders extremen Ausdruck findet diese Vorstellung bei Eva J. Engel (Engel (2002), S. 221–250). 66  Vgl. die vielzitierte Briefstelle an Hegel vom 4.2.1795 (BuD II, 65).



Schellings Weg zur Freiheitsschrift 55

gen könne. Die Vorstellung des Gegenstücks rahmt gewissermaßen als Motto und anzustrebendes Ziel des Philosophierens Schellings Denkweg. 1795, in der Schrift Über das Ich als Prinzip der Philosophie ist er dabei noch von der Hoffnung auf eine baldige Realisierung dieses Ziels angetrieben. Er dürfe hoffen, so Schelling, »daß mir noch irgend eine glückliche Zeit vorbehalten ist, in der es mir möglich wird, der Idee, ein Gegenstück zu Spinozas Ethik aufzustellen, Realität zu geben« (I, 159). Dass diese Hoffnung sich nicht so bald erfüllen sollte, macht eine Formulierung von 1827 deutlich, in der die Vorstellung des Gegenstücks noch immer beschworen wird. In den Münchner Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie heißt es ganz analog, ein System der Freiheit, als »Gegenbild« zu Spinoza, »wäre eigentlich das Höchste« (X, 36). Zugleich schwingt nun aber keine Begeisterung mehr mit wie noch in der frühen Ichschrift. Letztes Ziel allen Philosophierens, das Höchste, wäre das Gegenbild zu Spinoza wohl immer noch, die Realisierung aber scheint kaum mehr greifbar. Obwohl Schelling sich zu allen Zeiten der Arbeit an diesem System verschrieben hat, ist es ihm offenbar auch viele Jahre später nicht gelungen, der Verwirklichung näher zu kommen. Je weiter sich aber die Aussicht auf Realisierung des Systems der Freiheit entfernt, desto deutlicher scheint sich das Dilemma als ein solches zu bestätigen. Gegenstück – das suggeriert zugleich Anlehnung und Abgrenzung, mehr noch: völlige Übereinstimmung zugleich mit völliger Entgegensetzung. Wie aber sollte man sich so etwas, bezogen auf den Gedanken eines Systems, vorstellen? Denkbar wäre etwa folgendes: Einmal könnte es sich bei dem Gegenstück um ein alternatives System handeln. Es gäbe dann zwei mögliche, in sich ganz konsequente Systeme, zwischen denen man wählen könnte. In diesem Fall allerdings bedürfte es eines Entscheidungsgrundes, der selbst außerhalb der beiden Alternativen läge, was aber ausgeschlossen ist, weil das System den Anspruch erhebt, allumfassend und selbstbegründend zu sein. Somit hätte man zwar die Übereinstimmung ebenso wie die Entgegensetzung erreicht, bliebe aber hinter dem Anspruch des Systems zurück. Oder aber, dem Begriff des Gegenstückes allerdings weniger entsprechend, das neue System stellte insofern eine Überbietung dar, als es das dem System scheinbar entgegengesetzte Moment, die Freiheit nämlich, integrieren, und damit einen Widerspruch in sich aufnehmen könnte. Diese Variante allerdings scheint weniger vereinbar zu sein mit der Vorstellung von der mustergültigen Konsequenz des Vorbildes. Damit entspräche ein solches System eigentlich weder der geforderten völligen Übereinstimmung noch der Entgegensetzung. Schließlich ließe sich noch eine Variante des zuletzt erörterten Systems denken, eine veränderte Darstellung nämlich, die geeignet wäre zu zeigen, inwiefern in dem kritisierten System bereits das geforderte enthalten wäre, ohne explizit zur Sprache zu kommen. In diesem Fall würde das System in einer Art Umformulierung bestehen, die die wahre Natur des Spinozischen Systems vor Augen führte.

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

Was hier völlig abstrakt und äußerlich nur am Begriff des Gegenstückes vorgeführt wurde, lässt sich tatsächlich in der Entwicklung der Schellingschen Systeme wieder finden. Die Ichschrift stellt zunächst den Versuch dar, ein Gegenstück zu entwerfen, das auf einem dem spinozischen entgegengesetzten Prinzip, dem Ich, beruht. Dieser Versuch findet in den Briefen über Dogmatismus und Kritizismus in gewisser Weise seine Fortsetzung, in denen zwei Systeme einander gegenübergestellt werden. Hier wird dann auch die Frage nach der Entscheidung zwischen den beiden Systemen zu einem zentralen Problem. Die Vorstellung allerdings, dass man sich für eines der beiden Systeme entscheiden müsse, wird sodann fallen gelassen und durch das Konzept zweier sich ergänzender Wissenschaften, der Naturphilosophie einerseits und der Transzendentalphilosophie andererseits, ersetzt. Das eine System, das eigentliche Gegenstück also, besteht nunmehr aus den beiden Systemen, die nur noch als sich notwendig ergänzende Teilsysteme verstanden werden. Der Gedanke der zwei sich ergänzenden Systeme tritt dann in der folgenden Phase zugunsten der Betonung ihrer Einheit zurück. Die sogenannte Identitätsphilosophie scheint dabei dem dritten oben angedeuteten Modell zu entsprechen, da sie als Versuch aufgefasst werden kann, Spinoza so umzudeuten, dass der wahre Charakter des Systems, der nämlich, dass es sich keineswegs um einen Fatalismus handle, zum Vorschein kommt. Die Freiheitsschrift schließlich scheint am ehesten den Weg der Integration des Widerspruches zu gehen und damit am wenigsten der Forderung nach einem konsequenten Gegenstück zu entsprechen.67 Allerdings lenkt diese Konzentration auf das »Gegenstück« zu Spinoza – indem es den Bezug auf Spinoza in den Vordergrund rückt – von der positiven Rolle ab, die auch Jacobi für das Denken Schellings zukommt. In Wahrheit nämlich ist Jacobi für Schelling nicht nur der Gegner, dessen These über die notwendigen Konsequenzen des rein vernünftigen Denkens widerlegt werden soll. Noch viel weniger aber ist er nur der ins Lächerliche gezogene, von Philosophen wie Gläubigen gleichermaßen ausgestoßene Vernunfthasser, als den ihn das Denkmal auf Jacobi

67 

Eigentlich ist aber auch schon die Vorstellung der zwei entgegengesetzten Teilsysteme, die zusammen eine Einheit bilden, eine Form der Integration des Widerspruchs. Mit dem Übergang von den Briefen hin zur Philosophie der zwei Teilsysteme wird die Vorstellung einer Entscheidung zwischen zwei möglichen Positionen verworfen. Mit dieser Orientierung wird die Radikalität der Entgegensetzung aber immer schon in Frage gestellt, weil sie in dem Gesamtsystem aufgehoben ist. Dies scheint dazu zu führen, dass stets aufs Neue ein Gegenstück erforderlich wird. So wird die Identitätsphilosophie im Rückblick, von der Freiheitsschrift aus betrachtet, zur reinen Naturphilosophie erklärt, zu einem Teilstück also, dem nun noch der ideelle Teil, der die Freiheit denkbar machen soll, entgegengestellt wird. Ebenso verfährt Schelling später, wenn er in den Münchner Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie seine bisherige Philosophie einschließlich der Freiheitsschrift unter dem Titel Naturphilosophie zusammenfasst und dieser als negativ gekennzeichneten Philosophie noch einmal eine positive entgegensetzen will.



Schellings Weg zur Freiheitsschrift 57

schildert.68 Sinnvoll ist es vielmehr, Jacobis Position auch und wesentlich als eine Quelle steter Anregung für Schelling zu verstehen, wodurch ihr eine durchaus positive Rolle zugeschrieben werden kann, die sich bis in die späten Entwürfe hinein erhält.69 Diese Bezüge allerdings werden kaum je explizit ausgesprochen und müssen daher aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden.70

3.2 Die Ichschrift Wie gesehen ist es die Ichschrift, in der Schelling zum ersten Mal die Forderung aufstellt, ein Gegenstück zu Spinoza zu formulieren. Schelling setzt sich hierin zum Ziel, »das nicht schon längst widerlegte spinozistische System in seinem Fundament aufzuheben, oder vielmehr durch seine eigenen Prinzipien zu stürzen.« (I, 151) Während das System mit derselben »kühnen Consequenz« (ebd.) ausgeführt werden soll wie dasjenige Spinozas, muss das Prinzip desselben durch ein anderes ersetzt werden – die Substanz Spinozas durch das absolute Ich. Mit der Substanz habe Spinoza ein Ding an die Stelle des Unbedingten gesetzt, obwohl das Unbedingte doch ein solches sei, »was schlechterdings nicht als Ding gedacht werden könne« (I, 166). So betrachtet beruht das System Spinozas auf einem grundlegenden Widerspruch und kann insofern durch seine eigenen Prinzipien gestürzt werden, indem das widersprüchliche unbedingte Ding Spinozas nun durch ein Prinzip ersetzt wird, das »gar kein Ding werden kann.« Ein solches Unbedingtes könne »weder im Ding überhaupt, noch auch in dem, was zum Ding werden kann«, sondern, »wenn es ein 68  Vgl.

dazu Bernd Oberdorfer: »Liest man nur diese ätzende, die persönliche Herabsetzung nicht scheuende Polemik, dann wundert man sich, dass Jacobi je von irgendjemandem als Denker ernst genommen werden konnte. Jacobi erscheint geradezu als lächerliche, im besten Fall tragikomische Figur, die nicht einmal die Anfangsgründe des Philosophierens verstanden hat und genau da ein begriffsloses Nichtwissen predigt, wo es um die Grundlagen jedes Wissens geht« (Oberdorfer (2010), S. 32). Oberdorfer verweist demgegenüber darauf, dass »noch der grimmigste Furor der literarischen Vernichtung das indirekte Eingeständnis [enthalte], dass hier eine ernste, grundsätzliche Auseinandersetzung geführt wird.« Schellings eigene Äußerung aus dem Denkmal – »Er mit mir, oder ich mit ihm; auf jeden Fall werden wir beide zusammen vor den Richterstuhl der Nachwelt treten« – fasst Oberdorfer daher als angemessene »hermeneutische Maxime« auf (ebd., S. 41). 69  Vgl. Peetz (1995) und Sandkaulen (1990). Beide weisen nicht nur auf die grundlegende Bedeutung Jacobis für Schelling hin, sondern betonen auch, dass sich diese Bedeutung bis in die späten Schriften hinein erhält. 70  Sofern die Anstöße, die Schelling durch die Auseinandersetzung mit Jacobi erhält, im Wesentlichen vernunftkritischer Natur sind, fällt es bisweilen schwer, diese von den ebenso vernunftkritischen Einflüssen Kants zu trennen. In der Forschungsliteratur werden daher m. E. auch solche Argumente, die eher auf den Einfluss Jacobis zurückzuführen sind, an die Adresse Kants verwiesen. Schellings Darstellung allerdings macht diese Einseitigkeit durchaus verständlich, sofern er offen über sein Verhältnis zu Kant Auskunft gibt, während Jacobi auch dort, wo er durch seine Spinozakritik präsent ist, nur selten erwähnt wird.

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Absolutes ICH gibt, nur im absoluten Ich liegen« (I, 167). Die Sache scheint auf Anhieb einleuchtend, denn nicht nur wird auf diese Weise der Grundwiderspruch der spinozischen Philosophie und damit sein eigentlicher Fehler aufgedeckt, sondern die Bestimmung des Unbedingten als absolutes Ich scheint dem gesamten System und damit auch dem im System gedachten Menschen seine Freiheit und Persönlichkeit zu garantieren. Freiheit, Bewußtsein, Persönlichkeit – all dies müsste sich mit dem absoluten Ich als oberstem Prinzip im System verwirklichen lassen. Tatsächlich scheint auf diese Weise das Problem mit der Freiheit von vornherein gelöst, denn dass das wahrhaft Unbedingte auch absolut frei ist, daran kann kein Zweifel bestehen: »Der letzte Punkt, an dem unser ganzes Wissen und die ganze Reihe des Bedingten hängt, muß schlechterdings durch nichts weiter bedingt sein. Das Ganze unseres Wissens hat keine Haltung, wenn es nicht durch irgend etwas gehalten wird, das sich durch eigene Kraft trägt, und dieß ist nichts, als das durch Freiheit Wirkliche. Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« (I, 177). Auch hier, in diesem frühen Entwurf also zeigt sich, dass es Schelling bereits von Beginn an um ein System der Freiheit geht, bei dem die Freiheit nicht nur irgendeinen Punkt, sondern das eigentliche Zentrum des Systems bezeichnet, da sie das Fundament des Ganzen bildet. Im Gegensatz zur dinghaften Substanz, die jede Freiheit ausschließt, baut also das System Schellings auf einem freien Unbedingten auf, auf einem solchen, das sich durch eigene Kraft trägt und durch kein Anderes bedingt ist. Doch ist damit Spinoza tatsächlich widerlegt? In Wahrheit ist weder durch die Bestimmung des Unbedingten als absolutes Ich, noch durch die Feststellung, dass es sich durch eigene Kraft trage, bereits die Abweichung oder gar Entgegensetzung gegen Spinoza garantiert. Im Gegenteil – im Fortgang der Schrift wird zunehmend deutlich, dass das absolute Ich ganz entsprechend der spinozischen Substanz bestimmt wird, was sich konsequent auch in der fortgesetzten Übernahme der Terminologie Spinozas niederschlägt. Immer weniger ist die Rede vom Ich, immer mehr die von der »Substanz (des Ich)«. Bereits die Bestimmung des sich selbst tragenden Fundaments macht deutlich, dass die vermeintliche Abweichung zunächst gar keine ist. Spinozas Substanz ist causa sui, also Ursache ihrer selbst71 und trägt sich insofern ebenso selbst wie das absolute Ich Schellings. In eben diesem Sinne ist Spinozas Substanz durchaus auch frei zu nennen, da sie »allein aus der Notwendigkeit ihrer] Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird«.72 So wird die Substanz unter dem Titel »Ich« im Fortgang weiter ganz analog zum obersten Prinzip des spinozischen Systems bestimmt. Wenn Spinoza beweist, dass die Substanz nur eine einzige sein kann, die unbedingt unendlich ist, sich daher notwendigerweise in unendlich viele Attribute differenziert und somit über 71 

72 

Ethik I, LS 7, Beweis. Ethik I, Def. 7.



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die höchste Realität verfügt, so bestimmt Schelling das Ich als einiges, das alle Realität in sich enthält (§ 12, I, 192).73 Ein solches Unbedingtes muss, wie Spinoza sagt, unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen hervorbringen, es ist wesentlich produktiv. So bestimmt Spinoza das Wesen der Substanz als potentia, während es bei Schelling heißt, die »höchste Idee, welche die Causalität der absoluten Substanz ausdrückt, [sei] die Idee von absoluter Macht« (§ 14, I, 195). Die Substanz also bringt notwendig hervor, und ist dabei Ursache sowohl des Seins als auch des »Wesens alles dessen was ist« (I, 195),74 wie Schelling Spinoza gemäß formuliert. Dabei ist Schelling mit Spinoza auch darin einig, dass es sich nur um eine immanente Ursache handeln kann, nicht um eine »übergehende«. Das absolute Ich ist kein transzendenter Gott, sondern das immanente Prinzip der Welt. Bei dieser Nähe zu Spinoza ist es dann auch wenig verwunderlich, dass diejenigen Momente, die das absolute Ich von vornherein als Momente subjektiver Verfasstheit garantieren sollte, auf dem Niveau des Unbedingten selbst zu verschwinden drohen. Im Gegensatz zum endlichen, empirischen Ich kennt das »unendliche Ich […] gar kein Objekt, also auch kein Bewußtseyn und keine Einheit des Bewußtseyns, Persönlichkeit« (I, 200). Von dem Verschwinden dessen, was der Begriff des Ich ursprünglich transportierte, ist dann auch die Frage nach der Freiheit betroffen, denn »[a]us diesen Deduktionen erhellt, daß die Causalität des unendlichen Ichs schlechterdings nicht als Moralität, Weisheit u.s.w., sondern nur als absolute Macht, die die ganze Unendlichkeit erfüllt […] vorgestellt werden kann: daß also auch das Moralgesetz, selbst in seiner ganzen Versinnlichung, nur in Bezug auf ein höheres Gesetz des Seyns, das im Gegensatz gegen das Gesetz der Freiheit, Naturgesetz heißen kann, Sinn und Bedeutung erhalte« (I, 201). Die »Causalität des unendlichen Ichs« ist damit nichts anderes als die Kausalität der Substanz, die notwendig unendlich viele Dinge auf unendlich viele Weisen hervorbringt,75 eine blinde Produktivität, die immer nur sich selbst hervorbringt, ohne Sinn und Absicht, wie Jacobi kritisiert. In Wahrheit also ist nicht das eine Prinzip durch ein anderes ersetzt worden – wie es scheint, hat das Prinzip nur einen anderen Namen bekommen.76 Tatsächlich geht Schelling selbst so weit, einzuräumen, dass Spinoza »im Grunde« gar nicht das Unbedingte ins Nicht-Ich gesetzt habe, sondern »das Nicht-Ich selbst 73 Vgl.

Ethik I, LS 14, FS 1: Hieraus folgt ganz klar, 1. daß Gott einzig ist, d. h. […] daß es in der Natur nur einen Substanz gibt und daß diese unbedingt unendlich ist […]. 74 Vgl. Ethik I, LS 25: Gott ist nicht nur die bewirkende Ursache der Existenz von Dingen, sondern auch die ihrer Essenz. 75  Ethik I, 16: Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgen. 76  Wobei man eigentlich sagen müsste, dass als Name für das Unbedingte bei Spinoza nicht »Substanz«, sondern eher »Gott« in Frage käme, was aber letztlich keinen Unterschied macht. Ob nun Substanz, Gott, oder absolutes Ich; entscheidend sind am Ende nicht die Namen und die damit verbundenen Assoziationen, sondern die inhaltlichen Bestimmungen.

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zum Ich gemacht« habe, »indem er es zum Absoluten erhoben hatte« (I,  185). Eigentlich also sieht Schelling durchaus, dass seine Spinozakritik auf dieser Ebene nicht triftig ist. Dennoch bleibt er bis zum Schluss bei der Behauptung, Spinoza habe das Absolute als Ding, als Objekt und damit als Nicht-Ich bestimmt, und ist daher der Auffassung, das System Spinozas widerlegt zu haben und Jacobis Forderungen entgegengekommen zu sein. Denn nicht nur Spinoza, sondern auch Jacobis Position findet verschiedentlich ihren Niederschlag in der Ichschrift. Auch wenn es auf Anhieb so scheinen könnte, dass die Vernunftkritik, die hier eine Rolle spielt, wesentlich auf Kant zurückzuführen ist, lassen sich deutliche Hinweise darauf finden, dass Jacobis Rolle nicht nur die des Vermittlers der spinozischen Philosophie ist, sondern dass dessen eigenes Gedankengut seinen Einfluß auf Schelling hat. »Das höchste Verdienst des philosophischen Forschers«, so Schelling in der Ichschrift, bestünde nicht darin, »abstrakte Begriffe aufzustellen und aus ihnen Systeme herauszuspinnen. Sein letzter Zweck ist reines, absolutes Seyn; […] das, was sich nimmer auf Begriffe bringen, erklären, entwickeln läßt – kurz, das Unauflösliche, das Unmittelbare, das Einfache – zu enthüllen und zu offenbaren« (I, 186). Diese fast wörtliche Übernahme einer Formulierung aus Jacobis Spinozabriefen scheint auf Anhieb gar nicht zu der Vorgabe zu passen, ein systematisches Gegenstück zu Spinoza aufzustellen. Und wirklich dürfte es fraglich sein, wie weit diese Aussage Schellings eigene Auffassung vom Philosophieren trifft. Andererseits aber gibt diese Darstellung einen Aspekt wieder, der tatsächlich von großer Bedeutung für Schellings Bestimmung des Unbedingten und damit für die Grundlage seines Philosophierens ist. Das Unbedingte ist das, was niemals Ding werden, und was damit auch niemals erklärt werden kann. Jeder Versuch der Erklärung des Unbedingten macht aus diesem notwendig ein Bedingtes, so der Gedanke, der Schelling mit Jacobi verbindet.77 Aus diesem Umstand erwächst dann Schellings grundlegende Überzeugung, dass beim Philosophieren vom Unbedingten ausgegangen werden müsse.78 Das Unbedingte kann nicht Resultat, wohl aber Ausgangspunkt der Philosophie sein. Allerdings bedeutet diese Einsicht allein noch keine Abweichung von Spinoza, dessen Philosophie, wie Jacobi selbst herausstellt, ebensosehr auf der Überzeugung aufbaut, dass das Unbedingte dem Bedingten notwendig vorausliegen müsse.79 77 

Vgl. auch Beilage VII der Spinozabriefe, Spin 423 ff. die Studie »Ausgang vom Unbedingten« von Birgit Sandkaulen, bei der diese grundlegende Annahme Schellings bereits im Titel formuliert ist. Gerade weil dieser Umstand zugleich auf eine Verbindung zwischen Jacobi und Schelling hinweist, ist es daher auch diese Studie, die den Einfluss Jacobis auf Schelling erstmals deutlich herausstellt. Das grundlegende Problem Schellings sieht Sandkaulen darin, dass das Unbedingte als »das dem Denken vorausliegende, nicht in ihm zu erschließende Absolute« zugleich »Prinzip eines aus ihm zu begründenden Systems« sein solle (Sandkaulen (1990), S. 7). »Der Salto mortale ins Unbedingte hebt sich selbst in dem Augenblick auf, in dem das Unbedingte Anfang werden soll« (ebd., S. 9). 79  Jacobi nennt dies den »Grundsatz des Unbedingten« (III, 403), von dem Naturalisten wie 78  Vgl.



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»Spinoza war es«, so heißt es denn auch in der Ichschrift, »der vorher schon jenen Urbegriff der Substantialität in seiner ganzen Reinheit gedacht hatte. Er erkannte, daß ursprünglich allem Daseyn ein reines, unwandelbares Urseyn, allem Entstehenden und Vergehenden etwas durch sich selbst Bestehendes zu Grunde liegen müßte, in welchem und durch welches erst alles, was Existenz hätte, zur Einheit des Daseyns gekommen wäre« (I, 152).80 Anders als Schelling zieht Jacobi aus diesem Umstand aber nicht den Schluss, dass das Bedingte vom Unbedingten ausgehend erklärt werden müsse, weil beide Erklärungsrichtungen Bedingtes und Unbedingtes notwendig in einen einheitlichen Erklärungszusammenhang stellen müssen. Jacobis Überzeugung aber ist es, dass Unbedingtes und Bedingtes nicht miteinander zu vergleichen sind, dass es also unmöglich ist, sie zum Zwecke der Erklärung überhaupt in ein Verhältnis zu setzen. Da bei Schelling der Übergang vom Bedingten zum Unbedingten im Sinne des erklärenden Aufstiegs also ausgeschlossen und das Unbedingte damit an den Anfang gestellt wird, verlagert sich das Problem zu der Frage nach dem Übergang vom Unbedingten zum Bedingten, vom Unendlichen zum Endlichen, von Gott zur Welt. Als Lösung dafür diente Spinoza das Immanenzverhältnis, in dem Jacobi das Grundprinzip des Spinozismus erkannt hatte, und das Schelling, wie gesehen, bei der Bestimmung des absoluten Ich als immanente Ursache übernommen hatte. Spinoza habe »jeden Übergang des Unendlichen zum Endlichen« verworfen und »an die Stelle des emanierenden ein nur immanentes Ensoph [gesetzt]; eine inwohnende, ewig in sich unveränderliche Ursache der Welt, welche mit allen ihren Folgen zusammengenommen – Eins und dasselbe wäre« (Spin 24 f.). Dass diese Lösung aus Jacobis Sicht aber nur eine vermeintliche Lösung darstellt, die das Hervorgehen einer wirklich vom Unendlichen unterschiedenen endlichen Welt allenfalls behaupten, nicht aber wirklich erklären kann, wird im Fortgang auch für Schellings SysTheisten gleichermaßen ausgingen. Dabei unterscheiden sie sich nur in der Frage, ob »diese Absolute ein Grund, oder ob es eine Ursache sey. Daß es Grund sey und nicht Ursache, behauptet der Naturalismus; daß es Ursache sey und nicht Grund, der Theismus« (III, 404). 80  Dass Schelling in diesem Punkt von Spinoza beeinflusst ist, wird von der Literatur auch weitgehend anerkannt; die Übereinstimmung mit Spinoza scheint sich den meisten Interpreten zufolge jedoch mehr oder weniger auf diesen Bezug zu reduzieren. Vor allem, wenn es darum geht, Freiheit als zentrales Thema der Philosophie Schellings hervorzuheben, scheint es wichtig, die Unabhängigkeit Schellings von Spinozas Vorbild besonders stark zu machen. Vgl. z. B. Ehrhard (2000), S. XLVII: »Ergiebiger als das traditionelle Interpretationsraster Spinoza-Fichte scheint nach heutiger Quellenlage der Hinblick auf Platon und Kant zu sein, da vor allem die Rettung der ›Thatsache der menschlichen Freiheit‹ vor dem Abgrund der Antinomien durch die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ und die Lehre vom radikalen Bösen Schellings Generalthese fundiert, daß der Anfang und das Ende aller Philosophie Freiheit ist.« Dass hier zumindest der Begriff der Freiheit vorerst wenig mit der »Thatsache der menschlichen Freiheit« zu tun hat, dürfte deutlich geworden sein. Deutlich wird auch hier, dass die Position Jacobis vollständig ausgeblendet wird, weil sie nicht einmal als Gegenpol zu Spinoza wahrgenommen wird.

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tem zum Problem. Zunehmend wird unklar, wie die Sphäre des Endlichen aus dem Unendlichen und Unbedingten zu erklären sei,81 und besonders dringlich wird dabei die Frage, wie das empirische Ich mit dem absoluten Ich in Zusammenhang stehen soll. Schien es am Anfang noch so, als könne man die Bestimmungen von Freiheit, Persönlichkeit und Bewußtsein aus dem absoluten Ich und nur aus dem absoluten Ich heraus erklären, als könne also das endliche Ich durch seine Teilhabe an der absoluten Ichheit überhaupt erst als Ich erklärt werden, so hat sich diese Vorstellung mittlerweile verflüchtigt. Das absolute Ich trägt, wie an dem Vergleich mit der Substanz Spinozas gesehen, gerade keine Züge dessen, was man üblicherweise, von der empirischen Perspektive aus, als Ich bezeichnen würde. Alle Vorstellungen, die notwendig mit dem Ich im üblichen Sinne verbunden sind, mussten in Bezug auf das absolute Ich abgelehnt werden. Die Frage, wie dann noch das endliche aus dem absoluten Ich heraus erklärt werden soll, wird in dem Maße, in dem die Ichschrift auf den praktischen Kontext, auf das Gebiet der Freiheit also zu sprechen kommt, zum beherrschenden Problem. Freiheit selbst im Sinne einer auf den Menschen bezogenen Handlungsfreiheit lässt sich ebensowenig aus der absoluten Freiheit des unbedingten Ich ableiten wie die anderen Bestimmungen des endlichen Ich. »Der eigentliche Streit«, der im Namen der Freiheit gegen Spinoza geführt wurde, betraf daher auch – so Schelling weiter – »niemals die Möglichkeit absoluter Freiheit, denn ein Absolutes schließt schon durch seinen Begriff jede Bestimmung durch fremde Kausalität aus. […] Das Unbegreifliche ist nicht, wie ein absolutes, sondern wie ein empirisches Ich Freiheit haben solle […]« (I, 235). Gerade in dieser Hinsicht aber scheint die Ersetzung der Substanz durch das absolute Ich keinen Fortschritt darzustellen. Dennoch versucht Schelling nach wie vor, den Fehler Spinozas in der Bestimmung des Unbedingten als Nicht-Ich zu sehen. Nicht die Bestimmung also, die dem Absoluten, unter welchem Titel auch immer, jede Art von Bewußtsein absprechen muss, ist für das Problem der Erklärung des empirischen Ichs verantwortlich, sondern immer noch die vermeintlich dinghafte Auffassung des Unbedingten. »In einem System, das die Realität der Dinge an sich behauptet«, so Schelling »ist selbst das empirische Ich unbegreiflich; denn da durch das Setzen eines absoluten, allem Ich vorhergehenden Nicht-Ichs alles absolute Ich aufgehoben ist, so begreift man nicht, wie durch dieselben Objekte nun ein empirisches Ich hervorgebracht werden soll« (I, 236). Wie Schellings eigene Ausführungen aber zeigen, ist es letztlich irrelevant, ob man bei dem Absoluten von Ich oder Nicht-Ich redet, 81  Dasselbe

Problem findet er auch bei Leibniz und Kant in ungenügender Weise gelöst: »Beide [Leibniz und Kant, K.S.] haben, um aus dem Gebiet des Unbedingten in das des Bedingten zu kommen, dieselbe Brücke nötig. Um aus der Sphäre des Dings an sich, des schlechthin Gesetzten, in die Sphäre des bestimmten […] Dings zu kommen, brauchte Leibniz den Satz des zureichenden Grundes; eben diesen […] braucht Kant, um aus der Sphäre des Ichs heraus in die Sphäre des Nicht-Ichs zu treten« (I, 231).



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weil beide, absolut gedacht, nichts mit den endlichen Bestimmungen von Ich oder Nicht-Ich gemein haben oder aber, anders gesagt, weil beide im Unbedingten als identisch gedacht werden müssen: »Gott in theoretischer Bedeutung ist Ich = NichtIch, in praktischer absolutes Ich, das alles Nicht-Ich zernichtet« (I, 201). Auch bei Einsetzung des Titels ›Ich‹ bleibt daher unklar, wie dadurch »ein empirisches Ich hervorgebracht werden soll«, ebenso wie unklar bleibt, wie ein empirisches NichtIch hervorgebracht werden solle. Schelling gelingt es in der Ichschrift nicht, vom Unbedingten ausgehend das Bedingte zu erklären. Das wahrhaft Unbedingte bleibt daher nur isoliert in der intellektuellen Anschauung zugänglich, von der aus keine Philosophie entwickelt werden kann. Für die Praxis wiederum bedeutet das Problem des fehlenden Erklärungszusammenhangs, dass das empirische Ich seine Identität mit dem absoluten nicht erkennen kann und das Unbedingte daher als ein von sich »verschiedenes Etwas«, als Objekt also, setzen muss: »Weil du mit deiner Erkenntnis an Objekte gebunden bist, weil deine intellektuale Anschauung getrübt und dein Dasein selbst für dich in der Zeit bestimmt ist, wird selbst das, wodurch du allein zum Daseyn gekommen bist, in dem du lebst und webst, denkst und erkennst, am Ende deines Willens nur ein Objekt des Glaubens für dich – gleichsam ein von dir verschiedenes Etwas, das du ins Unendliche fort in dir selbst als endlichem Wesen darzustellen strebst, und doch niemals als wirklich in dir findest – der Anfang und das Ende deines Wissens dasselbe – dort Anschauung, hier Glaube« (I, 216). Auch wenn das Unbedingte als immanente Ursache gedacht werden muss, erscheint es aus der Perspektive des endlichen Ich demzufolge als eine Art von Transzendenz, als ein Unbedingtes, das nicht eigentlich gewusst, sondern nur angeschaut oder geglaubt werden kann. Diese Darstellung scheint nun wirklich außerhalb der spinozischen Sichtweise zu liegen, da dieser an der Vorstellung der radikalen Immanenz festhält. Andererseits scheint sie sich doch aber Jacobis Ansicht zuzuneigen, dass das Unbedingte nur einer unmittelbaren Gewißheit zugänglich sein könne, nicht aber einem erklärenden Wissen. Und dennoch bleibt auch hier nur der Schein der Übereinstimmung übrig, da die praktischen Konsequenzen, die Schelling aus der Situation zieht, keineswegs in die Richtung dessen gehen, was Jacobi gegen Spinoza gefordert hatte. Schelling geht es nicht darum, den handelnden Menschen als Persönlichkeit ins Zentrum zu stellen. Die Endlichkeit und ihre Bestimmungen sind nicht nur im Rahmen seines Systems nicht zu erklären, sie sollen schließlich in ihrer Realität auch gar nicht mehr erklärt, sondern vielmehr überwunden werden, weil sie der Realisierung der Immanenz entgegenstehen. Das System zu realisieren hieße, sich in seiner Einheit mit dem Unbedingten zu erkennen, sich als eine besonderte Form, oder auch, spinozisch gesagt, als Modifikation des absoluten Ich zu begreifen. Die Anteile der Endlichkeit, zu denen eben auch Bewußtsein, Freiheit und Persönlichkeit gehören, müssten allerdings zu diesem Zweck »zernichtet« werden. Das »letzte Ziel alles

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Strebens« könne mithin »auch als Erweiterung der Persönlichkeit zur Unendlichkeit, d. h. als Zernichtung derselben vorgestellt werden« (I, 200). Das Resultat, auf das die Ichschrift führt, scheint damit erneut die Position Spinozas wiederzugeben, anstatt sie zu widerlegen. Allenfalls die Bewertung der höchsten Erkenntnis, die hier negativ als »Zernichtung« präsentiert wird, während Spinoza sie wohl eher als Befreiung von falschen Auffassungen und als höchste Befriedigung in der wahren Erkenntnis versteht, unterscheidet die Position der Ichschrift noch von derjenigen Spinozas. Damit ist deutlich geworden, dass Schelling das Ziel, ein System der Freiheit als Überwindung Spinozas aufzustellen, in diesem ersten Versuch verfehlt, und dies nicht zuletzt deshalb, weil er das von Jacobi kritisierte Immanenzverhältnis zur Grundlage seines Systems macht. Die von Jacobis Diagnose abweichende Bestimmung des für den Fatalismus verantwortlichen spinozischen »Fehlers«, die Bestimmung nämlich, Spinoza habe ein Ding an die Stelle des Unbedingten gesetzt, basierte grundlegend auf der Terminologie, nicht aber auf den eigentlichen Bestimmungen der Substanz. Die Widerlegung konnte auf dieser Grundlage nicht zu einem wirklich alternativen Ansatz führen. Freiheit in der von Jacobi eingeforderten Bedeutung, als die Freiheit eines Individuums, verantwortlich zu handeln, wird daher auch in der Ichschrift eigentlich als Täuschung gekennzeichnet, die es auf dem Weg zur wahren Erkenntnis zu überwinden gilt. So einfach, wie es zunächst schien, war es also doch nicht, Spinozas System in seinem Fundament aufzuheben, weil sich die Ersetzung des obersten Prinzips durch das absolute Ich als Irrweg erwiesen hatte. Es ist daher einleuchtend, dass Schelling umgehend einen neuen, abgeänderten Versuch vorlegt, das »noch nicht längst widerlegte spinozistische System« (I, 152) zu stürzen.

3.3 Die Briefe über Dogmatismus und Kritizismus Als Reaktion auf den gescheiterten Versuch eines Gegenstückes gehen die Briefe über Dogmatismus und Kritizismus einen anderen Weg, der aber zugleich konsequent an die Ichschrift und ihre Probleme anknüpft. Hier soll nun allerdings nicht das zugrundeliegende Prinzip durch ein entgegengesetztes ersetzt werden und es soll auch nicht mehr wie in der Ichschrift darum gehen, das System Spinozas in seinem Fundament zu stürzen. »Vergebens«, so heißt es vielmehr, »würde man glauben, daß der Sieg schon durch die Principien allein, die man seinem System zu Grunde legte, entschieden sey, und daß es nur darauf ankomme, welches Princip man anfangs aufgestellt habe« (I, 312). Anstelle dieses einfachen, voreilig scheinenden Ansatzes der Ichschrift präsentiert Schelling in den Briefen eine komplexere Widerlegungsstrategie, die zwei Systeme, einen »Dogmatismus« und einen »Kritizismus« gegen-



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überstellt und im Zusammenhang betrachtet. Dabei scheint es auf Anhieb so, als entspräche der Dogmatismus dem Bild von Spinozismus, das Schelling bereits in der Ichschrift gezeichnet hatte. Der Dogmatismus nämlich zeichnet sich dadurch aus, dass er ein »Nicht-Ich«, hier nun unter dem Titel »Objekt«, an die Spitze seines Systems stellt. Der Kritizismus hingegen scheint zunächst der Position der Ichschrift selbst zu entsprechen, sofern er dadurch charakterisiert wird, dass er das Absolute im Gegensatz zum Dogmatismus als »Ich«, hier nun unter dem Titel »Subjekt«, bestimmt. Beide Systeme werden, den Ergebnissen der Ichschrift folgend, als theoretisch gleichwertig bestimmt, was zunächst einer Aufwertung des Dogmatismus gleichzukommen scheint. Allerdings wird beiden zugleich dieselbe Unzulänglichkeit attestiert, weil keines von beiden in der Lage sei, das Endliche aus dem Unendlichen heraus zu erklären. Auch hierin also folgt die Darstellung der Position der Ichschrift, in der die Realisierung der Einheit von Endlichem und Unendlichem bereits an die Praxis verwiesen wurde. Die praktische Forderung allerdings, die dem endlichen Subjekt zumutete, sich in all dem, was seine endliche Natur ausmacht, zu »zernichten«, wird nun in den Briefen ausschließlich dem Dogmatismus zugeschrieben, während der Kritizismus auf die entgegengesetzte Forderung führen soll, die nämlich, sich als Subjekt in seiner Selbstheit festzuhalten. Im Blick auf diese Forderung also scheint Schelling über die Argumentation der Ichschrift hinauszugehen, weshalb diese von besonderem Interesse sein wird. Zudem gründet sich die Widerlegung des Spinozismus nun genau auf diesen praktischen Unterschied, der eine Entscheidung zwischen den beiden Systemen ermöglichen soll. An die Stelle einer theoretischen Widerlegung, die als unmöglich ausgeschlossen wird, tritt die praktische Überwindung. Diese über die Ichschrift hinausgehende Widerlegungsstrategie scheint nun eindeutig grundlegende Überzeugungen Jacobis aufzugreifen. Jacobi selbst war ja der Auffassung, dass Spinoza nicht theoretisch widerlegt werden könne, dass man sich aber aufgrund der unüberwindlichen Überzeugung, der Mensch handle frei und nach Absichten, gegen das System und für ein Denken der Freiheit entscheiden müsse. Allerdings scheint dieser Entsprechung von vornherein ein schwerwiegender Einwand entgegenzustehen. Jacobi kritisiert das Systemdenken als solches und will damit nicht das eine durch ein anderes System ersetzen, sondern überhaupt von dem Versuch Abstand nehmen, die Welt in einen einheitlichen Erklärungszusammenhang zu bringen. Und doch gibt es Äußerungen Jacobis, die in eine andere Richtung zu deuten scheinen, Äußerungen, die den Gedanken zweier möglicher Systeme, zwischen denen man sich letztlich nur aufgrund praktischer Überzeugungen entscheiden müsse, unterstützen. So spricht Jacobi etwa in den Spinozabriefen explizit von zwei Systemen, dem der Endursachen auf der einen, und dem der »bloß wirkenden Ursachen« auf der anderen Seite. Dazu heißt es: »Dieses System wird das System der Endursachen, oder der vernünftigen Freiheit genannt. Jenes, das System

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der bloß wirkenden Ursachen, oder der Naturnotwendigkeit. Ein drittes ist nicht möglich, wenn man nicht zwei Urwesen annehmen will« (Spin 358). Beide Systeme sind allerdings, so Jacobi, theoretisch unzulänglich, weil sie beide auf »einem erweislichen inneren Widerspruche« beruhen. Beide nämlich können den Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, den Anfang der Welt, nicht wirklich erklären.82 »Ist dieser Widerspruch« dann aber »gehoben (oder sei es auch nur geschlichtet, im Falle, dass man ihn für reell und unauflöslich halten wollte), so haben wir in Absicht des Übernatürlichen, von dessen Dasein wir gewiß sind, nur noch zu entscheiden, ob wir annehmen wollen, es sei ein blind aktuoses Wesen, oder eine Intelligenz; und mir deucht, hier könnte uns die Wahl nicht schwer fallen« (Spin 433 f.). Die Entscheidung zwischen den beiden »Systemen«, dem der Endursachen und dem der »bloß wirkenden Ursachen« fällt also aufgrund der Überzeugung, nur die Bestimmung des höchsten Wesens als Intelligenz könne mit unserem praktischen Selbstverständnis in Einklang gebracht werden. Auch Jacobi scheint also davon auszugehen, dass beide »Systeme« von einem Unbedingten ausgingen, von dem aus keine theoretische Ableitung der Welt möglich sei, dass aber beide dieses Unbedingte auf der Grundlage einer persönlichen Entscheidung je unterschiedlich bestimmten, die einen als »blind aktuoses Wesen« wie es die Substanz Spinozas darstellt, die anderen, wie er selbst, als Intelligenz.83 Lässt man den – gleichwohl entscheidenden – Unterschied außer acht, dass Jacobi nicht auf die Gegenüberstellung zweier theoretisch strukturgleicher Systeme aus ist, dann sieht man leicht, wie dessen Spinozakritik die Konzeption der Briefe grundlegend bestimmt. Dass auch der Titel »Kritizismus«, den Schelling für das letztlich überlegene System wählt, mindestens ebensosehr auf das Vorbild Jacobis wie auf Kant verweist,84 82  Vgl. z. B. »Welches von beiden man wähle: Entweder anzunehmen mit dem Naturalisten: Das Unbedingte oder Absolute, welches die Vernunft voraussetzt, sey nur das Substrat des Bedingten, das Eine des Alls; oder mit dem Theisten: diese Unbedingte oder Absolute sey eine selbstbewußte freye, dem vernünftigen Willen analoge Ursache, eine nach Zwecken wirkende allerhöchste Intelligenz: so bleibt es immer gleich unmöglich, bey der einen, wie bey der andern Wahl, das Daseyn des Weltalls aus einem solchen Ersten, als einem Ursprunge zu erklären« (GD 108). 83  Noch deutlicher scheint dieser Zusammenhang zu werden, wenn man das folgende Zitat aus den Spinozabriefen hinzuzieht, in dem es über das System Spinozas heißt, »das, was uns bewegt« sei »ein Etwas, das von allem dem nichts weiß, und das, in so ferne, von Empfindung und Gedanke schlechterdings entblößt ist. […] Wer nun dieses annehmen kann, dessen Meinung weiß ich nicht zu widerlegen. Wer es aber nicht annehmen kann, der muß der Antipode von Spinoza werden« (Spin 29). 84  Diese Interpretation scheint der eigenen Darstellung Schellings zu widersprechen, wie sie im Brief an Hegel (BuD II, 65) zu finden ist. Dort heißt es, die dogmatische Philosophie führe »in letzter Konsequenz auf Spinozas System«, die kritische hingegen »aufs Kantische«. Darüber hinaus scheint gerade die in dem genannten Brief ausgesprochene Nähe zu Spinoza eine positive Bezugnahme Schellings auf Jacobi eher auszuschließen, ebenso wie die Äußerungen zu Gott.



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wird an Schellings weiteren Bestimmungen von Dogmatismus und Kritizismus und ihrem Verhältnis zueinander deutlich. Zunächst einmal ist offensichtlich, dass es sich beim Dogmatismus tatsächlich um eine Darstellung der Philosophie Spinozas handeln soll und nicht etwa um eine im kantischen Sinne dogmatische Metaphysik, die hier unter dem Titel eines »blinden Dogmaticismus« geführt wird, der »blindlings und ohne vorangegangene Untersuchung des Erkenntnisvermögens« errichtet werde, und der vom Dogmatismus gründlich zu unterscheiden sei (I, 302). Dennoch scheint der Begriff »Kritizismus« auch auf eine Art Überlegenheit dieser Position gegenüber dem Dogmatismus zu verweisen, weil er explizit als Kritik auf den Dogmatismus bezogen wird. In diesem Sinne scheint das System des Kritizismus schon dem Begriff nach mehr zu sein als ein dem Dogmatismus theoretisch gleichwertiges und strukturgleiches System. Es scheint darüber hinaus in einer zweiten Bedeutung dasjenige System zu bilden, das die beiden Teilsysteme übergreift und auf ihre Bedingungen und Konsequenzen reflektiert. So erklärt sich auch, wieso Schelling behaupten kann, dass im Kritizismus »selbst die Auflösung des Rätsels« zu finden sei, »warum diese beiden Systeme notwendig nebeneinander bestehen müssen, warum es, solange noch endliche Wesen existieren, auch zwei sich geradezu entgegengesetzte Systeme geben muß, warum endlich kein Mensch sich von irgend einem System anders als nur praktisch, d. h. dadurch, daß er eins von beiden in sich selbst realisiert, überzeugen könne« (I, 306).85 Auch diese Feststellung lässt sich durchaus auf Jacobis Position beziehen, da diese wesentlich kritisch verfasst und so in entscheidendem Sinne auf das Systemdenken bezogen ist, von dem sie sich abgrenzt. Insofern steht Jacobis Denken dem Denken Spinozas zwar gegenüber, weil es sich an entscheidenden Stellen gegen die Lösungen Spinozas ausspricht, zugleich aber ist es immer auch eine Metaposition, die beide Sichtweisen auf die Welt umfasst. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation also wird auch die Überlegenheit, die Schelling dem Kritizismus zuschreibt, verständlich, wenn»Auch für uns«, so formuliert Schelling hier, »sind die orthodoxen Begriffe von Gott nicht mehr« – eine Sicht, die sich bestätigt, wenn es in den Briefen heißt, die »Idee eines moralischen Gottes« habe »nicht einmal eine philosophische Seite«, sie sei so leer wie »jede anthropologische Vorstellung«. Insofern scheint Schelling sich doch in gedanklicher Ferne von Jacobi zu bewegen. Während Schelling aber die positiven Inhalte des Jacobischen Denkens offenbar nicht übernehmen möchte, scheint er die gegen Spinoza gerichtete Kritik dennoch für richtig zu halten. In diesem Sinne bleibt es plausibel, dass gerade die Architektonik des in den Briefen entworfenen Systems an Jacobis Kritik angelehnt ist. Schon in der Formulierung über die »orthodoxen Begriffe von Gott« zeigt sich ja, dass Schelling seine Sicht auf Spinoza in Auseinandersetzung mit den Spinozabriefen Jacobis entwickelt. 85  Vgl. auch dazu Jacobi, der von einem »ursprüngliche[n], in der sinnlich vernünftigen Natur des Menschen gegründete[n] und darum nie ganz zu vertilgende[n] Antagonismus« spricht, der allein Ursache dafür sei, »daß es diametral entgegengesetzte philosophische Systeme geben kann, und daß es deren von den frühesten Zeiten an, bis auf unsere Tage so viele und mannigfaltige wirklich gegeben hat« (GD 109).

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gleich sie sich aus der eigentlichen Konzeption der beiden Systeme nicht notwendig ergibt. Bei Jacobi sind beide »Systeme« gerade nicht strukturgleich, weil die eine Position für sich steht, während die andere notwendig auf die erste bezogen ist. Wie sich die Übernahme dieser Anlage durch Schelling allerdings mit der zunächst behaupteten theoretischen Identität der Systeme vertragen soll, bleibt vorerst fraglich. Doch wie sehen nun die beiden Systeme aus, die Schelling in den Briefen entwirft? Beide gehen, so sei hier noch einmal kurz rekapituliert, notwendig von einem Unbedingten aus, das als Einheit von Subjekt und Objekt ihrer Trennung voraus liegend gedacht werden muss. Was damit zu Beginn als grundlegendes Problem erscheint, ist die Erklärung der Trennung aus der Einheit heraus, bzw. die Frage nach dem Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, das von Schelling nun auch als das grundlegende »Problem aller Philosophie, nicht nur eines einzelnen Systems« bestimmt wird (I, 314). Jacobi zufolge hatte Spinoza dieses Problem durch die Einführung des Immanenzverhältnisses gelöst. Im Gegensatz zu Jacobi aber lehnt Schelling diese Lösung nicht ab, sondern betrachtet sie als »einzig mögliche Lösung« (ebd.) dieses Problems. Anders als Jacobi sieht er daher auch keinen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Immanenzverhältnis und dem das System kennzeichnenden Fatalismus. Er ist vielmehr der Auffassung, Immanenz könne unterschiedlich gedeutet werden. Nur die besondere »Deutung«, die die Immanenz bei Spinoza erhalten habe, nicht aber das Prinzip der Immanenz selber sei für den Fatalismus verantwortlich zu machen. Auch der Kritizismus also hält an der Lösung Spinozas fest, die er nun allerdings anders zu »deuten« versucht. Und in der Tat fällt auf, dass Schellings Interpretation dessen, was er oben als »Lösung« für das Problem des Übergangs bezeichnet hatte, durchaus eigentümlicher Natur ist. Schelling scheint nämlich im Immanenzverhältnis gerade keine Aufhebung eines zu überwindenden Abgrundes zwischen Unendlichem und Endlichem zu sehen, sondern vielmehr die Bekräftigung eines solchen. Während das Immanenzverhältnis bei Spinoza gerade dazu dienen soll, die Erklärbarkeit des Endlichen aus dem Unendlichen zu gewährleisten, hält Schelling diese Möglichkeit von vornherein für ausgeschlossen. Diese Merkwürdigkeit lässt sich vielleicht nur durch den Bezug auf die Jacobische Formulierung erklären, dass Spinoza jeden Übergang vom Unendlichen zum Endlichen verworfen habe, die man offenbar unterschiedlich interpretieren kann. Jacobi, der in diesem Schritt die Ermöglichung des Systemdenkens erkennt, will damit sagen, dass Spinoza den Übergang als Übergang, als erst einmal zu überwindenden Abgrund, aufhebt, indem er Unendliches und Endliches als eine Art Identität auffasst. Schelling aber sieht in der »Verwerfung« des Übergangs den Ausschluss eines Übergangs und damit die Bekräftigung eines Abgrundes ausgedrückt, der die theoretische Ableitung des Endlichen aus dem Unendlichen gerade unmöglich macht. Unter dieser Perspektive präsentiert sich der



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Dogmatismus allerdings von vornherein als eine Position, die mit Spinoza nur wenig gemein hat – ein Umstand, der die Widerlegungsstrategie schon zu Beginn in Frage stellt. Erneut aber zeigt sich hier, welch entscheidenden Einfluss die Position Jacobis auf Schelling hat. Denn dass es sich beim Immanenzverhältnis eben nur um den Anschein einer Lösung handelt, weil Endliches und Unendliches nicht in einen Erklärungszusammenhang gestellt werden können, war ja eben Jacobis These, die sich nunmehr in Schellings Deutung von Immanenz niederschlägt. Nachdem der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen und damit die theoretische Vollendung des Systems einmal ausgeschlossen ist, scheint der Ausweg, wie schon in der Ichschrift, in einem praktisch zu realisierenden Übergang vom Endlichen zum Unendlichen zu liegen: »Die Philosophie kann zwar vom Unendlichen nicht zum Endlichen, aber umgekehrt vom Endlichen zum Unendlichen übergehen. Das Streben, keinen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen zuzulassen, wird eben dadurch zum verbindenden Mittelglied beider, auch für die menschliche Erkenntnis. Damit es keinen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen gebe, soll dem Endlichen selbst die Tendenz zum Unendlichen beiwohnen, das ewige Streben, im Unendlichen sich zu verlieren« (I, 314 f.). Die Formulierung, sich im Unendlichen zu »verlieren«, klingt zunächst nach einer Variante der »Zernichtung« des Selbst, von der in der Ichschrift die Rede war. Und doch behauptet Schelling hier einen Unterschied zwischen der praktischen Forderung des Dogmatismus und der des Kritizismus. Woraus aber, so muss vor dem Hintergrund der Ichschrift gefragt werden, soll sich ein solcher Unterschied ergeben? Eine erste Begründung geht von der bereits erwähnten, grundlegenden Annahme aus, der Dogmatismus bestimme das Absolute als Objekt, der Kritizismus hingegen als Subjekt. Daraus leitet Schelling nun die Folgerung ab, dass der Dogmatismus in praktischer Hinsicht die Angleichung des Subjekts an ein Objekt fordere, der Kritizismus hingegen die Angleichung des Objekts an ein Subjekt. Daraus ergebe sich im Weiteren, dass der Dogmatismus auf völlige Passivität des Subjekts dem Objekt gegenüber ausginge, während der Kritizismus eine Erhöhung der Aktivität anstrebe. Wie sich zeigen wird, greift diese erste Erklärung zu kurz, die darum an späterer Stelle auch von Schelling noch einmal modifiziert wird. Ein Blick auf Spinoza aber soll zunächst deutlich machen, wie weit diese Darstellung des Dogmatismus von dessen tatsächlicher Position entfernt ist. Angeblich, so Schelling, gehe der Dogmatismus darauf aus, die Kausalität des Subjekts durch eine »fremde Kausalität in ihm« zu ersetzen. Gefordert sei folgendes: »Vernichte dich selbst durch die absolute Kausalität, oder: Verhalte dich schlechthin leidend gegen die absolute Kausalität« (I, 316). Tatsächlich aber scheint Spinoza vielmehr das Gegenteil zu fordern, da der Weg zur Erkenntnis ihm zufolge nur über eine Verminderung von Passivität in Form der Leidenschaften und inadäquaten Ideen und durch eine Erhöhung der Aktivität des einzelnen Wesens führen soll. Die höchste Erkenntnis versteht Spi-

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noza folglich auch gar nicht als »Zernichtung«, sondern vielmehr als Realisierung des eigenen Wesens, bei dem die Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis Gottes zusammenfällt. Dieser eklatante Unterschied zwischen der Darstellung Schellings und der tatsächlichen Position Spinozas lässt wohl den Schluss zu, dass Schelling sich zum Zeitpunkt der Briefe mit Spinoza nur vermittelt über Jacobi auseinandergesetzt hat. Bei der Darstellung leitend ist dabei die Diagnose Jacobis, dass es sich bei Spinoza um ein fatalistisches System handle, das es nicht erlaube, die Freiheit eines persönlichen Selbst zu denken. Dennoch verwendet Schelling ganz andere Argumente zur Darstellung dieser These, Argumente, die aus anderen theoretischen Kontexten stammen, und die nun allerdings an Spinozas Position vorbeigehen.86 Das eigentliche Problem aber scheint erneut mit dem eigentümlichen Verständnis des Immanenzverhältnisses zu tun zu haben, das bereits erwähnt wurde. Während nämlich Schelling von einer Art Gegensatz zwischen Unendlichem und Endlichem ausgeht, die sich auch in der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt ausdrückt, steht für Spinoza gerade der Gedanke ihrer Einheit im Zentrum. Der Immanenzgedanke bei Spinoza bedeutet, dass die endliche Welt nicht radikal vom Unendlichen geschieden, sondern als Folge aus dem Absoluten zu denken ist, die zugleich die Wirklichkeit des Absoluten selbst ausmacht. Eine Entgegensetzung zwischen Endlichem und Unendlichem, mit der Schelling operiert, wird durch Spinozas System der Immanenz gerade ausgeschlossen. Wenn es dem Einzelnen also so erscheint, als sei Gott der Welt transzendent und stünde ihm als Objekt des Wissens oder Glaubens entgegen, so beruht das Spinozas Verständnis zufolge ausschließlich auf einer Täuschung durch die Imagination, darauf, dass der Mensch die wahre Natur des Unbedingten nicht erkennt. Der Weg zur Wahrheit ist damit der Weg zu der Erkenntnis, dass das Unbedingte für den Einzelnen gerade kein fremdes Objekt darstellt, sondern vielmehr mit diesem identisch ist. Daher kann im Hinblick auf die Realisierung der Identität nicht die Rede von der Aufhebung eines Subjekts im Objekt sein. Wenn überhaupt, dann müsste man wohl eher von einer Aufhebung des Objekts reden, weil die Täuschung, das Absolute sei ein fremdes Objekt, durch die wahre Erkenntnis aufgehoben wird. Allerdings bedeutet das ebensowenig, dass das Objekt dem Subjekt untergeordnet werden solle, weil Spinoza gar nicht mit einer Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt arbeitet, die durch den Parallelismus von Denken und Sein von vornherein ausgeschlossen ist. Denken und Sein (bzw. Ausdehnung) sind nur unterschiedliche Ausdrücke Gottes, Ideen und Körper nicht wechselseitig aufeinander, sondern nur auf Gott bezogen, aus dem sie in der 86 

Das zeigt vor allem die Rede von Subjekt und Objekt, die Spinozas Philosophie fernstehen und die auch im Rahmen der Kritik Jacobis keine Rolle spielen. Tatsächlich findet in den Briefen eine komplizierte Verschränkung unterschiedlicher Theorielagen statt, in denen die Vernunftkritiken von Kant und Jacobi beide präsent sind.



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gleichen Ordnung folgen: »Die Ordnung und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen«.87 Der Weg zur wahren Erkenntnis besteht insofern gerade darin, die Ideen nicht auf die in ihnen repräsentierten Inhalte, sondern auf Gott als ihre eigentliche Ursache zu beziehen. Für eine Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt ist so gesehen im System Spinozas kein Platz. Aus der immanenten Perspektive Spinozas sind also weder das Endliche und das Unendliche noch Subjekt und Objekt noch auch Theorie und Praxis als entgegengesetzt zu denken. Der Weg zur höchsten Erkenntnis, zur Vervollkommnung des Wissens also, ist zugleich der Weg zur höchsten Tugend, d. h. zur praktischen Vervollkommnung des einzelnen Wesens.88 Die Unzulänglichkeit dieser ersten Begründung zweier entgegengesetzter Forderungen aber zeigt sich eigentlich auch daran, dass das Absolute in Wahrheit von beiden Positionen weder als Ich noch als Nicht-Ich, weder als Subjekt noch als Objekt, sondern als vorgängige Einheit dieser beiden Bestimmungen, also in der vorliegenden Terminologie als »Subjekt-Objekt« gedacht werden muss. Im Blick auf die Frage nach dem Zugang zum Unbedingten in seiner Einheit, dort also, wo es um die intellektuelle Anschauung des Absoluten geht, bezieht sich Schelling daher auch erneut in positiver Weise auf Spinoza. »Ihm ist intellektuelle Anschauung des Absoluten das Höchste«, so Schelling über Spinoza, »die letzte Stufe der Erkenntnis, zu der ein endliches Wesen sich erheben kann, das eigentliche Leben des Geistes« (I, 317). Und weil dies so ist, kommt Schelling wie schon in der Ichschrift zu dem Ergebnis, dass Spinoza in Wahrheit doch kein Nicht-Ich oder Objekt an die Stelle des Absoluten gesetzt haben könne. Die intellektuelle Anschauung ist keineswegs Anschauung eines fremden Objekts, denn »woher anders konnte er die Idee derselben geschöpft haben als aus seiner Selbstanschauung; man darf nur ihn selbst lesen, um sich ganz davon zu überzeugen« (ebd.).89 Wenn Spinoza »sich 87 

Ethik II, LS7. Allerdings könnte man sagen, dass Schelling auf ein Problem verweist, das bei der Interpretation der Ethik Spinozas Schwierigkeiten bereitet. Tatsächlich scheint die Ethik wie selbstverständlich von Gott auszugehen und damit die Trennung von Beginn an überwunden zu haben. Andererseits aber zeigt sich doch an der Darstellung des Weges, den der Mensch auf dem Weg zur höchsten Erkenntnis zu beschreiten hat, dass er sich eben nicht zu Beginn schon im Besitz der höchsten Erkenntnis befindet. Diese zu erreichen soll gar Spinoza zufolge nur den wenigsten Menschen überhaupt möglich sein. Und doch ist es zur Erkenntnis des Weges, den der Mensch auf dem Weg zum Wissen, zur Tugend und zur Glückseligkeit beschreiten soll, anders gesagt, dazu, dass ein solches System der Ethik im Sinne Spinozas aufgestellt werden kann, anscheinend nötig, bereits auf der höchsten Erkenntnisstufe angekommen zu sein. Indem Schelling die Unterscheidung zwischen der Richtung vom Unbedingten zum Bedingten und vom Bedingten zum Unbedingten macht, legt er den Finger genau auf diese bei Spinoza offene Frage. 89  Tatsächlich scheint es nicht abwegig anzunehmen, dass sich die positiven Bezugnahmen Schellings auf Spinoza dieser Maxime verdanken, nur »ihn selbst« zu lesen, d. h. ihn unabhängig von Jacobis Kritik aufzufassen. 88 

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selbst mit dem Absoluten identisch und in seiner Unendlichkeit verloren« geglaubt habe, so kann dies folglich auch nur auf einer Täuschung Spinozas beruht haben. In diesem Sinne sieht Schelling sich genötigt, Spinoza nun gegen diese falsche Auffassung, die er selbst ihm doch zuvor unterlegt hat, zu verteidigen. »Nicht er war in der Anschauung des absoluten Objekts, sondern umgekehrt, für ihn war alles, was objektiv heißt, in der Anschauung seiner selbst verschwunden« (I, 319). Letztlich aber bestätigt sich gerade auf der Ebene des Absoluten und seiner Einheit, was bereits die Ichschrift deutlich machte: dass sich nämlich die Bestimmungen von Subjekt und Objekt gleichermaßen aufzulösen drohen. Die Einheit scheint damit – von der Perspektive des Subjekts aus betrachtet – nur im Sinne einer Selbstaufgabe realisierbar, unabhängig von der Frage, ob man das Absolute zuvor als Subjekt oder als Objekt bestimmt habe. Die erste Begründung der unterschiedlichen Forderungen von Kritizismus und Dogmatismus erweist sich als unzureichend und eine neue Bestimmung des Unterschieds wird erforderlich. Beide Positionen, so zeigt sich, zielen auf die Einheit von Subjekt und Objekt, die offenbar notwendig auf eine Art Selbstaufgabe des Subjekts im Absoluten hinauslaufen muss. Insofern laufen beide Systeme Schelling zufolge Gefahr, der »Schwärmerei« zu verfallen. Darunter kann man sich wohl zunächst eine Position wie die der Ichschrift vorstellen, die den Gedanken der Selbstauflösung in der Einheit mit dem Absoluten enthusiastisch bejaht und als Ziel des Philosophierens überhöht. Anstatt aber in dieser Einheit die Aufgabe der Begriffe von Subjekt und Objekt zu erkennen, konzentriert sich Schelling eher einseitig auf die darin implizierte Aufgabe des Subjektgedankens, ein Ansatz, der ja vor dem Hintergrund der Kritik Jacobis (und Kants) auch durchaus einleuchtet. Schelling geht es hier – das soll nicht aus dem Blick verloren werden – um eine Philosophie der Freiheit, die die Freiheit des Subjekts, des einzelnen, in der Welt handelnden Selbst erfassen möchte. Insofern ist es konsequenterweise die Realisierung der Einheit selbst, die nun zum Problem wird. Jede Realisierung der Einheit, so scheint es von diesem Standpunkt aus, ist nur als Aufgabe des Subjekts zu denken. Einerseits baut Schellings Argumentation im Weiteren auf dieser Annahme tatsächlich auf. Andererseits aber präsentiert er einen davon abweichenden Gedanken, der im Blick auf Schellings Auseinandersetzung mit Spinoza durchaus aufschlussreich ist. Schwärmerei nämlich entstehe »durch nichts anders als durch die objektivierte intellektuale Anschauung, dadurch, daß man die Anschauung seiner Selbst für die Anschauung eines Objekts außer sich, die Anschauung der innern intellektualen Welt für die Anschauung einer übersinnlichen Welt außer sich hält« (I, 321). Schelling scheint hier die Bestimmungen von Subjekt und Objekt auf Verhältnisbestimmungen zu erweitern, die das Verhältnis der beiden im Absoluten identischen Pole von Subjekt und Objekt einmal als »subjektiv« und einmal als ›objektiv‹ charakterisiert. Als Objekt erscheint die Einheit des Absoluten nämlich dann, wenn das



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Subjekt sie »außer sich« setzt und sie so als ein Gegenüber anschaut. In diesem Sinne allerdings scheint es sich bei der Schwärmerei gerade nicht um die Realisierung der Einheit, sondern viel eher um die Setzung einer absoluten Trennung zwischen Unendlichem und Endlichem zu handeln, die Theorie und Praxis gleichermaßen prägt. Das Absolute als Objekt ist, so könnte man wohl auch sagen, nunmehr vollständig als Transzendenz bestimmt. Damit aber entfernt sich die Bestimmung des Dogmatismus noch einmal von der Position Spinozas, die geradezu als Gegenpol verstanden werden könnte. Dogmatisch scheint die Annahme eines transzendenten Unbedingten, das, so ließe sich folgern, durch ein immanent gedachtes Unbedingtes überwunden werden könnte. Eben so aber verfährt Spinoza, der in der Verwirklichung der Einheit mit dem Absoluten zugleich die Verwirklichung des Absoluten wie die des einzelnen Selbst zu denken versucht. In den Briefen allerdings geht Schelling einen anderen Weg, weil er der Ansicht folgt, dass jede Realisierung der Einheit notwendig als Untergang des Subjekts gedacht werden muss, an dem aber zugleich, so die hier vertretene Überzeugung Schellings, unbedingt festgehalten werden soll. Die aus dieser Erkenntnis resultierende Forderung ist nun die, dass die Einheit, nach der das Subjekt doch zu Beginn noch streben sollte, letzten Endes gerade nicht realisiert werden darf. Während also der Dogmatismus von einer Realisierbarkeit der Einheit ausgeht und damit das Subjekt gewissermaßen der Einheit des Absoluten opfert, geht der Kritizismus von einer praktischen Nichtrealisierbarkeit der Einheit aus und verhindert so, dass das Absolute als Objekt gesetzt werden kann. Ob es allerdings deswegen auch notwendig als Subjekt bestimmt werden muss, wie Schelling nahelegt, ist durchaus fraglich. Im Gegenteil scheint das Absolute gerade hier als Objekt bestimmt zu werden, gegen das sich das Subjekt in seiner Selbstheit und Eigenständigkeit zu behaupten habe. Wenngleich also die Behauptung, der Dogmatismus setze das Absolute als Objekt, der Kritizismus hingegen als Subjekt, immer unklarer zu werden droht und die Bestimmung des Dogmatismus zudem immer weniger mit der Position Spinozas zu tun zu haben scheint, lässt sich doch auch hier noch eine Art Transformation Jacobischer Gedanken erkennen.90 Auf der einen Seite steht der Dogmatismus, das 90 

Dass Schelling auch hier tatsächlich meint, Jacobis Darstellung zu treffen, äußert sich auch in der Feststellung, dass es entscheidend sei, die beiden Alternativen in ihrer Unvereinbarkeit deutlich zu bestimmen. Dazu heißt es, nichts sei wichtiger, als »daß man diese Resultate des Dogmatismus nicht mehr bemäntle, nicht mehr unter einschmeichelnden Worten, unter Täuschungen der faulen Vernunft verhülle, sondern so bestimmt, so offenbar, so unverhüllt, wie möglich, aufstelle« (I, 339). Jacobi fordert ebenfalls, die wahre Natur der reinen Vernunftphilosophie dürfe nicht durch die Verwendung theistischer oder freiheitlicher Begriffe verdeckt werden, weil dadurch die Notwendigkeit, sich im Namen der Freiheit gegen das System auszusprechen, verschleiert würde.

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System der Vernunft, das insofern in sich geschlossen und vollendet ist, als es von der Realisierbarkeit der Identität mit dem Absoluten ausgeht und damit den Zusammenfall von Gott und Welt behauptet, in dem der Mensch selbst nur eine Modifikation des göttlichen Wesens darstellt, ohne dabei für sich selbst etwas zu sein. Dieses System muss Schelling zufolge die Freiheit des endlichen Wesens ausschließen, weil es in der Identität mit dem Absoluten untergeht. Auf der anderen Seite steht der Kritizismus, der fordert, die Identität dürfe nicht realisiert werden und der insofern in praktischer Hinsicht eine Transzendenz des Absoluten behauptet. Beharrt man, wie Jacobi das ja tut, auf der eigenen Persönlichkeit und Freiheit, so muss man von einem transzendenten Gott ausgehen, der zugleich unerklärbar bleibt. Man sieht sich damit vor eine Alternative gestellt: »Die Vernunft muß entweder auf eine objektive intelligible Welt« – d. h. in Jacobischer Darstellung auf ein konsequentes Vernunftsystem bzw. auf einheitliche Welterklärung – »oder auf subjektive Persönlichkeit, auf ein absolutes Objekt, oder auf ein absolutes Subjekt – auf Freiheit des Willens – Verzicht tun« (I, 338). Dennoch bleibt die Übereinstimmung zwischen Jacobi und Schelling auch hier nur auf die äußerliche Ähnlichkeit beschränkt, wie sich etwa an Schellings Formulierung zeigt, dass die Nichtrealisierbarkeit der Einheit gefordert werden müsse. Theoretisch bietet der Kritizismus als dem Dogmatismus entsprechendes System keinerlei Hinweis darauf, dass die Einheit nicht realisiert werden könne. Die Forderung, die ja zunächst von beiden Systemen ausging, bestand eben zunächst in dem genauen Gegenteil, darin nämlich, die theoretisch unmöglich zu erreichende Einheit auf praktischem Wege zu realisieren. Der Kritizist, der Jacobis Überzeugungen teilt, dass das Selbst und seine Freiheit im System notwendig aufgehoben werden, ist daher anscheinend genötigt, die Nichtrealisierbarkeit entgegen seiner theoretischen Prämissen zu fordern. Schelling fordert, anders gesagt, die Setzung einer Grenze, während Jacobi eine tatsächlich bestehende Grenze finden und lassen möchte (Spin 41 f.). Wie entscheidend dieser Unterschied letztlich ist, zeigt sich vor allem im Blick auf das praktische Postulat, das aus der Forderung nach der Nichtrealisierbarkeit im Kritizismus resultieren soll. Zunächst einmal wird deutlich, dass die Forderung der Ichschrift gegenüber keinen großen Fortschritt darstellen kann, weil sie sich von der dort aufgestellten Forderung kaum unterscheidet. Obwohl sich das praktische Postulat der Ichschrift aus der Forderung nach der Realisierung der Einheit ergab, während es hier nun im Gegenteil um die Forderung nach der Nichtrealisierbarkeit geht, sind die Formulierungen doch frappierend ähnlich. Das »Streben nach unveränderter Selbstheit, unbedingter Freiheit, uneingeschränkter Tätigkeit« nämlich führt auf die knappe Aufforderung »Sei!« (I, 335), die der Aufforderung der Ichschrift »Sei – absolut identisch mit dir selbst« keineswegs widerspricht. Beide Formulierungen zeigen vielmehr deutlich, dass es bei den praktischen Postulaten nur um das eigene Selbst und dessen Sein geht, nicht aber um die Handlung eines sol-



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chen Selbst in der Welt, auf die es Jacobi im Gegensatz dazu gerade ankommt. Tatsächlich setzt Schelling sich mit dieser Frage auch gar nicht auseinander, denn der Begriff von Praxis steht in keinem Kontext mit genuin praktischen, d. h. ethischen Fragestellungen. Praxis soll über die Unzulänglichkeiten der Theorie hinausführen. Sie ist damit im Grunde genommen selbst ein theoretisches Phänomen, das der Verwirklichung des Systems dienen soll. Zum Zwecke der Praxis, so heißt es dementsprechend im sechsten Brief, müsse man »das Gebiet der Erfahrung verlassen« und »aufhören endliches Wesen zu sein« (I, 311), eine Vorstellung, die sich mit dem Thema des Handelns in der Welt wohl kaum vereinbaren lässt. Mit der Praxis solle über die endliche Erfahrungswelt, aber auch über die Schranken des Wissens hinausgegangen werden »in eine Region, wo ich nicht schon festes Land finde, sondern es selbst erst hervorbringen muss, um darauf fest zu stehen« (ebd.). Praktische Vernunft ist für Schelling insofern praktisch, als sie schöpferisch, nicht auf ein Handeln in der Welt, sondern auf die Erschaffung einer Welt jenseits der Erfahrung ausgerichtet ist. Damit die theoretische Vernunft sich nicht in »eiteln Dichtungen verlöre«, müsse sie »da, wo ihr Wissen aufhört, selbst ein neues Gebiet schaffen, d. h. sie müßte aus einer bloß erkennenden Vernunft eine schöpferische – aus einer theoretischen eine praktische Vernunft werden« (ebd.). Praxis ist also die Überwindung der Theorie, nicht aber in einer grundsätzlich anderen, der Theorie entgegengesetzten Weise, sondern als ein Hinausgehen über die Grenzen der Theorie. Was die Theorie nicht leisten kann, soll eine Tätigkeit möglich machen, die zwar Praxis genannt wird, die aber mit ethischen Überlegungen nichts zu tun hat – die Kunst. Was zuvor scheinbar auf eine Umsetzung zumindest des Jacobischen Programms hinwies, die praktische Widerlegung der Philosophie Spinozas, läuft durch diesen Begriff von Praxis allerdings auf das genaue Gegenteil hinaus. Während Jacobi fordert, die Grenzen der Vernunft anzuerkennen, soll der Begriff der praktischen Vernunft bei Schelling diese gerade überwinden. Besonders plastisch tritt der Unterschied dann im zehnten Brief hervor, in dem Schelling seine Vorstellung von Praxis präzisiert. Gegenüber dem fiktiven Briefpartner schreibt er, dass es entscheidend darauf ankäme, »zu wissen, daß es eine objektive Macht gibt, die unserer Freiheit Vernichtung droht, und mit dieser festen und gewissen Überzeugung im Herzen – gegen sie zu kämpfen, seiner ganzen Freiheit aufzubieten, und so unterzugehen. Sie haben doppelt Recht, mein Freund, weil diese Möglichkeit, auch dann noch, wenn sie vor dem Lichte der Vernunft verschwunden ist, doch für die Kunst – für das Höchste in der Kunst – aufbewahrt werden muß« (I, 336). Hier bestätigt sich nun, was sich oben schon andeutete: dass nämlich dem so bestimmten Kritizismus das absolute Subjekt viel eher als Objekt denn als Subjekt erscheint, als »objektive Macht«, die dem endlichen Subjekt geradezu feindlich gegenüberzustehen scheint. Der Kritizismus, so scheint es, entpuppt sich schließlich als der wahre Dogmatismus, der allerdings nun weder mit der Position Jacobis noch

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mit derjenigen Spinozas viel gemein hat. Spinoza selbst hebt mit dem Immanenzverhältnis eine derartige Trennung oder gar »feindliche« Entgegensetzung von Unendlichem und Endlichem gerade auf, und die Rede von einer »objektiven Macht« hätte im Rahmen seiner Theorie keinen Platz. Ebensowenig aber würde Jacobi das Absolute, Gott, als eine objektive Macht bestimmen, von dem einem endlichen Selbst Vernichtung drohte. Im Gegenteil sieht Jacobi den Gedanken eines endlichen Selbst unmittelbar mit dem Gedanken eines unendlichen Selbst verbunden. In diesem Sinne aber kann auch in den Briefen von einer Überwindung Spinozas im Blick auf Jacobis Argumente keine Rede sein. Das, was Schelling hier als Dogmatismus präsentiert, entspricht nicht der eigentlichen Position Spinozas, und umgekehrt weist gerade der Versuch der Überwindung des Dogmatismus im Kritizismus Züge dessen auf, was Schelling an Spinoza kritisiert. Zugleich ist der Kritizismus aber auch nicht in der Lage, die von Jacobi aufgezeigten Probleme zu lösen. Das Selbst, um das es Jacobi zu tun ist, der handelnde Akteur nämlich, findet auch im System des Kritizismus keinen Platz. Hierbei wirkt sich vor allem aus, was nun bereits mehrfach angedeutet wurde: Schellings Deutung des Immanenzverhältnisses. In Wahrheit geht Schelling hier – weder bei seiner Darstellung des Dogmatismus noch auch bei der des Kritizismus – von einem reinen Immanenzverhältnis aus. Bestimmend für seine Konzeption beider Systeme ist nicht die Einheit von Unendlichem und Endlichem, von Gott und Welt, sondern die Trennung, die sich als veritabler Abgrund präsentiert. Von theoretischer Seite gilt der Abgrund von vornherein als unüberwindbar, von praktischer Seite wird die Aufrechterhaltung des Abgrundes sogar gefordert, die sich allerdings in der Rede von der »objektiven Macht« ohnehin bereits ausdrückt. Wenngleich diese Trennung also bestimmend ist, bleibt der Gedanke der Einheit von Unendlichem und Endlichem aber ebenso entscheidend, der sich in der intellektuellen Anschauung wie in der Absicht auf eine praktische Überwindung der theoretischen Grenze in der Kunst ausdrückt. Die schöpferische Vernunft soll letztlich beides, Trennung und Einheit verbinden, den Abgrund überwinden und ihn zugleich erhalten, um die Freiheit des einzelnen Subjekts gegenüber der »objektiven Macht« zu gewährleisten und dennoch das System zu realisieren. In diesem Sinne ist das System, das Schelling hier entwirft, vielleicht als Versuch zu charakterisieren, den Gedanken von Transzendenz mit dem von Immanenz zu verbinden. Aus dieser Konstellation ergibt sich unter anderem die Vorstellung, dass es im gesamten System nur eine bestimmte ›Menge‹ an Freiheit geben könne, die entweder Gott oder dem Menschen zukommen kann, ebenso wie die Annahme, nur eine Seite des Verhältnisses könne als wirklich bestimmt werden. Ist Gott absolut frei und kommt Gott die absolute Realität zu, dann bleibt für den Menschen nur die reine Passivität und die Aussicht, im Absoluten unterzugehen. Schellings eigenwillige Deutung des Immanenzgedankens, die an Jacobis Argument und an Spinozas eigentlicher Position gleichermaßen vorbeigeht, macht allerdings



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zugleich auf Probleme aufmerksam, die mit dem Immanenzverhältnis selbst unmittelbar zusammenhängen, Probleme, auf die Jacobi selbst in seiner Rede von den inneren Widersprüchen des Spinozismus verweist. Tatsächlich ist das Immanenzverhältnis ja als ein Verhältnis von Gott und Welt zu denken, das die beiden Seiten zwar einerseits identifiziert, sie aber andererseits in ihrer Trennung durchaus erhält. In diesem Sinne scheint es tatsächlich eine Frage der Deutung zu sein, ob man sich als Subjekt im Absoluten untergehen sieht, oder ob man sich nicht vielmehr in der positiven Einheit mit dem Absoluten als Subjekt realisiert sieht. Damit aber wird deutlich, dass der Abstand zu Jacobis Kritik sich weiter vergrößert, sofern dieser nicht die Deutung des Immanenzverhältnisses, sondern das Verhältnis selbst als Bedingung der systematischen Einheitsphilosophie kritisiert. Zudem verweist die Kritik an der Objektivierung der intellektuellen Anschauung, anders gesagt an der Übersetzung des immanenten Verhältnisses in ein transzendentes Außereinander darauf, dass die Lösung der hier aufgeworfenen Probleme in einer stärkeren Betonung des identifizierenden Aspektes von Immanenz zu suchen ist. Daher ist naheliegend, dass Schelling sich in seiner weiteren Denkentwicklung stärker auf Spinoza bezieht, den er nunmehr weitgehend unabhängig von Jacobis Kritik interpretiert.

3.4 Die Identitätsphilosophie Bereits in den Briefen bestand das gesamte Konzept notwendig aus der Auseinandersetzung mit den beiden entgegengesetzten Systemen des Dogmatismus und Kritizismus. Im Fortgang seines Denkens behält Schelling die Vorstellung bei, dass sich das vollständige System aus zwei sich gegenüberstehenden Systemen konstituieren müsse. Während aber noch in den Briefen der Schwerpunkt auf die Gegensätzlichkeit der Systeme, vor allem in praktischer Hinsicht, gelegt wurde, bei der es darum ging, dass der eine Teil durch den anderen widerlegt und überwunden werden sollte, handelt es sich nun um ein komplementäres Verhältnis. Keine der beiden Sichtweisen kann für sich allein die Wahrheit in Anspruch nehmen, und das vollständige System ergibt sich somit nur aus der Durchführung beider Ansichten als notwendig miteinander bestehender Teilsysteme, von denen keines das andere aufheben kann. Dabei handelt es sich um den Realismus einerseits, der in Schriften zur Naturphilosophie seinen Ausdruck findet, und den Idealismus andererseits, der sich in der Transzendentalphilosophie darstellt. Die Konzentration auf zwei nebeneinandergestellte Wissenschaften tritt jedoch schon bald zugunsten einer Philosophie in den Hintergrund, die das Prinzip der Einheit dieser beiden komplementären Teile zum Ausgangspunkt macht, die sogenannte Identitätsphilosophie. Damit kehrt Schelling nach den Briefen zu seiner grundlegenden Einsicht zurück, dass vom Unbedingten ausgegangen werden müsse, von einem Unbedingten, das, entsprechend der Vorstel-

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lung aus den Briefen, als Identität von Subjekt und Objekt, oder auch, bezogen auf das Verhältnis von Natur- und Transzendentalphilosophie, als Identität von Realität und Idealität gedacht ist. Entscheidendes Moment ist dabei die Möglichkeit der Vergewisserung des Absoluten in der intellektuellen Anschauung, die auch schon in den Briefen, hier aber in noch zweideutiger Form,91 in Anschlag gebracht worden war. Auffällig ist, dass sich bereits in der Konzeption der beiden parallelen Systeme das Verhältnis zu Spinoza grundlegend wandelt, ein Wandel, der in der Identitätsphilosophie besonders offensichtlich hervortritt. Nach den Versuchen in der Ichschrift und den Briefen ist diese Neuorientierung jedoch konsequent und nachvollziehbar. Beide Widerlegungsstrategien beruhten wesentlich darauf, dass Spinoza eine Position unterstellt wurde, die dieser gar nicht eigentlich vertritt. Schelling war sich dieses Umstandes, so kann man wohl annehmen, zumindest teilweise durchaus bewusst, das zeigen die in beiden Schriften ständig auftauchenden Relativierungen seiner Kritik. So wurde in der Ichschrift betont, dass Spinoza im Blick auf das Absolute die wahre Natur der Freiheit deutlich erkannt hatte, während in den Briefen eingeräumt wurde, dass er in seiner höchsten Erkenntnis das Absolute gar nicht eigentlich als Objekt gedacht hatte. Der einzige Vorwurf, den man ihm dennoch machen könnte, wäre diesen Einräumungen zufolge wohl der, dass er die Wahrheit seiner eigenen Theorie nicht erkannte und sie darum falsch präsentierte, so nämlich, als sei sie ein Dogmatismus, eine Philosophie, die die Unterordnung des Subjekts unter ein absolutes Objekt behaupte und daher die Freiheit des Menschen notwendig aufhebe. Die Widerlegung des Spinozismus muss unter dieser Prämisse darin bestehen, zu zeigen, wie Spinoza in Wahrheit verstanden werden muss, und deutlich zu machen, inwiefern dieser scheinbare Dogmatismus und Fatalismus richtig verstanden und formuliert die einzig wahre Philosophie und zugleich das einzig mögliche System der Freiheit darstellt. Und wirklich lässt Schelling im System von 1801 nur noch den einen Einwand gegen Spinoza gelten, dass es ihm »nur entweder an der ausdrücklichen Reflexion, oder vielleicht selbst bloß an der ausdrücklichen Behauptung« (IV, 373) dieser wahren Zusammenhänge seiner Philosophie gemangelt habe. In Entgegensetzung zu seinen eigenen früheren Versuchen lässt Schelling nun die Bezeichnung Dogmatiker in Bezug auf Spinoza nicht mehr gelten. Wer Spinozas Philosophie als Dogmatismus bezeichnet, muss sich dem Identitätssystem zufolge den Vorwurf nicht nur von »Mißverständnis oder Unkenntnis einzelner Begriffe«, 91  Zweideutig insofern, als nicht klar ist, welche Funktion ihr in den Systemen eigentlich zukommt. Einerseits dient sie als Grundlage und Ausgangspunkt, ist Garant für die Lebendigkeit des Systems, andererseits aber ist ihr Verhältnis zum Ziel der Systeme als Realisierung der Identität von Subjekt und Objekt unklar. Als Zielvorstellung betrachtet steht sie nämlich für die Vernichtung von Subjekt und Objekt, die darum nicht als realisierbar gedacht werden soll.



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sondern sogar den des »absoluten Mißkennen[s] der Philosophie selbst« gefallen lassen (IV, 372 f.). Die Wahl Spinozas als Vorbild für die gesamte, die beiden Teile umfassende und begründende Philosophie ist insofern naheliegend, als es hierbei um die Frage nach der Identität von Realität und Idealität, von Natur und Geist, von Sein und Erkennen geht, und eines der ausgezeichneten Merkmale der Philosophie Spinozas ja gerade im Parallelismus der Attribute bestand, und zwar, im Blick auf den Menschen, vor allem der zwei Attribute von Ausdehnung und Denken. Diese »reine Scheidung ohne Trennung« (GD 120) war bereits von Jacobi als eines der entscheidenden Momente des Spinozismus hervorgehoben worden, jetzt wird sie erstmals von Schelling zum Anlaß genommen, sich auf positive Weise mit Spinoza auseinanderzusetzen. Im Blick auf die Identitätsphilosophie spricht auch Jacobi von dieser entscheidenden Übereinstimmung Schellings mit Spinoza, die die Systementwürfe dieser Zeit in Jacobis Augen zu einer Philosophie der reinen, selbständigen Natur macht, bei der Gott selber nichts anderes ist als die Natur im Sinne der natura naturans bei Spinoza. »Wer nur Augen hat zu sehen, dem kann er [Schelling] nunmehr weisen und beweisen, daß eine ursprüngliche, producirende, eine Vieles und Mannichfaltiges begründende Einheit, unmöglich eine reine Einheit seyn kann; denn das einfache Eins bleibt ewig nur einfaches Eins. Ist also Zwey, so ist dieses Zwey nothwendig auch ein ursprüngliches Zwey. […] Wenn also beydes seyn soll, so muß in der Einheit ursprünglich D upl ic it ät , Eins muß äqual Zwey, Zwey äqual Eins, und überall keine andere E i n he it sein als diese A e qu a l it ä t , die eine absolute Id e nt it ät , das allein Ursprüngliche und Ewige, das Seyn und Wesen an sich, mit einem Worte Alles in Allem – S e lb s t ä nd i g e Nat u r ist« (2 (1), 354 f.). Die absolute Identität betrifft aber nicht nur die Einheit von Erkennen und Sein, die den Parallelismus von Natur- und Geistphilosophie begründet, sondern auch den kritischen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, den Schelling bereits in den Briefen zum entscheidenden Problem aller Philosophie erklärt hatte. Identisch sind nämlich auch natura naturans und natura naturata, die hervorbringende und die hervorgebrachte Natur, die unbedingte und die bedingte Welt. In den Briefen hatte Schelling formuliert, Spinozas Lösung dieses Problems durch die Einführung des Immanenzverhältnisses sei die einzig mögliche, und der fatalistische Sinn verbinde sich damit aufgrund der besonderen Deutung, die Spinoza dieser Lösung gegeben habe. Im Sinne seines oben beschriebenen geänderten Verhältnisses zu Spinoza besteht die falsche Deutung nunmehr nur noch in der falschen Darstellung durch Spinoza, die Mißverständnissen über die wahre Natur seiner Philosophie Vorschub geleistet habe. Spinoza muss also umgedeutet, d. h. in gewisser Weise mit idealistischen Mitteln reformuliert werden, um sie als System der Freiheit erkennbar werden zu lassen. Schelling spricht zwar nicht von einer »Reformulierung«, stellt aber doch seinem System von 1801 die Aussage voran, es handle sich hierbei um den

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Versuch, sich dem System Spinozas in Inhalt und Form besonders anzunähern.92 Und mehr noch – Schelling geht hier sogar so weit, sich in der Darstellungsform an Spinozas more geometrico anzugleichen, »weil diese Form zugleich die größte Kürze der Darstellung verstattet und die Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (IV, 113). Wie weit sich Schelling tatsächlich an der konkreten Vorlage Spinozas und an dessen einzelnen Konzepten orientiert, soll hier nicht im Einzelnen untersucht werden,93 statt dessen beschränkt sich die Darstellung auf bestimmte augenfällige Übereinstimmungen mit dem Vorbild, die dann auch deutlich machen, inwiefern das von Jacobi aufgeworfenen Dilemma hier nicht gelöst wird, sondern eher aus dem Blickfeld der mehr oder weniger abstrakten Abhandlungen im Ausgang von der absoluten Identität zu geraten scheint. Wie nach dem Vorangegangenen bereits klar ist, hält Schelling am Verhältnis der Immanenz fest, das er aber nun ganz anders interpretiert als noch in den Briefen. Hier war deutlich geworden, dass Schelling die Ablehnung eines Übergangs vom Unendlichen zum Unendlichen als Unmöglichkeit der theoretischen Ableitung des Endlichen aus dem Endlichen aufgefasst hatte. Hinter dieser Annahme stand aber die Interpretation Jacobis, die nicht Spinozas Blickwinkel entsprach. Spinoza und das Konzept der Immanenz werden nun in der Identitätsphilosophie nicht mehr durch die Kritik Jacobis, sondern von Spinoza selbst her verstanden. Daher nimmt Schelling nun auch die Kritik zurück, Gott sei bei Spinoza als fremdes Objekt gedacht, weil er erkennt, dass dies in einem System der Immanenz eigentlich unmöglich ist. »In keiner Art der Erkenntnis«, so heißt es 1806 in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, »kann sich Gott als Erkanntes (als Objekt) verhalten: als Erkanntes hört er auf Gott zu sein. (Wir sind niemals außer Gott, so daß wir ihn uns fürsetzen könnten als Objekt)« (VII, 150). Die Frage, warum das Absolute aus sich herausgehe und sich eine Welt entgegensetze, ist beim Ausgang von diesem Verhältnis eigentlich falsch gestellt, denn vom Standpunkt der Vernunft aus ist das Herausgehen gar kein Herausgehen, weil die Welt als identisch mit Gott erkannt wird. Die Forderung, den Standpunkt der 92  Vgl.

IV, 113: »Die Weise der Darstellung betreffend, so habe ich mir hierin Spinoza zum Muster genommen, nicht nur, weil ich denjenigen, welchem ich, dem Inhalt und der Sache nach, durch dieses System am meisten mich anzunähern glaube, auch in Ansehung der Form zum Vorbild zu wählen den meisten Grund hatte […]«. 93  Eine solche Untersuchung wird auch zusätzlich dadurch erschwert, dass die sogenannte Identitätsphilosophie aus vielen verschiedenen Abhandlungen, Vorlesungen und Fragmenten besteht, die nicht in allen Punkten übereinstimmen. Daher findet hier eine Beschränkung auf nur einige zentrale Aspekte, sowie auf einige wenige Texte statt. Eine grundlegende Untersuchung über die Zusammenhänge findet sich bisher in der Literatur kaum; hinzuweisen ist auf Bernhard Rang, der aber Schellings Lektüre Spinozas aus der Perspektive der Transzendentalphilosophie Kants aus in den Blick nimmt (Rang (2000)). Einige gute Überlegungen finden sich bei v. Uslar (1977). Vgl. auch die Darstellung der Verf. in Sommer (2011).



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Vernunft einzunehmen, ist mit der Forderung nach der Erkenntnis sub specie aeternitatis bei Spinoza identisch, denn die Zeit gilt auch Schelling nur als Zutat der endlichen Imagination: »Der Standpunkt der Philosophie ist der Standpunkt der Vernunft, ihre Erkenntnis ist eine Erkenntnis der Dinge, wie sie an sich, d. h. wie sie in der Vernunft sind. Es ist die Natur der Philosophie alles Nacheinander und Außereinander, allen Unterschied der Zeit und überhaupt jeden, welchen die bloße Einbildungskraft in das Denken einmischt, völlig aufzuheben, und mit Einem Wort in den Dingen nur das zu sehen, wodurch sie die absolute Vernunft ausdrücken, nicht aber insofern sie Gegenstände für die bloß an den Gesetzen des Mechanismus und in der Zeit fortlaufenden Reflexion ist« (IV, 115). Im Gegensatz zu den Briefen, in denen die theoretische Möglichkeit, vom Unbedingten ausgehend die Welt zu erklären abgewiesen und die Philosophie an die Praxis verwiesen wurde, in der es um das Streben ging, den Übergang im Ausgang vom endlichen Leben hin zum Absoluten zu realisieren, findet hier also die völlige Rückwendung auf die Forderung nach dem Ausgang vom Unbedingten statt und damit auf eine Sphäre der Unendlichkeit und Zeitlosigkeit. Dieselbe Zeitlosigkeit gilt daher auch für die hier sogenannten Potenzen, die Stufen, in denen sich das Absolute aus der Identität in die Mannigfaltigkeit hin ausdrückt, das, was bei Spinoza mit dem Begriff der Attribute bezeichnet wurde: »Alle Potenzen sind absolut gleichzeitig«, heißt es da, denn »die absolute Identität ist nur unter der Form aller Potenzen. Sie ist aber ewig, und ohne alle Beziehung auf die Zeit. Also sind auch alle Potenzen ohne alle Beziehung auf die Zeit, schlechthin ewig, also auch unter sich gleichzeitig« (IV, 135).94 Schelling übernimmt damit auch den strikten Parallelismus der Attribute, wie er bei Spinoza gedacht war, und zwar in genau dem Sinne, in dem der Parallelismus von Jacobi kritisiert wurde. Der Parallelismus nämlich, d. h. die Annahme, dass Körper und Geist nicht aufeinander wirken, sondern nur zwei Ausdrücke für eine Modifikation darstellen, ist dafür verantwortlich, dass man sagen muss, man denke nur, was man tue, anstatt zu tun, was man denke. Zu tun, was man denke, ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass eine Handlung frei und bewußt genannt werden kann. Dass Schelling genau diese Vorstellung Spinozas hier unterstützt, wird in einer Anmerkung zu dem obigen Zitat deutlich, in dem es 94  Allerdings

entspricht Schellings Vorgehen, alles aus der Identität hervorgehen zu lassen, natürlich nicht dem Vorgehen Spinozas und so lassen sich auch nicht alle Begriffe und ihre Verhältnisse zueinander vollständig in die Terminologie Spinozas übertragen. Zudem soll hier auch nicht der Eindruck entstehen, Schellings Identitätsphilosophie sei einfach nur eine Übertragung der Ethik in eine andere Terminologie. In der Theorie der Potenzen scheinen sich sowohl die Attribute wie auch die Modifikationen wiederzufinden. Diese Problematik ergibt sich daraus, dass die absolute Identität sowohl Erkennen und Sein, als auch Unendliches und Endliches umfasst und beide Probleme miteinander zu verbinden sucht. Außerdem ist Schelling neben Spinoza auch von anderen Autoren inspiriert, auf die hier nicht weiter eingegangen wird.

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heißt, alle »Causalableitung [sei] dadurch abgeschnitten. Das Denken so wenig aus dem Sein, als das Sein aus dem Denken« (IV, 135). Aus diesem Grunde wendet er sich auch gegen die frühere Auffassung, derzufolge Spinoza einen Realismus oder Dogmatismus vertreten habe, und nach der eine Philosophie im Ausgang vom Subjekt oder ein Idealismus die überlegene Position darstelle. Der »Fehler des Idealismus« nämlich sei es, statt des Parallelismus der beiden Ansichten, der Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit der Potenzen, »eine Potenz zur ersten zu machen« (ebd.). Da Schelling die Immanenz nun im Sinne Spinozas radikal als Identität interpretiert, die das gesamte System bestimmt– im Gegensatz zu den Briefen, in denen eben eine Form der Transzendenz etabliert wurde – indem er also eine vollkommene Identität zwischen Gott als dem Schaffenden, als natura naturans und Gott als dem Geschaffenen, als natura naturata annimmt, erhält das Endliche als Ausdruck des Ewigen auch einen durchaus positiven Status. Wenn das Endliche daher in Bezug auf das Absolute, also auf dem Standpunkt der Vernunft, d. h. philosophisch betrachtet wird, ist es sogar als Einzelnes eine Realisierung der göttlichen Identität selbst und somit durchweg positiv bestimmt. Insofern könnte man sagen, der Einzelne sei dem Identitätssystem zufolge als frei und selbständig bestimmt. Und doch ist dies eben nur eine Perspektive auf das Endliche. Betrachtet man nämlich das Endliche als Endliches, also nicht in Bezug auf das Unendliche, sondern in Relation zu anderem Endlichen, so gilt es als nichtig, als bloßes Produkt der Imagination. Allerdings ist es eben dieses Leben, »welches einen Anfang hat durch das Entstehen und Geburt und ein Ende durch Auflösung oder Tod«, das Leben in der Zeit also, in der praktische Fragen allererst Relevanz haben können. Im Gegensatz zum »Leben jedes Dinges in Gott«, das »eine ewige Wahrheit« darstellt, ist das »Zeitleben«, das »Leben des Dinges, soweit es durch die bloßen Verhältnisse der Positionen untereinander möglich ist«, ein »nichtiges Leben« (VII, 164). Insofern dies der Fall ist, muss auch die Frage nach der möglichen Freiheit eines Wesens innerhalb des nichtigen Lebens entweder negativ bewertet oder ganz ausgeblendet werden. Insofern hat Schelling in der Vorrede zu dem Band, in dem die Freiheitsschrift 1809 erscheint, durchaus Recht, wenn er sagt, er habe sich über die Hauptpunkte der Freiheitsschrift, über »Freiheit des Willens, Gut und Bös, Persönlichkeit usw. zuvor »nirgends erklärt« (VII, 334). Dennoch ist es aus der Perspektive Jacobis sehr wohl möglich, über diesen Punkt auch in Bezug auf die Identitätsphilosophie zu urteilen, da dieser seine Kritik ja an den Grundlagen des Spinozismus orientiert hatte, nicht etwa an dessen Ausführungen zur Praxis selbst. Und gerade diejenigen Aspekte, die bei Jacobi im Fokus der Kritik standen, werden von Schelling durchwegs in das Identitätssystem integriert, wie bereits an der Frage des Übergangs und am Parallelismus der Attribute deutlich wurde. Tatsächlich jedoch scheint es so, als sei Schelling in diesem Zusammenhang ganz auf Spinozas Seite übergewechselt. Vernunftkritische Aspekte spielen ebensowenig eine besondere Rolle wie die Frage nach der Praxis.



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Besonders deutlich wird die Abkehr von Jacobi an der Bewertung der Endlichkeit, die noch in den Briefen im Zusammenhang mit der Frage nach der Freiheit des endlichen Ich eine unbestreitbar wichtige Bedeutung hatte. Die Probleme, die sich dort ergaben, fallen in der Identitätsphilosophie mit ihrer konsequent eingehaltenen philosophischen Perspektive sub specie aeternitatis einfach weg. Wer sich dagegen verwehrt, muß sich vorwerfen lassen, den wahren Standpunkt nicht zu erkennen oder sich uneinsichtig dagegen zu wehren, die Nichtigkeit der Endlichkeit anzuerkennen. Dabei geht Schelling sogar so weit, die Beweislast nunmehr demjenigen zuzuschieben, der die Realität der Endlichkeit, des Zeitlebens also, behauptet und gegen das System einzuklagen versucht, wie Schelling selbst das in Anlehnung an Jacobi noch in den Briefen getan hatte. Nun heißt es dazu, der »Punkt, auf den es zwischen uns, die wir das ewige Sein der Dinge in Gott behaupten, und zwischen denen, welchen die Realität der Endlichkeit unwidersprechlich scheint, ankommt, ist also keineswegs, daß wir ihnen die Herkunft derselben aus Gott zu zeigen haben […] sondern daß sie uns vorerst das eigentliche Dasein einer solchen endlichen Welt beweisen sollen, als sie annehmen« (VII, 166). Das Problem der Freiheit eines endlichen Wesens scheint daher auch keine zentrale Rolle mehr zu spielen. Wo es aber doch thematisiert wird, zeigt sich, dass Schelling Spinoza nun im Vergleich zur Interpretation der Briefe treffender auffasst. Es gibt im Identitätssystem dem Parallelismus von Idealität und Realität entsprechend keine Gegenüberstellung von Handeln und Erkennen mehr, »[ab]solutes Erkennen und absolutes Handeln sind ein und dasselbe, nur von verschiedenen Seiten angesehen« (VI, 540). Auch die praktische Sichtweise geht daher nicht mehr von einer Transzendenz des Absoluten aus, gegen das die eigene Freiheit verteidigt werden müsste; die eigene Freiheit wird vielmehr, genau wie bei Spinoza, als ein Teil der göttlichen Freiheit, das eigene Wesen als Ausdruck des göttlichen Wesens betrachtet. »Nur eine solche Handlung, die aus dem Wesen der Seele oder, was dasselbe ist, aus dem Göttlichen, sofern es das Wesen der Seele ist, mit absoluter Notwendigkeit folgt, ist eine absolut freie Handlung« (VI, 539). In diesem Sinne wird dann auch der Begriff der Willensfreiheit des einzelnen Wesens folgerichtig abgelehnt (VI, 542). Es entsteht somit der Eindruck, dass die Identitätsphilosophie in großem Maße mit den grundlegenden Ideen Spinozas im Einklang steht. Trotz dieser Übereinstimmung aber zeichnen sich durchaus Unterschiede zu der Konzeption Spinozas ab, die vor allem im Blick auf die Freiheitsschrift relevant sind. Am auffälligsten dürfte wohl der Umstand sein, dass Schelling mit der Bestimmung des Absoluten als absoluter Identität meint, gleich zwei grundlegende Probleme der Philosophie auf eine einzige Art und Weise zu lösen. Dabei geht es um die Vereinbarkeit des Gegensatzes von Erkennen und Sein einerseits, wie von Unendlichem und Endlichem andererseits, die in der Identitätsphilosophie beide durch die absolute Iden-

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tität erklärt werden soll. Damit führt Schelling zwei Aspekte zusammen, die in Spinozas Philosophie getrennt voneinander gelöst wurden. Für das Problem von Erkennen und Sein findet Spinoza die Lösung der von Jacobi so genannten »reinen Scheidung ohne Trennung«, die eine Pluralität der Attribute behauptet, die zugleich nur das eine, untrennbare Wesen der Substanz ausdrücken. Als Lösung für das Problem des Zusammenhangs von Unendlichem und Endlichem, anders gesagt von Gott und Welt, dient das Verhältnis der Immanenz, die Identität von natura naturans mit der natura naturata, wodurch die Schaffung einer mannigfaltig differenzierten Welt bis hin zur endlichen, zeitlich verfassten Welt mit dem schaffenden Prinzip selbst zusammenfällt. Die spinozische Substanz differenziert sich so gesehen in zwei Dimensionen, die man, wenn man eine Vorstellung zur Verdeutlichung heranziehen wollte, als ein Nebeneinander der Attribute und ein Nacheinander der Modifikationen bestimmen könnte. Schelling scheint es zu gelingen, die beiden Probleme ineinander zu blenden, indem er den Aspekt der Hervorbringung, des Folgens der Welt also aus Gott, in einen solchen der Affirmation umdeutet. Causa sui wird hier nicht als Selbsthervorbringung, sondern als Selbstaffirmation bestimmt, wodurch das Affirmierende in der Beziehung, also gewissermaßen die natura naturans als das Erkennende, als Idealität also bestimmt wird, während das Affirmierte, die natura naturata als das Erkannte, als Realität erscheint. Diese Änderung gegenüber Spinoza scheint damit die Verlagerung des Schwerpunktes von einer realen Hervorbringung in den Bereich der Idealität mit sich zu bringen und dabei die Betonung der Zeitlosigkeit des gesamten Systems noch zu radikalisieren. Hierin könnte man den Grund dafür sehen, dass die Endlichkeit aus den Betrachtungen weitgehend ausgeblendet wird und infolgedessen die Frage nach der Praxis, ganz im Gegensatz zu Spinoza, keine entscheidende Rolle mehr spielt.95 Das Problem der Endlichkeit ist es dann wohl auch, das eine erneute Umorientierung Schellings motiviert. Die Endlichkeit zu einem bloßen Produkt der menschlichen Einbildungskraft zu erklären, führt nämlich auf interne Schwierigkeiten der Theorie, die sich nicht erst aus der dem System äußerlichen Perspektive desjenigen ergibt, der uneinsichtig auf seinem endlichen Selbst besteht. Schon unabhängig von der praktischen Fragestellung scheint es eine Art theoretischen ›Sündenfalls‹ zu 95 B.

Rang weist in seiner Studie zu Schellings Identitätsphilosophie auf die zahlreichen Bezüge zwischen Schelling und Spinoza, unter anderem auch auf die Umdeutung der causa sui im Konzept der Selbstaffirmation hin. Er ist dabei aber der Auffassung, dass die »beiden unterschiedenen Weisen von Selbstaffirmation – Selbstaffirmation als Selbsterkenntnis und als Selbsterschaffung« sachlich zusammengehörten, und dass diese Zusammengehörigkeit den Punkt bezeichne, »an dem Schelling »über Spinozas Begriff der causa sui entschieden« hinausginge. Indem er die Selbstaffirmation »wesentlich als Selbsterkenntnis« verstehe, gelte auch nicht, dass er Gott »mit Spinoza Verstand und Willen abspreche« (Rang (2000), S. 44). Allerdings kann im Blick auf Spinoza davon ebensowenig die Rede sein, solange nicht geklärt ist, was unter Verstand und Wille zu verstehen sein soll.



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geben, der in dem »Abfall« oder »Absehen« von der wahren Perspektive besteht, die die Dinge in Relation auf Gott betrachtet. Um die Möglichkeit dieses Abfalls zu erklären, müsste allerdings dem Menschen in seiner zeitlichen und endlichen Existenz eine Art von Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der absoluten Identität zukommen, die im System nicht vorgesehen und nicht erklärbar ist, weil jede Art von Selbständigkeit von der absoluten Identität her und nicht im Gegensatz zu ihr zu denken ist. Eigentlich ist es erneut die Frage, wie ein Endliches aus dem Unendlichen heraus erklärt werden könne, oder, wie Schelling in den Briefen formulierte, die Frage, wie eine unendliche Tätigkeit aus sich heraus zu einer Begrenzung käme, die dem Identitätssystem Probleme bereitet. Von der absoluten Identität aus betrachtet, die als absolute Position gedacht ist, stellt die Frage nach der Differenzierung oder der Negation das entscheidende Problem dar, und der Neueinsatz der Freiheitsschrift ist damit nicht allein durch eine erneute Hinwendung zur Praxis motiviert.96 Tatsächlich geschieht in der Freiheitsschrift ein merklicher Wandel gegenüber den identitätsphilosophischen Schriften. Der Fokus wird wieder auf die Freiheit gelegt, die zudem im Gegensatz zur Ichschrift nun wirklich als Freiheit des Menschen und nicht als Freiheit des Absoluten verstanden wird, und die in Abgrenzung zu den Briefen nicht auf eine schöpferische Denkpraxis, sondern, so legt zumindest der Bezug zur Thematik des Bösen nahe, auf eine Handlungspraxis zielt. Insofern ist es auch naheliegend, hier wieder einen größeren Einfluß Jacobis zu vermuten, wie sich schon rein äußerlich an einigen zentralen Begriffen der Freiheitsschrift, vor allem dem der Persönlichkeit, ablesen lässt, ebenso wie an der eindeutig an Bedeutung zurückgewinnenden Tendenz zur Vernunftkritik. Das Dilemma scheint somit zurück, vielleicht in noch stärkerem Maße als zuvor, weil es jetzt einen Zug von Existentialität erhält, den es in den frühen Schriften noch nicht hatte. Inwiefern die Freiheitsschrift also einen Bruch mit den vorherigen Versuchen darstellt, ob es ihr gelingt, das Dilemma zu lösen oder ob und wie sie daran scheitert, soll der folgende Abschnitt zeigen, in dem die Freiheitsschrift selbst zum Thema wird.

4. Die Freiheitsschrift Unabhängig von der Frage, ob es nun äußere Anlässe oder theorieinterne Probleme waren, die die Freiheitsschrift motivierten, ist es doch zumindest konsequent, dass Schelling wieder auf das Thema der menschlichen Freiheit und damit auf einen der ursprünglichsten Antriebe seines Denkens zurückkommt. »Er glaubt«, so verkün96 

Vgl. dazu Shikaya (2000). Shikaya sieht das Problem bereits auf einer früheren Ebene angesiedelt, da Schelling eigentlich gar nicht in der Lage ist, die Differenzierung aus der Identität heraus zu entwickeln, weil sie als absolute Affirmation ohne jeden Bezug auf Negation gedacht ist.

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dete er schon in der Ichschrift, »daß der Mensch zum Handeln, nicht zum spekulieren geboren sei«, eine Auffassung, die in der Identitätsphilosophie anscheinend mehr oder weniger aus dem Blick geraten war. Mit der Frage nach dem Handeln aber ist auch das Dilemma wieder zurück, das hier nun zum ersten Mal explizit zum Ausgangspunkt der gesamten Überlegungen wird. Von der Lösung dieses Problems hänge sogar der Wert der Philosophie selbst ab, wie es in der Freiheitsschrift heißt: »Es scheint daher, daß […] der Zusammenhang des Begriffs der Freiheit mit dem Ganzen der Weltansicht wohl immer Gegenstand einer notwendigen Aufgabe bleiben werde, ohne deren Auflösung der Begriff der Freiheit selber wankend, die Philosophie aber völlig ohne Wert sein würde« (FS 338). Im Vergleich zur Identitätsphilosophie scheint sich in verschiedener Hinsicht eine wirklich radikale Wandlung zu vollziehen. Galt dort die endliche Existenz als bloßes Produkt der Imagination und damit einer falschen und unphilosophischen Perspektive, besteht Schelling nun darauf, dass die Endlichkeit in ihrer Faktizität unabweisbar sei. Und doch handelt es bei der Freiheitsschrift nicht um eine Philosophie der reinen Endlichkeit – Endlichkeit und Unendlichkeit müssen nach wie vor aufeinander bezogen gedacht werden, so dass der neue Status des Endlichen im System auch zu grundlegenden Änderungen im Blick auf das Absolute führen muss, das daher nicht mehr als absolute Identität im Sinne der vorangegangenen Schriften gedacht werden kann. Eine besondere Betonung legt Schelling dabei auf den Aspekt der Lebendigkeit. Und Lebendigkeit gewinnt das System dadurch, dass es nicht von einer vorgängigen Identität ausgeht, sondern seine Ausführungen auf das Leben und zwar vor allem auf das spezifisch menschliche Leben bezieht. Durch diesen Aspekt verändert sich auch die Darstellung gegenüber der Identitätsphilosophie auf grundlegende Weise. Die Spekulation im Ausgang von einer absoluten Identität, die zwar durch die intellektuelle Anschauung durchaus als erfahrbar galt, ansonsten aber unabhängig vom Leben im Sinne des endlichen, menschlichen Lebens gedacht war, weicht nun einer Darstellung, die sich zur Veranschaulichung, und darüber hinaus auch zur Entwicklung des Prozesses, den Schelling beschreibt, in wesentlichen Teilen durchaus menschlicher Begriffe bedient, wie etwa der Sehnsucht, der Liebe und der Güte, Begriffe, die im Identitätssystem keinerlei Platz gefunden hätten. Die Philosophie der Freiheitsschrift, so wird deutlich, soll den Menschen in seiner Lebenswirklichkeit zum Thema machen, in dem, was ihn unmittelbar angeht, nicht nur dann, wenn er den philosophischen Standpunkt der Vernunft einnimmt, sondern auch dann, wenn er handelt und fühlt.97

97  Dies ist vermutlich – neben dem bereits erwähnten Einfluss Heideggers auf die Rezeption der Freiheitsschrift – ein Grund, warum die Freiheitsschrift auf die meisten Leute anziehender und



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Mit der Freiheit des Menschen, die nun schon im Titel auftaucht, scheint nun also wirklich diejenige Freiheit gemeint zu sein, die der Einzelne hat, um hier und jetzt, d. h. in seiner empirischen Existenz, zu handeln; mithin scheint hier wieder oder vielmehr eigentlich zum ersten Mal eine wirkliche Hinwendung zu der Problematik stattzufinden, die Jacobi in seiner Spinozakritik zum Thema gemacht hatte. Als erste Hinweise darauf, dass Jacobi im Zusammenhang mit der Freiheitsschrift wieder eine bedeutende Rolle zukommt, lassen sich bestimmte Themen und Begriffe lesen, um die es hier geht, um einen Gott etwa, der nicht nur Prinzip, sondern Persönlichkeit ist, einen Schöpfergott, der sich offenbart, der die Welt erschafft, der aus Liebe und Güte handelt. Und zugleich damit um einen Menschen, der nicht bloße Modifikation, sondern ein Geschöpf Gottes ist, das als Persönlichkeit selbständig und verantwortlich handeln kann.98 Mit dieser Hinwendung zu den Themen Jacobis erfolgt, auch das ist naheliegend, zugleich eine Abkehr von Spinoza, der nun nicht mehr als Vorbild, sondern wieder als Gegner des Systems gelten muss. Gegen seine Philosophie soll die Freiheitsschrift nun endlich den letzten, den entscheidenden Schlag führen. Spinoza wird überwunden oder hinter sich gelassen, so zumindest scheint es auf Anhieb. Und so ist auch die allgemeine Sicht auf die Freiheitsschrift. Wenn überhaupt eingeräumt wird, dass Spinozas Denken einigen Einfluß auf Schellings Konzeptionen gehabt oder anders gesagt, Schellings Denken bestimmte Aspekte des Spinozismus integriert hatte, so ist klar, dass dieser Einfluß mit der Freiheitsschrift endet. »Spinoza wird beurlaubt«.99 unmittelbar zugänglicher wirkt, als die abstrakten identitäts- und naturphilosophischen Schriften Schellings. Vgl. dazu z. B. Tilliette (1975a), S. 166 f. 98  Vgl. hierzu auch Buchheim (1997), S. XIX und XLVIII. 99  Tilliette (1975), S. 101. Allerdings hat die Formulierung, Spinoza werde beurlaubt, die Pointe, dass Spinoza offenbar nicht widerlegt oder überwunden wird und seine Rückkehr in Schellings Denken womöglich zu befürchten steht. Gegen Tilliette argumentiert Theodor Schwarz: »Spinoza wird zunächst nicht beurlaubt. Er wird – wo nötig – kritisiert, korrigiert, richtig gestellt, gegen Mißverständnisse verteidigt. Freiheit erfordert geradezu den recht verstandenen Spinozismus bzw. Pantheismus. Neben dem von Kant geprägten transzendentalen Freiheitsbegriff findet sich in der ›Freiheitsschrift‹ auch der spinozanisch inspirierte aus den ›Würzburger Vorlesungen‹« (Schwarz (1992), S. 149). Christian Brouwer spricht davon, dass man »für die Freiheitsschrift gegenüber der Identitätsphilosophie einen sinkenden Einfluss Spinozas konstatieren« könne, weist aber zugleich darauf hin, dass von »einer Ablösung Spinozas« kaum die Rede sein könne, weil »Schellings Auseinandersetzung mit dem Pantheismusvorwurf« so differenziert ausfalle (Brouwer (2011), S. 87). Interessanterweise erkennt Werner Marx gerade im Zusammenhang mit der Freiheitsschrift eine Parallele zu Spinoza: »Sicher war Schelling schon in seinen Anfängen von Spinoza beeinflußt, aber erst jetzt geht er entschieden von dessen Grundauffassung aus, daß alles Weltliche eine Modifikation der Attribute des Absoluten ist, somit nur von Gott her verstanden werden kann, in dem es gründet und existiert« (Marx (1981), S. 50). Allerdings betrachtet Marx die Attribute bei Spinoza als rein logische Beziehungen, während es bei Schelling um Macht ginge (ebd., S. 51).

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So gesehen scheint also Heidegger recht zu haben mit seiner These, dass sich in der Freiheitsschrift ein grundlegender Wandel vollziehe. Doch wie radikal ist der Wandel wirklich? Und welche grundlegende Einsicht hatte Schelling zu diesem Wandel motiviert? Vor dem Hintergrund des bereits ausführlich behandelten Dilemmas und der Erkenntnis, dass besagtes Problem das Denken Schellings bereits von Beginn an geprägt hatte, kann eine Rückkehr zu der ursprünglichen Motivation, System und Freiheit zu vereinen, nur dann eine wirkliche Wende darstellen, wenn es Schelling mit der Freiheitsschrift tatsächlich gelingen sollte, zum einen die These Jacobis zurückzuweisen, dass jedes Vernunftsystem notwendig fatalistisch sein müsse, und zum anderen herauszustellen, worin das Problem des Spinozismus dann in Abweichung von Jacobis Diagnose bestehen solle, wie also der eigentlich Fehler Spinozas bestimmt werden müsse. Oder aber – wenn man Heideggers Betonung des Scheiterns berücksichtigt – in der Freiheitsschrift müsste das Dilemma erst in seiner vollen Bedeutung zu Bewusstsein kommen, indem erkennbar würde, dass das systematisch, also »konsequent vernünftig« orientierte Denken, prinzipiell nicht in der Lage ist, die Freiheit und mit ihr die unabweisbar faktische Lebenswirklichkeit des Menschen tatsächlich zu erfassen. Dann allerdings könnte man sich fragen, wieso Heidegger sich nicht gleich an Jacobis eindeutiger Vernunftkritik orientiert, um im Einklang mit dessen Thesen die Abkehr vom systematischen Denken zu fordern. Doch dazu später mehr. Schelling hatte bereits mehrmals seine Haltung in der Frage, worin der eigentliche Fehler Spinozas bestehe, geändert. Er hatte sich dabei allerdings nie an den Aspekten orientiert, die Jacobi ins Zentrum seiner Kritik gestellt hatte. Auch hier wird Jacobis These erneut zurückgewiesen: es ist nicht die Vernunft selbst, die zu dem Problem mit der Freiheit führt, – »aus dem Wesen der Vernunft und Erkenntnis selbst geschöpfte Gründe haben wir nirgends gefunden« (FS 338) – sondern es sind die bisher aufgestellten Systeme, die die Aufgabe noch nicht lösen konnten. Jacobis These lässt Schelling nur für den »historischen Standpunkt« gelten, in den auch seine eigenen Versuche einzuschließen sein dürften. Die Freiheitsschrift hingegen soll diese Behauptung nun endgültig widerlegen. Daher gilt hier, im Gegensatz zur Einschätzung der Identitätsphilosophie, die Spinoza ja gerade von den Vorwürfen entlastete, das spinozische System wieder als Gegner. Nicht »Mißkennen der Philosophie selber« führt zu der Einschätzung, Spinozas System sei fatalistisch; es ist tatsächlich fatalistisch. Dabei kommt es wieder entscheidend darauf an zu sehen, wie Schelling den wahren Fehler Spinozas bestimmt, aus dem der Fatalismus seines Systems resultieren soll, weil Schelling genau an diesem Punkt ansetzen müsste, um sein abweichendes Verfahren deutlich zu machen. Schellings System soll erneut in einem entscheidenden Punkt dem System Spinozas entgegengesetzt, ein »Gegenstück zu Spinozas Ethik« sein.



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Rein äußerlich kann allerdings von einem stringent organisierten System nicht die Rede sein. Auch in dieser Hinsicht also hebt sich die Freiheitsschrift deutlich von den identitätsphilosophischen Systementwürfen ab, die sich an Spinozas Darstellung more geometrico orientiert hatten. Das ist insofern konsequent, als sich Inhalt und Form gegenseitig bedingen.100 Andererseits aber erschwert es eindeutig die Interpretation der Freiheitsschrift. Zu den Schwierigkeiten gehört zum einen die Heterogenität des Textes, der sich in Sprache und Figuren aus sehr unterschiedlichen Quellen speist, bei denen bis zum Schluß unklar bleibt, wie sie sich miteinander vereinen lassen. Zu den Bezugspunkten gehören dabei vor allem Kants Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft, Leibniz’ Theodizee, sowie die Schriften verschiedener mystisch-theosophischer Denker wie Oetinger, Baader und Böhme. Diese Bezüge sind so präsent, dass nicht zuletzt sie für den Eindruck verantwortlich sind, Jacobi und Spinoza spielten hier, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus ist der Argumentationsgang zum Teil nur schwer nachvollziehbar, auch wenn manche Interpreten meinen, hier eine klar gegliederte Argumentation aus sich aneinander anschließenden und aufeinander aufbauenden Argu100  Vgl.

die Darstellung Buchheims in seiner Einleitung zur Ausgabe der Freiheitsschrift: »Damit hängt die zweite methodische Leistung unmittelbar zusammen, nämlich der Gedanke, daß eine begriffliche Systematisierung der Freiheit nur dann nicht eines performativen Selbstwiderspruchs überführt werden kann, wenn ihre Artikulation selbst als ein Aktus der Freiheit vonstatten geht: Denn das Ausdrücken der Freiheit hat, wie Schelling an ziemlich verborgener Stelle der Freiheitsschrift betont, den Charakter eines Gesprächs, auf dessen »Gang […], wenn auch die äußere Form des Gesprächs fehlt, doch alles wie gesprächsweise entsteht« […] Gesprächsweise Entstehung – das meint freie, aber doch unablässige Verfolgung einer gemeinsam gehegten Frage, bei der die Einflechtung immer neuer, von verschiedenen Seiten kommender Impulse – wie von Fäden zu einem insgesamt zugkräftigen Strang – an die Stelle der einlinigen, korsettierenden Form des Beweises tritt: das Begreifen der Freiheit ist eben ein legitimes Unterfangen der Freiheit selbst« (Buchheim (1997), S. XXVII). Tatsächlich ist auffällig, dass die Ichschrift und die Identitätsphilosophie, die beide ein System im gewissermaßen herkömmlichen Sinne vorstellen, mit einzelnen Paragraphen operieren, während die vernunftkritisch orientierten Briefe wie später die Freiheitsschrift auf eine alternative Darstellungsart zurückgreifen. Einen besonders starken Zusammenhang zwischen Darstellung und Sprache einerseits und den Inhalten der Freiheitsschrift andererseits stellt Katia Hay her. Schelling habe das »Grundlose, Regellose in den Kern des philosophischen Diskurses versetzen« müssen und die Sprache der Freiheitsschrift sei der Versuch eines Sprechens, »das zugleich ein Nicht-Sprechen ist« (Hay (2012), S. 192). Hay ist der Auffassung, dass »der Text sich eindeutig seiner selbst bzw. seiner Endlichkeit bewusst wird und diese Erkenntnis wiederum zeigen will. Schelling stößt an Ausdrucksschranken und reflektiert sie in der Konstruktion des Textes« (ebd.). Demgegenüber ist Walter Jaeschke der Auffassung, dass es sich um »die Ersetzung begrifflichen Denkens durch einen […] Mythos« (Jaeschke (1996), S. 213) handle. Die Steigerung der Akzeptanz« werde »durch das Sinken der begrifflichen Prägnanz« erkauft. (ebd, S. 215). Michael Baumgartner weist darauf hin, dass die Freiheitsschrift »in manchen Details übereilt konzipiert sowie ausgeführt« sei, weil sie »in der Reaktion auf Angriffe und Polemiken der Tagesdiskussion entstanden« sei (s. Anm. S. 4), eine m. E. überzeugende These, wenn man sich die kurze Entstehungszeit der Schrift vor Augen führt.

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mentationsschritten vorzufinden.101 Um der Verwirrung durch diese Umstände zu entgehen, wird die folgende Untersuchung der Freiheitsschrift sich weniger am Aufbau der Schrift, sondern vor allem an systematischen Komplexen und strukturellen Problemen orientieren, die zeigen, inwiefern hier das zwischen Jacobi und Spinoza sich aufspannende Problemfeld nach wie vor von tragender Bedeutung ist. Bei der generell eher unübersichtlichen Anlage der Freiheitsschrift ist aber zumindest ein grundlegender Einschnitt klar auszumachen. Es handelt sich um die Gliederung in einen einleitenden Teil, der, Schelling zufolge, die »Berichtigung wesentlicher Begriffe« enthält, die »von jeher, besonders aber neuerdings, verwirrt worden« (FS 357), sowie in die »eigentlichen Untersuchungen« selbst. Beide Teile unterscheiden sich deutlich voneinander. Während die Einleitung auf einer eher abstrakten, begrifflichen Ebene argumentiert, ist die Untersuchung selbst, wie bereits angeklungen, zumindest sprachlich stark an theosophischen Denkern orientiert, und dadurch voll von Bildern, deren Status unklar bleibt. Oft ließe sich dabei wohl fragen, ob es sich um Metaphern handelt, die etwas veranschaulichen sollen, was ansonsten zu trocken oder unzugänglich bliebe, oder ob man die aus dem Bereich menschlichen Erlebens entnommene Sprache wörtlich verstehen solle. Dennoch sind beide Teile so aufeinander bezogen, dass die Einleitung nicht nur eine begriffliche Vororientierung darstellt, sondern auch den Rahmen für das gesamte Projekt absteckt. Hier wird vorgestellt, was das Projekt leisten soll, worin also das Ziel der Untersuchung besteht, und in welchem theoretischen Rahmen es verwirklicht werden soll. Das heißt auch, dass hier in gewisser Weise vorab geklärt wird, auf welchen Grundlagen ein System der Freiheit notwendig aufbauen muss und wodurch es ermöglicht wird. Erst nachdem die Frage nach der Möglichkeit des Systems und seinen theoretischen Voraussetzungen geklärt ist, beginnt Schelling die konkrete Ausführung seines Systems, bzw. seines ersten Entwurfes zu dem geforderten System. Insofern dies der Fall ist, sind die einleitenden Untersuchungen allerdings von entscheidender Bedeutung im Blick auf die Frage nach der Vereinbarkeit von System und Freiheit und damit für die Auseinandersetzung mit Jacobi und Spinoza. Darüber hinaus muss im Zusammenhang mit der »eigentlichen Untersuchung« immer das Problem im Auge behalten werden, wie weit die einzelnen Überlegungen sich mit den theoretischen Rahmenbedingungen des Systems in Einklang bringen lassen. Anhand der Einleitung soll daher vor allem untersucht werden, wie Schelling die These Jacobis zu entkräften sucht, dass jedes Vernunftsystem notwendig fatalistisch sein müsse, und wo er abweichend von Jacobis Analyse den eigentlichen Fehler Spinozas lokalisiert. Wie sich zeigen wird, ist das dort entwickelte Verständnis der 101 

Dieser Auffassung ist z. B. Thomas Buchheim. Im Anhang zu der von ihm herausgegebenen Ausgabe der Freiheitsschrift (1997) findet sich eine Gliederung und Analyse des Argumentationsganges, den Buchheim »scharf gegliedert« findet (S. 167 ff.).



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Identität, das von vielen Interpreten als eine der entscheidenden Neuheiten der Freiheitsschrift hervorgehoben wird, aus der Sicht Jacobis eigentlich noch kein Hinausgehen über Spinoza, sondern viel eher die erneute Bestätigung einer gedanklichen Nähe zu Spinoza. Auch das, was Schelling hier als den ›eigentlichen‹ Fehler Spinozas bestimmt, lässt im Rahmen dieser Überlegungen keine entscheidende Neuerung erkennen, sondern scheint eher einen Rückgriff auf die bereits in den Frühschriften vertretene Haltung zu Spinoza darzustellen. Schon die Einleitung weckt daher Mißtrauen im Hinblick auf die grundlegende Neuartigkeit der von Schelling vorgelegten Lösung. Die Untersuchung des ›Hauptteils‹ wird dann im Folgenden in zwei Komplexe auseinandergelegt. Zunächst soll es um die entscheidenden Grundstrukturen gehen, die als konkrete Ausformulierung des in der Einleitung geforderten schöpferischen Identitätsverständnisses verstanden werden können. Zentral sind dabei die Unterscheidung von Grund und Existenz sowie die Frage nach der Einheit dieser beiden Momente. Eben weil der genannten Unterscheidung der Gedanke einer »schöpferischen« Identität zugrundeliegt und es sich folglich um einen »internen Dualismus«102 handelt, besteht das, was Schelling als grundlegende Struktur von Wirklichkeit beschreibt, eigentlich aus drei Momenten: den beiden Unterschiedenen einerseits und ihrer Identität andererseits. Neben Grund und Existenz wird als drittes Moment daher das des Ur- oder Ungrundes in die Überlegungen mit einbezogen,103 obwohl es im Text von Schelling nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Grund und Existenz, sondern erst an späterer Stelle eingeführt wird. Weil aber – wie sich nicht zuletzt an dieser gewissermaßen nachträglich erfolgenden Reflexion über die Natur der Einheit von Grund und Existenz zeigt – Schelling in der Freiheitsschrift weniger strukturell denn ›erzählend‹ verfährt, wird zur Erhellung der strukturellen Verhältnisse und der damit verbundenen theoretischen Probleme zusätzlich auf die Stuttgarter Privatvorlesungen zurückgegriffen. Durch diese Ergänzung lässt sich noch deutlicher erkennen, wie Schelling nach wie vor in Auseinandersetzung mit Spinoza versucht, diesen gewissermaßen schöpferisch zu beleben und so von einer starren fatalistischen Philosophie zu einer schöpferischen Philosophie der Freiheit zu gelangen. Die Belebung allerdings – auch dies wird deutlich – scheint nur auf Kosten einer erhöhten inneren Widersprüch102  Friedrich

Hermanni gebraucht den Ausdruck »innerer Dualismus« in seiner Studie von 1994 gewissermaßen terminologisch (Hermanni (1994), S.17 u. a.). 103  Das mit ›Ungrund‹ bezeichnete Moment wird – im Gegensatz zu dem oft als Einheit aufgefassten ›Wollen‹– von Schelling explizit zur Erläuterung des Verhältnisses der Identität zur Dualität eingeführt und aus diesem Grund hier als drittes Moment der gesamten Struktur bestimmt. Auf die Frage nach der Funktion des ›Wollens‹ in der Freiheitsschrift, die in der Sekundärliteratur eine durchaus wichtige Rolle spielt, wird im Zusammenhang mit Heideggers Interpretation der Freiheitsschrift näher eingegangen.

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lichkeit möglich, die darum aus der Perspektive Jacobis kaum als gelungene Überbietung Spinozas gelten kann. Dass eine Freiheit im Sinne der von Jacobi geforderten Handlungsfreiheit auf dieser Grundlage denkbar werden solle, könnte man daher von vornherein für unwahrscheinlich halten. Dennoch wäre es vielleicht voreilig, auf dieser Grundlage schon von einem weiteren Scheitern Schellings im Blick auf die Verwirklichung eines Systems der Freiheit zu sprechen. Denn die Neuartigkeit dessen, was Schelling hier zu denken versucht, scheint nicht zuletzt im Verständnis der menschlichen Freiheit selbst zu liegen. Vor allem der von Schelling so genannte »reale« Freiheitsbegriff, nach dem Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen bestimmt wird, scheint nicht nur über Spinoza, sondern auch über die idealistische Fassung des Freiheitsproblems grundlegend hinauszugehen, bzw. von dieser sich abzugrenzen. Mit dem Begriff des Bösen scheint zudem ein Aspekt von existentieller Tragweite ins Spiel zu kommen, der der einseitig am Ideal der Vernunft orientierten Philosophie noch viel stärker zuwiderlaufen müsste als die demgegenüber harmlos scheinende Freiheit, auf der Jacobi insistiert. In diesem Sinne scheint die Schellingsche Lösung auf eine paradoxe Situation hinauszulaufen, sofern sie einerseits mit dem schöpferischen Identitätsverständnis die Konzeptionsgrundlage für ein derart ›reales‹ Freiheitsverständnis zu liefern versucht, um Freiheit in diesem Sinne denk- und erklärbar zu machen, während sie andererseits durch die Einführung des Bösen und Widervernünftigen die Einheit des Vernunftsystems starken Problemen auszusetzen genötigt ist. Insofern scheint es gerechtfertigt, hier einen Punkt zu erkennen, an dem ein mögliches Scheitern der Freiheitsschrift in den Blick rückt, wobei allerdings fraglich bleibt, ob es sich dabei tatsächlich um ein Problem handelt, das sich aus der Vernunft selbst ergibt und das die Rede von einer Selbstbeschränkung der Vernunft gerechtfertigt scheinen lässt. Bei der Konzentration auf den ›realen‹ Freiheitsbegriff sowie auf die Verwirklichung dieser realen Freiheit in einer unbewussten »Urtat« bleibt allerdings ein dritter Freiheitsbegriff vorläufig unbeachtet, der erneut deutlich macht, dass es Schelling auf eine Sprengung des Systems keineswegs ankommt. Dass die Widersprüchlichkeit, die durch Schellings Ausführungen zur Freiheit zwar zusätzlich erhöht wird, dennoch wesentlich in das System integriert und aus den Strukturen heraus erklärt werden soll, wird nicht zuletzt an diesem Verständnis der Freiheit deutlich, das in klarer Kontinuität zu den Frühschriften und ihrer Forderung nach der »Zernichtung des Selbst« wie zur Identitätsphilosophie mit ihrer systematischen Abwertung der Endlichkeit steht. Sowohl im Zusammenhang mit den tragenden Strukturen als auch mit der Frage nach der menschlichen Freiheit wird damit deutlich, dass es sich bei der Freiheitsschrift ebensowenig wie bei den vorher untersuchten Schriften um eine Widerlegung oder grundlegende Überbietung Spinozas, noch aber um eine Widerlegung



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der These Jacobis handelt, jedes Vernunftsystem müsse Freiheit im Sinne der Freiheit eines verantwortlich handelnden Selbst ausschließen. In ihrer Heterogenität und Selbstwidersprüchlichkeit kann sie daher letztlich weder als Gegenstück zu Spinozas Ethik noch aber als Lösung für das von Jacobi skizzierte Dilemma gelten. Die spätere Entwicklung Schellings, die Trennung etwa in eine negative und eine positive Philosophie, belegt denn auch, dass Schelling selbst in der Freiheitsschrift keineswegs die endgültige Lösung erkennt, nach der er – immer auch in Bezug auf Jacobische Argumente – wohl bis zum Schluss suchen wird. Im Blick auf diese Problemlage kann die Freiheitsschrift daher nicht als Wendepunkt, sondern erneut als Bestätigung des Dilemmas gelten, das für Schelling geradezu existentielle Bedeutung erlangt. 4.1 Die Einleitung der Freiheitsschrift – erste Verhältnisbestimmungen zu Jacobi und Spinoza Die scheinbare Zurückweisung der Kritik Jacobis Die »Berichtigung wesentlicher Begriffe«, mit der die Freiheitsschrift eröffnet wird, bildet eine grundlegende Auseinandersetzung mit Jacobis These, der »Begriff der Freiheit [sei] mit dem System überhaupt unverträglich […], und jede auf Einheit und Ganzheit Anspruch machende Philosophie [müsse] auf Leugnung der Freiheit hinauslaufen« (FS 336) – eine Ansicht, die hier als »alte, jedoch keineswegs verklungene Sage« (ebd.) präsentiert wird. Erst kurz vor dem Erscheinen der Freiheitsschrift war sie durch Friedrich Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier erneut zu hören gewesen. Schellings Freiheitsschrift ist äußerlich wohl auch als Reaktion auf die in dem genannten Buch geäußerte Kritik an seiner Philosophie zu verstehen. Dennoch dürfte Jacobi als Urheber der »Sage« den eigentlichen Gegner der Einleitung darstellen, da er das Dilemma ursprünglich und in seiner radikalen Form aufgestellt hatte.104 Dieses Dilemma als ein solches anzuerkennen und es nicht aufzulösen oder zumindest nach dieser Auflösung zu streben, ist für Schelling aber nach wie vor ein unerträglicher Gedanke. Obwohl er auch einräumen muss, dass zumindest der historische Standpunkt Jacobi Recht zu geben scheint, weil es bis zum Erscheinen der Freiheitsschrift noch niemandem gelungen war, Jacobis Kritik am Vernunftsystem zu entkräften und ein System der Freiheit aufzustellen, glaubt er doch immer noch an diese Möglichkeit. In der Auflösung dieses Problems erkennt Schelling nun die grundlegende Aufgabe der Philosophie, die zugleich die »unbewußte Triebfeder alles Strebens nach Erkenntnis« (FS 338) bildet. Dabei erinnern die Formulierungen an das Programm der Briefe, in denen es um das Streben nach 104 

Vgl. auch Buchheim (1997), S. XLVIII.

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Realisierung der Einheit mit dem Absoluten ging, die die Zielvorstellung der beiden Systeme von Dogmatismus und Realismus bildete, wobei aber zugleich die Erreichung des Ziels das Ende aller Philosophie und das Ende aller Selbstheit zu bedeuten schien. Entsprechend heißt es in der Freiheitsschrift, die Auflösung des Problems selber müsste auch die Philosophie und mit ihr »jedes höhere Wollen des Geistes« (ebd.) aufheben. Im Gegensatz zu den Briefen aber, die die Nichtrealisierbarkeit der Einheit als praktische Forderung formulierte, erscheint Schelling der Standpunkt Jacobis nun wie ein willkürliches Abbrechen dieses Strebens, denn »[s]ich durch Abschwörung der Vernunft aus dem Handel ziehen, scheint […] der Flucht ähnlicher als dem Sieg« (ebd.). Die Lösung der Freiheitsschrift wird also wohl anders ausfallen als die der Briefe. 105 Schon die eröffnende Passage der einleitenden Bemerkungen macht die Bezugnahme auf Jacobi deutlich, der das Gefühl, bzw. die ursprüngliche Überzeugung, frei zu sein, zum Anlaß seiner Systemkritik nimmt. Schelling ist der Auffassung, dass dieses Freiheitsgefühl nicht hinreicht, den Begriff der Freiheit wirklich zu bestimmen; dies sei erst durch die »Nachweisung seines Zusammenhangs mit dem Ganzen« (FS 336) möglich. Damit grenzt sich Schelling gleich zu Beginn radikal von Jacobis These ab, denn er bestreitet nicht nur, dass ein jedes Vernunftsystem Freiheit im wahren Sinne, also die Freiheit, derer wir uns unmittelbar bewusst und von der wir unwidersprechlich überzeugt sind, ausschließe, er behauptet vielmehr im Gegenteil, dass sie überhaupt nur im Rahmen eines Systems richtig bestimmt werden könne. Doch obwohl es sich bei der Einleitung durchaus um eine Form der Auseinandersetzung mit Jacobi handelt, ist dieser zunächst nur mit der oben formulierten »Sage« präsent, mit einer These, die zwar in gewisser Weise die Quintessenz der Jacobischen Position darstellt, die aber zugleich abgetrennt von ihrer Begründung nicht mehr als eine bloß allgemeine Behauptung zu sein scheint. »Gegen allgemeine Versicherungen der Art« sei es denn auch »nicht leicht zu streiten«, denn man wisse ja nicht, »welche beschränkenden Vorstellungen«, so Schelling, »schon mit dem Wort System verbunden worden sind« (FS 336). Dies mag einerseits erneut dafür sprechen, dass die Einleitung tatsächlich als Reaktion auf Schlegel entstanden ist, dessen dort geübte Kritik mit derjenigen Jacobis letztlich nur wenig gemeinsam hat, denn letzterer macht sehr wohl deutlich, was er unter dem Systemdenken versteht. Im Blick auf Schlegels ›Indierbuch‹ aber mag es verständlich scheinen, dass Schel105 

Eben diese Argumente finden sich auch im Denkmal auf Jacobi. Dort heißt es etwa, Jacobi habe »Feierabend gemacht, noch eh es Mittag war« (DJ 42). Ebenfalls im Denkmal ist zu lesen: »Es ist Angelegenheit der Menschheit, daß jener Glaube, der bis jetzt bloß Glaube war, sich in wissenschaftliche Erkenntnis verkläre. […] Wer behauptet, daß jenes Ziel nicht nur etwa jetzt oder in den nächsten Zeiten, sondern schlechthin und an sich unerreichbar ist, der nimmt allen wissenschaftlichen Bemühungen ihre höchste, letzte Richtung« (DJ 55).



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ling die vernunftkritische Position in der These wiedergegeben sieht, »das einzig mögliche System der Vernunft sei Pantheismus, dieser aber unvermeidlich Fatalismus« (FS 338). Die Abgrenzung zu dieser Ansicht erfolgt denn auch ausschließlich über eine Auseinandersetzung mit dem Pantheismus, bzw. der »Lehre der Immanenz der Dinge in Gott« (FS 339). Einerseits ist es zwar konsequent und sinnvoll, dass Schelling sich über die Natur der Immanenz, darüber also, was man eigentlich unter einem Immanenzsystem zu verstehen habe, nun einmal explizit Rechenschaft ablegt, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, welch unterschiedliche Deutungen er diesem Konzept in den Briefen einerseits und in der Identitätsphilosophie andererseits gegeben hatte. Andererseits aber führt die Ausrichtung auf die Frage nach dem wahren Verständnis von Immanenz zugleich von den eigentlichen Kritikpunkten Jacobis weg und damit in eine ganz andere Diskussion. Schelling bleibt nämlich, wie sogleich deutlich wird, bei der seit langem erworbenen Ansicht, dass das Verhältnis der Immanenz die einzige Lösung für das Problem des Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen darstellt, und insofern »jede Vernunftansicht in irgend einem Sinn zu dieser Lehre hingezogen werden muß« (FS 339). Zugleich aber meint er immer noch (oder wieder), dass es mehrere Deutungen dieses Verhältnisses geben könne. Hieß es bereits in den Briefen, dass nicht der Immanenzzusammenhang für den Fatalismus des spinozischen Systems verantwortlich sei, sondern nur die besondere Deutung, die Spinoza diesem Zusammenhang gegeben habe, so ist nun die Rede davon, dass sich unleugbar ein »fatalistischer Sinn damit verbinden lasse«, der aber zugleich »nicht wesentlich damit verbunden sei« (ebd.). Es lasse sich sogar im Gegenteil ein besonders ›freiheitlicher‹ Sinn damit verbinden, wie schon daran zu erkennen sei, »daß so viele gerade durch das lebendigste Gefühl der Freiheit zu jener Ansicht getrieben wurden« (ebd.). An dieser Stelle bleibt offen, wer diese vielen Denker gewesen sein sollen, da Spinoza selbst ja wohl kaum dazu gerechnet werden dürfte, der nun in der Freiheitsschrift wieder als Denker des Fatalismus präsentiert wird. Entscheidend ist aber, dass Schelling im Gegensatz zu Jacobi der Auffassung ist, der Pantheismus (bzw. das Immanenzverhältnis) führe nicht nur keinesfalls notwendig auf einen Fatalismus, er sei sogar darüber hinaus die beste, wenn nicht die einzig mögliche Form für ein System der Freiheit. Sowohl das vernünftige Streben nach Einheit und System, als auch das Gefühl der Freiheit fordern also in Schellings Augen einen Pantheismus, der dann, richtig verstanden und ausgeführt, einen Pantheismus der Freiheit darstellen soll. Die sich anschließenden Erläuterungen zu der Ansicht, dass man gerade durch das Gefühl der Freiheit zur Annahme eines Pantheismus getrieben werde, erinnern wie viele andere Aspekte an Argumente, die bereits in den Briefen eine Rolle spielten. Dort war unter anderem die Frage aufgeworfen worden, wie ein endliches Wesen frei sein könne, wenn doch alle Kausalität und Freiheit dem Absoluten zukäme. Die scheinbare Transzendenz, die Schelling in praktischer Hinsicht zwischen das

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endliche Wesen und das Absolute gesetzt hatte, diente dazu, dem einzelnen Wesen seine Freiheit von bzw. gegen Gott zu garantieren. Das Problem ergab sich jedoch allererst dadurch, dass die Transzendenz nicht wirklich als Transzendenz gedacht wurde, also nicht als eine wirkliche Trennung zwischen Gott und dem Menschen (anders gesagt als Dualismus), sondern als Trennung innerhalb eines monistischen Systems. Als solche war sie von vornherein in der Einheit des Systems auch schon aufgehoben, wodurch zugleich der Versuch, die eigene Selbstheit dem Absoluten gegenüber zu erhalten, zum Scheitern verurteilt schien. Durch die Verbindung des Gedankens einer Gegenüberstellung von Gott und Mensch, die dennoch in einem einheitlichen System gedacht sind, ergab sich die Annahme, dass die vollkommene Freiheit Gottes für das einzelne endliche Wesen nur reine Passivität übriglasse. Eben dieses Argument führt Schelling nun gegen die Vorstellung einer Transzendenz ins Feld, der gegenüber man sich für die Immanenz der Dinge in Gott entscheiden müsse, bei der die Dinge an Gottes Freiheit teilhaben: »Gibt es gegen diese Argumentation einen andern Ausweg«, so Schelling, »als den Menschen mit seiner Freiheit, da sie im Gegensatz der Allmacht undenkbar ist, in das göttliche Wesen selbst zu retten, zu sagen, daß der Mensch nicht außer Gott, sondern in Gott sei, und daß seine Tätigkeit selbst mit zum Leben Gottes gehöre?« (FS 339). Dass allerdings die Freiheit des Menschen in einer solchen Einheit mit der Freiheit Gottes betrachtet werden müsse, war eine Einsicht, die – in expliziter Anlehnung an Spinoza – auch der Identitätsphilosophie zugrunde lag. Wie bereits deutlich wurde, berührt diese Fassung des Freiheitsproblems darum auch noch gar nicht Jacobis eigentliche Kritik, da der Freiheitsbegriff, der Gott und den einzelnen Wesen bei Spinoza zugeschrieben wird, keine Freiheit im Sinne Jacobis meint. Frei ist Gott, weil er allein aus seiner potentia heraus handelt, frei ist insofern der Mensch, als er seinen Anteil an der göttlichen Macht verwirklicht, indem er seinem conatus folgt. Beide aber sind Jacobi zufolge Ausdruck eines blindes Strebens, und damit einer mechanischen Notwendigkeit, die zu dem Gedanken absichtsvollen Handelns im Gegensatz steht. In der Freiheitsschrift allerdings sollte es ja nun um ein anderes Freiheitsverständnis gehen, das somit von den bisherigen Ausführungen noch gar nicht berührt sein dürfte. Nachdem also der Pantheismus als die Auffassung bestimmt ist, die allein ein freiheitliches System möglich machen soll, gilt es im Folgenden, genauer zu untersuchen, welche Fehlauffassungen des Pantheismus zu der These verleiten können, dieser müsse notwendigerweise fatalistisch sein. Diese Diskussion hebt mit der Frage nach dem Verhältnis von Immanenz und Identität an, wie denn überhaupt das Problem des wahren Identitätsverständnisses zum entscheidenden Aspekt der Einleitung wird. Auch hier befasst Schelling sich allerdings nicht mit den Argumenten Jacobis. Tatsächlich scheint es bei der Frage nach dem rechten Verständnis von Identität viel eher um eine Abgrenzung der Freiheitsschrift zur Identitätsphilo-



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sophie zu gehen, in der Schelling selbst versucht hatte, die Immanenz der Dinge in Gott radikal als absolute Identität zu denken. Wird die Immanenz – so die weitere Argumentation – als Identifikation Gottes mit der Welt, oder umgekehrt, der Welt mit Gott aufgefasst, so ließe sich folgern, dass entweder alles Gott ist und es außer Gott eben nichts, also keine Welt gebe (das, was Hegel als »Akosmismus« bezeichnen würde)106, oder aber, dass die Welt alles ist und es außer der Welt nichts, also keinen Gott gebe (was, anders gesagt, Atheismus wäre). Der Grund für solche Mißdeutungen liege »in dem allgemeinen Mißverständnis des Gesetzes der Identität oder des Sinns der Copula im Urteil« (FS 341). Wer so denke, der verstehe nämlich unter Identität eine bloße »Einerleiheit« (ebd.) und offenbare damit »einen Grad von dialektischer Unmündigkeit […], über welchen die griechische Philosophie fast in ihren ersten Schritten hinaus ist« (FS 342).107 Damit ist klar, dass hier auch der Fehler Spinozas nicht begründet liegen kann, denn gerade der als fatalistisch gescholtene Spinoza zeichnet sich offenbar durch eine besonders klare Unterscheidung der Dinge von Gott aus: Eine »totalere Unterscheidung der Dinge von Gott, als in dem für jene Lehre als klassisch angenommenen Spinoza sich findet«, lasse sich, so Schelling, »kaum denken« (FS 340). Die Unterscheidung zwischen der Seinsart der Substanz, die »in sich ist und allein aus sich selbst begriffen wird« (ebd.) und der Seinsart der Modi, die »notwendig in einem andern [sind], und nur aus diesem begriffen werde [können]« (ebd.), stelle eine Unterscheidung toto genere dar und ist – wie sich folgern ließe – insofern als durchaus vorbildlich zu werten. Doch auch in einer anderen Hinsicht scheint Spinozas Verständnis der Immanenz nach wie vor als Vorbild dienen zu können. Gott werde nämlich von Spinoza als »der allein sich selbst bejahende« verstanden, »zu dem alles andere nur wie Bejahtes, nur wie Folge zum Grund sich verhalten kann« (FS 340). Diese Bestimmung ist nun ihrerseits von entscheidender Bedeutung für Schellings Überlegungen, weil die Interpretation der Immanenz als Verhältnis von Grund und Folge die Grundlage des Identitätsverständnisses der Freiheitsschrift darstellt. Die rechtverstandene Identität nämlich soll nicht nur die Unterscheidung von Gott und Welt und das zwischen ihnen bestehende Abhängigkeitsverhältnis denkbar machen, sondern auch die Selbständigkeit des Abhängigen und damit die Möglichkeit der Freiheit garantieren. Denn wer die Dinge zwar nicht als mit Gott einerlei denke, sie aber dennoch als gänzlich von Gott abhängig betrachte, könne immer noch den Vorwurf des Fatalismus auf sich ziehen. Für Schelling ist daher der Gedanke wichtig, dass »Abhängig106 

Vgl. z. B. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 50. dies könnte durchaus gegen Jacobi gemeint sein, der in der bereits zitierten Stelle über den Geist des Spinozismus davon gesprochen hatte, das immanente Ensoph sei mit allen seinen Folgen zusammengenommen eins und dasselbe. 107  Auch

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keit […] Selbständigkeit, […] sogar Freiheit« (FS 346) nicht aufhebe; ein Gedanke, der durch den Zusammenhang des Identitätsverständnisses mit dem Verhältnis von Grund und Folge deutlich gemacht werden soll. Wäre, so Schelling, »das Abhängige oder Folgende nicht selbständig, so wäre dies vielmehr widersprechend. Es wäre eine Abhängigkeit ohne Abhängiges, eine Folge ohne Folgendes […], und daher auch keine wirkliche Folge, d. h. der ganze Begriff höbe sich selber auf« (ebd.). Im Zusammenhang mit der Kritik Jacobis allerdings macht diese grundlegende Rolle des Grund-Folge-Verhältnisses hellhörig. Denn Jacobi unterscheidet an zentraler Stelle zwischen dem Grund-Folge-Verhältnis auf der einen, und dem Ursache-Wirkungs-Verhältnis auf der anderen Seite. Das Grund-Folge-Verhältnis ist nach Jacobi ein rein logisches, bei dem der Unterschied kein realer ist, da es sich um einen bloße Ableitung handelt, die nur im Erkenntnisprozeß stattfindet, während das UrsacheWirkungs-Verhältnis eine reale Trennung voraussetzt. Die Vermischung der beiden Verhältnisse bildet nach Jacobi die Grundlage des Spinozismus, da sie auf der einen Seite den unzeitlich gedachten Rahmen bildet, der rein logische Ableitungen vornimmt, die insofern notwendig sind und darüber hinaus dem Verfahren der Vernunft entsprechen, während sie auf der anderen Seite von scheinbar realen Trennungen, von Hervorbringung und zeitlichen Verhältnissen redet. Man könnte auch sagen, der Grund-Folge-Anteil bediene die Vernunft und ihre Perspektive sub specie aeternitatis, während der Ursache-Wirkungs-Anteil die Einbringung der Welt mit ihren realen Unterschieden, ihrer Bewegung und ihrer zeitlichen Verfassung garantieren soll. In der Darstellung Schellings weist nun alles darauf hin, dass auch er, obwohl er nur von Grund und Folge redet, doch immer auch die Charakteristika des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses integrieren möchte. Darauf verweist schon die Rede vom progressiven und schöpferischen Identitätsverständnis, das sich allein aus der logischen Beziehung von Grund und Folge gar nicht ergeben würde, weil Zeit für Progression und Schöpfung unabdingbar ist.108 Die Belebung des Identitätsverständnisses durch den Hinweis auf das Verhältnis von Grund und Folge (bzw. von Subjekt und Prädikat) wiederholt damit explizit, was Jacobi bereits an Spinoza analysiert hatte: eine Vermischung von logischen und realen Verhältnissen. Die logische Beziehung von Grund und Folge garantiert dabei die Erhaltung der Identität gegen108  Neben

dem Verhältnis von Grund und Folge zieht Schelling auch das von Subjekt und Prädikat zur Erläuterung heran. Auch für dieses Verhältnis aber gilt, dass es keine reale Trennung impliziert, wie sie im Ursache-Wirkungs-Verhältnis gedacht ist. Jacobi selbst verweist darauf, dass sowohl zwischen Grund und Folge, wie auch zwischen Subjekt und Prädikat »das Eintreten einer Zeit schlechthin unmöglich« sei (GD 131). Ebensowenig kann der Hinweis auf den Zusammenhang mit dem »Eingewickelten« und dem »Entfalteten« in dieser Frage weiterhelfen. Dennoch ist dieser Bezug insofern interessant, als die Interpretation von Substanz und Modus im Sinne von Implikation und Explikation auch im Blick auf Spinoza sinnvoll ist, wie Deleuze in seinem Spinozabuch deutlich macht. Vgl. Deleuze (1993), S. 19 ff.



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über den geschiedenen Polen, während das reale Verhältnis einerseits den Gedanken von Bewegung und Schöpfung, und andererseits auch die Möglichkeit der Selbständigkeit und Freiheit der ›Geschöpfe‹ gegenüber ihrem ›Schöpfer‹ in die Identität eintragen soll. Dass Schelling dennoch dem Begriff des »Folgens« den Vorzug vor dem »Bewirken« gibt, macht zugleich deutlich, dass die dynamisch gedachte Hervorbringung immer vor dem Hintergrund eines eigentlich genuin unzeitlichen Verhältnisses gedacht werden muss. Im Gegensatz zu Jacobi assoziiert Schelling denn auch mit dem Begriff der Ursache ein »bloßes Bewirken« und damit den Gedanken von Mechanik und Unselbständigkeit: »Wie man auch die Art der Folge der Wesen aus Gott sich denken möge, nie kann sie eine mechanische sein, kein bloßes Bewirken oder Hinstellen, wobei das Bewirkte nichts für sich selbst ist« (FS 346 f.). Wieso aber das Bewirkte oder Hingestellte nichts für sich selbst sein soll, während es doch gerade in seiner realen Trennung vom Schöpfer als frei erscheinen könnte, wird gar nicht weiter thematisiert.109 Schellings Betonung von Schöpfung und Lebendigkeit setzt demnach zwar neue Akzente, die aber zugleich im theoretischen Rahmen dessen verbleiben, was Jacobi bereits anhand der Philosophie Spinozas als Grundoperation einer Alleinheitsphilosophie kritisiert hatte. Dennoch ist Schelling offenbar der Auffassung, sich mit dem lebendigen Verständnis von Identität Jacobis Forderungen anzunähern. Denn indem er die Gedanken von Schöpfung einerseits und von Selbständigkeit andererseits in das Konzept von Immanenz einblendet, scheint es ihm allererst möglich, anstelle des unpersönlichen ›Ensophs‹ von einem persönlichen, sich offenbarenden Schöpfergott zu sprechen, der lebendige, selbstständige und freie Wesen schafft. Allerdings zeigt sich auch an Schellings Rede von Offenbarung, dass er darunter zugleich etwas ganz anderes versteht als Jacobi. »Die Folge der Dinge aus Gott« (also nicht das bewußte Erschaffen der Dinge durch einen handelnden, persönlichen Gott) sei eine »Selbstoffenbarung Gottes« (FS 347). Gott, das wird schon hier deutlich, offenbart sich nicht etwa dem Menschen, den er geschaffen und sich als freies Gegenüber gesetzt hatte, er wird nicht einem anderen, sondern sich selbst offenbar, indem er die Welt, oder, anders gesagt, sich selbst erschafft. Ohne die Schöpfung verfügte Gott nicht über Selbstbewußtsein, denn um seiner selbst 109 

Dass sich grundlegende Differenzen zwischen Schelling und Jacobi eben daraus ergeben, dass Schelling die von Jacobi eingeklagte Unterscheidung von Grund und Ursache ignoriert, zeigt sich auch in der direkten Auseinandersetzung Schellings mit Jacobi, wie sie im Denkmal stattfindet. Wenn Schelling gegen Jacobi einwendet, der Beweisgrund sei nicht über, sondern unter dem, was durch ihn begründet wird, dann redet er in Wahrheit gar nicht von einem rein logisch gedachten Beweisgrund, wie schon daran deutlich wird, dass er von einem »Entwicklungsgrund« spricht: »Allemal und nothwendig ist der Entwicklungsgrund unter dem, was entwickelt wird; er setzt das sich aus ihm Entwickelnde über sich, erkennt es als Höheres und unterwirft sich ihm, nachdem er zu seiner Entwicklung gedient hat, als Stoff, als Organ, als Bedingung« (DJ 59).

