Gabriele Tergit: Gestohlene Jahre 9783737001144, 9783847101147, 9783847001140

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Gabriele Tergit: Gestohlene Jahre
 9783737001144, 9783847101147, 9783847001140

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Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs

Band 28

Herausgegeben von Thomas F. Schneider im Auftrag des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums Osnabrück

Hans Wagener

Gabriele Tergit Gestohlene Jahre

V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0114-7 ISBN 978-3-8470-0114-0 (E-Book) Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Exil in drei Ländern: Tschechoslowakei, Palästina, England Zwischenstation Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . Palästina und der Zionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Schnellzug nach Haifa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unholdes Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg ins britische Exil . . . . . . . . . . . . . . . . Exil in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Auf dem Wege zum Erfolg: Berlin bis zum Exil . . . . . Abstammung und Judentum . . . . . . . . . . . . . . . Die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Großeltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindheit, Schul- und Berufsbildung . . . . . . . . . . Studium und journalistische Anfänge . . . . . . . . . . Die »sieben fetten Jahre« als Gerichtsreporterin . . . . . Exkurs: Walther Kiaulehn und Rudolf Olden . . . . . . Der Stammtisch im »Capri« . . . . . . . . . . . . . . . . Griechenlandreise und Heirat . . . . . . . . . . . . . . . Die Freundin Hilde Walter und Carl von Ossietzky . . . Der große Erfolg: Käsebier erobert den Kurfürstendamm Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Schlüsselroman? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Roman über den ›Betrieb‹ . . . . . . . . . . . . . . Frauenemanzipation in der Weimarer Republik . . . . Ein neusachlicher Zeitroman . . . . . . . . . . . . . . Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Als die Nazis kamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Der Kampf ums tägliche Überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . Als deutsche Journalistin im britischen Exil . . . . . . . . . . . . Politische Diskussionen: Tergit gegen Hiller . . . . . . . . . . . . Erfolgreiche Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Tergit und der Exil-PEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründung und Neugründung des Londoner Exil-PEN . . . . . . Der Londoner Exil-PEN und das neue PEN-Zentrum Deutschland

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IV. Der kleine Erfolg der goldenen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Betten und Blumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Büchlein vom Bett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaiserkron und Päonien rot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Jahre der großen Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheit und Tod: Sohn Peter und Ehemann Heinrich Reifenberg Sohn Peter und sein Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reisen zur Überwindung des Unglücks . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich Reifenbergs Krankheit und Tod . . . . . . . . . . . . .

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V. Spätsommer im Zeichen des PEN . . . . . . . . . . PEN-Sekretärin: Konfrontationen und Kontroversen Die Arbeit als PEN-Sekretärin . . . . . . . . . . . . Die Auseinandersetzung mit Wilhelm Sternfeld . . Die »Affäre-Luschnat« und andere Konflikte . . . . Weiter leben nach Heinrich Reifenbergs Tod . . . .

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III. Als der Krieg zu Ende war . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Wiedersehen mit Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Opus magnum: Effingers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Leidensgeschichte des Manuskripts . . . . . . . . . . . . Ein jüdischer Familienroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische und reale Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine schwierige Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wandel der literarischen Mode . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Deutschlandbesuch 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . Novelle der Desillusion: Der erste Zug nach Berlin . . . . . . . Kritik am real existierenden Sozialismus der DDR: Das Drama Berufliche Erfolge und Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich Reifenbergs Erfolge als Architekt . . . . . . . . . . . Späte Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzhafte Marginalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Autobiographisches: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen . Der Roman So war’s eben und anderes zum Exil . . . . . . . . Der Engel aus New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Später Streit: die PEN-Berichte, Manfred Durzak und Elisabeth Frenzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die PEN-Berichte und der Kalte Krieg . . . . . . . . . . . . . Die Auseinandersetzung mit Manfred Durzak . . . . . . . . . Ignorierter Antisemitismus: Elisabeth Frenzel . . . . . . . . . Die letzten Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorbemerkung

Warum eine Biographie über Gabriele Tergit? Die 1894 als Elise Hirschmann in Berlin geborene Tergit war in der Weimarer Republik eine der angesehensten deutschen Gerichtsreporterinnen, die als Redaktionsmitglied des Berliner Tageblatts nicht nur die menschliche Seite der von ihr berichteten Fälle herausstellte, sondern auch immer wieder auf die politische Rechtslastigkeit der konservativen deutschen Justiz aufmerksam machte. Ihr Roman über das Berlin der Weimarer Republik Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931), der Romanen wie Erich Kästners Fabian (1931) oder Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932) als ebenbürtig zur Seite zu stellen ist, war ein unmittelbarer Erfolg. Durch die nationalsozialistische ›Machtergreifung’ schon 1933 ins Exil gezwungen, floh die Tergit zunächst nach Prag, dann mit ihrem Mann, dem Architekten Heinrich Reifenberg, nach Palästina (1935) und schließlich nach England (1938), wo sie von 1957 bis 1981 Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (Sitz London), vormals Deutscher ExilPEN, war. Ihr jüdischer Familienroman Effingers, in vieler Hinsicht ein jüdisches Pendant zu Thomas Manns Buddenbrooks (1901), über das deutsche Judentum im 19. und 20. Jahrhundert, an dem sie seit ihrer Flucht aus Deutschland gearbeitet hatte, konnte erst 1951 veröffentlicht werden und fand nicht die erhoffte Resonanz. Für die Fortsetzung So war’s eben konnte sie keinen Verleger mehr finden. Die deutsche Literaturszene war ihr wegen der jüdischen Thematik ihrer Werke und ihres nichtexperimentellen Stils verschlossen. Erfolg hatte sie stattdessen mit ihren kulturhistorischen Studien Das Büchlein vom Bett (1954) und Kaiserkron und Päonien rot (1958). Eine von dem Berliner Journalisten Jens Brüning geförderte Tergit-Renaissance in den Jahren seit 1977 lenkte zumindest die Aufmerksamkeit wieder auf die alte Dame des Exils. Die Publikation ihres autobiographischen Berichts Etwas Seltenes überhaupt (1983) nach ihrem Tode 1981 hat sie leider nicht mehr erlebt. Neben ihren kulturhistorischen Studien sind es vor allem die beiden Romane Käsebier erobert den Kurfürstendamm und Effingers, die weiterhin einen wichtigen Platz in der Geschichte der deutschen Literatur beanspruchen kön-

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Vorbemerkung

nen. Die Bedeutung Gabriele Tergits liegt aber mindestens ebenso sehr in ihrem exemplarischen Leben als jüdische Exilantin, in ihrer unermüdlichen weiteren Arbeit an ihrem literarischen Œuvre im Exil und ihrer selbstaufopfernden Tätigkeit als Sekretärin des Londoner Auslands-PEN. Es geht in dem vorliegenden Buch also nicht einfach um die Darstellung von Leben und Werk einer deutschen Schriftstellerin, sondern um eine jüdische Berliner Autorin, deren Karriere durch den Nationalsozialismus aus der Bahn geworfen wurde, die trotz aller Widrigkeiten ihres Exils weiter gearbeitet hat und sich als PEN-Sekretärin größte Verdienste um die Fortsetzung der deutsche Literatur im Ausland in der Zeit des Nationalsozialismus erworben hat. Ihr Leben und ihr Werk haben dadurch paradigmatische Bedeutung. Los Angeles, CA, Dezember 2012

Hans Wagener

I. Auf dem Wege zum Erfolg: Berlin bis zum Exil

Abstammung und Judentum Die Eltern Gabriele Tergit stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Berliner Familie. Sie wurde am 4. März 1894 im Osten Berlins, in der Raupachstraße 9, als Elise (genannt Lisa) Hirschmann geboren.1 Ihr am 16. Dezember 1863 in Ansbach geborener Vater, der jüdische Fabrikant Siegfried Hirschmann, war der Gründer der Deutschen Kabelwerke in Berlin sowie der Union Cable Works, Dagenham Docks in London. Die Tochtergesellschaft der Deutschen Kabelwerke, DEKA Pneumatik, stellte Autoreifen dieser Marke her. Ferner war der Vater Eigentümer einer ziemlich kurzlebigen Autofabrik, zuerst in Rummelsburg (Lichtenberg), dann in Ketchendorf bei Frankfurt a.O., wo er, zusammen mit dem Polen Zielinski, die ersten deutschen luftgekühlten Dreiradautos, die »Cyclonetten«, herstellte. Den daraus erwachsenen Konzern führte er in Lichtenberg bis 1933 weiter, als er von der Gestapo verhaftet und ins Gefängnis gesperrt wurde. Gabriele Tergits, bzw. Hirschmanns Mutter, Frieda Hirschmann (geb. 18. Juni 1873), geb. Ullmann, kam aus München, wo ihre Eltern in der Posamentenbranche tätig waren: sie stellten Textilien zur Verzierung von Kleidung, Polstermöbeln, Wand- und Fensterdekorationen her : Borte, Schnüre, Quasten usw. Ihre Urgroßeltern hatten 1813 das Wäschegeschäft A. Raff in der Dienerstraße gegründet, das unter den Nazis ›arisiert‹, also praktisch gestohlen wurde. Auch die Familie der Mutter war wohlhabend: »Die Brüder meiner Mutter hatten sich aristokratisch assimiliert und ritten mit den Wittelsbachern.«2 Der Stammbaum der Familie mütterlicherseits ließ sich bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgen. Ein Zweig war nach Amerika ausgewandert; Leon Rowe, der Direktor der Pan-American Union, einer 1890 gebildeten Organisation zur Förderung der 1 Die Raupachstraße befand sich in der Nähe der Holzmarktstraße, wurde aber 1970 überbaut. 2 Brief vom 5. September 1972 an Horst Krüger (DLA).

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Auf dem Wege zum Erfolg: Berlin bis zum Exil

Zusammenarbeit zwischen den lateinamerikanischen Ländern und den USA, war ein Vetter von Gabriele Tergits Mutter.

Die Großeltern Ihr Großvater väterlicherseits war 1830 in Steppach b. Augsburg geboren und lebte dann teils in Steppach, wo er der jüdische Schlächter war, ferner in Nürnberg-Fürth und teils in München. Nach Nürnberg war er gezogen, weil einige seiner Kinder dort wohnten; er selbst wurde dort Oberhaupt der orthodoxen jüdischen Gemeinde. Gabriele Tergit stellte dazu später in einem Interview fest: »[…] mein Großvater war ein ungemein frommer Mann. Man kann seine Religiosität vielleicht orthodox nennen, aber es ist doch eine andere Orthodoxie als sie im Osten herrschte.«3 Ein Schwager ihres Großvaters war Samson Raphael Hirsch, der führende Vertreter des orthodoxen Judentums im Deutschland des 19. Jahrhunderts und Begründer der Neo-Orthodoxie. Damit gehörte zumindest ein Teil ihrer Familie dem orthodoxen Judentum an. Ihr Urgroßvater hatte 13 Kinder, von denen einige Bankiers wurden. Ursprünglich kamen beide Teile ihrer Familie aus Altenstadt im Allgäu: »Hier gab es zwei kleine Orte, der eine Altenstadt, der völlig jüdisch war, der andere war Iltertissen, der völlig christlich war.«4

Jüdische Tradition Von ihren Großeltern her ist Gabriele Tergit mit allen jüdischen Festen aufgewachsen, infolgedessen hat sie die damit verbundenen Bräuche genau gekannt und sehr geliebt. Sie war auch stets eine eifrige Bibelleserin: »Mir sind die Propheten liebe Freunde geworden. Ich hab von Jesaja gelernt: Folge nicht dem großen Haufen nach, richte dich nicht nach dem Urteil der Menge. Dieser Satz ist einer der Erkenntnisse, die mir für mein ganzes Leben richtungweisend gewesen sind.«5 Sie bekannte sich damit zu einer individuellen Lebensgestaltung und Verantwortung; sie bekannte sich zum Judentum und »bejahte die Lektüre der Schrift als Lebensorientierung, verneint[e] aber einen über Thora oder den Führungsanspruch einer ›erwählten Gruppe‹ eingeforderten Konformitätsanspruch«: 3 Interview mit dem Journalisten Henry Jacob Hempel: Gespräch zwischen Henry Jacob Hempel, Berlin und Gabriele Tergit über ihre Emigration, geführt im April 1979 in London. Unveröffentl. Manuskript im Nachlass von Gabriele Tergit (DLA). 29 Seiten; hier S. 6. 4 Ebd. 5 Ebd.

Abstammung und Judentum

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Tergits Bekenntnis zum Judentum ist ein Bekenntnis zum Anderssein, zur Individualität – aber damit auch zu denen, die der Verfolgung ausgesetzt sind und die sich gegen den Missbrauch von struktureller und instrumenteller Gewalt bewähren müssen. Ihrer Auffassung nach liegt die Macht des Jüdischseins in seiner Individualisierung moralischer Entscheidungen, die die Anhängerschaft von einem Tyrannenkultus ausschließt. Jüdischsein heißt letztlich: nicht Masse werden zu können – und es auch nicht zu wollen.6

Dabei litt sie Zeit ihres Lebens einerseits unter einem »verheerenden Minderwertigkeitskomplex als »›miese kleine Jüdin‹«, den ihr ihre Tante Kathie, »die eine schwere Antisemitin war«, eingeredet hatte.7 Andererseits behauptete sie später, die Haltung ihrer Berliner Umwelt den Juden gegenüber sei keine Angelegenheit gewesen, die ihr Leben furchtbar beeindruckt oder beeinflusst habe. Sie habe auch deshalb nicht darunter gelitten, weil sie bis in ihre späten Jahre nie für eine Jüdin gehalten worden sei. »Infolgedessen haben die Leute immer alle möglichen antisemitischen Sachen in meiner Gegenwart dahingeredet und ich habe mich immer gewundert: Na, was woll’n die eigentlich. Ich habe mich also nie als fremd oder als Fremde betrachten müssen.«8 Später schrieb sie einmal, Judentum habe für viele assimilierte deutsche Juden vor allem die Bedeutung gehabt, zu einer Gemeinschaft zu gehören.9 Der Antisemitismus speiste sich ihrer Meinung nach aus dem Hang zur Verallgemeinerung, zum Generalisieren, wogegen sie sich ihr ganzes Leben lang wandte: Mein größter Hass ist gegen das Generalisieren gerichtet. […] Oder all diese Verallgemeinerungen über Juden; Juden sind doch so verschieden wie alle anderen Menschen auch. Sie sind völlig verschieden; es gibt Juden, die haben einen großen Sinn für Geld, es gibt auch sehr viele deutsche Christen, die einen sehr großen Sinn für Geld haben; es gibt Leute, die können überhaupt nicht rechnen, Juden, Nicht-Juden, da kann man nicht verallgemeinern.10

1948 meinte sie rückblickend, »dass die Atmosphäre zwischen Juden und Christen in Deutschland seit 1890, bestimmt aber seit 1918 vergiftet war«,11 ein 6 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht im literarischen Werk der Gabriele Tergit. Diss. Aachen [1996], S. 165. 7 Brief an Jane (Aennchen) Loep vom 10. Juli 1964 (DLA). 8 Ebd., S. 7. Eine Art kurze Geschichte des Antisemitismus in Deutschland enthält Tergits Aufsatz »Hitlerismus ohne Hitler. Anlässlich Sebastian Haffners ›Anmerkungen zu Hitler‹«. In: Europäische Ideen, Heft 45/46 (1979), S. 26 – 28. 9 »Judaism meant to them [die Eltern einer Londoner Emigrantin], as it did to so many assimilated German Jews, a powerful sense of belonging to the Community.« »Gabriele Tergit«, translated by Joseph Leftwich, unter »Grand Old Ladies«. In: Joseph Leftwich (ed.), Yisröel. The First Jewish Omnibus. New York, London 1963, S. 393 – 399; hier S. 396. 10 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 9 f. 11 Brief an Walter von Hollander vom 7. Juli 1948 (DLA).

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Auf dem Wege zum Erfolg: Berlin bis zum Exil

Urteil, das angesichts des unmittelbar vorangegangenen Holocausts nicht überrascht.

Kindheit, Schul- und Berufsbildung Gabriele Tergit wuchs im Osten Berlins auf, den sie viel mehr liebte als den Westen, in den die Eltern später zogen. Sie spielte dort mit den anderen Kindern von der Straße, in der sie lebte, u. a. mit dem späteren Schriftsteller und Präsident der Deutschen Akademie der Künste in der DDR, Willi Bredel. Es war für sie sehr wichtig, dass sie mit den Straßenjungs und -mädchen mit Murmeln gespielt hatte und »Himmel und Hölle« gehopst war, denn so lernte sie eine Welt kennen, mit der sie später als Gerichtsreporterin wieder in Berührung kommen sollte, für die sie schon deshalb großes Verständnis aufbringen konnte, weil es ursprünglich ihre Welt war : Bei meinen späteren Gerichtsberichten für das Berliner Tageblatt hat mir dann die Kenntnis des östlichen Berlins sehr geholfen. Also die Toiletten auf dem Hof oder die Toiletten auf dem Treppenabsatz, oder dass ich wusste, dass eben zehn Mietparteien nur einen Wasserhahn haben, der auf dem Korridor zu finden ist. Diese unwahrscheinlichen Verhältnisse, fünf Menschen, die in einem Zimmer schlafen, dann noch der Schlafbursche, all dies ist für mich nicht fremd gewesen, weil ich eben in der Gegend aufgewachsen bin. Ich habe mich nie als fremd oder anders empfunden.12

Es verwundert deshalb auch nicht, dass Elise Hirschmann infolgedessen später als Gabriele Tergit in ihren beruflichen Ambitionen großes soziales Engagement zeigte. Die Familie Hirschmann hatte zwei Kinder, Gabriele und einen Bruder, über den sie erst später berichtete, als er mit der Mutter im Exil in Guatemala war. Die Verhältnisse der Familie im bescheidenen Osten Berlins waren allerdings nicht so bescheiden, wie sie es bei vielen anderen dort gesehen hat, denn im Hause der Hirschmanns gab es schon früh alle wesentlichen technischen Novitäten wie elektrisches Licht, und man unternahm zusammen Reisen, beispielsweise nach Weimar und 1909 in die Schweiz. Als der Wohlstand der Familie stieg, zog man in den Westen der Stadt und wohnte in der Corneliusstraße 6. Die Eltern ließen ihrer Tochter eine Erziehung angedeihen, die von Realitätsbewusstsein und modernem Denken zeugt. Sie besuchte zuerst die Margareten-, dann die Charlottenschule und anschließend, auf den Rat einer Freundin, aber gegen den Willen ihres Vaters, nach dem Abschluss der Mittelschule im Jahr 1910 die 1908 von Alice Salomon mitbegründete überkonfessionelle »Soziale Frauenschule« in 12 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 7.

Abstammung und Judentum

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Berlin-Schöneberg, die Teil des von Hedwig Heyl und Henriette SchraderBreymann 1874 gegründeten »Pestalozzi-Fröbel-Hauses« war, um sich auf eine Zukunft in der Sozialfürsorge vorzubereiten. Später meinte sie, das sei ein falscher Ratschlag gewesen, denn wenn sie damals gleich angefangen hätte, sich auf das Abitur vorzubereiten, dann hätte sie viele Jahre ihres Lebens anders verbracht und wäre früher zur Zeitung gekommen.13 In der Frauenschule sei sie von den Vertreterinnen der damaligen bürgerlichen Frauenbewegung, von Gertrud Bäumer, Lily Dröscher und Alice Salomon unterrichtet worden. Auch mit der später als Frauenrechtlerin aktiven Hilde Walter, mit der sie ihr Leben lang befreundet bleiben sollte, wurde sie dort bekannt. Eine Nichte von Fröbel, eine bezaubernde ältere Dame, deren Name ihr entfallen sei, habe dort Pädagogik gelehrt: Was ich dort gelernt habe: nun, soziale Fragen: etwas Nationalökonomie, dann war die Schule mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus verbunden, dort ist man mit kleinen Kindern umgegangen, hat kleine Babies [sic] gewaschen, dann gab es auch Kochunterricht, […] nach Schulabschluss konnte man Kindergärtnerin werden oder in irgendwelchen Institutionen arbeiten. Also ich habe danach in einem Kinderhort im Berliner Osten gearbeitet, die Atmosphäre in diesem Kinderhort ist mir unvergesslich, weil ich wirklich gesehen habe, was das für arme Würstchen sind, wie miserabel das ganze Niveau war. […] Auf diese Weise habe ich doch recht jung gemerkt, dass es eine wirkliche Armut in der Welt gibt, eine sehr schwer zu bekämpfende Armut, die große Probleme stellt. Insofern ist diese soziale Frauenschule schon sehr wichtig gewesen.14

Aufgrund dieser frühen Erfahrungen mit wirklicher Armut und mit einfachen Leuten hat sie auch immer mit Menschen aus dem Volk gut umgehen können, sei es später mit dem Kinderfräulein für ihren Sohn oder mit ihrer Hausgehilfin in England, die ihr 25 Jahre lang treu blieb. Kurz: sie konnte mit Menschen, die aus einem anderen Milieu kamen, umgehen, weil sie selbst nicht snobistisch war.15 Neben der weiteren Ausbildung in Kinderhorten arbeitete sie auf freiwilliger Basis bei der Lehrstellenvermittlung. Ihr Ziel war, in der Sozialfürsorge zu arbeiten, unter Umständen sogar in der Sozialpolitik tätig zu werden, in der sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen im Berufsleben hätte einsetzen können. Schon als junges Mädchen entwickelte sie aber auch literarische Interessen, die sie mit ihrer engen Freundin Helene (Hella) teilte. Sie lasen zusammen die ersten Bücher von Jakob Wassermann und Thomas Manns Buddenbrooks (1901). In einem Interview mit Jens Brüning erzählte die Autorin später, den

13 Ebd., S. 8. 14 Ebd. 15 Vgl. ebd.

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Auf dem Wege zum Erfolg: Berlin bis zum Exil

Vornamen Gabriele habe sie schon in diesem Backfisch-Freundinnen-Kreis, dem »Hella«-Lenchen und auch eine »Maja« angehörten, angenommen.16 In Verbindung mit Hella hatte sie leider eine unangenehme Begegnung mit dem Antisemitismus in Deutschland, der vor allem im mittleren Bürgertum vorherrschte. Hella hatte sich 1915 mit einem Leutnant verlobt. Weil Elise Hischmann eine enge Freundin der Braut war, wurde auch sie zur Hochzeit eingeladen. Die Vettern Hellas, Söhne eines Berliner Bankdirektors, drückten in einem Sketch die Hoffnung aus, dass ihre Kusine, die sich völlig mit Juden umgab und von diesen Hella genannt wurde, während sie doch eigentlich ein Lenchen (Helene) sei, durch eine Heirat mit einem preußischen Offizier nun als Lenchen wieder zu ihnen zurückkehre. Daraufhin ließ sich Elise Hirschmann an der Garderobe ihre Sachen geben und verließ die Feier.17 Man hätte meinen sollen, dass es 1915 Wichtigeres zu bedenken gab, als den persönlichen Umgang mit Juden.

Studium und journalistische Anfänge In ihren »Erinnerungen« Etwas Seltenes überhaupt berichtet Gabriele Tergit unter der Überschrift »Mein Weg zum ›Berliner Tageblatt‹«, wie es zu ihrer ersten Publikation kam: Seit ich neunzehn Jahre alt war – ich wurde 1894 geboren –, habe ich für Zeitungen geschrieben.18 [Am 22. November] 1915 veröffentlichte der »Zeitgeist«, eine Beilage des [im Rudolf-Mosse-Verlag erscheinenden] »Berliner Tageblatts«, einen Artikel »Frauendienstjahr und Berufsbildung«.19 In der Nacht, bevor der Artikel erschien, bekam ich eine tödliche Angst, ich stand auf, zog mich an, aber schon beim Strumpfanziehen wurde mir klar, dass man keine Schnellpresse anhalten kann. Ich erkannte, dass ich zu wenig wusste, und fasste deshalb in dieser schrecklichen Nacht den Entschluss, mein Abitur zu machen und zu studieren. Als ich zum Frühstück kam, sagte meine Münchner Mama: »Ja, wie schaust du denn aus?« Als der Artikel erschien, sah ich, dass meine Angst völlig berechtigt war. Ein junges Mädchen aus guter Familie hatte nicht in Zeitungen zu schreiben. Ich begegnete allgemeiner Verachtung. (Etwas Seltenes, 9 f.)

16 Email von Jens Brüning vom 20. Januar 2011. 17 Vgl. Interview mit Henry Jacob Hempel sowie Gabriele Tergit,,Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein 1983 (Ullstein-Buch Nr. 20324), S. 133 f. Im Folgenden im Text zitiert als Etwas Seltenes, gefolgt von der Seitenzahl. 18 Ein erstes Gedicht erschien angeblich in der Aktion. 19 Wieder abgedruckt in: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970. Herausgegeben von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin [2001], S. 7 – 10. In der dort, S. 19 – 58, abgedruckten, vorher unveröffentlichten Erzählung »Der Anfang« berichtet Tergit ebenfalls über die Publikation ihres ersten Artikels.

Studium und journalistische Anfänge

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Ihr erster Artikel war ein Diskussionsbeitrag zum »Nationalen Frauenjahr«, zu dem die Frauenrechtlerinnen Gertrud Bäumer und Hedwig Heyl nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufgerufen hatten. Gabriele Tergit hatte den Artikel, ermutigt von Gertrud Bäumer, die neben Hilde Walter später zur führenden Vertreterin der deutschen Frauenbewegung wurde, geschrieben. Als sie in das Zimmer des »Zeitgeist«-Redakteurs Fritz Engel trat, um sich ihr Honorar abzuholen, rief dieser : »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so jung sind, hätte ich den Artikel nicht gebracht.« (Etwas Seltenes, 10) Das Honorar von 50 Mark, die erste größere Summe, die sie für eine journalistische Arbeit bekommen hatte, wurde ihr auf dem Schulkorridor aus der Manteltasche gestohlen. In ihrem Artikel ging es um die Probleme von Frauen im Kriege, aber schon damals stand ihr Ziel, in der Sozialfürsorge zu arbeiten, nicht mehr fest, denn der Krieg hatte die Einstellung zum Frauenstudium geändert. Deshalb hatte sie sich 1915 bei einer Abendschule angemeldet, um als »Externe« oder »Wilde« 1918 mit 24 Jahren ihr Abitur nachzumachen und anschließend zu studieren. Einen regulären Universitätsreifeabschluss für Frauen gab es zu dieser Zeit noch nicht. Das Studium zeugt nicht nur von der wirtschaftlichen Lage ihres Elternhauses und modernem Denken, das sich darin zeigte, dass man die Tochter nicht traditionsgemäß in Richtung Heirat zu lenken versuchte, sondern auch von der eigenen Energie und Entschlusskraft Gabriele Tergits, sich in einer Männerdomäne durchzusetzen. Von 1919 an studierte sie dann in München, der Heimatstadt ihrer Mutter, und anschließend in Heidelberg, Frankfurt am Main und Berlin Geschichte, Philosophie und Soziologie. Ihr Hauptfach war dabei eindeutig Geschichte, schon einfach deshalb, weil sie sich darin nicht gut genug auskannte und in ihren Artikeln keine Fehler machen wollte, wie sie sie bei anderen Journalisten vielfach entdeckt hatte. Unter ihren Professoren waren in München Max Weber und Erich Marcks, der Autor einer seinerzeit sehr einflussreichen zweibändigen Biografie Otto von Bismarcks (1909 bzw. 1915), die den ersten Reichskanzler als Vollender der deutschen Geschichte feierte. Marcks war ein Verkünder des autoritären Machtstaates und damit ein glühender Nationalist, der, im Gegensatz zu Friedrich Meinecke, auch im Dritten Reich Anerkennung fand. In Heidelberg studierte sie bei Friedrich Gundolf und Ernst Troeltsch; in Berlin, wohin sie aus Geldmangel zum Wintersemester 1920/21 zurückgekehrt war, bei Eduard Spranger und vor allem bei Friedrich Meinecke, der in der Weimarer Republik und dann wieder in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als der Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft angesehen wurde. Meinecke war Begründer der »Ideengeschichte«. Schon damals hatte er sich mit Weltbürgertum und Nationalstaat (München 1908) sowie Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (München 1924) einen großen internationalen Ruf erworben. Nach dem Ersten Weltkrieg war er zum »Vernunftdemokraten« geworden.

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Ihre Doktorarbeit schrieb Elise Hirschmann, wie die Tergit damals noch hieß, unter der Aufsicht von Meinecke und Marcks in Frankfurt am Main, wohin sie zum Sommersemester 1923 gewechselt war, über den Naturwissenschaftler Karl Vogt mit dem Titel Karl Vogt als Politiker.20 Vogt war ein deutsch-schweizerischer Professor aus Gießen, der 1848 – 49 Mitglied der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gewesen war. Dass sich die Tergit einen entschiedenen Demokraten für ihr Dissertationsthema ausgesucht hatte, entsprach natürlich ihrer eigenen politischen Überzeugung. 1925, also im Alter von 31 Jahren, wurde sie an der Universität Frankfurt am Main zum Dr. phil. promoviert. Das war für eine Frau selbst nach dem Ersten Weltkrieg immer noch außergewöhnlich, und später hat sie, wohl etwas kokettierend, in einem Brief an Ludwig Marcuse gemeint, der Erwerb des Doktortitels habe sie viele Jahre ihres Lebens gekostet, »völlig überflüssigerweise da ich erstens dann geheiratet habe und der Doktortitel ging auf meinen Mann über und zweitens als Gabriele Tergit ein zweites Leben führte, also ganz überflüssigerweise an einem Doktor gearbeitet habe.«21 In diesem Punkte ist ihr kaum zuzustimmen, denn »[s]ie wollte zwar ›nur‹ Journalistin werden, aber die Ausbildung zur Historikerin hat viele Spuren in ihrem Werk hinterlassen.«22 Neben ihrem Studium schrieb Gabriele Tergit ab 1920 regelmäßig Feuilletons für die Vossischen Zeitung sowie das Berliner Tageblatt, eine der führenden liberalen Zeitungen während der Weimarer Republik. Von 1923 an arbeitete sie als Gerichtsreporterin für den Berliner Börsen-Courier. Eine feste Stellung hat sie nie gehabt; sie war zeitlebens freiberufliche Autorin, sogenannte Pauschalistin, zwar mit regelmäßigem Einkommen, aber nie fest angestellt. Sie schrieb von nun an meist unter dem Pseudonym »Gabriele Tergit«.23 Wie war es zu diesem Pseudonym gekommen? Die Namenswahl ging auf ihre Heidelberger Studienzeit zurück. Dort wohnte in der Nähe, in Neckargmünd, seit 1915 der Berliner Schriftsteller Georg Hermann, der durch die Romane Jettchen Geberts Geschichte (1906 – 1909) und Henriette Jacoby (1908) bekannt geworden war. Ihn besuchte Elise Hirschmann ab und zu, und als man beim Tee im Garten saß, kam das Gespräch auf einen Heidelberg-Artikel, den sie schreiben, aber 20 In einem Brief von Arno Reinfrank vom 30. Mai 1927 an Gabriele Tergit (und nochmals in einem Brief vom 12. Juni 1972) bat dieser sie »dringend um Datum und Thema Ihrer Dissertation, da Neo-Nazi-Kreise in Deutschland verbreiten, Sie maßten sich zu Unrecht den Dr. an.« (DLA) In einem Brief vom 29. September 1977 erwähnt er, die Bezweiflung ihres Doktorats sei in Hamburg von Kurt Hiller »angezettelt« worden. (DLA) 21 Brief an Ludwig Marcuse vom 13. Juli 1955 (DLA). 22 Jens Brüning, »Nachwort«. In: Gabriele Tergit, Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen. Herausgegeben von J.B., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 (suhrkamp taschenbuch 2280), S. 195 – 206; hier S. 200. 23 Daneben verwendete sie auch die Pseudonyme Lyonel, Lily Stock, Irene Bersil, E. Hensel, Maria Becker und Emmy Grant.

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nicht mit ihrem Namen unterzeichnen wollte. Hermann sagte zu ihr : »Als Hirschmann kannst du in der Presse nicht weiterkommen. Du brauchst einen eindrucksvolleren, originelleren Autorennamen!«24 Und: »Nennen Sie sich ›Veilchen‹.« »Ach Gott, Unsinn«, antwortete sie. Sie sah sich dabei im Park um, blickte zufällig auf die durch Gitter eingezäunten Rasenflächen. Dabei fiel ihr der Münchner Schuldirektor ihrer Mutter ein, der Winter hieß und eine Tochter hatte, die Schauspielerin war und sich, die Silben ihres Namens umkehrend, »Terwin« nannte. Sie sagte deshalb zum Scherz zu ihren Freunden: »Vielleicht so was wie ein umgedrehtes Gitter – Tergit?« Der Vorschlag fand allgemeine begeisterte Zustimmung, so dass es bei diesem Namen blieb.

Die »sieben fetten Jahre« als Gerichtsreporterin Mit ihren Feuilletons für die Vossische Zeitung und das Berliner Tageblatt hatte Gariele Tergit ihren Beruf gefunden, war eine leidenschaftliche Journalistin geworden, die sich nicht scheute, fragwürdige Machenschaften und Ungerechtigkeiten der Justiz aufzudecken. Im Herbst 1923, nach dem Ende der Inflation und der Einführung der stabilen Rentenmark, bot ihr Erich Vogeler, der Feuilletonchef des Berliner Börsen-Couriers, für den sie seit 1920 gelegentlich Feuilletons geschrieben hatte, an, Gerichtsreportagen für seine Zeitung zu schreiben. Der Anfang als Gerichtsreporterin war jedoch gar nicht so einfach, denn es gebrach ihr schlicht an Mut und Selbstvertrauen. Vogeler hatte ihr zwar genau den Fall, Ort und Zeit der Gerichtsverhandlung genannt, aber als sie in dem Gerichtsgebäude die Treppe zum Zuhörerraum hinaufgegangen war, konnte sie sich nicht entschließen, die Tür zum Verhandlungszimmer zu öffnen. Es war die Schüchternheit der jungen Frau, die im Begriff war, sich einen Platz in einem traditionellen Männerberuf zu erobern, und die nun gefordert war, wortwörtlich in einer Flucht nach vorn die Tür in diesen Bereich aufzustoßen. Es waren die Grenzen der ›anständigen Frau‹, die sie damit überschritt, einer Frau aus privilegierter Umgebung, die nun einem Broterwerb nachging. Im Sommer 1924 fuhr Tergit in das damalige Modebad Hiddensee auf der Insel Rügen, wo Gerhart Hauptmann bis 1943 mit seiner zweiten Frau Margarete Marschalk die Sommermonate verbrachte: »Hauptmann, wie ein römischer Imperator in ein weißes Frottiertuch gewickelte, öffnete mir einmal mit unvergleichlicher Grandezza eine Gartenpforte.« (Etwas Seltenes, 10) Auch Thomas Mann hielt sich dort auf »und nahm ihm [Gerhart Hauptmann] Maß, um ihn als 24 Später nannte Gabriele Tergit Rücksicht auf ihre Familie als Grund für die Wahl eines Pseudonyms: »I myself just couldn’t write under the name of my father.« Brief o.D. an Mr. Rosenstock, Association of Jewish Refugees in Great Britain (DLA).

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Peeperkorn in den ›Zauberberg‹ einzuarbeiten. Thomas Mann war nervös, denn im Hotelgarten wurde mit Pfeil und Bogen geschossen, und seine kleinen Kinder flitzten herum in tatsächlich ständiger Gefahr.« (Etwas Seltenes, 10 f.) In Hiddensee traf sie auch den Zeichner Walter Trier, der durch seine Illustrationen zu Erich Kästners Kinderbüchern, allen voran Emil und die Detektive (1929), berühmt werden und damit viel zu Kästners Erfolg beitragen sollte.25 Der Aufenthalt in Hiddensee hatte zwei wichtige Folgen: Erstens lernte sie von Frau Trier, Kugeln um den Hals zu tragen, was sie für den Rest ihres Lebens tat, so dass später ihr Mann, wenn er sie ohne Kugeln sah, bemerkte, sie habe »doch so’n nackten Hals«. (Etwas Seltenes, 12) Folgenreicher war jedoch zweitens die Begegnung mit zwei Referendaren, denen sie erzählte, sie würde gerne einer Gerichtsverhandlung beiwohnen. Als ihr der eine von ihnen sagte, jeder könne doch in den Zuschauerraum gehen, antwortete sie nicht, verabredete sich aber mit ihm vor dem Landgericht in der Berliner Turmstraße: Wir betraten das Gebäude durch den Vordereingang. Er führte mich in den noch völlig leeren Gerichtssaal, ließ mich durch die Gerichtsschranken gehen, und hier saß ich in der vordersten Reihe des Zuhörerraumes. Ich schrieb kein Wort mit, um nicht aufzufallen, und sandte meinen Bericht an den »Berliner Börsen-Courier« mit den im Kopf behaltenen Dialogen, denn Vogeler war inzwischen Korrespondent in Kopenhagen geworden. Ich hatte noch nie einen Gerichtsbericht gelesen, ich sah auch nicht nach, ob er erschienen war. Aber ich ging weiter ins Gericht und schrieb. (Etwas Seltenes, 12)

Sie schickte alle ihre Reportagen dem Berliner Börsen-Courier ein, erfuhr von der Veröffentlichung ihrer Artikel aber erst nach Wochen, da sie aus Furcht vor der Enttäuschung, sich lächerlich gemacht zu haben, in der Zeitung nie nachgeschaut hatte. Der Mann, der damit Gabriele Tergits journalistische Karriere fest etablierte, war der Chef des lokalen Teils des Börsen-Couriers Felix Joachimson, der wenige Jahre später einen enormen Erfolg mit seinem Lustspiel Fünf von der Jazzband (1927; verfilmt 1931/32) haben sollte. Fünf von der Jazzband war das erste Theaterstück des Journalisten; es wurde von Leopold Jessner angenommen und unter der Regie von Erich Engel erfolgreich aufgeführt. In den folgenden Jahren war Joachimson einer der erfolgreichsten Bühnen- und Drehbuchautoren deutscher Zunge. Wegen seiner Anti-Nazi Komödie Die Optimisten 1933 ins Exil getrieben, lebte er 1933 bis 1937 in Budapest und Wien, wo er als Drehbuchautor für Universal Pictures weiterarbeiten konnte. Wie Gabriele Tergit wurde auch er 25 1924 hatte Gabriele Tergit auf Hiddensee auch den Architekten Breslauer kennengelernt, »der, beim preußischen Adel beliebt, auch Schloss Muskau des Grafen Arnim, den man den ›first gentleman of Prussia‹ nannte, umbaute. Breslauer, ein Traditionalist, war Heinzens [seit 1928 Ehemann der Tergit] erster Chef. Als erste Aufgabe musste Heinz den Plan irgendeines Schlosses von rheinischen Fuß ins metrische System umrechnen.« (Etwas Seltenes, 11)

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im Frühjahr 1937 ins – allerdings amerikanische – Exil getrieben und hatte dort, im Gegensatz zur Tergit in ihrem späteren Londoner Exil, ebenfalls großen Erfolg: Nach anfänglichen Schwierigkeiten – er konnte kaum Englisch – gelang es dem Anpassungswilligen, der sich nun Felix Jackson nannte, in Hollywood zu einem erfolgreichen amerikanischen Drehbuchautor, Fernsehproduzenten und Romancier zu werden. Als Koautor der Westernkomödie »Der große Bluff« (»Destry Rides Again«; 1939) gelang es ihm sogar, mit einem revolverlosen Helden eine neue Art des Westerns zu begründen.26 – Den Herbst 1924, September, Oktober und November, bezeichnete Gabriele Tergit als »drei reizende endlose Monate« der journalistischen Tätigkeit, in denen sie mit ihren Kollegen ihre Artikel besprach und veröffentlichte. Da im Berliner Tageblatt noch immer keine guten Gerichtsreportagen erschienen, schrieb sie einen kurzen Brief an den Chefredakteur Theodor Wolff und legte ein paar ihrer Artikel bei. Am 24. Dezember bat Wolff sie, ihn zu besuchen: Er kam hinter einem Schreibtisch voll Papieren hervor, aber seine berühmten Leitartikel schrieb er an einem Stehpult. […] Wolff war von einem so großen persönlichen Charme, dass man die Hässlichkeit des Gesichts und der Gestalt völlig vergaß. […] »Wieviel habe ich gesagt?« streute Wolff beiläufig ein. »Vierhundert im Monat?« Ich schwieg. »Das Mädchen sitzt im Sessel, sieht aus und gibt mir das Gefühl, als ob ich sie ausnutze. Also fünfhundert Mark?« (Etwas Seltenes, 12 f.)

Natürlich ging die Tergit darauf ein. Sie musste dafür neun Gerichtsberichte im Monat liefern, und Extra-Artikel sollten mit fünfundsiebzig Mark bezahlt werden. »Das bekam ich, weil mir Monty Jacobs bei den großzügigen Ullsteins so viel für jeden Artikel in der ›Vossischen Zeitung‹ bezahlt hatte und Wolff dem nicht nachstehen wollte.« (Ebd.) »Kapitalismus 1924« im bescheidenen Rahmen nannte sie diese Diskussion, aber sie kam auf ein monatliches Einkommen von immerhin 1.000 Mark.27 Der 1868 geborene Theodor Wolff war im Berliner Zeitungsbetrieb eine feste Institution. Im Alter von 19 Jahren war er 1885 von seinem 25 Jahre älteren Vetter Theodor Mosse in dessen Verlagsredaktion aufgenommen und zum 26 Vgl. Joseph Kraus, »Felix Jackson«. In: John M. Spalek und Joseph Strelka (Hgg.), Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. 1: Kalifornien. Teil 1. Bern und München 1976. S. 730 – 737. 27 Obwohl sich Gabriele Tergit immer wieder bemühte, die Tätigkeit ihres Mannes als Architekt aufwertend darzustellen, urteilt Erhard Schütz ganz realistisch: »Verheiratet mit einem wenig erfolgreichen Architekten und Mutter eines Sohnes, bestritt sie so im wesentlichen den Unterhalt der Familie.« E.S., »Von Fräulein Larisssa zu Fräulein Dr. Kohler? Zum Status von Reporterinnen in der Weimarer Republik – das Beispiel Gabriele Tergit«. In: Walter Fähnders und Helga Karrenbrock (Hgg.), Autorinnen der Weimarer Republik. Bielefeld 2003, S. 215 – 237; hier S. 228.

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Journalisten ausgebildet worden. Als Paris-Korrespondent des Berliner Tageblatts wurde er nach 1896 insbesondere durch seine kritische, genaue Berichterstattung zur Dreyfus-Affäre bekannt. In Berlin hatte er 1891 die erste deutsche Ausstellung von Edvard Munch organisiert, die zu einem Skandal führte, aber dem Kunstleben der deutschen Hauptstadt entscheidende Impulse gab. Selbst Mitbegründer des naturalistischen Berliner Vereins »Durch«, gehörte er zu den frühen Entdeckern Gerhart Hauptmanns, die 1889 eine Aufführung von dessen bahnbrechendem naturalistischen Drama Vor Sonnenaufgang im Rahmen von Otto Brahms »Freier Bühne« möglich gemacht hatten. Max Reinhardt war sein Freund. Im Herbst 1906 bot ihm Rudolf Mosse die Leitung des Berliner Tageblatts an. Wolff musste sich nach seiner Tätigkeit als Auslandskorrespondent in Berlin erst wieder eingewöhnen und begann damit, dass er nahezu die gesamte Belegschaft auswechselte, um das Blatt auf eine demokratische Grundlage zu stellen. Als Chefredakteur entwickelte er es zu einer der angesehensten Zeitungen Berlins, die zeitweise Auflagen von über 300.000 Exemplaren erreichte. Wolffs Markenzeichen wurde der montags erscheinende Leitartikel. Mitte März 1933 wurde er auf Druck der nationalsozialistischen Machthaber von Hans Lachmann-Mosse, der seit 1930 Leiter des Mosse-Verlages war, seines Postens als Chefredakteur enthoben. Schon unmittelbar nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 war er über München zunächst nach Tirol, dann in die Schweiz geflohen. Da er dort keine Aufenthaltserlaubnis erhielt, ließ er sich Ende 1933 mit seiner Frau in Nizza nieder, wo ihn die Tergit besuchte. Da seine Anti-Nazi-Haltung bekannt war, wurde er am 26. Oktober 1937 ausgebürgert, und mit der Staatsangehörigkeit verlor er sein in Deutschland verbliebenes Vermögen. Wolffs Bücher wurden 1933 öffentlich verbrannt. Nach der Niederlage Frankreichs am 22. Juni 1940 betrieb er erfolglos die Auswanderung nach Amerika; Zivilbeamte der italienischen Besatzungsmacht verhafteten ihn am 23. Mai 1943; er wurde der Gestapo übergeben und über ein Marseiller Gefängnis in das Konzentrationslager Drancy und anschließend in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. An der Infektionskrankheit Phlegmone erkrankt, verlegte man ihn am 20. September 1943 auf Bitten der Mithäftlinge in das Berliner Jüdische Krankenhaus, wo er nach drei Tagen starb. – Von Gabriele Tergits Freunden und Kollegen vom Berliner Tageblatt sollte nur Walther Kiaulehn die Nazi-Herrschaft überleben. Tergits früherer Chef Emil Faktor, der Chefredakteur des Berliner BörsenCouriers, war natürlich nicht sehr erfreut, als ihm seine begabte Mitarbeiterin ihren Weggang mitteilte. Er bot ihr dreihundert Mark im Monat und ein eigenes Zimmer an. Die Tergit fühlte sich nicht wohl bei ihrem Wechsel, aber zur Redaktion des Berliner Tageblatts zu gehören, war damals eine so große Sache, dass sie nicht widerstehen konnte. Der Redaktion der Zeitung gehörten damals Redakteure mit illustren Namen an: neben dem Chefredakteur Theodor Wolff:

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Alfred Einstein, Rudolf Olden, »der zwielichtige Fred Hildenbrand, [Victor] Auburtin und [Arnold] Höllriegel, der wirklich gute Mensch Fritz Engel, Walther Kiaulehn und viele andere.«28 Außer den Gerichtsreportagen schrieb Tergit Feuilletons über »Berliner Existenzen«, in denen sie mit viel Humor einfache Leute charakterisierte, und Artikel für die sogenannte »Berlinseite«, die Walther Kiaulehn erfunden hatte und die von ihm und Rudolf Olden redigiert wurde. Hier räumte man ihr außergewöhnlich viel Platz ein. Zahlreiche ihrer Artikel wurden nachgedruckt. Mehrere Jahre lang brachte beispielsweise das Prager Tageblatt eine »Berliner Existenz« von ihr in seinen Weihnachtsnummern. Sie bot dem Rowohlt Verlag ihre gesammelten Berliner Existenzen als Buch an, erhielt jedoch eine Absage, da kein rascher Umsatz zu erwarten war.29 Ihre Anfrage hatte sie allerdings kurz vor Erscheinen ihres Erfolgsromans Käsebier erobert den Kurfürstendamm (Berlin: Rowohlt, 1931) eingereicht. Gabriele Tergit hatte keinerlei juristische Vorbildung, so dass sie ihre Gerichtsreportagen nicht, wie vorher ihre meisten älteren Kollegen, mit juristischer Trockenheit schrieb, sondern mit gesundem Menschenverstand und Sympathie für die einfachen Menschen, die in die Mühlen der Gerechtigkeit geraten waren, während es den echten Gaunern oft gelang, sich der Gerechtigkeit zu entziehen. Sie betrachtete die Rechtsfälle von der menschlichen Seite aus, schilderte die Charaktere, die sich im Labyrinth der Paragraphen verfangen hatten, und was sie sah, beschrieb sie nicht im juristischen Jargon, sondern in der Alltagssprache ihrer Leser. So begann eine Revolution der deutschen Gerichtsreportage, die sie und ihr allerdings schon 1928 verstorbener Kollege Sling (das Pseudonym von Paul Schlesinger) in der Vossischen Zeitung zu einem eigenen literarischen Genre erhoben.30 Es sind im Grunde zweierlei Arten von Prozessen, über die die Tergit berichtete. Zum einen sind es unspektakuläre, alltägliche Prozesse über die armen Leute, die zahlreichen Arbeitslosen, Dienstmädchen und Landstreicher, die kleinen Gestrauchelten und Verelendeten, für die es weniger Gerechtigkeit gab als für Wohlhabende. Es geht also hauptsächlich um Prozesse wegen Hochstapelei, Wucher und Heiratsschwindel oder um Eifersuchtsdelikte. Mit viel Ironie und Witz, manchmal auch mit einem Gutteil Berliner Schnauze beschreibt sie all die Handelsvertreter, gescheiterten Tänzerinnen, Barmixer und erfolglosen Künstlerinnen. Vor allem die schwierige Situation der Frauen in der sich zu28 Aus einem autobiographischen Abriss Gabriele Tergits in: Dies. (Hg.), : P.E.N. Zentrum deutscher Autoren im Ausland. Sitz London. Autobiographien und Biographien (London 1959, 1968, 1970, 1982) (DLA). 29 Brief von Ernst Rowohlt vom 9. April 1931. Nach Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 45. 30 Egon Larsen, Die Welt der Gabriele Tergit. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. München 1987, S. 12.

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spitzenden wirtschaftlichen Lage der zwanziger Jahre, wie sie in Verstößen gegen das Abtreibungsgesetz eklatant deutlich wird, beschäftigt sie immer wieder. In diesen Fällen beleuchtet sie »stets die sozialen und menschlichen Ursachen der Tat. Ausführlich schildert sie beispielsweise die Beweggründe, die Frauen zu einer Abtreibung zwingen und zeigt auf, wie das herrschende Recht Frauen geradezu in die Hände von ärztlichen Pfuschern treibt – und damit in ungezählten Fällen in den Tod.«31 Sie kritisiert nicht den Abtreibungsparagraphen 218 per se, lobt aber die Richter für ihre humane Interpretation des Paragraphen und Bestrafung mit Bewährung, »ein Urteil, das gefällt erscheint, mehr um dem Buchstaben des Gesetzes zu genügen, als aus Überzeugung von der Strafbarkeit dieser Handlung.« (Wer schießt aus Liebe, 117)32 Sie kritisiert stattdessen die Politiker, die den Paragraphen noch nicht abgeschafft haben. (Wer schießt aus Liebe, 142)33 »Um den § 218 wurde gestern von morgens bis in den späten Abend verhandelt; aber es ging um Menschliches«, heißt es 1926 in einer Reportage mit dem Titel »Moderne Gretchentragödie«.34 »Das Menschliche interessiert Gabriele Tergit, nicht der Fall, der Verstoß gegen das Gesetz oder den Paragraphen.«35 So schreibt sie verallgemeinernd: »Vor Gericht kommen meist nur Fälle, die mit Tod enden. Von den hunderttausenden, die Siechtum bringen, erfahren wir nichts. Aber Jammer und alle Empörung über diesen Paragraphen scheinen nichts zu nutzen.«36 Es geht der Tergit also um die Menschen und ihre so oft inhumanen Lebensbedingungen, die sie zu ihren Vergehen getrieben haben und nicht um das kalt urteilende Gesetz. Zum Urteil selbst hat sie jeweils zum Schluss nur ein paar Worte zu sagen; wichtig ist es ihr nicht, es sei denn, es war ungewöhnlich hart oder milde. So spielt sie ihr subjektives Gerechtigkeitsempfinden oft gegen das des Gerichts aus. Zum anderen geht es um politisch motivierte Verbrechen, um Schlägereien 31 Klaus Farin, »Das Erschrecken hat die Zeit überdauert«. In: Vorwärts vom 22. Dezember 1984, S. 29. 32 Ich zitiere im Text nach der Ausgabe Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Hg. und mit einem Vorwort vers. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin 1999, u.d. T. Wer schießt aus Liebe, gefolgt von der Seitenzahl. 33 Vgl. Fiona Sutton, »Weimar’s Forgotten Cassandra: The Writings of Gabriele Tergit in the Weimar Republic«. In: Karl Leydecker, German Novelists of the Weimar Republic. Intersection of Literature and Politics. Rochester, N.Y. 2006, S. 193 – 209; hier S. 197. 34 Gabriele Tergit, »Moderne Gretchentragödie«. In: G.T., Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923 – 1933. Hg. von Jens Brüning. Berlin: Rotation 1984, S. 122 – 124; hier S. 122. 35 Heide Soltau, »Die Anstrengungen des Aufbruchs. Romanautorinnen und ihre Heldinnen in der Weimarer Zeit«. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2: München 1988, S. 220 – 235; hier S. 233. 36 Gabriele Tergit., »Abtreibungsprozess ohne Frauen«. In: Dies., Blüten der Zwanziger Jahre,. S. 125 f.; hier S. 126.

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zwischen Rot und Braun, um rechte Gewalt, Feme und Mord. Vor allem ihre Berichte über die Fememord-Prozesse, wie »Montag und Donnerstag Überfall«, wurden in ganz Deutschland nachgedruckt und machten sie zur Feindin der Nationalsozialisten. In ihren Prozessberichten klagt sie immer wieder die Ungerechtigkeit an, die in den strengen Urteilen gegenüber linken und liberalen Angeklagten ausgesprochen, während Verbrechen der heraufkommenden politischen Rechten mit einem Klaps auf die Hand geahndet werden. Gabriele Tergit bezieht klar Stellung gegen die Ungerechtigkeit der deutschen Justiz, die mit zweierlei Maß richtet, gegen das Versagen der deutschen Polizei und der Staatsanwaltschaft in der Weimarer Republik. Sie schreibt schon früh gegen rassistische Tendenzen (»Der Überfall auf die Chinesen«). Dies begann wenig spektakulär, indem junge Nazis sich im Gerichtssaal in Moabit herumflegelten oder wenn ein Veteran vor Gericht stand, der vor einem jüdischen Geschäft randaliert hatte. Aber die politische Radikalisierung der Gesellschaft, der Kampf zwischen Rechten und Linken (»Montag und Donnerstag Überfall«, »Kommunisten vor Gericht«, »Atmosphäre des Bürgerkriegs«) wurde innerhalb weniger Jahre größer, die Verbrechen wurden schwerer und der Ton härter. 1927 standen beispielsweise Angehörige der Schwarzen Reichswehr vor Gericht, die untreu gewordene Kameraden ermordet hatten. »Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch«, schreibt die Tergit.37 Es war der große Prozess der Fememörder, die später als die ersten Soldaten des Dritten Reiches verehrt wurden. Sie berichtet in drei Artikeln über »[e]ine der scheußlichsten Taten, die je in Moabit zur Verhandlung standen«, den grausamen Mord an einem jüdischen Zeitungsverkäufer, für den der Mörder nur fünf Jahre Gefängnis bekam. »So zart kann man das Faustrecht, das sich in Deutschland ausbreitet, nicht bekämpfen«, schrieb sie am 17. Juli 1930 im Berliner Tageblatt.38 Es ist für sie offenkundig, dass die alten, reaktionären Richter aus der Kaiserzeit den Schlägertypen der SA und nationalsozialistischen Parteimitgliedern mit größerer Sympathie gegenüberstehen als jungen Sozialdemokraten oder gar Kommunisten. Ein Beleidigungsprozess im Januar 1932 sticht dabei besonders hervor. Die zahlreichen Journalisten waren gezwungen, draußen vor dem Gerichtssaal zu warten, und bildeten so unwillentlich ein Spalier für den Angeklagten, der vor ihnen den Gerichtssaal betreten durfte – Adolf Hitler. Gabriele Tergit war empört und warf den preußischen Behörden vor, dadurch mitzuhelfen, Hitler als zukünftigen Monarchen zu zeigen. Ihr Artikel trug die Über-

37 Gabriele Tergit, »Gestalten aus dem Femeprozess« (25. März 1927). In: Dies., Blüten der Zwanziger Jahre, S. 98 – 102; hier S. 99. 38 Gabriele Tergit., »Nach dem Urteil« (17. Juli 1930). Ebd., S. 106 f.

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schrift: »Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit«.39 In Etwas Seltenes überhaupt schrieb sie später über den Prozess: »Ich habe vierzig Jahre lang über diesen Prozess nachgedacht, gedacht, was ich schon während des Prozesses dachte. Hitler und Goebbels saßen mir drei bis vier Meter gegenüber. Wenn ich einen Revolver besessen und sie erschossen hätte, hätte ich fünfzig Millionen Menschen vor einem frühzeitigen Tod gerettet; […].« (Etwas Seltenes, 49) So wird schon anhand ihrer Gerichtsreportagen die Bedrohung der Weimarer Republik durch den Nationalsozialismus, die schrittweise Anpassung der Justiz an das Denken der Nationalsozialisten deutlich, bevor diese an die Macht kamen. Ende 1931 notiert sie: Die Nationalsozialisten behaupten, die Revolution der Marxisten zu bekämpfen, sie wollen ihr bürgerliches Leben erhalten, aber wenn sie gefragt werden, wer sie sind, so antworten sie mit dem Armeerang im Bürgerkrieg. Sie sind SA-Mann oder SS oder Ordonanz oder auch nur HJ. Sie haben längst vergessen, dass sie Arbeitslose sind oder Verkäufer von Stoffen oder Buchhalter oder Postbeamte.40

Durch diese Selbsttäuschung trügen sie sich über die von ihnen begangenen kriminellen Handlungen und sehen sich als heroische Soldaten in einem gerechten Krieg. Interessant ist der Bericht über einen Betrugsprozess, »Kantinen im Monde« (Wer schießt aus Liebe, 140 f.), weil er die in ihrem Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm beschriebenen windigen Geschäfte vorausnimmt. In dem Prozess geht es um eine lange Serie von Verträgen und weitervergebenen Aufträgen in der Bauindustrie, die nur auf dem Gerücht über den Ausbau des Berliner U-Bahnnetzes beruhen. Das ganze Netz von Geschäftsplänen bricht zusammen, als sich herausstellt, dass es sich eben nur um ein Gerücht handelte.41 Im Mai 1932 berichtete Gabriele Tergit für die Weltbühne über einen der schmutzigsten Prozesse der Weimarer Republik, den Sklarek-Prozess, der seit 1929 über die Bühne ging und der den Nationalsozialisten immer wieder Material für ihre Angriffe auf die Republik lieferte. Es ging um einen großen Skandal, in den die Brüder Sklarek, fragwürdige Geschäftemacher, verwickelt waren, um Korruption, Schiebung, Betrug und Vetternwirtschaft. Voller Sarkasmus berichtete die Tergit und entlarvte die betrügerischen Machenschaften der höchsten gesellschaftlichen Kreise der Zeit. Zu Lebzeiten hat sie bis zuletzt gezögert, ihre journalistischen Arbeiten aus 39 Gabriele Tergit, »Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit«. In: Weltbühne vom 26. Januar 1932; zitiert nach: Dies. Blüten der Zwanziger Jahre, S. 89 f. Vgl. Nadine Lange, »Eine Berliner Existenz«. In: TAZ vom 15./16. Mai 2004, »panorama«, S. IV. 40 Gabriele Tergit in einem Artikel vom 18. Dezember 1931 mit dem Titel »Atmosphäre des Bürgerkriegs«. In: Dies., Blüten der Zwanziger Jahre, S. 107 – 110; hier S. 109. 41 Vgl. Fiona Sutton, »Weimar’s Forgotten Cassandra«, S. 199.

Exkurs: Walther Kiaulehn und Rudolf Olden

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der Weimarer Republik wieder zu veröffentlichen. 1984 erschien jedoch eine erste Auswahl ihrer Prozessberichte und Feuilletons unter dem Titel Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923 – 1933. Hg. von Jens Brüning (Berlin: Rotation Verlag). 1994 folgte die Sammeledition Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen. Hg. und mit einem Nachwort vers. von Jens Brüning (Frankfurt a.M.: Suhrkamp) und schließlich Wer schießt aus Liebe. Gerichtsreportagen. Hg. und mit einem Vorwort vers. von Jens Brüning. (Berlin: Das Neue Berlin 1999). – Obwohl sie die Atmosphäre in der Lokalredaktion nicht erfreulich fand, bezeichnete sie ihre Zeit beim Berliner Tageblatt vom 1. Januar 1925 bis zum März 1933 als »die sieben fetten Jahre im Leben einer ganzen Generation.« (Etwas Seltenes, 14) Ein Ausweg aus dieser unangenehmen Atmosphäre war die Erfindung der »Berlin-Seite« durch den Kollegen Walther Kiaulehn, dem die Atmosphäre auch nicht zusagte. Er erfand die sogen. »Berlin-Seite«, die es ihm und Gabriele Tergit erlaubte, in Rudolf Oldens Zimmer umzuziehen, dem »dritten Mann« dieses Unternehmens. Daraufhin wurden ihre Gerichtsreportagen, ohne dass sie das wusste, nur noch auf einer Seite des Berliner lokalen Teils gebracht.42 Von 1928 an schrieb sie Artikel für die Weltbühne, zunächst unter dem Pseudonym Christian Thomasius,43 von 1930 an als Gabriele Tergit, sowie für das Tage-Buch, zumal sich die finanzielle Lage des Berliner Tageblatts zu verschlechtern begonnen hatte.

Exkurs: Walther Kiaulehn und Rudolf Olden Walther Kiaulehn (1900 – 1968) kam aus einfachen Verhältnissen. Er war der Sohn eines Maurers, hatte selbst eine Lehre als Elektromonteur gemacht und war erst dann Journalist geworden. Nachdem er am Berliner Tageblatt bzw. Abendblatt gearbeitet hatte, war er anschließend, von 1930 bis 1933, bei der B.Z. am Mittag. 1933 erhielt er Berufsverbot, war jedoch Ende der dreißiger Jahre noch gelegentlich Sprecher der Ufa-Wochenschau sowie mehrerer Kulturfilme. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er als Mitglied einer Propagandakompanie. Da er Mitglied der Reichskulturkammer (RKK) war, ist es erstaunlich, dass die Tergit in ihrer Autobiographie so viel Gutes über ihn zu berichten weiß. Aber genau besehen, ist das, was sie an ihm lobt, vor allem seine professionelle Kompetenz: 42 Brief an Will Schaber vom 26. November 1976 (DNB). 43 Das Pseudonym Christian Thomasius war sicherlich ganz bewusst gewählt worden, denn der Hallenser Ordinarius dieses Namens (1655 – 1728) stand für aufklärerisches Denken, das schließlich zur Abschaffung der Hexenprozesse in Preußen führte.