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bewusst zu werden, muss er sich selbst anschauen. Und anschauen kann er sich nur seinem Gegenbild, das zugleich als mit ihm identisch gedacht werden muss, damit er sich darin erkennen kann. Dieser Gedanke allerdings, der Jacobis Ansichten entschieden widerstreitet, lässt sich mit Spinoza sehr wohl in Einklang bringen. Dort nämlich verhält es sich so, dass Gott sich ausdrückt, und, indem er sich ausdrückt, eine Welt schafft. Diesen Ausdruck seiner selbst bringt er jedoch nicht nur hervor, er erkennt ihn auch, da er alle Wesen einerseits ›real‹ hervorbringt (d. h., in Spinozas Terminologie, ›formal‹), und andererseits auch ›ideal‹ (d. h. für Spinoza ›objektiv‹), also auch als ideale Abbildung. Mit dem göttlichen Verstand erkennt er alle diese Ideen und, da sie als Ausdruck seiner selbst durchaus mit ihm identisch sind, in letzter Konsequenz auch sich selbst. Allerdings ist bei Spinoza die Idee der Erschaffung der Welt nicht mit der Vorstellung verbunden, Gott schaffe eine Welt, um sich zu erkennen. Spinoza also unterlegt der schöpferischen Tätigkeit Gottes keine Teleologie, keinen Endzweck und keine Absicht. Damit, so könnte man doch meinen, wäre Schelling nun doch über Spinoza hinaus, bevor er dessen Fehler überhaupt erwähnt hat. Andererseits aber erinnert die Bewegung der Selbsterschaffung und Selbstbewusstwerdung Gottes, die sich hinter dem Begriff der Offenbarung verbirgt, auch deutlich an ein Selbstbewusstseinsmodell im Sinne Fichtes, dessen idealistische Transformation der spinozischen Strukturen von Jacobi genauso kritisiert wurde wie Spinoza selbst. Dabei stellt sich vor allem die Frage, ob bei einem Gott, der sich mit der Schöpfung überhaupt erst als Person erschaffen muss, tatsächlich die Rede von einem persönlichen Gott sein kann. Ist die »Schöpfung« hier tatsächlich mehr und anderes als Fichtes Tathandlung, eine Tat ohne Täter? Die Formulierung, Gott schaffe eine Welt, um sich seiner selbst bewusst zu werden, scheint zunächst nicht mehr als eine Interpretation zu sein, die die Erfahrung des Handelns in der Welt, die Erfahrung, bewusst, nach Begriffen zu handeln, auf die Selbstbewusstwerdung des Gottes überträgt. Streng genommen könnte Schelling daher wohl auch nur soviel sagen wie Spinoza, dass nämlich Gott nach den Gesetzen seines eigenen Wesens, d. h. in diesem Sinne durchaus frei, eine Welt hervorbringt, die zugleich mit ihm identisch ist. Indem Gott die Welt erkennt, erkennt er auch sich. Er hat keine Erkenntnis seiner selbst unabhängig von der Welt, die er hervorbringt, ebensowenig wie er unabhängig von der Welt für sich selbst etwas ist. In diesem Fall aber wäre die Rede von einem persönlichen Schöpfergott von Jacobis Perspektive aus irreführend. Was auf den ersten Blick vielleicht als Widerlegung Jacobis erscheint, ist damit vor allem eine Diskussion, die auf die von Jacobi aufgeworfenen Probleme zunächst einmal gar nicht wirklich eingeht. Das liegt nicht zuletzt an dem Umstand, dass es sich an dieser Stelle der Freiheitsschrift noch um eine, wie Schelling formuliert, »allgemeine Deduktion« (FS 347) handelt, die er selbst als »für den tiefer Sehenden« (ebd.) ungenügend erachtet. Dennoch ist er der Auffassung, dass diese allgemeine



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Deduktion immerhin ausreiche, deutlich zu machen, »daß die Leugnung formeller Freiheit mit dem Pantheismus nicht notwendig verbunden sei« (ebd.). Die »allgemeine Deduktion« aber kann als Widerlegung höchstens insofern erscheinen, als die Gegner selbst in diesem Zusammenhang auf eine allgemeine Ebene gebracht und auf bestimmte Begriffe reduziert werden, die ihrerseits kaum anders denn als Schlagworte bezeichnet werden können. Als derartige Schlagworte können hierbei nicht mehr nur die Begriffe Fatalismus und Pantheismus gelten, sondern auch der des »Systems«110 ebensosehr wie der des »Spinozismus«.111 Heißt es etwa schon zu Beginn bezüglich des »Systems«, dass man nicht wissen könne, »welche beschränkenden Vorstellungen« (FS 336) damit verbunden seien, so gilt dieselbe Unklarheit im Fortgang auch für die Bezeichnung ›Spinozismus‹, denn was, so Schellings Frage, »versteht man denn unter Spinozismus? Etwa die ganze Lehre, wie sie in den Schriften des Mannes vorliegt, also z. B. auch seine mechanische Physik? Oder nach welchem Prinzip will man hier scheiden und abteilen, wo alles so voll außerordentlicher und einziger Konsequenz sein soll?« (FS 347 f.). Im Kontext der einleitenden Überlegungen scheint der Begriff letztlich nur noch als eine Art Chiffre für jede Art von Materialismus zu gelten, zu dem nun auch der französische Materialismus gerechnet wird, von dem sich Schelling selbstverständlich abgrenzt. Auch die sich anschließende Behauptung, der hier besprochene Gegner – wen auch immer man sich darunter zu denken habe – habe vor allem die Absicht, vor der »verderblichen Philosophie überhaupt« zu warnen und die Deutschen »auf das Herz, das innere Gefühl und den Glauben« (FS 348) zurückzuführen, scheint einerseits sehr wohl an Jacobis Adresse gerichtet zu sein, obwohl er zugleich an dessen tatsächlicher Auffassung deutlich vorbeigeht. Insofern wäre es vielleicht naheliegend, bei dieser Darstellung gar nicht so sehr an Jacobi selbst, sondern vielmehr an solche Zeitgenossen Schellings zu denken, die dessen These unbesehen und in einer allgemeinen Form übernommen haben, bei denen, mit anderen Worten, die Vernunftkritik selbst zum Gemeinplatz geworden ist. Als Adressat dieser Auseinandersetzung stellt man sich dann religiöse Eiferer vor, die der Philosophie eigentlich fernstehen und denen daher zu Recht auch die oben zitierte »dialektische Unmündigkeit« zugesprochen werden kann. Dass es sich so allerdings nicht verhält, zeigt sich zum einen 110 

Dieses Problem ist m. E. keineswegs nebensächlich, vor allem, wenn man die durch Heidegger angeregte Diskussion betrachtet, die sich mit der Gegenüberstellung von »System« und »Leben« beschäftigt. Hier wird offenbar die Frage zum Problem, was Schelling selbst eigentlich unter »System« versteht. Vgl. dazu die entsprechenden Überlegungen im 2. Kapitel der vorliegenden Arbeit. 111  Tatsächlich scheint mir hier ein Grundproblem der Auseinandersetzung mit Jacobi zu liegen, das in weiten Teilen auf Mißverständnissen beruht, die sich der ungenauen Bestimmung zentraler Begriffe und Argumente verdanken. Dafür ist allerdings wohl auch die komplizierte Darstellungsart der Jacobischen Kritik verantwortlich zu machen, die Schelling selbst im Denkmal moniert.

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daran, dass viele Formulierungen doch immer wieder eindeutig an Jacobi selbst verweisen, so etwa die Rede davon, dass man »die Folgen [verabscheute], ohne sich von dem Grund der Denkweise selbst befreien oder zu einer bessern erheben zu können« (FS 348). Vor allem aber bestätigt das kurz nach der Freiheitsschrift verfasste Denkmal auf Jacobi, das über weite Strecken weniger als sachliche Auseinandersetzung denn als persönliche Abrechnung mit dem Gegner zu verstehen ist,112 dass Schelling mit dem dialektisch unmündigen, religiösen Eiferer und Vernunfthasser tatsächlich Jacobi selbst meint. Dennoch belegt das Denkmal, auf das an späterer Stelle explizit zurückgekommen werden soll, auch in der sachlichen Auseinandersetzung die hier geschilderte Vernachlässigung der eigentlichen Argumente Jacobis, die daher durch die vermeintliche Widerlegung keineswegs aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt werden. Jacobis Kritik ist dadurch noch nicht entkräftet, wie sich im Weiteren erhärten wird. Der wahre Fehler Spinozas Jacobis Auffassung, dass jeder Pantheismus, d. h. jedes System der Immanenz notwendig fatalistisch sein müsse, wird von Schelling also zurückgewiesen. Daher kann der Fehler Spinozas hier auch nicht begründet liegen. Aus der bisherigen Darstellung ging allerdings noch nicht hervor, worin sich ein freiheitlicher von einem fatalistischen Pantheismus unterscheiden solle; das einzige Argument, das für die Aufhebung der Freiheit im Pantheismus sprach, bestand in dem Hinweis auf das unangemessene Identitätsverständnis. In dieser Hinsicht aber wird Spinoza mehrmals als positives Vorbild erwähnt, weil er auf eindeutige Weise zwischen Gott und den Dingen unterschieden hatte. Selbst die Ansicht, eine Folge aus der unendlichen 112 

Gerade die spätere Auseinandersetzung Schellings mit Jacobi, wie sie sich zum Beispiel in den Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie ausdrückt, vor allem aber die ständige implizite Weiterbeschäftigung mit der Vernunftkritik Jacobis belegen, dass es sich bei dieser Schrift vor allem um den unmittelbaren Ausdruck der persönlichen Getroffenheit Schellings durch Jacobis Kritik handelt. Die starke Reaktion Schellings auf Jacobis Kritik ist insofern verständlich, als Jacobi zwar m. E. auf einer sachlichen Ebene bleibt und die Gegner oft namentlich nicht einmal erwähnt, zugleich aber wenig zimperlich mit ihnen verfährt. Dass Schelling sich durch Jacobi auch persönlich angegriffen fühlt, bringt er mehrfach offen zum Ausdruck. So heißt es z. B., dass Jacobis Rede »den Sinn künstlich, indem sie von einer innersten Überzeugung spricht, in’s Persönliche hinüber« spiele (DJ 18). Gerade der Atheismusvorwurf (vgl. Schellings Formulierung, die »fremde Zuthat« durch Jacobi habe seine Rede »nicht schlechter, sondern absolut schlecht, nämlich atheistisch gemacht (DJ 28, Anm., Herv. Sch.), verbunden mit dem fast noch schwerer wiegenden Vorwurf einer absichtlichen Täuschung, muss Schelling tief getroffen haben, dessen späte Philosophie sich ja unter anderem als der Versuch einer systematischen Verbindung von Philosophie und christlicher Theologie präsentiert. In diesem Sinne betont Gunter Wenz, dass »das Lügenverdikt ins innere Zentrum des Streits« (Wenz (2011), S. 73) verweise. Vgl. dazu auch Oberdorfer (2010).



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Substanz könne eine »eigne besondere Substanz (wenn gleich Folge von A [d. h. der Substanz, K.S.]« (FS 344) darstellen, wurde von Schelling als durchaus noch mit dem Spinozismus vereinbarer Gedanke präsentiert. Überhaupt schien sich das Problem des undialektischen Identitätsverständnisses mehr auf die Interpreten als auf die Verfasser pantheistischer Systeme zu beziehen, da den Kritikern des Pantheismus ein derart falsches Identitätsverständnis zugeschrieben wurde, das es ihnen nicht zu erlauben scheint, die Wahrheit des Pantheismus zu erkennen. Worin aber besteht dann Spinozas Fehler? Spinozas System sei – so die »ein für allemal« aufs Bestimmteste ausgedrückte Meinung Schellings über den Spinozismus – »nicht Fatalismus, weil es die Dinge in Gott begriffen sein läßt« (FS 349). Spinoza müsse »also aus einem ganz andern und von jenem unabhängigen Grund Fatalist sein. Der Fehler seines Systems« liege denn auch »keineswegs darin, daß er die Dinge in Gott setzt, sondern darin, daß es Dinge sind – in dem abstrakten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichen Substanz selber« (ebd.). Wer nun damit gerechnet hatte, hier einen ganz neuen und originellen Einwand gegenüber Spinoza zu finden, wie es die Vorstellung einer grundlegend neuen Einsicht wohl nahelegt, der wird durch diese Aussage allerdings enttäuscht. Denn dass Spinoza ein Ding an die Stelle des Unbedingten gesetzt hatte, war ja bereits die These der Ichschrift gewesen, die sich in die Konzeption der Briefe hinein erhalten hatte. Doch war auch hier schon deutlich geworden, dass diese Kritik Spinoza in Wahrheit gar nicht betraf, weshalb Schelling an entscheidenden Stellen auch immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass Spinoza diesen Fehler ›eigentlich‹ gar nicht begangen habe und dass letzten Endes nur der falsche Blick auf Spinoza dessen System als Dogmatismus erscheinen lasse. Dass es sich gerade nicht so verhält, hatte eben die Identitätsphilosophie gezeigt, in der Spinoza von dem Vorwurf des Dogmatismus rehabilitiert wurde. Was aber bedeutet das nun für diesen neuerlichen Versuch, Spinoza zu widerlegen, und »ein für allemal« klarzumachen, wie Schelling sich von Spinoza abgrenzen will? Ist es ein einfacher Rückgriff auf die Position vor der Identitätsphilosophie? Das zumindest scheint nach den in der Identitätsphilosophie gewonnenen Einsichten auf Anhieb eher unplausibel. Dennoch weist in der Darstellung Schellings alles darauf hin, dass er hier auf frühere Konzeptionen Bezug nimmt. Spinoza erhält nun wieder den Part des einseitigen Realisten zugewiesen, dessen System dem des Idealismus entgegengesetzt ist, und der die Freiheit des Subjekts der Kausalität eines fremden Objekts unterordnen will. Auch der Verweis Schellings auf seine »ersten Schriften«, in denen sich »die vielen Erklärungen« »über diesen Punkt« finden, weist auf einen solchen Rückgriff hin. Und doch ist der Einwand gegenüber der früheren Zeit modifiziert, wie sich im Folgenden zeigen wird. Der Vorwurf, Spinoza habe alles, die einzelnen Dinge wie die unendliche Substanz, ja den Willen selber als Ding behandelt, und sein System sei deswegen vollkommen unlebendig, setzt sich aus zwei Aspekten zusammen, die in dem Aus-

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druck, sein System sei ein einseitiger Realismus, zusammenfließen. Einmal ist da der bekannte Vorwurf des Realismus. Geht man mit Schelling davon aus, dass das Reale das ist, was dem Verstand entgegengesetzt ist, so gelangt man wieder auf die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, die die Grundlage der Überlegungen in den Briefen bildete. In einer Philosophie, die auf Persönlichkeit und Selbstbewusstsein zielt, kann Tätigkeit nur eine solche sein, die in dieser Gegenüberstellung dem Subjekt, nicht aber dem Objekt zukommt. In einem solchen Zusammenhang ist auch Schellings Argument nachvollziehbar, warum erst der Idealismus einen wahren Freiheitsbegriff erlangt haben soll, der zuvor – auch in den Systemen von Spinoza und Leibniz, wie Schelling betont – noch nicht vorhanden gewesen sein soll. Erkennt man einen Unterschied der Tätigkeit von Subjekt und Objekt, in der Weise, dass die subjektive, d. h. eine im Zusammenhang mit Bewusstsein und Persönlichkeit gedachte Tätigkeit, der objektiven überlegen sein soll, so wäre man allerdings schon über die Konzeption der Briefe hinaus, die die beiden Systeme ja zumindest theoretisch als gleichwertig ansah. Geht man also davon aus, dass dem Subjekt die wahre Tätigkeit zukommt, so ist das Objekt im Gegensatz dazu als tot, als bloß passiver Erkenntnisgegenstand bestimmt. Allerdings verkennt diese von der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt ausgehende Betrachtungsweise vollkommen, was ein Realismus im Sinne Spinozas wirklich ist, und niemand weiß das besser als Schelling, der seinen eigenen Begriff von Realität als Einheit der Gegensätze von Subjekt und Objekt in der Identitätsphilosophie auch deshalb in Anlehnung an Spinoza gedacht hatte. Immer schon ging es Schelling um eine Position, die nicht bloß idealistischer Natur sein sollte, in der es also nicht nur um Bewusstseinsinhalte ging; von Beginn an war er der Auffassung, dass es um eine Realität geht, die zugleich auch, aber eben nicht nur Bewusstseinsinhalt ist. »Wer etwas weiß,« so Schelling in der Ichschrift, »will auch, dass sein Wissen zugleich Realität habe« (I, 162). Gerade Spinoza mit seiner Auffassung des Parallelismus von Denken und Sein bot sich darum als Modell für das eigene Denken an. Realität ist demnach auch für Spinoza kein Begriff, der einer Idealität gegenüberstehen würde. Realität bedeutet für Spinoza vielmehr eine Seinsfülle, denn »[j]e mehr Realität oder Sein ein jedes Ding hat, umso mehr Attribute kommen ihm zu«.113 Infolgedessen ist Gott, der unendlich viele Attribute hat, in denen er sich ausdrückt, auch die höchste Realität. Sein Wesen, die Macht, unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen hervorzubringen, ist keine bloß modal gedachte Potentialität, sondern sie ist immer zugleich erfüllt. Alles, was Gott hervorbringen kann, bringt er auch wirklich hervor. Warum Schelling nun dennoch meint, Spinoza sei ein einseitiger Realist und daher ein Denker der toten Dinge muss sich vor dem Hintergrund der Identitätsphilosophie anders erklären lassen. Nicht der Vorwurf des Realismus ist hier aus113 

Ethik I, LS 9.



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schlaggebend, sondern der der Einseitigkeit seines Systems. Wie sich nämlich im Fortgang zeigt, ist der Idealismus dem Realismus nicht eigentlich überlegen, solange auch er ein bloß einseitiger Idealismus bleibt. Ein lebendiges System bedarf beider Seiten. Der Realismus kennt nur die Natur, von Bewusstsein und Geist kann er nicht reden. Umgekehrt kennt der Idealismus nur das Bewusstsein und den Geist, ohne von der Natur reden zu können. Da aber beides zusammengehört und nur im Zusammenhang verstanden werden kann, verfehlen beide Positionen selbst das, worauf sie sich einseitig konzentrieren. So hat der Realismus notwendig eine falsche Auffassung von Natur, eben weil sie sich abgetrennt von den Prinzipien des Idealismus notwendig wie ein totes Ding darstellt, während der Idealismus auch nur über einen defizitären Geistbegriff verfügen kann, weil ihm die reale Seite fehlt. Nun ist aber auch diese Behauptung in Bezug auf Spinoza durchaus problematisch, und auch das weiß Schelling eigentlich besser. Immerhin ist gerade seine Naturphilosophie deshalb auf den Grundlagen des Spinozismus errichtet worden, weil dieser kein einseitig-totes Verständnis der Natur präsentiert. Spinoza konnte als idealer Bezugspunkt gelten, weil sich mit ihm eine Natur denken ließ, die als durchweg beseelt und göttlich galt, weil sie nicht aus der Gegenüberstellung von Natur und Geist, sondern aus ihrer Einheit heraus gedacht war. »Alles, was auch durch Freiheit in der idealen Welt sich zu entwickeln scheint«, so Schelling 1806 in Anlehnung an Spinoza und im Zusammenhang mit dem Parallelismus von Denken und Sein, »liegt der Möglichkeit nach schon in der Materie; die Materie kann eben daher nicht das tote, rein reale Wesen sein, für welches sie genommen wird« (VI, 549). Die »erkannte Einheit des Dynamischen mit dem Gemütlichen und Geistigen«, die die »lebendige Basis« der Naturphilosophie bildete, ging tatsächlich auf Strukturen des spinozischen Systems zurück, ohne dass dazu eigentlich, wie Schelling hier behauptet, eine Vergeistigung des spinozischen Grundbegriffes nötig gewesen wäre. Zugleich wird aber nun im Blick auf das gesamte System eine Problematik aufgeworfen, die bereits hinsichtlich des Zusammenhangs der Identitätsphilosophie mit der Naturphilosophie eine Rolle spielt. Hier in der Freiheitsschrift nämlich bezeichnet Schelling seine Naturphilosophie als den bloß reellen Teil des »eigentlichen Vernunftsystems«. Obwohl also die Naturphilosophie nun selbst schon auf einer lebendigen Basis errichtet war, die durch die Einheit von Natur und Geist bestimmt ist, soll dieser Naturphilosophie noch einmal eine Geistphilosophie gegenübergestellt werden, die allererst das Thema der Freiheit behandeln kann. Der Vorwurf der Einseitigkeit scheint für Schelling auch insofern zentral, als er seine eigene Denk- und Systementwicklung entscheidend mitbetrifft. Auf dieses Problem zurückführende Unklarheiten sind schon anhand der Konzeption der Briefe zu erkennen. Dort nämlich war nicht eindeutig zu erkennen, ob das Gegenstück zu Spinoza im Kritizismus allein, oder nicht vielmehr in der gesamten, aus beiden Systemen bestehenden Anlage bestehen sollte. Ein ähnliches Problem ent-

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steht im Blick auf den Zusammenhang von Natur- und Identitätsphilosophie. Im Ausgang von der Konzeption der beiden komplementären Systeme, wie sie im System des transzendentalen Idealismus dargelegt ist, wäre einerseits zu vermuten, dass die Naturphilosophie nur den einen Teil darstellt, und andererseits schien sich das Identitätssystem selbst mit der Naturphilosophie zu decken, insofern die Natur, von der hier die Rede war, ganz im Sinne des Naturbegriffes bei Spinoza, alles umfassen sollte. Dieser Umstand war es eben, der Jacobis Kritik auf den Plan rief, hier werde die Natur selbst vergöttert, denn »alles sey Natur, und außer und über der Natur sey Nichts« (III, 386). Daher erstaunt es nicht, dass auch die Darstellung des Systemaufbaus, wie Schelling ihn in der Freiheitsschrift skizziert, von der Problematik betroffen ist. Einerseits scheint es, als wäre der Terminus Identitätsphilosophie der umfassende Begriff. Die Identitätsphilosophie liefert, so ließe sich zumindest annehmen, die Grundlagen für das gesamte System. Dementsprechend wäre die Naturphilosophie nur der eine Teil, der nun noch durch eine Geistphilosophie ergänzt werden muss. Die Frage nach der Freiheit hat erst hier ihren Ort, weil sie ein geistiges Phänomen darstellt. Damit wäre wieder eine Konzeption erreicht, wie sie vor der Identitätsphilosophie, etwa im System des transzendentalen Idealismus dargestellt worden ist. Schellings spätere Darstellung seines Systems in den Münchner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie, in der er eine kontinuierliche Entwicklung seines Systems im Ausgang von der Naturphilosophie behauptet, unterstützt diese Deutung. Andererseits aber ist es nicht so, dass die Freiheitsschrift auf dem System der absoluten Identität einfach aufbaut. Im Gegenteil, das, was Schelling hier so vehement kritisiert, ein System der »abgezogenen Begriffe«, ein bloß abstraktes und somit unlebendiges System, das mit einer reinen Identität operiert, scheint gerade auf sein eigenes Identitätssystem zuzutreffen. Hinter der Kritik an Spinoza verbirgt sich daher auch eine Kritik an derjenigen Philosophie, die sich an dessen Vorbild orientiert hatte. Somit stellt die Freiheitsschrift keine Ergänzung dar, die sich mit dem Geist ›über‹ der Natur befasst, sondern eine grundlegende Modifikation des identitätsphilosophischen Ansatzes. Wenn aus der Natur ein Geist, aus der Naturphilosophie eine Geistphilosophie erwachsen soll, so muss das in der Natur selbst bereits angelegt sein.114 Ein entscheidendes Problem 114 

Die unklare Haltung Schellings in dieser Frage wirkt sich auch in der Argumentation des Denkmals aus. So scheint es einerseits, als ginge Jacobis Behauptung, Schelling setze die Natur an die Stelle Gottes, darum fehl, weil er die wesentlichen Aspekte der Freiheitsschrift, nämlich den dort ausgeführten Dualismus von Grund und Existenz, nicht berücksichtige. Tatsächlich ist dies insofern der Fall, als sich Jacobis in den Göttlichen Dingen formulierte Kritik an Schelling nicht auf die Freiheitsschrift, sondern auf die Identitätsphilosophie bezieht. Andererseits aber scheint Schelling auch die Identitätsphilosophie vor den Vorwürfen Jacobis rechtfertigen zu wollen. Vgl. DJ 26 f.: »Ich habe in der Vorrede zur ersten Darstellung meines Systems erklärt, daß Spinozismus in einem gewissen (auf keinen Fall Jacobischen Verstande) die eine, vorangehende, reale, der idealen nothwenig unterzulegende Seite aller wahren Philosophie sei. Bei dieser Behauptung bin



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der Identitätsphilosophie bestand nun offenbar darin, dass aus der reinen Identität, die zugleich als reine Affirmation, also als reine Position gedacht war, keine Unterschiede hervorgehen konnten. Es fehlte ein Begriff der ›positiven‹ Negativität, die nicht nur aus der Perspektive des Menschen im Sinne einer eigentlich bloß nichtigen Bestimmung, sondern aus dem Absoluten selbst hervorging. Es fehlte also, um es anders zu sagen, eine Dualität in der höchsten Identität, die die Differenzierung bis hin zum endlichen Wesen erklären könnte. So wird nun die Kritik an der Einseitigkeit der absoluten Identität zum entscheidenden Punkt. Die Identität darf selbst nicht einseitig, sondern muss in sich differenziert, d. h. lebendig gedacht werden. Der Fehler Spinozas führt damit zurück auf das, was schon im Zusammenhang mit Jacobi als Ausweg aus dem Fatalismusproblem des Pantheismus thematisiert wurde. Grundlage für ein freiheitliches Vernunftsystem ist das richtig verstandene Identitätsverständnis, ein Identitätsverständnis, das nicht abstrakt und einseitig, sondern in sich belebt und schöpferisch verstanden werden muss. Ein Identitätsverständnis, das zugleich Differenz einschließt, und zwar in einer radikalen Form. Die Negation darf keine bloße Einschränkung darstellen, sie muss eine eigene, positive Form haben. Sie muss auf theoretischem Gebiet erklären können, wie der Mensch die falsche, die verkehrte Perspektive einnehmen kann, praktisch muss sie zeigen, wie der Mensch sich gegen Gott kehren kann. In diesem Sinne wird auch das Problem des Bösen zu einem zentralen Thema der Freiheitsschrift, denn gerade an der Freiheit zum Bösen scheint sich zu bewähren, ob sich eine wirklich positive Abweichung von der absoluten Position der Identität denken lässt. Die entscheidende Frage der Freiheitsschrift ist damit wohl die, wie sich eine wirkliche Dualität in einer wirklichen Identität denken lasse. Denn ginge man so weit, die Identität fallen zu lassen und ein System als »die Lehre von zwei absolut verschiedenen und gegenseitig unabhängigen Prinzipien« (FS 354) aufzustellen, so könnte dies nur auf ein »System der Selbstzerreißung und Verzweiflung der Vernunft« (ebd.) führen. Indem die Identität bloß Identität war, blieb sie abstrakt und unlebendig. Aus der absoluten Identität konnte nichts hervorgehen. Aus diesem Grund fordert Schelling nun eine neue, eine schöpferische Identität. Die Identität der vorangegangenen Phase war als ewig und zeitlos bestimmt, und der ihr angemessene Standpunkt als Standpunkt der Vernunft bestimmt, auf dem die Zusammenhänge in ihrer ewigen Wahrheit erkannt werden. Die Zeit hingegen galt der Identitätsphilosophie als bloße Zutat der Imagination, die in der Philosophie überwunden werden muss. Ein ich geblieben bis jetzt, und habe sie durch die That wahr zu machen gesucht. Insofern hat die Aussage: die Identitätslehre sei spinozistisch, nichts gegen sich, sobald hinzugesetzt wird, sie sei es einem Theil, einem Elemente nach, gleichwie es nichts Verfängliches hat zu sagen, der Mensch sei ein physisches Wesen, sobald es nicht bedeuten soll, er sei nur dieses.«

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Prozess der Schöpfung also, wie er in der Freiheitsschrift gedacht wird, eine Entwicklung von der Natur bis hin zur höchsten Vollendung von Natur und Geist in der vollkommenen Liebe Gottes war darum aus Sicht der Identitätsphilosophie aus völlig undenkbar. Der wahre Fehler Spinozas, wie ihn die Freiheitsschrift behauptet, ist also mindestens ebensosehr der entscheidende Fehler der Identitätsphilosophie. Letztlich scheint es dabei ganz wesentlich auch um die Frage der Darstellungsart zu gehen, um Begrifflichkeit und Sprache, aber auch um die Form der Darstellung. War diese noch in der Identitätsphilosophie nach dem Vorbild Spinozas an dem Ideal des streng aufeinander aufbauenden Beweisganges more geometrico orientiert, so wird dies nun entschieden abgelehnt. Die Leblosigkeit des Systems Spinozas (und damit auch des identitätsphilosophischen Systems) besteht nicht zuletzt in der »Gemütlosigkeit der Form« (FS 349), sowie der »Dürftigkeit der Begriffe und Ausdrücke« (ebd.) und der »abstrakten Betrachtungsweise« (ebd.). »Fehlt einer Philosophie dieses lebendige Fundament, […] so verliert sie sich in jene Systeme, deren abgezogene Begriffe von Aseität, Modifikationen usw. mit der Lebenskraft und Fülle der Wirklichkeit in dem schneidendsten Kontraste stehen« (ebd.). Schelling folgert daraus, dass die »Lehre vom Begriffensein aller Dinge in Gott […] zum wenigsten erst belebt und der Abstraktion entrissen werden [müsse], ehe sie zum Prinzip eines Vernunftsystems werden kann« (ebd.). Kritisiert werden damit aber gerade nicht die tatsächlichen Strukturen des spinozischen Systems, die Jacobis Kritik motivierten, sondern die Art, wie diese präsentiert werden. Schelling bleibt, wie sich zeigen wird, in weiten Teilen doch bei dem Programm, die tragenden Strukturen des spinozischen Systems beizubehalten und sie nur anders, und zwar dieses Mal lebendiger, d. h. mit mehr Bezug zum menschlichen Leben auszudeuten, indem er sich zugleich einer bildlich-anschaulichen Sprache bedient. Von Jacobis Perspektive aus betrachtet wirft allerdings gerade dieses Vorgehen Probleme auf, weil zunächst fraglich bleibt, ob sich auf der Grundlage der genannten Strukturen diejenigen Phänomene überhaupt denken lassen, die hier zum Zwecke der Belebung »eingefügt« werden, ob sich nicht also, anders gefragt, strukturelle Anlage einerseits und ihre Belebung andererseits gegenseitig widersprechen. In diesem Fall entstünde bloß der Anschein, dass die Freiheitsschrift tatsächlich von menschlicher Freiheit, von Persönlichkeit und moralischem Handeln reden kann, obwohl grundlegende Züge des Systems in eine andere Richtung deuteten. Oder aber, andersherum betrachtet, es entstünde nur der Anschein, dass es sich bei der Freiheitsschrift noch um ein konsequent vernünftiges System handelt. Ein solches Verfahren könnte aber wohl eher als Verschleierung des Dilemmas denn als besondere Zuspitzung betrachtet werden, die die Notwendigkeit eines ganz neuen Anfangs im Sinne Heideggers deutlich machen könnte. An diesem Punkt der Betrachtung sind darüber jedoch allenfalls Vermutungen anzustellen, die sich in der folgenden Darstellung noch als zutreffend erweisen müssen. Betrachtet werden müssen dazu zunächst die



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entscheidenden Strukturmomente, auf die sich die Darstellung des Hauptteils der Freiheitsschrift gründet.

4.2 Der Hauptteil der Freiheitsschrift und seine Grundstrukturen Schöpferische Identität – Integration einer Dualität – die Unterscheidung von Grund und Existenz Im Gegensatz zu der früheren Forderung nach dem Standpunkt sub specie aeternitatis, der sich unter anderem dadurch ergab, dass vom Absoluten und damit von einer intellektuellen Anschauung des Absoluten ausgegangen wurde, ist es nun die Forderung nach Lebendigkeit, nach Integration von »Lebenskraft und Fülle der Wirklichkeit« (FS 356), die zu den grundlegenden Änderungen der Schrift führt. Um eine solche Lebendigkeit zu erreichen, muss anstelle der abstrakten von einer lebendigen und schöpferischen Identität ausgegangen werden, von einer Identität, die bereits eine Pluralität, oder besser gesagt eine Dualität in sich aufgenommen hat.115 Diese Dualität ist von entscheidender Bedeutung, da sie insgesamt zu einer Auflockerung des starren Identitätsdenkens führen soll, in dem überall alles ewig und durch reine Notwendigkeit bestimmt ist. Wie es scheint, eröffnet sie einen Raum zwischen den verschiedenen Momenten, die damit gegeneinander beweglich werden sollen. Die Bewegung, die auf diese Weise denkbar werden soll, setzt den Gedanken einer Zeitlichkeit voraus, der im Gegensatz zur Identitätsphilosophie eine grundlegende Rolle spielt, auch in Hinblick auf den Schöpfungsgedanken, der hier zeitlich ausformuliert wird. Der Zwischenraum, der sich eröffnen soll, bildet zugleich einen Spielraum im Sinne der Möglichkeit zur Abweichung von der absoluten Notwendigkeit, die daher auch die Möglichkeit der menschlichen Freiheit ist, wie sie hier gedacht werden soll. Die Freiheit des Menschen als Freiheit zum Guten und Bösen geht damit ebenfalls auf die ursprünglich in der Identität gesetzte Dualität zurück. Alles hängt somit, wie sich zeigt, an der konkreten Umsetzung dessen, was in der Einleitung mit dem Hinweis auf das schöpferische Identitätsverständnis bereits angedeutet wurde. Wie eine solche Dualität in der Identität zu denken sei, soll hier zunächst mithilfe der Vorstellung von Persönlichkeit veranschaulicht werden, die in der Freiheitsschrift als Garant für lebendige Identität gilt und die wohl als ein mit sich identisches und 115  Im

Zuge dieser Einstellung entwickelt sich der Begriff des Lebens als eine Art Gegenbegriff zum System, wobei sich ›Leben‹ in etwa so zum ›System‹ verhalten dürfte, wie sich der freiheitliche Pantheismus zum Spinozismus verhält, d. h. vor allem wie eine belebte Fassung dessen, was unter der abstrakten Perspektive starr und leblos erscheint.

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zugleich in sich unterschiedenes Wesen gedacht werden soll. Die Persönlichkeit ist insofern einer der Schlüsselbegriffe, gewissermaßen eine der grundlegenden Ideen, auf der die Freiheitsschrift aufbaut.116 Mithilfe des Konzepts von Persönlichkeit soll zudem der Unterschied deutlich werden, der Schellings System vom einseitigen Realismus einerseits und vom einseitigen Idealismus andererseits abgrenzen soll. Der einseitige Realismus nämlich kann Schelling zufolge den Menschen nur als Ding denken, das auch dann, wenn es wie bei Spinoza als denkendes Ding bestimmt wird, dennoch ein totes Etwas bleibt und nie ein lebendiges Geistwesen erklären kann. Persönlichkeit kann auf dieser Grundlage nicht gedacht werden, noch weniger sogar als im Idealismus. Dieser, wenn er einseitig bleibt, denkt den Menschen als bloß bewusstes Selbst, d. h. als einen Fall von Selbstbewusstsein. Doch ist der ganze, der lebendige Mensch in seiner Selbsterfahrung auch damit noch nicht treffend beschrieben, denn er ist mehr und anderes als nur Selbstbewusstsein. Angemessen wird das Verständnis erst dann, wenn der Mensch als Persönlichkeit aufgefasst wird, und das heißt – Schelling zufolge – als lebendige Einheit der bewussten Existenz mit einem realen und unbewussten Moment, oder auch als »Verbindung eines Selbständigen mit einer von ihm unabhängigen Basis« (FS 394). Was für den Menschen gilt, soll zugleich auch für das wahre Verständnis Gottes ausschlaggebend sein. Gott selbst ist nur deshalb wahrhaft frei zu nennen, weil auch er Person ist: »Wäre uns Gott ein bloß logisches Abstraktum, so müßte dann auch alles aus ihm mit logischer Notwendigkeit folgen; er selbst wäre gleichsam nur das höchste Gesetz, von dem alles ausfließt, aber ohne Personalität und Bewußtsein davon« (ebd.). Weil Gott aber eben kein logisches Abstraktum, sondern lebendige Persönlichkeit ist, gilt auch, dass die Schöpfung »keine Begebenheit, sondern eine Tat« (FS 395) ist. »Es gibt keine Erfolge aus allgemeinen Gesetzen, sondern Gott, d. h. die Person Gottes, ist das allgemeine Gesetz, und alles, was geschieht, geschieht vermöge der Persönlichkeit 116  So

auch die These des von Thomas Buchheim herausgegebenen Bandes »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität (Buchheim (2004)). Allerdings scheinen die meisten hierin vertretenen Beiträge von der These auszugehen, dass es Schelling in der Freiheitsschrift tatsächlich gelingt, einen grundlegend neuen Blick auf das Verständnis von Persönlichkeit zu ermöglichen. Vor allem Buchheim selbst ist der Überzeugung, dass Schellings »Philosophie der Personalität seine vielleicht größte Gabe an die Nachwelt« sei (Buchheim (2004), S. 8). Das ist mit der obigen These allerdings noch nicht gesagt. Dass Schellings Konzept von Personalität vor dem Hintergrund der Vernunftkritik Jacobis, die den Bezugspunkt auch im vorliegenden Kontext darstellt, letztlich nicht überzeugen kann, macht Birgit Sandkaulen im selben Band überzeugend deutlich (ebd., S. 35–53). Dennoch ist klar, dass diese Fassung des Problems von Persönlichkeit, auch im Blick auf moralische Fragen, gegenüber der idealistischen Fragestellung nach der Autonomie des vernünftigen Menschen zumindest eine neue Perspektive in den Blick bringt, die es gleichwohl gerechtfertigt scheinen lässt, von einer Neuartigkeit des Ansatzes zu sprechen, dessen Bedeutung vielleicht vor allem in der psychoanalytischen Transformation dieser Gedanken erkennbar ist. Vgl. dazu Marquard (1975), S. 21 f.



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Gottes, nicht nach einer abstrakten Notwendigkeit, die wir im Handeln nicht ertragen würden, geschweige Gott« (FS 396). Die Neuerung, um die es in der Freiheitsschrift geht – eine Neuerung, die zugleich auch wieder eine Art Annäherung an die Position Jacobis zu signalisieren scheint – ist damit mit dem Begriff von Persönlichkeit entscheidend verbunden. In diesem Sinne scheint es gerechtfertigt, im Hinblick auf Schelling von einem »personalitätstheoretischen Sonderweg«117 zu sprechen. Andererseits aber ist mit dieser Feststellung keineswegs ausgemacht, ob und wie dieses Konzept tatsächlich über die vermeintlich einseitigen Sichtweisen Spinozas und Fichtes hinauszuführen, und das heißt zugleich, die Defizite der Identitätsphilosophie aufzuheben vermag. Denn die Frage nach der Persönlichkeit zielt nicht zuletzt auf das Problem der positiv verstandenen Endlichkeit und damit zugleich nach der Individualität eines handelnden Selbst, das für Jacobis Überlegungen zentral ist. Gleichwohl ist zunächst einmal offensichtlich, dass diese Art von Dualität, die in der von Schelling gedachten Figur von Persönlichkeit zum Ausdruck kommt, identisch ist mit der ersten, grundlegenden Unterscheidung der Freiheitsschrift, der »Unterscheidung, auf welche die gegenwärtige Untersuchung«, so Schelling, »sich gründet« (FS 357). Dabei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Grund und Existenz, oder, genauer gesagt, zwischen »dem Wesen, sofern es Grund von Existenz ist, und dem Wesen, sofern es existiert« (ebd.). Diese Unterscheidung lässt sich gut veranschaulichen, wenn man sie von der Vorstellung oben geschilderter personaler Struktur her zu verstehen versucht.118 Einerseits meint Person die bewusste Existenz, andererseits aber ist das Bewusstsein auch auf etwas bezogen, das selbst nicht wieder Bewusstsein ist. Dieses, dem Bewusstsein somit vorausliegende Moment, die »reale Basis«, lässt sich nie in Bewusstsein auflösen, nie in Erkenntnis, in Idealität überführen. Wer und was ich als Person bin, entzieht sich daher meinem Verstand und lässt sich nicht erklären. Sofern diese Grundlage meiner Existenz sich also dem Wissen entzieht, und dem Bewusstsein geradezu entgegenzustehen scheint, lässt es sich auch als unbewusstes Moment, als unauflösbarer Grund, und damit für die bewusste Existenz als eine stete Quelle der Unsicherheit und Unverfügbarkeit über das eigene Selbst auffassen. Wie sich an dieser Darstellung schon erkennen lässt, ist die Schwierigkeit des Unternehmens der Freiheitsschrift vor allem an das Moment des Grundes gebunden, ein Moment, das sich der Erklärung entziehen und zugleich im System erklärt werden soll. Auch die Neuartigkeit der Freiheitsschrift steht damit in Verbindung, weil es der Grund ist, der die nach dem Vorbild einer lebendigen Persönlichkeit gedachten Struktur von den idealistischen, 117 

Sturma (2004). z. B. Odo Marquards vergleichende Darstellung von Schellings und Freuds »ZweiTendenzen-Theorie« (Marquard (1975), S. 21). 118  Vgl.

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rein am Selbstbewusstsein orientierten Überlegungen unterscheiden und über sie hinaus führen soll. Bei der hier gedachten Identität geht es nämlich nicht um eine Einheit von Subjekt und Objekt, nicht nur darum, wie ein Subjekt sich selbst zum Objekt werden, sich in Subjekt und Objekt aufspalten und dennoch eins sein kann, denn dann wären wir noch auf dem Standpunkt eines einseitigen Idealismus stehengeblieben, der ein bloß bewusstes und somit rein ideales Selbst denkt, ohne es mit einer realen Basis zu versehen. In diesem Sinne markiert die Unterscheidung von Grund und Existenz den angestrebten Unterschied vor allem zu Fichte. Zugleich aber erkennt man in dem Bestreben, dem idealen, nur bewussten Selbst nun eine natürliche Basis als Grundlage für die lebendige Persönlichkeit zu verschaffen, auch eine Reaktion auf Jacobi, und zwar nicht nur deshalb, weil die Überlegungen zur Person und zum persönlichen Schöpfergott bei Jacobi an exponierter Stelle stehen. In der Überlegung nämlich, dass das selbstbewusste Subjekt eine Einheit bildet mit einem ihm vorgängigen Moment, das sich dem verstehenden Zugriff prinzipiell entzieht, scheint Schelling auch einen Teil der vernunftkritischen Position Jacobis in sein Konzept zu integrieren. Die Figur des Grundes steht auch für das Irrationale als solches, für eine dem Verstand entgegengesetzte Tendenz, die dazu dient, das nicht Erklärbare im System einholen zu können. Im Moment des Grundes nämlich liege die »unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt« (FS 360). Das schillernde Moment des Grundes, dem – wie sich zeigen wird – viele unterschiedliche, schwer vereinbare und doch entscheidende Aspekte zugemutet werden, scheint sich denn auch tatsächlich mit der Vorlage des Spinozismus nicht mehr vereinbaren zu lassen. Mit dieser Grundlage, mit der die Freiheitsschrift denn auch Schellings eigener Aussage zufolge »aufs Bestimmteste von Spinoza« abweiche, müsste das Dilemma von System und Freiheit nun also endgültig zu lösen sein. Grund und Existenz als Momente der causa sui Was allerdings hier genau unterschieden wird, wie also die beiden Momente für sich und in ihrer Beziehung aufeinander bestimmt werden, ist alles andere als leicht zu durchschauen. In Bezug auf das Modell der Persönlichkeit schien zwar die Bestimmung der beiden Momente nachvollziehbar, wie sie aber tatsächlich in ihrer systembegründenden Form hergeleitet und erklärt werden sollen, bleibt noch zu klären, vor allem im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Dualität. Zu Beginn, in der ursprünglichen Formulierung also, in der unterschieden wird zwischen »dem Wesen, sofern es existiert und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist« (FS 357), scheint klar zu sein, dass Grund und Existenz nur zwei Aspekte eines einzigen Wesens darstellen, eines Wesens, das einerseits als Grund



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und andererseits als Existenz auftritt und erfasst werden kann.119 Zugleich geht schon aus der Begrifflichkeit hervor, dass die beiden Momente unmittelbar aufeinander bezogen sind, denn der Grund ist nur insofern als Grund bestimmt, als er den Grund für die Existenz darstellt. Letztlich ist, wie sich zeigen wird, die Frage nach dem Verhältnis von Grund und Existenz nur vor dem Hintergrund einer dreiteiligen Struktur zu verstehen, bei dem das genannte »Wesen«, das sich in Grund und Existenz unterscheidet, und das Verhältnis der Momente von Grund und Existenz zu diesem Wesen selbst von entscheidender Bedeutung ist. Zunächst aber scheint die Sache vergleichsweise einfach. Hinter der Unterscheidung eines Wesens in den Grund seiner Existenz und in seine Existenz selbst darf man die Idee von Selbsthervorbringung und damit die Figur der causa sui vermuten.120 Das ist schon insofern naheliegend, als die Identität ja nun schöpferisch, also hervorbringend gedacht werden soll. Die Unterscheidung des einen, sich selbst hervorbringenden Wesens in zwei Aspekte wäre damit in gewisser Weise eine Auseinanderlegung dessen, was in der Figur der causa sui notwendig immer schon gedacht sein soll, nämlich das Wesen als Hervorbringendes und das Wesen als Hervorgebrachtes, spinozisch gesagt als natura naturans und natura naturata. Das systematische Problem, das dadurch zunächst in den Blick gerät, ist wieder einmal das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem, von Gott und Welt. Die Aufspaltung in die zwei Momente könnte signalisieren, dass beide zwar, insofern es sich um ein einiges Wesen handelt, noch immer als identisch gelten können, dass also das Verhältnis der Immanenz, das Schelling ja nach wie vor als einzig mögliche Lösung betrachtet, unangetastet bleibt, dass aber die Akzentuierung der Dualität zumindest auch eine Betonung der notwendig gedachten Trennung beinhaltet. Inwiefern 119  Für das Verständnis der Unterscheidung scheint es mir zunächst wenig hilfreich, anstelle der Rede vom Wesen im Sinne der Existenz auf der Rede vom »Wesen, sofern es existiert« zu bestehen. Die Frage nach der Natur des Verhältnisses der Momente zueinander und zu der hier als »Wesen« bezeichneten Einheit ist durchaus schwierig und durch die Verwendung der zweifellos korrekten und genaueren Formulierung vom »Wesen, sofern es existiert« keineswegs geklärt. Die Feststellung etwa, dass sich »Existierendes« immer schon auf die Einheit des lebendigen Wesens beziehe (vgl. Hutter (2004), S. 75), wirft ihrerseits Fragen über den Status des Grundes und andererseits über das zweite Moment auf, das in der genannten Synthese neben den Grund zu stellen wäre. In diesem Sinne sind auch Schellings Ausführungen in der Auseinandersetzung mit Eschenmayer in Klammern zu setzen, bei denen Schelling selbst auf diesem Punkt besteht. Vgl. VIII, 164: »Allein ich habe überhaupt nicht von einem Unterschied zwischen der E x i s t e n z und dem Grunde zur Existenz gesprochen, sondern von einem Unterschied zwischen dem E x i s t i e r e nd e n und dem Grund zur Existenz, welches, wie Sie selbst sehen, ein bedeutender Unterschied ist.« Vgl. zu diesem Problem auch die weiteren Ausführungen im Zusammenhang mit den Stuttgarter Privatvorlesungen. 120  Dies bestätigt auch der Blick in das Denkmal auf Jacobi. Vgl. DJ 62: »Gott muß Etwas vor sich haben, nämlich sich selber, so gewiß er causa sui ist. Ipse se ipso prior sit necesse est, wenn es nicht ein leeres Wort ist, Gott sey absolut.«

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aber durch diese Unterscheidung schon die Abweichung von Spinoza garantiert sein soll, bleibt vorerst noch ganz unklar, weil – wie Schelling selbst in der Einleitung hervorhebt – gerade Spinoza die Unterscheidung von Gott und Welt so vorbildlich gedacht haben soll. Tatsächlich lässt sich die Parallele zwischen der Unterscheidung von Grund und Existenz zu Spinoza zunächst noch weiter führen, wenn man dessen Definition der causa sui in die Überlegungen einbezieht.121 Als causa sui definiert Spinoza nämlich ein solches, dessen Wesen Existenz einschließt. Die Unterscheidung toto genere, die Spinoza zwischen Gott und den Dingen trifft und die von Schelling lobend hervorgehoben wurde, beruht denn auch genau auf dem Unterschied, dass Gott causa sui ist, sein Wesen also Existenz einschließt und er mithin notwendig existiert, während das Wesen der Dinge Existenz nicht einschließt, weshalb sie nur durch Gott als ihre Ursache zur Existenz gelangen. Entsprechend der Formulierung Schellings könnte man im Blick auf Spinoza formulieren, dass Gott den Grund in sich, die Dinge hingegen den Grund ihrer Existenz außer sich haben. Gegen diese Parallelen allerdings spricht, dass Schelling gerade an der Figur der causa sui Anstoß nimmt. Da Gott keinen Grund außer sich haben könne, müsse er ihn in sich selbst haben, das, so Schelling, sagten alle Philosophen und nähmen damit notwendig den Begriff der causa sui in Anspruch. Die Mangelhaftigkeit dieses Konzepts aber bestehe darin, dass der Grund nicht »zu etwas Reellem und Wirklichen« (FS 358) gemacht werde, sondern ein bloßer Begriff bleibe. Reell und wirklich werde der Grund dagegen bestimmt, wenn man ihn als die Natur in Gott auffasste, also entsprechend der vorhin erläuterten Beziehung innerhalb der Persönlichkeit als das Moment, das Gott als dem bewussten Selbst vorausliegt. Der Grund in Gott ist »nicht Gott absolut betrachtet, d. h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen.« (ebd.) Als reeller Grund, als »Natur in Gott« sei der Grund zugleich das, was in Gott »nicht Er Selbst ist« (FS 359). Auf diese Weise versucht Schelling zu zeigen, dass und wie sich Identität und Verschiedenheit, wie sich die Einheit der Dinge mit Gott und zugleich deren Unterschiedenheit von Gott erklären lasse. Denn um »von Gott geschieden zu sein, müssen sie«, so Schelling, »in einem von ihm verschiedenen Grunde werden. Da aber doch nichts außer Gott sein kann, so ist dieser Widerspruch nur dadurch aufzulösen, daß die Dinge ihren Grund in dem haben, was in Gott selbst nicht Er Selbst ist« (ebd.). Dies sei denn auch, wie Schelling an dieser Stelle vermerkt, der »einzig rechte Dualismus, nämlich der, welcher zugleich eine Einheit« zulasse (FS 359, Anm.). 121  Vgl.

Sandkaulen (2004), S. 41: Daß Spinozas Definition der causa sui »die Folie dafür abgibt, zwischen dem Grund, nämlich dem Wesen, und dem Existierenden, nämlich der Existenz, zu unterscheiden, ist deutlich.«



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Was aber markiert an diesen Bestimmungen nun wirklich den Unterschied zu Spinoza? Die Frage nach dem Verhältnis von Unendlichem und Endlichem, nach Gott und den Dingen, scheint in dieser Frage zunächst nicht weiter zu führen. Gott hat den Grund als seine Natur in sich, die Dinge aber haben ihren Grund außer sich, nämlich in Gott. Das ist die Position Spinozas, und das scheint auch die Position Schellings zu bleiben, obwohl Schelling an diesem Punkt der Untersuchung gar nicht weiter auf das Problem des Unterschieds zwischen Unendlichem und Endlichem eingeht. Dieses Thema wird erst dort zum Problem, wo es um die menschliche Freiheit geht, wodurch sich noch einmal bestätigt, wie entscheidend das Problem von Identität und Differenz mit der Frage nach der menschlichen Freiheit verknüpft wird. Die Frage nach der Unterscheidung von Gott und den Dingen kommt nämlich eigentlich dort in den Blick, wo es um den »Geist« geht, auf einer Ebene also, die über die der natürlichen Schöpfung bereits hinausgeht. Mit dem Geist geht es bereits um die Frage nach der Einheit der beiden Prinzipien zueinander, die beim Menschen im Gegensatz zu Gott zertrennlich sein sollen. Denn wäre, wie Schelling ausführt, »im Geist des Menschen die Identität beider Prinzipien ebenso unauflöslich als in Gott, so wäre kein Unterschied, d. h. Gott als Geist würde nicht offenbar« (FS 364, Herv. K.S.).122 Da nun aber Gott – wie man ergänzen könnte – als »Er Selbst« wesentlich Geist ist, rückt hier der eigentliche Unterschied zwischen unendlichem Schöpfer und endlichem Geschöpf in den Fokus. Das wiederum bedeutet umgekehrt, dass die natürlichen Dinge – wie es rückblickend scheint – nach wie vor ganz wesentlich in ihrer Einheit mit Gott zu betrachten sind und insofern nichts anderes darstellen als Ausdrücke der göttlichen Natur im Sinne der an Spinoza orientierten Identitätsphilosophie. Erst im Menschen kommt es zu dem entscheidenden Unterschied, der sich in der menschlichen Freiheit zum Guten und zum Bösen äußert.123 Indem der Mensch böse ist (bzw. sein kann)124, unterscheidet er sich tatsächlich von Gott, dessen Wesen die Liebe ist. Allerdings ermöglicht auch diese Unterscheidung noch einen Bezug zu dem oben geschilderten Differenz122 

Vgl. auch FS 373: »Denn wenn Gott als Geist die unzertrennliche Einheit beider Prinzipien ist, und dieselbe Einheit nur im Geist des Menschen wirklich ist: so würde, wenn sie in diesem ebenso unauflöslich wäre als in Gott, der Mensch von Gott gar nicht unterschieden sein; er ginge in Gott auf, und es wäre keine Offenbarung und Beweglichkeit der Liebe.« 123  Vgl. FS 364: »Wäre nun im Geist des Menschen die Identität beider Principien ebenso unauflöslich als in Gott, so wäre kein Unterschied, d. h. Gott als Geist würde nicht offenbar. Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich sein, – und dieses ist die Möglichkeit des Guten und des Bösen.« 124  Zunächst einmal geht es nur um die Möglichkeit der Abweichung des Menschen von Gott, d. h. um die Möglichkeit des Guten und des Bösen. Später aber scheint es durchaus so, als sei die tatsächliche Realisierung des Bösen durch den Menschen, d. h. die realisierte Trennung von Schöpfer und Geschöpf notwendig zur Offenbarung und d. h. zugleich zur Personwerdung Gottes. Dieses Problem soll hier aber weitgehend ausgeklammert werden.

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verständnis bei Spinoza. Weil nämlich nach Schelling gilt, dass Gott den Grund »in« sich hat, kann er ihn auch in seine Gewalt bringen, während der Mensch nur erfolglos danach streben kann. »Auch in Gott«, so Schelling, »wäre ein Grund der Dunkelheit, wenn er die Bedingung nicht zu sich machte, sich mit ihr als Eins und zur absoluten Persönlichkeit verbände. Der Mensch bekommt die Bedingung nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen danach strebt; sie ist eine ihm nur geliehene, von ihm unabhängige; daher sich seine Persönlichkeit und Selbstheit nie zum vollkommenen Aktus erheben kann« (FS 399, Herv. Schelling). Tatsächlich ist der Versuch des Menschen, den Grund, der zwar als Grund seines Selbst, nicht aber – wie bei Gott – als Grund »in« seinem Selbst bestimmt wird, zu seinem eigenen Grund zu machen, gerade als entscheidende Abweichung von Gott, als Heraustreten aus der ›wahren‹ Einheit mit Gott und damit als Sündenfall zu betrachten. Das Bestreben, den Grund in seine Gewalt zu bringen, führt zu dem Versuch des Menschen, sich an die Stelle Gottes zu setzen, »selbst schaffender Grund zu werden« und »über alle Dinge zu herrschen« (FS 390), ein Versuch, der als böse gekennzeichnet wird und zu »Unruhe und Verderbnis« (FS 366) führen soll. Der Umstand also, dass der eine Aspekt der causa sui als das bestimmt wird, das »in Gott nicht Er Selbst ist«, scheint sich damit einerseits nach wie vor im Rahmen spinozischer Strukturen zu bewegen, während er andererseits wesentlich von vornherein auf Überlegungen bezogen werden muss, die erst im Zusammenhang mit der Frage nach der menschlichen Freiheit gestellt werden können. Schon die Rede vom göttlichen Selbst, auf die die Formulierung vom Grund als dem, was in Gott nicht er selbst ist, bezogen ist, zielt ja gerade auf diejenige Dimension, die Jacobi gegenüber Spinoza eingeklagt hatte. Vor dem Hintergrund der Diagnose Jacobis aber, dass auf den Grundlagen einer spinozischen Philosophie die Vorstellungen eines handelnden Selbst und einer verantwortlichen Person nicht denkbar seien, bleibt nach wie vor die Frage im Raum, ob und wie es Schelling gelingt, ein überzeugendes Konzept eines persönlichen Selbst vorzustellen.

Die Vermischung von logischer und realer Ebene im schöpferischen Zirkel Die Bestimmung des Grundes als »Natur« in Gott im Sinne dessen, was »in Gott nicht Er Selbst ist«, stand im Zusammenhang mit der Forderung Schellings, den Grund – im Gegensatz zu den gängigen Konzeptionen von causa sui – zu etwas »Wirklichem und Reellem« zu machen. Das allerdings scheint mit der oben untersuchten Bestimmung noch nicht wirklich gewährleistet. So erstaunt es nicht, dass der Grund noch vielfältige andere Bestimmungen erfährt, die unter anderem auf das Problem einer Eigenständigkeit der Realität abzielen. Diese Frage weist nun einerseits schon voraus auf das Problem von Idealismus und Realismus und auf den



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Versuch Schellings, nicht nur Spinoza, sondern zugleich auch Fichte zu überbieten. Doch auch im Rahmen des Schöpfungsverständnisses ist die Bestimmung des Grundes im Sinne eines »Reellen und Wirklichen« von Bedeutung, weil sie deutlich werden lässt, dass das Verhältnis zwischen Grund und Existenz nicht als bloß logisches, sondern wesentlich als reales Verhältnis gedacht werden soll. Der Grund, darauf besteht Schelling etwa in der Auseinandersetzung mit Eschenmayer, sei keinesfalls als Gegenbegriff zu Folge, also nicht als der logische Begriff von ratio aufzufassen.125 Diese Abgrenzung von der rein logischen Deutung des Grundes ist einerseits insofern nachvollziehbar, als es Schelling hier offensichtlich nicht um eine Philosophie abstrakter Begriffe, sondern um eine Philosophie zu tun ist, die Realität und Leben erfasst. Dennoch scheint es sinnvoll, sich an dieser Stelle noch einmal der Betrachtungen aus der Einleitung zu erinnern, in denen Schelling das Grund-FolgeVerhältnis anführte, das er an dieser Stelle keineswegs rein logisch, sondern im Sinne der Betonung von Schöpfung und Lebendigkeit gerade als ein reales, schöpferisches Verhältnis auslegte. In diesem Zusammenhang wurde bereits auf das Problem der Vermischung logischer und realer Verhältnisse hingewiesen, das von Jacobi anhand der unzulässigen Verwechslung von Grund und Ursache kritisiert wurde. Die Substanz bei Spinoza ist ratio sive causa, und es ist gleichgültig, ob man sagt, dass die Dinge aus Gott folgen, oder ob man davon spricht, Gott bringe die Dinge hervor. Schelling selbst hingegen besteht in der Freiheitsschrift auf der Redeweise, die nach Jacobi der Logik der Ursache zugeordnet werden muss, darauf nämlich, dass die Schöpfung keinesfalls eine Begebenheit, sondern Tat sei,126 die Handlung eines Schöpfergottes, der in diesem Sinne wohl als Ursache bezeichnet werden muss. Insofern scheint es naheliegend, auch an dieser Stelle, d. h. im Zusammenhang mit dem Begriff des Grundes und seiner behaupteten Realität, die Inanspruchnahme des Ursache-Wirkungsverhältnisses zu vermuten, das, wie in Bezug auf die schöpferische Identität schon gezeigt wurde, mit dem logischen Begriff des Grundes zu einem Mischkonzept verbunden wird. Tatsächlich lässt sich vor allem an der Darstellung des schöpferischen Zirkels, der sich aus den beiden Momenten von Grund und Existenz ergeben soll, erkennen, wie Schelling logische und reale Verhältnisse gleichermaßen in Anspruch nimmt, ohne explizit zwischen diesen zwei Bereichen zu trennen. Seine Ausführungen zeigen zugleich, dass es sich bei der Bewegung, die sich aus den Momenten von Grund und Existenz ergeben soll, tatsächlich um eine Ausführung dessen handelt, was 125 

Vgl. VIII, 165, wo Schelling ausführt, dass Eschenmayer den Begriff Grund »in einem von mir gar nicht gedachten dem vulgären Sinne« nehme, indem er ihm »als Correlatum den Begriff Folge« zugebe. 126  Vgl. FS 396.

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Schelling in der Einleitung als schöpferische Identität – und dies durchaus unter Bezugnahme auf das Verhältnis von ratio und consequens – bereits skizziert hatte. »In dem Zirkel, daraus alles wird« ,so ist zu lesen, »ist es kein Widerspruch, daß das, wodurch das Eine erzeugt wird, selbst wieder von ihm gezeugt werde. Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existierenden vorangeht: aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existierte« (FS 358). Mit dieser Darstellung führt Schelling in gewisser Weise genau das vor, was Jacobi schon als Grundoperation Spinozas kritisiert hatte: die Vermischung von Logik und Realität durch die Vermischung (bzw. Verwechslung)127 der Begriffe von Grund und Ursache, die zugleich eine Verbindung unzeitlicher mit zeitlichen Verhältnissen bedeutet. Tatsächlich lässt die Auseinanderlegung der causa sui in zwei Momente und die Beschreibung des schöpferischen Zirkels diesen Zusammenhang vielleicht noch plastischer hervortreten, als dies bei Spinoza selbst der Fall ist. Denn einerseits steht außer Frage, dass in der Freiheitsschrift auf der einen Seite ein reales Werden beschrieben werden soll, ein zeitlich verfasster Prozess also, der von dem Moment des Grundes seinen Ausgangspunkt nimmt und in der Verwirklichung und Offenbarung Gottes in seiner Existenz, in dem also, was nun wirklich »Er Selbst« genannt werden soll, sein Ziel und Ende findet. Andererseits aber macht gerade der zitierte Passus deutlich, dass das Werden auf Grund des schöpferischen Zirkels auf logischen Beziehungen zwischen den Momenten ruht, die gerade nicht zeitlich zu denken sind. Es gibt »kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt« (FS 358). Der Grund ist Voraussetzung für die Existenz, die ohne Grund nicht sein könnte; ebensosehr aber gilt, dass die Existenz Voraussetzung für den Grund ist (»Gott ist das Prius des Grundes«), weil »der Grund, auch als solcher, nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existierte« (ebd.). Diese gegenseitigen Voraussetzungsverhältnisse, die letztlich logisch-begriffliche Verhältnisse sind, werden mit dem Gedanken des Werdens derart verknüpft, dass sie auch begrifflich mit der Vorstellung realen Entstehens verbunden werden: das, »wodurch das Eine erzeugt wird«, sei, so Schelling, »selbst wieder von ihm gezeugt« (ebd.). Das gegenseitige Bedingungsverhältnis wird in ein gegenseitiges Zeugungsverhältnis transformiert. In diesem Sinne ist Gott nicht nur als logischer Grund, als ratio also, sondern zugleich auch als Ursache, als causa, zu 127  Der Unterschied zwischen dem, was Jacobi als zulässige Verbindung einerseits und als unzulässige Verwechslung andererseits bezeichnet, ist an dieser Stelle nicht von Belang. Er wird im Zusammenhang mit der Frage nach Grund und Ursache bei Jacobi und Heidegger im dritten Kapitel erörtert. Vgl. zu dieser Unterscheidung vor allem Sandkaulen (2000), Kap. VII: »Der ›wesentliche Unterschied‹ zwischen Grund und Ursache«, S. 171–228.



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verstehen. Gott als causa sui bleibt so betrachtet auch in der ausformulierten Variante Schellings »ratio sive causa«, bzw. ratio sowohl wie causa 128. Gegen diese Deutung zu sprechen scheint allerdings nicht nur die bereits erwähnte Äußerung gegenüber Eschenmayer, nach der Schelling die Bedeutung des Grundes im Sinne der ratio ausschließt, sondern auch die Auseinandersetzung mit Jacobi, bei der Schelling den Grund auch von dem abzugrenzen scheint, was Jacobi unter dem Begriff der Ursache versteht. Der Grund als das gewissermaßen erste Moment der Schöpfung ist ja eben nicht Gott Selbst, d. h. Gott »im eminenten Verstand« (DJ 62), und darf insofern nicht mit dem Schöpfergott, den Jacobi als Ursache bestimmt, verwechselt werden. Wie steht es also mit diesem zweiten Einwand? Im Denkmal auf Jacobi setzt Schelling dem, was Jacobi als »Beweisgrund« bestimmt und das »über dem« stehe, »was durch ihn bewiesen werden soll«, den »Entwicklungsgrund« entgegen, der allemal »unter dem« sei, »was entwickelt wird. Er setzt das sich aus ihm Entwickelnde über sich, erkennt es als Höheres und unterwirft sich ihm, nachdem er zu seiner Entwicklung gedient hat, als Stoff, als Organ, als Bedingung« (DJ 59). Anstatt also Gott aus einem ihm vorausliegenden, höheren Grunde zu beweisen, gelte es, diesen aus einem »unter« diesem liegenden Grunde zu entwickeln. Was Schelling Jacobi hierbei vorwirft, ist die »Verwechslung von Priorität und Superiorität« (DJ 61). Der Grund sei – dieser Darstellung zufolge – als erstes, nicht aber als überlegenes Moment zu denken. Statt dessen entwickle sich das Höhere aus dem Niedrigen, Ordnung entstehe aus dem Chaos und Verstand aus der Natur. Einerseits widerspricht Schelling damit Jacobis Ansichten tatsächlich auf grundlegende Weise, denn während Jacobi mit dem bewusst handelnden Schöpfergott eine »Intelligenz« an den Anfang setzt, scheint Schelling genau das Gegenteil davon zu fordern. Andererseits aber zeigte ja bereits die Äußerung, die Schöpfung sei keine Begebenheit, sondern eine Tat, in eine ganz andere Richtung. Letztlich macht darum auch die Darstellung im Denkmal ebenso deutlich, was sich schon anhand des schöpferischen Zirkels gezeigt hatte: dass es Schelling um eine Vermischung, bzw. um eine Vermittlung von Positionen und Konzepten geht, die Jacobi zufolge getrennt werden müssen. Im Denkmal handelt es sich dabei um eine Auseinandersetzung mit Jacobis Unterscheidung zweier grundlegender Positionen, des 128  Darauf

weist auch Holger Zaborowski – unabhängig von der Position Jacobis – hin: So sehr die Darstellung versuche, »dem lebendigen Charakter Gottes gerecht zu werden, so sehr handelt es sich auch um einen negativ-philosophischen Gedanken, der, so kann man argumentieren, um der Analogie der Freiheit willen das Moment des Willens und der Freiheit in Gott gewissermaßen begrifflich ›hineinträgt‹ und Gottes Sein um dieses Moment ergänzt. Der Gott der Freiheitsschrift ist zwar ›realer‹ als der Gott des Systems des transzendentalen Idealismus, gleichzeitig aber trägt auch er – trotz der gegenteiligen Beteuerungen Schellings – die Züge eines rein begrifflichen Gottes.« (Zaborowski (2004), S. 63).

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Naturalismus einerseits und des Theismus andererseits. Der Naturalist, so Jacobi, geht von der Natur aus und wählt die Natur als Erklärungsgrund. Geist, d. h. auch Gott, sofern er aus der Natur erklärt wird, ist aber Jacobi zufolge in Wahrheit kein Geist oder Gott, sondern ein zu Gott verklärtes Naturganzes wie schon bei Spinoza. Der Theist hingegen setze den Geist an den Anfang und verstehe die Natur als Schöpfung Gottes. Es könne daher, so eine von Schelling im Denkmal auf Jacobi zitierte Äußerung, »nur zwei Hauptklassen von Philosophen geben, solche, welche das Vollkommenere aus dem Unvollkommenen hervorgehen lassen«, und solche, die umgekehrt verfahren. Schellings Kritik nun richtet sich weniger gegen den Versuch, das Unvollkommene aus dem Vollkommenen verstehen zu wollen als gegen die Ausschließlichkeit der Alternativen. Denn würde dieser »Hauptsatz«, so Schelling, für »wahr befunden«, so müsste er »allen wissenschaftlichen Theismus unmöglich« (DJ 62) machen – eine Konsequenz, die Schelling nicht akzeptieren kann. Mit der Konzeption des Grundes im Sinne des Grundes »in der Tiefe«, der wesentlich als »Natur« bzw. im Blick auf die oben genannten Alternativen als das »Unvollkommene« bestimmt werden muss, scheint sich Schelling allerdings zunächst einmal doch eher auf die Seite der »Naturalisten« zu stellen. Tatsächlich wird diese Deutung durch die auf der Grundlage des schöpferischen Zirkels formulierte Darstellung der aus dem Grund sich entfaltenden Schöpfung unterstützt, wodurch sich Schelling auch in der Freiheitsschrift zunächst als Vertreter des Naturalismus präsentiert und seine Nähe zu Spinoza in dieser Hinsicht erneut unterstreicht. Auffällig ist dabei, dass gerade das von Jacobi eingeklagte Verständnis der Ursache und die damit verbundene Trennung von Ursache und Wirkung, von Schöpfer und Geschöpf, nicht etwa stärker hervorgehoben wird, sondern im Gegenteil erst einmal völlig aus dem Blick zu verschwinden scheint. An die Stelle dieser Unterscheidung nämlich tritt eine ganz andere, die zwischen potentia und actus. Im Grund ist demnach potentiell angelegt, was in der Existenz schließlich verwirklicht und entfaltet wird. »Was aber der Anfang einer Intelligenz (in ihr selbst) ist,« so Schelling im Denkmal, »kann nicht wieder intelligent seyn, indem sonst keine Unterscheidung wäre, es kann aber auch nicht schlechthin nichtintelligent seyn, eben weil es die Möglichkeit einer Intelligenz ist« (DJ 66). Alles – so scheint es dieser Darstellung zufolge – muss im Anfang, im Grunde der Schöpfung also, in irgendeiner Weise mitgedacht werden. Potentiell ist demnach auch das Wesen, sofern es (vorerst) nur Grund ist, schon das, was später zur Entfaltung gebracht wird. Und in gewisser Weise muss der Gedanke einer schöpferisch sich selbst hervorbringenden Identität wohl auch notwendig auf diese Konsequenz führen. Denn nur dann, wenn im Grunde schon all das mitgedacht wird, was in der Existenz zur Entfaltung kommt, kann es sich wirklich um zwei Momente ein und desselben Wesens handeln, das sich im Laufe der Entfaltung seiner selbst bewusst und damit zu dem wird, was Schelling »Er Selbst« nennt. In diesem Sinne aber ist



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die die Freiheitsschrift begründende Unterscheidung von Grund und Existenz und die damit verbundene Hervorhebung einer Dualität in Gott überraschenderweise und entgegen der oben geäußerten Annahme zunächst mal keineswegs der Versuch, einen größeren Abstand zwischen Gott und die Dinge zu setzen, um die Freiheit des Menschen in diesem ›Zwischenraum‹ anzusiedeln. Die Trennung, die Jacobi zufolge mit dem Begriff der Ursache notwendig ins Spiel kommt, wird durch das Verhältnis von potentia und actus weniger betont als zurückgedrängt. Und während Spinoza von Gott als Ursache seiner selbst wie der Dinge immerhin beständig spricht, scheint diese Dimension bei Schelling auch zu Beginn seiner Darstellungen fast vollkommen ausgeblendet. Im Gedanken der internen Ausfaltung eines Wesens von der im Grund nur potentiell eingeschlossenen und in der Existenz schließlich ausgefalteten Realität wird demgegenüber die Vorstellung des a nihilo nihil fit, die Jacobi bereits als Grundgedanken Spinozas bestimmt hatte, von Schelling deutlich unterstrichen. Gott schafft die Welt nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Grunde, der aber kein fremdes Anderes, sondern sein eigenes Wesen ist. Die Dualität tritt zugunsten einer als Immanenz gedachten Identität in den Hintergrund, die die Einheit des Systems und damit die Erklärbarkeit garantieren soll, wie sich dann auch an den Überlegungen zu den Möglichkeiten von Vernunft und System zeigt, die am Ende der Freiheitsschrift stehen. Der »dunkle Grund«, auf dem die Persönlichkeit ruhe, das also, was man dem Denkmal zufolge als »Entwicklungsgrund« bestimmen kann, sei »allerdings auch Grund der Erkenntnis.« Sofern aber der Verstand es sei, der »das in diesem Grund verborgene und bloß potentialiter enthaltene herausbildet und zum Aktus erhebt«, seien es »Wissenschaft und Dialektik« allein, die jenes »uns allen vorschwebende und noch von keinem ganz ergriffene System festhalten und zur Erkenntnis auf ewig bringen werden« (FS 414). In diesem Sinne allerdings gilt nun umgekehrt, dass das Vollkommene letztlich doch nicht aus dem Unvollkommenen entstehen kann und soll. »Nothwendig muß nämlich das Allervollkommenste«, so Schelling erneut im Denkmal, »das­jenige, welches die Vollkommenheit aller Dinge in sich hat – vor allen Dingen seyn«, die Frage sei aber, »ob es als das Allervollkommenste zuerst war, welches schwer zu glauben ist« (DJ 63, Herv. Schelling). An dieser Formulierung zeigt sich die Vermischung von logischen und zeitlichen Verhältnissen ebenso, wie das bisher weitgehend unbeachtete Problem des Verhältnisses zwischen dem einen Wesen zu den beiden Momenten seiner selbst. Denn dass sowohl das Grund-Folge-, wie auch das Ursache-Wirkungs-Verhältnis bei dem Gedanken des schöpferischen Zirkels eine Rolle spielen, steht außer Frage. Zugleich aber lässt sich hier nun erkennen, dass es weniger das von Schelling als zeitlicher Ausgangspunkt der Entwicklung gesetzte Moment des Grundes ist, das als ratio oder causa angesprochen werden kann, sondern vielmehr das Wesen selbst, Gott oder das Allervollkommenste, das sich im Durchgang durch die Schöpfung wahrhaft realisieren soll. Auch diesen Bezug

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spricht Schelling im Denkmal dort offen aus, wo er betont, dass Gott selbstverständlich als Grund und Ursache zugleich gedacht werden müsse. In der Freiheitsschrift allerdings tritt diese Dimension des Problems erst einmal zugunsten des eindeutig immanent konzipierten Verhältnisses von Grund und Existenz in den Hintergrund und kommt erst dort explizit zum Ausdruck, wo es um das fragliche Verhältnis der beiden Aspekte von Grund und Existenz zu dem einen Wesen geht, dort also, wo Schelling die Unterscheidung selbst noch einmal auf ihre Natur hin befragt und als drittes Moment den »Ur- oder Ungrund« ins Spiel bringt. Dennoch macht die diesen Überlegungen vorausliegende Darstellung des schöpferischen Prozesses selbst schon ansatzweise deutlich, welche Schwierigkeiten diese zunächst ungelöste Frage mit sich bringt. Das Problem der eigenständigen Realität Werfen wir hierzu noch einen Blick auf die Darstellung, die nach Schellings Aussage dazu dienen soll, uns »dieses Wesen menschlich näher zu bringen« (FS 359). Wenngleich der Kontext nahelegt, dass sich der Begriff »Wesen« hier auf den Grund bezieht, wird zunächst nicht eindeutig klar, ob Wesen nicht vielleicht doch das »eine Wesen« bezeichnen soll, das sich im Grund bloß auf eine bestimmte Art und Weise ausdrückt. Eindeutig klar aber wird demgegenüber, dass es sich bei dieser Schilderung in gewisser Weise um eine Darstellung des Anfangs der Schöpfung handelt, die von dem Begriff der »Sehnsucht« ausgeht. Am Anfang, man könnte auch sagen, im Grunde der Schöpfung, findet sich die »Sehnsucht, die das ewig Eine empfindet, sich selbst zu gebären. Sie ist nicht das Eine selbst, aber doch mit ihm gleich ewig. Sie will Gott, d. h. die unergründliche Einheit gebären, aber insofern ist in ihr selbst noch nicht die Einheit« (ebd.). An dieser Stelle scheint zunächst eindeutig hervorzugehen, dass Grund und Existenz keine eigenen Wesen darstellen, sondern als unterschiedene Aspekte eines einzigen Wesens zu verstehen sind. Dennoch offenbart diese Darstellung die grundlegenden Schwierigkeiten, die sich aus Schellings Versuch ergeben, die Figur der causa sui in einzelne Momente auseinanderzulegen. Wenngleich es nämlich einerseits so scheint, als stünde am Anfang der Grund, der darum als Sehnsucht bestimmt werden könnte, zeigt sich doch bei genauerem Hinsehen, dass am Anfang ein solches steht, das »sich selbst gebären« will und das gerade nicht einseitig mit dem Grund identifiziert werden darf. Was sich selbst gebären will, ist vielmehr »das ewig Eine«, das »noch nicht die Einheit« ist. Die Sehnsucht ist, wie es an anderer Stelle heißt, »als der noch dunkle Grund die erste Regung göttlichen Daseins« (FS 360), und insofern wie eine Art Entwicklungsstadium Gottes zu verstehen. Dieser Grund im Sinne eines solchen sehnsuchtsvoll erregten Gottes allerdings scheint zunächst gerade das nicht garantieren zu können, worum es bei der Unter-



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scheidung doch wesentlich ging, die Absicht nämlich, mit der »Natur in Gott« ein reelles und wirkliches Moment ins Spiel zu bringen. Das oben geschilderte Problem der im Sinne eines internen Dualismus gegenüber Spinoza eher noch – falls man überhaupt so reden kann – verstärkten Betonung von Identität gegenüber einer durch den Gedanken der Trennung von Schöpfer und Geschöpf vorgegebenen Differenz, wirkt sich an dieser Stelle durchaus folgenreich aus. Die Rede von der Sehnsucht scheint – obwohl sie explizit vom Verstand geschieden sein soll – doch von Anfang an wesentlich auf den Begriff des Verstandes hin angelegt. Sie ist, so Schelling, »ein Willen des Verstandes, nämlich Sehnsucht und Begierde desselben«, kein bewusster, aber ein »ahndender Wille, dessen Ahndung der Verstand ist« (FS 359). Wie der Grund eine Art Entwicklungsstadium Gottes scheint die Sehnsucht damit eine Art Vorform von Verstand zu sein, der Anfang eines Wesens, das als Verstand immer schon gedacht werden muss, wenngleich es zeitlich betrachtet zunächst noch unentfaltet ist.129 Diese Darstellung aber verträgt sich letztlich nicht mit Schellings Rede davon, dass »ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht« (ebd.) werde. Eine »unergreifliche Basis der Realität« (ebd.) kommt damit in Wahrheit gar nicht ins Spiel, denn dieses Unergreifliche scheint gerade außerhalb dessen zu liegen, was mit dem bloß internen Verhältnis von Grund und Existenz erfasst wird. Zur Etablierung dieser Eigenständigkeit bringt Schelling daher unter anderem den folgenden Gedanken ins Spiel, der den ohnehin schon vielfältig bestimmten Grund noch um einen weiteren Aspekt ergänzt. Ein gänzliches Übergehen des »Wesens« vom Zustand des Grundes zur verwirklichten Existenz, vom »ewig Einen« zur »Einheit« nämlich wird von Schelling ausgeschlossen. Das scheint in gewisser Weise erneut eine Notwendigkeit zu sein, die sich aus der Struktur der gegenseitigen Voraussetzung selbst, d. h. aus der logischen Ebene, ergibt. Wenn nämlich der Grund ganz in die Existenz übergegangen wäre, dann könnte auch keine Existenz mehr gedacht werden, weil diese auf den Grund als ihre Voraussetzung angewiesen ist. Insofern würde sich die Struktur des schöpferischen Zirkels und damit auch die Möglichkeit von Bewegung auflösen. Grund und Existenz müssen immer beide zugleich sein, damit die Lebendigkeit gewährleistet ist, damit die Schöpfung, so könnte man sagen, sich immer fortsetzt und nie zu einem Ende kommt, in dem der Grund vollständig in die Existenz, das Hervorbringende ganz in das Hervorgebrachte übergegangen wäre. Der Grund »muss wirken, damit die Liebe sein könne, und er muß unabhängig von ihr wirken, damit sie reell existiere« (FS 374). Erst durch diese entgegengesetzte Tendenz scheint der Grund auch für sich als ein reelles und wirkliches Moment, als eigene Realität nämlich bestimmt. Erst dann kann 129  Vgl. Schellings eigene Hinweise in der Einleitung auf das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Sinne des »Eingewickelten und Entfalteten (implicitum et explicitum)« (FS 342).

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die Rede sein von einem »nie aufgehenden Rest«, der »ewig im Grunde bleibt« und der letztlich genau das bezeichnet, was die Realität des Grundes auszeichnen soll. Neben der Tendenz des Grundes zur Offenbarung wird dem Grund daher eine zweite, entgegengesetzte Tendenz zugeschrieben, die für die Konzeption der Freiheitsschrift ebenfalls von entscheidender Bedeutung ist: die Tendenz, sich gerade nicht zu offenbaren, sondern sich »in sich selbst zu verschließen«: »Die Sehnsucht aber«, so Schelling, »vom Verstande erregt, strebt nunmehr, den in sich ergriffenen Lebensblick zu erhalten, und sich in sich selbst zu verschließen, damit immer ein Grund bleibe« (FS 361). Auf diese Weise scheint es Schelling doch zu gelingen, im Ausgang von der Struktur des schöpferischen Zirkels auch die Eigenständigkeit der Realität zu garantieren. Zugleich aber wird die Frage nach dem Verhältnis der beiden Momente zu ihrer Einheit durch diese Tendenz des Grundes noch komplizierter, weil der Grund damit beginnt, wie ein eigenständiger Protagonist zu wirken, der selbst eine Tendenz zur Offenbarung hin aufweist. In diesem Sinne scheint es nicht so, als wolle sich Gott (bzw. der Grund als noch in sich verschlossener Gott), sondern als wolle sich der Grund als Grund offenbaren. Dieser eigenständige Grund muss einerseits nach Offenbarung streben, weil er nur so als Grundlage der Schöpfung dienen kann. Insofern ist er dann in seiner Eigenständigkeit durchaus auch wieder als Ursache zu bezeichnen. Andererseits aber muss er danach streben, sich in sich zu verschließen, um sich als Grund zu erhalten und damit weiter seine Funktion im Ganzen bewahren zu können. Auch in diesem Sinne scheint dann auch der mit dem Begriff der Ursache verbundene Gedanke von Trennung wieder seinen Eingang in den Zirkel der Schöpfung zu finden. Jedoch ist die Frage nach der Eigenständigkeit der Realität keineswegs ein Problem, das in der Freiheitsschrift ausschließlich auf den Gedanken der schöpferischen Bewegung bezogen würde. Mindestens ebenso entscheidend ist nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Idealität und Realität, das für das Verständnis der Unterscheidung von Grund und Existenz ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist. Wenn Schelling im Blick auf die causa sui davon spricht, dass der Grund zu etwas »Wirklichem und Reellem« (FS 358) gemacht werden solle, dann geht es ihm zugleich darum, seinen Begriff von Grund auch von einem »einseitig« idealistischen Verständnis abzugrenzen. Aus diesem Grund soll noch ein kurzer Blick auf das Problem von Idealität und Realität geworfen werden, das in den bisherigen Überlegungen nur implizit eine Rolle gespielt hat.



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Grund und Existenz als Idealität und Realität Bereits in der Identitätsphilosophie hatte Schelling versucht, zwei grundlegende Probleme, das von Unendlichkeit und Endlichkeit sowie das von Realität und Idealität, mithilfe einer einzigen Figur zu lösen. In der Identitätsphilosophie sollte dazu das Verhältnis der absoluten Identität dienen, die ebenfalls als causa sui verstanden wurde, wobei allerdings das kausale Verhältnis in ein Verhältnis der Selbstaffirmation umgedeutet wurde. Gerade diese Umdeutung schien den Bezug zum Problem von Realität und Idealität zu erleichtern; so schien mit dem Affirmierenden an Stelle des Hervorbringenden die Idealität bzw. Subjektivität wie selbstverständlich am Anfang zu stehen, während die Realität mit dem Hervorgebrachten das zweite Moment, gewissermaßen das Objekt darstellte. Gleichzeitig allerdings ging Schelling auch in Anlehnung an Spinoza von einem strikten Parallelismus von Denken und Sein aus, mit dem »jede Causalableitung« abgeschnitten wurde. Aus dieser Darstellung formulierte Schelling auch eine Kritik am Idealismus, der eine Potenz zur ersten mache und damit – so könnte man ergänzen – einseitig bleibe.130 Im Sinne der oben dargestellten Identifikation von Affirmierendem, d. h. Hervorbringendem mit der idealen Seite allerdings scheint Schellings Identitätsphilosophie in eine ganz ähnliche Richtung zu gehen wie der von ihm kritisierte Idealismus. Insofern erstaunt es nicht, dass sich die Bezüge in der Freiheitsschrift gerade umzukehren scheinen. Wenngleich Schelling einerseits von einem zirkulären Verhältnis ausgeht, in dem kein Moment logische oder zeitliche Priorität habe, macht er doch zugleich deutlich, dass der Grund in irgendeiner Weise als erstes Moment des schöpferischen Prozesses gedacht werden muss. Wenn man die Unterscheidung in Grund und Existenz als Auseinanderlegung der causa sui deutet, so bringt das, wie bereits gesehen, einige Verwirrung mit sich, weil das, was hier an den Anfang der Bewegung gestellt wird, gerade nicht mit dem Hervorbringenden im Sinne der Ursache verwechselt werden soll. Der Grund ist bloßer Entwicklungsgrund, der unter dem liegt, was er begründet, nicht etwa ein Beweisgrund oder gar eine Ursache im Sinne Jacobis, die darüber liegend gedacht werden müsste. In diesem Sinne soll gelten, dass die Realität vor der Idealität ist, dass der Verstand – wie gesehen – aus dem Verstandlosen geboren wird. Zugleich aber scheint auch der Parallelismus zwischen Denken und Sein, zwischen Idealität und Realität, durch den beschriebenen schöpferischen Zirkel aufgegeben, denn der Zirkel dient wesentlich dazu, die beiden Momente aufeinander zu beziehen und sie in ihrer Wechselwirkung und damit in ihrer ›Bewegung‹ zu 130  Vgl.

die bereits zitierte Äußerung Schellings: »Alle Causalableitung ist dadurch abgeschnitten. Das Denken so wenig aus dem Seyn, als das Seyn aus dem Denken. Der Fehler des Idealismus ist, e i ne Pot e n z zur ersten zu machen« (IV, 135, Herv. Schelling).

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erfassen. Dies ist einerseits kaum von der Hand zu weisen. Andererseits aber spricht die Eigenständigkeit der beiden Momente doch dafür, eine Art Parallelismus zwischen den Momenten anzunehmen. Beide scheinen in gewisser Weise ihr eigenes Leben, ihr eigenes Prinzip zu haben, von denen keines auf das je andere zurückgeführt werden kann. Im Rahmen der Freiheitsschrift zeigt sich das vor allem dort, wo dem Grund und der Existenz ein je eigener Wille zugeschrieben wird: ein Streben nach Einzelheit auf der Seite des Grundes und ein Streben nach Universalität auf der Seite der Existenz. Auf Einzelheit zu zielen, ist Merkmal der Realität in ihrer Konkretion, während die Idealität in einem Streben nach Allgemeinheit besteht. Der Wille des Grundes ist damit auch als »Eigenwille« bestimmt, der vom »Universalwillen« zu unterscheiden ist. »Gottes Wille ist«, so Schelling, »alles zu universalisieren, zur Einheit mit dem Licht zu erheben, oder darin zu erhalten; der Wille des Grundes aber, alles zu partikularisieren oder kreatürlich zu machen« (FS 381). Gleichwohl bleiben die beiden Momente in ihrer Eigenständigkeit insofern aufeinander bezogen, als sie immer wieder gegensätzlich bestimmt werden, der Grund als das dunkle, die Existenz (der Verstand) als das helle Prinzip: »Das Prinzip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist«, wird so z. B. als »Eigenwille der Kreatur« bezeichnet, der »noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht (als Prinzip des Verstandes) erhoben« sei. Anhand dieser Darstellungen wird deutlich, wie entscheidend die Verbindung des Gedankens von Schöpfung einerseits mit dem von Realität und Idealität andererseits für das Verständnis des Verhältnisses von Grund und Existenz ist. Andererseits aber fällt auf, dass die beiden Probleme von Schelling nicht explizit auseinandergehalten und in ihrem Verhältnis thematisiert werden. Je nachdem, um welches Problem es sich in der Freiheitsschrift gerade handelt, wird, so scheint es, auf Merkmale des schöpferischen Bezugs oder auf solche des Verhältnisses zwischen Denken und Sein zurückgegriffen, ein Problem, das für die Undurchsichtigkeit der Argumentation mit verantwortlich zu machen ist. Je größer dabei der Einfluss des Verhältnisses von Idealität und Realität wird, desto deutlicher tritt dann auch die ursprüngliche Unterscheidung von Grund und Existenz zugunsten einer Unterscheidung zwischen Grund und Verstand in den Hintergrund, denn die Rede ist nunmehr die von einem »Willen des Grundes« und einem »Willen des Verstandes«, der an die Stelle eines möglichen »Willens der Existenz« tritt. Mit der Einführung der Rede vom »Willen« scheint aber die Eigenständigkeit der Momente, und das heißt vor allem auch die Eigenständigkeit des Grundes und damit der von der Idealität unabhängig zu denkenden Realität endgültig erreicht, denn einen Willen würde man üblicherweise wohl nur einem solchen zusprechen, das nicht nur als Ausdruck eines übergeordneten Wesens, sondern selbst als eigenständiges Wesen zu betrachten ist. In diesem Sinne wird nun zwar die ursprünglich angestrebte Dualität deutlich erkennbar – was zum Problem wird, ist hingegen



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die Frage, inwiefern diese Dualität eigentlich noch als Identität aufgefasst werden kann. Die Gewährleistung der Identität gegenüber der Dualität – der Ur- oder Ungrund War die Unterscheidung zu Beginn der Untersuchung noch eindeutig als eine Identitätsfigur eingeführt worden, bei der die unterschiedenen Momente eben nur Momente einer übergeordneten Einheit bildeten, so scheint die Gewissheit dieser Zusammengehörigkeit durch die zunehmende Eigenständigkeit der beiden Momente gegeneinander, vor allem aber durch den Willen des Grundes, der sich der Offenbarungsbewegung in gewisser Weise widersetzt, mittlerweile fragwürdig geworden. Daher gelangt die Untersuchung an einen Punkt, an dem die Unterscheidung von Grund und Existenz in ihrer ursprünglichen Formulierung, nämlich als Unterscheidung zwischen dem »Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist«, selbst noch einmal über ihre Natur befragt werden muss. »Schon lange hörten wir die Frage: wozu soll doch jene erste Unterscheidung dienen, zwischen dem Wesen sofern es Grund ist und inwiefern es existiert? denn entweder gibt es für die beiden keinen gemeinsamen Mittelpunkt, dann müssen wir uns für den absoluten Dualismus erklären. Oder es gibt einen solchen: so fallen beide in der letzten Betrachtung wieder zusammen« (FS 406). Diese Frage, die nicht etwa untergeordnete Funktion hat, sondern die vielmehr erst den »höchsten Punkt der ganzen Untersuchung« (ebd.) bezeichnen soll, greift erneut das Problem des schöpferischen Identitätsverständnisses und damit des rechtverstandenen Pantheismus, der zugleich ein recht verstandener und damit der »einzig wahre Dualismus« sein soll, auf. Wer über ›dialektische Mündigkeit‹ verfügt, der ist imstande zu sehen – so die bisherige These – dass eine Identität nicht abstrakt und unabhängig von aller Differenz gedacht werden kann und müsste somit in der Lage sein, eine Dualität bei gleichzeitiger Identität bzw. eine Identität bei gleichzeitiger Dualität zu begreifen. Und doch scheinen die obigen Überlegungen plötzlich eine solche Gleichzeitigkeit auszuschließen. Entweder die beiden Momente haben einen gemeinsamen Mittelpunkt, dann aber geht die Dualität in der letzten Konsequenz in der Einheit auf. Oder aber die Momente haben keinen solch gemeinsamen Mittelpunkt, und dann handelt es sich dabei gar nicht eigentlich um zwei Momente eines Wesens, sondern um zwei eigene Wesen und somit um einen ontologischen Dualismus. Eine solche »Lehre von zwei absolut verschiedenen und gegenseitig unabhängigen Prinzipien« aber wurde bereits in der Einleitung als »System der Selbstzerreißung und Verzweiflung der Vernunft« (FS 354) von vornherein verworfen. Es muss also einen Mittelweg geben, und dieser Mittelweg, der die Natur der Identität, die Frage nach der Vereinbarkeit von Identität und Dualität gewährleisten soll, ist damit von ent-

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scheidender Bedeutung für die gesamte Schrift. Nur wenn man verstehen kann, wie Grund und Existenz sich eigentlich zueinander verhalten, ob sie bloß unterschiedliche Ansichten ein und desselben Wesens, oder aber sich selbständig gegeneinander bewegende Prinzipien sind, kann das Problem eines lebendigen Vernunftsystems im Gegensatz zu den bloß einseitigen Systemen als gelöst gelten – unabhängig von der Frage, was alles sonst noch in Bezug auf den Grund und die Existenz, bzw. auf Realität und Idealität gesagt wurde. Schelling entscheidet sich in dieser Frage klar – und das muss er ja bei der oben angeführten Alternative auch tun – für die vorgängige Identität der beiden Momente, dafür, dass »vor allem Grund und allem Existierenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen« sei, und dieses Wesen sei nicht anders zu nennen als »Urgrund oder vielmehr Ungrund« (FS 406, Herv. Schelling). Das eine Wesen, der Ungrund, steht also an höchster Stelle des Systems der Freiheit, nicht die Dualität.131 Und doch soll es sich bei dem Ungrund auch nicht um eine Form von Identität handeln. Weil der Ungrund aber einer Art von Differenz vorausgeht, ist er nicht als Identität, sondern als Indifferenz zu denken. Als Indifferenz soll der Ungrund ein »von allem Gegensatz geschiedenes Wesen« sein, von dem deshalb auch »Reales und Ideales, Finsternis und Licht, oder wie wir die beiden Prinzipien sonst bezeichnen wollen, […] niemals als Gegensätze prädiziert werden« können (FS 407). »Aber es hindert nichts, daß sie nicht als Nichtgegensätze, d. h. in der Disjunktion und jedes für sich von ihm prädiziert werden, womit aber eben die Dualität (die wirkliche Zweiheit der Prinzipien) gesetzt ist« (ebd.). In dieser Darstellung allerdings scheint eigentlich das Problem des Zusammenhangs von Identität und Zweiheit der Prinzipien nicht wirklich gelöst, denn erstens ist fraglich, wieso es sich um eine wirkliche Zweiheit von Prinzipien handeln soll, wenn diese nur von einem indifferenten Ungrund prädiziert werden sollen. Wenn der Ungrund gegen jede Art von Bestimmung indifferent ist, warum sollte dann nicht eine Pluralität, gar eine Unendlichkeit an Bestimmungen von ihm prädiziert werden? Wäre in einem solchen Fall die wirkliche Unendlichkeit von Prinzipien gesetzt? Zweitens wird aber auch die Bestimmung der Identität fraglich, weil der Ungrund eben gerade keine Identität, sondern eine Indifferenz darstellen soll. Verständlicher wird das oben beschriebene Verhältnis allerdings, wenn man wieder einmal Spinozas Philosophie als Hintergrundfolie heranzieht. Das Verhältnis zwischen der einen Substanz und den unendlich vielen Attributen entspricht genau dem, was Schelling am höchsten Punkt der 131 

Die Identität wird von Schelling auf verschiedene Arten bestimmt, mal als Wollen, mal als Band, als Seele, Geist oder Liebe. Sofern die grundlegenden Überlegungen Schellings, die das Verhältnis von Dualität und Identität thematisieren, unter dem Titel »Ur- oder Ungrund« gehandelt werden, bleiben die anderen Bestimmungen an dieser Stelle weitgehend unberücksichtigt. Die in der Literatur oft hervorgehobene Rolle des Begriffs »Wollen« wird dann im Kontext mit Heideggers erster Schellingvorlesung genauer in den Blick genommen.



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Untersuchung über das wahre Verhältnis von Dualität und Identität formuliert.132 Die Substanz verhält sich neutral gegenüber ihren Attributen, und ist so betrachtet gegen die Formen, unter denen sie sich ausdrückt, indifferent, auch wenn Spinoza dieses Verhältnis explizit weder als Identität noch als Indifferenz bestimmt. Die Attribute werden gewissermaßen von der Substanz prädiziert, weil sie die Formen darstellen, unter denen der Verstand sie erkennt. Bei Spinoza klärt sich daher auch, was bei Schelling gar nicht weiter thematisiert wird, wer nämlich derjenige sein soll, der hier etwas prädiziert. Bei Spinoza sind die Attribute nämlich einerseits als Ausdrücke der Substanz selbst aufgefasst, die andererseits bereits auf einen Verstand hin angelegt sind, der sie erkennt. Sie entstehen damit nicht durch ein der Substanz gegenüberstehendes Wesen, das etwas prädiziert, weil es außer der Substanz nichts geben kann. Da der Verstand, der die Substanz innerhalb ihrer Attribute erkennt, selbst ein Modus des Denkens ist, gehen die Attribute dem Verstand in gewisser Weise voran. Auch die Frage nach der Zweiheit oder nach der Unendlichkeit findet bei Spinoza eine klare Antwort. Da die Substanz unbedingt unendlich ist, verfügt sie notwendigerweise über unendliche viele Attribute, nicht nur über zwei. Dass sich die Betrachtung der Ethik Spinozas auf die zwei Attribute von Denken und Ausdehnung beschränkt, wird damit erklärt, dass der menschliche Verstand nur diese zwei Attribute erkennt. Und auch die weiteren Ausführungen Schellings über das Verhältnis des Ungrundes zu den beiden Momenten von Grund und Existenz lassen sich problemlos auf Spinoza beziehen. »Das Wesen des Grundes wie das des Existierenden«, so heißt es weiter, »kann nur das vor allem Grunde Vorhergehende sein, also das schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund. Er kann es aber (wie bewiesen) nicht anders sein, als indem er in zwei gleich ewige Anfänge auseinander geht, nicht daß er beide zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen ist« (FS 407 f.). Die Substanz, so könnte man sagen, geht als das Wesen ihren Formen, in denen sie sich ausdrückt, voran. Zugleich kann die Substanz aber nicht unabhängig von ihren Formen erkannt werden; sie ist daher 132 

Insofern dies der Fall ist, kann nicht die Rede davon sein, dass dem Ungrund eine systemsprengende Funktion zukommt, wie verschiedentlich in der Literatur angenommen wird. Ryosuke Ohashi beispielsweise schreibt: »Das Schweigen Schellings liegt darin begründet, daß die Einheit von Grund und Existenz sich als ›Ungrund‹ eröffnet, und dieser Ungrund eben es ist, der ein System als System unmöglich machte (Ohashi (1995), S. 243). Dagegen spricht sich Christoph Asmuth aus, der der Auffassung ist, dass die Idee der Indifferenz die bisherige Grundlegung noch einmal »untertieft […], indem sie einen weiteren Modus von Einheit einführt, der alle Gegensätzlichkeit von sich ausschließt« (Asmuth (2012), S. 202). Tatsächlich bildet das Verhältnis der Unterscheidung zum Ungrund erst die Ermöglichung des Systems, weil anhand dieses Verhältnisses die Möglichkeit einer Pluralität in der Einheit denkbar werden soll. Problematischer hingegen bleibt die Figur des Grundes mit ihrer behaupteten Tendenz der Entgegensetzung. Der Grund ist das Moment, das die reale Negation in das System einführen soll, und er ist zugleich der Aspekt, mit dem die Irrationalität selbst erklärbar gemacht werden soll.

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auch eigentlich nur in ihren Formen und nicht unabhängig von ihnen. Also könnte man auch im Blick auf Spinoza formulieren, dass die Substanz sich notwendig in die Attribute differenziert, die alle gleich ewig sind. Zugleich gilt, dass jedes Attribut das ganze Wesen der Substanz ausdrückt, dass also in jedem Attribut das ganze Wesen der Substanz in einer bestimmten Form erkannt werden kann. Allerdings gibt es durchaus auch Aspekte, die den Ungrund von der Substanz Spinozas unterscheiden. Die Attribute stellen voneinander unterschiedene Qualitäten dar, die in keiner Weise aufeinander zurückzuführen sind, und die insofern parallel und ohne Bezug aufeinander gedacht werden. Ihren Bezug erhalten sie nur über die Substanz, deren eines Wesen sie ausdrücken. Von einer Gegensätzlichkeit der Attribute zu sprechen, scheint daher sinnlos. Wenn Schelling also auf ein Verhältnis zurückgreift, das kein Verhältnis zueinander, sondern nur zu dem »Absoluten schlechthin betrachtet« darstellt, so wird fraglich, wie daraus eine Gegensätzlichkeit der Momente abgeleitet werden kann. Grund und Existenz aber sollen ja nicht nur das Verhältnis von Idealität und Realität wiedergeben, sondern auch im Sinne eines schöpferischen Zirkels aufeinander bezogen sein. Zwischen den beiden Momenten findet also eine Wechselwirkung statt, bei der noch dazu eine Hierarchie ins Spiel kommt, die zwischen den Attributen, die ja eben Ausdrücke des einen Wesens und somit vollkommen gleichwertig sind, gänzlich ausgeschlossen ist. Es zeigt sich also, dass neben dem Verhältnis der Attribute zur Substanz noch ein weiterer Gedanke im Spiel sein muss, der sich nicht so ohne weiteres mit der vorigen Bestimmung in Einklang bringen lässt. Dieser andere Gedanke äußert sich schon darin, dass auch zwischen den Ungrund und die beiden Momente von Grund und Existenz ein Unterschied der Zeit treten soll. Dabei scheint die Rede von der Prädikation allerdings auch schon wieder aufgehoben, denn behauptet wird, dass der Ungrund »in zwei gleich ewige Anfänge« auseinandergehen soll, was wie ein Ereignis in der Zeit oder wie der Anfang der Zeit selbst erscheint. Um zu erklären, warum der indifferente Ungrund in diese beiden Anfänge auseinandergeht, greift Schelling auf eine teleologische Erklärung zurück. Er gehe deshalb in zwei Anfänge, und zwar in zwei entgegengesetzte Prinzipien auseinander, damit diese Prinzipien überwunden und in der Liebe aufgehoben werden können: »Der Ungrund teilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe Eins werden, d. h. er teilt sich nur, damit Leben und Liebe sei und persönliche Existenz« (FS 408). Das vorher nur logisch bestimmte Verhältnis muss auch hier, wie es scheint, belebt werden, indem auf menschliche Begriffe zurückgegriffen wird. Der Ungrund, der ursprünglich nichts weiter zu sein schien als eine völlig unbestimmte Indifferenz, wird zu diesem Zweck aber ganz anders, geradezu gegensätzlich bestimmt; als ein Streben nach Liebe, das nur dann verwirklicht werden kann, wenn der Ungrund sich in zwei Wesen teilt. Erneut zeigt sich also, dass das Verhältnis von Idealität und Rea-



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lität einerseits, sofern es Grund und Existenz als gleichberechtigte Momente setzt, mit der Vorstellung eines Prozesses, der sich zwischen den beiden abspielen soll, und der eine Folge der Momente aufeinander, sowie eine Hierarchie zwischen den Momenten setzt, nur bedingt vereinbar ist.133 Sofern der Ungrund als ein Streben nach Liebe und Persönlichkeit, auch nach Offenbarung bestimmt ist, wiederholt sich auf dieser Ebene zudem die Figur, die in der ursprünglichen Unterscheidung zwischen Grund und Existenz bereits angelegt war. Der Ungrund entspräche dabei dem Grund, während die Liebe als Zielpunkt der Existenz entspräche. So betrachtet steht dem Willen des Grundes dann nicht der (ohnehin von Schelling begrifflich nicht verwendete) »Wille der Existenz«, ebensowenig aber der Wille des Verstandes gegenüber, sondern das, was Schelling nun den »Willen der Liebe« nennt. »Der erste Anfang zur Schöpfung«, so heißt es auch, »ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, oder der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der Liebe, wodurch das Wort in die Natur ausgesprochen wird, und durch den Gott sich erst persönlich macht« (FS 395). Durch die angenommene Teleologie, die sich in dem Streben des Ungrundes äußert, entspannt sich dann auch die Entwicklung, die zwei entgegengesetzte Richtungen zulässt, ein auf den Ungrund (und damit tendenziell auf Chaos, Zersetzung und das Böse) hin gerichtetes Streben und ein solches, das auf die Liebe hin ausgerichtet ist. Insofern lässt sich das, was Schelling im Blick auf den schöpferischen Zirkel bereits zu Beginn ausgeführt hat, auch auf die gesamte Darstellung übertragen, wie sie sich im Ausgang vom Ungrund über die Entstehung von Grund und Existenz hin zur Überwindung der Gegensätze in der nun als Identität verwirklichten Liebe vollzieht. Einerseits wird ein zeitlicher Prozess gedacht, der eine bestimmte Entwicklungsrichtung beinhaltet, und der das Konzept von Ursache, von Hervorbringung und Entstehung in Anspruch nimmt. Andererseits aber ist das Verhältnis auch unzeitlich, also gewissermaßen rein logisch gedacht, wie sich an der nach dem Vorbild Spinozas dargestellten Möglichkeit der Pluralität bei gleichzeitiger Einheit zeigt. Auch hier gilt also, was Jacobi kritisiert, dass nämlich die Verbindung beider Modelle die Anteile 133  Wolfgang

Janke sieht hier keinen Widerspruch, sondern spricht vom Ungrund gar als »Ungrund der Liebe«. Als solcher sei der Ungrund als »alles durchstimmendes ›Wohlwollen‹ (Eunoia) voran- und über den Geist zu stellen.« (Janke (2009), S. 307). Janke argumentiert an dieser Stelle für einen durchaus naheliegenden Bezug zum amor dei intellectualis bei Spinoza. Im Selbstbezug dieser intellektuellen Liebe Gottes sieht Janke allerdings die Möglichkeit eines Selbst gegeben, das wie bei Spinoza zugleich unpersönlich zu denken sei. Dabei lässt er die praktische Dimension, die bei Jacobi im Vordergrund steht, außer Acht. Auch der Begriff des »Willens«, den Janke verwendet, bleibt undifferenziert und vor dem Hintergrund der Kritik Jacobis fragwürdig. Im Gegensatz dazu sieht Zaborowski in dem Umstand, dass Gott »sich offenbaren will« den Unterschied zu einem zeitlosen »Mit-sich-selbst-identisch-sein eines nicht-personalen Absoluten« (Zaborowski (2004), S. 67, Herv. H.Z.) Auf dieses Problem wird an späterer Stelle, im Zusammenhang mit Heideggers Interpretation von 1941, noch einmal genauer eingegangen.

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des Ursachebegriffes, unter anderem die Realität der Zeit, einerseits setzt, sie aber unmittelbar auch wieder aufhebt.134 Tatsächlich scheint auch gerade an diesem Punkt der Untersuchung, also an der konkreten Frage, wie sich die Momente zu ihrer Einheit verhalten, das Problem von Unendlichkeit und Endlichkeit, das in der Bestimmung des schöpferischen Zirkels im Sinne einer belebten Darstellung von causa sui bereits erfasst zu sein schien, erst eigentlich in den Blick zu geraten. Der Zirkel selber und die daraus resultierende Bewegung schienen ja die Frage nach dem Übergang vom Unendlichen zum Endlichen und damit den Begriff der Ursache mehr oder weniger vollständig auszublenden und durch das Bild einer immanenten Selbstbewegung zu ersetzen. Im Zusammenhang aber mit der Frage nach der Natur der Unterscheidung rückt das Problem wieder in den Blick, das nun mithilfe des »Ur- oder Ungrundes« als eines Wesens gelöst werden soll, dass sich als Liebe verwirklichen will, eines Wesens also, das in gewisser Weise aus sich herausgehen und eine Welt hervorbringen will. Gott als das Absolute, Unendliche, Hervorbringende, als Erklärungsgrund und Schöpfer der Welt, wird eigentlich erst hier zum Gegenstand der Betrachtungen. Nicht das Moment des Grundes im Sinne der einen, bloß natürlichen Ansicht Gottes, sondern Gott als das »schlechthin betrachtete Absolute«, als Ur- oder Ungrund also, der sich um der Liebe willen in die zwei Momente teilt, ist das Wesen, von dem Schelling im Denkmal auf Jacobi sagt, »daß hier schlechterdings keine Wahl sei, daß das Absolute sowohl Grund als Ursache sei, und als beides gedacht werden müsse« (DJ 71). An diesem zentralen Punkt scheint die Darstellung der Freiheitsschrift also zumindest insofern nicht über die Konzeption Spinozas hinauszuführen, als sie dessen innere Widersprüche übernimmt. Wo Schelling hingegen von Spinoza abweicht, scheint die Sache noch komplizierter und in Wahrheit noch widersprüchlicher zu werden. Schellings Darstellung in der Freiheitsschrift ist allerdings nicht geeignet, die Zusammenhänge auf dieser strukturellen Ebene wirklich zu erfassen. Schon das Erfordernis, die ursprüngliche Unterscheidung von Grund und Existenz noch einmal auf ihren inneren Zusammenhalt hin zu befragen, um als Antwort das Konzept des Ungrundes zu ergänzen, verweist darauf, dass hier eine besondere Problematik liegt, die zumindest zu Beginn der Freiheitsschrift noch nicht in ihrer vollen Tragweite aufgefasst wird. Mit der Unterscheidung wird bereits operiert, bevor sie in ihrer wahren Natur erklärt ist. Dass sich die gesamte Struktur, auf die sich die Ausführungen der Freiheitsschrift gründen, eben aus drei Momenten, aus Grund und Existenz, sowie aus der wie auch immer aufgefassten Einheit der beiden zusammensetzt, dürfte klar geworden sein. Was die Struktur aber insgesamt leisten soll 134 

In gewisser Weise könnte man vielleicht sagen, dass die Rede vom »Ur- oder Ungrund« auf beide Aspekte hinweist, der Urgrund auf das schöpferische Moment, der Ungrund hingegen auf die Indifferenz gegenüber seinen Prädikaten.



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und aus welchen Überlegungen sie sich herleitet, wird in den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 deutlicher als in der Freiheitsschrift. Ein Blick auf die dort präsentierten Strukturen soll daher die hier bereits skizzierte Problematik zusätzlich vertiefen. 4.3 Die Stuttgarter Privatvorlesungen: Strukturmodelle und Vermittlungsprobleme Verschiedene Argumente scheinen vielleicht zunächst einmal gegen diesen vergleichenden Blick auf die Stuttgarter Privatvorlesungen zu sprechen. Da ist einmal die Behauptung, in der Freiheitsschrift werde ein ganz besonderer, kritischer Punkt, ein Wendepunkt also erreicht, von dem aus es in Schellings weiterer Entwicklung wieder bergab ginge. Dieser Auffassung steht allerdings die gegenteilige Ansicht gegenüber, die nämlich, dass gerade die Stuttgarter Privatvorlesungen deutlich machten, wie die Freiheitsschrift vor dem Hintergrund der Identitätsphilosophie eigentlich zu verorten sei.135 Andererseits scheint gegen diesen Vergleich aber vor allem die Darstellungsart der Freiheitsschrift zu sprechen, die – darauf wurde bereits hingewiesen – vielfach als entscheidende und in der Sache begründete Neuerung Schellings betrachtet wird. Dieser Darstellungsart, die ja auch als Versuch gekennzeichnet wurde, die abstrakte Philosophie Spinozas zu beleben, um mehr erfassen zu können als bloß tote, abstrakte Bestimmungen, scheint die Konzentration auf grundlegende Strukturen allerdings gerade zu widersprechen. Bedeutet der Versuch, sich wesentlich mit den Strukturen eines Denkens zu beschäftigen, nicht gerade, die lebendige Darstellung des Geschehens in ihren Details zu vernachlässigen und sich statt dessen auf eine abstrakte Ebene zu begeben, die als ungeeignet, die eigentlichen Probleme des Lebens zu erfassen und zu lösen, zurückgewiesen wurde? In Wirklichkeit aber zeigt sich an den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1811, dass die zunächst einmal äußerst abstrakt wirkenden, mathematisch anmutenden Formeln, mit denen Schelling operiert, keineswegs per se unlebendig und ohne Beziehung auf Leben zu denken sind, weil in ihnen Verhältnisse gedacht werden

135 

Vgl. z. B. Baumgartner/Korten (1996), S. 105: »Die nachgelassenen Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) zeigen freilich deutlich, in welchem Sinne neu gewonnene Probleme und philosophische Gedanken in den Horizont des identitätsphilosophischen Ansatzes zurückgestellt werden«. Am entschiedensten vertritt diese Sicht allerdings Manfred Frank, der in seiner Vorbemerkung zu den Ausgewählten Schriften Schellings die Meinung vertritt, dass die »ausgezeichnet faßlichen Stuttgarter Privatvorlesungen« die »Lektüre der Freiheitsschrift erübrigen können« (Frank (1985), S. 10). Aufgrund dieser Auffassung entscheidet Frank sich dazu, anstelle der Freiheitsschrift die Stuttgarter Privatvorlesungen in diese Schriftenausgabe aufzunehmen.

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sollen, die die Erfahrungen des Lebens bestimmen.136 Hier wird deutlich, dass die Strukturen und Verhältnisse, die in den Formeln ausgedrückt werden, gerade so beschaffen sein sollen, dass sie nicht eine tote Identität oder das Verhältnis abstrakter Momente zueinander darstellen, sondern dass sie im Gegenteil dazu dienen sollen, ein lebendiges Ganzes erst denkbar zu machen. Weil die Aufgabe der Strukturen also darin besteht, etwas denkbar zu machen – anders gesagt, es denkend erfassbar werden zu lassen – müssen sie selbst bereits so beschaffen sein, dass sie das begründen können, was im Folgenden ›Erzählung‹ genannt werden soll, weil es gewissermaßen die Geschichte der Erschaffung der Welt und zugleich der Selbstwerdung Gottes erzählt.137 Durch ihre Begründungsfunktion aber sind sie von ausschlaggebender Bedeutung. Insofern ist es alles andere als müßig, sich zunächst und vor allem auf diese Ebene der Überlegung zu konzentrieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich dann auch, dass es zum Verständnis der Formeln und der darin ausgedrückte Verhältnisse umgekehrt immer auch unumgänglich ist, sie mit Leben zu füllen, also auf Beziehungen zurückzugreifen, die aus der Erfahrung bekannt sind. Die Strukturverhältnisse sind demnach keine rein logischen Verhältnisse, schon weil sie als solche gar nicht verständlich wären, sie sind aber auch kein starres Strukturgerüst, das von vornherein jede Bewegung auch zwischen den einzelnen Momenten ausschließen würde. Sie sind kein Gerüst, kein »Gestell«, wie Heidegger sagen würde, und doch bilden sie den Rahmen und den Grund des Ganzen. Einen Rahmen, innerhalb dessen Bewegung möglich sein, und einen Grund, der Lebendigkeit begründen soll. Solche Strukturen sind auch nicht reine Formen, die unabhängig von einem inhaltlichen Bezug gedacht wären. Auf der strukturellen Ebene entscheidet sich, was eine Theorie, jedenfalls eine systematisch orientierte Philosophie – und darum handelt es sich ja bei Schelling – leisten, und was sie inhaltlich erfassbar machen kann. Grund und Existenz, Ideales und Reales, sowie ihr Bezug aufeinander, aber auch ihre Vermittlung über die Figur des Ungrundes, bilden in der Freiheitsschrift 136 

Das gilt allerdings ebensosehr für Spinoza, dessen Denken stark verkürzt erschiene, wollte man es wirklich auf die Abstraktheit geometrischer Beweise reduzieren, anstatt es wesentlich als metaphysisches, im Hegelschen Sinne ›spekulatives‹ Denken anzuerkennen. Eine derartige Verkürzung der Philosophie Spinozas nimmt im Übrigen auch Jacobi keineswegs vor, wie Roswitha Dörendahl unterstellt, wenn sie schreibt: »Erst verkürzt Jacobi Spinozas Lehre um ihre göttliche Dimension, indem er der Substanz die Göttlichkeit abspricht und die Figur der causa sui ablehnt, um dann auf dieser Basis Spinoza zum Prototyp eines Rationalisten zu ›rekonstruieren‹, der im ex nihilo nihil fit seinen atheistischen Grundsatz hat« (Dörendahl (2011), S. 67). 137  Zum Begriff der »Erzählung« vgl. auch Hay (2011). Katia Hay ist allerdings im Gegenteil zu der hier vertretenen Auffassung der Überzeugung, dass das, was die Freiheitsschrift darstellen will, nur als Erzählung möglich ist. Die wahre Philosophie könne »dem Erzählerischen nicht entgehen, denn das, wovon sie zeugen will, ist nur erzählerisch bzw. metaphorisch darzustellen« (Hay (2011, S. 265 f.).



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die strukturell verfasste, tragende Schicht der ›Erzählung‹. Die ›Erzählung‹ selbst muss demgegenüber als Ausführung, bzw. als Belebung des zunächst strukturell Gefassten verstanden werden. Sie kann die Verständlichkeit und Anschaulichkeit erhöhen, was sie aber nicht kann, ist die Strukturen selbst grundlegend zu verändern oder aber Probleme, die bereits auf der strukturellen Ebene lokalisierbar sind, aufzulösen. Allenfalls kann die Darstellung über strukturelle Probleme hinwegtäuschen, weil der Blick von der Problematik in ihrer Klarheit abgelenkt wird. Da die Freiheitsschrift aber die strukturelle Konzeption nicht klar von der »Erzählung« trennt, scheint es naheliegend, die bereits im vorangegangenen Teil als äußerst vielfältig bestimmte Zusammengehörigkeit der Momente durch einen Blick auf die Stuttgarter Privatvorlesungen zu ergänzen, die im Gegensatz zur Freiheitsschrift einen strukturell orientierten Teil als Begründung der nachführenden Ausführungen an den Anfang stellen und an denen sich darum deutlicher als in der Freiheitsschrift zeigen lässt, wie Schelling versucht, verschiedene unterschiedliche Strukturmodelle miteinander zu vereinbaren. Mithilfe der dort verhandelten Modelle kann in Bezug auf die Freiheitsschrift noch einmal differenziert werden, wie das Verhältnis zwischen Grund und Existenz und ihrer Einheit gedacht werden und was die Struktur leisten soll.138 Das Urwesen als Substanz Das erste Strukturmodell, das Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen präsentiert, besteht aus drei unterschiedlichen Momenten, die mit A, B und C bezeichnet werden. A steht dabei für die absolute Identität, B und C für das Reale und das Ideale. Die Formel, mit der Schelling das Verhältnis der Momente zueinander A soll zum Ausdruck bringen, wie die Identität zugleich als wahre ausdrückt, B = C    Dualität von Realem und Idealem gedacht werden soll.139 A garantiert die wesentliche Identität, weil es das Wesen darstellt, während B und C zwei unterschiedliche Formen sind, unter denen das Wesen jeweils gesetzt ist. In Bezug auf ihr Wesen, auf A also, sind B und C identisch, für sich, d. h. als B und als C betrachtet, sind sie aber unterschieden, und zwar dergestalt, dass das eine nicht auf das andere zurück138  Vgl.

auch Rainer Adolphi (1996): »Wie vielleicht nirgendwo sonst« bemühe Schelling in der Freiheitsschrift »eine Metaphorik des Lebens und des Werdens. Dem steht näherbesehen keine gemäße begriffliche Explikation zur Seite, Ich meine, die Schrift, allenthalben auf ›Leben‹ und ›Werden‹ verweisend, überdeckt damit nur, daß sie in eben diesem Kern noch durchaus ambivalent bleibt« (Adolphi (1996, S. 253). Demgegenüber seien die Stuttgarter Privatvorlesungen bereits klarer formuliert. Adolphi ist allerdings der Auffassung, dass die Ambivalenz nicht in der Sache selbst begründet liege. Statt dessen geht er davon aus, dass die spätere Philosophie Schellings das in der Freiheitsschrift bereits aufscheinende Potential erst zur Entfaltung bringe. 139 Dieses Modell entspricht Schellings Versuch, die Identität als »absolute Identität des Realen und Idealen« zu erfassen (SPV 422).

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geführt oder durch das andere aufgehoben werden kann. Mit B und C ist daher ein wirklicher Dualismus gesetzt, denn B und C sind weder aus dem je anderen Moment, noch aber in ihrer konkreten Bestimmtheit aus A selbst abzuleiten.140 Selbst in ihrem Bezug auf A bleiben sie daher in ihrer Unterschiedenheit erhalten. In diesem Modell lässt sich leicht das Verhältnis erkennen, das der Ungrund mit den Momenten Grund und Existenz bildete; der Ungrund entspricht A, Grund und Existenz B und C. Zugleich aber bezeichnet dieses Modell das Verhältnis der Attribute zur Substanz bei Spinoza. Schon die Unterscheidung zwischen dem Wesen und den Formen, unter denen dieses Wesen gesetzt ist, verweist deutlich auf diesen Bezug. Das Wesen der Substanz ist nur eines, es besteht in ihrer potentia, ihren Ausdruck jedoch findet das Wesen in verschiedenen Formen, die nicht aufeinander zurückführbar sind. Dabei drückt sich das Wesen nur in den verschiedenen Formen aus, da es neben diesen Formen nicht noch einmal einen eigenen Ausdruck als Wesen der Substanz selbst hat. Das Wesen der Substanz, so könnte man sagen, ist oder existiert nur innerhalb seiner Ausdrücke. Da diese Ausdrücke aber eben irreduzibel sind, ist ebenso notwendig wie die Identität bereits von Beginn an eine Pluralität gesetzt, ein »wirklicher Gegensatz« (SPV 422). Der Ausdruck Schellings, beide Momente, B und C, seien »jedes ein eignes Wesen« (ebd.), irritiert dabei, denn es scheint so, als seien auf diese Weise doch zwei Wesen entstanden, die von dem einen Wesen, von A also, verschieden seien. Gemeint ist wohl dennoch dasselbe wie bei Spinoza: da das Wesen nicht außerhalb der Formen existiert, in jeder dieser Formen aber einen ganz eigenen Ausdruck hat, kann es jeweils als ein eigenes Wesen erscheinen.

Das Urwesen als Subjekt Ein weiterer von Schelling zur Erläuterung des Verhältnisses von Dualität und EinA .141 Das A über dem heit angeführter Ausdruck besteht nun in der Formel a = b    Strich soll hierbei wieder die Identität ausdrücken, A unter dem Strich und das mit ihm identifizierte B hingegen zeigt die Dualität des Ausdruckes an, die wieder die Zweiheit von Realem und Idealem darstellt, diesmal aber in ihrer Bestimmung als Objekt und Subjekt. Auffällig ist, worin sich dieser Ausdruck von dem obigen unterscheidet, der Umstand nämlich, dass ein sich aus drei Momenten ergebendes Verhältnis mit nur zwei verschiedenen Variablen ausgedrückt werden soll. A wird sowohl die Einheit wie auch eines der zwei Momente genannt, in die die Einheit 140  Vgl. SPV 422: »B kann ewig nicht C, C nicht B werden, ebenso ist auch A in B und A in C jedes ein eignes Wesen. Eben dadurch, daß in jedem dasselbe Wesen ist, ist zwischen ihnen eine wesentliche (d. h. nicht bloß formelle, logische oder nominale) Einheit, zugleich aber ein wirklicher Gegensatz oder Dualism, indem sie sich untereinander nicht aufheben können«. 141  Dieses Modell bezieht sich auf die Darstellung in SPV 425.



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sich teilt. Hier scheint also genau das nicht mehr zu gelten, was den ersten Ausdruck A    b = c bestimmte, dass nämlich ein einiges Wesen in zwei irreduzible Formen differenziert ist, die beide im gleichen Verhältnis zu A stehen. Wollte man also beide Formeln in einen unmittelbaren Zusammenhang bringen, so müsste man sagen, dass das Wesen eine Form hat, mit der es gewissermaßen selbst identisch ist (A), und eine Form, die dieser ersten gegenübersteht. Und ein weiterer Unterschied kommt dadurch hinzu, dass die Bestimmung von Subjekt und Objekt nicht zwei Momente bezeichnet, die gewissermaßen nebeneinander stehen, sondern zwei wesentlich aufeinander bezogene Momente. Wegen dieser grundlegenden Unterschiede zum ersten Modell scheint es geraten, diesen zweiten Ausdruck zunächst unabhängig von dem ersten zu deuten. Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt verweist darauf, dass wir uns mit dieser Formel in einem anderen Bereich als dem der ontologischen Unterscheidung A im Sinne Spinozas befinden. Schellings Erläuterungen zu der Formel a = b   machen deutlich, dass es sich bei dem so bestimmten Urwesen nunmehr um ein Wesen im Sinne eines Subjekts handelt. A über dem Strich, die Einheit, das Wesen, ist hier die Bezeichnung für das eine Subjekt, das sich in der Einheit von Subjekt und Objekt selbst erkennt, da es »in A=B ein Objekt, einen Spiegel« (SPV 425) hat. Und in dieser Hinsicht lässt sich die Struktur nun auch auf die Freiheitsschrift beziehen, wenn man den Gedanken berücksichtigt, dass das Ziel Gottes der Freiheitsschrift zufolge darin bestehen soll, sich zu offenbaren, um sich zu erkennen. Gott, das einige Wesen, oder aber A über dem Strich, geht in Grund und Existenz auseinander und schafft so eine Welt, in der er sich als die Einheit erkennt und verwirklicht. Allerdings scheint es sich bei der Figur aus den Stuttgarter Privatvorlesungen zunächst um eine klassische Selbstbewußtseinsstruktur im Sinne dessen zu handeln, was Schelling als einseitigen Idealismus gerade ablehnt. Solange vom Realen im Sinne des Objekts gesprochen wird, das dem Subjekt entgegengesetzt ist und in dem das Subjekt sich selbst erkennen soll, ist noch nicht das erreicht, was Schelling mit der lebendigen Persönlichkeit meint. Um zur Struktur von Persönlichkeit zu führen, muss dem Realen etwas zukommen, das unabhängig vom erkennenden Subjekt ist und das im Objektsein für ein Subjekt nicht vollständig aufgeht.

Die Notwendigkeit der Vermittlung beider Modelle als Grundlage für die lebendige Persönlichkeit Aus dem Gang der Erläuterungen, der sich in den Stuttgarter Privatvorlesungen findet, geht nicht klar hervor, wie die beiden Strukturmodelle miteinander zusammenhängen sollen. Und doch scheint die Argumentation gerade dazu zu dienen, die beiden Modelle miteinander in Zusammenhang zu bringen, sie gewissermaßen

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übereinander zu blenden oder sie miteinander zu vermitteln. Man kann in der ersten Figur durch den Bezug zu Spinoza vielleicht das Modell für einen einseitigen Realismus erkennen, da die Figur eher ontologisch gedacht ist, vor allem aber, weil sie keine Struktur von Selbstbezüglichkeit darstellt. Reales und Ideales sind gleichzeitig und in gewisser Weise nebeneinander, ohne in einen Bezug treten zu können. Eine lebendige Persönlichkeit, die über einen Selbstbezug verfügt, scheint daher auf dieser Grundlage undenkbar. Und genau so lautete ja auch Jacobis Kritik an Spinoza, dass bei diesem das Denken mit dem Sein zugleich und daher keine freie und bewusste Handlung denkbar sei. Auch die Selbsterkenntnis Gottes, die es bei Spinoza durchaus gibt, weil alles, was Gott ist und erschafft, auch im Verstand Gottes als Idee existiert und insofern von ihm erkannt wird, ist keine Selbsterkenntnis im eigentlichen Sinne, weil da gar kein Selbst ist, über das die Substanz verfügt. Der Gott Spinozas hat keine Persönlichkeit.142 Aber auch das zweite Modell allein, das man mit einer idealistischen Subjekttheorie im Sinne Fichtes assoziieren könnte, erreicht die lebendige Persönlichkeit nicht, weil es auf dem Gebiet des einseitigen Idealismus verbleibt, in dem das Sein immer schon Sein für ein Subjekt und damit nicht unabhängig vom Erkennen ist. Modell I dient in diesem Sinne dazu, dem Realen die Eigenständigkeit zukommen zu lassen, die ihm in Modell II fehlt. Und tatsächlich lässt sich dies im Blick auf die Unterscheidung von Grund und Existenz in der Freiheitsschrift nachvollziehen. Das Wesen der Substanz Spinozas besteht in ihrer Wirkungsmacht, ihrer potentia, die sich in den verschiedenen Attributen auf je unterschiedliche Weise ausdrückt. Diesem Modell entsprechend wird nachvollziehbar, was auf Anhieb zunächst fraglich schien, wie es nämlich kommt, dass Schelling beiden Momenten, dem Grund sowohl wie der Existenz, einen eigenen Willen zuschreibt. Das Wesen, das sich in Grund und Existenz unterscheidet, ist Wille, der sich je als Eigen- oder Universalwille ausdrückt. ›Ursein ist Wollen‹, so denn auch die oft hervorgehobene Aussage Schellings in der Freiheitsschrift, die sich unmittelbar auf Spinoza beziehen lässt. Und doch kann bei diesem Modell darum nicht stehen geblieben werden, weil es keine Dynamik zwischen den beiden Momenten und auch keinen Selbstbezug des Wesens auf sich ermöglicht. Das »Ur- und Grundwollen« ist eben als eine Form von Selbstsetzung zu betrachten; denn es ist ein Wollen, das »sich selbst zu etwas macht« und erst damit auch »der Grund und die Basis aller Wesenheit ist« (FS 385). Einerseits scheint der Gedanke des Selbstbezugs in der als Selbsthervorbringung 142 

Dafür spricht auch die Darstellung Schellings, nach der es bei dem Übergang von Modell I zu Modell II um das Problem der Manifestation, d. h. der Offenbarung Gottes als »wirkliches Wesen« geht. Modell I wird mit dem »Begriff des Urwesens« identifiziert, das noch nicht als »aktuelles, wirkliches Wesen« bestimmt sei (SPV 424). Die Problematik dieses Übergangs korrespondiert insofern der in der Freiheitsschrift formulierten Kritik an Spinoza, nach der dessen Philosophie abstrakt bleibe und erst noch »belebt« werden müsse.



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gedachten causa sui notwendig gegeben und damit auch im schöpferischen Zirkel bereits mitgedacht. Dennoch scheint dem Zirkel aus Grund und Existenz zunächst gerade die Ebene der Selbstbezüglichkeit zu fehlen, die aus diesem erst real verwirklichten Gott nun eine Persönlichkeit, eine »zur Geistigkeit erhobene Selbstheit« (FS 370) machte. Gott ist, nach dem, was Schelling in der Freiheitsschrift die erste Schöpfung nennt, erst Natur, noch nicht Geist. Erst wenn Gott auch als Geist verwirklicht ist, kann er sich als der erkennen, der er ist (bzw. – so müsste man wohl eigentlich sagen – der er sein wird, denn er ist zu Beginn ja eben gerade nicht der, als der er sich letzten Endes erkennen soll), als die alle Widersprüche vereinende Liebe. Schelling spricht daher in der Freiheitsschrift von einer zweiten Schöpfung, bei der der Mensch als Geistwesen geschaffen werde.143 Die Dynamik der Selbsthervorbringung, des ersten Zirkels aus Grund und Existenz, reicht also offenbar nicht aus, um die geforderte Selbstbezüglichkeit eines Wesens zu denken, das sich als ein Selbst erkennt. Denn es gibt zwar einen wechselseitigen Bezug zwischen dem Grund und der Existenz, aber es gibt noch keinen Rückbezug auf ein Selbst, das die bewusste Einheit der beiden unterschiedenen Momente wäre. Es ist daher nur konsequent, wenn Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen auf ein Modell zurückgreift, das genau dieses Problem thematisieren soll: ein Selbstbewusstseinsmodell im Sinne Fichtes. Und zugleich gibt es Aspekte auch in der Freiheitsschrift, die sich nur durch den Bezug auf ein solches Modell überhaupt erklären lassen. Dadurch nämlich, dass die Selbstbezüglichkeit im Sinne der vollkommenen Selbstoffenbarung und Selbsterkenntnis Gottes als Ziel des Prozesses gedacht wird, entsteht die der ursprünglichen Fassung des schöpferischen Zirkels ebenso wie dem Modell I in gewisser Weise zuwiderlaufende einseitige Richtung in der Dynamik zwischen Grund und Existenz, die zugleich mit einer Hierarchie zwischen den Momenten verbunden wird. Wie man sich den gesamten Prozess, ausgehend vom Ungrund über die Momente von Grund und Existenz hin zur Selbsterkenntnis Gottes, vorzustellen habe, wird in den Stuttgarter Privatvorlesungen anhand der bereits in der Identitätsphilosophie verwendeten Begrifflichkeit der Potenzen gezeigt. Zwischen Reales und Ideales, die dem ersten Modell zufolge gleichberechtigt nebeneinander stehen, tritt nun ein »Unterschied der Dignität« (SPV 427), das Reale als erste Potenz wird als das Niedere, das Ideale, die zweite Potenz, als das Höhere bestimmt. Darüber hinaus geht die erste Potenz, die hier als Position des Seins bestimmt ist, der zweiten, da diese als Position der Position auf die erste bezogen ist, seiner Natur nach voran. Diese vorerst nur logisch gedachte Priorität muss dann zu Beginn der Schöpfung in ein wirkliches Vorangehen des Realen vor dem Idealen übergehen, indem Gott sich, wie Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen ausführt, auf die erste Potenz ein143 

Vgl. z. B. FS 377.

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schränkt: »Will also das Urwesen die Entzweiung der Potenzen, so muß es diese Priorität der ersten Potenz als eine wirkliche setzen […], d. h. es muß sich selbst freiwillig au f d ie e r s t e e i n s c h r ä n k e n, die Simultaneität der Principien, so wie sie ursprünglich in ihm ist, aufheben« (SPV 428, Herv. Schelling). Aus dem Zirkel, aus dem alles wird, aus der Wechselbeziehung also zwischen Grund und Existenz, in der kein Moment vor dem anderen sein soll, entsteht durch die Verbindung mit Modell II eine eindeutige Richtung vom Realen zum Idealen. Der Darstellung der Stuttgarter Privatvorlesungen folgend, die sich aber auf die Freiheitsschrift übertragen lässt, ist mithin das Urwesen als die Indifferenz der Ausgangspunkt (der Potenzenlehre nach A0), woraufhin sich das Wesen auf die reale Seite einschränkt, so dass die erste Potenz entsteht (A1 oder in der Terminologie der Freiheitsschrift der Grund), auf die nun die ideale Seite folgt, die ihrerseits im Erkennen des Realen besteht (A 2 bzw. Existenz/Verstand). Im letzten Schritt, bei der dritten Potenz A 3, müsste dann wohl eigentlich der Selbstbezug erreicht werden, in dem das Urwesen sich als die Einheit von Realität und Idealität erkennt und so nicht mehr die Indifferenz, sondern die verwirklichte Identität, den Geist, bzw. die Liebe darstellt. Die Setzung der einzelnen Momente als Potenzen von A ergibt sich aber nur durch die im Grunde genommen einseitig idealistische Perspektive, die gerade keinen »wirklichen Dualismus« denkt, da nur so bei dem realen Moment von einer »Position des Seins« (SPV 427) die Rede sein kann, der gegenüber die zweite Potenz als »Position der Position« (ebd.) bestimmt werden kann. Gleichwohl steht der Gedanke eines Dignitätsunterschiedes dem Idealismus im Sinne Fichtes wohl eher fern. Er lässt sich aber dennoch eher aus der idealistischen Perspektive heraus erklären, weil von vornherein das ideale Prinzip als das Entscheidende und die Selbsterkenntnis letztlich als das Ziel angesehen wird.144 144  Allerdings

leuchtet weder der Unterschied der Dignität noch die natürliche Priorität des Seins aus der Perspektive eines das Selbstbewusstsein erklärenden Modells wirklich ein. Wer sich seiner selbst bewusst ist, erkennt sich als Subjekt und Objekt und als die Einheit der beiden, ohne dass damit eine Wertigkeit zwischen die verschiedenen Momente des Selbstbewusstseins treten würde. Und dennoch scheint wohl eher die idealistische Sichtweise die Hierarchie zu ermöglichen, weil sie das Sein nicht einfach als ein Sein ohne Beziehung auf ein Erkennen betrachtet, sondern von vornherein mit der Bestimmung des Seins als Position operiert. Wenn das Reale als Position des Seins bestimmt wird, besteht ja in dem Aspekt der Position selber das ideale Prinzip bereits vor dem Realen. Zuerst ist eben A0, nicht etwa B. Somit wäre es sinnvoller, auch von einer natürlichen Priorität des Idealen zu sprechen. Im entsprechenden Sinne ist auch die Bestimmung des Grundes als eines Prinzips der Verkehrung oder als Gegenrichtung zur natürlichen Richtung nur in Bezug auf ein im Voraus bestimmtes Positives denkbar. Das Reale, sofern es als Negation bestimmt ist, setzt die Position und damit das Ideale immer schon voraus. Die Frage ist also nach wie vor die, woher die Negation kommt, da das Positive sich nicht aus eigenem Antrieb verkehren würde. Diese kann nur aus der behaupteten Eigenständigkeit des Grundes kommen, die sich aus dem ersten Modell ergibt. Die konkrete Bestimmung der Eigenständigkeit aber als Wille zur Gegenrichtung und zur Verkehrung bleibt immer bezogen auf eine vorgängig gedachte positive



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Indem einmal diese Richtung und die Hierarchie zwischen den Momenten bestimmt ist, lässt sich auch erklären, wie Schelling auf die beiden entgegengesetzten Tendenzen kommt, die sich aus dem ersten Modell nicht herleiten lassen, ja bei diesem vielmehr ausgeschlossen scheinen. Nur in Bezug auf den Zirkel von A0 bis A 3 und die damit festgelegte Richtung scheint es möglich zu werden, die Eigenständigkeit der beiden Momente als entgegengesetzte Bestrebungen zu deuten. Reales und Ideales nämlich werden dem Zirkel der Potenzen zufolge nicht als völlig voneinander unabhängige, aufeinander nur über ihr Wesen zu beziehende Qualitäten bestimmt, sondern als Richtungen, von denen eine gut und erwünscht ist, weil sie der Abfolge der Potenzen, und damit gewissermaßen der natürlichen Entwicklung entspricht, während die andere der ersten entgegengesetzt, und damit von vornherein als »falsch« und schlecht gekennzeichnet ist, weil sie die wahre Richtung verkehrt. Die Tendenz, die sich der Offenbarung, dem Verstehen, dem Idealen entgegensetzt, ist die Tendenz, auf der ersten Potenz, dem Realen stehen zu bleiben und sich darauf einzuschließen. Genau hier lässt sich daher die Bestimmung des Grundes, wie sie in der Freiheitsschrift vorgenommen wird, wiederfinden. »Der Grund«, so heißt es dort, sei »nur ein Wille zur Offenbarung, aber eben, damit diese sei, muß er die Eigenheit und den Gegensatz hervorrufen. Der Wille der Liebe und der des Grundes werden also gerade dadurch Eins, daß sie geschieden sind, und von Anbeginn jeder für sich wirkt. Daher der Wille des Grundes gleich in der ersten Schöpfung den Eigenwillen der Kreatur mit erregt, damit, wenn nun der Geist als der Wille der Liebe aufgeht, dieser ein Widerstrebendes finde, darin er sich verwirklichen könne« (FS 375 f.). Indem der Grund so zugleich in die »verkehrte« Richtung strebt, ist er dem Verstand entgegengesetzt und steht für all das, was sich dem Verstand entzieht, für das Reale und zugleich Irrationale. Indem die Realität sich der Forderung entgegenstellt, zur zweiten Potenz weiterzugehen, schließt sie sich auf sich ein und wird so zum Prinzip der Eigenheit, der Vereinzelung, zum Prinzip des Eigenwillens. Und dort, wo die Realität im Sinne des Grundes nun wahrhafte Eigenständigkeit erreichen will, also für sich und nicht nur relativ auf die Idealität145 etwas sein möchte, dort also, wo sie

Richtung, gegen die sie als ein zweites bestimmt ist, das nicht aus dem ersten, der Position selbst also, hervorgehen kann. Diesen Aspekt des Problems macht sich Schelling auch beispielsweise dort zunutze, wo er auf die Identität von Gut und Böse eingeht: »Wer aber vollends auf dem höchsten Standpunkt dieser Ansicht eine absolute Identität des Guten und Bösen fände, zeigte seine gänzliche Unkunde, indem Böses und Gutes durchaus keinen ursprünglichen Gegensatz, am allerwenigsten aber eine Dualität bilden. Dualität ist, wo sich wirklich zwei Wesen entgegenstehen. Das Böse aber ist kein Wesen, sondern ein Unwesen, das nur im Gegensatz eine Realität hat, nicht an sich. Auch ist die absolute Identität, der Geist der Liebe, eben darum eher als das Böse, weil dieses erst im Gegensatz mit ihm erscheinen kann« (FS 409). 145  Vgl. z. B. FS 395, wo es heißt, Gott sei die höchste Persönlichkeit durch »die Verbindung des idealen Prinzips in ihm mit dem (relativ auf dieses) unabhängigen Grunde«.

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in gewisser Weise dem Modell I entspricht, wird sie letztlich auch noch zu dem, was Schelling als das Böse bestimmt.

Identität und/oder Dualität? Schon die ursprüngliche Fassung der für die Freiheitsschrift so wichtigen Unterscheidung von Grund und Existenz ließ Probleme aufscheinen, die sich in Schellings ausführlicherem Versuch der strukturellen Darstellung in den Stuttgarter Privatvorlesungen identifizieren und zuordnen lassen. So war die Formulierung vom »Wesen, sofern es Grund von Existenz ist und Wesen, sofern es existiert« insofern zweideutig, als sie einerseits einen gleichwertigen Bezug der Momente zu dem einen Wesen nahelegte, andererseits aber auch schon ein Ungleichgewicht zwischen den Momenten zum Ausdruck zu bringen schien. In gewisser Weise scheint sich dies auch in Schellings Rede vom »bloßen« Grund auszudrücken, der, als »Entwicklungsgrund« »unter« dem liege, was sich aus ihm entwickle. Zahlreiche Textstellen belegen diese Sicht. Daneben aber scheint das Moment der Existenz auch insofern vor dem Grunde ausgezeichnet zu werden, als es nicht nur einen Aspekt von zweien zu bezeichnen scheint, sondern vielmehr die die zwei unterschiedenen Momente übergreifende Einheit meint, das existierende Wesen selbst. Während, anders gesagt, der Grund als das bestimmt wird, was in Gott nicht er selbst ist, scheint die Existenz gerade dieses existierende Selbst zu bezeichnen, das den Grund in sich enthält. Andererseits aber spricht Schelling im Blick auf die Existenz analog zu der Rede vom bloßen Grund auch von der »bloßen« Existenz, die einer einseitigen Idealität entspreche. Das Wesen, so Schelling gegen Ende der Freiheitsschrift, scheide sich wirklich in zwei Wesen, so »daß es in dem einen bloß Grund zur Existenz, in dem anderen bloß Wesen (und darum nur ideal)« (FS 409) sei. In diesem Kontext stellt Schelling den beiden Momenten denn auch eine Einheit gegenüber, Gott, der »als Geist die absolute Identität beider Prinzipien, aber nur dadurch und insofern ist, daß und inwiefern beide seiner Persönlichkeit unterworfen« seien (ebd.). Sowie »im Ungrund die Dualität wird, wird auch die Liebe, welche das Existierende (Ideale) mit dem Grund zur Existenz verbindet« (FS 408). Hier also wird – im Gegensatz zur obigen Darstellung – noch einmal unterschieden zwischen dem Existierenden und der Existenz, wobei an die Stelle dessen, was in der ursprünglichen Formulierung »Existenz« genannt wurde, an die Stelle des einen Momentes also, nun der Begriff des »Existierenden« tritt, während der Begriff Existenz hier eindeutig für die Identität beider Momente verwendet wird. Gleichwohl gilt auch hier, dass das als »Existierendes« bezeichnete Moment durch seine Verwandtschaft mit der übergeordneten »Existenz« immerhin als überlegen angesehen werden kann.



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Beide Aspekte, die Gleichwertigkeit einerseits wie die Auszeichnung des idealen Moments andererseits, lassen sich in den Modellen I und II eindeutig wiederfinden. In diesem Sinne gilt wohl, dass die Stuttgarter Privatvorlesungen die strukturell lokalisierbaren Probleme vielleicht deutlicher hervortreten lassen, ohne aber eine überzeugendere Lösung anbieten zu können. Deutlich wird vielmehr, dass sich beide Modelle gar nicht vereinbaren lassen, und – je nach Problemlage – mal die eine und mal die andere Sichtweise in den Vordergrund gerückt wird. Schelling möchte beides denkbar machen, wahre Identität und wahre Dualität, Unabhängigkeit der Realität bei gleichzeitigem Vorrang der Idealität,146 oder, anders gesagt, System und Freiheit. Im Blick auf Jacobis Kritik scheint dabei allerdings von vornherein fraglich, ob die Vereinigung der beiden skizzierten Modelle, also in gewisser Weise die Vereinigung von Spinoza mit Fichte, überhaupt zu einer adäquaten Lösung des Problems hätte führen können. Denn Jacobi hatte in Fichte ja gerade kein ganz anderes Modell, sondern eine idealistische Transformation der spinozischen Philosophie erkannt. Letztlich scheitern beide Jacobi zufolge daran, dass sie als konsequent vernünftige Philosophien jeweils auf einem Denken »aus einem Stück« beharren. Dieses Denken aber könne nur auf ein Bild der Vernunft selbst führen, die sich in gewisser Weise im Kreise des Nichts herumdrehen muss, solange sie sich nicht auf ein anderes richtet, das sie aber dann nicht mehr selbst begründen und insofern im System nicht erfassen kann. Was beiden Denkern insofern fehlt, ist tatsächlich so etwas wie eine ursprüngliche Position, die als Voraussetzung des Denkens selbst und damit als unerklärbar anerkannt wird.147 Es scheint offensichtlich, dass es Schelling um genau dieses Problem zu tun ist, dort, wo er um eine von der Idealität unabhängige Realität ringt. An dem gescheiterten Vermittlungsversuch aber zeigt sich, dass der Rückbezug, der durch das idealistische Modell gewonnen werden soll, ein wahrhaft Anderes zugleich ebenso ausschließt, wie er es letztlich voraussetzt, um wirklich von einem Selbstbezug sprechen zu können. Ein solch positiv bestimmtes Selbst ist einerseits in dem Zirkel nicht zu erkennen, weil es die Identität des Zusammenhangs durchbrechen würde. Es ist aber andererseits auch darum nicht aus Modell I zu gewinnen, weil die hier gedachte Eigenständigkeit gerade im Ausschluß jedweder Wechselwirkung besteht.148 Mit 146  Vgl.

auch FS 360, wo Schelling anmerkt, dass die »weibischen Klagen, daß so das Verstandlose zur Wurzel des Verstandes« gemacht werde »zum Teil auf Mißverstand der Sache« beruhten, »indem man nicht begreif[e], wie mit dieser Ansicht die Priorität des Verstandes und Wesens dem Begriff nach dennoch bestehen« könne. 147  Birgit Sandkaulen hebt im Blick auf Schelling Absicht, Persönlichkeit zu denken, die Bedeutung einer »ursprünglichen Position« hervor, die Schelling bei seinen Überlegungen zur menschlichen Freiheit zwar entdecke, aber in der Logik seines Systems auch gleich wieder zurücknehme (Sandkaulen (2004), S. 50). 148  Dazu kommt, dass die über das Modell I bestimmte Selbstheit auch ganz analog zu Spinoza gedacht werden kann. Sie entspricht wohl dem, was Birgit Sandkaulen als »naturale« im

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der Frage nach der Person Gottes, nach dem göttlichen Selbst also, rückt daher auch wieder die nach wie vor ungelöste Frage nach der Vereinbarkeit von System und Freiheit und damit die nach der menschlichen Freiheit selbst in den Blick. Im Blick auf die göttliche Person scheint die Rede von der Freiheit bereits vor dem Hintergrund der ontologischen Strukturen den gegenteiligen Beteuerungen Schellings zum Trotz nichts anderes bedeuten zu können als das, was Jacobi bei Spinoza und Fichte erkennt: die Freiheit eines Absoluten, das sich nach seinen eigenen Gesetzen bewegt und realisiert und damit die Freiheit einer Selbst-losen, und das heißt einer blinden und verstandlosen Produktivität.149 Wie aber steht es, so lässt sich vor diesem Hintergrund fragen, mit der menschlichen Freiheit, die doch im Zentrum der Freiheitsschrift steht? 4.4 Die Freiheit des Menschen Schon der Titel der Freiheitsschrift legt nahe, dass Schelling den Fokus seiner Überlegungen diesmal tatsächlich auf die spezifisch menschliche Freiheit richtet. Insofern kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass es sinnvoll ist, sich der Sache auch noch einmal von hier aus zu nähern. Auch wenn am Ende deutlich wird, dass die mit Blick auf die grundlegende Struktur aufgezeigten Probleme in diesem Kontext gleichfalls ihren Niederschlag finden, scheint ein solcher Ansatz zudem auch dadurch gerechtfertigt, dass die entscheidende Neuerung der Freiheitsschrift ja unmittelbar mit der menschlichen Freiheit zusammenzuhängen schien. Nimmt man daneben noch Schellings eigene Darstellung ernst, derzufolge die Naturphilosophie nach wie vor im Einklang mit einem ›verklärten‹ Spinozismus zu denken sein soll,150 dann ließe sich vorübergehend annehmen, dass das WechselGegensatz zur »moralischen« Selbstheit des Menschen bezeichnet (Sandkaulen (2004), S. 39). Nach diesem Modell muss jedes Wesen als bestimmte Realisation der göttlichen Substanz gedacht werden. Jedes Wesen ist nach Spinoza durch seinen conatus, also durch seinen Anteil an der göttlichen potentia bestimmt, was im Blick auf die »naturale Selbstheit« eben auch für die Freiheitsschrift gilt. Schelling selbst nimmt Bezug auf diese Bestimmung, wenn er sagt: »Zwar überall, wo Lust und Begierde, ist schon an sich eine Art der Freiheit, und niemand wird glauben, daß die Begierde, die den Grund jedes besonderen Naturlebens ausmacht, und der Trieb, sich nicht nur überhaupt, sondern in diesem bestimmten Dasein zu erhalten, zu dem schon erschaffenen Geschöpf erst hinzugekommen sei, sondern vielmehr, daß sie das Schaffende selber gewesen« (FS 376). 149  Vgl. auch Sandkaulen (2004), S. 45: »Mit anderen Worten: achtet man jenseits der anthropomorphen Rede auf die Strukturen dieser Ontologie, dann gibt es hier ebensowenig wie bei Spinoza einen Grund, das in höchstem Maße lebendige Wesen Gottes anders denn als die Einheit einer anonymen absoluten Potenz zu denken, die sich als solche – instantan oder in einem ewigen »Zirkel« – aktualisiert.« 150  Vgl. z. B. folgende Stelle im Denkmal: »Ich habe in der Vorrede zur ersten Darstellung meines Systems erklärt, daß Spinozismus in einem gewissen (auf keinen Fall Jacobischen) Verstande



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spiel aus Grund und Existenz im Sinne einer schöpferisch sich selbst hervorbringenden Natur tatsächlich noch keinen wirklich neuen Gedanken einführen müsse, weil erst die Frage nach der menschlichen Freiheit endgültig über diesen Bezug hinausführen soll. Eine solche Sicht vernachlässigt zwar, dass die schöpferisch sich hervorbringende Natur zugleich als werdender Gott gedacht werden soll,151 der als geistiges Wesen und als Persönlichkeit bestimmt ist, und sie blendet zugleich die Probleme aus, die sich aus Schellings Versuch ergaben, beide Aspekte zu verbinden. Diese Vernachlässigung ließe sich aber vielleicht durch das Argument rechtfertigen, dass Schellings Scheitern, einen persönlichen Schöpfergott zu denken, keineswegs von grundlegender Bedeutung sein müsse für sein Verständnis der menschlichen Freiheit. Für einen solchen Ansatz, für die Sicht also, die den schöpferischen Zirkel aus Grund und Existenz einseitig zunächst als eine Art natürlicher Schöpfung versteht, sprechen Textstellen wie die folgende, in der Schelling sich explizit mit einer Form von Freiheit beschäftigt, die noch nicht mit dem übereinstimmt, was später unter dem Titel der menschlichen Freiheit verhandelt werden soll. Überall, so Schelling, »wo Lust und Begierde, ist schon an sich eine Art der Freiheit, und niemand wird glauben, daß die Begierde, die den Grund jedes besonderen Naturlebens ausmacht, und der Trieb, sich nicht nur überhaupt, sondern in diesem bestimmten Dasein zu erhalten, zu dem schon erschaffenen Geschöpf erst hinzugekommen sei sondern vielmehr, daß sie das Schaffende selber gewesen« (FS 376). Hierbei scheint die eine, vorangehende, reale, der idealen nothwendig unterzulegende Seite aller wahren Philosophie sei. Bei dieser Behauptung bin ich geblieben bis jetzt, und habe sie durch die That wahr zu machen gesucht. Insofern hat die Aussage: die Identitätslehre sei spinozistisch, nichts gegen sich, sobald hinzugesetzt wird, sie sei es einem Theil, einem Element nach, gleichwie es nichts Verfängliches hat zu sagen, der Mensch sei ein physisches Wesen, sobald es nicht bedeuten soll, er sei nur dieses« (DJ, 26 f.). Vgl. daneben folgende Passage der Freiheitsschrift: »Der Spinozische Grundbegriff, durch das Prinzip des Idealismus vergeistigt (und in einem wesentlichen Punkte verändert), erhielt in der höheren Betrachtungsweise der Natur und der erkannten Einheit des Dynamischen mit dem Gemütlichen und Geistigen eine lebendige Basis, woraus Naturphilosophie erwuchs, die als bloße Physik zwar für sich bestehen konnte, in bezug auf das Ganze der Philosophie aber jederzeit nur als der eine, nämlich der reelle Teil, derselben betrachtet wurde, der erst durch die Ergänzung mit dem ideellen, in welcher Freiheit herrscht, der Erhebung in das eigentliche Vernunftsystem fähig werde« (FS 350). Dass einer solchen Annahme andererseits Schellings Aussage widerstreitet, gerade mit der Unterscheidung von Grund und Existenz von Spinoza abzuweichen, wurde bereits erwähnt. An dieser Stelle hatte sich allerdings ebenso angedeutet, dass die Abweichung eigentlich erst im Zusammenhang mit dem Problem der Persönlichkeit wirklich in den Blick gerät, das mit der Schaffung eines Geistwesens, d. h. mit dem Menschen wesentlich verbunden ist. 151  In gewisser Weise soll ja die geschilderte Selbstschöpfung Gottes mit der Natur beginnen, sofern sie vom Grund ausgeht. Im ersten Stadium seiner Verwirklichung ist Gott selbst noch als Natur zu denken. So lässt sich z. B. folgende Stelle lesen, an der es heißt, Gott bewege sich »in dem Grunde« nicht nach seinem freien Willen oder »seinem Herzen, sondern nur nach seinen Eigenschaften« (FS 402).

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es sich eindeutig um eine umformulierte Darstellung Spinozas zu handeln, der das Wesen des Menschen als dessen Selbsterhaltungstrieb, als conatus bestimmt, in dem sich die göttliche potentia ausdrücke. Im Kontext einer solchen Naturphilosophie sei denn auch, so Schelling weiter, bereits ein »Begriff der Selbstheit und Ichheit« zu gewinnen.152 Dennoch seien auf dieser Ebene des »tierischen Instinkts«, wie Schelling an anderer Stelle sagt, »Bewußtloses und Bewußtes […] nur auf eine bestimmte Weise vereinigt, die eben darum inalterabel« sei (FS 372). Hier gibt es, mit anderen Worten, noch kein bewusstes Selbst, keine »persönliche Einheit«, keinen handelnden Akteur. Mit der menschlichen Freiheit soll es aber eben um ein ganz anderes Problem gehen, das wesentlich mit dem Begriff der Persönlichkeit, d. h. mit »der zur Geistigkeit erhobenen Selbstheit« (FS 371) zu tun haben soll. In Bezug auf Gott, der als handelnder Akteur zugleich in einer Einheit mit dieser schöpferischen Natur gedacht werden muss, schien Schelling dabei allerdings keine überzeugende Lösung zu gelingen. Fraglich ist demnach nicht nur, ob es Schelling mit den Überlegungen zur menschlichen Freiheit gelingt, ein neues Licht auf das Problem der Freiheit zu werfen, wie vielfach angenommen wird. Fraglich ist vielmehr – im Blick auf die Aufgabe, ein System der Freiheit aufzustellen – ob auf der Grundlage einer einerseits tatsächlich spinozisch zu lesenden Struktur ein grundsätzlich anderes Freiheitsverständnis überhaupt entwickelt werden kann; ein Verständnis zudem, das tatsächlich Jacobis Auffassung insofern zu entsprechen scheint, als es den Menschen als bewusst handelndes Selbst bestimmt.

Der »reale und lebendige« Freiheitsbegriff Tatsächlich möchte Schelling, der die Freiheitsschrift wie gesehen insgesamt nicht als entscheidende Neuerung, sondern wesentlich als Ergänzung zu seinen bisherigen Systementwürfen versteht, mit seiner Bestimmung der Freiheit eindeutig einen wirklich neuen Aspekt ins Spiel bringen. Dabei beabsichtigt er nicht nur, über Spinoza und über den Idealismus hinauszugehen, der »einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit« (FS 352) geben könne, sondern auch Jacobi zu widerlegen und zugleich zu überbieten. Erst der »reale und lebendige« (ebd.) Freiheitsbegriff, nach dem Freiheit als »Vermögen zum Guten und zum Bösen« (ebd.) bestimmt wird, bringe nämlich den »Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freiheit« (ebd.) überhaupt in den Blick, einen Punkt, der dem152  Indem Schelling hier den Begriff der »Basis« ins Spiel bringt, scheint dies schon wieder auf die Unterscheidung von Grund und Existenz hinzuweisen und insofern über Spinoza hinauszuführen. Gleichwohl ist vor dem Hintergrund der untersuchten Strukturen ja schon deutlich geworden, inwiefern sich Schelling in gewisser Weise noch im Rahmen solch spinozischer Sichtweisen bewegt, die durch die oben zitierte Stelle eindeutig belegt werden.