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Auf dem Wege zum Erfolg: Berlin bis zum Exil

Wenn ich über einen Prozess schrieb, so hielt das Aufnahmeband, das mein Gehirn ist, den einen entscheidenden Satz des Prozesses fest, aber aus diesem Satz entwickelte Kiaulehn eine »Studie zur Frauentreue«. Die Waage auf der Herrentoilette des Wittenbergplatzes wurde zum »Bacchanal auf der Wiegeschale«. Kiaulehn schrieb als ein Ziseleur der Sprache wie jeder Humorist, aber mehr noch als ein Genie der Geselligkeit, ein Causeur. Die Anregungen, die er um sich streute, hätten genügt, mehrere Zeitungen zu füllen. (Etwas Seltenes, 16)

Nach dem Zweiten Weltkrieg zog Kiaulehn nach München um und arbeitete zunächst als Schauspieler und Kabarettist. Sein Versuch, an der von den Amerikanern konzessionierten Neuen Zeitung wieder als Journalist zu arbeiten, scheiterte zunächst am Widerstand Hans Habes, obwohl Kiaulehn von seinem Freund Erich Kästner, dem damaligen Feuilletonchef, protegiert wurde. Anfang der fünfziger Jahre wurde er Feuilletonchef des Münchner Merkur, ein Blatt, für das er als leitender Redakteur und Theaterkritiker bis zu seinem Tode im Jahre 1968 arbeitete. Rudolf Olden (1885 – 1940), der Dritte im Bunde, war der Sohn des Schriftstellers Johann Oppenheim (seit 1891 Hans Olden) und der Schauspielerin Rosa Stein. Olden war auf Wolffs Betreiben 1926 von Wien zum Berliner Tageblatt gekommen. Er redigierte die Artikel von Gabriele Tergit und selbst die von Walther Kiaulehn: »Er strich, stellte zusammen, hob einen Gedanken aus der Wirrnis des dunkel Gefühlten in die Klarheit einer lichtvollen Prosa, und so wurde aus unseren Artikeln erst ein guter Kiaulehn, ein guter Tergit.« (Etwas Seltenes, 17) Olden war insgesamt dreimal verheiratet; kurz vor Hitlers »Machtergreifung« heiratete er die zwanzigjährige Ika Halpern. Ursprünglich hatte er eine militärische Laufbahn angestrebt und das Ende des Ersten Weltkriegs als Oberleutnant, wenn auch als Pazifist erlebt. Als solcher schrieb er zunächst in Wien für die pazifistische Zeitschrift Der Friede und arbeitete als Redakteur für Der neue Tag. Von Theodor Wolff nach Berlin geholt, machte er sich schon bald als politischer Leitartikler einen Namen und avancierte bereits nach kurzer Zeit zum Stellvertreter Wolffs. Ende er zwanziger/Anfang der dreißiger Jahre arbeitete er auch als Rechtsanwalt, wobei er u. a. Carl von Ossietzky, den wegen »Beleidigung der Reichswehr« angeklagten Chefredakteur der von Siegfried Jacobsohn gegründeten linksliberalen Zeitschrift Die Weltbühne, erfolgreich verteidigte. Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 konnte er nur einer Verhaftung entgehen, weil er durch Freunde gewarnt wurde. Er arbeitete zunächst in Prag, dann in Paris für verschiedene Exilzeitungen und wurde schließlich Sekretär des Deutschen PEN-Clubs im Exil in London. Wie viele andere deutsche Exilanten wurde er 1940 in England interniert. Nach seiner Entlassung am 6. August des Jahres nahm er, obwohl an Leukämie erkrankt, einen Ruf an die New School for Social Research, die New Yorker Exiluniversität,

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an. Da ihm Amerika fremd war, hatte er nur zögernd akzeptiert. Am 12. September 1940 fuhr er während eines deutschen Luftangriffs zusammen mit seiner Frau von Liverpool ab, doch das Schiff, das ihn in die Neue Welt bringen sollte, die »City of Benares«, wurde am 17. September 1940 auf der Überfahrt im Atlantik von einem deutschen U-Boot torpediert. Von den Passagieren, insgesamt 314 Erwachsenen und 92 Kindern, wurden 140 Erwachsene und 19 Kinder gerettet. Rudolf Olden und seine Frau waren nicht darunter. Ika Olden hätte sich retten können, wollte aber ihren über dreißig Jahre älteren, kranken Mann im Tode nicht verlassen. Die Tochter der Oldens, Mary Elisabeth, war als Kind von ihren Eltern mit einem Kindertransport nach Kanada geschickt worden, um sie vor der Bombardierung Londons zu bewahren. Dort war sie von einer christlichen Professorenfamilie aufgezogen worden. Bei einem Besuch ihres mütterlichen Großvaters in Israel verliebte sie sich, inzwischen zwanzig Jahre alt, in einen Israeli und heiratete ihn. Sie sollte später mit ihrem sechzehnjährigen Sohn Gabriele Tergit in London besuchen. Rudolf Oldens Schwester Ilse, die Frau des österreichischen Grafen Carlo Seilern, schrieb Gabriele Tergit nach dem Tod ihres Bruders 1940 aus Südamerika und forderte sie auf, seine Biographie zu schreiben, sie habe alles Material. Doch die Tergit hatte Angst, dass das Material nie bei ihr eintreffen würde. Selbst ihr Antwortbrief hat sein Ziel nie erreicht. Dreißig Jahre später besuchte Tergit die verwitwete Ilse (Elisabeth) Olden in Basel in einem »gläsernen Mietshaus«. Die Tergit war inzwischen über achtzig, die Schwester Oldens neunzig Jahre alt.

Der Stammtisch im »Capri« Im Gegensatz zum Ullstein-Verlag gab es bei Mosse, dem Verlag des Berliner Tageblatts, keine Kantine. Walther Kiaulehn organisierte deshalb zwei Stammtische: zuerst gingen die Redakteure in das bescheidene Caf¦ Adler, später gab es einen gemeinsamen Mittagstisch im »Capri« in der Anhalter Straße. Man saß dort gemeinsam an einem großen runden Tisch am Fenster, nahm italienische Kost zu sich, trank Chianti und zum Schluss Grappa: Dieses Gläschen mit der schweren Flüssigkeit, bei der wir Weltereignisse besprachen, war Symbol unserer Kameradschaft. Wir kamen aus allen politischen Lagern. Wir hatten alle nur einen fachlichen Ehrgeiz, wir wollten die Wahrheit sagen über irgendeine Ecke des Lebens, des Staates. Wir waren ein Stammtisch von Don Quixotes auf der Grundlage des festen guten Einkommens, das die großen Zeitungen zahlten.

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An diesem Stammtisch entstand die Idee zu dem von Rudolf Olden herausgegebenen Sammelband von Reportagen über Wunderglauben und Gurus der zwanziger Jahre Propheten in deutscher Krise. Das Wunderbare oder Die Verzauberten, den die Gruppe dort mit Ernst Rowohlt besprach und der 1932 in Berlin bei Rowohlt erschien. Das Wunderbare und die Verzauberung wiesen geradezu prophetisch auf die Empfänglichkeit des deutschen Volkes für Hitler und den Nationalsozialismus voraus. Alle möglichen damals und später einflussreichen Leute kamen gelegentlich zu diesem Stammtisch: der Journalist, Schriftsteller und Politiker Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906 – 1984), ein früher Hitler-Gegner, der ab 1931 schon Leitartikel für die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt und den Berliner Börsen-Courier verfasste; der Autor und Publizist Heinrich Wandt (1890 – 1965), der aufgrund seines Bestsellers Etappe Ghent (1921) 1923 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Angeblich hatte er durch die Veröffentlichung von Namen belgischer Kollaborateure Landesverrat begangen. Ihm wurde vorgeworfen, das Vernehmungsprotokoll eines flämischen Kriegsgefangenen, erstellt durch deutsche Nachrichtenoffiziere im Jahr 1918, einem Belgier zur Publikation übergeben zu haben. Auf Druck der belgischen Regierung wurde er 1926 vorzeitig entlassen. Und es kam der Stadtplaner und Architekturkritiker Werner Hegemann. In seinem Buch Das steinerne Berlin (1930) kritisierte er die preußische Bürokratie, die Berlin zu einer »Mietskasernenstadt« hatte werden lassen. Stattdessen argumentierte er für eine humane Stadt von Eigentum und Eigenheim, Grünflächen und öffentlichem Verkehr nach englischem Vorbild, kurz: für eine Gartenstadt. Ein Teil seiner Ideen wurde in den Bauten der sozialdemokratischen Berliner Stadtverwaltung zwischen 1920 und 1930 verwirklicht. Ein regelmäßiger Gast war der Weltbühne-Autor Berthold Jacob, dessen Hauptanliegen war, die Bestrebungen der deutschen Reichswehr zur heimlichen Aufrüstung und zur Umgehung des Versailler Vertrags aufzudecken. Dadurch dass er bereits 1932 nach Frankreich emigrierte, entging er zunächst der Verhaftung durch die Nationalsozialisten. Als entschiedener Kritiker der deutschen Militärpolitik wurde er allerdings in den folgenden Jahren von den Nationalsozialisten zweimal im Ausland entführt und nach Deutschland verschleppt, wo er 1944 an den Folgen einer mehrjährigen Gestapo-Haft starb. Als er 1934 aus der Schweiz entführt wurde, fand man bei ihm ein Adressbuch mit den Adressen seiner Freunde und Sympathisanten, von denen infolgedessen nicht wenige verhaftet wurden und im Gefängnis oder Konzentrationslager landeten. Es kamen aber auch andere, ausländische Journalisten wie der Amerikaner Hubert Renfro Knickerbocker (1898 – 1949), Autor des Bestsellers Deutschland so oder so? (1932), d. h. ›nationalsozialistisch oder kommunistisch‹. Nach einem Besuch bei dem nationalsozialistischen Politiker Dietrich Klagges schilderte er diesen als harmlosen deutschen Familienvater. – Klagges hatte als Braun-

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schweigischer Staatsminister für Inneres und Volksbildung bereits 1931, also zwei Jahre vor der ›Machtergreifung‹, im Land Braunschweig erste Berufsverbote gegen Sozialdemokraten und Juden durchgesetzt. Schon 1932 war es aber mit dem Stammtisch vorbei: »Im Winter 1932, November oder Dezember, trafen wir uns noch einmal, nicht im, aber vor dem Capri. Olden, Kiaulehn, ich standen in einem Hausflur auf der anderen Straßenseite und sahen hinüber auf unser Capri, das ein SAVerkehrslokal geworden war. Wir waren schon Vertriebene, noch bevor wir vertrieben wurden.« (Etwas Seltenes, 35)

Griechenlandreise und Heirat 1927 reiste Gabriele Tergit nach Griechenland, um eine Freundin zu besuchen, eine Archäologin, die dort Ausgrabungen machte. Das einfache Leben in Griechenland, das sich in zweitausend Jahren nicht geändert zu haben schien, machte sie glücklich: Ich konnte nicht schlafen vor Glück, wachbleiben, verweilen, sich wiegen im Zauber der guten Stunde. Nie war man so glücklich, nie so dankbar, nie so ganz auf reinen Ton gestimmt. Es wird zu viel von einem verlangt im Westen, zuviel an Klugheit. Dir Wärme zu schaffen und Licht und einen gepolsterten Sitz, das kostet so viel und festes Fleisch und wollene oder gar pelzerne Kleidung. Das verschlingt des Menschen Denken und Tun mit Haut und Haar. Hier in diesem Licht lebte ich wunschlos dem heiteren Augenblick der klaren Freude. (Etwas Seltenes, 37)

Trotzdem wurde ihr bald klar, dass das Leben dort auch Schattenseiten hatte, z. B. die soziale Ächtung der ledigen Mutter, der selbst bei der Erkrankung ihres Kindes niemand beisteht, oder die Verzweiflung von jungen Mädchen, die von ihren Arbeitgebern ausgenutzt werden und unter primitivsten Verhältnissen zu leben gezwungen sind. Von Heinrich (Heinz) Reifenberg, den sie im nächsten Jahr heiraten sollte, fehlte jede Nachricht, was die Tergit maßlos ärgerte. Nur mit Mühe ließ sie sich von ihrer zwanzig Jahre älteren Freundin dazu bewegen, keinen ihrer in der Familie bekannten wutentbrannten Briefe zu schreiben. – Als sie nach Athen kam, warteten zwölf Briefe auf sie, die von dort nicht weitergeschickt worden waren. Da Heinrich Reifenberg sich mit ihr treffen wollte, telegrafierte sie sofort: »Briefe erste jetzt vorgefunden, bitte um genaue Anweisungen, München hauptpostlagernd.« »Und was sollte sein, wenn er mich in Italien oder Tirol treffen wollte, dann war es ganz dämlich.« (Etwas Seltenes, 38) Athen erlebte sie als traurige Stadt, weil in ihr anderthalb Millionen Flüchtlinge lagerten, Griechen, die nach dem Massaker von Smyrna (1922) von der Türkei ausgewiesen

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worden waren. Das Schiff legte in Brindisi an, und man ging kurz von Bord; das Ziel der Reise war Venedig. In München fand die Tergit einen von Heinrich Reifenberg sorgfältig vorbereiten Reiseplan mit allen Zügen und Anschlüssen bis Weimar vor, wo er sie vom Zug abholen würde. Die Tergit war schon einmal als Teenager mit ihren Eltern dort gewesen; Heinrich Reifenberg war zum ersten Mal da. Man besichtigte zusammen das vornehme Goethe- und das bescheidene Schiller-Haus, Goethes Gartenhaus, die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, von der Heinrich Reifenberg besonders begeistert war, und das Römische Haus, die bescheidene Villa von Goethes Freund und Gönner, dem Herzog Karl August. Theodor Wolff stellte ihr zweimal eine volle Seite für den Bericht über ihre Griechenlandreise zur Verfügung. Im folgenden Jahr 1928 heiratete sie den Architekten Dipl. Ing. Heinrich (Heinz) Julius Reifenberg – sie sollte von ihm immer liebevoll als »Reifi« sprechen. Im Oktober des Jahres wurde ihr Sohn Peter geboren.44 Danach arbeitete sie längere Zeit nicht und wohnte in der allgemeinen Wohnungsnot bei ihren Eltern.45 Heinrich Reifenberg stammte aus einer wohlhabenden Familie. So hatte sein Großvater in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein von dem SchinkelSchüler Friedrich Ludwig Persius (1803 – 1845) gebautes Haus in der Viktoriastraße, Ecke Margaretenstrasse in Berlin für umgerechnet 300,000 Goldmark per Barzahlung kaufen können.46 Das Geld war nicht Reifenbergs sondern kam von dem russischen Großvater Ginsberg, die die größten Textilfabriken Russlands [in] Sawierze bei Lodz besaßen. Er heiratete ein Fräulein Sachs aus Berlin. Einer seiner Söhne war ein berühmter Augenarzt und dessen Sohn der Schauspieler Ernst Ginsberg. Eine Tochter des alten Ginsberg, Heinzens Mutter, heiratete einen Reifenberg, dessen Vater ein Bruder des Vaters von Benno Reifenberg war. Dieser ein Halbjude heiratete eine Weißrussin und versuchte seine Kinder in die Hitlerjugend zu bringen.

44 Peter hieß eigentlich Ernst Robert mit Vornamen. Auf seinem Grabstein auf dem liberalen Friedhof in Nordlondon ist der Name Peter nicht erwähnt. Email von Jens Brüning vom 20. Januar 2011. Weitere Kinder waren Gabriele Tergit zu ihrem Leidwesen nicht vergönnt: »Wir konnten uns nicht entschließen, ein 2. Kind zu bekommen, dann kam ich zufällig in andere Umstände, wurde sehr krank und das Kind wurde 1931 abgetrieben. Ich bin zu unserm großen Leidwesen nie mehr schwanger gewesen […].« (Brief an Annamarie Mommsen vom 22. November 1964. (DLA) In einem Brief an Leonore Zadek vom 25. August 1958 schreibt sie, ihr Sohn Peter habe von 1946 bis 54 in Cambridge gelebt: »Nie hat er mit uns gelebt seit er neun Jahre alt war. Das ist der große Schmerz meines Lebens und dass er der einzige war. Eine Frau muss eine Tochter haben.« (DLA). 45 So in einem Brief an Eugen Skasa-Weiß vom 13. Mai 1969 (DLA). 46 Gabriele Tergit (Etwas Seltenes, S. 145) gibt as Baujahr 1858 an, was nicht stimmen kann, da Persius bereits 1845 gestorben war.

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Der russische Teil der Familie war bezaubernd. Man sprach französisch und wohnte als Witwe in einem Pariser Hotel. Aus purem Übermut hatten sie eine riesige und scheußliche Wohnung in Nizza gekauft, die sich unter und nach den Nazis als sehr nützlich erwies. Ich habe diesen russischen Teil der Familie, wo man mit Gardeoffizieren verheiratet war sehr geliebt.47 Das Vermögen dieses russischen Teils der Familie, und damit das der Reifenbergs, ging allerdings schon durch den Ersten Weltkrieg und durch die Unruhen der Russischen Revolution von 1917 verloren: In den russischen Fabriken von Heinzens Familie waren kostbare Maschinen während des Krieges zerstört worden, weil die deutsche Besatzung dort für ein paar Mark Kupfer herausgeholt hatte. Die großen Summen, die die Augustmesse 1917 in Nischni-Nowgorod erbrachte, sollte ein Verwandter auf die Bank von England bringen. Niemand erfuhr je Genaueres über den Verbleib des Geldes. Der Zug war von Revolutionären überfallen worden, der Mann getötet, die Summe verschwunden. (Etwas Seltenes, 13)

Eine Schwester von Heinrich Reifenberg namens Adele war Malerin und hatte im Atelier von Lovis Corinth gearbeitet. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg litt Heinrich Reifenberg an Tuberkulose, so dass man ihn im Jahre 1913 zur gleichen Zeit wie Thomas Manns Frau Katia ins Waldsanatorium Davos, dem Handlungsort von Manns Roman Der Zauberberg (1924), schickte. Der Leiter des Sanatoriums war immerhin so entgegenkommend, dass er sich mit dem preußischen Militär in Verbindung setzte und sich um Reifenbergs Freistellung vom Militärdienst bemühte, allerdings ohne Erfolg: Er wurde eingezogen und kam praktisch direkt von Davos zu einem Gardefeldartillerieregiment, das bei den schlimmsten Kämpfen in Flandern und vor Verdun eingesetzt wurde. Als Jude wurde er währenddessen nicht befördert. Kommentiert Gabriele Tergit: »Das Groteske ist, dass der jahrelange Aufenthalt im Schützengraben unter freiem Himmel seine Tuberkulose völlig ausgeheilt hat.« (Etwas Seltenes, 11) Als einer nach drei Jahren Westfront und dreiwöchiger Flucht aus französischer Gefangenschaft nach Deutschland zurückkam, musste er erleben, wie »das große Vermögen seiner verwitweten Mutter – die Großmama hatte ein offenes Konto von fünf Millionen Goldmark besessen – sich einfach in Papierscheine auflöste […].« (Etwas Seltenes, 11) Auch der Anteil von Tergits Vater an der von ihm gegründeten Fabrik war längst »verwässert«. Heinrich Reifenberg kannte Elise Hirschmann schon von Kindheit an. Er war 16 Tage älter als sie, und da ein Mann traditionell damals älter zu sein hatte als seine Frau – sie war am 4., er am 20. März 1894 geboren – fälschte sie ihr Geburtsdatum in ihrem Reisepass um einen Monat. Später, als sie ins Exil ging, 47 Brief an Annamarie Mommsen vom 19. April 1980 (DLA).

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war das geradezu gefährlich, denn: »Mit einem gefälschten Pass konnte man sich nur noch das Leben nehmen. Mein Mann lief sich die Beine ab, um meinen Quatsch wieder gut zu machen, und das alles, weil ich nicht vierzehn Tage älter als mein Mann sein wollte.«48 Das junge Ehepaar lebte damals im Wohlstand, nicht zuletzt, weil ihnen 1928 Elise Reifenbergs Vater eine Sechszimmerwohnung, Siegmundshof 22, kaufte, wenn auch, wenig romantisch, mit Blick auf die S-Bahnstation Tiergarten. Immerhin hatten die Reifenbergs ein Hausmädchen und ein Kinderfräulein, und sie konnten sich ausgedehnte Reisen leisten; ein Lebensstil, der um 1932 fast unbezahlbar wurde. Die Reifenbergs waren geradezu Trendsetters; so deutete eine Bekannte in einem Brief der Tergit gegenüber an, sie habe in einer Architekturzeitschrift das Reifenbergsche Wohnzimmer bewundern können.49 Der junge Architekt Heinrich Reifenberg hatte zu tun, zumal er nicht im Bauhausstil mit viel Glas, Stahl und Beton arbeitete, sondern konventionelles Material wie Ziegel und Holz verwendete. Seine Frau verdiente als Journalistin gut, so dass sich das Ehepaar seinen aufwendigen Lebensstil leisten konnte. Vom elterlichen Vermögen war allerdings beiderseits praktisch nichts übrig: Die Reifenbergs hatten ja einen Großteil ihres Geldes durch die russische Revolution eingebüßt und die Eltern der Tergit durch die Inflation. Im Jahre 1930 fuhren die Eltern der Tergit nach England und luden ihre Tochter und deren Mann ein, sie nach London zu begleiten. Dummerweise schlugen diese die Einladung aus, weil Heinrich Reifenberg mitten in der Arbeit an einem Bauprojekt steckte und Tergits Stelle beim Berliner Tageblatt nicht sicher war. Ihre Mutter besuchte in England »Dini« Hirst, die Frau des allmächtigen Chairman und Managing Director der General Electric Company Ltd., mit der sie in München zur Schule gegangen war. Hugo Hirst, der ursprünglich Hugo Hirsch hieß, stammte, wie Gabriele Tergits Familie, ursprünglich aus Altenstadt im Allgäu, und ihr Vater hat auf seinen ersten Reisen nach England um 1900 immer bei Hugo Hirst gewohnt, der von Lloyd George zum Lord erhoben worden war.50 In ihrem jüdischen Familienroman Effingers von 1951 hat Gabriele Tergit Hugo Hirst und ihren Vater als Brüder dargestellt, von denen Hugo Hirst in London blieb, während ihr Vater mit allen negativen Konsequenzen nach Berlin zurückkehrte.

48 Gabriele Tergit, »So sind die Menschen«. In: Europäische Ideen (1978), Heft 43, S. 26 – 29; hier S. 26. 49 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 30. 50 Vgl. Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 6.

Die Freundin Hilde Walter und Carl von Ossietzky

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Die Freundin Hilde Walter und Carl von Ossietzky Anfang der dreißiger Jahre war Gabriele Tergit in Berlin Mitglied des FrauenVereins »Sorores Optimae«, in dem jedes Mitglied einen anderen Beruf haben musste. Vor 193351 hatte der 1930 gegründete Berliner Klub für die Tergit sehr viel bedeutet, hatte sie doch beruflich fast nur mit Männern zu tun:52 Und nun fand sich da ein Kreis von jungen, berufstätigen, interessanten Frauen zusammen. Bei jedem Treffen hielt ein Mitglied Vortrag aus ihrem Berufsgebiet. Ich werde nie vergessen, wie Freda Wüsthoff, die Patentanwältin, von einem Patent für die Grapefruit sprach oder [die Romanautorin] Hertha von Gebhardt über die Entstehung eines Films. Hier lernte ich [die Dramatikerin] Ilse Langner kennen; [die Schauspielerin] Tilla Durieux gehörte dazu; und jetzt traf ich auch eine Russin, Fräulein von Schultz, die für die Ostzone die erste wissenschaftliche Ausgabe der Tagebücher von [Alexander Iwanowitsch] Herzen übersetzte und bearbeitete. Sie alle waren vor 1933 erfolgreich gewesen, Persönlichkeiten, einzigartig, eine nie wieder genauso vorkommende Zusammensetzung von Zellen. (Etwas Seltenes, 208)

Der Klub hatte der Tergit lebenslange Freundschaften vermittelt; neben den bereits erwähnten Frauen hatte sie dort die Photographin Lotte Jacobi kennengelernt, die Malerin und Pazifistin Annot und die Pensionsinhaberin Margret Heuser. Ihre Schul- und Jugendfreundin, die Journalistin Hilde Walter, die als Waise aufgewachsen war und seit ihren Schultagen im Elternhaus der Tergit verkehrt hatte, war ebenfalls Mitglied.53 Sie war ursprünglich eine glühende Kommunistin, hatte sich aber im Laufe der Zeit immer mehr vom Kommunismus entfernt. Seit Ende der zwanziger Jahre arbeitete sie in der Redaktion der Weltbühne. Eine äußerst mutige und loyale Frau, setzte sie sich selbstlos und unter Einsatz ihres eigenen Lebens für ihren Chef, den Herausgeber der Weltbühne Carl von Ossietzky, ein. Am 28. Februar 1933 verhaftet, wurde Ossietzky buchstäblich zu Tode gequält. Er wurde zunächst im Gefängnis Berlin-Spandau eingesperrt und anschließend, am 6. April 1933, in das neu errichtete Konzentrationslager Sonnenburg bei Küstrin verlegt, wo er, genau wie die anderen Häftlinge, schwer misshandelt wurde. Im April 1934 wurde er zusammen mit anderen bekannten 51 Juliane Sucker› ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹ – Gabriele Tergits Werk bis 1933: Zeitdiagnostik in Literatur und Journalismus. Magisterarbeit Berlin (Humboldt) 2006, S. 143, zufolge war G.T. nur bis 1932 Mitglied des Klubs. 52 Vgl. dazu ihren Artikel »Sorores Optimae«. In: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse, S. 213 – 217; hier S. 214 f. Gabriele Tergit, Ebd., S. 140 – 143. Auch in: Berliner Tageblatt vom 22. 1. 1930 sowie (gekürzt) in: Der Tag vom 3. April 1960. 53 Jens Brüning, »Nachwort«. In: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse, S. 213 – 217; hier S. 214 f.

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Häftlingen in das KZ Esterwegen im nördlichen Emsland verbracht, wo die Gefangenen unter unerträglichen Bedingungen in den Mooren arbeiten mussten. Ende 1934 kam er, inzwischen völlig abgemagert, in das Krankenrevier. Einem Gerücht zufolge wurden ihm in dieser Zeit Tuberkulosebakterien eingeimpft. Im Herbst 1935 bekam er dort Besuch von dem Schweizer Diplomaten und Historiker Carl Jacob Burckhardt, dem späteren Völkerbundkommissar des Freistaats Danzig, der ihn anschließend als ein »zitterndes, totenblasses Etwas, ein Wesen, das gefühllos zu sein schien, ein Auge verschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen« beschrieb. Ossietzky sagte zu Burckhardt: »Danke, sagen Sie den Freunden, ich sei am Ende, es ist bald vorüber, bald aus, das ist gut, […]. Danke, ich habe einmal Nachricht erhalten, meine Frau war einmal hier ; ich wollte den Frieden.«54 Ossietzkys Freunde ließen nichts unversucht, ihn freizubekommen. So stellten Berthold Jacob in Straßburg und Kurt Grossmann in Prag im Namen der Deutschen Liga für Menschenrechte bereits 1934 den ersten offiziellen Antrag auf Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn, doch die Antragsfrist für das Jahr war bereits abgelaufen, und die Menschenrechts-Liga war nicht vorschlagsberechtigt. Andere Freunde und ehemalige Mitarbeiter versuchten, Prominente aus dem Ausland zur Unterstützung des Antrags zu bewegen, mussten aber befürchten, dass zu viel Aktivität, vor allem der Emigranten, Ossietzky eher schaden könnte. Die Kampagne führte zwar zunächst nicht zur Verleihung des Preises, aber doch schließlich dazu, dass er kurz vor den Olympischen Spielen 1936 schwerkrank aus dem KZ entlassen wurde und, wenn auch unter Bewachung durch die Gestapo, ein Zimmer im Krankenhaus Westend bekam. Auf Betreiben von Hellmuth von Gerlach und – anonym – Hilde Walter wurde ihm am 23. November 1936 rückwirkend für das Jahr 1935 der Friedensnobelpreis zugesprochen. Trotz des Drängens von Hermann Göring, den Preis nicht anzunehmen, verzichtete Ossietzky nicht darauf, durfte aber zur Preisverleihung nicht nach Oslo reisen. Kurz nach der Verleihung des Preises wurde er in das Krankenhaus Nordend in Berlin-Niederschönhausen verlegt, wo er am 4. Mai 1938 im Alter von nur 48 Jahren an den Folgen der Tuberkulose starb. Indem sie sich als sein Dienstmädchen ausgab, hatte sich Hilde Walter zu Ossietzky schon Zutritt erwirkt, nachdem er ins Konzentrationslager Sonnenburg eingeliefert worden war. Als sie schließlich selbst gefährdet war, floh sie nach Paris, konnte Ossietzky von dort aus aber auch nicht helfen. – Als im Herbst 1936 Obergruppenführer Theodor Eicke Göring warnte, dass Ossietzky im Sterben liege, wurde er entlassen. Schon 1937 hatte Tergit Hilde Walter in Paris wieder gesehen: »1937 ging ich 54 Carl Jacob Burckhardt, Meine Danziger Mission:1927 – 1939. München 1960, S. 60 f.

Der große Erfolg: Käsebier erobert den Kurfürstendamm

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in ein altes Pariser Haus, um [Leopold] Schwarzschild vom ›Tageblatt‹ wiederzusehen. Eine Berliner Unterhaltung erfüllte das Treppenhaus. Es erschütterte mich sehr. Ich erkannte Hildes Stimme natürlich sofort. 1941 rettete sie sich nach New York und kehrte 1952 nach Berlin zurück, […].« (Etwas Seltenes, 68 f.) Dort trafen sich die beiden dann des Öfteren wieder. Hilde kam nicht über das, was sie »den Diebstahl der Weltbühne« nannte, hinweg, besonders darüber nicht, wie es ja natürlich war, dass »Die Neue Weltbühne« [die in der DDR herausgegeben wurde] Ossietzky und alle Mitarbeiter zu Kommunisten erklärte. Sie blieb ein Magnet, der mich nach Berlin zog, aber Heinz sagte, obwohl sie sich seit ihrem zwölften Lebensjahr kannten, vor einem Treffen mit ihr : »Wenn wieder nur von Ossietzky gesprochen wird, komme ich nicht mit.« (Etwas Seltenes, 69)

Den Nachdruck der alten Weltbühne im Athenäum Verlag 1978 hat die inzwischen verstorbene Hilde Walter leider nicht mehr erlebt. Befreundet war Tergit in dieser Zeit u. a. auch mit Arnold Zweig und seiner Frau Beatrice. Diese Freundschaft war auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch so lebendig, dass sie sich in den fünfziger Jahren oft in Berlin trafen.

Der große Erfolg: Käsebier erobert den Kurfürstendamm Entstehung Den Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm begann Gabriele Tergit ihrem eigenen, anekdotischen Bericht zufolge Anfang 1931 zu schreiben, als ihre Eltern sie nach einer Operation zu einem Schneeurlaub ins österreichische Vorarlberg mitgenommen hatten. Als sie in der Liegehalle lag, sagte eine Dame zu ihr : »Schönes Hotel, nicht wahr?«, und Gabriele Tergit entgegnete: »Ja, sehr schönes Hotel. Ich wollte aber eigentlich in die Schweiz.« Die Antwort: »Das können Sie nicht, die Schweiz ist völlig verjudet.« (Etwas Seltenes, 77) Die Tergit fand es schlimm, ein Land, das sich so früh seine Demokratie erkämpft hatte, mit einem Modeschimpfwort abzutun: »[S]chlimmer aber war die von keinem Zweifel getrübte Selbstsicherheit, die zu einem furchtbaren Krieg führte.« (Ebd.) Gleich nach dem Abendbrot ging sie angeblich auf ihr Zimmer und begann mit dem Füllfederhalter ihren Roman zu schreiben: Ich plante schon lange eine Satire auf den »Betrieb«, den ich für den Zerstörer aller echten Werte hielt, um etwas Nichtexistierendes zu schreiben. Ich wollte sozusagen Andersens »Des Kaisers neue Kleider« erweitern. Aber ich erkannte, dass ein Buch, aus dem man nicht erfährt, weswegen telefoniert, telegrafiert, in Autos gerast wird – ein Kafka-Thema – unmöglich ist. Dann verpflichtete Ullstein Heinrich Mann zu Feuilletons über Berlin. Einer seiner ersten Artikel galt der Bühne der »Mutter Jrebert« (Gräbert) am Weinbergsweg, die nun

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»Carows Lachbühne« hieß. Am nächsten Tag erzählte mir Kiaulehn, dass ein Journalist bei bekannten Schreibern Artikel über diese Bühne für ein Buch bestellte, für das er bereits einen Verleger habe. Ich erfand einen Spaßmacher, dessen Programm ich aus zwei Artikeln über Hasenheide und Skala [Scala] mischte, mit einigem Neuerfundenen dazu. Der Spaßmacher sollte nur der ganz gleichgültige Aufhänger für Journalisten, Bauunternehmer und Massenmedienleute werden…. (Etwas Seltenes, 77 f.)

Später behauptete sie, sie hätte das Buch erst im Sommer 1931 geschrieben und im November des Jahres habe es vorgelegen.55 Es ist anzunehmen, dass sie die Hauptarbeit tatsächlich erst im Sommer des Jahres geleistet hat: Zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn und ihrem ostpreußischen Kindermädchen fuhr sie – zum zweiten Mal – in das mecklenburgische Ostseebad Arendsee, das 1938 Teil der heutigen Stadt Kühlungsborn wurde. Sie nahm sich ein Zimmer mit einer Loggia zum Buchenwald, durch den die Ostsee schimmerte. Ihr Mann Heinrich Reifenberg kam nach drei Wochen auch dorthin, am Bahnhof lauthals begrüßt von seinem kleinen Sohn. Sie schrieb den Roman – rund 300 Seiten mit der Hand – fertig, und Ende Juli/Anfang August kehrte sie mit Mann und Kind nach Berlin zurück. Die Zeit, in der sie das Buch schrieb, hielt sie im Nachhinein für die schönste Zeit ihres Lebens. Der Roman erschien dann noch 1931, d. h. in unmittelbarer Nachbarschaft von Hans Falladas Bauern, Bonzen und Bomben (1931) und Erich Kästners Fabian (1932), im Ernst Rowohlt Verlag in Berlin, dem das Manuskript durch Franz Hessel zugestellt worden war.56 Der dortige Schriftleiter und bekannte Romanautor Hans Fallada lektorierte es. Dabei war es wohl nicht ganz so einfach gewesen, für das Buch einen Verlag zu finden. Der Ullstein-Verlag hatte den Roman jedenfalls wegen seiner »heiklen« Thematik abgelehnt, nicht etwa, weil sich »Leute der Presse entlarvt fühlen [könnten], sondern weil aus Einzelvorgängen auf die Gesamtheit exemplifiziert werden könnte.« Der Roman komme zu spät, denn »heutzutage wird ein Mann viel unkomplizierter aber auch viel vorsichtiger gemanagt und die Burleske, die Sie aus diesem Lebensweg formen, dürfte im Jahre 1931 ein auf Sachlichkeit beruhendes und keineswegs ins Ironische abgleitendes Schauspiel sein.«57 Auch die Union Deutsche Verlagsgesellschaft war skeptisch gewesen und hatte gemeint, die »Geschichte eines Berliner Ruhms« – der ursprüngliche Titel des Buches – sei bei ihnen nicht am

55 Brief an Frank Grützbach vom 20. Januar 1975 (DLA). Wie die Korrespondenz mit dem Ullstein-Verlag zeigt, muss sie den Roman jedoch schon früher fertig gestellt haben. 56 Brief von Rudolf Olden an Gabriele Tergit vom 28. August 1931 (DNB). 57 Brief vom Ullstein-Verlag an Gabriele Tergit vom 29. Juli 1931 (DLA).

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rechten Platz,58 aber bereits zwei Tage später bot Rowohlt der Autorin einen Vorvertrag und am 16. September dann einen förmlichen Vertrag an.

Ein Schlüsselroman? Einen Bärendienst leisteten der Tergit ihre Freunde, als sie Käsebier einfach mit dem damals bekannten Berliner Komiker Erich Carow identifizierten, der gerade in den Monaten der Drucklegung des Romans viel von sich reden machte. Carow war ein Volkssänger, der draußen in der Hasenheide allabendlich vor einem Publikum von Arbeitern, Arbeitslosen und Ladenmädchen bei Bier und Würstchen lustige Lieder sang und kleine, ordinäre Schwänke zum Besten gab. Carow war zweifellos ein sehr guter Komiker, der mit seiner »Lachbühne« täglich ein großes Publikum anzog, aber für Gabriele Tergit war er nur der Aufhänger, kein reales Vorbild. Sie versuchte, »die Spuren zu verwischen«, weil sie »den ehrenwerten Carow nicht ärgern wollte. Ich beschrieb eine wirkliche Aufführung in der Hasenheide, die nichts mit Käsebier zu tun hatte.«59 Kiaulehn schrieb jedoch nach Erscheinen des Romans in der B.Z. am Mittag einen Artikel mit dem Titel »Schlüssel zu einem Schlüsselroman«, in dem er Käsebier mit Carow identifizierte. Vor allem Heinrich Reifenberg war empört über Kiaulehns Artikel, der zwar ein toller Reklamegag war, aber Tergits Roman »verfälschte« (Etwas Seltenes, 80), denn damit war das »Buch selbst zu einem Objekt des Betriebs geworden, den es kritisierte. Der Roman gegen die Sensationsmacherei wurde selbst zur Sensation«60 Noch größer wurde die Verwirrung, als am 28. November 1931 im Berliner Herold ein Artikel von Peter Sachse mit der Überschrift »Kein Buch über Erich Carow. Käsebier unter falscher Flagge« erschien, in dem der Zusammenhang mit Carow vehement dementiert wurde: »Käsebier (welch witzige Erfindung!) hat mit Erich Carow keinen Wesenszug gemein.« Trotzdem hielt sich die Identifizierung Carows mit Käsebier hartnäckig. Wenn er ein neues Haus bezog, Geburtstag hatte und selbst als er starb, wurde Käsebier erwähnt. Gabriele Tergit wollte ihr Buch ursprünglich »Geschichte eines Berliner Ruhms« nennen. Wieso »Rum [sic!]«, fragte Kiaulehn (Etwas Seltenes, 78). Sie sah sofort ein, dass der Ruhm zwar ihr Thema, aber dies nicht der richtige Titel für ihren Roman war. Sie erfand zwar einen »Spaßmacher«, dessen Programm sie aus zwei ihrer Artikel über Hasenheide und Scala gemischt hatte, aber dieser »Spaßmacher« sollte nur der »gleichgültige Aufhänger für Journalisten, Bau58 Brief der Union Deutsche Verlagsgesellschaft an Gabriele Tergit vom 1. September 1931 (DLA). 59 Brief an Frank Grützbach vom 16. August 1974 (DLA). 60 Nadine Lange, »Eine Berliner Existenz«.

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unternehmer und Massenmedienleute werden.« (Ebd.) Zunächst wollte sie den Roman »Käsebein erobert den Kurfürstendamm« nennen, aber ihr Kindermädchen war skeptisch: »Käsebein?« Gabriele Tergit gab ihr Recht. Angeblich fand auch Rowohlt den Namen »Käsebein« zu unappetitlich, so dass sie ihren Helden nach dem Berliner Telefonbuch »Käsebier« nannte, ohne zu ahnen, dass ein Käsebier von Friedrich dem Großen gehängt worden war.61 Olden wollte den allgemeinen Redaktionsgruß »Heil und Sieg und fette Beute« abwandeln zu: »Heil und Sieg! Fette Beute gibt’s nicht mehr!« (Ebd.) Aber die Tergit blieb bei ihrem Käsebier. – Olden liebte den Roman vor allen Dingen, weil er sich – mit Recht – selbst mit der Gestalt des Redakteurs Miermann identifizierte.62 Der Redakteur Gohlisch ist weitgehend ein Porträt von Walther Kiaulehn, und der umtriebige Willi Frächter ist dem neuen Verlagsdirektor Karl Vetter nachempfunden. Es gibt allerdings auch Parallelen zu Hans Lachmann-Mosse und Peter Sachse, der mit Vetter befreundet war. Selbst für den schief gegangenen Bau des Käsebier-Theaters am Kurfürstendamm gab es ein konkretes Vorbild aus dem Umfeld der Tergit: Der Mosse-Konzern wollte ein »Kabarett der Komiker« bauen und verspekulierte sich dabei. Die Bebauung des Mosseschen Erbgrundstücks erwies sich als absolute Fehlplanung, da sich infolge der Wirtschaftskrise nicht eine einzige Wohnung vermieten ließ.63 Die dadurch entstandenen enormen 61 Vgl. Gabriele Tergits Brief an Richard Friedenthal vom 7. September 1971 (DLA). 62 Brief an Bernd W. Sösemann vom 23. Februar 1973 (DLA). Die Identität von Olden und Miermann wird durch deren jeweilige Charakterisierung in Etwas Seltenes überhaupt bzw. im Käsebier deutlich. In Etwas Seltenes, S. 17, heißt es, wie bereits unten zitiert: [Olden] begab sich an unsere Manuskripte. Er strich, stellte zusammen, hob einen Gedanken aus der Wirrnis des dunkel Gefühlten in die Klarheit einer lichtvollen Prosa, und so wurde aus unseren Artikeln erst ein guter Kiaulehn, ein guter Tergit. Im Käsebier heißt es in nahezu identischer Diktion: Er [Miermann] strich, er stellte um, er setzte Interpunktion, er rückte einen Gedanken zurecht, er hob ihn aus der Wirrnis des Dunkelgefühlten in die Klarheit einer lichtvollen Prosa, und so wurden aus den Artikeln der treuen Schüler Gohlisch und Kohler erst das, was sie waren. Ein guter Gohlisch, ein guter Kohler. […] Sie wurden gut, indem sie an seine ebenso warmherzige wie liebevolle Kritik dachten. (Käsebier, 224) Ich zitiere hier und im Folgenden im Text nach der Ausgabe Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman. Hg und mit einem Nachw. vers. von Jens Brüning (Berlin: Das Neue Berlin 2004), als Käsebier, gefolgt von der Seitenzahl). Marie-Christine Mirwald meint stattdessen, die Figur Miermanns sei »ganz offensichtlich durch das reale Vorbild Theodor Wolff beeinflusst.« Vgl. M.-Chr. M., Gabriele Tergits »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« – ein Roman im Kontext der Neuen Sachlichkeit? Magisterarbeit Bremen 1997, S. 57. In einem Gespräch mit Jens Brüning meinte Tergit, sie habe Miermann »nach den spießigen und netten Männern Georg Hermann und Sling geformt«. Vgl. Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹, S. 39, Anm. 59. Ehrhard Schütz, »Von Fräulein Larissa zu Fräulein Dr. Kohler«, S. 232, meint, Miermann sei, »zumindest was die Umstände seiner Beerdigung angeht«, mit Victor Aubertin zu identifizieren. Das Eine schließt natürlich das Andere nicht aus. 63 Vgl. Gabriele Tergits Darstellung in Etwas Seltenes, S. 135.

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Schulden des Verlagshauses waren ein Grund für Sparmaßnahmen beim Berliner Tageblatt, einschließlich der Entlassung von Journalisten. So wie Heinrich Manns Artikel über Erich Carow eine sehr allgemeine Anregung zum Vorwurf des Romans gegeben haben mag, steht er selbst wahrscheinlich hinter der Figur des etwas betulich-altmodischen Schriftstellers Lambeck, der als Gegenbild zum Journalisten auftritt.64 Obwohl nicht unsympathisch gezeichnet, ist er in der schnelllebigen Welt der Tagesjournalisten nicht mehr ganz zu Hause und gehört damit der Welt von Gestern an. Nicht überzeugend ist Ehrhard Schütz’ Vermutung, die Tergit habe sich selbst in der Gestalt Dr. Lotte Kohlers gezeichnet, die sich in einer sentimentalen Beziehung zu dem Journalisten Mayer-Paris lange Illusionen über eine mögliche Zukunft dieser Beziehung macht; eher mag sie Walther Kiaulehn in der Gestalt des Journalisten Gohlisch porträtiert haben.65 Er und sein Lehrer Miermann, der solide und verantwortungsbewusste Journalist der älteren Generation, verkörpern die positiven, der deutschen Sprache, der Tradition, der Wahrheit und dem Geist verpflichteten Vertreter ihres Berufs. Ihnen gegenüber steht als negativer Typ Frächter, der Vertreter von Amerikanismus, Rationalisierung und Profitgier, ein Heuchler und Opportunist. Er will die Zeitung zu einem amerikanischen Boulevardblatt umstrukturieren nach dem Grundsatz: »Geist? Wer will Geist? Tempo, Schlagzeile, Sensation, das wollen die Leute. Amüsement. Jeden Tag eine andere Sensation, groß aufgemacht.« (Käsebier, 104) Das Erstaunliche und das von der Tergit Kritisierte ist die Tatsache, dass sich das Berliner Bürgertum von einem Mann wie Frächter blenden lässt und ihm eine große Karriere ermöglicht: Er wird schließlich mit einem phantastischen Gehalt angestellt, um die Berliner Rundschau seinen Vorstellungen gemäß neu zu gestalten, wogegen die ehrlichen, an der Wahrheit interessierten und dem Geist verpflichteten Journalisten machtlos sind. Sie können nur ohnmächtig kommentieren: »Er nennt es Wesen des Kapitalismus, was Wesen der Unanständigkeit ist.« (Käsebier, 195) »[E]r ist gefährlich. Er ist Konjunkteur. Er unterstützt jede Entwicklung, die man hemmen müsste. Er ist für Bluff. Er ist für Trommeln. Er verachtet den Geist. Er findet es albern, von Bildung was zu halten. Sport sagt er und betet den Mikrozephalen an.« (Käsebier, 195 f.) Seine ganze Karriere ist von Opportunismus bestimmt, so dass sich die Redaktionskollegen mit Recht fragen: »›Warum ist Frächter nicht Naziintellektueller geworden?«‹ ›Hätt er auch werden können, […] er ist es zufällig nicht geworden, wird er wahrscheinlich noch.‹« (Käsebier, S. 198) Ehrhard Schütz meint infolgedessen, dass Gabriele Tergit bei 64 Gabriele Tergit selbst hat den Gerichtsberichterstatter Paul Schlesinger (Sling) und seinen Nachfolger bei der Vossischen Zeitung, Moritz Goldstein (Inquit) angeblich als reale Vorbilder für Lambeck angegeben. Vgl. Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹, S. 39; Jens Bruening gegenüber nannte sie Sling und Georg Hermann. 65 Ehrhard Schütz, Romane der Weimarer Republik. München 1986, S. 157.

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der Figur Frächters nicht so sehr den Schwiegersohn Rudolf Mosses, Hans Lachmann, der versuchte, das Berliner Tageblatt mit PR-Methoden zu modernisieren, vor Augen gehabt haben könne, sondern eher den Feuilletonchef Fred Hildenbrandt, der damals schon NSDAP-Kontakte gehabt haben solle.66 Politischer Opportunismus und praktische Findigkeit sind ja nicht sehr weit voneinander entfernt. Der allgemeine Wertezerfall im Berlin der zwanziger Jahre wird so mikrokosmisch in der Redaktion gespiegelt. Einsicht in die Realität schützt allerdings nicht davor, dass man von ihr eingeholt wird. So ist Miermann durchaus klar, dass die Journalisten seiner Zeitung eine Art moderner »Galeerensklaven« (Käsebier, 91) sind, wundert sich aber schließlich dennoch, wenn er nach 18 Jahren Arbeit als Redakteur von Frächter entlassen wird. Er ist mit Recht verbittert, wenn er feststellt: »Sie sind Künstler […]? Denken Sie? Sie sind’s aber nicht! Sie sind ein niedrig bezahlter Angestellter. Nichts weiter als ein niedrig bezahlter Angestellter. Der freie Mensch geht vor die Hunde.« (Käsebier, 218) Es gilt der am Anfang des Romans ausgesprochene moderne Grundsatz: »Wer lange da ist, wird nicht (mehr) geschätzt.« (Käsebier, 26). Nach diesem Grundsatz sagt auch Frächter kalt zu Miermann: »Es ist nicht gut, wenn die Leute allzu lange da sind.« (Käsebier, 225) und entlässt ihn. Miermann grämt sich deshalb so sehr, dass er kurz darauf einen Herzinfarkt erleidet und stirbt. Mit ihm stirbt das hohe Berufsethos der Journalisten seiner Generation. Es ist geradezu Hohn, wenn Frächter an seinem Grabe eine Rede hält, in der er ihn einen Journalisten aus Berufung nennt und die Verleger als Handlanger bezeichnet, die »den Journalisten, dem Geiste helfen wollen.« (Käsebier, 230) Dennoch war der Roman in der Tat nicht als Schlüsselroman intendiert. Der Leser muss die Identität von Romanfiguren mit realen nicht erst entschlüsseln, um den Roman verstehen zu können, zumal oft mehrere reale Gestalten den fiktionalen Romantypen ihre Züge verliehen haben: »Das Verständnis des zentralen Themas, der Zerfall der Werte, ist nicht an die Entschlüsselung der Romangestalten gebunden. Für Gabriele Tergit ist die Gegenüberstellung von zu Prinzipien verdichteten Gestalten konstitutiv.«67 Es geht nicht darum, dass man wiedererkennt, wer hinter wem steht, sondern um jeweils zeitdiagnostisch für typisch erachtetes Verhalten.68 Es handelt sich damit um ein fiktives literarisches Werk, dessen Figuren lediglich Anklänge an lebende Gestalten erkennen lassen, 66 Ebd., S. 156. Wenn Frächter schnell ein Käsebier-Buch mit Beiträgen anderer zusammenstellt, so entspricht dies einer tatsächlich erschienenen Anthologie: Manfred Georg und Peter Schaeffers (Hg.), Erich Carow. Karriere eines Berliner Volkskomikers. Berlin 1930, mit Beiträgen von u. a. Philipp Scheidemann, Kurt Tucholsky, Max Pallenberg, Carola Neher, Trude Hesterberg, Heinrich Mann und Walther Kiaulehn, 67 Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹, S.14. 68 Vgl. Erhard Schütz, »Von Fräulein Larissa zu Fräulein Dr. Kohler«, S. 232.

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ohne dass das ›Wiedererkennen‹ zu neuen Erkenntnissen des Lesers führen würde. Schon Gabriele Tergits Kollege Rudolf Olden schrieb mit Recht: »Viele von den Figuren wird man erkennen wollen, aber, glaubt mir, sie sind’s nicht. Ich weiß genug von ihnen, um es sagen zu können. Bei keinem waltet photographische Nüchternheit, sie sind kombiniert, verdichtet, neu gestaltet.«69

Ein Roman über den ›Betrieb‹ Mit Käsebier erobert den Kurfürstendamm hatte die Tergit aus der auktorialen Erzählperspektive heraus einen Roman über den ›Betrieb‹ und die Betriebsamkeit der Weimarer Republik geschrieben, eine »Satire über die Verstrebung gesellschaftlicher Machenschaften«.70 Irmela von der Lühe schreibt zur Form: Der Erfolgsroman Käsebier ist zum übergroßen Teil ein Dialogroman, Gespräche – unter Geschäftsleuten, Bekannten, Kollegen, in der Welt der Hochfinanz, der Baubranche und der Medien, am Telefon, in Büros, Bars, auf Partys – lose aneinandergereiht, bestimmen das Romangeschehen, ermöglichen ein Panorama der bürgerlichen und großbürgerlichen Arbeits- und Geschäftswelt am Ende der Weimarer Republik, dessen erkennbarer Verfall und Zusammenbruch gerade in der erzählerischen Form erkennbar wird: in kurzen dialogischen Szenen, unverbundener Personenrede, fragmentarischen Begegnungen und typisierten Kommunikationssituationen.

Eine verbindende, kommentierende, gar zusätzlich wertende Erzählerin fehle fast völlig.71 Der Roman ist angesiedelt in einem Milieu, das der Tergit selbst bestens vertraut war : dem Zeitungsbetrieb. Der Volkssänger Käsebier wird zum Objekt dieses Betriebs. Dabei tritt der einfache Sänger aus dem Milieu der Vorstadt im Roman selbst kaum in Erscheinung und ist damit höchstens eine Nebenfigur des Romans. Er wird weder als persönlich attraktiv vorgestellt (»blond, dick und quibblig« [Käsebier, 48]), noch als besonders begabt; sein fast zu oft zitierter Erfolgsschlager hat den unlogischen, nichtssagenden Titel: »Wie kann er nur schlafen durch die dünne Wand«. Über seine persönliche Geschichte wird nichts gesagt, nichts über das, was er denkt und wie er auf seinen schnell gewonnenen Ruhm reagiert. Er tritt nur in zwei kurzen Gesprächen von insgesamt vier Seiten Länge auf, in denen er selbst spricht. (Käsebier, 56, 156 – 59)72 Es geht ja auch 69 Rudolf Olden, »Tergits erster Roman«. In: Berliner Tageblatt vom 25. November 1931. 70 Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen.« ›Geschichte‹ im Werk von Gabriele Tergit. Magisterarbeit Darmstadt 2005, S. 50. 71 Irmela von der Lühe, »Schreiben im Exil als Chance: Gabriele Tergits Roman Effingers«. In: Charmian Brinson u. a. (Hg.), Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933 – 1945. München 1998, S. 48 – 61; hier S. 49 f. 72 Vgl. Fiona Sutton, »Weimar’s Forgotten Cassandra«, S. 201.

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nicht um ihn, sondern um ihn als Objekt, als Verkaufsartikel, um seine Vermarktung, um den Hype um ihn, um das Potential, das die Berliner Bürger in ihm sehen, um mit ihm Geld zu verdienen. Nur deshalb wird er durch Zeitung und Werbung ganz groß aufgebaut. Alle möglichen Markenartikel, wie Schuhe, Zigaretten, Schokolade und Puppen, werden nach ihm benannt und verkauft. Eine Gruppe von Investoren beschließt, ihm ein eigenes Theater am Kurfürstendamm zu bauen und dazu eine Menge großer Wohnungen. Dem korrupten und gerissenen Bauunternehmers Otto Mitte geht es nur darum, den Großauftrag für den Bau des »Käsebiertheaters« am Kurfürstendamm zu bekommen. Der Bankier Muschler, der das Grundstück für den Bau besitzt, möchte mit einem großen Profit den eigenen Konkurs abwenden. »Beim Bauen«, sagt er wiederholt, »ist der Bau gar nicht so wichtig, die Finanzierung ist alles.« (z. B. Käsebier, 118) Wichtig ist nur der Verkaufserfolg. Aber genau dieser Erfolg bleibt bei den schlecht entworfenen Wohnungen aus, denn es kommt zur Wirtschaftskrise: Die ohnehin zu groß und schlecht entworfenen Wohnungen will niemand mehr haben; die Hälfte aller riesigen Wohnungen am Kurfürstendamm steht leer. Das ganze Objekt von Käsebier-Theater und Wohnungen ist pleite; alle, die am Anfang des Romans noch als reiche Bürger auftreten konnten, gehen zugrunde und müssen Konkurs anmelden; Käsebier selbst kann nur noch in der Provinz auftreten. Seine Popularität ist schnell vergessen, denn das Publikum wendet sich einem neuen Objekt zu: der Mickymaus. Statt solide Geschäfte zu machen, wird hier also etwas aufgebaut, was im Grunde substanzlos ist: Käsebier und seine albernen Schlager werden als etwas ausgegeben, was sie nicht sind. Das Ganze ist ein großangelegter Schwindel, der in mancher Hinsicht an Frank Wedekinds Drama Der Marquis von Keith (1901) erinnert. Aber auch die ehemals reichen Leute, die infolge von Krieg und Inflation verarmt sind und gezwungen sind, die meisten Räume ihrer Neunzimmerwohnung an Untermieter zu vermieten, können diese nicht mehr halten. Es ist deprimierend, wenn sie und diejenigen, die Konkurs gemacht haben, nun ihre ehemals so großzügige Wohnungsausstattung versteigern lassen und dabei feststellen müssen, dass sie im Grunde nur prätentiösen, aber nun völlig wertlosen Plunder, geschmacklosen Prunk besessen haben. Die Haupthandlung spielt sich in der Redaktion einer Zeitung ab, der offensichtlich das Berliner Tageblatt als Vorbild diente. Tergit beschreibt hier viel detaillierter als beispielsweise Erich Kästner in seinem Fabian oder Fallada in Bauern, Bonzen und Bomben den Arbeitsprozess bei der Herstellung einer Zeitung. Die eigentlichen ›Helden‹ des Romans sind infolgedessen die Journalisten, die das Leben der Stadt Berlin in ihrer Zeitung beschreiben: der der klassischen Bildungsidee verhaftete, ehrliche Redakteur Miermann und seine jüngere Kollegen Fräulein Dr. Kohler und Gohlisch.

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Frauenemanzipation in der Weimarer Republik Die enge Verwandtschaft zwischen dem Roman und der journalistischen Arbeit Gabriele Tergits lässt sich an zahlreichen Beispielen belegen, an vorher oder nachher veröffentlichten Feuilletons, die dieselben Themen oder Gespräche behandeln wie der Roman selbst, bzw. in der Tradition Montagetechnik Alfred Döblins verbatim in den Roman übernommen werden.73 So lehnt z. B. Lotte Kohler ein Zusammenleben mit Meyer-Paris in Form eines unverbindlichen Verhältnisses ab. Ihre Freizügigkeit und Emanzipation geht noch nicht so weit, und sie könnte eine derartige Beziehung auch wohl nicht mit ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Stellung in Einklang bringen. »Hier zeichnet sich bereits ein Generationenproblem ab, denn auch ihre gleichaltrige Freundin Fräulein Wendland, ebenfalls promovierte Akademikerin, […] kann ihre Liebe nach Art eines Verhältnisses nicht leben«.74 Sie sagt sich zwar selbst: »Es ist 1929. 1929 ist es albern, kein Verhältnis zu haben, notabene mit 30 Jahren« (Käsebier, 24), weiß aber gleichzeitig genau, dass dies ihrem Charakter und ihrer Erziehung widerspricht: Ich kann kein Verhältnis haben, und anders ist kein Mann heutzutage auf die Dauer mit einem zusammen. Ja, eine Weile gewiss, und gemeinsame Interessen, das ist ja alles ganz nett, aber ohne Aussicht auf ein endliches Beilager ist eine Freundschaft ein rarer Vogel. […] Nein, ich könnte so etwas nicht ertragen. Wenn ein Mann mich derartig liebt, besteht gar kein Grund, mich nicht zu heiraten. (Käsebier, 70)

In einem Interview mit Jens Brüning bezeichnete Gabriele Tergit Dr. Kohler als eine »frustrate«.75 Sie habe in ihr kein individuelles, sondern ein »Zeitschicksal« (Etwas Seltenes, 79) herausarbeiten wollen, das durch den Frauenüberschuss

73 Marie-Christine Mirwald stellt fest: »Der Roman ›Käsebier erobert den Kurfürstendamm‹ besteht zu etwa 15 Prozent aus Dialogen und Beschreibungen, die die Autorin bereits in ihren Feuilletons entworfen hatte.« Die Anzahl er eingearbeiteten Texte könne jedoch noch höher sein, da nur ein Bruchteil der in den zwanziger Jahren erschienenen Feuilletons und Reportagen in Textsammlungen vorliege. M.-Chr. M., Gabriele Tergits »Käsebier erobert den Kurfürstendamm«, S. 47. Ehrhard Schütz, »Von Fräulein Larissa zu Fräulein Dr. Kohler?«, S. 233, schreibt: »Dabei hatte Gabriele Tergit durchaus selbst auf Effizienz bei der Produktion und Verkäuflichkeit ihres Romans geachtet, indem sie über dreißig ihrer bewährten Feuilletons, Porträts und Reportagen mehr oder weniger umfänglich in den Text eingearbeitet und ihn in vierzig kurze Kapitel gegliedert hatte, so dass einem Fortsetzungsabdruck in der Zeitung von daher nichts im Wege stand.« 74 Vgl. Liane Schüller, Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik: Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Gabriele Tergit. Bielefeld 2005, S. 200. 75 Gabriele Tergit im Gespräch mit Jens Brüning, S. 2. Zitiert nach Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹ S. 139.

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nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sei,76 und damit widerspricht sie der Vermutung, sie habe sich in dieser Gestalt selbst darstellen wollen. Bereits drei Jahre vor dem Erscheinen des Romans hatte Tergit im Berliner Tageblatt einen Artikel veröffentlicht, der sich, ebenfalls in Form eines Gesprächs zwischen zwei Freundinnen, mit derselben Problematik befasste. Dort hieß es: »Haben Sie schon einmal zu Ende gedacht, was das [ein Verhältnis zu haben] bedeutet? Diese Abhängigkeit, diese Angst, und dass das Dienstmädchen was merkt. Zu einer Bekannten von mir, die lebenswandelt, hat das Mädchen neulich gesagt: ›Und ewig Ihre seidne Wäsche waschen, das könne sie auch alleine machen.‹ Nein, ich könnte so etwas nicht ertragen. […] Soll ich Angst haben vor der Portiersfrau, wenn ich spät nach Hause komme? Nein, danke.«77

Der Rest des fiktiven Gesprächs stimmt zum großen Teil wörtlich mit dem Gespräch des Romans überein (Käsebier, 70 f.). Einzelne Romangestalten hatte die Tergit ursprünglich in ihrer zwölfteiligen Serie »Berliner Existenzen« im Berliner Tageblatt vorgestellt. Darin charakterisierte sie mit satirischer Distanzierung Gestalten wie »Otto, der König der Friseure«, vor allem aber typische Vertreterinnen der Berliner Oberschicht wie »Die Einspännerin«: Sie hat einen burschikosen Medizinerton am Leibe und nennt alle Welt ›mein Herzchen‹. Sie spricht mit Kokotten von der Geschäftslage, rät Anfängerinnen, wenn schon, dann wenigstens zum Arzt zu gehen, macht höchst pessimistische Statistiken über die Männer, gibt Anweisungen für Frauen und solchen, die es werden wollen, kurzum, ist ein famoser Kerl.78

Dr. Kohlers innerer Konflikt rührt daher, dass sie in der guten alten Zeit des Kaiserreichs aufgewachsen ist und trotz ihrer universitären Bildung und ihres beruflichen Erfolges eine traditionelle Ehe als Lebensziel fixiert hat. Nun findet sie sich aber mit ihren traditionellen Vorstellungen in einer Übergangszeit, in der die nächste Generation weniger sexuelle Hemmungen und die Augenblickserfüllung zum Ziel hat, andererseits die Männer aber auch keine Hemmungen haben, die Freizügigkeit der Frauen auszunutzen. Wie auch aus einem Brief der Tergit an Jutta Siegmund-Schultze vom Winter 1976 deutlich wird, war sie sich der Problematik der Situation der Frauen in der Weimarer Republik durchaus bewusst. Sie schrieb dort rückblickend:

76 Ebd. 77 Gabriele Tergit, »Die Einspännerin«. In: Berliner Tageblatt, 8. 11. 1927. Abgedruckt in: Dies., Atem einer anderen Welt, S. 73 – 76; hier S. 75. Ferner abgedruckt in: Dies., Frauen und andere Ereignisse, S. 106 – 108; hier S. 107 sowie in: Dies., Blüten der Zwanziger Jahre, S. 31 – 35; hier S. 32. 78 Gabriele Tergit, Atem einer anderen Welt, S. 73.

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Die Männer, die heirateten, fanden immer, ihnen käme eine Jungfrau zu, was noch heute eisernes Gesetz in vielen Teilen der Welt ist. Für die Mädchen musste der Erste der Einzige sein. Der betrogene Mann war ein verspotteter Hahnrei. Die geschiedene Frau wurde boykottiert. Männer heirateten ein Mädchen nicht, [das] sie selber verführt hatten, weil sie sich hatte verführen lassen. […] Die Familie arrangierte eine Heirat, die keine Sache des gegenseitigen Gefallens war. ›Er hat eine Liebesheirat gemacht‹, wurde als Ausnahme betont, nicht als Regel. Nach 1918 wurde alles unklar. Auf die bisher selbstverständliche Unterdrückung des Sexuellen fiel der Verdacht, dass sie Geist und Körper schaden könne. […] Diese gebildeten verfeinerten Mädchen konnten sich nur nach schweren Gewissenskämpfen zu einer illegalen Beziehung oder gar zu einem kurzen Abenteuer entschließen, und dann tauchten die Partner, die ebenfalls Angst, verschreckt durch die Ernsthaftigkeit dieser Mädchen, oder moralisches Bedenken hatten, einfach nicht mehr auf. […] Nichts war einfach in solcher Übergangszeit. (DLA)

Dies ist genau die Situation, mit der ein Fräulein Dr. Kohler nicht fertig wird: Zu sehr anderen Erziehungsmustern verhaftet, stand sie zwischen den Generationen der Mütter, die noch mit tradierten Werten und Normen aufgewachsen waren und die neue Freizügigkeit in Punkto sexueller Liberalisierung der Frauen nicht nachvollziehen oder gar billigen konnten und derjenigen der so genannten Girls, die mit allen sozialen und moralischen Neuerungen für die Frauen aufgewachsen waren.79

In der Weimarer Republik war es für junge Frauen schon einfacher geworden, eine höhere Schule und anschließend die Universität zu besuchen; sie brauchten sich nicht mehr gegen die Wünsche ihrer Familie und die traditionelle Ansicht durchzusetzen, dass Mädchen ohnehin heiraten und deshalb keinen Beruf brauchen. Gleichzeitig waren allerdings durch die zunehmende Zahl von Akademiker(inne)n die akademischen Berufe entwertet worden und vor allem die Frauen mit Universitätsbildung gezwungen, Angestelltenberufe zu ergreifen. Die Modeerscheinung der Girls und GarÅonnes sind die Zeitideale, die die schwer erworbenen Qualifikationen der jungen Akademikerinnen abgelöst haben. In einem Gespräch zwischen Fräulein Dr. Kohler und ihrer Freundin, der Ärztin Dr. Wendland, wird die Desillusionierung dieser Akademikerinnen Anfang der dreißiger Jahre zum Thema gemacht: Als wir auf die Universität kamen, war es eine große Seligkeit und wir hatten Ehrgeize und wollten was leisten und hatten unseren großen Stolz. Und was ist kaum fünfzehn Jahre später? Das Girl ist gekommen. Wir wollten einen neuen Frauentyp schaffen. Wissen Sie noch, wie wir gebrannt haben vor Seligkeit, dass wir an alles heran konnten, diese ganze große Männerwelt voll Mathematik und Chemie und herrlichen historischen Offenbarungen in uns aufzunehmen. Und jetzt ist das Resultat, dass die kleinen Mädchen von sechzehn in meiner Sprechstunde sitzen und ich schon froh bin, wenn sie nicht krank sind, und der Kopf ist nur noch zur Frisur da. Ich finde, die Akademike79 Liane Schüller, Vom Ernst der Zerstreuung, S. 205.

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rinnen sind arg ins Hintertreffen gekommen. […] [N]ach uns ist eine Generation gekommen, die alles vergessen hat. (Käsebier, S. 70 f.)80

Teut Augustin Deese kommentiert diese Textstelle: »Da die akademische Bildung im Spätkapitalismus zunehmend an Wert und Prestige verliert und lediglich nach dem Grad ihrer Vermarktung taxiert wird, scheitern die Emanzipationsbestrebungen der betroffenen Frauen.«81 Die neue Generation der Girls bestimmte die gesellschaftliche Realität deutlich stärker als die jungen Akademikerinnen, die auf die Ebene von Angestellten herabgerutscht waren. Sie hatten sich allerdings etwas andere Vorstellungen von ihrem Leben gemacht, als es von der Wirklichkeit eingelöst worden war. »Es gibt«, meint Fräulein Dr. Wendland, »die Not und sonst nur den Parademarsch in breiter Front auf das Bett zu. Es ist eine Enttäuschung, die wir erlebt haben […], die wir uns gelüsten ließen nach der Männer Bildung, Weisheit und Können erfuhren, wieweit das Leben ist, wenn man die Suche nach Wahrheit zum Stern seines Daseins macht. Die Enttäuschung an der nächsten Generation. […], nach uns ist eine Generation gekommen, die alles vergessen hat. Das ist arg.« (Käsebier, 70 f.)82

Die neue Frauengeneration hat deshalb nur die Wahl, sich durch die Männer ausbeuten zu lassen oder sie ihrerseits auszubeuten. Als Fräulein Dr. Kohler von Meyer-Paris eingeladen worden ist, mit ihm nach Paris zu fahren – ein Versprechen, das er allerdings nicht einlöst –, bereitet sie sich auf die Reise vor, indem sie einkauft: Sie kaufte ein: Zwei Paar seidene Strümpfe, zwei Paar rosa Seidenschlüpfer. Sie wollte sich gern ein Seidennachthemd kaufen, aber sie traute sich nicht. Es schien ihr zu sehr dem Glück vertraut. So kaufte sie nur zwei Paar Seiden-Kombination, aber dann meinte sie, Batist würde auch genügen. Sie hatte viel Ärger durch diese Sachen. Frau Geheimrat Kohler war eine Preußin. Sie fand Kuchen Luxus, Nachmittagsschlaf unsolide, ein Taxi zu nehmen bare Verschwendung, und verbrachte ihre Abende damit, freundlich und rührend weiße Wäsche zu flicken. Dass Lotte Farbiges und gar Seidenschlüpfer tragen wollte, entsetzte sie tief […]. ›Wenn du die Lumpen tragen willst, bitte schön, aber wer weiß, wo du noch hingerätst.‹« (Käsebier, 127 f.)

Lotte Kohler steht also zwischen der alten, preußischen Idealen verpflichteten Generation ihrer Eltern und der jungen, moralisch freizügigen der »Girls«. Sie 80 Vgl. auch Gabriele Tergit, »Bilanz der Frauenbewegung«. In: Dies., Frauen und andere Ereignisse, S. 179 f. Zuerst in: Die literarische Welt. Nummer 10, 1932. 81 Teut Augustin Deese, »›Eine Satire auf den Betrieb‹ – Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm«. In: Ders., Neue Sachlichkeit zwischen Satire und Sentimentalität. Diss. Univ. of California, Los Angeles 2006, S. 151 – 180; hier S. 169. 82 Ähnlich in: Gabriele Tergit., »Die Einspännerin«, S. 75 bzw. S. 108, sowie in: Dies., Frauen und andere Ereignisse, S. 108.

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stammt aus einer gutbürgerlichen Familie und hat versucht, sich über eine universitäre Bildung zu emanzipieren; doch hat sie erleben müssen, dass ihr ein angesehener Akademikerberuf in der Weimarer Republik nicht mehr offen steht. Abgesehen von einer beruflichen Karriere, wäre ihr privates Lebensziel weiterhin das der alten Generation ihrer Eltern: zu heiraten und Kinder zu bekommen. Stattdessen lässt sie sich von einem Mann wie Meyer-Paris ausnutzen – bis sie endlich die Wahrheit ihrer Beziehung zu ihm erkennt und sich endgültig von ihm trennt. Diese Trennung und der Abschied von der Sentimentalität alter Ideale und falschen romantischen Vorstellungen zeigt sich darin, dass sie sich in einem symbolischen Akt ihre Haare zu einem Bubikopf abschneiden lässt. Sie demonstriert damit, dass sie desillusioniert die Möglichkeit der Selbstverwirklichung in einer traditionellen romantischen Beziehung aufgegeben hat und es nun als emanzipierte, moderne Frau der Weimarer Republik versuchen wird. Wie ihre Zukunft aussehen wird, erfahren wir nicht; ob sie damit die Lösung für ein unabhängiges und glückliches Leben gefunden hat, bleibt offen. Ihre Lösung von alten Idealen ist eher »Ausdruck der »resignierende[n] Haltung einer ganzen Generation zwischen den Weltkriegen«.83 Der Normenwandel, der sich in der Redaktion der Berliner Rundschau zeigt, wird damit in den Episoden unglücklicher zwischengeschlechtlicher Beziehungen gespiegelt. Als der Verleger Rowohlt vorschlug, das Fräulein Kohler und ihre unglückliche Liebesgeschichte wegzulassen, verteidigte sich die Tergit vehement: Diese ganze Geschichte mit dem Meyer-Paris sei zu albern. Ich hielt mit Recht an ihr fest. Es war ein Problem, das mit Tucholskys »Rheinsberg« begonnen hatte. Es war die erste Generation, zumindest des Bürgertums, aber auch schon der Arbeiter- und Bauernklasse, wo die Jungfräulichkeit der Frau nicht unbedingt Forderung des Mannes bei der Eheschließung war, was zusammentraf mit dem Frauenüberschuss nach dem Ersten Weltkrieg. Es war für mich erschütternd, als ich entdeckte, dass mein Fräulein Kohler ein eineiiger Zwilling des Fräuleins in der ›Engelgasse‹ von J.B. Priestley (»Angel Pavement«, London 1930) war. (Etwas Seltenes, 79)

Eine Gegenfigur zu Fräulein Dr. Kohler ist die Gymnastiklehrerin Käte Herzfeld, für die Gabrieles Freundin Hilde Walter Modell stand.84 Käte ist im Begriff, eine Gymnastikschule zu eröffnen und sieht sich dazu nach einer geeigneten Wohnung in der Kurfürstendammgegend um. Im Gegensatz zu Fräulein Kohler hat 83 Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!, S. 3. Vgl. dazu den Aufsatz von Irmgard Roebling, »›Haarschnitt ist noch nicht Freiheit‹. Das Ringen um Bilder der Neuen Frau in Texten von Autorinnen und Autoren der Weimarer Republik«. In: Sabina Becker (Hg.), Frauen in der Literatur der Weimarer Republik. Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik, Bd. 5 (1999/2000) St. Ingbert 2000, S. 12 – 76. 84 Hilde Walter sollte später, in Gabriele Tergits Romanmanuskript So war’s eben, auch als Vorbild für die Gestalt der Lily Gallandt dienen.

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sie keine sentimentalen Vorstellungen von der Liebe und wird nicht von konventionellen Verhaltensmustern der älteren Generation bestimmt. Sie ist eine unabhängige, moderne, emanzipierte Frau, die nicht davor zurückscheut, Männer für ihre Zwecke zu benutzen und sie ihrerseits als Ware zu behandeln. »Sie ist ›eine Mischung von Girl und GarÅonne‹, ein ›ganz neuer Typ‹, der sich das Haar in Vorreiterfunktion und auf der Höhe der Zeit schwimmend ›bereits 1918 hat schneiden lassen.‹ [Käsebier, S. 82], – nicht etwas wie Fräulein Kohler als Verarbeitungsszenario.«85 Käte Herzfeld sucht nach einem ihrem Charakter gemäßen Leben und zögert nicht, Beziehungen abzubrechen, wenn sie ihren Zielen im Wege stehen. Sie ist nach einer gescheiterten Ehe Realistin, die sich an keinen Mann so sehr emotional bindet, dass sie unter einer enttäuschenden Beziehung leiden würde. Als sie mit Fritz Oppenheimer, einem wohlhabenden ehemaligen Staatsanwalt, ausgeht, nimmt sie seine albernen Komplimente, über die sie sich innerlich lustig macht, in Kauf, um einen angenehmen, vergnügsamen Abend zu verbringen. Bedenklicher ist ihr Zusammensein mit dem Bankier Winkler, einem alten Bekannten, den sie auf einem Ball trifft und der sie zum Tanzen auffordert: Seine Hände tasteten ihren Körper ab und waren zufrieden. »Hör mal, wozu bleiben wir hier, nehmen wir ein Auto, fahren in die Winternacht.« »Nein, ich bleibe hier.« »Du bist dumm«, sagte er und stampfte mit dem Fuß auf, »du weißt, ich kann Frauen, die sich zieren, nicht leiden.« Er war sehr ärgerlich. Sie durfte ihn nicht verlieren, weder seinen Rat noch seinen Kredit. (Käsebier, 42)

Wir erfahren nur noch, dass Käte mit ihm fortgeht, womit der weitere Verlauf des Abends dezent angedeutet ist. Verliebt ist sie in Winkler nicht, aber sie ist auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen und bereit, ihm dafür sexuell entgegenzukommen. Sie überlegt dabei eiskalt, was zu ihrem Vorteil ist, so dass ihr Verhalten von Prostitution nicht weit entfernt ist. Sie ist keine moderne emanzipierte Frau, sondern sie erweist sich »als äußerst wandlungs- und anpassungsfähig und wird in ihrer chamäleonhaften Attitüde zu einer in besonderem Maße dem Zeitgeist entsprechenden Figur.«86 Zugegeben, sie will frei sein, will sich weder von einem Ehemann, noch von einem Geliebten irgendwie einschränken lassen. Auch ist sie in ihrer Anpassungsfähigkeit bereit, als Geschäftsfrau tätig zu werden und dabei ihre physischen Reize einzusetzen. So lässt sie sich von einer Kunstgewerblerin, die das Recht erworben hat, aus vier Staubtüchern geknotete Käsebierfiguren zu vermarkten, anstellen, um für Käsebier zu werben, indem sie Einkäufer besucht und zu Kundenbesuchen auch in die Provinz fährt. Damit wird sie gegen Spesen und 85 Liane Schüller, Vom Ernst der Zerstreuung,, S. 213. 86 Ebd., S. 217.

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Umsatzbeteiligung zu einer Handlungsreisenden in Sachen Käsebier. Kätes Selbstbild deckt sich nicht mit ihrer Lebensqualität. Zwar geriert sie sich selbständig und revolutionär, doch letztlich muss sie sich auch im Wettbewerb prostituieren, um überleben zu können: »Wenngleich Tergit verdeutlicht, dass Käte einer Lebenslüge anhängt, verurteilt sie sie doch nicht, insofern sie ihr Geschick primär aus den ökonomisch-sozialen Gegebenheiten herleitet, die den Frauen ihre Selbständigkeit nahezu verunmöglichen.«87 Auch Kätes mehrfach hervorgehobene, für die neusachlichen Frauenfiguren überhaupt typische Kälte ist weniger Charaktereigenschaft als Überlebensstrategie, ein mimetischer Anpassungsversuch an jene Verhältnisse, denen sie letztlich zum Opfer falle: »Ich hätte«, erkennt sie schließlich, »eine herrliche Geliebte werden können, aber so wurde ich ein kaltes Stück.« (Käsebier, S. 220) Käte ist ein Zwitter, der weder in der alten, soliden preußischen Welt zu Hause ist, noch in der ›modernen‹, die von gesellschaftlichen Widersprüchen geprägt ist. Sie ist letztlich »keine bewundernswert selbständige, sondern im Gegenteil eine bedauernswerte Frau, die ihren selbstgewählten Lebensstil mit Einsamkeit und andauerndem Auf-derSuche-Sein bezahlt.«88 Man kann nur den Schluss ziehen, dass Gabriele Tergit in Fräulein Dr. Kohler vielleicht ein Selbstporträt gezeichnet hat, das Porträt einer Frau, die sich erst langsam gegen ihre eigene preußische Erziehung durchsetzen und emanzipieren kann, dass sie aber gleichzeitig das letztendliche Scheitern der kühl kalkulierende GarÅonne Käte, des Paradeprodukts der Weimarer Republik, darstellt. Weder die an ihrer Beziehung leidende Charlotte Kohler noch die kühl kalkulierende Käte entsprechen Idealvorstellungen Tergits. Im Gegenteil: sie zeigt an beiden, dass ihrer Ansicht nach die Emanzipation der Frau nach dem Ersten Weltkrieg letztlich gescheitert ist, weil sie die sozialen und biologischen Gegebenheiten der Frau ignoriert. Damit steht die Gleichberechtigung der Frau zwar auf dem Papier der Verfassung, hat sich in die Realität jedoch nicht umsetzen lassen. So schrieb die Autorin schon 1928: Die Phrase von der Gleichberechtigung ist der barste Blödsinn. Die Frauen allein haben ihre Leiden, die Mühe Kinder zu tragen und aufzuziehen oder die größere Qual, sie wegzubringen. Sie allein stellen ihre Gesundheit aufs Spiel und damit die ganze erkämpfte Freiheit und materielle Unabhängigkeit innerhalb und außerhalb der Ehe. […] Der Schutz für die Frau […] kann nicht allein gesetzlich geregelt werden; dann geraten wir nämlich in vorgeschichtliche Zustände […].89

87 Teut Augustin Deese, Neue Sachlichkeit zwischen Satire und Sentimentalität, S. 171. 88 Marie-Christine Mirwald, Gabriele Tergits »Käsebier erobert den Kurfürstendamm«, S. 70. 89 Gabriele Tergit, »Kleine Diskussion«. Zuerst in: Berliner Tageblatt vom 17. Aug. 1928. Wiederabdruck in: Dies., Frauen und andere Ereignisse, S. 112 – 113; hier S. 114 f.

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Die Tergit war damit keine Feministin, sondern eine denkende Frau, die der Frauenbewegung zusehend kritisch gegenüber stand. Gegen Ende ihres Lebens kam sie in einem Interview mit Henry Jacob Hempel noch einmal auf das Thema der Emanzipation der Frau zu sprechen: Hempel: Gegenwärtig gibt es wieder eine Frauenbewegung, die für die Gleichberechtigung der Frau mit dem Mann eintritt, und das heißt doch zu allererst, dass für Frauen der Mann nicht mehr der Lebensmittelpunkt ihres Lebens sein soll, dass ihre beruflichen Interessen ebenso zu fördern und zu beachten sind. Tergit: Ich war ein geistig interessiertes Mädchen, habe Lateinisch und Griechisch gelernt und Homer in seiner Ursprache vollkommen gelesen. Viele mathematische Probleme waren für mich völlige Offenbarung. Ich bin doch nicht dumm. Ich bin ein geistiger Mensch mit meinem eigenen Leben. Und doch habe ich gesehen, dass mein Vater und mein Mann sehr viel größere Gehirne haben als ich. Das ist einfach so. Ich mach’ doch diesen Quatsch mit der women’s lib nicht mit. Mein Sohn war vier Jahre alt, da ist er zu meinem Mann gegangen und hat gesagt: Papa, ich hab’ was Schreckliches entdeckt, die Mama kann nicht denken. Hempel: Ist das nicht eine Beleidigung, wenn sie unwidersprochen bleibt? Tergit: Mein Leben lang sind mir Steuererklärungen entsetzlich schwer gefallen, ebenso Hausverwaltung, technische Probleme wie der Einbau von Doppelfenstern, für all das brauche ich Beratung. Mir sind doch immer die Lebensschwierigkeiten abgenommen worden. natürlich habe ich immer Geld verdient. Meine Schriftstellerei wird ja auch bezahlt. Aber eigentlich…90

Wirklich ernst sollte man solche Bemerkungen nicht nehmen: Gabriele Tergit fühlte sich nicht minderwertig gegenüber Männern, und sie hat ihr Leben lang gezeigt, dass sie mindestens dieselbe Energie, Intelligenz und Lebenstüchtigkeit besaß wie sie. –

Ein neusachlicher Zeitroman Im Mittelpunkt des Käsebier-Romans stehen nicht nur repräsentative Figuren der Zeit, sondern auch konkrete gesellschaftliche und politische Aspekte der Weimarer Republik: die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Medien, die abhängige Stellung nicht nur männlicher, sondern vor allem auch weiblicher Angestellter, die vom einen auf den anderen Tag ihre Stelle verlieren können, das Leben in der Großstadt Berlin mit seiner Vergnügungskultur, die Konsumorientierung der Massengesellschaft und der Amerikanismus in der Bedeutung von Technik und kapitalistischer Rationalisierung. Gabriele Tergit schreibt einen kurzen, knappen Zeitungsstil, der ihrer eigenen Tätigkeit als Journalistin entspricht, wie sie ja auch etliche Zeitungsartikel wortwörtlich in 90 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 14.

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den Roman integriert hat. So entsteht ein Panorama des Lebens in der Endphase der Weimarer Republik, das ihren baldigen Zusammenbruch ahnen lässt. Tergit gibt eine Diagnose der Krise, aber keine hellsichtige Prognose der kommenden politischen Katastrophe. Käsebier erobert den Kurfürstendamm ist damit in mehrerer Hinsicht ein Zeitroman, der der sogen. Neuen Sachlichkeit zuzurechnen ist, weil hier »zeitgenössische Realität von einem objektiven Standpunkt ohne Interferenz des Autors […] reproduzier[t]« wird.91 Das Thema Großstadt und durch Amerikanismus beeinflusste Betriebsamkeit, die Rationalisierung des Zeitungsbetriebs und die Auswirkungen eiskalten kapitalistischen Denkens bestimmen den Roman. Der Journalismus ist nicht nur Thema, er bestimmt auch den Stil, die kurzen, treffsicheren Dialoge. Die immer wiederholten, nichtssagenden Floskeln sind nicht nur einfach realistisch, sie decouvrieren auch die Oberflächlichkeit und Unverbindlichkeit menschlicher Kontakte in der Berliner Schickeria, mit der die aus der oberen Schicht stammende Tergit bestens vertraut war. Oft wiederholte, nicht ernst gemeinte, inhaltsleere Formeln wie »Rufen Sie doch mal an« oder »Ich rufe mal an« und »Wir telefonieren einmal« (z. B. Käsebier, 38, 94) sind nicht nur Ausdruck der Technik- bzw. Telefonbegeisterung des reichen Bürgertums der Zeit, sondern auch des Mangels an Kommunikation, an echtem menschlichen Kontakt, zumal diese telefonischen Kontakte wohl niemals stattfinden werden. Die sozialen Beziehungen sind versachlicht, die Menschen austauschbar. Dargestellt werden mehr oder weniger nur die Fakten, während Erzählerkommentare und -wertungen fehlen bzw. sich höchstens im Bewusstsein der Personen ausdrücken. Der Roman bildet keine empirische Realität ab, sondern die Realität ist fiktionalisiert und typisiert.92 Die im Käsebier dargestellten Missstände sind auch heute noch erstaunlich aktuell: Die Tatsache, dass Stars von einer gewissenlosen Journaille ›gemacht‹ werden, wobei das tatsächliche Talent nebensächlich ist. Der Jugendkult, in dem Dreißigjährige beruflich als schon fast zu alt gelten. Die guten Journalisten, denen es um Wahrheit und Humanismus geht, sind nicht mehr gefragt: »Junge Kräfte! Die guten Journalisten von 1900, die vom Atem der Zeit nicht durchstürmt sind, schreiben viel zu hoch für das moderne Publikum«, sagt Frächter : »Dem Publikum ist ja übrigens alles egal; wenn nicht die Kritiker wären, wüsste kein Mensch, was gute, was schlechte Bilder, Filme oder Bücher sind. Zeitungen werden so wenig kritisiert wie seidene Strümpfe. Übermorgen liest jeder die Bettgeheimnisse des 91 Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹, S. 41. 92 Vgl. Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!’, S. 31. Abgesehen davon, muss man natürlich zuzugeben, dass Tergit in ihren satirischen und zeitkritischen Passagen, ähnlich wie Erich Kästner im Fabian, oftmals über rein deskriptive, nüchterne Beschreibung von Situationen und somit über die Neue Sachlichkeit hinausgeht.

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Herrn von Trappen oder der Käte Herzfeld lieber als Abhandlungen über die französische Politik. Keiner will sich das eingestehen. Aber das Wesen des modernen Betriebsfachmanns ist es, schlummernde Bedürfnisse zu wecken.« (Käsebier, S. 132)

An anderer Stelle heißt es: »Der Erfolg ist eine Sache der Suggestion und nicht der Leistung.« (Käsebier, S. 19) Der Smalltalk einer degenerierten Schickeria, deren Angehörige allesamt einem Otto-Dix-Gemälde entsprungen sein könnten und die als launiges JetsetThema Käsebier mit gespielter Beflissenheit goutieren, ist damals wie heute genauso en vogue wie die gefährlichen Liebschaften, in denen die frustrierte Gattin ihren Ehespießer mit einem anderen Spießer betrügt.«93 Aber auch bei den Bankiers, den Finanzspekulanten und Baulöwen braucht man nur die Namen zu vertauschen, um an heutige Verhältnisse gemahnt zu werden.

Rezeption Käsebier war zunächst einmal ein großer kritischer Erfolg. Tergits Freund Walther Kiaulehn schrieb in der BZ am Mittag: Der Roman wird viele verwirren, weil er ihnen zeigt, dass Berlin und New York dicht nebeneinander liegen. Durch seine Zeilen weht der Wind von Berlin, aber es ist der Wind, der alle Großstädte durchweht und sie gleich sein lässt in Europa und Amerika. […] Es ist wirklich ein bedeutendes Buch – mit Zola’scher Prägnanz und Erbarmungslosigkeit geschildert. Gabriele Tergit peitscht die Korruption, sie liebt aber den Menschen, der sie schuf. Ein resigniertes, aber kein resignierendes Buch, ein skeptisches Buch, aber das Buch einer Frau. Die Frau ist die Trägerin des Moralgesetzes. Wenn sie dazu eine Dichterin, eine Humoristin ist, verbeugen wir uns vor ihr.94

Auszüge aus dem Roman erschienen in der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts (Etwas Seltenes, 172). Rudolf Olden besprach das Buch im Berliner Tageblatt, wobei er besonders den Stil der Tergit charakterisierte: »Es ist etwas ganz Großes darin: dass es uns über unser Elend lachen macht oder wenigstens lächeln. Ach, das ist wahrhaftig selten, dass man das findet: Lachen im Elend des Zugrundegehens.«95 Aber nicht nur in Berlin erregte der Roman Aufsehen, sondern auch außerhalb, wo man der sensationsgeilen deutschen Hauptstadt ohnehin skeptisch gegenüberstand. So schrieb die Basler Nationalzeitung: »Dieser Roman schildert nicht nur die ganz besondere, einmalige Luft Berlins. Er ist auch ein getreues Abbild seiner Zeit, der Zeit, in der alle Werte wanken, alle 93 Andreas Öhler, »Der Zeitgeist kehrt zurück«. In: Rheinischer Merkur vom 11. März 2004, S. 21. 94 Zitiert nach Egon Larsen, Die Welt der Gabriele Tergit, S. 18. 95 Ebd.

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feststehenden Begriffe mit dem ganzen Bau der Gesellschaft umgestülpt werden. […] Ein lebendiger Bericht vom Untergang einer Gesellschaft.«96 Abgesehen davon, war die Rezeption so, dass Tergit geradezu Angst bekam, weil sie teilweise von den falschen Leuten gepriesen wurde. So priesen sie die Nazis mit den Worten: »Ja, so geht die Tugend vor die Hunde, aber wir werden euch die echten Werte bringen, Treue und Wahrheit!« (Zitiert nach Etwas Seltenes, 80)97 Und Hanns Johst, der glühende Nationalsozialist und spätere Präsident der »gleichgeschalteten« Reichsschrifttumskammer, nannte sie »ein tapferes preußisches Herz«, obwohl ihm ihre jüdische Abstammung mit Sicherheit bekannt war. Am richtigsten charakterisierte merkwürdigerweise die kommunistische Welt am Abend das Anliegen der Tergit, indem sie schrieb: »Die Tergit ist eine Bürgerin, die sich noch den Sinn für Sauberkeit bewahrt hat und inbrünstig an ein liberales Gesellschaftsideal glaubt. […] Sie will die kapitalistische Welt […] in ihrem Roman für Entartung […] bestrafen, um sie zu verbessern.« (Zitiert nach Etwas Seltenes, 80) Auch verlegerisch bahnte sich zunächst ein – wenn auch nicht im Sinne heutiger Maßstäbe – großer Erfolg an, der aber leider schon bald zum Stillstand kam: Bis zur Machtübernahme Hitlers wurden 5.000 Exemplare des Buches verkauft:98 Beinahe wären es viel mehr geworden. Am 15. Dezember 1931 wurden zweihundert Exemplare verkauft. Am Nachmittag dekretierte der Diktator [Reichskanzler] Brüning, der mit Notverordnungen regierte, höhere Steuern und niedrigere Gehälter, und so wurden nur noch fünfundsiebzig Exemplare verkauft. Ernst Rowohlt rief mich ärgerlich an, denn er nahm an, Brüning wollte der Welt nur zeigen, dass Deutschland keine Reparationen mehr zahlen könne. (Etwas Seltenes, 80)

Die Tergit bemühte sich umgehend um eine englische Übersetzung ihres Romans, aber Ernst Rowohlt machte ihr wenig Hoffnung auf eine Veröffentlichung in einem britischen Verlag.99 Von der New Yorker Literaturagentin Marion Saunders erhielt sie ebenfalls eine Absage mit der Bemerkung, nach Döblins Berlin Alexanderplatz sei der Markt für Berliner Bücher denkbar schlecht. Als ihr Tergit antwortete, ihr Roman sei mit dem Döblins überhaupt nicht zu vergleichen,100 reichte Sauders das Typoskript an den Verlag Scribner weiter, ohne Erfolg. Wegen einer Verfilmung fragte sie bei dem Regisseur Erich Engel an, der aber 96 Ebd., S. 18 f. 97 Dies hinderte die Nationalsozialisten nicht, das Buch auf eine der ersten Listen ihrer Bücherverbote zu setzen. Die Tergit war ihnen offensichtlich durch ihre Berichterstattung über die Femeprozesse ein Dorn im Auge. 98 Von Hans Falladas Roman Bauern, Bonzen Bomben, der zur gleichen Zeit ebenfalls bei Rowohlt erschien, wurden beispielsweise nur 2,500 Exemplare abgesetzt. 99 Brief von Ernst Rowohlt an Gabriele Tergit vom 9. Januar 1932 (DLA). 100 Brief an Marion Saunders vom 23. Januar 1932 (DLA).

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sofort abwinkte: »Leider ist augenblicklich ein Roman von gesellschaftskritischer Einstellung bei der Industrie nicht durchzusetzen. Man muss bei Ihrem wie manchem anderen Stoff auf bessere Zeiten hoffen.«101 Die Tergit ließ sich davon nicht beirren; ihr Buch sei gar nicht gesellschaftskritisch gemeint, auch wenn alle Kritiker es so auffassten,102 und sie bot Engel obendrein ihre Dienste als Drehbuchautorin an. Der Verleger Ernst Rowohlt wollte weitere Bücher von seiner jungen Autorin. Als sie ihm ihr neues Projekt, einen jüdischen Familienroman, die späteren Effingers, anbot, reagierte er entzückt: »Großartig. Ich habe nie genug Bücher für die bücherfressenden jüdischen Einsegnungen.«103 Im Januar 1975 wurde die Geschichte des Käsebier und seiner Protagonisten als Radio-Feature dargestellt und von fünf deutschen Sendern ausgestrahlt: am 25. Januar vom WDR, am 11. Februar vom SFB, da man in Berlin den WDR nicht empfangen konnte, am 2. März von Radio Bremen und schließlich auch vom NDR und vom 2. Programm des Hessischen Rundfunks.104 Autor und Regisseur war der junge Frank Grützbach, der den Roman ahnungslos bei einem Antiquar erstanden hatte und über seine Aktualität erschüttert war. Als Gabriele Tergit das fertige Produkt hörte, war ihre Reaktion gemischt. Sie fand das Ganze »als Radiovorführung ausgezeichnet«, obwohl einige Dialekte ihres Erachtens nicht ganz stimmten, und »Das moralische Problem ist, ob man so einen Roman, also die künstlerische Arbeit einer Person nur als Aufhänger benutzen kann, ständig Zitate und eigenes unerkennbar mischen und das Ganze mit einem Zitat eines anderen Schriftstellers beenden.«105 1981 schrieb der prominente Fernsehautor und -regisseur Eberhard Fechner ein Drehbuch nach dem Roman, das leider aber nicht verfilmt wurde. Fechner war auch der Erste, der erkannte, dass »das idiotische Fräulein Dr. Kohler eine Autobiographie ist.«106 Fechner hatte Tergit im Winter 1979 zusammen mit seiner Frau besucht und, als sie den autobiographischen Aspekt leugnete, gesagt, »da stehen Sachen drin, die man selbst erlebt haben muss.«107 Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Roman mehrere Neuauflagen: 1977 (Frankfurt a.M.: Wolfgang Krüger), 1978 (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag), 1988 und 1997 (Berlin: Arani-Verlag) und 2004 (Berlin: Das Neue Berlin). Anlässlich des 101 Brief von Erich Engel an Gabriele Tergit, o.D. (DLA). 102 Brief an Erich Engel vom 6. Juli 1932 (DLA). 103 Zitiert nach Nicolaus Neumann, »Comeback der alten Dame. Eine 83jährige Emigrantin ist die literarische Wiederentdeckung der Buchsaison in Deutschland«. In: Der Stern vom 24. März 1977, S. 185 – 191; hier S. 189. 104 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 47, berichtet sogar von einer Sendung im WDR III am 4. Januar 1995. 105 Brief an Frank Grützbach vom 12. Februar 1975 (DLA). 106 Brief an Nino Ern¦ vom 21. Februar 1981 (DLA). 107 Brief an Hans Sahl vom 31. August 1980 (DLA).

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Neuerscheinens des Käsebier wurde Gabriele Tergit 1977 zu den Festwochen nach Berlin eingeladen. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich da an einer öffentlichen Diskussion teilgenommen, zusammen mit anderen Leuten aus den Zwanziger Jahren. Die fand im Renaissance-Theater statt. Dann gab es eine Vorlesung in der Akademie der Künste, [Walter] Höllerer las ein Kapitel aus den ›Effingers‹ vor. Ja, wenn mir das 1953 passiert wäre, welche Freude hätte dies für mich bedeutet.108

Erhard Schütz pries den Käsebier mit den Worten: »Facettenreicher, scharfsichtiger und auch turbulenter als die immer wieder als Spiegel der Weimarer Tempojahre empfohlenen Keun, Kästner oder Fallada ist der Roman allemal.«109 Es hatte damit so etwas wie eine Wiederentdeckung Gabriele Tergits stattgefunden. Erstaunlich ist dies im Falle von Käsebier erobert den Kurfürstendamm auch insofern, als es sich letztlich doch zum großen Teil um einen Schlüsselroman handelt, dessen real dahinter stehende Personen nicht mehr im öffentlichen Bewusstsein standen. Die Tatsache, dass man sich nun verstärkt für weibliche Autoren der Weimarer Republik zu interessieren begann, beispielsweise auch für Irmgard Keun, mag jedoch diese Renaissance genauso gefördert haben wie das Interesse am Berlin der ›goldenen zwanziger Jahre‹ im Allgemeinen. Als 1977 der Roman vom Krüger-Verlag zuerst wieder aufgelegt werden sollte, schlug die Tergit vor, die Vielzahl der jüdischen Figuren in ihrem Roman zu reduzieren. So wollte sie den Namen der besonders negativ gezeichnete Käte Herzfeld in Käte Brügger ändern: »Ich habe der besonders widerwärtigen Herzfeld einen weniger jüdischen Namen gegeben«, schrieb sie an die FischerTaschenbuch-Lektorin Jutta Siegmund Schultze.110 Deren Antwort verdeutlicht, wie sich seit dem Ersterscheinen des Romans inzwischen die Sichtweisen in Deutschland geändert hatten: Die von Ihnen geschilderte schöne Käthe ist wirklich nicht so widerwärtig wie sie ihnen heute offenbar im nachhinein erscheint. Es ist eine sehr schillernde und für die Zwanziger Jahre typische Gestalt, wie sie fast nur von einer Berliner Jüdin verkörpert werden kann. Wir fanden gerade die Beschreibung dieser Frau sehr reizvoll und in keiner Weise diskriminierend, geschweige denn antisemitisch. Wir waren hier im Verlag der einhelligen Meinung, dass man Ihnen den Vorwurf des Antisemitismus in gar keiner Weise unterstellen kann, im Gegenteil, es tauchen eigentlich in der von Ihnen geschilderten Gesellschaft viel weniger Juden auf, als in der damaligen Gesellschaft tatsächlich vertreten waren. Die Wiederentdeckung Ihres »Käsebier« bedeutet für uns die Wiederentdeckung eines zu Unrecht vergessenen guten Romans, aber gleichzeitig 108 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 22 (DLA). 109 Erhard Schütz, »Verleger, Verlegenheiten, Feuilletons«. In: Die literarische Welt vom 19. Juni 2004, S. 4. 110 Brief vom Winter 1976 (DLA).

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auch ein Stück Zeitgeschichte. Darum sollten wir im nachhinein so wenig wie möglich verändern.111

Auch der jüdische Makler Kaliski erschien Tergit »zu penetrant« und nicht wichtig für den Roman. In den Fahnen, die sie dem Verlag einreichte, strich sie deshalb die ganze Figur und schlug vor, die Scheidungsproblematik mit der aus reichem Hause stammenden Ella Waldschmidt, die erst mit Kaliski, dann mit dem opportunistischen Frächter verheiratet ist, mit einem Satz abzutun. Die »Häufung jüdischer Namen« im Roman war ihr besonders unangenehm; sie wolle weder den Verlag noch sich selbst dem Vorwurf des Antisemitismus aussetzen. »Obwohl dieser Kaliski verglichen mit dem heutigen JETSET z. B. Prinz Bernhard ganz harmlos ist gibt es zu viel Deutsche, die denken könnten für so was war Auschwitz gerade richtig.«112 »Siegmund Schultze befürchtete jedoch, dass die Umwandlung der jüdischen in deutsche Namen die Authentizität des Buches schmälern könnte, denn ›in den Zwanziger Jahren waren ja nun einmal sehr viele Presseleute Juden.‹113 Es könnte auf Seiten der Leser ›zu völligen Missverständnissen‹ kommen, riet sie Tergit ab:«114 »Man muss auch wissen, was Kaliski eigentlich für ein Mensch ist, um zu verstehen, warum seine Frau sich plötzlich von ihm trennen will. Es macht wirklich nichts, liebe Frau Tergit, wenn es in einem Roman auch weniger sympathische Menschen gibt, im Gegenteil.«115 Ob es 1976 in Deutschland wirklich einen so großen Gesinnungswandel gegeben hatte, dass man bereit war, den Käsebier als jüdisches Buch mit negativ gezeichneten jüdischen Gestalten zu akzeptieren? Oder ist nicht vielmehr Gabriele Tergits Befürchtung angesichts ihrer Erfahrungen mit den inzwischen auch veröffentlichten Effingers mehr als verständlich? Mitte August waren immerhin stolze 4.800 Exemplare der Käsebier-Neuauflage verkauft.

Als die Nazis kamen Bei den Reichstagswahlen im September 1930 gewannen die Nazis 107 Sitze: »›Na‹, sagte Heinz und drehte das Radio ab, ›hundertsieben Mandate für die Nazis. Reizend.‹ Er ging im Zimmer auf und ab. ›«Das geht nicht gut. Man kann nicht unter Gangstern leben.‹ ›Aber Heinz‹, sagte ich. ›mach doch nicht die Pferde scheu. Warte ab.‹« (Etwas Seltenes, 72) 111 Brief von Jutta Siegmund-Schultze an Gabriele Tergit vom 13. Dez. 1976 (DLA). Auch in: Liane Schüller, Vom Ernst der Zerstreuung, S. 220. 112 Brief an Dr. Jutta Siegmund-Schultze vom 15. September 1976 (DLA). 113 Brief von Jutta Siegmund-Schultze an Gabriele Tergit vom 28. September 1976 (DLA). 114 Julian Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹, S. 107. 115 Brief von Jutta Siegmund-Schultze an Gabriele Tergit vom 13. Dezember 1976.

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In der Redaktion des Berliner Tageblatts war man anderer Meinung, wusste man um die Attraktion patriotischen Gedankenguts und des Geredes von der Heimat. Die politische Unsicherheit machte sich auch für die Intellektuellen in ihrem Schriftverkehr und damit in ihren beruflichen Chancen bemerkbar. »In unserer Post stand: ›Wegen Ihrer Filmidee bitten wir Sie, sich bis nach den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus zu gedulden.‹ In unserer Post stand: ›Wegen Ihres neuen Vertrages wollen wir bei der unklaren Lage erst einmal den Volksentscheid abwarten.‹« (Etwas Seltenes, 73) Aber auch private Finanzentscheidungen wurden nun von politischen Erwartungen abhängig gemacht: »In unserer Post stand: ›Auf Ihr Geehrtes vom 24. April teilen wir Ihnen mit, dass wir erst die weitere Entwicklung, mindestens die Reichspräsidentenwahl, abwarten wollen, bis wir die Hypothek bereitstellen.« (Ebd.) Die ›neue Zeit‹ hielt auch in der Redaktion des Berliner Tageblatts ihren Einzug. An die Stelle des Verlagsdirektors Martin Carbe trat Karl Vetter, ein »Mann aus dem Volke«, ein kleiner, dicker Mann mit kugelrundem Kopf, der das altmodische, mit Eichenmöbeln ausgestattete Büro seines Vorgängers durch ein neues mit Glas und Stahlmöbeln ersetzte. Vetter selbst erhielt ein Gehalt von jährlich 50.000 Mark, das Gehalt eines preußischen Ministers, während gleichzeitig den Redakteuren das Gehalt hundert- und fünfzigmarkweise gekürzt wurde. Er erweiterte den Bildteil der Zeitung und versuchte auf diese Weise, das Blatt zu einem billigen Massenblatt umzugestalten. Er gründete im Acht-UhrAbendblatt mit Erfolg den Autoklub der »Ritter vom Steuer« und arbeitete mit den modernen Mitteln der Reklame. Es war die ›neue Zeit‹, die der solide, »freisinnige« Chefredakteur Theodor Wolff nicht mit trug. Im Sinne der Amerikanisierung seiner Zeitung führte Vetter 1930 eine Leserumfrage durch, welche Prominenten man gern im Bild zu sehen wünschte. Auf einer der Seiten erschien dann unter Männern wie Gottfried Benn, Fritz Engel, Erich Mendelsohn, Erich Maria Remarque, Oswald Spengler und Jakob Wassermann als einzige Frau auch Gabriele Tergit. In der Bildunterschrift hieß es: »Gabriele Tergit schreibt im ›Berliner Tageblatt‹ seit einigen Jahren Berichte über Gerichtsverhandlungen und Feuilletons über die ›moderne‹ Frau. Sie schreibt, was sie auch zu sagen hat, mit Anmut und Witz, und es hat sich eine Gemeinde gebildet, die ihre Arbeiten bevorzugt.«116 Die forcierte Arbeit an ihrem Käsebier-Roman hatte dazu geführt, dass die Tergit erkrankte. Nach ihrer Gesundung, nach weiteren journalistischen Arbeiten und Lesungen im Berliner Rundfunk fuhr sie 1932 mit Mann und Kind zunächst nach Karlsbad und später nach Schweden. Heinrich Reifenberg war, wie immer, unvorsichtig; er ließ sich von seiner Frau nichts sagen: Als er sich mit einem jungen Architekten und seiner schwedischen Frau traf, unterließ er es, 116 Berliner Tageblatt vom 4. Januar 1931, Weltspiegel, S. 14.

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sich mit einem Sonnenschutzmittel einzukremen und bekam einen furchtbaren Sonnenbrand; er war krank, als die Familie nach Visby kam. Nachdem er sich erholt hatte, konnte man sich mit Kaffeetrinken zwischen den Ruinen der zahlreichen mittelalterlichen Kirchen ausruhen und ein Freilichttheater inmitten von Tannenwäldern besuchen. Gabriele und Heinz waren in Stockholm im Grand Hotel eingeladen und freuten sich dort an den köstlichsten Speisen. Im Gegensatz zu der von politischen Querelen, Verbrechen und Streit zerrissenen Weimarer Republik herrschte in Schweden Frieden. Es gab auch keine Armut, keine Bettler wie auf den Straßen von Berlin. Selbst in Arbeiterlokalen herrschte ein Luxus, von dem man in Berlin nur träumen konnte. Fahrräder ohne Schloss und Kette wurden nicht gestohlen, Post und Briefe konnte man offen auf dem Landungssteg von Postbooten liegen lassen, bis ihre Eigentümer sie abholten. Die Reifenbergs gingen ging in Wismar an Land, lasen in den Zeitungen von der abgesetzten preußischen Regierung Carl Severings, sahen die Zeitungen voller antisemitischer und nationalsozialistischer Parolen, sahen in den Auslagen der Buchhandlungen die Bücher, die Hass predigten und sahen, wie platte Lügen berichtet wurden: Die Nationalsozialisten waren am Ruder. Man möchte es nicht glauben, aber man durfte sich nichts vormachen. Die Nazis waren da. Die Lüge war da. Wir wollten uns in Wismar die großen gotischen Dome ansehen, aber wir verspürten keine Lust mehr. Europa würde untergehen. Lächerlich, sich noch für gotische Dome zu interessieren. (Etwas Seltenes, 85)

Gabriele Tergit und ihre Mann reisten schnell nach Lübeck weiter, wo eine ganz andere Atmosphäre herrschte, die Atmosphäre einer alten Hansestadt, in der die Bürger keine Angst hatten, sich das Symbol der Sozialdemokratie, das Abzeichen mit drei Pfeilen, anzustecken. Was war geschehen? In Deutschland kämpften die Nazis mit politischen Morden um die Macht. Am 14. September 1930 hatten sie 107 Reichstagsmandate und damit 18 Prozent der Stimmen erhalten, am 31. Juli 1932 jedoch schon 230 Mandate und damit 37 Prozent der Stimmen. Sie hatten zwar damit die meisten Stimmen, aber noch nicht die Mehrheit. Die SPD hatte 133 Sitze, Zentrum 75, KPD 89, die Bayrische Volkspartei 22 und die Deutschnationalen 37. Am 2. August verlangten die Nazis nun schon das, was im Februar 1933 wahr werden sollte: die künstliche Mehrheit der politischen Rechten durch Ausschaltung der Kommunisten. Goebbels rief: »Man muss den in der KPD verkörperten Bolschewismus als außerhalb der Rechtsgrundlage eines geordneten und christlichen Staatswesens ansehen. Verbot der KPD. Und wir haben die Mehrheit der Vaterlandsfreunde.« (Zitiert nach Etwas Seltenes, 86) In Königsberg herrschten Anfang August bürgerkriegsähnliche Zustände: KPD- und SPDPolitiker wurden bedroht, überfallen, verletzt oder erschossen. In vielen anderen

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deutschen Städten passierten gleiche Gewalttätigkeiten. Es begann die nationalsozialistische Hetze gegen Juden und jüdische Geschäfte. In der nationalsozialistischen Zeitung Der Angriff hieß es schlicht: »Die Juden sind schuld!« Noch konnte der Angriff verboten werden. Franz von Papen, seit dem 1. Juni 1932 Nachfolger Heinrich Brünings als Reichskanzler, setzte sich im Radio öffentlich für den Rechtsstaat, gegen den Bürgerkrieg, gegen Hitler ein. Anfang 1932 zeichnete sich ab, dass die Nationalsozialisten über kurz oder lang an die Macht kommen würden. Den Reifenbergs ging es nicht gut: Der junge Architekt Heinrich Reifenberg musste sich weitgehend damit begnügen, Umbauten zu überwachen: Große Berliner Wohnungen, die geteilt wurden, Landhäuser in Grunewald, die zu permanenten Wohnsitzen umgebaut werden sollten. »Das musste einen jungen Mann höchst deprimieren, dessen Bauten auf Rundfahrten der ›Bauwelt‹ gezeigt wurden.« (Etwas Seltenes, 106) Die Tergit hatte Angst um ihre Stellung beim Berliner Tageblatt, und von ihren Artikeln für die Weltbühne und das Tagebuch hatte sie trotz vieler Nachdrucke in Provinzzeitungen kein großes Einkommen. Niemand hatte mehr Geld. Ein Auto sollten die Reifenbergs nie besitzen. Man ging zu Fuß oder bewegte sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ihr Lebensstandard mit einer Sechszimmerwohnung, zwei davon als Arbeitsräume für Heinz, eine Hausgehilfin und ein Kindermädchen, wurde ihnen zu teuer. Auf den Rat eines Freundes überlegten sie, sich eine Zweizimmerwohnung ohne Haushaltshilfe zu nehmen, aber dann hätten weder Gabriele Tergit noch Heinrich Reifenberg arbeiten können. Am 29. Januar 1933 feierte man Wohnungseinweihung bei Dr. Moritz Goldstein, dem Gerichtsberichterstatter der Vossischen Zeitung, einem Kollegen Tergits. Die Goldsteins hatten eine Wohnung mit Zentralheizung, mit Blick ins Grüne im Grunewald. Es war ein lustiger Abend, bei dem auch einige Leute von Ullstein anwesend waren. Später hörte Gabriele Tergit, dass sie ab 1. April 1933 mit einem großen Gehalt bei Ullstein angestellt werden sollte. Daraus sollte nichts werden, denn um Mitternacht wurde Erich Magnus, der Leiter des Ullstein-Nachrichtendienstes, ans Telefon gerufen, wonach er zurückkam mit den Worten: »Hitler wird Reichskanzler.« »Nein, ich danke«, sagte Heinrich Reifenberg. »Zumindest sehr interessant«, war der Kommentar von Magnus. (Etwas Seltenes, 113) Hitler war an der Macht, und für Juden war binnen kurzer Zeit kein Platz mehr in Deutschland. Vor 1933 hatte Gabriele Tergit von den Nationalsozialisten noch keine ernsthafte Diskriminierung als Jüdin erfahren. Sie hatte allerdings einen, wenn auch fast komischen Angriff erlebt: Als ihr Foto im Berliner Tageblatt erschienen war, habe Goebbels im Angriff geschrieben: »Nun kennen wir also auch diese miese Jüdin.« Zu diesem Zeitpunkt war ihr das noch ziemlich gleichgültig, denn

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man hat eine solche Bemerkung in einer Nazi-Zeitung vor 1933 ja nicht etwa schon als Todesurteil auffassen können.117 Am 20. Februar 1933 besuchte Gabriele Tergit eine Veranstaltung mit dem Thema Freiheit in der Krolloper. Nur etwa 50 Zuhörer waren anwesend. Der Soziologe und Philosoph Ferdinand Tönnies sollte über die Freiheit der Lehre sprechen, Rudolf Olden über die Freiheit der Presse, der ehemalige Justizminister Wolfgang Heine über die Versammlungsfreiheit. Inmitten der Rede Heines unterbrach ihn ein unter der Rednerbühne sitzender Polizeioffizier und erklärte die Veranstaltung für geschlossen. Das war in der Tat das Ende der Freiheit: Man konnte nicht mehr öffentlich über sie sprechen. Am 26. Februar besuchte die Tergit die Redaktion der Weltbühne, wo sie Carl von Ossietzky traf und mit ihm über die Fehler der Republik sinnierte. Er war der Ansicht, man solle bleiben. Die Tergit meinte: »Ich bleibe auf alle Fälle. […] Man muss doch der Historie zusehen.« »Ich möchte das ja auch«, sagte er und machte ein Gesicht, in dem sehr viel stand. Kann man wirklich der Historie zusehen? Warum habe ich nicht gesagt: Gehen sie weg, nichts wie raus? Karsch brachte die Fahnen zum Korrigieren. »Auf Wiedersehen«, sagte ich. Zwei Tage später brachten sie Ossietzky ins Konzentrationslager. (Etwas Seltenes, 119)

Unter den Nazis war die offizielle Bezeichnung »Schutzhaft«… – Sie telefonierte mit Walther Kiaulehn, der aufgrund seiner Gesinnung nicht gefährdet war, der deshalb in Deutschland blieb und den sie erst 16 Jahre später wiedersehen sollte. Die meisten beim Berliner Tageblatt tätigen, gefährdeten Personen wollten auch noch nach der Auflösung der alten Redaktion am 12. März 1933 in Deutschland bleiben, weil sie hofften, dass »die kurze Zeit des Wahnsinns« bald vorüber sei.118 Ossietzky war am 28. Februar 1933, an dem Tag, an dem Reichstag brannte, verhaftet worden. Gabriele Tergit hatte nach den ersten Berichten über den Brand zunächst noch geglaubt, dass die Kommunisten das Gebäude in Brand gesteckt hätten. Sie war von Haus aus in dem Glauben erzogen worden, eine Regierung lüge nicht. Nun begann sie mit Recht, an der offiziellen Version zu zweifeln. Der Entschluss zum Handeln wurde ihr leicht gemacht: Die Reifenbergs besaßen, was damals durchaus nicht selbstverständlich war, ein Radio und hatten für den 5. März in ihre Wohnung eine Reihe von Freunden eingeladen, um gemeinsam die Resultate der Reichstagswahlen, den ersten nach Hitlers sogenannter ›Machtergreifung‹, im Radio zu hören. Eingeladen waren Rudolf Olden, 117 Vgl. ebd., S. 4 (DLA). 118 Vgl. Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen«, S. 50, Anm. 150.

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die damals sehr bekannte Reinhardtschauspielerin Maria Fein, die Schauspielerin Lucie von Jacobi, die jetzt als Journalistin bei Ullstein arbeitete, Fritz Grünfeld, ein alter Studienfreund der Tergit aus ihrer Heidelberger Zeit, mit seiner Frau sowie Werner Hegemann. Zu dieser Einladung sollte es allerdings nicht kommen, denn: Am 4. März gegen fünf Uhr morgens [d.h. in der Nacht ihres 39. Geburtstags] trommelte der [SA-]Sturm 33 an unserer Wohnungstür. Sie klingelten wie verrückt. Heinz schrie dem Mädchen zu: »Nicht aufmachen!« Diesen zwei Worten verdanke ich wohl mein Leben. Heinz ging zur Tür, öffnete einen Spalt. Einer stellte seinen Fuß in den Spalt, die Sicherheitskette hielt: »Haftbefehl für Ihre Frau.« »Von wem?« »Direkt vom Reichsminister Göring.« Heinz presste die Tür, bis der Mann den Fuß zurückzog, und knallte sie zu. Ich hatte inzwischen einen nationalsozialistischen Kollegen, den Journalisten von Lützow [der für die Nazi-Zeitung Angriff schrieb], angerufen. »Was?«, fragte der, zu Ihnen will SA? Das habe ich überhaupt noch nicht gehört. Rufen Sie sofort Mittelbach an. Der ist allmächtig. Der ist Chef der Polizeiabteilung IA [Politische Vergehen] geworden.« [Hans] Mittelbach war Staatsanwalt, und ich kannte ihn vom Gericht – ein Nationalsozialist. Er war genauso überrascht wie Lützow, dass die SA einfach in Privatwohnungen eindringen wollte: »Rufen Sie ein Überfallkommando!« Die Polizei kam sofort. Mittelbach rief noch einmal an und ließ den Polizeiführer ans Telefon kommen. Der sagte: »Ich wäre Exzellenz sehr verbunden, wenn Sie diesen Befehl generell geben könnten. Bei dieser vorigen Sache, das ist ja bös abgelaufen.« Ein Erschlagener, dachte ich. »Zu Befehl«, sagte der Polizeiführer ins Telefon. Sie sollten nur Major Hahn vom Sturm 33 in die Wohnung lassen und eine Haussuchung vornehmen. »Das hier sind keine Kommunisten«, sagte ein Polizist und sah auf unsere Kakteensammlung, Vögel und Architekturbüro. Als sie ins Kinderzimmer kamen, stand der vierjährige Peter im Bett und rief: »Hier aber raus!« Und die Polizei verließ das Zimmer. (Etwas Seltenes, 125)119

Als die Polizei – die Schutzpolizei war damals noch sozialdemokratisch orientiert120 – die Wohnung wieder verlassen hatte, sagte die Tergit zu ihrem Mann: »Ich bleibe nicht«, und er entgegnete: »Es ist noch schöner Schnee, fahre nach Spindlermühle.« Noch am selben Tag brachten ihr Bruder und ihr Mann sie an diesen Ort im tschechischen Teil des Riesengebirges.121 Die meisten Freunde 119 Fast wörtlich identisch ist die Darstellung im Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 1 f. (DLA). 120 Vgl. Jens Brüning, »Nachwort«. In: Gabriele Tergit, Atem einer anderen Welt, S. 199. 121 Es ist unklar, ob die Tergit zu diesem Zeitpunkt noch Redaktionsmitglied des Berliner Tageblatts war. In einem Brief vom 9. Mai 1952 an Tom Hopkinson (DLA) schreibt sie jedenfalls, die Publikation des Käsebier, in dem sie über die Entlassung eines alten Redakteurs berichtet habe, habe sie ihre Stellung gekostet.

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meldeten sich ohnehin nur per Postkarte oder Telefon aus diversen Ferienorten bzw. aus dem Ausland. Gabriele Tergit hat später darauf hingewiesen, dass sie von zwei Nazis gerettet worden war, denn beide waren fassungslos, dass die SA versuchte, in Privatwohnungen einzudringen.122 Verständlicherweise richtete sich der Zorn der Nazis damals noch nicht gegen den jüdischen Architekten Heinrich Reifenberg, sondern nur gegen seine Frau, die ebenfalls jüdische Journalistin und Schriftstellerin, die sich durch ihre nazikritische Gerichtsreportage bei ihnen unbeliebt gemacht hatte und im Gegensatz zu ihrem Mann die öffentliche Meinung beeinflusste. In ihrem Interview mit Henry Jacob Hempel hat sie einen durchaus plausiblen möglichen Grund für die Aktion des SA-Sturms 33 angegeben: Nun hatte ich über die Fememordprozesse geschrieben, hatte dabei offen gelassen, inwieweit die Oberen, das heißt die Reichswehrgründer, davon gewusst haben, dann habe ich sehr viel über die Naziprozesse geschrieben und habe […] einen Satz geschrieben, den kann ich aber auch falsch erinnern, nämlich: Wenn der Sturm ’33 in Berlin einen Spaziergang macht, finden man hinterher Leute auf dem Pflaster liegen, denen der Schädel eingeschlagen wurde. Keine freundliche Bemerkung – und es kann sein, dass dieser Sturm ’33 die erste Gelegenheit genutzt hat, um meiner habhaft zu werden.123

In ihren Erinnerungen berichtet Tergit, dass die Bewohner der sogenannten Künstlerkolonie am Breitenbachplatz, unter ihnen Heinrich Reifenbergs alter Freund, der Gewerbelehrer Franz Denner, Besuch von der SA erhielten. In ihren Erinnerungen hat sie ihn Karl genannt und seine Frau Freia Ilse: Die Künstlerkolonie wurde von der SA besichtigt. Alle Leute, die verdächtigt werden konnten, keine Anhänger der Nazis zu sein, wurden verhaftet. Was man so verhaften nannte, hieß aber, in Lager zum Foltern und Umbringen gesteckt zu werden, ohne Hoffnung, je einen Richter zu sehen. Auch Karl (ein Kollege) und seine Frau [d.h. Franz Denner und seine Frau Freia] schwebten in dieser Gefahr, da entdeckte die SA bei ihnen ein Buch über den Führer, ein fettes Nazibuch. Sie salutierten, Hacken zusammengeschlagen und alles, entschuldigten sich und verschwanden. Das Buch? Das hatte die achtjährige Tochter aus der Schulbibliothek nach Hause gebracht. Sie hatte ihren Eltern das Leben gerettet. (Etwas Seltenes, 127 f.)

Franz Denner benahm sich während des Dritten Reiches »wie ein Engel«: »Er besuchte meine Eltern und die Mutter von Heinz, als es für ihn schon lebensgefährlich war, bis sie ihn eines Tages baten, er möge sie nicht mehr besuchen; das Gefühl, ihn zu gefährden, sei zu schrecklich.« (Etwas Seltenes, 128). Die meisten Freunde von Heinrich Reifenberg und seiner Frau benahmen sich zunächst zwar noch so, als ob das Leben normal weiterginge. Manche vertrauten 122 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 1 (DLA). 123 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 3 f. (DLA).

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dem Rat der Sozialdemokraten, man solle halt warten und die Nazis nur »abwirtschaften lassen«. Dann zogen sie, einer nach dem anderen, ins Exil: Werner Hegemann ging in die USA, Maria Fein ging nach Frankreich, nach der deutschen Invasion Frankreichs im Mai 1940, weiter nach Zürich und danach in die USA, Rudolf Olden zog zuerst nach Paris, dann weiter nach England. Kritik übte Gabriele Tergit am Verhalten ihrer christlichen Kollegen vom Berliner Tageblatt, soweit sie nicht als Sozialisten oder Kommunisten selbst gefährdet und deshalb emigriert waren. Sie meint, »dass das eine gigantische, historische Unanständigkeit war, dass die christlichen Kollegen das ›Berliner Tageblatt‹ ohne den Chefredakteur Wolff und ohne all die Juden, die daran mitgearbeitet hatten, einfach weiter führten.«124 Es sei unverzeihlich, dass der neue Chefredakteur Paul Scheffer und die dagebliebenen Kollegen versucht haben, die Hitlersche Politik der Welt begreiflich zu machen.125 Dass die Änderung der Redaktionspolitik ein Verbrechen war, sei wohl niemandem klar geworden. Im Unterschied zum Berliner Tageblatt sei die Vossische Zeitung von ihren christlichen Mitarbeiterinnen geschlossen worden »das war doch die einzig mögliche Haltung, konsequent und glaubwürdig.«126 Jens Brüning schreibt kommentierend dazu allerdings in einer Email vom 8. Februar 2011: »Ihnen blieb gar nichts anderes übrig, weil die Nazis sie systematisch ausgedorrt hatten«: Die letzten Ausgaben wurden mit dem Hinweis angekündigt, man sehe die Aufgabe eines Blattes vom Stil der »Vossischen Zeitung« als beendet an. In drei Ausgaben erschien ein Rückblick auf die Geschichte des Blattes, der an Liberalismus, Demokratie und Freiheit erinnerte, gegen geistige Uniformierung argumentierte und die bunte Fülle des deutschen Volkes und des deutschen Geistes pries. Autor dieses anonym erschienenen Essays war der spätere127 erste Präsident der Bundesrepublik Theodor Heuss. Der Romanabdruck der am Tag der letzten Ausgabe – dem 31. März 1934 – seinen Abschluss fand, trug den Titel »Der Gang durch die Nacht«.

Heinrich Reifenberg bekam »schon Frühjahr 1933 trotzdem er Kriegsteilnehmer incl. Verdun und eisernem Kreuz war, einen Wisch, dass er die zur Vertretung deutschen Kulturguts notwendige Eignung nicht besitze.«128

124 Ebd., S. 12. 125 »Scheffer hat ja dann tatsächlich mit einem Mangel an allen moralischen Prinzipien, aber auch mit Gehirnschwäche, seinen Traum unter Hitler erfüllt und leitete vom Sommer 1933 bis zum 31. Dezember 1936 die Chefredaktion des ›Berliner Tageblatts‹.« (Etwas Seltenes, 112) 126 Ebd., S. 13. 127 Jens Brüning in: Zeitwort, SWR2 vom 13. März 2009. 128 Brief an Walter von Hollander vom 2. Dezember 1948 (DLA).

II. Exil in drei Ländern: Tschechoslowakei, Palästina, England

Zwischenstation Tschechoslowakei Als Gabriele Tergit am 4. März 1933 nach Spindlermühle reiste, war sie sich darüber im Klaren, dass dies keine Ferienreise von kurzer Dauer sein würde. Sie stand unter dem Schock des SA-Überfalls und wusste, dass in Deutschland ihr Leben bedroht war : »Ich roch, dass ein so gewaltiger Hass, wenn er freigegeben, zum Mord führen musste.«129 Ihr Exil hatte begonnen, und gleichzeitig war ihre so steil begonnene Karriere auf lange Zeit zu Ende.130 Mit der Publikation des Käsebier hatte ihre journalistische und schriftstellerische Karriere einen frühen, strahlenden Höhepunkt erreicht. Sie verstand sich obendrein bestens mit dem Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, war Mitarbeiterin der Weltbühne und des Tagebuchs. In der Tschechoslowakei ließ sich diese Karriere nur sehr beschränkt fortsetzen, obwohl die deutsche Minderheit nach einer Volkszählung von 1930 immerhin 22 % der Gesamtbevölkerung betrug. In Prag gab es eine Reihe von 129 Zitiert nach Egon Larsen, Die Welt der Gabriele Tergit. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. München 1987, S. 28. 130 Gabriele Tergit hat Zeit ihres Lebens das Wort ›Emigrant‹ für ungeeignet gehalten. In einer Rezension von Helmut Müsseners bahnbrechendem Buch Die deutschsprachige Emigration in Schweden nach 1933. Ihre Geschichte und Leistung (Stockholm 1972), die im September 1972 AJR Information erschien, schreibt sie: »Müssener beschäftigt sich ausführlich mit der Terminologie, deren Wahl – Müssener erwähnt das nicht – zum jüdischen Unglück gehört. Es wurde immer nur von der Vertreibung der Juden aus Spanien gesprochen. Vertriebene wäre auch für uns der korrekte Ausdruck gewesen. Das Wort Emigrant hat Hitler’s [sic] und Goebbels’ immer noch nachwirkende Hetze ermöglicht. Die Emigranten waren die ›internationalen Brunnenvergifter der Atmosphäre zwischen den Westmächten und Deutschland‹, ›am Kriege schuld‹, ›Ausschussware der deutschen Nation‹, ›internationale Landesverräter‹, sie wurden als ›Kriminelle‹ bezeichnet. Während seines Wahlkampfes 1965 wurde von Brandts ›dunkler Emigrantenvergangenheit‹ gesprochen, und Günter Grass sagte: ›Wieder einmal hat sich das Wort Emigrant als Schimpfwort bewährt«. […] Flüchtling ist heute in Deutschland ein Ostflüchtling von 1945, und Flüchtlingsliteratur Kolbenheyer und Agnes Miegel.«

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deutschsprachigen Zeitungen, bei denen sie bereits einen gewissen Ruf genoss. Folglich konnte sie dort schnell Artikel unterbringen, die sie allerdings unter dem Pseudonym Emmy Grant veröffentlichte, um ihre Familie in Deutschland nicht zu gefährden: beim Prager Tageblatt, bei der Deutschen Zeitung Bohemia,131 der Prager Abendzeitung und beim Prager Mittag. Mit dem Prager Tageblatt hatte sie bereits gute Verbindungen durch ihre Arbeit für das Berliner Tageblatt: Die Zeitung hatte mehrere Jahre lang in ihrer Weihnachtsnummer »Berliner Existenzen« der Tergit, eine Artikelserie über typische Berliner gebracht – sie erhielt nun für jeden Artikel immerhin 10 Mark, was sie zwar nicht schlecht fand, aber es war natürlich nicht vergleichbar mit den 75 Mark, die sie für ihre Extraartikel beim Berliner Tageblatt bekommen hatte. Aber auf diese Weise konnte sie in der Tschechoslowakei zumindest ihren Beruf als Journalistin weiter ausüben: »[E]in generelles Arbeitsverbot für die Menschen mit freien Berufen gab es nicht. Gegen die Herausgabe von Zeitungen gab es behördlicherseits keine Einwände, wenn ein tschechischer Staatsbürger als Chefredakteur verantwortlich war.«132 Neben ihrer journalistischen Tätigkeit setzte sie die Arbeit an ihrem großen Familienroman Effingers fort. Gerade die ersten Monate im tschechischen Exil »waren von der Angst und Unruhe bestimmt, […] den Roman voranzubringen.«133 In der Tschechoslowakei gefiel es der Tergit; trotz der Einschränkung ihres Betätigungsfeldes genoss sie ihre Zeit in Spindlermühle sehr. Sie wohnte dort zunächst in einem normalen Hotel, das allerdings geschlossen wurde, als im März/April der Schnee schmolz, so dass sie in ein anderes Hotel umzog, das einen Mittagstisch anbot. Im April/Anfang Mai wurde ihr Sohn Peter zu ihr gebracht. Inzwischen hatten die Nationalsozialisten am 1. April 1933 in ganz Deutschland einen Boykott aller jüdischen Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarskanzleien verfügt, womit die Verdrängung deutscher Juden aus dem Wirtschaftsleben begonnen hatte. An diesem Tag waren Gabriele Tergits Eltern und ihr Mann zufällig bei ihr in Spindlermühle, wo sie in sudetendeutschen Zeitungen von dem Boykott lasen. Daraufhin machten 131 Darin erschien z. B. die Satire »Autofahrt wahrhaft beschrieben«. Wieder abgedruckt in: Gabriele Tergit Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970. Hg. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin [2001], S. 187 – 190. Am 19. Dezember 1934 erschien eine Impression »Bethlehem«. 132 Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen.« ›Geschichte‹ im Werk von Gabriele Tergit. Magisterarbeit Darmstadt 2005, S. 9. 133 Irmela von der Lühe, »Schreiben im Exil als Chance: Gabriele Tergits Roman Effingers. In: Charmian Brinson u. a., Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933 – 1945. München 1998, S. 48 – 61; hier S. 51.