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nach mit der Kritik Jacobis an Spinoza noch gar nicht erreicht sein dürfte. Einerseits scheint Schelling Jacobi allerdings erst einmal darin recht zu geben, dass das Problem der Freiheit mit dem Problem einer geistigen Realität zu tun habe, dass es also um einen Begriff von Freiheit gehen müsse, der über die natürliche Freiheit eines Wesens hinausgeht und sich grundlegend von dieser unterscheidet. Im Gegensatz zu einer reinen, einseitigen Naturphilosophie aber scheint die Freiheitsschrift ja nun über einen »Begriff der Persönlichkeit« zu verfügen, der ein Begriff von »zur Geistigkeit erhobene[r] Selbstheit« sein soll. Dadurch, »daß«, so Schelling, »die Selbstheit Geist ist, ist sie zugleich aus dem Kreatürlichen ins Überkreatürliche gehoben, sie ist Wille, der sich selbst in der völligen Freiheit erblickt, nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden Universalwillens, sondern über und außer aller Natur« (FS 364). So betrachtet ist Schelling mit Jacobi durchaus der Auffassung, dass das Verständnis der Freiheit die Unterscheidung zwischen einem geistigen und einem rein natürlichen Bereich voraussetzt. Andererseits aber wird die Problematik durch den realen und lebendigen Begriff der Freiheit auch entscheidend modifiziert. Denn indem die Bestimmung der Freiheit als »Vermögen des Guten und Bösen« an die Stelle der Freiheit im Sinne einer »bloße[n] Herrschaft des intelligenten Prinzips über die sinnlichen Neigungen« (FS 371) tritt, wird die Gegenüberstellung Geist und Natur in gewisser Weise durch diejenige von Gut und Böse ersetzt. Dem Himmel müsse, so Schelling, nicht die Erde, sondern die Hölle entgegengesetzt werden.153 Mit dieser Modifikation scheint Schelling das Problem der menschlichen Freiheit auf den ersten Blick noch über die Kritik Jacobis hinaus zu radikalisieren. Denn während die Freiheit im Sinne der »bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über das sinnliche und die Begierden« sich »ganz leicht […] aus dem Spinoza noch herleiten« ließe (FS 345) und insofern problemlos mit dem System vereinbar sei, scheint erst die Forderung, ein eigenständiges Böses zu denken, das System vor wahre Probleme zu stellen.154 Wer dem Himmel die Erde, und nicht »wie sich gebührte, die Hölle« entgegensetzt (FS 371), der scheint zudem mit der Realität des Bösen, die er herunterspielen oder ganz leugnen müsse, die wahre Tiefe der geistigen Dimension zu verfehlen, die sich erst in der Realität des Bösen zu erkennen gebe. Eine der grundlegenden Neuerungen der Freiheitsschrift liegt demnach in der wichtigen Rolle, die der Erklärung des Bösen zukommt. Vielen Interpreten gilt die Freiheitsschrift gerade deshalb als wichtiger Text, weil sie das Böse thematisiert, das zur Erfahrung des Lebens entscheidend dazugehöre.155 Unabhängig davon aber, ob 153 

Vgl. FS 371. Vgl. FS 354, wo Schelling die Frage danach behandelt, wie das Böse gleichzeitig als eigenständige Größe gedacht werden könne, ohne auf ein »System der Selbstzerreißung und Verzweiflung der Vernunft« zu führen. 155  Vgl. z. B. Marx (1981), der sich der Freiheitsschrift explizit in der Absicht zuwendet, die Frage nach dem Wesen des Bösen zu verstehen. 154 

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man diese Auffassung teilt, wirft die durch den neuen Freiheitsbegriff eingeführte Engführung der Freiheitsfrage mit dem Problem des Bösen einige neue Schwierigkeiten auf, die zugleich fraglich scheinen lassen, ob es sich bei dieser Problemfassung tatsächlich um eine Radikalisierung oder nicht eher eine Umgehung des von Jacobi aufgeworfenen Problems handelt. Auffällig ist etwa, dass Schelling im Unterschied zu Jacobi nicht die in der geistigen Realität sich ausdrückende Unbedingtheit, sondern mit dem Bösen eine besondere Form geistiger Realität zum eigentlichen Problem erklärt.156 Die Feststellung, dass die wahre Herausforderung darin bestehe, das Böse zu erklären, scheint aber nur auf Grundlage der nicht weiter thematisierten Annahme nachvollziehbar, dass das Gute im System problemlos erklärbar wäre. Das mag insofern überzeugend erscheinen, als das Gute zugleich als das Vernünftige gelten kann, das folglich in einem System der Vernunft eher zu erklären sein dürfte als ein demgegenüber als unvernünftig bzw. widervernünftig bestimmtes Böses. Begünstigt wird diese Sichtweise darüber hinaus durch die in der Freiheitsschrift sehr präsente Theodizeeproblematik, durch die alle Probleme auf Gott bezogen werden, der notwendig als »lautere Güte« betrachtet werden muss. Denke man, so Schelling, die Freiheit als »ein lebendiges positives Vermögen zum Guten und zum Bösen«, so sei »nicht einzusehen, wie aus Gott, der als lautere Güte betrachtet wird, ein Vermögen zum Bösen folgen könne« (FS 354). Dennoch stellt sich aus Jacobis Perspektive die Frage, ob es sich bei einem solchen im System erklärten »Guten« tatsächlich um ein Gutes im Sinne einer moralischen Bestimmung handeln könne, oder ob es im Rahmen des Systems nicht eher als demgegenüber neutrale Bestimmung von Positivität betrachtet werden muss. Eine solche Bedeutungsänderung des 156  Damit

verkehrt Schelling m. E. das eigentliche Abhängigkeitsverhältnis, indem er die Erklärung der Freiheit und die Erklärung geistiger Realität letztlich von der Erklärung des Bösen abhängig macht. Schellings Konzentration auf die Widerlegung des Privationsbegriffes lenkt ebenfalls von der Frage ab, ob und wie geistige Realität überhaupt erklärt werden könne. Das zeigt sich etwa an folgender Argumentation, an der Schelling für einen positiv verstandenen Begriff des Bösen argumentiert: Schon »die einfache Überlegung, daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Kreaturen ist, der des Bösen allein fähig ist,« zeige, »daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen könne« (FS 368). Meines Erachtens ist dieses Argument irreführend. Dass der Mensch im Gegensatz zum Tier böse handeln kann, ergibt sich eher aus dem Umstand, dass er seine Handlungen nach moralischen Maßstäben bewertet. Die Frage nach der moralischen Dimension überhaupt geht der Frage nach dem Bösen voran. Auch Walter Jaeschke kritisiert, dass »Schelling das Kriterium der Angemessenheit des Freiheitsbegriffs darein« setze, »ob er den Ursprung und das Wesen des Bösen erhellen könne. Diese vermeintlich überlegene Definition verkürzt den Freiheitsbegriff um seine wichtigsten Dimensionen. Und sie setzt die Unterscheidung des Guten und des Bösen unbefangen voraus – als ob sie fixe, für sich bestehende Größen wären. […] Freiheit ist Autarkie und Autonomie. […] Und nur weil sie dies ist, kann sie das Vermögen des Guten und des Bösen sein – neben vielem anderen, was sie auch ist: etwa Wahlfreiheit, Willensfreiheit, Handlungsfreiheit, politische Freiheit« (Jaeschke (1996), S. 216).



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Begriffes »gut« findet sich beispielsweise bei Spinoza, der, indem er dem Guten das Schlechte gegenüberstellt, nicht einfach nur einen Privationsbegriff des Bösen vertritt, sondern vor allem eine ›Entmoralisierung‹ der Begriffe vornimmt bzw. die am moralischen Urteil orientierte Sicht durch eine gewissermaßen neutralere Perspektive ersetzt.157 Eindeutig ist zwar, dass Schelling demgegenüber eine ›Remoralisierung‹ der Problematik intendiert. Andererseits aber bleibt aus der Perspektive Jacobis zu fragen, ob Schelling die Begriffe gut und böse in ihrer moralischen Bedeutung zu recht wieder einführen kann. Dass das Böse allerdings auch gar nicht ausschließlich als moralische Bestimmung gelten soll, zeigt sich beispielsweise daran, dass Schelling neben dem moralischen auch von einem allgemeinen Bösen redet, das von der menschlichen Freiheit vorerst ganz unabhängig scheint.158 Daneben aber lässt sich dieser Umstand auch daran erkennen, dass die Frage nach dem Bösen zugleich die Frage nach einer gewissermaßen positiven, d. h. realen Negation ist, einer Negation also, die nicht von vornherein schon unter der Perspektive des identischen Ganzen aufgehoben sein, und die umgekehrt das identische Ganze nicht gefährden soll. Im Zusammenhang mit dem Bösen spricht Schelling dabei von einem »mittleren« Begriff der Negation, der einen »reellen Gegensatz« des Positiven bilde (FS 370). Dieser dürfe nicht als bloße »Beraubung«, sondern müsse als positive Verkehrung, als Verkehrung von Temperatur in »Distemperatur«, von Harmonie in »Disharmonie« gedacht werden (FS 370 f.). Sofern das Böse derart als verkehrte Einheit verstanden werden soll, setzt es zu seiner Möglichkeit einerseits einen bestimmten Begriff von Einheit voraus, der – im Gegensatz zu dem »unlebendigen Begriff des Positiven, nach welchem ihm nur die Beraubung entgegenstehen kann« (FS 370) – in der »lebendigen Identität«, 157  Vgl. Deleuze 1993, der die Auffassung vertritt, dass Spinoza die moralische durch eine »ethische« Sicht der Welt ersetze (225 ff.). Allerdings wird durch die Wahl des Begriffes »ethisch« schon deutlich, dass Deleuze hier keineswegs auf eine einfache »naturalistische« Sicht der Welt abzielt. 158  Vgl. FS 373. Dort spricht Schelling von der »universellen Wirksamkeit« des Bösen, das als »unverkennbar allgemeines, mit dem Guten überall im Kampf liegendes Prinzip« bestimmt werden müsse. Vgl. daneben auch FS 380 f.: »Es gibt daher ein allgemeines, wenn gleich nicht anfängliches, sondern erst in der Offenbarung Gottes von Anfang, durch Reaktion des Grundes, erwecktes Böses, das zwar nie zur Verwirklichung kommt, aber beständig dahin strebt. Erst nach Erkenntnis des allgemeinen Bösen ist es möglich, Gutes und Böses auch im Menschen zu begreifen«. Man könnte vielleicht sagen, dass Spinoza aufgrund der Zusammenlegung von Theorie und Praxis alle Bereiche gleichermaßen entmoralisiert und dabei auch den genuin praktischen Bestimmungen von gut und böse ihre eigentümliche Bedeutung entzieht und dass Schelling umgekehrt, aufgrund der ebenso monistischen Anlage seines Systems, nicht nur den Bereich der Praxis, sondern eben die gesamte Welt wieder ›re-moralisiert‹. Bei seiner Erklärung des Bösen rückt nicht nur die moralische, sondern auch die naturale Selbstheit und damit die Natur selbst in einen fragwürdigen Zusammenhang mit dem Bösen.

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d. h. in der Struktur aus Grund, Existenz und deren Einheit besteht, sofern diese als Persönlichkeit gedacht werden soll. Auf den wahren Begriff des Bösen könne die »dogmatische Philosophie« Schelling zufolge eben deshalb nicht kommen, »weil sie keinen Begriff der Persönlichkeit, d. h. der zur Geistigkeit erhobenen Selbstheit« (ebd.) habe. So betrachtet könnte man nun allerdings im Gegensatz zu der vorhin aufgestellten Behauptung sagen, dass das Böse nur auf Grundlage eines Verständnisses von Geistigkeit überhaupt verstanden werden könne, dass also das Böse nicht Voraussetzung der geistigen Selbstheit, sondern dass die geistige Selbstheit auch Schelling zufolge als Voraussetzung des Bösen gelten müsse. Andererseits aber beruht die Möglichkeit des Bösen und das heißt die Verkehrbarkeit dieser Einheit auf einer Trennbarkeit der Prinzipien, die mit dem Verständnis von geistiger Selbstheit offenbar nicht notwendig zusammenhängt, weil die Einheit der Prinzipien in Gott zwar als geistige, zugleich aber als »unzertrennliche« gedacht werden soll. Erst mit der Zertrennlichkeit der Prinzipien im Menschen, die die Möglichkeit des Bösen bezeichnet, kommt die wahre Differenz ins Spiel, denn wäre, so Schelling, »im Geist des Menschen die Identität beider Prinzipien ebenso unauflöslich als in Gott, so wäre kein Unterschied […]. Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich sein, – und dieses ist die Möglichkeit des Bösen« (FS 364).159 Die Erklärung des Bösen erfordert so betrachtet also sogar mehr als die Erklärung geistiger Selbstheit und Persönlichkeit – einen wahrhaften Dualismus, und das heißt eine reale Trennung, die mit der Unterscheidung von Grund und Existenz und der Realisierung ihrer göttlichen Einheit offenbar noch nicht gegeben ist. Dass es sich bei dem Problem der Verkehrbarkeit nicht vornehmlich um ein praktisches Problem handelt, kann auch ein Rückblick auf die Identitätsphilosophie verdeutlichen, bei der bereits das Fehlen einer solchen Negation oder Differenz gegenüber der absoluten Identität diagnostiziert wurde. Schon zur Erklärung der falschen Perspektive auf das Endliche schien es nötig, dem Endlichen eine gewisse Form der Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der absoluten Identität bzw. von Gott zuzuschreiben. Da Schelling in der Identitätsphilosophie wie Spinoza von einer Einheit von Theorie und Praxis ausgeht, fällt das Problem des Absehens von der wahren Perspektive letztlich mit dem Problem eines praktischen Abfalls von Gott zusammen. Das gilt, wie sich zeigen wird, auch für die Freiheitsschrift, bei der die Ver159  Vgl.

auch FS 373: »Denn wenn Gott als Geist die unzertrennliche Einheit beider Prinzipien ist, und dieselbe Einheit nur im Geist des Menschen wirklich ist: so würde, wenn sie in diesem ebenso unauflöslich wäre als in Gott, der Mensch von Gott gar nicht unterschieden sein; er ginge in Gott auf, und es wäre keine Offenbarung und Beweglichkeit der Liebe.« Sofern gilt, dass das Böse Voraussetzung für die Realisierung des Geistes ist, resultiert daraus eben auch das Problem einer Notwendigkeit des Bösen, das von Schelling einerseits immer wieder relativiert, andererseits aber auch offen ausgesprochen wird.



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wirklichung des Bösen immer zugleich mit falscher Erkenntnis verbunden ist. Die Freiheitsschrift scheint insofern gerade hier an die Identitätsphilosophie anzuschließen und ihre Probleme mit der Erklärung des Bösen im Sinne der Frage nach einer bestimmten Art von Negation lösen zu wollen. Dadurch wird auch noch zusätzlich unterstrichen, dass und warum die Bestimmung der menschlichen Freiheit als Vermögen zum Guten und zum Bösen als entscheidende Neuerung der Freiheitsschrift gelten kann. Zudem macht diese Perspektive deutlich, wie die Frage nach der Freiheit des Menschen wirklich ins Zentrum der Überlegungen zum System gerückt wird. Im Gegensatz zur Identitätsphilosophie also, die die menschliche Freiheit als nichtiges Produkt der Einbildungskraft versteht, kommt dem Menschen als Zentralwesen und seinem endlichen »Zeitleben« nunmehr eine wesentliche Bedeutung für das gesamte System zu. Durch diese Überlegungen scheint eindeutig, dass es sich bei der Frage nach der Freiheit zum Guten und zum Bösen nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, um ein genuin praktisches Problem handelt. Insofern ist fraglich, ob die Frage nach dem Bösen wirklich deshalb in den Blick gerät, weil erst die Erklärung des Bösen ein angemessenes Freiheitsverständnis denkbar machen könne. Schellings Darstellung legt zwar nahe, dass der »reale und lebendige« Begriff der Freiheit an der Lebenswirklichkeit orientiert ist, die durch die Erfahrung des Bösen wesentlich geprägt sei.160 Diese Realität des Bösen in der Welt, die nicht von der Hand zu weisen sei, könne nur wirklich erfasst werden, wenn das Böse radikal, d. h. als geistige Realität verstanden werde. Insofern scheint im Hintergrund der Überlegungen Schellings auch Kants Religionsschrift zu liegen, die die Frage nach dem radikal Bösen aufwirft, das Schelling aufgreift. Andererseits aber zeigt die Verschränkung von Theorie und Praxis gegenüber Jacobi von vornherein eine entscheidende Veränderung der Problematik an, die den Eindruck bestärkt, dass auch hier nicht von einer Widerlegung der Kritikpunkte Jacobis, ebensowenig aber von einer Radikalisierung des Problems gegenüber Jacobi die Rede sein kann. Sofern das Problem der Freiheit ein einheitlich auf den Gebieten von Theorie und Praxis sich äußerndes Problem von Negation und Differenz ist, scheint es viel eher in den Dienst des Systemgedankens zu treten, als diesen zu problematisieren oder herauszufordern. Aus der Sicht Jacobis, welcher der theoretischen Logik des Systems gegenüber auf einer praktischen Logik besteht, bleibt nach wie vor fraglich, ob Schelling in der Freiheitsschrift tatsächlich für sich reklamieren kann, über einen Begriff der zur Geistigkeit erhobenen Selbstheit zu verfügen, ob er also, mit anderen Worten, die Dimension von Unbedingtheit einholen kann, auf der Jacobi besteht. 160  Vgl.

z. B. FS 388. Dort ist die Rede von einem »ursprüngliche[n] Böse[n] im Menschen, das nur derjenige in Abrede ziehen kann, der den Menschen in sich und außer sich nur oberflächlich kennengelernt hat.«

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Während es zunächst so schien, als wäre schon die Unterscheidung von Grund und Existenz geeignet, dieses Problem zu lösen, zeigt sich im Zusammenhang mit Schellings Überlegungen zur menschlichen Freiheit, dass die grundlegende Struktur dazu noch einmal modifiziert werden muss, wodurch allererst der Eindruck entsteht, die ursprüngliche Struktur solle tatsächlich vorerst nur allgemein und damit vor allem als Grundlage der Natur gedacht werden. Die Struktur aus Grund und Existenz betrifft jedes Wesen, so dass jedes Wesen als Einheit von Grund und Existenz zu denken ist. Dort aber, wo der Mensch in den Blick genommen wird, muss dieses Verhältnis noch einmal spezifiziert werden, weil erst der Mensch ein Wesen darstellt, bei dem die Einheit von Grund und Existenz als geistige Einheit verstanden werden muss. Einerseits scheinen sich dabei auch die Begriffe von Grund und Existenz selbst gegenüber der ursprünglichen Bestimmung zu verändern. Denn sofern die in beiden Momenten sich ausdrückende Einheit nun als geistige bestimmt ist, werden auch die Momente selbst, die ja (zumindest nach Modell I) gewissermaßen Ausdrücke der wesentlichen Einheit sind, auf ein anderes Niveau gehoben. »Denn wie in der anfänglichen Schöpfung, welche«, wie Schelling ausführt, »nichts anderes als die Geburt des Lichtes ist, das finstere Prinzip als Grund sein mußte, damit das Licht aus ihm […] erhoben werden konnte, so muß ein anderer Grund der Geburt des Geistes, und daher ein zweites Prinzip der Finsternis sein, das um so viel höher sein muß, als der Geist höher ist als das Licht« (FS 377), das im Weiteren als »Geist des Bösen« bestimmt wird. Trotz dieser Modifikation aber äußert sich auch in diesem Zusammenhang die grundlegende Unklarheit über die zwischen den Momenten bestehenden Verhältnisse. Denn einerseits scheinen hier Grund und Existenz im Sinne von Dunkel und Licht, bzw. im Sinne der je geistigen Variante von Dunkel und Licht, die man z. B. als »Geist der Zwietracht« (FS 365) und als Geist der Eintracht bestimmen könnte, nebeneinander zu stehen.161 Im Blick auf Schellings Definition des positiven Bösen als Trennung und Verkehrung der eigentlichen Einheit scheint dies durchaus plausibel. Andererseits aber entsprechen diese Bestimmungen der Struktur dann nicht mehr, wenn sie als schöpferisches Verhältnis gedacht wird, wenn also das dunkle Prinzip in seiner Funktion als Grund angesprochen wird. Dann nämlich gilt, dass nicht mehr die Einheit beider Prinzipien, sondern das vergeistigte Prinzip des Lichts selbst als »Geist« bezeichnet wird.162 In diesem Sinne spricht Schelling von einem »Reich der Geschichte«, das die »Geburt des Geistes« sei, wie das »Reich der Natur« die »Geburt des Lichts« darstelle (FS 377). 161  Dem

»Geist des Bösen« könnte man wohl auch den »Geist des Guten« gegenüberstellen. Schelling allerdings spricht stattdessen vom »Geist der Liebe«. 162  Vgl. die oben zitierte Passage, nach der dem Prinzip der Finsternis der Geist als das Höhere des Lichts gegenübergestellt wird.



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Ein ähnliches Problem ergibt sich, wenn man nicht den Begriff des Geistes, sondern den des »Selbst« im Rahmen der Strukturüberlegungen verorten möchte. Einerseits nämlich scheint die Selbstheit mit dem Geist und damit sozusagen mit dem dritten (oder ersten) Moment der Struktur, wie sie im vorangegangenen Teil untersucht wurde, identisch zu sein. »Das aus dem Grunde der Natur emporgehobene Prinzip, wodurch der Mensch von Gott geschieden ist, ist die Selbstheit in ihm, die aber durch ihre Einheit mit dem idealen Prinzip Geist wird.« Insofern soll gelten, dass die »Selbstheit als solche« Geist ist (FS 364). Dadurch aber, dass sie Geist ist, sei sie zugleich »frei von beiden Prinzipien«. Das geistige Selbst ist – so könnte man sagen – das A über dem Strich, das wahlweise als A0 bzw. A 3 bestimmt wurde. In diesem Sinne scheint die Persönlichkeit beim Menschen zunächst genauso gedacht zu werden wie die Persönlichkeit Gottes. Andererseits aber zeigt sich im Folgenden auch, dass das menschliche Selbst im Unterschied zum göttlichen entscheidend mit dem Moment des Grundes verbunden wird, wodurch Selbstheit wesentlich als Eigenheit oder Besonderung bestimmt wird. Die Selbstheit ist eben auch »das aus dem Grunde der Natur emporgehobene Prinzip, wodurch der Mensch von Gott geschieden ist« (ebd.). Insofern kann »die Selbstheit sich trennen von dem Licht, oder der Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein« (FS 365). Im Unterschied zu Gott also, bei dem die Rede vom »Er Selbst« an das Moment der Existenz bzw. der Idealität gebunden war (demgegenüber Grund als das fungiert, was in Gott »nicht Er Selbst ist«), scheint diese beim Menschen eher auf das Moment des Grundes bezogen, weil dieses auch als principium individuationis fungiert. Das scheint nun einerseits erneut mit Schellings Erläuterung des Bösen übereinzustimmen, nach der das Böse in einer Verkehrung der Momente gegenüber ihrem eigentlichen Verhältnis besteht. In der eigentlichen Ordnung (man könnte auch sagen, in der göttlichen Ordnung, die allerdings zugleich die natürliche Ordnung ist) ist der Grund nach dem hierarchischen Modell wie gesehen das untergeordnete Moment. Die Möglichkeit des Bösen besteht nun gerade darin, dass der Mensch im Gegensatz dazu den Grund über die Existenz, d. h. den Eigenwillen über den Universalwillen setzen kann. Als böse wird somit, so könnte man wohl sagen, ein solcher Mensch bestimmt, der sein eigenes über das allgemeine Wohl setzt, der sich damit, allgemein gesprochen, als rein egoistisches Selbst versteht. Ins Modell zurückübersetzt könnte man vielleicht sagen, dass ein solcher Mensch B über A setzt, dass er also gewissermaßen das A über dem Strich durch ein B ersetzt. Der Mensch b wäre auf diese Weise als a = b    zu denken gegenüber der göttlichen Struktur, die als a     b = a bestimmt wurde.163 Die Struktur wäre damit grundlegend verkehrt und der163 Vgl. z. B. FS 389: Die allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht […] darin, daß der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum herrschenden

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art korrumpiert, dass sie nicht mehr als Ausdruck der göttlichen Struktur interpretiert werden kann. Der Mensch, der eigentlich, gerade weil er Geistwesen ist, als »Central«-Wesen gedacht werden müsste, das mit der höheren Einheit von Grund und Existenz gewissermaßen die innerste Wahrheit zum Ausdruck bringt, rückt so in die Peripherie.164 Einerseits also lassen sich Schellings Ausführungen der Freiheitsschrift mithilfe dieses Modells plausibel nachvollziehen. Andererseits aber zeigt der Blick auf diese Strukturen, wo sich neben den bereits an der Struktur Gottes aufgezeigten Problemen weitere Schwierigkeiten ergeben. Denn die ohnehin schon fragwürdige Identifikation der Bestimmung über dem Strich mit einer der beiden Variablen, die sich mit der jeweiligen Eigenständigkeit der Momente nicht verträgt, wird durch die Umkehrung, die im Bösen erfolgen soll, noch unverständlicher. Gerade dort, wo die Einheit als geistige bestimmt wird, scheint nämlich die Identifikation mit dem idealen Moment wesentlich einleuchtender als die Identifikation mit dem anderen, diesem gerade entgegengesetzten Aspekt, bei dem »der Geist der Zwietracht herrscht, der das eigne Prinzip vom allgemeinen scheiden will« (FS 365). Letztlich müsste es bei der Frage nach der Persönlichkeit wohl eigentlich darum gehen, ein Selbst denkbar zu machen, das sowohl individuell als auch geistig bestimmt ist, das also in diesem Sinne gerade keine Hierarchie zwischen diese beiden Momente setzt, sondern sie als gleichberechtigt betrachtet und damit eine wahre Einheit der beiden Momente bezeichnete.165 Dann allerdings müsste es möglich sein, auch den und zum Allwillen zu erheben, dagegen das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann.« Sofern das Geistige als Mittel bestimmt wird, rückt es an die Stelle des Grundes, während der Grund auf die andere Seite und damit auch an die Stelle über dem Strich gesetzt werden muss. Diese Bestimmung erfasst allerdings auch nur einen Teil der Ausführungen Schellings. Sie erfasst zum Beispiel nicht den Aspekt der »Entzweiung«, der mit dem Geist des Bösen angesprochen wurde. Das zeigt unter anderem, wie schwer es ist, über die bereits geschilderten Schwierigkeiten hinaus, die Problemlage des »Selbst« mit der des »Geistes« in einen Zusammenhang zu bringen. 164  Zur Rede von »Centrum« und »Peripherie« vgl. FS 364 ff. Vgl. außerdem die berühmte Stelle FS 381: »Die Angst des Lebens treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen […]«. 165  Auf ein solches Modell scheint auch die Darstellung von Annemarie Pieper zu zielen, die das Verhältnis der beiden Willen als »Liebesverhältnis« interpretiert. Dabei sei es die »Aufgabe des Geistes« zu zeigen, »daß die Liebe zum Partikularen in der Gegenstrebigkeit zur universalen Tendenz nicht nur erhalten bleibt, sondern sich allererst als solche voll entfalten kann, so wie umgekehrt die Liebe zum Universalen durch die Rückbindung an die Selbstliebe nicht nur nicht geschmälert wird, sondern sich allererst verfestigen kann« (Pieper (1995), S. 98). Als solches sei das Verhältnis durch die »Anerkennung des jeweils anderen geprägt«. Von diesem Gedanken ausgehend ergibt sich daher auch folgender Einwand gegen Schelling: »Im Grunde genommen widerspricht es dem Modell der durch den Geist gestifteten Verhältniseinheit, in welcher die Glieder als solche gleichberechtigt sind, wenn Schelling den Geist der Zwietracht einseitig nur in der Unbotmäßigkeit des Eigenwillens sieht, der sich über den Universalwillen erhebt, anstatt sich diesem unterzuordnen. Mir scheint, daß das zuvor als Liebesverhältnis beschriebene Selbstverhältnis



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Menschen zugleich als individuelle Selbstheit und als Verwirklichung der göttlichen Struktur zu denken. Unabhängig von der Frage aber, ob ein solches Modell von Persönlichkeit denkbar ist, scheint Schellings Lösung demgegenüber in zwei einseitige Versionen von Persönlichkeit auseinanderzufallen, von denen die eine (die göttliche, die zugleich die Persönlichkeit des ›guten‹ Menschen wäre) letztlich als überwiegend idealistisch bestimmt wird, wobei sowohl die Eigenständigkeit der Realität als auch die Individualität der Person als fraglich gelten kann, während die andere (die des ›bösen‹ Menschen) Individualität und Realität in den Vordergrund rückt und damit die ideale, geistige Bestimmung zu verfehlen scheint. Individuelle Selbstheit scheint demzufolge mit dem Bösen wesentlich verbunden. Schelling Ausführungen zur Möglichkeit des Bösen führen damit allerdings nicht über die Probleme hinaus, wie sie schon unabhängig von der menschlichen Freiheit, mit Blick auf die Struktur der göttlichen Persönlichkeit geschildert wurde. Daher sei nun im Weiteren noch ein Blick auf Schellings Ausführungen zur Wirklichkeit der Freiheit (bzw. des Bösen) geworfen, die nämlich eigentlich »der größte Gegenstand der Frage« (FS 373) sein soll. Die Verwirklichung der Freiheit in der »Urtat« Tatsächlich hatte sich die bisherige Erklärung auf die beiden Möglichkeiten von Gut und Böse konzentriert, ohne dabei darauf einzugehen, dass es sich bei der Freiheit des Menschen um ein »Vermögen« zu diesen beiden Möglichkeiten handeln sollte. Während also die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit den Fokus auf den Inhalt legte, darauf also, wozu sich das Vermögen bestimmen kann, richten sich die Überlegungen zur Wirklichkeit der Freiheit gewissermaßen auf den formalen Aspekt, auf das, so Schelling »formelle Wesen der Freiheit«. Dabei stellt Schelling zunächst klar, dass es sich dabei keineswegs um »ein völlig unbestimmtes Vermögen« handeln könne, sich willkürlich für die eine oder andere Möglichkeit zu entscheiden. Freiheit wäre dann nicht anders zu denken denn als reiner Zufall. Zufall aber sei »unmöglich; widerstreite der Vernunft wie der notwendigen Einheit des Ganzen; und wenn Freiheit nicht anders als mit der gänzlichen Zufälligkeit der Handlungen zu retten ist, so ist sie«, Schelling zufolge, »überhaupt nicht zu retten« (FS 383). Wenn aber Freiheit weder als Zufall gedacht, noch in einem deterministischen System vollständig aufgehoben werden solle, dann müsse sie durch eine Art von Notwendigkeit erklärt werden, durch eine »höhere Notwendigkeit, die gleichweit entfernt ist vom Zufall, als Zwang oder äußerem Bestimmtwerden, die vielmehr eine innere, aus dem überhaupt nicht unter der Form der Subordination begriffen werden kann. Wenn dennoch von einer Subordination die Rede sein soll, dann allenfalls in dem Sinn, daß beide Willen sich dem Verhältnis unterordnen« (ebd., S. 100, Herv. A.P.).

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Wesen des Handelnden selbst quellende Notwendigkeit ist« (FS 383). Das »formelle Wesen« der Freiheit besteht demnach Schelling zufolge in dem Vermögen, sich aus seiner eigenen Wesensnotwendigkeit heraus zu bestimmen. Damit hängt die Freiheit nun entscheidend an der Frage, wie das eigene Wesen selbst bestimmt sei. Die folgenden Überlegungen, in denen Schelling auf Kant zurückgreift, machen deutlich, dass es sich hier tatsächlich um eine entscheidende Frage handelt, die aber zugleich nur unzureichend beantwortet wird. Denn zunächst einmal scheint das Problem der Selbstbestimmung eines Wesens, geradeso wie der Gedanke von Selbsthervorbringung bei der causa sui, auf eine paradoxe Situation zu führen. Denn »um sich selbst bestimmen zu können, müßte« das Wesen »in sich schon bestimmt sein« (FS 384). Eine derartige Bestimmung aber dürfe nicht von außen und auch nicht durch »zufällige empirische Notwendigkeiten« gegeben sein, sondern »es selber als sein Wesen, d. h. seine eigene Natur, müßte ihm Bestimmung sein« (ebd.). Diese Erklärung allerdings verschiebt das Problem eigentlich nur, sofern auf die Frage nach dem Wesen nun die Frage folgen müsste, worin denn nun die »eigene Natur« des Wesens bestehen solle, eine Frage, die Schelling letztlich offen lässt.166 Klar ist nur, dass diese eigene Natur, dieses Wesen, kein dem Menschen »bloß gegebenes« sein könne. Denn wäre »jenes Wesen ein totes Sein und in Ansehung des Menschen ein ihm bloß gegebenes, so wäre, da die Handlung aus ihm nur mit Notwendigkeit folgen kann, die Zurechnungsfähigkeit und alle Freiheit aufgehoben« (FS 385). Dies lässt sich nur dann vermeiden, wenn das Wesen des Menschen nicht von außen bestimmt ist, sondern selbst auf Freiheit beruht: das »Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne Tat« (ebd., Herv. Schelling). Die so gedachte Freiheit, die mit einer Art von Notwendigkeit zusammenfallen soll, ist damit »reales Selbstsetzen, es ist ein Urund Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht und der Grund und die Basis 166  Allerdings

ist dies wohl kein Zufall, sofern gerade hier das fragliche Selbst in den Blick

geraten müsste. Insofern erstaunt es nicht, dass Schelling, wie Birgit Sandkaulen deutlich macht, gerade an dieser Stelle der Argumentation wieder an Jacobi anzuknüpfen versucht, wie sich unter anderem an bestimmten Formulierungen zeigt. »Das vermißte Selbst«, so Sandkaulen, »die individuelle Identität der Person, kommt hier also allererst und in ganz anderer Weise als das bisher allein behandelte natürliche Eigeninteresse zur Sprache, in Gestalt einer ›anfänglichen Handlung, durch welche [der Mensch] dieser und keine anderer ist‹, wie Schelling offenbar Jacobi zitierend sagt« (Sandkaulen (2004), S. 50). Schelling bringe an dieser Stelle der Argumentation die »Bestimmtheit einer ursprünglichen Position« ins Spiel (vgl. Anm. 147 der vorliegenden Arbeit), angesichts derer er »seine systemischen Intentionen eigentlich einer radikalen Befragung hätte unterziehen müssen« (ebd., S. 51). Stattdessen aber werde diese »Einsicht« von Schelling nicht weiter fruchtbar gemacht (ebd., S. 53). Das moralische Selbst werde nicht nur als Akt der Selbstkreation mit der »Logik spinozischer Notwendigkeit« ineinsgedacht (ebd., S. 51), sondern darüber hinaus so »in die ontologische Grundlegung […] eingepaßt« (ebd.), dass der »Eigensinn der ursprünglichen Position […] in der entschieden konsonanten Ordnung oder der entschieden dissonanten Verkehrung der Prinzipien« verschwinde (ebd., S. 52).



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aller Wesenheit ist« (FS 385). Die Selbstsetzung seines Wesens kann aber verständlicherweise nicht in der Zeit stattfinden, und sie ist auch kein bewusster Akt, weil sie dem Bewusstsein selbst vorausliegt und es begründet. Die Freiheit betrifft also ausschließlich eine als außerzeitlich und unbewusst bestimmte Urtat, während der Mensch in seinem »Zeitleben« aus der Notwendigkeit seines Wesens heraus handeln soll. Vor der Urtat, in der der Mensch sein eigenes Wesen setzt, wird er von Schelling als ein unentschiedenes Wesen gedacht, das »am Scheidepunkt« steht, sich also für eine von zwei möglichen Realisierungen seines Wesens zu entscheiden hat. Ent­ weder, er ordnet sein eigenes Selbst, den Eigenwillen, dem Universalwillen über und entscheidet sich für das Modell, nach dem er gewissermaßen B über dem Strich als sein Selbst setzt. Oder aber er entscheidet sich dafür, sein eigenes Selbst, den Grund, unterzuordnen und sich gewissermaßen als A, d. h. in Entsprechung zur göttlichen Struktur, zu setzen. Wofür er sich aber entscheidet, ist in seine eigene Verantwortung gestellt. »[W]as er auch wähle, es wird seine Tat sein« (FS 374). Diese Konzeption wirft allerdings zahlreiche Schwierigkeiten auf, die die Freiheitsschrift selbst nur teilweise thematisiert. Einerseits wird der Mensch auf diese Weise zu einer Art von causa sui erklärt, die denselben Problemen unterliegt, die sich schon im Zusammenhang mit der göttlichen Persönlichkeit zeigten.167 Die Lage wird zudem dadurch noch verwirrender, dass die Selbsthervorbringung des eigenen Wesens nun auf zwei Realisierungsmöglichkeiten seiner selbst bezogen wird. Diese Ergänzung scheint noch notwendiger auf ein Selbst ›vor‹ seiner eigenen Erschaffung hinzuweisen, das aber mit der Figur einer instantanen Selbsthervorbringung zugleich unvereinbar scheint. Daneben bleibt im Zusammenhang mit der Spinozakritik Jacobis auch entscheidend, dass die Freiheit, von der Schelling hier spricht, mit einer Freiheit, bewusst in der Zeit nach Begriffen von gut und böse zu handeln, nichts zu tun hat.168 Sie betrifft nur die Urtat selbst, die außer aller Zeit zu denken ist, und die als unbewusster, spontaner Akt der Selbstsetzung auch nicht als Handlung im oben genannten Sinne bezeichnet werden kann. Sofern man also das »Zeitleben« des Menschen betrachtet, scheint sich die Rede von der Freiheit auch weniger auf ein erfahrbares Vermögen zu zielen – sie ist eben kein Vermögen, seinen Willen nach möglichen Begriffen von gut und böse zu bestimmen – als auf ein Gefühl der Verantwortung 167 

Vgl. auch Sandkaulen (2004), S. 50. dieses Problem weist auch Friedrich Hermanni hin, der von einer »unaufhebbaren Zweideutigkeit der intelligiblen Tat« spricht. Diese werde entweder »als zurechenbare Handlung des menschlichen Subjekts verstanden. In diesem Fall kann sie erst erfolgen, nachdem das Subjekt konstituiert ist, und der leiddurchkreuzte Gesamtzustand der Welt kann nicht Folge dieser Tat sein. Oder die intelligible Tat wird […] als Erklärungsprinzip der Erfahrungswelt in Anspruch genommen. In diesem Fall kann sie nicht jenes bewußte, zurechenbare Handeln des Subjektes sein, das stets schon in dieser Welt agiert« (Hermanni (1994), S. 26). 168  Auf

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für die eigenen Taten, das nicht wegen des Gefühls der Freiheit, sondern vielmehr trotz der Abwesenheit einer derartigen Freiheit erhalten werden soll. So sei derjenige, der, »um eine unrechte Handlung zu entschuldigen, sagt: So bin ich nun einmal«, sich zugleich bewußt, »daß er durch seine Schuld so ist, so sehr er auch Recht hat, daß es ihm unmöglich gewesen, anders zu handeln« (FS 386)169. Schelling selbst redet in Bezug auf sein eigenes Verständnis von einer »Prädestination«, die nicht von Gott, sondern aus dem eigenen Wesen folge. Für den Menschen in seinem »Zeitleben« allerdings scheint es letztlich keinen entscheidenden Unterschied zu machen, ob er durch Gott oder durch seine eigene Urtat prädestiniert ist, weil die Urtat seinem Bewusstsein »vorangeht, es erst macht«. Das, was man in diesem Fall als den »Schöpfer« des eigenen Wesens bezeichnen müsste, wird zwar nachträglich als das eigene Wesen bestimmt, bleibt aber für das bewusste Selbst als eine unverfügbare Voraussetzung bestehen, die kaum weniger fremd und äußerlich scheint, als es Gott oder eine allumfassende Natur wäre. Besonders problematisch aber bleibt letzten Endes die Frage, was diese Bestimmung der Freiheit im Blick auf ethische Überlegungen bedeuten könnte. Denn die Auffassung, dass sich der Mensch immer schon für ein bestimmtes, gutes oder böses Wesen entschieden habe, aus dem dann die Handlungen in der Zeit notwendig erfolgen, scheint trotz des Gefühls der Verantwortung für die eigenen Taten auf eine 169 

Verschiedene Interpreten sehen darin eine wesentliche Erfahrung geschildert, an der sich unter anderem die große Bedeutung der Freiheitsschrift zeige. Christian Brouwer etwa sieht in dieser Erfahrung das ursprüngliche Gefühl der Freiheit ausgedrückt: »Dies ist der Niederschlag des unmittelbaren Gefühls der Freiheit, von dem Schelling spricht. So kann sich der Mensch in dreifacher Weise nicht entziehen, weder der Wirklichkeit der Übel noch dem Gefühl der Verantwortung noch dem Gefühl des unschuldigen Getroffenseins. Zur Aufdeckung dieser spannungsvollen Dynamik des Verstricktseins in das Dasein der nichtguten Welt leistet die Freiheitsschrift […] einen wichtigen Beitrag« (Brouwer (2011), S. 301). Katia Hay hingegen kritisiert zwar einerseits die paradoxe Argumentation Schellings, streicht aber die Bedeutung der Erfahrung hervor: »C’est effectivement une argumentation assez paradoxale. D’un côté l’homme est libre de faire le mal, d’un autre côté il ne peut éviter de le faire. Et l’idée d’une décision hors du temps ne peut pas être acceptée, elle non plus, sans difficulté. Mais, en dépit de cela, il faut voir ce que Schelling achève avec cette présentation presque mythologique de la liberté humaine. Schelling expose ce qu’est l’expérience de la liberté avec une profondeur et une intensité complètement inattendues. On agit de telle ou telle manière et, soudain, on a l’impression de ne pas avoir agi en pleine conscience et en toute liberté (car cette conscience, comme la responsabilité d’ailleurs, vient nécessairement après); mais, en même temps, on sait, parce qu’on le sent, qu’on était libre« (Hay (2012), S. 68, Herv. K.H.). Nun scheint diese Einschätzung einerseits davon abzuhängen, ob man diese Erfahrung selbst kennt und welche Bedeutsamkeit man ihr im Rahmen der eigenen Lebenserfahrung zuschreibt. Andererseits aber scheint es mir vor dem Hintergrund der geschilderten Zusammenhänge, die zeigen, wie viele verschiedene Problemlagen Schelling miteinander zu verknüpfen versucht, wenig plausibel, ausgerechnet diese Erfahrung besonders hervorzuheben. Umgekehrt kann man diese Schilderung auch für den Versuch halten, das plausibel und anschaulich zu machen, was sich letztlich aus der Notwendigkeit ergibt, Freiheit im System zu erklären.



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grundlegend fatalistische Einstellung zu führen.170 Schelling sieht dieses Problem durchaus. So ist er der Ansicht, dass es immerhin einen Grund gebe, »der gegen diese Ansicht eingeführt werden könnte: dieser, daß sie alle Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten, und umgekehrt, für dieses Leben wenigstens abschneide« (FS 389).171 In diesem Kontext, im Rahmen der Erläuterungen, die Schelling zur Klärung des Problems anführt, wirkt sich besonders deutlich aus, wie unklar die Frage nach der Bestimmung des Selbst bleibt, desjenigen Wesens also, das sich in der Urtat konstituiert. Hier ist auf einmal die Rede davon, dass auch der Mensch, der sich in der Urtat zum Bösen entschieden habe, dem »guten Geist« eine »Einwirkung verstattet, sich ihm nicht positiv verschließt« (FS 389) – eine Darstellung, die gerade gegen die Radikalität der völligen Verkehrung der Prinzipien spricht, von der zunächst die Rede war. Daneben spricht Schelling von einer »innere[n] Stimme seines eigenen, in bezug auf ihn, wie er jetzt ist, besseren Wesens«, von dem ebenso unklar ist, in welcher Beziehung es zu dem Wesen stehen soll, das sich in der intelligiblen Tat verwirklicht. Und schließlich führen Schellings Erläuterungen auf die ihrerseits mit der Bestimmung der Freiheit als »Vermögen« und Selbstsetzung nunmehr ganz unverträglich scheinende Sichtweise, dass, »wie der Mensch überhaupt beschaffen ist, nicht er selbst, sondern entweder der gute oder der böse Geist in ihm« handle (ebd.), wodurch die Tätigkeit des Menschen auf ein »in-sich-handeln-Lassen des guten und bösen Prinzips« (ebd.) reduziert wird.

Der dritte Freiheitsbegriff Dennoch ist Schelling der Auffassung, dass dies »der Freiheit keinen Eintrag« tue (FS 389). Das lässt sich vielleicht nur dadurch erklären, dass sich die zitierte Passage an einer Stelle des Textes befindet, in der sich mittlerweile nach der »realen« und 170  Darüber

hinaus wird dem Menschen zugemutet, nicht nur für seine Taten, sondern für sein gesamtes Wesen und sogar für die Beschaffenheit seines Körpers (FS 387) verantwortlich zu sein, ohne aber daran etwas ändern zu können. 171  Unklar bleibt letztlich auch, ob der Mensch sich überhaupt ursprünglich zum Guten entscheiden kann, da die Selbstheit ja in gewisser Weise mit dem Bösen identifiziert wird. Dafür, dass sich der Mensch zumindest de facto nach Schellings Auffassung stets zum Bösen entscheidet, spricht auch der »Hang zum Bösen«, den Schelling aus dem allgemeinen Bösen herleitet. Daneben scheint auch die Perspektive auf das Ganze, auf die Offenbarungsbewegung Gottes also, die Realisierung des Bösen durch den Menschen zu fordern, was ebenfalls darauf hindeuten würde, dass der Mensch sich notwendig zum Bösen entscheiden muss. Dies wiederum widerspricht der Rede von Entscheidung, wie ja auch die Spontaneität der Setzung des eigenen Wesens den Bezug auf vorgegebene Möglichkeiten auszuschließen scheint, zwischen denen sich der Mensch entscheiden soll. Darüber hinaus bleibt ohnehin fraglich, ob bei einer unbewussten Entscheidung überhaupt von Entscheidung wirklich die Rede sein kann.

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»formellen« Bestimmung der Freiheit ein dritter Freiheitsbegriff – die »wahre« bzw. »anfängliche« Freiheit – andeutet, der die bisherigen Überlegungen noch einmal in ein ganz anderes Licht rückt.172 Dabei scheint sich die Perspektive auf das bisher Entwickelte vollkommen gewandelt zu haben. »Wir haben gesehen«, so Schelling an dieser Stelle, »wie durch falsche Einbildung und nach dem Nichtseienden sich richtende Erkenntnis der Geist des Menschen dem Geist der Lüge und Falschheit sich öffnet, und bald von ihm fasziniert der anfänglichen Freiheit verlustig wird« (FS 391). Tatsächlich aber war bisher von Einbildung und falscher Erkenntnis gar keine Rede, ebensowenig wie von einer »anfänglichen Freiheit«. Die Wahl des Bösen erfolgte ja durch einen spontanen Akt jenseits des Bewusstseins und schien sich daher gar nicht auf irgendeine Art von Erkenntnis, weder auf eine wahre noch auf eine falsche, zu gründen. Dieser spontane Akt war zudem selbst als ursprüngliche Freiheit des Menschen gekennzeichnet worden, und nicht etwa als der Verlust einer solch anfänglichen Freiheit. In den folgenden Ausführungen aber scheint diese als »anfänglich« bezeichnete die eigentliche, eben die »wahre« Freiheit darzustellen, die es im Ausgang von der einmal verwirklichten Freiheit zum Bösen, die sich nunmehr als eine falsche oder bloß scheinbare Freiheit zu erkennen gibt, wieder herzustellen gilt. Bei der »wahren« Freiheit geht es insofern um die Verwirklichung des Guten im Sinne der Überwindung des Bösen, das in diesem Zusammenhang als Abfall von der ursprünglichen Freiheit aufgefasst wird. Wie aber kommt es zu diesem grundlegenden Wandel in der Darstellung? Die einzig plausible Erklärung scheint die zu sein, dass der Wandel der Darstellung auf einen Wechsel der Perspektive zurückgeht. Bisher richtete sich der Blick auf den Menschen und damit auf die Frage, was der Mensch für sich betrachtet darstellt. Nun aber wird die Perspektive des Ganzen eingenommen und die Frage nach der Verortung des Menschen und seiner genuin menschlichen Freiheit in Bezug auf das gesamte System oder auf den vollendeten Prozess der Selbstoffenbarung Gottes gestellt. Von diesem Blickwinkel aus erscheint die Freiheit des Menschen, die zur Verwirklichung des Bösen führte, nur als vorübergehendes Moment, das von vornherein unter der Prämisse der Falschheit steht. Dabei ist auffällig, dass sich die Darstellung unter dieser Perspektive nunmehr der Redeweise des Identitätssystems annähert, in der die Einzelheit des Menschen und 172  Dass

sich hier ein Bezug zur identitätsphilosophischen Position andeutet, scheint m. E. eindeutig. Vgl. beispielsweise VI, 551: »Auch in diesem handelt die unendliche Substanz, und insofern ist objektiv sein Handeln nicht bös, sondern wie es der Ordnung des Ganzen nach sein muß, aber sie wirkt in ihm ohne sein Wissen das Gute; sein Handeln ist also kein Handeln, sondern ein Leiden, und er ist am meisten Werkzeug, indem er am meisten frei zu sein glaubt. Der gut- und frei-Handelnde aber vermag zwar auch nicht für sich selbst zu handeln, und Gott handelt in ihm, aber das Gute wird nicht ohne sein Wissen gehandelt, es folgt aus dem Göttlichen, sofern es das Wesen seiner Seele ist, und demnach nach adäquaten Ideen, die er selbst davon hat, so daß er allein der wahrhaft Freie im Handeln ist«.



Die Freiheitsschrift 161

das Festhalten des Menschen an seiner endlichen Realität als Resultat eines falschen Blickwinkels galt, der auf Imagination beruhte, bzw. auf einer, wie es in der Freiheitsschrift heißt, »nach dem Nichtseienden sich richtenden Erkenntnis«. Als wahrhaft frei erkennt der Mensch sich diesem Verständnis zufolge dann, wenn er den Blick von sich weg auf das Ganze, bzw. auf das Absolute richtete, an dessen Freiheit er teilhat. Ganz wie Spinoza bestimmt auch Schelling diese »wahre« Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit der göttlichen Gesetze, was in der Freiheitsschrift folgendermaßen klingt: »Die wahre Freiheit ist im Einklang mit einer heiligen Notwendigkeit, dergleichen wir in der wesentlichen Erkenntnis empfinden, da Geist und Herz, nur durch ihr eigenes Gesetz gebunden [wobei das eigene Gesetz nun nicht mehr das Wesensgesetz ist, das in der Urtat festgelegt wurde], freiwillig bejahen, was notwendig ist« (FS 391 f.). Einerseits scheint nun dieser Perspektivenwandel insofern problematisch, als er die Neuartigkeit und Radikalität wieder aufzuheben scheint, die sich im Blick auf die menschliche Freiheit andeutete. Andererseits aber wurde schon zu Beginn darauf hingewiesen, dass die Überlegungen zur menschlichen Freiheit insofern an die Identitätsphilosophie anschließen, als sie mit der Frage nach dem Bösen zugleich das Problem einer realen Negation aufgreifen, das die absolute Identität gleichzeitig beleben und – im Blick auf die Frage nach dem Status des Endlichen – die Möglichkeit einer verkehrten Perspektive, eines theoretischen und praktischen Abfalls von Gott erklären sollte. Diese reale Negation sollte daher von vornherein nicht gegen die Einheit des Systems gerichtet sein, sondern Probleme lösen, die sich mit dem Konzept der absoluten Identität nicht erfassen ließen. Während etwa der Identitätsphilosophie zufolge gelten sollte, dass »nichts Positives an den Dingen ist, wodurch sie endlich sind, sondern eine bloße Privation, und diese Privation selbst […] wieder ein bloßer Akt des Imaginierens« (VI, 542) sei, geht es in der Freiheitsschrift darum, die Endlichkeit in gewisser Weise positiv zu begründen. Gerade darauf schienen beispielsweise die Überlegungen der Einleitung zu zielen, in denen es um die Freiheit, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Menschen von Gott ging. Andererseits aber zeigt sich im Verlauf der Darstellung, dass diese »Positivität« nach wie vor unter negativen Vorzeichen steht, eben weil es sich nach wie vor um die »falsche«, die »verkehrte« Perspektive handelt, die zudem im Bereich der Praxis auch moralisch abgewertet wird. Dort, wo im Rahmen der identitätsphilosophischen Schriften von der Freiheit des Menschen und den damit zusammenhängenden Gegenständen die Rede ist, deuten sich daher die Lösungen der Freiheitsschrift längst an. »Philosophen, Priester und Dichter«, so heißt es etwa im System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere von 1804, »haben dem Menschen einen ursprünglichen Hang zum Bösen zugeschrieben, der in gewissem Sinn auch unleugbar ist. Nur ist, nach den gewöhnlichen Vorstellungsarten, das Sonderbare dabei, daß es ein allem einzelnen bösen Handeln vorangehender und doch wieder

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ein der moralischen Zurechnung fähiger Hang sein soll. Das aber, was allem einzelnen Handeln vorangeht, ist nichts anderes als eben die Freiheit selbst in dem Sinn unserer Moralisten, nämlich die Tendenz, absolut und in sich selbst handeln zu können. Das ursprünglich Böse liegt also gerade darin, daß der Mensch etwas für sich selbst und aus sich selbst seyn will, woraus leicht zu folgern ist, daß die Moralität als eine eben aus diesem für sich selbst und aus sich selbst-Handeln folgende zwar im Einzelnen mit dem Rechten und Guten zusammentreffen mag, aber im Princip und Grunde ganz mit diesem übereinstimmt« (VI, 560 f.). Es lässt sich leicht erkennen, dass das, was Schelling hier 1804 formuliert, im Prinzip schon das Programm darstellt, das er in der Freiheitsschrift mithilfe der Grundstruktur aus Grund, Existenz und deren Einheit zu entwickeln und erklären versucht. Die menschliche Freiheit ist, wie sich aus der Perspektive der Identitätsphilosophie ergibt, zwar einerseits eine Positivierung dessen, was zuvor als »nichtig« galt, sie bleibt aber, wie sich an dem Problem des Bösen zeigte, trotz alledem wesentlich als Negativität bestimmt. Gleichwohl scheint es so, als bringe gerade der Gedanke der Selbstsetzung des eigenen Wesens in der intelligiblen Tat ein wirklich positives Vermögen in den Blick, das mehr zu sein scheint als die bloße Positivierung von Nichtigkeit. Dennoch aber bleibt auch die intelligible Tat wegen all der ungeklärten Fragen selbst problematisch und vor dem Hintergrund der Kritik Jacobis nach wie vor unbefriedigend. Insofern scheint es durchaus nachvollziehbar, dass Schelling im Weiteren auf die Position der Identitätsphilosophie zurückkommt, wobei manche Passagen der Freiheitsschrift sogar im Wortlaut identisch sind mit Texten aus den Jahren zwischen 1800 und 1809.173 Durchaus plausibel ist zudem, dass der Übergang zu dieser neuen Perspektive auf die Freiheit gerade dort in den Blick kommt, wo es um die Umkehr des Menschen im Ausgang von seinem einmal als böse realisierten Wesen geht. In diesem Kontext geht es um eine Figur der Aufhebung der zunächst vielleicht radikal scheinenden Negation, weil damit auch das letzte Ziel des Systems und mit ihm eine Vision von Erlösung in den Blick rückt, die mit der Verwirklichung der göttlichen Persönlichkeit und damit des Geistes der Liebe erreicht werden soll. Würde nämlich das Böse nicht letztlich doch überwunden, so müsste es sich bei dem System um den bereits von vornherein verworfenen absoluten Dualismus und damit um ein System »der Selbstzerreißung und Verzweiflung der Vernunft« handeln. Das Böse stand zwar zu Beginn unter der Bedingung, dass es nicht von vornherein schon im Absoluten aufgehoben sein sollte. Es sollte ein wirkliches Böses, eine positive, reale Negation in das System einführen, das unter anderem die Lebenswirklichkeit des Menschen erklären sollte. Dass es nicht von vornherein schon aufgehoben sein darf, heißt aber 173 

Vgl. z. B. FS 392 und VI, 558 über Religion und Gewissenhaftigkeit.



Die Freiheitsschrift 163

eben nicht, dass es nicht zum Schluss doch noch aufgehoben werden soll und muss, wenn das System nicht auseinanderfallen soll.174 Gezeigt werden soll im System also eigentlich beides, eine wirkliche Realität des Bösen oder der realen Negation ebenso wie die Tendenz zur Überwindung des Bösen am Ende der Zeiten.175 Diese Erlösung ist allerdings für die Zeit unseres empirischen Lebens nicht möglich, denn das Böse, die Zwietracht und die Widersprüchlichkeit charakterisieren wesentlich unser empirisches Dasein. Und dennoch muss die Aufhebung des Bösen und damit auch der Negation in der Vollendung Gottes als Zielperspektive immer schon mitgedacht werden. Weil das Aufgehen in der göttlichen Freiheit einerseits der Vorstellung vom eigenverantwortlichen Menschen widerspricht, es aber andererseits die einzige Möglichkeit darstellt, aus der Perspektive des Systemganzen über die Freiheit des Menschen zu urteilen, bleibt sie letztlich die maßgebliche Bestimmung. Die Freiheit aber, die das empirische Leben prägen soll, die Freiheit zum Guten und Bösen, ist zugleich damit systematisch abgewertet. Sie ist zwar als notwendig erkannt, wenn aus dem Absoluten eine von ihm wirklich unterschiedene Welt hervorgehen soll, sie ist aber immer schon mit dem Makel behaftet, aus der Perspektive des absoluten Standpunktes heraus eine »falsche« Möglichkeit darzustellen, die überwunden werden muss. Wie bereits in den frühen Schriften Schellings geht es daher letztlich auch in der Freiheitsschrift um eine Aufhebung des endlichen Selbst und seiner Freiheit im Unbedingten, die nun allerdings, im Gegensatz zur Position der Briefe über Dogmatismus und Kritizismus durchaus bejaht werden muss. Die Möglichkeit des Bösen nämlich liegt in der Bestimmung des Menschen, für sich selbst, in seiner Partikularität etwas sein zu wollen. Schelling bezeichnet die Möglichkeit zum Bösen daher auch als die Abweichung von der Zentralstellung des Menschen.176 Der Mensch ist als ›Zentralwesen‹ geschaffen, weil er als einziges Geschöpf die zentrale Einheit, die geistige Einheit von Grund und Existenz verwirklichen soll und damit im Zentrum 174  Dass es letztlich um einen Begriff der Negation gehen soll, der mit dem System verträglich ist, darauf wurde schon zu Beginn hingewiesen. Diese Tendenz, einen Mittelweg zwischen zwei für sich genommen abzulehnenden und miteinander unvereinbaren Möglichkeiten zu gehen, drückt sich unter anderem auch im Begriff der Notwendigkeit aus, der ebenso wie der Begriff der Negation als Mittelbegriff bestimmt wird. In diesem Sinne bezieht Schelling sich positiv auf Leibniz, in dessen »nur zu sehr vom Geist der Abstraktion beherrschten […] Philosophie« die »Anerkennung der Naturgesetze als sittlich-, nicht aber geometrisch-notwendiger, und ebensowenig willkürlicher Gesetze, eine der erfreulichsten Seiten« (FS 396) sei. 175  Im Prinzip wiederholt sich hier, was zuvor schon im Zusammenhang mit der Eigenständigkeit der Realität gezeigt wurde. Vgl. auch Sandkaulen (2004). Schelling, so heißt es dort, käme es darauf an, »über der Integration von Personalität und ursächlichem Handeln die Explikationsmacht eines systemischen Zusammenhangs nicht zu opfern. Beides soll sein – und daß Schelling wirklich und nicht nur zum Schein beides will, soll hier auch nicht in Abrede gestellt werden« (Sandkaulen (2004), S. 47). 176  Vgl. FS 381.

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der schöpferischen Identität steht. Bleibt er dort im Zentrum stehen, so entspricht er der göttlichen Ordnung177 und ist gewissermaßen ein Teil Gottes, eine bestimmte Ausprägung der göttlichen Schöpfung. Will er davon abweichen und ›mehr‹ sein als nur eine verwirklichte Struktur der Gottheit, will er also für sich selbst etwas sein, so gerät er aus dem Zentrum, in die Peripherie, dorthin, wo keine Wahrheit ist, sondern nur Falschheit, Böses, Imagination (und ist damit in Wahrheit nicht ›mehr‹, sondern eben ›weniger‹ als eine Modifikation Gottes).178 Erkennt er sich als das, was er eigentlich und »anfänglich« ist, so verwirklicht er hingegen die »wahre Freiheit«, die Freiheit Gottes. Nicht als eigene Persönlichkeit, sondern als Modifikation der göttlichen Persönlichkeit kann der Mensch wahrhaft sein179 und auch wahrhaft frei genannt werden. Die Lösung der Freiheitsschrift scheint damit erneut auf den Übergang von den Briefen zum Identitätssystem zurückzuführen, auf die Einsicht nämlich, dass das wahre Verständnis der Immanenz von Gott und den Dingen in einer Betonung ihrer Einheit zu sehen ist, eine Sicht, die letztlich auf eine Art Reformulierung der spinozischen Auffassung und damit auf die Abwendung von der Frage nach der menschlichen Freiheit führte. Ein Freiheitsbegriff im Sinne Jacobis wurde dort von vornherein abgelehnt. In diesem Sinne scheint aber nicht nur fraglich, wie sich die verschiedenen Freiheitsbegriffe in das System integrieren lassen, sondern auch, ob die Identifizierung des Problems der menschlichen Freiheit mit dem systematischen Problem einer realen Negation und damit mit dem Problem des Bösen das Phänomen einer Freiheit, die der Mensch im Handeln erfährt, überhaupt trifft. Der Dualismus, den Schelling im System zu denken versucht, führt nicht dazu, dass dem Menschen eine eigenständige, bewusste Haltung zu den beiden Prinzipien des Grundes und der Existenz zukäme, sondern eher dazu, dass er sich nun im Vergleich mit den Briefen gleich zwei »objektiven Mächten« ausgesetzt sieht, von denen das eine oder das andere sein Handeln bestimmen kann. Das Problem, auf dem Jacobi beharrt und das die Möglichkeit einer geistigen Ebene über der Natur betrifft, auf der eine andere Logik an die Stelle eines reinen Mechanismus treten müsste, bleibt auch in der Freiheitsschrift ungelöst, weil der Mensch selbst als das Geistwesen, als das er der Freiheitsschrift zufolge bestimmt wird, letztlich – wie der Blick auf die Strukturen zeigt – keine personale Identität hat, die sich zu den beiden Prinzipien

177 

Vgl. z. B. FS 365. Vgl. FS 365 f. Der aus dem »Centro« getretene Mensch ist in diesem Sinne dem vergleichbar, was Schelling als »Partikularkrankheit« bezeichnet, die dadurch entstehe, dass »das, was seine Freiheit oder sein Leben nur dafür hat, daß es im Ganzen bleibe, für sich zu sein strebt« (FS 366). Die »ursprüngliche Heilung«, die »in der Wiederherstellung des Verhältnisses der Peripherie zum Centro« (ebd.) bestehen soll, lässt sich insofern ebenfalls auf den moralischen Bereich übertragen. 179  Vgl. Schellings Rede vom »Schwanken zwischen Sein und Nichtsein« (FS 366). 178 



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noch einmal als eine bewusste Einheit verhalten könnte.180 Auf der Grundlage des »realen« wie des »formellen« Freiheitsbegriffs im Sinne der intelligiblen Tat kann am Ende nicht die Rede davon sein, dass der Mensch sich aus einer Erkenntnis heraus zum Guten oder Bösen bestimme, dass also die Verwirklichung des Bösen auf einer »nach dem Nichtseienden sich richtenden Erkenntnis« beruhen würde. In Wahrheit geht der Verwirklichung des Bösen weder eine wahre noch eine falsche Erkenntnis voran. Statt dessen wird die falsche Erkenntnis zugleich mit der Verwirklichung des Bösen gesetzt, ebenso wie die wahre Erkenntnis mit der Verwirklichung des Guten einhergeht. Es ist daher auf Grundlage der Freiheitsschrift nicht zu erkennen, wie eine bestimmte Art von Erkenntnis ein entsprechendes Verhalten hervorbringen sollte.181 Als Handelnder in der Zeit gilt auch für den Menschen der Freiheitsschrift, dass er nur denkt, was er tut, nicht aber, dass er tun könnte, was er denkt, weil seine Handlungen aus dem spontan gesetzten Verhältnis von Eigen- und Universalwille folgen, und weil auch die Umkehr zu Gott nur durch eine Einwirkung Gottes auf den Menschen erfolgen kann. Aus dem Blickwinkel Jacobis also führt auch die Freiheitsschrift mit ihrem Dualismus nicht über die Lösung Spinozas hinaus, eben weil sie immer noch im Rahmen eines einheitlichen Systems gefunden werden soll, das sich nach wie vor auf das Immanenzverhältnis gründet, und das die Bestimmung des Menschen als Modifikation Gottes mit sich bringt. Die Alternative einer individuellen Selbstheit des Menschen kann in diesem Rahmen nur als negative Abweichung vom göttlichen Willen gedacht werden, die zur Verbindung der Freiheitsfrage mit dem Problem des Bösen führt. Die konkreten Ausführungen zur menschlichen Freiheit sind aber eben nicht geeignet, die auf der strukturellen Ebene behandelten Unvereinbarkeiten miteinander zu vermitteln; vielmehr wiederholt sich hier, was sich bereits im Blick auf das Identitätsverständnis zeigte. Auch die verschiedenen Freiheitsbegriffe führen auf das Problem der Vereinbarkeit ganz unterschiedlicher Perspektiven, die einen einerseits als real behaupteten Dualismus andererseits in einer monistischen Perspektive aufheben. Wie real kann ein Dualismus sein, wenn es sich um ein einheitliches System handelt? Wie real also kann die Freiheit des Menschen, die Möglichkeit der Selbstschöpfung des Menschen in einer Urtat wirklich sein, wenn sie sich aus der Perspektive des Ganzen als ein Resultat der falschen Erkenntnis darstellt? Und wie schöpferisch ist damit das lebendige und schöpferische Identitätsverständnis wirklich? 180  In diesem Sinne aber gilt gerade nicht, was Schelling zunächst über die »zur Geistigkeit erhobene Selbstheit« sagt, dass sie nämlich »frei von beiden Prinzipien« sei (FS 364). 181  So betrachtet ist allerdings das Böse letztlich auch kein radikal Böses, weil es nicht absichtlich auf Verkehrung und Zerstörung zielt. Insofern ist auch die Rede von der »Begeisterung des Bösen« und vom »Enthusiasmus des Guten« letztlich irreführend.

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

5. Das Scheitern der Freiheitsschrift182 Nach all diesen Untersuchungen soll nun erneut die Frage gestellt werden, wie es sich mit den zu Beginn aufgeworfenen Fragen und Thesen zur Freiheitsschrift verhält. Stellt die Freiheitsschrift einen Wendepunkt dar, und wenn ja, worin besteht die Wandlung? Welches könnte die grundlegende Einsicht sein, die zu dem Wandel geführt hat? Und ist darin ein Bruch mit dem vorangegangenen zu sehen, eine radikale Kehre, das Ende des Idealismus, das Ende gar der Metaphysik überhaupt? Wenden wir uns dazu vorerst dem Kontext zu, in dem die Philosophie Schellings insgesamt beleuchtet wurde, dem Problem der Vereinbarkeit von Vernunftsystem und Freiheit mit Blick auf die konkrete Problemlage im Ausgang der Spinozakritik Jacobis. Die Untersuchung der Schriften Schellings bis zur Freiheitsschrift zeigten deutlich, dass Schelling auf immer andere Art und Weise versuchte, das System vor der Kritik Jacobis zu retten, indem er den wahren Grund für den Fatalismus des spinozischen Systems in Abweichung von der Kritik Jacobis bestimmte. Das bedeutete zugleich, dass er die konkreten Kritikpunkte Jacobis nicht anerkannte und gerade die von Jacobi ins Zentrum der Kritik gestellten Verhältnisse für seine eigenen Entwürfe übernahm, was sich vor allem daran zeigte, dass das Verhältnis der Immanenz als einzige Lösung für das Problem des Zusammenhangs von Unendlichem und Endlichem galt. Deutlich wurde jedoch, dass die Kritikpunkte, an denen Schelling seine Abweichung von Spinoza zu konturieren versuchte, Spinoza gar nicht wirklich betrafen, dass seine eigene Philosophie stattdessen in entscheidender Weise spinozische Strukturen aufgriff und die daraus resultierenden Probleme übernahm. Eine Freiheit im Sinne Jacobis blieb in allen bisherigen Versuchen undenkbar – sie wurde allerdings, wie ebenfalls deutlich wurde, auch gar nicht wirklich thematisiert. Obwohl die steten impliziten Verweise auf Jacobi zeigen, dass Schellings Philosophie sich immer auch als Antwort auf Jacobi verstand, ließ sich daher schon früh erkennen, dass er an dem Problem, so wie Jacobi es zugespitzt hatte, eigentlich vorbeiargumentierte. Dennoch ergaben sich aus den Konzeptionen jeweils so starke interne Probleme, dass eine Veränderung in bestimmten Punkten notwendig wurde. Die Identitätsphilosophie, die nun ihrerseits von Jacobis Position ganz auf die Seite Spinozas übergewechselt zu sein schien, die also den Anspruch hatte zu zeigen, inwiefern Spinoza selbst alles zu denken erlaube, was eine Herz und Geist befriedigende Philosophie leisten müsse, stellt insofern eine konsequente Entwicklung dar. Jacobis Position erschien nunmehr nur als ein eigensinniges und unphilosophisches Beharren auf der Bedeutung des eigenen, endlichen Selbst, eine Position, die der Philosophie schlicht unwürdig zu sein schien. Das 182  Dieser Abschnitt wiederholt zum Teil Gedanken, die die Verf. bereits in dem 2011 erschienenen Artikel zum Thema formuliert hat (Sommer (2011)).



Das Scheitern der Freiheitsschrift 167

Dilemma selbst war damit zumindest in den Hintergrund gerückt. In der Freiheitsschrift hingegen schien es wieder in seiner vollen Wucht ins Zentrum des Bewusstseins zu rücken. Eine erneute Hinwendung zu Jacobis Argumenten und eine Abkehr von Spinoza war zu erwarten. Und auf Anhieb schien es sich ja auch genau so zu verhalten, unter dem einen Vorbehalt natürlich, dass Jacobis These, System und Freiheit seien nicht zu vereinen, auch hier widerlegt werden sollte. Daher folgte die Freiheitsschrift auch dem bekannten Muster – nicht Jacobis konkrete Kritikpunkte sind entscheidend für den Fatalismus Spinozas; der »wahre« Fehler Spinozas muss anders bestimmt werden. Die einleitenden Betrachtungen machten eben das deutlich: Jacobis Argumente werden außer Acht gelassen, vor allem aber die Kritik an der Ermöglichung des Systems durch die Vermischung von logischem und realem Verhältnis, von zeitlosen Strukturen und zeitlichen Beziehungen, ohne die eben die »schöpferische Identität« im Sinne Schellings auch nicht zu denken ist. Wenn man jetzt aber folgern wollte, dass die Abweichung von Spinoza in Wahrheit keine ist und die Freiheitsschrift damit als eine Art Spinozismus gekennzeichnet werden könnte, wäre das mehr als voreilig. Tatsächlich enthält die Freiheitsschrift viele Aspekte, die sich mit der Philosophie Spinozas in keiner Weise vereinbaren lassen. Dass diese Entwicklung nun aber einen Fortschritt der Art bedeutete, dass das auf diese Weise entstandene System in der Lage wäre, die von Jacobi eingeforderten Momente zu integrieren, ist damit noch lange nicht gesagt. Die Freiheitsschrift entwickelt vielmehr gerade in den Hinsichten, in denen sie »aufs Bestimmteste von Spinoza abweicht«, eine Position, die zu derjenigen Jacobis seltsam quer steht, ja, ihr teilweise geradezu entgegengesetzt zu sein scheint. Man könnte vielleicht sogar so weit gehen zu sagen, dass Jacobi mit Spinoza tatsächlich mehr verbindet als mit dem Schelling der Freiheitsschrift. Entsprechend besteht Jacobi in einem Text von 1815 darauf, angesichts einer solchen Philosophie, die seinen Forderungen äußerlich entgegenzukommen scheint, seinen eigenen Standpunkt eindeutig klarzumachen. »Ich führe nicht Krieg«, so heißt es, gegen einen »reinen Naturalismus nach der Weise des Spinoza«, gegen einen »geraden unverhüllten Fatalismus«, Krieg führe er statt dessen nur gegen einen »Nothwendigkeit und Freyheit, Vorsehung und Fatum in Eins zusammenmischenden, mit sich selbst durchaus mißhelligen Fatalismus, der nun wissen will, der wunderbare Mischling! auch von übernatürlichen Dingen, ja von einem Gotte, hülfreich, gnädig und erbarmend, wie der Gott der Christen. Wider diesen unrechtlich übergreifenden trete ich dem rechtlichen, nicht übergreifenden, biedern und baaren Fatalismus des Spinoza, sogar als Bundesgenosse bey; dem consequenten, vor der Wissenschaft bestehenden, wider den unconsequenten, durchaus phantastischen Fatalismus des Weder-Noch« (2 (1), 429). Schellings Versuch, die von Jacobi gegen das System eingeklagten Aspekte des Unbedingten und Übernatürlichen, Freiheit und Persönlichkeit, im Rahmen des Systems denkbar zu machen, führt Jacobi zufolge nicht etwa dazu, diese Momente tatsächlich adäquat

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

zu behandeln, sondern eigentlich zur Zerstörung des Systems selbst, das damit seinen eigentlichen Charakter, den nämlich, konsequent zu sein und damit »vor der Wissenschaft zu bestehen«, verliert. Die solchermaßen entstehende Philosophie scheint nun vielmehr beides zu verfehlen, den Aspekt des Unbedingten, wie er sich im freien Handeln erfahren lässt ebenso wie die Konsequenz und Einheitlichkeit eines wissenschaftlichen Systems. Die Forderung nach einem Gegenstück zu Spinoza bleibt damit ebenfalls in beiden Hinsichten unerreicht, weil die Freiheitsschrift weder als Philosophie der Freiheit im Sinne Jacobis gelten kann, noch aber auch so konsequent ist wie Spinozas Ethik. Statt dessen zeichnet sie sich Jacobi zufolge vor allem durch ihre innere Widersprüchlichkeit aus. Jacobi selbst unterlässt es auch, sich überhaupt auf die einzelnen Widersprüche einzulassen und empfiehlt statt dessen, »das Unglaubliche da [zu lesen], wo es urkundlich zu lesen ist, mit eigenen Augen selbst; denn wie in der wunderbaren Cirkelrede das Für und Wider gegenseitig sich verschlingen; wie die offenbarsten Widersprüche sich hier brüderlich umarmen und in ewiger Eintracht mit einander zu verharren schwören; dieses läßt sich nicht in einem kürzeren Vortrage wiedergeben« (2 (1), 417 f.).183 Da es aber hier darauf ankommt, die Entwicklung Schellings in Bezug auf das Dilemma, sowie seinen Lösungsversuch, der Heidegger so bedeutsam scheint, genauer zu untersuchen, soll doch noch an einigen grundlegenden Stellen konkret gezeigt werden, wo Schelling noch immer im Rahmen der spinozischen Vorgaben operiert, und warum er trotz seiner Abweichung von Spinoza die Position Jacobis nicht adäquat integrieren kann. Bereits zu Beginn der Untersuchungen war klar geworden, dass die einleitenden Bemerkungen zum richtig verstandenen Pantheismus den strukturellen Rahmen für das gesamte System und damit auch für die nachfolgenden Ausführungen abstecken. Der entscheidende Widerspruch des Systems, der sich anhand der verschiedenen Problemkomplexe in je eigener Weise zeigte, bestand eben darin, dass die konkreten Ausführungen vor allem bezüglich des zur Lebendigkeit führenden Dualismus mit den Rahmenvorgaben des Pantheismus in Widerspruch treten, in einen Widerspruch, der eigentlich ebenso offensichtlich wie unauflöslich ist. Worin Schelling dennoch zumindest eine Möglichkeit zur Lösung dieses Widerspruchs sieht, wurde allerdings ebenfalls bereits angedeutet: sie liegt in der Verzeitlichung 183  Vgl.

auch folgendes Zitat, in dem Jacobi als »Schlüssel« zur Freiheitsschrift das »WederNoch« bestimmt: »Darin haben diese Zürnenden nun wirklich Recht, daß wir weder den Cirkel aus dem alles wird begreifen, noch ihre Sprache verstehen, die mit Recht eine Cirkel-Sprache genannt werden muß, indem in ihr jeder Satz und jedes Wort einmal das bedeutet, was ein solches Wort oder ein solcher Satz dem gemeinen Verständnis gemäß aussagt, und dann noch einmal, auch das gerade Gegentheil davon; ja, was das schlimmste ist für uns, auch beydes zugleich: in welchem Falle dann das eigentliche Weder-Noch eintritt, der Schlüssel, wie wir vermuthen, zugleich des Systems und seiner Kunstsprache« (2 (1), 416 f.).



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Gottes, der hier wesentlich als ein Werdender aufgefasst wird. Diese zeitliche Erstreckung des Selbstwerdungsprozesses Gottes scheint es zu ermöglichen, dass ein wahrer Dualismus gesetzt wird, der dennoch am Ende des Prozesses wieder aufgehoben wird. Und gerade im Gedanken der Zeit liegt wohl die bedeutendste und auffälligste Neuerung in Bezug auf das Identitätssystem, die unmittelbar auf die Forderung nach Lebendigkeit des Systems zurückgeht. Von der Perspektive des endlichen Lebens aus betrachtet, mit der Fülle seiner sinnlichen Eindrücke, der Mannigfaltigkeit der Erfahrungen und Gefühle, (die sogar Widersprüchlichkeit, Zwiespalt der Gefühle, Angst einschließt), scheint die Identitätsphilosophie in ihrer Ewigkeit unangemessen, abstrakt, tot, und so dem endlichen Leben nicht eigentlich übersondern viel eher unterlegen. Das wahre System muss alles beinhalten können, was das Leben ausmacht. Im Gegensatz zu einem ewigen Sein, das nie aus sich herausgeht, sondern sich nur in ewigen Strukturen von Identität differenziert, muss eine lebendige Philosophie wesentlich dynamisch und schöpferisch sein, einen Wechsel verschiedener Zustände, Abwechslung, Vielfalt, Entstehen und Vergehen einbeziehen. All dies setzt aber voraus, dass das System selbst zeitlich verfasst ist – Zeit ist daher, neben der geforderten realen Dualität, der Schlüssel zur lebendigen Philosophie. Zudem hängen beide Aspekte unmittelbar zusammen, denn die Dualität wird unter anderem dadurch zu einer realen, dass die Unterschiedenen in ein zeitliches Verhältnis zueinander treten. Dies lässt sich z. B. an der Figur der causa sui und ihrer Auseinanderlegung in die zwei Aspekte von Grund und Existenz zeigen. Auch wenn Schelling zunächst, bei der Darstellung des »Cirkels, daraus alles wird«, gerade die zeitliche Vertauschbarkeit der Beziehung zwischen Grund und Existenz behauptet, die einer Abfolge von Momenten eigentlich zu widersprechen scheint, ist doch deutlich, dass zumindest ein zeitliches Verhältnis zwischen den Momenten bestehen soll. Genau auf diesen Aspekt, dass erst die Zeit einen realen Unterschied konstituiert, hatte Jacobi im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Grund und Ursache hingewiesen. Der Unterschied, der zwischen Grund und Folge tritt, und der diese als real Unterschiedene erst denkbar macht, ist der Unterschied, den sie für das erkennende Subjekt innehaben. Im Erkenntnisprozess, und nur im Erkenntnisprozess, erscheinen Grund und Folge wie zwei real unterschiedene Wesen, obwohl sie in Wahrheit, d. h. in ihrem logischen Verhältnis betrachtet, untrennbar miteinander verbunden sind und nicht über eine jeweilige Unabhängigkeit verfügen. Diese Belebung, die durch den Dualismus, der sich in seiner Realität zumindest im Blick auf die ursprüngliche Unterscheidung von Grund und Existenz im Sinne des schöpferischen Zirkels auf die zeitliche Trennung der beiden Momente stützt, beruht also auf demjenigen Umstand, den Jacobi bereits als Ermöglichung des spinozischen Systems gekennzeichnet hatte: auf der Vermischung von Grund und Ursache, die auf das Konzept einer »ewigen Zeitlichkeit« führt. Daran zeigt sich also, dass sich das genannte Problem bereits an Spinozas Philosophie selbst erkennen lässt. Und doch

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Kapitel I · Die Freiheitsschrift

sollte die Freiheitsschrift gerade in dieser Hinsicht über Spinoza hinaus führen, weil Spinozas Philosophie von Schelling eben gerade nicht als lebendig, sondern als starr, ja, als tot gekennzeichnet wurde. Wie aber lassen sich diese Befunde miteinander in Einklang bringen? Erklären lässt sich dies wohl nur, wenn man auch hier annimmt, dass die Kritik an Spinoza erneut auf einer letztlich unzutreffenden Interpretation Spinozas beruht. Wie bereits bei früheren Schriften müsste sich die Widerlegung damit auf eine Position beziehen, die derjenigen Spinozas gar nicht entspricht, sondern diese in Bezug auf die Komplexität der dort verhandelten Problemlagen und –lösungen unterbietet. Konkret hieße das im Blick auf die Freiheitsschrift, dass Spinozas Philosophie fälschlicherweise als einseitige Philosophie aufgefasst wird, der es angeblich an innerer Lebendigkeit, an Dualismus und Lebendigkeit mangelt. Dass Schelling Spinoza so falsch verstehen soll, mag vielleicht auf Anhieb unplausibel scheinen, wenn man sich vor Augen hält, wie intensiv er sich gerade in der Zeit der Identitätsphilosophie mit Spinoza auseinandergesetzt hatte. Und doch ist gerade das in der Identitätsphilosophie entwickelte Verständnis Spinozas die Grundlage für die nun einsetzende Kritik. Wie sich bereits zeigte, sind es vor allem Mängel der Identitätsphilosophie, die eine Änderung des Ansatzes erforderlich machten. Die Identitätsphilosophie selbst ist Gegenstand der Kritik, wenn das Fehlen einer Dualität, und die Unmöglichkeit, die Endlichkeit angemessen zu thematisieren, beanstandet werden. Die enge Anlehnung der Identitätsphilosophie an Spinoza kann nun durchaus den Gedanken rechtfertigen, dass die benannten Kritikpunkte Spinoza in gleicher Weise betreffen. Wäre also die Identitätsphilosophie eine adäquate Umsetzung der Vorgaben Spinozas mit anderen Mitteln, dann müsste auch für Spinozas Philosophie gelten, dass diese ebenso starr und abstrakt, und damit dem Leben ebenso unangemessen ist wie die Identitätsphilosophie selbst. Wenn man aber sieht, welche Änderungen Schelling in der Freiheitsschrift vornimmt, entsteht vielmehr der Eindruck, dass die Identitätsphilosophie Spinozas Philosophie nicht vollständig, sondern in einseitiger Weise interpretiert hatte, dass sie, anders gesagt, eben diejenigen Aspekte, die eine reale Dualität und Dynamik im System Spinozas garantieren, zugunsten der absoluten Identität ausgeblendet hatte. So ist es gerade die Dualität in der Einheit, wie sie im Verhältnis der Attribute zur Substanz gedacht ist, die eine entscheidende Rolle im System der Freiheitsschrift spielt, was sich schon daran zu erkennen gibt, dass eben dieses Verhältnis an der »höchsten Stelle der Untersuchung«, den Überlegungen zum Ungrund, aufgegriffen wird. Die Möglichkeit, reale Dualität und reale Einheit zugleich zu denken, verweist gerade auf die Philosophie Spinozas.184 Zudem 184 

Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass Schelling etwa in den Stuttgarter Privatvorlesungen den Anschein erweckt, als denke Spinoza mit dem Attribut-Substanz-Verhältnis gar keine reale Dualität, weil die Attribute sich zur Substanz bloß wie verschiedene Namen zu ein und



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war es wie gesehen auch diese Art der Beziehung von Grund und Existenz auf den Ungrund, die die jeweilige Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Realität und Idealität garantieren sollte. Ganz ähnlich verhält es sich eben auch mit dem Vorwurf der fehlenden Dynamik, der nicht auf Spinoza, wohl aber auf die Identitätsphilosophie zutrifft. Zeit spielte im System der Identität keine Rolle, da sie nur im Zusammenhang mit dem von vornherein für nichtig erklärten »Zeitleben« der Dinge überhaupt erwähnt wurde. Da nun aber das endliche Leben des Menschen an Bedeutung gewinnt, muss auch die Zeit ihren Eingang in die Betrachtungen finden. In der Identitätsphilosophie ist es denn auch auffällig, wie Schelling versucht, jede Art von Bewegung, die eine Beziehung zur Zeit mit sich bringen würde, schon auf der Ebene der Terminologie auszuschließen. Das betrifft etwa die Darstellung der causa sui, die als reine »Selbstaffirmation« gedeutet wird. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, weist Schelling explizit darauf hin, dass Affirmation in keinem Fall als eine Art von Handlung verstanden werden dürfe. Gott »bewirkt nichts, denn er ist alles. Die unendliche Bejahung von sich selbst ist keine Handlung, zu der sich Gott als das Subjekt verhielte, sondern sie ist selbst das Seyn Gottes. Gott wird nicht dadurch, daß er sich selbst bejaht oder erkennt, sondern er ist ein unendliches Selbsterkennen in dem unendlichen Seyn, nicht außer dem und in abgesonderter Handlung« (VII, 157). Dieses Zitat aus den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806) lässt sich geradezu als Negativfolie für das verstehen, was die Freiheitsschrift zeigen soll. Gott ist ein schöpferischer Gott, und insofern ist er nicht alles, sondern er bewirkt alles. Zudem soll die Schöpfung gerade eine Handlung sein, zu der Gott sich als der Handelnde, als Subjekt also, verhalten soll. Und schließlich geht es tatsächlich darum, Gott nicht als einen ewig bloß Seienden, sondern als Werdenden zu denken. Alle Verhältnisse, die vorher ohne Bezug zur Zeit gedacht werden sollten, werden jetzt also auch zeitlich aufgefasst. Wohlgemerkt werden sie jetzt auch zeitlich aufgefasst, aber doch nicht nur zeitlich. Einerseits ist Gott zwar ein Werdender, somit ein zeitlich verfasster Gott, zugleich aber soll er auch über ein ewiges Sein verfügen. Die Zeitlichkeit kommt zwar hinzu, ohne aber die vorher gedachten Verhältnisse aufzuheben. Sie soll nur dazu führen, die Strukturen zu beleben, die vorher in reiner Ewigkeit gedacht wurden. Behauptet wird also auch bei Schelling das »wirkliche Dasein einer ewigen Zeitlichkeit« (Spin 409, Anm.), wie Jacobi im Hinblick auf Spinoza formuliert hatte. Spinoza nämlich beschränkt sein System keinesfalls auf ein Gebiet reiner Ewigkeit, ebensowenig, wie er den Aspekt des Hervorbringens von Gott ausgeschlossen hatte. Der Gott Spinozas ist in seinem Wesen sogar als unendliches Hervorbringungsvermögen bestimmt, weshalb aus Gott notwendigerweise unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen folgt. demselben Individuum verhielten. Diese Aussage verfehlt das eigentlich von Spinoza gedachte Verhältnis. Vgl. dazu Sommer (2011).

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Dabei bezieht sich diese Formulierung keinesfalls nur auf den Bereich des Unendlichen und Ewigen, den es zwar auch gibt, in dem sich aber die Macht Gottes noch nicht erschöpft. Sie bezieht sich darüber hinaus auch auf die endliche und zeitliche Welt. Deshalb hat die Endlichkeit in Spinozas Ethik auch einen anderen Status, als er ihr von Schelling in der Identitätsphilosophie zugewiesen wurde. Die endliche Welt ist nun einmal die Welt, in der wir leben und handeln. Und nur durch unser Handeln, durch ein Zusammentreffen mit anderen endlichen Dingen, kann der Mensch Spinoza zufolge zur höchsten Erkenntnis gelangen. Aus diesem Grund kann Jacobi zu Recht in Bezug auf Spinoza von einer ewigen Zeitlichkeit reden, davon, dass Spinoza »ein Anfangsloses, aber wirkliches und wahrhaftes Entstehen und Vergehen endlicher wirklicher und wahrhafter einzelner Wesen in einer notwendigen Folge« (ebd.) behauptete. In seinem Anliegen, das »Zeitleben« selbst aus Gott heraus zu erklären, ist Schelling also mit Spinoza entgegen seiner Behauptung in der Freiheitsschrift ganz einig. Weder in der Frage der Dualität noch in der der fehlenden Dynamik trifft also der Einwand Schellings, Spinozas Philosophie sei unlebendig und einseitig. Allerdings ist die Lösung mithilfe der »ewigen Zeitlichkeit« letztlich kaum als überzeugende Lösung anzusehen, wie Jacobi weiter formuliert: »In Wahrheit ist dem System damit doch nicht geholfen. […] Ja, es tritt die Doppelfrage an Spinoza nun erst recht hervor; ob er lehre: es gebe in der Natur nur ein Sein, aber kein Werden; oder umgekehrt: es gebe in ihr nur ein Werden, aber kein Sein? Auf die zweite Frage erhalten wir von ihm ein klares Nein zur Antwort, auf die erste aber nur ein Ja mit Nein, und Kraft dieses Mit, streitende Bestandteile, die sich durchaus nicht zu einem wahrhaft friedlichen Bunde vereinen lassen« (ebd.). Indem Schelling dieses Konzept selber übernimmt, ist die Freiheitsschrift auch von demselben Widerspruch betroffen, den Jacobi als den »erweislichen inneren Widerspruch« kennzeichnete, auf dem bereits Spinozas System beruhte. Die Verbindung von Sein und Werden, von Ewigkeit und Zeitlichkeit, von logischer Gleichzeitigkeit oder Zirkularität und zeitlich einsinniger Richtung führt in allen wichtigen Fragen zu einer inneren Zwiespältigkeit, die nicht aufgelöst werden kann. Darüber hinaus wird die innere Widersprüchlichkeit bei Schelling da noch größer, wo er tatsächlich noch über Spinoza hinauszugehen versucht. Einerseits führt die Einbeziehung der bei Spinoza als parallel gedachten Aspekte von Realem und Idealem in die Dynamik des werdenden Gottes zum Widerspruch mit dem Verhältnis der beiden Momente zu dem einen Wesen, wie sich im Blick auf die grundlegenden Strukturmodelle zeigte. Außerdem ist aber auch das Verständnis des gesamten Systems als eines sich vollziehenden Selbsterkenntnis- und Selbstwerdungsprozesses Gottes, das sich durch die Einführung einer Teleologie ergibt, in Wahrheit unverständlich. Was hier gedacht werden soll, ist nicht nur ein ewig in sich kreisendes Produzieren, sondern ein in sich abgeschlossener Prozess, der von einem bestimmten Anfang zu einem bestimmten Ende führt, der aber zugleich gar nicht als Prozess in der Zeit stattfin-



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den soll. Hier hängt das Verständnis dann immer davon ab, auf welchen Standpunkt man sich gerade stellt. Denkt man den Prozess tatsächlich als zeitlichen Prozess, mit einem Anfang und einem Ende und einer bestimmten Zeit dazwischen, so ließe sich vielleicht verstehen, wie die Dualität entsteht, sich entwickelt, und zum Schluss aufgehoben wird. Gleichzeitig muss man allerdings von der Vorstellung eines Schöpfergottes Abschied nehmen, weil Gott erst am Ende des Prozesses als Persönlichkeit und liebender Gott wirklich wäre, während der Prozess selbst nur von blinden Urkräften ausgehend bestimmt wäre. Lässt man hingegen die zeitliche Verfassung außer Acht, so lassen sich andere entscheidende Anliegen Schellings nicht mehr verwirklichen. Als Beispiel sei nur die Bestimmung der Negativität genannt, die nicht von vornherein überwunden, aber auch nicht absolut gesetzt werden sollte. Ist alles zugleich, so gibt es wieder nur diese beiden Alternativen, ent­ weder die Negativität ist immer schon der Positivität, die Dualität der Einheit untergeordnet, oder aber sie ist absolut, und das System zerfällt in einen absoluten ­Dualismus. Schellings Verständnis nach soll aber eben beides sein, Ewigkeit und Zeitlichkeit in Eins gedacht, eine ewige Zeitlichkeit.185 Mit dieser Figur wiederum werden all die Aspekte, die in der Freiheitsschrift über das Verständnis der Identitätsphilosophie hinausgehen sollten, in ihrer Setzung zugleich wieder aufgehoben. Es wird ein Handeln gesetzt, das zugleich kein Handeln ist, ein Werden und Entstehen, bei dem eigentlich nichts wird und entsteht, eine Zeit, die eigentlich keine ist, ja, aufs Ganze gesehen, ein Leben, das eigentlich keines ist. In Wahrheit ist damit die Philosophie der Freiheitsschrift der Endlichkeit, die sie erfassen wollte, nicht näher gekommen. Das zeigt sich schon daran, dass sich die Zeitlichkeit auf den gesamten Prozess erstreckt, der aber ausdrücklich als Zirkel gedacht ist, der kein Vorher und Nachher zulässt. Das »Zeitleben« ist im Gegensatz dazu aber durch eine andere Art von Zeitlichkeit bestimmt, weil es hier ein reales Vorher und Nachher geben soll. Dieses endliche Leben stellt einen gewissen Abschnitt des gesamten Prozesses dar, bei dem nicht gezeigt wird und auch nicht gezeigt werden kann, wie sich diese spezielle Zeitlichkeit von der ewigen Zeitlichkeit des gesamten Prozesses unterscheiden und wodurch sie zustande kommen soll. Da, wo ein reales Früher und Später die Erfahrung bestimmt, ist im System auch nur eine »ewige Zeitlichkeit« zu denken, bei der die Zeit gesetzt und unmittelbar wieder aufgehoben ist. Dieses Problem betrifft in besonderer Weise die Frage nach der menschlichen Freiheit, wie sie in der Zeit erfahren wird. Das Konzept der außerzeitlichen Urtat ist in gewisser Weise noch mit der Vorstellung der ewigen Zeitlichkeit in Einklang zu 185 

Die widersprechenden Bestimmungen finden sich exemplarisch an folgender Stelle ausgesprochen: »Weil in der Schöpfung der höchste Zusammenklang und nichts so getrennt und nacheinander ist, wie wir es darstellen müssen, sondern im Früheren auch schon das Spätere mitwirkt und alles in Einem magischen Schlag geschieht …« (FS 387).

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bringen und mit ihr die These, dass alle Handlungen aus diesem vor aller Zeit ergriffenen Wesen mit Notwendigkeit folgen. Was aber auf diese Weise gänzlich undenkbar ist, ist die problematische Umkehr zum Guten, ob nun mit oder ohne göttliche Hilfe. Eine wahre Änderung dessen, was in der ersten Schöpfung festgelegt wurde, ist mit dem System unvereinbar, mithin auch die Überwindung des einmal gesetzten Bösen und die Hinwendung zum Guten. Handeln, wahres Handeln, erfordert den Begriff einer realen Zeit, eines Vorher und eines Nachher, die nicht vertauschbar sind. Schelling selbst wird später in Auseinandersetzung mit den oben genannten Problemen zur Frage der »ewigen Zeitlichkeit« neu Stellung beziehen. In den Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie erkennt er an, dass ein ewiges Geschehen in Wahrheit gar kein Geschehen sei. Denke man einen werdenden Gott im Sinne der Freiheitsschrift (die hier allerdings unter dem umfassenden Titel der Naturphilosophie rangiert), so müsse man einsehen, »daß man alsdann entweder eine Zeit annehmen muß, wo Gott nicht als solcher war […] oder man leugnet, daß je eine solche Zeit gewesen, d. h. jene Bewegung, jenes Geschehen wird als ein ewiges Geschehen erklärt. Ein ewiges Geschehen ist aber kein Geschehen. Mithin ist die ganze Vorstellung jenes Prozesses und jener Bewegung eine selbst illusorische, es ist eigentlich nichts geschehen, alles ist nur in Gedanken vorgegangen, und diese ganze Bewegung war eigentlich nur eine Bewegung des Denkens« (X, 124 f.). Dieser Erkenntnis gemäß erreicht die Freiheitsschrift ihr erklärtes Ziel nicht; sie ist keine lebendige Philosophie in dem geforderten Sinne, denn sie bleibt nach wie vor auf den Bereich des Idealismus beschränkt. Das Sein, das die Freiheitsschrift als dem Denken gegenüber eigenständiges Moment zu denken versucht, ist nach wie vor nur ein von der Vernunft gesetztes Sein. »[V]on Existenz, von dem, was wirklich existiert, und also auch von Erkenntnis in diesem Sinn« könne die Philosophie der Freiheitsschrift gar nicht reden, sondern »nur von den Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen« (ebd.). An dieser Revision wird nun auch deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Jacobis Vernunftkritik auch mit der Freiheitsschrift keineswegs abgeschlossen ist. Die reine Vernunftphilosophie verfehlt die Welt, weil die Notwendigkeit der Vernunft, nur vergleichend verfahren zu können, letztlich zu einem Bild nicht der Welt, sondern der Vernunft selber führt. Insofern ist der Idealismus einem reinen Vernunftsystem auch in besonderem Maße angemessen, ist die idealistische Transformation des Spinozismus wie Jacobi sie bei Fichte geleistet sieht, durchaus auch ein Schritt nach vorne. Schelling aber geht es wesentlich um das, was jenseits der Vernunft ist, um eine Realität, die nicht von der Vernunft gesetzt, sondern von dieser unabhängig ist, und insofern um eine Ergänzung des Idealismus durch einen wahren Realismus. Der Naturphilosophie muss also in einem weiteren Anlauf ein anderes Denken entgegengesetzt werden, eines, das sich nun wirklich »auf die Existenz bezieht«, eine sogenannte positive Philosophie.



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In der rückblickenden Bewertung Schellings erscheint die Freiheitsschrift insofern als gescheitert, als sie ja bereits auf die wirkliche Existenz bezogen sein sollte. Doch wie verhält sich das zu den Thesen, die Heidegger in Bezug auf die Freiheitsschrift aufgestellt hat? Das Ende des Idealismus scheint sie ja nun gerade nicht darzustellen. Ebensowenig findet hier ein wahrhafter Bruch statt. Die Neuerungen in der Konzeption der Freiheitsschrift erwachsen grundlegend aus den Strukturen der Identitätsphilosophie und die Abweichungen von den dort vorgestellten Lösungen sind weniger als radikale Änderung denn als Ergänzungen und Erweiterungen, als lebendige Ausfüllung also zu betrachten. Die Freiheitsschrift kann eigentlich nur dann als radikaler Wendepunkt bewertet werden, wenn man den Kontext vernachlässigt, wenn man also einerseits die Vorgeschichte, d. h. die Probleme und vermeintlichen Lösungen der Identitätsphilosophie nicht berücksichtigt, und andererseits auch die Stuttgarter Privatvorlesungen außer Acht lässt, die deutlich machen, in welchem Zusammenhang die Überlegungen der Freiheitsschrift mit der Identitätsphilosophie stehen. Die Freiheitsschrift selbst ist aus diesem Blickwinkel alles andere als ein »in sich stehendes Werk« – sie ist also auch nicht das letzte abgeschlossene Werk, wie Heidegger meint, sondern viel eher ein weiterer von vielen in letzter Konsequenz unbefriedigenden Versuchen, das von Jacobi formulierte Dilemma zu lösen. Allerdings lässt sich feststellen, dass sich die Mittel, mit denen das Dilemma gelöst werden soll, im Laufe der Entwicklung entscheidend verändern. Schelling geht tatsächlich an die Grenzen des vernünftigen, des idealistischen Denkens. Vielleicht überschreitet er sie letztlich in der Freiheitsschrift und der späteren Philosophie, indem er sein System mit Widersprüchen befrachtet, die sich auf keine Weise mehr in Einklang bringen lassen. Dem entspricht das, was Jacobi die »wunderbare Cirkelrede« nennt, eine ganz eigene Sprache und Darstellungsweise, die sich nicht mehr an den Grundlagen eines rational zugänglichen Denkens und Sprechens orientieren. Wahrscheinlich liegt hier die auffälligste Änderung, die sich in der Freiheitsschrift vollzieht – eine Änderung zudem, die zu der deutlichen Polarisation zwischen ihren Interpreten führt, von denen die einen den Ausdruck tiefer Einsichten, die anderen aber den Abfall von einer rational verfassten Philosophie sehen. Diese Entwicklung gründet sich aber darauf, dass Schelling unter keinen Umständen davon absehen will, die Welt als Ganze in einem einheitlichen System zu erklären. Tatsächlich scheint hierin eine eine gewisse Tragik der Philosophie Schellings zum Ausdruck zu kommen, dass sie am Willen zur Erklärung festhält, nur um selbst unverständlich und rational unzugänglich zu werden.186 Sein ursprüngliches Ziel aber, das, was mit Jacobi 186  Genau so sieht es Walter Jaeschke: »Man kann darin geradezu die Tragik der Freiheitsschrift sehen: Statt das ihm vorgelegte Problem als Scheinproblem zu erweisen, überschreitet Schelling in seinem Bemühen um die geschichtliche Behauptung einer am Vernunftparadigma orientierten Philosophie selber diejenige Grenze, die einer Vernunftphilosophie gezogen ist« (Jaeschke (1996), S. 215).

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gesprochen darin besteht, »das, was sich nimmer auf Begriffe bringen, erklären entwickeln läßt – kurz, das Unauflösliche, das Unmittelbare, das Einfache – zu enthüllen und zu offenbaren« (I, 186),187 gerät damit immer weiter außer Reichweite. Mit dieser Entwicklung erhält Schellings Philosophie eine Tendenz zum Dunklen und Abgründigen, die seinen ursprünglichen Intentionen in gewisser Weise zuwiderzulaufen scheint. Zu Beginn der Denkentwicklung war seine Philosophie noch von der Aussicht auf Licht, Schönheit und Freiheit erfüllt und auf einen Glauben an die Kraft der menschlichen Vernunft gegründet; später scheinen das Dunkle, die Angst und die Traurigkeit an die Stelle dieser Ideale zu treten.188 Darin aber einen Abfall vom Idealismus und seinen Idealen zu sehen, scheint die Sache auf einen falschen Gegensatz zu reduzieren, der davon ausgeht, dass das Dunkle und Traurige der Realität angemessener sei als das Helle und Schöne. Die neue Bestimmung, derzufolge das Reale dunkel sei, ist eben immer noch eine Bewertung, die vom Idealismus ausgehend das Reale als das für die Vernunft Unzugängliche und daher selbst Dunkle und sich Entziehende bestimmt. Dunkel aber wird die Realität möglicherweise nur für denjenigen, der sie mit aller Macht erklären will und sich mit dem Auffinden von Grenzen nicht zufrieden geben kann. Dieser Gegensatz, der vielleicht den Unterschied zwischen Jacobi und Schelling am treffendsten markiert, findet sich in einem Brief ausgedrückt, den Schelling bezüglich der Inhalte der Freiheitsschrift an Eschenmayer schreibt. Denker wie Jacobi »wollen das Irrationale in der Höhe suchen, das ich in der Tiefe. Sie nennen irrational, was unserem Geiste am unmittelbarsten gegenwärtig ist, wie Freiheit, Tugend, Liebe, Freundschaft […] Ich nenne irrational, was dem Geiste am meisten entgegengesetzt ist, das Seyn, als solches, oder das, was Platon das Nicht-Seyende nennt« (VIII, 163).189 Die hier 187  Hierin zeigte Schelling sich noch in der Ichschrift mit Jacobi einverstanden, den er fast wörtlich zitiert. Vgl. Spin 42. 188  Zwar drückt Schelling in den abschließenden Überlegungen zur Freiheitsschrift die Überzeugung aus, dass »eben von den höchsten Begriffen eine klare Vernunfteinsicht möglich sein« müsse (FS 412, vgl. auch die darauf folgenden Seiten), eine Überzeugung, die ja bereits der Absicht, ein System der Freiheit zu entwickeln, zugrunde liegt. Dennoch ist wohl kaum in Abrede zu stellen, dass mit der Rede vom »dunkeln Grund« ein Moment ins Spiel kommt, welches dieser Möglichkeit gerade zuwiderläuft. Hans Michael Baumgartner und Harald Korten erklären diese »Verdüsterung« durchaus überzeugend mit der praktischen Positivierung der theoretisch bestimmten Nichtigkeit von Endlichkeit: »In Philosophie und Religion wird daher mit dem Ausdruck Abfall nicht ein neues Prinzip eingeführt, sondern gleichsam die praktisch-sittliche Seite dieses Absonderungsaktes herausgestellt. Im Blick auf die endliche Welt bedeutet dies paradoxerweise so etwas wie die Positivierung ihrer eigenen Negativität und Nichtigkeit […]. Diese ›Verdüsterung‹ seiner ursprünglich harmonisierend-verklärten Naturansicht ist nicht primär auf biographische Einflüsse zurückzuführen, sondern liegt in der systematischen Konsequenz der sittlichen Qualifikation des Ursprungs der Endlichkeit« (Baumgartner/Korten (1996), S. 110 f.). 189  Vgl. auch die Ausführungen im Denkmal zu dem Grund als dem Höchsten (Jacobi) und dem Grund als dem Niedrigsten (Schelling).



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eingeführte Trennung zwischen einem Irrationalen in der Höhe und einem solchen in der Tiefe suggeriert allerdings, dass das dem Geist unmittelbar Gegenwärtige, Freiheit, Liebe, Freundschaft und Tugend, im Gegensatz zu dem, was Schelling hier »Sein« nennt, im System erklärbar sei. Dennoch aber macht gerade die Freiheitsschrift deutlich, wie sich die Freiheit dem erklärenden Zugriff entzieht. Wenn Schelling also das Irrationale in der Tiefe sucht, bedeutet das notwendigerweise eine Verbindung zwischen den oben genannten Phänomenen wie der Freiheit mit dem Sein »in der Tiefe«. Wie plausibel es ist, auf diese Weise die Freiheit und das handelnde Selbst mit der »Tiefe« und damit zugleich nicht nur mit der Realität im Sinne der Natur, sondern auch mit einer wie auch immer bestimmten Tendenz zum Bösen zu verknüpfen, mag dahingestellt sein. Der unbedingte Wille zur Erklärung aber zeichnet damit letzten Endes dafür verantwortlich, dass das Irrationale, das ursprünglich als dem Geiste unmittelbar gegenwärtig erschien, nunmehr zu einem dunklen, einem beängstigenden Phänomen wird. Das Dilemma der Unvereinbarkeit von Freiheit und System ist damit nicht gelöst, es führt aber, wie es scheint, zu einer anderen Erfahrung der Welt. Die Grenzen der Vernunft werden da existentiell erfahren, wo die Unmöglichkeit der Erklärung zu einer Quelle der Unsicherheit und Angst wird,190 eine Erfahrung, die vorauszuweisen scheint auf eine Existenzphilosophie, die eine Form von Abgründigkeit zu einem ihrer grundlegendsten Momente machen wird. Dies dürfte immerhin eine Parallele sein, die gerade Schellings Philosophie der Freiheitsschrift für Heidegger zum Anknüpfungspunkt macht. Wie aber Heidegger Bedeutung und Scheitern der Freiheitsschrift genau bestimmt, kann erst die konkrete Auseinandersetzung mit Heideggers Schellingauslegung deutlich machen.

190 

Dass gerade hier ein entscheidender Unterschied zu Jacobi zu sehen ist, bestätigt sich auch in folgender Äußerung Jacobis aus Über eine Weissagung Lichtenbergs: »Hier im Mittelpunkt des Unbegreiflichen, wo es dich ganz umgiebt, besinne dich und wähle, ob du dich mit diesem Unbegreiflichen in Freundschaft oder Feindschaft zu befassen habest« (GD 31).

K A PI T E L I I Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme: Heideggers Auseinandersetzung mit Schelling Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Einleitung Heideggers Denken ist immer auch in Auseinandersetzung mit bestimmten Denkern entstanden, mit deren Werken er sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise auseinandergesetzt hat. Neben den Vorsokratikern sind dies hauptsächlich Platon und Aristoteles, Leibniz, Kant, Hölderlin, Hegel und Schelling, sowie Nietzsche, der von Heidegger als der »einzige wesentliche Denker nach Schelling« apostrophiert wird. Seine Auseinandersetzung mit Schelling allerdings gründet sich nahezu ausschließlich auf eine einzelne Schrift: die Freiheitsschrift oder, wie er sie nennt, Freiheitsabhandlung. Diese scheint ihn auf Anhieb besonders und auf eine unmittelbare Art angesprochen und nachhaltig fasziniert zu haben. Welch besondere Rolle er der Freiheitsschrift – diesem einen, wie gesehen von Schelling selbst nicht besonders hervorgehobenen Systementwurf – zuspricht, lässt sich an der Behauptung erkennen, diese stelle den Gipfel nicht nur des Schellingschen, ja nicht einmal des idealistischen Denkens, sondern den Gipfel der abendländischen Metaphysik überhaupt dar. Diese Sichtweise prägt, auf je andere Art und Weise, die explizite Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling, die sich aus zwei Vorlesungstexten von 1936 und 1941 erschließen lässt.191 Besonders deutlich spricht Heidegger dies in der Einleitung zu seiner ersten Vorlesung über die Freiheitsschrift aus, die, soviel ist klar, weit mehr sein will, als die bloße Interpretation eines bestimmten philosophischen Textes. Die Aufgabe der Auslegung sei vielmehr darin zu sehen, »die Philosophie Schellings von hier aus im Ganzen und in ihren Gründzügen uns näher zu bringen« und darüber hinaus auch 191 

Neben diesen beiden Vorlesungen sind Seminarmitschriften und Notizen überliefert, die unlängst in Band 86 der GA erschienen sind. Die Seminarmitschriften sind aber im Blick auf das Problem des Übergangs zum neuen Denken nicht so sehr als eigenständige Position, sondern hauptsächlich als Ergänzung zu den beiden Vorlesungen zu betrachten, weshalb im jeweiligen Kontext auf entsprechende Bemerkungen aus den Seminarmitschriften hingewiesen wird. Interessant ist allerdings, dass ausgerechnet die früheste Auseinandersetzung im Rahmen des 1927/28 stattgefundenen Seminars bereits in Richtung der zweiten Auslegung von 1941 vorausweist. Schon hier dokumentiert sich damit die Ambivalenz, die das Verhältnis Heideggers zu Schelling von Beginn an prägt.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

»ein Verständnis der Philosophie des deutschen Idealismus im Gesamten aus seinen bewegenden Kräften« (VL 36, 4) zu erzielen. Schon diese Zielsetzung Heideggers macht deutlich, dass er der Freiheitsschrift eine wirklich weitreichende Bedeutung zumisst, wenngleich es bei der genannten Bemerkung noch um eine mehr oder weniger historische Bedeutsamkeit zu gehen scheint. Eine weit grundlegendere Tragweite aber hat die Freiheitsabhandlung vor allem deshalb, weil sie Heidegger zufolge »eine Frage [stellt], in der dasjenige zur Sprache kommt, was allen einzelnen Absichten und Begründungen des Menschen zugrunde liegt, die Frage der Philosophie schlechthin« (GA 42, 16). In dieser Funktion scheint sie denn auch geeignet, über eine historische Verständigung hinaus an Probleme heranzuführen, die Heideggers eigenes Denken beschäftigen. Es bestehe, so Heidegger, eine »einfache, wesentliche Bindung […] in Bezug auf das, was Schellings Abhandlung zur Frage gemacht hat« (GA 42, 19). Worin dieser wesentliche Bezug zu sehen ist, kann ohne einen genaueren Blick auf Heideggers eigenes Denken allerdings kaum erschlossen werden. Ein Bezugspunkt aber scheint offenbar darin zu liegen, dass es Heidegger mit der Frage nach dem Sein stets um eine Erneuerung und ursprünglichere Begründung des Denkens zu tun war. In diesem Sinne drückt sich der wesentliche Bezug vor allem in der Forderung nach dem Übergang zu einem neuen Anfang aus, der sich in Schellings Freiheitsschrift ankündige und der anhand der in der Vorlesung vollzogenen Auslegung in die Wege geleitet werden soll. In dieser einzelnen Schrift Schellings erkennt Heidegger das Potential zur Überwindung des gesamten metaphysischen, im Zeichen der Seinsvergessenheit stehenden Denkens. Sofern dieser Übergang aber für das Denken Heideggers selbst von besonderer Bedeutung ist, scheint die Auseinandersetzung mit Schellings Freiheitsschrift durchaus geeignet, ein Licht auch auf Heideggers eigenes Projekt zu werfen. Warum Heidegger nun ausgerechnet in Schellings Abhandlung den Gipfel der Metaphysik und einen wesentlichen Anknüpfungspunkt erkennt, kann nur im Zusammenhang mit einer genaueren Betrachtung der beiden Vorlesungen erschlossen werden. Dennoch sei hier die Frage erlaubt, worin die offensichtliche Faszination bestanden haben könnte, die sich schon bei Heideggers erster Berührung mit der Freiheitsschrift bekundet. Schon nach dem ersten »Anlesen« bezeichnet er die Schrift in einem Brief an Karl Jaspers als »zu wertvoll«, um sie »in einem rohen Lesen erstmals kennen[zu]lernen«.192 In dieser Äußerung offenbart sich eine gewisse Ehrfurcht Heideggers vor diesem Text, die ihn anscheinend davor zurückschrecken ließ, eine voreilige und unzureichende Interpretation vorzulegen. So jedenfalls stellt es sich dar, wenn man sich vor Augen führt, dass Heidegger zwar bereits 1927/28 ein Seminar zur Freiheitsschrift hält, dann aber immerhin etwa 10 Jahre wartet, bevor er die Abhandlung zum ersten Mal im Rahmen einer Vorlesung behandelt. Dass 192 

Brief vom 24. 04. 1926 (HJ 62).

Einleitung 181

er die Freiheitsschrift zunächst eben nicht philosophisch fruchtbar macht, obwohl sie ihn, wie er Jaspers gegenüber im September 1927 erneut äußert, seit dem ersten Lesen nicht mehr losgelassen habe,193 sticht vor allem in der Vorlesung zur Philosophie des deutschen Idealismus aus dem Jahr 1929 (GA 28) ins Auge. Dort nämlich fallen die Äußerungen zu Schelling nicht nur äußerst knapp aus, sie orientieren sich darüber hinaus nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, an der Freiheitsschrift. Vor dem Hintergrund der späteren These Heideggers, derzufolge diese spezielle Abhandlung gerade den Gipfel der Philosophie des deutschen Idealismus darstellen soll, nimmt sich diese Zurückhaltung äußerst seltsam aus. Heidegger, so scheint sich zu bestätigen, fühlte sich unmittelbar von diesem Text angezogen, ohne sowohl die Freiheitsschrift selber als auch die Gründe für deren Anziehungskraft auf sein eigenes Denken durch diesen Text eindeutig verorten zu können.194 Dennoch lassen sich auch der frühen Vorlesung über den deutschen Idealismus einige Hinweise darauf entnehmen, was Schelling für Heidegger attraktiv gemacht haben dürfte. Wichtig scheint dabei zunächst die Abgrenzung, die Heidegger zwischen Fichte und Hegel einerseits und Schelling andererseits zieht. Dass Schelling, der einerseits mit Fichte und Hegel auf gemeinsamem Boden steht, andererseits zugleich als eine Art Gegenentwurf vor allem zu Hegel aufzufassen ist, macht einen Teil seiner Bedeutung für Heidegger aus. Dieser Umstand bestätigt sich auch in den späteren Vorlesungen über die Freiheitsschrift. Die Vorlesung von 1936 etwa beendet die Einleitung mit Überlegungen zum Verhältnis von Schelling und Hegel, und die Vorlesung von 1941 präsentiert immer wieder Gegenüberstellungen bestimmter von Heidegger für zentral erachteter Charakteristika eben dieser Denker.195 An die193  »Seitdem

Sie mir das Schellingbändchen schenkten, ließ mich die Abhandlung über die Freiheit nicht mehr los« (HJ 80). 194  Jean Grondin ist der Auffassung, dass sich Heidegger »über seine damalige Nähe zu Schelling wohl wenig im Klaren gewesen« sei, was die Vorlesung von 1929 »auf ihre Weise« belege. Die untergeordnete Rolle, die Schelling hier zukommt, erklärt er damit, dass zu dieser Zeit die »Auseinandersetzung mit Fichte ihre besondere Dringlichkeit« gehabt habe (Grondin (1999), S. 66). Günter Figal hingegen meint, dass Heideggers Sympathien in dieser Vorlesung weder Fichte noch Schelling, sondern in Wahrheit Hegel gälten, weil dieser »›mit dem Absoluten und dem absoluten Erkennen‹ wirklich ernst mache« (Figal (2010), S. 49). Die mittlerweile veröffentlichen Seminarnotizen von 1927/28 weisen allerdings in eine andere Richtung, wie vor allem von Lore Hühn hervorgehoben wird (vgl. Hühn (2010)). 195  Dass Schellings Freiheitsschrift immer auch im Kontext mit Hegel präsentiert wird, als Gegenentwurf, der auf merkwürdige Weise dem Hegelschen Systementwurf zugleich unter- wie auch überlegen zu sein scheint, ist auffällig. Die Gegenüberstellung dieser beiden Denker findet sich nicht nur in den beiden Schellingvorlesungen, sondern auch da, wo Schelling nur kurz erwähnt wird, etwa in den Beiträgen zur Philosophie. Vgl. dazu auch Hackenesch (2001): »Heideggers Faszination durch die ›Freiheitsschrift‹ Schellings ist evident. Hier artikuliert sich nicht nur gegen Kant, sondern aus seiner Perspektive auch und primär gegen den Hegelschen Anspruch der Versöhnung von Individuellem und Allgemeinem eine absolute Differenz, die sich der Synthesis ›konkreter Allgemeinheit‹ […] entzieht« (S. 92).

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ser Stelle soll bereits kurz angedeutet werden, worin diese Entgegensetzung besteht, ohne dabei Genaueres über die Interpretationen von 1936 und 1941 vorwegzu­ nehmen. Die Vorlesung über die Philosophie des deutschen Idealismus fällt in die Zeit nach dem Abbruch des in Sein und Zeit angedachten Projekts, und damit in eine Phase des Umbruchs, in der die Frage nach der Metaphysik für Heidegger an Bedeutung gewinnt. Im Gegensatz zu seiner späteren Haltung aber rückt Heidegger das Problem zunächst nicht so sehr unter den Aspekt der Metaphysikkritik, sondern unter den einer Erneuerung der Metaphysik, die allerdings die bisherige Metaphysik neu begründen und damit auch in gewisser Weise überbieten soll.196 Leitend ist dabei unter anderem Heideggers schon in Sein und Zeit vertretene Überzeugung, dass Sein im Wesen endlich sei. Unter dieser Prämisse erscheint gerade Hegel, der als Philosoph der absoluten Unendlichkeit gilt, als entscheidender Gegner. Nun ist es allerdings nicht so, dass Schelling demgegenüber als Philosoph der Endlichkeit betrachtet werden kann, wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, auch wenn die Freiheitsschrift tatsächlich auf das Problem einer angemessenen Erfassung von Endlichkeit reagierte. Da Heidegger zudem in der frühen Vorlesung über den deutschen Idealismus gar nicht die Freiheitsschrift, sondern die Naturund Identitätsphilosophie ins Zentrum der Betrachtungen stellt, die die Endlichkeit in besonderem Maße abwertete, kann die Unterscheidung zwischen Hegel und Schelling hier wohl kaum begründet sein. Tatsächlich scheinen es auch weniger inhaltliche als vielmehr methodische Aspekte zu sein, die Schelling in Heideggers Augen von Hegel unterscheiden, Aspekte, die allerdings zunächst einmal durchaus negativ bewertet werden. Schellings Schriften fehle es durchgängig an der »Kraft und Strenge der Durcharbeitung« (GA 28, 33), die sich bei Hegel finde. Statt dessen bleibe es bei einem »tastende[n], Anregungen aufnehmende[n], sprunghafte[n]« (GA 28, 258) Denken. Zugleich aber lässt sich schon hier eine Zwiespältigkeit im Urteil über Schelling erkennen, die die Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling auch im Weiteren prägen wird. Bei aller Mangelhaftigkeit der Durcharbeitung seien seine Schriften nämlich reich an »plötzlich überraschenden Durchblicken und Dieser Zusammenhang wird vor allem bei Köhler (2006) berücksichtigt, der Heideggers Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes in einem direkten Zusammenhang mit dessen Auseinandersetzung mit Schellings Freiheitsschrift stellt, ohne dabei aber die Konsequenzen für Heideggers eigenes Denken eigens zu untersuchen. Eine solche Untersuchung wäre mit Sicherheit auch lohnenswert, sie kann allerdings in diesem Rahmen nicht erfolgen. Ein Teil dieser Problematik wird allerdings in das letzte Kapitel über die Metaphysikkritik Heideggers einfließen, bei der die Frage nach dem System in diesem Fall nicht anhand von Hegel, sondern im Zusammenhang mit der Kritik Jacobis anhand von Spinoza untersucht wird. Hegel allerdings fällt insofern seinerseits in diesen Kontext, als auch er vor dem Hintergrund der Spinozakritik Jacobis operiert. 196  Vgl. z. B. Grondin (2003).

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Ahnungen« (GA 28, 33). Gegenüber der Kraft und Strenge der Durcharbeitung bei Hegel zeichne sich Schelling zudem durch eine »Kraft und Zwiespältigkeit innerer Richtungen seiner Existenz« (GA 28, 186) aus. Auf vorerst unbestimmte Weise deutet Heidegger damit an, dass es anhand von Schelling möglich sei, ein Wesentliches in den Blick zu bringen. An ihm nämlich werde deutlich, dass »der Einsatz der Existenz das Entscheidende ist, auch da und gerade da, wo nichts von ihr zu fassen ist, daß aber dieses Entscheidende das bleiben muß, worauf nur an wesentlichen Stellen ein Hinweis erlaubt ist« (GA 28, 252). Diese Bemerkungen scheinen darauf hinzudeuten, dass sich das Wesentliche grundsätzlich der systematischen Durcharbeitung entziehe und insofern womöglich nur in Durchblicken und Ahnungen seinen angemessenen Ausdruck finden könne.197 Allerdings sei zugestanden, dass diese Andeutungen zunächst dunkel und abstrakt bleiben, weil völlig unklar ist, worum es inhaltlich gehen soll. Deutlich aber wird zugleich aus den oben angeführten Zitaten, dass Heidegger, wenn er von der »Zwiespältigkeit seiner Existenz« spricht, wohl auch eine gewisse Art von Lebens- und Welterfahrung meint, eine Zerrissenheit, Brüchigkeit und Fremdheit in der Welt,198 die sich mit einer Vernunftphilosophie im Sinne Hegels nicht zu vertragen scheint, einer Philosophie, die alle Realität von Vernunft durchdrungen sieht. Dass es gerade dieser Aspekt an Schellings Freiheitsschrift ist, von der sich Heidegger unmittelbar angezogen fühlt, lässt sich vielfach belegen. Nicht zufällig ist es gerade Schellings Rede von der »Angst des Lebens«, die von Heidegger immer wieder hervorgehoben wird.199 In den Notizen, die zu den Seminaren Heideggers zu Schelling überliefert sind, heißt es etwa, dass eine solche »Entdeckung«, wie sie in der Rede von der »Angst des Lebens« ausgedrückt ist, bei Schelling »keinen dialektischen Charakter« habe – Schelling erfasse 197  In Richtung dieser Deutung, die im Übrigen bei Jaspers’ eigener Schellinginterpretation ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt, geht auch die folgende Äußerung aus den Seminarnotizen: »Es gilt dabei über manche Zufälligkeit von Schellings Begriffen hinwegzusehen, einen Sinn zu haben für plötzlich auftretende, schlaglichtartig erhellende Sätze, die zeigen, daß Schellings Niveau weit über dem des Idealismus liegt, ohne daß es Schelling selbst gelungen wäre, dies Niveau durchzuhalten« (21.12.1927, HJ 536). 198 Romano Pocai, der Heideggers Denken auf Schellings Philosophie der Offenbarung bezieht, hebt diesen Aspekt bei Schelling besonders hervor. Er geht sogar davon aus, dass diese »Erfahrung mundaner Fremdheit und Sinnlosigkeit den motivationalen Ausgangspunkt für die PhOff darstelle, der von Schelling jedoch innerhalb seines philosophischen Programms nicht weiter an ihm selbst berücksichtigt wird.« (Pocai (1996), S. 178) Pocai räumt hier selbst ein, dass es ihm dabei nicht um die Angemessenheit seiner Schellingdeutung gehe. Daher bleibt allerdings im Rahmen seiner Analyse die Frage offen, wozu der Vergleich Heideggers mit Schelling dann dienen kann. 199  Vgl. z. B. die Schilderung H. G. Gadamers in Philosophische Lehrjahre: »Eines Tages las er [Heidegger, K.S.] in einem Schelling-Seminar den Satz vor: ›Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum‹ und sagte: ›Nennen Sie mir einen einzigen Satz von Hegel, der diesem Satz an Tiefe gleichkommt‹« (Gadamer (1977), S. 217).

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damit vielmehr, so Heidegger weiter, »Mächte seiner eigenen Existenz, worin er bestimmte Perspektiven sah, denen er allgemeine ontologische Grundsätzlichkeit gab, ohne sie universal zu begründen« (GA 86, 539). Tatsächlich ist dieser Bezugspunkt vor dem Hintergrund der Thesen von Sein und Zeit durchaus naheliegend, die einer Fremdheitserfahrung in der Welt, der Angst, in der die Welt in sich zusammensinken und den Menschen auf sein je eigenes Dasein vereinzeln soll,200 eine zentrale Rolle zuweist.201 So erklärt sich, dass gerade die Freiheitsschrift mit ihrer Rede vom dunklen Grund, dem Bösen und der »Angst des Lebens« bei Heidegger auf eine unmittelbare Resonanz stoßen konnte. In dieser Abgrenzung zu Hegel, in dem Aspekt des scheinbar unzulänglichen und der Systematik des Hegelschen Denkens unterlegenen Charakters der Schellingschen Philosophie, erkennt Heidegger letztlich das Potential Schellings, das ihn zum Überwinder des metaphysischen Denkens prädestiniert. Schelling, so heißt es denn auch in der Vorlesung von 1936, sei der »eigentlich schöpferische und am weitesten ausgreifende Denker« (VL 36, 4) des deutschen Idealismus, obwohl oder vielmehr gerade weil er im Gegensatz zu Hegel nicht kontinuierlich an der Aufstellung des einen Systems gearbeitet habe. Dass Schelling stets um »seinen einen und einzigen Standpunkt« habe kämpfen, und zu diesem Zweck »immer wieder alles loslassen und immer wieder dasselbe neu auf einen Grund« (VL 36, 7) habe bringen müssen, liegt in der Sache begründet und ist folglich Schelling selbst nicht anzulasten, ebensowenig übrigens wie das bedeutungsvolle Scheitern, das mit diesem Gedanken unmittelbar zusammenhängt und von dem noch die Rede sein wird. Neben dieser gewissermaßen persönlichen Ebene einer offenbar tief empfundenen Wahlverwandtschaft 202 gibt es aber zugleich inhaltliche Aspekte der Freiheitsschrift, die eine Verbindung zwischen Heideggers eigenem Projekt und der Freiheitsschrift ermöglichen. Allem voran ist dies der Aspekt der Freiheit, der – wenngleich eigenwillig interpretiert und für Heideggers Denken insgesamt vielleicht nicht unbedingt zentral – zum Zeitpunkt der ersten Auseinandersetzung mit Schelling durchaus leitend ist für Heideggers Überlegungen. Mit der Frage nach der menschlichen Freiheit werde, so denn auch Heidegger in der Vorlesung von 1936, »die innerste Mitte der Philosophie ins Wissen gehoben« (VL 36, 4). Tatsächlich war das Problem der Freiheit schon im Rahmen der Daseinsanalyse in Sein und 200 Vgl.

Sein und Zeit, § 40 über »Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins« (SZ 184 ff.). 201  In diesen Zusammenhang passt auch das Zitat aus Schellings Schrift Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821), das Heidegger in der Einleitung anführt. Dort heißt es: »Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte und selbst von allem verlassen war […]« (VL 36, 7). 202  Die Rede von der »Wahlverwandtschaft« scheint in diesem Zusammenhang so nahe zu liegen, dass sie sich in der Literatur häufiger findet.

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Zeit präsent, weil das Sein des Daseins dort letztlich als ein Seinkönnen und damit als eine Form von Freiheit bestimmt wird.203 Wie wichtig der Begriff auch für die folgende Zeit bleiben wird, lässt sich an verschiedenen Schriften erkennen, unter anderem an der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit von 1930. Diese nimmt zwar erstaunlicherweise keinen Bezug auf Schellings Freiheitsschrift, sie erklärt aber die Frage nach der Freiheit zur Grundfrage der Philosophie, in der die Frage nach dem Sein des Seienden und die nach der inneren Zusammengehörigkeit von Sein und Zeit selbst begründet seien.204 In diesem Sinne soll gelten, dass die scheinbar »besondere« Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit mit »der ›allgemeinen‹ Aufgabe einer Einleitung in die Philosophie« (GA 31, 1) unmittelbar zusammenhänge.205 Heideggers Beschäftigung mit dem Thema der Freiheit macht jedoch deutlich, dass er das Problem trotz der Rede von der »menschlichen Freiheit« von praktischen Kontexten vollkommen ablöst. Heidegger geht es nicht um Handlungsfreiheit im Sinne Jacobis, sondern um die, wie es 1930 heißt, »eigentlich ontologische Dimension der Freiheit« (GA 31, 299). Was ihn an der Freiheitsschrift unter anderem zu interessieren scheint, ist daher die dort stattfindende ›Ontologisierung‹ der Freiheit 206, die Verbindung der Freiheits- mit der Seinsfrage. Bereits in der Einleitung zur Vorlesung von 1936 macht Heidegger dann auch deutlich, dass er Schellings Frage nach der Freiheit »als geschichtliches Fragen nach dem Seyn« (VL 36, 10) auffasst. Freiheit kann überhaupt nur darum als entscheidender Ansatzpunkt gelten, weil sie eine »alles menschliche Seyn überragende Bestimmung des eigentlichen Seyns überhaupt« darstellen soll (VL 36, 11). Auch auf inhaltlicher Ebene gibt es also Anhaltspunkte für die unmittelbare Resonanz, auf die die Freiheitsschrift bei Heidegger zum Zeitpunkt der ersten Begegnung stieß, zumal die beiden Dimensionen der persönlichen Erfahrung einerseits und der Frage nach der Freiheit andererseits in der Behauptung einer besonders ursprünglichen Freiheitserfahrung ohnehin verbunden sind. Bei Schelling scheinen sich demnach Diagnosen und Überzeugungen zu finden, die Heideggers denkerische (Neu-) Orientierung seit dem Abbruch von Sein und Zeit mitbestimmen, und die Schelling zum Vorläufer seines Denkens prädestinieren. Gleichzeitig allerdings legt diese weitreichende Identifizierung den Verdacht nahe, dass es sich bei der Aus203 

Zum Problem der Freiheit in Sein und Zeit vgl. z. B. Hackenesch (2001) und Müller-Lauter (1960). 204  Vgl. §14: »Die Umstellung der Frageperspektive: Die Leitfrage der Metaphysik gründet in der Frage nach dem Wesen der Freiheit« (GA 31, 132 ff.). 205  Vgl. die »Vorbetrachtung« (GA 31, 1–15). 206  Von einer »Ontologisierung« spricht auch Dieter Sturma (Sturma (1996), S. 439). »Die Freiheit des einzelnen Menschen« werde »durch den Begriff der Selbstheit ›ontologisiert‹« (ebd., S. 429). Daneben findet sich die Rede von der »Ontologisierung« auch bei Irlenborn, der sie allerdings im Blick auf das Problem des Bösen verwendet (Irlenborn (2000), S. 199).

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legung der Freiheitsschrift zumindest teilweise weniger um eine Interpretation als um die Projektion des eigenen Vorhabens auf den untersuchten Text handelt.207 Unterstützt wird dieser Verdacht, wenn man sieht, dass Heidegger die Abhandlung tatsächlich weitgehend aus ihrem Kontext löst, aus den historischen Bezügen ebenso wie aus dem Bezug auf die Denkentwicklung Schellings selbst. Ob allerdings das, was Schelling hier zu denken versucht, ohne diese Bezüge überhaupt erkennbar werden kann, ist fraglich. Man könnte diese Loslösung insofern als methodischen Mangel der Interpretation Heideggers auffassen, solange man die Vorlesungen überhaupt wesentlich als Interpretation versteht, sofern man also mit anderen Worten versucht, anhand der Vorlesungen zu einem Verständnis der Philosophie Schellings zu gelangen. Sinnvoller könnte es daher vielleicht scheinen, die Vorlesungen vor allem als Ausdruck eigenen philosophischen Schaffens zu begreifen, anhand dessen sich nicht das Denken Schellings, sondern viel eher dasjenige Heideggers erschließen lässt.208 Andererseits aber ist dem Problem der Angemessenheit der Interpretation auch auf diesem Wege nicht zu entkommen, sofern es bei Heideggers eigenem Denken wesentlich darum geht, bestimmte Züge des abendländischen Denkens in den Blick zu bringen. In diesem Sinne stellt das methodische Vorgehen Heideggers und die Angemessenheit seiner Darstellung im Blick auf Schelling und das metaphysische Denken überhaupt nach wie vor ein Problem dar. Dieses Problem ist auch mit dem Hinweis auf Heideggers bewusste Ablehnung eines historisch-korrekten Verständnisses nicht einfach so abzutun,209 schon gar nicht, wenn man sich vor Augen 207 

Sehr eindeutig wird diese These von Theodore Kisiel vertreten. Vgl. Kisiel (2000), S. 289: »Heidegger is […] interjecting the insights of his own hermeneutics of the facticity of being-inthe-world in his ongoing gloss of Schelling’s text. He is founding Schelling’s system in his own fundamental ontology.« Ganz anders sieht dies Günter Figal, der betont, dass Heideggers Vorlesung »dem Text gegenüber offen« sei. Sie zwinge »Schellings Philosophie in kein heideggersches Schema« (Figal (2010), S. 56) 208 Dietmar Köhler ist gleichfalls der Auffassung, dass die Bedeutung der Vorlesungen »schwerlich auf einen am Ende eher zweifelhaften, weil gar nicht intendierten, Beitrag zu Schelling- bzw. Hegel-Forschung reduziert werden können. Daß Heidegger, vom Primat der Seinsfrage ausgehend, einen sehr spezifischen Zugriff auf die von ihm interpretierten Abhandlungen […] wählt, bedarf nach dem oben Ausgeführten kaum mehr besonderer Erwähnung. Wohl aber bleibt zu diskutieren, inwieweit Heidegger sich überhaupt auf die von ihm untersuchten Texte wirklich einläßt und inwiefern er demzufolge den Grundansatz letzterer noch aufnimmt oder aber verfehlt.« (Köhler (2006), S. 259). 209  Vgl. z. B. VL 36, 13. Allerdings geht es Heidegger dabei wohl weniger um die Ablehnung einer »adäquaten« Auslegung, wie Köhler meint, wenn er schreibt, die Vorlesungen könnten »nicht vorschnell als simple Fehlinterpretationen abgetan werden, denn dies hätte primär zur Voraussetzung, daß Heidegger sich überhaupt um eine – wie immer geartete – adäquate Auslegung bemüht hätte. Genau dies ist aber nach Heideggers eigenem Bekunden durchaus nicht der Fall; vielmehr wird der Anspruch auf eine philologisch getreue Deutung der Textvorlagen rigoros als unfruchtbar zurückgewiesen und statt dessen ein ›schöpferisch überwindende[s] Verständnis‹ gefordert.« (Köhler (2006), S. 261). Im Gegenteil scheint mir Heidegger der Auffassung, dass

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führt, wie weitreichend seine Behauptungen im Blick auf die Philosophie Schellings, des deutschen Idealismus und der abendländischen Metaphysik überhaupt letztlich sind. Die Ablehnung einer gesamten und durchaus vielfältigen Denktradition müsste, so sollte man doch meinen, eine wohlüberlegte und differenzierte Begründung erfahren. Im Hintergrund der Analysen von Heideggers Schellingvorlesungen steht daher auch immer die Frage nach der Triftigkeit der Analysen Heideggers im Blick auf das Wesen des metaphysischen Denkens selbst, die allerdings im dritten Kapitel noch einmal ganz explizit zum Thema gemacht werden sollen.210 Andererseits aber zeigt sich gerade im Blick auf den metaphysikkritischen Anteil der Schellinginterpretation, dass man von einer derart eindeutigen Einstellung Heideggers, wie sie bisher gezeichnet wurde, wohl gar nicht wirklich sprechen kann. Zwar ist die Begeisterung Heideggers für die Freiheitsschrift, die sich vor allem in der Vorlesung von 1936 niederschlägt, einerseits hinreichend dokumentiert. Andererseits aber weist die zweite Vorlesung über Schelling aus dem Jahr 1941 in eine andere Richtung, da sie – auf den ersten Blick jedenfalls – eine ganz andere Wertung dieser Abhandlung vornimmt. Schelling gilt hier zwar nach wie vor als ausgezeichneter Denker, sofern in der Freiheitsschrift die Vollendung des deutschen Idealismus, gar der Metaphysik überhaupt gesehen wird. Im Gedanken der Vollendung aber wird nun der Charakter des Vorausweisens in den neuen Anfang gerade ausgeschlossen. Vollendung bezeichnet hier im Gegenteil das Ende eines Weges, auf dem nicht weiter zu kommen ist. Ein neues Denken müsste demgegenüber ganz anders und damit auch völlig von demjenigen der Freiheitsschrift verschieden sein. Tatsächlich scheint sich diese Abkehr von der Position der ersten Vorlesung noch dadurch zu bestätigen, dass die Auseinandersetzung mit Schelling in dieser zweiten Verortung ihren scheinbar endgültigen Abschluss findet. Nach 1941 fehlt jeder Beleg für eine weitere grundlegende Auseinandersetzung mit Schelling. seine Interpretation zwar in philologischer Hinsicht unzulänglich bleibe, dafür aber – oder vielleicht gerade deswegen – in philosophischer Hinsicht sehr wohl adäquat sei. Im Zusammenhang mit diesem Aspekt aber erscheint mir der massive Einfluss Heideggers auf die Schellingforschung durchaus problematisch. 210  Vgl. zu diesem Problem auch die kritischen Äußerungen von Günther Zöller: »Hinter der Beschränkung auf dieses eine Werk Schellings steht die Strategie, einen exponierten, sich exponierenden Text, der ein umfassendes systematisches Programm eher skizziert als detailliert, für den Repräsentanten einer ganzen Tradition zu nehmen, die dann vermittelt über die Kritik am gezielt ausgewählten Einzelwerk einer Pauschalkritik unterzogen wird. […] Gegenüber dem manipulativen Verfahren Heideggers mit Schellings Text, das übrigens Parallelen hat in seinem selektiv-unilateralen Umgang mit anderen philosophischen Autoren ist zu fragen und zu untersuchen, ob der Gedankengang von Schellings Schrift tatsächlich so verläuft und in diesem Verlauf so scheitert, wie Heidegger das behauptet und ob die von Heidegger an der Freiheitsschrift vorgenommene Kritik sich wirklich so ohne weiteres auf eine ganze Tradition übertragen lässt« (Zöller (2012), S. 269).

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Doch gerade dieser Umstand, dieses sich an die Vorlesung von 1941 anschließende ›Schweigen‹ Heideggers in Bezug auf Schelling, ist durchaus bedenkenswert und keinesfalls so konsequent, wie es auf Anhieb scheinen könnte. Denn Heideggers Denken bleibt doch wesentlich auf die Metaphysik bezogen, auch wenn es als Versuch, das Wesen der Metaphysik zu erfassen, selbst kein metaphysisches Denken mehr sein will. Dass Schelling in diesem Projekt nun gar keine Rolle mehr spielen soll, lässt sich auch aus der kritischen Position von 1941 nicht erklären. Es müsste vielmehr ein erneuter Wandel der Bewertung stattgefunden haben, demzufolge Schelling nun, im Gegensatz zu Nietzsche und Hegel, nicht mehr als typischer Vertreter der Metaphysik gelten dürfte. Eine solche Wende ließe allerdings zwei mögliche Deutungen zu. Entweder, Heidegger ist dazu übergegangen, Schelling, der sich nicht klar verorten lässt, für irrelevant zu halten. Allerdings ist kaum vorstellbar, dass die grundlegende Begeisterung für die Freiheitsschrift einfach so in Desinteresse umgeschlagen sein soll.211 Eine andere mögliche Deutung wiese darum auch genau in die entgegengesetzte Richtung. Denkbar wäre nämlich ebensosehr, dass der Übergang zum ›Schweigen‹ in Wahrheit eine Rückkehr zur ursprünglichen Deutung von 1936 bezeichnete. Dass Schelling eben keinen typischen Vertreter der Metaphysik (in der von Heidegger bestimmten Charakterisierung) darstellt und zu einem solchen auch mit Gewalt nicht zu machen ist, nimmt ihn von der Kritik an der Metaphysik in gewisser Weise aus. Schelling bleibt, im Gegensatz zu Hegel, der Denker der »Durchblicke und Ahnungen«, der Denker der widersprüchlichen Existenz, der Vorbereiter des neuen Denkens.212 Heideggers Programm, das aufzufas211  Das zeigt sich schon allein daran, dass Heidegger gerade die Vorlesung über die Freiheitsschrift gleich nach ihrer Veröffentlichung an Hannah Arendt schickt, mit dem Hinweis darauf, dass er die Schrift verfasst habe, nachdem er »mit der Kehre einigermaßen durch« gewesen sei (Ah 230). Hierin bekundet sich nicht nur einen große Wertschätzung dieser Interpretation, sondern es bestätigt sich zudem ihre Verbindung mit der »Kehre«, von der später noch die Rede sein wird. Dass diese Vorlesung »one of the last of Heidegger’s texts to be published (1971) during his lifetime and with his assistance« gewesen sei, wertet Bret Davis ebenfalls als Indiz für die Bedeutung, die dieser Auseinandersetzung für Heideggers Denken zukommt (Davis (2007), S. 101). 212  Die vorliegende Deutung widerspricht damit denjenigen Interpretationen, die in der Vorlesung von 1941 eine klare Abkehr Heideggers von Schelling erkennen wolle. Dazu gehört die Interpretation von Christian Iber, der in der Vorlesung von 1941 eine »Depotenzierung der Schellingschen Philosophie« sieht, aufgrund derer die »Auseinandersetzung mit Schelling mehr und mehr zugunsten einer Auseinandersetzung mit Hegel« zurückgedrängt worden sei (Iber (2003), S. 198). Ulrich Thiele vertritt eine ähnliche Sicht wie Iber, wenn er die Auseinandersetzung als den Prozess »von der Annäherung der noch phänomenologisch geprägten Fragestellung hin zur bewundernden Identifikation und schließlich zur kompromißlosen Ablehnung aus der Perspektive der Seinsgeschichte« bezeichnet (Thiele (1986), S. 11). Gleichwohl geht Thiele insgesamt von einer »wesentliche[n] Identität« der »philosophiegeschichtlichen Herkunft« der Fragestellungen bei Heidegger und Schelling aus (ebd., S. 39). Günter Figal ist der Ansicht, dass »Heideggers Interesse an Schelling intensiv« sei, sich aber »auch recht schnell« erschöpfe. Die Vorlesung von 1941 sei »vor allem eine Erörterung des Begriffs der Existenz, mit dem Ziel den Ansatz von Sein



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sen, was die Freiheitsschrift »über sich hinaus bringt«, und diese »schöpferisch zu verwandeln«, bleibt, wie sich zeigen wird, auch da noch maßgeblich, wo es nicht mehr explizit in Auseinandersetzung mit Schelling geschieht. Schelling wird nicht mehr genannt und bleibt dennoch präsent, weil grundlegende Strukturen der Freiheitsschrift in das Denken des Übergangs und der Seinsgeschichte eingewandert sind.

A. Die Vorlesung von 1936: Identifikation mit Schelling Einleitung: Die Perspektive der Vorlesung Die erste Auseinandersetzung mit Schelling in der Vorlesung von 1936 steht unter der Prämisse einer »wesentlichen Bindung« (VL 36, 13) zwischen Heideggers Denken und Schellings Freiheitsschrift. Wie die nun bereits mehrfach zitierte Einleitung zu dieser Vorlesung deutlich macht, dient diese erste Auslegung in weiterer Perspektive dazu, den Übergang zu einem neuen Denken in den Blick zu bringen. Schelling selbst, so legt Heidegger nahe, war bereits auf dem Weg zu einer Überwindung des bisherigen Denkens, weshalb es bei der Interpretation darauf ankäme, jenes zu »fassen«, was die Freiheitsschrift »über sich selbst hinaus« bringe (VL 36, 13). Zugleich aber behauptet Heidegger, dass das Problem, um das Schelling in der Freiheitsschrift ringe, von Schelling selbst nicht gelöst werde. Daher gelte es vor allem, dessen »Scheitern« zu erkennen – womit allerdings ein Wissen darüber vorausgesetzt wird, worin überhaupt die Aufgabe des Projekts bestanden habe und an welchen Schwierigkeiten sie scheitere, worin, mit anderen Worten, der »Grund dieses Scheiterns« (VL 36, 4) zu suchen wäre. Diese einleitende Bestimmung im Blick auf die »Aufgabe der Auslegung« (VL 36, 1) macht deutlich, dass es Heidegger kaum auf eine historisch genaue Interpretation ankommt. Dass die Vorlesung dennoch wie eine Art Kommentar zur Freiheitsschrift erscheinen kann,213 lässt sich nur aus Heideggers Verfahren erklären, sich bei der Auslegung in weiten Teilen streng an das Vorgehen Schellings anzulehnen. Jeder einzelne Schritt des Argumentationsganges wird nicht nur nachvollzogen, sondern über die Ausführungen Schellings hinaus

und Zeit zu erläutern. Zu Schelling fällt Heidegger, wie es scheint, bei seiner neuen Lektüre nichts Neues mehr ein« (Figal (2010), S. 48 f.). Demgegenüber weist Dietmar Köhler auf die Kontinuität der Schellingdeutungen hin (Köhler (2006), S. 249) und leitet daraus letztlich auch die Ansicht ab, dass die Auseinandersetzung mit der Freiheitsschrift »im besonderen Maße geeignet [sei], Aufschluß über seinen eigenen Denkweg im Anschluß an die Konzeption von Sein und Zeit zu gewähren« (ebd., S. 264). 213  Vgl. Höffe/Pieper (1995), Vorwort der Herausgeber, S. 10. Zurückgewiesen wird diese Darstellung unter anderem von Köhler (2000), S. 303.

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in seiner Schlüssigkeit gerechtfertigt.214 Obwohl die Interpretation also einerseits im Horizont der These vom Scheitern der Freiheitsschrift geschieht, steht bei der Darstellung nicht die Kritik, sondern vielmehr eine grundsätzliche Affirmation des Textes, d. h. genau der behauptete wesentliche Bezug zwischen Heideggers und Schellings Denken im Vordergrund. Tatsächlich scheint die Idee vom Übergang hier gerade durch den Gedanken geprägt, dass die Freiheitsschrift selber auf den Punkt hinführen müsse, von dem aus das Scheitern allererst erkennbar werde, wenngleich Schelling selbst diesen Punkt gerade nicht als einen solchen erkannt und den Übergang aus diesem Grund nicht vollzogen habe. Demnach kommt es eben darauf an, sich zunächst vollständig auf die Freiheitsschrift einzulassen und ihrem eigenen Gang zu folgen, um überhaupt an den fraglichen Übergangspunkt gelangen zu können. Allerdings hat diese Art des Vorgehens – abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich mit der Vorstellung eines solchen Übergangs verbinden – einen besonderen Nachteil. Indem Heidegger sich so vollständig auf den Argumentationsgang Schellings einlässt, verzichtet er nämlich auf eine Perspektive kritischer Distanz, wodurch er bestimmte Fehleinschätzungen, Unklarheiten und Widersprüche der Freiheitsschrift in seine Interpretation übernimmt. Das gilt zunächst für Schellings Kritik an Spinoza und Jacobi, die von Heidegger ohne einen Blick auf die in Frage stehenden Positionen selbst nicht nur übernommen, sondern teilweise sogar noch ausgeweitet wird. Gleiches gilt aber auch für rational unzugängliche und in sich widersprüchliche Beschreibungen wie den des schöpferischen Zirkels, die von Heidegger auf nicht minder unverständliche Art wiedergegeben werden. Widersprüche werden auf diese Weise nicht sichtbar gemacht, und das Dilemma der Unvereinbarkeit von System und Freiheit im Sinne der konkreten Vorgabe der Freiheitsschrift bleibt dadurch ebenso verschleiert wie bei Schelling; welches Dilemma aber sonst gemeint sein könnte – und um ein veritables Dilemma müsste es sich doch handeln – kann auch nicht klar erschlossen werden. Der Verzicht auf die distanzierte Interpretationsperspektive ist es denn auch, der am Ende zu dem Problem führen wird, dass Heidegger seinen anfänglichen Anspruch nicht einlösen kann. Gerade das, was die Auslegung eigentlich zeigen sollte, bleibt im Dunkeln: dass und woran die Freiheitsschrift nun eigentlich scheitert und was man sich bei einer schöpferischen Überwindung dieses Problems in einem neuen Anfang denken solle.

214 

Vgl. Heideggers eigene Darstellung: »Das Verfahren der Auslegung ist dieses: Wir folgen Schritt für Schritt dem Gang der Abhandlung und entwickeln jeweils an einzelnen Haltepunkten dasjenige, was geschichtlich und d. h. zugleich sachlich zu wissen notwendig ist« (VL 36, 5).



Die Vorlesung von 1936: Identifikation mit Schelling 191

1. Die Notwendigkeit eines Systems der Freiheit Die Vorlesung gliedert sich, gemäß dem Aufbau der Freiheitsschrift und des einen, dort eindeutig zu verortenden Einschnittes, in die Interpretation der Einleitung und die der »Hauptuntersuchung«.215 Der Einleitung, die in der vorliegenden Untersuchung als grundlegende Vororientierung gewertet wurde, an der sich die Frage nach der Vereinbarkeit von System und Freiheit und der Neuartigkeit des Ansatzes letztlich bereits entscheidet, wird auch bei Heidegger eine große Bedeutung zugemessen. Das ist schon allein daran ersichtlich, dass die Auseinandersetzung mit der Einleitung vom Umfang her die Analyse des Hauptteils deutlich übersteigt. Sie ist aber zugleich auch im Rahmen der Interpretationsperspektive Heideggers von entscheidender Bedeutung, weil sie deutlich macht, wie Heidegger das Problem verortet und aus welcher Perspektive sich die Kritik ergeben soll. Heidegger gliedert die Einleitung noch einmal in zwei Teile, eine »Einleitung der Einleitung« und einen Hauptteil der Einleitung. Seine Auseinandersetzung mit dem ersten Teil steht im Text der Gesamtausgabe unter dem Titel des »inneren Widerstreits im Gedanken des Systems der Freiheit« (GA 42, V)216 und ist als eine Art 215  Ein

Wort zur Textgrundlage: Der Text der Vorlesung ist in zwei Ausgaben überliefert. Zum ersten Mal wurde die Vorlesung 1971, d. h. noch zu Lebzeiten Heideggers, von Hildegard Feick herausgegeben. Die Version der Gesamtausgabe, erschienen 1987, stützt sich daneben auf zwei weitere Quellen und ergänzt einige Passagen (v. a. an den Stundenübergängen), sowie einige von Heidegger später eingefügte Anmerkungen, die wohl dazu dienen sollen, dem Verdacht vorzubeugen, dass es sich bei Schelling tatsächlich um einen Vorläufer seines eigenen Denkens handeln könnte. Die Leistung der Herausgeber der Gesamtausgabe soll an dieser Stelle nicht angezweifelt werden. Gleichwohl lässt die Zustimmung Heideggers zur Ausgabe von 1971 es ebenso gerechtfertigt scheinen, sich bei der Analyse auf diese Textgestalt zu stützen. So scheint etwa die in der frühen Ausgabe (VL 36) vorgenommene Unterteilung der Vorlesung in drei Abschnitte, in die Auslegung der »ersten Erörterungen«, die der »Einleitung« selbst, und die des »Hauptteils« mindestens ebenso schlüssig wie die in der Gesamtausgabe vorliegende Unterteilung in zwei Kapitel, da den beiden Abschnitten der Einleitung großes Gewicht beigelegt wird. Letztlich aber ist die Einteilung der Vorlesung kaum von großer Bedeutung. Auffällig ist hingegen, dass im Text der Gesamtausgabe der Ausdruck »Seyn« häufiger durch den Ausdruck »Seiendes« ersetzt ist. Der Eindruck einer wesentlich affirmativen Haltung Heideggers zur Freiheitsschrift allerdings wird durch die Verwendung des Wortes »Seyn« grundlegend bestärkt, während die Verwendung von »Seiendes« in bestimmten Kontexten eher auf einen kritischen Abstand Heideggers hinweist. Sofern die vorliegende Untersuchung belegen soll, dass die affirmative Haltung Heideggers die Auseinandersetzung mit Schelling wesentlich prägt, scheint der Text von 1971 als Grundlage besser geeignet. Aus dieser Perspektive, die sich im Folgenden allerdings erst noch als zutreffend erweisen muss, erscheint die Ersetzung wie eine nachträgliche Korrektur im Geiste der späteren, kritischen Haltung Heideggers zu Schelling. An den entsprechenden Stellen wird hier daher auf den Text der früheren Ausgabe zurückgegriffen, während der Text der Gesamtausgabe in einer Anmerkung ergänzt wird. Bei übereinstimmenden Zitaten wird im Text nur auf die Ausgabe von 1971 verwiesen (VL 36). 216  In VL 36 lautet der Titel nur »Auslegung der ersten Erörterungen« (VL 36, VII bzw. 17).

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Rekonstruktion des Problems der Unvereinbarkeit von System und Freiheit, d. h. als Darlegung des Problemhintergrunds zu verstehen. Im Blick auf die vorliegende Untersuchung ist dabei vor allem auffällig, dass Heidegger die Spinozakritik Jacobis als Problemhintergrund nicht nur ignoriert, sondern sie als Bezugspunkt für das Problem bewusst ausschließt. Ohne den Bezug auf diesen Hintergrund aber gelingt es Heidegger nicht, einen wirklichen Gegensatz zu konturieren, der über den abstrakten Gegensatz durchgehender Begründung und dem, was Begründung gerade ausschließt, hinausginge. Wie sich zeigen wird, zielt Heideggers Problemrekonstruktion in Wahrheit auch gar nicht darauf ab, die Problematik der Unvereinbarkeit von System und Freiheit deutlich zu machen, also einen Widerspruch zwischen System und Freiheit zu konturieren. Damit aber steht letztlich auch nicht die Frage nach der Möglichkeit eines solchen Systems im Zentrum der Überlegungen, wenngleich Heidegger den ersten Teil der Vorlesung, nach dem Text der Gesamtausgabe, unter die Überschrift »Zur Möglichkeit eines Systems der Freiheit« stellt (GA 42, V)217, weil die Möglichkeit eines solchen Systems ja nur durch die angenommene Unvereinbarkeit überhaupt problematisch erscheint. Im Gegensatz dazu geht es hier von vornherein darum, die »Unumgänglichkeit des Fragens nach dem System der Freiheit«, und das heißt weniger die Möglichkeit als vielmehr die Notwendigkeit eines Systems der Freiheit aufzuzeigen. Diese Ausrichtung lässt sich schon an Heideggers Darstellung des Systemgedankens erkennen, die von Anfang an im Blick auf die Realisierung des Systems als System der Freiheit und nicht unabhängig von oder im Gegensatz zur Behauptung der menschlichen Freiheit erfolgt. Das System, so legt Heideggers geschichtliche Darstellung der Entwicklung des Systemgedankens nahe, enthält bereits in sich die Forderung, zuletzt als System der Freiheit realisiert zu werden. Umgekehrt scheint der Begriff der Freiheit auch schon von vornherein auf seine Verortung und Realisierung im System hin gedacht zu sein. »Die Wesensumgrenzung der Tatsache der Freiheit« sei, so heißt es schon ganz zu Beginn der Ausführungen, »die Begründung des Systems der Philosophie auf seinen eigentlichen Grund; und die Einordnung der Freiheit in das System ist nichts anderes als die Herausstellung der Grundtatsache und die Aufhellung ihrer Tatsächlichkeit« (VL 36, 25). Das System kommt folglich erst da zu seiner Vollendung, wo es sich als System der Freiheit versteht und entfaltet. Insofern bildet Schellings Projekt, die Freiheit zum Zentrum des Systems zu machen, den Gipfel dieser Entwicklung. Im zweiten Teil, der sich auf den Begriff des Pantheismus als System der Freiheit konzentriert, geht es daher von vornherein um die Realisierung des Systems der Freiheit, die allerdings zunächst unter den Bedingungen des Idealismus zu denken 217 

Ein vergleichbarer Titel fehlt in VL 36, weil hier die Auslegungen der »Einleitung der Einleitung« und die der »Einleitung« selbst nicht noch mal zu einer Einheit zusammengefasst, sondern als gleichberechtigte Abschnitte behandelt werden.



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ist. Schellings Verortung als Übergangsfigur, die etwas abschließt und zugleich ein Neues in den Blick bringt, lässt sich an diesem Abschnitt deutlich erkennen. Einerseits ist Schellings System der Freiheit als Vollendung des Idealismus zu verstehen. Andererseits aber scheint gerade Schelling mit der Konzentration auf die spezifisch menschliche Freiheit auch über den Idealismus hinauszugehen und damit erst den wahren Gegensatz zwischen System und Freiheit hervorzutreiben, der letztlich doch zur Überwindung des Systems führen soll. Der Gegensatz von System und Freiheit, der am Anfang aufgehoben schien, kommt damit als ein »aus der Sache selbst« (VL 36, 69, Herv. Heidegger) entwickelter Gegensatz erst hier zum Vorschein. In gewisser Weise scheint Heidegger sagen zu wollen, dass sich das System im Moment seiner Realisierung als System der Freiheit bei Schelling selbst zerstört, indem es sich als unmöglich erweist. In diesem Sinne müsste am Ende der Vorlesung die Erkenntnis stehen, dass nicht nur ein System der Freiheit, sondern ein philosophisches System überhaupt unmöglich ist und durch ein neues, ganz anderes Denken ersetzt werden müsse. Damit allerdings scheint sich die Kritik Heideggers am System von vornherein grundsätzlich von derjenigen Jacobis zu unterscheiden. Kein Anderes zum System, das sich hinter der Erfahrung der Freiheit verbirgt, führt zur Kritik – das auf das System hin ausgerichtete Denken kritisiert sich selbst und fordert so aus sich heraus seine eigene Überwindung in einem anderen Denken.