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sie zusammen Zukunftspläne, und Heinrich Reifenberg meinte, dass die Eltern seiner Frau Deutschland sofort verlassen sollten, wozu sich ihr Vater aber noch nicht entschließen konnte.134 Nachdem er seine Frau in der Tschechoslowakei in Sicherheit wusste, plante auch Heinrich Reifenberg seine Auswanderung, indem er nach Palästina fuhr und dort die Möglichkeiten einer permanenten Niederlassung sondierte. Schon damals erhielt er den Auftrag, für den Schwiegervater seines jüngeren Bruders Adolf Reifenberg ein Haus in Jerusalem zu bauen, ein Auftrag, der von der ›Machtergreifung‹ Hitlers völlig unabhängig war. Sein Bruder Adolf war Bodenkulturforscher, der schon 1919 sein palästinisches Leben auf dem Kibbutz Dagania begonnen hatte. Er war ein Mitbegründer der Jerusalemer Universität, in der er zunächst Lektor im Chemistry Department und schließlich Dekan war. »Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, diente Adolf Reifenberg zuerst bei einer palästinensischen Formation und trat später zur 8. Britischen Armee über, für die er als Stabsoffizier an der Planung der Flugplätze mithalf.«135 Heinrich Reifenberg kündigte die Berliner Wohnung, ließ die Sachen packen und fuhr dann mit dem Schiff direkt nach Jerusalem. Seine Frau kam mit Sohn Peter erst im November 1933 nach Palästina, nachdem sie mit ihm eine Zeitlang in Prag in Hotelzimmern gelebt hatte. Sie hatte ihre Abreise aus der Tschechoslowakei verzögert, weil sie sich nicht nach Palästina sehnte; mit Recht fürchtete sie sich vor einer Unterbrechung der Arbeit an ihrem großen jüdischen Familienroman, den Effingers, der zu diesem Zeitpunkt zum Großteil bereits fertig war, und vor dem Haushaltführen in einem orientalischen Land, an das sie nicht gewöhnt war. Das alles war ein Berg für mich. Dass aber mein armer Mann dort allein saß und für sich zu sorgen hatte, …. Das ist mir nicht klar geworden, ich habe mich nicht gut benommen. Denn ich bin in der Tschechoslowakei geblieben, mir gefiels dort und ich habe mir nicht gesagt: Mein Gott, der Mann sitzt dort in Palästina so alleine, dort gibt es doch noch nicht einmal ein vernünftiges Restaurant, wie kann der denn dort leben.136

Palästina und der Zionismus Die Ängste der Tergit waren ohnehin nicht völlig unbegründet: Palästina war für die deutsch-jüdischen Hitlerflüchtlinge ja nicht ein Land, nach dem sie sich aus 134 So Gabriele Tergit, ohne Begründung, in: Interview mit Henry Jacob Hempel: Gespräch zwischen Henry Jacob Hempel, Berlin und Gabriele Tergit über ihre Emigration, geführt im April 1979 in London. Unveröffentl. Manuskript im Nachlass von Gabriele Tergit, (DLA). 29 Seiten; hier, S. 3. 135 Gabriele Tergit, »Adolf Reifenberg«. In: Aufbau (New York) vom 25. September 1953. 136 Gabriele Tergit, Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 13 f.

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ideologischen Gründen sehnten, sondern in dem sie notgedrungen Zuflucht vor dem nationalsozialistischen Terror suchten. Infolgedessen wurden sie dort von ihren Glaubensgenossen nicht mit offenen Armen willkommen geheißen. Selbst ihre deutsche Sprache fiel negativ auf, da sie als die Sprache der Nazis galt. Palästina war kein mitteleuropäisches Land, sondern ein mittelöstliches, in dem es obendrein große Spannungen zwischen Juden und Arabern gab. Dabei waren für Heinrich Reifenberg die beruflichen Aussichten dort zunächst sehr gut, zumal er als Architekt binnen kurzer Zeit mehrere Aufträge bekam, u. a. für ein Boarding House in Tel-Aviv sowie ein Gebäude der Universität Jerusalem. Insgesamt »drei schöne Häuser« sollte er in Palästina bauen.137 Nachdem Gabriele Tergit nach Palästina gekommen war, hielten sie, ihr Mann und Sohn Peter sich im November oder Dezember 1933 bei dem bedeutenden, aus Wien gebürtigen zionistischen Publizisten und Schriftsteller und Moscheh Ya’akov Ben-GavriÞl (eig. Eugen Hoeflich) in Jerusalem auf. Von 1935 bis 1938 wohnte die Familie in Jerusalem unter nicht einfachen Bedingungen – ohne Wasser – in Tel Aviv, Harjakonst. 102. Die Tergit hatte damals eine Aufforderung ihres Verlegers Rowohlt bekommen, nichts gegen Hitler zu schreiben, dann könne sie in die Kulturkammer kommen: »Ich hatte den Brief in den Papierkorb geworfen, aber ich hatte keine Ahnung von Lebenskampf.«138 Sie schrieb in Palästina weiter für das Neue Tagebuch, für den Morgen in Berlin sowie für die C.V.-Zeitung, die wöchentlich (bis 1938) in Berlin erscheinende Zeitung des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, und verschiedene andere Blätter. 1934 hatte sie aufgehört, an den Effingers zu arbeiten, denn Palästina stürmte mit aller Macht auf sie ein, und sie sah sofort die mit dem dortigen Leben verbundenen Schwierigkeiten. Sie beschäftigte sich mit den Problemen des Landes, indem sie sich bemühte, ein Buch über die Juden und Palästina zu schreiben, eigentlich eine Auseinandersetzung mit den geistigen Grundlagen des Zionismus, von der nur ein kleiner Teil je publiziert wurde. »Ich habe mich mit all den Problemen beschäftigt, habe etwa 700 Seiten darüber geschrieben, über das Judentum, all die Juden in Palästina, die deutschen Juden, einzelne Existenzen usw. Damit griff ich auf eine journalistische Form zurück, mit der ich bereits beim ›Berliner Tageblatt‹ Erfolg gehabt hatte.«139 1955 schrieb sie rückblickend, das sei eine Donquichotterie gewesen. Sie habe für deutsche Juden geschrieben, »who were either Zionists and didn’t want to hear what I had to say or for German Jews who were not Zionists but scarcely Jews at all. Of course I did 137 Brief an Barbara Glauert vom 26. Mai 1972 (DLA). 138 Brief an Helmuth Friedmann vom 4. Dezember 1973 (DLA). 139 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 14.

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not get it published.«140 Später behauptete sie, sie habe »ihr bestes Buch damals über Palestine [sic]« geschrieben, aber niemals auch nur versucht, es zu veröffentlichen, weil sie zu leicht hätte missverstanden werden können.141 Rudolf Olden, dem sie das Manuskript schickte und der kein Jude war, gefiel es sehr gut, aber er sah die Schwierigkeit, dass es aus zwei Teilen bestand, einem theoretischen und einem mit Landesimpressionen. Er meinte, es sei »sehr viel Gutes« darin, fuhr aber fort: »Und bleibt (außer Kleinigkeiten im Stil etc.) nur die Frage: ist es ein Buch? Das wird, fürchte ich, auch der Verleger fragen.«142 Auch die Tergit wird das gespürt haben, und vielleicht war das auch der Grund, warum sie das Manuskript als Ganzes nie einem Verleger angeboten hat. Einzelne Kapitel daraus wurden separat, z. B. im Tagebuch und in der Jüdischen Rundschau, publiziert; manche andere wurden in England von Joseph Leftwich übersetzt und erschienen in jüdischen Zeitungen, u. a. auch in Südafrika. »Aber meine theoretischen Sachen habe ich nie angeboten, auch nicht weiterverfolgt.«143 In einem Essay, der Teil des Palästina-Konvoluts im Deutschen LiteraturArchiv in Marbach a.N. ist, setzt sie sich spezifisch mit dem Zionismus auseinander. Sie kritisiert darin, dass dieser auf der einen Seite die alleinige Führung der Judenheit beansprucht, während er auf der anderen Seite Tendenzen entwickelt hat, die bei der Mehrheit der Judenheit Widerstand finden. Statt die Juden unter dem Banner Palästina’s [sic] zu einigen, hat er zu einer noch nie dagewesenen Spaltung und Zerklüftung geführt. Er ist zu einer Sekte innerhalb der Judenheit geworden.144

Auch in einem weiteren, längeren Essay mit dem Titel Die geistigen Grundlagen des Zionismus ist sie kritisch, wenn sie schreibt: Die größte Enttäuschung aber muss es für jeden Zionisten bedeuten, dass die Judenfrage in Palästina nicht zu Ende ist, […]. Die innerjüdische Konsequenz muss die Erkenntnis sein, dass Palästina ein Teil des jüdischen Problems ist, dass die lebensgefährliche Spaltung in »Assimilanten« und »Zionisten« aufhören muss. Die außenpolitische Konsequenz muss sein, dass sämtliche anderen Lösungen von jedem ver140 Brief an Joseph Leftwich vom 15. Juli 1955 (DLA). Schon im Mai 1946 schrieb sie an Ernst Rowohlt: »Ich habe dann ein Journalistenbuch über Palästina geschrieben, mehr kontra als pro, ich kann nun einmal Nationalismus in keiner Verkleidung leiden.« (DLA) 141 Brief an Barbara Glauert vom 26. Mai 1972 (DLA). 142 Brief von Rudolf Olden an Gabriele Tergit. vom 21. November 1936 (DNB). In einem Brief vom 29. Januar 1937 bestätigte er sein Urteil noch einmal: »Ihr Buch ist kein Buch, aber es ist sehr schön. Ja, ich finde, vieles davon sollte im Tage-Buch erscheinen, vielleicht auch in der Weltbühne. […] Aber wie soll das erscheinen, wenn Sie dort bleiben wollen? Das allerdings ist mir rätselhaft.« (DNB) 143 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 14. 144 Essay über »jüdische Politik«, o.T., o.D., S.1 f. (DLA).

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antwortungsbewussten Juden aufs genaueste studiert werden müssen, was die Führung des Zionismus bedauernswerterweise ablehnt.145

Tergits Analyse der Prämissen des Zionismus zu ihrer Zeit führte sie zu geradezu paradoxen Schlussfolgerungen, wie den folgenden: Dieses Dogma des Zionismus: Als Leistungen für die Volksgemeinschaft können nur solche in hebräischer Sprache gerechnet werden hat zu zwei sehr bedenklichen Erscheinungen geführt. Erstens. Da der Zionismus in dem Verwachsen der Juden mit den umgebenden Kulturen ihr großes Unglück sieht, kann er einen der schlimmsten Vorgänge des Hitlerismus, nämlich den Hinauswurf der Juden aus eben diesen Kulturen nicht als Unglück ansehen. Er kann die Form bedauern nicht die Tatsache. Er muss den Untergang einer Fülle hochgeistiger Juden als gleichgültig für das jüdische Volk ansehen. Das hat 1933 und 34 zu einer völlig schiefen Haltung der Zionisten geführt. Sie haben in Worten und Taten zu Hitlerschen Maßnahmen die Weltanschauung geliefert. Zweitens. Die höchste geistige Schicht, die bei einem andern Dogma weitgehend aktiv zum Judentum zurückgekehrt wäre, muss so dem Zionismus, ja dem Judentum verloren gehen, denn kein stolzer Mensch will Mitglied einer Gemeinschaft sein, die ihn nicht nur nicht anerkennt, sondern noch nicht einmal zu den Ihren rechnen möchte. Der Zionismus stößt in einem Ausmaß Juden aus der Volksgemeinschaft aus, sei es als nationale Marranen sei es als geistig Getaufte wie sie nie durch Taufe verloren gegangen sind. Es ist dies ein weiterer Beitrag zur Schwächung der Judenheit.146

Im Folgenden behauptet sie sogar, dass Zionismus und nationalsozialistische Ideen gar nicht so weit von einander entfernt seien. Dem Zionismus stellt sie Gleichberechtigung und Assimilation in der Diaspora als positive Werte entgegen, wenn sie aus einer Rede zitiert, die Nachum Sokolow auf dem Zionistenkongress 1935 gehalten hat: Eine Diaspora gab es seit jeher und wird es immer in größerem oder kleinerem Maßstabe geben. Derjenige, der die Gleichberechtigung für unser Volk in der Diaspora nicht für unantastbar und nicht für unbedingt verpflichtend für die Völker der Welt erachtet, und, wenn auch nur theoretisch, zu Konzessionen bereit ist, der wäre auf dem falschen Wege. […] Wenn die Idee der Emanzipation angefochten wird, so ist das eine Existenzfrage für die ganze Diaspora.147

Ihr Schlusswort: »Der Zionismus hat sich zu einer Sekte entwickelt, der keinerlei Zusammenhang mehr mit der wirklichen Welt hat, erhebt aber den Anspruch auf Führung der Gesamtjudenheit.«148 145 Gabriele Tergit, Die geistigen Grundlagen des Zionismus, Typoskript, S. 19 (in mehreren Durchschlägen im DLA). 146 Gabriele Tergit, ebd., S. 28 (DLA). 147 Gabriele Tergit, ebd., S. 33 (DLA). Sie fügt ebd. hinzu: »Aber das [Sokolow] war ein großer Einzelner und viele behaupten, dass er kein Zionist genannt werden kann.« 148 Gabriele Tergit, ebd, S. 35 (DLA).

Palästina und der Zionismus

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Der Essay entstand wahrscheinlich schon vor Tergits Ausreise aus Palästina 1938.149 Es ist kein Wunder, dass sie vor einer Veröffentlichung zurückscheute: Sie fürchtete mit Recht einen Aufschrei der Zionisten. Gabriele Tergit war trotz ihres Palästinaaufenthaltes oder vielleicht sogar als Reaktion auf die ihr dort widerfahrene Behandlung Antizionistin. Dies bekannte sie beispielsweise in einem Brief an ihren Freund Hans Jäger vom 3. Dezember 1974: Sehen Sie, mein Leben ist ja mehr von meinem Antizionismus beschattet worden als von dem Rausschmiss aus Deutschland. Ich bin ein großer Bewunderer alles Jüdischen und das Größte der Juden ist ihr ihre [sic] Wahrheits oder ihr Wahrheitsfanatismus. Ist nicht die Bibel, das einzige Buch der Welt, in dem der große Führer (nämlich König David) als ein sündiger Mensch gezeigt wird (mit dem Urias Brief). Der Zionismus ist die Einführung der ›Expediency‹, der politischen List, die Einführung dessen, was einem nützt, in das Judentum. Und Sie sahen es gestern, offenbar zum erstenmal. Alle Grundlagen des Zionismus – von jüdischer Seite – sind falsch. Der Mensch liebt seine Umgebung, liebt die Strasse, in der er gespielt hat. Quatsch, dass ihm ein fremdes Land näher stehen soll. (DLA)

Später schrieb sie einmal an Grete Hirschberg in Israel, sie persönlich sei nie über die Behandlung weggekommen, die ihr in Israel zuteil wurde, und sie schreibt über die dortige frühere »Hetze gegen die deutschen Juden«: »Es vergisst sich auch nicht, dass immer wieder Hitlers Politik gegen die deutschen Juden gebilligt wurde, dass in der Opera Mograbi 35 gesagt werden konnte: ›Die Lösung der Judenfrage in Deutschland ist positiv in unserem Sinne erfolgt.‹ Und seien wir uns doch klar, wir haben heute zwei ganz getrennte Judentümer, die Israelis und die Anderen.«150 Gabriele Tergit und ihr Mann glaubten nicht an den Zionismus als die Lösung der ›jüdischen Frage‹, sondern an Emanzipation des Judentums in der Diaspora. Deshalb gründeten sie gemeinsam mit George K. Zollschan in London eine »Jewish unity group in our deadly fear that the idea that emancipation is an evil and all diaspora condemned to death might spread. We sacrificed for this [sic] Quichotic ventures an important year of our life (1941).«151

149 Nach Ansicht von Jens Brüning. So in einer Email an mich vom 8. Februar 2011. 150 Brief an Grete Hirschberg vom 19. Dezember 1959 (DLA). Ähnlich schreibt sie auch am 22. September 1967 in einem Brief an Yeshurun Keshet: »Israel bleibt für mich in jeder Beziehung ein ganz großes Problem. Der komplette nationalistische Wahnsinn der deutschen Zionisten ›Die Lösung der Judenfrage in Deutschland ist positiv in unserem Sinne erfolgt‹. (Opera Mograbi, Februar 1934 [!], Dr. Kanowitz) ist wohl völlig ausgestorben, aber die großen geistigen Probleme bleiben bestehen.« (DLA) 151 Brief an Brief an Joseph Leftwich vom 24. Juli 1955 (DLA)

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Im Schnellzug nach Haifa Die Impressionen oder Sketche des zweiten Teils ihres Palästinabuchs hat Jens Brüning posthum zusammengefasst unter dem Titel Im Schnellzug nach Haifa (hg. von Jens Brüning und mit einem Nachw. vers. von Joachim Schlör. Berlin: Transit Buchverlag, 1996). Das Material dazu bekam er, der sich wie kein anderer um die Wiederentdeckung Gabriele Tergits verdient gemacht hat, von ihrem damaligen Nachlassverwalter Fritz Hellendall, der in einem Gespräch mit Brüning im Mai 1996 Wert darauf legte, »dass dokumentiert werde, er habe das Material nur unter großen Bedenken freigegeben. Fritz Hellendall fügte hinzu, ›dass man es als aus Deutschland vertriebener Jude nicht gern sieht, dass in Deutschland etwas ›Negatives‹ über Erez Israel veröffentlicht wird.‹«152 Hinter diesem Zögern steht die Tatsache, dass die Tergit hier die Konflikte der Juden unter einander in Palästina beschreibt. Wie in dem Band deutlich wird, begann sie das Land und die Beweggründe der verschiedenen Gruppen der Siedler immer mehr zu verstehen.153 Da sie, wie Jens Brüning in seinem Vorwort schreibt, die Reihenfolge der Beiträge des Bandes selbst bestimmt hat,154 hat sie wohl versucht, gerade diese Entwicklung ihrer eigenen Ansichten von äußerster Skepsis zum Verstehen der verschiedenen Siedlergruppen wiederzugeben. Dank dieser Anordnung lässt sich ein Verlauf des Exils in den Schriften von Tergit erkennen. Die anfängliche Ortlosigkeit geht in eine Entdeckung der Geschichte in den Geschichten der Emigranten Palästinas über. Über den Weg der Menschen erfährt Tergit eine eigene Tradition der deutschen Siedler, aber auch – in den Augen der Emigranten, der Sichtweise Tergits – die der Einheimischen und frühen Siedler.155

Die Beiträge sind damit »Dokumente zudem einer Selbstfindung, die in ihrer Ehrlichkeit beeindruckt.«156 Das Buch besteht aus Impressionen, Porträts, Beobachtungen und Schilderungen, die an die Reportagen Egon Erwin Kischs erinnern.157 Es sind »aufmerksame, detailgenaue, liebevolle Beschreibungen der Möglichkeiten und der

152 Jens Brüning, »Vorwort«. In: Gabriele Tergit, Im Schnellzug nach Haifa. Hg. von Jens Brüning und mit einem Nachw. vers. von Joachim Schlör. Berlin: TRANSIT 1996, S. 7 – 10; hier S. 9. Brüning fährt dort fort: »Hellendall räumte allerdings ein, das Palästina-Typoskript nie gelesen zu haben. Allein der Hinweis von Gabriele Tergit war ihm bekannt: ›Wer druckt schon Dynamit?‹« 153 Vgl. Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen.«, S. 20. 154 Jens Brüning, »Vorwort«. In: Gabriele Tergit, Im Schnellzug nach Haifa, hier S. 10. 155 Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen«, S. 19. 156 Joachim Schlör :«Nachwort. Im Schnellzug nach Haifa. Aus Berlin«. In: Gabriele Tergit, Im Schnellzug nach Haifa, S. 147 – 159; hier S. 158. 157 Heinz Knobloch, »Lebenskapitel voll Wirrnis«. In: Berliner Zeitung vom 31. August 1996.

Im Schnellzug nach Haifa

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Behinderungen jüdischer Existenz im neuen alten Land; […].«158 Das Buch macht deutlich, dass es die bereits erwähnten Spannungen zwischen den Einwanderern gab, die aus zionistischer Überzeugung nach Palästina eingewandert waren, und den deutschen Juden, die vor Hitler aus Deutschland geflohen waren, die den zionistischen Juden zufolge keine »richtigen« Juden mehr waren. Der Gegensatz wird schon auf der Überfahrt deutlich: Auf dem Schiff fahren zionistische Akademiker. Viele von ihnen waren von echter Bewegtheit. Sie waren keine Emigranten, sondern Heimkehrer […]. Wer mit einem leidvollen Herzen nach Palästina fuhr, galt ihnen als Hochverräter. […] Sie unterschieden zwei Rassen, Zionisten und Assimilanten. Brücken führten zu den Blut- und Bodentheorien des Nationalsozialismus, aber keine Brücke führte zum Assimilanten. Es gab keine Tragödie der deutschen Juden, sondern nur eine Komödie der Irrungen seit 150 Jahren.159

Tergits distanzierte Haltung zum Zionismus, zur Negierung der Assimilation des deutschen Judentums wird damit auch hier deutlich. Die Frage nach dem Grund für ihre Flucht mussten auch sie und ihr Mann sich gefallen lassen, obwohl man nicht vergessen darf, dass kein Land bereit war, eine so große Anzahl jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland aufzunehmen wie Palästina. Es waren Menschen aus aller Herren Länder, denen Tergit hier begegnete, Menschen, die aus den verschiedensten Motiven in das Land gekommen waren, nicht etwa nur, weil sie im eigenen Land aus antisemitistischen Motiven verfolgt wurden, sondern aus Armut, aus innerer zionistischer Überzeugung oder einfach aus Abenteuerlust. Genau, doch völlig unsentimental registriert Gabriele Tergit die Unterschiede zwischen Neueinwanderern und Einheimischen, Orthodoxen und Pionieren, Juden und Arabern. »Die Juden möchten ein bisschen geehrt werden … die Araber Wasserpfeife rauchen.« Sie vergleicht das lebensfrohe Tel Aviv, wo am Strand »Tausende von jungen Paaren, alle fast nackt«, baden, mit Jerusalem, »wo die alten Frommen leben, die in Jerusalem zu sterben gedenken« – das Heilige Land durch die Augen einer weltlichen Berlinerin betrachtet.160

Gabriele Tergits positive Einstellung gegenüber Tel Aviv erklärt sich aus ihrer Vorliebe für alles Städtische. Tel Aviv, erst 1909 gegründet, war keine mittelöstliche, sondern in vieler Hinsicht eine europäische Stadt, wenn auch leider das Klima in keiner Weise europäisch war und viele Emigranten dort erkrankten. Die Tergit hat Palästina nicht geliebt, aber trotzdem wird in ihren Porträts und geographischen Miniaturen deutlich, dass sie von dem Land fasziniert war, 158 Joachim Schlör :«Nachwort. Im Schnellzug nach Haifa. Aus Berlin«. In: Gabriele Tergit, Im Schnellzug nach Haifa; hier S. 158. 159 Gabriele Tergit, »Überfahrt 1933«, In: Dies., Im Schnellzug nach Haifa, S. 11 – 15; hier S. 14. 160 Der Spiegel vom 7. Oktober 1996, S. 270.

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fasziniert vom Land und seinen Städten, von seinem Klima und von den Menschen, von dem Neben- und Gegeneinander von Juden und Arabern, vom immer wieder feindlichen Aufeinanderprallen der verschiedenen Kulturen. Während ihre Gerichtsreportagen und ihr Käsebier von kurzen, prägnanten Dialogen leben, sind es hier die bestechenden Beschreibungen von Landschaft und Klima, die deutlich machen, wie schwer es einer Berlinerin gefallen sein muss, sich dort einzuleben: Im vorderen Orient, woher die Religionen Europas, Amerikas und Vorderasiens stammen, begleitet das Klima den Menschen nicht, es widerstrebt ihm. […] Es gibt keine blaue Stunde, es gibt keine Dämmerung. Jäh ist der Wechsel. Glühend endet der Tag, und schon ist es zu kalt, um im Garten Abendbrot zu essen. […] Wunderbar sind die Nächte, erfüllt von Sternen, im Februar wie im Dezember, im Mai wie im August.161

Die Kargheit und Trockenheit des Landes steht in Kontrast zu der Arbeit, die die jüdischen Siedler in Palästina geleistet haben. Die Tergit äußert sich nicht abwertend über die Araber, die bisher das Land in Besitz gehabt haben, aber der Vergleich spricht für sich: Der Araber reitet auf einer bunten Wolldecke mit Troddeln, […]. Schönheit und der Romantik des Orients um jeden einzelnen. Der jüdische Wächter mit der Schirmmütze und der blauen Bluse reitet auf knappem Lederzeug oder sattellos […]. […] Dort ist Allah und hier ist Erfolg. Dort sind Dornen und hier ist Versuchsland. Dort ist Morgenland, hier nicht Europa, sondern eine Mischung aus Russland und Amerika. So ist das Land.162

Moderne Stadtkultur von Tel Aviv steht neben uraltem Brauchtum, Jahrtausende altem Leben der orthodoxen jüdischen Bevölkerung einerseits und dem der arabischen andererseits. »Diese poetische Harmonie endet meist sofort, wenn Tergit Begegnungen mit Einwanderern schildert, denn hier hat sie einen kritischen, ironischen Stil gewählt, der wohl dazu beigetragen hat, dass die meisten Reportagen in den dreißiger Jahren nicht veröffentlicht werden konnten.«163 Schon auf der Überfahrt stellt sie fest, dass die deutschen Flüchtlinge an ihren alten Verhaltensformen festzuhalten versuchen, etwas, was ihnen in Palästina negativ angekreidet werden wird. Noch nach Jahren des Exils in Palästina versuchen sie, so weiter zu leben wie einst in Berlin: [S]ie [die deutschen Emigranten auf dem Schiff] haben nur eine Reisemütze, als einziges, das sie sportlich macht, sie sehen aus wie Herren, zu denen der Arzt gesagt hat; 161 Gabriele Tergit, »Klima«. In: Dies.: Im Schnellzug nach Haifa, S. 15 – 19; hier S. 15, 18. 162 Gabriele Tergit. »Landschaft«. In: Dies.: Im Schnellzug nach Haifa, S. 19 – 26; hier S. 23 – 25. 163 Elke Schubert, »Es gibt keine blaue Stunde. Gabriele Tergit erzählt aus dem Palästina der dreißiger Jahre«. In: Beilage der Süddeutschen Zeitung vom 1. Oktober 1996, S. L 19.

Im Schnellzug nach Haifa

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»Ihre sitzende Lebensweise verlangt, dass Sie einmal eine Schiffsreise machen, Ihre Nerven gründlich auskurieren.« Es sind keine Flüchtlinge mit roten Betten und geschnürtem Bündel, es sind nur Reisende, aber der Boden wurde ihnen unter den Füßen weggezogen und ihre Namen gelöscht von der Tafel der Börsenmakler, Rechtsanwälte und Kaufleute.164

Dem steht das Verhalten der Jugendlichen gegenüber, die sich in wahrem Pioniergeist in den Kibuzzim anpassen, das Land kultivieren und eine Gemeinschaft ohne Privateigentum zu verwirklichen suchen. Hier werden ehemalige Berliner Kaufleute zu Landwirten, früher elegant gekleidete Damen zu Bäuerinnen, die zuzupacken verstehen. In den Skizzen, Porträts, Beschreibungen von Im Schnellzug nach Haifa fehlt vieles, was Tergit den fünfjährigen Aufenthalt verleidete: Es fehlen die Krankheit, der Mangel an Betätigung als Journalistin, die persönliche Armut, nicht aber das Fremde und die Animosität der Zionisten gegenüber den Hitlerflüchtlingen, alles das, was eine Integrierung nicht zulassen wollte. Sie erzählt kaum persönliche Erlebnisse, »vielmehr schreibt sie über andere Menschen, die sie dort gesehen oder kennengelernt hatte. Tergit beobachtet mit einer journalistischen Distanz.«165 Es entsteht so ein harmonischeres Bild des Aufenthalts, als es aus ihren brieflichen Äußerungen und ihrer letztendlichen Flucht nach England entspricht. Heribert Seifert meint deshalb in der Neuen Zürcher Zeitung mit Recht: »Dabei wird klar, dass dieses Land fürs Gabriele Tergit nie ganz seine Fremdheit verloren hat, auch wenn es ihr Zuflucht und Schutz vor den Nazis bot. Bei allen Bemühungen um Verständnis und Nähe kann die Berliner Journalistin und Schriftstellerin doch nicht die Prägung durchs Milieu einer europäischen Metropole verleugnen.«166 Es stellt sich damit die Frage, warum die Tergit nicht alle Texte ihres Palästinabuches zur Veröffentlichung freigegeben hat. Etliche mögen in ihren darin geäußerten Ansichten im Jahre 1996 überholt gewesen sein; andere hielt sie wegen der darin geäußerten kritischen Einstellung zum Zionismus wohl für eine Veröffentlichung in Deutschland für ungeeignet.

164 Gabriele Tergit, »Überfahrt 1933«. In: Dies.: Im Schnellzug nach Haifa, S. 11 – 15; hier S. 12. 165 Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen, S. 17. 166 Elke Schubert kommt in ihrem Artikel »Es gibt keine blaue Stunde. Gabriele Tergit erzählt aus dem Palästina der dreißiger Jahre«. zu einem gegenteiligen Schluss, wenn sie schreibt, man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, » dass Tergit nicht ganz so unglücklich war, wie sie vorgab, dass sie ihre Begabung nutzte, dieses Land schreibend und forschend zu erobern, um es dann lieben zu können.«

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Unholdes Palästina In Palästina hatten die Reifenbergs nicht nur Kontakt mit Heinrichs Bruder Adolf und seiner Frau Esther, sondern, sehr begrenzt allerdings, mit dem dort ebenfalls exilierten Arnold Zweig; der persönliche Kontakt mit dem ihnen freundschaftlich verbundenen Zweig wurde allerdings durch das heiße Klima erschwert. So schrieb ihnen Zweig am 29. August 1935 aus Haifa, die Hitze schrecke ihn davon ab, sie in Tel Aviv zu besuchen. (DLA) Das Hauptproblem, das die Reifenbergs 1938 zur Rückkehr nach Europa bewegte, war das Klima: »Das Klima ist fürchterlich«, schrieb Tergit noch 1966, »Ich habe jeden Abend, wenn der Abendwind kam gehofft, ach jetzt werde ich ein bisschen arbeiten, es scheint kühler zu werden. Aber der Wind legte sich und es glühte weiter.«167 Heinrich Reifenberg bekam nur schwer weitere Bauaufträge. »Das Kind Peter, verstört durch die häufig wechselnde Umgebung der letzten Monate, ist in keiner Sprache mehr zu Hause, schweigt und entwickelt sich zu einem schwierigen Familienmitglied.«168 Hinzu kam die Tatsache, dass alle drei Reifenbergs schwer krank wurden: Heinrich Reifenberg musste wegen einer Entzündung der Nebenhöhlen eine furchtbare Kieferoperation über sich ergehen lassen. Dann erkrankte er an Kinderlähmung; eine schwere Epidemie zog über Palästina hinweg. Er konnte kaum mehr laufen und war von da an zeit seines Lebens leicht gehbehindert, was dazu führte, dass später Wanderungen für ihn nicht in Frage kamen. Mit ungeheurer Energie gelang es ihm, seinen rechten Arm wieder bewegungsfähig zu machen, so dass er wieder zeichnen konnte. Er musste allerdings später noch jahrelang beim Zeichnen die rechte Hand mit der linken stützen. Gabriele Tergit bekam, wie viele Emigranten zu jener Zeit, eine schwere juckende Hautkrankheit, die möglicherweise psychosomatischen Ursprungs war. Da die Grenzen von und nach Deutschland damals noch offen waren, besuchte Heinrich Reifenberg noch 1936 den Verleger Rowohlt in Berlin und suchte auf einer Badereise seine schwere Erkrankung zu lindern. Infolge der Krankheiten hatten es die Reifenbergs in Palästina ungeheuer schwer, obwohl sie aber immerhin einen Teil ihrer Möbel und ihres Besitzes dorthin hatten schaffen können. Auch den Teil des Geldes, den man transferieren durfte, hat die Tergit nach Palästina überweisen lassen; das waren RM 60,000. Davon hat mein Mann ein Boarding-Haus gebaut, also ein Haus, bestehend aus Apartments, Einzelzimmer mit Küche und Bad. Wir haben es dann auch volkswirt167 Brief an Hedi Geng vom 23. April 1966 (DLA). 168 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht im literarischen Werk der Gabriele Tergit. Diss. Aachen [1996]. S. 165.

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schaftlich günstig vermieten können, im Preisvergleich kostete die Monatsmiete eines Apartments in unserem Haus in Jerusalem soviel wie die Wochenmiete eines vergleichbaren Apartments in London.169

Mit dem Boarding House hatte man das Geld sicher angelegt und sich eine feste Einkommensgrundlage verschafft. Trotzdem waren die Zustände in Palästina in Tergits Augen katastrophal: Israel war tiefer stehend als jeder Negerstaat 1933, durch jedes Fenster kam der Regen im Winter, im Sommer kein Schutz vor der Hitze, keine Hilfe irgendwelcher Art. Kochen auf dem Primus. […] Es war völlig von Krankheiten verseucht, was von den Zionisten geheimgehalten wurde. Heinz hatte in einer furchtbaren Epidemie Kinderlähmung. Peter Typhus, ich Charara.170 Die Ostjuden kannten nur gekochtes und gebratenes Fleisch, nicht Keule usw. Dort habe ich gelernt, was alles zu einer Zivilisation gehört. Also gut, dass sie jetzt einen gewissen Standard haben, die Armut war unvorstellbar. Wenn Menschen in Hütten aus Petroleumkanistern wohnen freut man sich über Bauboom. Ich fand Israel auch 1959 wo ich noch einmal mit Heinz dort war in allem unvorstellbar hässlich.171

Die hebräische Sprache machte ihr große Probleme. Sie hat in den fünf Jahren, die sie dort war, und noch 1959, als sie mit ihrem Mann noch einmal Israel besuchte, nicht einmal das Telefonbuch lesen können: »Ich brauche dir nicht zusagen, was es heißt ohne einen Pfennig in einem Lande sich eine Existenz aufbauen zu wollen wo man kein Telephonbuch lesen kann. Es war zu schwer.«172 Zu den Schwierigkeiten des täglichen Lebens und den Krankheiten kam, dass ihnen das Ressentiment der früheren jüdischen Einwanderer gegenüber den kultivierten deutschen Juden den Aufenthalt verleidete. Die palästinensischen Zionisten stellten den Deutschen Neuankömmlingen gern die Frage: »Kommen Sie aus Deutschland oder kommen Sie aus Überzeugung?«, was ihre Haltung gegenüber den Jeckes, wie die deutschen Juden genannt wurden, auf den Punkt brachte. Die Tergit berichtete von einer Wahlversammlung in Tel Aviv, bei der ein Extremist schimpfte: »Da sitzen sie jetzt hier so pöbelhaft und gemein wie in den Berliner Caf¦s.«173 Darüber regte sich die Tergit so auf, dass sie aufsprang, zum Redner lief und ihm »eine knallte«. Sie war eine hochkultivierte Stadtbewohnerin, die alles das verkörperte, was den Zionisten zuwider war. Denn die Gründungsväter Israels wollten die Juden in ein bäuerliches, robustes und mi-

169 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 15. 170 Die juckende Hautkrankheit, wohl psychosomatischer Ursache, an der Gabriele Tergit ein Jahr lang litt. 171 Brief an Hedi Geng vom 17. Oktober 1972 (DLA). 172 Brief an Hedi Geng vom 14. Mai 1973 (DLA). 173 Zitiert nach Larsen, S. 42.

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litantes Volk verwandeln.174 Genau diese Einstellung kritisiert sie in einigen ihrer in Israel verfassten Artikel.175 Was ihr und ihrem Mann ferner den Aufenthalt in Palästina verleidete, war die geradezu faschistische Einstellung vieler Juden. Als die Schriftstellerin Lola Landau (1892 – 1990), »ein bildschönes Mädchen völlig aus meinem Kreis«, sie in Jerusalem besuchte, erzählte ihr diese, ihr Mann, der expressionistische Lyriker und Reiseschriftsteller Armin T. Wegner (1886 – 1978), sei (1936) nach Positano in der Nähe von Neapel gezogen und wolle sich scheiden lassen (die Scheidung wurde 1939 vollzogen).176 Tergits Antwort soll hier zitiert werden, weil sie für ihr Selbstverständnis als Jüdin und ihre Auffassung von Ehe relevant ist: Ich war fassungslos, ich sagte ihr – ihr Vater war ein berühmter Berliner Arzt – Sie wollen eine Jüdin sein? Sie haben ja keine Ahnung von Judentum. Es gibt nichts Heiligeres als die Ehe, ›Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, meine Wege sind deine Wege‹. Wir, wir haben das Judentum erhalten nicht die Männer. Wir hätten vom König bis zum Straßenfeger immer aus dem Judentum herausheiraten können.177

Als sie anschließend fragte: »Was sagt denn Armin?« entgegnete Lola Landau: »Er hält Palästina für ein faschistisches Land.« Daraufhin entgegnete die Tergit: »Ich auch […] und ich gehe auch weg.« Der Nachsatz demonstriert, dass bei der Rückkehr der Familie Reifenberg nach Europa auch ein inneres Unbehagen, eine Unzufriedenheit mit der politischen Atmosphäre in Palästina eine große Rolle gespielt hat. Anschließend erzählt Tergit, wie dieser Geist, der ihr und ihrem Mann das Bleiben in Palästina verleidete, in Erscheinung trat: Ich hatte damals gerade eine Revisionistenversammlung mit gemacht, in der einer der Sprecher [ein Zionist namens Siegfried Kanowitz] sagte: ›Die Lösung der Judenfrage ist positiv in unserm Sinne erfolgt in Deutschland‹. Mein Mann rief: ›Hört, hört!!‹ Und es entwickelte sich eine Prügelei. Es hat sich natürlich sowohl im Lande wie bei mir vieles geändert, aber so erklärt sich meine scharfe Reaktion.178 174 Christina Ujma, »Gabriele Tergit and Berlin: Women, City and Modernity«. In: Christiane Schönfeld (ed. in collaboration with Carmel Finnan), Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic. Würzburg 2006, S. 262 – 277; hier S. 271 f. 175 Vgl. z. B. Gabriele Tergit, »Frau Doktor«. In: Dies., Im Schnellzug nach Haifa. S. 141 f. 176 Mit Armin T. Wegner, der für seinen Protest gegen die Judenverfolgung unter Hitler mehrfach in Konzentrationslagern inhaftiert war, sollte Gabriele Tergit später auch Kontakt haben; so traf sie ihn 1949 beim Internationalen PEN-Kongess in Venedig wieder, wo er ihr die Geschichte seiner Scheidung und seiner neuen Ehe – er hatte 1945 die Künstlerin Irene Kowalska geheiratet – erzählte. Etwa 1950 wohnte er eine Woche lang bei den Reifenbergs, als er seine 1923 geborene, nun in Norwich verheiratete Tochter Sybille Anusch besuchte. 1929 hatte er über sie einen Roman, Moni, oder, Die Welt von unten. Der Roman eines Kindes (Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt), veröffentlicht. 177 Brief an Dolf Sternberger vom 27. September 1978 (DLA). 178 Ebd.

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Tergits Aversion gegen derartige Äußerungen »ergibt sich aus ihrer konsequenten Ablehnung jedweder Ideologie mit Universalitätsanspruch.«179 Gabriele Tergits Einstellung gegenüber der Ehe wird auch an anderer Stelle deutlich, so in einem Brief an Ulrich Eggebert-Seelmann vom 14. August 1973, in dem sie schreibt: »Es gibt nur eine wirklich ganz nahe Beziehung und das ist Mann und Frau. Nur das ist wichtig. Als ich in Palästina war, bat Leopold Jessner jemanden, ihn mit mir bekannt zu machen. Aber damals lag mein Mann mit Kinderlähmung krank zu Hause, ich vergaß an alles andre.« (DLA) 1977 schrieb sie an Hans Sahl: »Ehe und Kinder und sagen, was man will das ist das einzig Wichtige.«180 Und als ein Stück Altersweisheit schrieb sie am 20. September 1979 an Walter Höllerer : »Ich kann nur jedem Menschen raten seine jungen Jahre zu genießen. […] Das Wesentliche des Menschenlebens ist doch zu allen Zeiten gleich, Jugend, Liebe, Kinder aufwachsen sehen, in einer Ehe zusammen alt werden.« (DLA) Und 1978 schrieb sie an Ulrich Seelmann-Eggebert: »Nur die Ehe ist wichtig. Wenn ich noch Zeit habe d. h. wenn ich noch ein paar Jahre lebe, ich bin ja 84 dann möchte ich ein Buch schreiben: ›Geburt, Ehe, das Glück des Lebens, Tod‹.«181 Weil für sie die Ehe den zentralen Wert in ihrem Leben darstellte, bedeuteten die Nazi-Zeit und das Exil auch nicht einen Bruch in ihrem Leben, denn ihren Mann hatte sie ja behalten; auch die Berliner Freunde die sie aus der Zeit vor 1933 her kannte, hatte sie zum großen Teil noch. »Von einem Bruch kann ich also nicht reden. Meine Familie stand für mich immer im Mittelpunkt. Das ist doch das Normale.182 – Am 25. Februar 1959 fuhr sie zusammen mit ihrem Mann nach Zürich, wo sie ihren Augenarzt Dr. Huber aufsuchte. Anschließend ging es nach Athen weiter, das sie schon kannte, ihr Mann aber nicht. Dort verbrachten sie ein paar hochinteressante Tage, allerdings bei Regen und Kälte. Dann ging es weiter nach Israel, um es nach 21 Jahren wieder zu sehen. Heinrichs Schwägerin holte sie vom Flugplatz ab und danach waren sie dauernd mit alten Freunden und Verwandten »aufs gemütlichste« zusammen: »Auf der anderen Seite ist es eben so behaglich nur unter Juden zu sein und so ein Caf¦ in Tel-Aviv oder Haifa ist eben wie ein altes Caf¦ irgendwo in Central Europa.«183 Heinrich Reifenbergs Bruder Adolf war leider im August 1952 im Alter von nur 54 Jahren gestorben. Im Gegensatz zu dem, was die Tergit Hedi Geng später, 1972, darüber geschrieben hat, war ihr Bericht, den sie im Mai Elsa Gluckmann-Gidoni gab, alles andere als negativ, was die Entwicklung des Landes seit ihrer Abreise betrifft:

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Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 161. Brief an Hans Sahl vom 1. Februar 1977 (DLA) Brief an Ulrich Seelmann-Eggebert vom 18. Februar 1978 (DLA). Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 22 (DLA). Brief an Emma Lehmann vom 15. Mai 1959 (DLA).

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Tja, nun waren wir also nach 20 Jahren zum erstenmal wieder in Israel. Schade, dass wir nicht eine ganz lange Unterhaltung darüber haben können. Das Land ist völlig verändert! Z.B. es gibt nicht nur eine ausgezeichnete deutsche Tageszeitung. Sie werden ermessen, welche Änderung das bedeutet. Alle Sprachen werden ganz hemmungslos überall gesprochen. Auf der anderen Seite haben wir dort eine Jugend, die weder eine europäische Sprache kann noch auch nur die lateinischen Buchstaben kennt. Tel-Aviv und Haifa sind hinreißend schöne Städte geworden! Tel-Aviv’s Hauptgegend liegt um Keren Kajemet. Der Strand ist tot, die Rechov Hajarkon und die angrenzenden Strassen incl. der Ben Yehuda nur noch Slum!! Die neuen Gegenden höchst modern, wunderbar grün eingewachsen, hinreißend, genau wie Rechavia. Die Konzerthalle in Tel-Aviv ist ein großartiger Bau genau wie die Universität. Nichts mehr von Odessa-Renaissance, in der Beziehung eine wunderbare Entwicklung.184

Auch in einem undatierten Brief an Walter Zadek stellt sie die positiven Aspekte Israels heraus und die Notwendigkeit der fortdauernden Existenz des Landes für das Gedächtnis der deutschen Juden: Israel. Ich habe dort 5 Jahre gelebt und bin nicht aus Zufall weggegangen. […], man ärgert sich besonders viel in Israel, obwohl man dort wiederum auf der andern Seite besonders viel wertvolle Menschen findet. Aber Israel hat eine gewaltige Leistung aufzuweisen. Es ist der einzige Rechtsstaat zwischen Europa und Indien, der einzige, wo die Regierungen nicht ermordet werden, es hat die Wüste zum Blühen gebracht, es ist die einzige Antwort der Juden auf Auschwitz. Was Sie dagegen haben, ist fast alles richtig, und trotzdem wäre eine Vernichtung Israels unser aller Ende und ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu sagen in welcher Todesgefahr Israel ist. Wenn Israel vernichtet ist, sind wir vernichtet, nirgends wird man sich noch an die Leistungen der deutschen Juden erinnern. (DLA)

Auf dem Rückweg machte man in Rom Station, nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder, und in Berlin, wo die die Reifenbergs den ganzen April über blieben. Vor allem Heinrich Reifenberg hatte sich gewünscht, wieder dorthin zu fahren. Wegen ihrer Augen durfte seine Frau nicht allzu viel unternehmen. – 1937 fuhren die Tergit und ihr Mann zur Weltausstellung nach Paris, die sie beide »ungeheuer interessant« fanden, obwohl im deutschen Pavillon fast nur Bilder und Dokumente über bzw. von Hitler zu sehen waren und im sowjetischen allzu viele Statistiken. Besonders beeindruckt waren sie von einem von Henry van de Velde entworfenen Gebäude, »dem wohl schönsten auf dieser Ausstellung. Ein herrliches Gebäude. Auch der Mussolini-Bau war wunderschön, hatte nichts mit diesem neuen Stil zu tun, ja überhaupt fand ich die gesamte Ausstellung wunderschön.«185 Während sie in der französischen Hauptstadt waren, rief ein junger Mann Tergit in ihrem bescheidenen Hotel an, verabredete sich mit ihr in einem Lokal 184 Brief an Elsa Gluckmann-Godino vom 15. Mai 1959 (DLA). 185 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 15 (DLA).

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auf dem Boulevard des Italiens, wo er ihr die Mitarbeit an der neuen, in Moskau erscheinenden literarischen Monatsschrift Das Wort anbot. Es war gerade die Zeit der stalinistischen Schauprozesse gegen die alten Revolutionsführer in der Sowjetunion. »Sie glauben nicht an die Volksfront?« fragte sie der junge Mann. Tergit sagte leise: »Nein«. Die Antwort des Abgesandten war : »Sie wissen offenbar nicht, was Sie tun. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Name nirgends mehr erscheint, dass Sie nirgends verlegt, nirgends gedruckt werden. Sie sind für die ganze Linke erledigt…« (Etwas Seltenes, 66) Tergit bat den jungen Mann, sofort ihren Tisch zu verlassen, seinen Kaffee würde sie bezahlen. In dem Bericht über diesen Vorfall im Interview mit Henry Jacob Hempel identifizierte sie später den »jungen Mann«: »Sein Verhalten ist doch ein Terror ohnegleichen. [Alfred] Kantorowicz gehörte der KPD an, vor 1933 war der doch ein Nichts.«186 – Die Sowjetunion war für sie eine Diktatur, »und zwar eine Diktatur vor dem aufgeklärten Absolutismus mit Bastille und allem.«187

Auf dem Weg ins britische Exil Im Mai 1938 fuhr Gabriele Tergit allein auf einem französischen Schiff von Haifa nach Marseille. Ihr Mann war in London, ihr Sohn Peter bei ihren Eltern zu Besuch in Berlin. Auf dem Schiff reisten Italiener, die in Ägypten verfolgt wurden, Nazis und ein Regiment Senegalesen. Und es befanden sich darauf deutsche Juden, meist ältere Frauen, die ihre Kinder in Palästina besucht hatten, aber nicht dort geblieben waren, weil sie ihren Kindern nicht zur Last fallen wollten. In den bürgerlichen jüdischen Kreisen in Deutschland glaubte man immer noch, dass sich auch unter Hitler noch leben ließ. Dass der offizielle Antisemitismus einmal zum Völkermord führen würde, war für sie unvorstellbar, lebte man doch seit rund tausend Jahren mit den Christen friedlich zusammen. Aber nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich war der Antisemitismus damals weit verbreitet. Schon auf dem Schiff sagte ein riesiger Franzose zu Tergit: »Nous sommes des Fascistes, nous ne sommes pas des brutes comme les Allemands. Aber wir wollen nicht von Juden regiert werden. Wir sind zwei Millionen Anhänger de La Roques … Frankreich ist von L¦on Blum und seinen Juden zugrunde gerichtet worden, Madame.« (Etwas Seltenes, 131) In Marseilles stand in riesengroßen Lettern an der Hafenmauer : »Heil Hitler. A bas les Juifs.« Frankreich war arm geworden. Auf den Straßen gab es genau so viele Bettler wie 1931/32 in Deutschland, und entsprechend groß war auch das Ressentiment gegenüber den 186 Vgl. auch Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 29. 187 Brief an Hans Jäger vom 3. Dezember 1974 (DLA).

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Millionen von Flüchtlingen aus Nazideutschland, die man beschuldigte, den guten Franzosen Arbeitsplätze weggenommen zu haben. Von Marseille fuhr die Tergit mit dem Zug nach Nizza, um Theodor Wolff, ihren alten Chef vom Berliner Tageblatt, zu besuchen, der seit Ende 1933 dort im Exil lebte. Er hatte schon in den neunziger Jahren als Korrespondent des Berliner Tageblatts in Paris gearbeitet. 1933, nach der ›Machtergreifung‹ der Nazis, hatte der große Massenexodus aller nichtkonformen Intellektuellen aus Deutschland, Juden und Nichtjuden, begonnen, denen in der Mehrzahl zunächst Frankreich Asyl bot, später hauptsächlich die USA. Die französische Riviera hatte mit ihrem milden Klima schon vorher als große Künstlerkolonie gegolten, obendrein war das Leben dort billiger als in der Metropole Paris. Vor allem in dem kleinen Fischerort Sanary-sur-Mer hatte sich eine ganze Kolonie deutscher Intellektueller gebildet. Es lebten hier bzw. hielten sich zumindest langfristiger zu Besuchen auf: Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Ferdinand Bruckner, Bruno Frank, Walter Hasenclever, Wilhelm Herzog, Arnold Zweig, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Bertolt Brecht, Alfred Kerr, Erwin Piscator, Ernst E. Noth, Ludwig Marcuse, Antonina Valentin, Ren¦ Schickele, Annette Kolb, Hermann Kesten, Friedrich Wolf, Kurt Wolff, Theodor Wolff, Franz Werfel, Joseph Roth, Fritz von Unruh, Rudolf Leonhard, Balder Olden, Arthur Koestler, der Operettenstar Fritzi Massary und die Sternheim-Tochter Thea (Mopsa); außerdem diesen Exilanten noch der amerikanische jiddische Dichter Schalom Asch, der rumänische Essayist und Biograph Valeriu Marcu sowie der Engländer Aldous Huxley. In Sanary-sur-Mer widmete Theodor Wolff seiner ehemaligen Mitarbeiterin zwei volle Tage. Lange saßen sie zusammen in einem kleinen Caf¦ am Meer und »sprachen über vieles, aber Hitler-Deutschland war ein gewaltiges Thema.« (Etwas Seltenes, 133) Wolff erzählte ihr, er schreibe nichts für die Emigrantenpresse, sondern nur Historisches; nichts gegen Deutschland. Die Tergit hatte wenig Verständnis dafür. Es schien ihr wichtig, etwas gegen Hitler-Deutschland zu unternehmen, etwas dagegen zu schreiben, ganz gleich, ob es von praktischer Wirksamkeit war oder nicht. Ihr selbst waren die Hände gebunden, da ihr Vater Siegfried Hirschmann 1933 ins Gefängnis gesperrt worden war. Bei dem Prozess gegen ihn wurde er zwar freigesprochen, war aber immer noch in Deutschland. Seine Fabrik hatte man ihm weggenommen, da »wehrwichtige Betriebe« nicht in jüdischen Händen sein durften. Erst 1939 konnte er nach England kommen, mit ganzen zehn Mark in der Tasche. Theodor Wolff war zunächst ins Hotel Dolder in Zürich geflohen, hatte sich dann aber in Nizza niedergelassen. Dort wohnte er in der Promenade des Anglais im fünften Stock mit Blick aufs Meer. Seine Wohnung war mit kleinen kostbaren französischen Möbeln ausgestattet, die, meinte Gabriele Tergit, »natürlich viel besser in die kleinen niedrigen französischen Zimmer passten als in

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die hohen des Berliner Hohenzollerndamms.« (Etwas Seltenes, 136) Die Möbel, seine Archive usw. hatte ihm der deutsche Außenminister Konstantin von Neurath, einschließlich Wolffs Bibliothek, in einem versiegelten Wagen des deutschen Auswärtigen Amtes nach Nizza geschickt. Mit Wolff unterhielt sich Gabriele Tergit auch ausführlich über Hans Lachmann-Mosse, der die Mosseschen Erbgrundstücke in Berlin zwecks Arbeitsbeschaffung mit Wohnungen hatte bebauen lassen, wobei er wegen der Wirtschaftkrise viele Millionen verloren hatte. Da, so Wolff, beim Berliner Tageblatt infolgedessen gespart werden musste, erklärte es sich auch, warum viele Artikel der Tergit und Oldens aus Geldmangel damals nicht mehr gedruckt wurden. Für Sanary-sur-Mer hatte Arnold Zweig in Palästina den Reifenbergs eine Pension (La M¦nandiÀre) empfohlen, und er hatte einen Brief an Lola Sernau, die langjährige Privatsekretärin Lion Feuchtwangers, mit einer Empfehlung für Heinz Reifenberg nach Sanary geschickt: Liebe Lola, eben kommt Feuchtwangers Brief mit dem Programm einer Paris-Reise Anfang März. Da freut es Sie vielleicht wenn ich Ihnen einen guten Bekannten sende, Dipl. Ing. Reiffenberg, Architekt, Gatte von Gabriele Tergit, aber ein Mann für sich. Er hatte viel auszustehen, weil er Altertümer ausgraben wollte, & so [?] und wird Ihnen viel erzählen können. Will sich in unserem lieben Sanary erholen. Sie sind doch Sanarys guter Geist oder gastlicher Genius…188

Heinrich Reifenberg hatte seine Frau aber offensichtlich nicht nach Sanary begleitet, denn bei ihrer Rückkehr nach London wurde sie an der Victoria Station von ihrem Mann abgeholt. Dieser sah elend aus. Er hatte sich nicht satt gegessen, um das rationierte Essen zu sparen, bis seine Frau wieder zu Hause war. Zwei herrliche Schweinekoteletts hatte er ergattert, hatte sie für ihre Rückkehr aufgehoben, bis sie zu riechen begannen und er sie wegwerfen musste… Schon im Frühjahr 1937 war Reifenberg nach London voraus gefahren, um einen Umzug dorthin vorzubreiten, und seine Frau war ihm kurz gefolgt. Die Einreise nach London erfolgte mit einem Touristenvisum, vorläufig ohne Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Einen Verdacht der Einwanderung wollte man auf jeden Fall vermeiden. Für London hatte Arnold Zweig den Reifenbergs gleich mehrere Hotels verschiedener Preisklassen empfohlen,189 einschließlich der deutschen Pension »Adam«. Ursprünglich sollte die Reise nach London für die Reifenbergs nur einem Besuch dienen, vor allem dazu, ihren in Deutschland verbliebenen Freunden und Verwandten bei der Auswanderung behilflich zu sein. Es gab allerdings viele Gründe dafür, dort zu bleiben, wobei ein Grund unter anderen war, dass die Tergit und ihr Mann Bedenken hatten, ihren Sohn in der hebräischen Sprache aufwachsen zu lassen. Selbst Rudolf Olden hatte ihr 188 Brief vom 22. Februar 1938 (DLA). 189 Brief von Arnold Zweig vom 22. Februar 1938 (DLA).

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geraten: »Und ich finde es gescheit, ihn [ihren Sohn] nach England zu bringen, wo er allerdings ein Engländer oder ein Weltbürger, aber kein Jude werden wird.«190 Abgesehen davon, wussten die Reifenbergs nicht, wie es in Palästina weitergehen würde, denn sie hatten auch die Araberfrage als großes potentielles Problem gesehen: »Zudem waren wir sehr verliebt in London, fanden es dort großartig. Wir haben gedacht, mindestens ein halbes Jahr in dieser Stadt zu leben. Im Frühjahr 1938 sind wir nach London gefahren, ich habe den Haushalt in Palästina aufgelöst, habe die Wohnung gekündigt, aber sonst alles dort gelassen. Insgesamt waren wir also fünf Jahre in Palästina.«191 Von ihren Möbeln aus Palästina bekamen sie kaum etwas zurück, und: »Meine gesamte wertvolle Wäsche war gestohlen. Das Haus ist natürlich viel zu billig weggegeben worden.«192 Dann kam der 9. November 1938, die sogenannte ›Reichskristallnacht‹. Das Ehepaar Reifenberg war nun völlig damit beschäftigt, die Eltern Tergits, die Mutter ihres Mannes, seine Schwester und deren Mann aus Deutschland herauszubringen, was ihnen gelang: Unmittelbar nach der ›Reichskristallnacht‹ konnte das Ehepaar Hirschmann aus Deutschland ausreisen: Sie kamen zunächst nach London zu den Reifenbergs und wanderten dann nach Guatemala aus, wo bereits ihr Sohn lebte. 1939 verließen auch Heinrich Reifenbergs nächsten Anverwandten Deutschland und kamen nach London, zunächst sein Vater, kurz vor Kriegsausbruch auch noch seine Mutter, Schwester und Schwager. Seine Mutter zog nach Jerusalem weiter, seine Schwester und deren Mann blieben in London.: Meine [Gabriele Tergits] Eltern sind [im November 1938] über England zu meinem Bruder nach Guatemala gegangen, die Schwester und der Schwager meines Mannes sind in London geblieben, sie hatten zwar ein amerikanisches Visum, doch dann ist der Krieg gekommen, deshalb sind sie dann dageblieben. Meine Schwiegermutter ist [1939] nach Palästina zu ihrem jüngeren Sohn gegangen.193

»Dieses Zerreißen der Familien war das Schlimmste was Hitler uns antat«, meinte Tergit später einmal.194 Zumindest ist aber auf diese Weise von ihren unmittelbaren Verwandten niemand zugrunde gegangen. Der bisherige Verbleib ihrer Eltern in Deutschland hatte für Gabriele Tergit angeblich auch beruflich ein ernstes Problem verursacht; so meinte sie später, sie habe sich »ihre Karriere kaputt gemacht«, weil sie sich nicht getraut habe, die ersten Teile ihres Romans Effingers einem der niederländischen Exilverlage Querido oder Allert de Lange anzubieten, solange ihre Eltern in Deutschland 190 191 192 193 194

Brief von Rudolf Olden an Gabriele Tergit vom 3. Mai 1937 (DNB). Vgl. Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 16 (DLA). Brief an Manfred Geis vom 4. November 1949 (DLA). Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 17 (DLA). Brief an Lisel Sanger vom 7. März 1957 (DLA).

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waren. »Wie man es machte, war es falsch. Ich traute mich nicht meinen Eltern, die noch im alten Glanz saßen, zur Auswanderung zuzuraten.«195 Da sie 1938 ihr Manuskript bei einem Romanwettbewerb der American Guild anbieten sollte, gab es damals offensichtlich schon ein Manuskript, das sie als publikationsreif ansah.

Exil in England Der Kampf ums tägliche Überleben 1933 war England »keineswegs spontan zum bevorzugten Exilland der HitlerFlüchtlinge geworden.«196 Das Land litt noch immer unter den Folgen der Wirtschaftskrise mit ihrer Arbeitslosigkeit – 1933: 2,2 Millionen197 –, so dass die Asylbereitschaft des Landes in den ersten Jahren nach Hitlers ›Machtergreifung‹ nicht sehr groß war. »Abgesehen von international angesehenen Wissenschaftlern und Künstlern, deren Name alle Widerstände überwand, sah sich die Majorität der Flüchtlinge anfänglich nach anderen Exilländern um: Tschechoslowakei, Frankreich, USA. Bis Ende 1937 kamen lediglich 4500 Flüchtlinge nach England, vor allem Industrielle, technische Fachleute«198 bzw. meist prominente und vergleichsweise wohlhabende Schriftsteller ; einige meist sozialdemokratische und bürgerliche Politiker aus Deutschland und Österreich, denen die Protektion britischer Gesinnungsfreunde half; schließlich eine Anzahl Wissenschaftler, die durch Vermittlung britischer Hilfsorganisationen und der »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler« auf Stipendienbasis befristete Lehraufträge bzw. Arbeitsplätze an britischen Hochschulen erhielten.199 195 Brief an Hans Jäger vom 28. April 1975 (DLA). 196 Gabriele Tergit, »Die Exilsituation in England«. In: Manfred Durzak (Hg.), Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945. Stuttgart 1973, S. 135 – 144; hier S. 135. 197 Nach Waltraud Strickhausen, »Zufluchtsländer : Arbeits- und Lebensbedingungen im Exil. Großbritannien«. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hgg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1941. Darmstadt 1998, Sp. 251 – 270; hier Sp. 252. 198 Ebd. Andere präsentieren etwas andere Statistiken. So schreibt Francis L. Carsten: »Noch im November 1938 […] erklärte Ministerpräsident Chamberlain im Unterhaus, dass seit 1933 nur 11 000 Flüchtlinge ins Land gekommen seien, abgesehen von weiteren 5000, die inzwischen nach anderen Ländern ausgewandert seien.« Ders., »Deutsche Emigranten in Großbritannien 1933 – 1945«. In: Gerhard Hirschfeld (Hg.), Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Stuttgart 1983, S. 138 – 154; hier S. 138. 199 Hans-Albert Walter. Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa. Deutsche Exilliteratur 1933 – 1950. Bd. 2. Darmstadt und Neuwied 1972, S. 80. Zu den Exilbedingungen in Großbritannien vgl. auch Waltraud Strickhausen: »Zufluchtsländer : Arbeits- und Lebensbedingungen im Exil. Großbritannien«.

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Mit dem ›Anschluss‹ Österreichs an das Dritte Reich im März 1938, der zunehmenden Bedrohung aller Nazigegner und Juden in der Tschechoslowakei und vor allem dem Pogrom der ›Reichskristallnacht‹ am 9. November 1938 setzte sich eine Flut von Emigranten in Bewegung, die sich Asyl suchend vor allem nach Frankreich, den Vereinigten Staaten und England wandten. Bis Jahresende 1938 waren insgesamt etwa 70.000 Flüchtlinge, darunter 60.000 Juden aus Deutschland, Österreich und dem Sudetengebiet nach England gekommen,200 so dass die britische Einwanderungspolitik bis zum Kriegsausbruch 1939 als großzügig gelten kann und England, mit Ausnahme Israels, mehr Juden das Leben gerettet hat als irgendein anderes Land der Welt.201 Nach Kriegsausbruch im September 1939 wurden alle Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich als sogenannte enemy aliens (feindliche Ausländer) eingestuft und bestimmten Restriktionen unterworfen; sie durften z. B. keine Landkarten besitzen. Alle enemy aliens wurden vor Tribunale geladen, die entschieden, ob es sich um echte Flüchtlinge handelte oder nicht. War die Entscheidung negativ, wurden sie der Kategorie A zugeordnet und sofort interniert. Die Mehrzahl, mehr als 64.000, kamen als zuverlässig und loyal in die Kategorie C und waren von den meisten Restriktionen befreit, außer dass sie ohne polizeiliche Erlaubnis nicht reisen, ihren Wohnsitz verändern oder ein Fahrrad besitzen durften. Die Mittelgruppe B bestand mit etwa 7.000 Personen aus zweifelhaften Fällen, die einer verschärften Meldepflicht und anderen Auflagen unterlagen. Nach der deutschen Invasion von Frankreich, Belgien und den Niederlanden brach in England die Angst vor einer deutschen Invasion, vor Spionen und einer ›Fünften Kolonne‹ aus, so dass nun in einem Klima fremdenfeindlicher Hysterie alle männlichen Deutschen und Österreicher zwischen 16 und 70 Jahren interniert wurden, insgesamt etwa 30.000 Menschen. Auch Frauen der Kategorie B wurden in Lager geschickt. Der große Umschwung kam im Sommer 1940, als England eine Invasion Hitlers fürchtete. Man ordnete nun an, die meisten Flüchtlinge auf der Isle of Man zu internieren, um sich vor Spionen und vor einer angeblichen ›fünften Kolonne‹ zu schützen. Nach meh200 Diese wurden vor allem von jüdischen Organisationen wie dem Jewish Refugee Committee (1938 – 1940 umbenannt in Jewish Aid Committee) sowie dem Council for German Jewry finanziell unterstützt. Am Ende des Krieges trug die britische Regierung die gesamten Kosten zum Unterhalt der Flüchtlinge. Die Angaben über ihre Anzahl schwanken erheblich. Zahlreiche weitere Hilfsorganisationen führt Waltraud Strickhausen, »Zufluchtsländer : Arbeits- und Lebensbedingungen im Exil. Großbritannien«, Sp. 254 – 257, auf. 201 Vgl. Österreicher im Exil. Großbritannien 1938 – 1945. Eine Dokumentation. Hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Einl., Ausw. u. Bearb.: Mag. Dr. Wolfgang Muchitsch. Wien 1992, S. 6 f. Später heißt es dort allerdings: »Insgesamt befanden sich zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges über 55.000 deutsche und österreichische Flüchtlinge in Großbritannien, die größtenteils mit der Auflage der Weiteremigration zugelassen worden waren.« Ebd., S. 50.