1.1 Der Ausgangspunkt der Interpretation: »Die Unumgänglichkeit des Fragens nach dem System der Freiheit« – Das Problem von System und Freiheit nach Heidegger a) Die Rekonstruktion des Problems von System und Freiheit Der erste Teil der Vorlesung, der sich auf die »Einleitung der Einleitung« bezieht, weicht vielleicht am Weitesten von der Vorgabe Schellings ab. Das ist insofern nachvollziehbar, als der Problemhintergrund, vor dem Schelling operiert, für den damaligen Hörer der Vorlesung (und den heutigen Leser) erst ergänzt werden muss, weil er die aktuelle philosophische Diskussion keineswegs mehr beherrscht. Während Schelling also der Verweis auf die »alte Sage« genügt, um den Kontext seiner Schrift deutlich zu machen, muss Heidegger zunächst einmal darlegen, worin die behauptete Unvereinbarkeit von System und Freiheit überhaupt bestehen soll. Allerdings nimmt Heidegger dabei seinen Ausgangspunkt eben nicht bei der von Schelling zitierten Sage, sondern versucht, die Problematik mehr oder weniger unabhängig von einem historischen Hintergrund zu erschließen, weil sich die eigentliche Problemlage, d. h. auch die Problemlage, die ihn selbst bei der Auslegung beschäftigt und antreibt, nicht durch den Rekurs auf historische Hintergründe erschließen lasse. Gleichzei-

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tig aber kann nicht die Rede davon sein, dass es Heidegger gar nicht auf eine historische Verortung des Problems ankommt, wie seine durchaus ausführliche begriffsgeschichtliche Darstellung des Systems erkennen lässt. Seine Absicht, über Schelling hinaus zu einer Überwindung des abendländisch metaphysischen Denkens zu gelangen, scheint eine derartige Verortung im Übrigen auch selbst schon wesentlich zu fordern. Mit Heideggers Darstellung der Positionen von Jacobi und Spinoza scheint es daher weniger um den Ausschluss historischer Bezüge überhaupt, sondern eher um die Vermeidung eines ganz bestimmten Problemkontextes zu gehen.218 Zunächst einmal präsentiert Heidegger aber eine Art begrifflicher Bestimmung dessen, was unter System verstanden werden soll. Denn obwohl es Heidegger zufolge nicht nur darauf ankommen soll, das System als eine »Notwendigkeit und eine unabdingbare Forderung« (VL 36, 27), sondern auch die Freiheit als »innerste Not und äußerstes Maß des Daseins« (ebd.) wiedererstehen zu lassen, konzentriert er sich bei der Rekonstruktion der Problematik vor allem auf den Aspekt der Systemforderung. Das mag auf Anhieb insofern überzeugen, als der Begriff der Freiheit – wie unbestimmt auch immer – anders als der des Systems zumindest grundlegend positiv besetzt ist.219 Tatsächlich erscheint die Frage nach dem System auch im Rahmen des heutigen, postmodernen Denkens vielleicht wie ein überholtes, wenn nicht gar völlig unverständliches und nichtssagendes Problem, eben wie die »gleichgültigste Sache der Welt« (VL 36, 27).220 Demgegenüber präsentiert Heidegger die Systemforderung als eine unumgängliche, zu der man sich in der Philosophie notwendig 218 

In diesem Sinne widerspricht die vorliegende Arbeit der Auffassung von Lore Hühn, nach der kein Zweifel daran bestehe, dass Heideggers Schellinglektüre »den Blick vor allem für den Kontext schärft, zu dem die Freiheitsschrift philosophiegeschichtlich ganz wesentlich gehört, nämlich zur unmittelbaren Vorgeschichte des zwei Jahre später wiederauflebenden Disputs zwischen Jacobi und Schelling um Glauben und Wissen […] (Hühn (2010), S. 8). Die Seminarprotokolle von 1927/28 belegen zusätzlich, dass Heidegger sich der Freiheitsschrift und ihren grundlegenden Problemen zunächst von der Seite ganz anderer historischer Positionen (hier sind es zunächst Meister Eckehart, Luther, Augustinus, Kant und Leibniz) zu nähern versucht. 219  Die Diskussion um die Willensfreiheit scheint heute weniger eine innerphilosophische Auseinandersetzung zu sein als vielmehr eine solche zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Bestritten wird die Willensfreiheit dabei aus der Perspektive der Naturwissenschaft, die selbst nicht der Auffassung ist, eine philosophische Sicht zu vertreten. Der Gedanke eines philosophischen Systems spielt in diesem Kontext also keine Rolle. Allerdings ist sehr wohl fraglich, ob es sich bei der »deterministischen Auffassung überhaupt [um] eine naturwissenschaftlich begründete These« oder nicht vielmehr um den »Bestandteil eines naturalistischen Weltbildes« handelt, »das sich einer spekulativen Deutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verdankt«, wie Habermas formuliert (Habermas (2005) S. 156). 220  Sandkaulen (2006) macht in ihrem Artikel deutlich, in welcher Weise das Problem von System und Systemkritik bis in die heutige Zeit reicht. Sie ist aber gleichwohl ebenso wie Heidegger genötigt, die Virulenz des Problems zunächst einmal einsichtig zu machen. Am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen steht daher ein vages »Unbehagen am System«, in das sich der »Impuls der Systemkritik […] verflüchtigt« habe (12).



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auf die eine oder andere Weise zu verhalten habe. Wer sein Denken der Systemforderung nicht unterstellen möchte, muss sich Heidegger zufolge bewusst gegen das System entscheiden. Eine solche Entscheidung aber könne nur in einem begründeten Verzicht bestehen, der »aus einer wesensmäßigen Einsicht in dasselbe und aus einer wesenhaften Schätzung des Systems entspringen« (VL 36, 30) müsse.221 Daher geht es an dieser Stelle zuerst einmal darum, die Forderung nach dem System einsichtig zu machen und einen positiven Begriff von System wiederzuerlangen. Bei der Darstellung ist allerdings immer schon zumindest andeutungsweise zu erkennen, dass es Heidegger letztlich genau um einen derartigen begründeten Verzicht auf das System gehen wird. Aus diesem Grunde sind die Überlegungen zum System durchaus von grundlegender Bedeutung, weil sie mit dem Scheitern der Freiheitsschrift auf vorerst unbestimmte Weise verbunden sind. In der vorläufigen Begriffsbestimmung allerdings präsentiert Heidegger eine insgesamt zwar unklare, aber doch erkennbar positive, gar emphatische Vorstellung vom System und dessen Bedeutung für die Philosophie, die von vornherein wenig Spielraum für Kritik lässt. System, so Heidegger, sei »eine, ja, die Aufgabe der Philosophie« (VL 36, 32), und in jeder wahren Philosophie, die in Heideggers Augen ein »Fragen nach dem Seyn« ist, liege notwendigerweise die »Ausrichtung auf Fuge und Fügung, auf System« (VL 36, 35). Oberstes Kennzeichen für das System, um das es hier geht, ist Heidegger zufolge also weder der Anspruch auf Einheitlichkeit, noch die Absicht der vollständigen Erklärbarkeit. Im Gegensatz zum »unechten« System, das in einer bloß äußerlichen »Anhäufung und Anstückung« (VL 36, 31) bestehe, ziele das »echte System« auf eine innere Ordnung und »Fügung« (ebd.). Und weil zum Wesen des Seyns der »Fugencharakter« gehöre, müsse die Philosophie, verstanden als ein »Fragen nach dem Seyn«, notwendig systematischen Charakter haben (VL 36, 35). Bei all dem scheint die Frage nach Methode und Erkenntnis zunächst keine große Rolle zu spielen, da es sich ja bei dem System um »das Gefüge des Seyns selbst« handeln soll (VL 36, 38). Deutlich wird nur, dass Erkennen und Sein sich auf irgendeine Weise entsprechen und durchdringen sollen. Was sich einerseits auf einer ontologischen Ebene zusammenfügt, scheint damit immer schon auf eine Erkenntnis hin gedacht, die eben diese Fügung als System weiß. In diesem Sinne heißt es auch, das wahre System sei »die wissensmäßige Fügung des Gefüges und der Fuge des Seyns selbst« (VL 36, 34).222 Allerdings bleiben die Ausführungen zum System auf der begrifflichen Ebene noch äußerst vage und besitzen nur andeutenden Charakter, wohl deshalb, weil sie der Untersuchung selbst schon vorgreifen. Was 221  Hier zeigt sich erneut, dass die Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht zufällig in denselben Zeitraum fällt wie diejenige mit Schelling. 222  In GA 42 ist anstelle der »Fuge des Seyns selbst« von einer »Fuge des Seienden in seiner Seiendheit« die Rede (GA 42, 50).

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das »wahre« System ist, kann nicht auf einer begrifflichen Ebene untersucht werden, weil es Heidegger zufolge mit der Entwicklung des Systems als System der Freiheit im Sinne der Freiheitsschrift grundlegend verbunden sein soll. Die darauf folgende geschichtliche Darstellung ihrerseits bleibt dem Systemgedanken gegenüber generell affirmativ eingestellt, vor allem dort, wo es um das System im deutschen Idealismus geht. Heidegger präsentiert eine geschichtliche Logik, die auf die zunehmende Entfaltung und Vollendung des Systems hin angelegt ist. Demzufolge ist nicht das System bei Schelling, sondern das der Neuzeit Gegenstand von Kritik, während die Weiterentwicklung des Systems nach Kant gerade den Gedanken von System zu verwirklichen scheint, den Heidegger in der begrifflichen Darstellung skizziert hat. Die Kritik am neuzeitlichen System ist vielfältig und kann daher an dieser Stelle kaum eindeutig rekonstruiert werden. Dennoch ist wichtig zu sehen, in welcher Hinsicht das System des deutschen Idealismus dem der Neuzeit überlegen sein soll, weil hier die Weichen auch für die angebliche Widerlegung Spinozas durch die Freiheitsschrift gestellt werden. Insgesamt orientiert sich die Kritik an einer Art von Cartesianismus,223 die Spinoza von vornherein von der Charakterisierung auszuschließen scheint. Wesentlich scheint sie an einer bestimmten »Stellung des Menschen zum Seyn« (VL36, 38) anzusetzen, die Heidegger als Merkmal der Neuzeit bestimmt. Man kann die Charakterisierung des neuzeitlichen Systems daher vielleicht am ehesten auf eine Gegenüberstellung von Mensch und Sein, von Subjekt und durch das Subjekt bestimmtem Objekt, zurückführen. Diese Trennung wird dadurch verschärft, dass eine einseitige Verlagerung zugunsten des Subjekts stattzufinden scheint. Daher präsentiert Heidegger das neuzeitliche Systemstreben als ein Streben nach einer »auf sich selbst gegründeten Bemächtigung des Seyns«, das auf dem Willen beruhe, »das Seyn im Ganzen in einem beherrschbaren Gefüge ins leitende Wissen zu heben« (VL 36, 39). Demgegenüber scheint der Fortschritt des Systems im deutschen Idealismus darin zu bestehen, dass dieses die Trennung und damit zumindest vorläufig auch den Vorrang des Subjekts aufzuheben scheint. Was das System des deutschen Idealismus wissen wolle, sei nämlich »nichts anderes als das Gefüge des Seyns, das nun nicht mehr als ein Gegenstand irgendwo dem Wissen gegenübersteht, sondern das im Wissen selbst wird, welches Werden zu sich selbst das absolute Seyn ist« (VL 36, 55, Hervorh. Heid.)224. Damit wiederum ändert sich auch die Rolle des Philosophen, der hier nicht als ein solcher 223  Ob

und inwiefern dieser Cartesianismus tatsächlich mit der Position Descartes übereinstimmt, kann hier nicht Gegenstand der Betrachtungen sein. Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt und die herrschende Rolle des Subjekts in diesem Verhältnis scheinen sich m. E. wohl eher auf Kant zurückführen zu lassen. Descartes scheint in der Geschichtskonstruktion doch schon deutlich auf diesen hin, d. h. als eine Art Vorläufer gelesen zu sein. 224  In GA 42 steht anstelle des kursiv gesetzten »absoluten Seyns« erneut »das absolute Seiende« (GA 42, 77).



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erscheint, der das Seiende beherrschen will, indem er sein eigenes Ich, seine Subjektivität auf die Dinge überträgt oder diese auf sich hin ausrichtet. Der Philosoph sei »weder auf die Dinge, Objekte, noch auf ›sich‹, das ›Subjekt‹, bezogen, sondern wissend weiß er jenes, was die Dinge als seiende und was den Menschen als seienden umspielt und durchspielt und was all dieses im Ganzen als seiendes durchherrscht« (VL 36, 57, Herv. Heidegger). Im Idealismus scheint damit das System in eben dem Sinne zur Entfaltung gekommen, wie Heidegger es in seiner ersten begrifflichen Bestimmung als positive Forderung an die Philosophie formuliert hatte. Das System erfasst nicht nur das Gefüge des Seyns, es ist dieses Gefüge selbst, in das der erkennende Philosoph sich gewissermaßen hineinzuversetzen hat, und an dem er mittels der intellektuellen Anschauung teilhaben kann. Diese, die intellektuelle Anschauung spielt daher in der Darstellung Heideggers eine wichtige Rolle, obwohl Schelling selbst in der Freiheitsschrift gerade nicht mehr von einer intellektuellen Anschauung des Absoluten ausgeht.225 Wie sich zeigt, ist es auch hier eben das Verhältnis zwischen dem erkennenden Menschen und dem erkannten Sein, und das heißt die in der intellektuellen Anschauung sich ausdrückende Einheit, auf die es Heidegger ankommt und die er zunächst als durchweg positive Errungenschaft der Philosophie des deutschen Idealismus auszeichnet.226 Deutlich zeigt sich dies vor allem an Heideggers Darstellung dessen, was er nach Schellings Hinweis auf Sextus Empiricus als das »Erkenntnisprinzip« der Freiheitsschrift bestimmt. Die Annahme, dass »Gleiches von Gleichem erkannt werde«,227 scheint gerade auf diese vorgängige Einheit hinzuweisen, aus der allein wahre Erkenntnis zu denken sei. »Wenn 225  Heidegger behauptet, für das Denken des deutschen Idealismus gelte: »Philosophie ist die intellektuelle Anschauung des Absoluten«. (VL 36, 52) Wissen sei »im Grunde Anschauung, unmittelbares Vorstellen des Gemeinten in seiner seienden Selbstanwesenheit« (ebd.). Diese Bestimmung scheint nicht nur in Bezug auf die Freiheitsschrift, sondern vor allem im Blick auf Hegel äußerst fragwürdig. Sie ist vermutlich im Zusammenhang mit Heideggers These zu betrachten, dass die abendländische Metaphysik als »Präsenzdenken« zu verstehen sei. 226  Vgl. VL 36, 54 ff. Allerdings deutet sich hier eine Einschränkung dieser positiven Bestimmung gleichzeitig auch immer schon an, dort etwa, wo die Geschichte als »Weg des absoluten Wissens zu sich selbst« (VL 36, 61) ausgezeichnet wird. Dort heißt es, die intellektuelle Anschauung sei »die Herausstellung des bisher nur verborgenen innersten Voraussetzung – Sein als Subjektivität –, die im Ansatz des Systems im Sinne des mathematischen Vernunftsystems gelegen ist. Denn erst von dem Augenblick an, wo diese Vorstellung vom System als absolutem Vernunft­ system im absoluten Wissen sich selbst weiß, ist das System aus sich selbst absolut begründet, d. h. eigentlich mathematisch, seiner selbst gewiß, auf das absolute Selbstbewußtsein gegründet und alle Bereiche des Seienden durchfugend und durchherrschend« (VL 36, 57 f.). In diesem Abschnitt klingt sowohl die Einseitigkeit einer auf das Subjekt setzenden Philosophie, als auch der Aspekt der »Herrschaft« an, die eben die Kritik am neuzeitlichen System auszeichnen. Erneut zeigt sich hier die Übergangsstellung Schellings, der einerseits die Entwicklung vollendet, andererseits aber – wie sich zeigen wird – gerade über die »Grundstellung« des idealistischen Denkens noch einmal hinauszugehen scheint, indem er die Grenzen der absoluten Erkenntnis aufzeige. 227  Vgl. VL 36, 62 ff. (GA 91 ff.), und Schelling: FS 337.

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nun«, so Heidegger, »in der Philosophie Gegenstand der Erkenntnis das Seiende im Ganzen ist und so der Grund des Seienden […], dann muß auch der Philosoph als Erkennender in dem stehen, das gleich ist mit dem, was er da erkennt« (VL 36, 66, Hervorh. Heid.). Einige Bemerkungen Heideggers in diesem Kontext deuten darauf hin, dass hier ein Punkt erreicht ist, um den es ihm wesentlich zu tun ist. So heißt es beispielsweise, dass es »auf die Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zum Seienden« ankäme, »darauf, daß dieses Verhältnis überhaupt genannt, als Grund der Möglichkeit der Erkenntnis angenommen und eigens übernommen werde. Mit dieser Fassung des Prinzips der Erkenntnis, des Wissens und der Wahrheit überhaupt und mit der hiernach ausgerichteten Fassung der Aufgabe einer Bestimmung des Erkenntnisprinzips im besonderen gehen wir der Form nach allerdings schon über Schelling und die ganz bisherige Behandlung dieser Aufgabe hinaus. (Die Gründung des Da-seins)« (VL 36, 64, Herv. Heidegger). Schelling selbst habe, so Heidegger, die Frage nach dem Erkenntnisprinzip auch gar nicht eigens gestellt und sich statt dessen damit »begnügt, dieses Prinzip lediglich zu nennen« (VL 36, 65). Und dennoch ist Heidegger der Auffassung, dieses Prinzip sei geeignet, die Philosophie des deutschen Idealismus und diejenige Schellings im Besonderen zu charakterisieren. Durch die Ausführungen zum »Erkenntnisprinzip« ergänzt, wird dann auch die »intellektuelle Anschauung« zu einem Punkt, auf den Heidegger in positiver Weise und in eigener Terminologie rekurriert, und der dadurch besonders ausgezeichnet wird. Wir könnten, so Heidegger, die philosophische Erkenntnis im Sinne der intellektuellen Anschauung des Absoluten »mit dem Prinzip der philosophischen Erkenntnis zusammenbringen, indem wir sagen: »Wir wissen nur, was wir anschauen. Wir schauen nur an, was wir sind; wir sind nur das, dem wir zugehören. (Diese Zugehörigkeit aber ist nur, indem wir sie bezeugen. Diese Bezeugung aber geschieht nur als Da-sein)« (VL 36, 68, Herv. Heidegger). Intellektuelle Anschauung, so Heidegger, sei »Vernunftanschauung«, wodurch die Vernunft allererst ihren ursprünglichen Wortsinn zurückerhalte: den von Vernehmen (VL 36, 53). Allerdings geht es Heidegger dabei eben nicht um eine Differenz von Vernehmendem und Vernommenen wie bei Jacobi,228 sondern viel eher um deren Einheit. Eher als an Jacobi erinnert daher das gegenüber der Trennung von Mensch und Sein favorisierte Modell der Teilhabe an einem sich vollziehenden Seinsgeschehen229 an Spinozas Vision der Immanenz, die, wie sich im zweiten Teil zeigen wird, unter dem Titel des »Pantheismus« nun tatsächlich zur positiv auf228  Vgl.

Sandkaulen (2000), S. 257 f. Auf dieses Problem wird in Kapitel III genauer eingegangen. 229  Vgl. auch die Formulierung der Einleitung: »Sofern der Mensch als Mensch ist, muß er an dieser Bestimmung des Seyns teilhaben, und der Mensch ist, soweit er diese Teilhabe an der Freiheit vollzieht« (VL 36, 11). Hierzu heißt es in GA 42: »besser: im Seienden sein, das eigentlich und erstlich frei ist und somit das seiendste (der Mensch als »Centralwesen«)« (GA42, 15, Anm.).



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gefassten Grundlage eines auch von Heidegger favorisierten Systems der Freiheit gemacht wird. Im Blick auf die intellektuelle Anschauung allerdings kann dieser Bezug kaum erstaunen, weil gerade die intellektuelle Anschauung bei Schelling, wie gesehen, ihrerseits mit Spinozas dritter Erkenntnisgattung verwandt ist. Die Rekonstruktion dessen, was System im positiven Sinne sein soll, die Darstellung der, wie Heidegger sagt, »Selbigkeit von Seyn und Gefüge«230 läuft daher in einem wesentlichen Aspekt auf das Vorbild zu, das Schelling selbst bei seinen Systementwürfen vor Augen hatte: das System Spinozas. Allerdings wird dieser Bezug hier nicht erwähnt, und dass Heidegger eine solche Bezugnahme entschieden abgelehnt hätte, geht aus seiner Darstellung der Philosophie Spinozas klar hervor. Bevor aber intensiver auf diesen Umstand eingegangen wird, soll zunächst noch kurz der Begriff der Freiheit in den Blick genommen werden, der bisher völlig aus den Betrachtungen ausgeschlossen blieb. Heideggers Überlegungen zur Freiheit, die allerdings in diesem Rahmen nur sehr sporadisch ausfallen, bestätigen ihrerseits, dass es ihm nicht auf den Gegensatz, sondern vielmehr auf die Vereinbarkeit von System und Freiheit ankommt. So ist der Begriff der Freiheit, der zwar zunächst als Gefühl und Erfahrung einer Tatsächlichkeit thematisiert wird und insofern doch in die Richtung dessen weist, was Jacobi unter der Freiheit versteht, von vornherein auf seine Realisierung im System hin gedacht. Das »Erfühlen der Tatsache« menschlicher Freiheit könne, darin ist Heidegger mit Schelling einig, erst im Rahmen einer systematischen Begriffsbestimmung wirklich zugänglich werden. Es müsse daher »der Standort der Untersuchung […] von Anfang an ein solcher sein, in dem das Erfühlen der Tatsache und der begriffliche Entwurf gleichursprünglich und notwendig vollziehbar werden« (VL 36, 24). Freiheit, die nicht im Gegensatz zum System steht, sondern im Gegenteil geradezu notwendig den Mittelpunkt desselben bilden soll, kann darüber hinaus auch nicht mit menschlicher Freiheit im Sinne einer auf praktische Kontexte hin gedachten Handlungsfreiheit gleichgesetzt werden. Heidegger ist der Auffassung, dass sich hinter dieser Fassung des Freiheitsproblems, der Frage nach der Willensfreiheit, eine Einschränkung der Problematik verberge, die den Kern des Problems nicht treffe, denn das Problem der Willensfreiheit sei eine Frage, die nach den Worten der Einleitung »am Ende verkehrt gestellt und deshalb gar keine Frage« (VL 36, 11) sei. Die »Scheinfrage nach der Willensfreiheit, die in den Morallehren, in der Rechtslehre fortgesetzt ihr Unwesen treibt« (VL 36, 19) – mit anderen Worten eine in praktischen Kontexten formulierte Bestimmung der Freiheit – spielt für Heidegger keine Rolle. Frei zu sein stelle denn auch, wie Heidegger von vornherein deutlich Diese Modifikation drückt aus, wie Heidegger das Verhältnis der Teilhabe später in ein gewissermaßen starres »Innensein« umdeutet. 230  So lautet die Überschrift von §6 in der Version der Gesamtausgabe (GA 42, 84).

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macht, keine Eigenschaft des Menschen dar, sondern eine »alles menschliche Seyn überragende Bestimmung des eigentlichen Seyns überhaupt« (VL 36, 11). Was Heidegger unter dem Begriff der wahren Freiheit versteht, bleibt – darauf wurde schon hingewiesen – im Rahmen dieser ersten Vororientierung über den Gegensatz von System und Freiheit gänzlich offen. Auch am Ende des ersten Teils, dort, wo Heidegger noch einmal im Einklang mit Schelling auf die vermeintlich »höhere Gegensatzformel« von Freiheit und Notwendigkeit zu sprechen kommt, die erneut als Überwindung einer traditionellen, das neuzeitliche Denken bestimmenden Unterscheidung von Natur und Geist gedacht ist, bleibt ein möglicher Gegensatz von System und Freiheit undeutlich. Die Freiheit rückt vielmehr gerade dadurch ins Zentrum des Systems, dass sie als eine »alles menschliche Seyn überragende Bestimmung« des – mittlerweile als »Gefüge« bestimmten – »eigentlichen Seyns überhaupt« (VL 36, 11) nicht einseitig auf einen der Natur gegenüberstehenden Geist, sondern auf den Grund des Systems zu beziehen ist. Insofern gelte es »zu zeigen, daß die Freiheit alle Bereiche des Seienden durchherrscht, im Menschen aber zu einer einzigartigen Schärfe zusammenführt und dem Seienden im Ganzen so ein neues Gefüge abverlangt« (VL 36, 73 f.). Wenngleich sich hier schon eine Kritikmöglichkeit andeutet, die mit der »einzigartigen Schärfe« zusammenhängt, die das Wesen der speziell menschlichen Freiheit auszeichnen soll, bleibt es vorerst bei der Absicht, das System in seiner ursprünglichen, derartige Gegensätze wie den zwischen Natur und Geist erst begründenden Form als System der Freiheit aufzustellen. Eine wirkliche Unvereinbarkeit von System und Freiheit aber wird auch dort nicht erkennbar, wo Heidegger immerhin den Tonfall verschärft, indem er von einem »Grund stürzenden Wandel« (VL 36, 74) spricht, der sich mit der »entschiedenen Ausrichtung auf den Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit« (VL 36, 74) verbinde. Gerade im Zusammenhang mit dem angeblich »höheren« oder auch »ursprünglicheren« Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit wird besonders deutlich, dass der tatsächliche Kontext, der Hintergrund der Argumentation Schellings ausgeblendet und durch eine eigenen geschichtsphilosophische Deutung, die sich auf die Linie Descartes – Kant fixiert,231 ersetzt wird. Heidegger nämlich kann zunächst 231 

Die Überlegungen zeigen, auch wenn sie nun auf die Unterscheidung von Natur und Geist bezogen sind, eine klare Kontinuität zu dem, was Heidegger bereits im Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Systemgedankens ausgeführt hat. Erneut scheint Descartes der Urheber der Unterscheidung zu sein. »Die Freiheit als ichhafte«, so Heidegger über Descartes, habe »gemäß dem aufgestellten Gegensatz das ihr Fremde und Andere in der Natur als der mechanischen Natur« (VL 36, 72). Gleichzeitig aber scheint das auch schon auf Kant hin gedacht, der »in der Gegensatzformel Natur und Freiheit« gleichsam stecken bleiben musste (ebd.), die sich in der Rede von der Kausalität aus Natur und der Kausalität aus Freiheit ausdrückt. Gerade im Blick auf die menschliche Freiheit scheint Kant im Fokus der Heideggerschen Kritik zu stehen, wie sich schon in der Vorlesung über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1930 (GA 31) deutlich



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nur behaupten, dass es sich bei der »höheren Formel« von Freiheit und Notwendigkeit um die grundlegendere Frage und zugleich um eine Verschärfung der Situation handelt. Einerseits ist natürlich richtig, dass das Problem der Unvereinbarkeit von System und Freiheit nicht auf das Problem eines Leib-Seele-Dualismus im Sinne Descartes bezogen ist, den Schelling längst für überwunden hält, nicht zuletzt durch seine eigenen, in dieser Hinsicht positiv an Spinoza orientierten Systementwürfe. Andererseits aber zeigt sich vor allem an der folgenden Unterscheidung der Unabhängigkeit von der Natur einerseits und der von Gott andererseits, wie Heidegger das eigentliche Problem auch hier verschleiert, weil eine solche Gegenüberstellung von Natur und Gott in der Einheitsphilosophie Spinozas in Wahrheit gerade aufgehoben ist. Warum die Frage nach der Freiheit in der Freiheitsschrift von Schelling dennoch zur Frage nach der Freiheit von, oder besser gegen Gott wird, lässt sich nur verstehen, wenn man Schellings bisherige Auseinandersetzung mit dem Problem der Immanenz betrachtet, die schon in den Briefen eine wie gesehen eigenwillige Deutung erfährt. Heidegger kann daher auch nur behaupten, dass es die »viel wesentlichere und weit schwierigere Aufgabe« sei, die »innere Unabhängigkeit des Menschen von Gott« zu begreifen, als bloß die Freiheit des Menschen als Unabhängigkeit von der Natur (VL 36, 73). Eine Begründung dafür bleibt aus. Insofern ist es nur der suggestiven Kraft der Heideggerschen Sprache geschuldet, wenn die Argumentation dennoch plausibel zu scheinen vermag. Bei näherem Hinsehen hingegen verfehlt auch Heideggers Auslegung der Schellingschen Aussage, »ohne den Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit würde nicht Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen des Geistes in den Tod versinken« (FS 338), den eigentlichen Bezugspunkt, der sich ebenfalls vor allem aus der Denkentwicklung Schellings erläutern lässt. Dass die »in Rede stehende Aufgabe«, wie Heidegger formuliert, »die Ergründung des Zusammenhangs der Freiheit mit dem Weltganzen«, der »Ursprung der Philosophie überhaupt, ihr verborgener Grund« sei und die Frage nach dem System der Freiheit daher nicht Gegenstand, sondern »Zustand der Philosophie« sei, der »offene Gegensatz, in dem sie steht und den sie immer wieder zustand bringt« (VL 36, 69), stellt eine Deutung dar, die im Blick auf den eigentlichen Kontext bei Schelling willkürlich und übertrieben scheint. Andererseits aber macht gerade dieser Hinweis aufs Neue deutlich, dass Heidegger sich die Aufgabe eines Systems der Freiheit selbst zu eigen macht.232 Das System der Freiheit, das er zeigt. Die Frage nach Freiheit und Determination scheint allerdings auch in der heutigen Debatte noch auf die Gegenüberstellung von Natur und Freiheit im Sinne der kantischen Unterscheidung zwischen einer Kausalität der Natur und einer Kausalität aus Freiheit zurückzuführen, wie etwa bei Habermas (2005) deutlich wird. 232  Heidegger selbst nimmt den hierin sich ausdrückenden engen Bezug seines eigenen Denkens zu Schelling in einer später eingefügten Anmerkung dann auch zurück, in der es heißt: »Im Folgenden ist gemäß der Absicht der Auslegung nicht klar geschieden: das Denken der Metaphy-

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mithilfe von Schelling entwickelt, ist Aufgabe der Philosophie selbst, die nicht nur »in sich ein Widerstreit zwischen Notwendigkeit und Freiheit«, sondern das »lebendigste ›Und‹, der einigende Widerstreit zwischen Notwendigkeit und Freiheit« sei, womit sie einem »Grundgesetz des Seyns selbst« entspringe (VL 36, 70, Herv. Heidegger). In dieser Vorausdeutung auf die Bestimmung der Seynsfuge und die Stellung des Menschen in dieser Fuge bestätigt sich am Ende dieses Teils eindrucksvoll die Identifikation Heideggers mit Schelling, die sich in der Feststellung nicht der Möglichkeit, sondern der Notwendigkeit, der Unumgänglichkeit des Fragens nach einem System der Freiheit ausdrückt.

b) Der Ausschluss des historischen Bezugs. Heideggers Umgang mit Jacobi und Spinoza Das Problem des Gegensatzes von System und Freiheit, wie er der Freiheitsschrift tatsächlich zugrunde liegt, wird auf diese Weise von Heidegger weniger rekonstruiert als vielmehr verschleiert. Dies aber wird allererst dadurch ermöglicht, dass Heidegger jeden Bezug der Freiheitsschrift zu »geschichtlichen« Diskussionen als sachlich irrelevant abtut. »Für die Unverträglichkeit der Freiheit mit dem System lassen sich«, wie Heidegger Schelling in den Mund legt, »zwar aus der bisherigen Philosophie gewisse Gründe anführen. Aber diese geschichtlichen Hinweise bringen, für sich genommen, die Frage nach der Möglichkeit und dem Wesen des Systems der Freiheit nicht von der Stelle. Das kann nur erreicht werden, wenn die Frage der Vereinbarkeit von System und Freiheit aus der Sache selbst entwickelt und so ein Boden für ihre Entscheidung gewonnen wird« (VL 36, 69).233 Dieser Maxime folgend werden die »geschichtlichen Hinweise« auch gar nicht erst als solche thematisiert, ja, es wird sik der unbedingten Subjektivität […] und das Erdenken der Wahrheit des Seyns« (GA 42, 99, Anm.). 233  Im Übrigen scheint es sich hierbei wie an anderen Stellen – etwa der Frage nach Freiheit und Notwendigkeit im Sinne des Grundgesetzes der Philosophie – um die Überinterpretation einer kurzen Bemerkung bei Schelling zu handeln, der mit der Äußerung, er habe »aus dem Wesen der Vernunft und Erkenntnis selbst geschöpfte Gründe« für die Unvereinbarkeit von System und Freiheit »nirgends gefunden« Jacobis These zwar zurückweist, in der Zurückweisung aber den Bezug zu Jacobi gerade herstellt. Dennoch gilt, dass auch Schelling die Bedeutung der Kritik Jacobis in der Argumentation der Freiheitsschrift bereits selbst herunterspielt, so dass Heideggers Darstellung im Sinne einer unmittelbaren Widergabe dessen, was Schelling explizit ausführt, wohl zutreffend ist. Allerdings lässt sich bereits bei Schelling hinter diesem Ausweichen vor Jacobi eine Art von Strategie vermuten, die Heidegger in gleicher Weise zu verfolgen scheint. Abgesehen davon aber scheint die Überinterpretation kurzer Passagen ein geläufiges Verfahren bei Heidegger zu sein, der gern einzelne Sätze herausgreift, die durch die isolierte Betrachtung wesentliche Bedeutung zu erlangen scheinen. In diesem Aspekt scheint ihm Schelling, der Denker der »Ahnungen« und »Durchblicke«, besonders entgegenzukommen.



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nicht einmal präzisiert, um welche Diskussionslage es sich dabei handeln könnte. Zwar werden, der Logik der nachvollziehenden Interpretation gemäß, sowohl Spinoza als auch Jacobi und der »Pantheismusstreit« als historische Hintergründe genannt, zugleich wird aber ihre Rolle im Blick auf das Problem der Vereinbarkeit von System und Freiheit nicht eigens zum Thema gemacht. Spinoza, so heißt es innerhalb der Darstellung des neuzeitlichen Systems, müsse überhaupt nur deshalb genannt werden, weil seine Ethik »im 18 Jahrhundert noch einmal eine Rolle spielte innerhalb von Erörterungen, die an die Namen Lessing, Jacobi, Mendelssohn, Herder und Goethe geknüpft sind, Erörterungen, die ihre letzten Schatten auch noch in die Schellingsche Freiheitsabhandlung werfen« (VL 36, 41). Worin diese Erörterungen bestanden haben, ist dabei nicht Gegenstand der Betrachtungen. Damit ist von vornherein nicht nur der Blick auf Spinoza, sondern auch der auf Jacobi klar: das Dilemma von System und Freiheit, wie es durch Jacobi vorgegeben ist, gehört einer historischen Diskussion an, die gerade noch ihre letzten Schatten auf die Freiheitsschrift wirft, ohne dabei aber von systematischer Bedeutung zu sein. In diesem Sinne hätte Heidegger überhaupt darauf verzichten können, die Positionen Jacobis und Spinozas in seiner Interpretation darzustellen. Tatsächlich aber werden beide Denker von Heidegger vehement kritisiert, ohne in einen Zusammenhang mit der in Frage stehenden Problematik gebracht zu werden. Das System Spinozas wird von Heidegger vor allem im Zusammenhang mit der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Systemgedankens behandelt, wo es als gewissermaßen typischer Vertreter des neuzeitlichen Systems erscheint. In diesem Sinne scheint ein Einfluss Spinozas auf die Freiheitsschrift schon aufgrund der Geschichtskonstruktion Heideggers ausgeschlossen, derzufolge das neuzeitliche System dem des deutschen Idealismus und vor allem dem der Freiheitsschrift grundsätzlich unterlegen und durch die Umwälzungen, die die Philosophie Kants mit sich brachte, auch wesentlich geschieden ist. In diesem Sinne hätte es gar keiner eigenen Erwähnung Spinozas bedurft. Beträfe die Kritik, die Heidegger am neuzeitlichen System übt, und die sich – wie gesehen – wesentlich am Gegensatzverhältnis zwischen Mensch und Sein, bzw. Subjekt und Objekt orientiert, tatsächlich auch das System Spinozas, wäre schon allein dadurch ein wesentlicher Einfluss Spinozas auf die Freiheitsschrift ausgeschlossen. In Wahrheit aber vertritt Spinoza in eben dieser Frage eine geradezu gegenteilige Position, weshalb es nicht erstaunt, dass seine Philosophie auch eigentlich keinen Platz innerhalb der Darstellung der neuzeitlichen Philosophie findet.234 Statt dessen aber widmet Heidegger der Ethik einen eigenen

234 

Zwar stellt Heidegger Spinoza an späterer Stelle mit der Rede von der »völligen Vernunftlosigkeit des nur Ausgedehnten« (VL 36, 72) gewissermaßen als Cartesianer dar. Jedoch handelt es sich hierbei um eine Reaktion auf Schellings Kritikpunkt der Einseitigkeit und Unlebendigkeit,

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Abschnitt, der Spinoza auf einer Ebene kritisiert, die weit fundamentaler ist als die am neuzeitlichen System, um deutlich zu machen, dass es sich nur um eine merkwürdige »Mißdeutung« handeln könne, wenn »Schellings Philosophie als Spinozismus ausgegeben wurde« (VL 36, 41). Denn »[w]enn Schelling ein System von Grund aus bekämpfte, dann ist es das des Spinoza. Und wenn irgendein Denker den eigentlichen Irrtum des Spinoza erkannte, dann ist es Schelling« (ebd., Herv. Heidegger). Heidegger will dem Hörer offenbar klarmachen, dass eine positive Bezugnahme Schellings auf die Ethik des Spinoza nicht nur faktisch nicht gegeben ist, sondern darüber hinaus als undenkbar angesehen werden muss. Der Einstieg in das Thema vermittelt allerdings zunächst einen ganz anderen Eindruck. Bei Spinozas »Ethik« nämlich, so heißt es dort, handle es sich um das »einzige vollendete, in seinem Begründungszusammenhang durchgebaute System« (VL 36, 40), ein Ausdruck, der nicht nur auf den Vorbildcharakter dieses Systems hinzuweisen scheint, sondern der sich eindeutig auf die von Jacobi angestoßene Diskussion zurückführen lässt. Zugleich aber deutet der Ausdruck »durchgebaut« schon auf ein äußerliches Zusammenstellen hin, das Heideggers Begriff vom »echten« System auf grundlegender Ebene zu widersprechen scheint. Tatsächlich legt Heidegger hier genau das nahe: Spinozas System ist eigentlich gar kein System im wahren Sinne, sondern vielmehr eine willkürliche Zusammenstellung völlig verschiedener Gedanken und Methoden. Die »metaphysischen Grundbegriffe der mittelalterlichen Scholastik« wurden, so heißt es, »mit einer seltenen Kritiklosigkeit einfach in das System hineingebaut […]. Für die Ausführung des Systems selbst wurde die Mathesis universalis, die Methodenlehre des Descartes, übernommen, und der eigentliche metaphysische Grundgedanke stammt bis ins einzelne von Gior­dano Bruno« (VL 36, 40 f.). Wie es allerdings sein kann, dass ein solches Sammel­surium zum »einzigen vollendeten, in seinem Begründungszusammenhang durchgebauten System« werden konnte, das noch dazu, in Anlehnung an Schellings Argumentation, nur »auf Grund einer einzigartigen Einseitigkeit« möglich geworden sein soll (VL 36, 40), bleibt offen. Angesichts dieser Darstellung aber, die offensichtlich nicht aus einer eigenen Auseinandersetzung Heideggers mit der Ethik resultiert, wird völlig unklar, warum Schelling sich überhaupt mit der Widerlegung Spinozas abgegeben haben sollte. Wäre Spinozas Philosophie wirklich das, was Heidegger seine Hörer glauben machen will – sie wäre längst aus dem Bewusstsein späterer Philosophen verschwunden. Die Ambivalenz des Schellingschen Verhältnisses zu Spinoza aber, die selbst aus der Spinoza gegenüber grundlegend kritisch eingestellten Freiheitsschrift abzulesen ist, wird von Heidegger vollständig ausgeblendet. Dass »Schelling im Verlauf der Besprechung der Pantheismusformen zu Berichtigungen der ohnehin schon bei Schelling unzutreffend ist, von Heidegger aber nicht weiter hinterfragt wird.



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der üblichen Auslegung des Spinoza kommt«, sei daher letztlich allenfalls »bemerkenswert, aber nicht das Entscheidende« (VL 36, 87). Spinoza erscheint damit schließlich nicht nur als von Schelling in der Freiheitsschrift endgültig widerlegtes System, sondern darüber hinaus als für die Sache selbst irrelevanter Nebenschauplatz. Interessant ist allerdings, dass Heidegger die Vorbildfunktion, die Spinozas System im Blick auf Schelling zukommt, nicht vollkommen streicht, sondern diese auf einen anderen neuzeitlichen Denker, auf Leibniz nämlich, überträgt. Bei Leibniz scheint es sich Heideggers Darstellung zufolge um ein neuzeitliches System zu handeln, das nicht als Cartesianismus verstanden und folglich – so ist zumindest anzunehmen – auch nicht so ohne weiteres durch das idealistische System überboten werden kann.235 Daher spielt Leibniz insgesamt in der Vorlesung von 1936 eine große, wenngleich nur undeutlich bestimmte Rolle, von der noch mehrfach die Rede sein wird.236 Aus irgendeinem Grund zieht Heidegger es offenbar vor, bestimmte Aspekte, die die Philosophie Spinozas zum Vorbild Schellings machen, nicht im Zusammenhang mit Spinoza, sondern mit Leibniz zu behandeln. Leibniz rage, so heißt es etwa, nach der »Unerschöpflichkeit der systematischen Kraft« gemessen »über alle anderen weit hinaus« (VL 36, 41), für ihn bestehe die Natur – im Gegensatz zu Descartes und Spinoza »gerade nicht in der völligen Vernunftlosigkeit des nur Ausgedehnten« (VL 36, 72) und sei folglich auch »nichts Totes, sondern lebendig«, die »in sich noch verschlossene unentfaltete Freiheit« (VL 36, 113). Über die Gründe für diese besondere Auszeichnung der Leibnizschen Philosophie gegenüber derjenigen von Spinoza kann nur spekuliert werden. Gleichwohl lässt sich zeigen, dass dahinter eine bewusste Entscheidung Heideggers stehen muss. Denn noch in der Vorlesung von 1929 über die Philosophie des deutschen Idealismus hatte Heidegger die beiden Positionen von Spinoza und Leibniz in ihrem Einfluss auf den deutschen Idealismus ganz im Sinne Jacobis237 wesentlich als eine Position aufgefasst. In diesem Zusammenhang stellte sich 235  Der Zusammenhang wird allerdings nicht ausgeführt, sondern höchstens angedeutet. Dass aber Leibniz in einen Gegensatz zu Spinoza und Descartes gerückt wird, zeigt sich an folgender Stelle: »Hier wäre freilich anzumerken, daß doch bei Leibniz die Natur gerade nicht in der völligen Vernunftlosigkeit des Ausgedehnten (wie bei Descartes und Spinoza) und auch das Dynamische nicht als Mechanisches begriffen sei, sondern eher umgekehrt« (VL 36, 72). Das Problem wird jedoch im Folgenden noch mehrfach eine Rolle spielen und damit deutlicher ­werden. 236  Natürlich soll hier nicht verschwiegen werden, dass es auch einen starken eigenständigen Bezug der Freiheitsschrift zu Leibniz gibt. Dieser ist nicht nur im Blick auf die Überlegungen zur Selbständigkeit des Grundes, sondern auch im Zusammenhang mit der Theodizeefrage in den Überlegungen Schellings sehr präsent. Insofern handelt es sich hier keineswegs um eine willkürliche Ergänzung Heideggers. Dennoch geht die Rolle, die Heidegger Leibniz zuschreibt, über diese Bezüge noch hinaus, vor allem dort, wo Heidegger seine Metaphysikkritik wesentlich an Leibniz auszurichten beginnt. 237  Vgl. Jacobi: »Die Leibniz-Wolffische Philosophie ist nicht minder fatalistisch als die Spi-

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auch die Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung des Systems anders dar als in der Schellingvorlesung. Während nämlich hier, 1936, der Einfluss Kants in den Vordergrund gerückt wird, wodurch ein unmittelbarer Bezug zwischen dem deutschen Idealismus und einem neuzeitlichen System wie Spinoza (oder Leibniz) undenkbar erscheint, heißt es noch 1929, der deutsche Idealismus sei »gerade in den wesentlichen und entscheidenden Problemen der Metaphysik« über Kant »hinweggegangen und gleichsam direkt zu Leibniz und Spinoza« (DI 31) – eine Einschätzung, die mit dem Problemzusammenhang, wie er sich im vorangegangenen Kapitel gezeigt hatte, durchaus übereinstimmt. Warum Heidegger in der Vorlesung von 1936 im Blick auf Spinoza, nicht aber auf Leibniz zu einer geänderten Position übergeht, ist eine Frage, die wohl kaum eindeutig beantwortet werden kann. Denkbar wäre immerhin, dass mit Spinoza zugleich eine konkretere Thematisierung des Spinozastreits und der in diesem Zusammenhang diskutierten Probleme vermieden werden soll,238 von dem ja, wie zu hören war, allenfalls noch »letzte Schatten« auf die Freiheitsschrift gefallen seien. Nicht nur Spinoza, auch Jacobis Kritik an Spinoza und die damit verbundenen systematischen Probleme sollen von der Auseinandersetzung ausgeschlossen werden. Mit der Position Jacobis verfährt Heidegger denn auch ganz ähnlich wie mit derjenigen Spinozas. Von vornherein wird sie als eine dem Niveau der Freiheitsschrift deutlich unterlegene, nicht ernstzunehmende, ja geradezu absurde Ansicht präsentiert, die daher mit dem wahren Anliegen der Freiheitsschrift kaum in einen Zusammenhang gebracht werden kann. Aufschlussreich genug ist dabei schon der Umstand, dass der Name Jacobis überhaupt nicht im Zusammenhang mit der Problematik der Unvereinbarkeit von System und Freiheit genannt wird. Bevor der erste Hinweis auf Jacobi erfolgt, ist die sachliche Rekonstruktion der Ausgangsproblematik bereits abgeschlossen – mit dem Ergebnis, dass ein System der Freiheit mögnozistische und führt den unablässigen Forscher zu den Grundsätzen der letzteren zurück« (Spin 121). 238  Sicherlich ließe sich auch ein politischer Hintergrund annehmen. Dieser allerdings ist so ungesichert, dass sich wohl doch eher davon ausgehen lässt, dass es Heidegger vor allem darum geht, die Schellingsche Argumentation zu stützen, die ja Spinoza als überwundenen Gegner präsentiert. Dass es darüber hinaus auch darum gehen könnte, die Nähe des eigenen Denkens zu bestimmten Aspekten des Spinozismus zu verschleiern, wird sich später zeigen. Dies bleibt zwar bis zum Schluss eine unbeweisbare Unterstellung, die aber zunehmend plausibel erscheint, sofern eine gewisse Strategie in Heideggers Darstellung nicht von der Hand zu weisen ist. Denkbar wäre daneben auch, dass Leibniz in dieser Phase für Heidegger insofern größere Attraktivität besitzt als Spinoza, als das Konzept der Monaden für das Verständnis des »eigentlichen« Selbst im Anschluss an Sein und Zeit vielleicht interessanter erscheint als die offensichtlich unpersönliche Substanz. In diesem Sinne ist Leibniz eben auch anders als Spinoza für die Umdeutung prädestiniert, die ihn später in der Darstellung Heideggers zum ausgezeichneten Vertreter der Subjektphilosophie macht. Vgl. die folgenden Abschnitte über die Schellingvorlesung von 1941 und Der Satz vom Grund.



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lich und notwendig sei. Heidegger nimmt also nicht die von Schelling zitierte »alte Sage« zum Anlass, auf Jacobi zu verweisen – ebensowenig wie den Zusammenhang mit dem »Gefühl der Freiheit« – sondern erst die Ausführungen zum rechten Pantheismusverständnis, die im zweiten Teil der Vorlesung behandelt werden, und auf die auch hier noch eigens zurückgekommen werden soll. Schon Schelling hatte im Rahmen dieser Betrachtungen eine äußerst verkürzte Darstellung der Position Jacobis gegeben, die dessen eigentliche Argumentation weitgehend ausblendete. Heidegger folgt dieser Darstellung Schellings, die er allerdings im Tonfall weiter verschärft. Dabei ist anzunehmen, dass Heidegger diese Sicht auf Jacobi vor allem der Schrift von 1811, dem Denkmal auf Jacobi entnimmt, die er als eine der »glänzendsten« Streitschriften »im deutschen Schrifttum« bezeichnet (VL 36, 81). Ohne einen Blick auf Jacobis eigentliche Argumentation behauptet Heidegger daher, in den Spinozabriefen wolle Jacobi folgendes dartun: »Pantheismus ist eigentlich Spinozismus, und Spinozismus ist Fatalismus, und Fatalismus ist Atheismus« (VL 36, 80). Jacobi habe mit dieser angeblichen »Gleichsetzung von Pantheismus und Spinozismus« zwar »mittelbar dahin gewirkt«, dass »die Frage, was Pantheismus sei, neu gestellt und schärfer bestimmt wird« (VL 36, 80), habe aber zugleich selbst aus diesen Diskussionen und Entwicklungen »nichts gelernt und nichts lernen wollen« (VL 36, 81). Schließlich sei er durch das Denkmal auf Jacobi denn auch endgültig widerlegt worden, in der die »ganze Hinterlist und Ungründlichkeit des Jacobischen Angriffes […] durch folgende Argumentation« zurückgewiesen werde: »Man erklärt in einem Atemzug, von Gott sei nichts zu wissen und die Philosophen seien Gottesleugner. Wie will man einen der Gottesleugnung beschuldigen, wenn man selbst erklärt, von Gott nichts wissen zu können?« (ebd.) Zu der Unangemessenheit dieser Darstellung und Widerlegung Jacobis muss nach den Ausführungen zu Jacobis eigentlicher Position hier nichts gesagt werden. Auch die Behauptung, Jacobi sei nach der Veröffentlichung dieser Streitschrift sogar bei seinen Freunden »erledigt« gewesen, darf man getrost als verfehlt bezeichnen, nicht nur, was seine »Freunde« – wer auch immer damit gemeint sein soll – sondern auch, was die Philosophie Schellings angeht, dessen weitere Entwicklung zeigt, dass er die Auseinandersetzung mit Jacobi nach der Freiheitsschrift keineswegs eingestellt hatte. Heideggers Darstellung jedoch macht unmittelbar deutlich, dass Jacobis Position keinerlei sachliche Relevanz für das Verständnis der Freiheitsschrift haben könne. Besonders auffällig ist dabei Heideggers Fixierung auf das Problem des Atheismus, die die Rolle des Fatalismus und damit das Problem der menschlichen Freiheit, um das es Jacobi vordringlich zu tun ist, in den Hintergrund drängt. Auch hierfür allerdings findet Heidegger eine Vorlage bei Schelling, der in der Freiheitsschrift, vor allem aber im Denkmal, ganz ähnlich argumentiert. Die Verschiebung vom Problem der menschlichen Freiheit hin zum rechten Verständnis Gottes unterstützt aber wesentlich den Eindruck, Jacobis Kritik könne mit dem Problem des Verhältnisses von System und Freiheit und damit

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mit dem eigentlichen Gegenstand der Freiheitsschrift nichts zu tun haben. Darüber hinaus trägt sie auch dazu bei, Jacobi als eigentlich philosophiefremden Frömmler darzustellen, der schon allein deswegen nicht ernst zu nehmen sei. Schelling verfehle nicht, wie Heidegger betont, »die versteckte weiter zielende Absicht« Jacobis »ans Licht zu heben«, die darin bestehe, »vor der Philosophie überhaupt als etwas »Verderblichem« auf dem Wege einer Ketzerrichterei zu warnen; denn Spinozismus als Fatalismus sei ja Atheismus, und davor muß sich jeder Rechtschaffene bekreuzigen« (VL 36, 108). Spinoza also erscheint bei Heidegger entweder als Vertreter eines neuzeitlichen Cartesianismus, der durch die Transformation des Systemgedankens im Zusammenhang mit Kant durch das System des deutschen Idealismus aufgehoben werde, oder aber als unmöglich ernst zu nehmender Gegner, dessen System in Wahrheit gar keines sei. Jacobi hingegen ist der religiöse Eiferer, der nicht nur vor dem Spinozismus, sondern vor der Philosophie überhaupt als »etwas Verderblichem« warne. Beide Denker werden damit ohne Ansehen ihrer eigentlichen Positionen diskreditiert, und dies, ohne überhaupt in einen Bezug zur Problemlage von System und Freiheit gerückt zu werden. Weder wird die Kritik Schellings an Spinoza und Jacobi auf diesen Zusammenhang bezogen, noch wird an irgendeiner Stelle präzisiert, welches die »gewissen Gründe« seien, die sich aus der »bisherigen Philosophie« für »die Unverträglichkeit der Freiheit mit dem System anführen« ließen (VL 36, 69). Heidegger meidet auf diese Weise jede Auseinandersetzung mit der durch Jacobis Spinozakritik und Schellings Auseinandersetzungen mit Jacobi und Spinoza vorgegebene Problemlage, und hat damit auch vorerst kein Argument dafür an der Hand, dass »die scheinbare Unverträglichkeit von Freiheit und System […] nicht durch geschichtliche Erinnerungen geklärt« werden könne, sondern »aus der Sache selbst entschieden werden« müsse (vgl. 36, 75). Dennoch präsentiert Heidegger diese These so, als sei sie das Resultat der Überlegungen des ersten Teils und damit auch der Ausgangspunkt der eigentlichen Auslegung, die erst erweisen soll, dass das wirkliche Problem der Frage nach einem System der Freiheit nicht vorausliegt, sondern sich vielmehr aus dem entwickelten System der Freiheit selbst ergeben soll. Der Ausschluss des historischen Hintergrunds für die Freiheitsschrift ist daher sicherlich kein Versehen; er bildet vielmehr die Grundlage für Heideggers These von der Gipfelstellung der Freiheitsschrift. Er ist notwendig, um die Freiheitsschrift tatsächlich als einen radikalen Neueinsatz erscheinen zu lassen, der das Problem auf ein ganz neues Niveau hebt, aus dem das letztlich offenbar notwendige, in der Sache selbst liegende Scheitern hervorgeht. Erst auf der Höhe der Theorie Schellings soll, wie Heidegger nahelegt, das wahre Problem erkennbar werden. Als Grundlage des Systems der Freiheit aber, das Heidegger im Nachvollzug der Schellingschen Freiheitsschrift darstellt, dient ein pantheistisches System, mit anderen Worten, eben das System der Immanenz, das bereits im Fokus der Kritik Jacobis steht. Indem Heideg-



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ger die Spinozakritik Jacobis als Hintergrund ausschließt, kann er den Pantheismus zunächst nicht als Problem, sondern als Lösung präsentieren, die über die von ihm als falsch oder zumindest nicht ursprünglich genug gekennzeichneten Gegenüberstellungen und Trennungen hinausführen soll. Diese Situation erinnert ein wenig an die Situation Schellings in den Briefen, anhand derer deutlich wurde, dass das richtig verstandene System der Immanenz gerade als Lösung für die in den Briefen aufgeworfenen Probleme erscheinen konnte, wodurch Spinoza vorübergehend in die Rolle eines eindeutigen Vorbildes gelangte. Entsprechend scheint es sich hier zu verhalten: die Überlegungen führen auf das Ergebnis, dass nur der richtig verstandene Pantheismus, ein System der Teilhabe des Menschen am als frei bestimmten Sein, ein System der Freiheit möglich mache. Aus diesem Grund stellt das zweite Kapitel der Vorlesung auch wirklich den Begriff des Pantheismus ins Zentrum.239 Gerade daran aber zeigt sich, dass das Problem, das hier vermeintlich »aus der Sache selbst« entwickelt wird und als Neueinsatz, als Überwindung nicht nur des neuzeitlichen Denkens, sondern auch der Philosophie Kants und Fichtes präsentiert wird, eben nicht neu ist, sofern es einerseits wesentlich auf die von Heidegger ausgeschlossene Diskussion der Spinozakritik Jacobis bezogen werden kann, und andererseits bereits den früheren Systementwürfen Schellings als Grundlage diente. Dass das Problem des Pantheismus, anders gesagt der Immanenz, Schelling von Beginn an beschäftigt, dass er sich auch an der Frage nach der rechten Deutung dieses Verhältnisses abarbeitet, wird von Heidegger ebensowenig beachtet wie der sachliche Hintergrund der Problematik. Heidegger tut so, als sei all dies völlig neu und revolutionär, wodurch er aber letztlich das eigentliche Ausmaß des Problems unterschlägt, das sich in den wiederholten Lösungsversuchen Schellings deutlich ausdrückt. Insofern hat seine Interpretationsstrategie, die die Freiheitsschrift als gänzlichen Neueinsatz wertet, gleichzeitig die Pointe, dass sie das tatsächliche Niveau der Überlegungen Schellings unterbietet und die Problematik entschärft, anstatt sie zuzuspitzen. Vordergründig aber führt Heideggers Vorgehen an einen Punkt, von dem aus der unmittelbare affirmative Nachvollzug der Schellingschen Ausführungen gerechtfertigt scheint. Heidegger meint, den sachlichen Ausgangspunkt gezeigt zu haben: die Möglichkeit und Notwendigkeit des Systems der Freiheit auf der Grundlage eines Pantheismus, der darum im nächsten Abschnitt zur Grundlage der Auseinandersetzung wird.

239  Nach

der Gliederung der Gesamtausgabe steht das zweite Kapitel unter dem Titel: »Die Pantheismusfrage als Frage nach dem Prinzip der Systembildung« (GA 42, 107–180). In der Ausgabe von 1971 entspricht diesem Abschnitt Teil B: »Auslegung der Einleitung in Schellings Abhandlung« (VL 36, 75–124).

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1.2 Der Pantheismus als Grundlage des Systems der Freiheit – die Einheit von Sein und Freiheit a) Pantheismus und Ontotheologie Der zweite Abschnitt der Vorlesung, die Auslegung dessen also, was Heidegger als eigentliche Einleitung der Freiheitsschrift bestimmt, beschäftigt sich wesentlich mit dem Begriff des Pantheismus, der als Lösung der Probleme neuzeitlicher Philosophie und als Grundlage eines Systems der Freiheit präsentiert wird. Im Zuge des Kapitels werden die Begriffe »Pantheismus« und »System« zunehmend wie Synonyme verwendet, die zudem durchaus positiv besetzt sind, weil es hierbei – wie Heidegger deutlich macht – um die Frage nach dem Sein gehen soll. »Die Frage nach dem Pantheismus«, so Heidegger, »ist die Frage nach dem Prinzip der Systembildung, das aber ist die Frage nach dem Wesen des Seyns« (GA 42, 128).240 Heidegger ist der Auffassung, damit den Begriff des Pantheismus aus einer Diskussion zu lösen, die das Wesen desselben verfehle. Pantheismus sei »ein Titel, der zu einer äußerlichen Verhandlung über Standpunkte und Meinungen verleiten kann, der aber etwas ganz anderes meint« (VL 36, 97). Gemeint sei nämlich, so Heidegger weiter, eben die »Frage nach dem Seyn überhaupt« (ebd.). Diese entschiedene Ausrichtung der Interpretation der Freiheitsschrift auf die »Frage nach dem Seyn« hin, wird von Heidegger im Kontext der Freiheitsfrage fortgeführt, und dort als bewusst gewählte Einseitigkeit der Auslegung auch offen ausgesprochen. Gerade im Blick auf das Problem der Freiheit wird diese Tendenz durchaus problematisch, weil, wie Günther Anders schon im Blick auf Schelling kritisch bemerkt, die ›Ontologisierung‹ der Freiheit eine Verfehlung des Freiheitsproblems sei.241 Heidegger allerdings ist zunächst ein240 

Fehlt in VL36. In den 2001 unter dem Titel »Die Trotzphilosophie: ›Sein und Zeit‹« (1936–50) herausgegebenen Texten aus dem Nachlass ist zu lesen: »Freilich kann man sagen, daß die Umwandlung der ›Freiheitsphilosophie‹ in eine Ontologie – und darin besteht die Schellingsche Philosophie – bereits eine Entstellung des echten Freiheitsproblems ist. Dadurch nämlich, daß das Freiheitsprinzip (als Potenz) universalisiert wird, zum Prinzip der Natur verallgemeinert wird, wird die Freiheit in der Sphäre der praktischen Vernunft oder der vernünftigen Praxis nur zum Fall unter Fällen bagatellisiert; ja, Freiheit wird dadurch nicht mehr gefordert oder gewährleistet, sondern ›festgestellt‹. Dieser Verfall der Freiheit zum Seyn ist völlig deutlich in Schellings ›positiver Philosophie‹. Daß aber Heidegger diese noch einmal aufgewärmte Spätform des Problems der Transzendentalphilosophie als Neuigkeit offeriert, entzieht sich aller Erklärung; daß er es kann, beweist nur, dass Schelling noch immer unbekannt ist« (Anders (2001), S. 216 f., Herv. Anders). Vgl. auch folgende Äußerung aus »Die Schein-Konkretheit von Heideggers Philosophie«, New York 1948 (dt. Übersetzung in Anders (2001): »Es ist alles andere als ein Zufall, daß in der nachkantischen Phase des deutschen Idealismus Kants moralischer und politischer Begriff der ›Freiheit‹ sozusagen ›entmenschlicht‹, d. h. seiner ausschließlich anthropologischen und moralischen Bedeutung beraubt wurde; daß Freiheit in eine Art ›Sein‹ verwandelt wurde – in (natürliche) 241 



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mal der gegenteiligen Auffassung: die Frage nach dem Pantheismus und damit nach dem Gefüge und Wesen des Seyns ist zugleich die Frage nach dem freiheitlichen System. Der recht verstandene Pantheismus – und darauf zielt die Argumentation im Einklang mit Schelling ja ab, schließt Freiheit nicht aus, sondern fordert sie vielmehr. Der Begriff des Pantheismus, der zunächst gleichbedeutend scheint mit dem eines Systems der Immanenz, lenkt allerdings seinerseits noch weiter von der Problematik der Unvereinbarkeit von System und Freiheit im Sinne der Jacobischen Diagnose ab. Schon anhand der Freiheitsschrift selbst wurde ja deutlich, dass die Diskussion, die sich am Begriff des Pantheismus orientierte, die wesentlichen Argumente gegen das System der Immanenz ignorierte. Bei Heidegger wird diese Tendenz allerdings noch stärker, unter anderem deshalb, weil er den Begriff des Pantheismus zunächst oder zumindest wesentlich auch als theologischen Begriff auffasst. Die Orientierung am Begriff des Pantheismus unterstreicht noch einmal, was Heidegger am Ende des ersten Teils feststellt: dass es bei der Freiheitsfrage um den Bezug des Menschen zu Gott geht und damit auch um Gott selbst, der folglich, in einem als fatalistisch gekennzeichneten System, als Grund der Unfreiheit des Menschen erscheinen müsse. »Das Prinzip der Systembildung«, so Heidegger, sei »eine bestimmte Auffassung des θεός, des Grundes des Seienden, ein Theismus im Sinne des Pantheismus«, der darum als Fatalismus erscheine, weil er »kraft der alles beherrschenden Unbedingtheit des Grundes die Unabwendbarkeit alles Geschehens« fordere (VL 36, 76). Dass dieses Argument nicht mit Jacobis Argument übereinstimmt, ist ohnehin klar. Anhand der Untersuchung der Freiheitsschrift aber hatte sich zudem gezeigt, dass die Annahme, die unbedingte Kausalität Gottes fordere die völlige Passivität des Menschen, gerade nicht als Ergebnis einer konsequent immanent verstandenen Perspektive gelten konnte, sondern aus einer Verbindung von Transzendenz und Immanenz hervorging. In Wahrheit beruht diese Argumentation auf dem Gedanken eines vom Menschen getrennten Gottes, dessen Sein nicht zugleich auch das Sein der Dinge ausmacht. Dieser Aspekt aber wird nicht nur durch die Wahl des Begriffes Pantheismus anstelle von Immanenzsystem, sondern auch durch die sich anschließenden Überlegungen zur Onto-theo-logie befördert und in den darauf folgenden Überlegungen in gewisser Weise weitertransportiert. Die Bezeichnung Onto-theo-logie steht in der Vorlesung zu Schelling allerdings noch unter eindeutig positiven Vorzeichen.242 »Das Fragen der Philosophie ist »Potenz« bei Schelling […] Schelling formulierte geradeheraus, daß ›Freiheit‹ ›Seyn‹ sei im Unterschied zu ›Seyendem‹. Wenn Heidegger das ›Können‹ zum Grundbegriff des ›Daseins‹ macht, findet er sich in respektabler Gesellschaft, obwohl eben in einer Tradition, die durch ›Ontologisierung‹ der Freiheit auf die Idee einer effektiven Befreiung der Menschen verzichtet hat« (ebd., S. 89). 242  Darauf weist auch Istvan Feher hin: »Es ist darauf aufmerksam zu machen, daß die Nen-

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immer und in sich beides, onto-logisch und theo-logisch. Philosophie ist Ontotheologie. Je ursprünglicher sie beides in einem ist, um so eigentlicher ist sie Philosophie. Und die Schellingsche Abhandlung ist deshalb eines der tiefsten Werke der Philosophie, weil sie in einem einzigartigen Sinne ontologisch und theologisch zugleich ist« (VL 36, 62). Heidegger unterscheidet also die ontologische Frage, die nach dem »Grund des Seyns«, bzw. nach dem »Seienden als solchen«, von einer theologischen, die nach dem »Seyn des Grundes« , bzw. nach dem »Seienden im Ganzen« frage. Obwohl die Bezeichnung Ontotheologie eine der berühmten Formeln darstellt, die Heidegger zur Kennzeichnung des metaphysischen Denkens verwendet, ist sie keineswegs so unmittelbar einleuchtend, wie es zunächst scheinen mag, zumal dort, wo sie die Frage nach dem recht verstandenen Pantheismus vorantreiben soll. Denn während Heidegger einerseits die Bedeutung der »Zusammengehörigkeit beider Fragen« (VL 36, 79) betont und darauf hinweist, dass es letztlich besser sei, »solche Titel überhaupt zu vermeiden«, ist er doch der Auffassung, mit dieser Unterscheidung etwas Wesentliches auszudrücken. Wichtig scheint dabei vor allem der Übergang von der theologischen zur ontologischen Frage. Die Pantheismusfrage sei, so Heidegger, zunächst einmal »die Frage nach dem Grund des Seienden im Ganzen, allgemeiner gekennzeichnet: die theologische Frage« (ebd.). Andererseits aber werde Schelling »aus der theologischen Frage durch diese selbst in die ontologische zurückgetrieben« , die letztlich doch als entscheidend und – das »zurück« deutet es an – auch als ursprünglichere Frage gekennzeichnet wird. Daher, weil sich im positiven Bezug der Diskussion auf die ontologische Frage und damit auf die Frage nach dem Wesen des Seyns selbst Heideggers wesentlicher Bezug zu Schelling ausdrückt, fügt Heidegger später, von der nunmehr kritisch eingestellten Perspektive, auch gerade hier den Hinweis an, dieser Übergang in die »ontologische« Frage sei »schon überdeutet« (GA 42, 112). Deutlich wird also – trotz der angeblich notwendigen Durchdringung von Ontologie und Theologie – dass es Heidegger wesentlich auf die ontologische Frage ankommt, von der aus auch die eigentliche Kritik an Spinoza zu erfolgen habe.243 nung des Ausdrucks Ontotheologie hier noch ohne irgendeinen Bezug auf eine, gar in seinem Sinne verstandene Metaphysik erfolgt, und daß deren negativer Unterton daher noch überhaupt nicht mitklingt« (Feher (2000), S. 207). Feher ist der Auffassung, dass dieser Befund darauf hinweise, dass » in Heideggers Denken das Konzept der Ontotheologie dem der Metaphysik als Geschichte des Seins vorausgegangen sein und daß der Zusammenschluß beider in einem, d. h. die Zurechnung der Ontotheologie zur Metaphysik als deren Verfassung erst etwas später vollzogen worden sein dürfte« (ebd.). Diese Deutung vernachlässigt allerdings den Umstand, dass Heidegger den Begriff der Metaphysik selbst auf zwiespältige Weise verwendet. Vgl. dazu Kap. III der vorliegenden Arbeit. 243  Das zeigt sich auch dort, wo Heidegger später am Rande anmerkt, dass die theologische Frage in der Metaphysik den Vorrang behalte, worin sich offenbar seine Kritik an der Metaphysik ausdrückt. Vgl. GA 42, 130, Anm.



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Jacobis Kritik ist eben darum zu vernachlässigen, weil diese sich – wie plausibel das immer sein mag – angeblich auf die theologische Frage beziehe. Schelling hingegen sei, so Heidegger, dem eigentlichen und viel grundlegenderen Irrtum auf die Spur gekommen, indem er erkannt habe, dass dieser Irrtum »nicht theologisch, sondern ontologisch« (GA 42, 153) zu verstehen sei. Schelling wolle, so heißt es an anderer Stelle, »am Beispiel des Spinoza zeigen, daß nicht so sehr der Pantheismus, nicht die Theologie in ihm, sondern die zugrundeliegende »Ontologie« die Gefahr des Fatalismus, der Ausschließung der Freiheit und ihrer Verkennung mit sich bringt.« (VL 36, 87) Daher gelte umgekehrt, dass die »zureichende Ontologie alles entscheidet« (ebd.), mithin auch über die Frage nach Fatalismus und Freiheit. Der Fehler liege eben, so Schelling, »keineswegs darin, daß er die Dinge in Gott setzt, sondern darin, daß es Dinge sind«. Und das, so Heideggers Interpretation, »will sagen: Der Irrtum ist nicht ein theologischer, sondern zuvor und eigentlich ein ontologischer« (107). Allerdings bleibt fraglich, inwiefern diese Aufteilung in theologische und ontologische Frage geeignet ist, mehr Licht in die Darstellung Schellings zu bringen, Dass nun ausgerechnet die Frage, ob die Dinge in oder außer Gott sind als theologische Fragestellung, also als Frage nach dem Sein des Grundes gewertet wird, ist zudem schwer nachvollziehbar. Demgegenüber ließe sich die von Heidegger als »ontologisch« charakterisierte Frage nach dem Sein der Dinge – danach also, ob sie »Dinge« sind oder nicht – eigentlich überzeugender auf die Frage nach dem Sein des Grundes beziehen, weil, so Schellings Einwand gegenüber Spinoza, nicht nur die Dinge, sondern auch Gott selbst als Ding bestimmt werde. Dass dieser Einwand nicht treffend ist, weil Spinoza das Wesen Gottes als potentia und damit keineswegs als dinghaft bestimmt, wurde schon im Zusammenhang mit Schellings Freiheitsschrift betont. Abgesehen davon aber zielt Heideggers weitere Interpretation auch gar nicht auf die Frage nach der ›dinghaften‹ Bestimmung. Statt dessen geht es eben doch um die von Schelling und Heidegger vordergründig zurückgewiesene Frage nach dem »Innesein« der Dinge in Gott, das mit der Frage nach dem »ist«, das heißt mit dem rechten Identitätsverständnis zusammenhängt. Dabei zeigt sich im Weiteren, dass Heideggers Bestimmung der Immanenz als das »Innesein« und »Innebleiben« der Dinge in Gott in dieser Frage irreführend ist244, weil sie ein statisch-räumliches Verhältnis zwischen Gott und den Dingen evoziert, das mit dem Verständnis von Immanenz, mit der Bestimmung Gottes als immanente im Unterschied zur »übergehenden Ursache« keineswegs identisch ist.245 Immanenz, so macht gerade 244 

»Alles Seiende, alle Dinge sind in Gott. Dieses Innesein und –bleiben in Gott nennt man die Immanenz« (VL 36, 82). 245  Vgl. auch VL 36, 140: »Im Begriff der ›Manenz‹ (manere), des Bleibens, liegt, wenn keine andere Bestimmung verwandelnd hinzukommt, die Vorstellung des bloßen Vorhandenseins, der

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Schellings Darstellung deutlich, kann letzten Endes nur dynamisch und nicht statisch gedacht werden. Damit sind die Ausführungen in der Freiheitsschrift geeignet, den notwendigen Zusammenhang zwischen dem System der Immanenz und einem dialektischen Denken – und damit einer gewissen Form von Lebendigkeit oder Dynamik – deutlich zu machen, die in gewisser Weise auch in der Rede vom »ständigen Widerspiel« und Zirkel von theologischer und ontologischer Frage nach Heidegger ihren Ausdruck findet (VL 36, 79). So gehen auch Heideggers Überlegungen zur Copula nicht von der Frage aus, ob Gott (und damit auch die mit Gott in gewisser Weise ›identischen‹ Dinge) als tote, vorhandene Dinge oder als lebendige Wesen bestimmt sind, sondern erneut von der Frage nach dem Zusammenhang der Dinge mit Gott, und damit vom Konzept der Immanenz, von der Feststellung also, dass die Dinge »in« Gott sind: »Denn in diesem ›ist‹ wird nichts Geringeres ausgesprochen als das Band zwischen Gott und dem All und den einzelnen Dingen, zwischen dem θεός und dem πᾶν, und sofern dieses Band das Grundgefüge des Seienden im Ganzen kennzeichnet, bestimmt es die Art der Fügung des Seynsgefüges überhaupt, des Systems« (VL 36, 90). Heideggers Ausführungen führen letztlich auf die Behauptung einer Identität von Pantheismus (bzw. Immanenzsystem) und System der Freiheit. Der Pantheismus kann nur dialektisch und damit dynamisch, anders gesagt freiheitlich, gedacht werden. Anders als Jacobi also, der keineswegs (wie Heidegger behauptet) Pantheismus und Fatalismus gleichsetzt, der also auch nicht umgekehrt behaupten würde, dass jede fatalistische Position notwendigerweise auch pantheistisch sein müsse, führt Schellings und Heideggers Argumentation geradezu zum Nachweis der Identität von Pantheismus und Freiheitssystem, das die Möglichkeit eines fatalistischen Pantheismus eigentlich ausschließt.246 Der Einwand gegen Spinoza könnte hier übergangen werden, weil er schon im Zusammenhang mit Schelling Thema war. Gleichzeitig aber ist er hier von einem gewissen Interesse, weil Heidegger sich – anders als Schelling – zu diesem Zeitstarren Anwesenheit. »Immanenz« führt so zur Vorstellung des »toten Begriffenseins der Dinge in Gott.« 246  In diesem Kontext kommt es auch zu dem einigermaßen merkwürdigen Argument, das auf der angeblich von Jacobi behaupteten Identität von Pantheismus und Fatalismus beruht, und das in dem »Rückschluß von Fatalismus auf Pantheismus« besteht. Bestünde nämlich dieser zu Recht, »dann müßte überall da, wo die Freiheit nicht eigentlich behauptet wird, Pantheismus vorliegen. Alle die Systeme, die nicht zum wahren Begriff der Freiheit vorgedrungen sind, die Freiheit also eigentlich nicht setzen, müßten pantheistische sein« (VL 36, 100). In diesem Sinne ließen sich daher ausgerechnet »Leibnizens System und entsprechende vorkantisch Systeme« – d. h. in Wahrheit auch dasjenige Spinozas – gewiß nicht als pantheistisch-fatalistische denken.« Und deshalb, so schließt Heidegger weiter, könne »Nichtsetzung der eigentlichen Freiheit« vorliegen, ohne dass deshalb »Fatalismus und Pantheismus im fatalistischen Sinne« mitgesetzt sein müssten. »Also muß die Leugnung der Freiheit auf etwas ganz anderem beruhen als auf dem Pantheismus im Sinne der Lehre der Immanenz in Gott« (VL 36, 102 f.).



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punkt noch nicht intensiv mit dem Problem des recht verstandenen Pantheismus (bzw. dem Problem des Immanenzverhältnisses) beschäftigt hat. Heidegger, der die Denkentwicklung Schellings in diesem Fall nicht berücksichtigt, akzentuiert bei seiner affirmativen Interpretation, die zum Ziel hat, die Argumentation Schellings zu stützen, bestimmte Aspekte, die den Bezug der Freiheitsschrift zu Spinoza und zu von Schelling bereits verworfenen Versuchen einer Überwindung Spinozas besonders deutlich werden lassen. Die Betonung der »ontologischen« Frage etwa, bzw. die Behauptung, Spinoza habe das Sein Gottes und der Dinge als tote Vorhandenheit bestimmt und sei deshalb Vertreter einer fatalistischen Position, sowie die sich anschließende Forderung, Sein müsse statt dessen schöpferisch, als lebendiges Band gedacht werden, erinnert deutlich an Schellings Argumentation in der Ichschrift. Man müsse, so die dort vertretene Auffassung, nur das oberste, als Ding gefasste Prinzip – man könnte sagen, das Sein – durch ein anderes ersetzten, um ein System der Freiheit zu begründen. Ganz deutlich wird das etwa in der folgenden Formulierung Heideggers: »Wenn Gott der Grund ist und Gott selbst nicht ein Mechanismus und eine mechanische Ursache, sondern schöpferisches Leben, dann kann das von ihm Bewirkte selbst kein bloßer Mechanismus sein« (VL 36, 104). Schon hier aber zeigt sich, wie stark die beiden Dimensionen, die der Bestimmung Gottes einerseits und der Beziehung Gottes zu den Dingen andererseits, miteinander zusammenhängen, ein Umstand, der in der folgenden Äußerung noch deutlicher wird, derzufolge eine Abgängigkeit gedacht werden müsse, die nicht nur »in sich Raum für Selbstständigkeit des Abhängigen gibt, sondern die in sich – wohlgemerkt als Abhängigkeit – wesensmäßig vom Abhängigen fordert, daß es in seinem Seyn frei, d. h. eigenständig kraft seins Wesens sei« (ebd.). Die Trennung einer theologischen von einer ontologischen Frage erweist sich hierbei letztlich als irreführend, weil sie zwei Aspekte trennt, die gerade in der Rede von der Immanenz wesentlich verbunden sind. Weil Immanenz von den Dingen aus weniger als starres »Innesein«, denn als Teilhabe gedacht werden muss, kann lebendige Teilhabe auch zugleich nur die Teilhabe an einem selbst lebendig gedachten Grund sein. Damit wird aber auch deutlich, dass die Rede von der theologischen Frage, die nach dem Sein des Grundes frage, in gewisser Weise hinfällig wird, weil der Grund, das Prinzip, Gott – wie immer man es nennen will – in dieser Terminologie selbst als das Sein der Dinge bestimmt werden muss.247 Andererseits aber zeigt sich natürlich ebensosehr, dass diese Diskussion an dem durch Jacobi formulierten Problem vorbeigeht. Was Heidegger im Einklang mit Schelling und – entgegen ihrer expliziten Darstellung – eben auch im Einklang mit Spinoza fordert, ist ein System der Immanenz, das 247  Gerade

dieser Aspekt allerdings dürfte es sein, an den sich später die Kritik am Konzept der Ontotheologie anschließt, weil hierin die Behauptung steckt, der Grund sei als das höchste Seiende zu denken und eben gerade nicht als Sein selbst.

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wesentlich auf der Vermischung von Grund und Ursache beruht, zweier Verhältnisse, bei denen das eine gewissermaßen die Trennung, das andere hingegen die Identität des Verhältnisses garantiert. Damit ist natürlich auch von vornherein klar, dass das Problem der Freiheit anders bestimmt werden muss als bei Jacobi. Insofern ist es einleuchtend, dass Heidegger im Folgenden auf das Problem der Freiheit erstmals ausführlich zu sprechen kommt.

b) Sein als Freiheit Heidegger kommt zu dem Ergebnis, dass einerseits die Forderung nach der Freiheit notwendig den Pantheismus als System der Lebendigkeit fordere, dass andererseits aber auch umgekehrt das System selbst die Setzung der Freiheit fordere. Die dabei in den Fokus gerückte Frage nach dem Sein hängt somit auch eng mit der Frage nach der Freiheit zusammen. Lebendiges Sein, Sein im Sinne des dialektisch gedachten »ist«, das den Charakter eines »Bandes« hat, ist freiheitliches Sein. Sein ist, so könnte man darüber hinaus sagen, selbst wesentlich und zutreffend als Freiheit bestimmt. Die oben beschriebene Einheit von Pantheismus und Freiheitssystem führt damit auf eine Einheit von Sein und Freiheit, die sich letztlich im Gefühl der Freiheit in besonderer Weise ausdrücken soll. Damit wird hier noch einmal deutlich, dass das, was am Beginn und mit Bezug auf Jacobi noch den Kontrast zum System bilden sollte, nämlich das Gefühl der Freiheit selbst, keineswegs als Gegensatz zum System interpretiert wird. Auch noch im Blick auf das Gefühl für die »Tatsächlichkeit« der Freiheit also drückt sich zunächst ein eindeutig affirmativer Bezug Heideggers auf Schelling aus. Der entscheidende Gedanke der Einleitung sei denn auch der folgende: »Das ursprüngliche Erfühlen der menschlichen Freiheit läßt gerade erst und zugleich das ursprüngliche Gefühl haben für die Einheit alles Seienden in und aus seinem Grunde. […] Das Gefühl haben für die Tatsache der Freiheit schließt in sich einen gewissen Vorgriff auf das Ganze des Seienden, und dieses Vorgefühl für das Ganze des Seienden ist bestimmt durch einen Vorgriff auf die menschliche Freiheit. Und deshalb ist die Freiheit »einer der Mittelpunkte des Systems« (VL 36, 82 f.). Eine weitere Stelle belegt diesen Bezug zwischen dem Freiheitsgefühl und dem recht verstandenen Pantheismus, der letztlich auf die Behauptung führt, das ursprüngliche Freiheitsgefühl sei in Wahrheit identisch mit dem ursprünglichen Seinsgefühl. Die Frage nach der Freiheit – so wird ganz deutlich – ist für Heidegger die Frage nach dem Sein, die zugleich die Frage nach der Erfahrbarkeit des ursprünglichen und eigentlichen Seins ist. »Je inniger das Gefühl der Freiheit des Menschen, je seiender er sich selbst erfährt, um so weniger kann er außerhalb des Seienden im Ganzen als Nichtiges gesetzt werden, um so notwendiger ist das Innebleiben in diesem Seienden, um so notwendiger der Pantheismus« (VL 36, 86). Deshalb gilt auch, dass



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als »eigentliche metaphysische Leistung der Freiheitsabhandlung« die Begründung eines »ursprünglichen Seynsbegriffs« (VL 36, 103) herausgestellt wird, der sich – wie sich noch zeigen wird – eben in der Freiheit offenbart. Gerade in dieser Hinsicht aber kehrt sich die Argumentation Jacobis gegen das System insofern um, als Heidegger den wahren Freiheitsbegriff und damit auch das wahre Freiheitsgefühl aus dem wahren Verständnis des Pantheismus hervorgehen lässt. Die »zureichende Ontologie«, so heißt es da, entscheide alles, »zuerst und vor allem das für die gesamte Freiheitsfrage grundgebende rechte Erfahren und Erfühlen der Tatsache der Freiheit.« Für die »Ursprünglichkeit des Erfühlens« nämlich sei es »entscheidend, wie es als Grundstimmung des Da-seins des Menschen auf das Seyn überhaupt und im Ganzen abgestimmt ist« (VL 36, 87). Anders als bei Jacobi kann also nach Heidegger kein Einspruch gegen das System im Ausgang vom Gefühl der Freiheit erfolgen, weil umgekehrt das Gefühl der Freiheit erst da ursprünglich genug verstanden und gefühlt wird, wo es im Ausgang von einer Art Seinssystem formuliert wird. Nicht das Gefühl also entscheidet über die Angemessenheit des Systems, sondern das System entscheidet über die Angemessenheit meines Gefühls. Bei all dem ist natürlich von vornherein klar, dass es sich – angesichts der ontologischen Bestimmung der Freiheit – nicht um einen praktischen Freiheitsbegriff handeln kann, auch wenn Heidegger die Entwicklung des »eigentlichen Freiheitsbegriffs« im Sinne einer »Eigenständigkeit im Wesensgesetz« grundlegend auf Kant zurückführt. Auffällig an diesen Überlegungen ist nun vor allem, dass Heidegger zunächst einmal keinen Beleg für die angebliche »Ursprünglichkeit« des neuen Freiheitsverständnisses anführt. Im Blick auf die Problemlage zwischen Jacobi und Spinoza scheint es vielmehr so, als führe gerade die Rede von der größeren Ursprünglichkeit des Seinsverständnisses auf Spinoza zurück, der als Vorbild für Schellings Verständnis der Einheit von Idealität und Realität in der Natur- und Identitätsphilosophie diente, und der ebensosehr als Vorbild zur Überwindung dessen erscheint, was Schelling – und damit auch Heidegger – als einseitigen Realismus bzw. einseitigen Idealismus präsentiert. Dass derartige Gedanken tatsächlich im Spiel sind, zeigt sich an den steten Verweisen Heideggers auf Leibniz und Giordano Bruno, die in diesem Kontext als Stellvertreter der Position Spinozas gelten können.248

248 

Vgl. »Da aber auch für ihn [Schelling, K.S.] – gemäß der ganzen neuzeitlichen Grundstellung – eigenständiges Seyn besagt: Subjekt-sein, Ich-sein, muß er zeigen, daß auch die Natur in sich, nicht nur in Beziehung auf das sie setzende absolute Ich, ichhaft ist, nur eben noch unentfaltetes ›Ich‹. Und da ist die Stelle, wo Leibnizens Lehre, daß alles Seiende vorstellend sei, aufgenommen wird, aber jetzt so, daß zugleich die Kantische Einsicht in das Wesen des Ich zur wesentlichen Geltung kommt« (VL 36, 112, Herv. Heidegger). Vgl. außerdem VL 36, 113: »Wird nun aber wie bei Giordano Bruno und bei Leibniz alles Seiende als vorstellend begriffen und wird gleichwohl

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Zunächst einmal bestätigt sich allerdings, was schon im Zusammenhang mit den ersten Überlegungen zum System erkennbar wurde: dass nämlich das System nicht nur als echtes System, sondern zugleich damit auch als echtes System der Freiheit bereits im Idealismus zur Verwirklichung kommt, sofern hier offenbar ein dynamisches Sein gedacht wird, das Freiheit im Sinne der »eigentlichen« Freiheit sowohl fordert als auch zu denken erlaubt. »Jener Pantheismus, d. h. jenes System, das, wie wir schon sahen, die Freiheit nicht nur nicht leugnet, sondern fordert, gründet in der höheren Denkweise des Idealismus, ist Idealismus« (VL 36, 109). Schon der Idealismus also denke Sein als Freiheit und insofern als Wollen – ein Begriff, auf den noch eigens zurückzukommen sein wird. Vorerst aber scheint gerade die Auffassung, die die Freiheitsschrift in den Augen Heideggers besonders kennzeichnet, die Bestimmung des Seins als Wollen nämlich, das Wesen des Idealismus gerade auf den Punkt zu bringen. »Seyn ist Wollen; das Seiende ist, sofern es ist und je nach den Rangstufen, in denen es ist, Wille. Auf Grund dieses Seynsbegriffs wird klar: Wenn der Pantheismus das einzig mögliche System darstellt, dann ist er nicht Fatalismus, sondern Idealismus und als Idealismus ist er Idealismus der Freiheit« (VL 36, 115). In diesem Sinne also gilt die Freiheitsschrift auch noch als idealistisches System, das allerdings zugleich durch den realen Freiheitsbegriff noch einmal grundlegend in Frage gestellt werden soll. Damit also scheint es tatsächlich die Frage nach der menschlichen Freiheit – verstanden im Sinne des »realen« Freiheitsbegriffes als Freiheit zum Guten und zum Bösen – zu sein, an dem die gesamte bisher ausgeführte Darstellung zum System der Freiheit ins Wanken geraten soll. Erst hier, wo das System im Sinne des freiheitlichen Pantheismus bereits vollständig entwickelt ist, bricht Heidegger zufolge das am Ausgangspunkt der Überlegungen aufgehobene Problem von System und Freiheit zum ersten Mal in seiner wahren Bedeutung auf. Dabei ist allerdings von vornherein fraglich, wie sich diese Problematik zu den bisherigen Äußerungen, die die Darstellung Schellings im Modus der Affirmation und zum Teil sogar in der Übersetzung in die eigene Terminologie nachvollzogen, verhalten kann, ob sie das Gesagte aufheben oder nur transformieren soll und ob sie sich überhaupt in einer wirklich radikalen Form aus dem bisher Entwickelten selbst hervortreiben lässt, wie Heidegger zumindest suggeriert. In Heideggers Interpretation der Freiheitsschrift schlägt sich in diesem Kontext ein Problem nieder, das schon im Rahmen der Denkentwicklung Schellings zu beobachten war. Dort nämlich ergab sich eine Art Spirale der Denkbewegung, bei der jeder neue Systementwurf, der zunächst auf umfassende Geltung Anspruch erhob, der also dem Anspruch nach die Bereiche von Realität und Idealität und damit auch das Problem der Freiheit einschließen sollte, im Nachhinein als zu einseitig gekenndie Natur nicht, im Fichteschen Sinne, zum bloßen Nicht-Ich verflüchtigt, dann erwächst ein ›höherer Realismus‹«.



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zeichnet wurde. Nötig wurde daher in gewisser Weise eine immer höhere, bzw. der späteren Tendenz folgend eher eine immer »tiefere«, ursprünglichere Einheit, die die nach wie vor bestehenden Probleme wiederum aufheben sollte. Infolgedessen ist auch bei Heidegger viel die Rede von einem »ursprünglichen« Seins- oder Freiheitsgefühl, einem ursprünglicheren Seinsverständnis etwa oder einem »ursprünglichen« Pantheismus, der solche Positionen noch einmal begründen (anders gesagt aufheben) soll, die selbst einseitig bleiben müssten, ohne aber diese Einseitigkeit zu erkennen. Der Übergang zum realen Freiheitsbegriff, der Freiheit zum Guten und Bösen, ist eben ein derartiger Übergang, der insofern grundlegend zu sein scheint, als er das bis zu diesem Punkt der Argumentation als eigentliche Ziel präsentierte System des Idealismus noch einmal grundlegend in Frage stellen und neu begründen soll. Problematisch allerdings ist dieses Verfahren in mehr als einer Hinsicht. Zunächst einmal ist die Rede von der »Ursprünglichkeit« insofern wenig überzeugend, als sie einerseits nur behauptet wird, ohne dass begründet würde, warum und inwiefern es sich hierbei um ein ursprünglicheres Seins- oder Freiheitsgefühl oder eine ursprünglicheres Seins- oder Freiheitsverständnis handeln solle. Zum anderen scheint gerade die gegenseitige Abhängigkeit von Zugänglichkeit im Gefühl und begrifflicher Erfassung durch die Zirkularität problematisch. Ohne einen »hinreichenden Begriff des Seyns«, so Heidegger, und »ohne hinreichend ursprüngliche Grunderfahrung des Seienden« könne »in der ganzen Frage der Freiheit und des Systems der Freiheit« kein Schritt getan werden (VL 36, 107). Die Frage aber, nach welchem anderen Kriterium dann über die hinreichende Ursprünglichkeit entschieden werden könnte, wird gar nicht erst gestellt und folglich auch nicht beantwortet. Darüber hinaus – d. h. abgesehen von der für die Interpretation tatsächlich entscheidenden Frage nach der »Grunderfahrung«, auf die später noch eingegangen werden muss – scheint auch prinzipiell fraglich, wie durch eine solche, anscheinend kontinuierliche Spirale der Überbietung durch einen je noch ursprünglicheren Grund eine wirkliche Radikalität überhaupt ins Spiel kommen kann. Von Bedeutung ist dieses Bedenken allerdings nicht nur hinsichtlich der Interpretation Schellings und der Frage danach, wie radikal neu und anders sich der reale Freiheitsbegriff überhaupt darstellt, sondern vor allem auch im Blick auf Heideggers These vom Übergang zum neuen Denken, das im Hinausgehen über Schelling erreicht werden soll. Kann sich aus der Tendenz heraus, dem System ein immer ursprünglicher gedachtes Sein zugrunde zu legen, tatsächlich ein radikaler Wandel ergeben? Letztlich sind dies Fragen, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden können und an das dritte Kapitel verwiesen werden sollen, das sich konkret mit der Frage nach der Metaphysikkritik und der Möglichkeit eines Übergangs zum neuen Denken beschäftigen wird. Dennoch sei hier schon darauf hingewiesen, dass die Frage nach der Möglichkeit eines gewissermaßen immanent ausgelösten Übergangs einerseits und die nach der Rolle der ursprünglichen Seins- bzw. Freiheitserfah-

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

rung hier von grundlegender Bedeutung sind. An dieser Stelle aber kann vorerst nur festgehalten werden, dass Heidegger dort, wo er – noch immer bezogen auf die »Einleitung« der Freiheitsschrift – auf den realen Freiheitsbegriff und die Frage nach gut und böse zu sprechen kommt, tatsächlich nahelegt, dass hier ein radikaler Gedanke ins Spiel kommt, der die ganzen bisherigen Ausführungen zumindest in Klammern setzt. »Mit der Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit komme das »System der Freiheit« […] ins Wanken« (VL 36, 109). Schelling zeige sogar, wie es an anderer Stelle heißt, »in welcher Weise durch die Wirklichkeit des Bösen das System gesprengt« werde (VL 36, 118). Andererseits aber wird doch deutlich, dass durch den Gedanken der ursprünglicheren Begründung keine Sprengung, sondern eher eine Modifikation des Systems gedacht wird. Der »Bestimmungsgrund des Systems, das Wesen des Seyns«, so heißt es nämlich an anderer Stelle, müsse »ursprünglicher gefasst werden, damit das Böse in seinem eigensten Seyn begreifbar und so in das System einfügbar und somit ein System der Freiheit möglich« werde (VL 36, 118 f.). Der reale Freiheitsbegriff, der auf einem noch ursprünglicher erfahrenen Sein gegründet sein soll und der das bisherige Denken des Idealismus laut Heidegger »erschüttert« (VL 36, 110), bekommt damit eine wesentliche Funktion zugewiesen, die sich auch darin ausdrückt, dass Heidegger die Auslegung des Hauptteils der Freiheitsschrift unter den Titel einer Metaphysik des Bösen rückt. Das Böse sei »das Leitwort für die Hauptuntersuchung« (VL 36, 117). Eben dies aber mache die Freiheitsschrift zum geeigneten Ansatzpunkt der Auseinandersetzung. Weil nämlich »Schellings Abhandlung über die menschliche Freiheit im Kern eine Metaphysik des Bösen ist und weil damit in die Grundfrage der Philosophie nach dem Seyn ein neuer wesentlicher Stoß kommt und weil diesem Anstoß bisher jede Entfaltung versagt bliebt, weil aber solche Entfaltung nur in einer höheren Verwandlung fruchtbar werden kann, deshalb wird hier die Auslegung der Freiheitsabhandlung versucht; das ist der eigentliche philosophische Grund für diese Wahl« (VL 36, 118). Das Problem des Bösen, das hier durch den realen Freiheitsbegriff ins Spiel kommt, macht scheinbar unmittelbar deutlich, dass es dabei um ein Thema von existentieller Tragweite geht und nicht um eine theoretische Spielerei. Es bedürfe »nur einer flüchtigen Erinnerung an die früher besprochenen Freiheitsbegriffe, um sogleich zu ermessen, daß jetzt die Erfahrung des Freiseins und das Gefühl für die Tatsache der Freiheit eine andere Richtung und ein anderes Ausmaß gewinnt« (VL 36, 117). Im Vergleich also mit dieser angeblichen Neufassung des Freiheitsproblems betreibe der Idealismus eine »Verharmlosung und Entwirklichung« des Wesens Gottes (VL 36, 124). Der Aspekt von Radikalität, der durch den Begriff des Bösen – unabhängig von seiner Bedeutung und konkreten Funktion innerhalb der Argumentation – schon rein assoziativ ins Spiel kommt, betrifft dann eben auch das Problem der Vereinbarkeit von System und Freiheit, das am Ende der Ausführungen zur Einleitung der Frei-



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heitsschrift auf das Scheitern und den Übergang zum neuen Denken deutlich hinweist: Denn »so knapp die Verhandlung des ersten Versuchs des Einbaus des Bösen in das System ausfällt, ihr Ergebnis ist für die Gestaltung der ganzen Abhandlung und damit für die Systemfrage von der größten Bedeutung. Es wird, wenngleich nicht ausdrücklich, jetzt schon gesagt: Das System als Immanenz der Dinge in Gott ist unmöglich, auch dann, wenn diese Immanenz nicht als Einerleiheit gefasst wird. […] Sofern aber die Immanenz, wie wir sahen, überhaupt die Form des Pantheismus ausmacht, ist auch der Pantheismus, jedenfalls im bisherigen Sinne, erschüttert« (VL 36, 121). Was aber auf den ersten Blick radikal klingt, wird zugleich auch mit dieser Äußerung schon wieder eingeschränkt. Einerseits steht die Möglichkeit des Pantheismus, der für das System einerseits und für das rechte Freiheitsverständnis andererseits notwendig schien und der damit auch die Philosophie in ihrem Wesen selbst betreffen sollte, hier nun offenbar auf dem Spiel. Andererseits aber soll das doch zugleich auch wieder nur für den Pantheismus »im bisherigen Sinne« gelten, wodurch die Möglichkeit eines Pantheismus in einem neuen Sinne immer schon offen gehalten ist. Wenngleich Heidegger hiermit wohl eher schon auf den eigenen Übergang zum neuen Denken zielt, erinnert auch dies noch an Schellings eigene Versuche, der verfahrenen Situation zu entkommen. Nicht jeder Pantheismus müsse die Freiheit ausschließen, es käme schließlich, so Schelling, vor allem darauf an, welchen Sinn man mit dem Begriff Pantheismus verbinde. Heideggers Darstellung seinerseits hat bis zu diesem Punkt bereits einen starken Begriff von Pantheismus entwickelt. Ob es sich also bei dem Pantheismus, auf den es am Ende ankommen soll, um einen über den Idealismus hinausgehenden Pantheismus handelt, oder ob es sich nicht, den Ausführungen Schellings folgend, bei der Darstellung des idealistischen Pantheismus von vornherein um eine Verengung der Problematik handelt, die damit allererst den Spielraum für ein erweitertes Verständnis von Pantheismus eröffnet, sei hier vorerst dahingestellt und im Zusammenhang mit dem Problem der menschlichen Freiheit erneut aufgegriffen.

2. Eine »Metaphysik des Bösen«? Sein als Wollen und Werdebewegtheit und die menschliche Freiheit 2.1 Dualität und Identität – das Problem des Bösen und die Bestimmung des Seins als Wollen Die Verbindung der eigentlichen Neuartigkeit und Radikalität der Freiheitsschrift mit dem »realen Freiheitsbegriff« und dem Problem des Bösen wird bei der Interpretation der Heideggerschen Vorlesung ebenso wie bei einigen an Heidegger sich anlehnenden Interpretationen der Freiheitsschrift in der Literatur oft besonders

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

akzentuiert.249 Allerdings ist zu fragen, ob es sich dabei nicht letztlich um die rhetorische Aufladung eines Problems handelt, das sachlich von ganz anderer Bedeutung ist. Die im ersten Kapitel vorgenommene Interpretation legt daher die Schwerpunkte bewusst ganz anders, indem sie das Problem des Bösen systemlogisch als Frage nach der realen Negation und damit auch nach der Dualität in der Einheit fasst. Dies scheint zunächst vor allem durch Zweifel daran gerechtfertigt, dass der reale Freiheitsbegriff im Sinne der Freiheit zum Guten und zum Bösen überhaupt einen sinnvollen Freiheitsbegriff darstellt, der zu einem besseren Verständnis der menschlichen Freiheit beitragen kann. Fraglich ist dabei aber nicht nur, ob menschliche Freiheit wesentlich unter dem Aspekt einer Entscheidung zum Guten oder Bösen verstanden werden solle, fraglich ist vor allem, ob nicht die vollzogene Identifizierung von Sein und Freiheit und die damit ebenso klar vollzogene ›Ontologisierung‹ des Bösen die Rede von der Freiheit wie vom Bösen im Blick auf praktische Kontexte von vornherein unsinnig werden lässt. Heidegger allerdings ist der Auffassung, das Problem mit der Loslösung des Begriffs aus dem praktischen Kontext und der Verlagerung auf die Seinsfrage auf eine ursprünglichere und zugleich radikalere Ebene zu heben, auf der sich das Böse in seiner ganzen »Ungeheuerlichkeit« zeige. Das Böse werde nicht »im Gesichtskreis der bloßen Moral verhandelt, sondern im weitesten Gesichtskreis der ontologischen und theologischen Grundfrage«, weshalb die Bezeichnung »Metaphysik des Bösen« angemessen scheint (VL 36, 117). Sofern das Böse also entscheidend als ein Problem im Wesen des Seins betrachtet wird, gilt aber für Heidegger wie bereits für Schelling, dass es sich sachlich auch um das Problem der realen Negation handelt. »Auf das Prinzip des Systems überhaupt gesehen, d. h. auf die Seynsfrage« bezogen, bedeute das Problem des Bösen eben Folgendes: »Die Frage nach dem Wesen des Seyns ist zugleich die Frage nach dem Wesen des Nicht und des Nichts. Warum das so ist, dafür kann der Grund wiederum nur im Wesen des Seyns selbst liegen« (VL 36, 122). Ebenso wie bei Schelling geht es damit auch bei Heidegger um eine reale Dualität im Seyn, die im Zusammenhang mit der Bestimmung des Systembegriffs auch schon als »Gefüge« oder »Seynsfuge« bestimmt wurde. Und gerade in Bezug auf diese Dualität berührt sich die Frage nach dem Bösen dann auch mit der Frage nach dem dynamischen und schöpferischen Wesen des Seins, das – wir sahen es bei Schelling – ebenfalls 249 

Vgl. z. B. Jean-Francois Courtine: »Das Problem der Freiheit sowohl zum Guten als auch zum Bösen sowie die Metaphysik des Bösen, die ihren systematischen Ausgangspunkt in dem von Schelling formulierten Problem der Freiheit hat, machen zweifellos das Herzstück von Schellings Denken aus« (Courtine (2012), S. 31). Im unmittelbaren Gegensatz dazu steht allerdings die Interpretation von L. Hühn, die in demselben Band zu Schellings Freiheitsschrift von einer »Verkürzung« durch Heideggers Interpretation spricht, die sich »beispielhaft an seiner auf Schellings Freiheitsschrift im Ganzen gemünzten Rede einer ›Metaphysik des Bösen‹ aufzeigen« lasse (Hühn (2012), S. 241).



Die Vorlesung von 1936: Identifikation mit Schelling 223

auf der Dualität in der Einheit beruhen sollte. Was schon anhand der Diskussion von Identität deutlich wurde, gilt auch für das unmittelbar damit verbundene Problem der Dualität in der Identität: Sein soll wesentlich als Band verstanden werden, als Band also, das einerseits – und insofern ist Sein als Identität zu verstehen – verbindet, andererseits aber als Verbindung auch immer schon auf eine Trennung bezogen ist, die es gleichsam überbrückt. In diesem Sinne kommt aus dem schöpferischen Verständnis des Seins heraus auch der Zwiespalt als solcher zu Bedeutung. Im Blick auf die Bestimmung des realen Freiheitsbegriffs, der Freiheit zum Guten und zum Bösen, heißt es daher: »Das ›und‹, die Möglichkeit dieses Zwiespalts und all dessen, was er verschlossen hält, ist das Entscheidende« (VL 36, 117). Was durch diese Argumentation bei Schelling in den Blick zu geraten scheint, ist zunächst vielleicht das Konzept des Ungrundes, der insofern auch als Abgrund fungierte, als er den Zugang zum vollständigen Verständnis Gottes und der Welt auf gewisse Weise abschneiden sollte. Der Ungrund in seiner doppelten Funktion als Ur- und als Ungrund war ja gerade auf das Problem des Zusammenhangs von Identität und Dualität bezogen, das er allerdings kaum zureichend zu lösen vermochte. Insofern erstaunt es vielleicht auf den ersten Blick, dass Heidegger in dieser so affirmativ auf Schelling bezogenen Vorlesung ausgerechnet das Konzept des Ungrundes weitgehend außer Acht lässt. Andererseits aber lässt sich dies wohl vor allem dadurch erklären, dass Heidegger bereits einen anderen Kandidaten für die in sich dualistisch verfasste Einheit gefunden hat: das Wollen.250 250 Die

Verfasser des editorischen Berichts zu den Protokolle des Schellingseminars von 1927/28 weisen zu Recht darauf hin, dass gerade in diesem Punkt eine entscheidende Differenz zwischen dem frühen Seminar und der Vorlesung von 1936 zu erkennen ist (Schwab/Schwenzfeuer (2010), S. 315 f.). Tatsächlich beschäftigt sich Heidegger hier gründlicher mit dem Moment des Ungrundes und dem anhand des Ungrundes zu denkenden Problem der Indifferenz, als er dies in der Vorlesung von 1936 tut. Allerdings zeigt sich hier auch, dass das Moment des Ungrundes von Heidegger als besonders problematisch aufgefasst wird. »Rein abstrakt-formal (einfach auf Grund der terminologischen Bestimmung Schellings für Wesen, Grund, Existenz, Ungrund) komm[e] man«, wie es im Protokoll zur 3. Sitzung heißt, »nicht weiter, sondern man muß versuchen Schellings ganzen Horizont (Erfassung des Daseins) so zu fassen, daß uns ›Grund‹ und ›Existenz‹ verständlicher werden. Nach dieser Vorwegnahme des ontologischen Resultats erhebt sich die Frage, ob überhaupt noch ein rechtmässiges Problem vorliegt, wenn man auf den Ungrund zurückgeht, und wie dieser ontologisch bestimmt werden muß« (Jantzen/Hühn (2010), S. 340). In diesem Sinne scheint es mir dennoch fraglich, ob man den Ungrund wirklich als »hermeneutischen Schlüssel« für die Interpretation Heideggers betrachten kann, wie die Verfasser des editorischen Berichts meinen (Schwab/Schwenzfeuer (2010), S. 316), vor allem, weil die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Indifferenz des Ungrundes und der Deutung des Urseins als Wollen, Drang oder Ichheit letztlich – auch aufgrund der Kürze der Darstellung – ungeklärt bleibt. Gleichzeitig wird eben auch hier schon erkennbar, dass Heideggers Interpretation wesentlich von der Bestimmung der Einheit als Wollen ausgeht. Vgl. z. B. GA 86, 530: »Sehnsucht ist gebraucht im Sinne des verstandlosen Willens und Existenzvollzug im Sinne des Sich-verstehens. Diesen beiden Bestimmungen des Wesens liegt eine Einheit zu Grunde, der Wille. Ur-sein ist Wollen.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Die Bedeutung, die dem Begriff des Wollens in diesem Zusammenhang zukommt, kennzeichnet also eine gewisse Abweichung von der Textvorlage bei Schelling, der den Begriff gar nicht in der von Heidegger unterstellten Weise systematisch einsetzt.251 Heidegger stützt sich bei seiner Interpretation denn auch wesentlich auf einen kurzen Abschnitt bei Schelling, in dem es heißt, Wollen sei »Urseyn«, wodurch die Behauptung, Sein sei als Wollen verstanden, gerechtfertigt wird. Der Begriff des Wollens scheint allerdings auch in verschiedener Hinsicht geeignet, das Seinsverständnis der Freiheitsschrift zu charakterisieren. Einerseits bringt Wollen die schöpferische Dynamik zum Ausdruck, die die vermeintlich unlebendige Philosophie Spinozas zu überbieten scheint. In diesem Sinne aber markiert die Bestimmung des Seins als Wollen zunächst die Zugehörigkeit der Freiheitsschrift zum Idealismus, der nun seinerseits durch ein ursprünglicheres Seinsverständnis überboten werden soll. Wie sich zeigt, stellt Wollen im Rahmen der Interpretation von 1936 für Heidegger eine Art Kippfigur dar: »Seyn«, so heißt es da, »ist Wollen; damit stoßen wir an die Grenze; zugleich wird der Übergang sichtbar in der Frage nach dem Wesen des Wollens« (VL 36, 119 f.). Die Besinnung auf das Wesen des Wollens, die in Heideggers Analyse auf die Unterscheidung von Grund und Existenz und damit auch auf den Zirkel der Werdebewegtheit führt, macht deutlich, dass die Bestimmung des Seyns als Wollen in Wahrheit gerade besonders geeignet sein soll, eine dem Idealismus gegenüber größere Ursprünglichkeit ins Spiel zu bringen. Ohne dass Heidegger dies aussprechen würde, ist damit nun ein anderer – in Heideggers Augen ursprünglicherer – Wollensbegriff im Spiel, der dem rein vernünftig gefassten Wollensbegriff des Idealismus vorausliegen und diesem zugleich dadurch entzogen sein soll. Wollen scheint einen Aspekt zu transportieren, der mit reiner Vernunft nicht erfasst werden kann und der sich dann im Moment des der Existenz gegenüberstehenden Grundes ausdrückt. Wie Schelling zielt Heidegger damit auf eine Einheit, die der Trennung von Denken und Sein vorausliegt, und die daher nicht einseitig auf ein von vornherein vernünftig gedachtes Seins eingeschränkt werden darf. Zugleich ist auch die Verbindung zwischen dem solchermaßen bestimmten Wollen und der menschlichen Freiheit von Anfang an mitgedacht. Wollen und Freiheit scheinen gar synonyme Begriffe zu sein: »Absolutes Seyn, Ansichsein des Seienden heißt Freisein, und Freisein heißt sich Selbstbestimmen aus dem Gesetz des eigenen Wesens. Seyn überhaupt heißt daher: an sich und für sich, bei sich Sein, sich selbst Wollen, Wollen schlechthin« (VL 36, 114, Herv. Heidegger). Sein besagt Wollen, Drang, deshalb sind die Grundbestimmungen des Seins eines Seienden Sehnsucht und Wort der Sehnsucht, sich auf sich selbst zurückwendende Sehnsucht.« 251  Die vorliegende Interpretation widerspricht damit explizit all jenen Deutungen, die der Auffassung sind, dass Heidegger mit der Bestimmung »Wollen ist Urseyn« den Kernpunkt der Schellingschen Freiheitsschrift erfasst. Vgl. zu diesem Problem die Anmerkungen im folgenden Abschnitt, der die Vorlesung von 1941 zum Gegenstand hat.



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Der Begriff des Wollens tritt für Heidegger an die Stelle der Identität, die sich in die zwei Momente von Grund und Existenz teilt, weil er das Wesen des Seyns, das nach der Einleitung als lebendige Identität bestimmt ist, mit dem Begriff des Wollens belegt. »Das ursprüngliche Wesen des Seyns ist Wollen«, so Heidegger. »Die genannte Unterscheidung muss demnach, wenn anders sie die Wesensbestimmtheit des Seyns angeben soll, im Wesen des Wollens beschlossen liegen. Durch eine hinreichend ursprüngliche Zergliederung des Wesens des Wollens müssen wir daher auf diese Unterscheidung stoßen« (VL 36, 130). In gewisser Weise wird also die Frage nach der Identität der Unterscheidung, die Schelling nachträglich mit der Reflexion auf den Ungrund beantwortet, von Heidegger schon hier, und zwar abweichend von Schelling, beantwortet. Während aber die Bestimmung des Ungrundes von Schelling unter anderem dazu gedacht war, den Unterschied der Freiheitsschrift zu Spinoza zu garantieren, ist die Konzentration auf den Begriff des Wollens eher geeignet, die Nähe zu Spinozas System zu betonen, der das Wesen der Substanz als potentia – auch eine Form von Wollen – bestimmt. Dass dieser Umstand also die Übereinstimmung des Projekts zu bestimmten Grundzügen des Spinozismus deutlicher hervorhebt, zeigt sich unter anderem daran, dass Heidegger dieses Seinsverständnis gezielt in einen Zusammenhang mit Leibniz bringt, der hier erneut als Stellvertreter der Position Spinozas aufgefasst werden kann. Im Blick auf die Bestimmung des Seins als schöpferische Identität, als Wollen also, nehme Schelling die durch Leibniz vertretene Lehre auf, »dass alles Seiende vorstellend sei«.252 Wollen sei »Streben und Begehren, aber nicht als blinder Trieb und Drang, sondern geleitet und bestimmt durch die Vorstellung des Gewollten« (VL 36, 114). »Die Substanz, das für sich bestehende Seiende ist, was es ist, als perceptio und appetitus, Vorstellen und Streben. Das ist nicht so gemeint, als sei die Substanz zunächst für sich etwas und habe dann noch zwei Eigenschaften (Vorstellen und Streben), sondern das Streben ist in sich vorstellendes und das Vorstellen ist strebend, und das vorstellende Streben (Wollen) ist die Grundweise des Seins des Seienden, auf Grund deren und dergemäß es je ein In-sich-einiges, Seiendes ist« (VL 36, 114 f.). Wollen als schöpferisch belebte Einheit und als dem Idealismus gegenüber ursprünglicheres Seinsverständnis führt also auf die Dualität im Sein, auf die 252 

Diese Darstellungen stammen zwar aus dem Kontext der ersten Überlegungen zum Wollen, die zunächst auf den idealistischen Wollensbegriff führen. Andererseits aber grenzt Heidegger selbst diese Überlegungen nicht grundlegend voneinander ab, wie er eben auch das Problem unterschiedlicher Wollensbegriffe nicht thematisiert. In diesem Sinne scheint es gerechtfertigt, Leibniz auch noch als einen Bezugspunkt für den über den Idealismus hinausgehenden, »ursprünglichen« Begriff des Wollens bei Schelling zu betrachten. Allerdings ist die Frage danach, welche Rolle der Verstand für das Wollen spielt, für Heideggers spätere Abgrenzung von Schelling, vor allem aber von Leibniz, von zentraler Bedeutung. Dennoch bleibt Heidegger – wie sich zeigen wird – eben dadurch, dass er keine differenzierte Bestimmung dessen vornimmt, was er unter »Wollen« oder »Wille« versteht, auch in diesem Bereich zweideutig.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Unterscheidung von Grund und Existenz, die von Heidegger mit der Bezeichnung »Seynsfuge« belegt wird. Aus der Seinsfuge, bzw. aus der Bestimmung der beiden die Seinsfuge konstituierenden Momente entsteht die schöpferische Dynamik, die Heidegger durchaus treffend als »Werdebewegtheit« bezeichnet. Heideggers Darstellung dieser Dynamik verdeutlicht wiederum den Bezug zu Spinoza, dessen Substanz ja keineswegs als unlebendig, sondern vielmehr wesentlich als produktiv verstanden werden muss. Als potentia bestimmt bringt sie notwendigerweise eine Welt, unendlich viele Dinge hervor, die ihrerseits Ausdrücke der Substanz sind und als solche unmöglich als »tote Vorhandenheit« betrachtet werden können. Vielmehr gilt nach Spinoza, dass auch die einzelnen Dinge durch ihr Tätigkeitsvermögen, den conatus, bestimmt sind. Wenn es also bei Heidegger heißt, das Geschaffene sei »selbst ein Wollen und im Wollen Werdendes« und in diesem Werden sei »das Werdende jeweils das als Seiendes, was es als Wollendes willentlich vermag, nicht mehr und nicht weniger« (VL 36, 157), dann ist dies durchaus im Einklang mit der Philosophie Spinozas zu lesen, ebenso wie die Feststellung, dass der Einzelne sei, was er vermag. Ähnliches gilt für den Begriff der Offenbarung, wenn Heidegger sagt, die »Dingheit der Dinge« bestehe darin, »das Wesen Gottes zu offenbaren. […] Die Dinge deuten durch sich hindurch auf das ursprüngliche Seyn« (VL 36, 147). Die Dinge sind, so könnte man mit Spinoza formulieren, nichts anderes als Ausdrücke der Substanz, die durch sich selbst hindurch die Substanz offenbaren, allerdings nur, wenn man sie in der entsprechenden Perspektive betrachtet, nämlich eben mit Bezug auf die Substanz. »[D]as Dingsein ist«, so Heidegger, »dieses Durch-sich-hindurch-deuten, ihre Durchsichtigkeit. Wie ein Denker die ›Dinge‹ sieht, das hängt davon ab, wie ursprünglich er das Wesen des Seyns begreift« (VL 36, 148, Herv. Heidegger). Für Heidegger gilt daher wie für Spinoza und Schelling, dass das Ding nur in Bezug auf das grundlegende »Seyn«253 betrachtet sein eigentliches Wesen offenbart. Das Wesen des einzelnen Dinges besteht in der Weise, »in der das Absolute sich fest- und darstellt« (ebd.). Dass damit die Grundlage des Systems der Freiheit, das Heidegger in Anlehnung an Schelling präsentiert eindeutig nach dem Vorbild Spinozas zu denken ist, wird schließlich vollends manifest, wenn er auch noch auf die Begriffe von natura naturans und natura naturata zurückgreift, die er hier, den expliziten Bezug zu Spinoza erneut vermeidend, Scotus Eriugena zuschreibt: »Die geschaffene Natur soll nicht verstanden werden als die, wie sie jetzt ist, wie wir sie sehen, sondern als werdende, schaffende Natur, als ein Schaffendes, das selbst Geschaffenes ist, natura naturans als natura naturata des Scotus Eriugena« (VL 36, 163). Die wesentliche Neuerung des Freiheitssystems, sofern es als System eines 253 

Man mag an dieser Stelle einwenden, dass die Bestimmung der Substanz oder Gottes nicht unbedingt mit der von »Seyn« identifiziert werden darf. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Heidegger selbst den Begriff »Seyn« zumindest streckenweise in diesem Sinne verwendet.



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dynamisch sich entfaltenden, in sich bewegten Seins verstanden wird, scheint dieser Darstellung zufolge nun vor allem darin zu bestehen, dass die Vorstellung des Schaffens im Sinne eines Anfertigens und damit die Trennung zwischen einer Ursache und einem Bewirkten, zwischen Gott und seiner Schöpfung, aufgegeben werden muss. Im Schaffen bleibe »der Schaffende nicht für sich« und stelle »ein Gemachtes nur als ein anderes« hin, sondern das Schaffende wandle »selbst als Schaffen sich in ein Geschaffenes« und bleibe damit selbst noch »im Geschaffenen« (ebd.). Durch diese Darstellung unterstreicht Heideggers Interpretation – auf unfreiwillige Weise – die Parallelen der Freiheitsschrift zum System Spinozas, indem er gerade das Bild von einem blind in sich kreisenden Produzieren seiner selbst malt, das von Jacobi kritisch gegen Spinoza ins Feld geführt wurde. Die explizite Ablehnung der im Ursache-Wirkungs-Verhältnis ausgedrückten Trennung von Schöpfer und Geschöpf macht den Zusammenhang noch deutlicher. Der Prozess ewig in sich kreisender Produktivität wird von Heidegger ausdrücklich bejaht, wie sich im Folgenden auch im Blick auf die Vorstellung der ewigen Zeitlichkeit zeigt, die als »ursprünglicheres« Zeitverständnis und als besondere Errungenschaft der Freiheitsschrift hervorgehoben wird: »Das Werden Gottes läßt sich nicht nach einzelnen Abschnitten am Nacheinander der gewöhnlichen ›Zeit‹ aufreihen, sondern in diesem Werden ›ist‹ alles ›gleichzeitig‹« (VL 36, 136). In der Konzeption der Zeitlichkeit komme die »ganze Kühnheit des Schellingschen Denkens ins Spiel« (ebd.). Dabei werden sowohl die bei Schelling vorgenommene Eintragung einer teleologischen Dimension als auch das Problem der Selbstbezüglichkeit und Selbstwerdung Gottes wie selbstverständlich hingenommen. Zwar sei, so Heidegger, »die Bewegtheit der schaffenden geschaffenen Natur« ein »in sich kreisender […] Lebensdrang« (VL 36, 165), doch soll dieser Lebensdrang eben auch als eine nach und nach sich ausdifferenzierende Schöpfung verstanden werden. Der »Lebensdrang« ist demnach eben nicht nur als in sich kreisender, sondern als ein »kreisend sich überströmender und überströmend sich vereinzelnder und vereinzelnd sich aufstufender« (ebd.) zu verstehen. Die Selbstbezüglichkeit wiederum liege bereits im Begriff der Existenz, die »im vorhinein gefaßt« sei »als »aus-sich-Heraus-treten«, sich Offenbaren und im Sich-offenbar-Werden zu sich selbst kommen und kraft dieses Geschehens bei sich selbst und so erst in sich und sich selbst ›Seyn‹. […] Existenz meint bei Schelling immer das Seiende, sofern es bei sich selbst ist« (VL 36, 131, Herv. Heidegger).254 Selbst die Frage nach der Herkunft des Hierarchieverhältnisses wird von Heidegger mit dem Hinweis auf die in der ursprünglichen Zeitlichkeit »notwendig mitgesetzte Dimension des Sichüberhöhens bzw. unter sich Herabfallens« (VL 36, 137) wie eine Selbstverständlichkeit behandelt.

254 

In GA 42 steht anstelle von »Seyn« »sein«.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Heideggers Darstellung dieses ›Prozesses‹ der Werdebewegtheit macht deutlich, dass es ihm keineswegs darauf ankommt, die inneren Widersprüche der Schellingschen Konzeption sichtbar zu machen. Dass der Versuch, die in sich kreisende und kreisend sich fortbewegende »Lebenskraft« anschaulich nachzuvollziehen, unverständlich bleibt und bleiben muss, ist Heidegger dabei allerdings sehr wohl bewusst. Dennoch wird diese Unverständlichkeit, die durch die Häufung der Widersprüche entsteht, nirgends zum Gegenstand einer Kritik an der Freiheitsschrift. Umgekehrt soll vielmehr die Unverständlichkeit gerade als Anzeichen für die Ursprünglichkeit des Denkens betrachtet werden, das sich den Ansprüchen der gemeinen Vernunft von vornherein entzieht. So räumt Heidegger beispielsweise ein, dass zwar das »Werden Gottes als des Ewigen […] ein Widerspruch für das gemeine Denken« sei, setzt aber sogleich hinzu, dass gerade dieser Widerspruch als Kennzeichen für »das Walten eines ursprünglicheren Seyns« gelten müsse, »worin das Früher und Später der Uhrenzeit keinen Sinn hat« (VL 36, 136). Heidegger unterstützt damit nicht nur die Inhalte der Freiheitsschrift, sondern auch die Art und Weise, wie sie widersprüchlichste Konzepte zu vereinen versucht. Das Denken der Freiheitsschrift, so will Heidegger wohl sagen, ist kein rein vernünftiges Denken, es ist selbst Zeichen für die in der Seinsfuge ausgedrückte Dualität zwischen dem Grund, der sich aktiv dem Verstand entzieht, auf der einen und der Existenz, die auf Offenbarung und Unterordnung des Grundes unter den Verstand zielt, auf der anderen Seite. Dieses Denken der Freiheitsschrift ist damit bereits ein besonderes, das sich, wie Heidegger bereits am Ausgangpunkt der Interpretation formuliert, »weder ins Irrationale flüchten noch sich auf einen schrankenlosen Rationalismus versteifen darf« (VL 36, 75).

2.2 Die menschliche Freiheit – Teil des Systems oder Ansatz zur Sprengung? Die menschliche Freiheit müsste nun aber den Ort bezeichnen, an dem das System noch einmal grundlegend auf den Prüfstand gestellt wird. Gezeigt werden müsse – so Heidegger zu Beginn der Ausführungen – wie die Freiheit das Seiende im Ganzen durchherrsche, im Menschen aber zu einer besonderen Schärfe zusammenführe. Zunächst allerdings kann von einer kritischen Distanzierung Heideggers von Schellings Argumentationsgang nicht die Rede sein. Auch im Blick auf die menschliche Freiheit verhält Heidegger sich zunächst vollkommen affirmativ zur Schellingschen Darstellung, die er Schritt für Schritt nachvollzieht und argumentativ zu stützen versucht. Die Möglichkeit der Freiheit, die in der Trennbarkeit der Momente von Grund und Existenz besteht, wird als Resultat und gewissermaßen als Höhepunkt der »Werdebewegtheit« präsentiert, wodurch der Übergang vom Sein der Natur zum



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Sein des Menschen – anders gesagt zu dessen Freiheit – nahezu bruchlos erscheint.255 Der in sich kreisende Prozess der Werdebewegtheit und die außerordentlich spekulative Darstellung, deren Status ebenso unklar bleibt wie bei Schellings Vorlage selbst, findet dann im Bereich der Rede von der menschlichen Freiheit ihre Fortsetzung, wo sie anstelle der Begriffe von Grund und Existenz nun mit den Begriffen von Böse und Gut operiert und anstelle der gewissermaßen ›natürlichen‹ Werdebewegtheit nun den Titel der »geschichtlichen Bewegtheit« trägt: Der Geist des Bösen, so heißt es hier »wird durch das Gute gereizt, und zwar so, daß er in seiner Aufspreizung nun selbst gegenwendig das Gute hervortreibt. Das Gute aber teilt sich dabei in seiner Entfaltung dem Bösen nicht mit, als ob es Stücke von sich selbst abgäbe, die dann ins Böse abgeändert würden; nicht wechselweise Mitteilung und gegenseitiges sich Aufgeben und Vermischen, sondern »Ver-teilung« der Kräfte, die in sich schon immer geschieden sind und geschieden bleiben« (VL 36, 181). Das eigentliche Ziel der Interpretation aber, das zugleich das Zentrum des Systems selbst betrifft, findet sich erst mit der Frage nach der Wirklichkeit der Freiheit erreicht, mit der nun auch die von Beginn an präsente, aber bisher unbestimmt gebliebene »ursprüngliche Erfahrung« ihre eigentliche Bestimmung erfährt. Wie sich hier konkret zeigen wird, markiert diese »Erfahrung« für Heidegger die Erfahrung des Seins selbst und damit den Punkt, an dem Sein allererst tatsächlich offenbar wird. Sofern diese Darstellung unmittelbar an die Argumentation der Freiheitsschrift anschließt, ist nicht zu sehen, in welcher Hinsicht sich mit diesem Teil eine Kritik an Schelling abzeichnen sollte. Trotz der engen Anlehnung an Schellings Darstellungen aber ergeben sich tatsächlich im Rahmen der Überlegungen zur menschlichen Freiheit einige Abweichungen, die am Ende zum ersten explizit formulierten Einwand gegenüber Schellings Seinsauffassung führen werden, dem Einwand nämlich, Sein müsse als im Wesen endlich gedacht werden. Bedingt sind diese Abweichungen vor allem durch Heideggers Absicht, die Auslegung »bewußt einseitig in Richtung auf die Hauptseite der Philosophie, die Seynsfrage« (VL 36, 176) zu orientieren, und das Problem damit von vornherein aus jedem moralisch-ethischen Kontext herauszulösen. Wie gesehen gilt das Böse eben nicht als Kategorie des Handelns, sondern als Bestimmung des Seins. Ethik und Moral reichten nicht zu, um das Böse zu begreifen, weil sie »nur eine Gesetzgebung hinsichtlich eines Verhaltens zum Bösen im Sinne seiner Überwindung und Zurückweisung oder seiner Verharmlosung betreffen« (ebd.). Und obwohl Heidegger in Anlehnung an Schellings Darstellung von Bosheit, von Gewissenlosigkeit und Eigensucht spricht, denen er auf der Seite des Guten ein wahres Heldentum an die Seite stellt, bleibt nicht nur fraglich, ob die Lösung des Begriffes aus dem praktischen Kontext eine sinnvolle Rede über das Problem tatsächlich erlaubt, sondern auch, ob dieses Verfahren wirk255 

VL 36, 169 ff.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

lich zu einer Radikalisierung des Problems führt. Was nämlich, so lässt sich fragen, bedeutet es für die angebliche Radikalität des »Unwesens« im Sein, wenn der Gegensatz zwischen Gut und Böse nun in den Hintergrund gedrängt wird, weil er, wie Heidegger meint, nur aus der Fixierung auf die Frage der Sittlichkeit resultiere, wodurch Gut und Böse als »Zielmarken eines Strebens und Widerstrebens« (VL 36, 190) erschienen? Tatsächlich spielt der Gegensatz von Gut und Böse und das damit verbundene Problem der Verkehrung des natürlichen Verhältnisses im Blick auf die Frage nach der menschlichen Freiheit für Heidegger nur eine – wenn überhaupt – untergeordnete Rolle. Denn durch die »Strebensrichtungen«, so Heideggers Argument an dieser Stelle, würden Gut und Böse »auseinandergehalten, und nur dieses Auseinander und Wegvoneinander bleib[e] im Blick« (VL 36, 190). Statt dessen aber geht es Heidegger auch in diesem Kontext vor allem um die Natur der Einheit, die im Blick auf die Werdebewegheit (man könnte sagen, auf das, was Schelling die erste Schöpfung nennt) als Einheit von Grund und Existenz, im Blick auf die »geschichtliche Bewegtheit« (die zweite Schöpfung) und damit die menschliche Freiheit als Einheit von Gut und Böse und in beiden Fällen als dynamische Identität gedacht werden soll. Diese Einheit, die schon in der Darstellung der allgemeinen Werdebewegtheit als Wollen bezeichnet wurde, erfährt nun im Blick auf die menschliche Freiheit noch einmal eine neue, spezifische Bestimmung als »Vermögen«. Im Unterschied zum Stück Holz, das eine »Beschaffenheit« habe, aus der sein Verhalten notwendig folge, sei Vermögen »in sich ein Sichverhaltenkönnen, und zwar zu einer Möglichkeit seiner selbst« (VL 36, 178). Wollen im Sinne des Vermögens, als »Sichverhaltenkönnen«, setzt also den Bezug auf Möglichkeiten voraus, die in den Bestimmungen von gut und böse gegeben sind. Dass sich der Mensch Heidegger zufolge zu Möglichkeiten verhält, scheint das Freiheitsverständnis nun auch zum ersten Mal in die Richtung bewussten Entscheidens zu führen, die allerdings umgehend ausgeschlossen wird, wenn die Rede auf die Freiheitserfahrung als Erfahrung der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit kommt. Zunächst aber gelte es vor allem, so Heidegger, »das rechte Gefühl zu bekommen für die Tatsächlichkeit der Tatsache der menschlichen Freiheit, wovon im Beginn der Abhandlung andeutungsweise die Rede war« (VL 36, 184), wodurch im Rückbezug deutlich wird, dass es hierbei um den entscheidenden Punkt geht, um das Problem von System und Freiheit nämlich, das nun allererst aus der Sache selbst hervorbrechen soll. Auf den ersten Blick allerdings fügen sich die Überlegungen zur Wirklichkeit der menschlichen Freiheit ebenso unauffällig in den Argumentationsgang ein wie alle bisherigen Analysen. Dass die Interpretation der Freiheitsschrift hier dennoch in gewisser Weise ihren Höhepunkt erreicht, der zugleich auch im Blick auf den »wesentlichen Bezug« Heideggers zur Freiheitsschrift von Bedeutung ist, wird unter anderem daran erkennbar, dass Heidegger an diesem Punkt wieder einmal auf seine eigene Terminologie zurückgreift, auf Begriffe und Verhält-



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nisse, die schon in der Theorie von Sein und Zeit entscheidende Funktion hatten.256 Worum also handelt es sich bei der Freiheitserfahrung, die zugleich als Erfahrung des eigentlichen Seins gelten soll, das im Menschen zum Ausdruck kommt? Die Überlegungen zur Tatsache der menschlichen Freiheit beziehen sich auf Schellings Darstellung dessen, was im ersten Kapitel als zweiter Freiheitsbegriff genannt und hier schon unter dem Titel des »eigentlichen Freiheitsbegriffs« angedeutet wurde. Worum es geht, ist die »Urtat« des Menschen, in der dieser, vor die Möglichkeiten von gut und böse gestellt, sein eigenes Wesen bestimmt, indem er sich zu einer der beiden Möglichkeiten entscheidet. Was bei Schelling hierbei unklar blieb, die Frage nämlich, ob der Mensch sich notwendig zum Bösen entscheiden müsse oder ob er sich auch zum Guten, vielleicht gar zum Guten und zum Bösen entscheiden könne, wird von Heidegger letztlich auch nicht wirklich eindeutig beantwortet. Einerseits vollzieht Heidegger die Überlegungen zum menschlichen Hang zum Bösen nach, die den Schluss nahelegen, der Mensch müsse sich notwendig zum Bösen entscheiden. Und »Freisein im Sinne des wirklich Freiseins«, so kann man unter dem Titel »Der Vorgang der Vereinzelung des wirklichen Bösen« lesen, »schließt in sich, daß das Vermögen ein Mögen geworden ist, ein Mögen in dem Sinne, daß es nur das Gutsein oder die Bosheit mag, für das eine und damit gegen das andere sich entschieden hat« (VL 36, 184). In diesem Sinne scheint auch die letzte Möglichkeit ausgeschlossen, dass der Mensch sich nämlich zu gut und böse entscheiden könne. Andererseits aber ist die Interpretation Heideggers durch den viel bemerkten Umstand gerade gekennzeichnet, dass es ausgerechnet hier zu einer grundlegenden Abweichung der Interpretation von der Schellingschen Vorlage kommt, dass nämlich Heidegger den realen Freiheitsbegriff nicht wie Schelling als Freiheit zum Guten oder Bösen, sondern als Freiheit zum Guten und zum Bösen versteht:257 »Menschliches Freisein ist nicht die Entschiedenheit zum Guten 256 

Vgl. hierzu Kisiel (2000). Thomas Buchheim verweist darauf, dass diese Abweichung bei Heidegger auf die Verwendung einer fehlerhafte Textausgabe der Freiheitsschrift zurückgeht, in der an dieser (laut Buchheim entscheidenden) Stelle das von Schelling gesetzte »oder« durch »und« ersetzt sei (Buchheim (2000), S. 54). Buchheim geht es in diesem Text vor allem darum, Heideggers Deutung, die auf die Behauptung einer metaphysischen Notwendigkeit des Bösen hinauslaufe, zurückzuweisen. Angesichts der dargestellten Unklarheiten in Schellings Text ist es m. E. wenig aussichtsreich, diese Frage mit Verweis auf die besagte Textstelle bei Schelling in eindeutiger Weise zu beantworten. An anderer Stelle räumt Buchheim auch selbst ein, dass es Gründe im Text Schellings gebe, die es »recht schwierig machen, die strikte Abgehaltenheit und Unterschiedenheit einer Notwendigkeit des Bösen als ein bloß Mögliches von der Notwendigkeit seiner tatsächlichen Verwirklichung durch den Menschen überall zu entdecken und gedanklich einzuhalten« (Buchheim (2010), S. 154). Zudem steht und fällt Buchheims Argumentation auch schon in dem früheren Text von 2000 damit, ob man die »Urtat« tatsächlich als »Aktus der Freiheit«, d. h. als eine »de facto aus bereits konstituierter Freiheit begangene Tat« (ebd., S. 59, Herv. Th.B.) anerkennen möchte oder nicht. 257 

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

oder zum Bösen, sondern die Entschiedenheit zum Guten und zum Bösen oder die Entschiedenheit zum Bösen und zum Guten. Nur dieses Freisein bringt je den Menschen in den Grund seines Daseins, so zwar, daß es ihn zugleich heraustreten läßt in die Einheit des in ihm ergriffenen Willens zum Wesen und Unwesen« (VL 36, 188). Inwiefern aber, so lässt sich fragen, markiert diese Bestimmung einen Unterschied zu Schellings, wie gesagt selbst uneindeutiger Fassung des Problems? Anders gefragt: Worum geht es Heidegger eigentlich bei dieser abweichenden Bestimmung? Die obige Formulierung zum Ausgangspunkt nehmend, könnte man sagen, dass Heidegger die fragliche Entscheidung, in der die Urtat und damit die menschliche Freiheit besteht, weniger als Entscheidung zwischen den Möglichkeiten von gut und böse, sondern vielmehr als Entscheidung zu den Möglichkeiten von gut und böse auffasst, die damit als unterschiedene Möglichkeiten, als Entscheidungsspielraum in den Blick kommen und so die emphatische Rede von Entscheidung und Entschiedenheit rechtfertigen. In diesem Sinne heißt es auch, die Betrachtung müsse, »unbeschadet der leitenden Ausrichtung auf das Böse, höher genommen werden«, denn sie betreffe »die Entscheidung für Gutes und Böses als Entscheidung« (VL 36, 184, Herv. K.S.). Entscheidung kann die Urtat der Freiheit nur sein, wenn sie auf unterschiedliche Möglichkeiten bezogen ist, deren Trennung in dieser Hinsicht wohl notwendig ist. Im Hinblick auf die Entscheidung ist damit zwar die Trennung, nicht aber die Gegensätzlichkeit der Möglichkeiten von Bedeutung, wodurch das Problem der realen Negation wiederum eine ganz andere Bedeutung erhält. Andererseits aber kommt es Heidegger wesentlich gar nicht so sehr auf die Trennung selbst an,258 sondern vor allem auf die Art, wie sich der Mensch in der Urtat auf die Möglichkeiten seiner selbst bezieht, nämlich im Sinne einer Entschiedenheit oder »Entschlossenheit«, in der das eigentliche Sein des Menschen erfahren 258  Heidegger

macht sich einige Mühe, die »Mitanwesenheit des Bösen im Guten«, bzw. die »Wesensbezüglichkeit des Bösen zum Guten« zu erklären. Diese Ausführungen scheinen mir aber einerseits für das Verständnis der Interpretation nicht unbedingt zentral und andererseits auch durchaus fragwürdig. So heißt es etwa, die »Freiheit als wirkliches Vermögen, d. i. entschiedenes Mögen des Guten ist in sich zugleich auch das Setzen des Bösen. Denn«, so die Begründung, die Heidegger anbietet, »was wäre ein Gutes, das nicht das Böse gesetzt und übernommen hätte, um es in die Überwindung und Bändigung zu bringen? Was wäre ein Böses, das nicht in sich die ganze Schärfe eines Widersachers des Guten entwickelte?« (VL 36, 188) Fraglich scheint mir an diesem Zitat und in der gesamten Passage, in der es bei Heidegger um den Zusammenhang der beiden Bestimmungen geht, welche Bedeutung sich mit dem Begriff »Setzen« verbindet. Was heißt es, anders gefragt, wenn die »Entschiedenheit« zum Guten, die »Setzung« des Bösen fordert? Undeutlich ist diese Rede vor allem deshalb, weil es sich ja bei der Urtat und der Verwirklichung des Bösen zugleich um die »Vereinzelung« handelt, und weil, wie sich zeigen wird, die »Erfahrung«, um die es hier geht, auch die Erfahrung des einzelnen Selbst sein soll. Was also heißt hier »Setzung« im Blick auf die Frage nach dem Handeln in der Welt? Dies allerdings ist eine Frage, die ohnehin angesichts der vorbewussten Verfassung der Urtat ein ungelöstes Problem bleiben muss.



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werden soll. Im Unterschied zur sittlichen Auffassung komme es eben darauf an, nicht die »Strebensrichtung« von gut und böse zu beachten, sondern beide als »Weisen der Entschiedenheit« (VL 36, 189) zu betrachten. Der Satz »Das Böse »ist« das Gute« besagt demnach, dass das Böse »das Gutsein als Entschiedenheit« mit ausmache (VL 36, 190, Herv. K.S.). »Gut und Böse sind«, so Heidegger weiter, »die in der Einheit Geschiedenen kraft der Einheit der höchsten Entschiedenheit« (ebd.). Damit zeigt sich noch einmal, dass es auf dieser Ebene der Betrachtung um ein Verhältnis von Identität und Differenz geht, bei der allerdings die Identitätsbestimmung, im Sinne einer in der höchsten Entschiedenheit sich ausdrückenden Einheit, von besonderer Bedeutung ist.259 Um die Erfahrung dieser Einheit der Entschiedenheit geht es denn auch bei Heideggers Darstellung der Wirklichkeit menschlicher Freiheit. Diese Erfahrung, die Heidegger unter anderem als »maßgebende Grunderfahrung des Menschenwesens« (VL 36, 187) bezeichnet, markiert daher einen wichtigen Punkt innerhalb der Auslegung der Freiheitsschrift. Da sich der Aspekt der Entscheidung auf Schellings Konzeption der Urtat bezieht, ist von vornherein klar, dass es Heidegger, trotz des oben erwähnten Zusammenhangs von getrennten Möglichkeiten im Sinne eines Handlungsspielraums, nicht um das Thema bewussten, noch dazu sittlich verstandenen Handelns in der Zeit geht. In diesem Sinne kann mit der Erfahrung, die die Erfahrung der menschlichen Freiheit sein soll, auch nicht das gemeint sein, worauf es Jacobi ankommt, die Erfahrung nämlich, der bewusste Urheber meiner absichtlich gewählten Handlungen zu sein. Der Unterschied liegt hier schon in der Begrifflichkeit, denn wo es bei Jacobi um die bewusste Entscheidung geht, die in der Zeit getroffen wird, spricht Heidegger von einer »Entschiedenheit«, die gerade nicht durch einen bewussten Bezug ausgezeichnet ist. Wahre Freiheit ist Heidegger zufolge nur dort zu erfahren, wo die Entscheidung schon gefallen ist, wo bereits »Entschiedenheit« herrscht. Zwar zielt diese gewissermaßen vergangene Form von Entscheiden auf eine gewissermaßen zukünftige Dimension ab, die im Sinne einer Absicht verstanden werden könnte. Tatsächlich aber kommt es auch nicht auf die Absicht einer Handlung an, sofern hierin wieder eine Dimension von Bewusstheit ins Spiel käme. Statt dessen ist die Freiheit als »das Vermögen aller möglichen Vermögen« für Heidegger dadurch gekennzeichnet, dass sie »über sich selbst hinweggreift, sich selbst sich vorauswirft in das und als das, was es jeweils 259  Auch

bei dieser Deutung bleiben letztlich unaufhebbare Widersprüche erhalten, die in Heideggers Darstellung begründet sind. So heißt es etwa, die höchste Entschiedenheit, als Einheit von Gut und Böse, sei »jenes Wissen, das seiner eigenen Wesensnotwendigkeit gewiß ist und als solches im Handeln steht.« Dieses »Gewißsein« sei eine metaphysische zu verstehende »Gewissenhaftigkeit« (VL 36, 190). In diesem Sinne aber scheint zu gelten, dass jede Entschiedenheit grundsätzlich als Gewissenhaftigkeit zu verstehen sein müsste. Im folgenden Abschnitt aber spricht Heidegger von der Bosheit als »umgekehrter Gewissenhaftigkeit« (ebd.), die der obigen Formulierung folgend gerade nicht als »Entschiedenheit« verstanden werden dürfte.

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vermag. Die Freiheit als Vermögen der Vermögen vermag nur, in dem sie ihre Entscheidung im voraus als diese Entschiedenheit in Stellung bringt, damit aus ihr aller Vollzug genötigt wird« (VL 36, 186). »Das Künftigste aller Entschiedenheit des menschlichen Wesens in seiner Einzelnheit« sei denn auch, so Heidegger weiter, zugleich »das Vergangenste« (ebd.). Heidegger selbst macht allerdings auch gar keinen Hehl daraus, dass die Rede von der Tatsächlichkeit der Tatsache ebenso wie die von der ursprünglichen Erfahrung nicht auf bewusste Entscheidungen in der Zeit, sondern auf eine Entscheidung zur »Notwendigkeit seines eigenen Wesens« abzielt. »Wenn der Mensch frei ist«, so Heidegger, »und wenn Freiheit als Vermögen zum Guten und zum Bösen das Wesen des Menschseins ausmacht, dann kann der einzelne Mensch nur frei sein, wenn er sich selbst anfänglich zur Notwendigkeit seines eigenen Wesens entschieden hat. Diese Entscheidung ist nicht irgendwann, zu einem Zeitpunkt der Zeitreihe gefallen, sondern sie fällt als Entscheidung zur Zeitlichkeit« (VL 36, 186). Die Entscheidung des Menschen ist daher nicht nur als Grund der Wirklichkeit von unterschiedenen Möglichkeiten, sondern zugleich als Ursprung der Zeit zu verstehen und daher auch im Wortsinne als »ursprünglich« zu bezeichnen. Dass sich dabei das Wollen und seine Selbstbestimmung, das eigentliche Sein des Menschen also, dem bewussten Zugriff entzieht, scheint für Heidegger gerade den Vorzug dieser Sichtweise auszumachen. Wer sein eigenes Sein ursprünglich erfährt, der erfährt es zwar einerseits als Freiheit, sofern es reine, eigene Tätigkeit des Selbst ist; er erfährt es aber zugleich als unverfügbar und damit als Einheit von Freiheit und Notwendigkeit. Notwendigkeit sei, recht verstanden, eben kein Zwang, sondern eine »Inständigkeit, die, vor aller Berechnung und allem Rechnen unerreichbar, das vollzieht, was sie vollziehen muß« (VL 36, 187). Auch hieran lässt sich erkennen, dass es bei der Seinsfrage wie bei der Seinserfahrung ganz wesentlich auf den Aspekt einer ursprünglichen Einheit ankommt, die auch einer späteren Unterscheidung von Denken und Sein vorausliegen soll. Denn gerade dadurch, dass die Realisierung der Freiheit, die Entscheidung oder der Willensakt, oder wie immer man es nennen möchte, dem Bewusstsein und damit auch jeder äußeren Bestimmung etwa durch Vernunftgründe entzogen ist, kann sie als der eine Grund, als Ursprung, aufgefasst werden. Zwischen dem Wollen als Vollzug und dem im Wollen Gewollten kann es keine Differenz geben. Sobald Wollen ist, sobald sich also die Entscheidung vollzieht, wird schon etwas Bestimmtes gewollt, ist die Entscheidung schon gefallen. Das eben scheint Heidegger zu meinen, wenn er davon spricht, die Freiheit müsse ihre Entscheidung im voraus als Entschiedenheit in Stellung« bringen, »damit aus ihr«, d. h. aus der Freiheit des eigenen Wesens selbst, »aller Vollzug genötigt wird« (VL 36, 186). Daher heißt es weiter: »Eigentliche Freiheit im Sinne der ursprünglichsten Selbstbestimmung ist nur dort, wo eine Wahl nicht mehr möglich und nicht mehr nötig ist. Wer erst noch wählt und wählen will, weiß noch nicht eigentlich, was er will; er will noch gar nicht ursprünglich.



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Wer entschieden ist, weiß es schon« (ebd.). Die Einheit von Wollen und Gewolltem ist aber ebensosehr die Einheit von gut und böse im Sinne der »Einheit der höchsten Entschiedenheit«, denn »in dieser findet sich kein Nur-streben und kein Erst-Wählen. Sie ist jenes Wissen, das seiner eigenen Wesensnotwendigkeit gewiß ist und als solches im Handeln steht« (VL 36, 190). Jacobis Verständnis von Handlung wird von Heidegger damit explizit als nicht ursprünglich genug abgelehnt.260 Seiner Auffassung nach wäre Jacobis Sicht auf den Menschen wohl die von einem »Normalmenschen, in der sich jedermann ohne weiteres – dies »ohne weiteres ganz scharf und wörtlich genommen – befriedigt wiedererkennt« (VL 36, 187). Wie allerdings auf Grund einer solchen, vermeintlich »ursprünglicheren« Auffassung von Freiheit, Sein und menschlichem Selbst die Möglichkeit eines bewussten, ethischen Handelns überhaupt gedacht werden soll,261 ist vielleicht noch fraglicher als bei Schelling, der mit dem Problem der möglichen Umkehr zum Guten das Thema immerhin berührt. Dennoch scheint sich sehr wohl auch bei Heidegger eine praktische Forderung zu ergeben, die sich aber wiederum ausschließlich auf den Bezug des Menschen zum Sein beschränkt. Als solche ist sie nicht als sittliche Forderung zu verstehen, die mit der Frage nach gutem oder schlechtem Handeln zu tun hat, damit also, welche der Möglichkeiten realisiert werden solle und welche nicht. In der Ausrichtung auf das Sein und den Bezug zwischen Mensch und Sein geht es vielmehr darum, die Einheit von Wollen und Entzug, von Freiheit und Notwendigkeit in dieser Spannung bewusst zu erfahren und als das eigentliche Sein anzuerkennen. Dabei handelt es sich in gewisser Weise um einen zweiten Akt, der nachträglich das bejaht, was im ersten, dem Bewusstsein 260  Vgl.

dazu auch die entsprechende Darstellung in Sein und Zeit: »Die Entschlossenheit stellt sich nicht erst, kenntnisnehmend, eine Situation vor, sondern hat sich schon in sie gestellt. Als entschlossenes handelt das Dasein schon. Wir vermeiden den Terminus ›Handeln‹ absichtlich. Denn [… er legt] das daseinsontologische Mißverständnis nahe, als sei die Entschlossenheit ein besonderes Verhalten des praktischen Vermögens gegenüber einem theoretischen« (SZ 300, Herv. Heidegger). 261  Dies ist ein Aspekt, der häufig – auch schon im Zusammenhang mit Sein und Zeit – gegen Heidegger in Stellung gebracht wird. Exemplarisch sei hier auf die Studie von Christa Hackenesch verwiesen, die unter anderem den Freiheitsbegriff Heideggers im Ausgang von Sein und Zeit kritisch beleuchtet. Fraglich sei dabei, »ob Heidegger diese ursprüngliche Freiheit in konkrete Freiheit zu übersetzen, ihren Begriff dem des Daseins, das In-der-Welt-sein ist, zu vermitteln vermag« (Hackenesch (2001), S. 47). Heideggers Darstellung des Selbst münde »in die aporetische Figur eines ›freien Individuums‹, das diesseits der Welt und doch, ohne daß dies Bestimmtheit gewänne, ›in ihr‹ existiert. Diese Freiheit bleibt völlig abstrakt, zuletzt mündet sie in ihre eigene Destruktion: als die ›freie Übernahme meines Schicksals‹« (ebd., S. 53). Eine ähnliche Kritik übt Bernd Irlenborn im Zusammenhang mit dem Problem des Bösen bei Heidegger. Innerhalb des Heideggerschen Entwurfs bleibe völlig ungeklärt, wie das Fundierungsverhältnis zwischen ontologischem und moralischem Bösen »aussehen soll und in welcher Weise das malum morale im ontologischen Bösen verwurzelt ist« (Irlenborn (2000a), S. 266).

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entzogenen Urakt vollzogen wird, um eine Entscheidung zur Entschiedenheit. In dieser wird das Schicksal als das eigene, eben als eigene Tat und damit als Resultat der eigenen Freiheit, erkannt und gewissermaßen aktiv angenommen. Determination erscheint nicht mehr als Unfreiheit, weil sie nicht von außen, durch eine »Ursache« geschieht, und nicht »im Sinne einer zwanghaft verketteten Reihe fortlaufender Ursache-Wirkungsverhältnisse« (VL 36, 185) verstanden wird, sondern aus dem eigenen Sein selbst erklärt wird. Explizit handelt es sich damit bei Heidegger um eine Variante von amor fati, die allerdings derjenigen Spinozas insofern entgegengesetzt ist, als dieser mit der Einsicht in das Wesen Gottes auch eine sachhaltige Einsicht verbindet, die von Heidegger mit der Betonung der Tatsächlichkeit der Tatsache gerade ausgeschlossen wird. Die Faktizität der Entschiedenheit wird von Heidegger damit gewissermaßen absolut gesetzt.262 Bei der Ausblendung der praktischen Dimension allerdings entfernt sich Heidegger erneut von Schellings Vorlage, wie sich nicht zuletzt daran zeigt, dass Heidegger den dritten Freiheitsbegriff Schellings, demzufolge die wahre Freiheit erst in der Unterordnung der eigenen Freiheit unter den Allgemeinwillen erreicht werden könne, gar nicht zur Kenntnis nimmt. Das allerdings verweist nun auf eine Abweichung Heideggers von Schellings Freiheitsschrift, die durchaus grundlegend zu nennen ist. Denn obwohl Heidegger einerseits die Verwirklichung der menschlichen Freiheit im Sinne Schellings als Verlust der Zentralstellung des Menschen interpretiert, die sich in der Formulierungen von der »Angst des Lebens« ausdrückt,263 legt seine Interpretation ansonsten viel eher den Schluss nahe, dass es sich bei der so verstandenen menschlichen Freiheit um die Realisierung des eigentlichen Seins und damit gerade um die Bestätigung der Zentralstellung des Menschen handelt. In der menschlichen Freiheit als Realisierung des Wollens im Sinne der Entschiedenheit offenbart sich nach Heidegger nicht die Abweichung von Gott – was sich offenbart, ist vielmehr das Sein in seinem eigentlichen Wesen. Sein ist damit einerseits gekennzeichnet als ein Geschehen, an dem der Mensch im Vollzug der eigenen Freiheit teilhat. Und die Freiheit des Menschen ist umgekehrt der Ort, an dem Sein sich eigentlich offenbart, an dem Sein gewissermaßen ›geschieht‹. Man könnte vielleicht sagen, dass Heideggers Interpretation, bzw. die Theorie, die Heidegger anhand seiner Interpretation der Freiheitsschrift hier vorlegt, in sich schlüssiger ist als diejenige Schellings, deren innere Widersprüchlichkeit auch in der Notwendigkeit erkennbar wird, der zunächst als »real und lebendig« ausgezeichneten menschlichen Freiheit im Sinne der Realisierung des Bösen noch einen drit262  Dass

Heideggers gesamtes Denken als Denken der reinen Faktizität zu verstehen ist, ist etwa die These von Rainer Marten, der zeigt, wie Heidegger jedes »Sosein« eines Dinges oder eines Selbst als Verfall betrachtet. Vgl. Marten (1991). 263  Vgl. VL 36, 183.



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ten Freiheitsbegriff hinterzuschicken. Weil Heideggers Darstellung im Unterschied dazu mit der Erfahrung der menschlichen Freiheit als Realisierung des eigentlichen Seins ihren Höhepunkt erreicht, scheint ein weiterer Schritt, der Schritt, in dem es bei Schelling um die Realisierung Gottes als Person und damit um eine Perspektive auf das Ganze geht, unnötig. Indem Heidegger diese Perspektive bei der Darstellung der Urtat zunächst gar nicht erst in den Blick nimmt, scheint auch das Problem der ewigen Zeit in diesem Zusammenhang relativiert,264 weil die Teleologie des Selbstwerdungsprozesses hiermit in den Hintergrund rückt. Schlüssiger aber ist die Interpretation Heideggers vor allem insofern, als sie das Problem der Immanenz, mit dem Schelling sich, wie gesehen, seit der Ichschrift plagte, eindeutiger auffasst als Schelling. Schon im Rahmen der Briefe zeigte sich ja, dass Schelling auch beim Immanenzsystem grundsätzlich von einer Trennung von Endlichem und Unendlichem auszugehen scheint, die in der Freiheitsschrift gewissermaßen explizit zum Thema wird. Die Realisierung der Einheit mit dem Absoluten erscheint aus dieser Perspektive schon in der Ichschrift wesentlich als Aufgabe und nicht als Realisierung des eigenen Selbst im Absoluten und damit als einerseits wohl anzustrebende, andererseits aber zugleich abschreckende Option. Auch in der Freiheitsschrift scheint es bisweilen um die geradezu trotzige Behauptung des eigenen Selbst angesichts der von vornherein gesetzten Überlegenheit Gottes zu gehen, der sich am Ende, im dritten Freiheitsbegriff der Freiheitsschrift dann trotz alledem durchsetzen wird.265 Heidegger hingegen denkt in der Realisierung des Seins, das im »entschiedenen Wollen« erreicht wird, nicht die Aufgabe, sondern zugleich mit der Realisierung des eigentlichen Seins auch die Realisierung des eigentlichen Selbst. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Realisierung des menschlichen Selbst auch als Realisierung des Seins selbst zu verstehen ist. Und eben weil sich das Wesen des Seins erst im Menschen und seiner Freiheit offenbare, könne von Sein, wie Heidegger folgert, nur da die Rede sein, wo es wie beim menschlichen Sein auf den Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit angewiesen sei. »Den Bereich des Möglichen und Wirklichen« aber gebe es »nur im Endlichen; und wenn die Unterscheidbarkeit von Möglichkeit und Wirklichkeit zum Wesen des Seyns gehört, dann ist das Seyn überhaupt im Wesen endlich« (VL 36, 192). 264 

Dennoch bleibt das Problem der »ewigen Zeitlichkeit« erhalten. Vgl. dazu den Abschnitt zur Zeitlichkeit in Kapitel III. 265 Heidegger beschreibt diesen Umstand recht treffend. »Der gesonderte Eigenwille des Menschen werde«, so heißt es, »durch dieses Feuer, in dem er selbst erblickt wird, bedroht; es droht, allen Eigenwillen und jedes Selbstsein auszubrennen. Die Angst um sein Selbst, die im Grunde wesende »Lebensangst« treibt ihn, aus der Mitte herauszutreten, d. h. die Besonderung festzuhalten und zu betreiben und damit dem Hang nachzuhängen« (VL 36, 263). Zugleich aber scheint diese Rede im Blick auf Heideggers eigene Darstellung des Zusammenhangs von menschlicher Freiheit und Sein selbst unzutreffend. Erstaunlich ist das insofern, als Heidegger ja gerade durch die Rede von der »Angst des Lebens« besonders angezogen zu sein schien.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Die abweichende Deutung der Freiheit führt damit auf den ersten explizit formulierten Einwand Heideggers gegen Schelling, der nicht gesehen habe, dass Sein im Wesen endlich sei und daher »in Wahrheit vom Absoluten nicht gesagt« werden könne (VL 36, 195). Heidegger selbst allerdings präsentiert diesen Einwand zunächst einmal nicht wie eine wirklich fundamentale Kritik an Schelling. Ebensowenig bringt er ihn in einen eindeutigen Kontext mit der Rede vom »Scheitern« der Freiheitsschrift. Dennoch scheint das Problem der Endlichkeit des Seins letztlich die vielleicht deutlichste Kritik an Schelling zu sein, weshalb hier in der Literatur auch zumeist ein Zusammenhang zum behaupteten Scheitern hergestellt wird.266 Aus diesem Grund scheint es geraten, diesen Einwand selbst einmal genauer zu betrachten. Welches Argument verbirgt sich hinter diesem Einwand und wie schlüssig präsentiert er sich? Die These, Sein sei endlich und der damit zusammenhängende Begriff der »Endlichkeit« wird in den verschiedenen Äußerungen zu diesem Problem je unterschiedlich bestimmt. Zunächst einmal verbindet sich die Rede von der Endlichkeit mit der Trennung von Möglichkeit und Wirklichkeit. Diese wiederum scheint mit der Trennung von Möglichkeiten unmittelbar zusammenzuhängen, zwischen denen der Mensch in der Urtat wählt, denn gäbe es keine unterschiedlichen (Wahl-)Möglichkeiten, dann müsste die Wirklichkeit wiederum mit der Möglichkeit zusammenfallen. Heidegger bestimmt daher die Endlichkeit weiter wie folgt: »Wählen heißt auf Möglichkeiten sich beziehen und dabei die eine der anderen vorziehen. Wählen können bedeutet daher endlich sein müssen« (VL 36, 192). Im Gegensatz dazu könne das Absolute nur eines wollen, und zwar die »Notwendigkeit seines eigensten Wesens und dieses Wesen ist die Liebe« (ebd.). Diese erste Formulierung des Einwandes allerdings ist schon insofern fragwürdig, als sie mit dem, was Heidegger zuvor über die Freiheit des Menschen und damit über das Sein des Menschen gesagt hat, gar nicht wirklich übereinstimmt. Denn eine Wahl zwischen Möglichkeiten wurde trotz der zuvor behaupteten Trennung der Mög266 

Vgl. Köhler (2006): »Wenngleich also Heidegger einerseits an Schellings Bestimmung des Seins als Werden im Sinne der Fuge von Grund und Existenz glaubt anknüpfen zu können, so steht andererseits seine Bestimmung des Wesens des Seyns als Endlichkeit der absoluten Metaphysik Schellings als einer spezifischen Ausprägung der abendländischen Onto-theo-logie in fundamentaler Weise entgegen« (Köhler (2006), S. 242). Ähnlich sieht es Christian Iber, der zwar der Kritik Heideggers an Schelling selbst kritisch gegenüber zu stehen scheint, der aber dennoch formuliert: »Schellings Freiheitsschrift ist für Heidegger eines der »tiefsten Werke der deutschen und damit der abendländischen Philosophie«, weil hier von innen heraus der ontotheologische Idealismus überwunden und auf die moderne Existenzphilosophie vorausgewiesen wird, in der die Einsicht von der unhintergehbaren Endlichkeit allen Seins zum Tragen kommt« (Iber (2003), S. 196). Beiden Interpretationen ist gemein, dass sie den Begriff der »Ontotheologie« als kritisch gegen die Metaphysik gerichteten Ausdruck von Heidegger unbesehen übernehmen, und das, obwohl dieser Begriff – wie gesehen – gerade im Zusammenhang mit Schelling zunächst einmal als durchaus positive Bestimmung betrachtet werden muss.