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reren Monaten wurde diese Internierung allerdings schrittweise wieder aufgehoben. Die Lage der Exilanten besserte sich nun schnell, weil die Kriegsanstrengungen nach Arbeitskräften verlangten. Gabriele Tergit und ihr Mann blieben von der Internierung verschont, vermutlich, weil sie zwar keine Arbeitserlaubnis hatten, aber als palästinensische Staatsbürger und infolgedessen mit einem palästinensischen englischen Pass eingereist waren.202 Niemand hat aber die Situation der deutschen Exilanten, besonders in den ersten Jahren des Exils genauer beschrieben, als Gabriele Tergit in der Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der 1940 gegründeten Association of Jewish Refugees in Great Britain, die den Neuankömmlingen in jeder Hinsicht zu helfen versuchte, indem sie sie beriet, ihnen bei der Arbeitssuche half und sie gegebenenfalls sogar juristisch vertrat. In ihrem Interview mit Henry Jacob Hempel sagte sie: Ich […] habe hier in London bei einer sehr guten Zeitschrift mitgearbeitet, die von den deutschen Juden hier gemacht wurde: AJR-Information, also Association of Jewish Refugees Information, diese entwickelte sich zu einer der besten jüdischen Zeitschriften, die in der damaligen Welt existierte[n].203

Die Association of Jewish Refugees war am 20. Juli 1940 gegründet worden, und ihr Mitteilungsblatt ARJ Information erschien seit dem Sommer 1941, zunächst nur alle paar Monate, seit Januar 1946 monatlich, und im Gegensatz zum New Yorker Aufbau strikt auf Englisch.204 Kommentiert Helmut Peitsch: [D]er Rückzug von der deutschen Sprache, die nur benutzt wurde, wenn amtliche Bestimmungen für Flüchtlinge und Regeln fürs Verhalten in der britischen Öffentlichkeit publiziert wurden, stellte eine Reaktion auf die Internierungshysterie dar, in der, wie Marion Berghahn konstatiert, »[o]ften Germanophobia was mixed with antisemitism«;205 generell distanzierte sich die AJR vom politischen Exil: »The Associa202 Ich verdanke Herrn Jens Brüning den Hinweis »auf einen Brief Gabriele Tergits vom 21. Januar 1941 an den Overseas Recruitment Officer im Broadcasting House in London, also der BBC, in dem sie schreibt: ›With reference to your advertisement in the Times of January 16th I beg to offer my services though I am a Palestinian citizen (Palestinian British passport), as I hope that my special qualifications might be of some interest to you in any case.‹ » Eine Kopie des Briefes befindet sich im Besitz von Jens Brüning. 203 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 17 (DLA). Eine im September 1970 erschienene Rezension von Berta Zuckerkandls Österreich intim ist unter derselben Überschrift deutschsprachig wieder abgedruckt in: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse, S. 208 – 212. 204 Zur Geschichte des Blatts vgl. Anthony Grenville, »The Integration of Aliens: The Early Years of the Association of Jewish Refugees Information, 1946 – 50«. In: Ian Wallace (Hg.), German-speaking Exiles in Great Britain. The Yearbook of the Research Centre For German and Austria Exile Studies I. Amsterdam, Atlanta, GA 1999, S. 1 – 23, sowie Marion Berghahn, Continental Britons. German-Jewish Refugees from Nazi Germany. 2. Aufl. Oxford, Hamburg, New York 1988, S. 156 – 164. 205 Marion Berghahn, Continental Britons, S. 140.

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tion aims at representing all those Jewish refugees from Germany and Austria for whom Judaism is a determining factor in their outlook on life.«206

Mit ihrer Mitarbeit an ARJ Information habe sich Gabriele Tergit aus den Kontroversen des literarischen Exils zurückgezogen.207 Neben dem Aufbau war die AJR Information der Association of Jewish Refugees in Great Britain das einzige Publikationsorgan, das ihr in den fünfziger Jahren in England offenstand. Hier hatten viele deutsche AutorInnen die Möglichkeit, reizvolle Essays zu veröffentlichen. Aber auch in der Bundesrepublik publizierte Tergit in den fünfziger Jahren viel. »Sie war Mitglied eines von Hans Tasiemka betriebenen Feuilleton-Versands.«208 Die Festschrift aus dem Jahre 1951 trug den Titel Britain’s New Citizens; sie befasste sich mit allen möglichen Aspekten des Flüchtlingslebens. Tergits Beitrag über die Schwierigkeiten der Anpassung der in Deutschland Aufgewachsenen an die angelsächsische Gesellschaft, ihre Gepflogenheiten und ihre Kultur, war einer der umfangreichsten. Unter dem Titel »How They Resettled«209 beschreibt sie im Detail, wie sich die Exilanten aus Hitler-Deutschland in England eingewöhnten, wie die Frauen in vielen Fällen zu Hauptverdienern wurden, weil ihre hochqualifizierten Männer in England keine Arbeit finden konnten bzw. ohnehin keine Arbeitserlaubnis bekamen. Sie schildert, wie aus Angst vor einer ›fünften Kolonne‹ im Juni/Juli 1940 die meisten Flüchtlinge, Männer und später auch ein Teil der Frauen, zumeist auf der Isle of Man, interniert und zum Teil erst 1941 wieder freigelassen wurden. Sie stellt dar, wie die zahlreichen Flüchtlingsorganisationen, wie der 1939 gegründete, von Kommunisten dominierte Freie Deutsche Kulturbund (FDKB) oder der Club 43 entstanden war und dass nach Kriegsende viele, vor allem diejenigen, die in jungen Jahren nach England gekommen waren, sich inzwischen so gut eingelebt hatten, dass sie ›britisch‹ geworden waren.210 Die Frustration der Emigranten und gleichzeitig ihre Dankbarkeit für die Aufnahme in England spricht aus dem folgenden 1943 verfassten Gedicht

206 Zitat ebd. Helmut Peitsch, »No Politics?«. Die Geschichte des deutschen PEN Zentrums in London 1933 – 2002. Göttingen 2006 (= Schriften des Erich-Maria Remarque Archivs, Bd. 20), S. 86. 207 Ebd., S. 84. 208 Email von Jens Brüning vom 8. Februar 2011. 209 Das Typoskript mit dem Arbeitstitel »Großbritanniens neue Bürger« befindet sich im DLA. 210 Gabriele Tergit, »How They Resettled«. In: Britain’s New Citizens. The Story of the Refugees From Germany and Austria. Tenth Anniversary Publication of the Jewish Refugees in Great Britain. London 1951. Deutsche Fassung in: Egon Larson, Die Welt der Gabriele Tergit. München 1987, S. 82 – 97. Ausgezeichnete Zusammenfassungen der Emigrationsbedingungen in England finden sich bei Francis L. Carsten, »Deutsche Emigranten in Großbritannien 1933 – 1945«.

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»Verbannt aus Österreich« des österreichischen Lyrikers Theodor Kramer, der 1939 unter größten Schwierigkeiten nach London gekommen war : In London, dieser Riesenstadt, die viele kleine Städte hat, Du zweite Heimat, alter Square, ich kenn hier fremd, mich selbst nicht mehr. Zur Untergrundbahn geh ich aus, wie alle, komm zur Zeit nach Haus Und koch wie alle ohne Zahl mir auf dem Gasring still mein Mahl. Nur manchmal, nur am Wochenend, wenn dürr das Laub vom Baum sich trennt, Wenn sacht im Kessel summt der Tee, tut in der Brust mir dumpf was weh. Der Mörtel, der vom Stein sich löst, ist schuld dran, dass dein Freund so döst; Für dieses Schluchzen, alter Square, lieb ich dich zweite Heimat sehr.

Für die meisten Exilanten bedeutete das Exil zunächst vor allem äußere Not, Kampf um den Lebensunterhalt. Da sie fast alle ohne Arbeitserlaubnis ins Land gekommen waren, erhielten sie die magere staatliche Arbeitslosenunterstützung in Höhe von umgerechnet 25 Mark die Woche, also rund 100 Mark im Monat, »wovon minimum 30 Mark für ein möbliertes Zimmer abgingen – ein Arbeiter hatte ein Häuschen, das oft nur 10 Mark Miete kostete.«211 Der Rechtsanwalt sieht sich im Asylland einem völlig anderen Rechtssystem gegenüber und kann schon aus Mangel an Beherrschung der dort gesprochenen anderen Sprache seinen Beruf nicht ausüben. Die Ausbildung des Arztes ist im Allgemeinen nicht anerkannt, und er sieht sich als einer Ausländer ausgrenzenden Politik der Berufsorganisationen seines Gastlandes gegenüber : Aber ich habe auch in Prag meine Kollegen, sogar kommunistische Kollegen als Farbenvertreter mit einem schweren Koffer straßab straßauf oder als Zeitungshändler abends durch die Cafes traben sehen. »Deutsche Dichter«, schrieb mir damals Rudolf Olden aus Paris, »verkaufen in den Strassen heiße Würstchen von einem Bauchladen.« Frauen backten Kuchen, machten Majonäsesalat für Geschäfte, nähten Seidenwäsche, machten Beutelchen und Ketten und hausierten damit von Geschäft zu Geschäft. In England fehlte Dienstpersonal, konnten Schauspieler Butler werden und ihre Frauen Dienstmädchen, 12 Mark die Woche wurde für Halbtagsbeschäftigung als Verkäuferin bezahlt. Der Jammer, die Not war unbeschreiblich.212

Auch die Reifenbergs wohnten in London, wie viele Emigranten, zuerst nur in einem möblierten Zimmer. Abgesehen davon, konnte man im Vergleich zu Palästina in London jedoch sehr billig leben: Ich Narr [Gabriele Tergit] habe mir noch in Palästina ein Paar Schuhe gekauft, bevor ich nach London gekommen bin und habe hier dann festgestellt, dass ich dort etwa das Fünf- oder Sechsfache bezahlt habe, als es in London für ein Paar vergleichbare Schuhe der Fall gewesen wäre. […] Wir hatten ja eine gewisse, eine winzige Rente, nun, von der 211 Brief ohne Adressat und ohne Datum (DLA). Vgl. auch den Brief an Hans Albert Walter vom 23. Februar 1956 (DLA). 212 Ebd.,

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konnten wir hier leben, ganz bescheiden natürlich, aber es ging. London war für uns ein unbeschreibliches Glück. Endlich konnten wir wieder in ein Museum gehen, in einer europäischen Großstadt zu leben, nun in die Oper zu gehen, ein Ballett zu sehen, das war schon ein Vergnügen, das wir fast nicht mehr kannten.213

Die Reifenbergs gehörten zu den ersten deutsch-jüdischen Emigranten, die nach England kamen. Die Aufnahme dort war entsprechend freundlich, aber weder die Tergit noch ihr Mann bekamen zunächst eine Arbeitserlaubnis und lebten in den ersten Jahren in entsprechend ärmlichen Verhältnissen. Rückblickend schrieb sie über ihre erste Zeit in London: Es ging uns damals bitter schlecht. Ich habe die Schillinge gespart, die eine Reise nach Oxford [für einen potentiellen Aufenthalt des mathematisch hochbegabten Sohnes Peter] gekostet hätte. Wir haben jahrelang in einem Zimmer gelebt und ich habe alles allein gemacht, Wäsche gewaschen und Böden und alles.214

Damit war sie für alles verantwortlich, was mit dem Haushalt zu tun hatte; sie musste nicht nur möglichst preiswerte Lebensmittel beschaffen, sondern auch mit dem Primuskocher und der altmodischen Gasheizung kämpfen. Außerdem versuchte sie weiter als Journalistin zu arbeiten, und sie bemühte sich um Kontakte zu anderen Emigranten, die aus Berlin eintrafen, vor allem zu Journalisten wie Rudolf Olden und seiner Familie. Am aufreibendsten war jedoch der Umgang mit Mann und Sohn: Ihr Mann war infolge seiner fortgesetzten Arbeitslosigkeit depressiv, war Kettenraucher und litt unter Gesundheitsproblemen, Sohn Peter war durch den dauernden Ortswechsel verstört, passte sich letztlich aber am besten an und hatte schlussendlich in England großen beruflichen Erfolg. Besonders in den ersten Jahren hatten beide Reifenbergs das Empfinden, in England fremd zu sein; so sagte sie später : »Ich bin mir immer darüber im Klaren gewesen, dass man kein Engländer werden kann. Man kann ein Amerikaner werden, das ist selbstverständlich. Aber man wird weder Franzose, noch Engländer. Dafür braucht es für Emigranten eben doch Generationen.«215

Als deutsche Journalistin im britischen Exil Das englische Exil war für die Reifenbergs, wie für viele andere ihrer Kollegen auch, ein berufliches Fiasko. Die britische Metropole war schon nach 1933, und wurde es vor allem nach 1938, ein Fluchtort deutscher und österreichischer Schriftsteller : Stefan Zweig, der einzige deutsche Schriftsteller, der damals 213 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 17 (DLA). 214 Brief Gabriele Tergits an Ernst Rowohlt vom 20. September 1946 (DLA). 215 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 18 (DLA).

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Weltruhm genoss, gehörte bereits seit 1934 zu den Exilanten in England, der Parodist und Romancier Robert Neumann seit demselben Jahr, der Lyriker MaxHerrmann-Neiße, der Romancier Hans Flesch-Brunningen, die jungen Romanautorinnen Ruth Feiner und Lilo Linke, die einen Roman nach dem anderen auf Englisch veröffentlichte, Tergits Berliner Kollege Rudolf Olden, der Berliner Starkritiker Alfred Kerr, der nach zwei Jahren Aufenthalt in Prag, Wien, Lugano, Zürich und Paris 1935 nach England kam, weil seine Kinder dort zur Schule gingen, Monty Jacobs, der Feuilletonchef der Vossischen Zeitung, die österreichische Journalistin Hilde Spiel und ihr Mann Peter de Mendelssohn, der ZweigFreund Richard Friedenthal, der allerdings erst nach dem Kriege mit seinen Biographien zum Bestseller-Autor wurde, der Romancier Elias Canetti, dessen Roman Die Blendung (1935) u.d.T. Auto-da-F¦ 1946 schließlich auch auf Englisch publiziert wurde und der bereits im Exil von der englischen Literaturkritik als einer der wichtigsten deutschsprachigen Romanciers eingeschätzt wurde, und viele andere. Eine geschlossene Gruppe mit gemeinsamen politischen oder literarischen Zielen, wie beispielsweise die emigrierten Autoren in Paris oder Moskau, bildeten sie nicht. Sie konnten auch nicht damit rechnen, sich in England mit deutschsprachigen Publikationen ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, denn es gab dort keine größere deutsche Kolonie, die als Lesepublikum in Frage kam, und das Interesse an nichtenglischer Literatur war gering: With the exception of one or two small publishing houses, the business of British publishing at that time was confined largely to works which had been written in English. The proportion of translations in publishers’ lists amounted to a mere two to three percent of total production, roughly half of the comparable figure in France or Italy or Germany, […] German culture was regarded with incomprehension, and even distaste, compounded by a lingering hostility from the war.216

Welche beruflichen Möglichkeiten hatten dort exilierte deutschsprachige Autoren überhaupt? Am schwierigsten unter allen Berufsgruppen war dort in der Tat die Situation für die Schriftsteller, die ihr heimisches Lesepublikum verloren und die vorher von einer außergewöhnlich guten Beherrschung ihrer Muttersprache gelebt hatten. Besonders für sie wollte eine Umstellung auf die Sprache des Gastlandes unmöglich erscheinen, und sie waren zunächst auf mehr oder weniger gute Übersetzer angewiesen. Wie Gabriele Tergit selbst berichtet, verhinderten »[d]ie Dominanz der englischen Sprache und der damit verbundene sprachliche Assimilationsdruck auf die Exulanten […] die Gründung von speziellen Emigrationsverlagen.«217 Auch in ihrer Korrespondenz betonte sie, es habe in England weder eine Auf216 Richard Dove, Journey of No Return. Five German Literary Exiles in Britain 1933 – 1945. London 2000, S. 39. 217 Gabriele Tergit, »Die Exilsituation in England«, S. 138.

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nahmebereitschaft für deutsche Literatur gegeben, noch konnten die Emigranten daran das Geringste ändern: »Bestseller zwischen den Kriegen waren Arnold Zweigs Sergeant Grischa und die Romane von Feuchtwanger, in weitem Abstand davon, eine Sache nur für die Wenigen ›Der Zauberberg‹. Keiner von uns konnte Literatur auf englisch veröffentlichen.«218 In der Tat haben nur ganz wenige den Sprung vom deutschen zum englischen Autor geschafft, unter ihnen Ern(e)st Borneman(n), Robert Neumann, Ruth Feiner und Lilo Linke. Das Hauptproblem in London war, dass weder Heinrich Reifenberg noch seine Frau dort arbeiten durften. In Reifenbergs Pass stand die übliche Formulierung: »No Permit to work, paid or unpaid.« Die Möglichkeiten einer journalistischen Betätigung in England waren für seine Frau minimal. Sie bemühte sich natürlich mit allen Mitteln um eine Arbeitserlaubnis und ließ sich 1939 wohl aus diesem Grund von Theodor Wolff aus seinem Exil an der französischen Riviera ein »Zeugnis für England« schicken, das ihr hervorragende journalistische Qualifikationen attestierte: »Ihre feine Stilkunst machte sie zu einer brillanten Feuilletonistin, ihr juristisches Wissen kam in ihren vielen Berichten und Schilderungen aus den Gerichtssälen zur Geltung und ihre tiefe Kenntnis der sozialpolitischen Verhältnisse und Probleme war für das Blatt ungemein wertvoll.«219 Gabriele Tergit lernte so schnell wie möglich Englisch, ohne eine für Publikationen notwendige Beherrschung der Sprache zu erreichen, denn da sie sich meist in Emigrantenkreisen aufhielt und auch zu Hause Deutsch sprach, hat sie nie so gut Englisch gelernt wie manche andere Emigranten. Ihr Hauptproblem war, dass sie schon Mitte vierzig war, als sie nach England kam. Dass man gar seinen deutschen Akzent verlor, war nur bei Einwanderern unter zwanzig Jahren zu erhoffen. Wenn im folgenden Zitat so getan wird, als ob sie ihren Artikel über das englische Exil selbst ins Englische übersetzt hätte, so habe ich erhebliche Zweifel. Ohne Hilfe eines guten englischsprachigen Redaktors war das schlicht unmöglich: »Ihre ersten Artikel sind noch in Deutsch verfasst und müssen übersetzt werden, doch bereits von der um 1943 verfassten Essaysammlung ›Über England‹ existieren ein deutsch- und ein englischsprachiges Typoskript.«220 Es gelang der Tergit zwar, zwei oder drei Artikel im Manchester Guardian zu veröffentlichen und ein paar Arbeiten für das eine oder andere Emigrantenjournal, wie zum Beispiel für die nicht-parteigebundene, von den Briten 218 Robert Neumann sei ein Kuriosum, eine Ausnahme gewesen, »da er in einem offenbar höchst amüsanten, wenn auch nicht ganz richtigen Englisch schrieb.« Brief vom 29. März 1967 an Hugo Jacoby (DLA). 219 Theodor Wolff an Gabriele Tergit: Arbeitszeugnis mit persönlichem Anschreiben. Brief vom 10. April 1939. (DNB) Auch in: Tergit-Ausstellung. Deutsche Bibliothek Frankfurt. August 1994. 220 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 34.

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subventionierte Zeitung in London221 und das Neue Tagebuch in Paris. Ansonsten arbeitete sie nur für die ARJ-Information, deren Leserschaft natürlich entsprechend begrenzt war. Nachdem die Internierung für die meisten Exilanten schon gegen Ende des Sommers 1940 beendet worden war, konnte eine ganze Reihe von exilierten Schriftstellern für das deutschsprachige Programm der BBC arbeiten. Im Unterschied zu manchen anderen ihrer Kollegen gelang es der Tergit leider nicht, während des Krieges eine Anstellung, und sei es auch nur als freie Mitarbeiterin, für die nach Deutschland und Österreich ausgestrahlte Propagandasendungen bei der BBC zu bekommen oder für das Informationsministerium arbeiten zu können. Am 11. Februar 1942 wandte sie sich deshalb brieflich an den englischen Bühnen- und Filmschauspieler Marius Goring, der, weil er u. a. fließend deutsch sprach, für die nach Deutschland ausgestrahlten Radiosendungen der BBC verantwortlich war. Nachdem sie eine ermutigende Antwort bekommen hatte, beschrieb sie im Einzelnen, was sie für die BBC leisten könnte: I could imagine that short scripts could be done on the following lines: 1) The Germans have mentioned the paper shortage. »Mehrere Familien müssen eine Zeitung zusammen lesen«. That’s not true. Besides the Germans have no idea at all of the enormous amount of newspaper readers in this country. 2) Some earnest or humorous script on the »Plutobolshewist« or the »Bolshiplutokrat«. 3) The food and clothing situation in England, because the Germans repeat day by day their successes in the battle of the Atlantic. 4) A script illustrating the slogan »dass die Völker haben Deutschland nicht hochkommen lassen« on the same lines as the excellent script on the »Kriegsursache« (Hitler’s own speeches with commentary).222

Dieses Script sowie eins über Japan hat sie im Folgenden – vergeblich – eingereicht. Ihr Frust wird aus einem weiteren Brief von 1942 deutlich, in dem sie sich über das völlige Unverständnis der BBC für ihre Ansichten beklagt: In May 1941 I came to London to write scripts for the so-called Frauenstunde. The first thing Ms. Gibson told me was that the refugees are to [be?] despised to use them for propaganda. »By whom despised?« I said. »By the Nazis.« »The English are only interested in the Nazis, the others are without influence.« Then I got the commission to write on English food situation. The food situation seemed and seems to me excellent. I spend on food, what the average proletarian 221 Sie veröffentlichte dort beispielsweise einen Artikel über die zweisprachige Erziehung von Kindern: Gabriele Tergit, »Kind zwischen den Sprachen«. In: Die Zeitung vom 29. November 1941, S. 3, sowie »Jugend« über das erste Flirten heranwachsender Kinder, in: Die Zeitung vom 11. November 1941; wieder abgedruckt in: Frauen und andere Ereignisse. S. 190 – 192. 222 Brief an Marius Goring vom 19. März 1942 (DLA).

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spends. Ms. Gibson said on my script (a year ago): »I think you are wrong the food situation is very bad.« I was of another opinion. »Even if you do not think it is bad, you must paint it bad, otherwise the Germans would not believe it.« The next script was on rationing, on which I have written to you and with which my work for the B.B.C. ended.223

Ein weiterer – undatierter – Brief an denselben Adressaten, einen Mr. Harrison, bestätigt die Klagen noch einmal: Why the propaganda is so boring is illustrated by an inside story which I tell you confidentially hoping things could be changed. In May 1941 I got a telegram and my travel expenses to come to London for writing scripts for the B.B.C. I wrote a script on clothing rationing. When I listened to my script it was thoroughly changed into a filleted German, the German »of official communiqu¦s and agencies messages.« From a vividly written piece of prose these very phrases were made, that »have long ago lost their cutting edge«. »Why?« I asked. »An English person would not speak your German. You have to write for the mentality of the English person, who speaks the things.« »O«, I answered, »I have thought, I have to write for the German person who listens to«. With this dialogue my work for the B.B.C. was finished.224 (DLA)

Die Wahrheit ändern, so dass sie in das propagandistische Konzept der BBCSendungen passte, das konnte und wollte sie nicht, denn die Wahrheit war für sie das einzig gültige Kriterium. 1957 bekannte sie, sie glaube, sie sei der einzige deutsch Schreibende in England, der nicht vom Foreign Office, Norfolk House, Control Council usw. angestellt sei. Das sei zeitweise sehr schwer gewesen.225 Auch ihr Versuch, für die englische Filmindustrie zu arbeiten, war nicht von Erfolg gekrönt. So bekam sie am 10. Oktober 1945 von Fritz Gottfurcht, dem Scriptwriter und Lektor der Associated British Picture Corporation Ltd., eine als Filmexpos¦ konzipierte Erzählung zurück, die ihm zu differenziert angelegt schien: »[i]n der Vergröberung des Films würde sie nie überzeugend wirken.« Und ferner bemerkte er dazu: »Ich fürchte, dass ich in der gegenwärtigen Fassung kaum meine Leute lebhaft genug interessieren könnte.«226 223 Brief an Mr. Harrison von 1942, ohne genaueres Datum; DLA. 224 Brief an Mr. Harrison o.D. (DLA). 225 Brief an Walther Kiaulehn vom 12. Oktober 1957 (DLA). Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 34, behauptet, Gabriele Tergit habe 1944 temporär für das Foreign Office, Norfolk House, Control Council gearbeitet. Verärgert habe sie ihre Tätigkeit dort aber aufgegeben, »als ihre Artikel bis zu sechsmal umgeschrieben werden müssen und dann doch nicht veröffentlicht werden. Ihr ebenfalls kurzzeitiger Nachfolger im Amt wird Monty Jacobs, ein ehemaliger Berliner Berufskollege.« 226 Zitiert nach Jens Brüning in: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse, S. [224]. Vgl.

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Im Umgang mit Engländern hatte es die Tergit ohnehin nicht einfach, denn sie war eine typische, etwas ruppige, durch die Weimarer Republik geprägte Berlinerin, eine Frau, der es sehr schwer fiel, ihre Kantigkeit und Direktheit abzulegen und sich an die englische Wesensart anzupassen. Obendrein war sie schon 44 Jahre alt, als sie nach London kam: »Wenn mich hier jemand gefragt hat: Sind Sie eine Deutsche? So habe ich geantwortet: No, I’m a Berliner. Ich bin Berlinisch in der Wolle gefärbt. Man kann doch nicht solche Bücher schreiben wie ich und all dies dann wie eine Jacke ausziehen, wenn man das Land verlässt.«227 Es lag ihr einfach nicht, sich darum zu bemühen, anderen Leuten zu gefallen, sich bei ihnen einzuschmeicheln. Nur wer sie näher kannte, konnte auch ihren innere Weichheit sehen und ihre andauernde Freundschaft und Zuverlässigkeit erfahren. Da ihr der englische Literaturbetrieb weiterhin verschlossen blieb, widmete sie in London weiterhin viel Zeit ihrem opus magnum, dem Roman Effingers, den sie ungefähr Anfang der vierziger Jahre fertig stellte. Die Effingers waren, genau wie der Käsebier, ein dezidiert Berliner Roman. »Mit einer Vorform dieses Romans mit dem Arbeitstitel ›Der ewige Strom‹ nahm sie unter dem Pseudonym Irene Bersil an dem Romanwettbewerb der ›American Guild for German Cultural Freedom‹ teil.«228 Die American Guild war von Hubertus Prinz zu Löwenstein zur finanziellen und ideellen Unterstützung emigrierter Schriftsteller gegründet worden. Sie hatte den Jahreswettbewerb ausgeschrieben, um für deutsche ausländische Literatur öffentliches Interesse zu wecken und den exilierten Autoren Anerkennung zu verschaffen. Um die Auswahl objektiv zu gestalten, war darum gebeten worden, die Arbeiten unter einem Pseudonym einzureichen. Die endgültigen Gutachten verfasste der Schriftsteller Richard R. Berman[n]. In einem Brief vom 18. Januar 1939 an die American Guild bedankte sich die Tergit für die Eingangsbestätigung und fuhr fort: Ich habe jahrelang an diesem Buch gearbeitet, das zufällig jetzt sehr aktuell ist und ich gestatte mir Sie zu fragen, in dieser Angst, dass die Frucht langen Mühens verloren sein könnte, ob Sie mir mitteilen könnten, wann der Wettbewerb ungefähr entschieden sein kann? […] Sie wissen, in welcher Situation wir uns alle befinden und wie viel Hoffnung auf Existenz an so einem Manuskript hängt. Mit ergebenem Gruß Ihre Dr. Lise Reifenberg (DLA)

auch ebd.: Jens Brüning »Nachwort«. S. 213 – 217; hier S. 216. Es handelt sich um die ebenfalls dort, S. 192 – 205, unter dem Titel »Zwei Frauen« abgedruckte Kurzgeschichte. 227 Interview mit Henry Jacob Hempel, S. 26 (DLA). 228 Jens Brüning, »Nachwort«. In: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse; hier S. 216.

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An dem devoten Tonfall spürt man die Existenzängste der Exilantin, die Verzweiflung und die Hoffnung, an die sie sich klammerte. Dabei kam es schließlich nicht einmal zu einer Preisverleihung, da sich die American Guild wegen innerer Querelen schon nach drei Jahren wieder auflöste. Tergits Manuskript war zwar de facto nicht abgelehnt worden, kam wegen Überlänge für den Wettbewerb aber ohnehin nicht in Betracht.229 Trotzdem schrieb sie sieben Jahre später noch an Ernst Rowohlt, sie habe das Manuskript der Effingers seinerzeit zu einem »verbrecherischen amerikanischen Wettbewerb« geschickt und es im Sommer 1939 zurückerhalten.230 Ein Grund für die Ablehnung war wohl auch, dass die amerikanischen Verleger sich scheuten, Manuskripte deutscher Autoren zu drucken. Das Fazit ihrer ganzen Exilzeit, also von 1933 bis zu den ersten Nachkriegsjahren, war, dass sie in diesen Jahren kein einziges Buch veröffentlicht hat!! Entschuldigend schrieb sie am 19. März 1948 an Miss K.H. Webb von Hutchinsons Publishing: I hope you do not mind this long letter by somebody to whom all her old colleagues say : »What [is] the matter with you, Tergit, never again written a new book? Including Mr. [Arthur] Köstler the other day. Quite old-fashioned I have put everything I know of the human heart into one book instead of distributing that knowledge over a dozen volumes. (DLA)

Es war wohl die Angst vor einer deutschen Invasion, die die Reifenbergs, wie viele andere Mitexilanten, veranlasste, über einen weiteren Fluchtweg nach Amerika nachzudenken: Doch auch der englische Boden erscheint ihr [der Tergit] noch nicht sicher genug, denn sie bittet Christine Olden anscheinend um Affidavits für eine weitere, zweite Emigration in die USA.231 Als Alternative plant sie zudem, nur ihren Sohn in die Staaten zu schicken; hilfesuchend wendet sie sich an den Londoner PEN, der ihr jedoch klarmacht, die Schriftstellervereinigung vermöge eine Unterbringung von Kindern in den USA nicht zu leisten.232

Aus der weiteren Flucht ist nichts geworden, und die Reifenbergs lebten sich in England ein. Eine Emigration nach Amerika wäre für die in der europäischen Kultur so verwurzelte Tergit wohl ohnehin mentalitätsmäßig schwierig gewesen, denn noch 1946 schrieb sie in einem Brief an Alfred Döblin: »Ich hoffe sehr, man 229 Vgl. Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 33. 230 Brief an Ernst Rowohlt vom 8. August 1946. Zitiert nach Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 75. 231 Vgl. Christine Oldens Brief an G.T. vom 10. Oktober 1940 aus Los Angeles, in der sie Tergit um die Lebensdaten der drei Reifenbergs zwecks Beschaffung der nötigen Genehmigungen bittet. Eine Antwort ist nicht erhalten. (DNB) 232 Janet Chance an Gabriele Tergit vom 25. JUNI 1940 [PEN-Geschäftsbogen]. (DNB) Zitat: Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 34.

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wird einmal in einem Buch von Ihnen lesen können warum Amerika nichts für uns ist. Es wäre schrecklich wichtig.« (11. August 1946; DLA)

Politische Diskussionen: Tergit gegen Hiller In London kam es natürlich immer wieder zu Diskussionen über politische Themen, und es ist erstaunlich, dass sich die Tergit dabei von ihrem Mann und Freunden über so offensichtliche Dinge wie die militärische Niederlage Deutschlands 1918 aufklären lassen musste. Diese wurde ihr erst jetzt, 1939, in ihrem Emigrantenzimmer, mit dem sie nun jahrelang mit Mann und Kind wohnte, durch eine Unterhaltung ihres Mannes mit Hans Jaeger bewusst.233 Hans Jaeger und Heinrich Reifenberg hatten beide bei Verdun gekämpft. Im Exil in London war Hans Jaeger jahrelang der Leiter des Club 1943, der sich vom Freien Deutschen Kulturbund abgespalten hatte und dem etwa 500 deutsche Juden angehörten. Jaeger war in Gabriele Tergits Augen »ein gemeindebildender Priester in einer religionslosen Zeit. Er war die beste deutsche Wiedergutmachung für die Londoner Emigration«:234 Beide [Heinrich Reifenberg und Hans Jaeger] waren fassungslos über die Unwissenheit einer nicht ganz unbelesenen Frau. Heinz sagte: »Na, was hast du dir denn vorgestellt?« Und zu Jaeger : »Na, was sagen Sie, hier bei uns im Zimmer?« – »Haben Sie an den Dolchstoß von hinten geglaubt?« fragte Jaeger. Ich dachte, dieser Hungerwinter 1916 auf 17, die entsetzlichen Verluste, Verstümmelte, Blinde, dieses Elend – die Bevölkerung wollte nicht mehr.« (Etwas Seltenes, 60)

Über die ehrliche Unkenntnis von Millionen, nicht etwa über die Dolchstoßlegende, veröffentlichte Tergit am 12. Mai 1939 im Daily Telegraph einen mit »A German Woman in London« unterzeichneten Leserbrief. Olden, der sofort erkannte, dass er von Tergit stammte, kommentierte: »Nur ein bisschen übertrieben, aber im Grunde richtig.« (Etwas Seltenes, 61) Ihrer Ansicht nach war es der Einsatz der neuen Tankwaffe ab 8. August 1918, der den deutschen Rückzug zur Flucht machte. Als der deutsche Außenminister Ribbentrop am 23. August 1939 mit seinem sowjetischen Amtskollegen Molotow einen Nichtangriffspakt abschloss, der rund einen Monat später, wenige Tage vor Hitlers Angriff auf Polen, durch ein Geheimabkommen zur Teilung Polens und anschließend durch einen Freund233 Jaeger teilte der Tergit in einem Brief vom 22. Mai 1939 mit, dass er von Prag via Polen, Dänemark vor einigen Wochen in London eingetroffen sei. (DNB) Am 21. Januar 1940 teilte er ihr brieflich mit, jeder Freitagabend sei bei ihm zu Hause dem Gedankenaustausch mit Freunden gewidmet, und er lade sie ein, dazuzukommen. (DNB) 234 Brief an Herrn Bem vom 5. Mai 1977. (DLA)

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schaftsvertrag ergänzt wurde, war dies ein Ereignis, das unter den Kommunisten in und außerhalb Deutschlands Verwirrung und eine innere Krise auslöste: Waren Hitler und die Nationalsozialisten nicht Feinde des Kommunismus? Wer nicht erstaunt war, war Gabriele Tergit, denn sie glaubte schon lange an eine geheime Zusammenarbeit von Hitler und Stalin: Im August [1939] lief durch das [Londoner] Haus, in dem in jedem Zimmer ein anderes Ehepaar wohnte, durch einen, der Radio besaß, die Nachricht vom Abschluss eines Paktes zwischen Hitler und Stalin. Mir schuf das Ereignis eine Art Befreiung. Jahrelang hatte ich berichtet, wie Nazis Kommunisten und Sozialdemokraten anschossen, während ich doch wusste, dass die Reichswehr in Russland rüstete und ich den Verdacht nicht los wurde, dass Stalin seine besten Generäle auf Hitlers Veranlassung umbrachte. Das Bündnis mit Russland hatte auch historische Konsequenz: von den Teilungen Polens zwischen Russland, Österreich und Preußen im 18. Jahrhundert über Metternichs Heilige Allianz bis zu Bismarck, ja Goebbels, der in seiner letzten Tagebucheintragung meint, eine Flucht nach Russland sei wohl der nach dem Westen vorzuziehen. Frankreich war der »Erbfeind« […]. (Etwas Seltenes, 71)

Es war, zugegeben, eine etwas wilde Konstruktion historischer Parallelen, die die Tergit hier vornahm. Nach dem obigen Zitat nimmt sie obendrein auf einen am 17. Februar 1940 in World News and Views veröffentlichten Artikel Bezug, in dem im Hinblick auf den Pakt zwischen Hitler und Stalin behauptet wurde, die »herrschende Schicht in Deutschland« habe sich für freundliche Beziehungen mit der Sowjetunion entschieden, »während der englisch/französische Kriegsblock Krieg gegen die Sowjetunion wünscht.« (Ebd.) In der Rednerecke im Hydepark standen die Reifenbergs in einer Menschenmenge von rund tausend Zuhörern, während ein junger Redner dazu aufrief, die Waffen gegen Hitler niederzulegen. Diese Art der Redefreiheit trotz des Kriegszustandes war Ausdruck von britischem Demokratieverständnis und Meinungsfreiheit. Vielleicht hat sich die Tergit ernsthafte Hoffnungen gemacht, dass auf diese Weise der Krieg tatsächlich bald beendet werden würde. Als Hitler am 5. Mai 1941 die Sowjetunion angriff, waren derartige Träume zu Ende. Für England war Deutschlands zweite Front mit Sicherheit ein Grund zum Aufatmen. Dass die Tergit aber auch politischen Kontroversen nicht aus dem Wege ging, bewies sie mit einem Artikel, der am 20. und 27. Juni 1941 im Manchester Guardian veröffentlicht wurde: Sie behandelt dort den strikt antikommunistisch eingestellten Kurt Hiller neben Gustav Wyneken und Karl Blüher als einen von drei »Forerunners of Nazism«. Sie beschuldigte Hiller, einer von denen zu sein, die durch Demagogie und Verantwortungslosigkeit zu Hitlers Erfolg beigetragen hätten, und zwar wegen seines aggressiven und kontroversen Stils.235 Unter dem Untertitel »Gift of Bluntness« schrieb sie: 235 Im Nachlass der Tergit im DLA befindet sich ein längeres leider unvollständiges Typoskript

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In spite of […] their Socialism and pacifism, they prepared the way for the Nazi regime and prepared it very thoroughly. Their tactics of cell-formation were taken over not by pacifist Socialists but by the Nazis, assuming the form of an immense organization of denunciation by informers. They required their intellectuals to be itinerant oratory demagogues of platform and press making use not only of rhetoric but of cunning, and the result was Goebbels. They demanded a cult of bluntness, and the result was Hitler’s ›Shut up!‹ to the British ambassador.236

In seiner Korrespondenz mit Alfred Kerr führte Hiller bitter Klage gegen die Tergit. Helmut Peitsch schreibt dazu: Ohne auf die homophobe Tendenz dieser Auswahl einzugehen, stellte Hiller Kerr gegenüber auf die Jüdin ab, wenn er sich gegen die Mitgliedschaft der Verfasserin des »lebensgefährlich[en]«,237 »im Polizeisinn denunziatorische[n]«238 »Verleumdungsartikel« wandte, in dem er »öffentlich bezichtigt« werde, »Vorform der Nazis gewesen zu sein.«239 Während er in zahllosen Metaphern die Weiblichkeit der Verfasserin schmähte, argumentierte er explizit als Verallgemeinerung des Falles Tergit, dass »mancher Jude, der von den Nazis verfolgt wird«, »(wenn auch mit verwerflichen Methoden) rechtens verfolgt« werde,240 und begründete so grundsätzlich eine »Verweigerung der Sympathie, die darauf basiere, »weil jeder Jude von bestimmter Seite als Jude verfolgt wird«.241

Kerr reagierte auf Hillers Polemik im Ganzen mit erstaunlicher Toleranz. Wegen seiner nonkonformistischen Haltung und seiner andauernden Stänkerei wurde Hiller auch nie als Mitglied des Londoner Exil-PEN zugelassen.242

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o.D. eines historischer Essays »Warum, Wieso, weshalb Hitler? Die ›Kriegsschuldlüge‹« bzw. »Bausteine zu Hitler«, in dem sie ähnlich argumentiert. Gabriele Tergit, »Forerunners of Nazism. German Youth Leaders of the Last War«. In: The Manchester Guardian. 20. Juli 1941, S. 4. Vgl. J.M. Ritchie, »Kurt Hiller – A Stänkerer in Exile«. In: Deborah Vietor-Engländer, The Legacy of Exile. Lives, Letters, Literature. Oxford, Malden, MA 1998, S. 116 – 136; hier S. 122. Brief Hillers an Kerr vom 4. August 1941 (AdK = Akademie der Künste, Berlin). Brief Hillers an Kerr vom 8. Januar 1941 (AdK). Brief Hillers an Kerr vom 24. November 1942 (AdK). Brief Hillers an Kerr vom 31. Juli 1941 (AdK). Brief Hillers an Kerr vom 24. November.1942 (AdK). Gesamtzitat: Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 113. Vgl. J.M. Ritchie, S. 128 f. In seiner Autobiographie Leben gegen die Zeit [Logos]. Reinbek b. Hamburg 1969, S. 410, erwähnt Hiller Gabriele Tergit nur ein einziges Mal, indem er rückblickend schreibt: »Tagesruhm riecht schlecht. Allerhand ruhmumrauschte Skribenten verwichener Zeiten, in denen längst nicht mehr umstrittene sehr Starke beschwiegen oder bespuckt worden sind – wo blieben die Umrauschten? Sogar der Fachmann kennt knapp ihre Namen noch. Eine liebenswerte, manchmal verehrenswerte Jugend, das weiß ich, wird in später Zukunft einiges von mir lesen, wenn ihr von dem Fliegenschwarm, der mich belästigt hat, nicht das geringste bekannt sein wird noch kann und selbst die Ahnen ihrer Ahnen, lebten sie dann noch, nur höchst verschwommene Vorstellungen hätten von Andersch, Beßmertny, Paul Block, Forst de Battaglia, R.O. Frankfurter, Wilhelm Frick, J. Günther, Huppert, Fritz Klein, Kudszus, F. Küster, H. J. Lang, L. Marcuse, K. Sauerland, W. Stapel, G. Tergit, Karl Vetter, Gerda Weyl.«

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Im Rückblick polemisierte Hiller gegen Tergit sogar, indem er auf unangenehme Art persönlich wurde: Und 1941 […] ›wies‹ im Feuilleton des Manchester Guardian eine rachsüchtige alte Berliner Schmonzettenhexe ›nach‹, dass ich in meinen Theorien ein Vorläufer Hitlers sei (»forerunner of Nazism«),[…]; besonders Ribbentrop sei mein Schüler gewesen.

Weder der Name Ribbentrop noch die Behauptung, dieser habe von Hiller gelernt, finden sich in Tergits Artikel. Dann fährt Hiller fort: »Tja, Leser, so etwas gab es, und wenn Sie glauben, diese Vettel, diese tolle Kreuzung aus Kuh und Kobra sei daraufhin entweder ins Irrenhaus gesteckt oder wenigstens von den maßgeblichen Vereinen der deutschen Emigranten in London gesellschaftlich boykottiert worden, dann befängt Sie eine Illusion.«243 Hiller versuchte vergeblich, diesen gesellschaftlichen Boykott der Tergit in Gang zu setzen. In einem privaten Brief an Hans Ehlmann spekulierte er über Tergits Motiv für ihren Angriff: Kaum war ich 1941 aus der Internierung entlassen, durch den Nachweis meiner politischen Arbeit vor und unter Hitler, als im MANCHESTER GUARDIAN ein geschwätziger, aber scheinorientierter Artikel erschien, worin der »Nachweis« geführt wurde, dass ich und mein Freundeskreis ab 1916 Vorläufer des Nazismus waren. […] Als Autor zeichnete »Gabriele Tergit«, Emigrantin hier, in alten Ullstein-Mosse-Zeiten berlinische Dame unter dem Strich. Das Motiv der Tat war vermutlich Rache eines literarisch und gesellschaftlich von mir abgewiesenen Feuilletonhexchens.244

Gleich nach Erscheinen des Tergit-Artikels schickte Hillers Freund Eugen Brehm eine, wie Hiller in seinem Buch Rote Ritter (1951) schreibt, »sehr korrekt und geschickt geschriebene« berichtigende Erwiderung an die Redaktion des Manchester Guardian. Umständehalber sei sie jedoch erst drei Wochen nach Erscheinen der – Hillers Wort – ›Verleumdung‹ bei der Redaktion eingetroffen, daher habe der Chefredakteur die Veröffentlichung abgelehnt.«245 Ein Nachspiel hatte die Kontroverse, als Gabriele Tergit im März 1946 die Mitgliedschaft in dem im Januar 1943 von dem Dramatiker Hans Jos¦ Rehfisch gegründeten und langjährig von Hans Jaeger246 geleiteten Club 43 beantragte. Der Vorstand verweigerte ihr die Aufnahme mit der Begründung, sie habe Kurt 243 Kurt Hiller, Rote Ritter. Erlebnisse mit deutschen Kommunisten. Gelsenkirchen 1951; Nachdruck Berlin 1980, S. 12. 244 Kurt Hiller, Brief an Hans Ehlmann u. a. vom 1. Januar 1947, S. 1. Abschrift im Nachlass Sternfeld (DNB). 245 Archiv des »Club 1943«, London; zitiert nach Jens Brüning, Manuskript der Sendung »Dynamit, das die Welt sprengt. Ein Streit zwischen Gabriele Tergit und Kurt Hiller im britischen Exil« vom 20. Juni 2001 für Radio Kultur (SB/ORB). 246 Hans Jaeger war wohl Gabriele Tergits bester Freund in London. 1958/59 kam es zwischen ihnen zu einem Austausch umfangreicher Briefe über die aktuelle weltpolitische Situation. (DNB)

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Hiller beleidigt, und man verlangte von ihr eine Entschuldigung und eine Rücknahme ihrer Behauptungen. Als sie sich kategorisch weigerte, bildeten sich Gruppen für und wider ihre Aufnahme. Ihre Fürsprecher vertraten die Ansicht, da Hiller selbst kein Mitglied des Clubs sei, habe die Sache nichts mit ihrer Aufnahme als Mitglied zu tun. In der Vorstandssitzung vom 3. April 1946 wurde folgender Brief besprochen, den die Tergit an Friedrich Koffka geschrieben hatte: Ich habe einen historischen Aufsatz geschrieben, der mir wichtig erschien. Ich habe nachgewissen, dass die Wurzeln gewisser nazistischer Welteinstellungen einer allgemeinen Zeitstimmung in Deutschland entsprachen und weit zurückreichen bis 1917 und wie gefährlich sich solche Sachen, mit denen Intellektuelle gern spielen, auswirken können. Ich habe keineswegs Herrn Hiller persönlich angegriffen. […] Ich habe ausdrücklich festgestellt, dass die beteiligten Leute Nazis in Deutschland, Kommunisten in Russland und Liberale in der Emigration sind. Der Artikel bedeutete auch nicht die geringste Gefahr für Herrn Hiller, besonders da man im Jahre 1941 aus der Internierung entlassen und nicht mehr interniert wurde. Es muss dem Schriftsteller unbenommen sein, in wichtige historische Zusammenhänge hinein zu leuchten und wir, die wir seit vielen Jahren in diesem Lande leben, sollten eigentlich wissen, was Geistesfreiheit ist.247

In monatelangen Auseinandersetzungen248 drohte Wilhelm Unger auf die Drohung Friedrich Koffkas, im Fall ihrer Aufnahme aus dem Klub auszutreten,249 damit, er werde Kerr einladen, Mitglied des Klubs zu werden. Ende des Jahres wurde die Tergit schließlich in den Klub aufgenommen. Nach einigem Hin und Her referierte schließlich Hans Jaeger, der Sekretär des »Club 1943«, den Sachstand für Kurt Hiller und teilte ihm mit: Unter Hinweis auf die Gebote der Solidarität zwischen den aus Deutschland ausgewanderten oder geflüchteten Opfern des Nazismus haben wir Frau Dr. Tergit in ernster Form die Bedenken mitgeteilt, die nach unserer Ansicht der Veröffentlichung des Artikels, besonders unter den damaligen Verhältnissen, entgegenstanden. Frau Dr. Tergit hat sich diesen Bedenken nicht verschlossen und ihr Bedauern darüber ausgedrückt, dass der Aufsatz in seiner vorliegenden Form missdeutet werden konnte. Sie hat ferner erklärt, dass ihr die Absicht, Sie persönlich zu verletzen, fern gelegen hat. Damit hat, wie wir glauben, Frau Dr. Tergit alles getan, was Beilegung des weit zurückliegenden Falles von ihr erwartet werden konnte.250 247 Zitiert nach Jens Brühning, Manuskript der Sendung »Dynamit, das die Welt sprengt.«, S. 10. 248 Vgl. Jennifer Taylor, Dachshund or St. Bernard? The contribution of Z to the history of German-speaking exiles in Great Britain. In: Siglinde Bolbecher u. a. (Hgg.), Zwischenwelt 4: Literatur und Kultur des Exils in Großbritannien. Wien 1974, S. 56 – 73; hier S. 58 f. 249 Vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 133. Protokoll der Vorstandssitzung des Club 43 vom 2. 5. 1946 (DNB). 250 Archiv des »Club 1943«, London; zitiert nach einem Manuskript von Jens Brühning, »›Lebt eigentlich die Tergit noch?‹ – Dein Kurt (29. 8. 1970.) – Der Streit zwischen Gabriele Tergit

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Damit war die Angelegenheit, was die Tergit betrifft, erledigt. Dem subjektiven Angriff Hillers, der Behauptung, dem Artikel der Tergit liege persönliche Rachsucht als Motiv zugrunde, stand Tergits politische Argumentation gegenüber, ein Bemühen um historische Wahrheit – so wie sie sie sah.251

Erfolgreiche Integration Ein großer Erfolg im persönlichen Leben der Reifenbergs war die Integration ihres Sohnes Peter in das englische Erziehungssystem und, als logische Folge, in die englische Gesellschaft. Als Peter bei seinen bei seinen Großeltern in Berlin wohnte, war er in eine jüdische Schule gegangen. In England besuchte er zunächst die altehrwürdige St. Paul’s School, die im Zeitalter der Renaissance, im 16. Jahrhundert »für Kinder aller Völker und jeden Glaubens« (Etwas Seltenes, 102) gegründet worden war und wo man noch wechselseitig vom Lateinischen ins Englische und umgekehrt übersetzen musste. Nun bestand er die schwierige Aufnahmeprüfung von Cambridge, obwohl er sich so überanstrengt hatte, dass er krank wurde und nicht planmäßig an allen Einzelprüfungen teilnehmen konnte.Trotzdem bekam er ein großzügiges Stipendium für das dortige Trinity College, wo er zum hervorragenden Mathematiker ausgebildet wurde. Im September 1952 ging er für ein Jahr zur University of California in Berkeley und 1958 an die Oregon State University in Corvallis, von wo er allerdings berichtete, er hätte »kulturmäßig genau so gut in die Wüste Gobi gehen können.«252 Im Herbst 1962 und im Sommer 1963 war er zu Gastvorlesungen in Boston und aus demselben Grunde auch wiederholt in Genua tätig. – Er hatte sich an seine britische Umgebung bestens angepasst und war zum attraktiven, sportlichen jungen Engländer geworden. Er heiratete dann auch eine Engländerin namens Penny, ein sehr nettes englisches Mädchen aus einer kleinbürgerlichen Familie. Kurz nach dem Kriege hatte Heinrich Reifenberg schon ein Haus in der Nähe von Peters Schule gekauft, das aus dem Besitz der berühmten Familie Fanny Burneys stammte. Es hatte weder Elektrizität noch Heizung, nur offene Kamine und ein einziges Badezimmer. Sofort nach dem Kauf wurde das Haus für die Möbel von Ausgebombten beschlagnahmt und erst wieder freigegeben, als Peter und Kurt Hiller im englischen Exil 1941 ff. (Vortrag für den ›Club 1943‹ in London am 22. März 1999 in der Belsize Square Synagogue, Hampstead«. S. 10. »Ein Datum ist auf diesem Brief nicht zu sehen. Es handelt sich offenbar um einen abzustimmenden Entwurf des Sekretärs Hans Jaeger.« Ebd. 251 In einem Brief von Arno Reinfrank an Gabriele Tergit vom 22. Juli [1978?] schrieb dieser politisch höchst inkorrekt: »Was Hiller betrifft, – natürlich spielt dort der Missmut des Homosexuellen aller Welt und besonders allen Frauen gegenüber eine Rolle.« (DLA) 252 So zitiert ihn Gabriele Tergit in einem Brief an Annamarie Mommsen vom 28. November 1958.

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mit der Schule fertig war und in Cambridge studieren wollte. Cambridge war jedoch von dem Haus, das Heinz hatte umbauen lassen, schwer zu erreichen. Dies war insofern problematisch, als die Tergit 1957 so unter Arthritis und vor allem wegen einer Netzhautablösung unter Augenproblemen litt, so dass ihr körperliche Arbeiten irgendwelcher Art verboten waren. Sie litt schon deshalb darunter, weil sie eine leidenschaftliche Gärtnerin war, aber : »Das Schlimmste ist, dass ich mich auch mit dem Lesen in acht nehmen muss und auch nicht viel Autobus fahren darf und wir wohnen an der andern Seite von London von unsern Bekannten und man kommt rasch dazu alles nicht lohnend zu finden, wenn es nur gemacht werden darf unter dem Gesichtspunkt, dass es vielleicht schadet.«253 Es war wohltuend, jetzt im eigenen Haus zu leben, hatte man doch 15 Jahre lange entweder zu zweit oder zu dritt in einem Zimmer gewohnt, gekocht und geschlafen. In dieser schweren Exilzeit hatte Gabriele Tergit »sämtliche Hirschmannschen Geldbegriffe ad acta gelegt.«254 1962 schrieb sie an Nelly Sachs: »Wir bauen uns nämlich ein [neues] Haus, trotzdem wir schon an der Schattenseite der sechzig sind und es vielleicht Hybris ist.«255

Gabriele Tergit und der Exil-PEN Gründung und Neugründung des Londoner Exil-PEN Gabriele Tergit war seit 1931 Mitglied des deutschen PEN-Clubs. Sie ließ es sich deshalb im Mai 1933, vor ihrer Reise nach Palästina, nicht nehmen, von Prag aus zum Internationalen PEN-Kongress nach Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, zu fahren. In der »Geschichte des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland«, die die Tergit den von ihr herausgegebenen Autobiographien der Mitglieder voranschickte, berichtet sie zusammenfassend über den Kongress, der schließlich zur Gründung des deutschen Exil-PEN führte: Ein PEN-Zentrum war 1925 in Deutschland gegründet worden. 1933 flohen der Präsident Alfred Kerr und der Sekretär Herwarth Walden, da ihnen sofortige Verhaftung drohte. Der neue Sekretär, Johann von Leers, Verfasser von »Juden sehen dich an«, schloss sofort alle Juden und »politisch Unzuverlässigen« aus, was ihn nicht hinderte, Fritz Otto Buch, Hanns Martin Elster und Edgar von Schmidt-Pauli zum internationalen PEN-Kongress, der im Mai 1933 in Ragusa stattfand, zu delegieren. Die Kongress-Teilnehmer verurteilten, was in Deutschland geschah, Verbrennung der 253 Brief an Jane (Aennchen) Loep vom 23. Oktober 1957 (DLA). 254 Brief an Jane (Aennchen) Loep vom 9. Februar 1960 (DLA). 255 Brief an Nelly Sachs vom 14. Januar 1962 (DLA).

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Bücher, Vertreibung und Ermordung ihrer Verfasser, versuchten aber den Austritt Deutschlands aus dem Internationalen PEN zu vermeiden. Eine farblose Resolution kam zustande, die sogar die Deutschen unterstützen wollten, falls sie ohne Diskussion angenommen würde, aber H. G. Wells, der Präsident des Internationalen PEN, und Hermon Ould, der Sekretär, verlangten von den deutschen Delegierten eine Stellungnahme zu der Bücherverbrennung. Darauf verließ die deutsche Delegation ohne Antwort den Saal.256 Am 8. November 1933 trat der deutsche PEN [offiziell] aus dem Internationalen aus. Wenige Wochen später konnte die »Frankfurter Zeitung« melden, dass 88 deutsche Schriftsteller dem »Führer« die Treue gelobt hatten. Die emigrierten deutschen Schriftsteller beschlossen nun, ein deutsches PEN-Zentrum im Ausland zu gründen, und Lion Feuchtwanger, Max Herrmann-Neiße, Rudolf Olden und Ernst Toller schrieben an Hermon Ould (Sekretär des Internationalen PEN in London): »Wir die unterzeichneten, außerhalb Deutschlands lebenden Schriftsteller, wünschen eine autonome Gruppe des PEN zu gründen. Wir wurden informiert, dass Schriftsteller, die jetzt in Frankreich, der Schweiz, der Tschechoslowakei und anderswo leben, diesen Wunsch teilen. Wir bitten daher das Exekutiv-Komitee, diese Gruppe anzuerkennen als die Repräsentanz des freien deutschen Schrifttums im Sinne des Internationalen PEN.« Hermon Ould antwortete Rudolf Olden, dass die Exekutive der Internationale und das englische Zentrum eine solche Gründung gutheißen würden, und die erste Mitgliederliste mit folgenden dreißig Namen wurde überreicht: Johannes R. Becher, Georg Bernhard, Bert Brecht, Bernhard von Brentano, Ferdinand Bruckner, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Leonhard Frank, Hellmuth von Gerlach, Professor Gumbel, Max Herrmann-Neiße, Werner Hegemann, Arthur Holitscher, Alfred Kerr, Hermann Kesten, Fritz Landshoff, Hubertus Prinz zu Löwenstein, Emil Ludwig, Heinrich Mann, Klaus Mann, Ludwig Marcuse, Peter de Mendelssohn, Rudolf Olden, Paul Roubiczeck, Anselm Ruest, Leopold Schwarzschild, Ernst Toller, Herwarth Walden, Theodor Wolff, Arnold Zweig. Die Gründung des Zentrums wurde [im Juni] 1934 auf dem Kongress von Glasgow [und Edinburgh] bestätigt.257 Erster Präsident wurde Heinrich Mann (Paris), erster Sekretär Rudolf Olden (Oxford). Thomas Mann wurde zum Ehrenpräsidenten gewählt. Der neuen Gruppe gelang es, dank der Bemühungen von Hermon Ould und Miss Storm-Jameson, 1938/39 eine große Anzahl deutschsprachiger Schriftsteller aus 256 Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 10, räumt allerdings mit einer Legende auf: »Wenn man – wie die Legende will – eine von Toller herbeigeführte Verurteilung der Nazi-Literaturpolitik als den Gründungsakt eines deutschen PEN-Zentrums außerhalb Nazi-Deutschlands annimmt, so muss man im Gegenteil den Erfolg der Delegation des nazifizierten deutschen Zentrums in Ragusa/Dubrovnik zur Kenntnis nehmen, insofern es zu keiner Verurteilung von Verhaftungen, Bücherverbrennungen und Verboten kam. ›Es war keine würdige Manifestation der Geistesarbeiter, dieser Kongress‹, erklärte Toller am 8. 6. 1933 in Sarajewo einem Interviewer.« 257 William Abbey, »›Die Illusion genannt deutscher PEN-Club‹. The PEN-German Group and the English Centre«. In: William Abbey u. a. (Hgg.), Between Two Languages. Germanspeaking Exiles in Great Britain. Stuttgart 1995, S. 135 – 153; hier S. 136 schreibt über die Gründung des deutschen Exil-PEN: »Its formation was approved at the Edinburgh Congress in June 1934.

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Österreich und der Tschechoslowakei nach England herüberzuretten. In der Folge [nach der Neugründung des deutschen PEN-Zentrums auf dem Internationalen PEN-Kongress in Zürich 1947] wurde das deutsche PEN-Zentrum im Exil umbenannt in PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Diese Gruppe existiert noch heute über viele Länder verbreitet.258

Die Charta des Internationalen PEN besagte: Der PEN besteht auf dem Prinzip der ungehinderten Gedankenfreiheit innerhalb einer Nation und des freien Gedankenaustauschs zwischen allen Nationen; die Mitglieder verpflichten sich, jeder Art von Unterdrückung dieses Prinzips im eigenen Land entgegenzutreten. PEN verlangt eine freie Presse und bekämpft willkürliche Zensur, insbesondere in Friedenszeiten […].

Das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland fügte dem einen weiteren Absatz hinzu, der auf die besondere politische Situation in Deutschland sowie die der exilierten Autoren zugeschnitten war : Als Mitglieder können ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit deutschsprachige Schriftsteller im Ausland aufgenommen werden, die keine wie immer geartete nationalsozialistische Vergangenheit haben und deren Werke und Verhalten dem Geist der PEN-Charta nicht widersprechen.

Der Vorstand des Exil-PEN musste deshalb bei jedem Aufnahmeantrag sorgfältig prüfen, ob dieses Kriterium voll erfüllt war oder nicht, und zwar unter Berücksichtigung der Veröffentlichungen sowie des persönlichen Verhaltens des Bewerbers. Als Hitlers Truppen 1938 in das Sudentenland und in Österreich einmarschierten und 1939 in die Tschechoslowakei, wandten sich viele dort lebende Schriftsteller, einschließlich der aus Deutschland geflohenen, an den Exil-PEN um Hilfe. Rudolf Olden versuchte zu tun, was er konnte; er hatte kein Büro, keine Sekretärin und kein Geld, beantwortete aber hunderte von Briefen. Alle Autoren, die vom alten deutschen PEN hinausgeworfen worden waren, konnten ohne weiteres Mitglieder des neuen Exil-PEN in London werden, ja sie wurden geradezu umworben. Der Satzung gemäß mussten die Neubewerber nominiert werden, mussten literarisch bekannt sein und dazu eine Reihe von Veröffentlichungen vorweisen können. Diese Bedingungen wurden aber so lose gehandhabt, dass letztlich nur entschied, ob Rudolf Olden und Heinrich Mann einverstanden waren. Weder der Präsident Heinrich Mann, noch Rudolf Olden waren offiziell gewählt worden, da eine Mitgliederversammlung wegen der weltweiten Verstreuung der Mitglieder nicht möglich war ; selbst die vier 258 Gabriele Tergit, »Die Geschichte des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland«. In: Dies. (Hg.), Autobiographien und Bibliographien. London, 1959, S. 3. Der Text in den Ausgaben von 1968, 1970 und 1982 unterscheidet sich davon unwesentlich.