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lichkeiten gerade ausgeschlossen. Auch die Bestimmung, das Absolute könne im Gegensatz zum endlichen Wesen nur aus der Notwendigkeit des eigenen Wesens handeln, scheint gerade im Gegensatz zu den vorigen Ausführungen zu stehen, die die Freiheit des Menschen ganz analog dazu als ein Handeln aus der eigenen Wesensnotwendigkeit bestimmte. Eben deshalb war die Freiheitserfahrung ja als die Erfahrung der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit gekennzeichnet worden. Einwenden könnte man vor diesem Hintergrund höchstens, dass Gottes Wesen im Sinne der Liebe bereits von vornherein, und d. h. notwendig, festgelegt sei, während das Wesen des Menschen jedesmal seine eigene Tat, jedesmal aufs Neue seine eigene Wahl sei.267 Andererseits aber interpretiert Heidegger auch die Liebe Gottes als Entschiedenheit, wie sich an folgender Stelle zeigt: »Gott läßt«, so Heidegger, »den gegenstrebigen Willen des Grundes wirken, damit jenes sei, was die Liebe einige und sich zur Verherrlichung des Absoluten unterordne. Der Wille der Liebe steht über dem Willen des Grundes, und dieses Überwiegen, die ewige Entschiedenheit dazu, also die Liebe zu sich selbst als Wesen des Seyns überhaupt; diese Entschiedenheit ist der innerste Kern der absoluten Freiheit« (VL 36, 192 f.). Entschiedenheit aber kann sie Heideggers Bestimmung zufolge wohl nur dann sein, wenn sie ebensosehr wie die menschliche Freiheit auf die beiden Möglichkeiten von gut und böse und damit auf die Trennbarkeit der Prinzipien angewiesen ist. Sofern also die göttliche Liebe selbst »Entschiedenheit« sein soll, gilt eben gerade nicht, was Heidegger an anderer Stelle behauptet, dass nämlich »das Seyn in Wahrheit vom Absoluten nicht gesagt werden« könne. Endlichkeit, so argumentiert Heidegger nun, sei eine Auszeichnung des »endlich Existierenden« (mit anderen Worten des Menschen), der im Gegensatz zu Gott »das Vorrecht und den Schmerz hat, im Seyn als solchem zu stehen und das Wahre als Seiendes zu erfahren« (VL 36, 195). Heideggers Bestimmungen der Endlichkeit des Seins stehen also zum Teil im Widerspruch zu seiner Interpretation der menschlichen Freiheit und scheinen daher nur bedingt geeignet, über das Scheitern der Freiheitsschrift Aufschluss zu geben. Zunächst einmal scheinen sie vor allem zu bestätigen, dass für Heidegger die Realisierung der menschlichen Freiheit die Realisierung des eigentlichen Seins ist, woraus sich ergibt, dass der Blick auf eine weitere Ebene, auf die Überwindung des Bösen und die Realisierung der eigentlichen Einheit des Seins gar nicht mehr nötig ist. Sein selbst offenbart sich bereits in der menschlichen Freiheit und kann nur aus diesem Grund auch mehr oder weniger mit dem menschlichen Sein identifiziert werden.268 So betrachtet könnte die These von der Endlichkeit des Seins als Kritik 267  Wobei auch hier natürlich nach wie vor fraglich bleibt, inwiefern die Rede von einer »Wahl« im Blick auf die Urtat bei Schelling überhaupt gerechtfertigt ist. 268  Vgl. dazu erneut Christa Hackenesch, die das Problem der endlichen Freiheit des Selbst, das dabei zugleich die Stelle Gottes einnehmen soll, in seiner Entwicklung aus der Position von Sein und Zeit herleitet. »Heidegger«, so heißt es dort, »sucht eine Freiheit zu begründen, die

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an dem Versuch aufgefasst werden, Sein im Sinne eines Gottes zu interpretieren, der erst in der Überwindung der menschlichen Freiheit zu sich komme. Ein solchermaßen verstandenes Sein wäre eben, wie Heidegger kritisiert, nicht Sein selbst, sondern ein höchstes Seiendes, das zur Unendlichkeit erweitert ist. Sein selbst aber, so könnte man folgern, ist gerade kein Seiendes – es hat kein Sein, sondern ist Sein. In diesem Sinne aber ist die Rede von der Endlichkeit des Seins wiederum irreführend, weil Sein, eben weil es kein Seiendes und kein göttliches Selbst ist, in Abgrenzung zum Seienden mindestens ebensogut unendlich genannt werden könnte. Dass Heidegger nicht so redet, ist dem Umstand geschuldet, dass Sein und Seiendes in einem durchaus komplizierten Verhältnis miteinander stehen, das aber mit dem bereits vielfach erwähnten Immanenzverhältnis gerade treffend erfasst scheint. Seiendes ist durch seine Teilhabe am Sein, ist »Inständigkeit« im Sein. Umgekehrt offenbart sich Sein im Seienden (hier allerdings beschränkt auf den Menschen) und nur dort. »Dieses Wesen Gottes« als Sichoffenbaren könne, so hieß es schon an früherer Stelle, »nur gezeigt werden aus dem Wesen des Seyns überhaupt im Rückgang auf die Seynsfuge und die Wesensgesetzlichkeit, nach der sich in ihr das Seiende zu einem Seienden fügt« (VL 36, 143). Die Teilhabe am Seyn aber wird zugänglich in der Erfahrung der Freiheit, in der wir »in den Vollzug des Seyns« und »nicht in das bloße Vor-stellen desselben« versetzt werden (VL 36, 196). Auch die Rede von der Endlichkeit des Seins macht damit deutlich, dass Heidegger das Immanenzverhältnis konsequenter denkt als Schelling, der das eigene Selbst gegenüber einem göttlichen Selbst verteidigen möchte und es so doch nur als ein Selbst gegen Gott zu denken vermag. Der Verlust des Selbst hingegen wird von Heidegger nicht gefürchtet, der die Endlichkeit des seienden Selbst denkt, das die Einheit des Menschen mit dem Sein verwirklicht, ohne ein unendliches, vom endlichen geschiedenes, selbsthaftes Sein zu denken, in dem der Mensch untergehen könnte. In diesem Sinne aber liegt das Resultat, das sich auf dem Niveau der Ausführungen zur menschlichen Freiheit ergibt, keineswegs mit der theoretischen Ausgangslage der Betrachtungen im Konflikt – im Gegenteil. Die Ausführungen zum belebten Pantheismus scheinen auf die angemessene Erfassung der menschlichen Freiheit hinzuführen, ohne dass diese im Nachhinein eine grundlegende Modifikation des theoretischen Rahmens erforderte. Statt dessen erscheint es vielmehr so, als entzünde sich Heideggers Kritik wesentlich an dem Versuch, Gott selbst noch einmal als Person zu denken, und damit an einem Gedanken, der nicht in der Logik des immanenten Systems liegt, sondern dieser gerade entgegengesetzt ist. Diese Deutung scheint durch eine weitere Fassung der Bestimmung »Endlichkeit« gestützt zu werden, die sich nämlich auf das Problem einer absoluten Erkenntnis insofern zugleich Absolutheit und Endlichkeit bedeutet. Er verteidigt also nicht gegen Hegel die Kontingenz des Individuums, sondern steigert es zum Autor einer Welt« (Hackenesch (2001), S. 102).



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bezieht, als das endliche Wesen als ein solches bestimmt wird, das »das Seiende im Ganzen nicht unmittelbar und in jeder Hinsicht zumal erkennt und durchherrscht« (VL 36, 192, Herv. K.S.). Sein, in dem Sinne, in dem es eben Sein des Seienden und kein höchstes Seiendes ist, durchherrscht zwar das Ganze des Seienden, ohne es aber deswegen »in jeder Hinsicht zumal« unmittelbar zu erkennen. In diesem Sinne aber scheint sich gerade Schellings Bestimmung des Absoluten als Un- bzw. Urgrund, d. h. als die der Zweiheit vorausliegende Indifferenz, als eine bestimmte Form des »Nichts« also, in Heideggers Interpretation einzufügen. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass der Ungrund, der zwar, wie gesehen, insgesamt zugunsten der Bestimmung des »Wollens« in den Hintergrund trat, von Heidegger auch durchaus positiv interpretiert wird. Gerade aus der Bestimmung des Ungrunds als »Nichts in dem Sinne, daß ihr gegenüber jede Seinsaussage nichts ist«, ergebe sich, daß »das Seyn in Wahrheit vom Absoluten nicht gesagt werden« könne, woraus in weiterer Konsequenz folge, daß das »Wesen allen Seyns die Endlichkeit« sei (VL 36, 195). Der Fehler Schellings, falls man von einem solchen an dieser Stelle überhaupt sprechen kann, bestünde somit letztlich höchstens noch darin, auf die Endlichkeit des Seyns nicht eigens hingewiesen zu haben.

3. Schellings Scheitern? Erst die Frage nach der menschlichen Freiheit soll offenbaren, was das Innerste des Systems und das eigentliche Sein ausmache. Dieses sei, so erfahren wir zunächst, im Wesen endlich, ein Aspekt, den Schelling nicht gesehen oder auf den er zumindest nicht ausdrücklich hingewiesen habe. Ob und wie dieser Punkt aber für das Scheitern der Freiheitsschrift verantwortlich sein soll, wird nicht ausgeführt. Überhaupt wird derjenige Leser enttäuscht, der aufgrund der einleitenden Ausführungen zur Absicht der Auslegung nun damit rechnet, auf eine ausführliche Darlegung des Scheiterns der Freiheitsschrift und der Gründe für dieses Scheitern zu stoßen. Heideggers Ausführungen zu diesem Problem, die der Einleitung zufolge ja die eigentliche Absicht der Auslegung bestimmen, beschränken sich auf einen kurzen Abschnitt, der die Frage nach dem »Bösen im Ganzen des Systems« betrifft. Zwar scheint dieser tatsächlich die Problematik von System und Freiheit noch einmal neu aufzugreifen, sofern das Böse ja erst im Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit überhaupt zum Thema wurde. Andererseits aber wird das Scheitern selbst gar nicht auf die Erfahrung der menschlichen Freiheit bezogen, sondern auf die Frage, wie sich die Unterscheidung von Grund und Existenz, die mit der Unterscheidung von gut und böse ja nicht einfach identisch ist, zum System selbst verhalte. Im Blick auf Schellings Argumentation scheint diese erneute Frage nach der Seinsfuge zwar gerechtfertigt, da auch dieser die Einheit von Grund und Existenz mit der Einfüh-

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rung des Ungrundes neu zu lösen versucht. Andererseits aber zielt Heidegger hier gar nicht auf das Konzept des Ungrundes, zu dem er sich ebenso affirmativ verhält wie zu der bisherigen Argumentation Schellings. Der Ungrund sei »von Wichtigkeit«, sofern er »rückweisend die Warnung [enthalte], beim Wesensentwurf der Werdebewegtheit des Absoluten dieses Werden nie so zu denken, daß zunächst und zuerst nur ein Grund sei und dann die Existenz irgendwoher hinzu komme« (VL 36, 195). Dies ist in Heideggers Darstellung, der von vornherein die Identität von Grund und Existenz im Begriff des Wollens gesichert sah, aber von eher untergeordneter Bedeutung. Demnach ist es auch zunächst nicht die Frage nach dem Verhältnis von Dualität und Einheit, von Seinsfuge und ihrer Einheit, die zum Ansatzpunkt der Kritik wird, sondern wirklich der Begriff des Systems, der im Zentrum des fraglichen Abschnittes steht.269 Schellings Frage nach der Einheit von Grund und Existenz dient geradezu als Zeichen dafür, dass er das eigentliche Problem nicht erkannt habe, das in der Unvereinbarkeit des als Seinsfuge gedachten Seins und dem System bestünde. Selbst diese Kritik aber scheint Heidegger in Schellings Gedankengang schon vorgezeichnet zu finden, denn er bezieht sich auf einen kurzen Abschnitt bei Schelling, in dem es heißt: »In dem göttlichen Verstande ist ein System, aber Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben«. Daraus folgert Heidegger, dass das System »nur einem Moment der Seynsfuge, der Existenz, zugewiesen« sei (VL 36, 194). »Wenn aber das System nur im Verstande ist, dann bleibt dieser, der Grund, und die Gegenwendigkeit selbst aus dem System ausgeschlossen als das andere des Systems, und System ist, auf das Ganze des Seienden gesehen, nicht mehr das System« (ebd.). Diese Interpretation ist durchaus fraglich, schon weil unklar ist, welchen Status man dem zitierten Satz bei Schelling zukommen lassen sollte. Will Schelling damit selbst Kritik am System, an dem hier vorgelegten System der Freiheit üben, indem er das System durch eine »höhere Einheit«, die »Leben« genannt wird, überbieten will?270 Wäre dies so, dann müsste man allerdings mit Heidegger einräumen, dass 269  Dies erstaunt insofern, als das Problem des Verhältnisses von Grund, Existenz und deren Einheit im frühen Seminar von 1927/28 bereits im Zentrum der Überlegungen stand. 270  Thomas Buchheim versucht, die These Heideggers durch eine Unterscheidung zwischen der »Systematik der Seinsfuge einerseits« und einem »System der Freiheit« andererseits zu widerlegen (Buchheim (1989), S. 187). Heideggers »interpretatorische Veränderung« liege in der »generellen Gleichsetzung jedes Entwicklungszustandes der Seinsfuge […] mit dem veritablen System der Freiheit«, das nach Buchheim mit Schelling als »der Urtypus der nach dem Wesen Gottes allein möglichen Welt« bezeichnet werden soll (ebd., S. 186). Bei dieser Unterscheidung aber bleibt einerseits nach wie vor offen, wie sich die »Systematik der Seinsfuge« und das »System der Freiheit« zur Freiheitsschrift selbst als Darstellung eines Systems der Freiheit verhalten sollen. Daneben aber scheinen Buchheims Ausführungen gerade darauf hinauszulaufen, dass die Freiheitsschrift nach Heideggers Interpretation keineswegs scheitert, sondern vielmehr selbst bereits als neues Denken verstanden werden kann. In diesem Sinne heißt es bei Buchheim an anderer Stelle: »Der Aufruhr des Geistes gegen das System des Seins im Ganzen gehört bei Heidegger – anders als bei Schelling – also notwendig zum ›Zusammenstand‹ eben dieses Systems, wenn es denn ein



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Schelling sein eigenes Scheitern nicht erkannt habe, indem er am System, trotz der eigenen Kritik an der einseitigen Zuordnung zum Verstand, bis zum Schluss festgehalten habe. Fraglich ist also, um welchen Begriff des Systems es sich an dieser Stelle handelt, wenn es heißt, dass der Grund, der innerhalb des bisher Entwickelten eine wesentliche Rolle spielte, nun aus dem System ausgeschlossen bleiben solle. Eine genauere Klärung dieses Problems aber fällt darum schwer, weil Heidegger die Frage nach dem System schon zu Beginn der Ausführungen im Unklaren gelassen hatte. System, so schien es dort, meinte ein gewissermaßen ontologisches Gefüge des Seins selbst, das dem Philosophen dadurch zugänglich wird, dass dieser das System nicht als ein Gegenüber versteht und erkennt, sondern mittels der intellektuellen Anschauung zu dem Wissen gelangt, »was die Dinge als seiende und was den Menschen als seienden umspielt und durchspielt und was all dieses im Ganzen als seiendes durchherrscht« (VL 36, 57, Herv. Heidegger). Was das Ganze des Seienden durchherrscht und umspielt, ist eben die Seinsfuge, die Gegenwendigkeit von Grund und Existenz, die bis auf den Begriff der menschlichen Freiheit führte und sich dort in ihrer ganzen Radikalität offenbarte. Welchen Sinn es nun also haben könnte, dieses System einseitig dem Verstand zuzuschreiben, ist schwer einsichtig. Zudem behauptet Heidegger, das Scheitern zeige sich daran, dass »die Momente der Seynsfuge, Grund und Existenz und ihre Einheit […] immer weniger vereinbar werden« (VL 36, 194), eine Beobachtung, die sich nach der vollzogenen Auslegung ebensowenig nachvollziehen lässt. Heideggers Strategie zielte bis zu diesem Punkt gerade darauf, die Widersprüche entweder herunterzuspielen oder aber sie gerade zum Ausweis der Ursprünglichkeit des Schellingschen Denkens zu erklären. Das Wollen als Einheit der Momente von Grund und Existenz in ihrer Gegenstrebigkeit und von Gut und Böse in ihrer Gegensätzlichkeit stand an keiner Stelle der Auslegung in Frage. Woher ein solcher Kritikpunkt an dieser Stelle kommt, bleibt daher ebenso unklar. Die Frage nach den Gründen für das genannte Scheitern nun, die ausschlaggebend ist für das Projekt einer Überwindung des alten in einem neuen Denken, wird gar nicht eigens ausgeführt, sondern schlicht behauptet. Schelling, so heißt es kurz, treibe nur Schwierigkeiten hervor, »die im Anfang der abendländischen Philosophie gesetzt und durch die Richtung, die dieses Anfangen nimmt, als von diesem aus unüberwindbar gesetzt sind. Das bedeutet für uns, daß ein zweiter Anfang durch den ersten notwendig wird, aber nur in der völligen Verwandlung

System der Freiheit sein soll. Dies und nichts anderes ist jene »höhere Verwandlung«, mit der Heidegger […] den philosophischen Anstoß aus Schellings Freiheitsschrift zu neuer Fruchtbarkeit bringen möchte« (Buchheim (2010), S. 151). Mit dieser Unterscheidung wird von Buchheim in gewisser Weise eben die oben benannte Abweichung benannt, nach der Heidegger in der Realisierung der menschlichen Freiheit die Realisierung des eigentlichen Seins und nicht etwa die Abweichung vom eigentlichen Sein erkennt.

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des ersten Anfangs, niemals durch ein bloßes Stehenlassen desselben möglich ist« (VL 36, 194). Die Kritik an Schelling ist, soviel wird an diesem kurzen Abschnitt deutlich, keine Kritik an den Inhalten der Freiheitsschrift, an der Darstellung der Seinsfuge und ihrer Momente von Grund und Existenz, an der sich aus den Momenten ergebenden Dynamik, der sogenannten Werdebewegtheit oder dem Verständnis der menschlichen Freiheit; sie bleibt vielmehr wesentlich an einem unklaren Systembegriff orientiert. Die auf die Formulierung der genannten Kritik folgenden Abschnitte machen viel eher deutlich, dass das System, wie es im Nachvollzug der Schellingschen Argumentation dargestellt wurde, die Gegenwendigkeit von Grund und Existenz, die sich in der menschlichen Freiheit als dem Mittelpunkt des Systems in ihrer ganzen Tragweite als »Kampf« (VL 36, 195) zu erkennen gibt, nicht ausschließt, sondern dass es diese im Gegenteil gerade angemessen erfasst. Die »Unbegreiflichkeit der Freiheit« erhält dadurch eine neue Dimension, dass sie sich vom Begriff der Vorstellung löst. Dass die Freiheit nicht begriffen werden kann, bedeutet, dass sie nicht vorgestellt werden kann, da »das Freisein uns in den Vollzug des Seyns« versetzt, nicht in das bloße Vor-stellen desselben« (VL 36, 196). Damit ist aber ein Wissensbezug zugleich gerade nicht ausgeschlossen, sofern es sich bei dem Vollzug nicht um ein »blindes Abrollen eines Vorgangs«, sondern um »wissendes Innestehen im Seienden im Ganzen« (ebd.) handelt, das es »auszustehen« gelte. Und dieses »wissende Innestehen im Seienden im Ganzen« wiederum steht selbst im Einklang mit dem, was Heidegger zu Beginn über das System und seine Aneignung durch den Philosophen formuliert. Auch der letzte Paragraph, der dem Anthropomorphismuseinwand gewidmet ist, und sich vor allem mit dem Verhältnis von Sein und Mensch beschäftigt, ist wieder eindeutig positiv auf Schelling bezogen. Bei Schelling werde »nicht Gott auf die Ebene des Menschen herabgezogen, sondern umgekehrt: Der Mensch wird in dem erfahren, was ihn über sich hinaustreibt; aus jenen Notwendigkeiten, durch die er als jener Andere festgestellt wird, was zu sein der ›Normalmensch‹ aller Zeitalter nie wahrhaben will, weil es ihm die Störung des Daseins schlechthin bedeutet. Der Mensch – jener Andere, als welcher er der sein muß, kraft dessen der Gott allein sich überhaupt offenbaren kann, wenn er sich offenbart« (VL 36, 198). Noch entschiedener und vielleicht auch konsequenter als Schelling unternimmt Heidegger den Versuch, die menschliche Freiheit und damit das Sein des Menschen zum Zentrum des Systems zu machen. Weil der Mensch endlich ist, weil er in seiner Endlichkeit sein Sein erfährt, soll Sein überhaupt im Wesen endlich sein. In der menschlichen Freiheit offenbart sich Sein in seinem Wesen. So könnte man als Einwand letztlich nur den Aspekt festhalten, dass Schelling das Sein noch zu wenig am Sein des Menschen orientiert, weil er die menschliche Freiheit nicht zum eigentlichen Mittelpunkt des Systems macht, sondern zu einem Abweichen von der Mitte. Das



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ungeklärte Verhältnis zwischen dem »realen« Freiheitsbegriff und der Wertung der menschlichen Freiheit als Abfall von der eigentlichen Freiheit wäre dann der Punkt, an dem Heideggers Kritik systematisch ansetzen müsste. Inwiefern damit aber ein Scheitern der Freiheitsschrift, ein notwendiges Scheitern gar verbunden sei, das sich auf den Anfang der abendländischen Philosophie zurückführen lasse, ist nach den Ausführungen Heideggers gar nicht zu erkennen. Dass Heidegger die Vorlesung mit einem Zitat von Hölderlin beendet, unterstreicht schließlich noch einmal den »wesentlichen Bezug« Heideggers zu Schelling, von dem die Interpretation bereits ihren Ausgang nahm. Dass die Freiheitsschrift den Gipfel des metaphysischen Denkens darstellt, scheint außer Frage zu stehen, dass und warum sie aber als dieser Gipfel selbst noch einmal überwunden werden muss in einem neuen, schöpferischen, das alte Denken grundlegend überwindenden Neuanfang, bleibt bis zum Schluss undeutlich. Die Freiheitsschrift führt nicht an einen Punkt heran, an dem die Unzulänglichkeit des metaphysischen Denkens deutlich wird, sondern sie vollzieht selbst, so eben scheint es, den Übergang in ein neues Denken, das jenseits von reiner Vernunft und naivem Irrationalismus steht, in ein Denken, das »aus der Seinsfuge« spricht. Die Interpretation der Freiheitsschrift scheitert damit ihrerseits, so könnte man sagen, an dem Versuch, die Notwendigkeit eines Übergangs vor Augen zu führen, weil sie kein Dilemma des abendländischen Denkens deutlich werden lässt, von dem aus betrachtet der Übergang notwendig und problematisch erscheinen könnte. Das Dilemma in Form der Vernunftkritik Jacobis wird von vornherein eingezogen, ohne aber am Ende durch ein anderes Dilemma ersetzt zu werden. In diesem Sinne also verfehlt Heidegger sein eigentliches Anliegen an dieser Stelle. Dass er daher noch ein zweites Mal in nunmehr eindeutig kritischer Weise auf diesen Text Bezug nehmen wird, erscheint so nur als konsequente Weiterführung seiner eigentlichen Interpretationsrichtung.

B. Die Vorlesung von 1941: Abgrenzung von Schelling Einleitung: Perspektivenwechsel In der zweiten Vorlesung, die Schellings Freiheitsschrift gewidmet ist, vollzieht sich ein klarer Perspektivenwechsel. Die weitgehende Identifikation, die die Ausführungen der Vorlesung von 1936 bis zum Ende geprägt hatte, weicht 1941 einer klar distanzierten und zumindest auf den ersten Blick radikal kritischen Sichtweise. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis macht schon deutlich, dass in diesem Falle anstelle des Nachvollzugs der Schellingschen Argumentation eine eigene, distanzierte, die Strukturen der Freiheitsschrift in den Blick nehmende Haltung gewählt wurde. So dreht sich in dieser Vorlesung alles um die Unterscheidung von Grund und Existenz

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sowie um die sogenannte »Wurzel« dieser Unterscheidung, und damit zumindest vordergründig um die Frage nach der Dualität und der Natur ihrer Einheit. Auch der Titel der Vorlesung zeigt die Veränderung an, denn die Freiheitsschrift fungiert 1941 nur noch als Untertitel zur übergeordneten Frage nach der »Metaphysik des deutschen Idealismus«, hinter der sich in Wahrheit allerdings die Frage nach dem Wesen der abendländischen Metaphysik überhaupt verbirgt. Dabei gilt Schelling im Rahmen dieser Untersuchung zwar nach wie vor als Gipfel des metaphysischen Denkens. Unter dem Gipfel dieses Denkens ist aber anders als 1936 nun gerade nicht mehr derjenige Punkt zu verstehen, von dem aus das neue Denken in den Blick gelangen kann. Die Freiheitsschrift markiert keinen Übergangs- oder Wendepunkt mehr, sondern nur noch das Ende einer Bewegung, die in sich kreist und den Bannkreis ihrer eigenen Grenzen nicht zu überwinden vermag. Diesem Denken ist der Blick auf das Neue grundsätzlich verschlossen. Die Interpretation der Freiheitsschrift dient daher hier auch nicht unmittelbar dazu, den Übergang zum neuen Denken zu inszenieren. Statt dessen geht es darum, anhand der Freiheitsschrift die Charakteristika des metaphysischen Denkens in ihrer vollendeten Gestalt bei Schelling herauszuarbeiten. Die Vorlesung von 1941 scheint so einerseits konsequent an die Vorlesung von 1936 anzuschließen, weil sie sich gerade demjenigen Komplex widmet, der 1936 anhand des angeblichen Scheiterns der Freiheitsschrift nur behauptet, aber nicht ausgeführt wurde: der Annahme nämlich, dass dieses Scheitern nicht auf Schellings eigenes Versagen, sondern auf Schwierigkeiten zurückginge, die schon »im Anfang der abendländischen Geschichte« gesetzt seien. Andererseits aber hat gerade die Rede vom Scheitern in diesem Kontext gar keinen Sinn mehr. Nicht umsonst war der Gedanke vom Scheitern unmittelbar mit der Aussicht auf den Übergang zum neuen Denken verbunden, denn er unterstellt, dass Schelling mit dem System der Freiheit bereits auf ein solches zielt, das sich am Ende als dem System unverfügbar erweist. Jeder Anschein einer solchen »Brüchigkeit« und inneren Zwiespältigkeit des Denkens, das Heidegger dem Denken Schellings im Gegensatz zu Hegel bereits in der frühen Vorlesung über die Philosophie des deutschen Idealismus zuschreibt, wird mit der These von der Abgeschlossenheit der Metaphysik und ihrer Vollendung bei Schelling nun offenbar ausgeschlossen. Dennoch steht auch die Vorlesung von 1941 unter dem Vorzeichen des Übergangs zum neuen Anfang. Anders aber als 1936 ist Heidegger nun wohl zu der Überzeugung gelangt, dass der Übergang nicht immanent aus dem System selbst heraus erreicht werden kann. Denn gerade weil sich der Übergang aus der Sache und dem Gang der Sache selbst ergeben sollte, erschien es letztlich so, als habe Schelling den Übergang selbst bereits vollzogen und einen weiteren Übergang daher überflüssig werden lassen. Entsprechend scheint es der Vorlesung von 1941 zufolge von vornherein nötig, einen anderen, einen ganz anderen Standpunkt einzuneh-



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men, von dem aus das Wesen der Metaphysik und damit das in den Blick gelangen kann, worin nach Heidegger das Fragen der Metaphysik und besonders Schellings »seinen Antrieb und seine letzte Erfüllung« habe (VL 41, 15). Die Freiheitsschrift, so scheint es nun, ermöglicht nicht durch einen Nachvollzug ihres Gedankengangs den Übergang zum neuen Denken – sie offenbart ihre ›Gipfelposition‹ nur aus einer Denkhaltung heraus, die sich schon jenseits des Überganges befindet. Nur von dort aus kann sie sich als eine Gestalt der vollendeten Verstellung des eigentlichen Seins zu erkennen geben. Zwar ermöglicht der Vorlesung von 1941 zufolge nicht der Nachvollzug der Freiheitsschrift den Übergang zum neuen Denken. Die Frage nach der Möglichkeit des Übergangs zum neuen Denken selbst stellt ein eigenes Problem dar, das nicht eigentlich Gegenstand der Vorlesung ist. Dennoch besteht auch hier noch eine intime Verbindung zwischen dem neuen und dem metaphysischen Denken, sofern das neue Denken wesentlich in der Erkenntnis des Wesens der Metaphysik bestehen soll und demnach zur Aufgabe hat, den »Ursprung und den letzten Antrieb« des metaphysischen Fragens vermittelt über die Auseinandersetzung mit der Metaphysik selbst aufzudecken. Der entscheidende Bezug zwischen der Interpretation der Freiheitsschrift und dem neuen Denken findet sich hier unter den Begriff der »geschichtlichen« Auslegung gefasst. Das der Metaphysik gegenüber andere Denken, das »notwendig gewordene Denken«, ist »ein geschichtliches Denken« (VL 41, 5, Herv. Heidegger), wie es in der Einleitung zur Vorlesung heißt. Was »geschichtliches Denken« konkret heißen soll, macht Heidegger an dieser Stelle allerdings nicht deutlich. Das ist schon dadurch bedingt, dass das neue Denken nach wie vor als schwer zugänglich gelten muss, weil der Zugriff darauf durch die Herrschaft des metaphysischen Denkens blockiert wird. In der Einleitung macht Heidegger daher vorläufig nur klar, dass »geschichtliches Denken« weder »unmittelbare Erkenntnis« noch historische Orientierung sein soll (ebd.). Was Heidegger in der Einleitung allerdings nicht sagt, ist, dass sich der Begriff »geschichtlich« auf eine Geschichte des Seins bezieht, die sich im metaphysischen Denken auf eine bestimmte Weise ausdrückt. In diesem Sinne scheint klar, dass die Seinsgeschichte auch nur vermittelt über die Gestalten erfasst werden kann, in denen sie sich als Metaphysik realisiert, weshalb ein Verständnis dessen, was Heidegger mit Seinsgeschichte und geschichtlichem Denken meint, nur im Zusammenhang mit der konkreten Auslegung metaphysischer Texte gewonnen werden kann. Was geschichtliches Denken meint, muss daher, so Heidegger, »ein wirklich vollzogener Versuch verdeutlichen«. Als ein solcher also ist die Neuinterpretation der Freiheitsschrift in der Vorlesung von 1941 zu verstehen; und damit als versuchter Ausdruck des neuen Denkens selbst. Dem entsprechend schließt die Vorlesung mit einem Abschnitt, der den Titel trägt: »Was Auseinandersetzung bezüglich der Metaphysik heißt«, einem Abschnitt, der unterstreicht, dass es sich nach wie vor bei der Auslegung der Freiheitsschrift um

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einen Versuch handeln soll, den Übergang zum neuen Denken in die Wege zu leiten. »Aus-einander-setzung« sei, Heideggers Ausführungen zufolge, die »Erfahrung, wie die Geschichte des Seins uns selbst durchwaltet« (VL 41, 140). Zugleich damit meine »Aus-einander-setzung« die »Versetzung« in einen »Entscheidungsbereich« (ebd.), in dem über ein neues Seinsverständnis, d. h. auch über die Erlangung des neuen Denkens entschieden werden soll. Als Versuch einer geschichtlichen Auslegung ist die Interpretation also auch 1941 einem großen Anspruch unterstellt, da sie einerseits zeigen soll, inwiefern in der Freiheitsschrift »alle wesentlichen Bestimmungen« der Metaphysik »zum Austrag kommen« (VL 41, 1), während sie andererseits die Freiheitsschrift als Ausdruck der Geschichte eines Seins begreift, welches durch die Auseinandersetzung mit Schelling auf eine ganz neue Art erfahrbar werden soll. Dieses umfassende und anspruchsvolle Projekt wird in der Vorlesung allerdings nicht umgesetzt. Diese kann allenfalls als ein erster Versuch gelten, die wesentlichen Bestimmungen der Metaphysik zu formulieren und sie in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen. Wieso gerade Schelling den Gipfelpunkt des metaphysischen Denkens darstellen soll, in dem diese Bestimmungen zusammenlaufen, bleibt allerdings auch im Rahmen dieser Vorlesung bis zum Schluss unklar, und die Frage nach einem einheitlichen ›Ursprung‹ des metaphysischen Denkens und einer mit diesem Denken verbundenen Seinserfahrung bleibt damit ebenso unbeantwortet. Form und Textgestalt unterstützen hier den Eindruck, dass Heidegger beim Verfassen der Vorlesung selbst noch keine klare Vorstellung von der Seinsgeschichte gewonnen hat, so dass diese Vorlesung eher als ein Experimentierfeld zu verstehen ist, in dem verschiedene Ideen skizziert werden, die sich kaum zu einem erkennbaren Gesamtbild zusammenfügen. Eine gewisse Konsequenz der gesamten Anlage, die das Inhaltsverzeichnis suggeriert, wird durch die überlieferte Textgestalt konterkariert. Abgesehen von einem ersten Teil, der sich selbst gar nicht auf Schelling bezieht, besteht die Vorlesung aus Fragmenten und Skizzen, die mehr offen lassen als sie zeigen können, und die damit die Funktion, die man ihnen nach einem Blick ins Inhaltsverzeichnis wohlwollend noch unterlegen könnte, letztlich nicht erfüllen. Neben diesen Problemen gibt es aber weitere Merkwürdigkeiten zu verzeichnen, die für die Vorlesung von 1941 charakteristisch sind. Da ist zunächst der Umstand, dass gerade der ausformulierte Teil der Vorlesung nicht auf Schelling oder die Philosophie des deutschen Idealismus bezogen ist, sondern sich mit dem Existenzbegriff von Sein und Zeit beschäftigt. Darüber hinaus ist der Titel der Vorlesung, »Die Metaphysik des deutschen Idealismus«, irreführend, weil die Philosophie Fichtes nicht einmal erwähnt wird. Statt dessen spielen zwei andere Denker eine Rolle, die sich nicht im Rahmen des deutschen Idealismus verorten lassen: Leibniz, dessen Sonderrolle im Blick auf die Freiheitsschrift ja schon 1936 erkennbar wurde, sowie Nietzsche, der letztlich die eigentliche Vollendungsgestalt der Metaphysik darzustel-



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len scheint. Es erstaunt daher nicht, dass die Vorlesung von 1941 von der Forschung hauptsächlich im Blick auf Fragen nach Heideggers Denkentwicklung und seiner im Zuge dieser Entwicklung vorgenommenen Umdeutung von Sein und Zeit herangezogen wird. Im Blick auf Schelling ist sie um so weniger ergiebig, als diejenigen Abschnitte, die ausdrücklich Schellings Freiheitsschrift gewidmet sind, sich zum Teil bis in einzelne Formulierungen hinein an die Vorlesung von 1936 anlehnen – ein Umstand, der ebenfalls irritiert, weil er dem anscheinend radikalen Wandel der Interpretation widerstreitet. Zu all diesen Merkwürdigkeiten kommt schließlich noch das Problem hinzu, dass aufgrund der Textgestalt auch der Status der Rede oft unklar bleibt, weil die Grenzen zwischen Referat, Kritik, Interpretation und eigener Position nur schwer auszumachen sind. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist die Vorlesung wohl kaum ernsthaft als eigenständige Interpretation der Freiheitsschrift zu verstehen. Dennoch bleibt sie durchaus auch im Blick auf Heideggers Verhältnis zu Schelling von Bedeutung, vor allem, weil sie die Unsicherheit und Ambivalenz des Heideggerschen Denkens Schelling (und der Metaphysik überhaupt) gegenüber deutlich werden lässt. Der Anschein einer rein kritischen Haltung der Interpretation, gar einer endgültigen Widerlegung oder Überwindung Schellings, besteht in Wahrheit nur vordergründig. Schelling – das bestätigt auch diese Vorlesung – lässt sich nicht als Gipfelpunkt einer metaphysischen Bewegung auffassen und sich ebensowenig in einen angeblich einheitlichen Verdeckungszusammenhang der Metaphysik eingliedern. Ein wenig erinnert die Situation dabei an die in der Freiheitsschrift neu artikulierte Kritik Schellings an Spinoza, die den Anspruch vertrat, nun allererst den eigentlichen Fehler Spinozas benennen und diesen damit endgültig widerlegen zu können. Bei genauerem Hinsehen aber wurde deutlich, dass die Kritikpunkte weniger Spinoza selbst als vielmehr die identitätsphilosophische Deutung des Spinozismus betrafen. Dass es sich im vorliegenden Fall ähnlich verhalten könnte, darauf deutet eben der Umstand hin, dass Heidegger gerade hier, im Zusammenhang mit der Freiheitsschrift, eine grundlegende Umdeutung von Sein und Zeit vornimmt. Heideggers eigenes Denken, so viel wird schon daran deutlich, hat sich gewandelt. Was also 1936 noch positiv, als Möglichkeit der Überwindung des metaphysischen Denkens gewertet wurde, erscheint jetzt umgekehrt als Anzeichen eines sich vollendenden metaphysischen Denkens. Ob es sich dabei aber wirklich um eine radikale Wende handelt und welche Aspekte dabei die entscheidende Rolle spielen, muss sich im Folgenden zeigen. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich dabei nur grob am Aufbau der Vorlesung, der sich an der Unterscheidung von Grund und Existenz auszurichten scheint, in der Heidegger nun den Kern der Freiheitsschrift erblickt. Der erste Teil der Vorlesung soll eine Vorbetrachtung über die Unterscheidung selbst darstellen, während der zweite dann gewissermaßen die eigentliche Auslegung der Freiheits-

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schrift im Lichte der durch die Vorbetrachtung etablierten Interpretationsperspektive darstellt. Heidegger lässt einen Abschluss mit dem Titel »Durchblick« folgen, der nahelegt, dass nun, nach vollzogener Auslegung, der Blick auf das neue Denken frei wird. Von grundlegender Bedeutung scheint dabei vor allem der erste Teil, weil hier die von der früheren Vorlesung abweichende Interpretationsperspektive bestimmt wird. Während die »begriffsgeschichtliche Erläuterung« sich als eine erste Hinführung zur Unterscheidung versteht, versucht das zentrale zweite Kapitel, die Unterscheidung selbst im Zusammenhang mit ihrer »Wurzel« zu bestimmen. Hier soll wohl – der Anlage nach – gezeigt werden, inwiefern die Freiheitsschrift mit der »Unterscheidung« als Vollendungsgestalt der Metaphysik zu verstehen ist. Hier ist zugleich auch der Ort, an dem das Wesen der Metaphysik als Verdeckung des Seins sichtbar werden müsste. Die vorliegende Interpretation konzentriert sich daher vor allem auf diesen ersten Teil, die sogenannte »Vorbetrachtung«. Im Zusammenhang mit den »begriffsgeschichtlichen Erörterungen« wird zunächst der Zugriff Heideggers auf die Freiheitsschrift deutlich, der tatsächlich ein ganz anderer zu sein scheint als 1936. Besonders auffällig ist dabei, dass das Problem von System und Freiheit zumindest am Ausgang der Untersuchung keine Rolle mehr spielt, wodurch sich auch im Folgenden die auf die Unterscheidung zwischen Grund und Existenz gerichteten Ausführungen eindeutig von der früheren Interpretation von 1936 abzuheben scheinen. Andererseits aber wird das Problem von System und Freiheit ausgerechnet im Schlussteil mit dem Titel »Durchblick« doch noch aufgegriffen. Das Thema der menschlichen Freiheit begegnet damit erneut an exponiertem Ort, an dem Ort nämlich, der ausgerechnet den Zusammenhang des metaphysischen mit dem neuen Denken in den Blick zu bringen scheint. Schon darin lässt sich eine gewisse Ambivalenz Heideggers gegenüber der Freiheitsschrift erkennen, die eine eindeutig kritische Abgrenzung von 1936 eher unplausibel scheinen lässt. Inwiefern, so ist daher zu fragen, hat sich die Haltung Heideggers der Freiheitsschrift gegenüber tatsächlich gewandelt? Um dies genauer zu bestimmen, bietet sich eine Untersuchung vor allem des zweiten Kapitels an, das die Kritik an Schelling und die Verortung der Freiheitsschrift als Gipfel der Metaphysik zum Gegenstand hat. Der Begriff des Wollens, der noch 1936 durchgehend positiv bestimmt war, gerät hierbei in den Fokus der Betrachtungen. Allerdings verbirgt sich hinter der Kritik am Wollen auch keine fundamentale Wende der Interpretation. Die Kritik, so zeigt sich vielmehr, greift erneut Aspekte auf, die schon 1936 im Zusammenhang mit dem Scheitern gegen Schelling eingewendet wurden. Darüber hinaus kann auch Heideggers Versuch, die Bestimmung des Wollens als Einheitspunkt der metaphysischen Bestimmungen zu etablieren, nur als unbefriedigend gelten. Die Kritik an Schelling und der Metaphysik sowie die Anhaltspunkte, wie ein demgegenüber neues Denken verfasst sein müsste, bleiben damit ebenso undeutlich bestimmt wie 1936.



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1. Die »begriffsgeschichtlichen Erörterungen« als Hinführung? Hatte die Vorlesung von 1936 noch auf unmittelbar einsichtige Weise mit der Rekonstruktion des Problemhintergrunds der Freiheitsschrift – mit der Frage nach System und Freiheit – eingesetzt, so tritt diese Frage im Zuge der distanzierten Haltung Heideggers in den Hintergrund. So überzeugend zunächst die Distanzierung und die damit einhergehende Lösung vom Argumentationsgang der Freiheitsschrift scheint, so problematisch ist dennoch dieser Einstieg, der gar nicht erst nach der eigentlichen Thematik der untersuchten Abhandlung fragt, sondern unmittelbar auf die dem »Hauptteil« derselben zugrundeliegende Unterscheidung von Grund und Existenz zielt. Dies ist insofern auffällig, als die These vom Scheitern der Freiheitsschrift 1936 selbst noch wesentlich auf das Problem von System und Freiheit bezogen war. Die Entwicklung der Metaphysik schien der dortigen Darstellung zufolge wesentlich an den Begriff des Systems gebunden, der sich bei Schelling in seiner angemessensten und avanciertesten Form in dem Versuch ausdrücken sollte, das philosophische System als System der Freiheit zu verwirklichen. Zudem spielte die menschliche Freiheit eine entscheidende Rolle, weil die »ursprüngliche Erfahrung« der menschlichen Freiheit zugleich die ursprüngliche Seinserfahrung darstellen sollte. Im Gegensatz dazu scheint Heideggers These hier die zu sein, dass das Problem der Freiheit als solches, und gar in seiner problematischen Stellung der Systemforderung gegenüber, für die Bestimmung des Wesens der Freiheitsschrift als Ausdruck der Metaphysik, als die Schellings Text ja gelesen werden soll, zumindest von untergeordneter Bedeutung ist. Heidegger orientiert seine Darstellung, und das heißt auch seine Kritik der Freiheitsschrift, weder am Begriff des Systems noch am Problem der menschlichen Freiheit, das, vor allem im Sinne der besonderen Erfahrung, auf die es 1936 noch entscheidend ankam, gar keine Rolle mehr spielt. Auffällig ist also, dass Heidegger dieses Problem nicht etwa anders bewertet, sondern es gar nicht erst thematisiert. In diesem Sinne kann nicht von einer einfachen Umkehr der Perspektive gesprochen werden, die sich doch in einer Umwertung dieses zentralen Problems hätte ausdrücken müssen. Gerade weil sich der unmittelbare Bezug der Interpretation von 1936 an die ursprüngliche Erfahrung wesentlich knüpfte, wäre denkbar, dass Heidegger dieses Thema hier nun bewusst ausschließt, um seine kritische Haltung deutlicher hervortreten zu lassen. Die Seinserfahrung, die der Freiheitsschrift Heidegger zufolge zugrundeliegt und ihr Denken bestimmt, soll daher in diesem Kontext als metaphysische und d. h. als eine dem Sein gerade nicht angemessene Erfahrung entlarvt werden. Die Urtat des Menschen, in der sich das Sein der Deutung von 1936 zufolge erst wahrhaft realisierte, scheint sich in diese Interpretation nicht eingliedern zu lassen und bleibt daher aus den Betrachtungen weitgehend ausgeschlossen.

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Während also die Interpretation von 1936 sich vollkommen auf den Gang der Freiheitsschrift selbst einlässt, verfällt die Vorlesung von 1941 eher in das andere Extrem. Sie fragt nicht, worum es Schelling in diesem Text eigentlich geht, welches seine Ausgangspunkte und Absichten sind. Statt dessen zielt sie von vornherein darauf, die Freiheitsschrift als Ausdruck des metaphysischen Denkens in den Blick zu nehmen. Dass sich das Wesen der Metaphysik dabei vor allem in der Unterscheidung von Grund und Existenz ausdrückt, ist zunächst nicht mehr als eine Behauptung, die sich vor allem im zweiten Kapitel als wahr erweisen soll. Die begriffsgeschichtlichen Erörterungen hingegen gehen von dem Bezug der Unterscheidung zur traditionellen Metaphysik aus und präsentieren daher eine Begriffsgeschichte, die den Zusammenhang der Unterscheidung mit der metaphysischen Tradition vermitteln soll. Der von Heidegger unter dem Titel »begriffsgeschichtliche Erörterungen« verfasste Text ist jedoch bei genauerem Hinsehen keineswegs eine Hinführung zu den Begriffen von Grund und Existenz, die die Unterscheidung konstituieren. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass sich die Ausführungen fast ausschließlich mit dem Begriff der Existenz beschäftigen, obwohl der Begriff des Grundes sachlich und begriffsgeschichtlich mindestens ebenso ergiebig sein dürfte wie der Begriff der Existenz. Diese Einseitigkeit scheint vor allem dann befremdlich, wenn man in Rechnung stellt, dass gerade der Grund dasjenige Moment der Unterscheidung darstellt, das der Vorlesung von 1936 zufolge das größere Problem für die Freiheitsschrift zu bilden schien. Dass Heidegger dem Begriff der Existenz hier den Vorrang einräumt, kommt allerdings nicht von ungefähr. Dieser rückt nur deshalb derart in den Fokus der Betrachtungen, weil es Heidegger in diesem Zusammenhang vor allem um eine Profilierung seines eigenen Projektes geht, das er dieser Darstellung zufolge konsequent auch in Sein und Zeit schon verfolgt haben will. Dabei orientiert er sich wesentlich am Begriff der Existenz, den er von anderen Begriffen von Existenz abgrenzen möchte, die auf eine Verbindung seines eigenen Denkens mit der Metaphysik hinweisen würden. Worum es ihm in diesem Abschnitt offenbar geht, ist also, sein Denken von Beginn an im Zeichen der Suche nach dem neuen Anfang erscheinen zu lassen. Sein und Zeit, so die hier vertretene Position, ist selbst weder als Metaphysik noch als später Ausläufer einer solchen zu verstehen. Selbst wenn es also so scheine, als sei Sein und Zeit noch »ein Nachtrag zur Metaphysik« oder aber der Versuch, eines »ursprünglichere[n] […] aber eben doch metaphysische[n]« Fragens (VL 41, 160), sei doch in Wahrheit »hier auch keine Metaphysik mehr, sondern ein ganz anderer Anfang« (ebd.). Der Existenzbegriff in Sein und Zeit, so heißt es auch ganz explizit, »entspringt einer Fragestellung, die […] außerhalb des Denkens der Metaphysik und der gesamten bisherigen Philosophie liegt. Von dieser anderen Fragestellung her läßt sich zwar die Metaphysik ursprünglicher deuten […], aber nicht umgekehrt« (VL 41, 45). Deutlich zeigt sich hier also, was schon im



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Zusammenhang mit dem Wandel der Perspektive angesprochen wurde: Während es sich 1936 um den Versuch handelte, im Ausgang von Schelling den Übergang immanent zu vollziehen, scheint ein solcher Übergang von der Metaphysik zum neuen Denken nunmehr vollkommen ausgeschlossen. Statt dessen wird ein dem metaphysischen Denken gegenüber anderer Standpunkt gefordert, von dem aus sich Schellings Position als Gipfel der Metaphysik erschließen soll. In diesem Sinne heißt es auch, die Ausführungen zu Sein und Zeit dienten dazu, »die Denkweise näherzubringen, innerhalb derer die jetzige Auseinandersetzung mit Schelling sich bewegt« (VL 41, 26). Im Einzelnen sind diese Ausführungen über den Existenzbegriff in Sein und Zeit im vorliegenden Zusammenhang zu vernachlässigen. Sie sind jedoch im Rahmen einer Hinführung zur Unterscheidung von Grund und Existenz bei Schelling zumindest irreführend, weil zunächst der Eindruck entstehen muss, Schellings Exis­ tenzbegriff habe irgend etwas mit demjenigen Heideggers zu tun. Wenn dann die Rede schließlich auf Schelling kommt, wird diese Vorstellung jedoch entschieden abgewehrt. Schellings Existenzbegriff, so erfahren wir, verbleibe »ganz innerhalb der abendländischen und zugleich neuzeitlichen Metaphysik« und sei daher »ohne jeden Bezug zum Existenzbegriff in ›Sein und Zeit‹ zu denken« (VL 41, 75). Er nehme eine »Zwischenstellung ein zwischen dem überkommenen Existenzbegriff existentia und dem eingeschränkten Existenzbegriff Kierkegaards und der ›Existenzphilosophie‹« (ebd.). Obwohl bei dieser Charakterisierung völlig unklar bleibt, was unter einem solchen Zwischenbegriff verstanden werden soll, ist doch zumindest eindeutig, dass es sich um einen von Heideggers Begriff gänzlich unterschiedenen, eben einen metaphysischen Begriff von Existenz handeln soll. Der Kontrast zu der Interpretation von 1936 wird hierbei auch dadurch besonders deutlich, dass Heidegger nun einen Bezug zwischen dem Existenzbegriff der Freiheitsschrift mit dem Begriffspaar von existentia und essentia suggeriert, den er 1936 gerade abgelehnt hatte. Schon im Existenzbegriff erblickte Heidegger 1936 das Anzeichen einer größeren Ursprünglichkeit des Denkens, von dem hier keine Rede mehr sein kann. Dennoch ist die Grenze, die Heidegger zwischen Schelling und dem neuen Denken, seinem eigenen Denken, ziehen möchte, kaum eindeutig bestimmt. Trotz der Abgrenzung, die Heidegger hinsichtlich des Existenzbegriffes zumindest behauptet, bleibt eine Nähe des Heideggerschen Fragens zur Freiheitsschrift erkennbar, die sich etwa anhand der Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Sein zeigen lässt. Schon 1936 spielte dieses Thema im Zusammenhang mit dem Anthropomorphismuseinwand vor allem am Ende der Vorlesung eine Rolle und verdeutlichte den bis zum Schluss der Vorlesung vorherrschenden affirmativen Bezug Heideggers zu Schelling. Hier, gegen Ende der begriffsgeschichtlichen Erörterung, greift Heidegger das Problem erneut auf, indem er einen Bezug des Menschen zum Sein betont, der »ursprünglich erfahrbar« (VL 41, 72) werden solle. Diese Formulierung klingt nun darüber

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hinaus wie eine Reminiszenz an die »ursprüngliche Erfahrung«, die in der Deutung von 1936 die zentrale Rolle gespielt hatte. Die Frage nach dem Bezug von Mensch und Sein und nach der ursprünglichen Erfahrung dieses Bezugs (man könnte sagen, dieser Einheit), wird an dieser Stelle der Vorlesung von 1941 auch erneut mit der Notwendigkeit des Übergangs zum neuen Denken in Zusammenhang gebracht. In der Metaphysik nämlich, die Sein und Mensch als Gegenüber denkt, als »Entweder-Oder«, bleibe der Bezug des Seins zum Menschen unbefragt: »Die Frage bleibt ungefragt, ob nicht gerade dieser Bezug als solcher ursprünglich erfahrbar werden kann; ob nicht der anders erfahrene Bezug des Seins zum Menschen zu einer ganz anderen Art des Fragens nach dem Sein und nach dem Menschen zwingt« (VL 41, 72). Dieser Abschnitt scheint direkt Bezug zu nehmen auf den Abschluss der ersten Vorlesung über die Freiheitsschrift, ein Umstand, der außerdem dadurch verdeutlicht wird, dass nun gerade an dieser Stelle der Argumentation der erste Hinweis auf Schelling erfolgt, dessen »Anthropomorphismus« auch hier positiv hervorgehoben wird. In der Vorlesung von 1936 war die Frage nach dem neuen Verhältnis von Mensch und Sein und der entsprechenden Seinserfahrung mit der Schellingschen Konzeption der menschlichen Freiheit eindeutig verbunden, ein Aspekt, der in der begriffsgeschichtlichen Erörterung nicht erwähnt wird. Auch wenn vorerst ganz unklar bleibt, was man sich bei der »ursprünglicheren Erfahrung« gemäß der zweiten Schellingvorlesung zu denken hat, ist eine Verbindung zur Freiheitserfahrung im Sinne der Deutung von 1936 sicher nicht abwegig, wie sich vor allem gegen Ende der Vorlesung zeigt, die nun doch das Problem der menschlichen Freiheit aufgreift. Ausgerechnet in diesem entscheidenden Abschnitt bleibt zudem der Status der Heideggerschen Rede besonders unklar. Handelt es sich hier um Paraphrase, Interpretation oder eigene Position? Was der Wille des Menschen, d.h die menschliche Freiheit, ist, sei, so heißt es hier etwa, »nur aus der Existenz, existenziell zu bestimmen, d. h. aus dem, daß er ›ist‹« (VL 41, 133, Herv. Heidegger). Dass Heidegger hier den Begriff der Existenz so hervorhebt, deutet eigentlich darauf hin, dass es sich nicht um den metaphysischen, sondern um seinen eigenen Begriff von Existenz handelt, eine Frage, die jedoch letztlich kaum eindeutig zu entscheiden ist. Auffällig bleibt dennoch, dass nicht nur das Problem der menschlichen Freiheit, sondern auch die Frage nach dem System ausgerechnet am Ende der Vorlesung, im »Durchblick« aufgegriffen wird, und dies erneut in einer Sprache, die zwischen kritischer Abgrenzung und zustimmender Anlehnung kaum unterscheiden lässt. Die Frage nach System und Freiheit, die durch die Hinführung mittels der begriffsgeschichtlichen Erörterung abgelöst und für scheinbar irrelevant erklärt wird, taucht also am Ende der Vorlesung im Zusammenhang mit dem »Durchblick«, mit dem Blick also auf das neue Denken selbst, wieder auf. Insofern erinnert die Darstellung dann doch an diejenige von 1936, die das Problem am Anfang entschärfte, um



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es erst am Ende im Zusammenhang mit dem Scheitern der Freiheitsschrift aufzugreifen. Das Ergebnis der begriffsgeschichtlichen Erörterung selbst scheint allerdings vorerst eindeutig. Die Funktion des Abschnittes besteht darin, eine klare Verortung des Projekts einer Interpretation der Freiheitsschrift im Rahmen einer Suche nach dem neuen Anfang vorzunehmen, wobei dieser neue Anfang im Zusammenhang betrachtet werden soll mit einer Darstellung von Sein und Zeit, die auf ein der Metaphysik gegenüber ganz anderes Fragen hin umgedeutet wird. Damit ist der Rahmen, innerhalb dessen sich die »Auslegung« Schellings vollzieht, abgesteckt. Abgesehen davon aber, dass die klare Abgrenzung mit Vorbehalt zu betrachten ist, kann dieser Abschnitt ebensowenig als Hinführung zur Problematik der Unterscheidung von Grund und Existenz gelesen werden, weil die Bestimmung der Begriffe Grund und Existenz in ihrer Verwendung bei Schelling unklar bleiben. Wie verwirrend die Analyse wirklich ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass am Ende der Begriff des Grundes auf denselben Ursprung, nämlich auf das selbe Begriffsfeld aus Selbstheit und Subjektivität zu verweisen scheint wie der der Existenz, so dass die Unterscheidung zwischen Grund und Existenz auf Anhieb fast schon sinnlos erscheint, bevor sie überhaupt im folgenden Abschnitt als eine solche thematisiert wird.

2. Die »Wurzel« der Schellingschen Unterscheidung von Grund und Existenz – »Wollen« als Zentrum der Kritik an Schelling und der Metaphysik 2.1 Die Umwertung des Begriffes »Wollen« und die »Kehre« Nachdem das erste Kapitel vor allem der Abgrenzung des eigenen Projektes gegenüber der Metaphysik gedient hatte und insofern nicht als Heranführung an Schellings Unterscheidung, wohl aber an den Anspruch der Interpretation verstanden werden kann, über die Auseinandersetzung mit Schelling zu einem neuen Denken zu gelangen, soll nun im zweiten Kapitel konkret deutlich werden, inwiefern die Freiheitsschrift bzw. die dort für zentral erachtete Unterscheidung von Grund und Existenz als vollendeter Ausdruck der Metaphysik zu verstehen ist. Zum Ausgangspunkt und zum Zentrum der Kritik wird dabei der Begriff des Wollens, in dem die Bestimmungen der Metaphysik zusammenzulaufen scheinen und an dem sich angeblich die grundlegend das Sein verfehlende Denkweise der Metaphysik erkennen lassen soll. Der Begriff des Wollens spielte, wie gesehen, schon in der Deutung von 1936 eine entscheidende, hier allerdings noch positiv gewertete Rolle. Daher scheint sich nun gerade in der umgekehrten Wertung dieses zentralen Begriffes die scheinbar radikal gewandelte Position Heideggers auszudrücken. Galt die Bestim-

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mung des Seins als Wollen 1936 als wichtiger Schritt in die richtige Richtung, lässt sich der Position von 1941 zufolge gerade hieran die Verfestigung des metaphysischen Denkens in seiner Seinsvergessenheit erkennen. Die Umwertung des Wollens bringt zugleich einen Wandel in den Blick, der sich seit der ersten Schellingvorlesung im Denken Heideggers vollzogen hat. Gerade weil Heidegger 1936 den Begriff des Wollens in positiver Weise ins Zentrum der Betrachtungen stellte, wird deutlich, dass sich nicht nur die Sicht auf Schelling, sondern auch die auf seine eigenen philosophischen Versuche der Zeit um 1936 entscheidend gewandelt hat. Diesen Übergang bezeichnet man mit dem Begriff der »Kehre«, wenngleich unklar und umstritten ist, ob sich die Kehre eindeutig bestimmen lasse und auf welchen Wandel dieser Begriff sich konkret beziehen müsse. Dennoch scheint es durchaus sinnvoll, den sich hier vollziehenden Bruch mit der ersten Schellinginterpretation auf die »Kehre« zu beziehen, die man gemeinhin als den Übergang von einer Philosophie, die im Ausgang vom Seienden das Sein zu denken versucht, zu einem Denken bezeichnet, das umgekehrt vom Sein aus das Seiende denkt. Grob vereinfachend stellt sich die Kehre gerade so dar, dass die Philosophie vor der Kehre gewissermaßen ›aktivisch‹ sei, da sie das Wollen eines Selbst, das reine Wollen des Wollens, ins Zentrum der Betrachtungen stellt, während die Philosophie nach der Kehre eine eher passive Haltung dem Sein gegenüber zum Ausdruck bringe, das sich nun als Seinsgeschick darstellt. Tatsächlich kann man in der Schellingvorlesung von 1936 einen Gipfelpunkt von Heideggers radikaler Philosophie des Selbst erkennen,271 die nun durch die Kritik an Schelling stellvertretend zurückgewiesen wird. Dass es sich so einfach natürlich doch nicht verhält, zeigt sich schon daran, dass eben die Kritik an Schelling in Wahrheit gar nicht so eindeutig ausfällt, sondern vielmehr durchgehend ambivalent bleibt. Dennoch setzt diese Kritik am Wollen eine deutliche Marke – und es scheint daher auch nicht abwegig, diese Wende mit der »Kehre« in Verbindung zu bringen.272 Wo dies geschieht, wird 271 

Vgl. z. B. Hackenesch (2001), S. 90 ff. Hannah Arendt etwa bestimmt die Kehre in Vom Leben des Geistes anhand des geänderten Verhältnisses zum Begriff des Wollens: »Die Bedeutung dieses Einschnitts dürfte auf der Hand liegen: die Kehre wandte sich ursprünglich in erster Linie gegen den Willen zur Macht. Für Heidegger ist der Wille zum Herrschen eine Art Sündenfall, dessen er sich selbst schuldig befand, als er seine kurze Vergangenheit in der Nazibewegung aufzuarbeiten versuchte« (Arendt [1971] (1998), S. 400). Allerdings unterscheidet Arendt zwischen der Kehre selbst und einer späteren Deutung der Kehre, wobei letztere die »gesamte Entwicklung der Heideggerschen Spätphilosophie« (ebd., S. 402) bestimme. Vgl. auch die Deutung der Beiträge zur Philosophie bei Alexander Schwan: »Die Beiträge zur Philosophie sind ein großer, dennoch ambivalent bleibender Widerruf alles dessen, was für Heidegger mit 1933 verbunden war. Sie führen nicht zur aktiven Wende gegen die inzwischen (1936) zur blanken Tyrannei und Unmenschlichkeit ausgearteten ›Machenschaften‹ der nationalsozialistischen Machthaber, sondern lediglich zur »Einkehr« in den Verzicht auf jegliches praktische Tun, was dann auch weitere Kompromittierungen ausschließt« (Schwan (1992), S. 201). 272 



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der Kehre allerdings eine vornehmlich politische Motivation unterlegt, die als alleinige Erklärung für die Kehre und die damit sich verbindenden Umwertungen und Veränderungen in Heideggers Denken vermutlich nicht ausreichen dürfte. Dieser politischen Deutung zufolge verbindet sich die positiv am Begriff des Wollens ausgerichtete Philosophie der frühen 30er Jahre mit Heideggers Verwicklung in den Nationalsozialismus.273 Die Ablehnung des Wollens und die damit verbundene Hinwendung zu einer dem Seinsgeschick gegenüber fatalistischen Haltung diene dazu, Heideggers Verhalten in dieser Zeit als Ausdruck eines übermächtigen Seinsgeschickes zu deuten und dementsprechend zu entschuldigen. Dies mag einerseits durchaus zutreffend sein. Andererseits aber zeigt sich schon an der 1936 bejahten Formel der Einheit von Notwendigkeit und Freiheit, dass die Gegenüberstellung einer von radikaler Selbstheit bestimmten Philosophie einerseits und einer fatalistischen Einstellung andererseits die Sachlage gar nicht wirklich trifft. Insofern ist es auch im Blick auf diesen Wandel sinnvoll, zunächst genauer zu untersuchen, inwiefern sich Heideggers Kritik an Schelling sachlich verändert hat und welche Rolle dabei dem Begriff des Wollens tatsächlich zukommt. Die These, Schellings Freiheitsschrift stelle den Gipfel der Metaphysik dar, setzt sich eigentlich aus mehreren Thesen zusammen, die von Heidegger nicht gesondert behandelt werden, hier aber genauer geprüft werden müssen. (1) Zunächst ist da die Behauptung, die Bestimmung des Seins als Wollen präge das Denken der Freiheitsschrift, eine These, die in gewisser Weise auch schon auf die Deutung von 1936 zutrifft. Allerdings fällt die Begründung für diese These hier ganz anders aus als 1936, weil sie sich nicht auf den Argumentationsgang Schellings stützt. Wenngleich die Bedeutung des Begriffes »Wollen« für die Interpretation von 1941 noch weitaus entscheidender ist, bleibt ihre inhaltliche Bestimmung durch die Ausblendung des argumentativen Kontextes der Freiheitsschrift unklar und mit ihr die Kritik, die Heidegger an der Bestimmung des Wollens übt. (2) Neu an der Interpretation von 1941 ist auch die Behauptung, dass sich in der Bestimmung des Seins als Wollen das Wesen der Metaphysik überhaupt ausdrücke. Sofern Schelling das Sein als Wollen bestimmt, bringe er, so die geänderte Haltung Heideggers, in der Freiheitsschrift nur zur Vollendung, was den Worten von 1936 zufolge »schon im Anfang der abendländischen Philosophie gesetzt« sei. Inwiefern, so ist also zu fragen, bildet die Bestimmung des Seins als Wollen den Gipfel der Metaphysik? Und wie hängt der Begriff des Wollens mit den anderen Aspekten zusammen, die Heidegger zufolge charakteristisch sind für das metaphysische Denken? (3) Schließlich beinhaltet die 273  Dieser Zusammenhang scheint kaum von der Hand zu weisen. Die einschlägige Untersuchung Pierre Bourdieus über die »Politische Ontologie Martin Heideggers« (Bourdieu (1976)) etwa macht auf einleuchtende Weise deutlich, inwiefern das Werk Heideggers nicht von der politischen Dimension getrennt werden kann, ohne doch in ihr aufzugehen. Zu der gesamten Diskussion vgl. Altwegg (1988).

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These auch noch die Auffassung, dass sich in der Bestimmung des Seins als Wollen die Verfehlung des eigentlichen Seins und die Fixierung auf das Seiende bekunde. Erst durch den Nachweis dieses Zusammenhangs nämlich wäre die »eigentliche Absicht« der Auslegung wirklich erreicht, die »Grund-stellung« der Freiheitsschrift als die Grundstellung der Metaphysik herauszuarbeiten, die sich »durch den leitenden Entwurf auf das Sein als die Seiendheit des Seienden im Ganzen« bestimme (VL 41, 95).274 Da sich die Thesen (2) und (3) allerdings nur andeutungsweise aus dem Subtext erschließen lassen, befasst sich die folgende Analyse hauptsächlich mit der Rolle, die der Bestimmung des Wollens Heidegger zufolge für das Denken der Freiheitsschrift zukommt.

2.2 Sein als Wollen – das Fundament der Freiheitsschrift? a) Die Rolle des Wollens nach der Vorlesung von 1936 Anders als 1941 galt die Bestimmung des Wollens in der Vorlesung von 1936 gerade als Garant für einen »ursprünglicheren« Seinsbegriff. Um den Kontrast hervorzuheben, der sich zwischen den beiden Vorlesungen in dieser Hinsicht ergibt, soll hier noch einmal kurz rekapituliert werden, inwiefern dem Wollen innerhalb der Deutung von 1936 eine positive Bedeutung zukam. Zunächst ergab sich das Votum für die Bestimmung des Seins als Wollen vor allem aus den Überlegungen zum rechten Identitätsverständnis und damit aus der Forderung nach einer schöpferischen Identität. Die Frage nach der Identität schien Heidegger hier in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Problem des ursprünglichen Seinsbegriffes zu stehen. Die »ursprünglichere Begründung der absoluten Identität in einer ursprünglicheren »Copula« deutete Heidegger 1936 als den Versuch der »Begründung eines ursprünglichen Seynsbegriffes« (VL 36, 103). Die Ursprünglichkeit dieses Begriffes wurde dabei vor allem durch eine doppelte Abgrenzung von demgegenüber weni-

274 

Zu ergänzen wäre eigentlich noch ein vierter Punkt. Im Sinne der »geschichtlichen« Auslegung zielt Heideggers Deutung letzten Endes darauf, den metaphysischen Ausdruck des Seins als einen Modus zu verstehen, in dem Sein selbst sich »zuschickt«. Die Geschichte der Metaphysik ist so verstanden eben die Geschichte des Seins, das sich von sich aus als Wollen zu erkennen gibt. Der »leitende Entwurf« der Metaphysik muss demnach auf seinen Ursprung im Sein zurückgeführt werden, der deshalb im Dunkeln liege, »weil bisher Metaphysik nur durch Metaphysik erklärt wurde und erklärt werden konnte« (VL 41, 95). Das eigentliche Ziel der Auslegung, die Metaphysik im Licht der Seinsgeschichte zu verstehen und damit das neue Denken zu realisieren, vollendet sich daher erst mit diesem Schritt, der aber in der Schellingvorlesung selbst höchstens angedeutet wird. Auf dieses Problem wird im Abschnitt über die Vorlesung Der Satz vom Grund und im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit noch einmal eingegangen werden.



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ger »ursprünglichen« Seinsauffassungen verdeutlicht. In Anlehnung an Schellings Argumentation galten dabei einerseits die Neuzeit mit ihrem angeblichen Stellvertreter Spinoza und andererseits die vor allem mit dem Namen Fichtes verbundene idealistische Philosophie als Gegner. Im Blick auf Spinoza (bzw. die Neuzeit) ging es dabei wie gesehen vor allem um ein dynamisches Seinsverständnis, das dem Verständnis des Seins im Sinne von »Vorhandenheit« überlegen sein sollte, und dessen schöpferische Dynamik zugleich die »mechanische« Verbindung von real getrennter Ursache und Wirkung aufheben sollte. Gegenüber Fichte hingegen schien der Vorteil des als Wollen bestimmten Seins, seine Ursprünglichkeit, gerade darin zu bestehen, dass Sein nicht als rein vernünftig bestimmt wird, sondern einen realeren, der Vernunft selbst zugrunde liegenden Anteil einschließt. In beiden Fällen, auch soviel wurde schon deutlich, trat das Wollen im Sinne einer Identität auf, der gegenüber bestimmte traditionelle Trennungen und Gegenüberstellungen, wie die von Sein und Denken und von Subjekt und Objekt, als abgeleitet und damit als weniger ursprünglich erschienen. Wollen fungierte schließlich zuletzt auch als entscheidende Bestimmung, sofern die »ursprüngliche Seinserfahrung«, die Erfahrung der menschlichen Freiheit, verstanden als eine Erfahrung des reinen Wollens, letztlich als Zentrum des Systems bestimmt wurde. Hier erfuhr der Begriff »Wollen« zudem eine zusätzliche inhaltliche Bestimmung, da Wollen im Blick auf die menschliche Urtat als »Verhalten zu« unterschiedenen Möglichkeiten charakterisiert wurde. Zugleich wurde anhand dieser Erfahrung aber auch endgültig deutlich, dass die Bestimmung des Wollens an die Stelle der Einheit von Grund und Existenz rückte und damit die Überlegungen zum Ungrund von ihrer systematischen Stelle verdrängte. b) Die Rolle des Wollens nach der Vorlesung von 1941 Dass Sein tatsächlich als Wollen verstanden werden muss, war der Vorlesung von 1936 zufolge erst am Ende des Durchgangs mit der Etablierung der menschlichen Freiheit angemessen und vollständig begründet. Die Vorlesung von 1941 hingegen, die sich vom Argumentationsgang Schellings löst, geht gewissermaßen entgegengesetzt vor. Die Behauptung, Sein werde von Schelling als Wollen bestimmt, steht bereits am Anfang der Darstellung und kann daher nicht durch den Gang der Auslegung selbst begründet werden. Statt dessen ergibt sich Heideggers Behauptung, Schellings Freiheitsschrift gründe auf der Bestimmung des Seins als Wollen, auf ganz anderem Wege.

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Die Seinsprädikate Heideggers nun also von Schellings Vorlage gelöste Darstellung stößt unmittelbar auf den Begriff des Wollens, da dieser, so die Ausgangsthese, die »Wurzel« der Unterscheidung von Grund und Existenz bilde. Allerdings wird diese Ausgangsthese zunächst gar nicht mit Bezug auf die Unterscheidung in ihrer konkreten Ausprägung begründet. Dass die Wurzel der Unterscheidung in der Bestimmung des Seins zu suchen ist, ergebe sich, so Heidegger, durch eine »einfache Besinnung«: »Wenn jedes Seiende, sofern es ein Seiendes ist, durch die genannte Unterscheidung bestimmt ist, dann muß diese Unterscheidung im Seienden als solchem, d. h. in dessen Sein ihre Wurzel haben« (VL 41, 83). Da Schelling nun in der Freiheitsschrift terminologisch weder von Sein noch von Seiendem spricht, stützt sich Heideggers Argumentation zunächst auf den einzigen Abschnitt der Freiheitsschrift, in dem der Begriff Sein, bzw. »Ursein«, auftaucht. »Es gibt«, so heißt es bei Schelling, »in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als das Wollen. Wollen ist Ursein und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden« (FS 350). Schon 1936 hatte Heidegger denselben Abschnitt zitiert, weil er seine Interpretation des Seins als Wollen hier explizit vorformuliert fand. Dort aber fanden sich zugleich, wie gesehen, weitere inhaltliche Bestimmungen im Zusammenhang mit Schellings Argumentation, die die Bestimmung der Einheit von Grund und Existenz als Wollen zumindest teilweise durchaus gerechtfertigt erscheinen lassen. Innerhalb der Darstellung von 1941 jedoch weist Heidegger dem besagten Abschnitt über das »Ursein« eine wirklich grundlegende Funktion zu. Anhand dieser Textstelle soll nämlich nicht nur gezeigt werden, dass Schelling das Sein als Wollen bestimmt; vielmehr soll darüber hinaus deutlich werden, inwiefern sich hierin der Bezug zur Metaphysiktradition bekundet. Heidegger unterstellt dabei dem genannten Abschnitt eine entscheidende systematische Funktion für die Freiheitsschrift, obwohl dieser zunächst in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Unterscheidung von Grund und Existenz oder den weiteren Ausführungen der Freiheitsschrift steht. Mit Blick auf den kurzen Abschnitt wendet Heidegger sein Augenmerk nun zunächst auf die sogenannten »Seinsprädikate«, die Schelling hier aufzählt, auf »Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung«, sowie auf die Behauptung, allein ein als Wollen verstandenes Sein könne den genannten Prädikaten entsprechen. Damit suggeriert Heidegger, Schelling sei vermittels der »Seinsprädikate«, die er fraglos aus der Tradition der Metaphysik übernommen habe, zu der Auffassung gelangt, Sein müsse als Wollen verstanden werden. Auf diese Weise erscheint die Bestimmung des Seins als Wollen tatsächlich als Resultat des traditionell metaphysischen Denkens, als zentrale Bestimmung, in der die Vielfalt der metaphysischen Begriffe in einer Einheit



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zusammenzulaufen scheint.275 Bei der Diskussion der Seinsprädikate geht es Heidegger damit weniger um die im Titel dieses Abschnitts angeführte »Erläuterung dieser Wesensbestimmung des Seins«, sondern vor allem um den Nachweis einer Verbindung der Freiheitsschrift zur Tradition der Metaphysik, die angeblich Sein als das Fragloseste voraussetze und damit die Frage nach dem eigentlichen Sein stets vermeide. Diese Deutung scheint jedoch den wahren Sachverhalt eher zu verfehlen. Dass Schelling diese Prädikate hier unbefragt und unkommentiert aufzählt, kann kaum als überzeugender Beleg dafür gelten, dass er unbefragte metaphysische Annahmen zur Grundlage der Freiheitsschrift gemacht habe. Viel eher lässt sich dieser Umstand als ein Indiz dafür werten, dass dem zitierten Passus keineswegs die behauptete grundlegende Bedeutung für die Freiheitsschrift zukommt. Heideggers eigene Ausführungen scheinen dies im Folgenden auch selbst zu belegen, da er einräumen muss, dass Schelling in Wahrheit gar nicht im Sinne des hier unterstellten Vorgehens verfährt. Da Schelling eben nicht den Anspruch hat, mit den Seinsprädikaten seine Argumentation zu begründen, fehlt in diesem kurzen Abschnitt nicht nur eine »Rechtfertigung« der Seinsprädikate, also eine Begründung, warum gerade diese Prädikate zur Bestimmung des Seins ausgewählt werden, sondern vor allem auch eine Begründung dafür, dass ausgerechnet die Bestimmung des Seins als Wollen den genannten Prädikaten entsprechen soll. Da Schelling dies, wie Heidegger einräumt, »nicht eigens gezeigt« habe (VL 41, 88), fällt es auch der Darstellung Heideggers entsprechend schwer, einen überzeugenden Zusammenhang herzustellen, zumal eine genauere Klärung dessen, was mit »Wollen« überhaupt gemeint sein soll, ausbleibt. Unter der Überschrift »Inwiefern das Wollen den Seinsprädikaten genügt« zählt Heidegger zwar eine Vielzahl von Aspekten auf, die mit dem Begriff des Wollens verbunden sein sollen, die aber zugleich nur belegen, dass, wie Heidegger formuliert, »in der Überlieferung des metaphysischen Denkens […] das Wesen des Willens mannigfach bestimmt [sei], und das Wort […] für vielerlei in Anspruch genommen [werde]« (VL 41, 87). Damit ist aber auf diesem Stand der Darstellung 275 

Bemerkenswert ist der Umstand, dass Heidegger schon in dem Seminar von 1927/28 auf die »Prädikate des Urseins« verweist und diese mit dem Hinweis versieht: »NB: von hier aus Interpretation und Kritik des Idealismus« (GA 86, S. 52). Überhaupt gibt es gewisse Bezüge zwischen der Interpretation von 1941 und den ersten Annäherungen an die Freiheitsschrift, wie sie in den Seminarmitschriften von 1927/28 vorliegen. Dazu gehört unter anderem der Umstand, dass Heidegger hier schon auf die grundlegenden Strukturen zielte, ohne die Einleitung der Freiheitsschrift und damit auch die Überlegungen zu System und Freiheit in die Interpretation mit einzubeziehen. Darauf weisen auch Philip Schwab und Sebastian Schwenzfeuer in ihrem editorischen Bericht hin: »[B]emerkenswerterweise« fehle »in der Marburger Übung eine Auseinandersetzung mit der Eineitung der Freiheitsschrift, die in der 1936er Vorlesung mehr als die Hälfte des Raums einnimmt, vollständig.« (Schwab/Schwenzfeuer (2010), S. 315). Es spreche auch, wie sie anmerken, »nichts dafür, dass eine Diskussion der Einleitung undokumentiert geblieben wäre« (ebd., Anm. 59).

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

weder die Behauptung gerechtfertigt, dass die Bestimmung des Seins als Wollen für die Freiheitsschrift von grundlegender Bedeutung ist,276 noch, dass es sich dabei um eine Bestimmung handelt, die im Ausgang von der metaphysischen Tradition zwingend ist, die, anders gesagt, im Denken der Metaphysik immer schon angelegt sein soll. Der Abschnitt, der sich mit den Seinsprädikaten beschäftigt, scheint demnach eher rhetorische als argumentative Funktion zu haben.

Wollen als Wurzel der Unterscheidung von Grund und Existenz Interessanter ist daher die Frage, inwiefern das Wollen als »Wurzel« der Unterscheidung von Grund und Existenz angesehen werden kann, die im § 15, »Das Sein als Wollen als die Wurzel der Unterscheidung von Grund und Existenz«, sowie im dritten Kapitel über die »innere Notwendigkeit der Schellingschen Unterscheidung von Grund und Existenz« thematisiert wird. Beide Abschnitte machen allerdings nur knapp drei Seiten der Vorlesung aus und können schon aus diesem Grunde nur andeuten, worum es gehen könnte. Erinnern wir uns; bereits 1936 war Heidegger der Auffassung, dass, wenngleich Schelling so nicht verfahre, eine »Wesenszergliederung des Wollens« auf die beiden Momente von Grund und Existenz führen müsste. Während es allerdings im Rahmen der Vorlesung von 1936 nicht weiter stört, dass Heidegger selbst keine »Wesenszergliederung« des Wollens vornimmt, um diese Behauptung zu belegen, müsste es im Kontext der Vorlesung von 1941 gerade darum gehen, den Zusammenhang zwischen dem Wollen und der Unterscheidung genauer in den Blick zu bringen. Zwar wird der Leser auch in dieser Hinsicht enttäuscht, da die Argumentation kaum durchsichtig ist, doch scheint es auf der anderen Seite immerhin so, als würde Heidegger hier stärker als 1936 seinen Blick wirklich auf die grundlegenden Strukturen der Freiheitsschrift, auf die beiden Momente von Grund und Existenz sowie auf die Frage nach der Einheit der Momente, richten. Der Begriff der Wurzel, so macht Heidegger an dieser Stelle deutlich, soll zwei Bedeutungen haben. Einerseits soll er zum Ausdruck bringen, dass die Unterscheidung aus dem Wollen »entspringt« (VL 41, 89), dass Wollen also der Ursprung der Unterscheidung ist, so dass es die Unterscheidung – das legt der Begriff des »Entspringens« nahe – in gewisser Weise »bewirkt«. Daneben aber soll 276 

Dies sei auch gegen Wolfgang Janke eingewendet, der sich genau der Vorgehensweise Heideggers anschließt, obwohl er Schelling gar nicht im Zusammenhang mit Heidegger, sondern mit Spinoza und Jacobi betrachtet. Vgl. Janke (2008), S. 307: »Was sich in dieser außergewöhnlichen Unterscheidung von Wesen und Existenz entzweit, ist das Ursein. Und Ursein, ausgezeichnet durch die vier Prädikate Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung, ist Wille«. Auch hierin dokumentiert sich wohl der große Einfluss Heideggers auf die Schellingforschung.



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»Wurzel« auch noch die Bedeutung haben, dass »das Unterschiedene den Charakter von Wille« habe (ebd.). Heidegger nimmt zwar nicht eigentlich eine Trennung dieser beiden Aspekte vor. Dennoch zielen sie, vielleicht ungewollt, ins Herz des Vermittlungsversuchs Schellings, der, wie gesehen, verschiedene, durchaus widersprüchliche Strukturmodelle anhand des Zusammenhangs von Ungrund, Grund und Existenz miteinander in Einklang bringen wollte (vgl. Kapitel I). Geht man einmal beiden Aspekten getrennt nach, so wird deutlich, dass Wurzel im ersten Sinne sich vor allem auf den zwar zirkulär, aber doch zugleich zeitlich strukturiert gedachten Prozess beziehen lässt, der sich im Ausgang von der Teilung des Ungrundes in Grund und Existenz bis hin zur Realisation der wahren Einheit in der Liebe Gottes vollzieht. Dabei lässt sich der Ungrund selbst, als vollkommene Indifferenz, zwar kaum mit der Bestimmung des Wollens identifizieren. Da aber Schelling zugleich davon spricht, dass dieser Ungrund sich teilt, damit Gott sich am Ende des Prozesses in der Liebe verwirkliche, ließe sich durchaus mit Heidegger sagen, dass der Ursprung des Prozesses, sein Anfang also, im Willen Gottes begründet liegt. Der Ursprung der Unterscheidung ist damit in diesem Sinne nicht der Ungrund als Indifferenz, als Ursprung kann vielmehr der Wille Gottes (des Ungrundes?) gelten, sich in der Liebe nunmehr nicht als Indifferenz, sondern tatsächlich als Einheit zu verwirklichen. In diesem Sinne enthält das Strukturmoment des Ungrundes auch einen Anteil von Wollen, ohne allerdings – wie Heidegger suggeriert – darin aufzugehen.277 Interessanterweise lässt sich dann auch der andere Aspekt, den Heidegger anführt, der nämlich, dass »das Unterschiedene den Charakter von Wille« habe, gerade auf das andere Strukturmodell beziehen, das mit dem Ungrund ebenfalls erfasst werden soll und das im Zusammenhang mit der Freiheitsschrift bereits auf das Verhältnis zwischen der Substanz und den Attributen bei Spinoza bezogen wurde. Dass beide Momente als Wille bestimmt werden können, liegt eben darin begründet, dass jedes der beiden Momente jeweils das ganze Wesen des Ungrundes ausdrücken sollen. Dass der Ungrund als Indifferenz bestimmt ist, bedeutet in dieser Hinsicht, dass von ihm unterschiedliche, auch gegensätzliche Bestimmungen, gleichermaßen prädiziert werden können. Der Ungrund ist, soviel machte der Vergleich mit Spinoza deutlich, in eben der Weise gegen seine Prädikate indifferent, in 277  Auch

in diesem Fall ist ein Vergleich mit dem frühen Seminar insofern interessant, als Heidegger hier dem Moment des Ungrundes und der Frage nach der Gleichursprünglichkeit der beiden Momente von Grund und Existenz mehr Aufmerksamkeit zukommen lässt. Vgl. GA 86, 538: »Warum muß überhaupt die Indifferenz, die Ungeschiedenheit des Ungrundes (Urgrundes) aufgehoben werden? Schellings Antwort darauf lautet […]: Wegen des Selbstoffenbarungswillens Gottes, ›weil Gott notwendig sich offenbaren muß, und weil in der Schöpfung überhaupt nichts Zweideutiges bleiben kann.‹ Frage: Wo ist noch Zweideutiges möglich innerhalb der absoluten Indifferenz? Das ›Sowohl-als auch‹ ist Ausdruck für Zweideutigkeit, sodaß es aussieht, als ob Schelling den Ungrund hier so fasst, wie er selbst es ablehnt, ihn zu fassen.«

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der auch die spinozische Substanz gegen ihre Attribute indifferent ist. Wie die Substanz selbst weder Ausdehnung noch Denken ist, sondern im Wesen potentia, also eine Ausdrucksmacht, die sich als Entstehungs- oder als Denktätigkeit ausdrückt, so könnte man den Ungrund bestimmen als ein Wollen, das weder das Wollen des Grundes, noch das der Existenz (bzw. des Verstandes, wie es in der Freiheitsschrift heißt) ist, sondern das sich nur in diesen Momenten auf die ein oder andere Weise ausdrückt. Im Kapitel über die Freiheitsschrift wurde dieser Problematik ausführlich nachgegangen und aufgezeigt, welche verschiedenen Modelle hier in Einklang gebracht werden sollen und wo die Unvereinbarkeiten besonders auffallen. Dort wurde deutlich, dass Schelling hier nicht nur versucht, Spinoza mit einem Selbstbewusstseinsmodell in Anlehnung an Fichte zu vermitteln, sondern zugleich auch die Vorstellung eines persönlichen Schöpfergottes in die Freiheitsschrift einzubringen. Von diesem Vermittlungsversuch grundlegend mit betroffen ist eben auch der Begriff des Wollens. In diesem Sinne hatte Schelling selbst von einem »mittleren« Wollensbegriff gesprochen, auf den es ankäme, eine Forderung, die Heidegger schon 1936 eindeutig unterstützt hatte. Wie aber ein Mittelbegriff zwischen der Vorstellung des absichtsvollen Handelns eines Schöpfergottes im Sinne Jacobis mit der eines reinen Wirkens aus einer Wirkungsmacht im Sinne Spinozas gedacht werden soll, blieb hierbei völlig ungeklärt.278 Dabei zielt Heideggers Kritik an Schelling weder 1936 noch 1941 auf die Aufdeckung von Widersprüchlichkeiten – im Gegenteil. Die zugestandene Unverständlichkeit bestimmter Darstellungen der Freiheitsschrift galt Heidegger 1936 als Anzeichen der besonderen Ursprünglichkeit des Denkens, mit dem sich die Freiheitsschrift vom alltäglichen (und damit auch vom zu überwindenden metaphysischen Denken) unterschied. Hier nun, 1941, kann es auf die Herausstellung von Widersprüchen noch viel weniger ankommen, denn was Heidegger hier zu zeigen versucht, ist ja gerade, dass Schelling mit der Bestimmung des Seins als Wollen eine offenbar das metaphysische Denken befriedigende Lösung vorlegt. Heideggers Darstellung orientiert sich daher nicht systematisch an den Strukturen von Grund, Existenz und Ungrund und versucht, diese in ihrem Verhältnis zueinander kritisch zu beleuchten. Statt dessen übergeht er die Probleme, die mit der Bestimmung des Seins als Wollen verbunden sind und verwendet seinerseits den Begriff des Wollens so, als verstünde dieser sich von selbst. Offenbar zielt Heideggers Begriff von Wollen hier eben auf eine Versammlung aller 278  Dieses

Problem wird auch im frühen Seminar von 1927/28 nicht geklärt, wo Heidegger die Begriffe von »Ichheit«, »Ursein« und »Drang« in gewisser Weise synonym verwendet (Vgl. GA 86, 541). Dabei nimmt Heidegger es als mehr oder weniger selbstverständlich hin, dass das als »Drang« oder auch als »Werden« bestimmte Sein zugleich eine Selbstbezüglichkeit beinhaltet. Schelling fasse, wie es heißt, das Offenbarwerden als »Konstitutivum des Seins, weil bei ihm Sein = Werden, Werden aber besagt: Sich-empfindlich-werden, so daß Sein heißt: Sich-bewußtsein, Ichheit« (GA 86, 543).



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Aspekte, die von ihm zur mannigfachen Bestimmung des Wollens innerhalb der metaphysischen Tradition gerechnet werden. Dabei stehen Konzepte unterschiedlichster Art nebeneinander, der appetitus von Leibniz neben einem Kantischen Willensbegriff, der griechische λόγος neben Nietzsches Willen zur Macht.279 Inwiefern dieses Wollen überhaupt als einheitliches Konzept aufgefasst werden kann, ob sich nicht anders gesagt dieser Begriff vielmehr durch die Versammlung widersprüchlicher Begriffe wie dem eines Wirkens aus einem Wirkprinzip hinaus oder dem eines Handelns nach Absichten als Einheitskonzept gerade aufhebt, wird von Heidegger nicht untersucht. Das Zentrum der Argumentation, der Begriff des Wollens, bleibt zumindest im Blick auf die Betrachtung der Rolle, die diesem Begriff im Rahmen der Freiheitsschrift zukommen soll, vorerst unbestimmt, wodurch zugleich die Behauptung, dass Schelling das Sein als Wollen bestimme, gegenüber der Darstellung von 1936 an Plausibilität verliert.

2.3 Die Rolle des Wollens im Blick auf die gesamte Metaphysik Das metaphysische Denken, so will Heidegger im Rahmen dieser Vorlesung zeigen, gipfelt im Denken der Freiheitsschrift, das wesentlich dadurch charakterisiert sein soll, dass es das Sein als Wollen bestimmt. Im Sein als Wollen drücke sich demzufolge das Wesen der Metaphysik aus. Wollen selbst bildet den Gipfel, gewissermaßen einen Brennpunkt der metaphysischen Bestimmungen, die im Begriff des Wollens umgekehrt formuliert zusammenlaufen sollen. Damit aber scheint Heidegger in gewisser Weise gerade das sagen zu wollen, was der Passus aus der Freiheitsschrift mit der These »Wollen ist Urseyn« bereits auszudrücken schien: dass es eine bestimmte Anzahl charakteristischer Bestimmungen für das metaphysische Denken gibt, und dass der Begriff des Wollens all diese Aspekte vereint. Damit wiederum richtet sich an Heidegger der Anspruch, der sich an Schelling insofern nicht richtete, als dieser die Freiheitsschrift eben nicht auf der Frage des Zusammenhangs zwischen dem Wollen und den Seinsprädikaten errichtete: die in Frage stehenden metaphysischen Denkweisen und Begriffe einerseits als typisch metaphysisch auszuweisen und zudem zu zeigen, inwiefern diese gerade in der Bestimmung des Seins als Wollen gipfeln oder auch nur mit derselben zusammenhängen. Einem derart systematischen Anspruch stellt Heidegger sich in der Vorlesung allerdings nicht und die Antwort auf die eine wie auch auf die andere Frage muss daher letztlich ausbleiben. Deutlich wird höchstens, dass es in Wahrheit einen bzw. zwei konkurrierende Begriffe gibt, die viel eher geeignet scheinen, das Zentrum des metaphysischen Denkens im Sinne Heideggers zu bilden. Gemeint sind die Begriffe ὑποκείμενον bzw. subjec279 

Vgl. VL 41, 87/88.

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tum, von denen der Begriff subjectum mit der Assoziation von Subjektivität vielleicht noch zentraler ist als derjenige des ὑποκείμενον. In Wahrheit lassen sich die meisten der behandelten oder angerissenen Aspekte und Begriffe viel eher in Bezug auf das Problem von Subjektivität verstehen.280 Dazu gehören Begriffe wie Selbstheit, Egoität und Selbstbezüglichkeit, aber auch Bewusstsein, Vorrang des Verstandes oder der Begriff der Vorstellung. Eine Textstelle aus dem Anhang belegt sowohl den Zusammenhang der hier genannten Begriffe als auch die zentrale Rolle, die Heidegger den Begriffen von ὑποκείμενον und subjectum zuweist: »ὑποκείμενον in der lateinischen Übersetzung: das sub-jectum (sub-stans). Jedes Seiende ist als Seiendes subjectum. Dieser Satz gilt für alle Metaphysik von Platon bis zu Nietzsche. Aus diesem Satz ist aber auch erst zu begreifen, inwiefern in der neuzeitlichen Metaphysik die ›Subjectivität‹ zum metaphysischen Grundbegriff wird, wobei ›Subjectivität‹ ›Selbstheit‹ – vorstellende Rückbezogenheit auf sich – besagt« (VL 41, 162, Herv. Heidegger). Das genannte Problemfeld der Subjektivität spielte schon in der Vorlesung von 1936 eine Rolle, allerdings blieb es dort vor allem auf die Darstellung des neuzeitlichen Systems beschränkt. Kritisiert wurde dort vor allem das falsche Verhältnis von Mensch und Sein. Die Grundlage dieser Kritik schien in der angeblichen Trennung von Mensch und Sein, von erkennendem Subjekt und erkanntem, vorgestelltem Objekt zu liegen, die zudem mit einem einseitigen Schwerpunkt auf der Seite der Subjektivität einherzugehen schien. In diesem Sinne gehört der angebliche, hier erneut angeführte Vorrang der Gewissheit vor der Wahrheit ebenfalls in den Komplex von Subjektivität. Auch die Frage nach der Beherrschung des Seins durch das Subjekt spielte dort im Zusammenhang mit Descartes eine Rolle. Überlegen schien demgegenüber ein Denken, das vor allem auf eine den Trennungen zugrundeliegende Einheit von Mensch und Sein, von Erkennen und Erkanntem, zielte.281 280 Dieser

Eindruck wird durch die Seminarnotizen von 1941 unterstützt, in denen der Begriff der Subjektivität eine große Rolle spielt. Vgl. z. B. die folgenden Stellen: »Die Unvergleichbarkeit der Metaphysik und des seynsgeschichtlichen Denkens wird dort offenbar, wo der Schein ihrer Selbigkeit am stärksten und unmittelbarsten ist – in der Metaphysik der unbedingten Subjektivität […]. Woran liegt das? Daran daß die unbedingte Subjektivität alles in die Seiendheit auflöst und dies als das Seiendste selbst und als Bewegung und Wille entfaltet und so den Schein verstärkt und festmacht, als werde hier das Sein erfragt, während doch gerade das ›Sein‹ längst entschwunden ist […]« (GA 86, 213, Herv. Heidegger). »Subjektivität als Selbstheit – also Freiheit – des unbedingt wollenden Wissens – in welchem Sinne ›System‹? ›System der Freiheit‹ ist ein anderer Name für das System der Subjektivität – wobei freilich die anthropologisch bewußtseinsmäßige Deutung des ›Subjekts‹ sich einmischt. Subjektivität als der eigentliche und einzige Grund des Systems« (ebd., 228, Herv. Heidegger). »Sobald sie [die Freiheit, metaphysisch verstanden, K.S.] in die Mitte rückt (in der neuzeitlichen Metaphysik) einigt sie in sich die Bestimmungen der Ur-sache und der Selbstheit – (des Grundes (Unterlage) und des Zu-sich, Für-sich), d. h. der Subjektivität« (ebd., 231, Herv. Heidegger). 281  Dabei war es gerade die als Wollen bestimmte Einheit, die in diesem Fall positiv bewertet wurde. Am deutlichsten wird das vielleicht im Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit, die



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Der Komplex von Problemen, Begriffen und Fragestellungen, den Heidegger hier mit dem Begriff des Wollens zu verbinden sucht, ist selbst bereits heterogen und in seinem Zusammenhang letztlich unklar, weil die Bestimmungen eigentlich nur nebeneinander gestellt und nicht wirklich aufeinander bezogen werden. Nun ist der Versuch, diese Mannigfaltigkeit im Begriff des Wollens zusammenzuführen, nicht eben angetan, die Lage zu vereinfachen. Anstatt deutlich zu machen, inwiefern all die genannten Bestimmungen im Begriff des Wollens ihren höchsten Ausdruck und ihren einheitlichen Zusammenhang finden, wird die Sache durch den Bezug auf das selbst unklar bestimmte Wollen noch einmal komplizierter. Ein gutes Beispiel für Heideggers Verfahren, möglichst viele Begriffe in einem Satz zu versammeln und damit deren Zusammenhang zu suggerieren, ohne aber doch mehr zu tun, als die Begriffe unverbunden nebeneinander zu stellen, bildet folgender Abschnitt, der eine Art Kulminationspunkt darstellt: »Der Wille ist subjectum zumal, 1. als ὑποκείμενον; aber willentlich, strebig […]; »Basis«; 2. als Egoität, Bewusstsein; Geist, »Wort«, logos. Im Sein als Wollen kam der Subjectumscharakter des Seienden in jeder Hinsicht zur Entfaltung. Wenn Seiendheit in aller Metaphysik subjectum (griechisch und neuzeitlich), wenn Ur-sein aber Wollen, dann muß Wollen das eigentliche subjectum sein, und zwar in der unbedingten Weise; des Sich-wollens« (VL 41, 90, Herv. Heidegger). Wenngleich der Abschnitt nur scheinbar beweisenden Charakter hat, so lässt sich doch hier immerhin Verschiedenes ablesen. Einerseits dürfte deutlich werden, dass Heidegger unter subjectum in der Bedeutung von 1. auf das Moment des Grundes, in der Bedeutung von 2. hingegen auf das der Existenz, also auf beide Momente der Schellingschen Unterscheidung zielt. Erkennbar wird aber damit zugleich, dass er beide als Ausdruck von subjectum fasst, weshalb subjectum als der grundlegende Begriff, Wille hingegen eher als Zusatz erscheint, der sich, wenn überhaupt, im »willentlich, strebig« ausdrückt. Sogar die Unterscheidung von 1) und 2) scheint diesem Abschnitt zufolge schon im Begriff von subjectum angelegt. Dieser Argumentation zufolge könnte also auch der Begriff subjectum als Wurzel der Unterscheidung gelten Damit scheint es hier vielmehr so, dass in der Bestimmung subjectum – die allerdings auch nicht klarer zu fassen ist als die von »Wollen« – das Wesen aller Metaphysik zum Ausdruck kommt, das sich im Willen, so will Heidegger wohl sagen, voll entfaltet.

allerdings in der Vorlesung von 1941 ausgeblendet bleibt. Hier erschien eben die Erfahrung der menschlichen Freiheit als Einheit des Menschen mit dem Sein und zugleich als Einheit von Wollen und Gewolltem, als Aufhebung der Trennung also von Subjekt und Objekt.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Wollen ist insofern der Gipfel der Bewegung, als sich die beiden Momente, in denen sich Wollen bei Schelling präsentiert, ihrerseits auf bestimmte Ausprägungen von »subjectum oder ὑποκείμενον« zurückbeziehen lassen, so dass es am Ende scheint, als würde der »Subjectums«gedanke sich ausdifferenzieren und zuletzt das gesamte Denken bestimmen. Dabei kann man sich nun allerdings fragen, was damit gewonnen sein soll, dass ganz unterschiedliche Bestimmungen, wie schon beim Wollensbegriff, aufeinander bezogen und für auf irgendeine Weise miteinander identisch erklärt werden. Sie alle weisen angeblich auf ein identisches Wesen, sollen Ausdrücke einer identischen Macht, des Wesens der Metaphysik darstellen, das sich wiederum in einem bestimmen Seinsverständnis ausdrücken solle. Doch was kann man von diesem Seinsverständnis, von dieser den unterschiedlichen Bestimmungen zugrundeliegenden Einheit, wirklich sagen? Wird Sein als subjectum verstanden und wenn ja, was heißt das? Ist das subjectum in Wahrheit Wollen, und wenn ja, in welcher Bedeutung? Wir wissen also aus den Darlegungen keineswegs, worin das Wesen der Metaphysik, worin also die behauptete Einheit bestehen soll. Noch weniger wissen wir damit aber, warum dieses Seinsverständnis, das sich auf derart komplexe Art und Weise in unterschiedliche Begrifflichkeiten hin ausdrückt, deren Einheit kaum auszumachen ist, das Sein auch noch wesentlich verfehlen und verstellen soll. Genau genommen ist ja all das auch noch gar nicht als Kritik zu verstehen, weil der Bezug zur zentralen These fehlt, dass sich in diesen Ausdrücken stets nur Seiendheit bekunde, während das Sein selbst, das eigentliche Sein, gar nicht in den Blick gerate. Eben dieser Bezug aber bleibt gänzlich ungeklärt, sowohl im Blick auf die Bestimmung des Wollens, als auch im Zusammenhang mit dem Begriff von subjectum oder den anderen damit verbundenen Begrifflichkeiten. Der Umstand, sowohl das als subjectum als auch das als Wollen verstandene Sein erfasse prinzipiell nur Seiendes im Unterschied zum Sein, wird schlicht behauptet und durch die Ausführungen weder zum Wollen noch zu den anderen Bestimmungen in irgendeiner Weise verdeutlicht. Tatsächlich ist das gesamte Verfahren Heideggers hierbei grundlegend zirkulär, wie sich unter anderem am oben zitierten Abschnitt zeigen lässt. Die Argumentation lässt sich so darstellen: Weil gelten soll (1) »Seiendheit ist subjectum« und (2) »Ursein ist Wollen« gelte schließlich (3) »Wollen ist subjectum«. Abgesehen davon, dass schon die Prämissen unbewiesen sind und die Folgerung sich zudem nur aus der Gleichsetzung von Seiendheit und Ursein ergibt, scheint durch diese Argumentation auch nicht viel gewonnen. Weder wird deutlich, inwiefern die Bestimmung des Wollens zur Klärung des Begriffes subjectum beiträgt, noch wird die Behauptung gestützt, dass das als Wollen bestimmte subjectum sich nur auf Seiendes, nicht aber auf Sein bezieht. Was an dem genannten Abschnitt exemplarisch gezeigt wurde, lässt sich allerdings auf die gesamte Darstellung Heideggers übertragen. Die Behauptung, das metaphysische Denken, egal ob auf subjectum oder Wollen hin ausgerichtet, richte sich stets nur auf Seiendes, wird von Anfang an gesetzt



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und in die metaphysischen Bestimmungen hineingelegt, um am Ende als Ergebnis der Betrachtungen präsentiert zu werden. Auf diese Art bleiben letztlich alle drei Teile der Gesamtthese, Schellings Freiheitsschrift bilde den Gipfel des metaphysischen Denkens, gar nicht oder nur unbefriedigend beantwortet. Warum die Bestimmung des Seins als Wollen das Denken der Freiheitsschrift prägen soll, wird weniger überzeugend deutlich als noch 1936, wo zumindest klarer wurde, was unter dem Begriff des Wollens verstanden werden sollte. Warum sich zudem im Wollen das Wesen des metaphysischen Denkens überhaupt ausdrücken solle, bleibt ebenso ungeklärt wie die Behauptung, dass sich hieran die Fixierung der Metaphysik auf das Seiende im Unterschied zum Sein erkennen lasse.

3. Heideggers Verhältnis zu Schelling: Kritik oder Affirmation? Die bisher dargestellten Zusammenhänge sind allesamt Teil der Vorbetrachtung, die der eigentlichen Auslegung der Freiheitsschrift voraus liegen und die auf den Inhalt derselben kaum Bezug nehmen. Sie dienen dazu, die Freiheitsschrift unter einem bestimmten Blickwinkel, d. h. bereits im Lichte einer ganz bestimmten Sichtweise in den Blick zu nehmen, in dem jedes Detail als Bestätigung dafür verstanden werden soll, dass es sich dabei tatsächlich um eine Vollendungsgestalt des metaphysischen Denkens handelt. In diesem Sinne versteht Heidegger nun auch den Aufbau der Freiheitsschrift als Ausdruck der klassischen Einteilung der metaphysica specialis, indem er behauptet, dass »vom Seienden her« – und zwar von Gott, Welt und Mensch – »auf diese Unterscheidung [von Grund und Existenz hingeführt werde« (VL 41, 94).282 Nachdem aber die bisher vorgenommene Verortung der Freiheitsschrift nicht überzeugen konnte, erstaunt es nicht, dass auch dieser Bezug letztlich ohne Aussagekraft bleibt, wenn es um die konkrete Interpretation geht. Auch die immer wieder einfließenden Bemerkungen, die deutlich machen sollen, dass sich hier das eine, das Sein verfehlende Wesen der Metaphysik ausdrückt, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der konkreten Auslegung immer wieder auch um eine Rekapitulation dessen handelt, was Heidegger bereits in der Vorlesung von 1936 über die Freiheitsschrift zu sagen hatte. Die Übereinstimmung erstreckt sich bis in einzelne Formulierungen hinein und offenbart sich besonders an denjenigen Stellen, an denen Heidegger die Hörer explizit an den Vorlesungstext von 1936 verweist.283 Nachdem die dort entwickelte Interpretation aber von einer grundle282  Das vermittelt den Eindruck, als werde die Unterscheidung im Ausgang von verschiedenen Seienden entwickelt, obwohl es andererseits heißt, das jeweilige Seiende sei immer »schon im Sinne der Unterscheidung ausgelegt« (VL 41, 94). Hierin ist ein weiteres Beispiel für die grundlegende Zirkularität der Argumentation zu sehen. 283  Vgl. z. B. den Abschnitt über die »Copula« (VL 41, 98 f.).

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

genden Affirmation geprägt war, von der Überzeugung, dass es sich hierbei gerade nicht um den typischen Ausdruck einer das Sein verstellenden Metaphysik handle, ist nicht weiter erstaunlich, dass Heideggers Versuch, hier bei jeder Gelegenheit auf den Einfluß des Wollens bzw. des Subjectumsgedankens hinzuweisen, zu einem insgesamt verworrenen und selbstwidersprüchlichen Bild führt.284 Auch hier ist es vor allem die unvermittelt nebeneinandergestellte Fülle der unterschiedlichsten Denker und Konzepte, die einem einheitlichen Verständnis der Interpretation entgegenstehen. Im gleichen Maße ist auch hier das Verfahren erkennbar, unterschiedlichste Begriffe assoziativ zu verbinden, für auf irgend eine Weise identisch zu erklären, und zudem den Eindruck einer Argumentation zu erwecken, wie sich etwa an folgendem Beispiel zeigt: Wenn das Absolute der Geist ist, der Existierende, die unbedingte Subjektität, dann weist dieser Vorrang des Absoluten, d. h. seiner Gewißheit, d. h. seiner Wahrheit, d. h. seiner Offenbarkeit, d. h. seiner Existenz, auf den Vorrang des subjectum als solchen« (VL 41, 119). Diese allgemein gehaltene Kritik, die sich an abstrakt bleibenden, insgesamt unbestimmten Begriffen orientiert, ist letztlich von untergeordnetem Interesse. Interessanter ist es hingegen, zu betrachten, wie sich die konkret an Schellings Freiheitsschrift orientierte Kritik gestaltet. Der Aspekt der Endlichkeit scheint hier keine Rolle mehr zu spielen, was sich aber schon allein daraus ergibt, dass das Problem der menschlichen Freiheit selbst kaum thematisiert wird, aus der sich die Hinweise zur Endlichkeit ergaben. Statt dessen aber greift die Vorlesung von 1941 Aspekte auf, die schon im Rahmen der Vorlesung von 1936 im Zusammenhang mit dem Scheitern gegen Schelling eingewendet wurden, weshalb sich die eigentlichen Kritikpunkte ähneln. Allerdings besteht ein eindeutiger Unterschied wohl darin, dass die Kritikpunkte nunmehr auf den Begriff des Wollens hin fokussiert werden, der dazu dient, den Ursprung bzw. die Gründe für das Scheitern der Freiheitsschrift aufzuzeigen, um diese als Erbe des problematischen Ansatzes der Metaphysik überhaupt auszuweisen. Wie gesehen orientierte sich die Kritik im Rahmen der Interpretation von 1936 am Begriff des Systems, weil das System, wie es hieß, einseitig dem Verstand zugeordnet wäre und daher den Grund in seiner Gegenstrebigkeit ausschließen müsse. Im vorliegenden Zusammenhang scheint der Begriff des Systems zunächst keine Rolle mehr zu spielen, wohl aber das angebliche Überwiegen des einen Momentes, der Existenz, die zugleich dem Verstand zugeordnet sei – ein Kritikpunkt, der im 284  Vgl.

z. B. die Ausführungen bei VL 41, 121 zur These »Begreiflicher ist, daß das Seiende (d. h. Absolute) ist als daß ›Nichts‹ ist«, die nun doch auf einmal zwischen dem Denken des Wollens und dem der Anwesenheit und des Herstellens unterscheiden und damit die oben zitierte Behauptung untergraben.



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Zusammenhang mit der Vorlesung von 1936 nicht zu überzeugen vermochte. Hier, 1941, bezieht Heidegger das Überwiegen des Verstandes nun auf den Begriff des Wollens, da der Verstand, wie es bei Schelling heißt, »eigentlich der Wille in dem Willen« sei. Demzufolge gelte, dass der Verstand »das eigentlich Wollende, sich in die Verwirklichung Er-strebende und diese (Idea) Setzende« (VL 41, 88) sei. Zunächst einmal scheint es sich dabei nun um den Einwand zu handeln, die Freiheitsschrift sei selbst noch Ausdruck eines idealistischen Denkens. Während Heidegger also 1936 der Auffassung war, dass Schellings Freiheitsschrift den Idealismus durch einen ursprünglicheren Seinsbegriff in seiner einseitigen Einschränkung auf die Vernunft überbiete, so scheint er nun der Überzeugung zu sein, dass es sich in Wahrheit auch dabei noch um eine Fortsetzung des Idealismus handelt. Dieser Kritikpunkt scheint insofern gerechtfertigt, als es sich bei Schelling – wie im Zusammenhang mit den Stuttgarter Privatvorlesungen deutlich wurde – um den Versuch handelte, ein idealistisch verfasstes Selbstbewusstseinsmodell mit dem spinozischen Substanzmodell zu vereinbaren.285 In diesem Sinne schien die mit B bezeichnete Realität von vornherein schon von der Idealität gesetzt, als Potenz von A also, die treffender mit A1 statt mit B bezeichnet wäre. Sofern sich aber Heideggers Kritik nicht auf einen reinen Verstand, sondern auf einen selbst willentlich verfassten Verstand bezieht, meint er zugleich ein Anderes, was sich mit Blick auf die zweifache Bestimmung des Wollens als Wurzel bestimmen lässt (vgl. oben). Als Wurzel bzw. als Ursprung des Prozesses kann der Ungrund nur insofern verstanden werden, als er sich willentlich zur Offenbarung entschließt, und sich so, wie ebenfalls anhand der Stuttgarter Privatvorlesungen deutlich wird, auf eine Potenz einschränkt, von der ausgehend er sich dann wieder entfaltet und schließlich zu sich kommt. Auch hierbei aber gilt, dass ein Prozess nur gedacht werden kann, weil der Ungrund (also A0) letztlich doch nicht oder zumindest nicht nur als Indifferenz von A und B (und noch weniger als Indifferenz von B und C) sondern immer schon als A, d. h. schon als Gott bestimmt ist, der sich nur noch nicht in seiner eigentlichen Gestalt, der Liebe, verwirklicht hat. Obwohl es also bei Schelling explizit heißt, kein Moment des schöpferischen Zirkels habe zeitliche oder logische Priorität, scheint Heidegger in gewisser Hinsicht dennoch recht zu haben mit der Behauptung, dass in der Unterscheidung »die Existenz die Priorität im Sinne der Superiorität im actus« (VL 41, 104, Herv. Heidegger) habe und dass die oberste Einheit als einseitige bestimmt sei, in der das »Verbindende als das eine Element, nämlich die Existenz«, in Wahrheit vor dem Grund »ausgezeichnet« werde (ebd.). Die Behauptung, dass der Begriff der Existenz überwiege, findet sich an vielen Stellen der Vorlesung, oft in Verbindung mit Leibniz, dessen ausgezeichnete Rolle

285 

Vgl. Kap.I, 4.3.

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wie 1936 erhalten bleibt, in ihrer Wertung jedoch zugleich verkehrt wird.286 Leibniz, der Vordenker der Freiheitsschrift, wird im Zuge der gewandelten Haltung zu Schelling nun auch zu einem ausgezeichneten Vertreter der metaphysischen Tradition erklärt und übernimmt damit eine entscheidende Rolle in Heideggers Darstellung der Metaphysikgeschichte, die im Weiteren noch deutlicher hervortreten wird.287 Damit, so könnte man vorläufig annehmen, müsste nun auch Spinoza in den Fokus der Kritik Heideggers rücken, dessen Position ja in wesentlichen Zügen mit derjenigen Leibniz’ übereinstimmt. Tatsächlich aber kann hier nicht mehr die Rede davon sein, dass die nunmehr kritisch betrachtete Position von Leibniz als Stellvertreter für die Position Spinozas gelten kann, weil das Denken von Leibniz – ungeachtet der Frage, ob diese Deutung zutreffend ist oder nicht – eben für den Vorrang des Idealen herangezogen wird, die man Spinoza nicht zuschreiben kann. Das wird schon allein daran deutlich, dass das Selbstbewusstseinsmodell, in dem B als Potenz von A und damit einseitig bestimmt wird, mit dem an Spinoza orientierten Modell, in dem B und C als gleichwertige Ausdrücke von A verstanden wurden, in Wahrheit unvereinbar blieb. So betrachtet scheint es, als kritisiere Heidegger 1941 vor allem solche Aspekte, die Schelling über Spinoza hinaus in sein System einzubringen versuchte, (Selbst-) Bewusstsein, Personalität und vor allem die Vorstellung vom persönlichen, sich offenbarenden Schöpfergott.288 Diese Betrachtung scheint sich mit der Kritik an der Subjektivität zu decken, die mit dem Begriff des subjectums ins Spiel kam. Die Fixierung auf den Begriff des Wollens und den Assoziationsraum von Subjektivität aber scheint hier wie bereits 1936 den Gedanken des Ungrundes und damit auch entscheidende Anliegen der Freiheitsschrift in

286  Vgl. z. B. »Praevalenz der Existenz vor der Nicht-Existenz, vgl. Leibniz« (VL 41, 118) und »Wie ist das Verhältnis zu Leibniz? Vorrang der ›Existenz‹, da existentia: essentiae exigentia« (VL 41, 121). 287  An der Figur von Leibniz zeigt sich vor allem, dass die Entwicklung, mit der der Idealismus über die Philosophie der Neuzeit hinausgeht, nun insgesamt nicht mehr als ein Fortschritt und als Bewegung auf das wahre Seinsverständnis zu, sondern als Fortsetzung des in der Neuzeit begonnenen Denkens und damit als eine dem neuzeitlichen Denken gegenüber noch verstärkte Form der Verdeckung des eigentlichen Seins gewertet wird. Vgl. VL 41, 163: »Den ersten Schritt zu dieser Bestimmung [der Subjectivität] vollzieht Descartes […]. Den zweiten Schritt und den nicht weniger entscheidenden vollzieht Leibniz […] Seine metaphysische Grundstellung bezeichnet den eigentlichen Wendepunkt der voraufgehenden Metaphysik zu derjenigen des deutschen Idealismus.« 288  Diese Parallele zwischen Heidegger und Spinoza wird auch von Jean Marie Vaysse hervorgehoben, der in Spinoza den Vertreter einer Philosophie erkennt, die einer im Sinne Heideggers als Willensdenken charakterisierten Metaphysik entgegensetzt ist. »La déstruction du concept de possible«, so Vaysse, »permet de déraciner une doctrine de la volonté où l’être actuel est l’effet d’un vouloir faisant passer à l’acte un possible conçu par un entendement, et permettant de dire que c’est en vue du bien que le possible s’actualise« (Vaysse (2004), S. 53).



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den Hintergrund treten zu lassen. Dass Gott sich zur Schöpfung entschließt, ist eben nur die Hälfte der Wahrheit, die den Umstand bewusst ignoriert, dass der Ungrund weder als Gott noch als Identität, sondern als eine Gott vorausliegende Indifferenz bestimmt wird, die in Gott als realisierter Person nicht vollständig aufgeht. So könnte es in der Tat auf den ersten Blick scheinen, zumal diese Deutung auch davon unterstützt wird, dass Heidegger das Konzept der Identität selbst in den Fokus seiner Kritik rückt, wenn er vom »Identitätsdenken der absoluten Dialektik der Subjektivität« (VL 41, 144) spricht. In diesem Sinne setzt Heidegger den Identitätsanspruch an den Ausgangspunkt des Schellingschen Denkens, der den Widerspruch nur setze, um die Identität als lebendige und wirkungsmächtige hervortreten zu lassen. Der Widerspruch (das Böse) – und damit rückt nun zum ersten Mal auch das Problem der Freiheit in den Blick – werde »gedacht, weil in dieser äußersten und eigentlichen Zwietracht als dem Un-fug zugleich und am schärfsten die Einheit des Gefüges des Seienden im Ganzen erscheinen muss« (VL 41, 96, Herv. Heidegger). In dieser Perspektive erscheint die Frage nach der menschlichen Freiheit allerdings als eine untergeordnete, als eine solche, die aus der Forderung nach der absoluten Einheit insofern nur resultiert, als die Einheit erst in der Überwindung der Dualität als wahrhafte Einheit gedacht werden könne. Die Vorstellung von Identität, die hier kritisiert wird, ist allerdings keineswegs als rein logisches und abstraktes Verhältnis, sondern ganz im Sinne der dynamischen Einheit zu verstehen, die Heidegger 1936 forderte, und die er 1936 als »ursprünglicheren« Begriff von Sein ausgezeichnet hatte. Heideggers Kritik richtet sich, so scheint es, gerade deshalb gegen das Verständnis des Seins als Wille, weil dieser keinem bloß idealistischen Seinsverständnis entspringt, sondern »ursprünglicher«, realer und entsprechend wirkungsmächtiger und unheilvoller gedacht werden soll. Die Rede vom Überwiegen des einen, verständigen Momentes bedeutet daher nicht, dass es sich hierbei um einen einseitigen Idealismus und d. h. um eine Einschränkung auf die »harmlose« sittlich-vernünftige Sichtweise handelte. Der Wille als Einheitskonzept ist keine Bewusstseinsinstanz, die eine Trennung von Subjekt und Objekt setzt und diese im Selbstbewusstsein in eine Einheit mit sich selbst zurückführt; er ist vielmehr eine Macht, die sich als Macht, d. h. in der Überwindung eines Gegenübers erst realisieren kann. Als Wille zur Herrschaft über Anderes ist er auf die Setzung eines Anderen notwendig angewiesen und zugleich ebenso notwendig totalitaristisch zu denken, weshalb er sich auch am konsequentesten bei Nietzsche gedacht finde, der offen vom Willen zur Macht spricht. Mit dem Wollen als Einheitskonzeption im Sinne des absoluten Willens verbindet sich für Heidegger eine Vision von Totalitarismus, von totaler Ermächtigung, die in ihrer praktischen Dimension über die Vorstellung der Beherrschung des Objekts durch das Subjekt, wie er es mit dem neuzeitlichen Denken verbindet, noch hinaus geht, und die zugleich nichts weiter zu sein scheint als eine

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fortgeschrittenere, unbedingtere Version ein und desselben Denkens.289 Anders als 1936 erkennt Heidegger in dem »ursprünglicheren« Seinsverständnis also kein wahrhaft anderes Verständnis, sondern die eigentliche Entfaltung dessen, worauf das metaphysische Denken immer schon angelegt sein soll. Einerseits also scheint es damit so, als weise Heidegger all das als metaphysisch zurück, was er 1936 emphatisch als positive Entwicklung unterstützt hatte. Sofern Heidegger Schelling dabei – wie deutlich wurde – zumindest teilweise durchaus zutreffend erfasst, scheint nun auch die Kritik entsprechend angemessen. Andererseits aber zeigen sich im Rahmen dieser kritischen Zurückweisung auch klare Züge einer Überbetonung von Aspekten, die die Interpretation von 1936, nicht aber den eigentlichen Text Schellings kennzeichnen. Dazu gehört etwa der Aspekt der angeblichen »Harmlosigkeit« des idealistischen Denkens ebenso wie die Auszeichnung des Bösen, die in der Bezeichnung »Metaphysik des Bösen« deutlich zum Ausdruck kam. In diesem Sinne scheint es sinnvoll, in der hier erfolgenden Kritik wesentlich eine Form der Selbstkritik zu erkennen, die sich mehr gegen das eigene Projekt als gegen dasjenige Schellings richtet, der sich als Vorläufer für die radikale Philosophie des Selbst zwar anbot, auf diese Funktion aber zugleich nicht reduziert werden kann.290 Andererseits aber stellt die Interpretation des Wollens als »Wille zur Macht« mit der Absicht auf Beherrschung und Verfügbarkeit in Wahrheit eine ganz bestimmte Deutung dieses Begriffs dar, die selbst einseitig ist, obschon sie ihrerseits innere Widersprüche aufweist. Wenden wir uns an dieser Stelle zuerst dem Aspekt der Einseitigkeit zu, bevor auf den der inneren Widersprüchlichkeit eingegangen werden soll. Heideggers Deutung der höchsten Einheit, der Einheit von Grund und Existenz im Sinne des absoluten Willens zur Macht ist zunächst einmal – das liegt auf der Hand – darum einseitig, weil sie denjenigen Aspekt der höchsten Einheit bei Schelling ausblendet, der mit dem Begriff des Ungrunds erfasst werden sollte. Der Ungrund, der im Gegensatz zum Verständnis einer ›machtenden‹ Identität als Indifferenz ausgezeichnet wurde, verkörpert bei Schelling geradezu den Aspekt der Unverfügbarkeit dessen, was sich dem vernünftigen Zugriff entzieht, weil es ihm vorausliegt. Tatsächlich aber stellt die Deutung Heideggers nicht nur im Blick auf Schellings eigene Absichten, sondern ebensosehr in Bezug auf Heideggers eigene Deutung von 1936 eine Vereinseitigung dar. Denn den Höhepunkt der Auslegung bildete dort die Interpretation 289  Vgl.

z. B. § 17, Abschnitt 7 zu Schelling und Nietzsche (VL 41, 101 f.). In diesem Sinne scheint es auch durchaus naheliegend, Heideggers Kritik hier auch in einen politischen Zusammenhang zu rücken. Deutlich bestätigt sich dies z. B. dort, wo Heidegger den Spruch des Berliner Taxifahrers – »Adolf weeß et, Gott ahnt et, und dir jeht’s nischt an« – zitiert, in dem er die Philosophie des Willens zur Macht ausgedrückt findet (VL 41, 122). 290  Auch dieser Gedanke scheint vor allem im Blick auf die politische Deutung der Kehre plausibel.



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des Wollens im Sinne der menschlichen Freiheit, die keineswegs als totale Ermächtigung, sondern als Einheit von Freiheit und Notwendigkeit verstanden wurde. Mit der Betonung dieser Einheit aber verwies Heidegger selbst auf ein Verständnis von Wollen, das der Interpretation des Wollens im Sinne des absoluten Willens zur Macht entgegengesetzt ist, weil es eine Form von Unverfügbarkeit einschließen sollte. Diese Einseitigkeit der Interpretation, die Wollen wesentlich mit den Aspekten von Überwindung und Herrschaft identifiziert, lässt sich etwa an der Gegenüberstellung dessen, was bei Schelling als Wille gelten soll, zum Konzept des Willens zur Macht bei Nietzsche erkennen. Der Wille, um den es bei Schelling geht, wird von Heidegger im Gegensatz zum »Willen zur Macht« als »Wille der Liebe« charakterisiert, weshalb es auch an anderer Stelle heißen kann, das »eigentlich Seiende« bei Schelling sei »die Liebe« (VL 41, 90). Dieser als Liebe verstandene Wille aber scheint weder dadurch ausgezeichnet, dass ein Anderes, ja, nicht einmal, dass die das Andere ermöglichende Trennung selbst überwunden, übermächtigt oder unterworfen wird, sondern dadurch, dass der Widerspruch zugelassen und »ausgehalten« werden müsse.291 Hier scheint es sich demnach in Heideggers Augen um eine Variante des Identitätsdenkens zu handeln, bei der der Widerspruch gerade nicht aufgehoben wird, sondern erhalten bleibt. In eben diesem Sinne verweist Heidegger auch an einer Stelle des Textes unter Bezugnahme auf die Stuttgarter Privatvorlesungen darauf, dass für Schelling »das Band das eigentlich Seiende des Seins [sei] und nicht eines der Unterschiedenen, die Existenz« (VL 41, 135, Herv. Heidegger). Selbst wenn man aber davon absieht, dass der gewalttätige Charakter im Blick auf die als Liebe oder als Band verstandene Einheit ohnehin fehlt, fällt doch auf, dass Heidegger gerade bei der Charakterisierung der Liebe zu Formulierungen greift, die immer wieder auch für das eigene, nicht mehr metaphysisch zu verstehende Denken herangezogen werden. Die Liebe nämlich scheint eine Gelassenheit angesichts der Widersprüche zu fordern, eine Gelassenheit, die ebensosehr mit der Formel der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit in Einklang zu bringen ist wie die 1936 favorisierte »Entschlossenheit«.292 Wenn es sich auch um zwei je ganz unterschiedliche 291  Andererseits

deutet sich diese Interpretation schon 1936 an, wo Heidegger, allerdings unter positiven Vorzeichen, die Liebe als den »größten Kampf« bezeichnet, die »den tiefsten Streit erregt, um in seiner Bewältigung sie selbst zu sein« (VL 36, 195). 292  Vgl. VL 41, 102: »Schelling: das Nichts wollen – gelassene Innigkeit, das reine Wollen. […] Der Wille der Liebe (Wirkenlassen des Grundes); Nichts wollen, nicht ein Eigenes und nicht das Ihre, auch nicht sich […]«. Unterstrichen wird diese Sicht erneut durch die frühen Seminarmitschriften, in denen Heidegger nicht nur ein größeres Augenmerk auf den Ungrund als Indifferenz legt, sondern auch die Liebe als das »Seinlassen« thematisiert: »In diesem ›Ich will, daß du bist‹ liegt bei Schelling das eigentümliche Seinlassen des anderen als ein Seinlassen mit der Tendenz, daß das Andere gewissermaßen jetzt erst die Möglichkeit bekommt, es selbst zu sein. Er tut

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Haltungen zu handeln scheint, sind sie doch beide auf ein »Schicksal« zu beziehen, das sich dem bewussten Zugriff in beiden Fällen entzieht. Wie stark Heideggers Deutung der Einheit als Wille zur Macht aber an Schellings Anliegen vorbeigeht, zeigt sich besonders im Zusammenhang mit der Frage nach der menschlichen Freiheit, die schon 1936, so Heidegger, im Blick auf die Seinsfrage bewusst einseitig betrachtet wurde. Beim Problem der Freiheit ging es Heidegger, anders als Schelling, nicht um praktische Probleme, sondern vor allem um den Zwiespalt im Sein, der nun 1941 als Resultat des Willens zur Macht – und das heißt auch hier wieder einseitig – nur als notwendige Bedingung für die Realisierung der Einheit als Einheit betrachtet wird. Zwar ist es nicht falsch, dass die Dualität in Gott, die in der Freiheit des Menschen erst wahrhaft realisiert wird, auch gedacht wird, damit Gott sich als Person wahrhaft offenbaren und so allererst realisieren kann. Das Böse wird somit als notwendig gesetzt, damit Gott als Liebe wirken kann. Dennoch aber stellt Heidegger mit der Fixierung auf diese Sichtweise Schellings eigentliche Intentionen auf den Kopf. Was Schelling zu denken versucht, wozu die Unterscheidung ihm eigentlich dienen soll, ist eben die Absicht, menschliche Freiheit, auch Sittlichkeit im System zu denken, Inhalte, die bei der Darstellung Heideggers nun nicht nur ausgeblendet werden, sondern prinzipiell undenkbar erscheinen. In diesem Sinne bleibt es auch in dieser Deutung folgenreich, dass Heidegger den dritten Freiheitsbegriff Schellings übersieht, der den Menschen – anders als in Heideggers Deutung der menschlichen Freiheit – gerade nicht im Sinne eines gewissermaßen absoluten Subjekts bestimmt, sondern ihn von der Gnade Gottes abhängig macht. Im Rahmen der Aufgabe, die »Grundstellung« der Freiheitsschrift herauszuarbeiten – gemeint ist der Bezug des Denkens auf das Sein, das angeblich als »Seiendheit des Seienden im Ganzen« betrachtet würde – erklärt Heidegger aber den »geläufigen Titel« der Schrift schlicht als »hinderlich« für das rechte Verständnis: »Wir nennen diese Abhandlung kurz die »Freiheitsabhandlung«; nach dem Titel mit einem gewissen Recht. Aber sie handelt eigentlich vom Wesen des Bösen, und nur weil von diesem, deshalb von der menschlichen Freiheit« (VL 41, 95). Dass menschliche Freiheit aber nur noch gedacht werden soll, damit die Einheit als Überwindung des Widerspruches und damit als absoluter Wille zur Macht gedacht werden kann, führt die eigentliche Argumentation der Freiheitsschrift ad absurdum. Denn das Absolute, Gott, soll der Vorstellung Schellings zufolge ja gerade nicht als absoluter Wille, sondern als Person gedacht werden, die sich gegenüber der idealistischen Vorstellung eines absoluten Ich auch nicht vollständig durchsichtig werden kann. Im Gedanken der Person und dem damit verbundenen Anteil des »dunklen Grundes« auf dem die Person ruht, sollte vielmehr gerade ein Anteil in das Syses in dem Sinne, daß er auf sich selbst beharrt, sich auf sich zurückzieht und damit der Liebe die Möglichkeit gibt, ihn zurückzuholen« (Jantzen/Hühn (2010), S. 355.



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tem integriert werden, der sich der Vision totaler Durchsichtigkeit entziehen sollte, indem er den Grund bzw. den Ungrund als Entzug und damit als eine Art prinzipieller Transzendenz bestimmte.293 Das Konzept des Wollens, verstanden als Wille zur Macht, hebt also nur einen Teil der bei Schelling gedachten und beabsichtigten Zusammenhänge hervor und lässt andere unbeachtet. Zugleich aber liegt in dieser Einseitigkeit keineswegs auch eine größere Eindeutigkeit, wie man vielleicht annehmen könnte, wenn man sieht, dass die totale Verfügbarkeit und Herrschaft in den Vordergrund gestellt, das Moment der Unverfügbarkeit und des Entzugs hingegen ignoriert werden. Tatsächlich bleibt vielmehr auch der Begriff des Willens im von Heidegger kritisierten Sinne ein in sich widersprüchliches Konzept, das seinerseits auf dem Versuch der Vermittlung völlig unvereinbarer Modelle beruht. Dies zeigt sich vor allem daran, dass hier die beiden im Zusammenhang mit Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen unter den Titeln Substanz und Subjekt behandelten Modelle nach wie vor im Spiel 293  Auf diesen Punkt wird in der jüngsten Forschung denn auch häufiger hingewiesen. So zum Beispiel Jean-Francois Courtine: »Wenn also die Liebe, definiert als Gelassenheit, nicht will oder das Nichts will, wenn sie sich grundlegend durch die Verweigerung, oder besser, die Aufgabe aller / Selbstheit auszeichnet […], dann ist es ausgesprochen schwierig, den Willen der Liebe als »Wille zum Willen« im Sinne des Sich-selbst-Wollens zu reinterpretieren.« (Courtine (2012), S. 44 f., Herv. J.-F. C.). Auch Markus Gabriel verweist darauf, dass »die Einführung des Ungrundes genaugenommen die Willensmetaphysik« sprenge (Gabriel (2012), S. 178). Eine ähnliche Auffassung vertritt z. B. Lore Hühn in demselben Tagungsband. Bei Hühn wird allerdings noch deutlicher als bei Gabriel, dass sie Heideggers Diagnose von der Willenszentriertheit der neuzeitlichen Metaphysik grundsätzlich teilt und, indem sie Schelling als einen Kritiker dieser Tendenz charakterisiert, diesen noch deutlicher als Vorläufer der Heideggerschen Kritik verstanden wissen möchte: »Spätestens seit der Freiheitsschrift unternimmt es Schelling, jenen sich paradigmatisch in der fichteschen Frühphilosophie aussprechenden Primat des Willens als das Symptom eines sich selbst entfremdenden Weltverhältnisses des modernen Menschen zu deuten« (Hühn (2012), S. 246). »Die die neuzeitliche Philosophie kennzeichnende Entscheidung«, so Hühn weiter, »die Auslegung alles Seienden im Lichte der Semantik eines Willens zu leisten, wird von Schelling vom Fluchtpunkt einer Theorie der Gelassenheit aus sowohl kritisiert wie auf einen ursprünglicheren, unvordenklichen Anfang unseres modernen Selbst- und Weltverhältnisses hintergangen« (ebd., S. 248). Ebenso verhält es sich bei Hans-Joachim Friedrich, der davon ausgeht, dass Schelling die Formel »Wollen ist Urseyn« als »letzte und höchste Instanz gerade aufbrechen« wolle (Friedrich (2009), S. 14). Die Abgrenzung Heideggers von Schelling deutet er daher als »Mißverständnis«: »Denn wenn einer durchschaut hat, daß sich die Freiheit nicht in der formellen Willensfreiheit erschöpft, dann ist es Schelling. Deshalb hat er die Metaphysik auf den Pantheismus zurückgeführt als ›notwendigen Keim‹ des ›wahren Theismus‹« (ebd., S. 203). Diese Deutungen übersehen aber m. E., dass es sich bei dem kritisierten Willensbegriff selbst um ein in sich widersprüchliches Konstrukt handelt, wie im Folgenden deutlich werden soll. Überzeugender scheint mir daher die Analyse von Günter Zöller zu sein, der davon spricht, dass Heidegger mit »der Rede von der ›Metaphysik‹ speziell bei Schelling und im deutschen Idealismus insgesamt« das »spezifisch kritische Grundanliegen der klassischen deutschen Philosophie« verdecke (Zöller (2012), S. 271).

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

sind. Das Selbstbewusstseinsmodell findet seine eigentlich ›willentliche‹ Auslegung nur durch die Verbindung mit der Eigenständigkeit des realen Anteils, wie sie sich im Rückbezug auf das Substanzmodell erklären ließ. Die Überwindung des »Anderen«, oder auch des Dualismus selbst in der Realisierung der Identität wiederum lässt sich nur durch den Selbstbezug erklären, der umgekehrt nur durch den Anteil des Selbstbewusstseinsmodells garantiert werden kann. Der Ursprung der Struktur, die die Freiheitsschrift bestimmt, und die sich aus der Beziehung zwischen den Momenten von Grund, Existenz und Ungrund ergibt, ist daher wohl kaum in der unbefragten Voraussetzung der Metaphysik zu sehen, Sein müsse als Wollen verstanden werden. Den Ursprung bildet vielmehr der Versuch, verschiedene, nicht miteinander vereinbare Modelle miteinander zu vermitteln, um damit verschiedenen Bedürfnissen, dem theoretischen Bedürfnis nach einem einheitlichen Erklärungsrahmen einerseits, und dem eher praktischen Bedürfnis nach einem sittlich-verantwortlichen Selbstverständnis gerecht zu werden – anders gesagt, der Versuch, ein System der Freiheit aufzustellen. Der absolute Wille, den Heidegger hier beschreibt, ist aber eben deshalb ein in sich widersprüchliches Konzept, das ganz unterschiedliche Begriffe von Wollen unter dem Titel »Wille zur Macht« zu vereinen sucht. Wollen als Ausdruck einer schöpferischen Macht, die, wie bei Spinoza, unendlich Vieles notwendig hervorbringt und sich daher in einer unendlich differenzierten Welt ausdrückt, wird vermischt mit der Vorstellung des Wollens als eines nach Begriffen und Zielen ausgerichteten Vermögens. Das ewig in sich kreisende Produzieren wird vermischt mit dem Gedanken eines linear und zeitlich sich verwirklichenden Prozesses, der auf ein Ziel hin angelegt ist. Zugleich aber steht gerade der Begriff eines absichtlichen Wollens, eines Handelns nach Begriffen, im Widerspruch zum einheitlichen Erklärungsrahmen, wie sich auch am Verständnis der menschlichen Freiheit sowohl bei Schelling, als auch in Heideggers früher Interpretation der Freiheitsschrift zeigte. In der Vorlesung von 1941 aber wird noch deutlicher als 1936, dass Heidegger an einem Nachweis der inneren Widersprüchlichkeit nicht gelegen ist, weil es ihm umgekehrt auf die angebliche Einheitlichkeit gerade ankommt, in der sich das einheitliche Wesen der Metaphysik ausdrücken soll. Der absolute Wille bleibt unabhängig von der Frage nach dem Aspekt von Entzug und Unverfügbarkeit ein in sich widersprüchliches Konstrukt, das bei Schelling wie bei Heidegger eine ähnliche Funktion übernimmt. Während Schelling das Absolute in seiner ganzen Widersprüchlichkeit als Garant für die Einheit seines Systems der Freiheit in Anspruch nimmt, wird es von Heidegger als Erklärung für das einheitliche Wesen des metaphysischen Denkens herangezogen. Auf diese Weise aber kann es Heidegger nicht gelingen, das Bild eines einheitlichen, das Sein verstellenden metaphysischen Denkens zu zeichnen, das in der Philosophie der Freiheitsschrift gipfelte. Statt dessen bleibt es bei einem der Widersprüchlichkeit der Konzepte entsprechenden ambivalenten Verhältnis, das sich



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nicht zuletzt in der Unmöglichkeit ausdrückt, die geforderte Differenz zwischen metaphysischem und ›anderem‹ Denken sprachlich auszudrücken. Die Abgrenzung scheint nur in der Weise möglich, dass ein Schelling zugeschriebener Gedanke formuliert wird, der dem neuen Denken zwar nahe zu kommen scheint, der aber schließlich trotzdem als metaphysisch gekennzeichnet und damit als falsch zurückgewiesen wird. Folgendes, durchaus aufschlussreiches Beispiel soll dieses Verfahren belegen. Im vorletzten Paragraphen, der sich nun unter dem Titel »Durchblick« wieder mit der Frage nach dem System beschäftigt, heißt es: »Das Absolute nicht nur das Vorherige an sich […] im Sein, sondern das Vor-herige für uns. Es geht vor dem Menschen her als das, worauf der Mensch schon zugegangen ist – ohne es eigens zu wissen im Begriff« (VL 41, 139). Dieser Satz scheint sich einerseits auf Schelling zu beziehen, und er klingt andererseits gerade nicht nach dem Gipfel einer absoluten Willensphilosophie. Anzunehmen ist vielmehr, dass Heidegger diese Äußerung im Modus der Affirmation trifft. Dies aber würde die gesamte Argumentation in Frage stellen, die in Schelling den Gipfel des seinsvergessenen Denkens erblickte. Um daher deutlich zu machen, dass und inwiefern dennoch ein fundamentaler Unterschied zwischen dem hier formulierten Inhalt und dem neuen Denken bestehen soll, ergänzt Heidegger nun folgenden Satz: »Dieses aber nun aus der Subjectität neuzeitlich und unbedingt fassen, indem die Unterscheidung Wille – als Wollen – des Absoluten. Das Sein als das Seiendste!« (VL 41, 140). Demnach gibt es offenbar zwei Möglichkeiten, den Satz zu verstehen, eine metaphysische und eine ganz andere. Einmal drückt sich das ganze Wesen des metaphysischen Denkens in seiner Verblendung darin aus, einmal das ganz andere. Der Unterschied aber kann nur behauptet werden. Ob es ihn gibt und worin er bestehen könnte, bleibt offen. Heidegger sieht öfter die Notwendigkeit, solche Äußerungen, die vielleicht zu wenig kritisch klingen könnten, mit derartigen Zusätzen zu versehen, etwa dort, wo es darum geht, sein Unternehmen des ›neuen‹ Denkens von der Pantheismusfrage abzugrenzen. Dort heißt es: »das Pan der Panta, ohne Sein des Seienden? Nein! […] Aber beides: nebeneinander nur und selbst ohne Wahr-heit und ohne die eigentliche Differenz und darum onto-theologisch« (VL 41, 155, Herv. Heidegger).294 Dieser kurze Hinweis scheint zu bestätigen, was bereits im Blick auf die Vorlesung von 1936 gesagt wurde: dass es Heidegger um eine angemessenere bzw. konsequentere Deutung des Immanenzverhältnisses zu gehen scheint, das die »eigentliche Differenz« zwischen Sein und Seiendem betrifft. Diese ist nicht als ›Nebeneinander‹ einer immer noch aufrecht erhaltenen Transzendenz, sondern als eine Form der 294  Hier

drückt sich die geänderte Wertung des Begriffes Ontotheologie aus, die aber unter denselben Vorbehalten steht, wie die geänderte Deutung des Begriffes Wollen und des Verhältnisses der Immanenz. Aufschlussreich ist zudem, dass der Begriff der Ontotheologie auch hier eben im Zusammenhang mit der Frage nach dem Pantheismus auftaucht.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Teilhabe und in diesem Sinne sehr wohl auch als Identität gedacht. Gleichzeitig aber kann nicht die Rede davon sein, dass Heidegger dieses Argument in der Vorlesung systematisch einsetzen würde. Statt dessen weist auch der obige, ergänzende Hinweis zum Pantheismus auf das ambivalente Verhältnis Heideggers zu Schelling hin. Schelling trifft den Punkt und verfehlt ihn zugleich notwendigerweise, weil er auf dem Boden der Metaphysik verbleibt. So aber scheint auch 1941 noch zu gelten, dass Schelling – zumindest im Rahmen dessen, was innerhalb der Metaphysik möglich ist – durchaus positive Einsichten bereithält. Demnach stellt die Freiheitsschrift aber eben doch kein Anzeichen einer fortgeschrittenen und sich immer deutlicher bekundenden Seinsvergessenheit dar, sondern vielmehr einen Schritt hin zu dem, was Heidegger uns mit seinem neuen Denken sagen möchte.295 Insofern hat sich die Interpretation der Freiheitsschrift selbst gegenüber 1936 nicht wirklich geändert. Weder sind die Kritikpunkte grundlegend neu, noch bezieht sich die angebliche Verfehlung des Seins auf die konkreten Inhalte der Freiheitsschrift. Zudem werden diejenigen Aspekte, die Heidegger besonders an Schelling faszinierten, die Frage nach der menschlichen, der endlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Begriffe von Notwendigkeit, Zwiespältigkeit und »Angst des Lebens«, aus der Interpretation schlicht ausgeklammert. Die Auslegung der Freiheitsschrift scheint so betrachtet im Wesentlichen unabhängig zu sein von der Wertung des Begriffes »Wollen«, der ohnehin selbst unklar bleibt. Geändert hat sich gegenüber 1936 also am ehesten die Einstellung, dass im Nachvollzug der Freiheitsschrift an diese Grenze zu gelangen und von da aus weiter, schöpferisch, über sie hinauszugehen sei – eine Einsicht, die allerdings ebensowenig an die Bestimmung des Seins als Wollen geknüpft sein dürfte, das sich daher als eher ungeeigneter Ansatzpunkt für die fundamentale Kritik erweist, die den Übergang in die Wege leiten soll. Die Vorlesung von 1941 bleibt in ihrer ambivalenten Haltung Heideggers zu Schelling ein Dokument dafür, dass Heidegger auch sechs Jahre nach der ersten Vorlesung weder in seiner Schellinginterpretation noch aber im Blick auf die Frage nach dem Übergang zum neuen Denken eine eindeutige und klar bestimmte Position einzunehmen vermag. Dass Heidegger nach dieser zweiten Vorlesung seine öffentliche Auseinandersetzung beendet, lässt sich daher weniger aus dem Umstand erklären, dass Schelling nunmehr überwunden wäre, sondern viel eher damit, dass dessen Freiheitsschrift sich in das Projekt der Überwindung des metaphysischen Denkens offenbar nicht so ohne weiteres eingliedern lässt. Dass Heidegger mit diesem zweiten – gescheiterten – Verortungsversuch seine Auseinandersetzung mit 295  Denkbar wäre immerhin, dass die fortgesetzte Verdeckung sich in dem Umstand ausdrückt, dass die Metaphysik das Geforderte bereits zu erfassen scheint, wodurch sie die Notwendigkeit des neuen Denkens gerade erst verdeckte. Allerdings sagt Heidegger dies nirgends in eindeutiger Weise. Zum Problem des Übergangs und des Verhältnisses von Metaphysik und neuem Denken sei aber auf das nächste Kapitel verwiesen.



Der Satz vom Grund – heimliche Auslegung der Freiheitsschrift? 281

Schelling abgeschlossen haben soll, ist daher schwer zu glauben. Zieht man Heideggers grundlegende Begeisterung für Schellings Freiheitsschrift in Betracht, so kann man wohl eher davon ausgehen, dass diese auch im weiteren Denken Heideggers Spuren hinterlassen hat.

C. Der Satz vom Grund – heimliche Auslegung der Freiheitsschrift? Einleitung: Der Zusammenhang zwischen Der Satz vom Grund und Heideggers Schellingauslegungen Mit der zweiten Schellingvorlesung scheint zunächst nicht nur die Auseinandersetzung mit der Freiheitsschrift beendet; generell kann man wohl den Eindruck gewinnen, als sei die Zeit der »geschichtlichen Vorlesungen«, im Sinne der Schellingauslegung von 1941, abgeschlossen.296 Klarer als vorher scheint nun der Bruch zwischen Metaphysik und neuem Denken markiert, der es nicht mehr erlaubt, vermittelt über bestimmte, ausgezeichnete metaphysische Positionen auf das neue Denken zuzugreifen. Im Zuge dieser Neuorientierung treten nun andere Denker wie Hölderlin und die Vorsokratiker in den Vordergrund, Denker, die Heidegger nicht als metaphysisch und damit weniger als Ausdruck der Seingeschichte, sondern viel eher als Vordenker des neuen Denkens, als solche also auffasst, die den Weg aus dem metaphysischen in das Denken des neuen Anfangs weisen können. Dennoch bleibt nicht nur das Problem des Übergangs zum neuen Denken erhalten – denn das neue Denken präsentiert sich als noch ungedachtes und erst zu erringendes – sondern der Zusammenhang zwischen Metaphysik und neuem Denken bleibt auch in dem Sinne bestehen, dass nach wie vor das neue Denken wesentlich auch Erkenntnis des Wesens der Metaphysik sein soll. Insofern werden auch die metaphysischen Denker wie Leibniz, Nietzsche und Hegel immer noch thematisiert. Schelling allerdings bleibt aus dem Kreis der Gesprächspartner weitgehend ausgeschlossen, wenn man von einigen wenigen Bemerkungen absieht, die aber keine tragende Funktion mehr zu haben scheinen. Der Satz vom Grund, eine Vorlesung von 1955/56, stellt in diesem Sinne auch keine ›geschichtliche‹ Auslegung einer bestimmten Position dar. Sie orientiert sich statt dessen an einem gewissermaßen ›systematischen‹ Problem, indem sie sich mit der Bedeutung des Satzes vom Grund beschäftigt. Gemäß der Bestimmung von ›geschichtlich‹, die anhand der Vorlesung von 1941 dargelegt wurde, ist aber die 296 Vgl.

dazu etwa den Passus in den Beiträgen zur Philosophie über die Funktion der »geschichtlichen Vorlesungen«, zu denen Heidegger hier die Vorlesungen über Leibniz, Kant, Schelling, Hegel und Nietzsche rechnet (BP 176).

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Betrachtung dieses Grundsatzes ebensowenig eine ›systematische‹ Untersuchung wie es sich bei der Schellingauslegung um einen ›historischen‹ Ansatz gehandelt hatte. Auch der Satz vom Grund wird hier geschichtlich betrachtet, sofern anhand dieses Grundsatzes einerseits seine Rolle für das metaphysische Denken (d. h. für das seinsvergessene Denken, das in diesem Falle auch das alltägliche Denken umfasst) untersucht und dieses andererseits als geschichtlicher Ausdruck des Seins selbst gedeutet werden soll. Zugleich dient die Frage nach dem Satz vom Grund eben als Ausgangspunkt für den Übergang zum neuen Denken. Der Satz selber soll den Übergang ermöglichen, indem er nach zwei möglichen »Tonarten« unterschieden wird. Die eine, die metaphysische Tonart, wird dabei wesentlich im Zusammenhang mit Leibniz diskutiert, während die zweite Tonart uns in den Bereich des neuen Denkens versetzen soll. Was aber haben der Satz vom Grund und die Vorlesung über diesen Grundsatz mit Heideggers Schellingdeutungen zu tun? Auf den ersten Blick scheint die Verbindung wenig sinnvoll und doch soll hier gezeigt werden, inwiefern sich die Auslegungen von 1936 und 1941 in Heideggers Denken niedergeschlagen haben, auch wenn Schelling namentlich nicht erwähnt wird. Tatsächlich ist dabei die Wahl gerade dieser Vorlesung insofern beliebig, als dieser Niederschlag wesentliche Strukturen des seinsgeschichtlichen Denkens überhaupt betrifft, die sich nicht auf die besagte Vorlesung beschränken. Dennoch gibt es einige Argumente, die für die Wahl gerade dieser Vorlesung sprechen, denn sie schließt in verschiedener Hinsicht an die beiden Schellingauslegungen unmittelbar an. Um also den Zusammenhang deutlicher zu machen, seien zunächst einige Indizien genannt, die eine Verbindung zum Vorangegangenen herstellen. Einerseits bietet sich die Vorlesung über den Satz vom Grund zunächst deshalb an, weil sie leichter zugänglich scheint als die verschiedenen seinsgeschichtlichen Schriften, die über einen weiten Zeitraum hinweg entstanden sind (die früheste derartige Schrift, die Beiträge zur Philosophie, entstand bereits in der Zeit zwischen den beiden Schellingvorlesungen), und die durchaus unterschiedliche Versuche darstellen, auf eine ganz neue Art vom Sein selbst zu reden. Dabei ist durchaus nachvollziehbar, dass Heidegger diese Texte zunächst vor der Öffentlichkeit zurückhielt, weil sie als gewissermaßen ungeschützte Versuche eines neuen und zunächst wesentlich unzugänglichen Denkens verstanden werden können. Demgegenüber verfolgt die Vorlesung über den Satz vom Grund das Projekt, vermittels einer Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Denken an den Übergang zum neuen Denken heranzuführen, ein Projekt, das sich in den beiden Schellingvorlesungen bereits auf je unterschiedliche Weise angedeutet hatte. Anders aber als die Vorlesungen über die Freiheitsschrift geht die Vorlesung über den Satz vom Grund noch einen Schritt weiter, indem sie an den Übergang nicht nur heranführt, sondern zugleich das versucht, was in der ersten Schellingvorlesung bereits in Aussicht gestellt wurde, ohne



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es aber umzusetzen: einen Einblick nämlich zu geben in das, was man sich unter einem neuen, ganz anderen Denken vorzustellen habe. Dabei verfährt Heidegger zudem recht anschaulich, indem er den Hörer der Vorlesung bei seinen alltäglichen Vorstellungen abholt und von da aus, ihn gewissermaßen an der Hand nehmend, Schritt für Schritt dem entscheidenden Moment des Übergangs annähert, bis er dann eine »neue Tonart« ins Spiel bringt, vor deren Hintergrund sich die Metaphysikgeschichte ganz neu erschließen soll. Auf diese Weise trennt sich vergleichsweise klar, was Heidegger unter metaphysischem Denken und was er demgegenüber unter dem seinsgeschichtlichem Denken verstehen möchte. Wie sich letztlich zeigen wird, schließt die Darstellung dessen, was Metaphysik sein soll, mehr oder weniger unmittelbar an die Darstellung von 1941 an, was nicht weiter erstaunlich ist. Interessanter hingegen ist, dass letztlich gerade der Satz vom Grund in der zweiten Tonart, als ein »Sagen vom Sein« verstanden, deutlich macht, wie wichtig die Auseinandersetzung mit Schelling für Heideggers Denken bleibt. Explizit aber – darauf wurde schon hingewiesen – gibt es keine Hinweise, die eine Bezugnahme Heideggers auf die Freiheitsschrift belegen. Statt dessen lässt sich vielleicht umgekehrt gerade das Fehlen einer solchen Bezugnahme als Indiz dafür werten, dass Schelling hier nach wie vor im Spiel sein könnte. Das gilt weniger im Hinblick auf die ›Sage vom Sein‹ selbst, die ja von Heidegger als ein ganz neues, bisher ungedachtes Denken präsentiert wird. Als auffällig aber kann wohl gelten, dass weder die Charakterisierung des metaphysischen Denkens vor dem Übergang zur neuen Tonart, noch aber auch die Darstellung der Seinsgeschichte, die ja auch Metaphysikgeschichte ist, auf Grundlage der neuen Tonart auf Schellings Freiheitsschrift Bezug nehmen, die 1936 und 1941 noch als Gipfel des metaphysischen Denkens ausgezeichnet wurde. Ein direkter Anschluss an die Schellingvorlesung scheint trotz solch fehlender Bezugnahmen aber immerhin in der Rolle gegeben, die Leibniz im Rahmen der Vorlesung über den Satz vom Grund zugewiesen wird. Denn obwohl die Vorlesung nicht ausdrücklich als Auseinandersetzung mit Leibniz, sondern als ein Versuch gedacht ist, den Übergang in das neue Denken zu ermöglichen, wird doch deutlich, dass Leibniz im Rahmen dieses Projektes nun eine ähnliche Funktion zukommen soll wie Schelling in den beiden bisher untersuchten Vorlesungen. Darin, dass Leibniz den Satz vom Grund entdeckt und ihn in eine Form gebracht habe, in dem sich das Wesen des Grundes auf radikale Weise ausdrücke, erscheint sein Denken nunmehr als eine Art Gipfel des metaphysischen Denkens. Mit den Worten der Schellingvorlesung von 1936 könnte man sagen, dass Leibniz damit einen Charakterzug der Metaphysik bloß »hervortreibt«, der »schon im Anfang der abendländischen Philosophie gesetzt« war, weshalb eine Überwindung des Leibnizschen Denkens einer »anfänglichen« Überwindung des metaphysischen Denkens selbst gleichkäme. Gleichzeitig aber ist von vornherein klar, dass Leibniz als Gipfelpunkt nur im Sinne

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der Vorlesung von 1941 gelten kann, als solcher also, der die völlige Verblendung, die totale Seinsvergessenheit des metaphysischen Denkens in Vollendung zum Ausdruck bringt, von dem aus folglich kein Übergang zum neuen Denken möglich ist. Ganz deutlich wird dies dort, wo Heidegger eine direkte Verbindung zwischen der Philosophie Leibniz’ und den Entwicklungen im 20 Jahrhundert behauptet. Das Denken von Leibniz bestimme »nicht nur die Entwicklung der modernen Logik zur Logistik und zur Denkmaschine«, es präge auch »die Haupttendenz dessen, was wir, weit genug erdacht, die Metaphysik des modernen Zeitalters nennen können.« 297 Leibniz ist nun allerdings nicht Schelling, und kann daher dessen Position nicht einfach ersetzen, wie schon daran ersichtlich wird, dass Heidegger im Blick auf Leibniz nun eine so eindeutige Haltung einnimmt, wie er sie selbst in der kritischen Vorlesung von 1941 gegenüber Schelling nicht vertreten hatte. Und doch wurde die Bedeutung der Leibnizschen Philosophie für die Freiheitsschrift schon 1936, wenngleich noch unter positiven Vorzeichen, besonders hervorgehoben. Im Zuge der Umdeutung des Willensbegriffes zum negativen Charakteristikum des metaphysischen Denkens geriet Leibniz dann noch stärker in den Fokus der Betrachtungen und dies so bestimmend, dass Schelling im Rahmen der Seinsgeschichte kaum noch mehr darzustellen schien als eine Übergangsfigur zwischen den beiden entscheidenden Polen Leibniz und Nietzsche. Unterstützt wird diese Deutung denn auch durch die einzige explizite Erwähnung Schellings in der Vorlesung Der Satz vom Grund, in der es heißt: »Das erste und zwar metaphysische Gespräch mit Leibniz hat Schelling eingeleitet, es erstreckt sich bis in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht« (SvG 43). So betrachtet erscheint es durchaus konsequent, wenn Heidegger sich hier im Kontext der Überwindung des metaphysischen Denkens nicht mehr an Schelling, sondern wesentlich an Leibniz orientiert. An die Stelle des »Wollens« tritt in dieser Auseinandersetzung allerdings ein anderer Zentralbegriff, in dem das Wesen der Metaphysik zu kulminieren scheint: der Begriff des Grundes in der Fassung des Satzes vom Grund bei Leibniz. Dabei ist es aber auch der Begriff des Grundes selbst, d. h. die Frage nach der richtigen Bedeutung von ›Grund‹ und nach dem Zusammenhang von Grund und Sein, der eine Verbindung zu Schellings Freiheitsschrift insofern nahelegt, als das Moment des Grundes gerade dort eine tragende Rolle spielt. Schon in einem früheren Vortrag über das »Wesen des Grundes« (1929) hatte Heidegger darum auf 297  Der

Nationalsozialismus spielt dabei allerdings nur eine untergeordnete Rolle, während der Begriff der »Machenschaftlichkeit« und das Problem der Technik beherrschend sind. Beides betrifft in gewisser Weise auch die totalitaristischen Strukturen, für deren Erfassung allerdings der Begriff des Wollens doch geeigneter scheint als das Problem der Vorstellung, das im Kontext mit Leibniz im Zentrum der Kritik steht. Auch im Rahmen der Interpretation von Der Satz vom Grund aber soll das komplexe Problem des Zusammenhangs zwischen Heideggers Denken und seiner politischen Verstrickung ausgeklammert bleiben.



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die Bedeutung der Freiheitsschrift für das Problem des Grundes hingewiesen.298 Noch eindeutiger aber erscheint der Zusammenhang vor allem deshalb, weil das Moment des Grundes in der Unterscheidung von Grund und Existenz den problematischeren, den eigentlich neuen und provozierenden Aspekt ins Spiel brachte. In diesem Sinne hatte Heidegger schon 1936 kritisiert, dass der Grund letztlich doch aus dem System ausgeschlossen bleibe und ausgeschlossen bleiben müsse, sofern das System wesentlich auf den Verstand bezogen, der Grund aber dem Verstand gerade entgegengesetzt sei. Diese Kritik hatte sich 1941 fortgesetzt, wobei noch deutlicher wurde, dass Heidegger die Eigenständigkeit des Grundes in der Freiheitsschrift durch das von vornherein übergeordnete Moment der Existenz bzw. des Verstandes untergraben sah. Auch diese Überordnung der Existenz und des Verstandes aber wurde schon in der Vorlesung von 1941 in einen Zusammenhang mit Leibniz gebracht, dessen bedeutende Funktion sich damit erneut bestätigt. In den die Vorlesung von 1941 einleitenden »begriffsgeschichtlichen Erörterungen« allerdings konzentrierte sich Heidegger, wie gesehen, vor allem auf den Begriff der Existenz, ohne auf den so problematischen und entscheidenden Begriff des Grundes wesentlich einzugehen. Wo er sich im Rahmen dieser Vorlesung aber doch mit dem Begriff des Grundes beschäftigt, greift er ebenfalls auf Leibniz zurück. Mit Leibniz nämlich, so heißt es dort, sei das Wort »ratio« zum »Leitwort« für das geworden, »was wir Grund nennen«. In diesem Zusammenhang spricht Heidegger auch 1941 schon vom »principium rationis sufficientis«, dem »grande illud principium«, das nun in der Vorlesung von 1955 im Zentrum der Kritik steht (VL 41, 161). Damit aber scheint es vorerst so, als seien die entscheidenden Aspekte, die Schelling als einen Vertreter der seinsvergessenen Metaphysik auszeichnen, mehr oder weniger unmittelbar auf Leibniz zurückzubeziehen, bei dem sich die Situation offenbar eindeutiger darstellt als bei Schelling, der aufgrund der inneren Widersprüchlichkeit die Möglichkeit zu völlig gegensätzlichen Deutungen bot. Leibniz stellt insofern für Heidegger einen Denker dar, bei dem sich die Merkmale dessen, was Heidegger als Wesen des metaphysischen Denkens bestimmen möchte, offenbar deutlicher machen lassen als bei Schelling. So gesehen könnte man allerdings zugleich die Behauptung zurückweisen, dass die Vorlesung über den Satz vom Grund überhaupt noch mit Schelling zu tun hat. Denn denkbar wäre ja, dass Heidegger im Zuge der Vorlesung von 1941 erkannt hatte, dass nicht Schelling, sondern Leibniz den Gipfel der Metaphysik darstellt, und dass er eben aus diesem Grunde die Auseinandersetzung mit Schelling als unfruchtbares Projekt fallen ließ. Dass dies aber eben wegen des ambivalent gebliebenen Verhältnisses zu Schelling eher 298 

Vgl. GA 12, S. 125: »Von nicht geringer Bedeutung aber für das Problem sind Schellings ›Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände‹ (1809).«

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unwahrscheinlich ist, wurde bereits im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1941 behauptet. Die folgende Analyse der Vorlesung soll daher deutlich machen, dass und in welcher Weise die Auseinandersetzung mit Schellings Freiheitsschrift auch nach 1941 noch eine wichtige Rolle in Heideggers Denken spielt.