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Gründer waren nie zu einer persönlichen Besprechung zusammengekommen. Letztlich bestand der Vorstand des deutschen Exil-PEN ausschließlich aus Rudolf Olden, einem überzeugten (Links-)Liberalen, der bis zu seiner Internierung Ende Juni 1940 den Kontakt zu den verschiedensten Gruppen des Exils pflegte, der souverän, kollegial und konziliant den Schriftverkehr führte und half, wo er konnte. Indem die deutsche Gruppe auf dem Kongress in Schottland offiziell anerkannt wurde, war offiziell bestätigt, dass die deutsche Literatur sich nun außerhalb Deutschlands befand. Rudolf Olden war vor allem daran gelegen, dass die deutsche Gruppe auf allen Internationalen PEN-Kongressen vertreten war, und er sparte weder Zeit noch Mühe, um international angesehene Mitglieder davon zu überzeugen, als Delegierte zu fungieren, denn in den folgenden 16 Jahren war Deutschland im Internationalen PEN nur noch durch die Exilautoren vertreten. Olden »wollte das Mögliche: die internationalen Kongresse mit ihrer Publicity als Forum nutzen, um auf die Zustände in Deutschland, insbesondere die Unterdrückung der Intellektuellen, hinzuweisen und Resolutionen zugunsten inhaftierter Schriftsteller einzubringen.«259 Das Resultat war, dass auf diesen Kongressen tatsächlich regelmäßig Resolutionen über das Los der exilierten Schriftsteller angenommen wurden. Dennoch mutet es uns im Rückblick naiv an, wenn Heinrich Mann und Olden ausführlich darüber korrespondierten, ob Klaus Mann oder Feuchtwanger auf den PEN-Kongressen in Barcelona (1935), in Buenos Aires (1936) und in Paris (1937) eine Rede über die von Hitler ausgehende Bedrohung halten sollten: »›Wer wird für unsere Gruppe sprechen?‹ wird in vielen Briefen diskutiert. Glaubten sie wirklich, von einem Schriftstellerkongress aus die Welt alarmieren zu können?« (Etwas Seltenes, 23) Am groteskesten findet Gabriele Tergit einen Brief des englischen Lyrikers Hermon Ould, der im August 1939, also wenige Wochen vor Kriegsausbruch, an Olden schrieb: Emil Ludwig [damals ein populärer Biograph mit Millionenauflagen] fand, dass im Kriegsfall die PEN-Zentren zusammengerufen werden sollten, um sofort etwas zu tun. Diese Idee erschien mir nicht nur unpraktisch, sondern offenbarte einen rührenden Glauben an die Macht von uns Schriftstellern, mit einer wirklichen politischen Krise fertig zu werden. An solche Kleinigkeiten wie Visas und Transport, wenn ein Krieg ausbricht, scheint er nicht gedacht zu haben. (Etwas Seltenes, 23 f.)

Die Weltfremdheit der europäischen Autoren lässt sich nicht klarer demonstrieren. 259 Werner Berthold, »Der deutsche PEN-Club im Exil. Bericht aus ungedruckten Materialien der Deutschen Bibliothek«. In: Günther Pflug u. a. (Hgg.), Bibliothek – Buch – Geschichte. Kurt Köster zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1977, S. 531 – 557; hier S. 539.

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Ferner muss man zugeben, dass die neu gegründete Gruppe zwischen 1934 und 1941 weder öffentliche Lesungen abhielt noch etwas publizierte. Erst 1941 sollte sich das mit der Neugründung der deutschen Gruppe ändern. Durch den PEN-Club konnten die exilierten Schriftsteller leichter Kontakt zu den einheimischen Schriftstellern in ihrem Gastland finden, konnten an Veranstaltungen ihres eigenen Zentrums teilnehmen und so leichter die Verbindung mit ihren aus Deutschland geflohenen Kollegen halten, mit denen sie berufliche und persönliche Belange diskutieren konnten. Durch ihre PEN-Mitgliedschaft gehörten sie schließlich einer anerkannten internationalen Vereinigung an, die nicht nur, wenn auch bescheidene, materielle Hilfe gewähren konnte, sondern in manchen Fällen durch ihren Mitgliedsausweis mit Lichtbild, der auf Anregung des praktisch denkenden Oskar Maria Graf eingeführt wurde, sogar oft den einzigen Identitätsausweis zur Verfügung stellte. Kurz gesagt, sie erhielten »eine (wenn auch nur beschränkte) Möglichkeit, die Isolation der Exilexistenz zu durchbrechen.«260 Aus diesem Grunde liefen gerade 1938, nach dem ›Anschluss‹ Österreichs, an das Deutsche Reich, und 1939 eine Reihe neuer Aufnahmeanträge ein.261 Nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 bemühte sich Olden um die Rettung bedrohter Schriftsteller in Österreich, und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem englischen PEN. Olden war unermüdlich mit der Visumsbeschaffung für geflohene Schriftstellers beschäftigt. Er und Max Herrmann-Neiße schrieben pausenlos Gutachten für die Asylsuchenden. Im Oktober 1938 gründete der englische PEN einen Fonds für geflüchtete Schriftsteller, der sich schließlich auf £ 1000 belief; er richtete Englischkurse ein, Einführungen in Bibliotheken, Mitgliedschaften im Gewerkschaftsklub und gab Empfehlungen für gesellschaftliche Veranstaltungen. 1939 war es den Bemühungen des englischen PEN zu verdanken, dass etliche Schriftsteller, die wie in einer Falle in Prag saßen, in den letzten Tagen vor dem Einmarsch deutscher Truppen noch ein englisches Visum erhielten. Im selben Jahr 1939 stand das englische PEN-Zentrum in Verbindung mit dem britischen Home Office, um den nach England geflüchteten Exilschriftstellern helfen zu können, die als enemy aliens, also als feindliche Ausländer, eingestuft worden waren. Und nach Kriegsausbruch Anfang September 1939 versuchte man auch, die unmittelbar danach in Frankreich internierten emigrierten deutschen Schriftsteller frei zu bekommen. – Der für den 3.–7. September 1939 in Stockholm geplante XVII.

260 Ebd. 261 Die österreichischen Schriftsteller wurden jedoch nicht Mitglieder der deutschen Gruppe, sondern gründeten 1938 ihre eigene Exil-Gruppe mit Robert Neumann als Sekretär und Franz Werfel als offiziellem Präsidenten.

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Internationale PEN-Kongress konnte infolge des Kriegsbeginns nicht mehr stattfinden. Mit der Invasion Frankreichs, wo Heinrich Mann im Exil lebte, sowie der Internierung Rudolf Oldens und Friedrich Burschells im Juni 1940 wurden die Aktivitäten des deutschen Exil-PEN zunächst eingestellt, so dass er einige Monate lang nicht mehr existierte. In dieser Zeit geschah das Unglück, dass Olden und seine Frau auf dem Weg nach Amerika Opfer des U-Bootkrieges wurden. Mit dem Tode Oldens und dem Ende der Internierung der enemy aliens im Herbst 1940 ergab sich also die Notwendigkeit, den Exil-PEN neu zu begründen. Anfang 1941 beauftragte Hermon Ould, der Generalsekretär des Internationalen PEN, den ebenfalls in London exilierten Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr, eine neue deutsche Gruppe des PEN aufzubauen. Friedrich Burschell, der von dem früheren PEN-Sekretär Rudolf Olden dazu designiert worden war, war zunächst der einzige Sekretär der neuen Gruppe. Im April 1941 nahm er jedoch den zwei Monate zuvor aus dem Internierungslager entlassenen Richard Friedenthal als Mitglied und Sekretär auf, so dass es zunächst zwei Sekretäre gab. Es war offensichtlich nicht einfach, den deutschen PEN in England neu zu begründen. Die alte deutsche Exil-Gruppe des PEN hatte sich so gut wie verlaufen, und es gab nicht einmal mehr eine Mitgliederliste. Wegen des herrschenden Krieges und der Isolierung Englands war eine Wiederherstellung der von Rudolf Olden gesammelten internationalen Gruppe ohnehin nicht möglich. Inzwischen waren viele deutsche Exilautoren, vor allem die vorher in Paris und an der französischen Riviera (Sanary-sur-Mer) ansässigen, nach Amerika weiter geflohen bzw. beim deutschen Einmarsch in Frankreich Opfer der Nazis geworden. Die einzige Möglichkeit bestand deshalb nur darin, die in England exilierten deutschen Schriftsteller zu sammeln. Damit war die deutsche Gruppe nicht nur von vornherein dazu verurteilt, klein zu bleiben, sondern man musste auch weniger bedeutende Bewerber akzeptieren. 1942 gab es insgesamt 34 Mitglieder, unter ihnen, neben dem Vorstand, Martin Beheim, Monty Jacobs, Peter de Mendelssohn, Werner Milch, Wilhelm Sternfeld, Alfred und Wilhelm Unger sowie – Gabriele Tergit. Eine einflussreiche große Gruppe war der deutsche PEN damit nicht, aber da die meisten Mitglieder im Großraum London lebten, hatten sie den Vorteil, dass sie sich regelmäßig treffen konnten. Sie gaben sich eine Satzung und erhoben, wenn auch bescheidene, Mitgliedsbeiträge: Die Beitrittsgebühr betrug 5 sh, der Jahresbeitrag 2 sh. 6 d. Der englische PEN verlangte erheblich mehr. Rudolf Olden schrieb am 31. Dezember 1938 an Gabriele Tergit: »Pen-Club? Ich sehe aus meiner Liste, dass Sie nicht drin sind. Waren Sie in Berlin Mitglied? Aber auch sonst können Sie es natürlich werden, und ich lade Sie hiermit dazu ein (Wer könnte, außer mir, Ihr Pate sein?)« (DNB) Am 19. Januar 1939 erkundigte er sich noch einmal bei ihr : »Was für einen Pen Club meinen Sie? Den deutschen oder den englischen? In beiden kann man doch

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kein Geld verdienen, sondern nur welches ausgeben. Des ersteren Sekretär bin ich. Und ich freue mich natürlich, wenn Sie zu uns kommen. Aber deshalb müssen Sie doch nicht. Ich erledige das ›in due course‹ auch so.« (DNB) Gabriele Tergit schrieb an Olden, sie sei 1931 bis 1933 in Berlin PEN-Mitglied gewesen und als altes Mitglied würde sie gern wieder eintreten. Am 3. März 1939 hieß Olden sie offiziell als Mitglied willkommen und fragte sie, ob sie eine »Internationale Mitgliedskarte« haben wolle. (DNB) Was alle Mitglieder des Exil-PEN auszeichnete, war auch bei der Neugründung wieder eine aktive antinazistische Grundeinstellung, also eine gemeinsame politische Grundhaltung. So hieß es in der neuen Satzung ausdrücklich: Der deutsche P.E.N.-Club dient dem Zusammenschluss deutscher antinazistischer Schriftsteller. Sitz ist London. Maßgebend sind die Grundsätze des Internationalen P.E.N.-Clubs: die »Förderung von Verständnis und gutem Willen zwischen den Rassen und Nationen; besonders die Pflege literarischer Beziehungen über die Staatsgrenzen weg. Voraussetzung für die Aufnahme ist somit neben literarischen Bestrebungen aktive anti-nazistische Gesinnung und Einstellung.262

Von politischer Abstinenz war in der Satzung keine Rede, im Gegenteil: Der Kampf gegen den Nationalsozialismus war erwünscht. Die Vereinigten Staaten waren inzwischen zum wichtigsten Exilland der deutschen Schriftsteller geworden, aber auch Dänen, Norweger, Franzosen, Belgier, Niederländer usw. fanden dort Zuflucht. Infolgedessen wurde am 25. Mai 1941 bei einem grandiosen Dinner im New Yorker Biltmore Hotel ein »European P.E.N. in America« ins Leben gerufen, wobei zahlreiche amerikanische und europäische Schriftsteller Reden hielten, unter ihnen Stefan Zweig, Ferdinand Bruckner und Fritz von Unruh. Der Internationale PEN scheint daraufhin befürchtet zu haben, durch die amerikanische Neugründung für die Dauer des Krieges in den Hintergrund gedrängt zu werden. Um seine fortdauernde Funktionsfähigkeit unter Beweis zu stellen, organisierte er deshalb in geradezu unziemlicher Hast den XVII. Internationalen PEN-Kongress vom 10.–13. September 1941 in London, bei dem vor allem die Kriegssituation die Themenwahl bestimmte.«Die Abwehr des Angriffs der faschistischen Mächte durch die westlichen Demokratien« wurde dabei »als Kampf auch um die Freiheit des Geistes gesehen. Der deutschen Frage ist ein eigenes Thema gewidmet: ›Germany Today and Tomorrow‹ [›Deutschland heute und morgen‹].«263 Die deutschen Sprecher waren Alfred Kerr, Wilhelm Wolfgang Schütz, der »vom inneren Widerstand in jenem Land [sprach], von der Klarsicht des PEN, der Deutschland nicht für identisch mit dem Nationalsozialismus hielt«, 262 Zitiert nach Der deutsche PEN-Club im Exil. 1933 – 1948, S. 372. 263 Ebd., S. 362.

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und Erika Mann, die, wie Thornton Wilder und John Dos Passos, aus den Vereinigten Staaten nach London gekommen war.264 Damals aus den Vereinigten Staaten nach England zu kommen, war wegen der deutschen Luftangriffe nicht ganz ungefährlich. Gabriele Tergit berichtet in ihren Erinnerungen über den Kongress, an dem auch sie teilnahm: Dos Passos stand […] unter dem Podium, merkwürdig bescheiden: »Wir flogen«, begann er. »Werden wir abgeschossen werden? fragten wir einander. Aber wir wussten, wir müssen auf die kleine Insel fliegen, wir müssen ihnen zeigen, wir gehören zu euch. Ihr seid nicht allein in eurem Freiheitskampf.« Ich sehe Dos Passos dort stehen, ein Mensch, wie man ihn sich wünscht, ein Teilnehmender, ein Mitfühlender. Zwei große Amerikaner [Dos Passos und Thornton Wilder], die ihr Leben riskierten, um uns allen zu zeigen, hier findet der Kampf gegen das Böse statt. Friedenthal, gewiss kein Pathetiker, sagte zu mir : »Wunderbar gewesen, nicht?« (Etwas Seltenes, 56 f.)

Die Konkurrenzangst des Exil-PEN vor der amerikanischen Neugründung sollte sich als überflüssig erweisen. Die New Yorker Gruppe stellte langfristig keine Konkurrenz für die Londoner Gruppe dar, sondern löste sich einfach auf, als ob sie nie gegründet worden wäre. Zentrum und Forum der deutschen Exilanten in Amerika war das amerikanische Emigrantenblatt Aufbau, das am 1. Dezember 1934 zunächst als Vereinsblatt des »German Jewish Club«, des späteren »New World Club«, erschien und sich rasch zum wichtigsten Informationsorgan für jüdische und andere deutschsprachige Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten entwickelte. Bekannte Emigranten wie Albert Einstein, Thomas Mann und Stefan Zweig waren zeitweilig Mitglieder des Herausgebergremiums. Unter den Autoren befanden sich einige der bekanntesten deutschen Emigranten, u. a. Hannah Arendt, Max Brod, Oskar Maria Graf, Heinrich Eduard Jacob, Ludwig Marcuse, Hertha Pauli, Alfred Polgar, Curt Riess, Hans Sahl, Will Schaber, Gershom Scholem und Carl Zuckmayer. Chefredakteur war ab 1939 der 1893 in Berlin geborene Manfred Georg (e), mit dem Gabriele Tergit in brieflichem Kontakt stand. George war im Berlin der Weimarer Republik ein bekannter linksliberaler Journalist und Theaterkritiker und Feuilletonchef der Abendzeitung Tempo des Ullstein Verlags gewesen. Als Herausgeber des Aufbau setzte er ein wöchentliches Erscheinen durch, und es gelang ihm, die Auflage innerhalb von fünf Jahren von 8,000 auf 40,000 zu steigern. Bereits 1953, noch vor ihrer Amtszeit als PEN-Sekretärin,

264 Hilde Spiel, »Verlorene Liebesmüh? Richard Friedenthal und der PEN«. In: Klaus Piper (Hg.), Richard Friedenthal, … und unversehens ist es Abend. Von und über Richard Friedenthal.: Essays, Gedichte, Fragmente, Würdigung, Autobiographisches. München, Zürich 1976, S. 268.

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schrieb Gabriele Tergit für ihn anlässlich seines 60. Geburtstages folgendes Gedicht (!): Lieber George zum sechsten Mal Nullt sich die Geburtstagszahl Was für eine gewaltige Zeit! Und Sie immer mit dem Füll [sic] bereit! Wildwestroman Und Volkszeitungsbeginn Und die femmes savantes Im alten Berlin Und wie in Insterburg angegeben Begann mit Tempo ein neues Leben Und dann Herzl und Prag Und »Aufbau« durch Untergang So war es, so ging es Dreißig Jahre lang! Nur immer so weiter von hit zu hit Das wünscht Ihnen Ihre Zeitgenossin Tergit London S.W.15 14. Oktober 1953 315 Upper Richmond Rd.

Als George am 31. Dezember 1965 starb, schickte Tergit als Sekretärin des Auslands-PEN folgenden offiziellen Brief an den Aufbau, in dem sie die Verdienste des Verstorbenen würdigte: Sehr geehrte Herren, wir möchten Ihnen zum Verluste Ihres Chefredakteurs, der zugleich unser Mitglied war, unser Mitgefühl ausdrücken. Mit Manfred George geht eine Epoche der deutschjüdischen Emigration zu ende [sic!]. Der »Aufbau« war ein Band der Verstreuten, ein Halt für die Entwurzelten, ein praktischer Führer für Emigranten – wie bewerbe ich mich um einen Job – in den U.S.A. Um Manfred George sammelten sich hervorragende frühere deutsche Journalisten. Seine Leser wurden in die weltweite Politik Amerikas eingeführt, […]. Der Suchdienst des »Aufbau« war beispielhaft. Manfred George betonte immer wieder, was Amerikas Wissenschaft, Medizin, Literatur, Kunst dieser Emigration verdankte. Wie er mit dieser stolzen Haltung die Wertschätzung der Immigranten erhöhte, gehört zu den größten Erfolgen eines einzelnen Mannes Gabriele Tergit, Sekr. PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Bitte wenden! Falls Sie diese kleine Würdigung veröffentlichen, fügen Sie bitte hinzu

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Die dreißig Jahrgänge des ›Aufbaus‹ sind wahrscheinlich die wichtigste Quelle zur Geschichte und Soziologie dieser Immigration. (7. Januar 1966, DLA)

Nach Manfred Georges Tod schrieb Gabriele Tergit hier und da selbst auch für den Aufbau. Am 4. September 1942 fand die erste Mitgliederversammlung des neu gegründeten Londoner Exil-PEN statt, in der Alfred Kerr als Präsident, Friedrich Burschell und Friedenthal als Sekretäre und Leon Zeitlin als Schriftführer und Kassenwart bestätigt wurden. Der Club hielt nicht nur Mitgliederversammlungen ab, sondern er führte auch eine ganze Reihe anderer Veranstaltungen durch, wie Vortragsabende und Gedenkfeiern, so schon am 12. Mai 1942 eine Veranstaltung im British Austrian Club, auf der ein Appell deutscher Schriftsteller in Moskau (Johannes R. Bechers, Friedrich Wolf, Erich Weinert u. a.) debattiert wurde, Gabriele Tergit aus ihrem in Arbeit befindlichen Romanmanuskript der Effingers vorlas und Leon Zeitlin über »Ideologische Voraussetzungen des Wiederaufbaus« sprach. Am 28. Dezember 1943 hielt die Tergit einen Vortrag über »Deutsch-jüdische Briefe aus drei Jahrhunderten«. Am 8. April 1952 sprach Heinrich Reifenberg über das Thema »Hat die Großstadt eine Zukunft?« Bei anderen Treffen hielt Alfred Kerr Vorträge, u. a. zum Thema »Nietzsche und die Romantik«, und er ehrte Jubilare und Verstorbene wie Robert Musil, Carl Sternheim, Franz Werfel und Alfred Wolkenstein. Aber nicht alle Programmideen der Tergit waren willkommen. Als Alfred Kerr am 4. Juli 1945 eine Diskussion über Zionismus vorschlug, stieß er auf den Widerstand einiger Vorstandmitglieder, »mit Begründungen, die nicht so sehr zwischen ›politisch‹ und ›literarisch‹ als zwischen ›deutsch‹ und ›jüdisch‹ eine Grenze zogen«:265 Ein Vorschlag Dr. Kerrs, Gabriele Tergit über bezw. gegen den Zionismus sprechen zu lassen, stößt auf die Bedenken der andern Vorstandsmitglieder. Friedenthal und Sternfeld halten es für bedenklich, ein so heikles Thema zur Diskussion zu stellen, Doberer vertritt die Ansicht, dass das Thema nicht zum Aufgabenkreis einer deutschen literarischen Organisation gehöre. Dr. Kerr glaubt, dass Streitgespräche im Rahmen der Organisation ohne Gefährdung der Sektion gehalten werden könnten.266

Der Londoner Exil-PEN und das neue PEN-Zentrum Deutschland Am 14. Februar 1945 versuchte Hermon Ould, der Sekretär des Internationalen PEN, an die abgerissenen Fäden zwischen den nationalen Zentren wieder anzuknüpfen, und er erbat sich deshalb von ihnen Berichte über ihre Aktivitäten in 265 Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 133. 266 Protokoll der Vorstandssitzung vom 4. Juli 1945 (DNB).

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den vergangenen Jahren und ihre Pläne für die Zukunft. Die deutsche Gruppe schickte im März 1945 einen solchen Bericht, wonach sie 42 Mitglieder umfasste und insgesamt 30 Treffen und Lesungen veranstaltet hatte. Ein großer Teil der Mitglieder war auf die eine oder andere Weise an den Kriegshandlungen beteiligt gewesen, Kerr und Friedenthal an der Propagandaarbeit gegen das Dritte Reich. Als Zukunftsaufgabe sah man die Etablierung eines neuen PEN-Zentrums in Deutschland an. Die Fühler dazu streckte die deutsche Gruppe zuerst beim XVIII. Internationalen PEN-Kongress vom 2. bis 6. Juni 1946 in Stockholm aus, wobei sie von ihrem in Schweden tätigen Mitglied, Professor Walter A. Berendsohn, vertreten wurde, der sich damals schon wissenschaftlich mit der deutschen Exilliteratur befasste. Dabei ging es hier zunächst nur darum, »die Möglichkeit einer Wiedererrichtung des deutschen PEN in Deutschland zu ergründen.«267 Zu diesem Zweck wurde auch Kontakt zu nicht ausgewanderten, integer gebliebenen Autoren in Deutschland aufgenommen, u. a. zu Werner Bergengruen, Erich Kästner, Johannes Tralow und Ernst Wiechert. Der aus dem Moskauer Exil heimgekehrte Johannes R. Becher nahm von sich aus Kontakt mit der Londoner Gruppe auf. Nur eine Minderheit der Mitglieder des Exil-PEN entschloss sich, nach Deutschland zurückzukehren, sei es weil sie sich in ihrem Gastland zu sehr eingelebt hatten, sei es aus Altersgründen oder weil sie Deutschland gegenüber allzu berechtigte Ressentiments hegten. Gabriele Tergit äußerte sich dazu folgendermaßen: Emigranten sind weder nach Deutschland noch nach Österreich zurückgekehrt, weil die Juden unter ihnen – und das ist die Majorität auch der Schriftsteller – auf keinen Friedhof zurückkehren wollten und für sie sind diese Länder Friedhöfe der Menschen, die sie geliebt haben, und weil ihre Kinder sich am neuen Wohnort verwurzelt haben. Auch Ferdinand Freiligrath wollte aus diesem Grund ungern nach 1870 nach Deutschland zurückkehren. Er hatte nämlich englische Enkel.268

Der Exil-PEN hatte aber nicht die Absicht, damit dem Wiederaufbau des PENZentrums in Deutschland im Wege zu stehen, sondern strebte vielmehr die enge Zusammenarbeit mit einer solchen Gruppe an und brachte dies auch auf den Internationalen PEN-Kongressen zum Ausdruck. So wurde bereits auf dem XIX. 267 Aus der von Berendsohn eingereichten und einstimmig angenommenen Resolution: »to find out what are the possibilities of re-establishing the German P.E.N. in Germany.« Zitiert nach: Der deutsche PEN-Club im Exil. 1933 – 1948, S. 379. 268 Brief [?] ohne Adressat, ohne Anrede und ohne Datum (DLA). Vgl. dagegen Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 163: »Wenn auch von den jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland nur 3 – 4 % zurückkehrten, so lag doch in der Gruppe der Schriftsteller und Journalisten der Anteil der Rückkehrer deutlich höher : 20 – 25 % der deutschen Autoren jüdischer Herkunft kehrten aus dem Exil zurück.«

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Internationalen PEN-Kongress in Zürich (2.–6. Juni 1947), an dem Ernst Wiechert, Erich Kästner und Johannes R. Becher als Gäste teilnahmen, über den Antrag der deutschen Exil-Gruppe auf Wiedererrichtung eines innerdeutschen PEN diskutiert. Thomas Mann setzte sich nachdrücklich für die Deutschen ein, »doch die Belgier protestieren, und Vercors will sie nur zulassen, wenn sie noch eine Weile unter internationaler Kontrolle stehen. […] Beim Schlussbankett verbürgt sich Erich Kästner für Anstand und Moral in dem neu zu errichtenden deutschen P.E.N.«269 Man einigte sich auf die Einsetzung einer vorbereitenden und überwachenden Kommission. Gabriele Tergit stellte später fest: »Die rasche Wiedererrichtung eines PEN-Zentrums auf deutschem Boden ist der Initiative Alfred Kerrs und Richard Friedenthals zu danken und dem Auftreten Thomas Manns und Professor Hermann Friedmanns […] auf dem Kongress in Zürich 1947.«270 Beim XX. Internationalen PEN-Kongress (32. Mai bis 5. Juni 1948) in Kopenhagen, an dem nicht nur Hermann Friedmann und Richard Friedenthal als offizielle Delegierte der Londoner Gruppe, sondern auch Gabriele Tergit teilnahmen, gelang es Friedmann, die Delegierten von der Berechtigung der Neugründung eines PEN-Zentrums in Deutschland zu überzeugen. So wurde nach langen Debatten im Exekutiv-Komitee und dem vorbereitenden Ausschuss hier die Wiederaufnahme eines neuen deutschen PEN-Zentrums in den internationalen Verband einstimmig beschlossen. 1948 fand in Göttingen die konstituierende Versammlung zur Neugründung des deutschen PEN-Clubs statt, der sich »P.E.N.-Zentrum Deutschland. Sitz München« nannte. Mit dieser Neugründung des deutschen PEN, dessen Vertreter am nächsten Internationalen Kongress 1949 in Venedig voll anerkannt teilnahmen, ergab sich die Frage, ob der »Deutsche PEN-Club im Exil« damit nicht eigentlich überflüssig geworden war. Sie wurde dadurch geklärt, dass auf der Mitgliederversammlung vom 26. August 1948 beschlossen wurde, ihn umzubenennen in »P.E.N.-Club deutscher Autoren im Ausland, Sitz London.« Der Club, der weiterhin ein Sammelbecken aller derer blieb, die in ihrem Asylland, also nicht nur in England, Wurzeln geschlagen hatten und sich nicht entschließen konnten, nach Deutschland zurückzukehren, hatte damals immerhin 80 Mitglieder ; Mitte der neunziger Jahre waren es ca. 140, nun allerdings vor allem deutsche Autoren, die freiwillig im Ausland lebten. Obwohl der Mitgliedsbeitrag bescheiden war, konnte Gabriele Tergit als Schatzmeisterin zum Beispiel 1956 die Rechnungen von PEN-Veranstaltungen nicht bezahlen, weil kein Geld mehr in der Kasse war. Von den rund 80 Mitgliedern hatten 19 ihren 269 Hilde Spiel, Welche Welt ist meine Welt? Erinnerungen 1946 – 1989. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 45. 270 Gabriele Tergit, P.E.N. Zentrum deutscher Autoren im Ausland, S. 5.

Gabriele Tergit und der Exil-PEN

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Mitgliedsbeitrag nicht gezahlt; das ganze Jahreseinkommen war 60 Pfund. Tergit schrieb an Alfred Unger : »Sie sind sich hoffentlich darüber klar, dass ich weder die Universitäts- noch die Weinrechnung bezahlen kann. Es kommen auch noch 4.6.– hinzu die mein Mann fürs Essen bezahlt hat.«271 An dem Kongress in Venedig hatte auch Gabriele Tergit teilgenommen, ohne sich allerdings dort im Kreise ihrer Schriftstellerkollegen sehr wohl zu fühlen: »Ich war nicht sehr glücklich in Venedig«, schrieb sie am 29. September 1949 an Armin T. Wegner, »Im Grunde ist jeder mit jedem verfeindet oder wenigstens nicht freundlich gesinnt. Um so schöner war die Stunde am Canale Grande am Sonntag.« (DLA) Noch schärfer geht sie in einem Brief an Gertrud Isolani dabei mit der Haltung ihrer jüdischen Glaubensgenossen ins Gericht: An sich war der Kongress [in Venedig] für mich viel unerfreulicher als der Kopenhagener. Jene klare Stellungnahme der Dänen fehlte. Es ist alles verworren. Ein Teil der deutschen Juden, auch z. B. der von mir ungemein geschätzte Wilhelm Herzog finden alles was Hitler tat incl. Auschwitz gering gegenüber dem englischen Verhalten während des Kriegs, Internierungen und der Haltung in der Palästinafrage. Wir, die wir in England ungemein viel Gutes und Anständiges erlebten, sehen mit Entsetzen wie völlig massstabslos sich unsere Glaubengenossen verhalten. […] Kurz und gut, jene herrlich saubere Atmosphäre von Kopenhagen fehlte. (Brief vom 25. September 1949; DLA)

Für Gabriele Tergit war der PEN-Club ohnehin »eine gesellschaftliche Angelegenheit, sehr nett, um alte Freunde zu treffen.« Später meinte sie einmal, der PEN-Club sei »eines der Geheimnisse warum es sich hier [in London] so gut lebt.«272 Die Bundespentreffen fand sie, da sie dort befreundete Kollegen treffen konnte, deshalb immer interessanter als die internationalen.273 Am 19. Juli 1957 schrieb sie an Annamarie Mommsen, sie habe sich zehn Jahre über den PENClub geärgert, habe sich nicht vorstellen können, dass die Mitglieder etwas anderes wollen sollten, als einen netten Freundeskreis zu bilden. »Schließlich kam ich in den Vorstand. Aber [Hans] Flesch[-Brunningen] ein ›frustrierter‹ Angeber ist Vorsitzender und auch er ist von Ehrgeiz zerfressen.« (DLA) Klagen über die Präsidenten des Exil-PEN waren für Gabriele Tergit nichts Neues. Schon am 6. August 1952 hatte sie sich bei Richard Friedenthal beklagt, dass sie eigentlich nur eine Gruppe Gleichwertiger für einen Vorstand hätten: Alfred Unger, Egon Lehrburger (eig. Egon Larsen), [Felix] Langer, sie selbst, den jungen Behr, [Hans] Flesch[-Brunningen] natürlich, aber niemanden, der selbstverständlich Vorsitzender werden sollte: »Könnten wir nicht eine Gruppe wählen,

271 Brief an Alfred Unger vom 24. Juli 1956 (DLA). 272 Brief an Irmela Fliedner vom 23. Mai 1979 (DLA). 273 Brief an Georg Heinz vom 28. September 1975; DLA.

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in der jeder nur 3 Jahre amtieren dürfte und in der immer ein Teil neu optiert werden müsste nach sagen wir 2 Jahren?« (DLA) Mitte der fünfziger Jahre schlugen Präsident und Generalsekretär des Internationalen PEN vor, die Wahlstimmen des P.E.N.-Clubs deutscher Autoren im Ausland sollten mit denen des Bundes-PEN verschmolzen werden. Hans FleschBrunningen, damals Präsident, und Wilhelm Unger, Sekretär, setzten sich, erfolgreich, vehement dagegen zur Wehr, und zwar nicht nur mit dem Hinweis auf die Geschichte des Clubs als legitime Nachfolgeorganisation des vorhitlerschen deutschen PEN-Clubs, sondern mit der Begründung: »Being not members of the PEN Centre Bundesrepublik (German) we have no direct influence on the way their delegates would vote. The merging of our vote with theirs would merely mean depriving this group of their vote altogether.«274 Es ging, kurz gesagt, um die Bewahrung der Eigenständigkeit der Gruppe, deren Sekretärin Gabriele Tergit in den folgenden 25 Jahren sein sollte. Am 6. November 1957 wurde eine Vorstandssitzung abgehalten, bei der sie die Meinung vertrat, die Gruppe sollte sich auflösen: Aber Kalenter sagte, er wäre dann obdachlos. Als zweite Lösung schlug ich Verlegung in die Schweiz vor. Dagegen waren Unger, Jäger, Flesch und Langer. Dann erklärte Flesch, dass er Langer zum Vorsitzenden vorschlage. Jäger griff ein und erklärte, so ginge das nicht. Flesch habe kein Recht, seinen Nachfolger zu bestimmen. Darauf sagte Flesch also Langer, Tergit, Zeitlin. Ich finde es grausig, dass es nun so gekommen ist, dass ich mich in direkter Konkurrenz mit Langer befinde. Sie wissen, dass ich das nie gewollt habe. Es ist mir schrecklich. Aber ich sehe keine Alternative. Eigentlich kann ich doch nur sagen, bitte wählen Sie Langer, denn Langer betrachtet die Sache als fait accompli. Aber was wird dann aus unserer kleinen Gruppe?275

Man machte weiter… 1972 gab es wiederum Bestrebungen im Internationalen PEN, das Londoner Zentrum aufzulösen und die Mitglieder in den Bundes-PEN zu integrieren. Robert Neumann schlug Heinrich Böll, damals Präsident des Internationalen PEN, in einem Offenen Brief die Auflösung des Londoner Zentrums vor. Gabriele Tergit verteidigte diesmal in einem Gespräch mit Heinrich Böll die Eigenständigkeit der Londoner Gruppe: Über unser Zentrum sprach ich ausführlich im November mit Böll. Ich sagte, dass ich weiss, dass die Internationale findet, nun Schluss mit uns, aber wir wollen das Kind beim Namen nennen. Glauben Sie […] der Bundes Pen wäre glücklich 70 oder 80 neue Mitglieder bei sich zu haben, von denen sie nichts wissen und von denen mindestens 50 Juden sind[?] Böll zögerte einen Augenblick, aber Sie würden doch aufgenommen werden. Aber ich sagte, wir möchten nicht gern uns wo hinwenden, wo wir rausge274 Undatiertes Rundschreiben von Wilhelm Unger und Dr. Hans Flesch (DLA). 275 Brief an Wilhelm Sternfeld vom 6. November 1957 (DLA).

Gabriele Tergit und der Exil-PEN

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schmissen wurden. Und auch dem englischen PEN kann man diese Anzahl jüdischer Mitglieder aus allen möglichen Ländern nicht zumuten, sagte ich. Also im Augenblick sind wir noch da.276

Schon Mitte der fünfziger Jahre war deutlich geworden, dass die Tergit Ressentiments gegenüber Autoren der Bundesrepublik hatte. Dies kam innerhalb des Exil-PEN beispielsweise zum Ausdruck, als es um den engeren Kontakt mit bundesrepublikanischen Schriftstellern ging. Als das bevorstehende Auftreten Heinrich Bölls diskutiert wurde, berichtet das Protokoll der Vorstandssitzung vom 6. Oktober 1955: »Unger berichtet, dass Gabriele Tergit es unerhört findet, dass wir so viel Deutsche bei uns sprechen lassen.« (DNB) Schon zwei Jahre zuvor hatte sie sich gegen den Empfang deutscher Gäste durch das Zentrum ausgesprochen.277 Dieses Ressentiment war offenbar durch ein andauerndes Misstrauen gegenüber allen Schriftstellern begründet, die das Dritte Reich in Deutschland überlebt hatten, wobei natürlich alle gegen einen Mann wie Böll gerichteten Animositäten jeder Grundlage entbehrten. Friedmanns in Göttingen proklamierte Politik der »Nichtexistenz einer OstWest-Spannung im deutschen Schrifttum« sollte sich als Illusion erweisen. Bei dem PEN-Kongress vom 23.–25. Oktober 1951 in Düsseldorf hatten die Vertreter aus dem Osten Deutschlands eine Zufallsmehrheit, so dass Friedmann und Kästner als Präsidenten des PEN-Zentrums Deutschland nicht wieder gewählt wurden, sondern stattdessen Johannes R. Becher, Johannes Tralow und Günter Weisenborn. Als der zum Generalsekretär wiedergewählte Kasimir Edschmid die Wahl nicht annahm, da seine Freunde nicht wiedergewählt worden waren, zogen sich die meisten westdeutschen Mitglieder zurück und begründeten am 3. und 4. Dezember in Darmstadt das »P.E.N.-Zentrum Bundesrepublik Deutschland« mit Erich Kästner als Präsident und Kasimir Edschmid als Generalsekretär. 1953 zählte dieser bundesrepublikanische PEN bereits rund hundert Mitglieder. Die Mitglieder aus dem Osten formierten sich später als »P.E.N.Zentrum Ost und West«, das sich seit 1967 »P.E.N.-Zentrum Deutsche Demokratische Republik« nannte. Die Kontakte zwischen dem westdeutschen PEN und der Londoner Gruppe waren in den fünfziger und sechziger Jahren durch die Personalunion mehrerer führender Mitglieder hergestellt: Richard Friedenthal, Wilhelm Unger, Wilhelm Sternfeld und Hermann Kesten waren in beiden Zentren Mitglied. Die meisten Mitglieder machten sich keine großen Illusionen über die Wirkungsmöglichkeiten des deutschen Exil-PEN, denn es haperte schon an den kleinsten Dingen: 276 Brief an Lotte Hoffmann-Luschnat vom 8. Juni 1972 (DLA). 277 Vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 191.

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Exil in drei Ländern: Tschechoslowakei, Palästina, England

Da man keinen Mitgliedsbeitrag erhob und keine Mitgliedslisten publizierte, wurde der Hauptzweck des PEN, die Isolation der Schriftsteller aufzuheben, nicht erfüllt. Kurt Hiller schlug deshalb schon im Februar 1939 vor, einen Klub zu organisieren, um das bewegte Emigrantenleben von Paris und Prag in das sehr viel einsamer machende London zu verpflanzen. Oldens Antwort ist charakteristisch: »Ich weiß nicht, ob es nicht wenigstens für einen Teil der emigrierten Schriftsteller weit wichtiger wäre, sich in die englische Sprache einzuleben.« Auf der anderen Seite teilte Olden mit Heinrich Mann die idealistische Überzeugung, dass es einem Schriftsteller möglich wäre, durch sein beschwörendes Wort die Welt aufzuklären.278

278 Gabriele Tergit, »Die Exilsituation in England«, S. 137 f.

III. Als der Krieg zu Ende war

Erstes Wiedersehen mit Berlin Schon 1946 hatte sich Gabriele Tergit entschieden, für den 1945 gegründeten Berliner Tagesspiegel zu schreiben, für den sie nun eine Reihe von Feuilletons sowie ihren »Brief aus London« verfasste. Eins der Hauptmotive für diese Tätigkeit war, dass sie auf diese Weise ein Lebenszeichen von sich geben und alte Freunde wiederfinden konnte. Eine weitere Publikationsmöglichkeit in Deutschland ergab sich durch Alfred Döblin. Von einer ihr bekannten Petersburgerin namens Alexandra erfuhr sie, dass dieser, der schon im November 1945 als Literaturinspekteur der französischen Militärverwaltung im Rang eines Obersten nach Baden-Baden gekommen war, dort 1946 eine Kulturzeitschrift mit dem Titel Das goldene Tor gegründet hatte. Sie schickte ihm mehrere Beiträge, die er auch sofort zur Publikation annahm, zumal er sie als Journalistin des Berliner Tageblatts kannte. »[N]atürlich habe ich Sie oft im »Berliner Tageblatt« gelesen«, schrieb er ihr : Es ist sehr schön, dass Sie mir etwas geschickt haben; und ich habe keine Absicht es Ihnen zurückzuschicken, wie Sie sofort unterstellt haben. Die Stücke haben mir recht gut gefallen, und ich werde sie bald, wenn nicht in der ersten Nummer, so doch in der zweiten Nummer unterbringen. Sie brauchen keine Furcht zu haben vor dem »trading with the enemy«, diese Zeitschrift ist lizenziert und sogar unter der Obhut des französischen Militär-Gouvernements, und ich selbst, mit dem Sie verhandeln, bin französischer Bürger. (Brief vom 18. Juni 1946; DLA)

Es waren zum Teil Artikel aus der um 1943 entstandenen Essaysammlung Buch über England, »in der sie ihrem Enthusiasmus über das liberale politische System, den wohltuenden Pragmatismus des britischen ›everyday life‹ und die Vorzüge der Gartenstadtarchitektur Luft machte.«279 Von Tergits Essaysammlung sind im DLA in Marbach a.N. mehrere Typoskriptfassungen erhalten: eine 279 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht im literarischen Werk der Gabriele Tergit. Diss. Aachen [1996], S. 34.

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Als der Krieg zu Ende war

umfangreichere, die die Autorin handschriftlich als »Schmutzexemplar« bezeichnete und die mehr Kapitel über England im Zweiten Weltkrieg, über die englische Politik Hitler gegenüber, über die deutsche Bombardierung Londons enthält; eine gleichsam abgespeckte weitere Fassung konzentriert sich mit einem genauen Inhaltsverzeichnung auf das Lob englischer Kultur, auf englische Wohnkultur, Essen, Zeitung, Kleidung und allgemein auf das Arbeiten der englischen Parlamentsregierung. Im Goldenen Tor erschien aus dieser Essaysammlung beispielsweise der Text »Die Landschaft«.280 Da die Post jedoch noch nicht richtig funktionierte, erfuhr die Tergit nichts von den Veröffentlichungen selbst, und auch Honorare empfing sie zunächst nicht, denn es gab noch keinen Devisentransfer. Sie ließ dann ihr Honorar (160 RM) an Heinz’ Kusine Heide Sachs in Berlin überweisen, die sich überschwänglich dafür bedankte.281 Walther Kiaulehn informierte sie daüber, dass die Amerikaner in ihrer Besatzungszone seit Oktober 1945 in München eine große Zeitung, die Neue Zeitung, mit Erich Kästner als Feuilletonchef herausgaben, die schnell eine Millionenauflage erreichte. Sie schickte der Zeitung ihre Artikel ein. Als sie der Redaktion jedoch mitteilte, dass Döblin sie bereits für seine Zeitschrift Das Goldene Tor akzeptiert hatte, schickte Kästner sie ihr mit einem höflichen Brief zurück: »Nun teilen Sie aber in Ihrem Begleitschreiben mit, dass Döblin die Sachen in der französischen Zone verwenden will. Da ein ziemlich lebhafter Zeitschriften-Kontakt zwischen beiden Zonen besteht, kommen die Artikel leider für uns nicht in Frage.«282 Das war bedauerlich, denn das Goldene Tor hatte nur eine Auflage von ein paar tausend. Aber auch Döblin bestätigte ihr, dass sie die Stücke, die sie ihm für seine Zeitschrift angeboten hatte, nicht zugleich anderen Zeitungen und Zeitschriften anbieten könne.283 Am 11. März 1948 sollte Tergit dem Hamburger Springer-Verlag Hammerich & Lesser, mit dem sie damals über ihre Effingers verhandelte, auch das Manuskript des Sachbuchs anbieten: »Übrigens war das Buch erst da und die Veröffentlichung als Artikel folgte nach. Es fehlt noch darin ein Kapitel über Erziehung und Universität, das ich fast fertig habe, und eins über die älteste und größte Industrie Englands, die Wolle. Es ist ein leichtes Buch aber es enthält viele Tatsachen.«284 Zu einer Publikation kam es leider nicht. Trotzdem muss man gestehen, dass eine Veröffentlichung höchstens in den ersten Nachkriegsjahren, kurz nach Entstehung des Typoskripts, interessant gewesen wäre. Heute ist der Inhalt, selbst der gekürzten Fassung, zu zeitgebunden, in zu vieler Hinsicht überholt. 280 Gabriele Tergit, »Die Landschaft«. In: Das goldene Tor. Monatsschrift für Literatur und Kunst. Hg. von Alfred Döblin. 2. Halbband Nr. 10 (1947), S. 868 – 878. 281 Brief von Heide Sachs an Tergit vom 26. Dezember 1946 (DLA). 282 Brief Erich Kästners an Gabriele Tergit vom 22. August 1946 (DLA). 283 Brief Alfred Döblins an Gabriele Tergit vom 5. Juli 1946 (DLA). 284 Brief an Herrn Vorwerk, Verlag Hammerich und Lesser, o.D. [vom 11. März 1948] (DLA).

Erstes Wiedersehen mit Berlin

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Im Frühjahr 1948 wurden die Reifenbergs in England endlich eingebürgert. Gabriele Tergit hat sich danach nie darum bemüht, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen. Ihr Vertrauen in die englische konstitutionelle Monarchie war sichtlich größer als das in die bald gegründete Bundesrepublik mit ihren ehemaligen Nazis oder in die kommunistische Parteiherrschaft der späteren DDR. Wie sie später, 1957, in einem Brief an Willy Haas bekannte, wollte sie nach 1945 mit Deutschland selbst nichts zu tun haben; sie sei eine Berlinerin und sei jedes Jahr lange in ihrer Heimatstadt.285 Kurz nachdem sie die britische Staatsbürgerschaft erhalten hatte,286 flog die Tergit im Mai 1948 zum ersten Mal wieder nach Deutschland, und zwar ganz bewusst nach Berlin. Es war ihre erste Flugreise überhaupt, die erste Reise in zehn Jahren von ihrer neuen permanenten Bleibe aus und obendrein mit einem gültigen, jetzt britischen Pass. Da sie die Reise gut vorbereitet und die Absicht hatte, sie auch journalistisch auszuwerten, schrieb sie an eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften in England und bot ihre Dienste an, u. a. dem 19th Century and After und dem Observer: »[…] as a member of the editorial staff of Pre-Hitler Berliner Tageblatt«, und sie fügte hinzu: »I have, of course, connections in all zones.« (DLA) Am 19. März 1948 schrieb sie in etwas holperigem Englisch an E.W. Dickes vom Manchester Guardian: »I am writing now again all over Germany and I am going on the 1st Mai to Berlin in connection with this work. I will try to go to the Russian Zone as far as they will let me. Can I do anything for you there?« (DLA) Ob diese Kontaktaufnahme zu irgendwelchen Publikationen geführt hat, ist nicht bekannt; es ist allerdings denkbar, dass Tergits mangelhafte Beherrschung der englischen Sprache einer Beauftragung durch britische Publikationsorgane im Wege gestanden hat. Nach Berlin zu fliegen, war der Autorin als einer einfachen Privatperson nicht ohne weiteres möglich; sie brauchte dazu die Genehmigung der britischen Militärbehörden und ging deshalb zu der entsprechenden Londoner Amtsstelle, um eine Reisegenehmigung zu erwirken. Als sie den Grund angab, sagte der diensthabende Offizier zu ihr : »You are trading with the enemy.« »Was«, sagte ich, »ich schreibe Artikel, die Sie sonst aus Steuermitteln bezahlen müssten, bekomme keinen Pfennig dafür, und das nennen Sie, ich mache Geschäfte mit dem Feind.« »We will stop you«, sagte er missgelaunt. »Das können Sie nicht in der französischen Zone«, sagte ich. (Etwas Seltenes, 150)

285 Brief anWilly Haas vom 6. April 1957 (DLA). 286 Eine Hauptvoraussetzung für den Erwerb der britischen Staatsbürgerschaft, die auch für jüdische Flüchtlinge galt, war ein mindestens fünfjähriger Aufenthalt in England. Besonders seit 1947 wurden immer mehr Flüchtlinge eingebürgert.

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Auch in England ließ sich jedoch durch die entsprechenden Beziehungen allerhand arrangieren. So kannte die Tergit einen Helden aus der Schlacht um England, der sie so weiterempfahl, dass sie bald alle Genehmigungen in der Hand hatte. Unterkunft und Verpflegung müsse sie sich allerdings selbst verschaffen. Sie werde bei einer Kusine ihres Mannes wohnen und sich ihr Essen selbst mitnehmen. Heinz zögerte nicht, das letzte bisschen Geld, das man erspart hatte, für die Flugkosten anzugreifen. Sohn Peter ließ es an Sarkasmus nicht fehlen: »Sie fliegt durch die russische Zone«, sagte er. »Weißt du, Papa, da werden wir sie auf gute Weise los.« (Ebd.) Einen Koffer voller Lebensmittel nahm sie mit. Heinz stand auf dem Flughafen von Croyden wie früher auf dem Bahnsteig und winkte ihr zum Abschied zu. Im Flugzeug traf sie als Mitpassagier nach zwanzig Jahren den früheren Referendar wieder, der ihr in Berlin zum ersten Mal die Tür zum Gerichtssaal geöffnet und damit auch die Tür zu ihrem Beruf aufgestoßen hatte. Die Maschine landete auf dem Flugplatz Gatow, dem Flugplatz der Royal Air Force im Südwesten von Berlin. Mit dem Bus fuhr sie zum Lehniner Platz weiter. Sie wohnte bei Heinz’ hochbegabter Kusine Heide Sachs, die eine ganze Reihe von Couplets für Claire Waldorff geschrieben hatte und die nun im zerbombten Haus in Westend mit zwei großen Balkonen, gekacheltem Bad und gekachelter Küche wohnte. Warmes Wasser gab es zwar nicht, aber für die Tergit, die aus dem bescheidenen, puritanischen England kam, war dies alles höchst luxuriös. Wenn sie in den nächsten Jahren – bis 1966 – Berlin besuchte, stieg sie meist in der Pension Banck, Heerstr. 2, Berlin-Westend (später : Berlin-Wilmersdorf, Bundesallee 31a) ab, danach im Hotel am Zoo am Kurfürstendamm. Frau Banck war ursprünglich mit einem »viel älteren Oberst verheiratet, der im Krieg starb« (Etwa Seltenes, S. 186). Als eine kurz danach geschlossene Ehe wieder geschieden wurde und sie dadurch ihre Pension verloren hatte, vermietete sie Zimmer in ihrer großen Wohnung. Schon als der Oberst noch lebte, hatte sie Zimmer an jüdische Damen vermietet und musste erleben, wie diese von der Gestapo abgeholt wurden. Den größten Teil der Wohnung bewohnten nun, 1948, eine Tanzstunden- und Kränzchenfreundin der Tergit namens Grete Latte, die sich Maja nannte, mit ihrem Mann Robert (Bob) Klupp. Grete Latte hatte schon mit neunzehn Jahren, noch vor dem Ersten Weltkrieg, geheiratet und auch zwei Kinder gehabt, hatte dann in den zwanziger Jahren aber ihren Mann verlassen und den Schauspieler Robert Klupp geheiratet, der damals Intendant des Theaters in Darmstadt war. Damit Klupp unter Hitler weiter arbeiten konnte, ließen sie sich scheiden, lebten aber weiter zusammen. Grete Latte musste in einer Fabrik Zwangsarbeit leisten und wurde schließlich in die Hamburger Straße verbracht, dem »Vorhof von Auschwitz«. (Etwas Seltenes, 185) Es gelang Robert immer wieder, die SS-Wachen zu bestechen und sowohl sie als auch ihre Mutter vor der Deportation zu bewahren, bis nach den großen Bombenangriffen

Erstes Wiedersehen mit Berlin

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vom 2. bis zum 26. November 1943, bei dem ganze Stadtteile zerstört wurden, alle Akten verbrannten und Grete damit gerettet war. Sie heirateten 1945 sofort wieder, und später lebten sie in Dahlem. Grete Latte und Robert Klupp gaben der Tergit sofort wieder so etwas wie ein Heimatgefühl. 1970, nach dem Tode von Grete, traf die Tergit Klupp in München wieder. Neben den Klupps traf sie auch ihren alten Kollegen Walter »Karsch, Kahnerts, meinen sehr lieben Kollegen [Maximilian] Müller-Jabusch« und, etwas später »[Annamarie] Mommsen und Ilse Langner und Hertha von Gebhardt wieder.«287 Walter Karsch, der Assistent von Ossietzky an der Weltbühne war, hatte eine jüdische Frau, von der er sich gerade scheiden lassen wollte, als die Nazis an die Macht kamen. Er ließ sich dann erst 1947 von ihr scheiden, als sie sicher war. – Zu Pfingsten 1948 besuchte die Tergit Heinz Reifenbergs alten Freund, den Gewerbelehrer Franz Denner und seine Frau Ilse, mit denen sie bereits eine rege Korrespondenz aufgenommen hatte und denen sie obendrein heißbegehrte Nahrungsmittel schickte. Franz Denner hatte sie in seinen Briefen schon auf die Zerstörung, die sie in Berlin erwartete, vorbereitet: Auf meinem Schulweg [er unterrichtete Werkkunde in Ostberlin und lebte in BerlinGrünau] komme ich täglich durch die Raupachstraße, an die Frau Gabriele Jugenderinnerungen hat. Während dort vor einigen Jahren die kleinen Jungens noch Genickschießerles spielten (»Mensch du hast een Genickschuss, da musste doch umfallen!«) stehen da jetzt nur noch 3 12 Häuser. Im ganzen Bezirk ist kilometerweit alles zerstört, nur wenige Häuser sind bewohnbar. Bei einer Wanderung durch die Trümmer kann man feststellen, dass alle Häuser eigentlich nur aus Bauschutt bestehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das jemals wieder aufgebaut werden soll.« (DLA)288

So lief 1948 die Tergit durch die völlig zerbombten Straßen des Westens, die sie so gut gekannt hatte, von denen jetzt nur noch Fassaden standen. Sie musste die Straßenschilder lesen, sonst hätte sie sie nicht wiedererkannt. »Vom Haus am Landwehrkanal, in dem meine Eltern gewohnt hatten, wo ich von 1908 bis 1928 ein Kind, ein Backfisch, im Krieg, in der Inflation, gelebt hatte, standen die beiden Seiten mit Erkern. In der Mitte war wie ein versteinerter Wasserfall das Treppenhaus eingestürzt.« (Etwas Seltenes, 152) Dieser Gang durch das zerstörte Berlin, sei es im Tiergarten, sei es Unter den Linden, war wie eine Reise in die Erinnerung. Das Berliner Stadtschloss stand 287 Brief an Dora Fehling vom 5. Januar 1977 (DLA). 288 Brief von Franz Denner an Heinrich Reifenberg vom 4. Oktober 1947. Elise Hirschmann (Gabriele Tergit) wurde in der Raupachstraße 9 geboren. »Die Straße existiert heute nicht mehr. Sie führte von der Holzmarktstraße zur Wallner Theater Straße. Der gesamte Block ist mit Plattenbauten der ersten Generation bebaut. Dort, wo die Raupachstraße war, steht das Umkleidehaus eines eingezäunten Sportplatzes.« Jens Brüning in seinem Nachwort zu: Gabriele Tergit, Der erste Zug nach Berlin. Novelle. Hg. und mit einem. Nachw. vers. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin 2000.

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noch – 1948 fand dort im weißen Saal noch eine Ausstellung zur Erinnerung an die deutsche Revolution von 1848 statt. – 1950 entschied Walter Ulbricht, das Schloss als ein Symbol des preußischen Absolutismus zu sprengen und abtragen zu lassen. Der Potsdamer Platz, der einst den Mittelpunkt des alten Berlin gebildet hatte, war nur noch ein einziger Schutthaufen. Trotzdem meinte die Tergit, Deutschland habe »nach allen Abmontierungen noch immer die größte Industriekapazität Europas«, und das Durchschnittsalter seiner Werkzeugmaschinen sei fünf Jahre, im Gegensatz zu Frankreich, wo das Durchschnittsalter 30 Jahre sei, »von England ganz zu schweigen.«289 Aber die Menschen, besonders die älteren Männer, sahen in ihren Augen bejammernswürdig aus. In Berlin herrschte der Hunger genauso, wie sie es aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in Erinnerung hatte. Sie sprach mit einer Reihe von Menschen, die sie von früher kannte. Es waren nicht viele, denn die meisten ihrer jüdischen Freunde und Bekannten waren nach Amerika, England oder Palästina ausgewandert oder in einem der Vernichtungslager ermordet worden. Sie traf in Berlin Barbara Götz, die Tochter des Theaterarchitekten Oskar Kaufmann, deren Vater wieder nach Berlin kommen wollte. Die Tochter meinte jedoch, man könne ihm das nicht zumuten, und die Tergit stimmte ihr zu, weil man einen Menschen doch nicht in ein Land mit Hungersnot bringe. Als später in London ein Brief des unglücklichen Kaufmann aus einem ungeheizten Dachstübchen in Budapest eintraf, hat sie diese Unterhaltung sehr bereut. Mit einem Berliner Taxifahrer diskutierte sie über Kriegsschuld und ob es an der Front »anständige Menschen« gegeben habe. Sie ging zu einem Strafprozess in Moabit, wo es um einen goldenen Ring mit einem Halbedelstein ging, was ihr in dem zerstörten Berlin, nach den grauenhaften Verlusten des Krieges und den Konzentrationslagern lächerlich erschien. Aber der Saalwachtmeister begrüßte sie, als ob es die dazwischen liegenden 15 Jahre nicht gegeben hätte, mit einem »Guten Tag, Frau Tergit«. Sie fuhr mit der Straßenbahn nach Tempelhof, wo im früheren Ullstein-Haus der unter amerikanischer Lizenz herausgegebene Tagesspiegel gedruckt wurde. Sie wurde dort in einem immer noch repräsentativen Chefbüro von Erik Reger, dem Autor des Romans Union der festen Hand (1931), empfangen. Am selben Tag fuhr sie auch noch zur Lentzallee am Breitenbachplatz, wo die Berliner Ausgabe der Neuen Zeitung gemacht wurde. Als sie in die Redaktion kam, begrüßte sie ein Mann mit den Worten: »Guten Tag, Frau Tergit, wie geht’s denn?« Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war, bis er zu ihr sagte: »Kennen Sie mich denn nicht mehr? Ich war doch der Botenmeister.« (Etwas Seltenes, 170) Der damalige zeitweilige Chefredakteur des Berliner Büros der Neuen Zeitung, den sie als ersten amerikanischen Intellektuellen bezeichnete, den sie 289 Brief an Walter von Hollander vom 1. September 1948 (DLA).

Das Opus magnum: Effingers

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kennengelernt habe (Etwas Seltenes, 159), war der siebenundzwanzigjährige Enno Hobbing, der, deutscher Abstammung, in Amerika aufgewachsen war. Dieser gab der Tergit den reizvollen Auftrag, für ihn als London-Korrespondentin der Neuen Zeitung tätig zu sein, womit sie zum ersten Mal in fünfzehn Jahren wieder so etwas wie eine feste Stellung hatte.290 Als sie von Hobbing erfuhr, dass Kiaulehn das vierte Manuskript der Effingers nie zu Desch gebracht hatte, versprach er ihr, es wiederzubeschaffen, schickte dann auch tatsächlich die amerikanischen Besatzer zu Kiaulehn, die das Manuskript in einem Koffer bei ihm fanden. Mit dem Weggang Hobbings im April 1951 – er war nur Interimherausgeber gewesen – bekam die Tergit keine Aufträge von der Neuen Zeitung mehr. In einem Brief an Hobbing vom 12. Dezembers 1952 behauptet sie zwar, keine böse Absicht hinter dem offensichtlichen Boykott zu vermuten; ihr ausführlicher Bericht lässt jedoch eher das Gegenteil ahnen: In Berlin I did 4 broadcasts at the Rias, two with a delightful Mrs. von Norman and two with an as delightful Herr Giefer. […] I did some more with other Rundfunks. The nicest feature of my Berlin stay was a talk if you can call it a talk, with Mr. Fodor. Me: »You know, Mr. Fodor, that it is impossible for me to get a line published in the Neue Zeitung.« Mr. Fodor : »Yes I know. You were once paid in Dollars. As we can’t spend anymore foreign currency for free lance writers we had to stop printing you.« Me: »But I would gladly work for Marks.« Mr. Fodor : »That’s impossible because you are in our books as recipient of foreign currency.« I have the feeling that this boycott by bookkeeping regulations has no sinister background whatever. But Mr. Fodor did not see the fun. (DLA)

Schon vorher hatte die Tergit darüber geklagt, dass bei der Neuen Zeitung regelmäßig Manuskripte von ihr verschwänden und kommentiert: »Man müsste ein Stück schreiben. Fememord 1950.«291 Bis 1954 hat sie allerdings noch für deutsche Zeitungen geschrieben.

Das Opus magnum: Effingers Die Leidensgeschichte des Manuskripts 1948 verließ Gabriele Tergit Deutschland, indem sie über Hamburg ausreiste, wo sie von einem englischen und einem russischen Offizier kontrolliert wurde. In 290 Als solche versuchte sie 1948/49 auch – vergeblich – Artikel (und Kurzgeschichten) im amerikanischen Ladies Home Journal unterzubringen. Vgl. ihren Brief an The Editor, Ladies Home Journal vom 17. Dezember 1948 (DLA). 291 Brief an Axel Eggebrecht vom 23. Juni 1949 (DLA).

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Hamburg wohnte sie im Reichshof, »wo alle Antinazis wohnten, weil dieses Hotel noch Juden aufgenommen hatte, als es schon sehr gefährlich geworden war.« (Etwas Seltenes, 188) Sie aß mit Ernst Rowohlt und Axel Springer im Atlantik Hotel zu Mittag. Axel Springer, war sehr bedrückt, da sein Vater, den er sehr geliebt hatte, am Tag vor dem Mittagessen beerdigt worden war. Dass ihn Gabriele Tergit bei diesem Essen »nur langweilig« fand, mag sich aus dieser Situation erklären.292 Karl Andreas Voss, der Generaldirektor und Kompagnon von Axel Springer, war entzückt von dem Roman, den Ernst Rowohlt Springer empfohlen hatte. Der Vertrag über die Publikation der Effingers wurde unterschrieben. Die Tergit solle ihn noch einmal genau durchsehen und mit Walther von Hollander kürzen. Walther von Hollander war damals ein sehr bekannter und auch finanziell erfolgreicher Romanschriftsteller und Filmautor, der auch für Zeitschriften wie Constanze und diverse Rundfunksender arbeitete. Schon 1928 hatte er mit seinem Roman Schicksale gebündelt über die russische Emigration von Berlin von sich reden gemacht. Das Angebot von Hammerich & Lesser, bis zum Erscheinen der Effingers bei der neuen Frauenzeitschrift für die britische Zone Constanze mitzuarbeiten, schlug Gabriele Tergit aus.293 Am Nachmittag desselben Tages traf sie bei Ernst Rowohlt mit Rowohlts Lektor Kurt Wilhelm Marek zusammen, der 1949 unter dem Pseudonym C.W. Ceram mit seinem archäologischen Sachbuch Götter, Gräber und Gelehrte berühmt werden sollte. Marek hatte einen anderen Roman, der von polnischen Juden handelte, den Effingers vorgezogen, obwohl er der Tergit versicherte, dass er literarisch nicht an ihre Effingers heranreichte.294 Es handelte sich dabei um Sophie Kramstycz’ Man lebt wie man kann (1950), das Gabriele Tergit als »ein Dokument des Selbsthasses [bezeichnet], bezieht sich im übrigen nur auf reiche polnische internationale Juden, die teilweise Schieber, teilweise kommunistische Terroristen sind.«295 Marek hatte es offenbar sicherer gefunden, dem deutschen Volk ein Buch über fremde Juden zuzumuten als eins über deutsche, denn: »Es ist angenehmer fremde Leute als Leute, die alle Vor- und Nachteile der Deutschen haben, umgebracht zu haben.« Gabriele Tergit meinte stattdessen, den Deutschen müsse »ein Spiegel vorgehalten und von Dingen geredet werden, die jeder vergessen will.«296 Rowohlt hatte das Manuskript an Axel Springers Verlag Hammerich & Leser weitergeleitet, weil dieser in der Nachkriegszeit besseren Zugang zu Papier hatte. Gabriele Tergits umfangreichstes Werk, der 737 Seiten starke Roman Effin292 Brief an Joachim Kaiser vom 4. April 1971 (DLA). 293 Vgl. Juliane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹ – Gabriele Tergits Werk bis 1933: Zeitdiagnostik in Literatur und Journalismus. Magisterarbeit Berlin (Humboldt) 2006, S. 27. 294 Brief vom 2. November [??] an Wilhelm Sternfeld (DLA). 295 Brief an Wilhelm Sternfeld vom 8. Mai 1957 (DLA). 296 Brief an Walter von Hollander o.D. (DLA).