1. Die beiden Tonarten des Satzes vom Grund Die Vorlesung über den Satz vom Grund wird, wie gesagt, durch das Vorhaben strukturiert, im Ausgang von einer Untersuchung der Metaphysik an das neue Denken heranzuführen. In diesem Sinne lässt sich die Vorlesung in zwei Teile gliedern, denen die zwei »Tonarten« des Satzes vom Grund entsprechen. Am Anfang steht das durch die erste Tonart des Satzes vom Grund charakterisierte metaphysische Denken und damit ein Teil, dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit dem »grande illud principium« von Leibniz bildet (1. – 4. Stunde). Auf diesen ersten Abschnitt folgt der Übergang zu einer neuen Tonart, durch den das neue Denken in den Blick gerät. Diesen Teil könnte man seinerseits in zwei Abschnitte gliedern, da der Satz vom Grund in seiner neuen Tonart als »Satz« bzw. »Sagen vom Sein« (SvG 90) nur den Übergang zum seinsgeschichtlichen Denken darstellt, das sich auf die neue Tonart in gewisser Weise gründen soll.299 Diese zweite Tonart des Satzes vom Grund ist insofern in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Einerseits hatte sich an den Schellingvorlesungen jeweils gezeigt, dass der Übergang selbst im Ausgang von der Metaphysik ein entscheidendes Problem darstellte. Dass der Übergang nun mithilfe der neuen Tonart vollzogen werden soll, lässt diese von vornherein bedeutsam erscheinen. Andererseits aber könnte es so scheinen, als würde diese Bedeutsamkeit gerade dadurch gemindert, dass sie ›nur‹ den Übergang, nicht aber das neue Denken selbst darstellen soll. Tatsächlich behält sie ihre Bedeutung hingegen gerade dadurch, dass sie nicht nur den Übergang, sondern zugleich auch die Grundlage für das seinsgeschichtliche Denken darstellt. Seinsgeschichte erscheint hier als Metaphysikgeschichte im Lichte der zweiten Tonart, der damit eine grundlegende Funktion zukommt. Doch obwohl also die zweite Tonart letztlich entscheidender ist als die erste, kann auch diese nicht übergangen werden, weil sie den notwendigen Ausgangspunkt darstellt. Der Satz vom Grund in der metaphysischen bzw. der »geläufigen« (SvG 94) Tonart ist ein Satz, der, so Heidegger, unser Denken so wesentlich bestimmt, dass wir uns zunächst einmal auf diesen selbst einlassen müssen. 299 

Allerdings gilt, dass eine klare Abgrenzung von Abschnitten nur schwer möglich ist, weil die Problemlagen miteinander verschränkt sind, und weil die Frage nach dem Übergang und der Weise, wie er in die Wege zu leiten und zu vollziehen sei, eine, wenn nicht gar die entscheidende Frage an Heideggers Denken ist. Vgl. dazu Kapitel III.



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1.1 Metaphysisches Denken: der Satz vom Grund als »großmächtiges Prinzip« Die erste »Tonart« bezeichnet also die metaphysische Version des Satzes vom Grund, die allerdings zugleich, in weniger präziser Form, auch unser Alltagsdenken betreffen soll. Genau darin offenbart sich bei genauerem Hinsehen auch die uneingeschränkte Herrschaft dieses Satzes, dessen Geltung, wie es scheint, stillschweigend akzeptiert und nicht weiter hinterfragt wird. Wir verstehen den Satz »ohne weiteres und [lassen] ihn unbesehen gelten« (SvG 28), denn wir alle wissen, dass nichts ohne Grund ist und geschieht. Auch wenn wir uns nicht eigens Rechenschaft darüber ablegen, so gilt doch, dass dieser Satz unser Denken und Handeln gleichermaßen bestimmt, dass er »unausgesprochen alles menschliche Vorstellen und Verhalten überall lenkt« (SvG 15). Schon im Blick auf die »vulgäre« Form des Satzes vom Grund und ihre Herrschaft im alltäglichen Denken wird daher das deutlich, was den Satz vom Grund zu Recht als das »grande illud principium« charakterisiert, das von Heidegger auch als »großmächtiges« (SvG 48) oder auch »alles durchmachtende[s] Prinzip« (SvG 56) bezeichnet wird. Die Tragweite dessen, worum es im Zusammenhang mit dem Satz vom Grund gehen soll, wird damit von vornherein herausgestellt. Heidegger betont, dass es sich bei diesem Satz nicht nur um einen Grundsatz unter anderen, sondern zugleich um den obersten Grundsatz handle,300 weshalb das Ansinnen plausibel scheint, das Wesen des metaphysischen, auf diese Grundsätze sich beziehenden Denkens eben anhand genau dieses Grundsatzes genauer zu untersuchen. Damit aber tritt der Satz des Grundes in gewisser Weise an die Stelle, welche die Bestimmung des Wollens innerhalb der zweiten Schellingvorlesung einnahm. Die Beschäftigung mit dem Satz vom Grund soll dazu dienen, das Wesen des metaphysischen Denkens zu erfassen, das sich in einem bestimmten Seinsverständnis ausdrücke, das wiederum durch den Satz vom Grund entscheidend geprägt sei. Der Satz vom Grund aber scheint gerade wegen seiner Geltung im Alltagsdenken als Ansatzpunkt der Überlegungen überzeugender als die Bestimmung des Wollens, die in der Form des absoluten Willens zur Macht ein äußerst kompliziertes metaphysisches Konstrukt darstellt. Dass wir alle das Sein im Grunde als Wollen denken, ist eine Unterstellung, die zunächst wohl eher befremdlich als überzeugend klingen dürfte. Die Geltung des Satzes vom Grund hingegen scheint gänzlich außer Frage zu stehen und ebenso sein Geltungsbereich, der sich nicht nur auf das alltägliche Denken und Handelns beschränkt, sondern auch das naturwissenschaftlich-technische ebenso wie das philosophische, d. h. metaphysische Denken umfasst. Heidegger allerdings geht im Gegensatz dazu erst einmal davon aus, dass der Zusammenhang zwischen dem Satz vom Grund und dem Seinsverständnis auf 300 

Vgl. SvG 38.

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Anhieb nur undeutlich hervortrete. Erst nach einigen Wegen »um den Satz herum« kommen wir daher zu der »bestürzende[n] Einsicht« (SvG 75), dass der Satz vom Grund gar kein Satz über den Grund, sondern vielmehr ein Satz über das Seiende ist. »Der Satz vom Grund sagt nichts über den Grund aus. Der Satz vom Grund ist keine unmittelbare Aussage über das Wesen des Grundes« (ebd., Herv. Heidegger). Zu diesem Ergebnis war Heidegger allerdings auch schon 1929 – wie er hier anmerkt – in seinem Vortrag Vom Wesen des Grundes gekommen, weshalb er eine Beschäftigung mit dem Satz vom Grund dort, wo es wesentlich um die Bestimmung des Grundes selbst ging, für unfruchtbar erklärte.301 Hier aber, wo es nun wesentlich um das Seinsverständnis gehen soll, liegen die Dinge anders. Sofern der Satz vom Grund ein Satz über das Seiende ist, kann er nämlich Auskunft über dasjenige Seinsverständnis geben, das dem durch den Satz vom Grund beherrschten Denken zugrunde liegt. Allerdings scheint die bestürzende Einsicht so außerordentlich nun wieder nicht, wie Heidegger suggeriert. Dasselbe gilt wohl auch für die anderen Grundsätze, den Satz der Identität etwa, der seinerseits nichts über das Wesen der Identität aussagt.302 Die Rede von der »bestürzenden Einsicht« ist daher wohl eher rhetorisch motiviert: sie soll uns darauf vorbereiten, dass die eigentliche Erkenntnis, auf die es in der Vorlesung ankommt, ganz anderer Natur ist und sich dem alltäglichen wie dem metaphysischen Denken grundsätzlich entzieht. Das Denken, um das es aber vorläufig geht, ist das der Herrschaft des Satzes vom Grund unterstellte Denken, das sich, wie bereits 1941 deutlich wurde, auf die Seiendheit des Seienden konzentriert und damit das wahre Seinsverständnis nicht nur verfehlt, sondern zugleich den Zugang dazu verstellt. Ebenso wie bei der Bestimmung des Seins als Wollen besteht der ›Fehler‹ des Denkens im Zeichen des Satzes vom Grund darin, dass es sich nicht auf das Sein, sondern ausschließlich auf Seiendes beziehen soll. Anders als in der Vorlesung von 1941, in der der Bezug zwischen dem metaphysischen Denken und dem Problem der Seiendheit nur behauptet, aber nicht genauer untersucht wurde, geht Heidegger hier nun deutlicher auf die Problematik ein. Das Seinsverständnis dieses Denkens bekunde sich in dem Umstand, dass es nur dasjenige als seiend gelten lasse, was dem Satz vom Grund entspricht: »Etwas ›ist‹ nur, d. h. ist als Seiendes ausgewiesen, wenn es in einem Satz ausgesagt ist, der dem Grundsatz des Grundes als dem Grund301 

Vgl. SvG 84. diesem Grund kann Heidegger im Blick auf den Satz der Identität in Identität und Differenz das entsprechende Verfahren anwenden. Er kommt dabei auch zu ganz ähnlichen Erkenntnissen wie im Satz vom Grund: »Sagt der Satz der Identität etwas über die Identität aus? Nein, wenigstens nicht unmittelbar. Der Satz setzt vielmehr schon voraus, was Identität heißt und wohin sie gehört. […] Der Satz der Identität spricht vom Sein des Seienden. Als ein Gesetz des Denkens gilt der Satz nur, insofern er ein Gesetz des Seins ist, das lautet: Zu jedem Seienden als solchem gehört die Identität, die Einheit mit ihm selbst« (IuD 12). 302  Aus



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satz der Begründung genügt« (SvG 47). Umgekehrt wiederum lässt sich sagen, dass alles, was als seiend gelten kann, unter der Herrschaft des Satzes vom Grund steht, sofern es diesem zu genügen hat. In diesem Sinne scheint eine starke Forderung, ein »Anspruch« (SvG 48) vom Satz vom Grund auszugehen – eine Forderung, die sich anscheinend nicht nur an das Denken richtet, sondern darüber hinaus das Seiende selbst zu betreffen scheint. Diese Forderung drückt sich Heidegger zufolge besonders deutlich in der Fassung des Satzes vom Grund als »principium reddendae rationis« bei Leibniz aus, die Heidegger auch als die »strenge Form des Satzes vom Grund« (SvG 63) bezeichnet. Hier nämlich werde die Forderung des Satzes deutlich, dass für jedes Seiende ein Grund »zurückgegeben« werden müsse. Die Macht aber, die sich in dieser Forderung nach einer jeweiligen Rückgabe des Grundes ausdrückt, bleibe nicht auf den Bereich des Denkens beschränkt, wie Heidegger betont: »[Das] principium rationis ist in der Form des reddendae rationis ganz und gar keine Einschränkung des Prinzips auf das Erkennen. Es liegt viel daran, dies von Anfang an klar zu sehen. Denn nur aus dieser Einsicht verstehen wir ganz, in welchem Sinne das principium rationis das principium grande, das großmächtige Prinzip ist« (SvG 46). Zugleich besteht die Macht des Satzes vom Grund aber darin, dass alles, was dem Satz vom Grund nicht genügt, als unvorstellbar, ja, undenkbar erscheint. Ein Sein jenseits begründeter Seiendheit muss vom Denken ausgeschlossen werden. »Der Geltungsbereich des Satzes vom Grund umfängt« damit alles, was ist, anders gesagt, »alles Seiende bis zu seiner ersten seienden Ursache, diese eingeschlossen« (SvG 53). Metaphysisches Denken scheint auf diese Weise einen abgeschlossenen Raum zu bilden, der noch den Grund selbst einschließen soll. Jenseits dieses Geltungsbereichs hingegen kann nichts gedacht werden. Sofern aber Sein innerhalb dieses Raumes als Seiendheit bestimmt wird, verdrängt – so scheint Heideggers sagen zu wollen – die Seiendheit das eigentliche Sein, setzt sich an dessen Stelle und besiegelt die völlige Seinsvergessenheit.303 Anders als in der Vorlesung von 1941 markiert Heidegger nun auch deutlich, wodurch sich ein Denken der bloßen Seiendheit seiner Ansicht nach auszeichne, und was es als Seiendheit (bzw. als Sein, was ja identisch sein soll) bestimme. Es handelt sich dabei um einen der Aspekte, die auch 1941 schon als Charakteristikum des metaphysischen Denkens – dort aber nur als eines unter vielen – angeführt wurde. Herausgehoben wird im Zusammenhang der Vorlesung über den Satz vom Grund vor allem die »Gegenständigkeit« des Seienden, die verbunden mit dem Begriff der Vorstellung ins Spiel kommt: »Rationem reddere heißt: den Grund 303 

Wie Heidegger dies genau meint, ist eine schwierige Frage, um die die Probleme der Metaphysikkritik und des Übergangs zum neuen Denken gerade kreisen. An dieser Stelle soll es daher bei vorsichtigen Andeutungen bleiben, die im folgenden, der Metaphysikkritik selbst gewidmeten Kapitel präzisiert werden.

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zurückgeben. Weshalb und wohin zurück? Weil es sich […] allgemein gesprochen im Erkennen um das Vor-stellen der Gegenstände handelt, kommt dieses Zurück ins Spiel« (SvG 45). »Zur Gegenständigkeit des Gegenstandes für das Vorstellen« gehöre daher »die Vorgestelltheit der Gegenstände« (SvG 46).304 Den Begriffen von Vor-stellung und Gegen-ständigkeit scheint erneut gemein zu sein, dass sie auf einer Trennung basieren, die zwischen dem Vorstellenden und dem Vorgestellten, anders gesagt, zwischen Subjekt und Objekt, oder auch zwischen Mensch und Sein, bestehen soll.305 »Das reddendum«, so heißt es an einer Stelle, habe sich »zwischen den denkenden Menschen und seine Welt geschoben, um sich des menschlichen Vorstellens auf eine neue Weise zu bemächtigen« (SvG 48). Die Kritik an einer solchen Trennung und Gegenüberstellung aber tauchte schon im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1936 auf, wo sie allerdings auf das Denken der cartesisch aufgefassten Neuzeit beschränkt wurde. Der Vorlesung über den Satz vom Grund zufolge – die in diesem Sinne an die Schellingdeutung von 1941 anschließt, weil sie in Schellings Freiheitsschrift die Fortsetzung der Tendenzen erkennt, die schon das Denken der Neuzeit auszeichnen – soll gelten, dass dieser Seinsbegriff, der in der »Gegenständigkeit der Gegenstände« besteht, vor allem für das Denken von Leibniz prägend sei, weil dieser den Anspruch des Grundes besonders klar hervorgehoben habe. Während Heidegger also noch 1941 mit einem unklaren Begriff des Wollens operierte, der mit anderen Begriffsfeldern wie dem der Subjektivität auf ebenso undurchsichtige Weise verbunden wurde, scheint er hier mit der Bestimmung der »Gegenständigkeit« eine eindeutige Charakterisierung des wesentlichen Merkmals metaphysischen Denkens vorzulegen. Andererseits aber gibt Heidegger den Begriff des Wollens als Zentralbegriff der Metaphysik auch nicht völlig auf. Dass sich nämlich Sein »als Gegenständigkeit für das Bewußtsein« enthülle, sage »zugleich: Sein bringt sich als Wille zum Vorschein« (SvG 115). Diese Verbindung von Vorstellung und Wollen war ihrerseits bereits in der Vorlesung von 1936 im Zusammenhang mit Leibniz klar ausgesprochen worden. Dort hieß es: »Wollen ist Streben und Begehren, aber nicht als blinder Trieb und Drang, sondern geleitet und bestimmt durch die Vorstellung des Gewollten. Das Vorgestellte und das Vorstellen, die idea, ist so das eigentlich Wollende im Wollen. Seyn als Wollen begreifen heißt, es von der idea her, aber nicht nur als idea […] zu begreifen. Der Ansatz zu diesem idealistischen Begriff des Seyns ist bei Leibniz gemacht. Die Substanz, das für sich bestehende Seiende ist, was es ist, als perceptio und appetitus, Vorstellen und Streben […]. [D]as Streben ist in sich vorstellendes und das Vorstellen ist strebend, und das vorstellende 304  Vgl. auch SvG 54: »Nur das in einem begründeten Vorstellen zum Stehen Gebrachte kann als Seiendes gelten.« 305  Vgl. z. B. folgende Stelle: »Der Grund als solcher verlangt es, als Grund zurückgegeben zu werden –, zurück (re) nämlich in der Richtung auf das re-praesentierende, d. h. vorstellende Subjekt und durch dieses für es« (SvG 54, Herv. Heidegger).



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Streben (Wollen) ist die Grundweise des Seins des Seienden, auf Grund deren und dergemäß es je ein In-sich-einiges, Seiendes ist« (VL 36, 114 f.).306 1936 allerdings schien der Begriff des Wollens – wie gesehen – gerade gegen das falsche Verständnis des Seins im Sinne von Vorhandenheit und Gegenständigkeit gerichtet zu sein. Die Verbindung des Wollens mit dem Begriff der Vorstellung aber zeigte schon im Rahmen der Vorlesung von 1941 – erneut im Zusammenhang mit Leibniz – die Umdeutung des Begriffes zur zentralen Kategorie des metaphysischen Denkens an. Als Seiendes, so Heidegger dort, sei ein solches ausgewiesen, was sich »selbst in seinem Wesen zustellt und in solcher Zustellung vorstellt und vorstellend sich erstrebt (Ge-stell)« (VL 41, 80)307. In diesem Sinne scheint der Begriff der Vorstellung, der in beiden Kontexten eine Rolle spielt, das entscheidende Verbindungsglied zu sein. Dennoch räumt Heidegger in Der Satz vom Grund zugleich ein, dass es »eine eigene und für das heutige Vorstellen noch recht schwer zu fassende Aufgabe [sei] zu zeigen, inwiefern« Gegenständigkeit und Wille dasselbe sagten (SvG 115). Wenngleich also in der Vorlesung über den Satz vom Grund der Begriff des Wollens in den Hintergrund tritt und sich Heidegger grundlegend auf das Problem der Gegenständigkeit konzentriert, ist eine Kontinuität der Probleme nicht abzustreiten. Diese aber lässt ebenfalls erkennen, dass es Heidegger auch hier noch nicht gelungen ist, eine zentrale Bestimmung der Metaphysik zu etablieren, in der alle anderen Bestimmungen zusammenlaufen. Wie die unterschiedlichen Aspekte wirklich zusammenhängen sollen, bleibt, wie etwa der Verweis auf Übereinstimmung von Gegenständigkeit und Wille zeigt, noch ungeklärt. Die Vorlesung, die sich auf den Satz vom Grund und mit diesem vor allem auf Gegenständigkeit und Vorstellung als Wesensmerkmale des metaphysischen Denkens konzentriert, ist in diesem Sinne nur scheinbar eindeutiger und bleibt den Problemen der Schellingvorlesung verbunden. Im Blick auf die Frage nach dem Zusammenhang der Vorlesung über den Satz vom Grund mit der Schellingauslegung steht allerdings ohnehin noch der Einwand im Raum, dass die genannte Probleme und Motive ebensogut ohne jeden Bezug auf Schelling und auf die Interpretationen der Freiheitsschrift von 1936 und 41 verstanden werden können, weil sie als Topoi der Heideggerschen Metaphysikkritik gelten 306  In

diesem Zusammenhang war allerdings bereits darauf hingewiesen worden, dass die Verbindung von Vorstellung und Streben wie bei Spinoza eine Gleichzeitigkeit beinhaltet, dass es also nicht darum geht, ein zunächst Vorgestelltes dann zu erstreben, wie Heidegger nahelegt. In diesem Sinne ist allerdings die Trennung bereits aufgehoben, die andererseits im Zentrum von Heideggers Kritik an der Gegenständigkeit zu stehen scheint. 307  Vgl. hierzu auch folgende Äußerung in Der Satz vom Grund: »Die Grund-erfahrung des leibnizischen Denkens geht sogar so weit zu sagen, auch das, was wir leblose Materie zu nennen pflegen, sei vorstellend. Jedes Wesen ist nach Leibniz Lebewesen und als solches vorstellend-strebend« (SvG 79).

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dürften. Die zentrale Bestimmung des Wollens etwa stand in der Vorlesung von 1941 ja nicht für sich, sondern blieb dort, wo es um Schelling selbst ging, wesentlich auf die Unterscheidung von Grund und Existenz bezogen, von der hier noch gar keine Rede war. Wenn also die Vorlesung über den Satz vom Grund spezifischer mit Schelling in Verbindung gebracht werden sollen, so müsste hier wenigstens diese Unterscheidung und damit das sogenannte »Kernstück« der Freiheitsschrift eine Rolle spielen. Und in der Tat ist genau das der Fall. Allerdings gilt dies weniger für den ersten Teil der Vorlesung, der dem metaphysischen Denken gewidmet ist, sondern viel eher für den Übergang zum zweiten Teil, für die zweite »Tonart« des Satzes vom Grund und die sich anschließenden Überlegungen zur Seinsgeschichte.

1.2 Wandel der »Tonart«: der Satz vom Grund als »Sage vom Sein«308 Der Übergang zum zweiten Teil der Vorlesung wird durch eine »Tonart« des Satzes vom Grund in die Wege geleitet, die sich von der metaphysischen grundlegend unterscheiden soll. Sie leitet sich daher auch nicht von der »strengen« Form des Satzes vom Grund ab, wie sie bei Leibniz vorliegt, sondern stützt sich auf eine bestimmte Betonung des Satzes in seiner alltäglichen Form: »Nichts ist ohne Grund«. »Wir können sagen,« so Heidegger, »Nihil est sine ratione. Nichts ist ohne Grund. In der bejahenden Form heißt dies: Alles hat einen Grund. Wir können jedoch den Ton auch so legen: Nihil est sine ratione. Nichts ist ohne Grund. In der bejahenden Form heiß dies: Jedes Seiende (als Seiendes) hat einen Grund« (SvG 75, Herv. Heidegger). Die metaphysische Tonart also betone »Nichts« und »ohne«, während die neue Tonart den Schwerpunkt auf »ist« und »Grund« lege und damit eine wesentliche Erkenntnis über das Sein, den Zusammenhang nämlich von Sein und Grund, zutage fördere. Die Rede von den Tonarten scheint für sich genommen zunächst wenig plausibel, vor allem im Blick auf die erste, die metaphysische Tonart. Dass bei der Betonung von »Nichts« und »ohne« im Wortsinne nichts erklingen kann, ist ebenso offensichtlich wie es fraglich erscheinen dürfte, warum gerade die metaphysische oder aber auch die geläufige Betonung des Satzes ausgerechnet vom »Nichts« handeln 308 

»Sage vom Sein« ist ein Ausdruck, den Heidegger in Der Satz vom Grund nicht verwendet. Hier ist statt dessen nur die Rede von einem »Sagen« vom Sein. In den Beiträgen hingegen spricht Heidegger anstelle des »Sagens« auch von einer »Sage«. Vgl. z. B. BP 79: »Wir können das Seyn selbst […] nie unmittelbar sagen. Denn jede Sage kommt aus dem Seyns her […].« Tatsächlich scheint diese Formulierung insofern sinnvoll, als sie nicht nur die andere Art und Weise des Redens über das Sein (das eigentlich nicht als Reden über das Sein, sondern als Reden »aus dem Sein« verstanden werden soll) zum Ausdruck bringt, sondern auch Heideggers Verständnis des Seins im Sinne von Seinsgeschichte einschließt. In dieser Bedeutung taucht der Begriff z. B. in Über den Anfang auf, wenn Heidegger von einer »Sage des Anfangs« (ÜA 99 und 102) spricht.



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solle.309 In den vorangegangenen Ausführungen zum metaphysischen Denken war keinerlei Anhaltspunkt dafür zu finden. Dennoch ist die Rede von den Tonarten wichtig, weil sie von vornherein auf die andere Art des Denkens hinweist, um die es Heidegger zu tun ist. »Denn durch den jetzt gehörten Wechsel der Tonart«, so Heidegger, wird der Satz vom Grund zu einem ganz anderen Satz, anders nicht nur hinsichtlich dessen, was der Satz als Satz vom Sein sagt, sondern auch in bezug auf die Weise, wie sein Gesagtes sagt, wie er da noch ›Satz‹ ist« (SvG 102 f.). Das neue Denken wird dabei im Unterschied zum metaphysischen als ein »hörendes« bzw. als ein zugleich hörendes und sehendes Denken ausgezeichnet. »Das Denken soll«, so Heidegger, »Hörbares erblicken. Es er-blickt dabei das zuvor Un-erhörte. Das Denken ist ein Er-hören, das erblickt« (SvG 86). Das geforderte Denken wird auf diese Weise als ein solches gekennzeichnet, das sich wesentlich auf Anderes einlassen kann – auf ein Anderes, das sich, wie Heidegger formuliert, von sich aus »zuschickt« oder auch »zuspricht«, ohne dabei verfügbar zu werden. Das auf dieses Andere gerichtete Denken scheint zugleich damit die Bereitschaft vorauszusetzen, etwas Neues, bisher Unbekanntes zu vernehmen. Insofern bezieht sich die Gegenüberstellung der Tonarten wohl wesentlich auf die jeweilige Einstellung des »Hörers« und weniger auf das, was in den Tonarten erklingt. Wer »Nichts« und »ohne« vernimmt, so könnte man sagen, der hört in Wahrheit gar nicht hin und kann eben deshalb auch nichts vernehmen. Nur wer überhaupt hinhört, vernimmt demgegenüber eine Tonart, bei der es sich folglich nur um die zweite und damit um den Zusammenklang von »ist« und »Grund« handeln kann. Wer hinhört, ist damit zwar noch nicht auf der anderen Seite, jenseits des Übergangs, aber er ist doch immerhin schon auf dem Weg dahin. Was aber offenbart sich dem hörenden Denken, wenn es auf die eigentliche Tonart des Satzes vom Grund hört? Das aufmerksam gewordene Denken hört, so Heidegger, den Zusammenklang von »ist« und »Grund«. Das scheint insofern nicht neu, als bereits im ersten Teil deutlich geworden war, dass der Satz vom Grund Auskunft über ein Seinsverständnis gibt. Und tatsächlich besteht hier ein Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Problem, da erst das Vernehmen der zweiten Tonart erklären kann, warum es sich bei der Erkenntnis, dass der Satz vom Grund nicht als unmittelbare Aussage über den Grund, sondern als Aussage über das Seiende zu verstehen sei, um eine »bestürzende« Erkenntnis handeln soll. Der »Vollzug der Einsicht« nämlich, »daß der Satz vom Grund nicht unmittelbar über den Grund aussagt, sondern über das Seiende«, sei, so Heidegger, »ein gefährlicher Schritt. Er führt in eine kritische Zone des Denkens« (SvG 84). Kritisch ist diese Zone insofern, als sie – und auch damit möchte Heidegger die Bedeutsamkeit des neuen Denkens und ihre Tragweite hervorheben – den Boden des geläufigen, sich angeblich nur mit dem Seienden beschäftigenden Denken verlässt und ein neues, noch unbekanntes Ter309 

Auch die positive Form, bei der »Alles hat« betont werden soll, ist wenig überzeugend.

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rain eröffnet. Die zweite Tonart geht damit über das im ersten Teil bereits Erkannte insofern hinaus, als der Satz nun nicht mehr wie beim metaphysischen Denken als »Aussage über das Seiende« verstanden wird. Das »ist« nenne vielmehr, »wenngleich völlig unbestimmt, das Sein des je und je Seienden. […] Der Satz vom Grund sagt vom Sein des Seienden« (SvG 90). Indem wir den Schritt zum Sein des Seienden vollziehen, gehen wir über die Erkenntnis, dass der Satz vom Grund etwas über das Seiende aussagt, wesentlich hinaus, und dies nicht nur deshalb, weil jetzt die Rede von einem Sein ist, das sich offenbar von dem als Seiendheit verstandenen Sein des metaphysischen Denkens unterscheiden soll. Anders als im Vortrag von 1929 über Das Wesen des Grundes nämlich behauptet Heidegger hier, dass die Einsicht, der Satz vom Grund spreche vom Sein des Seienden, in Wahrheit nicht ausschließe, dass der Satz nicht zugleich auch vom Grund »sage«. Denn was in der zweiten Tonart erklinge, sei der Zusammenklang von »ist« und »Grund«, der wiederum auf einen grundlegenden Zusammenhang von Sein und Grund führen soll: »Sein und Grund gehören zusammen. Aus seiner Zusammengehörigkeit mit dem Sein als Sein empfängt der Grund sein Wesen. Umgekehrt waltet aus dem Wesen des Grundes das Sein als Sein. Grund und Sein (›sind‹) das Selbe, nicht das Gleiche, was schon die Verschiedenheit der Namen ›Sein‹ und ›Grund‹ anzeigt. Sein ›ist‹ im Wesen: Grund« (SvG 92 f.). Dies bedeutet, anders gesagt, dass Sein selbst »grundartig, grundhaft« (SvG 90) sei, eine Formulierung, die wesentlich zu unterscheiden ist von der metaphysischen Aussage: »Sein hat einen Grund«: »›Sein ist grundhaft‹ meint also keineswegs: ›Sein hat einen Grund‹, sondern sagt: Sein west in sich als gründendes« (ebd., Herv. Heidegger). Es kann daher »nie erst noch einen Grund haben, der es begründen sollte. Demgemäß bleibt der Grund vom Sein weg. Der Grund bleibt ab vom Sein. Im Sinne solchen Abbleibens des Grundes vom Sein »ist« das Sein der Ab-Grund« (SvG 93). Und als ein solches falle es, anders als das höchste Seiende der Metaphysik, die »erste seiende Ursache« (SvG 53), »nicht in den Machtbereich des Satzes vom Grund« (SvG 93). Diese Bestimmungen des Seins, die sich aus der zweiten Tonart ergeben, fasst Heidegger nun noch einmal in zwei grundlegende Ausdrücke, bzw. in zwei Sätze, die insgesamt drei Aspekte bzw. Strukturmomente des Seins miteinander in Verbindung bringen: Sein, Grund und Ab-Grund. »Einmal sagen wir: Sein und Grund: das Selbe. Zum anderen sagen wir: Sein: der Ab-Grund« (SvG 95). Beide Sätze aber stellen in Wahrheit nur zwei verschiedene Ausdrücke für ein und dasselbe dar. Insofern komme es zugleich darauf an, »die Einstimmigkeit beider ›Sätze‹, der Sätze, die keine ›Sätze‹ mehr sind, zu denken«. (SvG 93) Sein zerfällt also nicht in die Momente Grund, Sein und Ab-grund, sondern bleibt wesentlich »einzig«, »der absolute Singular in der unbedingten Singularität« (SvG 143). Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Heidegger sich zuvor intensiv mit Schellings Freiheitsschrift beschäftigt hat, drängt sich der Gedanke geradezu auf, dass es



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sich bei dieser Darstellung von Sein um eine Struktur handelt, die der dreiteiligen Struktur von Grund, Existenz und deren Einheit in der Freiheitsschrift entspricht. »Sein und Grund: das Selbe« ließe sich dabei auf die Unterscheidung von Grund und Existenz beziehen, während das Moment des Ab-grundes dem des Ungrundes bei Schelling entspräche. Im Blick auf den Abgrund allerdings scheint ein ebenso unmittelbar sich aufdrängender Einwand den Zusammenhang mit der Freiheitsschrift auch schon wieder in Frage zu stellen. Explizit wird hier der Ausschluss jeder Form von Selbstbegründung ausgesprochen, die im Gegensatz dazu bei Schelling, schon im Blick darauf, dass die Unterscheidung von Grund und Existenz auch als eine Transformation der causa sui zu verstehen ist, eindeutig mitgedacht werden muss. Dieser Einwand scheint durchaus grundlegend und muss daher im Auge behalten werden. Ob der Ausschluss von Selbstbegründung aber als Einwand gegen die Vergleichbarkeit der Strukturen ausreicht, ist eine Frage, die vorerst zurückgestellt werden soll. Statt dessen sei hier ein weiteres Indiz genannt, das im Gegensatz zu diesen Bedenken die Idee einer positiven Bezugnahme zunächst einmal zusätzlich unterstützt. Denn im Zusammenhang mit der Rede von der Tonart und dem hörenden Denken greift Heidegger einen Gedanken auf, den er 1936 bereits als das »Erkenntnisprinzip« der Freiheitsschrift bestimmt hatte, den Gedanken, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werde. Die Übereinstimmung fällt vor allem deshalb ins Auge, weil Heidegger in beiden Fällen denselben Vers von Goethe zitiert:310 »Wär nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?«311 In beiden Fällen geht es dabei vor allem um die Frage nach dem »Verhältnis des Menschen zum Seienden« (VL 36, 64), das, der Vorlesung über den Satz vom Grund zufolge, als ein »Entsprechen« gedacht werden soll (SvG 88). »Es scheint, so Heidegger 1953, »wir haben bis heute noch nicht genügend dem nachgedacht, worin das Sonnenhafte des Auges besteht und worin des Gottes eigene Kraft in uns beruht; inwiefern beides zusammengehört und die Weisung auf ein tiefer gedachtes Sein des Menschen gibt, der das denkende Wesen ist« (ebd.). Nur weil Mensch und Sein in einem wesentlichen Verhältnis stehen, kann Sein in seiner Wahrheit erkannt werden. In diesem Sinne gilt, dass dieses Verhältnis als Grundlage unseres Erken310 

Vgl. SvG 88 und VL36, 67. selbst zitiert diesen Vers in Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft von 1821 im Zusammenhang mit der »uralte[n] Lehre, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werde« (IX, 221). Bemerkenswert ist zudem der Umstand, dass gerade dieser Vers bereits von Jacobi in Anspruch genommen wird (GD 29, Anm.), wodurch sich andeutet, dass die drei Positionen einen entscheidenden Berührungspunkt haben. 311  Schelling

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nens aufgefasst werden muss. »Das Verhältnis des Menschen zum Seienden ist«, wie Heidegger in der Vorlesung von 1936 formuliert, »nicht die Folge seiner Erkenntnisse, sondern umgekehrt der bestimmende Grund der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt.«312 Im Verweis auf diesen Bezug drückt sich damit der Gedanke einer Umkehrung aus, der der Rede von der Tonart und dem damit verbundenen hörenden Denken wesentlich entspricht, und der zugleich der Interpretation von 1936 zufolge bereits das Denken der Freiheitsschrift auszeichnen sollte.313

2. Der Zusammenhang der Sage vom Sein mit der Auslegung der Freiheitsschrift 2.1 Vergleich der Begriffe Grund, Existenz und Ungrund in den Vorlesungen von 1936 und 1941 mit den Begriffen Grund, Sein und Ab-grund in Der Satz vom Grund Um zu zeigen, dass eine Vergleichbarkeit der Struktur nicht nur auf einer rein äußerlichen Ebene besteht, sollen zunächst einmal die die grundlegende Struktur konstituierenden Momente in ihrer konkreten Bestimmung in den Blick genommen werden. Wie bestimmt Heidegger Grund, Sein und Ab-grund in Der Satz vom Grund und wie bestimmt er demgegenüber Grund, Existenz und Ungrund in den Schellingvorlesungen? Erschwert wird ein solcher Vergleich allerdings dadurch, dass die Struktur des Seins bei Heidegger durch Momente konstituiert wird, die beide für sich genommen problematische Begriffe darstellen. Das gilt ohnehin für den Begriff »Sein«, der das zentrale Problem des Heideggerschen Denkens überhaupt markiert. Daneben aber betrifft es offensichtlich auch den Begriff des Grundes, der ja den Aus312  In der Vorlesung von 1941 drückt Heidegger diesen Gedanken des »Erkenntnisprinzips« folgendermaßen aus: »Die Aus-einander-setzung ist die Erfahrung der Wahrheit des Seienden als einer Wesung des Seins. Die Erfahrung, wie die Geschichte des Seins uns selbst durchwaltet und so in unerreichte Aufenthalte trägt, in denen eine Entscheidung zur Gründung der Wahrheit des Seins fallen muß. Aus-einander-setzung ist die Versetzung in diesen Entscheidungsbereich« (VL 41, 140). 313  Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Heidegger schon 1936 betont, dass er mit »dieser Fassung des Prinzips der Erkenntnis, des Wissens, der Wahrheit überhaupt und mit der hiernach ausgerichteten Fassung der Aufgabe einer Bestimmung des Erkenntnisprinzips im besonderen […] der Form nach allerdings schon über Schelling und die ganze bisherige Behandlung dieser Aufgabe hinaus[gehe]. (Die Gründung des Da-seins)« (VL 36, 64). Einerseits scheint das die Vorbehalte gegenüber einer wirklichen Vergleichbarkeit zu bestätigen. Andererseits aber zeigt sich gerade an dem Verweis auf die »Gründung des Da-seins«, dass es hier um einen Punkt geht, der Heidegger schon 1936 grundlegend erschien und der unter anderem den »wesentlichen Bezug« unterstreicht, von dem Heideggers Interpretation 1936 ihren Ausgang genommen hatte.



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gangspunkt und damit auch einen wesentlichen Gegenstand der Vorlesung über den Satz vom Grund darstellt. Insofern dürfte von vornherein klar sein, dass sich hier keine einfachen Begriffsdefinitionen geben lassen. Zudem gilt, dass es mit diesen Begriffen zugleich um einzelne Momente einer übergeordneten Struktur geht, die insofern zureichend nur im Verhältnis zueinander bestimmt werden können. Dennoch lässt sich auch auf dieser vorläufigen Ebene schon erkennen, dass Heidegger bei der ›Sage vom Sein‹ Bestimmungen aufgreift, die er vor allem in seiner Schellingdeutung 1936 hervorgehoben hatte.

a) Grund Schon anhand der Freiheitsschrift selber wurde deutlich, dass gerade der Begriff des Grundes Probleme birgt. Weil das Strukturmoment des Grundes viele durchaus unterschiedliche Funktionen übernehmen sollte, umfasste auch der Begriff des Grundes verschiedene Bedeutungen wie ratio, Ursache und potentia. Ebenso deutlich wurde aber auch, dass Schelling selbst den Begriff der ratio explizit zurückweist, ebenso wie den der Ursache, den er mit dem Gedanken von Mechanismus in Verbindung bringt. Dieser Umstand kann verständlich machen, dass Heidegger in beiden Vorlesungen auf eine genauere Klärung des Begriffs bei Schelling zunächst verzichtet. Dennoch wird deutlich, dass Heidegger in der Vorlesung von 1936 Schellings Vorgaben insofern folgt, als er vor allem die Interpretation des Grundes als ratio ablehnt und statt dessen den Begriff »Grund-lage« favorisiert. Grund bedeute, so Heidegger 1936, »für Schelling immer Grund-lage, Unterlage, Basis, also nicht Grund im Sinne der ratio, nicht mit dem Gegenbegriff ›Folge‹, sofern die ratio angibt, warum ein Satz gilt bzw. nicht gilt«. Grund sei vielmehr »für Schelling gerade das Nicht-Rationale« (VL 36, 129). Eindeutig ist nun, dass Heidegger bei der ›Sage vom Sein‹ in Der Satz vom Grund die Bedeutung von ratio ebenso zurückweist, wie er dies, darin Schellings Auffassung folgend, 1936 getan hatte. Ratio gilt im Gegenteil gerade als das Schlüsselwort für metaphysisches Denken, das die wahre Dimension des Grundes letztlich verstellt. In diesem Sinne greift Heidegger bei der positiven Bestimmung des Grundes auf eben die Bedeutung zurück, die er auch 1936 hervorgehoben hatte. »Fragen wir nach der Grundbedeutung des Wortes ›Grund‹«, so Heidegger 1955, so haben wir mit dieser Frage schon geantwortet, d. h. angeführt, was wir mit ›Grund‹ meinen, nämlich die Basis, den Fundus, worauf etwas ruht, steht und liegt« (SvG 156). Grund meine »ins Ganze gedacht den tiefer gelegenen und zugleich tragenden Bereich« (SvG 162). Mit dieser gewissermaßen neutralen Bestimmung weist Heidegger auch hier nicht nur den Begriff der ratio, sondern ebensosehr die Dimension der Ursache zurück, die er mit dem Satz vom Grund als grande illud principium unmittelbar verbunden sieht, wie sich schon an Leib-

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niz’ Formulierung nihil est sine ratione seu nullus effectus sine causa zeige.314 Eventus und efficere »gehören […] in den Bereich der ratio« (SvG 168), des rechnenden Denkens, das es zu überwinden gilt. Dies – die Überzeugung also, dass der Begriff der Ursache einem rechnenden, mechanistischen Denken zugehöre – verbindet das Seinsdenken Heideggers mit Schelling selbst ebenso wie mit seiner ursprünglichen Schellingauslegung von 1936. »Wenn Gott der Grund ist«, so Heidegger 1936, »und Gott selbst nicht ein Mechanismus und eine mechanische Ursache, sondern schöpferisches Leben, dann kann das von ihm Bewirkte selbst kein bloßer Mechanismus sein« (VL 36, 105). Die kritische Vorlesung von 1941, die versucht, Schelling als Vertreter der Metaphysik zu kennzeichnen, muss also demgegenüber den noch 1936 abgelehnten Begriff der ratio ins Zentrum stellen. Ratio gelte, so denn auch Heidegger 1941, als »Leitwort für das, was wir Grund nennen« (VL 41, 161), und meine »›in Rechnung stellen‹, die Rechenschaft geben, den Grund geben, […] aber auch das in der Rechenschaftsgebung Gegebene, der Grund, ratio sufficiens« (VL 41, 81). Dennoch macht die zweite Schellingvorlesung deutlich, dass es Heidegger in Wahrheit schwer fällt, eine Verbindung zwischen dem Begriff des Grundes bei Schelling und der beschriebenen metaphysischen Fassung plausibel herzustellen. Denn dort, wo Heidegger in der Vorlesung von 1941 zum ersten Mal auf den Begriff des Grundes zu sprechen kommt, geht er erneut von der oben bereits herausgestellten »Grundbedeutung« aus. Grund sei, so Heidegger im Rahmen der »begriffsgeschichtlichen Untersuchung« als »ὑποκείμενον, Unterliegendes, Vorliegendes, Basis, subjectum« (VL 41, 82) bestimmt. In der Bestimmung »subjectum« scheint sich zwar bereits ein möglicher Zusammenhang mit der »neuzeitlichen Auslegung des Seienden als Subjektivität« anzudeuten, die eine Verbindung zum metaphysischen Denken und dessen Grundbegriff im Sinne der ratio nahelegen würde. Das aber sei, so Heidegger in diesem Kontext, »jetzt noch nicht durchsichtig« (ebd.). Dass der Zusammenhang zwischen dem Begriff des Grundes, den Schelling in der Freiheitsschrift verwendet, und dem als ratio bestimmten Begriff bis zum Schluss nicht deutlich wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Heidegger schon hier wesentlich auf Leibniz Bezug nimmt, der bloß in letztlich unbestimmter Weise als Vorläufer von Schellings Denken bestimmt wird.315 Am Begriff des Grundes deutet sich damit schon an, dass sich Schelling (anders als Leibniz) nur undeutlich in den Rahmen einer solchermaßen bestimmten Metaphysik einfügen lässt, während er als Vorbild für ein das ganz andere Seinsdenken offenbar besser geeignet ist.

314  315 

SvG 43. Vgl. z. B. VL 41, 162.



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b) Existenz/Sein Beim Begriff der Existenz liegt der Fall insofern anders, als Schelling selbst diesen Begriff weder besonders problematisierte, noch ihn von anderen Begriffsbedeutungen abzugrenzen versuchte. Die Schwierigkeit lag in diesem Falle eher darin, dass Existenz zugleich die Einheit wie auch das eine Moment der Unterscheidung bezeichnen sollte, und dass das Strukturmoment Existenz zudem eng mit dem Problem der Idealität verbunden wurde. Heideggers Interpretation von 1936 zufolge gebraucht Schelling »das Wort Existenz in einem Sinne, der dem Wortbegriff näher bleibt als die seit langem übliche Bedeutung von ›Existieren‹ als Vorhandensein. Ex-sistenz, das aus sich Heraus-tretende und im Heraus-treten sich Offenbarende« (VL 36, 129). 1936 hält Heidegger es daher für eindeutig, dass die Unterscheidung von Grund und Existenz »sich keineswegs deckt mit einer in der Philosophie geläufigen: der von essentia und existentia, ›Wesenheit‹ und ›Dasein‹, ›Was-sein‹ und ›Daß-sein‹« (ebd.). Andererseits aber wurde im Zusammenhang mit Schelling bereits darauf hingewiesen, dass der Bezug der Unterscheidung von Grund und Existenz auf die klassische Unterscheidung von Wesen und Existenz keineswegs fernliegt und dass im Gegenteil die spinozische Definition der causa sui als eines solchen, dessen Essenz Existenz einschließt auf einen derartigen Zusammenhang gerade hindeutet. Insofern scheint es weder erstaunlich noch unpassend, dass Heidegger 1941 seine begriffsgeschichtlichen Erörterungen gerade von der genannten Unterscheidung von essentia und existentia ausgehen lässt. Zwar spricht Heidegger sich hier nicht klar über den Zusammenhang des Schellingschen Existenzbegriffes mit dem Begriff von existentia aus – seine Darstellung aber suggeriert, dass es einen solchen zumindest geben müsse. Metaphysik bestimmt, so Heideggers hier vertretene Überzeugung, »Sein (existentia, Wirklichkeit) als Subjektivität (Subjecität), d. h. Vorstellen« (VL 41, 100). Sofern also dieser Begriff der Existenz im Sinne des obigen Zitats – d. h. im Zusammenhang mit den Bestimmungen Subjektivität und Vorstellen – als metaphysischer Seinsbegriff gedeutet werden kann, ist unmittelbar klar, dass die eigentliche Bestimmung des Begriffs ›Sein‹ im Kontext der ›Sage vom Sein‹ nicht auf einen solchen Begriff der Existenz zurückkommen kann. Statt dessen greift Heidegger in Der Satz vom Grund auf den griechischen Begriff der φύσις zurück, den er als »von-sich-her-Aufgehen« übersetzt. »Von-sich-her-Aufgehen« aber scheint dem Existenzbegriff der Vorlesung von 1936 im Sinne des »aus sich Heraus-tretenden und im Heraus-treten sich Offenbarenden« durchaus vergleichbar.316 Noch deutlicher wird die Übereinstimmung, wenn man beide Bestimmungen, den des Grundes wie 316  Der einzige Unterschied dürfte darin zu sehen sein, dass Heidegger nun nur noch die Verbform verwendet, nicht aber das Partizip als ein »Von-sich-her-Aufgehendes«. Darin zeichnet

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den der Existenz bzw. des Seins, in ihrer Zusammengehörigkeit betrachtet, die sich laut Heidegger im λόγος ausdrücke. Dieser sage »in Einem zumal […]: Vorliegenlassen als Aufgehenlassen, von-sich-her-Aufgehen: φύσις, Sein; und: Vorliegenlassen als Vorlegen, Boden bilden, Gründen, Grund« (SvG 180), womit er die beiden Bestimmungen versammelt, die Heideggers Interpretation von 1936 zufolge auch die Unterscheidung von Grund und Existenz ausmachten.

c) Ungrund/Ab-grund Das dritte, die Struktur vervollständigende Moment, der Begriff des Ungrundes, stellt insofern einen Sonderfall dar, als er von Heidegger weder in der Vorlesung von 1936 noch in der von 1941 mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wurde. In beiden Fällen konzentrierte sich Heidegger wesentlich auf den Begriff des Wollens, der in seinen Interpretationen die Stelle des dritten Momentes, der Einheit von Grund und Existenz also, einnimmt. Zugleich aber fällt auf, dass der Ungrund anders als die Begriffe von Grund und Existenz, anders auch als der Begriff des Wollens, in der Vorlesung von 1941 keinem klaren Deutungswandel unterworfen ist. Galt der Ungrund der Interpretation von 1936 zufolge als durchaus positive, wenngleich systematisch eher unwichtige Figur, so erstaunt die auf den ersten Blick positiv anmutende Würdigung, die der Begriff des Ungrundes in der Vorlesung von 1941 erfährt. Da heißt es nämlich, zum Sein gehöre »das Grundhafte. […] Das sagt aber nicht, Sein bedeute: eines Grundes bedürfen. Sein ist in sich grundhaft, das Grundgebende, als der Grund wesend, hat den Charakter von Grund: und gerade deshalb, weil es das Grundhafte, Grundgebende ist, kann es nicht eines Grundes bedürfen (Un-grund [406]). Das Grundhafte ist grund-los (das Gründende, als Basis Wesende, bedarf nicht des Grundes), d. h.: ohne solches, worauf zurück als etwas außerhalb seiner es gehen könnte« (VL 41, 84 f.). Diese Interpretation des Ungrundes, die Heidegger 1941 vorlegt, scheint sich mit der Bestimmung des Abgrundes in Der Satz vom Grund so vollständig zu decken, dass man die zitierte Äußerung – wüsste man nicht, dass sie aus der Vorlesung von 1941 stammt und auf Schelling bezogen ist – unmittelbar für einen Satz im Rahmen der 1955 formulierten ›Sage vom Sein‹ halten könnte. Tatsächlich aber lässt gerade die oben zitierte Textstelle in ihrem Kontext der Vorlesung von 1941 erkennen, dass diese so klar scheinende Formulierung offenbar dennoch zwei Deutungen zulässt, die metaphysische ebenso wie die ganz andere, nicht-metaphysische. Auf die zitierte Äußerung nämlich folgt in der Vorlesung von 1941 noch ein Zusatz, der den Zusammenhang sich ein durchaus entscheidender Aspekt ab, bei dem Heidegger sich tatsächlich vom Denken Schellings abgrenzen möchte.

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des als grundlos und grundhaft bestimmten Seins mit dem metaphysischen Denken der Subjektivität erläutert: Indem das Sein als Grundloses »kein Zurück mehr, kein Hinter-Sich« habe, sei es nämlich als »die reine Anwesung selbst« zu verstehen, als das »Erste […]; das Grund-hafte, d. h. subjectum« (VL 41, 85, Herv. Heidegger).317 Dass die obige Formulierung von Heidegger aber auf zwei geradezu gegensätzliche Weisen interpretiert werden kann, belegt erneut, was schon im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1941 deutlich wurde, dass nämlich jeder Versuch, das neue Denken zu bestimmen, notwendig auf Sprache zurückgreifen muss, die die gleiche Sprache ist wie die der Metaphysik. Die Abgrenzung und Kennzeichnung des neuen Denkens als das ›ganz Andere‹ lässt sich angesichts dessen allerdings stets nur behaupten. Daneben unterstreicht dieses Problem auch die grundsätzlich ambivalente Haltung Heideggers zu Schelling, die ihre Grundlage allerdings in dem in seinerseits ambivalent zu nennenden Denken der Freiheitsschrift selbst findet. Denn letztlich lassen sich sehr wohl beide Auslegungen dessen, was Heidegger anhand von Schelling als Grund bzw. Existenz bestimmt, mit einigem Recht auf Schelling zurückbeziehen. So ist einerseits deutlich, dass Schelling mit dem Grund die Bedeutung der ratio und der Ursache ausblenden wollte, wie andererseits richtig ist, dass der Grund sowohl als ratio wie auch als Ursache zu denken ist. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der Existenz, bei dem Heideggers Einwand, dass die Existenz im Sinne des idealen Moments zugleich als Einheit und damit als das überlegene Moment bestimmt wird, durchaus triftig ist, wenngleich die Behauptung, dass sich dahinter ein wesentlicher Zug des metaphysischen Denkens verberge, nach wie vor unbewiesen bleibt. Indem Heideggers neues Denken als ›Sagen vom Sein‹ sich aber auf Schelling zurückbeziehen lässt, wird deutlich, dass nicht nur die Interpretationen von 1936 und 1941, sondern auch sein eigenes Denken von der Zweideutigkeit betroffen ist, die schon Schellings Denken in der Freiheitsschrift kennzeichnet.

2.2 Die Strukturverhältnisse: Identität, Dualität und Abgründigkeit Um dies zu verdeutlich, ist es allerdings nötig, nicht nur die Begriffe selbst, sondern vor allem das Verhältnis zwischen den einzelnen Momenten in den Blick zu nehmen und damit auch die Frage, wie die neue Tonart im seinsgeschichtlichen Denken als Grundlage fungieren soll. Heidegger selbst weist denn auch darauf hin, dass eine einfache Begriffsbestimmung dessen, was »auf verschiedene Weise ›Sein‹ und ›Grund‹ genannt und in einem solchen Nennen in ein gewisses Licht gebracht« werde, »von 317  Dem

widerspricht nun allerdings die Deutung von 1927/28 in eindeutiger Weise, weil Heidegger hier den Ungrund als »das schlechthin Verschwundene« deutet, das Ausdruck des »Ernstmachen[s] mit der Indifferenz« sei (GA 86, 535).

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

sich aus eine Definition im schulmäßigen Sinne der überlieferten Begriffsbildung nicht zu[lasse]« (SvG 153). Wenn man an der »Erläuterung des vereinzelten Wortes ›Grund‹« hängenbleibe, erblicke man »noch nichts von dem Ort, aus dem der Satz vom Grund spricht, sofern wir ihn nach der zweiten Tonart hören, die eine Zusammengehörigkeit von Grund und Sein anklingen lässt« (SvG 163). Nach der Bestimmung der einzelnen Momente muss es also zunächst vor allem um die Frage nach ihrem »Zusammengehören« gehen, das letztlich, wie Heidegger betont, »das eigentlich Dunkle und Fragwürdige« bleibe (SvG 175).

a) Identität Die Zusammengehörigkeit von Sein und Grund kam in der zweiten Tonart im Sinne eines »Sagens vom Sein« bereits in dem Satz: »Sein und Grund: das Selbe« zum Ausdruck. Deutlich wurde hier, dass es, wie schon bei Schelling, um das Konzept einer in sich differenzierten Identität geht: »Grund und Sein (›sind‹) das Selbe, nicht das Gleiche, was schon die Verschiedenheit der Namen ›Sein‹ und ›Grund‹ anzeigt« (SvG 93). Was aber versteht Heidegger unter dieser Selbigkeit und inwiefern lässt es sich auf die Freiheitsschrift beziehen? In der Vorlesung über den Satz vom Grund präsentiert Heidegger das Thema der Identität zunächst als zweitrangig, als ein Problem, das aus dem des Grundes erst resultiere, weshalb der Satz vom Grund hier auch als oberster Grundsatz ausgezeichnet wird. Sofern Identität, so Heideggers Argument, als »Zusammengehörigkeit von Verschiedenen auf Grund des Selben« verstanden werden müsse, käme sie »in dem, was sie ist, nicht ohne den Grund« aus (SvG 22). Den Gedanken allerdings kann man leicht umdrehen und mit demselben Recht behaupten, dass sich anhand des Satzes: »Sein und Grund: das Selbe« gerade zeige, dass der Grund, in dem, was er ist, ebensowenig ohne die Identität auskomme.318 Identität als »Selbigkeit« von Sein und Grund bleibt daher auch im Rahmen der Vorlesung über den Satz vom Grund eine zentrale Bestimmung, die eine nähere Betrachtung erfordert.

318  Auch

wenn Heideggers Darstellung dies nicht unbedingt nahelegt, ist die Fixierung auf den Satz vom Grund als obersten Grundsatz wohl eher rhetorisch aufzufassen. Das zeigt unter anderem ein späterer Text über Identität und Differenz, der in weiten Teilen eine Vorgehensweise hinsichtlich des Satzes der Identität präsentiert, die sich analog zu derjenigen präsentiert, die hier im Blick auf den Satz des Grundes ausgeführt wird (IuD). Inwiefern das Problem des Grundes und dasjenige der Identität im Blick auf die Metaphysik-, System- oder Vernunftkritik zusammengehören, wird im folgenden Kapitel noch eingehender gezeigt. Deutlich wird aber schon hier, dass Heidegger wie schon Schelling nicht die Identität als solche, sondern nur eine besondere Art der Identität kritisiert.



Der Satz vom Grund – heimliche Auslegung der Freiheitsschrift? 303

Da das Problem des rechten Identitätsverständnisses bereits für die Freiheitsschrift von grundlegender Bedeutung ist, finden sich entsprechende Auseinandersetzungen natürlich auch innerhalb der beiden Schellingvorlesungen. »Copula und Identität« seien, so Heidegger 1936, »wesentlich für die Erörterung des ›ist‹ des Seyns«, weshalb gerade die Frage nach der rechtverstandenen Identität von größter Bedeutung sei für die Frage nach dem rechtverstandenen Sein.319 Im Rahmen der ersten Schellingvorlesung wertete Heidegger die Identität gar als »Grundbestimmung des Seyns« (VL 36, 103), weshalb das, was von Schelling mit Blick auf die »Copula« gewissermaßen »beiläufig geklärt werde«, in Wahrheit als »wesentliche Grundlage für die Abhandlung« zu verstehen sei (VL 36, 90). In der »Begründung eines ursprünglichen Seynsbegriffes« im Sinne einer »ursprünglichere[n] Begründung der absoluten Identität in einer ursprünglichen Copula« erkannte Heidegger daher die »eigentliche metaphysische Leistung« der Freiheitsschrift (VL 36, 103). In der Vorlesung von 1941 hingegen offenbarte sich die ambivalente Haltung Heideggers, die auch die Frage nach der Identität betrifft. Denn einerseits rückt die Identität hier im Zusammenhang mit der Bestimmung des Wollens sehr wohl in die Kritik. Die als Wollen verstandene absolute Identität setze einen Gegensatz nur, um ihn überwinden und damit noch mächtiger hervortreten zu können. Andererseits aber greift Heidegger auch 1941 auf das Thema der Identität als »Copula« zurück und orientiert sich dabei deutlich an seiner Darstellung in der früheren Vorlesung.320 Aus diesem Grund ist naheliegend, dass sich im Rahmen der ›Sage vom Sein‹ erneut Formulierungen finden, die auf die Darstellung der frühen Schellingvorlesung verweisen, wie der folgende, entscheidende Passus zeigt, der hier zunächst im Ganzen zitiert werden soll: »Sein und Grund gehören zusammen. Dies meint: Sein und Grund ›sind‹ im Wesen das Selbe. Wenn wir das Selbe, genauer die Selbigkeit als Zusammengehörigkeit im Wesen denken, dann behalten wir einen der frühesten Gedanken des abendländischen Denkens im Gedächtnis. Demnach meint das Selbe nicht das leere Einerlei von Einem und Anderem, auch nicht das Einerlei von etwas mit ihm selbst. Das Selbe im Sinne dieses Einerlei ist das Gleichgültige der leeren, endlos wiederholbaren Identität: A als A, B als B. Das Selbe, gedacht im Sinne des Zusammengehörens im Wesen, sprengt jedoch die Gleichgültigkeit dessen, was zusammengehört, hält es vielmehr in die äußerste Ungleichheit auseinander, hält es und läßt es gerade nicht auseinander- und so zer-fallen. Dieses 319  Vgl. VL 36, 89 ff. Dort geht es um den Zusammenhang der Überlegungen zur Copula und zur Identität mit der »ontologischen Frage« (VL 36, 90). »Was da beiläufig geklärt« werde, sei »mit eine wesentliche Grundlage für die ganze Abhandlung« (ebd.). 320  Es wurde bereits an entsprechender Stelle angemerkt, dass in diesem Zusammenhang in der Vorlesung von 1941 der explizite Hinweis auf die Deutung von 1936 erfolgt. Vgl. S. 269.

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Zusammenhalten im Auseinanderhalten ist ein Zug dessen, was wir das Selbe und seine Selbigkeit nennen. Dieses Halten gehört einem ›Verhältnis‹ an, das zu denken dem Denken noch bevorsteht. Allein es kommt bereits durch das metaphysische Denken in einer besonderen Gestalt zum Vorschein, am reinsten in Hegels Logik.«321 Alle auffälligen Merkmale dieser Darstellung finden sich bereits in dem Abschnitt der Vorlesung von 1936, in dem es um das Problem der rechtverstandenen Identität bei Schelling geht. Hier wird zunächst ebenfalls auf die Formel »A ist A« Bezug genommen, die Schelling zwar einerseits »als ›Erklärung‹ des Wesens eines Satzes als einer Identität« (VL 36, 92) annehme, die er aber zugleich auf ihren Sinn hin befrage. Was Schelling dabei zurückweist, wird von Heidegger 1936, ganz im Sinne des obigen Zitats, als »leere Selbigkeit« bezeichnet, die die »Kategorie der reinen Gleichgültigkeit«, oder »Einerleiheit«322 sei (ebd.), womit Heidegger sogar einen Begriff Schellings aufnimmt, der als »das Einerlei« in die obige Darstellung aus Der Satz vom Grund einwandert. Ebenso wie bei der Charakterisierung dessen, was unter Identität nicht verstanden werden soll, findet aber auch die positive Bestimmung der »Zusammengehörigkeit im Wesen« einen Vorläufer in der Darstellung von 1936, wo von der »Zusammengehörigkeit von Verschiedenem in dem Einen« (VL 36, 93) die Rede ist. Identität, die nicht als »leere Gleichgültigkeit« verstanden wird, ist – auch das wird an der oben zitierten Stelle deutlich – notwendig, wie bei Schelling, auf eine interne Differenz bezogen. Indem sie die Gleichgültigkeit »sprengt«, hält sie das, was zusammengehört, »in die äußerste Ungleichheit auseinander, hält es und läßt es gerade nicht auseinander- und so zer-fallen« (SvG 152). Mit der »äußersten Ungleichheit« aber betont Heidegger eben die von Schelling geforderte Realität der Trennung, die sich vor allem in der Frage nach der menschlichen Freiheit und damit des Bösen ausdrückte. Heidegger hebt dieses Problem bei Schelling insofern besonders hervor, als er den Hauptteil der Freiheitsschrift 1936 unter den Titel des Bösen rückt. Aber auch in der kritischen Vorlesung von 1941 stellt er diesen Gedanken heraus, wenn er davon spricht, dass das System »die äußerste Entzweiung aushalten, nicht etwa ausgleichen soll[e]« (VL 41, 172, Herv. Heidegger). Als besonders auffällig aber kann vielleicht die positive Auszeichnung des dialektischen Denkens gelten, die zudem in beiden Fällen, in der Schellingvorlesung von 1936 ebenso wie in der Vorlesung über den Satz vom Grund, mit einem durchaus positiven Verweis auf Hegel einhergeht. Im Rahmen der Schellingdeutung von 1936 mag das vielleicht noch weniger erstaunen, weil Schelling selbst im Zusammen321 

322 

SvG  151 f. FS 341.



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hang mit dem rechten Identitätsverständnis die Bedeutung des dialektischen Denkens ins Spiel bringt. Gleichwohl ist der Verweis auf Hegel auch im Rahmen der frühen Schellingvorlesung Heideggers insofern auffällig, als Schelling hier ja – wie gesehen – als eine Art Gegenentwurf zum Denken Hegels betrachtet wurde. Noch erstaunlicher allerdings nimmt sich dieser Bezug im Rahmen der Vorlesung über den Satz vom Grund aus, in der es doch um ein ganz anderes Denken gehen soll. Das Verhältnis, das in der Selbigkeit von Sein und Grund zum Ausdruck komme, bleibe zwar durchaus, so Heidegger hier, einem zukünftigen Denken vorbehalten, es käme andererseits aber »bereits durch das metaphysische Denken in einer besonderen Gestalt zum Vorschein, am reinsten in Hegels Logik« (SvG 152),323 in einem Denken also, das 1941 gerade als Ausdruck des »Identitätsdenkens der absoluten Dialektik der Subjektivität« (VL41, 144) ausgezeichnet wurde.324 Offenbar – so zeigt sich hier – lässt sich auch Hegel nicht so ohne weiteres der Metaphysik zuordnen. Denn der Unterschied zwischen dem seinsgeschichtlichen Denken und dem, was als Ausdruck der höchsten Seinsvergessenheit gekennzeichnet wird, bleibt auch hier nicht mehr als eine reine Behauptung. Das Problem der Identität bestätigt damit erneut, dass es bei der ›Sage vom Sein‹ um Probleme geht, die Heidegger 1936 bei Schelling auf vorbildliche Weise gelöst fand. Allerdings könnte man einwenden, dass bei der Darstellung dessen, was unter »Selbigkeit« verstanden werden soll, ein Aspekt fehlt, der für Schelling – und mit ihm für die Schellingvorlesung von 1936 – von entscheidender Bedeutung war: die Bestimmung der Identität als schöpferisch. »Die Identität«, so formuliert Heidegger 1936 in Anlehnung an Schelling, »ist in Wahrheit keine unlebendige Beziehung der gleichgültigen und ergebnislosen Einerleiheit, sondern die ›Einheit‹ ist eine unmittelbar hervorbringende, zu anderem fortschreitende, eine ›schöpferische‹« (VL 36, 95). Dass Heidegger in Der Satz vom Grund also weder von einer »schöpferischen«, noch von einer in diesem Sinne »lebendigen« Identität spricht, scheint vor dem Hintergrund der übrigen Übereinstimmungen so auffällig, dass der Eindruck 323 

Interessant ist diese Äußerung auch deshalb, weil bisher in den Auseinandersetzungen mit Schelling stets der Eindruck erweckt wurde, dass die äußerste Dualität, die Hegels Denken erlaubt, der realen Dualität, die sich in Schellings Freiheitsschrift findet, unterlegen sei. Dies lässt sich nun einerseits so interpretieren, dass der Unterschied zwischen dem metaphysischen Denken und dem angeblich noch ausstehenden Denken des Seins gerade der zwischen Hegel und Schelling ist. Andererseits ist es aber auch ein Anzeichen für die wachsende Ambivalenz im Verhältnis Heideggers zu Hegel, die sich z. B. in Identität und Differenz deutlich erkennen lässt. 324  Dietmar Köhler sieht im Gegensatz dazu gerade in der Vorlesung von 1941 eine Aufwertung der Rolle Hegels, der »1941 gleichrangig an die Seite Schellings« trete und dessen »Begriff der »Dialektik« von Heidegger im Gegensatz zu früheren Einschätzungen nun durchaus positiv besetzt [werde]« (Köhler (2006), S. 250) Dabei übersieht Köhler m. E., dass diese positive Auszeichnung im Hinblick auf die Dialektik 1941 nicht neu ist, ebenso wie er den zitierten Passus aus VL 41 ignoriert. Heidegger ist und bleibt hier auch in der Haltung zu Hegel ambivalent.

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entsteht, Heidegger wolle diese Dimension absichtlich von seinem Verständnis des Seins fernhalten. Das ist einerseits nachvollziehbar, vielleicht sogar naheliegend, weil Heidegger seinen Seinsbegriff im Sinne der Einstimmigkeit von Grund, Sein und Ab-grund von einem metaphysischen Seinsbegriff abgrenzt, der Sein als Wollen bestimmt und damit selbst mit dem Gedanken von Schöpfung, von Hervorbringen oder Verursachen unmittelbar verbunden ist. Infolgedessen scheint das Verhältnis zwischen den beiden Momenten Grund und Sein bei Heidegger eher statisch denn dynamisch gedacht wie bei Schelling. Darin könnte man vielleicht den Versuch Heideggers erkennen, die eigene Struktur von Sein von der ontologischen Grundstruktur Schellings abzugrenzen. Ob eine solche Abgrenzung allerdings durch diese Abweichung bereits gewährleistet ist, bleibt vorerst fraglich. Dagegen spricht nämlich, dass Schelling selbst mit dem Parallelismus von Grund und Existenz, den er ebenso in seine Struktur zu integrieren sucht wie die Dynamik zwischen den beiden Momenten, ein Verhältnis denkt, das dem auf den ersten Blick nicht schöpferisch gedachten Identitätsverständnis bei Heidegger zu entsprechen scheint. Dagegen spricht aber auch – was vielleicht schwerer wiegt – dass Heidegger selbst das Verhältnis von Sein und Grund in der weiteren Darstellung durchaus analog zum schöpferischen Zirkel bei Schelling bestimmt.

b) Die Dualität in der Identität – der Zirkel der Werdebewegtheit Der schöpferische Charakter der Identität drückte sich bei Schelling zunächst in der Vorstellung eines schöpferischen Zirkels aus, der sich aus dem Verhältnis der beiden Momente zueinander ergeben sollte. Als Zirkel kann und muss die Einheit deshalb verstanden werden, weil die beiden Momente von Grund und Existenz in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis stehen, sofern der Grund als ›Grund von Existenz‹ und die Existenz als ›Existenz auf dem Grund‹ bestimmt wird. Bei genauerem Hinsehen lässt sich erkennen, dass diese Beschreibung auf das Verhältnis der bei Heidegger auftretenden Momente von Grund und Sein gleichermaßen zutrifft, auch wenn Heidegger diesen Zusammenhang nicht eigens hervorhebt. Zunächst heißt es nur, der Grund empfange sein Wesen aus »seiner Zusammengehörigkeit mit dem Sein als Sein« (SvG 92). Weil aber, so kann man nach den oben angeführten Begriffsbestimmungen formulieren, Sein eine Tendenz hat, »aufzugehen« bzw. »sich zu offenbaren«, weil also anders gesagt Sein Existenz in dem Sinne ist, dass es sich im Seienden offenbart, kann der Grund als Unterlage für dieses Seiende dienen und so Grund sein.325 »Umgekehrt waltet aus dem Wesen des Grundes das Sein als Sein«

325  Die

stete Betonung der Differenz zwischen Sein und Seiendem scheint manchmal den



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(SvG 92) bedeutet demgemäß, dass Sein sich im Seienden nur offenbaren kann, weil der Grund es übernimmt, die Grundlage für das Seiende zu bilden.326 Neben der Zirkularität des Verhältnisses aber wurde der Zirkel nur dadurch als »schöpferisch« ausgezeichnet, dass das, was zunächst als unzeitliches Bedingungsverhältnis erscheint, in dem kein Moment durch logische oder zeitliche Priorität ausgezeichnet sein durfte, gleichzeitig mit dem Gedanken von Entstehung und zeitlicher Entfaltung verbunden wurde. Die daraus sich ergebende Bewegung des Seins, die Heidegger 1936 treffend als »Werdebewegtheit« bezeichnete, machte deutlich, dass hier das immanente Verhältnis einer sich selbst hervorbringenden Natur gedacht wurde, das die Dimension von Ursache zugleich einschließen, andererseits aber die Vorstellung eines vom Hervorgebrachten getrennten Hervorbringenden ausschließen musste. Während dies bei Schelling insofern problematisch war, als dieser zugleich einen handelnden Schöpfergott zu denken versuchte, scheint es Heidegger gerade bewusst um den Ausschluss jeden Anscheins von Transzendenz zu gehen. Schon 1936 hatte sich gezeigt, dass Heidegger den Gedanken eines immanenten, in sich kreisenden Prozesses, das, was er auch als das »nichtdingliche Werden« (VL 36, 135) des Seins bezeichnet, als besondere, positive Leistung der Freiheitsschrift auffasste.327 Gleichwohl gilt auch – wie bereits anhand der Freiheitsschrift gezeigt wurde – für den rein immanent zu denkenden Zirkel, dass er in Wahrheit nicht ohne die Dimension der Ursache328 und damit verbunden auch nicht ohne die Vorstellung einer zeitlichen Trennung der Momente auskam. Der Zirkel der Werdebewegtheit führt die Bestimmungen von ratio und causa und damit unzeitliche und zeitliche Verhältnisse zusammen. Der sich daraus ergebende Zeitbegriff aber Blick darauf zu verdecken, dass es sich auch Heideggers Auffassung zufolge beim Sein um das »Sein des Seienden« handelt. 326  Damit ist zugleich auch klar, dass der Grund immer nur Grund für Seiendes, nicht aber Grund für »Sein« selbst sein kann, wodurch sich der Hinweis auf die Grundlosigkeit eigentlich bereits erledigt. 327  Vgl. z. B. VL 36, 107: »Dagegen wurde in der vorhin durchgeführten ›Deduktion‹ der Möglichkeit der Freiheit im Pantheismus Gott als schöpferischer Grund, der Mensch als in sich stehendes freies Wesen begriffen, das Seyn überhaupt nicht als starre Beziehung von dinghafter Ursache und ebensolcher Wirkung, nicht als leblose Identität des Einerlei, sondern fortschreitend, als Band und Bindung, die zugleich zur Eigenständigkeit entläßt und damit in einem tieferen Sinne bindet.« 328  Vgl. auch Günther Anders: »Das Sein ist eine Creatio sine Deo. Die Denkfigur ›Subjektlosigkeit‹. Die Panik davor, das Seyn könne noch immer mit einem höchsten Seienden verwechselt werden, läßt ihn in der Tat niemals zur Ruhe kommen. Es ist eindeutig Gott sowohl wie dem Weltgrund überlegen; vielmehr ist es ›das Lichten der Lichtung, die es macht, daß überhaupt etwas als dies oder jenes anwesend sein kann‹. Aber wenn man den Ausdruck ›machen‹ ernst nimmt (nicht im verwässerten Sinne von ›ausmachen‹), ist es eben eine creatio, gleich ob eine einmalige oder ein creatio continua gemeint; so daß man von einer Schöpfung ohne Gott sprechen könnte« (Anders (2001), S. 337, Herv. Anders).

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kann nur als eine Form von »ewiger Zeitlichkeit« verstanden werden. Allerdings wurde schon 1936 deutlich, dass Heidegger auch Schellings Verständnis der Zeit im Sinne einer »ursprünglichen Zeitlichkeit« als vorbildlich wertete. Insofern erstaunt es nicht, dass Zeit nach Der Satz vom Grund eben nach dem Vorbild einer solch »ewigen Zeitlichkeit« verstanden werden muss, die die Vorstellung von Sukzession als Abfolge realer, auch zeitlich getrennter Momente einerseits in Anspruch nimmt, obwohl sie sie andererseits explizit abweist. In Der Satz vom Grund bezeichnet Heidegger die Bewegtheit der ursprünglichen Zeitlichkeit – nun nicht mehr mit dem Verweis auf Schelling, sondern auf Heraklit – als »Weltzeit« (SvG 187). Die »Welt, die weltet und zeitigt« (ebd.) ist wie der »Zeit-Spiel-Raum«, von dem Heidegger in der Vorlesung von 1936 spricht, der immanente und zugleich schöpferische Zirkel, der auch in der Rede von der »Versammlung, die erst aus sich Bewegung entschickt und im Entschicken die Bewegung nicht bloß entläßt und wegschickt, sondern gerade einbehält« (SvG 144) erkannt werden kann.329 Obwohl also Heidegger bei seiner Darstellung von der »Selbigkeit« von Sein und Grund die Betrachtungen zum dynamischen und schöpferischen Charakter der Identität, wie er sie 1936 anhand von Schelling analysiert hatte, auslässt, zeigt sich am Verhältnis von Grund und Sein zueinander, dass diese Gedanken gleichwohl auch hier im Spiel sind. Sein als Identität von Grund und Sein ist nach Heideggers Darstellung durchaus schöpferisch zu verstehen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits ist Sein eben insofern als Grund bestimmt, als es Seiendes »gründet«, bzw. begründet. »Grund«, so ist zu lesen, »gründet so, daß sein Gegründetes solches ist, das ist, d. h. Seiendes« (SvG 152). Diesen ersten Aspekt, dass Sein Grund von Seiendem ist, könnte man in gewisser Weise mit der »anfänglichen Schöpfung«, der Entstehung der Natur bei Schelling vergleichen, die er auch als die »Geburt des Lichtes« (FS 377) bezeichnet. Sein ist in diesem ersten Sinne als schöpferisch zu verstehen, weil es die Tendenz aufweist, sich zu offenbaren und damit – wie man im Kontext der Vorlesung über den Satz vom Grund sagen könnte – ans Licht zu kommen. »Im griechischen Sinne verdeutlicht, heißt Sein«, so Heidegger, »ins Unverborgene herein-scheinen und herbei-scheinen und also scheinen, währen, weilen« (SvG 177). Dabei könnte man an dieser Stelle womöglich einhaken und argumentieren, dass die Rede vom »herein- bzw. herbei-scheinen« weniger die Ebene realer Hervorbringung als die Frage nach der Erkenntnis des Seins bzw. des Seienden betrifft. Das ist in gewisser Weise richtig, sofern es Heidegger in Der Satz vom Grund wesentlich um die Frage nach dem richtigen Seinsverständnis geht. Damit 329 

Dass Heidegger dabei nach wie vor das Verständnis der Zeit im Sinne von Sukzession weiterhin ablehnt, ist nicht weiter erstaunlich. Vgl. z. B. SvG 120, wo die Rede davon ist, dass Seinsgeschichte nicht als ein Geschehen »nach der Art eines stetig ablaufenden Prozesses« vorgestellt werden dürfe. Vgl. zu diesem Thema auch die ausführlicheren Überlegungen in Kapitel III.



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scheint die Frage nach einer realen Hervorbringung zumindest in den Hintergrund zu treten, obwohl sie in der Rede von der Gründung des Seienden als »solches, das ist«, zugleich erhalten bleibt. Andererseits aber findet dieser Aspekt seinerseits eine Vorlage bei Schelling, der in der Unterscheidung von Grund und Existenz den schöpferischen Aspekt zugleich mit dem Problem von Realität und Idealität verbindet, das in den Bestimmungen von Dunkel und Licht seinen Ausdruck findet. Mit der Rede vom Scheinen greift Heidegger also Schellings Rede von der Existenz als Licht auf, das er in der Vorlesung von 1936 als »das ›Lichte‹, gelichtete Ausbreitsame, sich Entfaltende« (VL 36, 138) bezeichnet. Sein »lichtet sich«, wie es dann auch in Der Satz vom Grund heißt, »im Charakter des Hervorscheinens« und »des verweilenden Scheinens« (SvG 154). Im Gegensatz zum Aspekt des »Lichtens«, der mit dem Moment der Existenz zusammenhängt, wurde dem als »dunkel« bestimmten Grund bei Schelling zugleich eine gegensätzliche Tendenz zugeschrieben. Einerseits nämlich strebt der Grund danach, sich in die Existenz zu offenbaren, wodurch der Prozess überhaupt erst in Gang kommen kann, und – so könnte man in Bezug auf Heidegger formulieren – Seiendes gegründet wird. Andererseits aber strebt er auch danach, sich in sich zu verschließen, damit, wie Schelling sagt, »immer ein Grund bleibe« (FS 361). Diese der Offenbarung entgegengesetzte Tendenz muss dem Moment des Grundes schon allein deshalb zugeschrieben werden, weil der Zirkel sonst nicht funktionieren könnte, weil sich – durch das gegenseitige Bedingungsverhältnis – mit der Aufgabe des einen Moments zugleich das andere Moment mit aufheben würde. Diese Eigenschaft des schöpferischen Zirkels, die Heidegger 1936 als »Gegenwendigkeit« (VL 36, 194)330 bezeichnet, charakterisiert ebenfalls das Verhältnis von Sein und Grund, wie es sich in Der Satz vom Grund darstellt. Hier ist die Rede davon, dass sich das Sein in die Verbergung entziehe, »welche Verbergung die Quelle jeder Entbergung bleibt« (SvG 114).331 Dabei liege es »im Wesen des Seins, das als das 330 

stellt.

331 

Vgl. v. a. VL 36, 164 f., wo Heidegger die Bewegung des »gegenwendigen Werdens« dar-

Dass Heidegger die Nähe seines Seinsverständnisses zu den Strukturen der Freiheitsschrift selbst durchaus bewusst war, belegt eine Stelle in Über den Anfang, in der er versucht, sein Verständnis von »Verbergung« von dem Vorbild Schellings abzugrenzen. Metaphysisch sei Verbergung vom »Wesen der ἀλήθεια her« zu verstehen. »Später unter Aufnahme der repraesentatio, neuzeitlich gewandelt zur ›Verschließung‹ (Natur); Contraktion als Wurzelkraft der ›Existenz‹, als Sichoffenbarwerden. Alles auf Subjectität und ›Gewißheit‹ gestellt« (ÜA 42, Herv. Heidegger). Demgegenüber müsse »Verbergung aus Seinsverlassenheit« verstanden werden: »Geschichte der Metaphysik als der Wahrheit des Seienden in seinem Vorrang vor dem Sein. Darin die neuzeitliche Metaphysik einbegriffen. Verbergung als Ereignis nicht verwischen mit der Metaphysik des Absoluten! ›Phänomenologie des Geistes‹« (ebd., Herv. Heidegger). Der Hinweis auf die Phänomenologie des Geistes kann wohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gefürchtete »Verwischung« wohl eher mit Schellings Freiheitsschrift und dessen Unterscheidung von Grund und Existenz zusammenhängt.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

Sichentbergen sich so entbirgt, daß zu diesem Entbergen ein Sichverbergen und d. h. ein Sichentziehen gehört. […] Sein als lichtendes Sichzuschicken ist zugleich Entzug. Zum Geschick des Seins gehört der Entzug« (SvG 122). Dass beide Tendenzen notwendig zusammengehören, wird von Heidegger auch so ausgedrückt, dass in dem »Von-sich-her-Aufgehen, der φύσις«, ein Sichentziehen walte, »und dies so entschieden, daß ohne dieses jenes nicht walten könnte« (SvG 113) Dieses Sichentziehen des Seins gehöre, so Heidegger weiter, »in die Eigenschaft des Seins. Sein wahrt sein Eigenes im Sichentbergen, sofern es sich als dieses zugleich entbirgt« (SvG 122). In der Rede vom »Eigenen«, das in dem Prozess zugleich »gewahrt« werde, klingt zudem das Problem der Individuation an, das bei Schelling unter anderem im Begriff des »Eigenwillens« thematisiert wurde.332 Vor dem Hintergrund dieser 1936 als »gegenwendig« bezeichneten Verfassung des Seins lässt sich nun auch noch der zweite Aspekt verstehen, unter dem Sein als »schöpferisch« begriffen werden kann. Wenn man erneut eine Parallele zu Schelling herstellen wollte, dann ginge es hier nun um die Gründung eines »Reichs der Geschichte« (FS 377). Dabei ist Sein nicht mehr nur als Grund für Seiendes, sondern als Grund für die Seinsgeschichte, d. h. für ein geschichtlich veränderbares Seinsverständnis zu betrachten, das durch die Entzugstendenz des Seins als Grund allerdings in gewisser Weise notwendig das »Eigene« des Seins verfehlen muss. Sein offenbart sich im Seienden und als Seiendes, wobei es sich zugleich als Sein selbst in die Verbergung entzieht. Im Entzug schickt es sich »dem Menschen auf eine Weise zu, durch die es seine Wesensherkunft« – unter anderem, wie man vielleicht ergänzen muss – »hinter dem dichten Schleier des rational verstandenen Grundes und der Ursachen und deren Gestalten verbirgt« (SvG 184). Geschichte im Sinne Heideggers wird die »gegenwendige« Bewegung eigentlich erst dadurch, dass sie schöpferisch, d. h. fortschreitend und im Fortschreiten sich nicht nur ändernd, sondern auch steigernd gedacht wird. Auch diesen Charakter hatte Heidegger schon 1936 plastisch geschildert und mit der Zeichnung einer Spirale deutlich zu machen versucht. In dem »in sich selbst gegenwendigen Werden [sei] ein ständiges Sichüberholen und Heraus- und Hinaufstreben in je höhere Stufen. Der Grund und die Existenz treten immer weiter auseinander, aber so, daß sie je einig sind in der Gestalt eines je höherstufigen Seienden; das Werden stuft sich selbst« (VL 36, 164). Vor diesem Modell ließe sich auch die Seinsgeschichte bei Heidegger denken, wenngleich unter negativen Vorzeichen, weil die Seinsgeschichte im Sinne der Metaphysikgeschichte als zunehmende Verfehlung des sich immer weiter entziehenden Seins verstanden werden muss. Die »je höherstufigen Seienden« entsprächen vielleicht den immer wei-

332  Daneben scheint hier wohl auch der Vergleich des Grundes mit dem »Wesen« plausibel. Im Zuschicken verbirgt Sein zugleich mit dem Grund sein Wesen.



Der Satz vom Grund – heimliche Auslegung der Freiheitsschrift? 311

ter von ihrem wahren Ursprung entfernten metaphysischen Konstruktionen, unter denen sich Sein selbst immer weiter entzieht.333 An dieser Stelle könnte man vielleicht erneut einhaken und einen Einwand gegen den Vergleich mit Schelling formulieren. Denn die Darstellung der sich steigernden Bewegung in der Vorlesung von 1936 war ja gerade auf den gegenteiligen Gedanken bezogen, darauf nämlich, dass im Zuge der Entwicklung die zugrundeliegende Einheit immer deutlicher ans Licht käme: »Je gründlicher (in den Grund strebender) und zugleich je lichter (zur Einigung strebender) die Scheidung wird, um so weiter gehen die Geschiedenen, Grund und Existenz, auseinander; aber um so tiefer kommt das Einigende aus dem Grunde, und um so weiter strebt die Einigung ins Licht […]« (VL 36, 164). Davon allerdings kann in Der Satz vom Grund keine Rede mehr sein, weil vielmehr umgekehrt gelten soll, dass sich das Sein als »Zusammengehörigkeit von Sein und Grund« im Verlauf der fortschreitenden Seinsgeschichte immer weiter entzieht. So betrachtet scheint eine fundamentale Kritik an der Metaphysik gerade darin zu liegen, dass sie mit den verschiedenen Gestalten des Grundes jeweils eine Einheit an die Stelle setzt, die eigentlich der fragwürdigen Zusammengehörigkeit und damit einer gewissermaßen offenen Stelle zukäme. In diesem Sinne wäre die Rede von der Verdeckung des Seins vielleicht gerechtfertigt, die insofern auch Schelling beträfe, der die fragliche Einheit eben auch als Gott bestimmt. Die Bewegung der Momente von Grund und Existenz ist der Freiheitsschrift zufolge – teleologisch betrachtet – ein Offenbarungsgeschehen, in dem Gott als Person und das wahre Wesen Gottes, die Liebe, verwirklicht werden. Die Bestimmung der Einheit von Grund und Existenz als Gott wäre so betrachtet von der Kritik Heideggers durchaus betroffen und eine klare Abgrenzung Heideggers vom Vorbild Schellings erkennbar. Andererseits aber kann man dieser Kritik im Sinne Schellings entgegenhalten, dass die Figur des Ungrundes diesem kritisierten Verständnis von Einheit gerade entgegengesetzt scheint, ebenso wie umgekehrt auch Heidegger das wahre Verständnis des Seins an den Begriff der »Selbigkeit« des Seins und damit an eine Figur von Identität verweist. »Es gilt«, so Heidegger in Der Satz vom Grund, »ins echte Gedächtnis aufzunehmen, inwiefern sich im Anfang der Seinsgeschichte die Selbigkeit von Sein und Grund ankündigt, und zwar ankündigt, um dann als diese Selbigkeit auf lange Zeit hinaus ungehört und ungedacht zu bleiben. Gleichwohl ist dieses Ungehörte das Unerhörte, nämlich Einzigartige der Seinsgeschichte und ihres Anfangs« (SvG 165). Für diese Sicht spricht auch, dass Heidegger doch immerhin eine geschichtliche Figur dieser Einheit von der Kritik auszunehmen scheint: den λόγος, in dem »für einen einzigen seinsgeschicklich hohen und vielleicht höchs333  Wie

Seinsgeschichte bei Heidegger letztlich verstanden werden muss, ist eine schwierige Frage, die hier nur angedeutet werden kann. Zu genaueren Ausführungen sei an das folgende Kapitel verwiesen.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

ten Augenblick […] die Zusammengehörigkeit von Sein und Grund« (SvG 180) zu einem Wort käme. »Als λόγος ist Sein das Erste, von woher Anwesendes anwest […] ›Das Erste von woher‹ ist das, von wo aus Jegliches, was ist, anfängt, und von woher es als Angefangenes beherrscht bleibt« (SvG 182). So betrachtet scheint es bei der Frage nach dem rechtverstandenen Sein vor allem darum zu gehen, es als Einheit, und zwar als in sich differenzierte Einheit zu sehen, die den Bezug auf Schelling erneut eher bestätigt als zurückweist.334

c) Abgründigkeit? Dennoch sei an dieser Stelle vorerst zugestanden, dass es sich hier um einen entscheidenden Punkt zu handeln scheint, an dem sich Heidegger vom metaphysischen Denken und damit auch vom Denken Schellings abgrenzen möchte. Denn schon 1936 hatte er gegen Schelling eingewendet, dass »eben die Ansetzung der Seynsfuge als Einheit von Grund und Existenz es ist, die ein Seynsgefüge als System unmöglich macht.« Daher sei es ein Fehler, wie Schelling zu glauben, dass »die Frage des Systems, d. h. der Einheit des Seienden im Ganzen […] gerettet [werden könne], wenn nur die Einheit des eigentlich Einigenden, die des Absoluten, recht gefasst werde« (VL 36, 194). In diesem Sinne stand das, was Schelling bezüglich des dritten Moments, des Ungrundes also, sagt, in dieser Vorlesung von vornherein unter Vorbehalt. Was aber heißt das im Blick auf Heideggers Rede vom Sein als Abgrund? Lässt sich dieser vielleicht doch nicht nach dem Vorbild des Schellingschen Ungrundes denken? Im Zusammenhang mit der Bestimmung des Ab-grundes wurde bereits darauf hingewiesen, dass Heidegger damit vor allem die Vorstellung einer Selbstbegründung des Seins ausschließen will: »Insofern Sein als Grund west, hat es selber keinen Grund. Dies jedoch deshalb nicht, weil es sich selbst begründet, sondern weil jede Begründung, auch und gerade diejenige durch sich selbst, dem Sein als Grund ungemäß bleibt« (SvG 185). In diesem Sinne scheint der Gedanke der causa sui im Zentrum der Kritik zu stehen. Da sich aber im Rahmen der Vorlesung über den Satz vom Grund keine unmittelbare Auseinandersetzung mit diesem Problem findet, sei an dieser Stelle ergänzend eine Passage aus Identität und Differenz herangezogen, einem Text also, der bereits im Titel auf das Ausgangsproblem bezogen ist. »Die ursprüngliche Sache des Denkens«, so ist dort zu lesen, stelle sich »als die Ur-sache 334  Vgl. dazu z. B. folgende Stelle aus den Beiträgen, die den Bezug zu Schelling und zu den anhand der Freiheitsschrift dargestellten Problemen ebenfalls deutlich erkennen lässt: »Das Seyn ereignet das Da-sein und ist dennoch nicht dessen Ursprung. Unvermittelt west das Zwischen als der Grund der in ihm Ent-gegneten. Dies bestimmt seine Einfachheit, die nicht Leere, sondern Grund der Fülle ist, die aus der Ent-gegnung als Streit entspricht« (BP 471).



Der Satz vom Grund – heimliche Auslegung der Freiheitsschrift? 313

dar, als die causa prima, die dem begründenden Rückgang auf die ultima ratio, die letzte Rechenschaft, entspricht. Das Sein des Seienden wird im Sinne des Grundes gründlich nur als causa sui vorgestellt. Damit ist der metaphysische Begriff von Gott genannt. Die Metaphysik muß auf den Gott hinaus denken, weil die Sache des Denkens das Sein ist, dieses aber in vielfachen Weisen als Grund: als λόγος, als ὑποκείμενον, als Substanz, als Subjekt west« (IuD 67). Dieses Zitat scheint an die oben genannte Problematik direkt anzuschließen, sofern das, was hier als Gott bestimmt wird, im metaphysischen Denken eben an die Stelle der problematischen Einheit zu treten scheint.335 Andererseits aber macht die zitierte Stelle aus Identität und Differenz gar nicht wirklich deutlich, warum Gott »am gründlichsten als causa sui vorgestellt« werden müsse. Es lässt sich höchstens vermuten, dass die causa sui dem metaphysischen Denken in dem Sinne genügt, dass sie in der Logik des Begründens bleibt, und an der Stelle, an der sich eigentlich die Differenz von Sein und Grund, die Seinsfuge eröffnen müsste, einen Rückschluss des Grundes auf sich selbst einträgt, der so gewissermaßen die eigentlich offene Stelle schließt. In Wahrheit, so könnte man ergänzen, müsste sich an dieser Stelle zeigen, dass die Suche nach dem Grund auf ein Anderes verwiesen ist, das in der Logik des Grundes gerade keinen Platz findet. In diese Richtung scheint denn auch die sich anschließende Kritik an der Bestimmung Gottes als causa sui zu zielen, die zwar der »sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie« sei, der aber zugleich mit dem, was eigentlich unter Gott verstanden werden müsse, nichts zu tun habe, weil man vor einem solchen Gott weder »aus Scheu auf die Knie fallen«, noch vor ihm »musizieren und tanzen« könne. Demgemäß sei »das gottlose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher. Dies sagt hier nur: Es ist freier für ihn, als es die Onto-Theo-Logik wahrhaben möchte« (IuD 77). Man könnte dies für eine Kritik im Sinne Jacobis halten, bei der einem Denken der Immanenz, für das die Gesetze der ratio bestimmend sind, und welches das dem Denken gegenüber Andere nur zum Schein integrieren kann, das Verständnis eines der Welt transzendenten Gottes entgegengesetzt wird. Andererseits aber wurde sowohl im Zusammenhang mit den Schellingvorlesungen wie auch bei den Überlegungen zum Verhältnis von Sein und Grund in Der Satz vom Grund längst deutlich, 335 

Sie scheint zudem auch noch an die Kritik von 1936 anzuschließen, sofern Heidegger dort mit der Rede von der Endlichkeit des Seins wesentlich auf die Realität des Bösen Bezug nimmt, die in Gott bzw. in der göttlichen Liebe notwendig aufgehoben ist. In diesem Sinne schien er dort sagen zu wollen, dass nur die endliche Realisierung der Einheit von Sein und Grund im Menschen geeignet ist, den Zwiespalt zugleich zu verbinden wie auch zu erhalten, während Gott den realen Zwiespalt notwendig in der Liebe überwinden muss. Andererseits aber gilt auch, dass das Konzept der causa sui hier insofern nicht in der Kritik stehen konnte, weil der Mensch selbst als eine Art von causa sui verstanden werden muss.

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

dass es Heidegger keineswegs um die Verteidigung von Transzendenz gegenüber der Immanenz geht.336 Vielmehr zeigte sich, dass Heidegger das immanente Verständnis des Seins im Sinne des schöpferischen Zirkels jederzeit positiv gegenüber der Vorstellung von Transzendenz auszeichnete. In der Vorlesung über den Satz vom Grund äußert sich diese Einstellung etwa in der Rede von der »Welt, die weltet«, aber auch in der Bezeichnung des Ganzen als eines Spiels, das »spielet, weil es spielet. Das ›Weil‹ versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne Warum. Es spielt, dieweil es spielt. Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste.« (SvG 188). Hier – am Ende der Vorlesung über den Satz vom Grund – zeigt sich deutlich, dass ein solches, das jenseits des als Spiel verstandenen Seins gedacht werden und auf das die Frage nach dem »Warum« zielen könnte, gerade keine Rolle spielen soll. Die Frage nach der Selbstbegründung scheint so betrachtet gerade in die Irre zu führen, wie auch an der Rede von der »ontologischen Differenz« deutlich wird, die ihrerseits als ein Argument gegen das Immanenzverhältnis und als Versuch missverstanden werden könnte, die Unverfügbarkeit des Seins als eine Art von Transzendenz zu deuten. In Identität und Differenz äußert sich Heidegger auch dazu klarer als in der Vorlesung über den Satz vom Grund. Das Verhältnis von Sein und Seiendem, das sich in den Ausdrücken »Sein des Seienden«, aber auch »Seiendes des Seins« ausdrücke, müsse, so die hier formulierte Forderung, vor allem als »Differenz« in den Blick geraten. Mit der Betonung der Differenz will Heidegger wohl sagen, dass Sein grundlegend anders als das Seiende, d. h. mit anderen Worten eben nicht als höchstes Seiendes verstanden werden darf. Andererseits aber scheint gerade das Immanenzverhältnis diese »Andersheit« denkbar zu machen, und dies gerade deshalb, weil es die Differenz zwischen Sein und Seiendem im Sinne zweier, voneinander geschiedener Arten von Seienden aufhebt. So betrachtet ist die Rede von der »ontologischen Differenz« keine Kritik an einem Denken der Identität, sondern die Kritik an einer falsch verstandenen Identität, der gegenüber sich die wahre Einheit in der Formel vom »Sein des Seienden« ausdrückt. Sein des Seienden nämlich heiße: »Sein, welches das Seiende ist. Das ›ist‹«, so Heidegger, »spricht hier transitiv, übergehend« (IuD 56), und entspricht damit eben dem schöpferischen Identitätsverständnis, auf das sich die Überlegungen der Freiheitsschrift gründen. In Heideg336 

Vgl. erneut die Darstellung bei Günter Anders: »Soviel ist freilich gewiß: es ist kein Schöpfer-Gott, sondern etwas, das dadurch Welt wird, dass es sich gibt. Da es sich aber in alles gibt – denn jedes Seiende nimmt ja Teil am Sein –, ist Heideggers »Weltbild« […] pantheistisch – freilich eben ein Pantheismus ohne Gott, den er vertritt. Aber während in der christlichen Spielart der Mystik Gott zwar beibehalten wird, aber die Kluft zwischen Creator und Creatura aufgehoben wird, ist bei Heidegger Gott nicht mehr genannt, aber die Kluft; nämlich die zwischen Seyn und Seienden, ist dort aufs energischste offengehalten – trotz der Tatsache, dass das Sein doch offenbar »sich gibt« und Seiendes sich »ereignet«. – Wie es möglich ist, die »ontologische Differenz« aufrecht zu erhalten, und doch als Seiendes vom Sein ereignet zu sein, also doch auch zu sein – entzieht sich meinem Verständnis« (Anders (2001), S. 329, Herv. Anders).



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gers Kritik an der Selbstbegründung des Absoluten geht es also nicht um eine Kritik daran, dass Grund und Begründetes in gewisser Weise identisch sind, sondern darum, auf welche Weise diese Identität verstanden wird. Und besonders konsequent wird sie eben dann verstanden, wenn sie – wie in der Schellingvorlesung von 1936 und in der Vorlesung über den Satz vom Grund – als Immanenz und damit als Teilhabe an dem einen Sein gedacht wird. Vor diesem Hintergrund aber rückt dann auch das Problem der menschlichen Freiheit wieder in den Blick, das in der Vorlesung von 1941 keine Rolle mehr spielte, und das auch in Der Satz vom Grund nur in Andeutungen präsent ist. So ist etwa die Rede davon, dass sich mit dem Übergang zur zweiten Tonart die »wesenhafte Gegend der Freiheit« (SvG 157) öffne, eine Bemerkung, die aber zunächst nicht weiter vertieft wird. Trotzdem zeigt sich gegen Ende der Vorlesung anhand der Bestimmung des Seins als Spiel, dass dieser Frage durchaus entscheidende Bedeutung zukommt, weil sich in ihr das fragliche Verhältnis zwischen Sein und Mensch ausdrückt. Der folgende, zugestandenermaßen besonders dunkle und unverständliche Abschnitt kann diesen Zusammenhang immerhin andeuten: »Die Frage, zu der uns der Sprung in die andere Tonart des Satzes vom Grund anweist, lautet: Läßt sich das Wesen des Spiels sachgemäß vom Sein als Grund her bestimmen, oder müssen wir Sein und Grund, Sein als Ab-Grund aus dem Wesen des Spiels her denken und zwar des Spiels, in das wir Sterbliche gebracht sind, die wir nur sind, indem wir in der Nähe des Todes wohnen, der als äußerste Möglichkeit des Daseins das Höchste an Lichtung des Seins und seiner Wahrheit vermag? Der Tod ist die noch ungedachte Maßgabe des Unermeßlichen, d. h. des höchsten Spiels in das der Mensch irdisch gebracht, auf das er gesetzt ist« (SvG 186). Das Spiel, soviel wird zumindest deutlich, ist das Erste, das, aus dem alles andere bestimmt werden muss. Dieses Spiel aber lasse sich nach der »bisherigen Denkweise« nicht erfassen, »denn sobald sie das Spiel zu denken, d. h. nach ihrer Art vorzustellen sucht, nimmt sie es als etwas, das ist« (ebd.). Demgegenüber lässt sich das Wesen des Spiels – das wäre zumindest eine mögliche Deutung des obigen Zitats – nur erfahren, wenn wir uns als Teilnehmer an diesem Spiel wahrnehmen. Die Erfahrung, in der das Sein in seinem ursprünglichen Wesen zugänglich ist, wäre demnach die der Teilhabe an dem Sein, das sich nur durch die Mitspieler im Vollzug des Spiels verwirklicht – eine Erfahrung, die der 1936 geschilderten Freiheitserfahrung in Grundzügen entspricht. Entsprechend der oben zitierten Äußerung sollte die »Unbegreiflichkeit der Freiheit« ja der Vorlesung von 1936 zufolge gerade darin bestehen, »daß sie, sofern sie ist, dem Be-greifen sich widersetzt, indem das Freisein uns in den Vollzug des Seins versetzt, nicht in das bloße Vor-stellen desselben. Der Vollzug aber ist kein blindes Abrollen eines Vorgangs, sondern ist wissendes Innestehen im Seienden im Ganzen, das es auszustehen gilt« (VL 36, 196). Damit rückte schon 1936 die Rede vom Schicksal in den Blick, die nun auch hier, unter dem Titel des »Seinsgeschicks«

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Kapitel II · Anlehnung, Kritik und schöpferische Übernahme

ausschlaggebend ist. Die Frage, mit der die Vorlesung schließt, die nämlich, »ob wir und wie wir, die Sätze dieses Spiels hörend, mitspielen und uns in das Spiel fügen« (SvG 188) bestätigt damit ihrerseits den Zusammenhang des seinsgeschichtlichen Denkens mit dem, was Heidegger in der Vorlesung von 1936 anhand von Schellings Freiheitsschrift bereits gedacht hatte. Das, was Heidegger mit dem Moment des Ab-grundes in den Blick bringt, die Zurückweisung von Selbstbegründung also, scheint demnach gerade nicht über das hinauszugehen, was Schelling selbst mit dem Moment des Ungrundes thematisiert. Auch die bereits zitierte Feststellung, dass Schelling fälschlicherweise glaube, das System sei durch die rechte Bestimmung der Einheit von Grund und Existenz zu retten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heidegger selbst sich bei der Frage nach der Abgründigkeit, die zugleich die Frage nach der Zusammengehörigkeit von Grund und Sein ist, auf dieselbe Problemlage bezieht. Der Eindruck eines Neueinsatzes gegenüber den Schellingvorlesungen kann nur dadurch entstehen, dass Heidegger sich in beiden Vorlesungen auf die Bestimmung des Wollens konzentriert und das Moment des Ungrundes weitgehend ausgeblendet hatte. Dass er nun im Gegensatz dazu in Der Satz vom Grund, bei der Frage danach, was Sein jenseits metaphysischer Verstellung bedeuten soll, auf das Moment des Ungrundes zurückkommt, kann in diesem Licht betrachtet wohl nicht als Neueinsatz, sondern eher als eine Art Schwerpunktverschiebung betrachtet werden.337 Sein ist nach Heideggers Darstellung eben einerseits φύσις, so wie Existenz bei Schelling als Licht oder als das Streben in die Offenbarung betrachtet werden kann, es ist aber ebensosehr als Einheit der beiden Momente von Sein und Grund und damit als dasjenige zu denken, das der Dualität von Sein und Grund in gewisser Weise vorausliegt: Ungrund, bzw. Ab-grund. Der Unterschied, der sich hier zwischen der ›Sage vom Sein‹ und der grundlegenden Struktur bei Schelling abzeichnet, entspricht damit in gewisser Weise genau der Kritik, die Heidegger 1936 schon Schelling gegenüber angedeutet hatte und die doch dort schon nicht überzeugen konnte. Immer noch handelt es sich um eine Kritik an dem scheinbaren Überwiegen der Identität und der damit verbundenen Auszeichnung der Existenz vor dem Grund. Das Grundsein, das Dunkle, die »Gegenwendigkeit« und – wie man im Zusammenhang der Vorlesung über den Satz vom Grund ergänzen könnte – das »Fragwürdige« des Zusammengehörens bleiben scheinbar notwendig aus dem als System charakterisierten Denken ausgeschlossen. Und auch in der Ablehnung der Selbstbezüglichkeit, die auf den gesamten Prozess bezogen bei Schelling zugleich als Selbstwerdung Gottes gedacht wurde, lässt sich eine Tendenz erkennen, die sich schon 1936 abzeichnete, denn dieses Problem 337  Und eben – wie nun bereits mehrfach angemerkt wurde – in gewisser Weise auch als Rückgriff auf den frühen Zugriff von 1927/28.



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schien ebenfalls im Zusammenhang zu stehen mit der Frage nach einer übergeordneten Einheit, die Heidegger offenbar ablehnt. Weil – so könnte man sagen – das Ganze bei Schelling letztlich als die realisierte Person gedacht werden soll, muss sich am Ende der Ungrund als die Einheit realisieren, die die zwischendurch gesetzte Dualität nachträglich einzuebnen scheint. Dass allerdings der Aspekt der Selbstbezüglichkeit und damit verbunden das Verständnis des Ganzen im Sinne eines absoluten Subjekts keineswegs in der Logik des metaphysischen Denkens liegt, macht nicht zuletzt der Verweis auf Spinoza deutlich, der die Substanz und damit das Ganze gerade unpersönlich denkt. In diesem Sinne schließt Heidegger mit Der Satz vom Grund unmittelbar an die beiden Schellingauslegungen an, indem er mit der zweiten Tonart des Satzes vom Grund und der darin sich offenbarenden Einheit von Sein und Grund sowie mit dem daraus sich entwickelnden seinsgeschichtlichen Denken gerade das umzusetzen versucht, was er 1936 gefordert hatte: eine schöpferische Verwandlung dessen, was Schelling bereits im Rahmen der Metaphysik – und darum auf dem Boden metaphysischer Begriffe und Vorstellungen verbleibend – formuliert hatte. Gleichzeitig aber zeigt sich, dass die Strukturen des Seins, sofern sie überhaupt verständlich sein sollen, in ihrem Rückbezug auf Schelling auch die gleichen Probleme und Widersprüchlichkeiten offenbaren, die schon die Freiheitsschrift selbst kennzeichnen. Allein die Ersetzung der traditionell metaphysischen Begriffe durch andere, demgegenüber vermeintlich oder tatsächlich unbelastete Worte, kann die dahinterliegenden grundlegenden Probleme ebensowenig aufheben wie Schellings ›Erzählung‹. Daher bleibt Heideggers Denken als Seinsgeschichte, wie es sich in der Vorlesung über den Satz vom Grund präsentiert, ebenso ambivalent wie seine Schellinginterpretationen. Daraus allerdings folgt im Weiteren, dass Heideggers Metaphysikkritik selbst von dem Problem gleichfalls betroffen ist. Was das Wesen der Metaphysik sei und warum und woher sie kritisiert werden müsse und könne, bleibt vor dem Hintergrund von Heideggers Auseinandersetzung mit Schelling letztlich offen. Aus diesem Grund soll im folgenden Kapitel der Versuch unternommen werden, die genuin metaphysikkritischen Anteile selbst, und zwar im Zusammenhang mit der eindeutig metaphysik- bzw. vernunftkritischen Position Jacobis, genauer zu untersuchen.

K A PI T E L I I I Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

1. Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 1.1 Denkwege – Parallelen zwischen Schelling und Heidegger Die Auseinandersetzungen Heideggers mit Schelling bestätigen, dass der wesentliche Bezug, den Heidegger zwischen seinem eigenen Denken und demjenigen Schellings in der Vorlesung von 1936 angesprochen hatte, auch für das weitere Verhältnis Heideggers zu Schelling maßgeblich bleibt. Diese Wahlverwandtschaft drückt sich denn auch in zahlreichen Parallelen zwischen Schelling und Heidegger aus, deren auffälligste vielleicht im bereits angedeuteten Wegcharakter des Denkens zu finden ist. Während man in Bezug auf Schelling wohl zu Recht von einer ›philosophie en devenir‹ sprechen kann, scheint das Denken Heideggers ebenso zutreffend mit dem Titel des ›Denkens unterwegs‹ belegt werden zu können. Dieser Wegcharakter des Denkens drückt sich in einem bestimmten Verhältnis von Kontinuität und Wandlung aus, das Heidegger in der Vorlesung von 1936 im Blick auf Schellings Denkentwicklung beschreibt. Keinesfalls, so Heidegger, handle es sich bei den Wandlungen in Schellings Werk um die »fatale Wendigkeit eines Standpunktwechsels«; diese seien vielmehr als Ausdruck seines Kampfes um den »einen und einzigen Standort« zu verstehen (VL 36, 7). Auch die Formulierung, dass Schelling »immer wieder alles loslassen und immer wieder dasselbe neu auf einen Grund« (ebd.) habe bringen müssen, zeigt an, dass dem äußerlich erkennbaren Wandel zugleich eine Kontinuität zugrunde liegen soll, die für das Verständnis des Denkers ebenso entscheidend zu sein scheint. Was unter dieser Kontinuität, unter dem »einen und einzigen Standort«, unter dem also, was als dasselbe »immer wieder neu auf einen Grund gebracht« werden müsse, konkret zu verstehen sei, lässt Heidegger allerdings offen. Seine Darstellung aber legt zumindest nahe, dass der ständige Wandel, der das Denken als eine Art von Denkweg auszeichnet, der Sache des Denkens, und damit dem Einen, um das es hier gehen soll, durchaus angemessen ist. Im Denkweg drückt sich damit wohl zunächst weniger eine Einsicht aus als eine Erfahrung, in der eine gewisse Form von Abgründigkeit und im weitesten Sinne von Nichtidentität zum Ausdruck kommt. Das Pathos, mit dem Heidegger diesen Charakterzug des Schellingschen Denkens schildert, der – unterstützt durch das Zitat Schellings – als rastloser, in seiner Einsamkeit durchaus

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

auch heroischer Sucher erscheint, weist darauf hin, dass es sich hierbei tatsächlich um einen zentralen Aspekt handelt, dem Heidegger sich grundlegend verbunden fühlt.338 Auch wenn man die Sache zunächst einmal nüchterner betrachtet und dabei die Frage nach der hier geschilderten (Seins-)Erfahrung vorerst zurückstellt, lassen sich im Blick auf Heideggers Werk Parallelen zu der im ersten Kapitel geschilderten Problematik der angemessenen Erfassung des Schellingschen Denkens klar erkennen. Wie bei Schelling gibt es einerseits Motive, die sich durch das gesamte Werk Heideggers hindurchziehen. Am eindeutigsten gilt dies wohl für die These von der Seinsvergessenheit des Denkens, die zugleich mit der Forderung einhergeht, diese Vergessenheit zu überwinden und das Sein – auf welche Weise auch immer – zurückzugewinnen. Ähnlich wie Schelling aber nimmt auch Heidegger ständige mehr oder weniger auffällige Konzeptionsänderungen vor, die sich manchmal hinter einer gleichbleibenden Terminologie nur verstecken und das Verständnis seiner Schriften zusätzlich erschweren. Darüber hinaus scheint für Heidegger im gleichen Maße wie für Schelling zu gelten, dass sich die frühen Schriften dem rationalen Zugang leichter erschließen als die späteren. Aus diesem Grund wiederholt sich auch im Blick auf die Interpretation seiner Werke ein Phänomen, das sich schon bei Schelling beobachten lässt. Wer sich mit der frühen Philosophie, d. h. bei Heidegger hauptsächlich mit Sein und Zeit, beschäftigt, lehnt oft die späteren Schriften als unverständlich ab. Andererseits gibt es Interpreten, die vor allem Heideggers späteres Denken favorisieren, weil sie darin grundlegend neue und wichtige Einsichten erkennen wollen. Bei Heidegger allerdings stehen sich die Positionen vielleicht noch unversöhnlicher entgegen als bei Schelling, weil seine Kritiker zum Teil so weit gehen, von Scharlatanerie zu reden und Heidegger offen die bloße Vortäuschung eines nichtvorhandenen tieferen Sinnes vorzuwerfen,339 während die Anhänger 338  Diese Parallele wird von I. Feher besonders hervorgehoben: »Heideggers Schelling-Zitat lässt sich im Wesentlichen aber auch als Selbstinterpretation lesen, und zwar in zweifacher Weise. Denn erstens mußte auch Heidegger um seinen eigenen Standort leidenschaftlich kämpfen, und auch er mußte, wie er in bezug auf Schelling sagt, ›immer wieder alles loslassen und immer wieder dasselbe auf einen neuen Grund bringen.‹ Zur Zeit der Abhaltung seiner Schelling-Vorlesung, d. h. Mitte der dreißiger Jahre, mußte er sich nach dem Scheitern von Sein und Zeit eine Neuorientierung suchen. Und zweitens mußte auch er erfahren, was es heißt, Gott lassen zu müssen« (Feher (2007), S. 189). Vgl. auch Günter Figal, der im Blick auf die erste Schellingvorlesung schreibt, dass alles, »was Heidegger im Hinblick auf Schelling hervorheb[e],« auch ihn selbst betreffe: »die lange Pause nach dem Hauptwerk […], die Mitteilung einer Philosophie allein in Vorlesungen und besonders die Gewissheit, im ›Wetterleuchten eines neuen Anfangs‹ zu stehen« (Figal (2010), S. 51). 339  Vgl. z. B. Max Horkheimers Äußerung gegenüber F. Pollock, nach der Heidegger ein »schlauer Betrüger« sei, »der viel gelesen hat«. Vgl. außerdem die Anmerkungen zu diesem Thema in der Einleitung der vorliegenden Arbeit.



Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 321

davon überzeugt sind, dass der späten Philosophie Heideggers tiefgründige, rational nicht zugängliche Einsichten zugrunde liegen. Die so markierte Trennung zwischen einer frühen und einer späten Philosophie bestätigt nun eine weitere Parallele zwischen Heidegger und Schelling, die über den Charakter der Philosophie als eines ›Denkens unterwegs‹ noch hinausgeht. Denn auf beiden Denkwegen scheint sich ein besonders grundlegender Wandel vollzogen zu haben, der sich von den ständigen Wandlungen, die den Wegcharakter des Denkens ausmachen, noch einmal unterscheidet. Heidegger machte diesen Einschnitt bei Schelling zunächst äußerlich an dessen »Schweigen« seit der Freiheitsschrift fest, daran also, dass Schelling seitdem kein »in sich stehendes Werk« mehr verfasst habe. Ähnliches aber gilt für Heidegger selbst, der nach Sein und Zeit keine weitere Veröffentlichung vorgelegt hat, die als ein solchermaßen »in sich stehendes Werk« interpretiert werden könnte. An die Stelle derartiger Werke treten – ganz wie beim späten Schelling – Vorlesungen und Fragmente zur Seinsgeschichte, die sich in diesem Sinne Schellings Entwürfen zu einer Philosophie der Mythologie und der Offenbarung gewissermaßen parallelisieren lassen.340 Einerseits scheint dieser Wendepunkt damit zwar genau das auszudrücken, was unter dem Begriff des ›Wegcharakters‹ bereits gedacht wird. Wenn es nämlich tatsächlich so ist, dass das im steten Wandel befindliche Denken dem Sein in besonderer Weise angemessen ist, dann kann die Ausbildung »in sich stehender Werke« ohnehin nicht das Ziel eines um dieses Sein bemühten Denkens darstellen.341 Dann bekundete sich im Schweigen, d. h. in der Ablehnung derartiger Werke, eben die von Heidegger erwähnte Schwierigkeit des Problems selbst und »das klare Wissen des Denkers um all dieses«. Andererseits aber scheint der Gedanke des Übergangs zu einem neuen Denken sich von dem Wegcharakter doch noch einmal zu unterscheiden, weil er jede Art von Kontinuität des Fortschreitens auf einem Weg unterbricht und sich wesentlich als Bruch mit dem Vorangegangenen präsentiert.

340  Dieser

Aspekt soll hier allerdings nicht überinterpretiert werden, zumal der These vom entscheidenden Bruch in Schellings Denken bereits im Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit entgegengetreten wurde. 341  Vgl. z. B. BP 3: »Aber selbst der geglückte Versuch muß gemäß dem Grundereignis dessen, was zu erdenken ist, jedem falschen Anspruch auf ein »Werk« bisherigen Stils fernbleiben. Das künftige Denken ist Gedanken-gang […].« In »Besinnung« heißt es ganz ähnlich, das Denken des Seyns dürfe »nie in die Ruhe des »Werkes« einkehren« (Bes. 51). Vgl. außerdem BP 460: »Daß das Wesen des Seyns nie endgültig sagbar ist, bedeutet keine Mangel, im Gegenteil: das nichtendgültige Wissen hält den Abgrund und damit das Wesen des Seyns gerade fest.«

322

Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

1.2 Kehre und Übergang zum neuen Denken Der entscheidende Wendepunkt in Heideggers Denken, der sich – analog zu Heideggers Schellingdeutung – äußerlich im »Schweigen« Heideggers auszudrücken scheint, steht allerdings nicht unter dem Titel des Übergangs zum neuen Denken sondern unter dem der »Kehre«. Dass es sich bei der Kehre nicht um einen Wandel neben anderen, sondern eben um einen veritablen Wende-, d. h. Umkehrpunkt handeln soll, scheint deren grundlegende Bedeutung zu unterstreichen und sie zumindest in einen zunächst nicht näher bestimmten Zusammenhang mit dem Problem des Übergangs zu rücken. In diesem Sinne erstaunt es wenig, dass gerade die Kehre in Heideggers Werk ein überaus problematisches und umstrittenes Phänomen darstellt. Einigkeit besteht weder darüber, wann sie sich vollzogen habe und worin sie bestehe, noch, ob es sie überhaupt gegeben habe und welche Bedeutung ihr für das Verständnis des Heideggerschen Denkens zuzuschreiben sei.342 Angesichts dieser Schwierigkeiten kann die folgende Darstellung auch nur problemeröffnender Natur sein. Sie ist aber insofern nötig, als sie in den Kontext der Übergangsproblematik und der damit zusammenhängenden Metaphysikkritik unbedingt gehört. Bereits zu Beginn der Darstellung sei darauf hingewiesen, dass der Ausdruck ›Kehre‹ bei Heidegger nicht nur den besagten Wandel in seinem Denken meint, sondern auch einen Gegenstand seines Denkens bildet. Dieser Aspekt soll jedoch zunächst zurückgestellt und der Blick vorerst nur auf den Wandel gerichtet werden, der sich – unter dem Titel ›Kehre‹ – in Heideggers Denkweg tatsächlich vollzogen haben soll. In dieser Bedeutung muss, so scheint es zumindest, der Begriff der Kehre von dem in Frage stehenden Übergang zum neuen Denken eindeutig unterschieden werden, der ja bisher vor allem als Forderung, nicht aber als bereits vollzogenes Ereignis thematisiert wurde. Was sich im Vollzug dieser Kehre umkehrt, ist, so ein allgemeines Verständnis von Heideggers Kehre, die Haltung oder besser der Zugang des Denkers zum Sein. War der frühe Heidegger, der Heidegger vor der Kehre also, noch fälschlicherweise vom Seienden ausgegangen, um vermittelt über das Seiende zum Sein zu gelangen, so ist das Denken des späteren Heidegger als Versuch zu verstehen, gewissermaßen unvermittelt vom Sein aus zu denken und das Seiende nun umgekehrt im Lichte dieses Seins in den Blick zu nehmen.343 Diese umgekehrte Haltung des Denkers lässt sich allerdings schon als Resultat einer Einsicht in das Wesen des Seins oder zumindest in das grundlegende Verhältnis von Sein und Seiendem verstehen. Heidegger hätte mithin – so die nur auf Heideggers Denkweg sich beschränkende Darstellung – erkannt, dass etwa auf dem Wege der Daseinsana342  Vgl.

zu diesem Problem die zusammenfassende Darstellung bei Thomä (2003), S. 134 ff. Vgl. z. B. folgende Äußerung aus SvG: »In solchem Falle beginnen wir mit dem Versuch: Sein als Sein zu denken. Dies sagt: Sein nicht mehr durch etwas Seiendes erklären« (SvG 119). 343 



Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 323

lyse, wie er sie in Sein und Zeit vorgenommen hatte – nicht zu einem dem Seienden voraus liegenden Sein vorzudringen sei. Tatsächlich wandelt sich Heideggers Ansatz im Vergleich zum Vorgehen in Sein und Zeit beträchtlich, so dass der Vollzug einer Kehre im oben genannten, allerdings etwas allgemein gehaltenen Sinne vielleicht konstatiert werden darf. Andererseits aber scheint die Schwierigkeit ja gerade in der Frage zu liegen, wie der Zugang zum Sein gewonnen werden kann, wenn er nicht vermittelt über das Seiende, nicht einmal auf dem anscheinend doch neuartigen Wege einer »Daseinsanalyse« im Sinne von Sein und Zeit zu vollziehen ist. Zieht man nun noch in Betracht, dass Heideggers Kritik an der Metaphysik gerade von der Annahme ausgeht, diese habe das wahre Sein unter dem falschen Verständnis des Seins als Seiendheit immer weiter verdeckt, dann sieht man, wie das Problem der Kehre mit dem der Metaphysikkritik und dem des Übergangs zum neuen Anfang in einen Problemkomplex zusammenläuft. Die Einsicht, dass über die Auseinandersetzung mit dem Seienden nie zum Sein zu gelangen sei ist das Eine, die Frage aber, auf welchem Wege das Denken sich dem Sein sonst nähern könne, ein ganz anderes und nicht so ohne Weiteres zu lösendes Problem. Bei dem Versuch, die scheinbar fundamentale Kehre in Heideggers Denkentwicklung eindeutig zu lokalisieren, stößt man dieser Problematik entsprechend auf zahlreiche Schwierigkeiten. Auch Heideggers explizite Äußerungen zum Thema sind wenig hilfreich und mitunter verwirrend, weil er einerseits inhaltlich abweichende Bestimmungen vornimmt und den Gedanken der Kehre andererseits auch mit ganz verschiedenen, zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Texten in Verbindung bringt. Im Zusammenhang mit der Übergangsproblematik erstaunt es allerdings nicht, dass Heidegger gerade die erste Schellingauslegung in den Kontext der Kehre verlegt. In einem Brief an Hannah Arendt heißt es etwa, die erste Schellingvorlesung falle in einen Zeitraum seines Denkens, in dem er »mit der Kehre annähernd durch war«.344 Diese Formulierung eröffnet ihrerseits ganz unterschiedliche Deutungsperspektiven zur Frage nach dem Zusammenhang von Kehre, Übergang und Schellinginterpretation. Je nachdem, worin man letztlich den entscheidenden Wandel in Heideggers Denken erblickt, wird man diese Frage vielleicht unterschiedlich beantworten. So lässt sich in der frühen Interpretation der Freiheitsschrift von 1936 durchaus der Versuch erkennen, das Verhältnis von Sein und Seiendem umzukehren. Der angeblichen Anthropomorphie der Schellingschen Ausführungen zum Trotz interpretierte Heidegger die Freiheitsschrift ja gerade als Ausdruck des Versuchs, den Menschen aus einer Freiheit heraus zu verstehen, die keinesfalls als Eigenschaft des Menschen, sondern als Sein selbst verstanden werden

344 

AH 230.

324

Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

müsse. In diesem Sinne scheint gerade hier der Umkehrung des Verhältnisses von Sein und Seiendem Rechnung getragen.345 Versucht man aber, die Kehre in einen Zusammenhang mit der frühen Schellingdeutung zu stellen, so irritiert der Wandel, der sich in der kritischen Abwendung von Schelling ausdrückt. Denn diese zweite Vorlesung behauptet ja gerade, dass Schelling den Gipfel eines Denkens darstelle, welches Sein als Seiendheit erfahre und denke und das wahre Sein somit vollständig verdränge. In diesem Sinne scheint Heidegger nach der ersten noch eine zweite Kehre vollzogen zu haben, die man auch als Umdeutung der ersten Kehre verstehen kann. Hier, zwischen der ersten und zweiten Schellingvorlesung, vollzieht sich ein Wandel, der radikalerer Natur zu sein scheint als der erste. Während der erste im Verständnis des Seins als Freiheit bzw. als Wille bereits ein ursprünglicheres Seinsverständnis erkannte, ist es gerade dieses vermeintlich ursprünglichere Seinsverständnis, das 1941 zum Gegenstand der Kritik wird. Hält man sich also an diese ebenso gängige Deutung des Heideggerschen Denkwegs, derzufolge der entscheidende Wandel in Heideggers Werk in seiner Abkehr von einer radikalen Selbstphilosophie besteht, die die frühe Phase im Ausgang von Sein und Zeit kennzeichnet, so scheint die Vorlesung von 1936 gerade den vollendeten Ausdruck des Denkens vor der Kehre darzustellen. Nun könnte man so gesehen tatsächlich von zwei Kehren in Heideggers Werk ausgehen, von zwei fundamentalen Wandlungen, die diese unterschiedlichen Deutungen tragen. Man könnte zugleich sagen, dass beide Interpretationen mit der die Kehre motivierenden Einsicht zusammenhängen, derzufolge sich das Verhältnis von Seiendem und Sein umkehren müsse, um Sein aus der Herrschaft des Seienden ›befreien‹ zu können. Beide wären so gesehen nur zwei unterschiedliche Lösungen für ein und dasselbe Problem, zwei Antworten auf die Frage also, wie der Zugang zum Sein zu gewinnen sein könnte, wenn doch das Denken scheinbar unüberwindbar im Zeichen des Seienden steht, welches das Sein selbst verdeckt. Dabei scheint aus der ambivalenten Haltung Heideggers eine Art von Mißtrauen zu sprechen, ob Schelling das Sein wirklich von sich aus denkt und es nicht doch wieder vom Seienden aus entwickelt. Die angeblich ursprüngliche Seinserfahrung, die in der Vorlesung von 1936 von zentraler Bedeutung ist, scheint als Kriterium für die Ursprünglichkeit des Seinsverständnisses also nur bedingt zu taugen, ebenso wie die bloße Absicht, das Verhältnis von Sein und Seiendem umzukehren. Wie kann man wissen, ob das Sein, von dem man ausgeht, denn auch tatsächlich das Sein ist und nicht schon wieder und immer noch die ewig sich vordrängende Seiendheit, die

345 

Vgl. z. B. Jean Grondin: »Daß Schelling eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der ›offiziellen Kehre‹ in den dreißiger Jahren spielte, läßt sich bekanntlich an der Schellingvorlesung von 1936 unschwer belegen« (Grondin (1999), S. 71).



Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 325

gerade durch den Anschein größerer Ursprünglichkeit die Seinsvergessenheit wahrhaft vollendet?346 Ob es nun also eine oder mehrere Kehren gegeben habe und in welcher der wirklich fundamentale Wandel, die wirklich fundamentale Einsicht sich ausdrücke, ist nicht umsonst eine der schwierigen Fragen, auf die sich vielleicht keine abschließende Antwort finden lässt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Seiendem bzw. Seiendheit eigentlich schon in Bezug auf die ›erste‹ Kehre keinen neuen Gedanken darstellt. Sofern Heideggers Denken immer schon im Zeichen der Suche nach einem angeblich vergessenen Sein stand, war es auch immer schon eine Art von Metaphysikkritik, zielte es immer schon auf die Unterscheidung von Sein und Seiendheit und suchte immer schon nach einem, vom metaphysischen mehr oder weniger grundlegend zu unterscheidenden Denken. In diesem Sinne scheint sich im Blick auf Heidegger dieselbe Frage zu stellen, die auch im Kontext mit dem Denkweg Schellings aufgeworfen wurde. Gibt es, so fragt sich, einen grundlegenden Wandel in seinem Denken, der auf eine grundlegende Einsicht zurückzuführen ist, und wenn ja, welche Einsicht wäre das? Oder wäre es – anders gefragt – nicht sinnvoller, die Frage nach der Kehre zurückzustellen, die offenbar nicht eindeutig zu bestimmen ist, und die darum vielleicht auch gar nicht von entscheidender Bedeutung ist für ein Verständnis des Heideggerschen Denkens?347 Diesen Überlegungen zum Trotz scheint man beim Versuch, Heideggers späteres Denken zu verstehen, um das Problem der Kehre letzten Endes doch nicht herum zu kommen. Dies liegt wohl vor allem an der zweiten Bedeutung dieses Begriffes, nach der sie kein zeitlich lokalisierbares Ereignis auf Heideggers Denkweg und keinen vollzogenen Übergang, sondern einen Gegenstand seines Denkens bezeichnet. Auch in diesem Sinne allerdings lässt sich auf den ersten Blick kaum eine eindeutige Bestimmung dessen vornehmen, was »Kehre« meint. Einmal ist die Rede von einer »Kehre innerhalb der Geschichte des Seyns«348, dann wieder spricht Heidegger von einer Art ›Ur-Kehre‹ im Sein, die »der verborgene Grund aller anderen, nachgeordneten, in ihrer Herkunft dunkel, ungefragt bleibenden, gern an sich als ›Letztes‹ genommenen Kehren, Zirkel und Kreise (vgl. z. B. die Kehre im Leitfragengefüge; den Zirkel im Verstehen)« sei (BP 407). Ein anderes Mal bezeichnet 346 

Dieselbe Unsicherheit ist es auch, die erklären kann, wie Schelling einerseits als Überwinder, andererseits aber als Vollender der Metaphysik auftreten kann. Verhält es sich nämlich so, dass Schelling als Überwinder zwar erscheint, obwohl er in Wahrheit dem Verständnis des Seins als Seiendheit verhaftet bleibt, so scheint die Seinsvergessenheit sich gerade hier, wo es den Anschein hat, sie sei überwunden, vollends zu verfestigen und damit unüberwindbar zu werden. 347  Vgl. Dieter Thomä (2003a), der eben zu dieser Schlussfolgerung kommt. Vgl. außerdem Ivan Kordic, der die Kehre als Ausdruck des Wegcharakters deutet, als ein »dauerhaftes Unterwegs zu den Geheimnissen, deren Anziehungskraft gerade darin besteht, daß sie unlösbar sind« (Kordic (2007), S. 43). 348  Vom Wesen der Wahrheit (1930), GA 9, S. 177.

326

Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

die Kehre vielmehr ein Verhältnis zwischen Mensch und Sein, wenn es heißt, die Kehre wese »zwischen dem Zuruf (dem Zugehörigen) und der Zugehör (des Angerufenen). Kehre ist Wider-kehre« (ebd.). Wieder an anderer Stelle spricht Heidegger von einem »lichtend-verbergenden Wendungspunkt« (BP 29) innerhalb der Kehre, was einen Bezug der Kehre auf das gegenwendige Seinsgeschehen herstellt. Angesichts der Vielzahl dieser Bestimmungen kann an dieser Stelle nicht versucht werden, ein einheitliches Verständnis dessen zu entwickeln, was Kehre bei Heidegger meinen könnte – ein ohnehin wahrscheinlich aussichtsloser Versuch. Dennoch verweist die Verwendung des Begriffes je auf eine zentrale Bedeutung des Problemfelds »Kehre«. Kehre scheint demzufolge dreierlei zu meinen, einmal einen Wandel auf dem Denkweg Heideggers, dann einen Wandel in der Seinsgeschichte, und schließlich einen Wesenszug des Seins selbst.349 Dass alle drei zusammenhängen, in irgendeiner Weise identisch sein sollen, davon ist wohl auszugehen. Ob und wie Heidegger diesen Zusammenhang aber plausibel machen kann, bleibt eine vorerst offene und gleichwohl wichtige Frage. Das Problemfeld »Kehre« ist somit nicht irgendeines in Heideggers Denken, sondern eines, das auf das Wesen des Seins, wie Heidegger es verstanden wissen möchte, grundlegend zielt. Und sofern der Übergang, den Heidegger in der frühen Vorlesung über Schelling erstmals in den Blick rückt, den Übergang meint von einem Denken im Zeichen der Seiendheit und der Seinsvergessenheit zu einem Denken des Seins, das als ›Denken an das Sein‹ verstanden werden soll, ist er Ausdruck der Kehre, die das Verhältnis von Seiendem und Sein umkehrt. In diesem Sinne sind weder die Kehre noch der Übergang als je lokalisierbares Ereignis auf Heideggers Denkweg zu verstehen, sondern eher als ein Problem, um das Heidegger in seinem Denken ringt. Die Einsicht, dass das Verhältnis zwischen Sein und Seiendem umgekehrt werden muss, ist eben noch nicht der Vollzug des Übergangs, der erst noch auf zunächst unbekannte Weise in die Wege zu leiten ist. In diesem Sinne nennt Heidegger sein Denken auch »übergängliches«350 Denken, ein Denken, das – 349  Vgl.

auch Bret Davis, der die Rede von der Kehre einerseits als Wende im Denken und andererseits als Kehre in der Sache selbst versteht, und der ebenfalls darauf hinweist, dass beide Aspekte korrespondieren sollen (Davis (2007), S. 61 ff.). 350  Vgl. BP 171 f.: »Die ›Metaphysik‹ wird jetzt erst in ihrem Wesen erkennbar und im übergänglichen Denken kommt alle Rede von ›Metaphysik‹ in ihre Zweideutigkeit. Die Frage: Was ist Metaphysik?, im Bereich des Übergangs zum anderen Anfang gestellt […], erfragt das Wesen der ›Metaphysik‹ bereits im Sinne einer ersten Gewinnung der Vorfeldstellung zum Übergang in den anderen Anfang. Mit anderen Worten, sie fragt schon aus diesem her. Was sie als Bestimmung der ›Metaphysik‹ sichtbar macht, das ist schon nicht mehr die Metaphysik, sondern ihre Überwindung. Was diese Frage erzielen will, ist nicht die Aufklärung und d. h. Festerhaltung der bisherigen und dazu notwendig verwirrten Vorstellung von der ›Metaphysik‹, sondern ist der Stoß in den Übergang und damit in das Wissen, daß jede Art von Metaphysik zu Ende ist und sein muß, wenn die Philosophie ihren anderen Anfang gewinnen soll« (BP 171 f.).



Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 327

der Ambivalenz der Schellingdeutung entsprechend – nicht mehr metaphysisch genannt werden soll, weil es schon von der Einsicht in die Notwendigkeit des Übergangs geprägt ist, das aber den Übergang andererseits nur vorbereiten kann, ohne ihn bereits vollzogen zu haben.351

1.3 Der Übergang als Metaphysikkritik Die Frage danach, wie der Übergang zum neuen Denken angesichts der allumfassenden Seinsvergessenheit eingeleitet und vollzogen werden könne, scheint damit von ausschlaggebender Bedeutung für Heideggers Denken. Denn die Einsicht allein – so wurde gesagt – dass das Sein an den Anfang gestellt werden muss, dass also vom Sein selbst ausgegangen werden müsse, wenn es in seiner Wahrheit verstanden werden solle, reicht für den Vollzug des Übergangs nicht aus.352 Wenngleich aber der Übergang Heideggers Überzeugung zufolge nicht im Ausgang von einem Denken der Seiendheit vollzogen werden kann, muss er dennoch aus einer Auseinandersetzung mit diesem metaphysischen Denken hervorgehen. Der Übergang ist, anders gesagt, nur als Kritik der Metaphysik möglich. Dieser Gedanke scheint durchaus einleuchtend, denn einerseits ist das metaphysische Denken Heideggers Diagnose folgend allgegenwärtig und bestimmt mithin unser Denken, ob wir wollen oder nicht. Es wäre also naiv zu denken, man könne sich einfach so auf einen anderen Standpunkt stellen. Andererseits kann die Seinsvergessenheit der Metaphysik erst dann bewältigt und überwunden werden, wenn das metaphysische Denken in seinem Wesen erkannt wird. Diese Erkenntnis müsste deutlich machen, warum Sein auf dem Wege der Metaphysik gerade notwendig vergessen werden muss und sie müsste zugleich damit dem neuen Denken ermöglichen, diesen ›Fehler‹ der Metaphysik zu vermeiden. In diesem Sinne ist der neue Anfang an das alte Denken 351  In

gewisser Weise ist auch die Frage nach dem Übergang und der Kehre im Sinne einer Umkehrung des Verhältnisses von Sein und Seiendem im Denken bereits bei Schelling – im Versuch des Übergangs von der »negativen« zur »positiven« Philosophie – vorgezeichnet. Vgl. dazu A. Franz, der in seiner Studie über die Spätphilosophie Schellings im Kapitel »Die Problematik des Übergangs als Grundproblem des Schellingschen Denkens« das Erfordernis einer »Umkehrung« thematisiert, die der Einsicht in das wirkliche Verhältnis von Absolutem und Relativen entsprechen soll. Dabei ist es Schelling selbst, der in diesem Kontext von »Umkehrung« spricht (vgl. Franz (1992), S. 265 ff.). In unmittelbarer Anlehnung an Heideggers Schellingdeutung stellt auch W. Wieland Schelling in diesem Sinne als einen Vorläufer Heideggers dar, der selbst bereits einen »Versuch zur Überwindung der traditionellen Metaphysik überhaupt« unternommen habe (Wieland (1956), S. 9). 352  Tatsächlich äußert selbst Heidegger gelegentlich Bedenken, »ob denn solches möglich sei, das Seyn selbst in seiner Wesung zu denken, ohne vom Seienden auszugehen« (BP 429).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

gebunden, ist das Denken nach der Kehre nur als Umkehr bzw. als Abkehr vom alten Denken zu verstehen. Schon die frühe Vorlesung macht diesen Gedanken ganz deutlich, indem sie den Übergang zum neuen Denken an das Scheitern der Freiheitsschrift und an eine Erkenntnis der Gründe für eben dieses Scheitern bindet. Die beiden Schellingvorlesungen präsentieren allerdings zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wie von der Metaphysik zum neuen Denken übergegangen werden müsse oder könne. Die frühe Vorlesung setzt auf den Gedanken eines gewissermaßen immanenten Übergangs. Metaphysisches Denken, so die Interpretationslinie von 1936, führt notwendig auf die Systemforderung, und diese wiederum auf die Forderung nach einem System der Freiheit. Indem Metaphysik sich aber als System der Freiheit realisiert, scheitert sie zugleich und bringt damit ihre eigene Grenze in den Blick, in der die Notwendigkeit einer Überwindung des metaphysischen Denkens im Denken des neuen Anfangs erkennbar wird. So scheint die Freiheitsschrift gerade im Nachvollzug ihrer Argumentation die Öffnung der Metaphysik auf das neue Denken hin zu ermöglichen, indem sie sich selbst aufhebt und aus sich heraus die Notwendigkeit eines anderen Denkens in den Blick bringt. Diese Vorstellung einer immanenten Überwindung der Metaphysik scheint nicht allein Heidegger in der frühen Vorlesung von 1936 zu überzeugen. Sie kommt vielmehr überall da zum Tragen, wo von der »Selbstaufhebung« oder »Selbstüberwindung« des Idealismus im Denken des späten Schelling die Rede ist.353 Heideggers frühe Deutung der Freiheitsschrift erweist sich auch in dieser Frage als überaus prägend. Andererseits aber könnte man vielleicht mit gleichem Recht behaupten, dass Heidegger in der Vorlesung von 1936 die Möglichkeit eines immanenten Übergangs, d. h. einer Selbstaufhebung der Metaphysik, gerade zurückweist. Denn obwohl unklar bleibt, woran Schelling Heideggers Auffassung zufolge scheitert und woran sich folglich ein ganz neuer Anfang zu orientieren hätte, wird doch eines völlig klar: Schelling geht den entscheidenden Schritt nicht. Er verbleibt auf dem Boden der Metaphysik, von dem aus es offenbar nicht weiter gehen kann als bis zur 353 

Vgl. z. B. Walter Schulz, der allerdings seinerseits letztlich auf eine »dialektische Selbstvermittlung« (Schulz (1955), S. 291) der Vernunft, auf ein dialektisches, »relativ Anderes« (ebd., S. 292) setzt, das darum nicht wirklich zu einem anderen Standort führen kann und insofern Heideggers Rede vom Scheitern zu bestätigen scheint. Werner Marx spricht davon, dass Schellings Begriff des »Lebens« die »Aufklärungsbewegung in der Philosophie ad absurdum führen und den Deutschen Idealismus gewissermaßen aus sich selber heraus in eine ganz andere Sichtweise hinaustreiben sollte« (Marx (1981), S. 55). Als eine Art Selbstüberwindung erscheint die Freiheitsschrift auch in der Interpretation von Christian Brouwer, der sie als »labilisierende Schrift« bezeichnet, die, »indem sie System der Freiheit ist, das System ins Wanken [bringe] und mit ihm die Begriffe innerhalb des Systems, letztlich auch den Begriff des Systems selbst. Durch das System muss alles hindurch, und nach seinem Durchgang ist nichts mehr, wie es war, sondern mit der Drohung seines eigenen Nicht-Seins konfrontiert, die zu seinem Dasein konstitutiv hinzugehört« (Brouwer (2011), S. 366).



Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 329

in der Freiheitsschrift erkannten Grenze. Die Rede von Schellings Scheitern macht also auch deutlich, dass diese Grenze als solche vom metaphysischen Denken aus nicht erkannt und infolgedessen auch nicht überwunden werden kann. Dazu ist, so die aus diesem Blickwinkel völlig schlüssig scheinende Fortsetzung des Gedankens, bereits eine Sicht auf die Metaphysik nötig, die einen Standpunkt jenseits der Metaphysik für sich beansprucht.354 Ein wahrhaft neues Denken muss schon im Blick sein, um die Freiheitsschrift überhaupt als Vollendung der Metaphysik begreifen zu können, so denn auch die gewandelte Position, von der aus die zweite Schellingauslegung 1941 erfolgt. Wenn man so will, könnte man auch diesen Wandel in Heideggers Denken als eigentliche Kehre interpretieren, weil er der Einsicht in die nötige Umkehrung der Perspektive von Seiendem und Sein genau entspricht. Einem wie auch immer gedachten immanenten, d. h. auf gewisse Art kontinuierlichen Übergang von der Metaphysik zum ganz anderen Denken wird nun eine klare Absage erteilt. Statt dessen wird in der Vorlesung von 1941 nunmehr deutlich hervorgehoben, dass die Selbsterkenntnis, die Erkenntnis ihres eigenen Wesens, der Metaphysik grundlegend verschlossen bleibt. Nur ein Denken, das von einem der Metaphysik gegenüber ganz anderen Standpunkt aus operiert, kann das metaphysische Denken in seinem Wesen entlarven, kann zeigen, dass die Freiheitsschrift, die sich doch am weitesten vom metaphysischen Denken zu entfernen schien, in Wahrheit gerade den vollendeten Ausdruck desselben darstellt. Allerdings wirft dieser Ansatz mindestens ebenso viele Schwierigkeiten auf wie der Versuch einer immanenten Überwindung. Fraglich ist nämlich in diesem Fall, wie das Denken scheinbar unvermittelt zu dem anderen Standpunkt gelangt ist. Setzt dies nicht voraus, dass doch mehr oder weniger ohne weitere Schwierigkeiten eine Metaposition eingenommen werden kann, die es erlaubt, das Wesentliche am metaphysischen Denken zu erkennen? Dass dies durchaus ein Problem darstellt, drückte sich unter anderem in Heideggers Schwierigkeiten aus, im Rahmen dieser Vorlesung das Wesen der Metaphysik überzeugend mit dem Konzept des Wollens zu verbinden. Abgesehen davon stellt sich zudem die Frage, ob Heidegger hier nicht für sich beansprucht, bereits von einem ganz anderen Standpunkt aus zu sprechen, ob also nicht von einem bereits vollzogenen Übergang ausgegangen werden müsste, der seinerseits in einem unklaren Verhältnis zu dem angeblich noch ausstehenden Übergang zum neuen Denken zu stehen scheint. Andererseits aber basiert auch die Vorlesung von 1941 noch auf dem Gedanken, dass der eigentliche Übergang nach wie vor ausstehe und erst über die Auseinandersetzung 354 

Vgl. auch die in den Jahren zwischen den beiden Schellingvorlesungen entstandenen Beiträge zur Philosophie. Dort heißt es etwa: »Man kann hier freilich nicht auf dem Boden der metaphysischen Seynsfrage stehen bleibe und von diesem Standort aus ein Wissen fordern, das seinem Wesen nach das Verlassen dieses Standortes in sich schließt« (BP 429).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

mit Schelling in die Wege zu leiten sei. Erst müsse das Wesen der Metaphysik in seiner vollendeten Gestalt bei Schelling erkannt werden, um dann über diese Erkenntnis zum neuen Denken übergehen zu können. Die Annahme, dass Schellings Freiheitsschrift als metaphysische Vollendungsgestalt aufgefasst werden muss, ist damit ein Gedanke, der die beiden Vorlesungen aller Unterschiede zum Trotz doch eint. Allerdings scheint in beiden Fällen bereits im Blick auf diese grundlegende Behauptung einiger Zweifel gerechtfertigt. Dass sich der Systemgedanke selbst erst in einem System der Freiheit im Sinne Schellings vollenden könne, war die These, mit der die Interpretation von 1936 einsetzte, eine These, die aber nur dadurch möglich wurde, dass Heidegger die grundlegende Problematik, nämlich die behauptete Unvereinbarkeit von System und Freiheit, von Beginn an entschärfte. System und Freiheit stellten seiner Interpretation zufolge so essentiell aufeinander bezogene Gedanken dar, dass gerade in ihrer Einheit die Vollendung des Systemgedankens erreichbar schien. Mit dieser letztlich unbegründeten Darstellung ignorierte Heidegger allerdings den Umstand, dass Schellings Projekt kaum als Vollendung der Metaphysik, sondern vielmehr als das zwiespältige Vorhaben einer Vereinbarung unvereinbarer Aspekte von Beginn an gekennzeichnet ist. Die innere Widersprüchlichkeit der Freiheitsschrift scheint denn auch der Behauptung, hier läge die vollendete Form von Metaphysik vor, gerade entgegengesetzt. In diesem Sinne hatte sich gezeigt, dass die Schwierigkeiten, angesichts derer sich vielleicht zu Recht von einem Scheitern reden ließe, nicht aus der Freiheitsschrift hervorbrechen, sondern ihr von vornherein zugrundeliegen.355 Ebensowenig wie die erste aber konnte die zweite Vorlesung deutlich machen, warum und inwiefern es sich bei der Freiheitsschrift um die Vollendung der Metaphysik handeln solle. Im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1941 schien diese These – im Gegensatz zum frühen Ansatz – auch gar nicht aus der Freiheitsschrift heraus entwickelt, sondern von außen an dieselbe herangetragen zu werden. Wie die Kritik eigentlich zustande kommt, woher also die Behauptung wirklich stammt, dass alle Metaphysik auf ein als Wollen bestimmtes Sein hin ziele und dass diese Bestimmung in ausgezeichneter Weise die Ausführungen der Freiheitsschrift bestimmte, konnte deshalb anhand der Vorlesung selbst nicht ermittelt werden. In diesem Sinne aber könnte man wohl sagen, dass beide Auslegungen derart an Schellings Position vorbeigehen, dass fraglich wird, ob es überhaupt sinnvoll sein kann, eine Analyse der Metaphysikkritik und des geforderten Übergangs nun ausgerechnet anhand von Heideggers Schellinginterpretation zu diskutieren. Das mag im 355  Die These von der Vollendung der Metaphysik in einem derartigen Projekt könnte man nur in dem Sinne halten, in dem man behauptete, dass die Metaphysik sich dort vollende, wo sie ihre eigene Kritik vollständig in sich aufgenommen habe. Einerseits aber sagt Heidegger dies nirgends in eindeutiger Weise, und andererseits scheint mir dies – bei aller Tendenz, vernunftkritische Einsichten in das System zu integrieren – auch im Blick auf Schelling kaum zutreffend.



Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 331

Blick auf die These, dass die Überwindung anhand von Schelling, und zwar anhand eines als Vollender der Metaphysik verstandenen Schelling zu erfolgen hat, richtig sein. Andererseits aber liegt gerade in der der Freiheitsschrift zugrunde liegenden Problematik, die für die inneren Widersprüche des Systementwurfs verantwortlich ist, auch ein entscheidender Bezugspunkt zwischen Heidegger und Schelling. Die inneren Widersprüche nämlich resultieren ja unter anderem aus dem Versuch Schellings, vernunftkritische Einsichten und Überzeugungen Jacobis in das System zu integrieren, bzw. unter systemlogischen Bedingungen denkbar zu machen. In diesem Sinne scheint es plausibel, dass der eigentliche Anknüpfungspunkt, der Punkt also, der Schelling für Heidegger interessant macht, gerade nicht in der angeblichen Vollendung der Metaphysik bei Schelling liegt, sondern in der Abweichung davon, d. h. in der inneren Widersprüchlichkeit selbst. Die Rede von der besonderen Seinserfahrung einerseits wie die von den »Durchblicken und Ahnungen« andererseits unterstreichen diese Sicht ebenso wie die vom Scheitern der Freiheitsschrift, die Schelling ein Streben über die Grenzen metaphysischen Denkens hinaus unterstellt. Schelling, so lässt sich folgern, ist gerade deshalb für Heidegger interessant, weil er selbst in irgendeiner Form als Vernunftkritiker erscheint. Bestätigt wird diese Sicht durch die Aufzeichnungen zu einer Übung aus dem Wintersemester 1937/38356, in dem Heidegger eine relativ kurze und gleichwohl aufschlussreiche Kritik an Schelling vornimmt, die später noch einmal aufgegriffen werden soll. Diese Aufzeichnungen machen deutlich, dass Heidegger das späte Denken Schellings durchaus als den Versuch einer »Überwindung des Rationalismus« versteht, der allerdings zugleich nicht radikal genug sei und darum zu keinem wirklichen Neuansatz führen könne. Daher komme es letztlich dazu, »dass gerade Schelling in der Spätphilosophie […] am wenigsten etwas [ahne] von dem, was zur Überwindung des eigentlichen ›Rationalismus‹ notwendig« sei. Dazu nämlich sei »das erst Geforderte, den ›Rationalismus‹ metaphysisch zu begreifen, d. h. als die Grundstellung innerhalb der ganzen abendländischen Metaphysik, die auch in der positiven Philosophie nicht überwunden ist« (GA 88, 141, Herv. Heidegger).357 Trotz der hier an Schelling geübten Kritik scheint aber deutlich, dass Heidegger den rationalitäts- bzw. vernunftkritischen Aspekt der Philosophie Schellings besonders hervorhebt, obwohl dieser für Schelling 356 

Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens (Metaphysik). Übungen im Wintersemester 1937/38, ›X. Schelling: Die negative und positive Philosophie‹, GA 88, S. 135– 144. 357  Diese Kritik ist allerdings zugleich gegen den Versuch gerichtet, Schellings Philosophie zu einem direkten Vorläufer seines eigenen Denkens zu machen. Vgl. das vollständige Zitat: »So kommt es, daß gerade Schelling in der Spätphilosophie, die man zuweilen als die vorausgenommene Erfüllung von ›Sein und Zeit‹ jetzt ausgibt (weil da von ›Ontologie‹ und ›Aristoteles!‹, Faktizität und dergleichen die Rede ist,) am wenigsten etwa ahnt von dem, was zur Überwindung des eigentlichen ›Rationalismus‹ notwendig ist« (GA 88, 141, Herv. Heidegger).

332

Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

selbst wohl nur einen Teil seines Denkens ausmacht. Der Absicht nach zielt Schellings Werk wie gesehen gerade auf die Realisierung und nicht auf die Überwindung des Systems und damit – wenn überhaupt – auf eine Erweiterung des Rationalitätsverständnisses und nicht auf eine fundamentale Kritik desselben. Heideggers Denken hingegen ist wesentlich und explizit auf eine Überwindung des metaphysischen Denkens hin ausgerichtet und zeichnet sich durch eine emphatische Bejahung all dessen aus, was dem rein vernünftigen Denken und der Geschlossenheit von Systementwürfen entgegengesetzt ist. Schelling versteht sich selbst als Systemdenker, wo Heidegger explizit zwar nicht als Systemkritiker, doch aber als Metaphysikkritiker auftritt.358 Und während bei Schelling Überwindung immer nur Überwindung auf höherer Ebene meint (wie etwa die Formulierungen des höheren Realismus und des höheren Idealismus anzeigen), zielt Heidegger vor allem in der radikalen Variante von 1941 auf ein dem metaphysischen Denken gegenüber ganz Anderes. Sofern dies der Fall ist, rückt bei Heidegger das Problem des Übergangs als solches in den Fokus der Betrachtungen, werden die Begriffe von ›Kehre‹ und ›Übergang‹ und die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysikkritik stets neu zum Thema und der Vollzug des Übergangs, wie in der Vorlesung über den Satz vom Grund gesehen, zur Herausforderung. Die Schwierigkeit des Übergangs aber zeigte sich schon anhand der beiden so gegensätzlichen Versuche, durch eine Auseinandersetzung mit Schelling zum neuen Denken zu gelangen. Entweder – so schien es in der ersten Vorlesung – Schelling ist bereits auf dem Weg zum neuen Denken, das damit wie eine Fortsetzung des metaphysischen Denkens schien. Oder aber – so der Eindruck aus der zweiten Vorlesung – ein wahrhafter Übergang ist insofern nicht möglich, als die Kritik der Metaphysik den bereits vollzogenen Übergang voraussetzt. Das neue Denken müsste sich so betrachtet ganz jenseits des alten befinden und keinerlei Bezug zu demselben aufweisen. Das Bild von Schelling, der an den Wendepunkt zwar gelangt, ihn auch als Wendepunkt in gewisser Weise zu erkennen scheint, ohne aber zum neuen Denken hinüber gelangen zu können, lässt die Problematik in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit anschaulich werden. Die Situation, in der sich der Denker befindet, scheint aussichtslos, denn aus dem metaphysischen Denken »führt« – wie es in den in der Zeit zwischen den beiden Schellingvorlesungen entstandenen Beiträgen zur Philosophie heißt – »keine Brücke in den neuen Anfang« (BP 203). Ohne Brücke aber sei der Übergang nur mithilfe eines Sprungs möglich, wie Heidegger etwa in Der Satz vom Grund ausführt: »Der Sprung«, so heißt es hier, »bringt das Denken ohne Brücke, d. h. ohne die Stetigkeit eines Fort358  Ähnlich sieht dies Istvan Feher, der in einer Anmerkung kritisch gegen Heidegger einwendet, dass »die Grenzen des Begründens […] ein Thema darstellen, das im Deutschen Idealismus bereits vielfach zur Sprache kam«, der aber zugleich ergänzt, dass »solche Einsichten bei den Idealisten allerdings nicht – wie bei Heidegger – im Zusammenhang einer prinzipiellen Kritik der Metaphysik […] auftreten« (Feher (2000), S. 208/9, Anm.).



Schelling, Heidegger und das Problem des Übergangs 333

schreitens, in einen anderen Bereich und in eine andere Weise des Sagens (SvG 95). Etwa gleichlautend heißt es in den Beiträgen, dass es keinen »unmittelbaren, gleichsinnigen« Fortgang, sondern »nur einen Sprung, d. h. die Notwendigkeit eines neuen Anfangs« (BP 76) geben könne. Die Figur des Sprungs aber lässt im vorliegenden Kontext deshalb hellhörig werden, weil sie ein zentrales Motiv der Jacobischen Vernunftkritik bildet, die dem kritischen Anteil der Schellingschen Freiheitsschrift im Rücken liegt. Vor diesem Hintergrund scheint es naheliegend, einen Vergleich der Strukturen von Metaphysikkritik bei Heidegger mit denen Jacobis vorzunehmen. Doch ist ein solcher Vergleich tatsächlich möglich und sinnvoll? Auf Anhieb scheinen sich massive Zweifel aufzudrängen. Gegen den Vergleich dieser beiden Denker spricht wohl vor allem die Deutung Jacobis, die Heidegger im Rahmen der Vorlesung von 1936 vorgelegt hatte, eine Darstellung, in der Jacobi abfällig als christlicher Eiferer charakterisiert wurde, der sich gegen jede tiefere philosophische Einsicht verwehrt habe. Daneben aber sind es gerade die bisher aufgezeigten Gemeinsamkeiten zwischen Schelling und Heidegger, bzw. die positiven Bezugnahmen Heideggers auf Schelling, die einen solchen Vergleich von vornherein in Frage stellen. Im Zusammenhang mit allen drei Vorlesungen war letztlich deutlich geworden, dass Heidegger Schellings Position gerade in den Aspekten zu unterstützen schien, die Jacobis Ansichten zuwiderlaufen. Dass bisher noch niemand den Versuch eines derartigen Vergleichs unternommen hat, kann schon allein deshalb nicht erstaunen.359 Zusätzlich zu den genannten Punkten aber lässt sich dieser Umstand wohl auch darauf zurückführen, dass Jacobis Denken als eigenständige Position

359 Der

einzige, der einen positiven Bezug zwischen Heidegger und Jacobi herstellt, ist Andrew Bowie, der Jacobi eine wichtige Rolle für Schellings Denkentwicklung und für das Problem der Subjektivitätskritik zuschreibt. »It should […] be clear«, so Bowie, »that the sense in Heidegger and his successors that they are inaugurating a wholly new philosophy beyond subjectivity can be relevant only to those aspects of modern philosophy which do not take on board the insights of Jacobi« (Bowie (1996), S. 115). Interessanterweise aber betrachtet Bowie Jacobi dabei nicht als einen Gegner Schellings, sondern als Mitstreiter im Kampf um eine Philosophie, die nicht in der Tradition Descartes’ steht und damit keine Philosophie des absoluten Subjekts sein soll. In dieser Interpretationsperspektive gelten dann sogar Jacobi und Spinoza in gewisser Weise als Vertreter ein und derselben Position. Auch der kurze Hinweis Heideggers auf Jacobi in Nietzsche II spricht kaum für eine positive Bezugnahme Heideggers auf Jacobi. Der Aufsatz mit dem Titel »Der europäische Nihilismus« beginnt zwar mit der Bemerkung, die »erste philosophische Verwendung des Worten ›Nihilismus‹ stammt vermutlich von Fr. H. Jacobi« (Nietzsche II, 31). Allerdings erwähnt Heidegger in einer Anmerkung, dass er den »Hinweis auf Fr. H. Jacobi« während der Korrektur von Otto Pöggeler erhalten habe. Tatsächlich geht er im Weiteren auch nicht mehr auf Jacobi ein. Diese Verbindung zwischen Heidegger und Jacobi im Zusammenhang mit dem Nihilismusproblem wird von Gawoll (1989) und Müller-Lauter (1975) aufgegriffen, die jedoch beide der Position Jacobis nur eine sehr begrenzte Bedeutung zuschreiben.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

überhaupt nur selten zur Kenntnis genommen wird, und wenn doch, dann hauptsächlich unter negativen Vorzeichen. Von Heidegger sind wenige explizite Äußerungen zu Jacobi überliefert, die einen solchen Vergleich über den genannten Bezugspunkt hinaus berechtigt erscheinen ließen. Die einzigen Bemerkungen finden sich tatsächlich im Rahmen der Auseinandersetzung mit Schelling, wo sie an entsprechender Stelle bereits thematisiert wurden. Sie wiederholen das Bild Jacobis als eines sachlich kaum ernstzunehmenden religiösen Fanatikers, das Schelling im Denkmal auf Jacobi auf so drastische Weise gezeichnet hatte. Dass und inwiefern diese Polemik Schellings gegen Jacobi an dessen eigentlichem Denken vorbeigeht, war bereits im Zusammenhang mit der Freiheitsschrift deutlich geworden, ebenso wie der Umstand, dass Schelling selbst, seiner im Denkmal präsentierten Haltung zum Trotz, durchaus auch im Weiteren von Jacobis Argumenten beeindruckt bleibt.360 Auch Heideggers Kritik an Jacobi ist daher nicht gegen diesen selbst, sondern gegen ein Zerrbild gerichtet, das die zentralen Anliegen und Argumente Jacobis außer Acht lässt. Daneben diente seine Abweisung des historischen Kontextes, auch dies wurde bereits deutlich, vor allem der Strategie, eine immanente Überwindung des Systems in die Wege zu leiten. Heideggers kritische Äußerungen in der Vorlesung von 1936 sind damit nicht als Auseinandersetzung mit Jacobi zu verstehen und können folglich nicht herangezogen werden, um über Sinn oder Unsinn eines solchen Vergleichs zu befinden. Sofern aber auf den ersten Blick davon ausgegangen werden muss, dass Heidegger die Position Jacobis mehr oder weniger ausschließlich vermittelt über die Darstellungen Schellings zur Kenntnis genommen hat, scheint zugleich auch der positive Bezug über den Begriff des Sprunges unter Vorbehalt zu stehen. Naheliegend ist hier die Vermutung, dass Heideggers Rede vom Sprung eher auf Kierke360 

Tatsächlich scheint sich in der späten Philosophie, im Zusammenhang mit dem Problem des Übergangs von der negativen, reinrationalen zur positiven Philosophie, eine weitere Annäherung an Jacobi zu vollziehen. Von der »reinrationalen« Philosophie fordert Schelling in seiner Darstellung der reinrationalen Philosophie, »alles so weit nur möglich ohne Gott« zu denken, d. h. »bloß natürlich oder vielmehr nach rein logischer Nothwendigkeit« (SW XI, 375). Er übernimmt damit in gewisser Weise Jacobis im Denkmal noch so hart kritisierte These, dass es das Interesse der Wissenschaft sein müsse, dass kein Gott sei. Garcela Marcia nennt dies bei Schelling einen »methodischen Atheismus« (Garcia (2011)). Dabei ist Schelling allerdings zugleich der Auffassung, dass »die Vernunftwissenschaft« selbst »wirklich über sich hinaus« führe und »zur Umkehr« treibe (SW XI, 565), womit er tatsächlich die Position Heideggers in der Vorlesung von 1936 vorwegzunehmen scheint. »Nur, wenn es keine weitere Möglichkeit gibt, wenn keine Denkmöglichkeit mehr zu aktualisieren ist, wird sie ihre Methode aufgeben können und Platz frei machen für eine andere Art von Philosophie« (Garcia (2011), S. 327). In diesem Sinne wäre ein Vergleich dieser späten Position mit Jacobi ebenso wie mit Heidegger durchaus gerechtfertigt. Dennoch gilt, dass Schelling in seiner vernunftkritischen Haltung nicht so eindeutig auftritt wie Jacobi, der sich dort, wo es um Strukturen von Vernunft- oder Metaphysikkritik geht, aus diesem Grund als geeignetere Vergleichsposition anbietet.



Gemeinsamkeiten: Die Radikalität des Übergangs im Sprung 335

gaard denn auf Jacobi selbst verweist. Im Weiteren wird sich hingegen zeigen, dass ein über Kierkegaard vermittelter Bezug zu Jacobi eher unwahrscheinlich bleibt. Allerdings soll es an dieser Stelle auf eine historische Bezugnahme auch gar nicht ankommen. Der hier vorgenommene Vergleich zielt vor allem darauf, die kritischen Anteile des Heideggerschen Projekts in ihren zentralen Strukturen zu beleuchten, die in bestimmten Teilen eine verblüffende Ähnlichkeit zu Jacobis Denken aufweisen. Dass Heidegger wie Jacobi zu einem Sprung aus dem kritisierten Denken auffordert, das in einer bestimmten Hinsicht als »rational« ausgezeichnet wird, ist nur eine erste Parallele, die aber gleich ins Zentrum des Problems hineinführt.

2. Gemeinsamkeiten: Die Radikalität des Übergangs im Sprung 2.1 Der Sprung als Zentrum? Die Figur des Sprunges ist durchaus eigenwillig und steht schon seit Jacobis Zeiten in keinem hohen Ansehen. Schelling etwa, der Jacobis Bedeutung in seiner Vorlesung zur Geschichte der neueren Philosophie doch noch explizit würdigt – weist die Forderung Jacobis, einen Sprung zu vollziehen, auch hier noch als unzumutbar zurück. Eben in der Figur des Sprunges aber kommt die Radikalität des Jacobischen Denkens zum Ausdruck, durch die es sich von den gängigen Denkmustern grundlegend unterscheidet. Wer versucht, Jacobis Position von der Notwendigkeit des Springens zu trennen, der ignoriert daher nicht irgend­einen sonderbaren Nebenschauplatz seines Denkens, sondern »das Zentrum« in Jacobis Denken, den »veritablen Dreh- und Angelpunkt«.361 Den Sprung als Zentrum des Jacobischen Denkens herauszuheben ist aber kaum geeignet, seine Position in den Augen der Interpreten aufzuwerten, im Gegenteil. Ein Sprung aus dem rein vernünftigen Denken scheint keine ernsthafte Option darzustellen.362 Er bleibt, anders gewendet, eine offene Provokation für das philosophische Denken. 361  Sandkaulen

(2000), S. 13. Die folgende Darstellung, bzw. der gesamte Vergleich, stützt sich entscheidend auf die Darstellung der Position Jacobis in der grundlegenden Studie von B. Sandkaulen. 362  Selbst A. Bowie, der sich ansonsten positiv zu Jacobi äußert, findet den Sprung keinesfalls überzeugend. »[H]is unconvincing advocacy of a ›salto mortale‹, a leap of faith, as the appropriate response to his key philosophical argument should not let us to dismiss the rest of what he says« (Bowie (1996), S. 109). Marcela Garcia betont im Zusammenhang mit dem Übergang von der reinrationalen Philosophie zur positiven Philosophie bei Schelling, dass es sich dabei nicht um einen »blinde[n] Glaubenssprung« handle, womit offenbar der Sprung bei Jacobi gemeint ist. Stattdessen handle es sich um einen Übergang, der »vernünftig« sein könne, »ohne notwendig aus der negativen Philosophie zu folgen« (Garcia (2011), S. 332), womit allerdings der Sprung bei Jacobi selbst zutreffender charakterisiert wäre als mit dem Titel des »blinden Glaubenssprungs«.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

So betrachtet scheint es nun wenig erstaunlich, dass der Figur des Sprunges bei Heidegger bisher wenig Aufmerksamkeit zukommt.363 Das mag – abgesehen von der ohnehin eher ablehnenden Haltung dem Sprung gegenüber – wohl auch darin begründet liegen, dass Heideggers Denken eine Vielzahl an Begriffen, Motiven und Figuren präsentiert, die jeweils eine gleichermaßen grundlegende Funktion zu beanspruchen scheinen. Im Blick auf die Frage nach dem Übergang allerdings scheint eine Thematisierung des Sprunges geradezu unumgänglich. Während nämlich der Begriff des Übergangs selbst unspezifisch ist und der der Kehre zunächst auf die Umkehrung des Verhältnisses von Sein und Seiendem und damit in gewisser Weise auf den Inhalt zielt, von dem wir vorerst wenig wissen, geht es bei dem Sprung vor allem um die Frage, wie der Übergang zu vollziehen sei. In der Absage an jegliche lineare Annäherung an das neue Denken, mit anderen Worten, in der Behauptung, der Übergang sei nur im Sprung zu vollziehen, drückt sich zugleich auch bei Heidegger die ganze Radikalität des Ansatzes aus. Heideggers Rede vom Sprung ist, soviel sei gleich vorweggenommen, keineswegs eindeutig zu interpretieren. Wie vielleicht alle Begriffe in Heideggers Denken ist auch der des Sprunges Bedeutungsverschiebungen unterworfen, je nachdem, zu welcher Zeit und in welchem Kontext er auftaucht. Letztlich ist, wie sich zeigen wird, selbst der so radikal scheinende Sprung eine ambivalente Figur, in der sich die gleichen Probleme ausdrücken, die schon im Zusammenhang mit dem Verhältnis Heideggers zu Schelling deutlich geworden sind. In dieser ersten Analyse aber, die vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen dem Sprung bei Jacobi und Heidegger zum Gegenstand hat, soll vorläufig so getan werden, als sei der Sprung eine eindeutige Figur, hinter der sich die Radikalität der Abgrenzung vom metaphysischen Denken verbirgt. Ohnehin kann kein Zweifel daran bestehen, dass Heidegger diese entschiedene Absetzung unter dem Titel des Sprunges zumindest beabsichtigt. Wenn er letztlich dennoch auch in dieser Hinsicht ambivalent bleibt, dann aus Gründen, die später untersucht werden sollen. Schon die relativ frühe Verwendung des Begriffes, die noch gar nicht im Zusammenhang steht mit dem Übergang zum neuen Denken, zeigt wesentliche Charakteristika des Sprunges an. In der Vorlesung zur Einführung in die Metaphysik von 1935 markiert der Sprung zwar noch keine derartige Abgrenzung, gleichwohl aber wird er schon hier als Figur präsentiert, die vor allem durch eine Form von Radikalität ausgezeichnet ist.364 Zu springen heiße nämlich, einen sicheren Boden zu verlassen, 363  Auf

die Bedeutung des Sprunges für Heideggers Denken weist Rüdiger H. Rimpler hin. Der Sprung bei Heidegger »signalisier[e] […] den Absprung aus der rein rationalen Auseinandersetzung mit den Defiziten des ersten Anfangs (Rimpler (2008), S. 98). 364  Die Vorlesung Einführung in die Metaphysik ist allerdings ihrerseits durch eine besondere Ambivalenz dem Begriff der Metaphysik gegenüber ausgezeichnet, weil sie von Heidegger im Jahr 1953 mit Ergänzungen versehen wurde, die die frühen Äußerungen in ein ganz anderes Licht



Gemeinsamkeiten: Die Radikalität des Übergangs im Sprung 337

»aus aller vormaligen, sei es echten, sei es vermeintlichen Geborgenheit« (EM 4) abzuspringen, und sich damit im weitesten Sinne in Gefahr zu begeben. Erst im Vollzug des Sprunges als eines Akts der Freiheit365 eröffne sich der neue Grund, der durch den Sprung allererst »erwirkt« werde.366 Die wirklich zentrale Bedeutung, die dem Sprung für den Übergang zum neuen Denken zukommt, lässt sich dann anhand der wenig später verfassten Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) erschließen. Diese zwischen 1936 und 38 entstandene Schrift bildet den Auftakt zu einer Anzahl von Texten, die mit dem Titel »seynsgeschichtliche Abhandlungen«367 zutreffend beschrieben sind. Sie stellt damit den ersten Versuch Heideggers dar, auf ganz andere, nicht mehr metaphysische Weise vom Sein zu reden. Wie bereits der Anfang dieser Schrift deutlich macht, stehen die Beiträge ganz im Zeichen des Übergangs zum neuen Anfang, denn sie »fragen«, wie es dort heißt, »in einer Bahn, die durch den Übergang zum anderen Anfang, in den jetzt das abendländische Denken einrückt, erst gebahnt wird« (BP 4).368 Wie entscheidend der Gedanke des Übergangs zum neuen Denken für Heidegger ist, zeigt sich hier nun auch daran, dass der erste Versuch, gewissermaßen unmittelbar vom Sein selbst zu sprechen, durch den Gedanken des Übergangs nicht nur inhaltlich sondern auch formal bestimmt ist. Der Aufbau der Beiträge nämlich orientiert sich an Etappen des Übergangs, die vom »Anklang« über das »Zuspiel« und

rücken sollen. Auch Heideggers Bemerkungen über den Sprung müssen daher mit Vorbehalt betrachtet werden, sofern es heißt: »Was hier ›Sprung‹ meint, wird später aufgehellt werden« (EM 4 f.). Die angekündigte »Aufhellung« des Begriffes bleibt Heidegger im Rahmen dieser Vorlesung allerdings schuldig. 365  Vgl. EM 10: »[Das Fragen] ist ganz freiwillig, völlig und eigens auf den geheimnisvollen Grund der Freiheit gestellt, auf jenes, was wir den Sprung nannten.« 366  Vgl. EM 4 f. 367  Paola Ludovika Coriando verwendet diesen Ausdruck im Nachwort zu GA 70, Über den Anfang (GA 70, S. 197). 368 Die Beiträge, die im kritischen Zeitraum zwischen der ersten und der zweiten Schellingvorlesung angesiedelt sind, sind dadurch besonders von dem Problem der Zuordnung von erster und zweiter Kehre betroffen. Die späteren Schriften, die mit den Beiträgen in einen Kontext gehören, so etwa Besinnung und Über den Anfang, machen deutlich, dass Heidegger hier die ›zweite‹ Kehre, also die Umdeutung des Begriffs Wollen schon vollzogen hat. Man kann jedoch eindeutig sagen, dass die Beiträge wie auch die anderen seinsgeschichtlichen Abhandlungen insofern im Zeichen der Kehre stehen, als sie allesamt Versuche darstellen, vom Wesen des Seins zu sprechen und eine dem Wesen des Seins angemessene Ausdrucksweise zu entwickeln. Heidegger selbst macht dies noch einmal deutlich, indem er viel später (in einer 1949 zum Humanismusbrief hinzugefügten Anmerkung) bemerkt, dass das, was er in den Beiträgen denke, »auf dem Gang eines Weges [beruhe], der 1936 begonnen wurde, im ›Augenblick‹ eines Versuches, die Wahrheit des Seins einfach zu sagen« (Wegmarken, GA 9, S. 313). Auf diese Bemerkung weist Friedrich-Wilhelm v. Herrmann in seinem Nachwort zur Ausgabe der Beiträge hin, um die Bedeutung dieser Schrift, die er als »wegeröffnende[s] große[s] Manuskript« bezeichnet, zu unterstreichen (GA 65, 512).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

den »Sprung« zur »Gründung« und letztlich zum »Seyn« selbst führen sollen.369 Das Zentrum des Übergangs, den genauen Umschlagspunkt, markiert also bereits hier, d. h. noch im Umkreis der ersten Schellingvorlesung, das Motiv des Sprunges. Auffällig allerdings, vielleicht auch symptomatisch für Heideggers Vorgehen, ist der Umstand, dass die Ausführungen unter dem Titel »Sprung« denselben gar nicht zum Gegenstand haben, weshalb es auch hier noch schwierig bleibt, Heideggers Verständnis des Sprunges näher zu bestimmen. Die wenigen konkreten Ausführungen aber bestätigen die Charakteristika, die sich bereits in der frühen Vorlesung Einführung in die Metaphysik gezeigt hatten. Der Sprung, so heißt es in den Beiträgen, sei »das Gewagteste«, weil er »alles Geläufige« – und das heißt vor allem die Fixierung auf das Seiende – »hinter sich« lasse (BP 227). Was er im Gegenzug gewinne, sei »die Zugehörigkeit zum Seyn«, die, wie der folgende Abschnitt klarmacht, durch den Sprung allererst gegründet wird, und die damit folglich ohne den Sprung nicht zugänglich sein kann.370 Die bereits behandelte und viel später entstandene Vorlesung über den Satz vom Grund ähnelt den Beiträgen insofern, als sie sich im Aufbau ebenfalls am Vollzug des Übergangs orientiert. Im Ausgang von allgemeinen Ausführungen über das Problem des Satzes vom Grund führt sie zu einer Darstellung der angeblich radikalsten metaphysischen Denkweise bei Leibniz, um dann die Forderung nach der Umkehr in das neue Denken zu präsentieren, auf die schließlich eine Skizze dessen folgt, was unter seinsgeschichtlichem Denken verstanden werden soll. Der Übergang selbst, der in einem »Wechsel der Tonart« des Satzes vom Grund bestehen soll, wird erneut als Sprung bezeichnet. »Der Wechsel der Tonart«, so Heidegger, »ist ein jäher. Hinter dem Wechsel der Tonart verbirgt sich ein Sprung des Denkens. Der Sprung bringt das Denken ohne Brücke, d. h. ohne die Stetigkeit eines Fortschreitens, in einen anderen Bereich und in eine andere Weise des Sagens« (95). Angesichts dieser Übereinstimmungen, angesichts dessen also, dass der zweifellos entscheidende Übergang zum neuen Denken Heidegger zufolge nur als Sprung möglich scheint, dürfte es durchaus gerechtfertigt sein, dieser Figur eine zentrale Funktion auch in Heideggers Denken zuzuschreiben. Allerdings wurde schon darauf hingewiesen, dass diese zentrale Figur gleichwohl von Heidegger sogar dort, 369  Vgl.

BP 6: »Der Aufriß dieser ›Beiträge‹ zur Vorbereitung des Übergangs ist dem noch unbewältigten Grundriß der Geschichtlichkeit des Übergangs selbst entnommen«. Der Abschnitt unter dem Titel Seyn wurde, als Reaktion auf eine Notiz Heideggers, vom Herausgeber des Bandes ans Ende gestellt, was völlig plausibel scheint. Ein Ende unter dem Titel »Der letzte Gott« wäre eindeutig irreführend. Auf die Bedeutung der Beiträge und vor allem der dort skizzierten Stationen des Übergangs weist Heidegger in Die Geschichte des Seyns (GA 69) mehrfach hin. Dort heißt es z. B. (in: KOINON. Aus der Geschichte des Seyns (1939/40)): »Dafür [für die Darstellung der Geschichte des Seyns, d. Verf.] den Entwurf der Beiträge als innerstes Gefüge festhalten […]« (GA 69, S. 173). Vgl. auch GA 69, S. 131 f. 370  Über den Zusammenhang von Sprung und Gründung vgl. BP 307.



Gemeinsamkeiten: Die Radikalität des Übergangs im Sprung 339

wo sie als Titel fungiert, nur unzureichend bestimmt wird. Aus diesem Grund soll nun ein Vergleich der Problemlage bei Jacobi und bei Heidegger dazu dienen, dem Übergang unter dem Titel »Sprung« mehr Kontur zu verleihen.

2.2 Die Eigenwilligkeit des Sprunges und der durch den Sprung charakterisierten Denklandschaft Der Sprung, als letzter und einziger Ausweg aus einem theoretischen Dilemma, kann eigentlich bei genauerer Betrachtung nur von eigenwilliger Natur sein. Weil so etwas wie ein Sprung erst dort in den Blick rückt, wo lineares Fortschreiten im Sinne einer logischen Beweisführung nicht mehr möglich ist, muss er etwa von einer rein logischen Operation unterschieden werden – ein Unterschied, der sich beispielsweise in Jacobis Rede vom »Widerspruch« im Gegensatz zur logischen »Widerlegung« ausdrückt. Zugleich aber kann es sich klarerweise ebensowenig um eine körperliche Übung handeln, die in diesem – von Schelling im Denkmal auf Jacobi satirisch überzeichneten – Sinne äußerlich vorzuführen und entsprechend nachzuahmen wäre. Der Sprung, um den es hier geht, ist als ein Sprung im Denken zu verstehen, und doch besitzt er im Vergleich zu einem rein logischen Verfahren eine Art von »Handlungscharakter«371 und stellt so eine Art denkerischer »Übung«372 sehr wohl dar. In diesem Sinne scheint der Sprung dann doch über einen philosophischen Raum reiner Reflexion hinauszugehen, einen Raum, der zumindest dem Anspruch nach auf das dem Denkgegenstand gegenüber kontingente Subjekt, d. h. auf den Denkenden in seiner jeweiligen Individualität, verzichten kann. Der Sprung als Forderung richtet sich im Gegensatz dazu gerade an den jeweiligen Denker, der mit seiner konkreten Person in den Vollzug des Sprunges wesentlich einbezogen ist. Mit diesem ihm eigenen Handlungscharakter scheint der Sprung auf eine existentielle Dimension hinzuweisen, die in den bereits zitierten Äußerungen Heideggers zur Gefahr des Sprunges ihren Niederschlag findet. Man könnte wohl annehmen, dass die Dramatik, mit der Heidegger den Sprung inszeniert, auch dazu dienen soll, das eigene Projekt gegen ein anderes, höchst prominentes Beispiel eines entschiedenen Neuanfangs in der Philosophiegeschichte – dasjenige Descartes’ – zu profilieren. Während es sich bei dem radikalen Zweifel Descartes’ nämlich eindeutig um ein Gedankenexperiment handelte, bei dem – so Descartes selber – »keine Gefahr oder kein Irrtum« entstehen werde, da es vor371  Vgl. z. B. Besinnung 47, wo Heidegger vom »Handlungscharakter des denkerischen Denkens« spricht. Diese Dimension versucht Rüdiger H. Rimpler mit dem Verständnis von »Performativität« zu erfassen. Dabei trifft er eine Unterscheidung zwischen »theoretisch auf-lösen« und »performativ ein-lösen« (Rimpler (2008), S. 10, Herv. R.H.R.). 372  Vgl. Sandkaulen (2000), S. 31.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

erst nicht um die »Angelegenheiten des Handeln, sondern des Erkennen« ginge,373 soll Heideggers Sprung aus einer solchen Haltung gerade hinausführen. Wo Descartes auf die Sicherheit eines neuen Fundaments zielt, will Heidegger im Gegensatz dazu eine Art von Verunsicherung hervorrufen, weil sein Ziel unter anderem darin besteht, die »Fraglosigkeit« des metaphysischen Denkens zu überwinden und das Sein als das »Fragwürdigste« in den Blick zu rücken. 374 Jacobis Motivationen sind – soviel sei gleich vorweggenommen – ganz anders gelagert. Ihm geht es weder um den Gegensatz von Sicherheit und Unsicherheit, noch etwa um eine Bejahung von Gefahr und Abgrund. Dennoch sind diese Motive insofern auch bei Jacobi im Spiel, als sie durch die Figur des Sprunges zugleich mitgesetzt werden. So spricht auch Jacobi davon, dass er sich im Sprung über »Felsen und Abgrund« hinwegzuschwingen habe.375 Die Rede vom Sprung verweist damit zunächst auf die bildlich-räumliche Vorstellung eines Ortes, der durch einen Abgrund von einem anderen Ort notwendig geschieden ist. In diesem Sinne gehört der Begriff des Abgrundes konstitutiv zur Figur des Sprunges dazu, der immer in Bezug auf diese Trennung gedacht werden muss, die zugleich mit der Rede von der Unmöglichkeit eines linearen Übergangs auf dem ebenen Boden der Logik identisch ist.376 Dass dabei dieser Abgrund mit einer Art von Gefahr, zumindest aber mit der Aufgabe bestimmter Sicherheiten verbunden ist, wird durch das Bild des Sprunges ebenfalls verdeutlicht. Denn über den Abgrund zu springen bedeutet zwangsläufig, den ebenen und d. h. (vermeintlich) sicheren Boden der reinen Logik zu verlassen. Auch Jacobis Rede vom salto mortale, der zumindest vorübergehend ein »Kopf­unter« erfordert, scheint daher auf eine gewisse Art von Gefährdung ebenfalls hinzuweisen.377 Die Rede von der Gefahr allerdings ist von vornherein dadurch einzuschränken, dass es sich weder bei Jacobi noch aber bei Heidegger um einen Sprung in den Abgrund, sondern um einen solchen über den Abgrund hinüber handeln soll. Jacobi zumindest lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm mit dem Sprung nicht um den Abgrund als solchen und eine damit verbundene Gefahr geht, sondern um die Überwindung des Abgrundes, darauf also, jenseits des Abgrundes »wieder fest und gesund auf die Füße« zu stehen zu kommen. Abgrund und »Kopfunter« 373 

Meditationen, S. 24 v. a. GA 88, 41: »Grundwagnis: Der Sprung in die offene Stelle (als Gefahr aller Gefahren). […] Warum Grunderfahrung? Weil höchste Not, die Notlosigkeit, […] nicht um zu sichern, sondern die Sicherheit zu zerstören. Aber dieses nicht scheinbar und nur mathematisch methodisch, sondern wirklich, d. h. in das Offene stellen, mit dem Seyn es versuchen.« 375  Vgl. Brief an Neeb, zit. nach Sandkaulen (2000), S. 14 (Anm. 14). 376  Vgl. bei Heidegger auch Bes 352: »[D]as andere Fragen ›des‹ Seyns ist durch einen Abgrund vom metaphysischen Fragen geschieden, weshalb nur ein ›Sprung‹ hier ins Fragen verhilft […]« 377  Vgl. z. B. Hammachers Interpretation des Salto mortale als »tödliche Gefährdung« (Hammacher (1969), S. 74). 374  Vgl.



Gemeinsamkeiten: Die Radikalität des Übergangs im Sprung 341

gehören zwar wesentlich zum Sprung dazu, ohne aber unabhängig von der Bewegung des Sprunges für sich positive Geltung zu erlangen.378 Wenn Heidegger im Gegensatz dazu immer wieder geradezu emphatisch von Abgründigkeit und Wagnis schwärmt, so deutet sich hier bereits ein Unterschied zwischen den kritischen Projekten Jacobis und Heideggers an, der sich im Weiteren auf unterschiedliche Weisen ausdrücken wird. Andererseits aber gilt hinsichtlich der Figur des Sprunges bei Heidegger, dass dieser nicht anders als bei Jacobi grundlegend als Übergangsmöglichkeit in den Blick gerät, die also nicht in den Abgrund hinein, sondern über ihn hinüber führen soll. Mit dem Sprung fallen wir, so Heidegger in Der Satz vom Grund, nur insofern »ins Bodenlose«, als »jetzt das Sein nicht mehr auf einen Boden im Sinne des Seienden gebracht und aus diesem erklärt werden kann« (SvG 185). Sofern aber »Sein jetzt erst als Sein zu denken ist« (ebd.), kann von einem Fallen ins Bodenlose gerade nicht die Rede sein. Der Absprung vom »ebenen« Boden, der in der Aufgabe bisheriger Sicherheiten zunächst gefährlich scheint, ist bei Heidegger mit der Aussicht auf eine neue Heimat verbunden, die zudem als eigentliche Heimat zu verstehen ist. Vom vollzogenen Sprung aus offenbart sich damit die alte Sicherheit des Denkens als bloß vermeintliche, auf einen falschen Boden gestützte Sicherheit. Wer springt, hat also zumindest vorübergehend den ebenen Boden der Logik zu verlassen, sich auf ein »Kopfunter« einzulassen, bzw. einer Art von Gefährdung auszusetzen. Dass zu einem solchen Unternehmen reine Logik, die Logik des ebenen Bodens selbst, nicht zwingen kann, scheint außer Frage zu stehen. Sowenig wie der Ausweg aus dem Dilemma auf dem Wege der Widerlegung möglich ist, sowenig kann die Notwendigkeit des Springens mit Hilfe logischer Argumente dargetan werden. Der Sprung als Handlung folgt daher nicht mit Notwendigkeit aus irgendeinem Befund, sondern beruht als freier Akt auf einer Entscheidung des jeweiligen Denkers.379 Wo Birgit Sandkaulen daher im Blick auf Jacobi von einem »Akt der Freiheit« spricht, heißt es bei Heidegger, der Übergang stehe »als Sprung unter keinem Zwang, sondern sei als »freie Möglichkeit des Denkens« zu verstehen (SvG 157). In diesem Sinne besteht die Eigentümlichkeit des Sprunges vor allem in seiner Abgrenzung vom Bereich rein rationaler Logik, dem Bereich des Bewei378 

Dass Lessing sich auf das »Kopf-unter« (Spin 74) des Sprungs letztlich doch nicht einlassen will, trifft bei Jacobi durchaus auf Verständnis – ebenso wie dessen Wunsch, sich alles »natürlich« (Spin 75) auszubitten. Im Gegensatz dazu spricht Heidegger gelegentlich so affirmativ von Abgrund, Gefahr und Aufgabe der Sicherheit, als bestünde gerade darin das eigentliche Ziel. Das ist insofern auch zutreffend, als, wie sich zeigen wird, bei Heidegger kein jenseitiger Boden erkennbar wird, auf dem der Springende »fest und gesund auf die Füße« kommen könnte. 379  Birgit Sandkaulen verweist zum Beleg auf folgende Stelle bei Jacobi: »Es gilt die Entscheidung der Frage: Ob am Anfang war die That, und nicht der Wille; oder ob am Anfang war der Wille und erst nach ihm wurde, als seine Folge, die That« (GD 95).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

sens und Widerlegens, die aber nicht als Aufforderung mißverstanden werden darf, die Logik durch eine Art von Irrationalismus zu ersetzen. »Weil«, so Heidegger im Brief über den Humanismus, »gegen die ›Logik‹ gesprochen wird, meint man, die Forderung sei erhoben, daß der Strenge des Denkens abgesagt, statt ihrer die Willkür der Triebe und Gefühle zur Herrschaft gebracht und so der ›Irrationalismus‹ als das Wahre ausgerufen werde. Denn was ist logischer als dies, daß, wer gegen das Logische spricht, das Alogische verteidigt« (GA 9, 346).380 Die Logik, auf der das neue Denken gründet und die im Sprung bereits zum Ausdruck kommt, ist, so Heidegger an anderer Stelle, weder im Sinne einer »gesteigerten ›Logik‹ der Dialektik« (BP 79), noch aber einer »A-logik« mißzuverstehen, »die ja erst recht Logik ist und sein möchte und nur nicht kann« (ebd.). Der Sprung ist insofern keine Kapitulation vor der Logik, die auf ein Unvermögen hinweist, sondern die Behauptung einer demgegenüber eigenständigen Logik, die sich dem folgenden Zitat zufolge mit dem Begriff der »Entscheidung« verbindet: »Wenn«, so Heidegger in Besinnung, »die ›Entscheidung‹ gegen das ›System‹ zu stehen kommt, dann ist das der Übergang aus der Neuzeit in den anderen Anfang« (BP 89). Vor dem Hintergrund des eigentümlichen »Handlungscharakters« des Sprunges scheint es – auch angesichts dieser Gegenüberstellung von »Entscheidung« und »System« – naheliegend, bei der genannten eigenständigen Logik denn auch von einer ›Handlungslogik‹381 zu sprechen. Im Blick auf Jacobi, der das Problem der Handlung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, ist das zweifellos sinnvoll. Im Blick auf Heidegger hingegen, der sich für Handlung im Gegensatz zu Jacobi kaum zu interessieren scheint, sind Zweifel an einer solchen Benennung wohl angebracht, die später noch genauer ausgeführt werden sollen. Die Figur des Sprunges also scheint von sich aus auf das Bild einer Landschaft zu führen, die durch den Abgrund, den der Sprung zu überwinden hat, wesentlich gekennzeichnet ist. Tatsächlich scheint der bisher untersuchten Eigentümlichkeit des Sprunges als Figur eine ebenso eigentümliche Denklandschaft zu entsprechen. Birgit Sandkaulen spricht daher im Blick auf Jacobi von einer »Topographie des Sprungs«, die es ermöglicht, das durch den Sprung charakterisierte Denken allererst angemessen, d. h. in seiner komplexen Verschränkung der Verhältnisse, zu analysieren.382 Die Komplexität ergibt sich dabei wesentlich aus dem Umstand, dass der 380 

Vgl. dazu z. B. auch BP 461: »»Eine Kehrseite jenes Vorurteils aber ist auch nur, wenn man nun bei der Ablehnung der »logischen« Auslegung des Denkens […] von der Angst oder besser Furcht befallen wird, es werde nun die Strenge und der Ernst des Denkens gefährdet und alles dem Gefühl und seinem ›Urteil‹ anheimgestellt. Wer sagt denn und wer hat je bewiesen, daß das logisch gemeinte Denken das ›strenge‹ sei.« 381  Vgl. Birgit Sandkaulen, die von einer »Handlungsmetaphysik« spricht (Sandkaulen (2000), S. 262). 382  In gewisser Weise scheint Heideggers Gedanke, dass das neue Denken mithilfe des Gedan-



Gemeinsamkeiten: Die Radikalität des Übergangs im Sprung 343

Sprung nicht einfach zwischen zwei von vornherein gegebenen Positionen, einem Ort diesseits und einem solchen jenseits des bereits erwähnten Abgrundes hin und herspringen kann. Statt dessen erhalten beide Orte ihre eigentliche Kontur erst im Bezug auf den zwischen ihnen stattfindenden Sprung.383 Dennoch zeichnet sich die durch den Sprung charakterisierte Denklandschaft – bei Jacobi wie bei Heidegger – zunächst vor allem durch ihre »Doppelbödigkeit«384 aus, da jeweils zwei Positionen auseinandergehalten werden müssen, die durch den Sprung in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt werden. Bei Jacobi handelt es sich dabei um die Seite der reinen Vernunftphilosophie einerseits, der ein anderes, »unphilosophisch« vernunftkritisches Denken gegenübergestellt wird. Bei Heidegger hingegen, das ist schon klar geworden, steht der Metaphysik als dem Denken der Seiendheit ein neues ›Seinsdenken‹ gegenüber. Weil beide Seiten radikal voneinander getrennt, bzw. »entschieden geschieden« sind, wie Heidegger formuliert, gilt zugleich, »daß überhaupt kein gemeinsamer Bezirk der Unterscheidung obwalten kann« (BP 177), ebensowenig, wie es einen dritten Standpunkt jenseits der beiden Orte geben kann, von dem aus gewissermaßen auf beide Orte heruntergeblickt werden könnte.385 Nur vor dem Hintergrund der Abwesenheit eines dritten, alternativen Ortes nämlich kann sich die Notwendigkeit zur Entscheidung überhaupt ergeben. Entweder man bleibt, wo man ist, oder aber man springt – eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Für den Ort jenseits des Sprunges bedeutet das allerdings zugleich, dass er eigentlich gar nicht unabhängig vom Vollzug des Sprunges existieren kann. »[G]enau genommen gibt es«, so Sandkaulen im Blick auf Jacobi, »den jenseitigen Ort auch nur in dem Maße, in dem man tatsächlich springt.«386 Der Sprung, um es mit den Worten Heideggers zu sagen, »besetzt nicht einen bereitstehenden Standplatz« (BP 14), sondern das, »wohin er, eröffnend, springt, gründet sich erst durch den Sprung« (BP 303).387

kens vom Übergang selbst strukturiert werden müsse, in eine ähnliche Richtung zu gehen. Der Sprung scheint damit zwei Bedeutungen zu bekommen, einmal im Sinne des tatsächlichen Vollzugs, das andere Mal aber im Sinne eines das gesamte Denkgefüge strukturierenden Moments. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass Heidegger das Gefüge zugleich als Gefüge des Seins auszeichnet, was ihn von Jacobis Anliegen eindeutig entfernt. Vgl. dazu die abschließenden Überlegungen der vorliegenden Arbeit. 383  Insofern ist die räumlich-bildliche Vorstellung letztlich doch nur bedingt geeignet, die tatsächlichen Verhältnisse zu erfassen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Sprung als Handlung auch eine zeitliche Dimension ins Spiel bringt. 384  Sandkaulen (2000), S. 24. 385  Vgl. Sandkaulen (2000), S. 32. 386  Sandkaulen (2000), S. 32. 387  Vgl. auch Bes 404: »Hier fehlen alle Auswege in das ungetroffene Fortgleiten vom Einen (Gesicherten) in das Andere (Feststehende). Sogar gegensätzlich läßt sich die Unterscheidung von Anfang und Ende nicht mehr fassen, weil auch dies nur eine Einstimmigkeit als Boden anerkennen müßte«.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

Die Notwendigkeit zur Entscheidung scheint nun zunächst vor allem die radikale Trennung zu befestigen, die sich zwischen den beiden Orten etabliert,388 die aber in Wahrheit nur die eine Seite der Medaille darstellt. Durch den Sprung nämlich wird zugleich ein Verhältnis zwischen den beiden Orten hergestellt – ein Verhältnis allerdings, das erneut von einem solchen logischer Natur zu unterscheiden ist. Sofern der Sprung eine Bewegung des Widerspruchs ist und folglich als Absprung, bzw. als ein Wegspringen, verstanden werden muss, ist das durch den Sprung konstituierte Verhältnis als eine besondere Art von Negation zu begreifen. Beide Orte sind, Jacobi zufolge, durch den »höchsten Grad von Antipathie« und das heißt durch eine bestimmte Form der Negation, nicht nur getrennt, sondern gerade erst so sehr verbunden, dass sie »im Moment der Berührung sich gewissermaßen durchdringen« (2 (1), 198). Auch das von Heidegger geforderte neue Denken soll nur durch einen Absprung vom metaphysischen zu erreichen sein. Es ist daher seinerseits durch eine bestimmte Art von Negation mit dem metaphysischen Denken verbunden, die nicht mit einer logischen Operation verwechselt werden darf. »Das Nein ist der große Ab-sprung«, wie Heidegger in den Beiträgen formuliert, und als solcher eben keine einfache Ablehnung »im Bereich des Vorstellens« (BP 178). Diese negative Bezüglichkeit drückt sich dann auch bei Jacobi wie bei Heidegger in den Bezeichnungen aus, die sie für die beiden Orte diesseits und jenseits des Sprunges verwenden. Ist bei Jacobi die Rede von seinem »Spinoza« und »Antispinoza«, so spricht Heidegger beispielsweise vom »ersten« und vom »anderen« Anfang, wobei der andere Anfang als Gegenmodell verstanden werden muss, das sich erst über die Abgrenzung zum »ersten« Anfang zu etablieren vermag. Das als »anderer Anfang« bestimmte Denken ist insofern auch dadurch ausgezeichnet, dass es nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern nur über einen Absprung vom metaphysischen Denken erreicht werden kann. »Alle unmittelbare Verneinung«, so Heidegger, »führt ins Nichts, zumal auch gar nicht auszumachen wäre, von wo aus und durch wen sie vollzogen werden könnte« (Bes 400). In eben diesem Sinne aber ist es in der Tat eine »keineswegs triviale Voraussetzung«, daß man sich, »um an den andern Ort gelangen zu können, notwendig zunächst einmal auf der Stelle befinden muß, von der aus man wegspringt«, wie Birgit Sandkaulen bemerkt.389 Dieser Stelle, dem genauen Absprungort also, kommt daher eine entscheidende Bedeutung für das gesamte Projekt zu.390 Denn einerseits muss an dieser Stelle offenbar die Notwendigkeit des Springens einsichtig werden. Es muss, um im Bild 388 

Gerade der Begriff der Entscheidung, in der von Heidegger oft verwendeten Schreibweise »Ent-scheidung« verweist auf die radikale Trennung, vgl. z. B. Bes 405: »Übergang ist nie Vermittelung, sondern Ent-scheidung«. 389  Sandkaulen (2000), S. 24. 390  Vgl. Sandkaulen (2000), 44: »[I]n dem Maße, wie der Sprung seinen spezifischen Sinn nur im Akt eines Absprungs gewinnt, muß es vielmehr konsequenterweise um die Triftigkeit derjeni-



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des Sprunges zu bleiben, ein Abgrund allererst in den Blick rücken, der in dieser Hinsicht nichts anderes sein kann als das Dilemma, aus dem der Sprung herausführen soll. Das Dilemma seinerseits besteht aber darin, dass man auf der Absprungstelle weder einfach stehen bleiben, noch aber einfach weitergehen kann, gerade so, wie Heidegger dies im Blick auf Schelling schildert. Andererseits aber muss an der Absprungstelle, dort also, wo der Abgrund als Abgrund in den Blick rückt, auch die Möglichkeit des Springens erkennbar werden. Denn wer den Abgrund sieht, der sieht zugleich, dass es sich bei dem vermeintlich sicheren, ebenen Boden in Wahrheit um einen solchen gar nicht handelt. Der ebene Boden selbst ist nicht starr, sondern, nach Jacobis Worten, elastisch,391 und kann so selbst als eine Art Sprungbrett dienen. Will der Sprung also weder als Sturz in den Abgrund der Irrationalität noch als sinnloser Luftsprung oder als willkürliche Absage an die Vernunftphilosophie, sondern tatsächlich als Sprung über den Abgrund und damit als Rettung aus einem Dilemma verstanden werden, kommt der Analyse des Absprungbodens im Blick auf Notwendigkeit wie Möglichkeit des Sprunges, eine herausragende Bedeutung zu.

2.3 Die Beschaffenheit des Absprungbodens Schon Jacobis Rede von seinem »Spinoza und Anti-Spinoza« macht deutlich, dass der Ort diesseits des Sprunges und damit der Absprungboden sich mit der Philosophie Spinozas in bestimmter Weise deckt. In diesem Sinne nimmt die Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas innerhalb der Schriften Jacobis, besonders aber in der ersten großen Schrift, den Spinozabriefen, breiten Raum ein. Die Analyse Spinozas dient gewissermaßen als Vorbereitung des Sprunges, der erst dort erfolgen kann, wo Spinoza als das Paradigma vernünftigen Philosophierens erkannt ist. Die Notwendigkeit des Springens ergibt sich dann aus der doppelten Einsicht, dass Spinozas Philosophie einerseits inakzeptabel ist, und dass es andererseits auf dem Boden rein vernünftigen Philosophierens keine Alternative zu ihr geben kann. Eine ganz ähnliche Funktion scheint der Auseinandersetzung Heideggers mit der Metaphysik zuzukommen, auch wenn die Lage sich hier etwas unübersichtlicher präsentiert. Zumindest aber macht Heidegger klar, dass der Sprung einer Vorbereitung bedarf, einer Vorbereitung, die in der Auseinandersetzung mit der Metaphysik besteht, und die – ähnlich wie bei Jacobi – auf eine Erkenntnis des Wesens der gen Bodenanalyse zu tun sein, die dem Sprung vorausliegt und ihn im Sinne der Differenz zwischen Widerlegung und Widerspruch allererst ›unvermeidlich‹ zu machen.« 391  Vgl. die Bemerkung Jacobis gegenüber Lessing, er müsse zum Nachvollzug des Sprunges auf die »elastische Stelle« treten: »Wenn Sie nur auf die elastische Stelle treten wollen, die mich fortschwingt, so geht es von selbst« (Spin 44).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

Metaphysik zielt. Wo also Jacobi anhand von Spinoza die Wesenszüge der Philosophie im Sinne eines reinen Vernunftdenkens präsentiert, möchte Heidegger das Wesen der Metaphysik anhand einer Auseinandersetzung mit diversen Denkern der Tradition verdeutlichen. In diesem Sinne ist bereits die erste Schellingvorlesung als Vorbereitung des Überganges und damit als Hinführung an die Absprungstelle zu verstehen, weil sie zumindest ihrem Anspruch nach die Notwendigkeit eines neuen Denkens deutlich zu machen versucht. Eindeutiger wird der Zusammenhang im Rahmen der zweiten Schellingvorlesung, wenn es etwa heißt, die »Vorbetrachtung« – mit anderen Worten die Auslegung des sogenannten »Kernstücks« der Freiheitsschrift – sehe »hinaus in die Möglichkeit und Notwendigkeit eines ganz anderen Fragens« (VL 41, 15). Der hier unternommene Versuch, Wesensmerkmale der Metaphysik zu bestimmen, blieb allerdings – so wurde deutlich – immer noch zu unklar, um einen wirklichen Absprungpunkt in den Blick zu rücken. Unabhängig von dem jeweiligen Erfolg aber zeigt sich überall, in den ›geschichtlichen‹ Vorlesungen ebenso wie in den seinsgeschichtlichen Schriften oder der Vorlesung über den Satz vom Grund, dass die Auseinandersetzung mit der Metaphysik als Vorbereitung des Sprunges zu verstehen ist und insofern an einen genauen Absprungort heranführen soll. »Die Darstellung der Geschichte«, so Heidegger in den Beiträgen, »ist keine historische Bei- und Vorgabe zu einem neuen System, sondern in sich die wesentliche, Verwandlung anstoßende Vorbereitung des neuen Anfangs« (BP 169).392 An die Stelle, die innerhalb des Jacobischen Denkens Spinoza zukommt, treten bei Heidegger allerdings verschiedene Denker – Schelling, Leibniz, Nietzsche, teilweise auch Hegel, um nur einige zu nennen – die noch dazu eine »mehrfache«, d. h. auch je unterschiedliche Auslegung erfahren. Anders als Jacobi, der schon in den frühen Spinozabriefen eine Auffassung von den Wesenszügen einer rein vernünftigen Philosophie »aus einem Stück« vorlegt, die auch in den weiteren Auseinandersetzungen mit Fichte, Schelling und Hegel ihre Gültigkeit behält,393 ändert Heidegger im Laufe der Zeit seine Vorstellung dessen, worin das Wesen der Metaphysik bestehen soll, und wählt je nachdem auch andere Denker als Ziel seiner Kritik. Dass sich die konkrete Bestimmung der Absprungstelle bei Heidegger schwieriger gestal392 

Am deutlichsten wird das Bild einer Hinführung an die Absprungstelle in den Beiträgen, weil diese sich – wie bereits erwähnt – im Aufbau an den Etappen des Übergangs orientieren und daher mit der Hinführung zum Sprung unter den Abschnitten »Anklang« und »Zuspiel« einsetzen. Doch auch in Der Satz vom Grund spricht Heidegger von den »Umwegen« um den Satz vom Grund herum, die »als Vorbereitung des Sprunges« ihre »Aufgabe haben« (SvG 95). 393  Jacobi selbst betont gern, dass er in den entscheidenden Aspekten seines Denkens stets »der Selbe« geblieben sei (vgl. z. B. GD 72). Von seinen Kritikern allerdings wird ihm gerade dieser Umstand meist negativ ausgelegt, wie sich etwa in Heideggers Rede ausdrückte, Jacobi habe aus den Auseinandersetzungen des Pantheismusstreits »nichts gelernt und nicht lernen wollen« (VL 36, 81).



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tet als bei Jacobi, erstaunt daher nicht, weil der so breit angelegte und durchaus unterschiedlich bestimmte Absprungboden eine Zuspitzung der Problematik gerade zu verhindern scheint. Diese aber ist gerade im Zusammenhang mit der Notwendigkeit des Springens, oder der, wie Heidegger formuliert, den Übergang ernötigenden »Not« von entscheidender Bedeutung.

a) Die Notwendigkeit des Sprunges Während das in Frage stehende Dilemma, aus dem der Sprung herausführen soll, bei Jacobi eindeutig im Problem der Unvereinbarkeit von Vernunftsystem und Freiheit lokalisiert werden kann, liegen die Dinge bei Heidegger komplizierter und uneindeutiger. Denn dass man sich gegen das metaphysische Denken zu entscheiden und sich dabei zu einem Sprung ins neue Denken zu entschließen habe, daran lässt Heidegger gar keinen Zweifel. Warum dies aber der Fall sein soll, ist weit weniger eindeutig zu bestimmen. Das ist insofern problematisch, als die Frage nach der Notwendigkeit des Sprunges gerade angesichts der eigentümlichen und auf Anhieb vielleicht auch befremdlichen Natur desselben besonders dringlich erscheinen mag. Auf ein solch seltsames Unterfangen, das durch die bisherigen Ausführungen auch nur ansatzweise strukturell erhellt wurde, will man sich doch wohl nur dann einlassen, wenn es sich wirklich nicht vermeiden lässt. Anhand der Position Jacobis lässt sich dann auch zeigen, dass zur Beantwortung dieser Frage nach der Notwendigkeit des Sprunges über die Ebene der abstrakten Struktur- und Verhältnisbestimmungen hinaus gegangen werden muss. Während rein auf der strukturellen Ebene auch im vorliegenden Zusammenhang noch Übereinstimmungen erkennbar bleiben, zeichnet sich damit aber auf der inhaltlichen Ebene ab, dass das Projekt Heideggers nicht nur anders bestimmt ist als dasjenige Jacobis, sondern vielmehr grundlegend unbestimmt – so unbestimmt, dass Zweifel gerechtfertigt scheinen, ob der Sprung aus dem metaphysischen in ein demgegenüber ganz anderes Denken wirklich als einzige Option zu gelten hat. Das Dilemma, das die Notwendigkeit des Sprunges deutlich macht und das bei Jacobi in der Unvereinbarkeit von System und Freiheit lokalisiert werden kann, setzt sich, wie bereits angedeutet, aus zwei Aspekten zusammen. Einerseits ergibt sich die Notwendigkeit des Springens aus der Unmöglichkeit, an dem Ort diesseits des Sprunges zu verharren, andererseits aber auch erst dadurch, dass eine lineare Form der Fortbewegung ausgeschlossen werden muss. Einerseits, so könnte man auch sagen, muss geklärt werden, was in dem Sprung negiert wird bzw. was die Negation auslöst, andererseits aber, auf welche Weise die Negation vollzogen wird. Wie sich anhand der Problemlage bei Jacobi zeigen wird, ist es die erste Frage, die über die Ebene der rein abstrakt verhandelten Strukturverhältnisse insofern hinausführt, als

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

sie eine Dimension persönlicher Betroffenheit ins Spiel bringt, die als Motivation für den Sprung von entscheidender Bedeutung ist. Das den Sprung herausfordernde Charakteristikum der Philosophie Spinozas, das also, was zunächst durch den Sprung negiert wird, ist der bereits vielzitierte Fatalismus, der Jacobis praktischem Selbstverständnis widerspricht. »Ich habe keinen Begriff«, so Jacobi, »der inniger, als der von den Endursachen wäre; keine lebendigere Überzeugung, als daß ich tue was ich denke, anstatt, daß ich nur denken sollte was ich tue« (Spin 34). Spinoza hingegen vertritt die Position, daß »ich nur denken sollte, was ich tue«394, ein Satz, »dessen Anwendung auf einzelne Fälle und in einem ganzen Umfange betrachtet, kaum ein Mensch ertragen kann« (ebd.). Die radikale Abgrenzung von Spinozas System wird also notwendig, weil dieses den innigsten Begriffen und lebendigsten Überzeugungen Jacobis derart widerspricht, dass es in seiner Anwendung geradezu unerträglich scheint. Damit allerdings ist zunächst noch nicht gesagt, dass die Abgrenzung in Form eines Sprunges erfolgen muss. Denn ließe sich Spinozas System auf logischem Wege widerlegen und durch ein anderes, besseres, mit Jacobis Grundüberzeugungen verträgliches System ersetzen oder überbieten, so wäre schließlich gar kein Sprung nötig. Notwendig und unvermeidlich wird der Sprung erst dadurch, dass Jacobis Analyse zufolge die Möglichkeit eines derartigen alternativen Systems ausgeschlossen werden kann, weil der Fatalismus nicht auf irgendeiner willkürlichen Annahme Spinozas beruht, sondern das Resultat eines rein vernünftigen, rational operierenden Denkens darstellt. Um im Bild des Sprunges zu bleiben: Der ebene Boden ist selbst derart mit dem Begriff des Fatalismus verbunden, dass ein Ausweg auf dem ebenen Boden und nach Art der dem ebenen Boden angemessenen Fortbewegung unmöglich wird. Die Negation des Fatalismus ist zugleich die Negation des ebenen Fortschreitens selbst und somit gleichbedeutend mit der Forderung nach einem Sprung als einzigem Ausweg. Der Fatalismus, der das konsequente Vernunftsystem kennzeichnet, kann allerdings nur dann zum Absprungpunkt werden, wenn ihm, wie das bei Jacobi der Fall ist, eine den Sprung motivierende Überzeugung entgegengesetzt wird, die zugleich so stark ist, dass sie der Macht der diese Überzeugung leugnenden Argumente nicht einfach so zum Opfer fällt. Gibt es also, so die angesichts der bisher gesehenen Übereinstimmungen naheliegende Frage, nun auch hier eine Entsprechung bei Heidegger? Während man wohl von vornherein davon ausgehen darf, dass die bei Jacobi einschlägige Freiheitserfahrung bei Heidegger keine Rolle spielt, ist es doch der Begriff der »Erfahrung« selbst, der eine Parallele anzudeuten scheint. So spricht 394 

Dieter Sturma drückt dies im Blick auf Schellings Freiheitsbegriff im Sinne der »präreflexiven Freiheit« so aus, dass die Reflexionszustände »lebenspraktisch weitgehend die Bedeutung von begleitenden Aufmerksamkeitszuständen« hätten (Sturma (1995), S. 170). Sturma nimmt allerdings im Gegensatz zu Jacobi keinen Anstoß an dieser Sichtweise.



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Heidegger in den beiden Schellingvorlesungen jeweils von einer »ursprünglichen Seinserfahrung«, deren Rolle zwar wichtig zu sein scheint, die aber im Blick auf den Übergang dennoch unbestimmt bleibt, wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde. Tatsächlich sind weder die Schellingvorlesungen selber, noch aber die in diesem Kontext bereits untersuchte Vorlesung über den Satz vom Grund geeignet, hierbei eine nennenswerte Hilfestellung zu leisten. Mehr Aufschluss scheinen auch hier die Beiträge geben zu können, in denen das Problem der Notwendigkeit des Übergangs unter dem Titel einer »Not« des Übergangs, und das heißt auch, in einem Modus existenzieller Betroffenheit, in den Blick gerückt wird. Heidegger lässt hier keinen Zweifel daran, dass es bei der Vorbereitung des Absprungbodens vor allem darum geht, die den Übergang ernötigende Not überhaupt erst in den Blick zu bringen. Gleichwohl erweist es sich im Vergleich mit Jacobi auch hier noch als schwierig, eine Bestimmung dessen vorzunehmen, worin die Not nun eigentlich bestehen soll. Was sich bei Jacobi mit dem Problem von Freiheit und Fatalismus auf den Punkt bringen lässt, findet bei Heidegger keine eindeutige Kennzeichnung. Als Antwort auf die Frage, worin der Mangel des metaphysischen Denkens denn nun bestehen soll, drängt sich eine Bestimmung auf, die für Heideggers Denken zwar insgesamt charakteristisch ist, auf inhaltlicher Ebene aber zunächst nicht wirklich weiter führt: die »Seinsvergessenheit«. So spricht Heidegger beispielsweise von der »nötigenden Not der Seynsvergessenheit«, die, wie die Heideggers Darstellung nahelegt, »aus der Seinsverlassenheit« herausführen soll (BP 107). Strukturell scheint sich die Bestimmung der Seinsverlassenheit (bzw. Seinsvergessenheit)395 einerseits, der die »ursprüngliche Seinserfahrung«, von der ja bereits die Rede war, andererseits entgegengestellt werden müsste, in den Vergleich mit Jacobi erneut einzufügen. Inhaltlich aber bleibt die Bestimmung so lange leer, wie uns die »Seinserfahrung« entzogen bleibt, die uns eine Vorstellung davon vermitteln könnte, was unter Sein, und folglich auch unter Seinsvergessenheit, zu verstehen wäre. Die ursprüngliche Seinserfahrung – das wurde schon anhand der beiden Schellingvorlesungen deutlich – meint eben gerade keine allgemein vertraute Erfahrung, die damit der Freiheitserfahrung, von der Jacobi ausgeht, korrespondieren könnte. Ebenso abstrakt 395 

Heidegger unterscheidet gelegentlich zwischen »Seinsverlassenheit« und »Seynsvergessenheit«, z. B. wenn es heißt »Anklang der Wesung des Seyns aus der Seinsverlassenheit durch die nötigende Not der Seynsvergessenheit« (BP107). Allerdings ist er dabei, wie schon der weitere Abschnitt zeigt, keineswegs konsequent, weshalb hier auch nicht explizit zwischen beiden Ausdrücken unterschieden werden soll. Der Unterschied besteht möglicherweise darin, dass die Seinsverlassenheit eher die Erfahrung eines Mangels anzeigt, die eine gewisse Passivität dem Sein gegenüber zu beinhalten scheint, während die Seinsvergessenheit eine Art von Aktivität der Metaphysik, ein aktives Verstellen meinen könnte. Die Erfahrbarkeit des Mangels ist aber ein grundsätzliches Problem, wie sich im Weiteren zeigen wird.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

bleibt eine alternative Bestimmung, mit der Heidegger den Mangel des metaphysischen Denkens kennzeichnet. So spricht Heidegger in den Beiträgen auch von einer »Wesensunmöglichkeit« (z. B. BP 173) der Metaphysik, die auf die Notwendigkeit des Übergangs führe.396 Tatsächlich scheint die Wesensunmöglichkeit eben in der Seinsvergessenheit des Denkens zu bestehen, sofern davon auszugehen ist, dass Metaphysik wesentlich auf Sein selbst zielt, das es zugleich ebenso wesentlich verfehlt und durch einen Begriff von Seiendheit ersetzt. Daher scheine es zwar so, als werde die Seinsvergessenheit »gerade in aller Metaphysik ferngehalten […], denn sie (die Metaphysik) doch fragt nach dem Sein des Seienden«, tatsächlich aber frage sie »nicht nach dem Sein und vergißt über dem Seienden in seiner Seiendheit gerade das Sein und seine Wahrheit« (Bes 352). Hinter dieser »Wesensunmöglichkeit« der Metaphysik steckte damit tatsächlich ein unlösbares Dilemma, das aber angesichts der nur abstrakt bleibenden Bestimmungen von Sein und Seiendem kaum ernsthaft als Motivation für einen Sprung aus der Metaphysik gelten kann. »Wie soll diese [die Seinsverlassenheit, K.S.] erfahren werden?« (BP 107) – so denn auch eine Frage, die sich Heidegger in den Beiträgen stellt. Und wenngleich er eine unmittelbare Antwort auf diese Frage schuldig bleibt, präsentiert Heidegger doch unter dem Titel »Anklang« eine Reihe von Aspekten, in denen sich seiner Meinung nach »die Seinsverlassenheit meldet« (BP 117), Aspekte, die allerdings nur den Auftakt bilden zu der folgenden Schilderung, die das Bild einer allgemein als negativ und im weitesten Sinne bedrohlich empfundenen Welt entstehen lassen.397 Im Gegensatz zu der abstrakten Rede von der Seinsverlassenheit können diese Darstellungen immerhin einen Eindruck davon vermitteln, warum eine Neuorientierung des Denkens unvermeidbar scheint. Ein Denken, das wesentlich berechnend und besinnungslos verfährt und so auf Zustände einer »Weltverdüsterung und Erdzerstörung« führt, sollte wohl einen noch viel größeren Widerspruch hervorrufen als der demgegenüber recht harmlos erscheinende Fatalismus Spinozas.398 Andererseits 396  Hier drückt sich wohl dasselbe aus, was Heidegger schon in der ersten Schellingvorlesung andeutet, wenn er davon spricht, dass innere Schwierigkeiten der Metaphysik auf die Notwendigkeit eines neuen Denkens führten (vgl. VL 36, 194). 397  Angesichts der Entstehungszeit der Beiträge ist diese Tendenz wohl nicht weiter erstaunlich. Das gilt in noch stärkerer Weise für die in den 40er Jahren entstandenen Schriften wie Besinnung, bei der von der politischen Verstrickung kaum abgesehen werden kann. Wie Heidegger versucht, die Verbrechen der Nationalsozialisten als Ausdruck der Seinsvergessenheit zu interpretieren, ist in höchstem Maße befremdlich (Vgl. auch GA 67, 251). 398  Das wird noch deutlicher, wenn man die ethischen Forderungen Spinozas in die Betrachtungen einbezieht. Der Fatalismus Spinozas geht nicht mit einer ›Umwertung aller Werte‹ einher, sondern mit einer Tugendlehre, die den christlichen Moralvorstellungen durchaus nicht entgegengesetzt ist. Auch der Topos des Atheismus zielt folglich nicht auf diese Dimension. Im Blick auf Jacobis Kritik an Spinoza scheint es daher angebracht, zwischen diesen beiden Ebenen zu trennen, die bei Heidegger im Gegenteil intim, zugleich aber auf etwas undurchsichtige Weise, miteinander verbunden sind. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt zu Grund und Ursache.



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aber bleibt Heideggers Darstellung insgesamt eher vage, weil er eine Vielzahl an Phänomenen aufführt, deren einheitlicher Zusammenhang sich ebensowenig offenbart wie er sich auf einen Ursprung in der angeblichen Seinsverlassenheit zurückführen lässt. Neben den bereits bekannten Topoi der »Gegenständlichkeit« und »Berechnung« des Denkens verweist Heidegger, um nur einige Beispiele zu nennen, auf die »Fraglosigkeit«, die sich in einer Kultur des »Erlebens« niederschlage, auf das »Riesenhafte« und »Massenhafte« ebenso wie auf bestimmte Aspekte des Wissenschafts- und Kulturbetriebs. Damit tauchen hier die gleichen Schwierigkeiten auf wie in der Vorlesung von 1941, bei der die Vielzahl der kritisierten Begriffe und Ansätze die These vom einheitlichen, seinsvergessenen Wesen der Metaphysik eher unplausibel werden ließ. Die einleitende Darstellung in den Beiträgen kann daher auch allenfalls als vorläufige Einstimmung auf das Problem betrachtet werden. Durch »eine Besinnung auf die Weltverdüsterung und Erdzerstörung im Sinne der Schnelligkeit, der Berechnung, des Anspruchs des Massenhaften« solle uns, wie es dementsprechend heißt, die Seinsverlassenheit vorerst bloß »näher gebracht« werden (BP 119). Mehr als eine vage Einsicht, dass das moderne Denken sich in die falsche Richtung zu entwickeln scheint, ist damit aber kaum erreicht – warum dies aber so sein soll, und wovon sich der Sprung demzufolge konkret abzustoßen hat, bleibt nach wie vor unklar. In diesem Sinne könnte plausibel scheinen, dass erst ein zweiter Schritt, unter dem Titel »Zuspiel«, nun wirklich an die Absprungstelle heranführen soll, ein Schritt, der von der eher allgemeinen Charakterisierung des Zeitalters zu einer Betrachtung der Metaphysik übergeht. Hier – so könnte man zumindest annehmen – müsste eine Zuspitzung des Problems erfolgen, die die Notwendigkeit des Sprunges plausibel machte. »[W]ir müssen«, so denn auch Heidegger in diesem Zusammenhang, gerade das »Denken des deutschen Idealismus wissen, weil es die machenschaftliche Macht der Seiendheit in die äußerste, unbedingte Entfaltung bringt […] und so das Ende vorbereitet« (BP 203). Dieses Hinweises ungeachtet ist aber unter dem Titel »Zuspiel« zwar das Verhältnis von Metaphysik und neuem Anfang Gegenstand der Betrachtungen; die These hingegen, nach der sich der neue Anfang radikal vom Denken des ersten Anfangs (d. h. der Metaphysik) abzugrenzen habe, wird ebenso wie der Zusammenhang zwischen eher allgemein erfahrener »Weltverdüsterung« und in der Metaphysik sich ausdrückender Seinsverlassenheit bereits vorausgesetzt. Anders als Jacobi also, dessen Kritik wesentlich aus der Auseinandersetzung mit der Metaphysik Spinozas resultiert, greift Heidegger bei seiner Kritik auf zwei Bereiche zurück, deren Zusammenhang er aber zugleich im Dunkeln lässt. Die Motivation für den Sprung scheint eher aus dem allgemeinen Bereich zu stammen, während die Auseinandersetzung mit der Metaphysik darum nötig scheint, weil sich erst hier der Zusammenhang zwischen den erfahrbaren Ausdrücken der Seinsvergessenheit und den Strukturen des metaphysischen Denkens offenbaren müsste. Auch in diesem

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

Sinne aber bleibt der Absprungboden bei Heidegger zu unklar bestimmt, um einen wirklichen Absprungpunkt markieren zu können. Im Gegensatz zu Jacobis Darstellung, bei dem die »lebendige Überzeugung« der Freiheit gegen den klar bestimmten Fatalismus ins Feld geführt wird, geht Heidegger trotz des Versuchs, erfahrbare Ausdrücke der Seinsvergessenheit in die Untersuchung einzubinden, letztlich nicht über die Behauptung hinaus, dass einer unklar bestimmten Seinsverlassenheit das Insistieren auf einem vergessenen und daher vorläufig ganz unbestimmten Sein entgegengestellt werden müsse. Eine tatsächlich den Übergang ernötigende Not hingegen wird nicht erkennbar. Allerdings räumt Heidegger dieses Problem auch insofern ein, als er von der Not meist im Sinne einer »Not der Notlosigkeit«399, von der Seinsverlassenheit als einer selbst vergessenen bzw. »verhüllten« Seinsverlassenheit redet. »Die Seinsverlassenheit«, so Heidegger in den Beiträgen, »verhüllt sich in der wachsenden Geltung der Berechnung, der Schnelligkeit und des Anspruchs des Massenhaften. In dieser Verhüllung steckt das hartnäckige Unwesen der Seinsverlassenheit und macht sie unangreifbar« (BP 120, Herv. Heidegger).400 Angesichts dieser Verhüllung allerdings wird neben der Frage nach der Notwendigkeit des Sprunges vor allem die nach der 399 

Vgl. z. B. BP 119. Heideggers Schilderung der diversen Phänomene, die er als Anzeichen einer Weltverdüs­ terung interpretiert, verfährt sozusagen auf indirekte Weise, indem er die besagten Phänomene nicht als Ausdruck des eigentlichen Mangels, sondern als Ausdruck einer Überdeckung des Mangels interpretiert. Schnelligkeit und Berechnung sollen, so will Heidegger vielleicht sagen, von der Erfahrung der Seinsverlassenheit im Sinne einer Mangelerfahrung gerade ablenken. Dabei irritiert allerdings der Umstand, dass der Mangel durch Phänomene überdeckt wird, die selbst als bedrohliche Anzeichen einer Weltverdüsterung erscheinen. Der Anlage nach müssten die Überdeckungsphänomene als solche wohl eher positiv empfunden werden. Ihre negative Seite dürften sie erst im Blick auf den Mangel offenbaren, den sie zu überdecken haben und der – bewusst erfahren – eine positive Bedeutung für den Übergang besitzt. Zudem wird die gesamte Diagnose dadurch um eine weitere Ebene ergänzt, die ebenfalls zu überprüfen wäre. In einem ersten Schritt müsste deutlich werden, dass die genannten Tendenzen, Schnelligkeit, Erlebniskultur etc. tatsächlich dazu dienen, uns die Erfahrung eines Mangels zu verbergen, und erst in einem zweiten Schritt könnte dann der Mangel selbst erfahren werden. Worin dieser Mangel bestehen soll, wäre in diesem Sinne also noch gar nicht zu bestimmen, wodurch die Plausibilität der Forderung nach einem Sprung in ein anderes Denken zusätzlich eingeschränkt wird. Gelegentlich redet Heidegger eben so, als sei jede nur denkbare Bestimmung von vornherein als metaphysisch und damit zur Charakterisierung des »anderen« Denkens abzuweisen. Statt dessen bleibt nur die reine Unbestimmtheit, die sich etwa in folgender Rede ausdrückt: »Einzig die Notwendigkeit des seit dem ersten Anfang Unentschiedenen ist der Grund der denkerischen Besinnung« (Bes 41). Allerdings scheint Heidegger die beiden Ebenen auch nicht wirklich konsequent zu trennen, wie sich beispielsweise im Rahmen seiner Analyse von Metaphysik zeigt, bei der der Topos der »Berechnung« immer auf die angebliche Seinsvergessenheit der Metaphysik verweist und nicht auf deren explizite Verdeckung. In gewisser Weise scheinen die Not und ihre Verdeckung denn auch zusammenzufallen, wenn es heißt: »In Wahrheit ist aber die Notlosigkeit das äußerste dieser Not, die zuerst als die Verlassenheit des Seienden vom Sein erkennbar wird« (BP 429). 400 



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Möglichkeit eines solchen Unternehmens akut, denn der Sprung setzt zu seiner Möglichkeit ja erst einmal voraus, dass der Absprungpunkt tatsächlich erreicht wird, dass also die »Not« als eine solche erfahren wird. Dieser Punkt bildet bei Heidegger ein vorerst ungelöstes Problem, weil der seinsvergessene Zustand sich vor allem darin auszudrücken scheint, dass die Seinsvergessenheit selbst unerkannt und die Seinsverlassenheit unerfahrbar bleibt. Dennoch soll die Frage nach der Möglichkeit des Sprunges noch einmal von einer anderen Seite betrachtet werden, weil gerade in diesem Zusammenhang die Parallelen zwischen Jacobi und Heidegger wieder deutlicher hervortreten. b) Die Möglichkeit des Sprunges Weil die Spekulation, wie es bei Jacobi heißt, »aus sich selbst nur zu einer geistlosen Notwendigkeit, einer Substanz gelangt, so ist nur über sie vermittelst eines Sprunges, den ich Salto mortale genannt habe, hinwegzukommen; es ist aber die geistlose Notwendigkeit und Substanz die Schwungfeder, welche mich hebt, vermöge eines festen und kräftigen Auftretens auf dieselbe. Der Geist widerspricht allmächtig dem Urteil, daß die geistlose Substanz alles und daß außer ihr Nichts sei« (1 (1), 348). Jacobi schließt, wie es an anderem Orte heißt »aus dem Fatalismus gegen den Fatalismus« (Spin 26). Der Fatalismus der kritisierten Position, oder auch die oben zitierte »Geistlosigkeit« der Substanz, ist nicht nur Motivation für den Sprung, sofern die »lebendige Überzeugung« Jacobis von der Freiheit des Menschen gegen sie spricht – sie ist zugleich die »Schwungfeder«, die den Sprung ebensosehr ermöglicht wie sie ihn fordert. Im Sprung nämlich zeigt sich, dass die vermeintlich so einheitlich vernünftige Philosophie in Wahrheit gar nicht innerhalb ihrer eigenen Grenzen verbleibt, sondern dass sie selbst auf die Freiheitserfahrung zurückgreift, die sie an anderem Orte explizit leugnet. Mit dem Begriff der Ursache bedient sich die Metaphysik eines Begriffs, der Jacobi zufolge auf die Erfahrung des freien Handelns zurückgeht. Sofern die Metaphysik nach Jacobis Analyse Grund und Ursache in eins setzt, bedient sie sich des Erfahrungsbegriffs der Ursache, um dann in einem nächsten Schritt Ursache zu Grund zu machen und die Erfahrung des Handelns wieder aus dem System zu verbannen. Indem die Metaphysik aber Ursache zu Grund macht, macht sie zugleich das Unbedingte zu einem Bedingten. Sie zielt in diesem Sinne wesentlich auf das Unbedingte, das sie, im Versuch, ein einheitliches System zu schaffen, ebenso wesentlich zu einem Bedingten machen muss. Philosophie, verstanden als der Versuch rationaler Welterklärung, kann demnach das Unbedingte nicht erfassen und muss folglich eine Lösung anbieten, die in Wahrheit nur den Anschein einer Lösung darstellt. In Wahrheit ist Spinozas System keine Lösung, weil es auf einem, so Jacobi, »erweislichen inneren Widerspruch« beruht. Genau in diesem inneren Widerspruch aber steckt die Möglichkeit des Sprunges, der nur einen

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Aspekt in den Vordergrund rückt, der von der Metaphysik selber – stillschweigend – in Anspruch genommen wird.401 In diesem Kontext scheinen sich wieder deutlichere Parallelen zwischen Heidegger und Jacobi zu ergeben als im Zusammenhang mit der Notwendigkeit des Springens. Wenngleich weder der Topos des Fatalismus noch aber die demgegenüber verteidigte Grundüberzeugung der Freiheit eine Rolle spielen, scheinen sich die Darstellungen im Blick auf die bereits erwähnte »Wesensunmöglichkeit« der Metaphysik doch zu entsprechen. Denn trägt man vorläufig »Unbedingtes« dort ein, wo Heidegger von »Sein« redet und »Bedingtes« dort, wo er vom bloß »Seienden« spricht, dann scheint Heidegger doch Ähnliches sagen zu wollen wie Jacobi. Dabei kann getrost vernachlässigt werden, dass Heidegger die Begriffe »bedingt« und »unbedingt« als metaphysisch vorbelastet und somit ungeeignet zurückweisen würde. Eine Stelle aus den Beiträgen etwa kann das verdeutlichen. »Erst dieses Denken des Seyns ist«, so Heidegger, »wahrhaft un-bedingt, d. h. nicht bedingt und bestimmt durch ein Bedingtes außerhalb seiner und des von ihm zu Denkenden, sondern einzig bestimmt durch das in ihm zu Denkende, durch das Seyn selbst, das gleichwohl nicht ›das Absolute‹ ist« (BP 462). Anzeichen des seinsverlassenen Denkens ist ihm daher unter anderem das »Nichtmehrwissen, was Bedingung ist und was Bedingtes und Unbedingbares. Vergötzung der Bedingungen […] zum Unbedingten« (BP 117). Die Herrschaft der Seiendheit besteht mithin in der Verdrängung des eigentlichen Seins durch einen Seinsbegriff, der in Wahrheit ein zur Unbedingtheit gesteigertes Bedingtes meint, das von dem wahren Unbedingten aber ganz verschieden ist. In diesem Sinne bezeichnete die genannte »Wesensunmöglichkeit« der Metaphysik auch bei Heidegger die »Schwungfeder« im Absprungboden, die den Sprung in ein neues Denken allererst möglich macht. Denn der Umstand allein, dass Metaphysik überhaupt auf ein Unbedingtes, mit anderen Worten auf Sein selbst zielt, weist bereits auf eine wie auch immer geartete Vertrautheit mit dem Sein hin, die die Voraussetzung für den Sprung aus der Metaphysik darstellt. Diese vorgängige Bekanntschaft mit dem Sein wird von Heidegger unter dem Titel »Seinsverständnis« behandelt, deren entscheidende Bedeutung von Heidegger immer wieder unterstrichen wird. Deutlich zeigt sich dies etwa in der Schellingvorlesung von 1941, in dem das Seinsverständnis als »maßgebende Bestimmung von Dasein und Existenz in ›Sein und Zeit‹« (VL 41, 41) bezeichnet wird. Auch die Vorlesung über den Satz vom Grund greift diese Rede vom ursprünglichen Bezug des Menschen zum Sein auf, der allem Denken zugrunde liegen müsse. »Der Grundzug des Daseins, das 401 

Diese Darstellung der Zusammenhänge von Freiheitserfahrung, Ursachebegriff und dem Zusammenhang von Unbedingtem und Bedingtem mag in dieser Kürze nicht überzeugend klingen. Zur genaueren Darstellung sei daher erneut auf Sandkaulen (2000) verwiesen.



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der Mensch ist«, so ist dort zu lesen, »wird durch das Seinsverständnis bestimmt. […] Seinsverständnis besagt, daß der Mensch seinem Wesen nach im Offenen des Entwurfes des Seins steht und dieses so gemeinte Verstehen aussteht. […] Nur insofern der Mensch seinem Wesen nach in einer Lichtung des Seins steht, ist er ein denkendes Wesen« (SvG 146 f.). Das allerdings müsste bedeuten, dass jedem, auch demjenigen also, der zunächst notwendig auf dem Boden des metaphysischen Denkens steht, ein grundlegendes Seinsverständnis zugeschrieben werden muss, das im Bereich der Metaphysik zwar überdeckt scheint, aber doch nie ganz verschwunden sein kann. In diesem Sinne soll auch gelten, dass wir uns auf gewisse Weise immer schon an dem Ort befinden, an den uns der Sprung erst bringen soll. »Seltsamer Sprung«, so heißt es denn auch bei Heidegger, »der uns vermutlich den Einblick erbringt, dass wir uns noch nicht genügend dort aufhalten, wo wir eigentlich schon sind« (IuD 21). Damit scheint die Rede vom Sprung bei Jacobi wie bei Heidegger eine Form von Vertrautheit mit dem »Unbedingten« vorauszusetzen, das durch den rationalen Zugriff nicht zu erreichen ist, weil es diesem notwendig vorausliegt und ihn allererst ermöglicht. Sofern der Mensch bei Jacobi nicht bloß als Teil einer mechanisch wirkenden Naturnotwendigkeit verstanden werden soll, sondern durch seine Fähigkeit des verantwortlichen Handelns als Mensch und Geistwesen ausgezeichnet wird, drückt sich in diesem Bezug zum Unbedingten letztlich das eigentliche Wesen des Menschen aus. Ähnlich scheint es sich bei Heidegger zu verhalten, sofern dieser im Seinsverständnis des Menschen dessen Grundlage erkennt, die ihn über die Welt des reinen Seienden, der bloßen Vorhandenheit und Berechenbarkeit erhebt.402 Die Kritik, die Jacobi und Heidegger am reinen Vernunftdenken (bzw. an der Metaphysik) üben, beruht daher unter anderem darauf, diesem die ihm zugrundeliegende Voraussetzung, den Bezug zum »Unbedingten« – entgegenzusetzen. Heideggers geänderte Haltung Schelling gegenüber in der Vorlesung von 1941 schien eben auf diesen Gedanken zurückzugehen, auf den Gedanken also, dass ein dem metaphysischen Denken gegenüber ganz anderer Zugang an den Anfang gestellt werden müsse, um das metaphysische Denken in seinem Wesen erkennen zu können. Um nichts Anderes scheint es ja beim Gedanken der Kehre zu gehen, die auf eine Umkehr des Verhältnisses von Sein und Seiendem aus ist. Allerdings stellte sich gerade in diesem Kontext die Frage, wie ein Zugang zu diesem dem Seienden 402 

Heideggers Überlegungen zum Sein sind immer durch einen wesentlichen Bezug zwischen Mensch und Sein gekennzeichnet. Das gilt ebenso für Sein und Zeit wie für die spätere Zeit, in der zwar der Ausdruck Dasein nicht mehr wie in Sein und Zeit mehr oder weniger synonym für ›Mensch‹ verwendet wird, aber dennoch die Seinsform des Menschen kennzeichnet. Dem Menschen kommt dabei auch immer eine wichtige Funktion im Blick auf das Sein zu, die ihm zugleich eine besondere Verantwortung zuzumuten scheint. Vgl. z. B. die Rede vom Menschen als »Hirt des Seins« im Brief über den Humanismus (GA 9, 342).

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vorausliegenden Sein gedacht werden könne, wenn das rationale Vermögen, dessen wir uns in der Philosophie bedienen, offenbar ungeeignet ist, weil es das Sein notwendig zur Seiendheit verstellen muss. Bei Jacobi findet sich das Problem durch die Unterscheidung zweier Vermögen gelöst. Im Gegensatz zu der Vernunft, die nur ein Vermögen darstellt, das wir besitzen, und die man bei Jacobi Verstand oder adjektive Vernunft nennen kann, gibt es ihm zufolge noch eine weitere: eine substantive Vernunft.403 »Versteht man«, so Jacobi, »unter Vernunft die Seele des Menschen, nur in so fern sie deutliche Begriffe hat, mit denselben urteilet, schließt, und wieder andre Begriffe oder Ideen bildet: so ist die Vernunft eine Beschaffenheit des Menschen, die er nach und nach erlangt, ein Werkzeug, dessen er sich bedient, sie gehört ihm zu. Versteht man aber unter Vernunft das Prinzip der Erkenntnis überhaupt; so ist sie der Geist, woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist: durch sie besteht der Mensch; er ist eine Form, die sie angenommen hat« (Spin 423). Die instrumentelle oder adjektive Vernunft kennzeichnet dabei das Verfahren der Metaphysik, vergleichend von einem auf anderes zu schließen, ein Verfahren, das nur Bedingtes zum Gegenstand haben kann. In ihrem Projekt, die Welt als Ganze, und d. h. auch das Unbedingte, zu erfassen, ist als Grundlage der Metaphysik aber eben auch die substantive Vernunft tätig, die über einen, Jacobi zufolge, genuinen Bezug zum Unbedingten verfügt, und deren Mitwirkung im metaphysischen Denken eben erneut die »elastische Stelle« bezeichnet, von der oben die Rede war. Im Gegensatz zum konstruierenden Verstand ist diese Vernunft ein rezeptives Vermögen, das auf Offenbarung angewiesen ist. »Aecht platonisch«, so heißt es bei Jacobi, »schreibe ich der Vernunft aller erschaffenen Wesen Receptivität und Spontaneität zu, als Vermögen des Wahrnehmens und Ergreifens, des Findens und Festhaltens, welche vereint mit einander usprüngliche Quelle der Vernunftwahrheit sind« (GD 123). Ohne die Rezeptivität, die auf ein Anderes als sich selbst verweist, ist die Vernunft nicht eigentlich Vernunft, denn die »Wurzel von Vernunft« ist »Vernehmen« (2 (1), 201) und setzt so ein Vernehmbares voraus. Der Sprung aus dem reinen Vernunftdenken zielt bei Jacobi letztlich auch auf ein Zurechtrücken der Verhältnisse von Unbedingtem und Bedingtem, von Verstand und substantiver Vernunft. Die völlige Erklärbarkeit der Welt kann nur auf Kosten einer Unterordnung des Unbedingten unter die Herrschaft des Bedingten bzw. die Herrschaft des auf das Bedingte gerichteten Verstandes geschehen, mit den entsprechenden Folgen für das menschliche Selbstverständnis. In der zunächst so merkwürdig anmutenden Frage nach den »Besitzverhältnissen« der Vernunft, in der Frage: »Hat der Mensch Vernunft oder hat Vernunft den Menschen?« (Spin 422) erkennt Birgit Sandkaulen denn auch einen veritablen

403 

Vgl. Sandkaulen (2000), S. 83 f. und S. 245.



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Umkehrpunkt,404 der mit Heideggers Forderung nach einer Kehre einiges gemein zu haben scheint. Dass es daher auch Heidegger bei dem Problem des Zugangs zum ursprünglichen Sein auf ein rezeptives Vermögen anzukommen scheint, zeigen die folgenden, durchaus erstaunlichen Übereinstimmungen mit Jacobi, die sich bis in einzelne Formulierungen hinein erstrecken. Schon in der frühen Schellingvorlesung heißt es im Blick auf die intellektuelle Anschauung, dass sich der Begriff der Vernunft wandle: »das Wort Vernunft bekommt, können wir sagen, seinen ursprünglichen Wortsinn zurück: Vernehmen, unmittelbar erfassen […]« (VL36, 53). Noch erstaunlicher aber erscheint die folgende Ausdrucksweise aus der Vorlesung zur Einführung in die Metaphysik. Vernehmung sei, so Heidegger hier, »nicht eine Verhaltensweise, die der Mensch als Eigenschaft hat, sondern umgekehrt: Vernehmung ist jenes Geschehnis, das den Menschen hat« (EM 150). Trotz der bisher herausgearbeiteten Parallelen zwischen den kritischen Projekten von Jacobi und Schelling erstaunt diese nun fast wörtliche Übereinstimmung mit Jacobis Frage »Hat der Mensch Vernunft oder hat Vernunft den Menschen?«, weil sich immerhin der Verdacht aufdrängt, Heidegger könnte doch mehr von Jacobi gelesen haben, als er in seiner Schellingvorlesung offenbart. Die Frage nach den »Besitzverhältnissen«, die den Gedanken der Kehre auf ihre Weise widerspiegelt, drückt sich in der ersten Schellingvorlesung auch im behaupteten Zusammenhang von Mensch und Freiheit aus. Die Freiheit, so heißt es dort, dürfe nicht als Eigenschaft des Menschen verstanden werden, sondern umgekehrt sei der Mensch aus der Freiheit heraus zu verstehen, die nichts anderes sein soll als das Sein selbst. Auch die Vorlesung über den Satz vom Grund bestätigt die Annahme, dass es bei der Frage nach dem Zugang zum Sein auf eine Art von Rezeptivität ankommen soll. Schon die Rede von den Tonarten macht deutlich, dass es bei der Untersuchung wesentlich darum geht, ein Anderes wahrzunehmen und sich einem bisher verborgenen Inhalt des Satzes vom Grund zu öffnen. Während die erste Tonart gar keine war, sofern in ihr »Nichts« erklang, soll der Übergang durch die Aktivierung eines Gehörs ermöglicht werden, »das jeder von uns hat und keiner recht gebraucht« (SvG 91). Jeder, so scheint der Satz zu bekräftigen, verfügt über ein Seinsverständnis, ohne es aber recht zu wissen und zu nutzen. »Dieses Gehör«, fährt Heidegger fort, »hängt nicht nur mit dem Ohr zusammen, sondern zugleich mit der Zugehörigkeit des Menschen zu dem, worauf sein Wesen gestimmt ist. Ge-stimmt bleibt der Mensch auf das, woher sein Wesen bestimmt wird. In der Be-stimmung ist der Mensch durch eine Stimme betroffen und angerufen, die um so reiner klingt, je lautloser sie durch das Lautende hindurch klingt« (ebd.). Das rezeptive Vermögen scheint demnach bei Heidegger wie bei Jacobi auf ein Anderes angewiesen, ein Gegenüber, eine Stimme, die den Rezipienten anruft und ihm etwas offenbart. 404 

Vgl. Sandkaulen (2000), S. 76 und S. 229 ff.

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Dazu passt auch die Rede vom Offenen, auf das das Seinsverständnis zielen soll. Seinsverständnis nämlich bedeute: »Inständigkeit in diesem Offenen und inständig bestimmt, und d. h. durchstimmt sein von dem, was in dem Offenen sich offenbart, durch das Sein« (VL 41, 68). Vieles scheint Heideggers Projekt eines Übergangs zum neuen Denken also mit Jacobis Vernunftkritik zu verbinden. Da ist zunächst die Radikalität der Abgrenzung, die sich in der Figur des Sprunges ausdrückt und die ein bestimmtes Verhältnis zwischen den beiden Positionen diesseits und jenseits des Sprunges nahelegte. Einigkeit zwischen beiden Positionen bestand auch darin, dass der Sprung nur durch eine gründliche Auseinandersetzung mit dem kritisierten Boden möglich wird, ebenso wie darin, dass der Sprung selbst auf einen Standpunkt führen soll, der die Voraussetzung der kritisierten Position zutage fördert, die wiederum nur durch ein rezeptives Vermögen zugänglich scheint. Gerade die Frage nach der Möglichkeit des Sprunges, die auf die »Wesensunmöglichkeit«, den entscheidenden inneren Widerspruch des metaphysischen Unternehmens selbst zielte, lässt erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Kritikunternehmen erkennen. Andererseits aber waren auch schon deutliche Abweichungen hervorgetreten, die vor allem damit zu tun haben, dass das Zentrum der Kritik bei Jacobi, die Bestimmung des Fatalismus und der demgegenüber verteidigten Freiheitserfahrung bei Heidegger kein rechtes Pendant findet. Die Übereinstimmungen bleiben daher zunächst auf eine rein strukturelle, abstrakte, und insofern letztlich noch vage Ebene beschränkt. Das hat, wie gesehen, vor allem Konsequenzen im Blick auf die Frage nach der Notwendigkeit des Springens, die zugleich den Punkt bezeichnet, an dem die eigentliche Radikalität des Unternehmens sich bekundet. Wenngleich sich also das Unternehmen bei Heidegger – etwa in der Rede von Weltverdüsterung und Erdzerstörung – auf den ersten Blick sogar radikaler präsentiert als dasjenige Jacobis, sind angesichts der eher undeutlich bleibenden Bestimmungen im Blick auf den Absprungboden hier bereits Zweifel aufgetreten, Zweifel, die sich im Folgenden bestätigen werden.

3. Ambivalenzen und Unterschiede – Grund und Ursache Die im Blick auf die Figur des Sprunges gefundenen Übereinstimmungen zwischen den Positionen von Jacobi und Heidegger können schon insofern als erstaunlich gelten, als Heideggers explizites Verhältnis zu Jacobi ausschließlich kritisch verfasst ist. Erstaunlich sind sie aber vor allem vor dem Hintergrund dessen, was im Verlauf der Untersuchung bereits über die Parallelen zwischen Heidegger und Schelling gesagt wurde. Heidegger – das wurde ja deutlich – übernahm grundlegende Strukturen der Freiheitsschrift, um auf ihrer Grundlage vom Sein zu reden und eine Seinsgeschichte zu beschreiben, die gerade entscheidende Merkmale des von Jacobi als Grundlage



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der Systemphilosophie kritisierten Denkens aufwies. In dieser Hinsicht scheint von Anfang an außer Frage zu stehen, dass die im Blick auf den »Sprung« herausgearbeitete Nähe der beiden Positionen zumindest nicht als ganze Wahrheit gelten kann. Und tatsächlich ist es eben so, dass die bisher vorgenommene Darstellung gewissermaßen nur die eine Hälfte eines in sich grundlegend ambivalent verfassten Unternehmens bildete. Erste Abweichungen waren bereits im Blick auf die Frage nach der Notwendigkeit des Sprunges und die damit verbundene Darstellung des Absprungbodens aufgetreten. Dieser schien zu unklar bestimmt, um auf einen wirklichen Absprungpunkt hinzuweisen. Aus diesem Grund soll hier ein weiterer Versuch unternommen werden, den Absprungboden bei Heidegger genauer zu sondieren. Zum Ansatzpunkt soll an dieser Stelle erneut die bereits im Zusammenhang mit Schelling thematisierte Vorlesung über den Satz vom Grund dienen. Dort nämlich bestimmt Heidegger das, was er den »Absprungboden« nennt, als ein »Feld, worin der Satz vom Grund zwar nicht stets als Prinzip, so doch als mehr oder weniger deutlich gefaßter Leitgedanke öfter genannt wird« (SvG 129). Schon im Rahmen der Auseinandersetzung mit Schelling hatte sich gezeigt, dass der Satz vom Grund in seiner metaphysischen Version zum Gegenstand der Heideggerschen Kritik wird. Als Ansatzpunkt für die Fortführung des Vergleichs aber bietet er sich gerade deshalb an, weil er in Jacobis Überlegungen eine ebenso wichtige, aber doch – wie sich zeigen wird – ganz andere Rolle spielt als in Heideggers Vorlesung.

3.1 Der Satz vom Grund Dass der Satz vom Grund unser aller Denken wesentlich bestimmt, ist eine wohl unwidersprechliche Behauptung, mit der Heideggers Vorlesung einsetzt – eine Behauptung, die auch Jacobi kaum bestreiten würde. Während aber Heidegger in dieser alltäglichen Herrschaft des Satzes vom Grund einen Ausdruck der allgemeinen Seinsvergessenheit des Denkens erkennt, die er mit dem neuen Denken zu überwinden sucht, richtet sich Jacobis Vernunftkritik nicht gegen den Satz vom Grund als solchen, den er vielmehr als legitimes Verfahren des Verstandes kennzeichnet, die Welt nach der Hinsicht praktischer Orientierung einerseits und der naturwissenschaftlicher Forschung andererseits im Rahmen seiner Möglichkeiten zu erschließen. Das Prozedere des Verstandes, das nach Jacobi im »Zergliedern, Verknüpfen, Urteilen, Schließen und Wiederbegreifen« (Spin 421) besteht, kann allerdings, so Jacobis Einschränkung, nur »Dinge der Natur« (Spin 422) erkennen, Bedingtes, das stets als eingebunden in einen Bedingungszusammenhang verstanden werden muss, der von Jacobi insgesamt mit dem Begriff »Natur« belegt wird. Anders verhält es sich hingegen im Blick auf das metaphysische Denken, das sich schon dem Namen nach

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

auf ein Übernatürliches, ein der Natur gegenüber Unbedingtes richtet, ein solches also, das sich mit dem Verfahren des Verstandes gerade nicht erfassen lässt. Jacobis Wertung des Satzes vom Grund lässt sich daher nur auf der Grundlage einer Unterscheidung dieser beiden Bereiche verstehen, des Bereichs der Natur einerseits von demjenigen der Metaphysik andererseits. Bereits im Zusammenhang mit der Frage nach der Notwendigkeit des Springens war deutlich geworden, dass Heidegger das metaphysische Denken gerade nicht von einem allgemeinen, alltäglichen oder naturwissenschaftlichen Denken unterscheidet. Manchmal richtet sich Heideggers Kritik gerade gegen das alltägliche Denken, das sich fraglos bestimmten Gewißheiten überlasse, zu denen eben in diesem Fall auch der Satz vom Grund gehört. Das alltägliche Denken ist – damit dürfte Heidegger wohl Recht haben – von einer Bewusstheit des Satzes vom Grund und seiner Funktion am weitesten entfernt und deshalb vielleicht auch am wenigsten in der Lage, seine Gültigkeit in Frage zu stellen. Über eine solch triviale Sicht aber geht Heideggers Kritik weit hinaus, wenn er feststellt, dass wir im »gewöhnliche[n] Meinen der Alltagsvorstellungen« nur noch »wie blind und taub umhertreiben« (SvG 60), ohne dabei zu erkennen, wie die Herrschaft des Satzes vom Grund dabei sei, dem Menschen jede »Bodenständigkeit« zu entziehen.405 Von einer wahren »Bodenständigkeit« ist dieses blinde und taube Denken also ebenso entfernt wie von der bereits erwähnten »Ursprünglichkeit«, die das neue Denken Heideggers auszeichnen soll. Das Beispiel der Vorlesung von 1936 etwa machte deutlich, dass erst unter dem Einfluss des fortgeschrittenen dialektischen Denkens eine Annäherung an ein »ursprüngliches Seinsverständnis« möglich schien. Einerseits also scheint das alltägliche Denken und Meinen von der Einsicht in das wahre Sein besonders weit entfernt, ist die gewissermaßen ›natürliche‹ bzw. naive Einstellung des Bewusstseins nicht mit einer Art von »Ursprünglichkeit« zu verwechseln. Andererseits aber scheint Heidegger ebensosehr der Auffassung zu sein, dass sich das Denken eigentlich erst im Bereich der Metaphysik »verirrt« und in dieser Irre verfestigt, indem es die Seinsvergessenheit zur Vollendung treibt. Heidegger lässt damit im Unklaren, ob das metaphysische Denken ein bereits seinsvergessenes allgemeines Denken nur aufnimmt und zur Unbedingtheit steigert, oder ob erst die Steigerung zur Unbedingtheit, die sich in der Metaphysik vollzieht, wirklich als Seinsvergessenheit bezeichnet werden kann. Jacobi, so wurde gesagt, trennt zwischen einem Bereich des Bedingten und einem solchen, bei dem es wesentlich um Unbedingtes geht. Eine derartige Unterschei405  Diese

Auffassung prägt bereits Sein und Zeit, wo sie sich in der Ablehnung des »Man« deutlich ausgedrückt findet. Dort heißt es z. B.: »Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden« (SZ 189, Herv. Heidegger).



Ambivalenzen und Unterschiede – Grund und Ursache 361

dung ließe sich bei Heidegger im Blick auf die Begriffe des Seienden und des Seins durchaus auch treffen. Zwar klingt einleuchtend, dass ein wesentlich auf Seiendes als Seiendes, d. h. ohne einen explizit thematisierten Bezug auf Sein, gerichtetes Denken zutreffend als »seinsvergessen« bezeichnet werden kann. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es sich bei dieser Art von »Seinsvergessenheit« von vornherein um einen Fehler handeln muss. Die These Heideggers, dass sich Sein selbst als Seiendes zuschickt, würde im Gegenteil gerade für die Legitimität eines solchen Denkens sprechen. Wahrhaft seinsvergessen wäre demzufolge erst die Metaphysik, die ja explizit vorgibt, sich um das Sein des Seienden zu kümmern. Selbst die Rede von der Verdeckung der Seinsvergessenheit wäre im Rahmen einer solchen Unterscheidung zu verstehen. Wenn Metaphysik wesentlich auf das Sein des Seienden hin ausgerichtet ist, wäre ihre Aufgabe darin zu sehen, die Seinsvergessenheit des nur auf Seiendes gerichteten Denkens aufzudecken. Wenn sie stattdessen ihrerseits nur Seiendheit erfasste, dann verfehlte sie nicht nur ihre eigentliche Aufgabe, sondern sie verdeckte zudem die wahre Natur des Denkens, das sich wesentlich mit Seiendem als Seiendem befasst. Tatsächlich aber nimmt Heidegger derartige Differenzierungen nicht vor. Einerseits lässt er keinen Zweifel daran, dass Seinsvergessenheit immer als ein Fehler betrachtet werden müsse, weil der Mensch erst da sein Wesen erreiche, wo er das Sein explizit und in der angemessenen Weise bedenkt. Daher beschränkt sich die Rede von der Verdeckung der Seinsvergessenheit auch nicht auf den Bereich der Metaphysik, sondern findet – etwa in den Beiträgen – auch und vor allem im Bereich der alltäglichen Herrschaft des »Erlebnisses« seinen Ausdruck. Wenn es dennoch manchmal so scheint, als kritisiere Heidegger den Übergriff eines wissenschaftlichen Rationalitätsverständnisses auf ihm prinzipiell verschlossene Bereiche, so legt dies eine Trennung von Bereichen nahe, die von Heidegger letztlich nicht vorgenommen wird. In der Vorlesung über den Satz vom Grund stützt sich die Argumentation denn auch wesentlich auf die umfassende Geltung des Satzes vom Grund, die alle Bereiche des Lebens, theoretische wie praktische Belange, Alltag, Wissenschaft und Philosophie gleichermaßen durchherrscht. Im Gegensatz dazu ist Jacobis Deutung des Satzes vom Grund nur im Zusammenhang mit einer solchen Abgrenzung von Denkbereichen zu verstehen, die jedoch darüber hinaus im Zusammenhang mit der fundamentalen Unterscheidung von Grund und Ursache betrachtet werden muss. Der Satz vom Grund nämlich gilt Jacobi insofern als legitim, als er eine »Verbindung« von Grund und Ursache darstellt, die er zumindest als »nicht unzulässig« bezeichnet, »wenn nur keinen Augenblick vergessen wird, was jedem ins besondere zugrunde liegt, und ihn zu einem möglichen Begriffe machte. So heißt der Satz des Grundes: Alles Abhängige ist von Etwas abhängig: Der Satz der Ursache: alles was getan wird, muß durch Etwas getan werden. […] Beide sind identische Sätze und haben daher allgemeine apodiktische Gültigkeit. Ihre Vereinigung aber geschieht durch den Satz: daß alles

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Bedingte eine Bedingung haben müsse, welcher eben so identisch, folglich eben so allgemein und notwendig ist« (Spin 415 f.). Von dieser zulässigen Verbindung aber, in die ein Aspekt von Unbedingtheit über den Begriff der Ursache bereits ins Spiel gekommen ist, unterscheidet Jacobi das im Bereich des metaphysischen Denkens auftretende Problem einer Vermischung oder Verwechslung der Begriffe von Grund und Ursache, die gerade darauf aufbaut, dass zwischen dem »Satz des Grundes«406 und dem »Satz der Ursache« nicht mehr unterschieden werden kann und soll, und durch die der Eigenanteil, der den Satz der Ursache auszeichnete, unter dem Einfluß der Logik des Grundes zum Verschwinden gebracht wird. Über die Unterscheidung von Grund und Ursache und eine der Ursache eigens zugehörige Art von Handlungslogik wird zugleich auch deutlich, warum das alltägliche Denken bei Jacobi im Gegensatz zur Auffassung Heideggers nicht zum Gegenstand der Kritik werden kann. Im Alltag nämlich scheint sich die Herrschaft des Satzes vom Grund vor allem auf eine theoretische Einstellung zu beziehen, die zugleich unser praktisches Selbstverständnis, frei handelnde Akteure zu sein, nicht beeinträchtigt. Heidegger hingegen, der die Trennung zwischen Theorie und Praxis als nicht ursprünglich ablehnt, sieht auch in der Praxis, und dort – wie sich zeigen wird – gerade in der bewussten und absichtlichen Handlung nur einen weiteren Ausdruck des alles beherrschenden Satzes vom Grund, der »unausgesprochen alles menschliche Vorstellen und Verhalten überall lenkt« (SvG 15), wie Heidegger zu Beginn der Vorlesung formuliert. Da Heideggers Kritik sich unabhängig von möglichen zu unterscheidenden Anwendungsbereichen auf den Satz vom Grund als »großmächtiges Prinzip« richtet, steht von vornherein außer Frage, dass eine Unterscheidung wie die zwischen der »nicht unzulässigen« und d. h. de facto zulässigen Vereinigung und der unzulässigen Vermischung von Grund und Ursache wohl keine Rolle spielen wird. Fraglich ist allerdings, ob und in welcher Weise Heidegger überhaupt auf den Zusammenhang von Grund und Ursache eingeht. Im Rahmen der Überlegungen zur Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling war bereits deutlich geworden, dass er vor allem den Begriff des Grundes in den Fokus der Betrachtungen stellte, wobei dem metaphysischen Begriff des Grundes im Sinne der ratio ein neuartiger, dem Seinsdenken angehörender Begriff im Sinne des Ausspruchs »Sein und Grund: Dasselbe«, entgegengestellt werden sollte. Der Begriff der Ursache schien dabei keine prägnante Rolle zu spielen. Andererseits ist im Verlauf der Vorlesung sehr wohl immer wieder auch vom Ursache-Wirkungs-Zusammenhang die Rede, weil dieser Heideggers Auffassung nach in den »Machtbereich« des Satzes vom Grund eindeutig gehört. 406 

Diese Formulierung ist von der allgemeinen des Satzes vom Grund zu unterscheiden, der bereits eben die Vereinigung der beiden Sätze darstellt und von Jacobi hier genauer als »Satz vom zureichenden Grund« bezeichnet wird.



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Wie aber – so soll angesichts der Bedeutung, die dieser Unterscheidung bei Jacobi zukommt, noch einmal explizit gefragt werden – bestimmt Heidegger nun genau das Verhältnis von Grund und Ursache?

3.2 Der Zusammenhang von Grund und Ursache Als Einstieg in das Problem soll eine frühe Vorlesung Heideggers herangezogen werden, die den Titel Das Wesen der menschlichen Freiheit trägt. Im Blick auf Heideggers Schellingauslegung erstaunt zwar, dass diese Vorlesung, die fast denselben Titel trägt wie Schellings Freiheitsschrift, zugleich ohne jeden Bezug auf dieselbe auskommt. Im Zusammenhang mit Jacobi aber ist sie insofern von Interesse, als Heidegger hier eine Kritik am metaphysischen Freiheitsverständnis vorlegt, die an Kant und dessen Versuch orientiert ist, Freiheit nach dem Vorbild der Naturkausalität als »Kausalität aus Freiheit« zu verstehen. Hält man sich an Kant, so Heidegger in dieser Vorlesung, dann müsse »jenes, was möglicherweise am Menschen Nicht-Natur ist und seinem Seinsgehalt nach anderes, in derselben Weise wie die Natur auch kausal bestimmt werden. Daß dabei die Kausalität modifiziert wird, ändert nichts daran, daß die Kausalität es ist, die primär und allein zur ontologischen Grundcharakteristik beigezogen wird« (WmF 246). Diese Formulierung scheint insofern im Einklang mit Jacobi zu stehen, als Heidegger hier nun doch zwischen einem Bereich der Natur und einem solchen der »Nicht-Natur« unterscheidet. Tatsächlich übt Jacobi eine ganz ähnliche Kritik an Kant. Das Kausalitätsgesetz nämlich stellt wie der Satz vom zureichenden Grund eine Verbindung von Grund und Ursache dar, die auf das erklärende Verfahren des Verstandes hin zugeschnitten ist und die den Begriff der Ursache unter die Herrschaft des Grund-Folge-Verhältnisses stellt. Die Logik der Ursache aus dem Begriff der Kausalität gewinnen zu wollen, kehrt die wahren Verhältnisse um, weil, so Jacobi, die Kausalgesetzlichkeit selbst erst auf Grundlage eines genuinen Verständnisses von Ursache im Sinne des Anfangens einer Handlung denkbar wird.407 Allerdings zeigt sich im Weiteren, dass Heideggers Kritik zwar auf die Frage nach dem Zusammenhang von Grund und Ursache führt; dass diese aber im Gegensatz zu Jacobis Absicht gerade nicht auf das richtige Verständnis der Ursache sondern vielmehr auf eine bestimmte Auffassung des Grundes zielt: »Wenn wir eine Auseinandersetzung mit Kant erzwingen«, so Heidegger in Das Wesen der menschlichen Freiheit, »dann bringen wir das Freiheitsproblem zunächst wieder in die Perspektive des Problems der Kausalität, des Ursacheseins. Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung ist umso aufdringlicher, als wir selbst Freiheit

407 

Zu Jacobis Kritik an Kant vgl. Sandkaulen (2000), S. 205 ff.

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fassen als Grund der Möglichkeit des Daseins. In welchem Zusammenhang Ursache und Grund stehen, das ist fraglich« (WmF 137). Während die Vorlesung über das Wesen der menschlichen Freiheit dieses Problem aber nur andeutet, ohne ihm weiter nachzugehen, befasst sich die Vorlesung über den Satz vom Grund nun ausführlicher damit; schon allein deshalb, weil die Gleichsetzung der Begriffe in der Formel ratio sive causa bei Leibniz überall ins Auge sticht. Leibniz sagt, so Heidegger in Der Satz vom Grund, »nihil est sine ratione seu nullus effectus sine causa. ›Nichts ist ohne Grund oder keine Wirkung ohne Ursache‹. Man nennt den Satz ›keine Wirkung ohne Ursache‹ auch das Prinzip der Kausalität. Leibniz setzt in der soeben angeführten Formel das Prinzip des Grundes und das Prinzip der Kausalität durch das sive (oder) offensichtlich einander gleich« (SvG 43). »Grund und Folge« aber, soviel scheint Heidegger klar, »ist nicht das gleiche wie Ursache und Wirkung« (SvG 44). Darum sei man auch »versucht, diese Gleichsetzung zu bemängeln«, was Heidegger aber letztlich doch nicht tut, indem er einwendet, dass diese »Bemerkungen« zwar »in gewisser Weise richtig« seien, man sich aber scheue, »Leibniz darüber zu belehren. […] Wir lassen darum die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Satz vom Grund und dem Prinzip der Kausalität offen« (ebd.). Das klingt nun allerdings auf Anhieb so, als habe die Vorlesung über den Satz vom Grund derjenigen über das Wesen der menschlichen Freiheit in dieser Hinsicht nichts hinzuzufügen. Tatsächlich aber nimmt Heidegger in diesem Kontext durchaus noch eine Bestimmung des Verhältnisses von Grund und Ursache vor, indem er gegen Leibniz einwendet, jede Ursache sei »zwar eine Art von Grund, aber nicht jeder Grund zeigt den Charakter der Ursache, die einen Effekt zur Folge hat« (SvG 43). Grund und Ursache gelten Heidegger also nicht als eigenständige Begriffe mit je eigenem Hintergrund. Stattdessen sieht Heidegger im Begriff des Grundes eine Art Oberbegriff, der sowohl das Grund-Folge- als auch das UrsacheWirkungs-Verhältnis umfassen soll. Ursache ist somit für Heidegger als eine Art von Grund bestimmt, weshalb die Identifikation von Grund und Ursache bzw. ratio und causa nicht unzulässig scheint: »Ratio ist«, so Heidegger, »ratio für das Hervorzubringende, ist dessen Ursache, causa. Der Bezug auf das efficere kennzeichnet die ratio als causa. Diese causa gehört in den Bereich des Hervorbringens, dabei etwas herauskommt. Inwiefern gehört die causa dahin? Insofern sie den Charakter der ratio hat. Was heißt hier ratio? Ist die ratio dem Bereich des efficere zugeordnet oder gar auf ihn eingeschränkt? Keineswegs. Das Umgekehrte gilt. Der Bereich von efficere und eventus gehört in denjenigen der ratio« (SvG 167). Eben deshalb gilt auch, wie Heidegger an anderer Stelle formuliert, dass das Kausalitätsprinzip »in den Machtbereich des Prinzips des Grunds« gehöre (SvG 44). Tatsächlich scheint es sich für Heidegger so zu verhalten, dass der Satz seine »Macht« nicht zuletzt daraus bezieht, dass er das Ursache-Wirkungs-Verhältnis einschließt und dadurch nicht als rein logischer, auf das Erkennen beschränkter Satz gilt: Das »principium rationis



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ist«, wie Heidegger betont, »in der Form des principium reddendae rationis ganz und gar keine Einschränkung des Prinzips auf das Erkennen. Es liegt viel daran, dies von Anfang an klar zu sehen. Denn nur aus dieser Einsicht verstehen wir ganz, in welchem Sinne das principium rationis das principium grande, das großmächtige Prinzip ist« (SvG 46). Der über den logischen Anspruch des Satzes vom Grund hinausgehende ontologische Aspekt kommt einerseits darin zum Ausdruck, dass er Heidegger zufolge unser Leben derart bestimmt, dass es als Leben »im Atomzeitalter« zutreffend gekennzeichnet ist – ein Begriff, der zugleich beinhaltet, dass die »einzigartige Entfesselung des Anspruches« dabei »alles Heimische des Menschen bedroht« (SvG 60). Andererseits aber offenbart sich der ontologische Anspruch des Satzes vom Grund nach Heidegger auch noch auf ganz andere Weise. Er drückt sich vor allem darin aus, dass der Satz vom Grund offenbar darüber bestimmt, was als Seiendes zu gelten hat. »Etwas ›ist‹ nur«, so Heidegger weiter, »d. h. ist als Seiendes ausgewiesen, wenn es in einem Satz ausgesagt ist, der dem Grundsatz des Grundes als dem Grundsatz der Begründung genügt« (SvG 47). Der Satz vom Grund ist »insofern das alles durchmachtende Prinzip, als der Grund nach der strengen Fassung des Grundsatzes beansprucht, daß jegliches, was ist, ist infolge von, d. h. durch die eigens vollzogene Erfüllung des Anspruchs des Grundes« (SvG 56). Weil der Grund in der Bedeutung von Ursache gerade für das »Machten« des Grundes, d. h. für das Hinausgehen über den Bereich reinen Erkennens verantwortlich zu sein scheint, wird nachvollziehbar, dass der Begriff der Ursache besonders in den Fokus der Kritik Heideggers gerät. Denn wenn »der Satz vom Grund das großmachtende Prinzip ist, dann liegt in seinem Machten eine Art von Wirken. […] Alles Wirken verlangt jedoch (nach dem Satz vom Grund) eine Ursache« (SvG 55). Das »machenschaftliche« Wesen des metaphysischen Denkens lässt sich damit auf die Einheit von Grund und Ursache zurückführen: »Der Grund (ratio) ist«, so Heidegger, »als Ursache (causa) auf den Effekt (efficere) bezogen; der Grund selber muß zureichend sein (sufficiens, sufficere). Dieses Zureichen wird verlangt und bestimmt durch die perfectio (perficere) des Gegenstandes. Daß in der Gegend des Satzes vom Grund die Sprache wie von selbst von einem efficere, sufficere, perficere her, d. h. von einem mannigfaltigen facere, machen, von einem her- und zu-stellen spricht, ist gewiß kein Zufall« (SvG 64). Dass Heidegger also gerade den Zusammenhang von Ursache und Wirkung als Ausdruck des seinsvergessenen Denkens wertet, zeigt sich nicht nur in der Vorlesung über den Satz vom Grund, sondern ebensosehr in den seinsgeschichtlichen Schriften wie den Beiträgen zur Philosophie, in denen dem Kausalitätsverhältnis eine vergleichbare Funktion zukommt wie dem Satz vom Grund in der Vorlesung von 1955. »Der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang«, so liest man dort, »wird zum allbeherrschenden« (BP 127), was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass auch Gott als Ursache bestimmt wird. Ob es sich dabei um Gott im Sinne der causa sui han-

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delt oder um den christlichen Schöpfergott, spielt für Heideggers Argumentation keine Rolle. Der christliche Schöpfungsgedanke wird sogar zum Anzeichen der entschiedensten Seinsvergessenheit erklärt: »Die Seinsverlassenheit ist«, wie in den Beiträgen zu lesen ist, »am stärksten dort, so sie sich am entschiedensten versteckt. Das geschieht da, wo das Seiende das Gewöhnlichste und Gewohnteste geworden ist und werden mußte. Das geschah zuerst im Christentum und seiner Dogmatik, wonach alles Seiende in seinem Ursprung erklärt ist als ens creatum und wo der Schöpfer das Gewisseste ist, alles Seiende die Wirkung dieser seiendsten Ursache. Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis aber ist das Gemeinste und Gröbste und Nächste, was alle menschliche Berechnung und Verlorenheit an das Seiende sich zuhilfe nimmt, um etwas zu erklären, d. h. in die Klarheit des Gemeinen und Gewohnten zu rücken« (BP 110).408 Während Jacobi den Bezug des Unbedingten im Begriff der Ursache lokalisiert, erkennt Heidegger im Ursache-Wirkungs-Zusammenhang also den vollendeten Ausdruck eines mechanischen Verhältnisses. Allerdings wäre es voreilig, hierin schon einen fundamentalen Gegensatz zwischen Heidegger und Jacobi erkennen zu wollen. Tatsächlich steht mit dem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bei Heidegger nämlich vor allem das Kausalitätsverhältnis in der Kritik, das von Jacobi ebenfalls als Ausdruck reiner Naturnotwendigkeit verstanden wird. »Der Verstand«, so Jacobi, »leugnet das Seyn der Freyheit überhaupt, weil er von dem Gesetz der Causalität […] als einem allerhöchsten Gesetz und obersten Prinzip ausgeht. Das Gesetz der Causalität aber löset sich in dem Satz auf: Nichts ist unbedingt; es giebt kein Allerhöchstes, Oberstes und Erstes, es giebt kein Anhebendes, absolut Beginnendes« (GD 110). Kausalität selbst allerdings, so Jacobis Argument, ist ohne eine dem Verstand »von der Vernunft aufgedrungene Idee des Unbedingten, als einer nothwendigen Voraussetzung bey allem Bedingtem« gar nicht erst zu denken. »Ursache ist, als bloßer Verstandesbegriff, ein sinnloses, mit einem Widerspruch behaftetes Wort; Inhalt, Bedeutung, kann ihm allein aus der Vernunft werden, aus dem Gefühl des: Ich bin, ich handle, schaffe, bringe hervor« (ebd.). Jacobis Kritik am mechanistischen Denken gründet sich daher wesentlich auf einen Begriff von Ursache, der genuin praktischer Natur ist und nicht im Zeichen einer von vornherein auf die 408 

Auch an diesem Zitat bestätigt sich Heideggers prinzipielle Ablehnung des »alltäglichen« Denkens. Denn hier scheint es – die Rede vom »Gemeinsten, Gröbsten und Nächsten« ebenso wie die von der »Klarheit des Gemeinen und Gewohnten« macht es deutlich – erneut um das metaphysische unbeschlagene Denken, das alltägliche Meinen zu gehen, das entweder durch christliches Gedankengut geprägt sein soll oder, umgekehrt, dessen Einfluss auf das christliche Denken unverkennbar scheint. Der Gedanke Gottes als causa sui, der vom Standpunkt dessen, der das »gemeine« Denken ablehnt, wohl avancierter scheinen muss, bleibt, sofern causa sui immer noch causa meint, dem Schöpfungsgedanken verhaftet. In diesem Sinne aber scheint an dieser Stelle eindeutig, dass das »gemeine« Denken die Wurzel der Seinsvergessenheit darstellt, die in der Metaphysik nur einen anderen Ausdruck findet.



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Theorie zugeschnittenen Kausalitätsgesetzlichkeit steht.409 Ein solch genuiner Ursachebegriff fällt aus dem Machtbereich des Grundes hinaus, weshalb eben dieser Begriff in seiner Eigenständigkeit gegenüber der Herrschaft des Grundes von Jacobi verteidigt wird. Weil Heidegger den Begriff der Ursache im Unterschied dazu aber mit der Kausalgesetzlichkeit identifiziert,410 wird ihre Unterordnung unter den Begriff des Grundes und ihre Zugehörigkeit zum »Machtbereich« des Grundes nirgends bezweifelt.411 Einerseits scheint damit dem Ursachebegriff bei Heidegger weniger Eigenständigkeit zuzukommen als bei Jacobi, weil die Ursache nur als eine neben zahlreichen anderen Gestalten des Grundes gewertet wird.412 Andererseits aber zeigte sich bereits anhand der Verbindung von Ursachebegriff und »Machten«, dass der Begriff der Ursache gleichwohl auch hier eine entscheidende Rolle spielt, weil der Grund gerade in der Gestalt der Ursache für Heidegger die Logik des Satzes vom Grund zu verkörpern scheint. Tatsächlich richtet sich Heideggers Kritik über die bisher benannte Kritik an der Kausalität hinaus auch gegen bestimmte Merkmale des Ursachebegriffs, die von Jacobi zur Verteidigung der Eigenständigkeit des Ursachebegriffs besonders hervorgehoben werden. Eines dieser Merkmale, die reale, durch 409 

»Begreifen« können wir daher auch Jacobi zufolge nur ein Entstehen, das auf eine »natürliche, das ist bedingte und mechanische Weise geschieht« (Spin 427). Durch das »Bewußtsein unserer Selbsttätigkeit bei der Ausübung unseres Willens« aber verfügten wir über ein »Analogon des Übernatürlichen, das ist des nicht mechanisch wirkenden Wesens« (Spin 428 f.). 410  Wenn Birgit Sandkaulen eine »völlig fraglose Identifizierung der Ursache mit dem ›Gesetz der Kausalität‹ bei Schopenhauer« (Sandkaulen (2000), S. 241) diagnostiziert, dann gilt das in gleicher Weise für Heidegger, dessen Ansatz sich insofern gewissermaßen in eine bereits bestehende Tradition einreihen lässt. 411  Wenn Heidegger in der folgenden Äußerung eine Reduktion des im Begriff der Kausalität auf irgendeine Weise gegebenen »Lebendigen« auf eine »wenn-so«- Beziehung und die Unterordnung desselben unter die »Botmäßigkeit der Erklärung« kritisiert, so scheint dies in die Richtung Jacobis zu weisen: »Die Grundart des Vorgehens in allem Erklären ist der Verfolg und die vorgreifende Anlage von einzelnen Reihen und Ketten fortlaufender Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Das machenschaftliche Wesen des Seienden, obzwar nicht als solches erkannt, rechtfertigt nicht nur, sondern fordert in grenzenloser Steigerung dieses ergebnissichere Denken in ›Kausalitäten‹, die strenggenommen nur ›wenn-so‹-Beziehungen sind in der Gestalt des Wann-dann […]. Zu meinen, mit dieser scheinbar ›freien‹ Kausalität das ›Lebendige‹ eher fassen zu können, verrät lediglich die geheime Grundüberzeugung, eines Tages auch das Lebendige unter die Botmäßigkeit der Erklärung zu stellen« (BP 147). Was sich hier andeutet, spielt aber in den weiteren Überlegungen Heideggers, ebensowenig wie die aus der Vorlesung über das Wesen der menschlichen Freiheit stammende Rede von dem, was im Menschen »Nicht-Natur« ist, keine Rolle. 412  Vgl. z. B. SvG 155: »Was jedoch das Wort ›Grund‹ und die entsprechenden Namen nennen, läßt sich noch schwerer darlegen, vor allem dann, wenn wir auch hier das Selbe zu erblicken suchen, was in den bisher gebrauchten Namen wie Grund, ratio, causa, Ursache, Bedingung der Möglichkeit, zur Sprache kommt.« Vgl. außerdem SvG 183, wo Heidegger als mögliche »Ge­stalten des Grundes« ἀρχαί, αἰτίαι, rationes, causae, Prinzipien, Ursachen und Vernunftgründe nennt.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

die zeitliche Differenz eines Früher und Später ausgedrückte Trennung von Ursache und Wirkung, wird von Heidegger nicht als Gegensatz zur Logik des Satzes vom Grund, sondern gerade als entscheidender Ausdruck dieser Logik interpretiert. Das erstaunt insofern nicht, als sich bereits im Zusammenhang mit der Schellingauslegung mehrfach gezeigt hat, dass sich Heideggers Kritik am metaphysischen Denken wesentlich gegen die Trennung und Gegenüberstellung von Mensch und Sein richtet. Zudem scheint diese Kritik an der realen Trennung auch erneut auf das »vulgäre«, das »gemeine« Denken hinzuweisen, das sich durch völlige »dialektische Unmündigkeit« auszeichne und von dem sich das neue Denken selbstverständlich abzuheben hat.413 Daneben aber verbindet Heidegger die Kritik an der Trennung von Ursache und Wirkung im praktischen mit der Trennung von Subjekt und Objekt im theoretischen Bereich zu einem einzigen Komplex, in dem zugleich der Begriff der Vorstellung eine entscheidende Rolle spielt. »Her-stellen« und »Vorstellen« scheinen ihm zwei Ausdrücke eines einheitlich durch Trennung charakterisierten Denkens zu sein, das zugleich wesentlich mit dem Begriff der »Subjektivität« verbunden wird.414 Das Subjekt bringt Gegenstände hervor, einerseits reale, »hergestellte« Gegenstände, andererseits Vorstellungen, die es sich ebenfalls als Gegenstand gegenüberstellt. In dieser Abtrennung und Gegenüberstellung bekundet sich Heidegger zufolge ein wesentlicher Aspekt des metaphysischen Denkens. Von dieser, die Merkmale einer genuinen Ursachelogik betreffenden Kritik ist im Weiteren auch das absichtliche Handeln und damit ein Kernpunkt der Jacobischen Position betroffen. Erst das begriffliche Vorwegnehmen des Zwecks vor der Handlung, die Absicht, macht diese in Jacobis Augen zu einer wahrhaften Handlung. Diese Grundüberzeugung Jacobis ist nun ihrerseits Gegenstand der Kritik Heideggers, der das »Endzweckliche« der Ursache ebenso explizit ablehnt wie die Trennung von Ursache und Wirkung.415 Aus diesem Grund stellt Heidegger dem absichtlichen 413 

Das betrifft die Trennung ebensosehr wie die Sukzession. Siehe dazu Kap. III, 4. Heideggers Kritik an der Ursache ist nicht zuletzt immer gegen einen Herstellungszusammenhang gerichtet. Anders als Jacobi also, der mit dem Satz der Ursache auf Handeln im Sinne der griechischen Praxis zielt, hat Heidegger eher den Aspekt von τέχνη im Blick, der mit dem durch das Kausalgesetz gegebenen Mechanismus auf eine verstärkte Bedeutung von Technik geradezu notwendig hinzuführen scheint. Die Trennung, die Jacobi als eine solche zwischen Täter und Tat beschreibt, wird von Heidegger als eine Trennung zwischen dem Täter und seinem Produkt interpretiert, wobei das Produkt in seiner Eigenständigkeit dann als abgetrennter Gegenstand erscheint. 415  Vgl. Bes. 388: »Das Endzweckliche leitet alle Verrechnung des Seienden auf die Seiendheit«. Da sich in der Ablehnung des »Endzwecklichen« als Kategorie des Subjektdenkens eine erneute Parallele zu Spinoza findet, wird dieser Aspekt von Jean Marie Vaysse hervorgehoben, der Spinoza und Heidegger als Überwinder der Metaphysik betrachtet, die er mit Heidegger als Wollensmetaphysik bestimmt. Vgl. z. B. die folgenden Äußerungen: »Onto-theologie et métaphysique du sujet sont des discours de la finalité, la théologie étant une téléologie, articulée à une subjectivité comprise en dernière instance comme volonté« (Vaysse (2004), S. 49). »La finalité s’avère être 414 



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Handeln, dem Handeln nach Gründen, ein Handeln durch Gründe entgegen, das er als die dem Sein angemessene Lebensform auszeichnet.416 Das Leben durch Gründe ist die Lebensform des »Weil«, der Rose, die »blühet, weil sie blühet«, die »ohne Warum« ist und sich so dem Anspruch des Grundes entzieht (SvG 77). Erneut ist es der Zusammenhang mit dem Begriff der Vorstellung, der den Begriff der Absicht ebenso wie den der Ursache in den Machtbereich des Grundes verweist, wie folgende Äußerung zu Leibniz deutlich macht: »Die Grund-erfahrung des leibnizschen Denkens«, so ist in der Vorlesung über den Satz vom Grund zu lesen, »geht sogar so weit zu sagen, auch das, was wir leblose Materie zu nennen pflegen, sei vorstellend. Jedes Wesen ist nach Leibniz Lebewesen und als solches vorstellend-strebend. Allerdings ist erst der Mensch ein solches Lebewesen, das in seinem Vorstellen einen Grund vor sich bringen kann. […] Der Mensch ist nach einer überlieferten Bestimmung das animal rationale. Darum lebt der Mensch in der vorstellenden Beziehung zur ratio als dem Grund. Oder müssen wir umgekehrt sagen: Weil der Mensch in der vorstellenden Beziehung zur ratio steht, deshalb ist er animal rationale? Oder ist sogar diese Umkehrung unzureichend? Für jeden Fall lebt der Mensch im Vermögen, den Grund als Grund vorzustellen. Die anderen irdischen Lebewesen leben zwar durch Gründe und Ursachen, aber niemals nach Gründen«417 (SvG 79). Der Zusammenhang von Ursache und Vorstellung, der neben der Parallele von »Herstellen« und »Vorstellen« nun auch noch über die Absicht ins Spiel zu kommen scheint, führt letztlich gerade auf die Bestimmung des Willens, die schon 1941 den zentralen Gegenstand der Kritik bildete. »›Wille‹ – Ursache sein – Wirken durch Vorstellen des zu Bewirkenden – Vorausnehmendes – darauf ab-sehendes ›Wirken‹« (VL 41, 201, Herv. Heidegger), so heißt es in einem gegen Kant gerichteten Passus. Der Komplex von Her-stellung, Vorstellung, Gegenständigkeit, Absicht und Mechanismus scheint sich abzurunden, wenn man etwa folgendes Zitat aus Die Geschichte des Seyns anschließt: »Seiendheit als Vorgestelltheit meint: Vergegenständlichung des ›Wirklichen‹ (Wirkenden) zur Wirksamkeit. Wesentlich gehört in diese Vergegenständlichung als ihr Wahrheitswesen die Technik« (GA 69, 26). Dass »die Prägung des Seins als Gegenständigkeit und als Wille das Selbe sagt« (SvG 115), scheint sich hier zu bestätigen, auch wenn Heidegger offenbar zugleich erkennt, dass die Zusamle projet d’une volonté qui se croit souveraine et qui institue une dualité sujet-objet ouvrant l’espace de la représentation« (ebd., S. 61). »Une volition n’est qu’une opération, et Dieu n’opère pas, car son activité ne consiste pas à produire le monde comme un artisan produit un horloge« (ebd., S. 152). Dabei findet sich in der letzten Äußerung auch die erwähnte Verbindung zum Bereich des »Herstellens«. 416  Zu Heideggers Ablehnung des freien Handelns als Ausdruck absoluten Subjektdenkens vgl. Menke (2003), S. 263. 417  Ironischerweise ist Leibniz, wie sich bereits gezeigt hat, in den Augen Jacobis hier gerade kein gutes Beispiel, weil die zeitliche Differenz von Vorsatz und Tat auf Grundlage einer Bestimmung des Lebewesens als »vorstellend-strebend« ebensowenig gegeben ist wie bei Spinoza.

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menhänge in seiner Darstellung zu unklar bestimmt sind, um tatsächlich als Nachweis für diese Behauptung gelten zu können. Daher bleibe es eine, so die bereits zitierte Bemerkung aus der Vorlesung zum Satz vom Grund, für das bisherige Denken schwierige Aufgabe, den Zusammenhang zwischen Wollen und Gegenständigkeit zureichend zu bestimmen.418 Tatsächlich scheinen an diesem Punkt der Untersuchung die beiden Positionen nunmehr vollends gegensätzlich bestimmt. Die Herrschaft einer Logik des Grundes über die Logik der Ursache macht, Jacobi zufolge, die Vorstellung des absichtlichen Handelns in der Zeit unmöglich. Heidegger hingegen ist der Auffassung, dass sich die Herrschaft des Satzes vom Grund in der Vorstellung des absichtlichen Handelns gerade ausdrücke. Wie aber kann es zu einer derart gegensätzlichen Auffassung kommen? Der entscheidende Unterschied, der zu dem genannten Gegensatz führt, dürfte darin liegen, dass Jacobi zwischen den Begriffen von Grund und Ursache und damit zwischen einer theoretischen und einer praktischen, schon im Zusammenhang mit dem Sprung angedeuteten Handlungslogik unterscheidet, während Heidegger von einer Einheit der Begriffe und folglich von einer einzigen Logik von Beginn an ausgeht. Zusammenfassen lässt sich diese von Heidegger kritisierte Logik unter dem Stichwort der »Berechnung«, die theoretische und praktische Logik gleichermaßen bestimmen soll. Das mathematische, »rechnende« Denken kennzeichnet Heidegger zufolge nicht nur das Vorgehen der Naturwissenschaft, die auf den Gedanken einer Vorhersehbarkeit und exakten Berechenbarkeit von Ergebnissen gegründet ist, sondern gilt ihm zugleich als »Grundgesetz des Verhaltens« (BP 121). Dieser Auffassung gegenüber sieht Jacobi im Bereich des Handelns eine ganz andere Art von Logik am Werk als im Bereich der Naturwissenschaft, eine Logik, die auf einem Moment von Unberechenbarkeit gerade besteht. Einerseits – so könnte man einwenden – mag wohl jede Handlung auf ein bestimmtes Maß an Vorhersehbarkeit durchaus angewiesen sein. Dass es berechnendes Verhalten zweifellos gibt, beruht eben darauf, dass Menschen in ihren Absichten durchschaubar und insofern durchaus »berechenbar« sind. Dennoch ist die Bestimmung der Berechnung als »Grundgesetz des Verhaltens« nicht unbedingt überzeugend. Der Begriff »Berechnung« scheint vielmehr seinen genuinen Ort im Bereich der exakten Wissenschaften zu haben, während er im Bereich der Praxis eher metaphorisch und zumeist doch wohl auf abwertende Weise verwendet wird. Wer berechnend handelt, der wendet – so könnte man vielleicht sagen – ein Verfahren an, das im Bereich des Handelns eigentlich unangemessen ist. Zur Verdeutlichung der den Wissenschaften gegenüber ganz anderen Logik des Handelns greift Jacobi daher mit den Begriffen »Versprechen« und »Vertrauen« auf zwei der Praxis entnommene Begriffe zurück,

418  SvG 115.



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die ein ganz anderes Bild ergeben.419 Ob sich jemand an sein einmal gegebenes Versprechen tatsächlich hält, ist nicht mit Sicherheit vorherzusagen. Wer dennoch darauf vertraut, wer sich vielleicht sogar ganz sicher ist, nicht enttäuscht zu werden, dessen Sicherheit drückt sich im Modus eines Glaubens aus, der ebenso fest sein kann wie das Wissen, aber doch qualitativ von demselben unterschieden bleibt. In diesem Sinne kommt bei Jacobi eine weitere Unterscheidung ins Spiel, die mit der bereits erwähnten Unterscheidung von Vernunft und Verstand zusammenhängt. Jacobi unterscheidet nämlich zwischen zwei Arten von Gewissheit, zwischen einer Gewissheit aus Gründen, die gewissermaßen eine abgeleitete Gewissheit ist und einer Gewissheit, die keiner Gründe bedarf und die auch »Glaube« genannt wird, der – soviel dürfte längst deutlich geworden sein – mit dem religiösen Glauben an Gott nicht identisch ist. Heidegger, der von einer einheitlichen Logik ausgeht, unterscheidet an dieser Stelle folglich ebensowenig, sondern lässt nur ein Vermögen und eine Gewissheit gelten, die im Denken der Metaphysik ihren Ausdruck finden sollen. Ein demgegenüber anderes Vermögen, das rezeptiv auf ein Anderes, auf Sein bezogen sein soll, lässt sich nach Heidegger weder im theoretischen noch im praktischen Bereich des Denkens finden.420 Die Vorlesung über den Satz vom Grund bestätigt damit, was sich in der Vorlesung über das Wesen der menschlichen Freiheit bereits andeutete: Einerseits scheinen sich Jacobi und Heidegger im Blick auf den Gegenstand ihrer Kritik durchaus zu ähneln. Beide kritisieren – so zumindest scheint es – die Herrschaft des Mechanismus durch eine Verabsolutierung rationalen Denkens. Andererseits aber verbindet sich ihre Kritik jeweils mit ganz anderen Argumenten, wie sich im Zusammen419 

Vgl. Sandkaulen (2000), S. 216. Alternative Begriffe für eine andere Art von Logik wären z. B. die Begriffe »Bekennen« und »Bezeugen«, die Peter Jonkers als »Schlüsselwörter« für die »Eigenart der […] substantiven Vernunft« bezeichnet, womit er allerdings wiederum einen theologischen Kontext ins Spiel bringt (Jonkers (2004), S. 374). Hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf Hannah Arendt, die Heideggers Ansicht bei ihren Überlegungen in Vita activa in diesem Punkt ausdrücklich widerspricht. Dort heißt es: »Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, daß in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und daß das, was »rational«, d. h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf« (Arendt [1958] (2007), S. 217). Vgl. auch Sandkaulen (2000), S. 216, Anm. 98. 420  Und dennoch gilt, dass – wie bereits im Zusammenhang mit dem Sprung ausgeführt wurde – Heidegger zugleich zwischen zwei Arten von Gewissheit unterscheidet, von denen eine wissenschaftlicher Natur ist und auf Begründung beruht, während die andere Art der Gewissheit sich auf ein Anderes verlässt, auf das es »hören« soll. Vgl. z. B. SvG 121: »Was ›Sein‹ heißt, können nicht wir, von uns aus beliebig ausmachen und durch Machtsprüche festsetzen. Was ›Sein‹ heißt, das bleibt geborgen in dem Geheiß, das aus den Leitworten des griechischen Denkens spricht. Was dieses Geheiß sagt, können wir niemals wissenschaftlich beweisen und beweisen wollen. Wir können es hören oder nicht.«

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hang mit der Unterscheidung von Grund und Ursache gezeigt hat. Während Jacobi in der Logik der Ursache das erblickt, was sich dem rationalen Zugriff generell entzieht, sieht Heidegger in eben diesen Aspekten, der Trennung, der Sukzession und der Absicht, gerade entscheidende Merkmale des rationalen Denkens, desjenigen Denkens also, das nur Seiendheit, nicht aber Sein, bzw. in anderer Terminologie nur Bedingtes, nicht aber Unbedingtes in den Blick bringen kann. Schon die Vorlesung über das Wesen der menschlichen Freiheit hatte gezeigt, dass sich Heideggers neues Denken im Unterschied zu Jacobis »Unphilosophie« nicht auf einen Begriff der Ursache, sondern vielmehr auf einen Begriff des Grundes stützen soll, eine Feststellung, die sich nun auf Grundlage der Vorlesung über den Satz vom Grund weiter präzisieren lässt. Man könnte sagen, dass Jacobi den Ursachebegriff aus seiner Unterordnung unter die Logik des Grundes zu befreien versucht, während Heidegger vielmehr auf einen Begriff des Grundes aus ist, der seinerseits von den durch den Begriff der Ursache wesentlich transportierten Aspekten befreit werden soll. Was in dieser Formulierung aber wie ein einfacher Gegensatz klingt, ist in Wahrheit komplizierter – ein Umstand, der auf die Frage nach dem Zusammenhang von Grund und Ursache zurückführt. Wo Jacobi von einer je eigenen Logik spricht, einer genuin logischen Beziehung im Grund-Folge-Verhältnis und einer realen im Ursache-Wirkungs-Verhältnis, geht Heidegger, wie gesehen, wesentlich von der Einheit von Grund und Ursache aus. Indem Heidegger aber überall nur eine einzige Logik am Werke sieht, richtet sich seine Kritik in gleichem Maße gegen den Grund im Sinne des Grund-Folge-Verhältnisses wie gegen die Ursache. Sie richtet sich also in gewisser Weise gerade gegen das rationale Konstrukt aus Grund und Ursache, das auch Jacobi kritisiert. Anders als bei Jacobi aber besteht die Kritik nicht darin, auf die Unterschiede der beiden Begriffe hinzuweisen. Vielmehr scheint es Heidegger im Gegenteil eher darum zu gehen, die Einheit beider Begriffe und der sich mit ihnen verbindenden »Logiken« aufzuzeigen, um dann beide als Ausdruck der einen Logik der Seinsvergessenheit und damit als für das Seinsdenken ungeeignet abzulehnen. Wenn aber Grund und Ursache gleichermaßen zum Gegenstand der Kritik werden, in welcher Weise ist dann der demgegenüber offenbar ganz andere Begriff des Grundes zu verstehen, der in der ›Sage vom Sein‹ seinen Ort hat? Die Antwort auf diese Frage lässt sich eigentlich bereits im vorangegangenen Kapitel finden. Denn der Begriff des Grundes, den Heidegger im zweiten Teil der Vorlesung über den Satz vom Grund als einen grundlegend neuen, von der Logik metaphysischen Denkens zu unterscheidenden präsentiert, verweist in seinen wesentlichen Bestimmungen auf den Begriff des Grundes, den Schelling in der Freiheitsschrift entwickelt. Dieser wiederum ist – wie ebenfalls deutlich wurde – seinerseits nur als ein ›Mischkonzept‹ im Sinne der von Jacobi kritisierten metaphysischen, das heißt unzulässigen Vermischung der beiden Begriffe von Grund und Ursache zu verstehen. Für die Denklandschaft Heideggers aber, die sich um



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den Sprung herum konturiert, bedeutet diese Feststellung, dass sich letztlich diesseits wie jenseits des Sprunges eine solche Einheit von Grund und Ursache findet, die in beiden Fällen mit dem Titel »Grund« belegt wird. Im Fall der Metaphysik rückt Heidegger dabei Momente in den Vordergrund, die Jacobis Analyse zufolge wesentlich der Ursachelogik entspringen. In diesem Sinne zielt sein sich davon abgrenzender Begriff des Grundes auch besonders auf eine Ablehnung ebendieser Momente, weshalb es durchaus zulässig scheint, von einem Grundbegriff zu sprechen, der von den Ursacheanteilen so weit wie möglich gereinigt scheint. Jacobi allerdings würde sagen, dass diese quasi explizit intendierte ›Reinigung‹ in Wahrheit gar nicht mehr nötig ist, weil die Herrschaft des Grundes die benannten Aspekte ohnehin zum Verschwinden bringt. Heideggers Versuch, dieses Verschwinden nun auch noch sprachlich auszudrücken, indem er den Begriff der Ursache und vor allem den des Wirkens nun durch andere wie »hin in das Da bringen« zu ersetzen sucht, stellt insofern die konsequente Fortsetzung dieses von Jacobi als metaphysisch charakterisierten Vorgehens dar.421 Die von Spinoza gedachte causa immanens, die die Trennung zwischen Tat und Täter, zwischen natura naturans und natura naturata einerseits gerade setzt, sie andererseits aber im selben Moment auch wieder aufhebt, bietet sich auch aus diesem Grund als Vorbild für Heideggers Seinsverständnis besonders an. Wie sich damit im Kontext des Verhältnisses von Grund und Ursache erneut bestätigt, ist die Kritik an der causa sui, die Heidegger von Spinoza und Schelling gleichermaßen zu trennen scheint, gerade kein Argument gegen einen solchen Vergleich, weil sich Heideggers Kritik an der causa gegen eine Trennung richtet, die sich bei Spinoza gar nicht findet. »Sobald das ›Sein‹«, so Heidegger in den Beiträgen, »nicht mehr das Vor-stellbare (idea) ist und sobald es demnach nicht mehr vom Seienden weg und ›getrennt‹ von ihm gedacht wird (aus der Sucht, es möglichst rein und unvermischt zu fassen), sobald das Seyn als das (in einem ursprünglichen Sinne des Zeit-Raumes) mit dem Seienden Gleichzeitige: als dessen Grund (nicht Ursache und ratio) erfahren und gedacht wird, gibt es selbst keinen Anlaß mehr her, nun auch noch wieder seinem eigenen ›Seyn‹ nach zu fragen, um es so vor-stellend noch weiter weg zu stellen« (BP 288 f.). So sehr sich Heidegger auch bemüht, den mit der Ursache verbundenen Begriff des »Wirkens« vom Verständnis des Seins fernzuhalten, so deutlich wird doch, dass auch sein Verständnis des Seins als Grund im Sinne der Sage vom Sein von Anteilen des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses lebt. Die Ersetzung des Begriffs »Wirken« durch »Her-vor-bringen« bzw. »in das Da bringen«422, oder des »Machtens« durch 421  In

seinen Seminarnotizen von 1941 heißt es: »Über Verursachung – Hervorbringung Her-vor-bringen – Her-aus der Verborgenheit; Vor – in die Unverborgenheit ›bringen‹ – es da-hin, hin in das Da bringen. Braucht nicht ›Bewirkung‹« (GA 86, 248). 422  Vgl. auch die Rede vom »Ereignis der Dagründung« (z. B. BP 247).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

»Walten« macht deutlich, dass Heidegger die mit dem Begriff der Ursache verbundene reale Trennung ablehnt, auf die er andererseits aber nicht verzichten kann. Mit dem Begriff der Ursache aber sitzt man – so Jacobi – nicht nur in Verhältnissen realer Trennung, sondern vor allem auch »in der Zeit unbeweglich fest« (Spin 417). Dem Problem der Zeit, das damit ins Spiel kommt und das sowohl bei Heidegger als auch bei Jacobi eine wichtige Rolle spielt, soll daher im Folgenden explizit zum Thema werden.

4. Die Aufhebung der Radikalität – Zeit und Geschichte 4.1 Sukzession versus ewige Zeitlichkeit Heideggers Ablehnung realer Trennung und die Favorisierung einer Vermischung von Grund und Ursache macht schon deutlich, dass sein Zugriff auf das Thema Zeit ganz anderer Natur sein wird als dasjenige Jacobis. Auch die oben zitierte Formulierung, nach der das Sein als das »mit dem Seienden Gleichzeitige« (BP 288) gedacht werden sollte, legt bereits den Schluss nahe, dass sich die Differenzen zwischen Heidegger und Jacobi im Hinblick auf diese Frage noch weiter vergrößern werden. Schon im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling und mit der Übernahme Schellingscher Strukturen zur Gestaltung der Seinsgeschichte war ja bereits deutlich geworden, dass Heidegger selbst eine Version der »ewigen Zeitlichkeit« präsentiert, wie Jacobi sie anhand von Spinoza kritisiert hatte. Andererseits aber ist das Problem der Zeit dennoch eines, das in Heideggers Werk eine entscheidende Rolle spielt, ein Umstand, der eine neuerliche Darstellung der Problematik – nun im Zusammenhang mit Jacobi – durchaus gerechtfertigt scheinen lässt. Bei Jacobi kommt das Thema Zeit mit der Unterscheidung von Grund und Ursache insofern ins Spiel, als das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung einen zeitlichen Unterschied mit sich bringen soll, während das logische Verhältnis von Grund und Folge ohne einen solchen Bezug auf die Zeit zu denken sei. Zeit meint in diesem Sinne ein Vorher und Nachher, d. h. eine Sukzession von Ereignissen, die nacheinander geschehen und dadurch real getrennt sind. Eine solche unvertauschbare zeitliche Abfolge ist uns in unserem alltäglichen Zugriff auf die Welt vollkommen vertraut. Sie ist uns ebenso vertraut wie der Satz vom Grund und das Gesetz der Kausalität, mithilfe derer wir die Welt erkennen. Andererseits aber ist »das Successive selbst […] das Unbegreifliche« (2 (1), 52), weil es – der Logik der Ursache zugehörig – im Bereich der Logik des Grundes keine wirkliche Entsprechung findet. Wenn die Herrschaft des Grundes daher auf die Aufhebung der Sukzession bzw. auf die Verbindung von Zeit und Zeitlosigkeit im Konzept einer »ewigen Zeitlichkeit«



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aus ist, dann macht Jacobi dagegen die Realität der Zeit stark, die durch die Logik der Ursache gegeben und aus der Erfahrung vertraut ist. Die Zeit ist das Problem, an dem »die Metaphysik scheitert«.423 Heidegger selbst wirft der Metaphysik vor, den Zusammenhang von Sein und Zeit nicht ausreichend beachtet zu haben, eine These, die er von Sein und Zeit bis in den späten Vortrag über Zeit und Sein hinein beibehält. Indem Metaphysik auf ewig gültige und so von aller Zeitbestimmung anscheinend unabhängige Wesenheit ausgerichtet sei, verfehle sie das wahre Wesen des durch Zeit gerade wesentlich bestimmten Seins. Zudem sei bereits in dem Verständnis der Ewigkeit als nunc stans in Wahrheit ein Bezug zur Zeit gegeben, der von der Metaphysik aber nicht gesehen werde. Allerdings ist schon bei einem flüchtigen Blick auf Heideggers Rede über die Zeit klar, dass es ihm im Gegensatz zur metaphysischen Ewigkeit keinesfalls auf Sukzession, auf das, wie er sagt, »vulgäre« Zeitverständnis eines »Früher und Später der Uhrenzeit« bzw. einer »Abfolge von Jetztpunkten« ankommt.424 Wo Jacobi der praktischen Vertrautheit eine theoretische Unbegreiflichkeit an die Seite stellt, scheint Heidegger vielmehr von der Vertrautheit im Umgang, von der Fraglosigkeit, mit der wir die Realität der Sukzession akzeptieren, auf eine Art von Verständlichkeit zu schließen, auf eine »Klarheit des Gemeinen und Gewohnten«, von der schon im Blick auf das Ursache-Wirkungs-Verhältnis die Rede war. Was selbstverständlich hingenommen wird, muss wohl, Heidegger zufolge, zugleich durch eine besondere Art der Verständlichkeit ausgezeichnet sein, die vom wahren Zeitverständnis mindestens ebenso weit entfernt ist wie ein metaphysisches Denken im Zeichen des ewigen »Anwesens«. Schon die ersten Dokumente der Beschäftigung Heideggers mit Schelling im Wintersemester 1927/28 weisen darauf hin, dass Heidegger dieser Auseinandersetzung einige Anregungen zum Problem des rechten Zeitverständnisses verdankt. Zunächst scheint Heidegger zwar in seiner Wertung unentschieden, sofern er der Auffassung ist, dass »Schellings Zeitbegriff der vulgäre« sei, nach der die Zeit als »der Ablauf eines Nacheinander« (GA 86, 548) begriffen werde. Zugleich aber äußert Heidegger sein Interesse an Schellings Vorstellung von Geschichte im Sinne des göttlichen Werdeprozesses. »Wenn bei Schelling«, so heißt es dort, »besonders in Bezug auf die Geschichte, die Zeit mit dem Werden in engem Zusammenhang steht, das Werden aber als Liebe gefaßt wird und die Liebe als das Sein Gottes, 423 

Sandkaulen (2000), S. 133. Vgl. auch die Beziehung zwischen Sukzession und Berechenbarkeit in Zeit und Sein: »Die als Nacheinander in der Jetztfolge bekannte Zeit meint man, wenn man die Zeit mißt und berechnet« (GA14, 15). Zu Heideggers Kritik am »vulgären« Zeitbegriff vgl. Marten (2003a und b), sowie Marten (1991), S. 107 ff. Rainer Marten kann hier überzeugend darlegen, dass die Kritik an der »Uhrenzeit« nicht nur unplausibel ist, sondern vor allem auf einem Mißverständnis unseres Umgangs mit der Zeit und der Zeitmessung beruht. 424 

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

dann muß auch in der Ewigkeit ein Werden sein, so daß sie nicht sein kann ein nunc stans, sondern etwas anderes. Hier ist wieder eine offene Frage« (ebd.). Diese durch die »offene Frage« gekennzeichnete Unentschiedenheit Heideggers wandelt sich dann in der Vorlesung von 1936 zu einer positiven Deutung, die Schellings Zeitverständnis nunmehr von dem »vulgären« Verständnis abhebt und zugleich die Vereinigung von Ewigkeit und Zeitlichkeit offen befürwortet: »Das Werden Gottes läßt sich nicht nach einzelnen Abschnitten am Nacheinander der gewöhnlichen ›Zeit‹ aufreihen, sondern in diesem Werden ›ist‹ alles ›gleichzeitig‹; gleichzeitig aber bedeutet hier nicht, daß die Vergangenheit und die Zukunft ihr Wesen aufgeben und zur reinen Gegenwart ›über‹gehen, im Gegenteil: Die ursprüngliche GleichZeitigkeit besteht darin, daß Gewesensein und Künftigsein sich behaupten und gleichursprünglich mit dem Gegenwärtigsein als die Wesensfülle der Zeit selbst ineinander schlagen« (VL 36, 136). Dabei spricht Heidegger vom »Walten eines ursprünglicheren Seyns, worin das Früher und Später der Uhrenzeit keinen Sinn hat« (ebd.). Es ist deshalb nicht abwegig, hier von einem Vorbild für ein »ursprüngliches« Zeitverständnis zu sprechen, das dem »vulgären« in Heideggers Augen klar überlegen scheint.425 Obwohl Heidegger also den Gedanken der Teleologie eigentlich ablehnt, weil er für ihn in den Bereich der Ursache und des Willensdenkens gehört, ist gerade das von Schelling in der Freiheitsschrift vorgelegte Verständnis einer Geschichte der Selbstwerdung Gottes für Heideggers eigenes Projekt von Bedeutung. »Das notwendig gewordene Denken«, so Heidegger in der Schellingvorlesung von 1941, »ist

425 

Auch die Vorlesung von 1941, die ja eigentlich den Versuch einer kritischen Abgrenzung von Schelling darstellt, unterstützt diese Deutung. Dort findet sich nämlich folgende Äußerung: »aeternitas als nunc stans? Sein heißt Ständigkeit in einer einzigen Anwesung. […] Vgl. Schelling, Die Weltalter ([…] auch nicht nunc stans, sondern »Überwindung der Zeit«, d. h. Einschluß!) Inwiefern hier die Prädikate, inwiefern Schellings Auslegung?« (VL 41, 85). Hier wird zugleich erneut deutlich, dass Heidegger in seiner Bewertung dessen, was Schelling denkt, unentschieden bleibt, eine Unentschiedenheit, die bereits 1927/28 in der Rede von der »offenen Frage« erkennbar ist. Vgl. zu diesem Thema v. a. die Untersuchungen von Claus-Artur Scheier, der davon ausgeht, dass das Hauptinteresse Heideggers an Schellings Freiheitsschrift eben in dem Versuch begründet liegt, ein »ursprüngliches« Zeitverständnis zu entwickeln. »Das Tertium comparationis, das Heidegger eigentlich berechtigt, die Dualität als Seynsfuge und so als (metaphysische) Gestalt der ontologischen Differenz zu denken, sind« – so Claus-Artur Scheier – »nach allem weder die Begriffe – Grund, Existenz, Sein, Seiendes – noch ihr fragliches logisches Verhältnis – Verschiedenheit, Gegensatz oder Widerspruch –, sondern jene vorlogische Verfassung, die Heidegger in Schellings Wendung vom ›Cirkel daraus alles wird‹ entdeckt, nämlich die ursprüngliche Zeitlichkeit Gottes« (Scheier (1996), S. 31). Vgl. auch Damir Barbaric, für den außer Frage steht, dass »die lebendig werdende Ewigkeit bzw. eigentliche Zeitlichkeit der Punkt ist, in welchem Heidegger den Grund der Verbindung des eigenen Philosophierens mit den radikalen Bemühungen Schellings, das Ganze des Idealismus in Frage zu stellen, angesehen hat« (Barbaric (1999), S. 219).



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ein geschichtliches Denken«, das weder »unmittelbar« noch »historisch« sein soll, sondern, so ist mittlerweile deutlich geworden, auf ein Sein zielt, das wesentlich als Seinsgeschichte verstanden werden muss. Was Heidegger in der Vorlesung von 1941 allerdings nicht sagt, ist, dass Schelling selbst sein Denken als »geschichtliches« Denken bezeichnet, das insofern gerade als Vorbild für die Seinsgeschichte dienen kann. Geschichtliches Denken, das gilt für Schelling und in ähnlicher Weise für Heidegger, ist ein Denken, das sich auf eine Welt richtet, die nur dann zu verstehen ist, wenn sie als Geschichte, d. h. als eine im Werden bzw. im Wandel begriffene Welt betrachtet wird. In diesem Sinne bleibt Heidegger auch in dieser vermeintlichen Abkehr von Schelling dessen Konzeptionen verbunden. Denn obwohl Heidegger bestimmte Vorstellungen ablehnt, die für Schelling zentral sind – Vorstellungen wie die vom absichtlich handelnden, persönlichen Schöpfergott – verlässt er doch nicht das Konzept einer Geschichtlichkeit, das – soviel wurde anhand der Überlegungen zur Freiheitsschrift bereits deutlich – aus der Verbindung des Gedankens ewiger Zeitlichkeit mit der Teleologie eines zielgerichteten Prozesses entsteht. In der Ablehnung der oben genannten Vorstellungen zeigt sich vielmehr – auch das wurde bereits im vorangegangenen Kapitel deutlich – dass Heidegger in dieser Hinsicht gerade diejenigen Anteile des Vermittlungsversuchs ablehnt, die bei Schelling auf den Einfluss Jacobis zurückzuführen sind.

4.2 Grundzüge der Seinsgeschichte – Ambivalenzen und Probleme Heideggers Versuch, Sein als Seinsgeschichte zu fassen, führt dem Problem der ewigen Zeitlichkeit entsprechend ebenso wie bei Schelling auf Ambivalenzen und innere Widersprüche, die aus der Verbindung von zeitlichen Verhältnissen mit solchen logischer Natur entstehen. Dies drückt sich unter anderem in den durchaus unterschiedlichen Darstellungen der Seinsgeschichte aus, die Heidegger über die Jahre hinweg vorlegt und die hier im Blick auf die Frage nach der jeweils zugrundeliegenden Vorstellung von Zeitlichkeit in den Blick genommen werden sollen. Dabei ließe sich vielleicht fragen, was das Problem der so verstandenen Geschichtlichkeit im Rahmen einer Untersuchung zu suchen hat, die doch den Strukturen von Metaphysikkritik gewidmet ist. Tatsächlich wird gerade im Zusammenhang mit der Darstellung von Seinsgeschichte deutlich, dass Heidegger die eigentliche metaphysikkritische Einstellung an einem bestimmten Punkt aufgibt und statt dessen beginnt, eine Art Metaphysik des Seins zu betreiben – ein Problem, auf das im Folgenden noch eigens zurückgekommen werden muss. Andererseits aber ist es doch auch so, dass die Seinsgeschichte selbst in enger Verbindung steht mit der Kritik an der Metaphysik und dem problematischen Übergang zum neuen Denken. In diesem Sinne ist die Darstellung auch unter diesem Gesichtspunkt gerechtfertigt, wie sich

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nicht zuletzt daran zeigen wird, dass die Problematik des Geschichtsverständnisses unmittelbar auf die Figur des Sprungs selbst zurückführt.426

a) Seinsgeschichte als (sukzessive) Metaphysikgeschichte Einerseits ist unter Seinsgeschichte wohl tatsächlich ein geschichtlicher Ablauf zu verstehen, der nicht nur sukzessiv gedacht ist, sondern sogar teleologisch aufgefasst werden muss, sofern im Übergang zum anderen Anfang das eigentliche Ziel des Prozesses zu erkennen ist. In diesem Sinne muss die Seinsgeschichte zunächst als Nacheinander zeitlicher Epochen gedacht werden, die konkreten Namen und damit real geschichtlichen Ereignissen zugeordnet werden kann. Seinsgeschichtliches Denken, so Heidegger in Besinnung, zielt auf das »Begreifen des Anfangs dieser Geschichte, ihres unumgänglichen Abfalls vom Anfang, der Selbstrettung ihres Anfangs (Descartes) und ihrer Vollendung (Nietzsche)« (Bes 78). Die so verstandene Seinsgeschichte hat ihren Ursprung bei den Griechen, deren Denken Heidegger noch als schöpferisch, und, zu einem bestimmten Zeitpunkt, auch als dem Sein offenbar auf zunächst ungeklärte Art und Weise angemessen gilt. Der Abfall von diesem Ursprung erfolgt im Umkreis des Denkens von Aristoteles und Platon, deren konkrete Rolle allerdings unklar bleibt.427 Was danach passiert, ist mit der Geschichte der Metaphysik gleichzusetzen, die sich als eine Art Vollendungsprozess des »im ersten Anfang Gesetzten« (d. h. in diesem Fall des im Abfall vom Ursprung Gesetzten) versteht. Es ist die Geschichte einer wachsenden Seinsvergessenheit, in der sich die Tendenz, Sein durch Seiendheit zu ersetzen, zunehmend verhärtet, um sich schließlich bei Nietzsche (und in gewisser Weise schon bei Schelling)428 zu vollenden. Mit Nietzsche scheint daher ein Endpunkt erreicht, von dem aus der Übergang zum neuen Denken erfolgen kann. Aus der Perspektive des Seins ist damit in gewisser Weise auch das Ziel erreicht, das in der Überwindung des metaphysischen Denkens gerade besteht. Im Rahmen einer Interpretation, die Seinsgeschichte als einen sukzessiv ablaufenden Prozess versteht, erscheint die Metaphysik selbst dann 426  Gerechtfertigt

ist die Darstellung wohl auch insofern, als viele Interpreten Heideggers gerade in dessen Zeitverständnis einen ganz neuen Ansatz erkennen, der insofern mit der Kritik an der Metaphysik und deren (angeblicher) Zeitauffassung wesentlich zusammenhängt. 427  Vgl. BP 64: »Dieses Denken war einmal – im ersten Anfang – bei Platon und Aristoteles noch schöpferisch. Aber es schuf eben den Bereich, in dem sich künftig das Vorstellen des Seienden als solchen hielt, in dem dann die Seinsverlassenheit sich immer verdeckter entfaltete.« 428  So zumindest legt es die Interpretation Schellings in den untersuchten Vorlesungen nahe. Interessant ist allerdings der Umstand, dass diese Interpretation in den seinsgeschichtlichen Abhandlungen keine Rolle mehr spielt. Statt dessen tritt Hegel als Vollender der Metaphysik an die Seite Nietzsches.