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gers, war während des Krieges fertig geworden, nur war es ihr noch nicht möglich, aus England Pakete mit normaler Post nach Deutschland zu schicken. Von dem Manuskript, an dem sie schon 1932 zu arbeiten begonnen hatte, gab es ursprünglich sechs Exemplare. Die Tergit hatte zwei davon nach New York geschickt, um sie vor der deutschen Bombardierung von London zu retten. Sie waren dort aber nie angekommen; wahrscheinlich war das Schiff, das sie über den Atlantik tragen sollte, von deutschen U-Booten versenkt worden. Ein drittes Exemplar übergab sie 1945 einer Kusine von Heinz, einer Bibliothekarin des Völkerbunds in Genf. Diese war eine tüchtige Frau, die nur eins nicht tat: Briefe beantworteten. Ein viertes Exemplar hatte sie an Walther Kiaulehn in München geschickt, der es an Kurt Desch geben wollte, der 1945 dort seinen Verlag gegründet hatte. Auf eine Anfrage hin antwortete der Verlag, dass er das Manuskript nie erhalten hätte. Wie bereits erwähnt, konnte es erst durch Intervention des Amerikaners Enno Hobbing wieder in die Hände der Tergit gelangen. An einen französischen Offizier wie Döblin konnte sie dann das Manuskript ohne Probleme schicken, und dieser leitete es zuverlässig an Ernst Rowohlt in Berlin weiter. Bei ihrem Berlinbesuch 1948 bekam sie Besuch von Peter Suhrkamp, den sie einmal als attraktiven jungen Mann in der Redaktion des Berliner Tageblatts getroffen hatte. Er gab nun wieder, wie von 1932 bis 1944, die Neue Rundschau heraus. Nun kam er »zu mir ins Hotel am Zoo, ein müder alter Mann. Niemand war so gealtert wie er. […] Er wollte gern meinen neuen Roman [Effingers] haben. Sie hätten kein Material. Peter Suhrkamp hat kein Material!« (Etwas Seltenes, 163) Da die Tergit selbst nur noch ein einziges Manuskript besaß, traute sie sich nicht, Suhrkamp dieses letzte Exemplar zu geben. Auch bekam sie am nächsten Tag ein Telegramm von Ernst Rowohlt, der ihr mitteilte: »Bin bis 2. Juni in Hamburg, dann in Berlin. Hammerich und Lesser will nun doch über ›Ewigen Strom‹ [Effingers] sofort abschließen.« (Etwas Seltenes, 165) Der Verlag Hammerich & Lesser gehörte Axel Springer, der damit damals einen Buchverlag aufmachen wollte. Als er sein Vorhaben dann bald darauf aufgab, war Tergits Manuskript völlig fehl am Platze, denn, wie ihr der Verleger Lothar Blanvalet sagte: »Was verlangen Sie, wenn Sie ein Buch beim Schuhmacher oder beim Schlächter herausbringen. Die Bücher müssen von Verlegern herausgebracht werden.« Was hätte ich damals machen sollen? Wenn ich meine Anhänglichkeit an Rowohlt und meine Jugenderfahrung überwunden hätte und Suhrkamp das Buch herausgebracht hätte, so hätte ich gedacht, du hättest zu dem gewaltigen Springer kommen können, und das hast du dir verscherzt. Und ich habe wirklich nur Gutes vom Springer-Verlag erfahren, der für seine Angestellten ein zweiter Ullstein war. Als dann die ersten Fahnen kamen, in denen mein Manuskript verändert war, genügte ein Telefongespräch, um diesen neudeutschen Unfug abzustellen, bei dem ich mich

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immer frage, ob die Kunsthändler in Deutschland auch die Bilder ummalen. Kurz bevor er starb, sagte Ernst Rowohlt zu mir : »Wenn die Auflage von den Effingers verkauft ist, machen wir daraus ein Taschenbuch.« Aber es kam ein neuer Pharao, der wusste nichts von Joseph. (Etwas Seltenes, 165)

1951 sollte der Roman schließlich bei Hammerich & Lesser in Hamburg erscheinen, aber leider erst, nachdem Springer zum Leidwesen der Tergit die Publikation so lange verzögert hatte. Als der Verlag zu hohe Produktionskosten als Entschuldigung dafür anführte, erwiderte die Tergit: »Ich darf wohl betonen, dass es für mich eine Lebensfrage ist, dass das Buch jetzt erscheint. Aus diesem Grunde hätte ich nichts dagegen, wenn das Buch in andrer Ausstattung erscheint als Sie sie im Sinne hatten.«297 Wenige Monate später war sie in einem Brief an ihre Jugendfreundin Käte noch schärfer, indem sie von offenem Vertragsbruch sprach: Springer, an sich erstklassige Hamburger Kaufleute, die, als der Hitler ihnen in ihre Zeitung, die Altonaer Zeitung, reinreden wollte, diese sofort schlossen und sich von 1933 bis 1945 tot stellten, Springer also hat munter seinen unterschriebenen Vertrag mit mir gebrochen. Er will das Buch nicht mehr bringen. Ich war ein paar Monate völlig krank von dieser Gemeinheit, noch dazu, nachdem er mir unendlich Arbeit gemacht hat. Monatelang hatte ich Verbesserungen zu machen. Jetzt will Rowohlt es vielleicht doch bringen. Ich will sehen. Ich kann schon nicht mehr daran arbeiten. Es hat mich zu viel Arbeit und Lebensglück gekostet.298

Von inneren Zweifeln erfüllt, schrieb die Tergit ähnlich auch am 31. August am 1951 an Armin T. Wegner : »Ob mein Lebenswerk – vor 20 Jahren begonnen hat es mich unfähig gemacht etwas Neues zu produzieren – ob es Mühe und Verzicht auf weltliche Freuden gelohnt hat, wer will es entscheiden.« (DLA)299 Sie selbst nannte den Roman »A monument to the German Jews, their greatness and their folly.«300 Im Endeffekt fand sie, die Effingers seien »wunderbar herausgebracht aber komischerweise hat sie der Verlag noch nicht einmal im Buchhändlerbörsenblatt angezeigt.«301 Später folgten eine Reihe weiterer Ausgaben bei verschiedenen 297 Brief an Herrn Hockenholz vom Verlag Hammerich & Lesser vom 31. Mai 1950 (DLA). 298 Brief an ihre Jugendfreundin Käte vom 20. Juli 1950, im Besitz von Andreas W. Mytze, London. Zitiert nach Jens Brüning, in: Nachwort zu Gabriele Tergit, Der erste Zug nach Berlin, S. 184 f. 299 In einem Brief an Hanns W. Eppelsheimer von 8. Juni 1955 nannte sie die Geschichte des Manuskripts »eine Leidensgeschichte, die schließlich zur Kürzung des Buches um 14 und zu meiner Unfähigkeit noch einmal einen Roman zu schreiben geführt hat.« (DLA) In einem Brief an Ernesto Feder vom 13. September 1955 schrieb sie: »Ein paar Wohlmeinende reden mir unausgesetzt zu einen Roman zu schreiben Aber die ›Effingers‹ waren ein Alpdruck.« (DLA) 300 Brief an Stefan Lorant vom 31. Mai 1952 (DLA). 301 Brief an Armin T. Wegner vom 15. Dezember 1951 (DLA).

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Verlagen: 1964 kam im Münchener Lichtenberg Verlag (Kindler) eine auf 555 Seiten gekürzte Volksausgabe in 10,000 Exemplaren heraus, die ihr Londoner Agent Kurt Maschler vermittelt hatte, und 1978 wieder ungekürzte Ausgaben (Frankfurt a.M.: Wolfgang Krüger Verlag) sowie Lizenzausgaben im Deutschen Bücherbund (Stuttgart, Hamburg, München, 1978; angebliche Auflage: 20.000) und in der Büchergilde Gutenberg Frankfurt a.M., Wien, Zürich, 1979). Eine Taschenbuchausgabe kam erst 1982 im Fischer Taschenbuch Verlag (Frankfurt a.M.) heraus. Im Nachhinein tat es der Tergit leid, ihr Einverständnis zu der Volksausgabe gegeben zu haben. Sie habe in Bezug auf die Effingers eine »Sünde wider den Geist« begangen, schrieb sie an Albrecht Knaus vom Verlag Hoffmann und Campe. »Kindler wollte das Buch noch mal rausbringen, wenn ich es um 20 % kürze, was ich Esel tat und es damit ruinierte. Es wurden zwar noch mal 5000 Exemplare verkauft, aber es bleibt eine Schande.«302 Man könne aus keinem Kunstwerk Stücke entfernen, sie habe damit vielleicht auch das bisschen Namen verdorben, den sie hatte, meinte sie einmal.303 Wirklich freuen konnte sie sich über das Erscheinen des Romans ohnehin nicht. Sie hatte zu lange daran gearbeitet, hatte zu lange auf das Erscheinen warten müssen, und trotz ihrer gegenteiligen Versicherungen war die Resonanz zu schwach, um große Freude auszulösen.

Ein jüdischer Familienroman Dargestellt wird in dem Roman der Aufstieg der Effingers vom Handwerkerstand zu Geschäftsinhabern, zu Industriellen und zu Bankiers, einhergehend mit einer gesellschaftlichen Assimilation und Lösung vom orthodoxen Judentum, wie es Gabriele Tergit in ihrer eigenen Familie erfahren hatte. Zugrunde geht die Familie nicht an der wie immer gearteten Schwäche oder Dekadenz ihrer Mitglieder, sondern, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum, im Holocaust des Dritten Reiches. Das Widersinnige dieses Untergangs wird dadurch betont, dass es sich um Menschen einer Familie handelt, die nicht nur seit Jahrhunderten in Deutschland ansässig ist, sondern sich obendrein durch eine besondere Bodenständigkeit, deutsches Nationalgefühl und Verdienste um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes auszeichnet. Die erzählte Zeit erstreckt sich über den Zeitraum von 1878, also kurz nach der Bismarckschen Reichsgründung, bis 1942. Tergit schildert das Schicksal dreier sehr unterschiedlicher Generationen deutscher Juden in diesem Zeitraum, der Familien Effinger und GoldschmidtOppner, zwischen 1878 und 1942, so dass in den Effingers »die ganze deutsche 302 Brief an Dr. Knaus vom 1. März 1976 (DLA). 303 Brief an Barbara Glauert vom 26. September 1971 (DLA).

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Geschichte von 1878 bis 1933 mit Guckkastenbildern von 1939, 1942, 1948 enthalten [ist].«304 Dargestellt wird damit das Leben einer gutbürgerlichen, erfolgreichen jüdischen Familie in der nachemanzipatorischen Zeit in Deutschland, ihr Weg zum Erfolg und ihr letztendlicher Untergang im Dritten Reich. Jüdische und nichtjüdische Charaktere werden so dargestellt, dass deutlich wird, wie wenig sie sich von einander unterscheiden. Auf diese Weise entsteht das Bild einer ganzen Epoche und einer Gesellschaft, die es nach dem Ende des Dritten Reiches in Deutschland nicht mehr gab. »Gabriele Tergit zeigt das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Einstellung zu Familie und Beruf, zu sozialen Fragen, politischer Gesinnung, Religion und Philosophie, doch auch – um Jüdisches herauszugreifen – zu Tradition, Assimilation, Zionismus, Judenhass und Reaktion auf ihn.«305 Schauplatz des Romans ist, abgesehen von einzelnen Passagen, die im süddeutschen Kragsheim spielen, Berlin. Die ältere Generation der Effingers, der Uhrmacher Matthias Effinger, lebt sein ruhiges, von traditioneller Frömmigkeit bestimmtes Leben in der kleinen fränkischen Stadt Kragsheim. Es ist ein arbeitsreiches, angenehmes Leben, das ihm den Respekt seiner Mitbürger erworben hat. Durch seine orthodoxe Frömmigkeit lebt er trotzdem am Rande der Gesellschaft seiner Stadt. Die Hauptfigur des Romans ist sein Sohn Paul, ein ehrgeiziger Unternehmer, dem die idyllische Kleinstadt keine Entfaltungsmöglichkeiten bietet, weil hier alles Moderne auf Ablehnung stößt. Er geht deshalb nach Berlin, wo er es durch harte Arbeit und Zähigkeit trotz mehrfacher Rückschläge zum erfolgreichen Industriellen bringt, obwohl er die innere Verwurzelung in seiner Herkunftsheimat nicht vergessen hat. Er träumt in Berlin noch immer davon, sich eines Tages in Kragsheim zur Ruhe setzen zu können. Sein lebenslustiger Bruder Karl folgt ihm in die deutsche Hauptstadt und kümmert sich um die Buchführung der Betriebe. Er lernt den reichen Bankier Oppner kennen und heiratet dessen Tochter Annette, während sein Bruder Paul später deren weniger attraktive Schwester Klärchen ehelicht. Die beiden Brüder sind damit in der wohlhabenden Berliner Gesellschaft assimilierter Juden arriviert, in der sie sich bald voll und ganz zu Hause fühlen. Der Großteil des Romans spielt damit in einer ganz bestimmten Schicht, und zwar dem wohlhabenden jüdischen Bürgertum, das sich in der dargestellten Zeit nicht nur um die materielle, sondern auch um die kulturelle Entwicklung der Stadt verdient gemacht hat. Es ist das Milieu der Juristen und Bankiers, Industriellen und Kaufleute. Gelegentlich kommt ein Künstler oder eine Künstlerin 304 Brief an Herrn Fischer vom 28. September 1956 (DLA). 305 H.G. Adler, »Ein jüdischer Familienroman. G. Tergits ›Effingers‹«. In: Rheinischer Merkur vom 2. März 1979.

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hinzu, die jedoch immer nur als Außenseiter in Erscheinung treten. Am Ende des Romans orientiert uns, ähnlich wie in Galsworthys Forsyte Saga (1906 – 21), ein detaillierter Stammbaum mit Geburtsdaten über die Familie Effinger sowie der Berliner Bankiersfamilie Goldschmidt-Oppner, zu der die Effingers durch Heirat gestoßen sind. Im Roman wird so ziemlich alles geschildert, was in einer gutbürgerlichen Familie in mehreren Generationen vorkommt: Heiraten, Scheidungen, Geburten und Todesfälle, Karrieren und geschäftliche Pleiten. Begleitend dazu werden nicht nur die wichtigsten politischen Ereignisse und ihre Folgen berichtet, sondern auch breit ausmalend der Lebensstil der handelnden Gestalten. Bestimmend für das Schicksal der Hauptgestalten ist allerdings das Auf und Ab der wirtschaftlichen Entwicklung, die Krisen, Börsenschwankungen, Rohstoffpreise, steigenden Preise, fallenden Preise, die die Hauptgestalten mit Energie, Fleiß und Mut zum Risiko überstehen. Vor allem der Bankier Oppner repräsentiert das reiche, liberale jüdische Bürgertum der Generation vor der Reichsgründung. Er hatte bereits an der Revolution von 1848 teilgenommen, war eine Zeitlang ins Exil gegangen und nach seiner Rückkehr zum erfolgreichen Bankier geworden, der sich mit dem neuen Kaiserreich nicht voll identifizieren konnte. Seine beiden Töchter hingegen fühlen sich in dem neuen Wilhelminischen Staat voll zu Hause und passen sich in jeder Hinsicht an den Lebensstil ihrer nichtjüdischen Mitbürger an, obwohl der mehr oder weniger deutliche Antisemitismus unübersehbar ist. Die Generation der Kinder von Karl und Paul Effinger, Annette und Klärchen, lehnt sich gegen den gediegenen, altmodischen Stil ihrer Eltern und Großeltern auf und ist allen möglichen geistigen und künstlerischen Bewegungen in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber offen: Zionismus, Jugendbewegung, Expressionismus und Nietzsche-Begeisterung. Nach dem Kriege zeigt sich der Wandel in der sozialen Einstellung Frauen gegenüber darin, dass Marianne Effinger eine angesehene Beamtenposition bekleidet. Ihre Kusine Lotte, die Tochter Pauls, studiert, hat Kinder, leistet sich einen Liebhaber und kehrt schließlich als Filmschauspielerin nach Berlin zurück. Trotz ihrer beruflichen Erfolge sind beide Frauen in der traditionslosen Weimarer Republik und ihren wirtschaftlichen Krisen letztlich orientierungslos. Das moderne Leben bietet ihnen keinen innerlichen Halt.306 Nach 1933 verlieren die Effingers ihre berufliche Stellung, ihre Fabriken und ihr Vermögen. Die jüngeren Familienmitglieder wandern nach Palästina aus, die älteren, in Berlin gebliebenen, werden 1942 in ein Konzentrationslager deportiert. 306 Vgl. Christina Ujma, »Gabriele Tergit and Berlin: Women, City and Modernity«. In: Christiane Schönfeld (ed. In collaboration with Carmel Finnan), Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic. Würzburg 2006, S. 262 – 277; hier S. 273.

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Der Roman beginnt mit einem Brief von 1878 des jungen Paul Effinger, der, siebzehnjährig, aus dem Rheinland an seine »hochverehrten« Eltern schreibt, dass er in einer Eisengießerei täglich elf Stunden arbeite, manchmal auch zwölf, dass er obendrein Französisch lerne, Handelslehre höre und versuche, sich auch technisch fortzubilden. Die Tochter seines Chefs habe sich beim Mittagessen nur mit einem ebenfalls eingeladenen Leutnant unterhalten, und der Kaiser und sein Kanzler Bismarck seien vor kurzem mit einem Extrazug vorbeigefahren. Der Roman endet mit einem Brief, den derselbe Paul 1942 einundachtzigjährig aus Berlin an seine emigrierten Kinder und seine Nichte schreibt: »Eure Mutter und Großmutter Annette hatte das Glück, noch in einem jüdischen Krankenhaus an einem Darmkrebs zu sterben.«307 (Effingers, S. 733) Trotz des fast ausschließlich jüdischen Personals wollte die Tergit das Buch nicht als spezifisch jüdische Familiensaga verstanden wissen: Was meine »Effingers« angeht, so ist es nicht eigentlich ein jüdisches Buch. Es ist nicht der Roman des jüdischen Schicksals, sondern es ist ein Berliner Roman, in dem sehr viele Leute Juden sind, so wie im »Käsebier« sehr viele Leute Juden waren. Das ist etwas ganz anderes, und ich bin der Meinung, dass Springer einen großen Fehler machen würde, wenn sie ein so stark deutsch kulturgeschichtliches Buch als jüdisch anzeigen würden.308

Glaubwürdig ist dieses Dementi allerdings nicht; es ist eher eine Schutzbehauptung aus der allzu berechtigten Angst vor der Ablehnung des Buches durch eine immer noch latent antisemitische deutsche Leserschaft.

Literarische und reale Vorbilder Die Effingers sind eine Art jüdisches Pendant zu Thomas Manns Buddenbrooks, allerdings »ohne das Pathos kunstvoller Satzperioden.«309 Die Parallelen zu manchen Ereignissen der Thomas Mannschen Buddenbrooks sind manchmal frappierend; so trennt sich, wie einst Thomas Buddenbrook, auch hier der junge Mann von einem Mädchen der Unterklasse, um die passende Ehe mit einem Mädchen der Oberklasse eingehen zu können. Wie einst Tony in den Buddenbrooks, opfert sich auch hier eine Tochter, Sophie, um einen jungen Mann, dessen Finanzen der Vater sorgfältig überprüft hat, zu heiraten, dem sie völlig gleichgültig ist. Auch bei Gabriele Tergit war das Opfer vergeblich. Statt Grünlich 307 Die Zitate im Text beziehen sich auf die Erstausgabe des Romans, Gabriele Tergit, Effingers, Roman. Hamburg: Hammerich & Lesser, 1951. 308 Brief an Ernst Rowohlt o.D. (nach dem 25. April 1950) (DLA). 309 Reimar Hollmann, »Schicksale rund um den Ku-Damm«. In: Neue Hannoversche Presse. hp Rundschau vom 16. Januar 1979.

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heißt der junge Mann hier Gerstmann; er ist Reserveoffizier, der die Mitgift seiner Frau verschwendet. Wie bei Thomas Mann kehrt sie beschämt und gleichzeitig erleichtert wieder in das Haus ihrer Eltern zurück. Wie Thomas Manns Tony ist auch für Sophie die Auswahl ihrer Aussteuer ein Staatsakt. Voller Witz kommentiert die Tergit: »Sie brauchte zur Wahl jedes Nachthemds länger als zur Wahl ihre Bräutigams.« (Effingers, 222) Genauso wendet sich der Schwiegervater gegen prätentiöse Verschwendung beim Hochzeitsessen, wie es der fragwürdige Schwiegersohn verlangt: »Ich kann das nicht begreifen […], wie man seiner Stellung Kaviar im Eisblock schuldig sein kann. […] Aber mein Kredit hat noch nie mit Kaviar im Eisblock zusammengehangen […].« (Effingers, 223) Auch an die auch an die Forsyte Saga John Galsworthys und an Theodor Fontanes späte Romane mit ihrer Schilderung der Gesellschaft Berlins gegen Ende des 19. Jahrhunderts fühlt man sich erinnert, ja man könnte sagen, Gabriele Tergits Roman sei wohl so etwas wie die Fortsetzung Fontanes bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Effingers sind ein Familienroman, in dem, ähnlich wie in Thomas Manns Buddenbrooks in vieler Hinsicht Gestalten aus Gabriele Tergits eigener Familie auftreten. »Es handelt sich um die Familie meines Mannes«, schrieb sie später an ihre Kusine Hedi Geng, »Einiges bezieht sich auf meinen Vater, einiges auf unsern Großvater, Tante Bertha ist ein bisschen deine Mutter. Inklusive der Häuser handelt es sich bei der alten Generation um die Tanten und Onkel meines Mannes. Aber wie typisch das alles ist kannst du daraus ersehen, dass ein Mitglied der Familie Mosse es für eine Familiengeschichte der Mosse hielt und Jemand anders für die Familie James Simon.«310 Parallelen zwischen dem Berufsleben Pauls und ihres eigenen Vaters, zwischen Lotte und ihr selbst, sind nicht zu übersehen.311 Noch am 25. Dezember 1980 schreibt sie an ihre Verwandte, Ruth Fenner-Barash, Paul und Karl Effinger seien »with the free use of the truth« ihr eigener Vater und Bernhard Hirschmann. »Almost the truth and nothing but the truth is old ›Effinger‹ in reality Seligmann Hirschmann your great grand father, my grandfather, his brother was married to the greatest German Jewish religious thinker Samuel Rafael Hirsch.« (DLA) Auch die Lokalitäten sind realen Vorbildern nachgestaltet: Kragsheim ist Ansbach, besonders das Schloss und die Stadt; dem Rathausplatz hat Rothenburg ob der Tauber als Vorbild gedient.312 Das Vorbild für Schlemmers 1852 gegründete Maschinenfabrik, die Paul Effinger 1884 besuchte, hat die Tergit 310 Brief an Hedi Geng vom 30. Mai 1966 (DLA). 311 Die Parallelen zeigt ausführlich Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 82 f., auf. 312 Brief an Eugen Skasa-Weiß vom 2. Januar 1970 (DLA).

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Walther Rathenaus Autobiographie entnommen, der die AEG gegründet hatte. »Die Beschreibung der Fabrik von 1885 ist aus den Memoiren des alten Rathenau genommen und die Schraubensache aus dem Geschäftsbericht einer Schraubenfabrik, den mir noch mein Vater gab.«313 Sie berichtete später, sie habe auch Rathenaus Buch über die Geschichte der AEG studiert, um von der Entwicklung der Autofabriken Paul und Karl Effingers erzählen zu können. Gabriele Tergit zufolge kreist ihr Roman Effingers um das Persius-Haus der Großeltern von Heinz Reifenberg in der Viktoriastraße in Berlin. Seine Großmutter war 1932 gestorben, und das Haus war unverkäuflich: Eines Tages meldeten sich Herren, die es als Klubhaus mieten wollten. Heinz zeigte es. Die drei Herren versuchten, Heinz zu übersehen. »Und wo können wir unsern Ausschank haben?« Heinz wollte ihnen die alte Trinkstube im Souterrain zeigen. »Wir verzichten auf Ihre Führung«, sagte einer der Herren. Das Haus gehörte Heinz nicht, er hatte kein Recht, sie hinauszuwerfen. Das Haus kostete Steuern und Steuern und Unterhaltung. Wer sollte das bezahlen? Niemand hatte mehr Geld. Die adeligen Herren sprachen von der »jüdischen Kiste«, von »Insektenpulver streuen gegen die jüdischen Läuse«. »Haben Sie die Absicht, eine Hakenkreuzfahne aufzuziehen?« fragte Heinz. »Na sicher«, sagten sie. Heinz besprach sich mit seinen Onkeln. Es waren keine bedeutenden Leute, aber sie waren alle einer Meinung: »Solange das Haus uns gehört, wird keine Hakenkreuzfahne gehisst.« (Etwas Seltenes, 145)

Nach dem Kriege war das Haus zerbombt, und nur das Grundstück hatte noch einen Wert, für das die Stadt Berlin Anfang der fünfziger Jahre fünfzehntausend Mark zahlte, die in achtzehn Teile gingen. Auf dem Grundstück wurde später die Berliner Philharmonie gebaut.314 Die Tergit war in den Tiergartenvillen, in denen ihre Effingers und Goldschmidt-Oppners wohnen, selbst aufgewachsen, so dass sie deren Interieurs und die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner, die Menüs ihrer Festessen und ihre Kleider genau und realistisch beschreiben konnte. Durch ihre eigene Familie und die ihres Mannes war sie auch mit der wirtschaftlichen Thematik des Romans bestens vertraut, wusste sie auch von den Problemen der industriellen Entwicklung in Deutschland gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. So konnte sie nicht nur die Erfahrungen ihres Vaters, sondern auch die Einsichten ihres Mannes und seiner engsten Verwandten in den Roman einbringen. Hinzu kamen ihre eigenen Erfahrungen während des und nach dem Ersten Weltkrieg: die Entwicklung des deutschen Nationalismus, die Emanzipation der Frauen zur beruflichen Selbstbestimmung und freien Partnerwahl und 313 Brief an Franz Denner vom 14. Oktober 1960 (DLA). 314 So Gabriele Tergit auf einem undatierten Zettel unter der Korrespondenz mit Franz und Ilse Denner (DLA)

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schließlich das Aufkommen des Nationalsozialismus, die damit einhergehende Radikalisierung des Antisemitismus und als Resultat das unbegreifliche Ende des deutschen Judentums. Da kommt es zu völlig ungerechtfertigten Verhaftungen, Prozessen, die zwar mit Freispruch, aber nicht mit Rehabilitation und Wiedereinsetzung in Besitz und Rechte enden, »das zunehmende Entsetzen, die Ratlosigkeit des Wohin und Was-Anfangen. In Momentaufnahmen aus der weitverzweigten Familie stellt Gabriele Tergit das wachsende Grauen, die Verelendung im Kriege dar und die von Paul Effinger erwartete Deportation als letzte Station, hinter der 1942 undurchdringlicher Nebel sich schloss.«315 Außerdem war in den Effingers »die ganze deutsche Geschichte von 1878 bis 1933 mit Guckkastenbildern von 1939, 1942, 1948 enthalten.«316 Man kann zwar der Ansicht sein, dass der Roman »nicht vom Ende her, aus der Katastrophe heraus« konzipiert ist, zumal »die Ereignisse seit 1933 nur knapp vierzig der 750 Seiten« umfassen.317 Das ist insofern richtig, als das Hauptgewicht auf der Darstellung der Familiengeschichte, auf den Darstellungen des Arbeitsethos, des Fleißes, der Frömmigkeit bzw. der Assimilation des deutschen Judentums liegt. Umso größer ist jedoch die Fallhöhe am Schluss, damit der geheime Vorwurf: Wie konnte diese Anstrengung, dieser Fleiß so belohnt werden? Auch ist nicht zu leugnen, dass »[d]er Antisemitismus […] in diesem Panorama eine beständige, gleichsam wetterleuchtende Bedrohung« ist.318 Dass Gabriele Tergit zwar einen Großteil ihres Romans bereits vor ihrem Exil geschrieben, ihn aber, das Exil begleitend, weitergeführt hat, ist insofern wichtig, als sie damit den Versuch gemacht hat, »sich dieser Fragilität und erschütternden Ungewissheit [der Lebensumstände des Exils] schreibend entgegenzustellen, sie chronikalisch zu begleiten und so die vor dem Exil formulierte Absicht, der Historie zusehen zu wollen, im Exil schreibend und damit zum Nutzen späterer Generationen zu realisieren.«319 »Sie hat damit deutsch-jüdische Geschichte und jüdisch-deutsche Geschichten« erzählt, »als diese gerade ausgelöscht wird«, und das »in einer Zeit und unter historischen Umständen, die sich die Eliminierung aller Zeugnisse jüdischen Lebens zum Ziel gesetzt hatten.«320 – 315 Margate Dierks, »Berlin-Romane und Blumen-Kulturgeschichte«. In: Frankfurter Hefte 36,9 (September 1981), S. 65 – 68, hier S. 67 f. 316 Brief an Herrn Fischer vom 28. September 1956 (DLA). 317 Irmela von der Lühe, »Schreiben im Exil als Chance: Gabriele Tergits Roman Effingers«. In: Charmian Brinson u. a., Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933 – 1945. München 1998, S. 48 – 61; hier S. 53. 318 Ebd., S. 58. 319 Ebd., S. 60. 320 Ebd.

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Eine schwierige Rezeption »Ich bin neugierig«, hatte schon 1948 Walther von Hollander in Hamburg zur Tergit gesagt, »wie wird das antisemitische deutsche Volk diesen Roman aufnehmen.« Kommentiert Gabriele Tergit: »Nun, es nahm ihn gar nicht auf. […] Es war vor der Währungsreform. Bis er herauskam hatten die Leute Möbel und Kleider, Gardinen und Autos zu kaufen. Alles musste ersetzt werden. Aber auch das Thema war tabu.« (Etwas Seltenes, 189) Die Effingers waren in Deutschland kein verlegerischer Erfolg, obwohl die Tergit ihren Freunden gegenüber das Gegenteil behauptete: »Meine Effingers sind in Berlin ein Bestseller,321 werden von Deutschen großartig, als große Literatur, von Juden sehr freundlich aber nicht als Weltliteratur, sondern als ›eine von uns‹ betrachtet. Aber im Ganzen ein richtiger Erfolg.«322 Später gab sie zu, der Roman sei lediglich »von 30 Buchhändlern von den existierenden 3000 deutschen Buchhändlern verkauft [worden]. Der sehr kluge [Albrecht] Knaus von Hoffmann & Campe schrieb mir : ›Man kann das deutsche Volk nicht zwingen, etwas zu lesen, was es nicht lesen will.«323 Und sie sagte in einem Interview, wenn sie die Effingers noch zu einer Zeit hätte veröffentlichen können, in der fünf mal hunderttausend Juden in Deutschland lebten, dann hätte sie gleich einen Riesenerfolg gehabt und hätte auch weiterschreiben können.324 In den Vereinigten Staaten bestand das potentielle Lesepublikum nur aus deutschsprachigen Emigranten, aber bei einer Umfrage bei einer Reihe von New Yorker Buchhandlungen und Importeuren aus dem Jahre 1954 ergab sich, dass die Effingers nach Thomas Manns Die Betrogene, Erich Maria Remarques KZ-Roman (!) Der Funke Leben und Annemarie Selinkos Desir¦e immerhin an vierter Stelle stand.325 Eine englische Übersetzung, um die sich Gabriele Tergit schon 1939 bemüht hatte, kam auch nicht zustande. Ihr damaliger Agent Lothar Mohrenwitz, der seit 1930 Chefredakteur der deutschen Vogue war, war 1934 nach London geflohen und verkaufte von dort die Übersetzungsrechte englischsprachiger Autoren an deutsche Verlage, ein Geschäft, das 1939 auch praktisch tot war. So versuchte er eben auch die Rechte von Gabriele Tergits Effingers zu verkaufen, hatte sie auch 1939 davon informiert, dass der britische Verlag John Lane das Buch in englischer Über-

321 Jens Brüning weist in seiner Email vom 2. September 2009 darauf hin, es gebe »eine Bestsellerliste der Boulevard-Zeitung Der Abend, auf der ›Effingers‹ ganz oben« stehe. 322 Brief an Armin T. Wegner vom 3. August 1952 (DLA). 323 Brief an Seelmann-Eggebert vom 4. Januar 1972 (DLA). 324 Interview mit Henry Jacob Hempel: Gespräch zwischen Henry Jacob Hempel, Berlin und Gabriele Tergit über ihre Emigration, geführt im April 1979 in London. Unveröffentl. Manuskript im Nachlass von Gabriele Tergit. 29 Seiten; hier S. 22 (DLA). 325 »Brief aus New York«. In: Stuttgarter Nachrichten vom 20. November 1954.

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setzung verlegen wolle, aber »[p]olitical events prevented this.«326 – Am ersten September 1939 brach der Zweite Weltkriegs aus… 1955 wandte sich die Tergit noch einmal an den Verlag, erhielt aber eine Absage. Sie hatte den Eindruck, dass die hohen Übersetzungskosten für ein Buch von 736 Seiten daran schuld waren, und bot vergeblich an, sich finanziell daran zu beteiligen.327 Auch durch das Bemühen des New Yorker Literaturagenten Franz J. Horch, den Gabriele Tergit schon Ende 1948 gebeten hatte, sie zu vertreten, kam es nicht zu einer englischsprachigen Ausgabe. 1954 erkundigte sie sich bei ihrem prominenten Londoner Mitexilanten Sebastian Haffner, ob er meine, das Buch könne für englische Leser von Interesse sein.328 Nachdem Haffners Frau sie danach angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass Haffner und ihr die Effingers gefallen hätten, bat sie Haffner um einen Empfehlungsbrief für englische Verleger. Momentan werde das Buch gerade bei Hutchison gelesen; sie warte auf eine Entscheidung – die offenbar negativ ausfiel.329 In Palästina wurde der gesamte Roman 1955 erstaunlicherweise in 109 Fortsetzungen in der deutschsprachigen Zeitung Jedioth Hadashot (Tel-Aviv) abgedruckt,330 allerdings ohne jede Lizenz! Einerseits freute sich die Autorin natürlich darüber, dass auf diese Weise die Effingers in Israel gelesen331 wurden, andererseits handelte es sich leider um Diebstahl geistigen Eigentums, um Piraterie.332 Die Publikation in der Zeitung blieb allerdings ohne jedes Echo. 1959 war der Roman in Israel nur in Leihbibliotheken erhältlich. Das Buch erhielt ohnehin keine gute Kritik von jüdischer Seite, »weil das doch alles Assimilanten in den ›Effingers‹ seien. Eine meiner vielen Enttäuschungen.«333 Über die jüdische Rezeption des Romans verbreitete sich die Tergit auch in einem Brief vom 30. Juni 1956 an Armin T. Wegner, wobei es wieder vor allem um die Tatsache ging, dass sie die Juden im Roman als zutiefst in Deutschland verwurzelt, also als assimiliert dargestellt hatte. Dies führte sie zu sehr allgemeinen Überlegungen über das, was »Jüdischsein« bedeutet: Die Idee, die Begriffe, kurzum alles was man als Abstraktum »Jüdischsein« umfassen könnte, ist soooo unklar. Juden genau wie Nichtjuden verstehen darunter Jeder etwas völlig anderes. Ich habe das doch am eigenen Leib erlebt, wenn ich es nicht schon längst gewusst hätte. Meine Effingers sind von jüdischer Seite d. h. in der gesamten jüdischen Presse als »unjüdisch« abgelehnt worden. Warum? Weil ich die deutschen Juden so 326 327 328 329 330 331 332 333

Brief an die Firma John Lane vom 22. Januar 1955 (DLA). Ebd. Brief vom 27. April 1954; DLA. Brief an Sebastian Haffner vom 21. Mai 1954. Brief an Mrs. Horovitz vom 16. Mai 1965 (DLA) Brief an Elsa Gluckmann-Gidoni vom 27. Dezember 1955 (DLA). Brief an Gertie Eisler vom 14. November 1961 (DLA). Brief an Esla Gluckmann-Gidoni vom 27. Dezember 1955 [??] (DLA).

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geschildert habe wie sie waren, nämlich verwurzelt, ich schreibe verwurzelt in der deutschen Kultur, weil ich nicht auf dem Standpunkt stehe, dass Max Reinhardt jiddisch hätte sprechen sollen, dass seine epochemachenden Aufführungen im »Deutschen Theater« eigentlich eine Schande waren, weil ich deutsche Juden in Deutschland habe ein normales, nicht immer natürlich, aber doch sehr oft natürliches Leben habe führen lassen.334 Von jüdischer Seite wird, wie du weißt, Scholem Alechem heute abgelehnt, weil er eine Karikatur des jüdischen Lebens gegeben habe. Scholem Asch wurde überall getauft genannt, weil er ein Buch über Christus schrieb das nicht der allgemeinen Auffassung entspricht. Dies ist natürlich der enge jüdische Standpunkt. Aber es ist der jüdische Standpunkt. […] Ich bin eine Berlinerin, eine Berliner Jüdin, ungewöhnlich verwurzelt in dieser ganz einmaligen Kultur und Konstellation, verwurzelt kann man sein in einer Sprache, in einer Großstadtstraße, unter anderem auch auf dem Lande. […] Ich glaube auch nicht, dass das Gefühl für Gerechtigkeit besonders jüdisch ist. Jede Minorität muss für Gerechtigkeit sein, jede schwache Nation muss gegen den Missbrauch der Gewalt und der Stärke sein. […] Das alles ist so kompliziert. Ich bin ein solcher Feind aller Verallgemeinerungen. Jeder Mensch ist einzigartig. (DLA)

Die meisten Kritiken im deutschsprachigen Raum waren verheerend. So schrieb die Schweizer Weltwoche: Im Bestreben zu zeigen, dass deutsche Juden sich von den andern Deutschen kaum unterscheiden, hat die Autorin einen Familienroman geschrieben, der bei uns in der Schweiz nicht einmal jüdische Freunde des Rezensenten zu fesseln vermochte: sie fanden ihn zu deutsch. Das Buch ist zu unpersönlich, zu sehr nach Schema geschrieben. Die letzten fünfzig Seiten sind zwar die besten, aber auch sehr oberflächlich über den Naziterror.335

Eine sehr positive Ausnahme bildete eine ausführliche Besprechung im Nordwestdeutschen Rundfunk von Axel Eggebrecht, die am 21. Dezember 1951 ausgestrahlt wurde und auf die Gabriele Tergit voller Stolz wiederholt in Briefen Bezug nahm. Eggebrecht kam zu dem Schluss: »Das umfangreiche Buch ist, um es mit drei deutlichen Worten nun gleich zu sagen, erstaunlich, mutig und bedeutend.« (DLA) Erstaunlich sei es durch den langen Atem – eben jene Kraft, welche wir heute […] meist nur bei reinen Unterhaltungsschreibern finden. Breite ist ja oft nur Mangel an Form, Unfähigkeit der Konzentration. Dies umfangreiche Buch aber ist dicht bis in die letzte Zeile. […] Beinahe nie verliert sie [die Verfasserin] sich in Einzelheiten; eine recht naheliegende 334 In einem Brief an Hans Jäger vom 28. April 1975 schreibt sie in Bezug auf das Zögern ihrer Eltern bei der Auswanderung ähnlich: »Es war mir erschütternd, wie viel kosmopolitischer, wie viel weniger verwurzelt Ihr Arier wart als wir wurzellosen Juden, die seit Jahrhunderten in den süddeutschen Nestern, in Feuchtwangen und Dinkelsbühl, in Altenstadt und Steppach saßen und immer wieder in die Familie heirateten.« (DLA) 335 Zitiert nach Gabriele Tergits Brief an Hertha von Gebhardt vom 9. Mai 1952 [??] (DLA).

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Versuchung, da hier so unzählige und bunte Details gesammelt, gehäuft sind. […] Zum zweiten ist dies erstaunliche Buch, meine ich, sehr mutig. Denn es packt offen und furchtlos ein heikles Thema an, welches von unsrer derzeitigen Literatur […] lieber mit Vorsicht übergangen wird. Dies Thema – das besondre jüdische Schicksal inmitten des allgemeinen deutschen – wird nun hier auf eine gedämpfte, delikate, ja ich möchte sagen stille Art aufgefasst und abgehandelt. […] Nirgendwo wird aufgetrumpft. Auf jede Hervorhebung des Grausigen, auf jede sensationelle Steigerung, die doch so nahe läge, wird durchaus verzichtet. Das allein […] weist der Verfasserin einen hohen literarischen Rang zu: sie hat aller journalistischen, polemischen Wirkung entsagt um einer gültigen menschlichen Gestaltung willen. […] Kaiserreich und Weltkrieg, Inflation und scheinbare Geruhsamkeit der Weimarer Jahre fließen vorüber. Und auf einmal schwillt es herauf, ist schon hereingebrochen, jenes Unheil, von dem nicht nur diese jüdisch-bürgerliche Welt verschlungen werden sollte. Dies alles stehe da in einer flüssigen, sehr natürlichen Sprache, die sich frei halte von angestrengten Stilexperimenten. Damit sei es auch ein sehr lesbares Buch. (DLA)

Bei der Neuauflage des Buches 1978 waren die Kritiken durchweg positiver als die wenigen von 1951. Als ein Beispiel sei nur aus der Rezension der Frankfurter Zeitung zitiert: In diesem Buch ereignet sich fortwährend das, was man so nicht erwartet hat und gleichwohl ohne Misstrauen willkommen heißt: Sehr wahr, so geht es zu! Und alle die kleinen Wahrheiten und unüblichen Einsichten werden mit sicherer Hand, doch ohne jegliches Gefuchtel ohne große Gesten weggegeben. Die Bescheidenheit der Reichen ist im gegenwärtigen Betrieb ja ziemlich abgekommen. In einer Zeit, da ungehemmtes Selbstmitleid und eingelernte Besserwisserei auch aus Romanen auf uns eindringen, können die Unvoreingenommenheit und die Gelassenheit der vielfältig beschlagenen Tergit schon als Sensation empfunden werden.336

Der Wandel der literarischen Mode Noch 1966 erregte sie sich in einem Brief an Hans Habe über den Mangel an Resonanz der Effingers. Aber es ging ihr nun nicht einfach um diesen einzelnen Roman, sondern darum, dass sich die literarische Mode in Deutschland gewandelt hatte, dass sie, die 1931 mit dem Käsebier als avantgardistisch gegolten hatte, nun zum alten Eisen gehörte. Der Expressionismus war damals am Ende gewesen und hatte der Neuen Sachlichkeit Platz gemacht, während nun, in den sechziger Jahren, vorrangig das politische Engagement bzw. das stilistische Experiment interessierte. Anderen älteren Autoren ging es ebenso wie ihr. Am 22. Januar 1966 schrieb Tergit an Hans Habe: 336 Christa Rotzoll, »Eine Familie in Berlin. Wieder zu entdecken: ›Effingers‹ von Gabriele Tergit«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Dezember 1978.

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Eggebrecht sprach einen Hymnus [auf die Effingers] im Norddeutschen Rundfunk, aber keine große Zeitung schrieb darüber außer der Neuen Zeitung, Hans SchwabFelisch, auch begeistert, eine ganze Spalte. Ich war 1931 avantgardistisches Avantgardistentum, Realismus mit Fallada und Fabian (Kästner). Alle hatten die Nase vom Expressionismus voll. Jetzt gehöre ich nicht zum Zeitalter Uwe Johnsons. Die Unterscheidung von unverständlicher Hoher Literatur und gelesener niederer ist eine deutsche Spezialdämlichkeit. Remarque leidet auch sehr darunter.337

Habe beruhigte sie in seinem Antwortschreiben: »Machen Sie sich um die Uwe Johnsons keine Sorgen. Das ist weder hohe noch niedere Literatur« das ist analphabethischer Dreck.«338 In einem Brief an Eugen Skasa-Weiß vom 8. Februar 1963 weitete sie ihre Kritik auf das gesamte literarische Leben in Deutschland aus, indem sie kontrastierend auf die Beziehung von Literatur und Journalismus in den angelsächsischen Ländern Bezug nahm: Ich möchte gern einmal prinzipiell über das falsche literarische Leben in Deutschland schreiben, aber wo? 1) Hierzulande sind Journalisten das Geachtetste, was es gibt, in U.S.A. noch mehr. 2) Jeder macht Journalismus. Kein früherer Gouverneur von Australien, der nicht auch z. B. über Kängeruhs schreibt. 3) Die wahrhaft großen amerikanischen Schriftsteller machen alle auch Journalismus. In Deutschland muss man sich unverständlich machen, um sich verständlich zu machen. (DLA)

Es war eben wohl auch die Verknüpfung von Journalismus und Schriftstellerei, von Feuilleton und Literatur, eine Schreibweise, die für die letzten Jahre der Weimarer Republik, für Autoren Irmgard Keun und Kurt Tucholsky charakteristisch war, die dazu führte, dass Gabriele Tergit ihren Erfolg von 1931 nach 1945 nicht wiederholen konnte: Journalismus und Schriftstellerei waren nun in Deutschland schärfer von einander getrennt als vor 1933. Schon 1959 hatte sie Sebastian Haffner gegenüber allerdings schon zugegeben, dass Kultur der Mode unterliegt, dass es wenig gibt, was bleibt: »Ich fand es recht zweifelhaftig, ob wir nicht all diese Leute aus unserer Jugend gewaltig überschätzt haben, all diese Mehring und Tucholsky. Gehalten haben sich eben doch die Drei-Groschenoper, Friedrich Holländer und Ringelmatz.«339 Aber es war ihr in jedem Fall klar, dass die zeitliche Trennung genauso wichtig ist wie die örtliche: »Da ist eine neue Generation mit der man nichts mehr gemeinsam hat.«340 »Ich kann überhaupt die moderne deutsche Literatur nicht verknusen«, schrieb sie 1967 an Erna Dunlop, »selbst die Hundejahre sind nur gelegentlich 337 Brief an Hans Habe vom 22. Januar 1966 (DLA). Ähnlich schrieb sie schon am 30. Januar 1963 an Eugen Skasa-Weiß: »Diese Abstempelung in höhere und niedere Literaten gibt es nur in Deutschland und produziert dann solchen Mist wie Uwe Johnson.« (DLA). 338 Brief Hans Habes an Gabriele Tergit vom 30. Januar 1966 (DNB). 339 Brief vom 19. Dezember 1959 (DLA). 340 Brief o.D. an Marta Mierendorf (DLA).

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gut und Böll finde ich langweilig.«341 Sie fand »die neudeutsche Diktion ziemlich unerträglich auch des wertvollen Bölls Gruppenbild, […]«.342 Die Literatur von Westdeutschland sei krank, meinte sie 1972 einmal, »Bölls Gruppenbild mit Dame zum Teil großartig, aber voll mit den albernsten Gimmicks. Ich finde ja auch Stiller von Frisch keinen so herrlichen Roman, die Russen schreiben einfach so weiter und die Solchenitzyn Romane sind einfach klassisch. In Deutschland würde man sagen: ›Das geht nicht mehr.‹«343 Unter diesen Bedingungen passte die Tergit in die literarische Szene in Westdeutschland nicht mehr hinein, zumal das literarische Leben in der Bundesrepublik sehr schnell von den Kriegsheimkehrern, von einer jüngeren Generation getragen wurde, die sich zum großen Teil in der »Gruppe 47« zusammengeschlossen hatte. Andererseits wird sowohl in der Sekundärliteratur als auch in der Biographik immer wieder darauf verwiesen, dass die Emigranten und die von ihnen verfasste Literatur in Westdeutschland auf Ablehnung stießen. Doch dies galt nicht für alle. Gerade die Berichte des Londoner Zentrums sowie die Korrespondenz seiner Mitglieder weisen wiederholt mit Stolz auf die Bucherfolge seiner Mitglieder hin. Die Tergit schrieb beispielsweise am 1. März 1964 an Mosheh Ya’agov Ben-gavriel: Es ist mir ein Herzenswunsch Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich über Ihre Erfolge freue. Stimmt es, dass »Die Karpfengasse« der erste Film in Westdeutschland ist, der über die Judenverfolgung gedreht wird? Wenn das stimmt, möchte ich es gern im nächsten »Bericht« [des Londoner Exil-PEN] bringen. (DNB)

Ben-gavriel konnte dies bestätigen: »Ja, es scheint zu stimmen, dass meine Karpfengasse, der erste große westdeutsche Antinazifilm ist.«344 Sein 1958 erschienener Roman Das Haus in der Karpfengasse, der eine Auflage von 71.000 erreichte, war 1965 unter der Regie von Kurt Hoffmann verfilmt worden. Der Star des Londoner Zentrums war natürlich Richard Friedenthal,345 der mit seinen Biographien über Goethe (1963) und Luther (1967) Bestsellerstatus erreicht hatte. So schrieb Gabriele Tergit am 18. April 1964 an Kurt Pinthus: »Inzwischen hat einer der Unsern, Dr. Friedenthal, die erste wirkliche Goethebiographie geschrieben, eine phantastische Leistung und Entgötterung, inzwischen sind auch meine ›Effingers‹ als ›Volksausgabe‹ in 10000 Exemplaren, etwas gekürzt, erschienen.« (DLA) 341 Brief an Erna Dunlop vom 6. Mai 1967 (DLA). 342 Brief an Nino Ern¦ vom 6. Januar 1974 (DLA). Ähnlich schrieb sie am 14. Novembers 1969 an Hertha von Schulz: »Die Künstlichkeit der westdeutschen Bücher sogar die des hochbegabten Grass ist doch im allgemeinen unerträglich, […].« (DLA). 343 Brief an Rudolf Frank vom 14. März 1972 (DLA). 344 Brief Mosheh Ya’agov Ben-gavriels an Gabriele Tergit vom 8. März 1964 (DNB). 345 Nach seinem Tode 1970 schrieb die Tergit für Friedenthal im New Yorker Aufbau vom 30. Oktober einen Nachruf mit dem Titel »Richard Friedenthal: Geschichte ohne Firnis«.

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Gabriele Tergit gehörte jedoch trotzdem zu der Mehrzahl der deutschsprachigen Exilschriftsteller, die im Nachkriegsdeutschland nicht wieder an ihren Erfolg aus der Zeit der Weimarer Republik anknüpfen konnten. Viele Exilschriftsteller hatten in Deutschland keinen Erfolg, entweder weil sie eine stark linksgerichtete Gesinnung hatten oder weil sie als Schriftsteller einfach zum ›alten Eisen‹ gezählt wurden. Die bis zu zwölfjährige Isolation von Deutschland, ihre Exilerfahrung, die durch Antifaschismus, Entbehrung und Bitterkeit bestimmt war, hatte sie vom ganz anderen Erlebnishintergrund des deutschen Lesepublikums entfremdet, und mit den in der Bundesrepublik herrschenden restaurativen Tendenzen konnten sie sich nicht identifizieren. Der Hauptgrund für die Nichtheimkehr vieler Emigranten nach Deutschland war einerseits das Misstrauen, das man ihnen die Deutschen entgegenbrachten. Es hatte seine Ursache in ihrem schlechten Gewissen, mit dem sie nicht konfrontiert werden wollten; die Angst, dass die – zum größeren Teil jüdischen – Emigranten auf die Daheimgebliebenen mit dem Finger zeigen und ihnen ihren angeblichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit Recht nicht glauben würden. Andererseits war es das Misstrauen der Emigranten den Deutschen gegenüber, die Angst, sei es auf der Straße, im Caf¦ oder in der Straßenbahn, einem Mörder ins Gesicht zu sehen. Das Versagen der Entnazifizierung, der weiterhin existierende Antisemitismus, die oft schamlos milden Gerichtsurteile bei nationalsozialistischen Verbrechen, die zögerliche Entschädigung der Opfer und vor allem die Weigerung, sich mit der eigenen Schuld und den Verbrechen der Nazivergangenheit auseinanderzusetzen und die moralische Verantwortung zu übernehmen für das, was im Namen des deutschen Volkes den Juden angetan worden war : all dies verhinderte die Rückwanderung der großen Mehrzahl der jüdischen Flüchtlinge.346 Die Zuhausegebliebenen und die Emigranten verstanden sich einfach nicht mehr. Es war vor allem Frank Thiess, der nach 1945 die Vorurteile gegen das Wirken deutscher Schriftsteller im Exil formulierte, »die sich bald als massive Vorwürfe des Landesverrats und der Inkompetenz in der Beurteilung der Vorgänge im Nazi-Deutschland zu Standardargumenten der Reaktion auswuchsen.«347 Er warf den Emigranten vor, die »kranke Mutter Deutschland« verlassen und »aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie« zuge346 Diese Gründe sind zusammenfassend angeführt von Anthony Grenville, »The Integration of Aliens: The Early Years of the Association of Jewish Refugees Information, 1946 – 50«. In: Ian Wallace (Hg.), German-speaking Exiles in Great Britain. The Yearbook of the Research Centre For German and Austrian Exile Studies I. Amsterdam, Atlanta, GA 1999, S. 1 – 23; hier S. 12. 347 Gerhard Gröbl, Zur Problematik der Remigration. Dargestellt anhand der Polemiken und Briefe Robert Neumanns von 1959 bis 1974. Wien o. J. Typoskript im Literaturhaus Wien, S. 11

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schaut zu haben.348 Liest man die autobiographischen Berichte der Emigranten, so erweisen sich diese »Logen und Parterreplätze« durchaus nicht als so bequem, wie von Thiess und vielen Deutschen angenommen. Aufgrund dessen wurde den Exilanten gern die Kompetenz abgesprochen, Aussagen über die Ereignisse in Nazideutschland zu machen oder Urteile zu fällen, ein Fehlurteil, das sich hielt sich in Deutschland sehr lange hielt. Hinzu kam, dass in den endvierziger Jahren der Kalte Krieg eskalierte und die ehemaligen Exilanten unter ›Linksverdacht‹ gerieten. Thomas Mann und die ihm gegenüber erhobenen Anschuldigungen anlässlich der Goethefeiern von 1949 sind ein eklatantes Beispiel für ein solches bewusstes Missverstehen. In einer Zeit, in der man sich in Deutschland und Österreich bemühte, sich vom Gewissensdruck und der Erfahrung des Dritten Reichs zu befreien, kamen nun Autoren zurück, die durch die jüngste Vergangenheit gelitten hatten, die gleichsam das politische Gewissen selbst waren, das man so sehr zu unterdrücken suchte.349 Da die Remigranten nur infolge des militärischen Sieges der Alliierten, ja gleichsam in ihrem Gefolge nach Deutschland zurückkehren konnten, wurden sie leicht mit den Siegermächten, und damit mit den Feinden Deutschlands, identifiziert. Weder die öffentlichen Stellen noch die breite Mehrheit der Leser waren deshalb dazu bereit, ihnen einen prominenten Platz im Literaturbetrieb der Nachkriegsjahre zuzuweisen. Keiner offiziellen Stelle fiel es etwa ein, sie zur Rückkehr einzuladen – mit Ausnahme der Ostzone bzw. der neu gegründeten DDR, die beispielsweise Heinrich Mann das Amt des Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin anbot, Johannes R. Becher zum Kulturminister machte und Bertolt Brecht, Anna Seghers und Arnold Zweig nach Ostberlin holte. Das Misstrauen Tergits und anderer exilierter Schriftstellers gegenüber den Deutschen nach 1945 war mehr als berechtigt. Hakenkreuze erschienen an der Kölner Synagoge, jüdische Friedhöfe wurden wiederholt geschändet, der Staatssekretär Hans Globke, Verfasser des offiziellen Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen, und der Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer, einer der prominentesten ›völkischen Wissenschaftler‹, wurden entlarvt. 348 Frank Thieß, »Innere Emigration«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Deutsche Literatur im Exil 1933 – 1945. Frankfurt a.M., S. 248. 349 Waltraud Strickhausen, , »Zufluchtsländer : Arbeits- und Lebensbedingungen im Exil. Großbritannien«. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hgg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1941. Darmstadt 1998, Sp. 251 – 270; hier Sp. 265, schreibt: »Die Gesamtzahl der Remigranten blieb jedoch, meist aus persönlichen Gründen, gering. Bis 1949 wurden fast 13 000 deutsche Flüchtlinge in Großbritannien naturalisiert. Die Zahl der dauerhaft in Großbritannien Bleibenden wird auf etwa 50 000 geschätzt, von denen die Mehrheit bis 1951 britische Staatsbürger geworden sein dürften.«

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Innerhalb des Literaturbereichs schaltete sich auch Gabriele Tergit in die Diskussion ein, indem sie sich vehement gegen eine Preisverleihung an Frank Thiess einsetzte, der sich selbst als Vertreter der sogenannten Inneren Emigration ausgab. Sie schrieb an Mr. Spenders, das britische Mitglied der internationalen Jury : The Centre Europeen de la Culture, Geneve (Schweiz) is distributing a literary price [sic] of which I understand you are the assessors for England, Jean Giono for France, Ignacio Silone for Italy and Frank Thiess for Germany. Frank Thiess has written in his introduction to the popular edition of his novel »Der Leibhaftige« October 1933: »I am a protagonist of Nazidom« (Ich bin ein Vorkämpfer des Nazitums). He has never recanted. […] I hope you don’t mind me telling you. I know its [sic] not popular.350

Die Namen der emigrierten Schriftsteller waren im Vergleich zu denen, die sich in die sogenannte ›Innere Emigration‹ zurückgezogen hatten, in den zwölf Jahren der Naziherrschaft in Deutschland in Vergessenheit geraten; vor allem die jüngeren Leute waren mit ihren Büchern kaum oder gar nicht mehr in Berührung gekommen. Die Bücher der Emigranten waren in den Verlagsprogrammen vor und nach 1948 gut vertreten, aber ihre Auflagenhöhe war relativ gering: »Die Exilliteratur wurde zwar gedruckt, aber nicht gekauft. In den Bücherschränken deutscher Haushalte standen nicht die Werke der Emigranten, sondern Bücher von [Werner] Bergengruen, [Frank] Thiess, [Manfred] Hausmann, Edzard Schaper, Friedrich Georg Jünger und anderen.«351

Zweiter Deutschlandbesuch 1949 Im Januar1949 reiste Gabriele Tergit zum zweiten Mal nach Deutschland, diesmal auf Einladung von Enno Hobbing von der Neuen Zeitung, für die sie über ihre Eindrücke berichten sollte. Infolgedessen gab es keine Komplikationen mit der Reisegenehmigung, und sie konnte bequem mit dem Schiff und der Bahn fahren, zunächst von London nach Harwich. Sie betrat bei Hoeck van Holland den Kontinent und fuhr mit dem Zug weiter nach Hamburg. In einem Brief an Manfred Geis vom 4. November 1949 berichtet sie über diesen zweiten Deutschlandaufenthalt nach dem Kriege:

350 Brief an Mr. Spenders vom 7. November 1955 (DLA), wobei unklar ist, ob die Tergit diesen Brief abgeschickt hat. Ähnliches schrieb sie aber auch in einem Brief vom 2. Dezember 1955 (DLA). 351 Gerhard Gröbl, Zur Problematik der Remigration, S. 15.

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Ich war voriges Jahr sehr krank, eine Biene hatte mich gestochen und ich bekam Blutvergiftung, war von September bis November krank. [Nach Weinachten] fuhr ich nach Hamburg. Es ging mir glänzend. Ich wohnte zwei Monate im Atlantic Hotel! Aber ich habe schwer gearbeitet, indem ich meinen Roman fertig für den Druck machte. Er wird im Frühjahr erscheinen. Zu spät für mein privates Glück. Denn plötzlich bin ich alt geworden. 16 Jahre auf die Veröffentlichung zu warten, war zu lang. […] Ich flog übrigens in das belagerte Berlin. Seit die Deutschen wieder zu essen haben, fühlen sie sich wieder obenauf. »Frankreich ist ein sterbendes Land« konstatieren sie mit Vergnügen. Dass sie nicht das schwerstgeprüfte Volk auf der Welt sind, geht nicht in ihren Kopf. Die Weltgeschichte beginnt im Mai 1945 für sie. Was die Nazis getan haben, geht sie einfach nichts an. (DLA)

In Hamburg machte sie sich mit Hollander an die Bearbeitung des Manuskripts ihrer Effingers. Von Hollander lebte seit 1939 auf seinem Gutshof in Niendorf/ Strecknitz in der Nähe von Hamburg. Er hatte sich vor ihrer Abreise telephonisch dafür entschuldigt, dass sein Gutshaus ungeheizt sei. Sie kaufte sich Wollsöckchen, obwohl sie in dem bescheidenen England nicht verwöhnt worden war und viel an Frostbeulen gelitten hatte. Es stellte sich heraus, dass bei Hollanders nur das Treppenhaus ungeheizt war ; in ihrem Zimmer bekam sie täglich Holz für ihren Kachelofen. Von Hamburg aus besuchte sie Mölln am Elbe-Lübeck-Kanal, wo sie vor allem von der gewaltigen Kirche beeindruckt war. In London hatte sie mit ihrem Mann einen Architekturvortrag besucht, bei dem sie den emigrierten Architekten Georg Lesser trafen. Anschließend waren sie gemeinsam nach Soho zum Kaffeetrinken gegangen. Lesser hatte erzählt, wie er dem Geheimnis der Kathedralen auf der Spur sei, d. h. der Auslegung ihrer Grundrisse. Deren Prinzip glaubte er an den Grundrissen der Ostseekirchen entdeckt zu haben. Heinrich Reifenberg hielt die Beweisführung anhand nur dieser Art von Kirchen für zu begrenzt, so dass Lesser schließlich die Kathedrale von Chartres in seine Überlegungen mit einbezog, die er in seinem zweibändigen Werk Gothic Cathedrals and Sacred Geometry (London 1957) veröffentlichte. Nun sah die Tergit zum ersten Mal eine derartige Ostseekirche in Mölln und war begeistert. In Hamburg traf sie auch Walther Kiaulehn wieder, aber die alte freundschaftliche Beziehung wollte sich nicht wieder herstellen lassen. Später schrieb sie an den Lyriker Paul Mayer, der aus dem Exil in Mexiko nach Europa zurückgekehrt war : »Es war nicht nur seine Mitarbeit beim Goebbelschen Signal, die uns auseinander brachte, als ich ihn zufällig mit Juchhe und Hallo nach dem Krieg in Hamburg traf, reagierte [er] auf alles anders wie ich es mir gewünscht hatte.«352 Sie und Kiaulehn hätten sich wenig zu sagen gehabt, was für sie sehr traurig gewesen sei.353 352 Brief an Paul Mayer vom 18. Novembers 1967 (DLA). 353 Brief an Josef Klein vom 13. September 1953 (DLA).

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Im Auftrag der Neuen Zeitung arbeitete sie zum ersten Mal wieder als Gerichtsreporterin, und zwar im Schwurgerichtsverfahren gegen Veit Harlan, den Regisseur des antisemitischen Films Jud Süß, ein Prozess, der im März 1949 in Hamburg begann:354 Im Auftrag der Neuen Zeitung machte ich zum erstenmal seit siebzehn Jahren wieder aktuellen Journalismus, das heißt, ich war bei der Gerichtsverhandlung, telefonierte in der Mittagspause den Bericht durch, ging wieder zur Verhandlung und schrieb abends noch einen Kommentar. Dann war ich zu erschöpft, um noch an Heinz zuschreiben. Mir Notizen zu machen oder zu schlafen. Gestohlene Jahre sind gestohlene Jahre. (Etwas Seltenes, 198)

Veit Harlan war nie Mitglied der NSDAP gewesen, er war für die Tergit kein Antisemit, war mit einer Jüdin verheiratet, die 1942 ermordet wurde, ohne dass er versucht hatte, ihr zu helfen. So schrieb sie sarkastisch: Nein, er war ganz und gar kein Antisemit. Ihm kamen die Tränen, wenn er seiner besten Freunde, Trauzeugen seiner Hochzeit mit Hilde Körber Francesco von Mendelssohns und Fritz Kortners gedachte. Der beste Freund seines Vaters war Julius Bab, der ihm die Trauerrede gehalten hat und dann aus Amerika schrieb. Seine Vorbilder waren Max Reinhardt, Jürgen Fehling, Leopold Jessner. Er hielt den Antisemitismus für einen Schandfleck auf der deutschen Ehre. »Mit mir hat das nichts zu tun. Meine Partei ist die Kunst, meine Politik ist die Heimatliebe. Ich habe versucht, mich auf dem Boden der Tatsachen zu bewegen.« (Etwas Seltenes, 198)

Und auf diese Weise hatte er sich kompromittiert. Er war schlicht dumm, denn nach dem Jud Süß-Film war ihm das Ausland gesperrt. Fragt sich die Tergit: »Warum machte er Goebbels’ widerliches Drehbuch nicht noch widerlicher, so dass niemand diesen Film sehen mochte? Schlecht spielen, Mist schreiben, Filme machen, die keiner sehen wollte.« (Etwas Seltenes, 201). Damit hätte Harlan, wie viele andere deutsche Intellektuelle auch, eine echte Chance zum Widerstand gehabt. Im Gegensatz zum veröffentlichten Prozessbericht ist ein Typoskript erhalten, in dem sie Harlan stellvertretend für alle deutschen Intellektuellen sieht. Sie warf ihm darin vor, dass er für den Film Jud Süß sein Bestes gegeben hatte. Sein Film sei ein Kunstwerk; er habe doch nur die Möglichkeit gehabt, Propaganda in Kunst zu verwandeln. Und sie bestätigt nochmals ihre obern zitierte Ansicht: »Harlans Schuld war es, das Drehbuch abzumildern, statt, wie es der Schau-

354 Vgl. dazu Gabriele Tergit, Wer schießt aus Liebe – Gerichtsreportagen. Hg. und mit einem Vorwort vers. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin 1999. Darin: »Der erste Tag im Veit-Harlan-Prozess« und »Zum Harlan-Prozess«, S. 187 ff.