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nur noch als eine Art »Epoche«, die von einer entsprechenden Epoche des neuen Denkens abgelöst wird, die allerdings ihrerseits gerade das Ende der sukzessiven Bewegung darzustellen scheint.429 Nun ließe sich an dieser Stelle vielleicht einwenden, dass der Übergang zum neuen Denken ja gerade den Bruch markieren soll, der Heideggers Seinsgeschichte von einer teleologischen Geschichtsauffassung im Sinne Schellings abhebt. Der Übergang soll sich von einer linearen Fortsetzung ja gerade unterscheiden, und er darf, sofern er Sprung ist, auch nicht einfach mit einer Art mechanischer Notwendigkeit aus dem Ablauf der Geschichte erfolgen. Verweist der Übergang daher nicht auf eine offene Stelle innerhalb der Seinsgeschichte, die sich der Geschlossenheit eines Geschichtsprozesses, wie Schelling ihn denkt, widersetzt? Sofern es in diesem Zusammenhang eigentlich um die Parallelen zwischen Heidegger und Jacobi geht, muss diese Frage zweifellos im Auge behalten werden. Andererseits aber findet das Problem bei Schelling eben im Versuch, die menschliche Freiheit zu denken, eine Entsprechung. Der Moment der Verwirklichung der Freiheit des Menschen bildete seinerseits eine Art »Bruch« in der kontinuierlichen Entwicklung der Schöpfung. Die Nähe zu Schelling zeigt sich aber auch an einem weiteren Aspekt, der den genannten Einwand von vornherein einschränkt. Wie nämlich der Anfang der Geschichte bei Heidegger die Vorstellung eines Paradieses am Beginn aller Zeiten, den Zustand vor dem Abfall vom ersten Anfang evoziert, so verweist das Ende, das mit der Vorstellung des anderen Anfangs unmittelbar verbunden ist, auf einen entsprechenden Zustand am Ende bzw. ›nach‹ dem Ende aller Zeiten. Auch die Haltung Heideggers dem Sein gegenüber weist klare Parallelen zur Haltung des Gläubigen auf, der die Erlösung und das Heil, das Kommen des Messias erwartet. Gerade in dieser Hinsicht aber scheint die Seinsgeschichte auf Schellings Vorstellung eines Prozesses der Selbstoffenbarung Gottes zu verweisen. In der geschichtlichen Verortung tritt der Übergang vom metaphysischen zum neuen Denken an 429  Zum

Begriff der »Epoche« in diesem Zusammenhang vgl. SvG 97: »Was wir die Incubationszeit des Satzes vom Grund nannten, enthüllt sich jetzt als eine Epoche, in der das Sein sich als Sein entzieht.« Allerdings unterscheidet Heidegger anhand des Satzes vom Grund mehrere Epochen. Man könnte sagen, dass mit der »Incubationszeit« des Satzes vom Grund die Epoche der einfachen Seinsvergessenheit abgeschlossenen ist, und nun die einer Vergessenheit der Seinsvergessenheit folgt, die als Epoche des »entschiedeneren Entzugs« (SvG 100) bezeichnet wird. Vgl. auch SvG 98: »Wenn nun mit der Aufstellung des Satzes vom Grund als eines obersten Grundsatzes die Incubation des Satzes vom Grund ihr Ende findet, dann muß diese Beendung der Incubation darin beruhen, daß sich inzwischen das Geschick des Seins gewendet hat, vermutlich in dem Sinne, daß das Sein als solches erwacht ist und sich zum Vorschein bringt. Doch gerade dahin kommt es am Ende der Incubationszeit des Satzes vom Grund nicht. Im Geschick des Seins hat sich zwar etwas gewendet, aber in einem ganz anderen Sinne. Indem der Satz vom Grund eigens als oberster Grundsatz zur Herrschaft gelangt, wird die eigentliche Macht des Satzes vom Grund als principium rationis allererst losgelassen«.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

die Stelle des Übergangs von der Realisierung des Bösen durch den Menschen zur Überwindung des Bösen durch die Liebe Gottes – eine Überwindung, die wohl ebenfalls als ›Ende aller Zeiten‹ gedacht werden muss, und die ebensowenig ›mechanisch‹ aus dem Selbstwerdungsprozess Gottes erfolgen kann.

b) Seinsgeschichte als Realisierung des anfänglichen Seinsgeschehens Diesem Verständnis von Seinsgeschichte, das ein Nacheinander geschichtlicher Positionen und einen sukzessiven Ablauf vorstellt und das bei dem Begriff Seinsgeschichte immer auch gedacht werden muss, steht nun allerdings auch noch ein ganz anderes Verständnis entgegen, bei dem die Vermischung zeitlicher und prinzipieller Verhältnisse eindeutig erkennbar wird. Besonders gut lässt sich das Problem anhand der Abhandlung Über den Anfang darstellen, bei der der Übergang zum neuen Denken durch den Übergang zum »anderen Anfang« thematisiert wird. Die Geschichte des Seins ist hier wesentlich auf die zwei Anfänge, den »ersten« und den »anderen« Anfang bezogen. Schon die Bestimmung des Begriffes Anfang selbst macht den Unterschied zu Jacobis Verständnis ganz deutlich, weil sie sich wesentlich gegen die reale Trennung von Ursache und Wirkung richtet: Nach Heidegger ist der Anfang »nicht Anfang von einem Anderen, sondern dies Wort denkt hier das An-sich-nehmen und Auffangen dessen, was im an-sich-nehmenden Auf-fangen ereignet wird: die Lichtung der Offenheit, die Entbergung. Das An-sich-nehmen ist Entbergung und Verbergung zumal« (ÜA 10). Der Anfang »west«, wie es an anderer Stelle heißt, »nicht als Anfang dadurch, dass er eine Folge erfolgen läßt und zurückbleibt vor dieser, sondern darin, daß er zu sich selbst in das Hervorkommen eines Aufgehenden zurückgeht und im Rückgang sich zu eigen wird und ins Eigentum kommt« (ÜA 57). Durchaus naheliegend ist bei diesen Schilderungen erneut der Gedanke an das Konzept einer causa sui, deren explizite Zurückweisung sich ja vor allem auf einen Ursachebegriff stützte, der – paradox genug – gerade durch die reale Trennung charakterisiert sein sollte. Das belegt auch die Stelle, an der die Bestimmung des Anfangs als causa sui scheinbar zurückgewiesen wird. »Und der Anfang«, so Heidegger, »ist nicht Anfang von etwas Anderem, als er selbst ist; der Anfang ist auch nicht der Anfang seiner selbst, als wäre da an ein Herstellen und Verursachen gedacht« (ÜA 18, Herv. K.S.). Noch eindeutiger aber ist, dass der Begriff des Anfangs mit Schellings Vorstellung des schöpferischen Zirkels, des »Cirkels, daraus alles wird«, mehr oder weniger identisch ist. Einerseits deutet die Darstellung Heideggers dabei auf den Zirkel im Sinne des die Bewegung initiierenden und zugleich verkörpernden Prinzips hin, sofern Entbergung und Verbergung den Tendenzen des Grundes und der Existenz zuzuordnen sind. Andererseits aber legt die Rede vom »Aufgehen«, »sich zu eigen werden« und »ins Eigentum kommen« auch eine Paral-



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lele zur Selbstwerdungsgeschichte Gottes nahe, die zugleich eine Perspektive auf das Ganze erkennen lässt. Sofern es sich damit beim als »anfänglich« gekennzeichneten Sein offenbar um eine Spielart des schöpferischen Zirkels handelt, erstaunt es nicht, dass das Verhältnis zwischen den beiden Anfängen seinerseits nicht als ein eindeutig zeitliches zu verstehen ist. An die Stelle der Sukzession tritt eine Art von Zirkularität, die sich unter anderem in einem scheinbar verwirrenden Verhältnis von »Früher« und »Später« ausdrückt. »Das Anfänglichere des ersten Anfangs«, so Heidegger, »ist nicht das Frühere sondern ein Späteres« (ÜA 13). »Sein ist ›Zeit‹« bedeutet eben, so Heidegger in Die Geschichte des Seyns, dass Seyn das »Gewesende und das Kommende zumal« ist, das, »was als das Anfängliche kommt« (GA 69, 142). Der Übergang zum neuen Anfang darf daher nicht als eine zeitliche Vorwärtsbewegung missverstanden werden, sondern muss vielmehr als ein Rückgang in den ersten Anfang gedacht werden, der dadurch »wiedergeholt«, und in dieser Wiederholung zugleich ursprünglicher angefangen werden soll. Infolgedessen ist naheliegend, dass die Vorstellung einer zeitlichen Sukzession bei der Darstellung des anfänglichen Denkens nun auch explizit abgelehnt wird. Die »Geschichte des Seyns«, so Heidegger, kennt »nicht nur kein ›Zurück‹, sie kennt auch kein ›Vorwärts‹, weil es dieses nicht gibt, gibt es auch nicht jenes. In ihr und als sie wesen die Jähen der Stiftung und des Sturzes, und das ›Zwischen‹ ist die Dauer der Begebenheiten als Verhüllungen der Vorbereitungen und Ausläufe: das Unwesen der Jähe« (GA 69, 94). An die Stelle eines zeitlichen Verhältnisses zwischen den Anfängen tritt der Gedanke ihrer »Einzigkeit«.430 Jedes Geschehen, das von seinsgeschichtlicher Bedeutung wäre (welche das sein könnten, bleibt sowohl in Über den Anfang als auch in Die Geschichte des Seyns offen), wird damit auf den einen, einzigen Anfang bezogen und nicht auf ein anderes Geschehen, das zeitlich gesehen früher oder später stattgefunden hätte. Geschichte selbst ist diesem Verständnis zufolge »jeweiliger Anfang, als Entscheidung über das Wesen der Wahrheit« (ÜA 181) und insofern gerade nicht als eine »Abfolge von Anfängen« (ebd.) zu begreifen. Das nämlich »wäre wieder historisch gedacht und von einem scheinbaren Standort außerhalb gesehen. Zwischen den Anfängen Klüfte, ihr Ragen in das Selbe; das kein Allgemeines, sondern je das Einzige […]« (ebd.). Geschichtlich zu denken bedeutet demzufolge, jedes Geschehen aus dem ›Grundgeschehen‹ des anfänglichen Seins heraus, als je einzigartige und unvergleichliche 430 

Eine ähnliche Vorstellung findet sich aber auch schon in den Beiträgen. Was hier »Anfang« genannt wird, trägt dort den Titel »Ereignis«: »Die Seynsgeschichte kennt in langen Zeiträumen, die ihr nur Augenblicke sind, seltene Ereignisse. Die Ereignisse als solche: Die Zuweisung der Wahrheit an das Seyn, der Einsturz der Wahrheit, die Verfestigung ihres Unwesens (der Richtigkeit), die Seinsverlassenheit des Seienden, die Einkehr des Seyns in seine Wahrheit, die Entfachung des Herdfeuers (der Wahrheit des Seyns) […], das Aufblitzen der einmaligen Einzigkeit des Seyns« (BP 227 f.).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

Realisierung des Seinsgeschehens zu verstehen, indem die demgegenüber äußerliche und objektive Perspektive auf einen zeitlichen Ablauf aus der Betrachtung ausgeblendet wird. Auch diese scheinbar ganz neue Sicht lässt sich allerdings – durch den eindeutigen Bezug auf Schellings schöpferischen Zirkel scheint ein solcher Vergleich legitim – auf ein Problem beziehen, das schon in Spinozas Ethik eine Rolle spielt. Spinoza nämlich unterscheidet selbst zwischen zwei Hinsichten, nach denen die Dinge begriffen werden können: »entweder insofern wir sie als existierend in Beziehung auf eine gewisse Zeit und einen gewissen Raum begreifen oder insofern wir sie als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend begreifen.«431 Bei Heidegger müsste es folglich dieser Darstellung zufolge um die zweite Variante gehen. Denn auch wenn hier an die Stelle der »Dinge« nunmehr »Ereignisse« treten, die eine Realisierung des Seins«geschehens« darstellen, ist die Parallele doch kaum zu übersehen. Wenngleich Heidegger hier offenbar versucht, mit den Vorstellungen von Sukzession und realer Trennung jede Assoziation des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses vom anfänglichen Denken fernzuhalten, zeigt sich doch, dass die Vorstellung eines Entstehens und damit eine Art von schöpferischer Tätigkeit immer mitgedacht werden muss.432 In diesem Sinne kann denn auch nicht die Rede davon sein, dass es sich bei der Darstellung der Seinsgeschichte unter der Perspektive dessen, was Heidegger »Anfang« nennt, nunmehr um die Erfassung eines in Wahrheit nicht zeitlich, sondern ausschließlich prinzipiell zu denkenden Verhältnisses handelt. Vielmehr geht es um eine Verwirrung von zeitlichen und logischen Zusammenhängen, auf die Jacobis Rede von der Verwechslung von Grund und Ursache gerade zielt, und die sich bei einem genaueren Blick auf die hier zugrundegelegte Struktur von Sein erkennen lässt: Der Blick auf die beiden Anfänge offenbart eine komplexe Struktur von Sein, die Heidegger zufolge »ereignishaft« verstanden werden muss. Diese Struktur hat ihre Grundlage zunächst einmal in der bereits mehrfach thematisierten gegenläufigen Tendenz von Zuschicken und Entzug, von Entbergung und Verbergung. Sein offenbart sich im ersten Anfang als Seiendes, wobei es sich zugleich als Sein selbst in die Verbergung entzieht. Das Denken des ersten Anfangs, das Sein als Seiendes denkt, muss demzufolge offenbar notwendig seinsvergessenes Denken 431 

Ethik V, LS 29, Anm. Vgl. die Überlegungen in Kapitel II, Abschnitt 3 der vorliegenden Arbeit. Wo Heidegger auch explizit auf ein solches Verhältnis zu sprechen kommt, muss denn auch eine Art von Trennung angenommen werden, die im Folgenden unter den Bezeichnungen »Loslassen« bzw. »Verabschiedung« ausgedrückt wird: »Aus dieser Eigentümlichkeit, dem Zurückgehen in das eigenen Aufgehen (darin west die Verbergung) entspringt eine Wesensauszeichnung des Anfangs, daß er je alsbald das Angefangene in sein Beständigtes [sic!] Wesen losläßt […]« (ÜA 57). Vgl. auch den folgenden Passus: »Die Verabschiedung des Seienden bringt (ereignishaft, nicht als Wirkungszusammenhang) das Seiende erst in die Seltenheit seiner dem Seyn eigenen Wesenseinfachheit und Erstmaligkeit« (ÜA 38). 432 



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sein. Gleichzeitig aber ist Sein selbst, als ursprüngliches Sein, damit immer noch unzureichend charakterisiert. Sein, so scheint es, will selbst nicht nur als Seiendes offenbar werden, sondern als das sich im Zuschicken des Seienden entziehende Sein selbst.433 Aus dieser Perspektive nun, die die Perspektive des »anderen Anfangs« ist, erscheint die Seinsvergessenheit als eine Art Versagen des erstanfänglichen Denkens. Um Sein selbst, in seiner »anfänglichen« bzw. ursprünglichen Anfänglichkeit zureichend zu erfassen, bedarf es daher eines Schrittes über das Denken des ersten Anfangs hinaus. Erst eine Art von Metablick auf die Bewegung von Zuschicken und Entzug entspricht dem Sein selbst und ist so als wahrhaftes Seinsdenken zu bezeichnen.434 Das wahrhaft ursprüngliche Sein ist aus diesem Grund nicht unmittelbar, sondern nur über einen vermittelnden Schritt erkennbar. Indem diese Schritte nun als Geschichte gedeutet werden, blendet Heidegger auch hier wieder den Faktor Zeit in die Struktur ein. Das ursprüngliche Sein ist nämlich einerseits für den Erkenntnisprozess notwendig als ein »Späteres« gesetzt, obwohl es, von der Perspektive des sich entziehenden Seins selbst, das Frühere bzw. der Ursprung selbst ist. Andererseits aber soll dieser Umstand eben nicht nur dem verstehenden Zugang, sondern dem sich entziehenden Sein selbst geschuldet sein. Für das geschichtlich sich entwickelnde Denken gilt daher, dass es sich notwendigerweise zunächst auf das Seiende richten muss, bevor es in einem zweiten Schritt Sein nicht nur als Grundlage des Seienden, sondern zugleich in seiner Entzugsnatur erkennen kann. Das wiederum bedeutet aber, dass Sein sich zunächst offenbar wirklich aktiv entziehen muss, bevor es als Entzug erkannt werden kann. Dadurch gilt, dass eine Seinsvergessenheit, die mehr ist als ein bloßes ›Nichtachten‹ auf das Sein, zugleich die Voraussetzung wie auch ein Problem für den Übergang zum neuen Denken darstellt.

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Dass das ›Absolute‹ erst in der Rückkehr zu sich wirklich als Absolutes bestimmt ist, es in diesem Sinne kein Erstes sein kann, ist ein Verständnis, das sich ebensosehr innerhalb des am Modell des Selbstbewusstseins orientierten idealistischen Denkens ausdrückt. In gewisser Weise liegt diese Vorstellung eben auch Schellings Geschichtsdarstellung zugrunde, die sich daher ebenfalls als zeitliche Ausformulierung einer zunächst nicht zeitlich zu denkenden Struktur beschreiben lässt. Vor dem Hintergrund eines Vergleichs mit Schelling scheint es naheliegend, den zweiten Anfang auf die Ebene des die Unterscheidung von Grund und Existenz gewissermaßen begründenden Ungrundes zu beziehen, der in einem zweiten Schritt selbst ins Denken gehoben werden soll. Der Unterschied im Blick auf die aus den jeweiligen Darstellungen resultierende Geschichte müsste dann wohl darin zu sehen sein, dass sich Gott bei Schelling in gewisser Weise als »Herrscher« über den Grund und damit über seine eigene dunkle Tendenz verwirklicht, während Heidegger darauf aus wäre, den Ungrund als Ungrund eigens zu erfassen. 434  In der Terminologie Schellings entspräche dem die Selbstoffenbarung und zugleich damit die Entstehung eines wahren Selbstbewusstseins Gottes.

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

Exkurs: Die Vermischung prinzipieller und zeitlicher Vorgängigkeit in Sein und Zeit Das Problem, das hier die Struktur des sich geschichtlich zuschickenden Seins betrifft, findet eine Vorlage in der Struktur von »Dasein«, wie Heidegger sie in Sein und Zeit entwirft. Hier sei nur ein kurzer Blick darauf geworfen, um das Problem der Vermischung von unzeitlichen und zeitlichen Verhältnissen zusätzlich aufzuklären. Sein und Zeit ist insofern gut geeignet, die strukturellen Probleme aufzudecken, als Heidegger hier mehr Aufmerksamkeit auf die Bestimmung der Struktur und der sie konstituierenden Momente legt. Dasein, um dessen Sein es hier zunächst ausschließlich geht, ist Sein und Zeit zufolge als dreiteilige Struktur zu erfassen. Es ist Entwurfstätigkeit und als solches »Sich-Vorweg-Sein«, dabei aber in der Entwurfstätigkeit insofern beschränkt, als es sich auf eine bereits gegebene Welt bezieht und damit zugleich »In-der-Welt-Sein«. Daneben aber ist es nicht nur »in« der Welt, sondern ebensosehr auch »bei« dieser Welt, es ist, so Heideggers Ausdrucksweise, an die Welt »verfallen«. Sofern das »Verfallen« als Strukturmoment gehandelt wird, hängt es zugleich eng mit dem Moment der »Geworfenheit« zusammen, weil sich in beiden Bestimmungen eine Faktizität ausdrückt, die sie von der Entwurfstätigkeit grundlegend unterscheidet. Dasein ist immer schon in einer Welt; das bedeutet, dass es nicht erst ein leeres, allgemeines Bewusstsein ist, das sich auf Welt in einem zweiten Schritt bezieht, sondern dass es immer schon in der Welt und damit immer auch schon ein »Sein bei« dieser Welt ist. Unter dem Titel des »Verfallens« aber spielt das zunächst als Strukturmoment aufgefasste »Sein-bei« eine doppelte Rolle. In seiner Verfallenheit an die Welt nämlich soll sich zugleich einer von zwei möglichen Seinsmodi ausdrücken, der als »Uneigentlichkeit« bestimmt wird.435 Im Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Verfallenheit und Uneigentlichkeit einerseits und dem von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit andererseits zeigen sich nun die Parallelen zum oben skizzierten Seinsgeschehen und dem fraglichen Übergang zum neuen Anfang. Sofern die Verfallenheit zur Seinsstruktur gehört, ist sie konstitutiv und damit unabhängig von einer Zeitbestimmung. Dasein ist – in diesem Sinne – notwendig verfallen und kann aus diesem Grund die Verfallenheit auch nicht überwinden. Wenn Heidegger im Blick auf die Seinsstruktur dennoch eine zeitliche Bestimmung verwendet, indem er sagt, Dasein finde sich »immer schon« in einer Welt vor, dann drückt sich darin der Bezug einer, so könnte man sagen, zeitlich konkreten Realisation dieser Struktur auf sich selbst aus. Dasein ist durch seine Strukturmomente bestimmt, auf die 435  Darauf

weist auch Barbara Merker hin: »Heideggers Bestimmung der Verfallenheit ist notorisch zweideutig; zum einen meint sie formal den Aspekt der intentio recta, zum anderen konkret die Seinsweise der Uneigentlichkeit« (Merker (2007), S.119).



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es keinen Zugriff hat. Seine eigene Struktur kann es nicht bestimmen und folglich auch in der Zeit nicht ändern. In demselben Sinne, in dem gilt, dass Dasein »immer schon« in einer Welt ist, ist es auch »immer schon« in einer Entwurfstätigkeit »sich vorweg«, ist es »immer schon« verfallen. Wenngleich die Struktur des »geschichtlich« zu denkenden Seins zu der Struktur von Dasein in Sein und Zeit deutliche Unterschiede aufweist, gilt doch, dass das Moment des Entzugs auf ähnliche Probleme führt wie das des Verfallens. Weil die ›Bewegung‹ der Seinsgeschichte den Entzug als strukturelles Moment voraussetzt, scheint dieser auch ebenso notwendig und folglich zeitunabhängig zu sein, wie das Verfallen als »Sein-bei«. Sein hat sich, so könnte man in Anlehnung an Sein und Zeit formulieren, »immer schon« entzogen. Daher gilt auch, dass Sein »immer schon« als Seiendes erkannt wird. Von diesem Standpunkt aus betrachtet scheint es aber so, als könne es gar keinen Zeitpunkt geben, an dem Sein anders erkannt werden könnte denn als Seiendes, weil dies einer Aufhebung der grundlegenden Struktur gleichkäme. Sobald Sein ist, wird es notwendig als Seiendes erkannt. Damit gäbe es allerdings weder einen Zustand »vorher«, in dem Sein sich noch nicht entzogen hätte, noch einen Zustand »danach«, in dem Sein sich nicht mehr entzöge – weder ein goldenes Zeitalter am Anfang noch eine Erlösung am Ende. Gerade davon aber war im Blick auf die Seinsgeschichte als Metaphysik die Rede. Dass dies so ist, liegt an der bereits erwähnten Vermischung zeitlicher und nichtzeitlicher Verhältnisse, die im Folgenden noch deutlicher werden soll. Was zunächst noch mehr oder weniger eindeutig klingt, wird nämlich kompliziert und verworren dort, wo in Sein und Zeit die zweite Bedeutung der Verfallenheit ins Spiel kommt, die mit dem Modus der Uneigentlichkeit identisch ist. Dasein befindet sich, so Heideggers Behauptung, »zunächst und zumeist« im Modus der Uneigentlichkeit. Faktisch findet sich Dasein also »immer schon« im Modus der Uneigentlichkeit vor. Zugleich aber ist im »zunächst und zumeist« nun eine wirklich zeitliche Bestimmung insofern ausgedrückt, als der faktische Ausgangszustand der Uneigentlichkeit kein notwendiges Strukturmoment, sondern eine von zwei möglichen Seinsweisen bezeichnet, die sich hinsichtlich ihrer »Ursprünglichkeit« voneinander unterscheiden sollen. Was Dasein »eigentlich« ist, wird durch den Modus der »Uneigentlichkeit« gerade verstellt. Der Zeit nach also befindet sich Dasein – so zumindest Heideggers Behauptung – immer zuerst im Modus der Uneigentlichkeit. Gleichzeitig aber ist darin eine Art von ›Abfall‹ von der eigentlichen Seinsweise zu sehen, die somit im Blick auf die Ursprünglichkeit, d. h. aber gerade nicht in einem zeitlichen Sinne, als »das Erste« zu gelten hat. Der Weg, den Dasein folglich einzuschlagen hat, besteht in einer Überwindung der Uneigentlichkeit durch die Realisierung seines ursprünglichen Wesens. Was Dasein zu Beginn offenbar faktisch nicht ist, kann es doch immerhin zu einem späteren Zeitpunkt noch werden.

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Während der Entzug als Strukturmoment des Seins Parallelen zur Verfallenheit aufweist, lässt sich nun eine Parallele zwischen dem Problem des Verhältnisses von erstem und anderem Anfang und den Modi von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit erkennen. Der erste Anfang, in dem Sein sich als Seiendes zuschickt und damit auch als ein solches erkannt wird, ist dem Modus der Uneigentlichkeit vergleichbar, der im anderen Anfang überwunden werden soll. Einerseits gilt der erste Anfang auch zeitlich als Ausgangspunkt der Seinsgeschichte. Sein wird demnach zu Beginn als Seiendes erkannt. Dieser erste Anfang aber kann, wie die Forderung nach dem Übergang zum neuen Anfang nahelegt, zu einem späteren Zeitpunkt überwunden werden. Andererseits aber ist der erste Anfang im Sinne der Uneigentlichkeit schon als ein Abfall vom »eigentlichen« Sein zu verstehen. Dadurch ist er zwar zeitlich betrachtet als »das Erste« bestimmt, weil er den faktischen Ausgangspunkt bildet. Im Blick auf die »Ursprünglichkeit« aber ist das »Frühere« des »ersten Anfangs« als ein »Späteres« bestimmt. Daher ist einleuchtend, dass Heidegger nicht von einem »zweiten«, sondern eben von einem »anderen« Anfang redet, der durchaus eine Art »Modifikation« des ersten Anfangs darstellt. In diesem Sinne fordert Heidegger deshalb einen »Rückgang« in den ersten Anfang, der sich zugleich als Wiederholung des »ersten« Anfangs, nun aber im Modus des anderen Anfangs verstehen lässt. Ähnlich scheint die Bestimmung des Übergangs von der Uneigentlichkeit zur Eigentlichkeit in Sein und Zeit auszufallen, in der Heidegger von einem Nachholen des das eigentliche Sein ausmachenden Aktes spricht. Dasein gründet, so Heidegger in Sein und Zeit, auf einem freien Entschluss zu den eigenen Möglichkeiten.436 Damit wird die den Anfang kennzeichnende Faktizität auf gewisse Weise eingeschränkt, wenn nicht gar zurückgenommen, ein Problem, auf das hier allerdings nicht weiter eingegangen werden kann.437 Zugleich aber bleibt vor diesem Hintergrund unklar, warum sich Dasein »zunächst und zumeist« für die Uneigentlichkeit überhaupt entschieden haben soll. Dass es zu Beginn, wie Heidegger behauptet, notwendig im Modus der Uneigentlichkeit erscheint, lässt sich letztlich nur aus dem Umstand erklären, dass Heidegger hier die strukturelle Bestimmung des Verfallens als »Sein-bei« mit der zeitlich bestimmten Charakterisierung des Verfallens als ver436 

Der Uneigentlichkeit liegt, wie Heidegger formuliert, »mögliche Eigentlichkeit« zugrunde. Vgl. z. B. SZ 193: »Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. Sofern nun aber dieses Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird, kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise« (Herv. Heidegger). 437  Vgl. dazu z. B. die Interpretation von Günter Anders: »Mit dieser Selbstwahl versucht H. also den Skandal der ›Geworfenheit‹ zu reparieren. Obwohl der Mensch als geworfenes Dasein nicht eigentlich ist, ist offenbar nicht alles verloren. Die Geburt zum eigentlichen Dasein ist ihm als seine Aufgabe belassen, und da die Eigentlichkeit in nichts anderem besteht, als darin, daß sie eigene Leistung ist, so spricht sich das Dasein zu: Werde du selber« (G. Anders: ›Wesen und Eigentlichkeit, namentlich bei Heidegger‹ (1936) in: Anders (2001), S. 36 f.).



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änderlichem Modus vermischt. Genau dies aber scheint auch für das Verhältnis von erstem und anderem Anfang insofern zu gelten, als die Überwindung des ersten Anfangs zugleich ermöglichen soll, Sein aus der durch den Entzug bedingten Vergessenheit herauszuholen. Die Rede von »immer schon«, ebenso wie die von »zunächst und zumeist«, zeigt an, wie Heidegger in Sein und Zeit zeitliche und prinzipielle Ebene vermischt. Daher erstaunt es nicht, dass Heidegger diese Bestimmungen auch im Rahmen der Vorlesung über den Satz vom Grund zur Kennzeichnung des »gewohnten« Verständnisses verwendet. »Diese gewohnte Art unseres Bezuges zum ›Sein‹, so Heidegger in Der Satz vom Grund, »gehört notwendig zu der Weise, wie der Mensch zunächst und zumeist, innerhalb des Seienden sich aufhaltend, dem Geschick des Seins entspricht« (SvG 155). Wie »man« »zunächst und zumeist« ist, handelt und versteht, wird von Heidegger stets mit einer uneigentlichen Einstellung und damit mit einer zu überwindenden Seinsvergessenheit in einen Zusammenhang gebracht. Diese Behauptung ist aber ihrerseits nicht aus der von Heidegger vorgestellten Struktur von Sein abzulesen. Sie scheint zwar insofern durch die Strukturen begünstigt, als im Moment des »Seins bei«, bzw. im Entzug des Seins offenbar die Möglichkeit des Verfallens an die Welt bzw. an das Seiende als Seiendes begründet liegt.438 Wie sich aber die strukturelle Bestimmung im »zunächst und zumeist« in eine zeitliche verwandelt, bzw. was den prinzipiellen, in der Struktur gegründeten und damit unaufhebbaren Entzug des Seins von einer zu überwindenden und überhaupt erst zu kritisierenden Seinsvergessenheit unterscheidet, bleibt in beiden Fällen ungeklärt. Exkursende

438 

Eine mögliche Deutung des uneigentlichen Verfallens im Ausgang vom zunächst neutral zu verstehenden »Sein bei« könnte man sich in etwa wie folgt vorstellen. »Sein bei« meint zunächst nichts weiter als den einfachen Gegenstandsbezug des Bewusstseins, die intentio recta. In dieser Einstellung erkennt Dasein die Welt gewissermaßen als Ding. An die Welt verfallen aber ist es erst dann, wenn es in der Rückwendung des Bewusstseins auf sein eigenes Sein in dieser Einstellung der intentio recta verharrt. Es erkennt dann auch sein eigenes Sein aus dem Sein der ihm zunächst gegenüberliegenden Dinge. ›Richtig‹ wäre es demgegenüber, nicht nur das eigene Sein aus sich heraus, d. h. aus der dem Dasein eigenen Struktur einerseits und aus seinem »Seinkönnen« andererseits zu verstehen, sondern in einem weiteren Schritt auch die Dinge, die dadurch ihren gewissermaßen ›naiven‹ Dingcharakter verlören. Ähnlich ließe sich auch die Kritik an der Seiendheit fassen. Sofern sich die Erkenntnis auf die einzelnen Dinge als solche bezieht, wäre die »gemeine« Einstellung noch nicht verkehrt zu nennen. Wirklich verstellend wird es erst da, wo der Blick auf das Sein des Seienden aus der Seiendheit heraus erfolgt, anstatt den umgekehrten Weg zu gehen. Allerdings wird dieser Unterschied von Heidegger nicht eigens bezeichnet. Daneben scheint die Rede vom Entzug des Seins bereits stärker als das »Sein bei« in Sein und Zeit den Aspekt einer wirklichen Verfehlung von Sein zu transportieren.

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Dass nun also die besagte Struktur von Sein, die sich in zwei Anfänge differenziert, zur Grundlage der Seinsgeschichte wird, wirft ein neues Licht auf Heideggers Rede von der Seinsgeschichte, die »nur die Anfänge« zu denken versucht. Eine solche Rede schien ja zunächst immer noch den Bezug auf die Metaphysikgeschichte zu enthalten, die als Geschichte des »erstanfänglichen« Denkens bezeichnet werden könnte. In der Abhandlung Über den Anfang, die sich dagegen fast ausschließlich auf die Bestimmung von erstem und anderem Anfang konzentriert, gerät der Bezug zu einer auch zeitlich zu denkenden Metaphysikgeschichte noch weiter in den Hintergrund.439 Gerade weil gilt, dass der erste Anfang zunächst neutral als Bewegung des Seins selbst bzw. als notwendiges Strukturmoment erscheint, weil also das Erscheinen des Seins im Seienden nicht mit der seinsvergessenen Fixierung auf das Seiende (dem »Verfallen« im Sinne der »Uneigentlichkeit« in Sein und Zeit vergleichbar) identisch ist, kann es nun vielmehr heißen, dass Metaphysik »seynsgeschichtlich nichts Anfängliches« (ÜA 86) darstelle. Während es also in den Beiträgen noch hieß, die »Geschichte des ersten Anfangs [sei] die Geschichte der Metaphysik« (BP 175),440 wird eine solche Identifizierung nach Über den Anfang strikt abgelehnt. Vor dem Hintergrund dessen aber, was über den Übergang als Sprung und die damit verbundene Rolle der Metaphysik gesagt wurde, wäre diese Konsequenz für Heideggers Konzept durchaus problematisch. Daher behält der Gedanke, dass der Übergang zum neuen Anfang in irgendeiner Weise an die Vollendung der Metaphysik gebunden sein soll, auch hier noch seine Gültigkeit. Irgendein Bezug zwischen der sukzessiv ablaufenden Metaphysikgeschichte und den dagegen auf gewisse Weise unzeitlich zu denkenden Verhältnissen von erstem und anderem Anfang muss daher angenommen werden: »Sofern aber dieses Ende der Metaphysik zugleich als ihre Vollendung das Ganze der Metaphysik enthält, sofern die Metaphysik die einzige (weshalb?) Möglichkeit des Fortgangs des Anfangs ist, muß«, so Heidegger in Über den Anfang, »zugleich in der Vollendung der Metaphysik der Untergang des ersten Anfangs sich verbergen« (ÜA 86 f.). Das in Klammern eingeschobene »weshalb?« markiert dabei die bereits oben formulierte Frage nach dem Zusammenhang von strukturell bedingtem Seinsentzug und überwindbarer Seinsvergessenheit im metaphysischen Denken. Der Widerspruch, der aus dem Versuch einer Verbindung von zeitlich-sukzessiver Abfolge und unzeitlich gedachten Verhältnissen resultiert, schlägt sich also bei Heidegger unter anderem in der Frage nieder, wie die beiden Anfänge mit der 439 

Dass Heidegger allerdings auch hierbei nicht eindeutig ist, zeigen die verschiedenen Versuche, Metaphysikgeschichte durch bestimmte, seinsgeschichtlich relevante Ereignisse zu strukturieren. In diesem Sinne scheint es doch mehr als nur die zwei »Anfänge« zu geben. Vgl. z. B. ÜA  47 f. 440  Vgl. auch BP 59: »Das anfängliche Denken verlegt sein Fragen nach der Wahrheit des Seyns zurück in den ersten Anfang als den Ursprung der Philosophie«.



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Geschichte der Metaphysik verbunden werden können, wobei vor allem der Übergang vom ersten Anfang zur Metaphysikgeschichte und der entsprechende Übergang von der Metaphysikgeschichte zum anderen Anfang ein Problem darstellt.441 Zwischen den ersten und den anderen Anfang tritt ja, wie es scheint, überhaupt nur durch die ›Epoche‹ der Metaphysik ein Unterschied der Zeit,442 sofern sich nur im Blick auf die Metaphysikgeschichte der erste Anfang als Anfang, und der andere Anfang als eine Art von Ende verstehen lässt. Zudem scheint die Metaphysikgeschichte als ›Irrweg‹ des Seins ja durchaus nötig, um den anderen Anfang möglich zu machen.443 In diesem Zusammenhang wirkt sich aus, dass Heidegger das im »weshalb?« angedeutete Problem selbst offenbar nicht eigens bedenkt, wie sich in der Unklarheit ausdrückt, ob der erste Anfang nun schon den Anfang der Metaphysikgeschichte selbst darstellen soll, oder ob es stattdessen einen Übergang vom ersten Anfang zur Metaphysik gegeben haben müsse, der als eine Art »Abfall« vom eigentlichen, anfänglichen Sein zu denken wäre. Einerseits nämlich scheint es so, als ginge die Entwicklung des metaphysischen Denkens durchaus notwendig aus dem ersten Anfang hervor. Heideggers Rede von den im ersten Anfang gesetzten Schwierigkeiten, an denen Schellings Freiheitsschrift der Vorlesung von 1936 zufolge scheitern musste, deutet bereits darauf hin. Aber auch seine späteren Entwürfe zur Seinsgeschichte scheinen – zumindest teilweise – auf diesen Gedanken zurückzugehen. Die metaphysische Denkweise ist demnach selbst ein Resultat der gegenläufigen Bewegung des Seins, wodurch sich zugleich als notwendiges Resultat erweist, dass Sein sich am Ende der Geschichte als Wille zur Macht offenbart: »Daß das Sein zur Macht wurde und werden mußte, ist«, so Heidegger in Die Geschichte des Seyns, »eine Zulassung seines eigenen Wesens, das seit dem ersten Aufgang der Gründung seiner Wahrheit und damit des Wesens der Wahrheit entbehren mußte« (GA 69, 62). Andererseits aber spricht Heidegger auch explizit von einem »Abfall« (BP 172)444 vom ersten Anfang, demzufolge die in der Metaphysik erfolgende Deu441  Das

Problem lässt sich unter anderem an Heideggers zahlreichen Versuchen ablesen, die Seinsgeschichte sinnvoll in ›Epochen‹ zu gliedern. Vgl. z. B. ÜA 98, 102 f., 188, GA 69, 131. 442  Vgl. auch Heideggers Bestimmung dieser ›Epoche‹ als »Zwischengeschichte«: »Der Anfang in den Anfang hat in sich die Zwischengeschichte des Vorrangs des Seienden vor dem Sein als der Seiendheit. Diese Zwischengeschichte ist die Geschichte der Wahrheit des Seienden als ›Metaphysik‹” (ÜA 103). 443  So betrachtet lassen sich erneut Parallelen zu Schelling erkennen, bei dem das Zeitleben des Menschen auch eine Art ›Epoche‹ innerhalb der Geschichte der Selbstwerdung Gottes darstellte, eine Epoche zudem, die für die Selbstwerdung Gottes von entscheidender Bedeutung ist, weil Gott in gewisser Weise auf die Realisierung des Bösen in der Freiheit des Menschen angewiesen ist, sofern er sich erst in der Überwindung des Bösen als Liebe verwirklichen kann. 444  Vgl. BP 172: »Die Metaphysik ist zu Ende, nicht weil sie zu sehr, zu unkritisch, zu verstiegen nach der Seiendheit des Seienden fragte, sondern weil sie zufolge des Abfalls vom ersten Anfang mit diesem Fragen das im Grunde gesuchte Seyn niemals erfragen konnte …«

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tung des Seins noch einmal eigens als »Verkehrung« aufgefasst werden muss. »Irre«, so heißt es in Über den Anfang, »ist anfänglich auch noch nicht die Verkehrung der Wahrheit, sondern das Ab-gründige des Anfänglichen« (ÜA 62).445 Ähnliches kommt in folgender Äußerung zum Ausdruck: »Das Sein selbst – die φύσις – ist der erste Anfang. Und dieser hebt an, ist Anhebung des sich entbergenden Hervorgehens in seine Lichtung dadurch, daß er sich zugleich wesenhaft in sich zurücknimmt und die Gründung der Unverborgenheit versagt und der Seiendheit sich überläßt. Hier ist das Sichzurückstellen in das Verborgene, die Verbergung, das Wesentliche, nichts Negatives, sondern das Grundsein selbst« (GA 69, 158). Worin demgegenüber eine negative Form der Verbergung bestehen soll, wird hier wie auch an anderen Stellen nicht weiter thematisiert. Das gleiche Problem drückt sich daneben in der ebenso ungeklärten Frage aus, ob die Verdeckung des Seins in der Metaphysik prinzipieller Natur ist, oder ob sie als »Gewöhnungseffekt« aus der Geschichte des Seins resultiert. Denn ist die Verfehlung des wahren Seins durch die Struktur des Seins bedingt, d. h. durch seine Eigenart, sich im Zuschicken zugleich zu entziehen, kann eigentlich nicht die Rede davon sein, dass wir das ganz Andere des Seinsdenkens »zufolge langer Vorstellungsgewohnheit« (BP 480) missdeuten.446 445  Mit

der Rede von der »Verkehrung« wird der Zusammenhang mit Schelling noch deutlicher. Der Abfall vom Sein entspräche dabei der Realisierung des Bösen durch die Freiheit des Menschen. Die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Verfehlung des Seins durch die Metaphysik bleibt ebenso offen wie die des Zusammenhangs der Metaphysik mit dem ersten Anfang. Allerdings scheint sich Heidegger dabei dieser konkreten Ambivalenzen nicht bewusst zu sein, auch wenn er das Problem der Zwiespältigkeit durchaus – unter positiven Vorzeichen, d. h. als Anzeichen besonderer Ursprünglichkeit – zum Thema macht. Der Anlage nach bleibt die Seinsgeschichte daher auch weniger komplex als die Geschichte der Selbstwerdung Gottes, wie sie in Schellings Freiheitsschrift angelegt ist. 446  Dabei wiederholt sich letztlich das anhand von Sein und Zeit angedeutete Problem des Verfallens. Denn einerseits ist Dasein Heidegger zufolge zu Beginn notwendig verfallen. Dieses Verfallen allerdings ist als »Sein bei« durchaus neutral zu bewerten. Diese neutrale Sicht entspräche der Deutung, derzufolge Sein sich notwendig als Seiendes offenbart, ohne dabei notwendig als Seinsvergessenheit bestimmt werden zu müssen. Wenn es aber um die Frage nach der Verfallenheit als Uneigentlichkeit geht, wird die Verfallenheit zu einem Akt der Freiheit erklärt, der die Möglichkeit einer Überwindung der Uneigentlichkeit garantieren soll. In diesem Sinne könnte man auch sagen, dass am Anfang ein »Abfall« von der Eigentlichkeit geschieht, der gewissermaßen als Sündenfall bezeichnet werden könnte. Hierbei offenbart sich außerdem zugleich eine Parallele zum Freiheitsverständnis der Freiheitsschrift. Bei Schelling könnte man formulieren, dass mit der Entscheidung zum Bösen an den faktischen Ausgangspunkt, an dem der Mensch sich vorfindet, eine Art von »Verfallenheit« gesetzt wird. Der Mensch – so könnte man in Heideggerscher Terminologie sagen – ist, sobald er ist, »immer schon« zum Bösen entschieden. Dadurch aber, dass die Entscheidung zum Bösen als Entscheidung, d. h. als Akt der Freiheit bestimmt wird, scheint die Umkehrung zum Guten prinzipiell möglich. In diesem Sinne muss die »Urtat« tatsächlich als Abfall von der eigentlichen Freiheit gedeutet werden. Diese Deutung scheint sich mit derjenigen Buchheims zu decken, der diese Urentscheidung zum Bösen daher mit Schelling als »fast notwendig« (FS 381) bezeichnet, ein Begriff, an dem die Problematik m. E. ganz deutlich wird



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Eben diese Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit aber betrifft letztlich auch die Frage nach dem Übergang, der im Begriff des anderen Anfangs ein wesentliches Moment der Seinsgeschichte bildet, das insofern auch selbst geschichtlich ver­ortet wird. Dadurch wird der fragliche Übergang, als Möglichkeit einer Kritik am metaphysischen Denken, ebensosehr vom Problem der Zeitlichkeit betroffen wie die Geschichte, in die er eingegliedert wird und die er mit strukturieren soll. Der Übergang kann vor diesem Hintergrund nicht mehr wie ein tatsächlich im Hier und Jetzt stattfindendes Ereignis, als Akt oder Übung eines einzelnen Denkers gar, verstanden werden. Dem Übergang als geschichtlichem Ereignis soll vielmehr eine eigene Zeitlichkeit zukommen, die, wie gesehen, auf einer Vermischung von zeitlichen und prinzipiellen Verhältnissen beruht. Wenn Heidegger davon spricht, dass dem »Augenblick« des Sprunges eine »lange Zukünftigkeit aufbehalten bleibe«447, dann handelt es sich hierbei um eine Art von prinzipieller Zukünftigkeit, die daher auch niemals Gegenwart werden kann. Die ewige Zeit, so Jacobis Formulierung, kann eben nicht auf den heutigen Tag und damit an einen Zeitpunkt gelangen, an dem ich mich zum Sprung tatsächlich entscheiden könnte. Der Sprung ist somit, wie sich im Rahmen der seinsgeschichtlichen Betrachtungen erweist, gerade keine »freie Möglichkeit des Denkens«, sondern ein zukünftiges Ereignis, auf dessen Eintreten man Heidegger zufolge offenbar hoffen soll, obwohl es zugleich durch die Struktur der Seinsgeschichte ausgeschlossen wird.

4.3 Der Übergang als Kehre – Aufhebung des Sprunges unter der Perspektive des Seins Während die Frage nach der Unterscheidung von Grund und Ursache zwar schon zentrale Unterschiede zwischen Heidegger und Jacobi in den Blick brachte, macht die Darstellung der Seinsgeschichte nun deutlich, dass auch die Figur des Sprunges, die Heidegger zunächst mit Jacobi zu verbinden schien, gleichsam rückwirkend modifiziert werden muss. Erschien der Sprung zunächst wie eine Handlung in der Zeit, wird er nun zu einem geschichtlichen Ereignis umformuliert, dessen Realisierbarkeit in der Zeit ausgeschlossen ist. Der Übergang ist kein Ereignis in der Zeit, (Vgl. die Anmerkungen in Kap. I der vorliegenden Arbeit). Im Zusammenhang mit den hier aufgezeigten Parallelen zu der Problemlage von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit erstaunt es fast ein wenig, dass Heideggers Interpretation der Freiheit in der Schellingvorlesung von 1936 anders ausfällt, weil er sie nicht als »Abfall«, sondern als Realisierung des eigentlichen Seins begreift. 447  Aus der »Jähe« des Sprunges wird daher auch eine lange (letztlich ewige) Dauer, wie sich zum Beispiel in der Formulierung ausdrückt, nach der der Sprung »nur wie ein erster tastender Schritt auf ein sehr langes Sprungbrett« bestimmt wird, »bei welchem Schritt kaum etwas gespürt wird von der Forderung, die am Ende des Sprungbretts für den Absprung nötig ist« (BP 468).

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

sondern eher das Ende einer auch zeitlich, d. h. sukzessiv verstandenen Geschichte. Als ein solcher aber ist er auch nicht mehr auf die Person eines Denkers bezogen, der sich so oder anders positionieren kann, sondern auf Sein. Keine Rettung aus einem theoretischen Dilemma ist gemeint, sondern ein Wandel des menschlichen Wesens, der zugleich einen Wandel im Sein selbst darstellt. In diesem Sinne allerdings ist die Aufhebung der Charakteristika, die anhand des Sprunges zunächst hervorgehoben wurden, nicht als eine Art Versehen zu betrachten, als ein Problem also, das sich zufällig aus Heideggers Annahmen ergibt, ohne dass er selbst diese Konsequenzen gewollt hätte. Vielmehr scheint es sich genau umgekehrt zu verhalten, so nämlich, dass der in Frage stehende Übergang zu einem neuen Denken in der grundlegenden Modifikation des Sprunges gerade besteht. Im Moment des Sprunges zeigt sich, dass das, was ein Sprung des Denkers zu sein schien, in Wahrheit ein Geschehen, ja, sogar das innerste Geschehen des Seins selbst ist: die Kehre. Was zunächst auf eine Verbindung zwischen Heidegger und Jacobi hinzuweisen schien, dass es nämlich bei dem Sprung um eine Kehre im Sinne der Umkehrung des Verhältnisses von Unbedingtem und Bedingtem und um die Herstellung des wahren Verhältnisses gehen sollte, erweist sich damit zugleich auch als eindeutiger Unterschied. Ganz deutlich zeigt sich das im Rahmen der Beiträge, die gewissermaßen eine dritte Variante der Seinsgeschichte präsentieren. Zwar geht es hier – ähnlich wie bei der ersten Variante – auch um eine Art sukzessiv ablaufender Geschichte, um eine Geschichte aber, die keine gewissermaßen ›objektive‹ Perspektive auf das sich geschichtlich realisierende Sein einnimmt, sondern die von der Perspektive des springenden Subjekts heraus zu verstehen ist.448 Zeitlicher Ausgangspunkt ist in diesem Sinne nicht der »erste« Anfang, sondern der Moment, in dem sich der Denker faktisch vorfindet und von dem ausgehend er sich dem Übergang annähert. Nun scheint es merkwürdig, auch in Bezug auf die Bewegung des Denkers von einer Seinsgeschichte zu sprechen, weil diese – jedenfalls in den beiden zuletzt vorgestellten Varianten – notwendig die Auffassung mit sich bringt, dass es sich beim Subjekt dieser Geschichte um das Sein selbst handeln müsse, das nicht einfach mit dem den Übergang vollziehenden Menschen identisch sein kann. Gerade das Problem der Aufhebung des Sprungs in der Kehre macht aber deutlich, wieso auch diese, vermeintlich ›subjektive‹ Geschichte des Übergangs zum neuen Denken zugleich als Seinsgeschichte gelten kann.449 Was nämlich als Geschichte eines Denkers 448 

In diesem Sinne bemerkt auch Alexander Schwan, dass sich die »Fugen«, von denen in den Beiträgen die Rede ist, »weniger als Gliederungs- und Ordnungsmomente des Seyns, denn vielmehr als Schrittfolgen der Annäherung des seynsgeschichtlichen, des »anfänglichen« Denkens an das Seyns« erwiesen (Schwan (1992), S. 178). 449  Dass es sich nämlich bei der Gliederung der Beiträge und der unter der Perspektive des Springenden entwickelten Seinsgeschichte nicht etwa nur um ein erstes, unmittelbar wieder ver-



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in Auseinandersetzung mit der Metaphysik beginnt, wandelt sich im Sprung zur Geschichte des Seins selbst, das damit zugleich den ersten Anfang »wiederholt«, der dem sich faktisch »immer schon« im seinsvergessenen Zustand vorfindenden Subjekt notwendig vorausliegt und somit erst in der Wiederholung als »anderer Anfang« eigens vollzogen werden kann. Im Vollzug des Sprungs also realisiert sich zugleich das anfängliche Seinsgeschehen in der Weise des »anderen Anfangs«. Diese Figur aber ist vor dem Hintergrund von Sein und Zeit einerseits und dem der Schellinginterpretation von 1936 nicht wirklich neu zu nennen. Denn in der ersten Schellingvorlesung betont Heidegger ausdrücklich, dass sich Sein in seiner Wahrheit als »Geschehen« im jeweiligen Vollzug der menschlichen Freiheit realisiere. Der Unterschied zur Schellinginterpretation von 1936 bestünde demzufolge höchstens darin, dass die Figur, in der Seinsgeschehen einerseits und Handlung des Menschen andererseits in eine zusammenlaufen, nunmehr nicht unter den Titel der menschlichen Freiheit, sondern unter den des Seinsgeschicks, d. h. demgegenüber unter den der Notwendigkeit gerückt wird.450 Die Möglichkeit zu dieser »Kehre« aber liegt in der Figur der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, wie Schelling sie denkt, bereits begründet. Ob nun die Freiheit oder die Notwendigkeit entsprechend betont werden, scheint dabei keinen grundlegenden Unterschied auszumachen.451 Tatsächlich ist die zeitliche Nähe worfenes Verständnis handelt, zeigt sich etwa in Die Geschichte des Seyns, in der unmittelbar auf diese Gliederung Bezug genommen wird (GA 69, 131). 450  Die »Erfahrung der Geworfenheit« wird nun hier als Erfahrung der »Zugehörigkeit zum Seyn« interpretiert. (BP 139). 451  In diesem Sinne ist der hier thematisierte Übergang noch immer in einer ausdrücklichen Nähe zum Verständnis des Seins als Wollen zu sehen. Auf die Problematik der Verortung der Beiträge zwischen den verschiedenen Kehren war bereits hingewiesen worden. Im vorliegenden Kontext zeigt sich aber erneut, dass die Frage danach, ob das Seinsgeschehen ausdrücklich als Wollen bezeichnet wird oder nicht, sachlich gar nicht entscheidend ist. Die hier vorgelegte Interpretation unterscheidet daher auch ausdrücklich nicht zwischen Varianten der Seinsgeschichte vor der Umdeutung des Wollens und solchen nach der Umdeutung, zumal fraglich ist, ob eine solch klare Abgrenzung überhaupt möglich ist. Darauf, dass gerade in den grundlegenden Strukturen, und eben auch in der Frage nach der Freiheit und Notwendigkeit eine Kontinuität zwischen dem frühen und dem späten Heidegger besteht, weist u. a. Christoph Demmerling hin: »Streng betrachtet hätte er bereits 1927 nicht mehr vom Entwurfscharakter sprechen dürfen und auch auf den mißverständlichen Begriff der Konstitution verzichten müssen. Die »Konstitution« ist nämlich keine »Tat« mehr oder ein »Machen«, sondern letztlich ein vorgegebener Vollzug. Deshalb wird die Konstitution in seinen späteren Arbeiten zum Geschick. Die Kontinuität zwischen der Fundamentalontologie und Heideggers späterem Denken ist weitaus größer, als in der Forschung vielfach angenommen wurde« (Demmerling (2007), S. 103 f.). Vgl. auch Dieter Thomä, der ausführt, wie der (gewissermaßen Aktivität ausdrückende) Begriff der »Entschlossenheit« und der (Passivität ausdrückende) der »Entrückung« in der späten Philosophie im Begriff der »Inständigkeit« zusammenlaufen (Thomä (2007), S. 294).

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der Beiträge zur ersten Schellingvorlesung unter anderem daran zu erkennen, dass Heidegger selbst noch nicht ganz klar zu sein scheint, auf welche Seite er die Aktivität des Geschehens schlagen soll, auf die des springenden Subjekts oder auf die des sich ereignenden Seins. Im Sprung zeige sich, so heißt es zunächst, dass »der Werfer des Entwurfs ein Geworfener ist, aber erst im Wurf und durch ihn« (BP 249). Hier scheint die Aktivität immerhin zunächst noch vom »Werfer«, in diesem Fall wohl demjenigen, der den Sprung vollzieht, auszugehen. Gleichzeitig aber – so das durchaus paradoxe Ergebnis – scheint diese Aktivität rückwirkend ebenso notwendig aufgehoben zu werden. Deutlich werde nämlich zugleich, dass das »Dasein nichts leistet, es sei denn den Gegenschwung der Er-eignung aufzufangen« (BP 239).452 Jenseits des Sprunges zeigt sich, dass alle Aktivität vom Sein ausgeht. Der Sprung ist kein Sprung des Denkers, er ist, so eine andere Ausdruckweise Heideggers, in Wahrheit ein »Stoß des Seyns« (BP 464).453 Vor diesem Hintergrund scheint es aber so, als sei das Verständnis des Sprunges im Sinne einer Handlung nichts weiter als eine Täuschung, die darauf beruht, dass die Überlegungen ihren Ausgangspunkt notwendigerweise vom Boden der Metaphysik aus nehmen. Die Interpretation des Sprungs als Handlung erwiese sich in diesem Sinne selbst als ein metaphysisches Konzept, das im Übergang als Täuschung entlarvt wird. Diese Sicht scheint sich auch im Blick auf die Vorlesung über den Satz vom Grund zu erhärten, in der der vermeintlich als freiheitlicher Akt zu verstehende Sprung umgehend zu einem »Satz« umgedeutet wird, in den »sich das Denken fügt« (SvG 159). Da die Aktivität in diesem Fall noch eindeutiger vom Denker weg zum Sein selbst verlagert wird, gestaltet sich die Vorbereitung des Sprunges hier noch umständlicher. Nur auf verschlungenen und für das metaphysische Denken unverständlichen Wegen lässt es sich um den Satz vom Grund herumgehen, solange, bis sich der Sprung möglicherweise vollzieht. Ob das Herumgehen überhaupt je zu einem Übergang führen wird, ist unklar, weil auch der Impuls zum 452 Die hier in den Beiträgen eindeutig hergestellte Verbindung zwischen der Figur des Sprungs und dem Problem des geworfenen Entwurfs (vgl. v. a. BP 239: »Der Sprung (der geworfene Entwurf) ist der Vollzug des Entwurfs der Wahrheit des Seyns im Sinne der Einrückung in das Offene, dergestalt, daß der Werfer des Entwurfs als geworfener sich erfährt, d. h. ereignet durch das Sein«) unterstreicht zusätzlich die Verbindung zur ersten Schellingvorlesung und dem dort entwickelten Verständnis des Seins als Freiheit. 453  Vgl. auch hier die Darstellung von Günther Anders: Ist der Akt »im Grunde einer, der vom ›Grund‹: nämlich vom ›Sein‹ ausgeht, so ist es kein Akt des Daseins mehr, sondern ein bloßes Geschehen; ein Ereignis – und es ist kein Zufall, daß Heidegger das Walten des Seins mit dem Ausdruck ›ereignen‹ bezeichnet, dessen Bedeutung ingeniös zwischen ›handeln‹ und ›geschehen‹ liegt, etwas von ›handeln‹ an sich hat, weil es transitiv ist, etwas von geschehen an sich hat, weil es an ›Ereignis‹ anklingt. Die Überwindung des Systems ist hier also auf eine neue, aber unwirkliche Weise gelungen […] [B]eim späten Heidegger [ist] das System zwar auch durch eine Aktion neutralisiert – aber die Aktion selbst wird gleichfalls neutralisiert, da die Aktion des Heils zugleich ein Ereignis des Seins ist (Frömmigkeitsphilosophie (ab 1950), in: Anders (2001), S. 353 f.).



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Übergang bereits vom Sein auszugehen hat. Hier ist kein aktives Ergreifen dessen mehr denkbar, was immer schon als Seinsgeschehen zu gelten hat, sondern nur eine jede eigene Aktivität in diesem Sinne ausblendende Haltung, die die Zuschickung des Seins erwartet. Im Vergleich mit der Darstellung der Beiträge allerdings rückt das Seinsgeschehen damit wieder von uns ab und erscheint als eine Art objektiver Prozess der Selbstwerdung eines Sein, das uns wie eine objektive Macht gegenüber steht, mit der uns eigentlich nichts zu verbinden scheint. Aber, so könnte man einwenden, war nicht die im Sprung sich ausdrückende Kritik gerade gegen eine solche Deutung gerichtet? Ging es Heidegger nicht überall gerade um die Aufhebung einer solchen Trennung? Hebt sich also, so muss man wohl fragen, mit der Aufhebung des Handlungscharakters von Sprung auch all das auf, was zunächst an kritischen Intentionen mit der Figur des Sprunges verbunden war? Bevor diese zentrale Frage noch einmal in den Blick genommen wird, soll an dieser Stelle erst einmal die damit unmittelbar verbundene Frage gestellt werden, was die Aufhebung des Sprungs in der Kehre für die zu Beginn herausgestellten Parallelen zu Jacobi bedeuten könnte. Immer deutlicher hat sich ja im Blick auf das Problem von Grund und Ursache ebenso wie hinsichtlich der Frage nach Zeit und Geschichtlichkeit gezeigt, welch fundamentale Unterschiede zwischen den kritischen Unternehmen Jacobis und Heideggers bestehen. Beruhten die zunächst aufgezeigten Parallelen also am Ende durchweg auf einem Missverständnis dessen, was Heidegger eigentlich sagen will? Zur Annäherung an diese zentrale Frage sei ein Passus aus Die Geschichte des Seyns herangezogen, in dem es zwar nicht um die Figur des Sprunges geht, aber doch um die Art von Negation, die im Sprung zum Ausdruck kommen sollte. Heidegger unterscheidet hier – ganz wie Jacobi – zwischen Widerspruch und Widerlegung. Während eine Widerlegung der Metaphysik ausgeschlossen wird, weil »in der echten Philosophie Widerlegung überhaupt unmöglich« sei (GA 69, 13), scheint sich im »Wider-spruch« eine alternative Möglichkeit von Negation aufzutun. Diese erneute und erstaunliche Übereinstimmung in der Begrifflichkeit wird allerdings auf inhaltlicher Ebene umgehend eingeschränkt. Mehr noch – Heideggers Darstellung scheint geradezu explizit gegen ein Verständnis im Sinne Jacobis gerichtet zu sein. Nicht zu verstehen nämlich sei Unmöglichkeit der Widerlegung in dem Sinne, »als sei hier jede ›rationale‹ Auseinandersetzung unmöglich und das ›System‹ und der Standpunkt anzunehmen oder abzulehnen« (ebd.). Ein Missverständnis wäre es darüber hinaus, zu denken, es »handle sich überhaupt um die Person des Denkers« (ebd.). Wie schon für den Begriff Sprung, gilt nun also auch für den des Widerspruchs, dass er nur scheinbar auf den Denker als Subjekt bezogen ist, während in Wahrheit auch hier das Sein als Akteur zu gelten hat. Dass sich die Bezeichnung »Wider-spruch« dann in der Schreibweise »Wi(e)der-spruch« deutlich von der ›normalen‹ Bedeutung des Wortes unterscheidet, die Jacobis Verständnis kennzeich-

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net, kann daher gar nicht mehr überraschen. Widerspruch ist, Heidegger zufolge, wesentlich als »Spruch«, und d. h. als »Grundaussage über das Sein und seine Wahrheit« zu verstehen, damit in gewisser Weise dem Sprung im Sinne des »Satzes« vergleichbar. »Wi(e)der-spruch« ist dieser »Spruch« nun, so Heidegger weiter, »in dem Gedoppelten Sinne des Gegen und des erneut Anfänglichen«. Das »Gegen« richte sich dabei nicht gegen »eine Un-wahrheit im Sinne der Un-richtigkeit und Unhaltbarkeit, sondern auf eine Wahr-heit, die nicht anfänglich genug ist« (ebd., Herv. Heidegger). Die Radikalität allerdings steckt bei Jacobi gerade in der »Unhaltbarkeit« eines Fatalismus angesichts der ›innigsten Überzeugung‹ frei zu sein, und damit in dem ›Gegen‹, das bei Heidegger zwar erwähnt, zugleich aber in der Bestimmung der Wiederholung des ersten Anfangs auch unmittelbar aufgehoben wird. Die beiden Schreibweisen »Widerspruch« und »Wieder-spruch« schließen sich, anders als Heidegger suggeriert, gerade gegenseitig aus, weil sich im »Wieder« der Bezug auf das Selbe ausdrückt, der dem Aspekt des Gegensätzlichen im Begriff »Widerspruch« entgegengesetzt ist.454 Eine Wahrheit, die »nicht anfänglich genug« ist, scheint sich daher höchstens graduell, nicht aber radikal von der anfänglichen Wahrheit selbst unterscheiden zu können.455 Die Umdeutung vom Widerspruch zum »Wieder-spruch«, der als »Grundaussage« das anfängliche Wesen des Seins »wiederholt«, scheint damit gerade das Gegenteil dessen zu bezeichnen, was sich mit dem Begriff bei Jacobi verbindet. So betrachtet liegen die Gemeinsamkeiten offenbar allein im Bereich der Begrifflichkeit, die keinerlei inhaltliche Bedeutung für das Unternehmen als solches hat. Dennoch kann der zitierte Abschnitt zunächst einmal als weiterer Hinweis dafür gelesen werden, dass Heidegger sich tatsächlich, intensiver als es die Vorlesung von 1936 nahelegt, mit Jacobis Position beschäftigt haben dürfte. Denn auch oder vielleicht gerade in der inhaltlichen Abgrenzung zu Jacobi wird erkennbar, dass die Übereinstimmung in der Begrifflichkeit durchaus bewusst gewählt ist. Zunächst einmal markieren die Begriffe von Sprung, Entscheidung und Widerspruch den Unterschied zur reinen Logik und damit auch die Radikalität des Unternehmens. Auch Heidegger geht es ja eben eindeutig um mehr und anderes als um eine bloß logische Widerlegung. Andererseits aber stellt gerade die Wahl solch ›praktischer‹ Begriffe für Heidegger insofern ein Problem dar, als er das Gebiet der Handlung offenbar gänzlich in den Bereich des seinsvergessenen metaphysischen Denkens ein454 

Höchstens der Begriff des »Widerspiegelns« könnte geeignet sein, hier Verwirrung hervorzurufen. Allerdings findet sich die Selbigkeit des widergespiegelten Objekts im Begriff des »Spiegels« ausgedrückt, während das »wider« die Optik betrifft und sich auf die Sehrichtung bezieht, die aber keinen inhaltlichen Gegensatz konstituiert. 455  Damit taucht hier erneut die Frage auf, ob das seinsvergessene Denken der Metaphysik als eine Art aktiver Verkehrung verstanden werden muss oder nicht. Die Bezeichnung »nicht anfänglich genug«, scheint ja gegen die Vorstellung von aktiver Verkehrung gerichtet zu sein.



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reiht. Handlung, absichtliche gar, ist Heideggers Verständnis zufolge wie gesehen prinzipiell als Verfallserscheinung, als Ausdruck einer Logik der Berechnung und Beherrschung, des »Willentlichen« und »Machtmäßigen« (BP 88) zu verstehen, von der das neue Denken sich abgrenzen soll. In diesem Sinne stellen die Begriffe für Heidegger auch wieder ein Problem dar, weil es, wie er zu Recht bemerkt, »kaum möglich [ist], dem seynsgeschichtlichen Wesen der Entscheidung nahe zu kommen, ohne nicht doch vom Menschen, von uns auszugehen, und bei der ›Entscheidung‹ an Wahl, Entschluß, an die Bevorzugung des Einen und die Hintansetzung des Anderen zu denken und am Ende auf die Freiheit als Ursache und Vermögen zu stoßen und die Frage nach der Entscheidung in das ›Moralisch-Anthropologische‹ abzudrängen, ja sogar dieses gerade mit Hilfe der ›Entscheidung‹ im Sinne der ›existenziellen‹, neu zu fassen« (BP 87).456 In diesem Sinne scheint Heideggers Verhältnis zu Jacobi ein doppeltes zu sein – einerseits sind sie im Ausgangspunkt der Überlegungen tatsächlich verbunden, und andererseits unterscheiden sich ihre Positionen am Ende auf fundamentale Weise. Zunächst einmal kommt dem Begriff des Sprunges nämlich konstitutive und damit auch unaufhebbare Bedeutung schon dadurch zu, dass der faktische Ausgangspunkt des Unternehmens auf dem Boden der Metaphysik zu suchen ist. Dem entspricht auch, was Heidegger in den Beiträgen als eigens ausgewählte Methode präsentiert. Ein Verfahren sei erforderlich, so Heidegger, »das in gewissen Grenzen zuerst immer dem gewöhnlichen Meinen entgegenkommen und eine gewisse Strecke weit mit ihm gehen muß, um dann im rechten Augenblick den Umschlag des Denkens zu fordern, aber unter der Macht des selben Wortes. Z. B. ›Entscheidung‹ kann und soll zunächst, wenn auch nicht moralisch, so doch vollzugsmäßig als ›Akt‹ des Menschen gemeint sein, bis es plötzlich das Wesen des Seyns selbst meint, was nun nicht heißt, daß das Sein ›anthropologisch‹ ausgelegt, sondern umgekehrt: daß der Mensch in das Wesen des Seyns zurückgestellt und den Fesseln der »Anthropologie« entrissen wird« (BP 84). Einerseits kommt es entscheidend auf die Aufhebung des Anfangs an, weil dieser dem »gewöhnlichen Meinen« entnommen ist, das, so wurde bereits deutlich, mit dem metaphysischen Denken mehr oder weniger identisch ist. Darüber hinaus aber ist der Anfang nicht nur dadurch von Bedeutung, dass er den faktischen Ausgangspunkt darstellt, sondern auch darin, dass der geforderte »Umschlag«, auf den es ankommt, »unter der Macht desselben Wortes« geschehen 456 Nicht

zuletzt zeigt sich in dieser Auseinandersetzung aber auch, dass Heidegger den Sprung keineswegs religiös konnotiert, sondern eben auf das Problem der Freiheit, auf den Bereich des »Moralisch-Anthropologischen« bezieht. So betrachtet scheint Heidegger das Zentrum der Philosophie Jacobis durchaus richtig bestimmt zu haben. Dass Heidegger die Figur des Sprunges in der Vermittlung durch Kierkegaard aufgenommen haben sollte, scheint damit ebenso unwahrscheinlich wie die Vorstellung, er habe ihn nur aus Schellings Darstellung im Denkmal auf Jacobi erschlossen.

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soll. Was aber kann das heißen, wenn nicht das, dass die Wörter ihre Bedeutung in irgendeiner Form auch in die Umkehrung hinein retten sollen? Welchen Sinn hätte es sonst, von der Macht desselben Wortes zu sprechen? Und was stünde überhaupt auf der anderen Seite der Kehre, wenn jede mit den Worten üblicherweise verbundene Bedeutung jenseits des Sprunges abgelehnt würde?

5. Übergang zum neuen Denken? 5.1 Seinsgeschichte als Umkehrung der Erklärungsrichtung Dass Heidegger mit der Aufhebung des Sprunges im Seinsgeschehen auf eine Aufhebung der mit der Figur des Sprunges beabsichtigten Radikalität keinesfalls zielt, dürfte wohl außer Frage stehen. Die nachträgliche Ablehnung dessen, was sich offenbar zunächst wesentlich mit den gewählten Begriffen verbindet, soll die Radikalität der Abgrenzung im Gegenteil wohl eher vergrößern als vermindern. Was man sich allerdings dann noch darunter vorstellen soll, dass sich der Übergang unter der »Macht desselben Wortes« vollziehen müsse, ist in der Tat fraglich. Denn wer glaubt, mit der üblichen Bedeutung von Sprung, Entscheidung und Widerspruch irgend etwas über das Sein selbst sagen zu können, scheint letztlich doch auf der falschen Spur zu sein, weil er offenbar von einer Verbindung zwischen metaphysischem und neuem Denken ausgeht, die in Wahrheit nicht da ist.457 Das neue Denken zielt vielmehr auf das dem metaphysischen Denken gegenüber ganz andere, das durch keinen Begriff in seiner üblichen Bedeutung erfasst werden kann. In diesem Sinne ließe sich Heideggers Forderung vielleicht so verstehen, dass es darum gehen muss, das unweigerlich seinsvergessene Denken zunächst einmal ganz aufzugeben, um es für ein ganz Neues, Anderes, bisher völlig Unbekanntes zu öffnen. Dort, wo sich der Verstand bzw. die Vernunft – Heidegger nimmt hier keine dezidierte Unterscheidung vor – in seinem Selbstbezug vollendet, entsteht eine neue Leere, die den Umschwung anregen soll. Die folgende in mehrfacher Hinsicht interessante Äußerung aus Besinnung, auf die noch zurückgekommen werden soll, macht dies deutlich: Erst dann wird die bisherige Geschichte im Ganzen an den nächsten Rand des Nichts gerückt, wenn in ihr das Seiende im Ganzen in die Berechnung einge457  Deutlich

wird dies auch dort, wo Heidegger sogar davon ausgeht, dass auch die Unterscheidung von Sein und Seiendem, d. h. die ontologische Differenz auf der Seite jenseits des Übergangs aufgegeben werden müsse: »Und selbst die Unterscheidung«, so Heidegger in Die Geschichte des Seyns, »muß nur übergänglich gesagt werden, damit sie in der Bereitung des anderen Anfangs verlassen wird« (GA 69, 131). Andererseits aber kann man das im Sinne der bereits erörterten Bedeutung der ontologischen Differenz verstehen, die zutreffend als Immanenzverhältnis und insofern eher als ein Verhältnis der Identität denn #als ein solches der Differenz bestimmt ist.



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gangen und in den Willen verzwungen ist; dann nämlich verliert plötzlich, wenn es – im Wesen – vollendet ist, alles vor- und herstellende Berechnen jegliche Stütze an dem, was ihm noch bevorstehen könnte als Aufgabe. Fällt diese Stütze und geheime Zuflucht dahin, dann bleibt die Berechnung, d. h. das historische Tier mit sich allein inmitten des Seienden, das ihm nichts mehr zu erklären gibt. In diesem Augenblick wird alles plötzlich zu einer einzigen Leere umgestülpt. Diese aber ist gleichwohl nur die Kehrseite des Nichts, sein Unwesen, das selbst die Abgründigkeit des Nichts als Wesung des Seyns verhüllt. Doch jenes Nichts der Leere ist der erste, aber noch nicht als solcher vernehmbare Stoß des Seyns (Bes  250 f.). Heideggers Sage vom Sein, die am Ende in immer gleichen, nur leicht variierenden Formeln vom Sein spricht, von dem eigentlich nicht mehr zu sagen ist als das nackte Faktum, dass Sein ist,458 scheint diese Deutung zu unterstützen. Demnach käme es zunächst auf die völlige Aufgabe eines Denkens an, das nur als Denken im Zeichen der Macht möglich scheint, um Platz für ein Anderes zu machen, dem wir uns nunmehr in der umgekehrten Haltung nur noch unter Aufgabe eines vermeintlich eigenen Willens zu fügen haben. Diese Forderung scheint einerseits tatsächlich radikal zu sein, vor allem vor dem Hintergrund des abendländischen und dabei besonders des neuzeitlichen Denkens, das auf den Gedanken der Autonomie und Verantwortung des Subjekts entscheidenden Wert legt. Gleichzeitig aber ist diese Position in ihrer Haltung auch nicht wirklich neu zu nennen – man erinnere sich beispielsweise an Schellings Rede von der »Schwärmerei« im Blick auf die mystische Einheit des Subjekts mit dem Objekt. Schelling hatte diese Position deshalb als Dogmatismus charakterisiert, weil das Absolute dem Subjekt dabei als fremde Macht erscheine, der gegenüber jede eigene Aktivität aufgegeben werden müsse. Daneben scheint sie aber vor allem im Blick auf verschiedene fernöstliche Traditionen durchaus ihre Vorläufer und Anknüpfungsmöglichkeiten zu haben, die denn auch für die interessierte Aufnahme seiner Philosophie im ostasiatischen Raum mit verantwortlich sein dürften.459 Der Vergleich mit Jacobi aber zeigt, dass die Konzeption Heideggers auch und gerade vor dem Hintergrund der abendländischen Metaphysik keineswegs so radikal ist, wie Heidegger uns glauben machen will, denn von der Perspektive Jacobis aus präsentiert sich Heidegger letztlich selbst als metaphysischer Denker, der nur ein metaphysisches Konzept durch ein anderes ersetzt. Der Ort jenseits des Sprun458 

Vgl. z. B. den folgenden Passus: »Das Seyn ist das Einstige. Das Gewesende und das Kommen zumal – was als das Anfängliche kommt. Seyn ist ›Zeit‹. Das Gesetz des Seyns: Lichtung der Verbergung. Hineingang in die Verborgenheit als Aufgang aus ihr. Solches setzt und fügt das Seyn. Es ist dieser Fug. Das Seyn ist. Dies ist die einzige Sage« (GA 69, 142, Herv. Heidegger). 459 Zum Verhältnis zwischen Heidegger und dem ostasiatischen Denken vgl. Elberfeld (2003).

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ges, der Ort der Seinsgeschichte, ist so betrachtet gerade nicht durch einen Abgrund vom metaphysischen Denken diesseits geschieden, sondern befindet sich nach wie vor auf demselben Boden. Der Sprung führt nicht über einen Abgrund hinüber, sondern dahin zurück, wo er abgesprungen ist. Das klingt nun auf den ersten Blick vielleicht nach einer völligen Verkehrung der Tatsachen. Schließlich könnte man einwenden, dass die Aufhebung des Sprungs aus der Perspektive der Seinsgeschichte gerade mit der These verbunden war, der Übergang sei in Wahrheit gar nicht zu vollziehen. Und wird dadurch nicht – so ließe sich fragen – der Abgrund gerade ins Unendliche vergrößert? Dieser Einwand mag auf Anhieb überzeugend scheinen, wenngleich sich unmittelbar dagegen fragen lässt, ob die Rede vom Abgrund noch sinnvoll ist, wenn derselbe zugleich als prinzipiell unüberwindlich gesetzt wird. Dennoch scheint er zumindest von der Seite der Metaphysik aus, von der wir uns dem Übergang annähern, offenbar nach wie vor eine Rolle zu spielen. Anders aber sieht es aus, und darauf kommt es entscheidend an, wenn man von der Perspektive der Seinsgeschichte aus auf das Geschehen blickt. Aus dieser Perspektive nämlich kann von einem wirklichen Abgrund nicht mehr die Rede sein, weil Metaphysik in ihrer Möglichkeit aus dem Sein heraus erklärt soll und dadurch mit dem Sein vermittelt werden muss. Entscheidend ist, dass die Kehre, die sich im Sprung vollzieht, den Übergang in eine Erklärungsperspektive darstellt, die die vorhergegangene Kritik am metaphysischen Denken dadurch aufhebt, dass sie selbst auf metaphysische Strukturen zurückgreift. Heidegger, der die Frage nach dem Grund einerseits selbst als metaphysische auszeichnet und die Seinsvergessenheit der Metaphysik gerade an der Frage nach dem »Warum« festmacht, kann sich offenbar andererseits der Frage nicht entziehen, warum, d. h. aus welchem Grund, Metaphysik so seinsvergessen ist, wie sie Heidegger erscheint. »Daß je das Sein aus Seiendem erklärt wird und aus welchem Grunde das geschieht«, so Heidegger in Die Geschichte des Seyns, »dies zu erweisen bedeutet die Überwindung der Metaphysik aus dem Seyn selbst« (GA 69, 131). Die Umkehrung des Verhältnisses von Sein und Seiendem, um die es bei der Kehre geht, scheint Heidegger diesen Schritt zu ermöglichen. Denn während er der Auffassung ist, dass der erklärende Übergang vom Seienden zum Sein ausgeschlossen sei, ist er umgekehrt nicht nur der Meinung, der Übergang vom Sein zum Seienden sei möglich, sondern darüber hinaus auch davon überzeugt, dass ohne die Erklärung des Seienden aus dem Sein als dessen Grund auch das Seiende als Seiendes unverstanden bleiben muss. Den Übergang vom Sein zum Seienden hält Heidegger in diesem Sinne nicht nur für möglich, sondern für notwendig, wenn ein wahres Verständnis des Seins und des Seienden und das wahre Verhältnis des Menschen zum Sein erreicht werden soll. Indem die scheinbar im Sprung begonnene Kehre damit in der Umkehrung der Erklärungsperspektive, nicht aber in der Aufhebung des Erklärungsanspruches besteht, bleibt das Seinsdenken Heideggers den Problemen des metaphysischen Denkens selbst



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unterstellt. Deutlich zeigte sich dies an den Konzepten, die Heidegger zur Überwindung des metaphysischen Denkens präsentiert, an dem von Ursacheanteilen explizit gereinigten Begriff des Grundes ebenso wie an der ursprünglichen Zeitlichkeit, Konzepten, die nach Jacobis Analyse als Resultat des Versuchs verstanden werden müssen, das Unbedingte mit dem Verfahren des vermittelnden Verstandes zugänglich zu machen. Ebensosehr aber drückt es sich auch in Heideggers Verhältnis zur Identität aus, das bereits im Zusammenhang mit Schelling und Spinoza, vor allem im Blick auf das Verhältnis der Immanenz mehrfach eine Rolle spielte. Deutlich wurde dadurch, wie Heideggers Denken auf Strukturen beruht, die nach Jacobis Analyse als metaphysisch zu bezeichnen sind. Dass Heidegger – wie zuvor Schelling – das Unbedingte zugleich als ein sich Entziehendes bestimmt, markiert hierbei keinen entscheidenden Unterschied, der den Ort des neuen Denkens als einen dem Ort der Metaphysik gegenüber ganz anderen auszeichnen könnte. Die dualistisch verfasste Seinsstruktur soll eben nicht nur Raum lassen für zeitliche Offenheit und Unberechenbarkeit, sie soll Offenheit und Unberechenbarkeit ihrerseits erklären. Und wer in dem Anteil der hier eingetragenen Unberechenbarkeit schon einen Ansatz zur Aufhebung der Metaphysik erkennt, der hat darüber hinaus – aus Jacobis Sicht – das Wesen der Metaphysik falsch bestimmt. Tatsächlich nämlich ist, so Jacobis grundlegende Annahme, die Metaphysik zwar ein Projekt, das mithilfe des Verstandes ausgeführt wird, dessen Zugriff eigentlich auf die Natur beschränkt ist. Andererseits aber ist Metaphysik in ihrem Bezug auf das Unbedingte immer schon grundlegend anders verfasst als die ›rechnende‹ Naturwissenschaft. Metaphysik, so die Annahme, auf der Jacobis Möglichkeit des Sprungs unter anderem beruht, ist gegenüber der Naturwissenschaft durch ein ›Mehr‹ ausgezeichnet, das es durch den Sprung nun eigens in den Blick zu bringen gilt.460 Jacobis Kritik setzt wesentlich am Problem einheitlicher Welterklärung an. Erklärung ist, so seine Position, nur als Vermittlung und Vergleich möglich und muss das Unvermittelte und Unvergleichliche notwendig verfehlen. In diesem Sinne verwirft Jacobi beide Erklärungsrichtungen, die Erklärung des Unbedingten aus dem Bedingten, ebensosehr aber auch die Erklärung des Bedingten aus dem Unbedingten, und was im Sprung negiert wird, ist das Verfahren der einheitlichen Erklärung selbst. Daher kann die Position jenseits des Sprunges für ihn keine Strukturähnlichkeiten zur Metaphysik aufweisen, kann sie keine Umkehrung und keine Aufhebung der Metaphysik in ihren Ursprung darstellen. Der Abgrund, um den es dabei geht, darf infolgedessen auch nicht als ein Graben vorgestellt werden, der zwei in gewisser Weise entgegengesetzte, zugleich aber strukturgleich verfasste Böden voneinander trennte. Wäre dies so, dann müsste es tatsächlich so scheinen, als führte der Sprung Jacobis in die Luft, ohne je auf einem Boden jenseits des Sprunges anzu460 

Vgl. Sandkaulen (2000), S. 104 f.

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kommen, während Heidegger auf einen anderen Boden springe, der demgegenüber wie eine umgekehrte Metaphysik erscheint. Eine gängige Kritik an Jacobi bestätigt dieses Bild und unterstreicht damit die Fremdartigkeit dessen, was Jacobi fordert: den Verzicht auf eine neue, bessere oder ursprünglichere Metaphysik. Der Vorwurf an Jacobi, dass dieser seiner durchaus überzeugenden Kritik keine positive Philosophie des Unbedingten folgen lasse,461 übersieht eben die eigentliche Pointe seiner Philosophie, die in der Absage an eine solch positive Philosophie gerade besteht. Dass nun Heidegger im Gegensatz dazu mit dem Übergang in die als positiv zu verstehende ›Sage vom Sein‹ gewissermaßen in ein anderes, aber strukturgleiches metaphysisches Projekt springt, ist – das wurde deutlich – einerseits durchaus richtig. Dass dies andererseits aber gewiß nicht seinen Absichten entspricht, zeigt sich beispielsweise an Heideggers Rede von der ontologischen Differenz, die die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem von der Unterscheidung zwischen dem Seienden einerseits und dem als höchstem Seienden vorgestellten Sein abgrenzt. Wer Sein metaphysisch denkt, so Heideggers Gedanke, der kann es auch dann nur als Seiendes denken, wenn er es – im Rahmen metaphysischen Denkens bleibend – von dem Seienden so weit wie möglich unterschieden denken will. Alle Unterschiede, die metaphysisches Denken treffen kann, sind aber eben Unterscheidungen metaphysischer Art, die ein grundlegend Anderes nicht zu denken vermögen. Eben aus diesem Grund kam der Figur des Sprungs als Ausweg überhaupt in den Blick, der auf die Gemeinsamkeiten zwischen Jacobi und Heidegger hinwies.

5.2 Modifikation der Denklandschaft – der Zusammenhang von Verbindung und Trennung Dennoch verweist das Bild von den durch einen Abgrund geschiedenen und doch strukturgleichen Böden darauf, dass die Umkehrung, auf die es Heidegger ankommt, die gesamte Denklandschaft, wie sie im Zusammenhang mit dem Sprung skizziert wurde, grundlegend modifiziert. Besonders deutlich lässt sich das an dem komplizierten Verhältnis von Trennung und Verbindung zeigen, das zwischen den Orten diesseits und jenseits des Sprunges bestehen sollte. Bei Jacobi war einerseits die Rede 461 

Dass Jacobi auf halbem Wege stehen bleibt und daher gerade nicht auf einem festen Boden anlangt, wurde ihm ja bereits von Schelling vorgeworfen. In einem ähnlichen Sinne spricht auch Susanna Kahlefeld von einer »unausgeführten ›Unphilosophie‹« Jacobis (Kahlefeld (2000), S. 115). Besonders gilt dies aber für die Untersuchung von Dirk Fetzer, der Jacobis Philosophie als »positive« Philosophie des Unbedingten (Fetzer (2007), S. 16) betrachtet und der gerade deshalb das Fehlen einer Fundierung des Bedingten im Unbedingten (d. h. mit anderen Worten, die fehlende Erklärung des Bedingten aus dem Unbedingten) als Defizit der Philosophie Jacobis bemängelt (vgl. ebd., S. 72).



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von einer radikalen Trennung, der andererseits eine Durchdringung beider Seiten im Moment des Sprunges entsprechen sollte. In gewisser Weise scheint der Fall bei Heidegger ähnlich zu liegen, und doch zeigt ein genauerer Blick, dass es sich hier ganz anders verhält. Die Frage, ob der Abgrund bei Heidegger ins Unendliche vergrößert, oder ob er nicht im Gegenteil völlig aufgehoben werden müsse, zeigt schon an, dass es bei Heidegger nicht um die Verbindung zweier zugleich geschiedener (bzw. um die Trennung zweier zugleich verbundener) Bereiche geht, sondern um zwei alternative Orte, die so radikal getrennt sind, dass sie in keinerlei Verbindung miteinander stehen können, sondern sich gegenseitig ausschließen müssen. Zunächst scheint es zwar so, als ließe sich die Frage nach der Vergrößerung oder Aufhebung des Abgrundes eben deshalb nicht eindeutig beantworten, weil den zwei Orten, um die es geht, zwei Perspektiven entsprechen, die auf eine je andere Antwort führen. Für den Springenden scheint die Trennung zweier Orte doch gegeben, während für den, der vom Boden der Seinsgeschichte aus Metaphysik in ihrer Möglichkeit und in ihrem Wesen erklären will, nur ein einziger Standort bleibt, der den anderen in eine ursprünglichere Wahrheit aufhebt. »Der Sprung«, so Heidegger in Der Satz vom Grund, »stößt im Absprung den Absprungbereich nicht von sich ab, sondern der Sprung wird im Springen zur andenkenden Aneignung des Seinsgeschickes. Für den Sprung selbst besagt dies: Er springt weder weg vom Absprungbereich, noch fort in einen anderen für sich abgesonderten Bezirk. Der Sprung bleibt Sprung nur als andenkender« (SvG 158). Auf der anderen Seite aber bilden die beiden Perspektiven – die des unüberwindlichen Abgrunds einerseits, und die der erklärenden Aufhebung des Abgrunds andererseits – eben auch nur zwei Ansichten ein und desselben Problems, das sich auf der Grundlage eines Erklärungsversuchs ergibt, der so etwas wie einen wirklichen Dualismus ausschließen muss. Ein wie bei Jacobi gedachter Dualismus von gleichzeitig gegebenen Perspektiven, die ihre je eigene Gültigkeit beanspruchen und sich nicht aufheben können, kommt nach Heideggers Darstellung nicht in Frage, weil es nur entweder das verblendete metaphysische, prinzipiell abzulehnende oder aber das neue, demgegenüber ganz andere und prinzipiell anzustrebende Seinsdenken geben soll.462 Während Jacobis Sprung also den 462  Dieses

»Entweder/Oder« kritisiert auch Ute Guzzoni, deren ungewöhnliche Studie zum späten Heidegger in vielen Punkten auf Probleme verweist, die auch im Vergleich mit Jacobi auffallen . So spricht sie sich im Gegensatz zu dem benannten »Entweder/Oder« für die Anerkennung einer »Zwiefalt« der Wirklichkeit aus: »Ich meine, es käme darauf an, auf das verhängnisvolle Entweder/Oder zu verzichten, das unser Verhältnis zur Gegenwart, gerade wenn es ein kritisches ist, oftmals so grundlegend kennzeichnet. Es käme darauf an, die Zwiefalt und vielleicht sogar Widersprüchlichkeit dessen, was ist, anzuerkennen und damit umgehen zu lernen« (Guzzoni (2009), S. 94). Guzzoni geht davon aus, dass diese »Zwiefalt« von Heidegger in gewisser Weise angedeutet, aber nicht eigens bedacht werde, und so ein »Dilemma« in Heideggers Denken markiere: »Den Hintergrund meiner Überlegungen bildet das, was ich die Zwiefalt in Heideggers späterem Denken genannt habe. Bis zu einem gewissen Grad gewinnt sie den Charakter eines

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Dualismus der Perspektiven allererst etabliert, scheint der Sprung bei Heidegger den Dualismus zwar vorübergehend zu setzen, allerdings nur, um ihn im selben Augenblick auch schon wieder aufzuheben. Der Dualismus ist – wenn man überhaupt so reden kann – nur an einem winzigen Moment des Übergangs sichtbar, der sich noch knapp vor dem Übergang befinden müsste, dort vielleicht, wo der Springende zum Sprung ansetzt. Diesseits und jenseits dieses Momentes aber finden sich keine zwei Perspektiven, sondern jeweils monistische Erklärungszusammenhänge. Metaphysisches Denken präsentiert sich als einheitlicher Verdeckungszusammenhang, als ein geschlossener Zirkel der Immanenz, aus dem es kein Entkommen gibt. Deutlich wurde dies etwa im Zusammenhang mit der Bestimmung des Seins als Wollen, in dem Heidegger, ungeachtet der inneren Widersprüche dieses Konzepts, die Voll­ endung der rationalen Logik erkannte. Im »vollständig durchmessenen Bereich der ratio als Vernunft und Subjektivität« ist daher Heidegger zufolge »die vollständige Begründung des Seienden als solchen beschlossen und« – das ist entscheidend – auch »geschlossen« (SvG 150, Herv. K.S.). Diesseits des Sprunges kann es daher nur den Blick auf Seiendes geben, und Sein selbst kann, nicht einmal im Sinne des Entzugs und der Seinsvergessenheit, überhaupt in den Blick geraten. Die Rede vom Sein, das sich dem Zirkel entzieht, kann sich von dieser Perspektive aus, wenn überhaupt, nur auf ein absolut Fremdes oder, wie man sagen könnte, eine absolute Transzendenz beziehen. Warum man aber eine solch absolute Transzendenz, von der wir auf dem Boden der Metaphysik nichts wissen oder erfahren können, annehmen sollte, kann auf diese Weise nicht erklärt werden. Die These von der Seinsvergessenheit der Metaphysik bleibt im Rahmen des abgeschlossenen metaphysischen Denkens Zwiespalts, eines Dilemmas, das bei ihm selbst letztlich nicht aufgelöst, ja nicht einmal als Zwiespalt reflektiert wird. Es handelt sich m. E. nicht lediglich um zwei unterschiedliche Aspekte, die nacheinander abgehandelt würden, vielmehr um zwei konkurrierende Auffassungen und Deutungen. Für Heidegger besteht wohl ein geschichtlicher, also auch ein zeitlicher Unterschied zwischen beiden, insofern das Weltdenken heute nur als Vorwegnahme und Vorbereitung betrachtet werden kann, da es seinsgeschichtlich wesentlich noch aussteht. Ich bin jedoch der Überzeugung, daß diese ›geschichtliche Differenz‹ lediglich im Selbstverständnis der Menschen liegt: Der wissenschaftlich-technische, am Subjekt-Objekt-Verhältnis orientierte Zugriff auf die Welt, die Dinge und die anderen Menschen hat in der neuzeitlichen Gegenwart einen solchen Vorrang vor dem welthaften, ›besinnlichen‹ Zugang gewonnen, daß ein gelassenes In-der-Welt-sein und ein ›besinnliches‹ Umgehen mit ihren Dingen und mit unseresgleichen weitgehend aus dem theoretischen Blick geraten sind; das besagt aber nichts über ihre reale Möglichkeit und Wirklichkeit« (ebd., S. 17, Herv. U.G.). Vgl. auch S. 80: »Ich gehe mit diesem Verweis auf zwei Wirklichkeiten bewußt über das von Heidegger ausdrücklich Gesagte hinaus bzw. falle, aus seiner Warte gesprochen, hinter es zurück. Mir scheint es aber unabweislich zu sein, daß den von Heidegger genannten beiden Denkarten zwei Wirklichkeitsweisen korrespondieren. Indem das besinnliche Nachdenken sich auf die andere Wirklichkeit von Welt und Dingen richtet, läßt es allererst das Nebeneinander beider sehen. Die doppelte Auffassung von Wirklichkeit liegt also nicht einfach nur an der Heideggerschen Sicht auf die beiden Arten des Denkens, sondern die Wirklichkeit ist heute in der Tat eine zwiefältige« (Herv. U.G.).



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somit eine reine Behauptung, die sich eigentlich selbst aufhebt. Von der Perspektive der Seinsgeschichte hingegen erscheint Sein als immanent gedachtes Prinzip, das sich im Seienden und als Seiendes zuschickt und so das metaphysische Denken begründet. Von hier aus betrachtet kann es ebensowenig ein ›Außerhalb‹ und einen anderen Ort geben, weil alles Denken von der Schickung des Seins bestimmt sein soll. Auch vor diesem Hintergrund aber lässt sich die angebliche Seinsvergessenheit der Metaphysik nicht wirklich erklären. Denn von diesem auf einheitliche Erklärung angelegten Blickwinkel wird die reale Negation, die schon Schelling in der Freiheitsschrift beschäftigte, zum eigentlichen Problem, das Heidegger auf vergleichbare Weise zu lösen versucht und daher ebensowenig zu lösen vermag. Wie der ursprünglich im Sein beheimatete Mensch zum metaphysischen Denken und damit zur völligen Seinsvergessenheit übergehen konnte, bleibt vor dem Hintergrund der dualistisch verstandenen Struktur von Sein nach dem Vorbild Schellings eine nach wie vor ungeklärte Frage, die von Heidegger allerdings auch gar nicht eigens thematisiert wird. Damit scheint die reale Dualität und die Differenz für Heidegger das größere Problem darzustellen als die Identität, die doch scheinbar im Fokus seiner Kritik steht. Dass Heidegger selbst auf der »ontologischen Differenz« oder der Dualität der »Seinsfuge« besteht, reicht insofern nicht aus, ihn als Vertreter eines identitätskritischen Denkens und damit als Gegenentwurf zu einer Metaphysik zu kennzeichnen, die alles unter die Herrschaft einer als Wille zur Macht charakterisierten Identität zwingt. Die Darstellung der Seinsgeschichte im Sinne eines unbegreiflichen Verdeckungsgeschehens ist in ihrem Anspruch auf allumfassende Geltung gerade so totalitär wie das, was Heidegger als seinsvergessenes metaphysisches Denken bezeichnet.463 In dem unbedingten Willen, Metaphysik auf den einen Ursprung, sei dieser nun als Wollen, Gegenständigkeit oder Subjektivität bestimmt, zurückzuführen, gibt Heidegger die Differenz insofern völlig preis, als er innerhalb des zu überwindenden Denkens keinerlei Differenzierung mehr zulässt. Alles steht im Zeichen der Seinsvergessenheit, das Denken des Alltags, die »Uhrenzeit«, metaphysisches oder – allgemeiner – philosophisches Denken, naturwissenschaftliche Forschung, Positivismus, Technik, das Denken des Atomzeitalters. Jede Form der Unterscheidung und jede Möglichkeit einer sprachlichen Benennung wesentlicher Unterschiede sowie jegliche Wertung innerhalb des bestehenden Denkens werden 463  Darauf

weist z. B. Bret Davis hin, obwohl er generell Heideggers Charakterisierung der Metaphysik als Willensmetaphysik und dessen These von der Notwendigkeit einer Überwindung dieses Willensdenkens überzeugend zu finden scheint: »While Heidegger’s epochal history of metaphysics does seem to suggest an essential continuity to at least all determinations of »will« in the modern Western tradition, one might remain suspicious of a certain paradoxical »will to unity« at work in this very comprehensive framing of the problem of the will« (Davis (2007), S. 21).

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im Blick auf das angeblich einheitliche Wesen des metaphysischen Denkens abgelehnt.464 Ein Verweis auf Aspekte, die in dieser Denkweise nicht aufgehen und die sich dem Zugriff eines solchen Denkens entziehen könnten, kommt daher für Heidegger nicht in Frage. So erstaunt es auch nicht, dass Heidegger aus seiner seinsgeschichtlichen Position heraus ebensowenig zwischen einer Metaphysik im Sinne Schellings und einer Ideologie im Sinne des Nationalsozialismus unterscheiden kann,465 weil innerhalb der Seinsgeschichte jeder Maßstab für eine derartige Unterscheidung fehlt bzw. weil dieser Maßstab als außer jeglicher Verfügbarkeit liegend charakterisiert wird.466 Was in diesem Sinne zugleich fehlt, ist – so zumindest erscheint es vor dem Hintergrund des Vergleichs mit Jacobi – eben die Verbindung zwischen den beiden 464  Vgl. dazu Günter Anders, der ganz im Sinne Jacobis argumentiert, wenn er im Blick auf die Kehre formuliert, dass sich die »Konversion nicht mehr zwischen den zwei deutlich kontradiktorischen Positionen ab[spiele], sondern zwischen zwei Positionen, die selbst bereits neutralisiert sind. Von einem Atheismus, der kein Atheismus ist, schwenkte Heidegger zu einem Seins-Theismus, der kein Theismus ist. Da die Radikalität der Position so entschärft ist, muß das Vokabular umso bedrohlicher und blutiger zugespitzt werden. Aber ist das Messer auch tödlich scharf, es gilt niemandem: keine Gruppe, keine Gewalt dieser Welt, die sich durch die Waffe gefährdet fühlte« (Anders (2001), S. 283 f.). 465  Unerträglich ist deshalb gerade Heideggers Rede über die Opfer des Nationalsozialismus und deren Leid. »Seinsgeschichtlich« liest sich das z. B. so: »Die Notlosigkeit als die verhüllte äußerste Not des Seins herrscht jedoch gerade in dem Zeitalter der Verdüsterung des Seienden und der Wirrnis, der Gewaltsamkeit des Menschentümlichen und seiner Verzweiflung, der Zerrüttung des Wollens und seiner Ohnmacht. Grenzenlose Leiden und maßloses Leiden künden den Weltzustand offen und verschwiegen überall als den notvollen, und gleichwohl ist er im Grunde seiner Geschichte notlos. Dies aber ist seinsgeschichtlich seine höchste und zugleich verborgenste Not. Denn es ist die Not des Seins selbst« (GA 67, 251). – Aus den genannten Gründen lassen sich auch die antisemitischen Äußerungen Heideggers in den jüngst veröffentlichten ›Schwarzen Heften‹ problemlos in den Kontext der vollkommenen Seinsvergessenheit einfügen. Dass Heidegger tatsächlich auch Antisemit war, kann m. E. nach einer intensiveren Auseinandersetzung mit den bisher zugänglichen Quellen kaum wirklich erstaunen. Heideggers Kritik am ›Weltjudentum‹ aber gleich zum Kern- und Ausgangspunkt seines Denkens erklären zu wollen, scheint mir dennoch über das Ziel hinaus zu schießen. Auch in diesem Zusammenhang sei erneut Günther Anders zitiert, der bereits 1948 schrieb, es sei »[k]aum verwunderlich, daß er [Heidegger] überhaupt kein Prinzip, kein Gesellschaftsideal, kurz: Nichts hatte, als die Trompete des Nationalsozialismus in sein moralisches Vakuum hineinzudröhnen begann: er wurde ein Nazi.« (Anders (2001), S. 96, Herv. G.A.). 466  Auch Emil Angehrn ist der Auffassung, dass »in der Fundamentalität der Kritik auch ihre Fragwürdigkeit« liege. »Im Maße der Totalisierung verliert sich das kritische, aber auch das diagnostische Potential; der Ausgriff aufs Ganze geschieht auf Kosten des Besonderen, die Auslotung der Tiefe auf Kosten der Oberfläche. Schließlich ist es auch die konkrete seinsgeschichtliche Fundierung, die für die Kritik zum offenen Problem wird. […] Die Fundamentalisierung der Kritik, die sich mit der polemischen Marginalisierung konkreterer, kultur- und zeitbezogener Deutungen verbindet, gibt sich auch als Blindheit gegenüber den realen Geschichtsmächten zu erkennen« (Angehrn (2003), S. 278).



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Seiten diesseits und jenseits, die sich durch den Sprung zu ergeben scheint, und die andererseits durch die von Heidegger behauptete absolute Trennung von Metaphysik und neuem Denken gerade bestritten wird. Diese Verbindung, die im Blick auf Jacobis Position von entscheidender Bedeutung ist, äußert sich bei Jacobi in der Auffassung, dass die Metaphysik gerade keinen geschlossenen Verblendungszusammenhang darstellt, der einen Absprung aus derselben unmöglich machte. Das System der Immanenz ist Jacobis Analyse zufolge nicht geschlossen, weil es die ratio nur scheinbar befriedigt, während es in Wahrheit auf einem »erkennbaren inneren Widerspruch« beruht, den es stark zu machen gilt. In diesem Widerspruch, anders gesagt, in dem bereits angedeuteten ›Mehr‹ der Metaphysik oder – noch einmal anders gewendet – in der Erfahrung der menschlichen Freiheit, wird die Stelle erkennbar, an der der Zirkel der Immanenz durchbrochen ist.

5.3 Die Rolle der Erfahrung Auch wenn Heidegger eine solche Verbindung einerseits bestreitet, war doch andererseits schon mehrfach die Rede davon, dass das Thema der »ursprünglichen Erfahrung« auch für ihn eine entscheidende Rolle spielt. Wie wesentlich das Problem der Erfahrung gerade für den geforderten Übergang ist, zeigt sich an vielen Stellen in Heideggers Werk, an denen er von einer besonders »ursprünglichen« »Grund-« bzw. »Seinserfahrung« des Menschen spricht. Im Seminar von 1937/38 etwa wird die »Grunderfahrung« mit einem »Sprung« gleichgesetzt, der als »Sprung in die offene Stelle« ausgezeichnet wird,467 die nun doch auf eine offene Stelle in der vermeintlich umfassenden Seinsvergessenheit der Metaphysik hinzuweisen scheint. Daher erstaunt es auch nicht, dass in der seinem späteren Denken gewidmeten Literatur einer vermeintlich ursprünglichen Erfahrung bei Heidegger – und im Zusammenhang mit dessen Schellinginterpretation auch bei Schelling – eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Die Rede ist hier z. B. von einer besonderen Erfahrung der Zeit oder der gänzlich neu- und andersartigen Erfahrung des Grundes.468 In den Bereich 467  Vgl.

GA 88, 41: »Die Grunderfahrung als Sprung in die offene Stelle ist der Grund-versuch. Dieses Versuchen ist das ursprüngliche Suchen und daraus erst und allein das Fragen. Der Grundversuch: ohne Seyn da-sein!« Vgl. auch GA 88, 38: »Grunderfahrung. Hier kann es sich nicht um das Aufsuchen eines beliebigen Beispiels handeln, sondern nur um die Einzigkeit unserer Geschichte selbst. Hier ist die eigentliche metaphysische Stelle für das Werk Hölderlins und seine Bewahrung; nicht irgendein sonstiges »Interesse«, sondern dieses einzige der Da-seinsgründung. Der »Übergang« als die äußerste Not« (Herv. Heidegger). 468  Wolfgang Wieland spricht z. B. in seiner an Heidegger angelehnten Studie über Schelling von einer »Fundamentalerfahrung« Schellings (Wieland (1956), S. 12), von der die Interpretation ihren Ausgangspunkt nehmen soll. Dabei trennt er zwischen der »Grunderfahrung« und ihrer »metaphysischen Objektivation«. Bezogen auf Heidegger spricht Volker Caysa von einer »Grund­

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dieser Erfahrung gehört ganz sicher auch das Thema der Angst und das in der Einleitung zur ersten Schellingvorlesung erwähnte Problem einer fundamentalen Entwurzelung, die den stets neuen Anläufen in Schellings Werk zugrundeliegen soll. Schon im Zusammenhang mit dem Wegcharakter des Denkens war auf diesen Aspekt hingewiesen worden. Gleichwohl scheint das Problem der Erfahrung vor allem unter dem Aspekt ihrer Abwesenheit zum Thema des Heideggerschen Denkens zu werden. In diesem Kontext erweist sich die im Seminar von 1937/38 (GA 88) geäußerte Kritik an Schelling als aufschlussreich, in der Heidegger gewissermaßen den Übergang Schellings von der Freiheitsschrift zum Konzept einer »negativ-positiven Philosophie« kritisiert. Bei genauerem Hinsehen nämlich scheint es fast so, als kritisiere Heidegger bei Schelling gerade das Fehlen einer neuartigen Erfahrung, das Schelling neue Bahnen hätte eröffnen können, anstatt ihn, wie Heidegger in Besinnung formuliert, zu einem »Rückfall in die rationale Metaphysik und Flucht in die christliche Dogmatik zugleich« (Bes 263) zu treiben. Heidegger weist in diesem Text, wie schon in den beiden Schellingvorlesungen, darauf hin, dass in der Freiheitsschrift der entscheidende Punkt, die Vollendung und damit das Ende der Metaphysik erreicht wird. Im Vergleich mit den bereits untersuchten Vorlesungen aber präsentiert sich das Problem hier noch einmal unter einem anderen Blickwinkel. Erinnern wir uns an das oben angeführte Zitat aus Besinnung, nach dem es darauf ankommen sollte, im Denken an den Punkt zu gelangen, an dem alles »zu einer einzigen Leere umgestülpt wird«. Schelling, so könnte man vielleicht sagen, führt in der Freiheitsschrift genau an diesen Punkt heran, indem er zeigt, dass Sein nicht als Grund, sondern höchstens als Ungrund gedacht werden kann. Damit aber ist Sein noch im Ausgang vom Seienden und daher ausschließlich negativ als Abgründigkeit und Entzug, noch nicht aber als Sein bestimmt, von dem aus ein eigenes Seinsdenken entstehen könnte. Die »Abgründigkeit des Nichts« hat sich noch nicht als »Wesung des Seyns« enthüllt. In diesem Sinne heißt es in dem erwähnten Seminar, Schelling sehe nur, »daß hier die Vernunft nicht mehr als vordenkende ins Spiel kommen kann, sondern blind, d. h. hier einfach hinnehmend sein muß.« Zugleich aber suche er »nicht die ἀλήθεια und die Wesung dieser Seiendheit als οὐσία« (GA 88, 138, Herv. Heidegger).469 erfahrung der Seinsvergessenheit«, womit er die »Dimension« bezeichnet, aus der schon Sein und Zeit »erfahren« sei (Caysa (1994), S. 51). Bei Friedrich-Wilhelm v. Hermann wiederum ist die Rede von einer »seynsgeschichtlichen Erfahrung vom Wesen des Seyns«. »Diese neue und mit Macht hereinbrechende denkerische Erfahrung bringt das ganze Gefüge der transzendental-horizontal angesetzten Seinsfrage in Bewegung. Diese Bewegung ist ein immanenter Wandel, der alle bislang fundamentalontologisch angesetzten Fragen ergreift und aus der transzendental-horizontalen in die seynsgeschichtliche Fragebahn überführt« (Hermann (1994), S. 17, Herv. F.-W. v. H.). Vgl. auch die Hinweise zu Beginn von Kapitel I der vorliegenden Arbeit. 469  Dem zitierten Passus folgt der Zusatz »oder doch?«, der erneut die Unsicherheit in Heideg-



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Was fehlt, scheint demnach eine neue, vom Sein herkommende Bestimmung, die sich aber wohl – da sie nicht erneut im Blick auf eine Begründung des Seienden hin konstruiert werden soll – nur aus einer Erfahrung des Seins, anders gesagt, aus dem Vernehmen des Seins heraus ergeben kann. So gesehen scheint Heidegger hier zwei Schritte zu unterscheiden. Im ersten Schritt muss an die Stelle der Fülle metaphysischer Bestimmungen das Nichts, d. h. eine vollkommene Leere treten. Wenn »das Seiende im Ganzen in die Berechnung eingegangen und in den Willen verzwungen ist« (Bes 251), wenn, mit anderen Worten, der Zirkel der Verblendung geschlossen ist, zeigt sich allererst, so Heidegger in Besinnung, dass die nur auf sich bezogene Berechnung in Wahrheit nichts offenbart. Das »historische Tier« – mehr ist der Mensch in dieser Perspektive nicht – bleibt dann »allein inmitten des Seienden, das ihm nichts mehr zu erklären gibt« (ebd.), und erfährt die Leere, vielleicht auch die Sinnlosigkeit des eigenen Seins. Diese Erfahrung ist notwendig, um den Übergang zu ermöglichen, sie ist aber weder die eigentliche Seinserfahrung noch der eigentliche Übergang selbst, der demgegenüber noch einen zweiten Schritt darstellt, in dem sich Sein selbst vernehmen und damit positiv erfahren lässt. Dass Schelling am Ende auf Inhalte traditionell metaphysischer oder dogmatisch christlicher Lehre zurückgreift, kann folglich nur heißen, dass er erstens die Erfahrung des Nichts nicht als das versteht, was sie Heidegger zufolge sein soll – die ursprüngliche, den Übergang ermöglichende Erfahrung nämlich. Zweitens aber bedeutet es, dass er offenbar ebensowenig auf eine neuartige Erfahrung zurückgreifen kann, die eine andersartige Füllung der entstandenen Leere ermöglichen könnte. Schelling, so denn auch Heideggers Kritik im Seminar von 1937/38, überspringt gewissermaßen den entscheidenden Punkt der Erfahrung des Seins als Nichts, das zugleich als Offenheit interpretiert wird für eine neuartige Wahrheit. Das »Positive der Spätphilosophie« sei daher »immer grober und rückwendiger, und nur der rettende Hafen für das Schiff auf der Sturmfahrt der Freiheitsabhandlung« (GA 88, 140). Besser wäre es gewesen, wenn Schelling »auf hoher See«, d. h. auf dem Punkt des Übergangs, bei der Erfahrung der Leere und der gleichzeitigen Erwartung ihrer Überwindung geblieben wäre (GA 88, 140 f.). Denn solange die positive Erfahrung des Seins ausbleibt, kann Seinsdenken – so ist zu vermuten – nur darin bestehen, die Nichtigkeit und d. h. die Abwesenheit des Seins auszuhalten, kann es mit anderen Worten erst als »übergängliches« und noch nicht als »neues Denken« bestimmt sein.

gers Urteil bezüglich der Frage verdeutlicht, ob Schelling nun das neue Denken schon eröffne, oder doch nur das alte abschließe.

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a) Die übergängliche Erfahrung als Mangelerfahrung Die erste Erfahrung, auf die es ankommt, ist also die Erfahrung des Seins als Nichts, d. h. eine negative, anders gesagt, eine Mangelerfahrung, die aber ihrerseits nicht einfach so gegeben ist, sondern erst als Resultat der Auseinandersetzung mit der Metaphysik und ihrer Vollendung erscheint. Beim übergänglichen Denken geht es folglich eben darum, diese Erfahrung hervorzurufen. »Der Not der Notlosigkeit zu entsprechen«, so heißt es in Metaphysik und Nihilismus, »kann nur heißen, vor allem anderen erst einmal zur Erfahrung der Notlosigkeit als der wesenden Not selbst verhelfen. Dazu ist notwendig, in das Notlose der Not zu weisen. Dies bedeutet: das Auslassen des Ausbleibens des Seins selbst erfahren. Dazu gehört: in dem so Erfahrenen das Wesen des Nihilismus als die Geschichte des Seins selbst denken. Dies bedeutet jedoch: der Ankunft des Sichentziehens des Seins im Bezug seiner Unterkunft, d. h. des Wesens des geschichtlichen Menschen, entgegen denken« (GA 67, 251). Die Erfahrung der »Notlosigkeit als der wesenden Not selbst« unterscheidet sich damit in zwei Hinsichten grundlegend von der Freiheitserfahrung, um die es bei Jacobi geht. Einerseits ist sie eine zukünftige, erst noch hervorzurufende und keine gegebene Erfahrung, auf die man einfach so zurückgreifen könnte. Indem sie dies ist, kann sie andererseits auch keine jedem Menschen zugängliche und vertraute Erfahrung sein. Sie zeichnet sich demgegenüber gerade durch eine Exklusivität aus, die wohl der »Einzigartigkeit« des Seins entsprechen soll. Sie wird, so Heidegger in den Beiträgen, »nicht von Beliebigen vollzogen, sondern von ›Einzelnen‹, Ausgezeichneten« (BP 249). Sofern sie vorerst als »zukünftige« Erfahrung bezeichnet werden kann, scheint auch Heideggers eigene Position erst einmal nicht auf eine bestehende Erfahrung zurückgreifen zu können. Dem entspricht der Umstand, dass Heideggers Rede hier meist abstrakt bleibt und er in dieser Hinsicht stets nur unbestimmt von einer »Grund-« oder »Seinserfahrung« spricht. Andererseits aber gibt es im Werk Heideggers auch an zentralen Stellen durchaus Verweise auf tatsächlich gegebene Erlebnisse. Die Erfahrung von Angst, Fremdheit in der Welt, Einsamkeit und »Grundlosigkeit« weisen alle im weitesten Sinne auf die Abwesenheit eines gegebenen Sinns hin und scheinen so der Bestimmung der »ersten« übergänglichen Erfahrung genau zu entsprechen. Andererseits aber ist es durchaus problematisch, in diesen Erlebnissen die geforderten neuartigen Erfahrungen zu erkennen – schon weil sie keineswegs exklusiv zu nennen sind. Noch problematischer aber ist die Frage, wodurch es gerechtfertigt sein könnte, gerade diese Erfahrungen als die ursprünglichen auszuweisen. Dies gilt höchstens unter der zunächst noch fragwürdigen Voraussetzung, dass die Seinsvergessenheit unser Denken tatsächlich bestimmt, dass mit anderen Worten jede Form sinnerfüllten Lebens als Ausdruck einer uneigentlichen Haltung verstanden werden muss – eine These, die sich ihrerseits umgekehrt auf die tatsäch-



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lich erfahrene Seinsvergessenheit stützt. Neben der Frage also, wie sich eine Grunderfahrung »vollziehen«, »darstellen« und »mitteilen« lasse, scheint es daher das viel größere Problem zu sein, wie sich die Erfahrung als Grunderfahrung überhaupt ausweisen lasse (GA 88, 42) – eine Schwierigkeit, die von Heidegger zwar angesprochen, aber doch nicht gelöst wird. Im Blick auf den seinsgeschichtlich verorteten Übergang wird das Problem insofern verschärft, als die Erfahrung ebenso wie der Übergang selbst unter den Bedingungen ewiger Zeitlichkeit zu denken ist. In diesem Sinne kann sie mit den erwähnten Fremdheitsgefühlen gar nicht identisch sein, weil sie selbst prinzipiell zukünftiger Natur ist. Ohne die in der Erfahrung gegebene Verbindung zwischen dem Ort diesseits und jenseits des Sprunges allerdings wäre der Übergang nicht nur prinzipiell zukünftig, sondern gänzlich ausgeschlossen, was in der Konsequenz zwar auf dasselbe hinausläuft, zunächst aber doch einen Unterschied darzustellen scheint. Weil mit anderen Worten nur die ursprüngliche Erfahrung geeignet ist, den Verblendungszusammenhang aufzubrechen und die Notwendigkeit des Übergangs in den Blick zu bringen, bleibt sie als Forderung, bzw. als Strukturmoment erhalten, obwohl ihr de facto kein reales Erleben zu entsprechen scheint. Heideggers Rede von der offenen bzw. von der »leeren Stelle«470 könnte man daher vielleicht auch als Eingeständnis des Fehlens einer für den Übergang notwendigen Erfahrung deuten. »Es fehlt«, so Heidegger in den Beiträgen, »das Hinauswollen« (BP 119), das die »Not« des Übergangs deutlich machen könnte. Dieses Fehlen war bereits im Zusammenhang mit der Frage nach der Notwendigkeit des Sprungs deutlich geworden. Anders aber verhielt es sich mit der Möglichkeit des Sprungs, die ihrerseits auf eine Art von Erfahrung, auf einen gegebenen Bezug zu dem angewiesen ist, was jenseits des Sprunges zugänglich werden soll.

b) Die positive Seinserfahrung Das, was nach Heidegger der erste Schritt des Übergangs zu sein scheint, stellt noch nicht den Übergang in das Seinsdenken selbst, sondern zunächst nur den Übergang in einen gewissermaßen übergänglichen Bereich des Denkens dar. Hier ist die Metaphysik noch nicht überwunden, obwohl ihre Unzulänglichkeit bereits erkannt ist. Vieles deutet darauf hin, dass Heidegger selbst aus einer solch ›übergänglichen‹ Position heraus zu sprechen meint, da er offenbar in der Lage ist, die Seinsvergessenheit 470  Vgl. z. B. folgende Stelle aus Besinnung: »Der Name ›Götter‹ nennt im Seynsgeschichtlichen Denken nur die leere Stelle der Unbestimmtheit der Gottschaft aus der Stimmungslosigkeit des Menschen. […] Eine Leerstelle nennen meint hier aber, einen Bereich der Fragwürdigkeit einzuräumen, welches Denken zugleich aber schon gestimmt sein muß durch eine Stimmung, die den Menschen jeder rechnenden Anklammerung an das Seiende entsetzt« (Bes 249).

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des metaphysischen Denkens zu diagnostizieren, ohne schon die Überwindung desselben für sich in Anspruch zu nehmen. Sofern der Übergang also in Wahrheit aus zwei Übergängen besteht, bildet die Negativitätserfahrung nur einen Teil des Problems. Die Negativität nämlich ist immer schon auf eine vorgängige Positivität bezogen, die allerdings vorerst noch unverfügbarer scheint als die Erfahrung der Negativität selbst. Zugleich aber ist die Frage nach der Möglichkeit des Übergangs – wie im Zusammenhang mit dem Sprung bereits deutlich wurde – an den gegebenen Bezug auf das solchermaßen positiv bestimmte Sein gebunden – ein Bezug, der bei Heidegger im Begriff des ursprünglichen Seinsverständnisses zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne war auch schon im Zusammenhang mit der Figur des Sprungs die Rede davon, dass dieser uns nicht auf einen ganz anderen Boden, sondern in gewisser Weise dorthin bringen soll, wo wir immer schon sind, ohne es eigens zu wissen. Was uns, wie es an anderer Stelle heißt, in der Haltung des metaphysischen Denkens auszeichnet, ist der Umstand, dass wir »schon in der offenen Stelle stehen, aber nicht in sie als solche springen, sondern sie verdecken und uns an anderes halten« (GA 67, 41). Die Kritik an der Metaphysik dient in diesem Sinne dazu, durch den »Abbau geläufig und leer gewordener Vorstellungen« keine neuen, sondern vielmehr »die ursprünglichen Erfahrungen der Metaphysik zurückzugewinnen« (GA 9, 416). Damit aber scheint Heidegger der oben ausgeführten Position, derzufolge die Metaphysik einen abgeschlossenen Zusammenhang bildet, der höchstens als ganzer zusammenbrechen, nicht aber an einer Stelle aufgebrochen werden kann, eine andere Sicht entgegenzusetzen. Die totale Seinsvergessenheit scheint selbst nur eine Täuschung zu sein, wenn es sich andererseits, wie es in Der Satz vom Grund heißt, nicht so verhält, »als ob das Sein sich gänzlich verborgen hielte«, weil uns dann »auch niemals Seiendes gegenüberliegen und vertraut sein« (SvG 111) könnte. Sobald nämlich »Seiendes als solches in seinem Sein« erscheine, sei »beim Erscheinen des Seienden das Scheinen des Seins im Spiel«, ein Umstand, der sich nun im Gegensatz zu der oben benannten exklusiven und zukünftigen Erfahrung des Seins »durch jede beliebige und alltägliche Erfahrung verdeutlichen« lasse (SvG 97). Diese Erweiterung des Erfahrungsbereichs auf »jede beliebige und alltägliche Erfahrung« allerdings bringt ebensowenig wie die Rede von der Exklusivität der Seinserfahrung so etwas wie ein konkretes Phänomen in den Blick, das der Absprungstelle ins neue Denken entsprechen könnte. Der Hinweis auf die grüne Wiese etwa, die in uns eine Ahnung des »Wesens der Natur« (ebd.) entstehen lasse, bleibt so allgemein, dass die hier angesprochene Beliebigkeit nichts anderes zu sein scheint als die Kehrseite der absoluten »Einzigkeit« übergänglicher Erfahrung.471 471 

An dieser Stelle sei erneut auf die Interpretation von Ute Guzzoni hingewiesen, die in dieser Zwiespältigkeit Heideggers ein grundlegendes Problem seines späteren Denkens erkennt. So stellt sie etwa die Frage, warum »Heidegger selbst nirgends von der Gleichzeitigkeit eines Ande-



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Dennoch macht diese Rede von der vorgängigen und insofern durchaus positiv zu verstehenden Seinserfahrung auf einen vielleicht ebenso wichtigen Aspekt der Metaphysikkritik Heideggers aufmerksam. Vieles nämlich deutet darauf hin, dass Heideggers ursprüngliches Projekt in einer Neubelebung des metaphysischen Denkens gegenüber anderen Formen des Philosophierens bestand, und dass sich dieses Anliegen auch bis in sein späteres Denken hinein erhält. Dies zeigt beispielsweise der 1955 entstandene Beitrag einer Festschrift für Ernst Jünger, der unter dem Titel Zur Seinsfrage im Band Wegmarken veröffentlicht wurde. In diesem Text verwehrt sich Heidegger gegen solche Interpretationen, die in seinem Denken die prophetische Ankündigung eines ganz Neuen und zugleich die Vernichtung, die »Zertrümmerung« des Alten erkennen wollen. Es bedürfe »keiner prophetischen Gabe und nicht der Manier von Verkündern, sondern nur der jahrzehntelang geübten Achtung des Gewesenen, das sich im metaphysischen Denken des Abendlandes bekundet« (GA 9, 415). Schon die »in ›Sein und Zeit‹ erörterte Destruktion« kenne in Wahrheit »kein anderes Anliegen […], als im Abbau geläufig und leer gewordener Vorstellungen die ursprünglichen Seinserfahrungen der Metaphysik zurückzugewinnen« (GA 9, 417). Dass Heidegger dazu beigetragen hat, gerade ein solches Denken in Mißkredit zu bringen, das sich als metaphysisch begreift, ist so betrachtet eine bloß ungewollte Folge seines Denkens, die in gewisser Weise sogar im Gegensatz zu seinen eigentlichen Absichten steht.472 Anstelle einer Destruktion im Sinne von »Zertrümmerung« der Metaphysik zielt Heidegger also viel eher auf eine Wiederbelebung dessen, was Metaphysik über das alltägliche Denken und über die verschiedenen Formen von Wissenschaftlichkeit hinaus intendiert.473 Diesem ren, etwa einer sich wahrhaft auf Welt und Dinge einlassenden Erfahrung« spreche. (Guzzoni (2009), S. 92). Indem man die Möglichkeit einer solchen Erfahrung bestreite, beraube »man sich zugleich jeder Möglichkeit eines Verständnisses lebendiger menschlicher Beziehungen und Erfahrungen, man verzichtet darauf, sich selbst und seinem In-der-Welt-sein zu trauen und zu vertrauen« (ebd., S. 82). 472  Dass Heidegger sich gerade von seinen vermeintlichen Anhängern oft missverstanden fühlte, ist vielfach dokumentiert. Vgl. z. B. die folgende Schilderung Hans Ebelings: »1972 hat mir Heidegger einmal […] nahebringen wollen, eine Abkehr von seiner Philosophie […] sei schon deshalb nicht erfolgt, weil die Ankehr, die Zukehr zu seinem Denken gar nicht erfolgt sei. Schließlich könne sich nur abkehren, wer sich zuvor zugekehrt habe. Ich habe lange gebraucht, zu begreifen, daß dies nicht bloß augenzwinkernde Koketterie war, wie sie zwischen Großvätern und Enkeln vorkommt, sondern zuerst: bitterer Ernst für Heidegger« (Ebeling (1990), S. 55). In diesem Sinne, so Ebeling, hätten wir Heidegger »über seine bloß abstrakte Negation der Metaphysik hinaus« den »Anstoß zur Transformation der Metaphysik« zu verdanken (ebd.). 473  Deutlich erkennbar ist das beispielsweise in der Vorlesung zur Einführung in die Metaphysik. Im ursprünglichen Text von 1935 ist etwa die Rede von einer »wesenhaften Überlegenheit des Geistes gegenüber aller bloßen Wissenschaft« (EM 20). Was Heidegger hier kritisiert, ist folglich eine in den Wissenschaften praktizierte ›Entmachtung‹ des Geistes. In der späteren Fassung von 1953 versucht Heidegger – im Sinne seiner anhand der Schellinginterpretation untersuchten geänderten Haltung zur Metaphysik –, die Vorlesung entsprechend umzudeuten. »Geist« scheint

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Kapitel III · Strukturen von Metaphysikkritik – Heidegger und Jacobi

Text zufolge ist Heidegger der Auffassung, dass sich Metaphysik nie wirklich in der Seinsvergessenheit einrichten könne. Sie »verstattet«, wie Heidegger formuliert, »ihrem Wesen nach dem menschlichen Wohnen nie, sich eigens in der Ortschaft, d. h. im Wesen der Seinsvergessenheit anzusiedeln« (GA 9, 417). Das »Denken und Dichten« müsse daher, »dorthin zurück, wo es in gewisser Weise immer schon gewesen ist und gleichwohl noch nie baute« (ebd.). So betrachtet scheint es Heidegger wie Jacobi auf ein ›Mehr‹ der Metaphysik anzukommen, auf das also, was in der Denkweise von Machenschaft und Technik gerade nicht aufgeht. Auf die Frage, ob »das Ende der Philosophie im Sinne ihrer Ausfaltung in die Wissenschaften auch schon die vollständige Verwirklichung aller Möglichkeiten« sei, »in die das Denken der Philosophie gesetzt wurde« (ZSD 65), dürfte man mit Heidegger daher wohl auch getrost mit einem »Nein« antworten. Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht weiter, dass seine unter der Perspektive der Überwindung des metaphysischen Denkens entstandenen Auseinandersetzungen mit den ausgewählten Positionen der Metaphysik in vielerlei Hinsicht tatsächlich die Wertschätzung dieses Denkens dokumentieren.474 Dass Heidegger also einerseits meint, es gebe ein solches ›Mehr‹ im philosophischen Denken, scheint unbezweifelbar. Andererseits aber gilt es ihm zufolge als unmöglich, diesen Überschuss, das, was man auch als das zu rettende Wesen der Metaphysik475 bezeichnen könnte, mit den Mitteln der Metaphysik zu erfasihm nun kein passender Begriff mehr zu sein zur Erfassung dessen, was in der Metaphysik über die anderen Wissenschaften hinausragt. Dieser Umstand aber bedeutet auf der anderen Seite nicht, dass er dieses »Mehr« überhaupt zu bestreiten beginnt. Ähnlich scheint es auch Günter Figal zu betrachten, wenn er schreibt: »Wenn Heidegger von der »Verwindung«, manchmal auch von der »Überwindung« der Metaphysik spricht, ist das nicht im Sinne eines »nachmetaphysischen« Denkens gemeint, sondern als Anzeige des Versuchs, die Möglichkeitserfahrung im Innern des metaphysischen Denkens deutlich zu machen; Verwindung der Metaphysik ist deren Aufklärung, die Erinnerung ans Vergessene oder auch Verdrängte« (Figal (1998), S. 182). Aus diesem Grunde betrachtet Günter Figal Heidegger selbst als eine Art Metaphysiker: »Nur wenn der Ursprung der Metaphysik nicht verschlossen ist«, so Figal in einem anderen Text, »ist eine Erörterung der Metaphysik möglich. Und wenn sich die Erörterung der Metaphysik selbst dem metaphysischen Ursprung verdankt, läßt sie sich zumindest nicht mehr grundsätzlich vom metaphysischen Denken unterscheiden: Heideggers Denken erweist sich damit als eine sehr eigentümliche, als eigentümlich gebrochene Form der Metaphysik« (Figal (1997), S. 194). Dabei käme »alles darauf an zu verstehen, daß hier nicht die Metaphysik, sondern etwas an der Metaphysik kritisiert wird. Das Ergebnis ist dann freilich paradox genug: Weil die Sprache der Metaphysik die Metaphysik verfehlt, will Heidegger von ihr loskommen und setzt alles daran eine nichtmetaphysische Sprache zu finden« (ebd., S. 198). Allerdings vernachlässigt diese Interpretation m. E. den Umstand, dass Heidegger selbst in dieser Frage uneindeutig bleibt. 474 Vgl. hierzu z. B. Jean Grondin, der in Heidegger »bis zuletzt« einen »grossartige[n] metaphysische[n] Denker« erkennt, dessen frühere Einschätzung der Metaphysik angemessener gewesen sei als die spätere (Grondin (2003), S. 57). 475  Vgl. GA 9, 417: »Um jedoch die Metaphysik in ihrem Wesen zu retten, muß der Anteil



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sen. Für das metaphysikkritische Projekt aber bedeutet das, dass es ebenso wie bei Jacobi gerade darum gehen müsste, dieses ›Mehr‹, das der Metaphysik zugrunde liegt und doch von ihr zum Verschwinden gebracht wird, eigens in den Blick zu bringen. Tatsächlich könnte man den von Heidegger geforderten Rückgang in den ersten Anfang auch genau so verstehen, wenn man ihn als einen Rückgang auf die »ursprünglichen Erfahrungen« der Metaphysik betrachtet. Damit aber scheint sich zu bestätigen, dass es hier, wo ein gegebener Bezug zu einem positiv verstandenen Sein im Vordergrund steht, um eine Alternative zu der oben geschilderten Version des Übergangs handelt. Der Übergang zum neuen Anfang, der über die Vollendung der Metaphysik und ihren Zusammenbruch und damit über die Erfahrung des Nichts als der offenen Stelle in die Wege geleitet werden soll, scheint doch durch die Möglichkeit eines Rückgangs in ursprünglichere Erfahrungen obsolet zu werden. Dass es sich hierbei um zwei mögliche Alternativen handelt, scheint sich dann auch dort zu bestätigen, wo Heidegger fragt, ob es »außer der gekennzeichneten letzten Möglichkeit […] eine erste Möglichkeit« gebe, »von der das Denken der Philosophie zwar ausgehen mußte, die sie jedoch als Philosophie nicht eigens erfahren und übernehmen konnte« (ZSD 65, Herv. Heidegger). Auch in den Beiträgen präsentiert Heidegger zwei anscheinend ganz unterschiedliche Möglichkeiten, wie dem »fehlenden Hinauswollen« begegnet werden könne. »Kann hier«, so Heideggers Frage, »die Erinnerung an gewesene Möglichkeiten des Da-seins zur Besinnung führen? Oder muß hier ein Un-gewöhnliches, Nicht-ersinnbares in diese Not hinein stoßen?” (BP 119). Tatsächlich ist bei Heidegger auch manchmal durchaus die Rede von einem gegebenen, und das heißt auch erfahrbaren positiven Bezug zum Sein. So spricht Heidegger in Der Satz vom Grund davon, dass wir die zweite Tonart in gewisser Weise schon im Ohr hätten. »Alles Denken« so heißt es dort, »muß jedoch im Hinblick darauf, was es zu denken gibt, in einer Erfahrung bewandert bleiben, die niemals nur Erfahrung des Einzelnen ist und sich kurz so aussprechen läßt: Selten genug finden wir uns eigens von dem angesprochen, was uns im Wesen beansprucht, und d. h. braucht. In dieser Beanspruchung schickt Sein sich uns zu« (SvG 119). Gleichwohl ist es nicht nur die Leere und Abstraktheit dieser Rede, die Vorbehalte gegenüber dieser Deutung wecken. In Wahrheit nämlich verweist die Rede von der »ersten«, zu »erinnernden« Möglichkeit ebensowenig auf einen erfahrenen und erfahrbaren Bezug wie die Rede vom »Nicht-ersinnbaren«. Denn wo die letzte Möglichkeit als ›prinzipiell zukünftig‹ bezeichnet werden muss, kann man im Blick auf die »erste Möglichkeit« entsprechend von einer ›prinzipiellen Vergangenheit‹ sprechen, die ebenso unzugänglich bleibt. Darüber hinaus aber zeigt sich bei genauerem der Sterblichen bei dieser Rettung sich darein bescheiden, erst einmal zu fragen: ›Was ist Meta­ physik?‹«

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Hinsehen, dass die erste in Wahrheit auch gar nicht als Alternative zu der letzten Möglichkeit gedacht ist.476 Denn wie im Zusammenhang mit der Seinsgeschichte schon deutlich wurde, soll der Übergang in das ganz Andere mit dem Rückgang in den ersten Anfang gerade identisch sein. Das übergängliche Denken ist wesentlich als andenkend-vordenkendes Denken bestimmt, und gerade als solches auf der Basis einer Vermischung von zeitlichen und prinzipiellen Verhältnissen zu denken, die nach Jacobis Diagnose das metaphysische Denken auszeichnet. Gleichgültig, ob es sich um ein Denken in die prinzipielle Zukunft oder um das Denken in den vergessenen Ursprung handelt, der Übergang bleibt Übergang zu einem ganz Anderen, der als tatsächlich vollzogener Übergang in der Zeit prinzipiell ausgeschlossen wird. Damit erweist sich der Umstand, dass das Moment der Erfahrung bei Heidegger zwar thematisiert, aber inhaltlich nicht gefüllt wird, als zentrales Problem der Metaphysikkritik Heideggers. In Wahrheit – so muss man wohl sagen – kann Heidegger selbst auf keine Erfahrung zurückgreifen und verweisen, die systematisch an die Stelle des Freiheitsproblems bei Jacobi treten könnte. Zwar behauptet Heidegger, dass »die genannte Annahme, die Geschichte des Denkens beruhe im Geschick des Seins, kein Meinen von uns aus, sondern ein Empfangen vom Sein her« (SvG 144) sei, und dass die »Rede vom An-nehmen« hier die Bedeutung habe, das »in Empfang [zu] nehmen, was das Denken überkommt« (SvG 144). In Wahrheit aber wird diese Aussage schon dadurch fragwürdig, dass sich Heideggers ›Sage vom Sein‹ in so vielen Aspekten auf Schellings Freiheitsschrift zurückbeziehen lässt. Daneben weist vor allem die inhaltliche Leere seines späteren Denkens darauf hin, dass die Rede vom rezeptiven Vermögen, vom Gehör, das durch eine Stimme angerufen werden soll, selbst eine bloße Leerstelle markiert, die auf keine gegebene Erfahrung bezogen ist.477 476 

Die Ambivalenz Heideggers im Blick auf die Bestimmung des metaphysischen Denkens, seine Unentschiedenheit in der Frage, ob es um die Erneuerung eines historisch bereits gegebenen metaphysischen Denkens oder um die radikale Zurückweisung aller historisch gegebenen Formen von Metaphysik zu gehen hat, drückte sich im Zusammenhang mit dem Problem der Seinsgeschichte ja bereits in der Frage aus, ob diese als der bloß verschüttete und wiederzubelebende Ursprung philosophischen Denkens oder als Moment des Abfalls vom Ursprung zu verstehen ist. Aus der Erklärungsperspektive, die Heideggers Seinsgeschichte und damit zugleich auch das übergängliche Denken bestimmt, kann die Antwort nur im Sinne einer monistisch verfassten Seinsphilosophie erfolgen, bei der die Erklärung eines wirklichen »Abfalls« von der »ursprünglichen« Perspektive allerdings ein unlösbares Problem darstellt. 477  Vgl. auch hier die Kritik von Günter Anders, der in Nihilismus und Existenz (1946) darauf hinweist, dass der Monismus Heideggers mit dualistischen Kategorien behaftet sei, aber dennoch monistisch bleibe, weil er auf kein wirkliches Anderes bezogen sei. Heidegger wünsche »seinem Dasein jene monistische Konsequenz zu verbürgen, die für naturalistische Anthropologien natürlich ist; und den, der Theologie und der religiös verankerten Moralphilosophie selbstverständlichen Dualismus zu vermeiden. Was einmalig und erstmalig an dem existenzialen Monismus ist, ist wiederum, daß er mit religiösen, das heißt mit Dualismus behafteten Kategorien arbeitet«



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Von diesem Problem ist allerdings wegen der komplexen Zusammenhänge der Orte diesseits und jenseits des Übergangs nicht nur die seinsgeschichtliche Konstruktion, sondern ebensosehr die kritische Seite des Unternehmens betroffen.478 Der Feststellung, dass die Erfahrung entweder gänzlich unbestimmt bleiben muss oder aber geradezu auf jede beliebige Erfahrung erweitert werden kann, korrespondiert im Zusammenhang mit der Metaphysikkritik die Unsicherheit Heideggers, worin nun der eigentliche Kritikpunkt, worin also seinsvergessene Wesen der Metaphysik zu finden sei.479 Wie die Vorlesung von 1941 gezeigt hat, sind die metaphysischen Begriffe, an denen sich Heideggers Kritik orientiert, mehr oder weniger austauschbar. Demgegenüber scheint die Begrifflichkeit bzw. der Assoziationsraum, (Anders (2001), S. 58). Was Anders hier anspricht, scheint eben der Kritikpunkt Jacobis zu sein, der den Vermittlungsversuchen Schellings vorwirft, über die wahre Natur seiner monistischen und insofern naturalistischen Position hinwegzutäuschen. In diesem Sinne hat Anders insofern unrecht, als Heidegger keinesfalls der erste ist, bei dem der Monismus mit religiösen Kategorien verbunden wird. Vgl. außerdem das unter dem Titel Frömmigkeitsphilosophie veröffentlichte Nachlasskonvolut, in dem sich z. B. der Hinweis auf die pantheistische Verfassung der Philosophie Heideggers findet, bei der »Gott nicht mehr genannt« werde, während »die Kluft; nämlich die zwischen Seyn und Seienden« zugleich »aufs energischste offengehalten« bleibe (ebd., S. 329). Eine andere Auffassung vertritt Günter Figal, der im Zusammenhang mit der Frage nach der »Gottesvergessenheit« schreibt, dass der »letzte« Gott »aus einer negativen Erfahrung gedacht [sei], aber seine Erfahrung selbst ist derart, daß die negativen Begriffe Positives zu verstehen geben sollen« (Figal (2000), S.148). In diesem Sinne ist er auch der Ansicht, dass ›Dasein‹ rezeptiv auf ein Anderes tatsächlich bezogen sei, das »vormals angesprochen« habe und »sich nunmehr ins Schweigen« zurückziehe. »Im Ausbleiben von Anspruch und Antwort ist die Götterflucht eine Erfahrung des Daseins in seiner ›Alterität‹: Dasein als Offenheit ist immer schon über die Immanenz eines Seins hinaus, das sich in eigener Sicht immer nur als das eigene erschließt« (ebd., S. 153). 478  In diesem Sinne scheint es letztlich kaum möglich, Heidegger nur unter dem Gesichtspunkt seines kritischen Potentials zu betrachten, ohne seine gewissermaßen positive Philosophie, die Seinsgeschichte, dabei mit zu berücksichtigen. Etwas in der Art scheint Dieter Thomä im Sinn zu haben, wenn er vorschlägt, beim Spätwerk Heideggers »nicht etwa die Suche nach einem ›Ursprung‹ hervorzuheben, sondern eher die Analyse der ›Weltbilder‹ und der Formen des menschlichen Selbstverständnisses« (Thomä (2003), S. 140). Allerdings räumt Thomä zugleich ein, dass für die Kritik »dann freilich der Maßstab aus[falle], den Heidegger heranzieht: der der ›Vergessenheit‹ des Seins oder – umgekehrt – der Erinnerung daran. ›Vergessen‹ wie ›Erinnern‹ müßten sich jeweils auf etwas beziehen, das in irgend einer Form vorliegt oder gegeben ist […]; eine solche Vorgabe läßt sich für das menschliche Selbstverständnis aber […] nicht ausfindig machen […]« (ebd.). Welche Bedeutung dann aber Heideggers Kritik an »Weltbildern« und »Formen menschlichen Selbstverständnisses« noch haben sollte, bleibt meines Erachtens unklar. 479  Zwar bleibt die Kritik an der Metaphysik nicht so unbestimmt, wie es unter den gegebenen Umständen, d. h. unter der Bedingung des Ausbleibens eines positiven Seinsbezuges zu erwarten wäre. Denn Heidegger stellt ja mit dem Begriff des Wollens und dem Assoziationsraum von Subjektivität, mit der Kritik am Herstellen und Vorstellen und dem absichtlichen Handeln durchaus bestimmte Merkmale ins Zentrum seiner Kritik, die allgemein als Kritik am neuzeitlichen Subjektdenken zusammengefasst werden kann. Dass sich allerdings gerade hierin die Verdeckung eines ursprünglichen Seinsbezuges ausdrücken soll, bleibt eine bloße Behauptung, die sich ohne die übergängliche Erfahrung nicht ausweisen lässt.

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den Heidegger gelegentlich zur Charakterisierung des Seins heranzieht, seinerseits beliebig und der persönlichen Willkür Heideggers überlassen. Die Rede vom Sein als »Herdfeuer« beispielsweise dürfte sich kaum ernsthaft auf so etwas wie eine ursprüngliche Seinserfahrung zurückbeziehen lassen.480

5.4 Schelling, Heidegger und Jacobi Der Vergleich zwischen Heidegger und Jacobi, der auf wesentliche Unterschiede zwischen beiden Positionen führt, bringt letztlich vor allem weitere Parallelen zwischen Schelling und Heidegger in den Blick. Im Kontrast zu Jacobi, der das Projekt einer Welterklärung zugunsten einer dualistischen Position aufgibt, lassen sich Heidegger und Schelling als Varianten eines metaphysischen Denkens verstehen, das die Grenzen dieses Denkens nicht nur mitbedenken sondern zugleich miterklären möchte. Der Versuch einer Überwindung dieser Grenzen aber ist aus Jacobis Sicht nur im Sinne einer monistischen Welterklärung möglich, die insofern auf dem Boden des metaphysischen Denkens verbleiben muss. Im Blick auf Schelling allerdings muss diese Kritik insofern eingeschränkt werden, als es diesem im Unterschied zu Heidegger gar nicht wesentlich auf die Kritik der Vernunft, sondern vielmehr auf die Vollendung des Vernunftsystems ankommt. In der Behauptung, Schelling sei hier an die Grenze des Nichts und zugleich auf einen neuen Erfahrungsbereich gestoßen, drückt sich vor allem die philosophische Zielsetzung Heideggers aus, dessen Denken von Beginn an im Zeichen der Suche nach einem neuen, dem Sein gemäßen Denken steht. Dass diese Suche von Anfang an auch im Sinne einer neuen, ursprünglicheren Begründung des metaphysischen Denkens gedacht war, verbindet ihn aber zugleich mit der Absicht Schellings, denn die Überwindung der Metaphysik zielt ja nicht auf eine Zertrümmerung, sondern auf eine »Verwindung«, in der, so Heidegger »die bleibende Wahrheit der anscheinend verstoßenen Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes Wesen erst eigens zurück[kehre]« (GA 9, 416) – eine Rede, die vielleicht weniger auf Schelling, dafür aber umso mehr auf Hegels Rede von der »Aufhebung« verweist. Davon, dass 480 

Vgl. z. B. BP 486: »Vermöchte hier das Nennen des Anschaubaren Einiges zu helfen, dann wäre vom Feuer zu sagen, das seinen eigenen Herd erst ausbrennt in die gefügte Härte einer Stätte seiner Flamme, deren steigendes Lodern sich in die Helle ihres Lichtes verzehrt und darin das Dunkel ihrer Glut erglühen läßt, um als Herdfeuer die Mitte des Zwischen zu hüten, das den Göttern die ungewollte, jedoch nötige Behausung, dem Menschen aber das Freie der Bewahrung dessen wird, was, erdhaft-weltlich, das Wahre verwahrend, in dieser Freiheit als das Seiende entsteht und vergeht.« In diesem Kontext ist auch Aus der Erfahrung des Denkens (GA 13) aufschlussreich. Hier, vor allem in dem in diesem Band enthaltenen gleichnamigen Text, lässt sich zumindest erahnen, was Heidegger für eine Vorstellung von unverstellter Positivität hatte.



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Heidegger die »Aufhebung« der Metaphysik in eine höhere Art von Metaphysik betreibe, kann nun einerseits nicht die Rede sein. Andererseits aber bleibt Heidegger auch mit dem angeblichen Sprung noch auf dem Boden des metaphysischen Denkens, das er weder in positiver, noch in negativer Hinsicht zu überwinden vermag. Deutlich zeigt sich dies daran, dass die Kritikpunkte, die Heidegger in Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens in Auseinandersetzung mit Schelling vorbringt, sein eigenes Denken mindestens ebensosehr betreffen wie dasjenige Schellings. Einerseits etwa attestiert er Schelling einen »Grundzug zum Positiven« (GA 88, 140, Herv. Heidegger) (»in Richtung auf ein dem Ich entgegenkommendes Anderes« (ebd.)), der zugleich kein Stehenbleiben bei einer Dialektik, sondern Rückgang in den Grund als »der absoluten Indifferenz« (ebd., Herv. Heidegger) sei, doch kritisiert er andererseits, dass Schelling dabei »in die größte Verlegenheit kommt, das von ihm eigentlich positiv gemeinte rein negativ sagen zu müssen« (ebd., Herv. Heidegger). Ebendies aber gilt auch für Heidegger, der Sein als das dem Seienden gegenüber geforderte Andere durch den fehlenden direkten Zugang zum Sein nach wie vor nicht positiv bestimmen kann. Die Analyse seiner Metaphysikkritik in der Schellingvorlesung von 1941 etwa zeigte, wie Heidegger einerseits versuchte, Sein in der Sprache der Metaphysik annäherungsweise auszudrücken, um andererseits diese Ähnlichkeit durch die Behauptung einer radikalen Abgrenzung auch gleich wieder zurückzunehmen. In eben diesem Sinne aber gilt auch, dass das, was Heidegger positiv »Seyn« nennt, nichts Anderes ist, als das an Schelling kritisierte Konzept eines im Ausgang vom metaphysischen Denken rein negativ bestimmten »unvordenklich Seienden«. Wenn Heidegger andererseits darauf verweist, dass der Entschluss, vom »unvordenklichen Seienden« auszugehen nur möglich sei, »wenn schon das Denken, die Vernunft, vom Existierenden als solchen weiß« (GA 88, 139, Herv. Heidegger), so ist dies eine Voraussetzung, die bei Heidegger zwar immer wieder ins Spiel gebracht, letztlich aber nicht positiv umgesetzt wird«481. Alle hier formulierten Einwände zielen in die gleiche Richtung, indem sie darauf verweisen, 481 

Dabei soll allerdings nicht vorenthalten werden, dass das obige Zitat mit folgender Bemerkung fortgesetzt wird, die hier den eigentlichen Kritikpunkt zu enthalten scheint: Schelling bringe, so heißt es weiter, das unvordenklich Seiende »in den Vollzug als eine Dialektik der Existenz dessen, was existit non per existentiam sed natura sua necessaria« (GA 88, 139 f.). Was aber kritisiert Heidegger hier? Ist es die Selbstbezüglichkeit einer causa sui, die die Logik der Begründung insofern bedient, als sie einen bewussten Selbstbezug annimmt? Diesem Einwand wurde bereits an anderer Stelle begegnet. Oder ist es die Ergänzung eines Quasi-Inhalts unter dem Titel der »Natur«, der über die Feststellung reiner Faktizität hinausgeht? Oder geht es nicht vielmehr darum, dass das Unvordenkliche auf diese Weise nicht mehr als das ganz Andere betrachtet wird, sondern, sofern es in eine Dialektik eintritt, in ein Verhältnis zu den Dingen gerückt wird? Unabhängig davon aber, welche Deutung man bevorzugt, gilt für alle gleichermaßen, dass sie das Fehlen eines wahrhaften Übergangs zu einem ganz Anderen kritisieren, das insofern nur von der Seite der Metaphysik aus negativ konstruiert bleibt.

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dass das ganz Andere bei Schelling im Ausgang vom metaphysischen Denken und in Abgrenzung dazu, also gewissermaßen ohne Sprung erreicht werden soll. Ohne Sprung aber kann es nur unter den Bedingungen der Metaphysik gedacht werden, in der sich das Denken nicht auf ein Anderes bezieht, sondern sich im Selbstbezug um sich dreht. Die Vernunft, die hier vernimmt, ist in diesem Sinne keine vernehmende, sondern eine, so Heidegger in Bezug auf Schelling, »blinde Vernunft«. Als eine solch »blinde«, oder besser gesagt »taube Vernunft« aber erweist sich auch das neuartige »Gehör« bei Heidegger, das offenbar auch kein wahrhaft Positives zu vernehmen vermag. Im Vergleich mit Jacobi zeigen sich die Gemeinsamkeiten von Schelling und Heidegger auch anhand der entscheidenden Frage, ob das Irrationale in der Höhe oder »in der Tiefe« zu suchen sei. Während Jacobi das Wesen des Menschen in seiner Vernunft erkennt, in dem, was ihn über die rein technischen Bezüge mechanischer Art hinaushebt, sind Schelling und Heidegger davon überzeugt, dass das eigentliche Wesen des Menschen gewissermaßen in den dunklen Untiefen vorbewusster Realität verortet werden muss. Und während Jacobi in diesem Sinne die positive Erfahrbarkeit des Unbedingten in der Welt behauptet, gehen Schelling und Heidegger davon aus, dass der irrationale Ursprung in negativen Erfahrungen wie Angst und Traurigkeit zugänglich werde. Nun könnte man einerseits davon ausgehen, dass es in das persönliche Belieben oder auch die eigene Veranlagung gestellt bleibt, ob man eine positive oder eine negativ bestimmte Erfahrung für ursprünglich und maßgeblich erklärt. Andererseits aber führt die Rede vom Gegensatz zwischen dem Irrationalen in der Höhe und dem in der Tiefe im Blick auf das Verhältnis zwischen Jacobi einerseits und Schelling und Heidegger andererseits letztlich in die Irre. Denn was auf den ersten Blick wie eine einfache Entgegensetzung aussieht, ist in Wahrheit komplizierter. Mit der Rede vom »Irrationalen in der Höhe« lässt sich Jacobis Überzeugung ausdrücken, dass das Irrationale zwar dem Verstand unbegreiflich bleibt, zugleich aber dem Geist, anders gesagt, der Vernunft des Menschen, gegenwärtig ist. Jacobis Vorstellung vom »Irrationalen in der Höhe« basiert also wesentlich auf einer Trennung der Vermögen von Vernunft und Verstand, die bei Heidegger nicht vorgenommen wird.482 Die Bestimmung des Irrationalen in der Tiefe, der »dunklen«, im Gegen482 

Anders scheint es sich bei Schelling zu verhalten, der bereits in den Stuttgarter Privatvorlesungen auf die Unterscheidung von Vernunft und Verstand zu sprechen kommt (SPV 471 f.). Die Rede von der Vernunft scheint hier einerseits ganz in die Richtung Jacobis zu weisen, sofern sie von Schelling als ein rezeptives Vermögen, als »das Aufnehmende der Wahrheit« (SPV 472), charakterisiert wird. Gleichzeitig aber spricht Schelling davon, dass die Vernunft »nichts anderes« sei, als »der Verstand in seiner Submission unter das Höhere, die Seele« (ebd.), die ihrerseits als »unpersönlich« zu bezeichnen ist. Wenn der Verstand die höhere Wahrheit der Vernunft verfehlt, dann ist das nach Schellings Darstellung nicht auf das Prozedere des Verstandes, d. h. auf dessen



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satz zur Vernunft stehenden »Realität«, des Seins, ist nicht als Gegensatz zu Jacobis Dualismus, sondern viel eher als Gegensatz zu einem monistisch gedachten Idealismus zu denken, das den Ursprung des Seins umgekehrt in der Vernunft ansiedelt. Das »Irrationale« in der Tiefe bleibt eine idealistische Bestimmung, die im Ausgang vom Versuch, Welt zu erklären, das, was sich der Erklärung entzieht, zu einem negativen und – weil es nur ein Vermögen, eine bloß verständige Vernunft zu geben scheint – zum Anderen der Vernunft bestimmen muss. Was dem Idealismus hell scheint, gilt dieser Form des am Ideal der Erklärbarkeit festhaltenden Denkens folglich als dunkel. Heideggers Denken kann daher auch wie eine Form schwarzer Romantik erscheinen, die zwar von der Unverfügbarkeit des Irrationalen wesentlich ausgeht, zugleich aber ein romantisches Sehnen nach dem Anderen, Jenseitigen, konserviert. Heideggers »Metaphysik ist« – so denn auch eine Feststellung Günter Anders‹ – eine »systematische Hymne an die Nacht«.483 Während diese Entwicklung zur Identifizierung von Realität, Ursprünglichkeit und Dunkelheit schon bei Schelling erkennbar wurde, kommt sie bei Heidegger vielleicht nur noch deutlicher zum Tragen, weil er – im Ausgang vom metaphysischen Denken und zum Zwecke der Überwindung desselben – den Entzug selbst, anders gesagt das »Nichten« zum Wesen des Seins erklärt. Wird »Nichten« in diesem Sinne als dunkles und beängstigendes Phänomen verstanden, ist allerdings immer noch von einem Inhalt die Rede, der am Ende auch noch preisgegeben werden muss. Denn mit dem Entzug des Seins wird bei Heideg­ ger ein bloß formales, inhaltlich unbestimmtes Moment positiv zum Wesen des Seins erklärt. Die daraus resultierende Inhaltsleere dieses Denkens spiegelt die Diagnose Jacobis von der Vernunft, die im Rahmen eines reinen Selbstbezugs nichts als Formen, nie aber einen Inhalt produzieren kann, der der Vernunft von außen gegeben werden muss. Indem Heidegger den Nihilismus positiv zur Schickung des Seins erklärt, schließt er einerseits die offene Stelle, die er seiner kritischen Haltung zufolge offen lassen müsste und überspringt damit den entscheidenden Punkt, der

Logik, sondern auf den Einfluss des Eigenwillens zurückzuführen. Irrtum entsteht daher Schelling zufolge dann, »wenn die untergeordneten Kräfte, der Verstand, der Wille, die Begierde, die Sehnsucht, für sich weiter wollen, nicht sich submittieren dem Höheren« (SPV 470). Der Unterschied zur Position Jacobis aber wird nicht zuletzt deutlich an der Rede von der Persönlichkeit, die in diesem Kontext selbst wieder zu einem negativen, der unpersönlichen Seele entgegengesetzten Konzept wird. »Was die Vernunft nicht annimmt«, so Schelling, »das ist nicht von der Seele eingegeben, das kommt aus der Persönlichkeit« (SPV 472). Vgl. dazu auch Braun (2004). 483  Frömmigkeitsphilosophie in: Anders (2001), S. 356. Heideggers Bilder seien, so Anders hier, »durchaus ›romantisch‹« und gingen auf die »Selbstauflösung des ›gewagten‹ Individuums im VorIndividuellen« aus. »Auch in dieser Hinsicht« sei Heidegger »ein verspätetes Kind des 19 Jahrhunderts: Seine Metaphysik ist eine systematische Hymne an die Nacht. Wohin haben wir zu gehen? Immer nach Hause« (ebd., S. 355 f.).

im Moment des Übergangs erreicht wäre. Andererseits aber öffnet er zugleich in der Rede vom Dunklen und Unerklärlichen die Wege zur willkürlichen Spekulation, indem er dort einen Inhalt suggeriert, wo letztlich keiner mehr ist.

QU E L L E N U N D SIGL E N Quellen und Siglen

Texte, für die keine Siglen vergeben wurden, werden bei Jacobi und Schelling unter Angabe der Bandnummer der Werkausgabe (JWA bzw. SW), bei Heidegger mit der Abkürzung GA und Bandnummer sowie der entsprechenden Seitenangabe nachgewiesen. 1. Friedrich Heinrich Jacobi Werke. Gesamtausgabe, hg. v. K. Hammacher/W. Jaeschke, Hamburg, StuttgartBad Cannstatt 1998 ff. (= JWA) Spin

– Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn  [1785], neue vermehrte Ausgabe, Breslau (1789) – David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein  Gespräch (1787), JWA 2 (1), 9–112 – Jacobi an Fichte (1799), JWA 2 (1), 191–258 – Drei Briefe an Friedrich Köppen (1803), JWA 2 (1), 335–374 GD – Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) JWA 3 (1), 3–136 – Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften (= Vorrede zu Band II der Werke) (1815), 2 (1), 375–433 – Über die Lehre des Spinoza. Erweiterung der dritten Auflage (= Vorbericht zu Bd. IV der Werke) (1819), JWA 1 (1), 335–353 2. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Alle Seitenangaben beziehen sich auf die folgende Werkausgabe: F. W. J. von Schellings sämmtliche Werke, hg. v. Karl F. August Schelling. Stuttgart/ Augsburg 1856–61. (= Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hg. v. M. Schröter. München 1927–54, ND 1962–71) (= SW)

– Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795) [= Ichschrift], SW I, 149–244 – Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795) [= Briefe], SW I, 281–342 – Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802), SW IV, 333–510

424



FS

SPV DJ BuD II

Quellen und Siglen

– System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), SW VI, 141–577 – Über das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts (1806), SW II, 589–610 – Aphorismus über die Naturphilosophie (1806), SW VII, 196–244 – Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) [= Freiheitsschrift], SW VII, 331–416 – Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW VII, 416–484 – Denkmal von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi (1812) [= Denkmal], SW VIII, 19–136 – Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie (1827), SW XX, 1–200 – Briefe und Dokumente, Bd. II: 1775 bis 1803, hg. von Horst Fuhrmans, Bonn 1973

3. Martin Heidegger Gesamtausgabe. Hg. v. Hermann Heidegger in Verbindung mit Friedrich Wilhelm v. Herrmann. Frankfurt/Main 1975 ff. (= GA) A. Zu Schelling: DI – Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (SoSe 1929) (GA 28) VL 36 – Schellings Abhandlung: ›Über das Wesen der menschlichen Freiheit‹ (1809) (SoSe 1936), Tübingen 1971 [= VL 36] (auch in: GA 42) VL 41 – Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) (1941) (GA 49) – Seminare: Hegel-Schelling (GA 86) – Seminare: 1. Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens. 2. Einübung in das philosophische Denken (GA 88) B. ›Seinsgeschichtliche Abhandlungen‹ BP – Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–38) (GA 65) Bes – Besinnung (1938/39) (GA 66) – Metaphysik und Nihilismus (1938–48) (GA 67) ÜA – Über den Anfang (1941) (GA 70) – Das Ereignis (1941/42) (GA 71) – Die Geschichte des Seyns (GA 69)



Quellen und Siglen 425

C. Diverse SZ – Sein und Zeit (1927) (GA 2) WmF – Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (SoSe 1930) (GA 31) – Vom Wesen des Grundes (1929) (in: GA 9, 123–175) EM – Einführung in die Metaphysik (SoSe 1935), Tübingen 1953 (auch in: GA 40) – Die Zeit des Weltbildes (1938) (in: GA 5, 75–113) – Brief über den Humanismus (1946) (in: GA 9, 313–364) – Zur Seinsfrage (1955) (in: GA 9, 385–426) SvG – Der Satz vom Grund (1955/56), Pfullingen 1957 (auch in: GA 10) IuD – Identität und Differenz (1955–57), Pfullingen 1957 (auch in: GA 11) – Der europäische Nihilismus, in: Nietzsche II, Pfullingen 1961 ZSD – Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969 D. Briefwechsel AH – Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925–1975 und andere Zeugnisse (Hg. Ursula Ludz), Frankfurt/Main 1999 HJ – Martin Heidegger/Karl Jaspers: Briefwechsel 1920–1963 (Hg. W. Biemel/H. Saner), Frankfurt/Main 1990 4. Weitere: Baruch de Spinoza: Ethik – Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, lat.-deutsch, übers. u. hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999 – Briefwechsel, 3. Aufl., hg. v. Manfred Walther René Descartes: – Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übersetzt und hg. von Christian Wohlers, Hamburg 2009 [= Meditationen] Johann Gottlieb Fichte: – Über den Begriff der Wissenschaftslehre, in: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Hg. v. I. H. Fichte, Bd. 1 [= Begriffsschrift]

L I T E R AT U R Literatur

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an.

484 

Die in eckigen Klammern angegebene Jahreszahl gibt das Datum der Erstveröffentlichung

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