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spieler Merian tat, der die Figur des Jud Jüß im Film gezwungenermaßen übernahm, den Film so schlecht wie möglich zu machen.«355 Zur Vorführung des Films wurde die Tergit in den Zuschauerraum nicht hereingelassen; angeblich war er überfüllt. Ein Rechtsanwalt, der nichts mit dem Prozess zu tun hatte, durfte hinein, sie als Journalistin nicht. Der Taxifahrer, der sie nach Hause fuhr, fand das typisch, bezeichnete die deutschen Beamten als »lauter kleine Hitlers«, die ihre Macht ausnutzten. Rückblickend meinte sie, zum Journalismus müsse man jung sein. Die Teilnahme an dem Prozess und die Telefonate in der Pause hätten sie mit ihren 54 Jahren entsetzlich angestrengt.356 So war ihr Bericht über den Veit-Harlan-Prozess der letzte, den sie verfasste. An einem der nächsten Tage – es war im Januar 1949 – fuhr sie mit einer Gruppe jüdischer Offiziere zum ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen, das zu diesem Zeitpunkt in ein DP-Camp (displaced persons camp) umgewandelte worden war. Man nannte es so, weil die Juden dieser Lager in kein Land zurückkehren konnten. Bis zu 10.000 polnische und bis zu 12.000 Juden lebten hier in getrennten Lagern. Das polnische Lager wurde im Sommer 1946 aufgelöst. Nachdem 1948 der Staat Israel gegründet worden war, durften die Juden in kleinen Kontingenten ausreisen. Die Kosten wurden von der Jewish Agency for Israel, der israelischen Organisation für Einwanderung und Integrierung von Juden in Israel, oder der American Jewish Joint Distribution Committee, einer Organisation zur Unterstützung notleidender Juden in Übersee, getragen. Das letzte jüdische Lager wurde Anfang 1951 geschlossen. Zum Zeitpunkt von Gabriele Tergits Besuch konnte ein Zug mit sechshundert Menschen unter britischer Begleitung nach Israel fahren. Die Tergit saß mit ihren Begleitern schweigend bei einer Tasse Tee in der alten SS-Kaserne, wo sie übernachteten: »Es war entsetzlich, der Wind heulte, die Läden klapperten. […] Ich hörte die Hunde, die Peitschen, das tobsüchtige Gebrüll der viehischen SS. Diese Häuser durften nicht stehen bleiben; so wie die Überlebenden das Lager niedergebrannt hatten, so mussten diese Häuser vernichtet werden.« (Etwas Seltenes, 202) Das Gepäck der Menschen, die auf dem Weg nach Israel waren, lag seit zwei Monaten unter Zollverschluss, so dass sie kaum ein Hemd bzw. eine Bluse wechseln konnten. Die Koffer waren nicht richtig gepackt, sondern einfach nur vollgestopft und meist nur mit Stricken verschnürt. Geld durften sie nicht mitnehmen. Bei den Auswanderern handelte es sich vor allem um polnische Juden, die zum Teil auch aus Sibirien kamen, wohin sie bei dem deutschen 355 Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen.« ›Geschichte‹ im Werk von Gabriele Tergit. Magisterarbeit Darmstadt 2005, S. 74. Vgl. Gabriele Tergit, Wer schießt aus Liebe?, S. 192 f. 356 Brief an Barbara Glauert vom 17. Oktober 1972 (DLA).

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Vormarsch geflüchtet waren und unter unsäglich harten Bedingungen bei bitterer Kälte hatten arbeiten müssen: Unter den Abreisenden war Herr Grynszpan, ein feiner alter Herr mit Spitzbart, der Vater jenes Grynszpan, der den Herrn vom Rath von der deutschen Gesandtschaft in Paris im November 1938 erschossen hatte, was mit der Abgabe einer Milliarde, der Zerstörung alles jüdischen Eigentums und der Verschickung der Männer in die Konzentrationslager gerächt wurde. Sieben Söhne von Grynszpan wurden ermordet, ein einziger überlebte in Palästina, zum ihm fuhr der Vater jetzt. (Etwas Seltenes, 204)

Unter den sechshundert Auswanderern waren aber auch einhundertfünfzig meist kleine Kinder, die in Bergen-Belsen geboren waren: Für viele waren es sozusagen die zweiten Kinder, da ihre ersten Kinder auf vielerlei Art zugrund gegangen waren. Zwei Familien fuhren mit je fünf kleinen Kindern. Viele Frauen waren schwanger. »Das jüdische Volk hat genug Menschen verloren«, sagte eine Frau, mit der ich darüber sprach. »Man muss doch sehen, dass man sie ersetzt.« (Etwas Seltenes, 204)

Die Tergit wollte trotz der noch andauernden Blockade Berlins (24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949) im Januar 1949 noch einmal Berlin besuchen. Enno Hobbing hatte es ihr vorgeschlagen und Willy Haas hatte ihr zugeredet, falls sie die Möglichkeit dazu hätte. Wegen Bodennebel ging es von Hamburg aus leider nicht, aber vielleicht von Frankfurt aus. Sie gab deshalb im Hotel ihr Gepäck zur Aufbewahrung ab und fuhr mit dem Zug nach Frankfurt, mit dem Mantel über dem Arm, nur mit Strohtasche mit Manuskripten und einer Segeltuchtasche mit Waschzeug. In Berlin würde sie bei ihren Freunden, den Klupps, in der Pension Banck wohnen. In Frankfurt ging sie in die Paulskirche, wo gerade über das neue deutsche Grundgesetz beraten wurde. Sie hörte u. a. die Frauenrechtlerin Marie Elisabeth Lüders sprechen, die sie schon als Fünfzehnjährige bewundert und mit der sie 1914 zusammen gearbeitet hatte. Sie ging zum Dom und stieg auf den roten Sandsteinblöcken herum, denn der Wiederaufbau des im März 1944 zerstörten Bauwerks hatte eben erst begonnen. Dann fuhr sie zum Flugplatz heraus, wo sie englische Shilling in amerikanische Cents umtauschte und einen Sack mit Zitronen und Apfelsinen kaufte, um ihren Freunden etwas mitbringen zu können. In Berlin angekommen, fuhr sie mit einer Art Leiterwagen in die Nähe der Pension Banck. Der Vorderteil des Hauses war eingestürzt, und es gab nur ein paar Petroleumlampen. Das Zimmer, das man ihr zum Schlafen anwies, war eisig kalt. Der Vorderteil des Hauses war eingestürzt, und es gab nur ein paar Petroleumlampen. Strom gab es während der Blockade an manchen Tagen nur zwischen drei und fünf Uhr morgens, wo man dann schnell kochte und bügelte. Kohle kam zwar über die Luftbrücke in Gatow und Tempelhof an, aber wenn sie mit Güterwagen durch Berlin transportiert wurde, verschwand meist ein er-

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heblicher Teil davon wieder. Trotzdem war die Situation im Westteil der Stadt immer noch besser als im Ostsektor. Bei diesem Berlin-Aufenthalt während der Blockade traf Gabriele Tergit die Mitglieder des Soroptimisten-Klubs wieder. Das erste Wiedersehen mit den Frauen war für sie ein Schockerlebnis: Sie hatte die meisten von ihnen im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren gekannt, und inzwischen waren sie fünfzig geworden, waren ganz erheblich gealtert und »einfach nicht mehr schön«: »Die großen Jahre des Lebens einer ganzen wertvollen Generation waren nicht gelebt worden.« (Etwas Seltenes, 209) Freund Klupp meinte, wenn sie wirklich alt würden, würden die Frauen wieder schön. Mit einigen von ihnen hielt die Tergit in den Nachkriegsjahrzehnten den Kontakt aufrecht. 1951 war sie zur internationalen Tagung in Erinnerung des 30. Jahrestages der Gründung des Soroptimistenklubs eingeladen, die am 26./27. März in Berlin stattfand. Dazu fuhr Sie schon Anfang März von London ab, um vier Wochen in Berlin zu bleiben. Gabriele Tergit war aber keine »Clubschwester«. Sie war 1932 Mitglied des Clubs gewesen, aber nach 1945 nicht mehr. Für sie ging es nur darum, eventuell alte Freunde und Bekannte wieder zu treffen, mit klubinternen Problemen wollte sie nichts zu tun haben: »Ich habe nicht das geringste mehr mit dem Klub zu tun«, schrieb sie 1957 an Mary Schneider-Braillard, »und das Einzige was für mich feststeht ist, dass ich mich auf keinen Fall mit den Streitigkeiten innerhalb des Klubs beschäftigen werde. Ich werde es auch nur im entferntesten dazu kommen lassen, dass irgend ein Mitglied des Berliner Klubs sagen kann: ›Was mischt sich diese ausländische Jüdin in unsre Sachen.‹«357 In Gatow musste sie dann zehn Stunden auf ihren Rückflug warten. Dabei kam es zu einer Unterhaltung, die für die Einstellung vieler Deutscher zu dieser Zeit typisch war : Während der Luftbrücke zählte man bis neunzig, und ein Flugzeug kam. »Das können sie ja nun«, sagte ein Deutscher mit einem Monokel zu mir. »Sie können auch anderes«, sagte ich. »Na, was denn?« fragte er höhnisch. »Zum Beispiel Kriege gewinnen«, antwortete ich. »Kriege gewinnen? Wieso?« »Entschuldigen Sie, haben Sie oder die Alliierten den Krieg gewonnen?« »Na ja«, sagte er und entfernte sich. (Etwas Seltenes, 209)

357 Brief an Mary Schneider-Braillard vom 5. September 1957 (DLA). Die Psychotherapeutin Annamarie Mommsen und Hertha von Gebhardt »lagen im Streit über Vereinsdinge miteinander, und Gabriele Tergit versuchte sich nach Kräften als Schlichterin.« Jens Brüning, »Nachwort«. In: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970. Hg. von Jens Brüning. Berlin 2001, S. 213 – 217; hier S. 215.

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Die während ihrer Deutschlandbesuche 1948 und 1949 gesammelten Erfahrungen fasste die Tergit in einem Brief vom 20. Juli 1950 an ihre Jugendfreundin Käte folgendermaßen zusammen: Was die Deutschen anbetrifft, so ist das ein sehr weites Feld. Ich habe sehr gute Freunde dort, unter anderem Rowohlt, der mir, als es lebensrettend war und streng verboten, 1933 Geld in die Tschechoslowakei schickte. Ich habe 1933 erlebt, wie mir im Ausland deutsche jüdische Bekannte im weiten Bogen aus dem Wege gegangen sind, weil man doch nicht wissen konnte! Die Deutschen sind sicher ein Schweinevolk, aber da ich kein Nazi bin und nicht verallgemeinere, so kann ich nur sagen, meine Freunde haben sich bewährt, und ich habe auch bei meinen zwei Besuchen großartige Freunde dort gefunden.358

Von diesen Freunden abgesehen, hatte sie allerdings nicht den Eindruck, dass die Deutschen den Nationalsozialismus überwunden hatten. Im Gegenteil, sie meinte, dass 90 % wieder Nazis wären, seit sie genug zu essen hätten.359 Sie glaubte einfach nicht an die innerliche Entnazifizierung der Deutschen. Der Antisemitismus war ihres Erachtens noch lange nach dem Krieg in Deutschland weit verbreitet. Als sie diese Schlussfolgerung in einer Auseinandersetzung mit den neun Bänden über Emigrantenliteratur von Hans-Albert Walter – ihrer Ansicht nach waren sie antisemitisch360 – zog, schrieb ihr beispielsweise 1973 Dietrich Bode vom Reclam Verlag, »dass die Wirklichkeit in der Bundesrepublik von solchem Antisemitismus natürlich keineswegs geprägt wird, und ich glaube, es arbeiten viele Leute daran, dass es nie wieder so wird.«361 Gabriele Tergit ließ sich nicht davon überzeugen. Sie war angeblich nie für eine Jüdin gehalten worden und glaubte, infolgedessen auch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg »Einblick in die deutsche Seele« bekommen zu haben.362 Sie selbst meinte in einem Brief an Hedi Geng von 1971, deren Schwiegersohn gefiele ihr sehr gut, aber sie »würde ja keinen jungen Mann in diesem verrotteten Deutschland aufwachsen lassen. Schon an sich eine crazy idea, wenn man nicht muss.«363 Sicherlich sei die materielle Kultur, Hotels, Restaurants usw. die beste in Europa, äußerte sie 1967 einmal, aber : »Man weiß dort nie, ob man nicht einem Mörder die Hand gibt, abgesehen natürlich von Freunden von früher, die alle genug gelitten haben Noch negativer war ihr Urteil über Deutschland in 358 Brief im Besitz von Andreas W. Mytze, London. Zitiert nach Jens Brüning, Nachwort zu Gabriele Tergit, Der erste Zug nach Berlin (Anm. 51), S. 184. 359 Brief an Gertrud Isolani vom 25. September 1949 (DLA). 360 Vgl. Brief an Mr. Strauss vom 29. August 1973 (DLA) 361 Brief von Dietrich Bode vom 27. September 1973 (DLA). 362 Brief an Desider [?] Stern vom 2. November 1972 (DLA). 363 Brief an Hedi Geng vom 14. Dezember 1971 (DLA). Ähnlich heißt es noch einmal in einem Brief an Hedi Geng dieselbe vom 17. Oktober 1972: »Grotesk, Kinder in Deutschland aufwachsen zu lassen, wenn man es nicht nötig hat.« (DLA).

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einem Brief an Hans Sahl aus dem Jahre 1977: »Ich sage Ihnen von Byzanz, das 1000 Jahre die Antike bewahrte weiß man nur noch eins. Sie haben 3000 Bulgaren die Augen ausgestochen. Das steht in allen Geschichtsbüchern und so wird man noch in 1000 Jahren nur noch eins von den Deutschen wissen, dass sie Millionen Menschen vergiftet haben. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.«364 Gabriele Tergits Vorwurf gegenüber den Deutschen war deren Geschichtsvergessenheit, ihre Unfähigkeit und Unwilligkeit in den endvierziger und fünfziger Jahren, sich selbstkritisch mit ihrer Vergangenheit und den Verbrechen des Dritten Reiches auseinanderzusetzen. So nimmt es nicht Wunder, dass eine Rückkehr nach Deutschland für sie nicht in Frage kam, ja sie riet sogar anderen, wie z. B. Moritz Goldstein, davon ab. Sie selbst fühlte sich in England zu Hause, überzeugt von den zutiefst demokratischen Grundlagen und Denken der englischen Kultur. Dabei wären die Voraussetzungen für eine Rückkehr in ihrem Falle gar nicht so schlecht gewesen: Sie hatte einen in Deutschland ungewöhnlich großen und einflussreichen Bekanntenkreis, stand sie doch in Verbindung mit Arnold und Beatrice Zweig, Alfred Döblin, Erich Kästner, Heinrich Böll, H.G. Adler, Wilhelm Sternfeld, Hilde Walter, Richard Friedenthal, Egon Larsen, Armin T. Wegner, Walther Kiaulehn und Arno Reinfrank. Mascha Kalenko bot ihr Hilfe bei der Verlagssuche an.365 So war es eben doch das Unbehagen, sich in Deutschland in einer Gesellschaft von Antisemiten und Immer-noch-Nazis zu bewegen, was ihr eine Rückkehr unmöglich machte. 1952 war sie im Oktober und November in Berlin, teils alleine, teils mit ihrem Mann. Im Frühjahr 1953 waren Heinrich Reifenberg und sie dann wieder auf zwei Monate in Deutschland, und auch in den folgenden Jahrzehnten fuhr sie ungefähr jedes zweite Jahr nach Berlin. Sie schrieb schließlich auf Deutsch und konnte nirgends so ungestört arbeiten wie dort. Ihr Mann kam meistens mit, weil sie sich nicht von ihm trennen mochte. Sie besuchten dabei immer auch ihren alten Freund Arnold Zweig im Ostsektor der Stadt, wo sie möglichst auch ins Theater gingen, um vor allem russische Stücke zu sehen.366 Arnold Zweig war 1948 aus dem Exil in Palästina zurückgekehrt und hatte sich aus sozialistischer Überzeugung in Ost-Berlin niedergelassen. Nachdem der englische Verlag Andr¦ Deutsch die Herausgabe von Zweigs Roman Traum ist teuer (1962) abgelehnt hatte, wandte er sich an die Reifenbergs mit der Bitte, zu überdenken, an welchen englischen Verlag er sich nun wenden könnte. Bei ihren verschiedenen Berlin-Besuchen konnten sie sich die Reifenbergs auch noch nach dem Mauerbau 1961 mit den Zweigs treffen. So fragte Arnold Zweigs Frau Beatrice am 364 Brief an Hans Sahl vom 1. Februar 1977 (DLA). 365 Vgl. Julilane Sucker, ›Fette Beute gibt’s nicht mehr!‹, S. 27. 366 Brief an Georg Heintz vom 1. August 1968 (DLA).

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26. Januar 1965 in dem Zusatz zu einem Brief ihres Mannes bei der Tergit an, ob sie und ihr Mann noch länger in Berlin blieben und fügte hinzu: »Dann können wir vielleicht über die Mauer kommen.« (DLA) Zwischen 1967 und 1970 schrieb die Tergit mehrere Leserbriefe über Probleme der Exilliteratur an die Zeit sowie kleinere Artikel, die aber nicht abgedruckt wurden. Heinrich Reifenberg hielt 1951 an der Technischen Hochschule in Berlin mehrere Vorträge über englische Städteplanung, und zwar über die Themen: »Eine Einführung in den englischen Städtebau An introduction into British town planning »Bevölkerungsdichte und Bebauungsdichte Density of population and density of building »London, Portrait einer Stadt »The Power and Production Pavilion of the Festival of Britain367

Ferner hielt er einen Vortrag über Architektur in Israel.

Novelle der Desillusion: Der erste Zug nach Berlin Vor dem Hintergrund von Gabriele Tergits Berlin-Besuchen 1948 und 1949 entstand die Novelle Der erste Zug nach Berlin (2000), zu dem wohl der amerikanischen Bestseller von Anita Loos aus dem Jahre 1925, Gentlemen Prefer Blondes, Pate gestanden haben dürfte, vielleicht aber auch der Billy-Wilder-Film mit Marlene Dietrich und John Lund, A Foreign Affair, von 1948.368 Es handelt sich um ein Stück Rollenprosa, um eine Ich-Erzählung der neunzehnjährigen Maud, die zur Upper Class von New York gehört. Maud begleitet ihren Onkel Charles, der sich der amerikanischen Mission in Berlin anschließen soll, in das Viermächte-Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit. Naiv und aufgeweckt zugleich, lernt sie eine ganze Reihe Engländer, Amerikaner, Russen und Deutsche kennen, die jeweils verschiedene Ansichten über ihr eigenes Land und das Nachkriegsdeutschland vertreten. In Berlin wird Maud bei einer von den Amerikanern herausgegebenen deutschen Zeitung – die Neue Zeitung stand offensichtlich Pate dafür – zur Journalistin deklariert. Sie verliebt sich in einen deutschen Journalisten namens Herbert, der sich als ehemaliger Nazi entpuppt. In Sachen Liebe hängt er abstrusen, auf Naziideen beeinflussten Vorstellungen über Geschlechterbeziehungen an. Ihre Beziehung sei nicht dazu bestimmt »im 367 Brief an Lisel Sanger vom 13. Oktober 1953 (DLA). 368 Vgl. Jens Brüning in seinem Nachwort zu Gabriele Tergit, Der erste Zug nach Berlin, S. 177. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die in Anmerkung 10 angegebene Ausgabe Berlin: Das Neue Berlin 2000, gefolgt von der Seitenzahl.

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Bürgerlichen zu enden.« So will er ihr Kinder machen, aber sie nicht heiraten, zumal er schon von drei Frauen je zwei Kinder hat: »Wir Deutschen haben uns endlich befreit von dem blassen, blutleeren, lendenlahmen jüdischen Gott, den ihr noch anbetet. Wir haben auch unser Heiligtum. Wir beten, dass die Natur uns fruchtbar mache, stark und klug. Wir beten, dass sie unsere Lenden segne.« (Der erste Zug, 107) Als sie entdeckt, dass ihr Liebhaber gleichzeitig auch andere Beziehungen unterhält, bricht sie die Beziehung ab. Maud verliert so zunehmend ihre Naivität, so dass das Büchlein Elemente eines Entwicklungsromans annimmt. Ihre am Schluss erreichte Reife führt allerdings nicht zu einem Leben, in dem dieser Zuwachs an Einsicht verwirklicht wird, sondern zu einer Rückkehr nach New York und in ihre alte gesellschaftliche Umgebung. Sie heiratet dort einen jungen Mann aus ihrer eigenen sozialen Schicht und lebt nun in einer völlig sterilen Umgebung, in einer modernen Wohnung, die vollklimatisiert ist: »Es gibt keinen Schmutz in der Wohnung. Das Essen kommt täglich aus einem dieser erstklassigen Restaurants.« Von allem Europäischen hat man sich völlig getrennt: »Wir lesen nur über Amerika. Die Zeitungen schweigen prinzipiell über Europa und Asien. Unser einziger Buchverlag bringt nur Bücher heraus, die mindestens von 1 000 000 Menschen gelesen werden. Man kann keine Bücher bekommen, die älter als ein Jahr sind. Wir korrespondieren alle prinzipiell nicht mehr mit Europäern, […].« (Der erste Zug, 175)

Es ist das satirisch überzeichnete Bild einer Dystopie, eines Amerika, wie es damals in der Vorstellung vieler Europäer existierte. Andererseits spricht aus der, im wahrsten Wortsinn, Ent-täuschung Mauds im Hinblick auf Europa, die Bitternis Gabriele Tergits, die das Resultat ihrer Eindrücke bei Berlin-Besuchen von 1948 und danach war. Aber es geht der Tergit nicht um Maud, sondern um politische Themen, um Nationalismus in ganz Europa, um die Borniertheit der Engländer, die Nativität der Amerikaner im Nachkriegsdeutschland, um Machtstreben der Russen, deutschen Mangel an Einsicht in ihre nationalsozialistische Vergangenheit und immer noch vorhandenen Antisemitismus. Antisemitismus begegnet Maud auf Schritt und Tritt: Im Hotel in Berlin weigert sich das Zimmermädchen, das Zimmer einer Jüdin aufzuräumen. Als Maud dem Geschäftsführer versichert, sie sei keine Jüdin, bekommt sie zur Antwort: »Ich sähe aus wie eine Jüdin, und sie hätten in meinem Pass gesehen, dass ich aus New York komme, und das sei bekanntlich eine jüdische Stadt.« (Der erste Zug, 54 f.) Mauds Freund Herbert meint völlig unbegründet: »Aber es ging doch nicht, dass ein großer Teil der Villen, die wir heute gesehen haben, Juden gehörte, und der Besitzer dieses Restaurants war auch ein Jude. Ist das nicht ein Skandal?« (Der erste Zug, 102) Bei der Erstaufführung eines Propagandafilms der Alliierten stehen Deutsche auf und protestieren dagegen, dass darin be-

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hauptet wird, es sei nicht wahr, »dass der Jude in Moskau und die Juden in England und Amerika uns vernichten wollten. Ihr werdet bald merken, was es heißt, den Juden zuzulassen. Wir wollen wieder deutsch werden.« (Der erste Zug, 128). Es ist dieses Einhämmern der Idee von deutscher Verstocktheit und Nichtwahrhaben-Wollen, was man der Tergit angekreidet hat. So schreibt Erhard Schütz in der Welt vom 23. September 2000, das Thema von Antisemitismus und Judenmord sei »so nicht zu fassen«: »Der verzweifelte Lakonismus, mit dem sie [die Tergit] dumpfe Rechtfertigungen und verbohrte Ignoranz wiedergibt, ist bedrückend.« Die spritzigen Dialoge würden immer mehr zu Wechselmonologen, »und die Erzählung geht – leider – zunehmend in Schulfunk über.« Antisemitismus ist das Thema, das Tergits fiktionale Prosa nach 1945 auch weiterhin bestimmen sollte und an dem ihre Erfolgswünsche immer wieder scheitern sollten. Leider muss man zugeben, dass die Tergit in Der erste Zug nach Berlin zwar ihre Stärke ausspielt, journalistisch pointierte Dialoge zu schreiben, aber die Gestalten bleiben seltsam farblos, papierne Repräsentanten jeweiliger Ideen und Standpunkte. Man muss sich deshalb fragen, ob der Herausgeber Jens Brüning der Autorin mit der postumen Veröffentlichung dieser Novelle nicht einen Bärendienst erwiesen hat. Soweit sich anhand ihrer umfangreichen Korrespondenz feststellen lässt, hat die Autorin das Manuskript nie angeboten und auch nirgendwo erwähnt. Wir können allerdings aus zwei Briefen im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar schließen, in welchem ungefähren Zeitraum die Autorin an dem Manuskript gearbeitet hat. Der erste der beiden Briefe, deren Durchschlag sich auf der Rückseite von Originaltyposkriptseiten der Novelle findet, ist im Juli 1953 geschrieben, der zweite im Juni 1961: »Die Novelle war demnach 1953 zumindest in Teilen fertig, wurde um 1955 wahrscheinlich für den britischen Markt angeboten und geriet letztlich in einer der vielen Schubladen im Hause Reifenberg in Vergessenheit.« (DLA)

Kritik am real existierenden Sozialismus der DDR: Das Drama Im Nachlass der Autorin im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N. befinden sich nicht nur verschiedene historische und literarische Aufsätze, sondern auch ein Drama über die Vergesellschaftung der Privatindustrie in der DDR. Damit ist das es offensichtlich nach der Gründung der DDR 1949 und vor dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 entstanden. Die Arbeit beweist zumindest, dass die Tergit sich äußerst kritisch mit der sozialistischen Realität der DDR auseinandergesetzt hat. Das zum großen Teil in brandenburgischer Dialektfärbung ge-

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schriebene Drama ist in zwei Fassungen erhalten: das vollständige Typoskript umfasst 73 (eig. 77) Seiten, ein zweites, bei dem der Schluss fehlt, 55 Seiten. Die Handlung des dreiaktigen unbetitelten Dramas findet im Jahre 1957 in Sarkow-Beeskow, einem fiktiven Ort in der Mark Brandenburg, von etwa 4 Uhr nachmittags bis etwa 11 Uhr abends im Wohnzimmer der Familie Pieske statt. Da auch die Einheit der Handlung gewahrt ist, hat sich die Tergit damit strikt an die drei aristotelischen Einheiten eines Dramas gehalten. Hauptperson ist der etwa fünzigjährige Bauunternehmer Otto Pieske, der soeben in kürzester Zeit eine Brücke instand gesetzt hat, wozu er wegen Materialmangels in der DDR seinen besten Mann, den dreißigjährigen Richard Marinowski zum Kauf von Nieten und Bolzen in den Westen hatte schicken müssen. Pieske selbst hat unverschuldet hohe Steuerschulden bei der neuen Finanzverwaltung, weil ihm eine beim Postamt getätigte entsprechende Zahlung nicht anerkannt worden ist. Aus Angst vor der Staatsgewalt schlägt ihm deshalb seine Frau wiederholt vor, mit ihrer Tochter Trude in den Westen zu gehen. Seine Frau leidet mehr als Pieske unter den Verhältnissen, unter dem hoch gezüchteten Klassenhass, unter der Borniertheit und Lebensmittelknappheit. Pieske wehrt sich dagegen, in den Westen zu fliehen, weil er im Osten seinen erfolgreichen Betrieb aufgebaut hat und auch emotional dort zu sehr verwurzelt ist. Er hat Angst vor dem Neuen, den Ungewissheiten des Westens (»Ich würde mir fürchten, ich würde mir verloren vorkommen.« [Drama, MS, S. 51, DLA]), Angst auch davor, dort eventuell von der Arbeit seiner Frau leben zu müssen. Trude, die Tochter der Pieskes, liebt zwar Marinowski, ist jedoch bereit, den Kneipenwirt und Funktionär Karl Henselmann zu heiraten, weil er ihr als Ehefrau größere Sicherheit bieten kann als der Systemgegner Marinowki. Sie will nichts als ein privates Glück in einer geschützten Ehe: »Ich kann det nich, eenen, der immer mit einem Fuss im Jefängnis is. Ich bin keene Heldin.« (Ebd., S. 22) Als ihr Henselmann einen Heiratsantrag macht, akzeptiert sie ihn, denn »ick möchte es ruhig haben. […] In Ruhe Kinder kriegen.« (Ebd.) »Ick will raus aus der Angst hier zu Hause.« (Ebd., S. 60) Während der Verlobungsszene wird Pieske verhaftet. Frau Pieske bekennt sich zu ihrem Mann, denn: »Es gibt nur eins, Mann und Frau.« (Ebd., S. 71) Marinowski gesteht Trude seine Liebe, aber, obwohl sie ihn liebt, lehnt sie ihn endgültig ab, weil sie ein Leben mit ihm für zu gefährlich hält. Anhand des Schicksals von Herrn Zange, einem Packer bei der Zeitung, macht die Tergit deutlich, dass DDR und Drittes Reich mit ihrem durchstrukturierten Machtapparat und der Kontrolle des Einzelnen vieles gemeinsam haben. Die Verhaftung von Menschen aus politischen Gründen liegt auf derselben Linie.

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Was Tergit der jungen DDR ankreidet, ist das Funktionärstum im wortwörtlichen Sinne. Die zwangsweise Anpassung an eine Ideologie, die das Individuum ausschließlich unter den Aspekten seiner sozialen Klassenzugehörigkeit und seiner Arbeitsleistung betrachtet, ohne auf Charakter, Rückgrat oder persönliche Initiative nur den geringsten Wert zu legen.369

Leider handelt es sich um ein Drama, das mit Recht nicht aufgeführt oder veröffentlicht wurde: »Die Dialoge wirken oft hölzern, die Situationen gestellt, die Charaktere wenig plastisch; die zwanghafte Reduzierung von Zeit, Ort und Handlung auf die klassische Dreiheit beflügelt den zähen Handlungsverlauf keineswegs.«370 Zurück bleibt ein deprimierender Eindruck, denn die Flucht ins Private vermag kein echtes Lebensglück zu suggerieren. Während Pieskes Frau in jeder Situation zu ihrem Mann steht, vermag sich die junge Generation nicht mehr dazu durchzuringen. Sie lebt vom faulen Kompromiss, angepasst an eine faule Gesellschaft. Beeinflusst ist das Stück offensichtlich durch den über Jahrzehnte anhaltenden Kontakt mit Heinrich Reifenbergs Jugendfreund und Kollegen Franz Denner und seiner Frau Ilse. Als die Tergit nach dem Kriege Anfang März 1951 mit ihrem Mann wieder nach Deutschland fuhr, kam es auch wieder zu einer persönlichen Begegnung. In der Londoner Liverpool Street Station stiegen sie in den Zug, fuhren mit der Fähre von Harwich nach Hoeck van Holland und von dort per Bahn nach Berlin weiter. Übernachtet wurde, wie üblich, in der Pension Banck, wo Franz Denner und seine Frau sie besuchten. Die Tergit hatte zum Kaffee in einer Konditorei herrliches Gebäck ihrer Jugend gekauft: Streusel und Bienenstich, Mohrenköpfe und Dominosteine. Die Unterhaltung mit Franz Denner gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet: Er sprach nicht über die materiellen Mängel seiner DDR-Umgebung, sondern ohne Ende nur über den psychischen Druck, »über die verlogenen Spruchbänder überall, die ›imperialistisch-kapitalistische Verseuchung.‹ – ›Esse ich bei euch überhaupt fortschrittliches Gebäck?‹ […] Er sprach und sprach von nichts anderem, so wie wir vor siebzehn Jahren von Hitler gesprochen hatten.« (Etwas Seltenes, 215) Am 13. März aß man zu viert noch einmal zusammen im »Kindl« am Kurfürstendamm; es gab sogenannte Storchennester, d. h. Filetbeefsteak auf Brotsockel mit Trüffel und B¦arnaise, dazu eine Flasche Wein und dann Himbeergeist. Es war ein harmonisches Mittagessen der alten Freunde. Am 19. April 1951 schrieb ihnen Franz Denner, dass er um seine Entlassung als Lehrer gebeten habe, die ihm aber erst zum 30. Juni gewährt worden sei. Er werde ab 1. Juli in West-Berlin arbeiten und sich dort eine Wohnung suchen. Den ideologischen Druck im Osten habe er nicht mehr ertragen können. Erst am 19. März 1953 gelang es aber 369 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 145. 370 Ebd.

Berufliche Erfolge und Ausgrenzung

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den Denners, sich endgültig nach West-Berlin abzusetzen, wo Franz Denner bis 1956 an einer pädagogischen Hochschule unterrichtete371 und dann mit seiner Frau nach Kiel umzog. Später wurde ihr vorher für Flüchtlinge beschlagnahmtes Haus in Kiel-Schilksee frei, wo sie sich permanent niederließen. Das eigentliche, großzügige Gutshaus ihrer Familie bekamen sie allerdings erst am 1. März 1964 frei und konnten es renovieren lassen. Sie waren nun 74 Jahre alt und hatten zwanzig Jahre lang in einem einzigen Zimmer und acht Jahre mit einer Toilette im Freien und ohne fließendes Wasser gelebt. Über die Ungerechtigkeit in Westdeutschland, in der ehemalige Nazis wieder hochdotierte Stellungen hatten bzw. hohe Pensionen bezogen, während Nazigegner von kleinen Renten lebten, kam Franz Denner nicht hinweg. Am 10. Mai 1965 mahnte ihn Gabriele: »Heinz meinte nur diesbezüglich bei unserem Zusammensein, dass Sie sich nicht so über die Naziatmosphäre aufregen sollen.« (DLA) Anfang der sechziger Jahre versuchte sich die Tergit noch einmal im dramatischen Genre, indem sie dem Bühnenvertrieb Kaleidoskop ein Drama anbot. Sie hatte eine Episode aus Hans Scholz’ Am grünen Strand der Spree (1955), einem der größten Verkaufserfolge der fünfziger Jahre, genommen, ein paar eigene Figuren hinzugefügt und das Ganze dramatisiert. »Hans Scholz ist mit allem einverstanden und ich habe ihm gesagt, wir teilen, wenn etwas zu teilen ist 50/50. Angeboten war das Stück nur dem Westdeutschen Rundfunk, die es als ›zu kompliziert!!‹ ablehnten, dabei spielt es in 24 Stunden in einem einfachen Zimmer!« Am 2. Juli bat sie um Rückgabe des Manuskripts, »das doch offenbar nicht für Sie in Frage kommt, […].«372 So ganz abwegig war der Gedanke der Tergit allerdings nicht, denn schon 1956 hatte der Südwestfunk ein Hörspiel gesendet, das auf Scholz’ Roman beruhte, und im Frühjahr 1960 war bereits ein fünfteiliger Fernsehfilm unter der Regie von Fritz Umgelter vom ARD ausgestrahlt worden. Es ist denkbar, dass Tergit schon aufgrund dessen nun eine Absage erhielt.

Berufliche Erfolge und Ausgrenzung Heinrich Reifenbergs Erfolge als Architekt Im Gegensatz zu seiner Frau Gabriele sprach Heinrich Reifenberg ein tadelloses Englisch. Trotzdem hatte er es in England als Architekt nicht leicht. Er hatte 371 Auch in Ost-Berlin war er schon neben seiner Tätigkeit als Gewerbelehrer »nebenamtlich als Dozent an der Pädagogischen Hochschule und an einem Lehrgang, der der Universität angegliedert ist.« Brief von Franz Denner an Gabriele Tergit vom 15. Mai 1947. 372 Brief an Frau Sterz, Kaleidoskop, Bühnenvertrieb vom 11. April 1962 (DLA).

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keine Arbeitserlaubnis und wurde von der englischen Berufsvereinigung der Architekten nicht zugelassen. Erst nach dem Kriege konnte er, wenn auch eingegrenzt, in seinem Beruf tätig werden: Zwischen 1948 und 1951 baute er z. B. gemeinsam mit dem englischen Architekten George Grenfell-Baines, »der in einer Provinzstadt saß« den Power and Production Pavillon in London für das Festival of Britain, eine große Ausstellung: »Wie jede Kollektivarbeit von Künstlern war es kein reines Honigschlecken. Die berühmte Architekturzeitschrift von Paris benutzte das von Heinrich Reifenberg gezeichnete Stahlgespinst der Decke als Titelbild einer Nummer, ohne Heinzens Namen zu nennen und ohne einen Pfennig zu zahlen.« (Etwas Seltenes, 97) Abgesehen von diesem Projekt, hatte Heinrich Reifenberg aber erst seit 1954 eine ganze Reihe von Bauaufträgen; am 22. Februar 1954 schrieb die Tergit an Egon und Ursula Lehrburger, d. h. Egon Larsen, und seine Frau Ursula: »Uns geht es besser als während der ganzen Emigration. Better late than never. Heinz hat 3 sehr anständige Aufträge.« (DLA)373 1957 baute er in London eine Synagoge am Belsize Square für eine liberale jüdische Gemeinde sowie ein Altersheim, das sogen. Otto-Schiff-Haus (Netherhall Gardens/Nutley Terrace) im Emigrantenviertel Hampstead; 1960, wieder in Hampstead, in der Bishops Avenue ein Altersheim für Juden, das sogen. Heinrich Stahl House, einen »Erweiterungsbau der alten Villa von [der Filmschauspielerin und Sängerin] Gracie Fields«374 – »alles sozusagen Aufträge im jüdischen Sektor.«375 Das Altersheim hatte alles Einzelzimmer, denn: »How said my grandfather? Nichs is gut genug für de Jieden. We all should be glad about it.«376 »Zum erstenmal ein Millionenauftrag«, schwärmte Gabriele in einem Brief an Hans Scholz.377 Trotzdem war es ein »sehr unangenehmer Auftrag«, »da unsere klugen Jieden fanden, sie müssten doch ›a well established English firm‹ haben.«378 Das Resultat war, dass Heinrich Reifenberg nur die Hälfte des Honorars bekam, aber die ganze Arbeit machte, da die englische Firma nur einen unerfahrenen jüngeren Kollegen zur Verfügung gestellt hatte.379 Gern wäre Heinrich Reifenberg auch mit dem Wiederaufbau der Synagoge in der Fasanenstraße in Berlin betraut worden. Die Reifenbergs hätten sich sehr darüber gefreut, wie die Tergit an Annamarie Mommsen schrieb: Auf der alten Stelle der Fasanenstraße Synagoge soll ein Haus für »Jüdische Gelegenheiten«, so nenne ich es, errichtet werden. Man kann auch schließlich nicht auf diesem 373 374 375 376 377 378 379

Brief an Egon Lehrburger vom 22. Februar 1954 (DLA). Brief an Annamarie Mommsen vom 16. Juli 1969 (DLA). Brief an Ernst Kobler vom 10. Oktober 1960 (DLA). Brief an Joseph Leftwich vom 14. Oktober 1960 (DLA). Brief an Hans Scholz vom 2. August 1960 (DLA). Brief an Hans Scholz vom 24. November 1961 (DLA). Ebd.

Berufliche Erfolge und Ausgrenzung

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schicksalsschweren Gelände ein neues Versicherungsgebäude errichten. So viel ich weiß, soll es von einem jüdischen Architekten gebaut werden, und hier sind erstens nur ganz wenige jüdische Architekten und die, die hier sind, sind keine »Reichsdeutschen«. Außerdem baut Heinz ja hier die Synagoge für liberale deutsche Juden also für die gleiche Gemeinschaft, der die Fasanenstrasse Synagoge gehört hat. […] Die Gemeindeleute (jüdisch) kennen Heinz, aber was ist mit dem Senator, der das letzte Wort hat? Ein Bau in Berlin wäre aus 1000 und einem Grund natürlich herrlich für uns.380

Leider setzte man Heinrich Reifenberg nur als einen der Schiedsrichter im Wettbewerb für besten Entwurf für den Wiederaufbau ein. 1955 war das Grundstück in der Fasanenstraße an die Stadt Berlin übergegangen, deren Stadtparlament 1957 beschloss, dort den Aufbau des jüdischen Gemeindezentrums zu finanzieren. Leider bekam aber nicht Heinrich Reifenberg, sondern die Architekten Dieter Knoblauch und Hans Heise den Auftrag zum Wiederaufbau. Am 10. November 1957 wurde durch Heinz Galinski, der damals der erste Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlins und gleichzeitig der erste Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland war, der Grundstein gelegt, und am 27. September 1959 wurde das Gemeindehaus feierlich eingeweiht. In den fünfziger Jahren war die Arbeitssituation für Heinz trotzdem wesentlich besser geworden, obwohl auch ihm die lange Unterbrechung durch die erzwungene Muße der Exilsituation wehtat. »Er hat überhaupt jetzt viel Anerkennung«, schrieb die Tergit 1958 an eine Freundin, »die Anerkennung, die er vor 20 Jahren hätte haben müssen.«381

Späte Entschädigung Schon aufgrund seiner Tätigkeit als Architekt ging es den Reifenbergs jetzt finanziell besser. Hinzu kam, dass sie mit Erfolg Wiedergutmachungsansprüche bei den deutschen Behörden in Berlin hatten stellen können. Der Prozess war allerdings langwierig und kompliziert. 1957 klagte Gabriele Tergit, weder sie noch ihr Mann hätten von ihrer Berufsentschädigung etwas bekommen, »aber doch sonst verschiedenes, z. B. Schmuck meiner Schwiegermutter, Judenabgabe von Papa etc. Es läppert sich und trägt natürlich bei unseren bescheidenen Ansprüchen dazu bei, dass wir [es] uns wohler sein lassen können.«382 Noch 1962 bekam sie z. B. einen Brief vom Entschädigungsamt »wegen Entgang von Nutzungen Ihrer literarischen Urheberrechte« »d.h wäre ohne das Dritte Reich 380 Brief an Annamarie Mommsen vom 23. März 1957 (DLA). 381 Brief o.D. an Annamarie Mommsen (DLA). 382 Brief an Liesel Sanger vom 11. Januar 1957 (DLA).

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noch eine weitere Auflage [des Käsebier] und wahrscheinlich in welcher Höhe herausgebracht worden.« Sie nahm an, »dass nachdem in wenigen Monaten 5000 verkauft worden waren, man noch einmal eine Ausgabe gemacht hätte. Aber natürlich ist das alles eine Wahrscheinlichkeit nicht mehr.«383 Diese Wahrscheinlichkeit musste sie sich noch 1962 vom Rowohlt Verlag bestätigen lassen. Jedenfalls konnte sie 1961 konstatieren: »Wir sind für unsere Begriffe – wohlhabende Leute […].«384 Im Mai 1962 war Heinrich Reifenberg in Berlin, und es gelang ihm »viel Geld« zu retten.385 1966 scheinen die Reifenbergs eine größere Summe vom Berliner Entschädigungsamt bekommen zu haben, nachdem Probleme geklärt waren, weil eine Verwandte namens Lisa einen Erbschein nicht eingereicht hatte.386 Am 23. November 1968, kurz nach dem Tode ihres Mannes, erkundigt die Tergit sich beim Entschädigungsamt, ob sie nun zu einem Teil der Berufsentschädigungszahlungen berechtigt sei.387 1970 schreibt sie, sie habe noch immer mit der Restitution zu tun und habe einen Teil der Aktien ihres Vaters wiederbekommen.388 Auch für das großelterliche Haus in der noblen Viktoriastraße in Berlin stand ihr eine Entschädigung zu. Nach dem Tode ihres Mannes im Jahre 1968 hatte sie immerhin keine Geldsorgen, da sie mietfrei wohnte und eine stattliche Rente aus Deutschland bezog – 1974 waren es immerhin 1600 Mark monatlich.389 Entschädigung, Rückgabe von Gestohlenem, soweit möglich, war für Gabriele Tergit ein mehr als berechtigter Anspruch, denn, was an den Juden in Deutschland und in allen von den Deutschen besetzten Gebieten begangen wurde, war ihrer Ansicht nach der größte Diebstahl aller Zeiten: Von der Milliardenabgabe im November 1938, von dem Diebstahl der Häuser, Fabriken, Geschäfte, Arisierung genannt, über die Millionen von silbernen Bestecken, Leuchtern und Kidduschbechern in ganz Europa, über die 1941 beschlagnahmten Pelze, Schreib- und Nähmaschinen, und aller elektrischen Gegenstände jedes einzelnen Juden, bis zu den Goldbarren aus den Zähnen der Auschwitzopfer diente alles der deutschen Bereicherung. Der Hausrat der polnischen Juden, der Schmuck der holländischen Juden, die Gemälde der französischen Juden, die Teppiche und Möbel und Bibliotheken der deutschen Juden, die versteigerten Sachwerte in den Lifts im Hafen

383 384 385 386

Brief an Heinrich Maria Ledig, den Sohn Ernst Rowohlts, vom 2. Juli 1962 (DLA). Brief an Emma Lehmann vom 16. Juni 1961 (DLA). Brief an Hans Scholz vom 2. Juli 1962 (DLA). Brief an Jane (Aennchen) Loep vom 18. Mai 1966 (DLA). Ein Jahr vorher, am 7. September 1965, schrieb sie an Eugen Skasa-Weiß: »[…] – auf Geld bin ich nicht mehr angewiesen dank Onkel Konrad, der uns doch eine Menge zurückgab, mit Recht. Wir haben es schwer genug gehabt.« (DLA). 387 Brief an das Berliner Entschädigungsamt vom 23. November 1968 (DLA). 388 Brief an Hanne Angel vom 27. Januar 1970 (DLA). 389 Brief an Hedi Geng vom 15. Dezember 1974 (DLA).

Berufliche Erfolge und Ausgrenzung

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von Hamburg sind noch heute in deutschen Wohnungen, soweit sie nicht später gebombt wurden oder an deutschen Frauenhänden.390

Selbst Anfang der fünfziger Jahre war es für die Reifenbergs immer noch schwierig, ins Ausland zu reisen, weil die Devisen für eine Person nach dem Kriege zunächst auf 25 Pfund pro Person begrenzt waren. »Wollten so gern im Frühling nach Italien noch einmal im Leben«, schreibt die Tergit am 15. Dezember 1951 an Armin T. Wegner, »aber unsere Erlaubnis wurde wieder gekürzt und so haben wir nur etwa 80 Pfund zusammen. Reicht das? Billets können wir natürlich in Pfunden bezahlen.« (DLA) Trotzdem gelang es ihnen, im Sommer 1951 zehn Tage in Fontainebleau zu verbringen, wo sie sich ein möbliertes Zimmer nahmen. Im August 1952 konnten sie zum Internationalen PEN-Kongress nach Nizza fahren, wo sich ihr in Italien ansässiger Freund Armin T. Wegner leider nicht mit ihnen treffen konnte: Von uns (Gruppe London) waren da Hugo Jacoby, Witwe von Paul Stefan, Gertrud Isolani, David Luschnat, Alfred Ungar, Ossip Kalenter, und ich. Von Deutschland (West) waren viele da. Edschmid, der ist ja reizend. Kreuder, Martin Kessel, Kästner, Kesten, Wilhelm Lehmann, Georg van der Vring. Im Ganzen war es sehr heiß und sehr laut. Die Italiener durch principes vertreten, die Autobusfahrten überwogen aber ein nächtliches Gartenfest war traumhaft.

Im April und Mai 1953 waren die Tergit und ihr Mann in Deutschland, in Köln, Berlin und München, wo sie Tergits Onkel Anton, den jüngsten Bruder ihrer Mutter, besuchten. Heinrich Reifenberg und sie genossen München sehr und fanden, es sei die anregendste Stadt Deutschlands. Anschließend erholten sie sich in Schliersee.391 Im Juni 1953 nahm Gabriele Tergit als zweite Delegierte (nach Hans FleschBrunningen) anstelle des ursprünglich dafür vorgesehenen, aber verhinderten Heinrich Fischer am Internationalen PEN-Kongress in Dublin teil.392 Dort stimmte sie, gemeinsam mit Flesch und der BRD-Delegation sowohl für den neuen Präsidenten Charles Morgan, der später durch »Kommunistenfresserei«, so Robert Neumann, den PEN schädigen sollte,393 als auch für eine von der französischen Delegation eingebrachte Resolution, die von der Neuen Zeitung programmatisch dem Bericht des ebenfalls anwesenden Hermann Kesten vorangestellt wurde: »Der Kongress […] erinnert alle Mitglieder des PEN daran, 390 Brief an Robert Welsch vom 29. März 1979 (DLA). 391 Brief an Hans Scholz vom 12. Juli 1953 (DLA). 392 Zum Folgenden vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«. Die Geschichte des deutschen PEN Zentrums in London 1933 – 2002. Göttingen 2006 (= Schriften des Erich-Maria Remarque Archivs, Bd. 20), S. 254. 393 Vgl. Robert Neumann, Ein leichtes Leben. Bericht über mich selbst und Zeitgenossen. Wien, München, Basel, 1963, S. 102, 521.

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dass sie ihren Eid verletzen, wenn sie eine Beeinträchtigung der Gedankenfreiheit, welcher Art auch immer, in dem Lande schweigend dulden, in dem sie leben.«394 Man kann Tergit die Abgabe ihrer Stimme für einen Mann, der sich erst später eindeutig als wilder Antikommunist erwies, natürlich nicht anlasten, ohne klarzustellen, was 1953 über ihn bekannt war, aber es bestätigt ihre damalige eigene scharfe antikommunistische Einstellung. Gabriele Tergit war von dem Kongress einerseits begeistert, andererseits beklagte sie die Eitelkeit ihrer Schriftstellerkollegen: Es kamen Flesch-Brunningen, Lehrburger und ich aus London. Es kamen Hagelstange, Braun, Henneke, Jahnke, Edschmid und Kästner und ganz zuletzt die Kolb. Ich vergaß Unger. Irland war toll interessant. Die Belastung eines ganzen Volks mit einer neuen Sprache gehört schon zu den irrsten Ideen. […] Das Ganze wird ein immer größerer Jahrmarkt der Eitelkeit und Robert Neumann und Mendelsohn am Vorstandstisch und die wirklich grossen Schriftsteller abwesend freut mich auch nicht.395

1953 war auch das Jahr der Krönung Elisabeths II.; am 2. Juni musste die Tergit zwölf Stunden im Regen darauf warten. Es war, trotz Tribüne, eine schwere Anstrengung für sie.396

Schmerzhafte Marginalisierung Trotz der Publikation der Effingers war Gabriele Tergit in Deutschland kaum noch bekannt und musste in Briefen an Verleger immer wieder auf ihre Tätigkeit als Journalistin und Autorin in der Weimarer Republik hinweisen. Sie wohnte in London und tat sich schwer, in den neudeutschen Literaturbetrieb einbezogen zu werden. »Warum dürfen alle Leute in Berlin vor den vornehmsten Gremiums vorlesen und ich nie?« beklagte sie sich Ende 1958 bei Hertha von Gebhardt, »Der geschwollene Kiaulehn erzählte mir, dass er eine Propagandareise für sein Buch mache. Macht man das heutzutage? Ist das neudeutsch? Können Sie einer Provinzlerin aus Klein-London sagen, wie man so was macht? Und wer sowas organisiert?«397 Ihre, vorsichtig ausgedrückt, Marginalisierung machte ihr emotional schwer zu schaffen. Es schmerzte sie besonders, dass sie selbst von ihren früheren Mitemigranten praktisch nicht mehr wahrgenommen wurde. Ein besonders eklatantes Beispiel ist folgender Zwischenfall mit Hermann Kesten, über den sie 1962 bei Kasimir Edschmid und seiner Frau brieflich Klage führte: 394 Hermann Kesten, »Literaten, Witz und Whisky auf der Grünen Insel. Ein Bericht von der PEN-Club-Tagung«. Undatierter Zeitungsausschnitt (DNB). 395 Nicht abgeschickter Brief an Richard Friedenthal vom 18. Juni 1953 (DLA). 396 Brief an Lisel Sanger vom 25. September 1953 (DLA). 397 Brief an Hertha von Gebhardt vom 9. Dezembers 1958 (DLA).

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[…] dass dieses Buch [Effingers] in keiner wie auch immer gearteten Zusammenstellung – jüdische Literatur – Emigrantenliteratur – Erwähnung findet. Dass auch der Käsebier wie nie gewesen ist. Ich gehöre mit meinem ganzen oeuvre – 1500 Feuilletons, die Heinrich Mann entzückten – nicht zur deutschen Literatur. Mitte der fünfziger Jahre machte ich einen meiner wenigen Versuche, ich ging zur Kulturdezernentin in Berlin, um folgendermaßen abgefertigt zu werden: »Habe den Namen nie gehört, wer sind Sie überhaupt?« Was soll man darauf antworten? Und als ich vor zehn Jahren mal mit Kesten sprach, antwortete er mit einem Satz, der fast so schön ist wie der des jungen Schriftstellers über die alten: »Sie sind mir im Wege«. Kesten sagte: »Ich schreibe nur über meine Freunde.«398

Keine Katz kümmere sich in Deutschland um sie, dabei sei ihr erster Roman, der Käsebier, in der ganzen deutschsprachigen Welt gepriesen worden: »aber das war 1931.«399 Ein weiterer schockierender Zwischenfall machte ihr diese Marginalisierung auch später noch einmal schmerzlich bewusst. Vor »mindestens 20 Jahren« schrieb sie 1979, sei ein deutscher Verleger, dessen Namen sie vergessen habe – es handelte sich um Mathias Wegner – , zu ihr gekommen und habe einen Brief von Hilde Walter für eine Anthologie von Emigrantenbriefen mitgenommen. Als das Buch erschien, war auch dieser Brief darin enthalten unter dem Titel »Hilde Walter an eine Freundin«: »Ich war sehr ärgerlich. Es war die Zeit meiner völligen Erfolglosigkeit und ich schrieb an den Verleger und beschwerte mich, worauf ich einen Brief bekam, in dem stand, ich wäre zu unbekannt, um meinen Namen zu nennen. Es war wohl der Tiefpunkt meiner Karriere.«400 Trotz allem waren Jahre von 1954 – 1964, bis zum Tode ihres Sohnes Peter, für beide Reifenbergs zweifellos die sorgloseste und damit schönste Zeit ihres Le398 Brief an Kasimir Edschmid und seine Frau vom 26. April 1962 (DLA). In einem Brief an Eugen Skasa-Weiß vom 7. September 1965 schreibt sie, die Tatsache, dass sich die Effingers nicht verkauften, habe »a) mit dem Springer Verlag zu tun, der sein Buchgeschäft aufgab […] b) mit dem Erscheinungsjahr 1951, einem Jahr, in dem die Leute noch kein Geld hatten und sich neu einrichten mussten. Es hat auch ein bisschen mit dem unsäglichen Kesten zu tun, der mich prinzipiell verschweigt, weil ihn die Emigration in London nicht interessiert. […] Ich bin stolz darauf dass in all den Jahren in keiner Sprache ein besseres Judenbuch erschien.« (DLA) 399 Brief an Rudolf Frank vom 21. Juli 1971 (DLA). 400 Brief an Hanne Angel vom 12. September 1979 (DLA). Am 11. Oktober 1974 hatte sie bereits an Herbert Wiesner geschrieben: »Ich hörte zum erstenmal, dass Mathias Wegner ein Buch ›Exil und Literatur‹ herausgebracht hat und dass er da einen Brief, den ich ihm gegeben habe teilweise veröffentlicht hat. Wegner war damals bei uns und es war ein anregender netter Nachmittag. Ich gab ihm eine Unmenge Briefe, die er mir auch brav zurückgegeben hat, darunter einen hochinteressanten von Hilde Walter. Als er mir den Band schickte, war der Waltersche Brief völlig abgedruckt unter dem Titel ›Brief an eine Freundin‹, während sämtliche andern Briefe die Name der Empfänger trugen. Als ich das monierte, antwortete er doch, ich sei zu unbekannt, um meinen Namen zu nennen. Sie werden mir zugeben, dass das ein seltsames Benehmen gegen einen Menschen ist, der einem völlig uneigennützig geholfen hat.«

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bens. Wirklich gut ging es ihnen erst seit 1962. Sie hätten sich jetzt auch ein Auto leisten können, fühlten sich mit 60 Jahren dazu aber zu alt und zu müde. Das erste, was sich allerdings ihr Sohn Peter anschaffte, war ein Auto. Ab 1963 hatten sie allerdings ein Auto mit Chauffeur zur Verfügung, bei dem sie nur anzuklingeln hatten. Leider arbeiteten sie nun beide viel zu viel, um sozusagen »die gestohlenen Jahre der erzwungenen Untätigkeit« nachzuholen.401

401 Brief an Friedl Ullmann, die Frau von Gabriele Tergits Onkel Anton, vom 15. August 1962 (DLA).

IV. Der kleine Erfolg der goldenen Jahre

Von Betten und Blumen Das Büchlein vom Bett In den fünfziger Jahren wandte sich Gabriele Tergit mit Erfolg kulturhistorischen Studien zu, die zwar nichts von der zeitkritischen Relevanz des Käsebier oder der Effingers hatten, ihr jedoch einen ganz realen, wenn auch späten Erfolg bescherten. 1954 veröffentlichte sie in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung (Walter Kahnert) in Berlin-Grunewald ihr 68 Seiten umfassendes Büchlein vom Bett, »das sie wohl vollendete, als ihre Effingers endlich in der Bundesrepublik erschienen.«402 Es war ein relativ kleines Projekt, aber eine Arbeit, die ihr viel Freude machte. Das Büchlein enthielt zahlreiche Zeichnungen historischer Möbel, meist Betten, von Gerhard Kreische sowie einige andere – zumeist Frauenbilder – von Erhard Klepper. Gabriele Tergit hätte sich lieber historische Illustrationen gewünscht, hatte sich damit beim Verlag aber nicht durchsetzen können.403 Die Abbildungen fand sie im Endeffekt scheußlich.404 Auch stammte der Titel nicht von ihr, sondern vom Verlag. In 20 kurzen, nur wenige Seiten umfassenden Kapiteln zeichnet die Autorin auf humorvolle Weise eine Geschichte des Bettes von der Antike bis zur Gegenwart nach. Dabei wird auf die physische Liebe nur humorvoll angespielt; Sexszenen selbst werden ausgeklammert. Eingangs erfahren wir etwas über die Notwendigkeit des Schlafs – ein Hund könne fünfzig bis hundert Tage ohne Nahrung leben, aber er sterbe nach zehn Tagen Schlaflosigkeit – mit einem Seitenhieb auf die amerikanische Lebensweise: »Die einfachen Völker wie die einfachen Menschen schlafen gut. Die 402 Egon Larsen, Die Welt der Gabriele Tergit. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. München 1987, S. 99. 403 Brief o.D. an F. Mathys (DLA). 404 Brief an Dr. Luti vom italienischen Verlag ihres Blumenbuchs, Sansoni in Florenz, vom 6. Juni 1962 (DLA).

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Der kleine Erfolg der goldenen Jahre

Amerikaner hingegen vertilgen 70 Tonnen Schlafmittel im Jahr. Niemand wandelt ungestraft unter Wolkenkratzern.« (Büchlein vom Bett, 7).405 Es folgt eine kurze Geschichte des Weckers und anschließend eine Aufklärung über den Ursprung der Sitte, die Spiegel zu verhängen, wenn sich ein Toter im Haus befindet: In ihren Kindertagen glaubte die Menschheit, dass die Seele im Spiegelbild sei. Und die Seele des Toten, die unstet im Hause herumsucht, könnte in Versuchung geraten, Seelen von Lebenden, die sich im Spiegel befinden, mitzunehmen. Man weiß das alles nicht mehr, aber das sind die Gründe, warum man die Spiegel verhängt. (Büchlein vom Bett, 8)

Gern verleiht die Autorin bekannten Redensarten durch eine überraschende Wendung eine neue Bedeutung, z. B. in dem Kapitel »Wie man sich bettet, so schläft man« (Büchlein vom Bett, 14 – 18), in dem auch das Banale mit dem scheinbar Erhabenen kombiniert wird, um einen humorvollen Effekt zu erzielen: »Mit der Matratze beginn das Höhere. Wehe, wem keine Matratze gegeben. Abgesehen vom Heu des Heubodens, auf welchem seit alters her die Verführung stattfand und welches als Matratzenersatz nicht ganz schlecht ist, gibt es Stroh.« (Büchlein vom Bett, 14) Dann beginnt die Darstellung der Geschichte des Betts, angefangen mit den Schlafmöbeln der alten orientalischen Reiche, denn: Niemand hat so zu schlafen verstanden wie die Bewohner der alten orientalischen Reiche! Einer der Perserkönige hatte über seinem Bett eine Laube aus goldenen Weinreben mit Trauben aus kostbaren Juwelen, und das Bett selbst stand auf Teppichen, dick genug, um dem Bett Elastizität zugeben. […] Auch der Perserkönig, der Esther liebte, hatte ein Bett aus Gold und Silber auf einem Fußboden aus blauem, rotem, weißem und schwarzem Marmor. Alexander der Große, der Vereiniger von Ost und West, hielt die große Tradition des Bettes aufrecht und schlief auf einer goldenen Couch in einem Zelt, das von 50 goldenen Säulen gehalten wurde. Das Dach bestand aus den kostbarsten gestickten Stoffen. Ringsum standen 500 persische Diener in purpurroten und apfelgrünen Gewändern und 1000 Bogenschützen in Brandrot und Purpur, wozu sie blaue Umhänge trugen. Auf dieser goldenen Couch lag Alexander und regierte. (Büchlein vom Bett, 19)

Anschließend zitiert die Autorin aus den Sprüchen Salomos, wo von einer Dame berichtet wird, die in der Abwesenheit ihres Ehemannes einen anderen Mann zum Ehebruch auffordert. Sie hat ihr Lager mit Balsam, Aloe und Zimt besprengt, und Tergit überträgt die Situation als zeitlos auf die Gegenwart: »Abgesehen vom verstreuten Zimt auf dem Lager, eine wahrhaft abstruse Idee, ist die 405 Die Zitate im Text beziehen sich auf die Ausgabe Gabriele Tergit, Das Büchlein vom Bett. Berlin-Grunewald: F.A. Herbig 1954, gefolgt von der Seitenzahl.

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Situation die sehr vieler Ehescheidungsprozesse neuesten Datums.« (Büchlein vom Bett, 20) Die Liebe in der Natur, wie sie im Mittelalter Walther von der Vogelweide in seinem berühmten Lied »Unter der Linden« gestaltet hat, bezeichnet die Tergit geradezu süffisant mit einem modernen Ausdruck als Liebe »al fresco«. (Büchlein vom Bett, 24) Überraschend ist auch ihr Schluss, dass der mittelalterliche Mensch »mehr im Bett [saß] als er lag, offenbar aus überzeugtem Trieb zur Unbequemlichkeit.« (Büchlein vom Bett, 25) Wir erfahren etwas über die Tatsache, dass das gemeinsame Schlafen mehrerer Menschen in einem Bett im Mittelalter normal war, dass auch im 16. Jahrhundert ein Bett für einen Menschen allein ein Luxus war, dass die »Eheschließung oberhalb des Niveaus des Strohsacks« in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert eine Sache der Konvention war, über den unglaublichen Luxus, den fürstliche Familien in der Geschichte mit der reichen Ausstattung ihrer Betten trieben, über das Bett als Thron, beispielsweise bei Heinrich VIII. von England und vor allem im Falle Ludwigs XIV. von Frankreich, der die Gesandten morgens im Bett empfing. Im 17. und 18. Jahrhundert war in Frankreich das Bett der Sitz der königlichen Macht, wobei man sich an Alexander den Großen erinnert fühlt. »Es stand in der Mitte des Schlafzimmers, das sich seinerseits wieder auf der Mittelachse des gigantischen Schlosses von Versailles befand – und das Schloss war auf der Mittelachse des Wegs von Paris errichtet worden.«406 Gesandte und Höflinge hatten die Pflicht, das Bett des Königs mit einer tiefen Verbeugung zu grüßen, alte Hoffräulein auch nach dem Tod des Königs. Kommentiert die Tergit geradezu sarkastisch: »Man wird zugeben, dass dagegen Wilhelm Tells Landvogt mit seinem Hut auf der Stange ein armseliger Stümper war.« (Büchlein vom Bett, 43) Was sie uns angesichts derartiger byzantinischer Zeremonien nicht vergessen lässt, ist die Tatsache, dass diese ganze Welt von unwahrscheinlichem Schmutz war. »Er stinkt wie ein Aas«, sagte die Marquise von Verneuil von ihrem königlichen Geliebten. Die Hände der Königin von Schweden waren mit einer Kruste bedeckt. Das Waschen mit Wasser galt als ungesund. Ludwig XIV. wusch sich nie, und es kostete die größte Überwindung, sich ihm zu nähern. Der Verbrauch der Gesellschaft an Parfüms war ungeheuer. (Büchlein vom Bett, 46)

Wieder arbeitet die Tergit hier mit dem Mittel des Kontrasts, in diesem Fall zwischen dem abgezirkelten Zeremoniell einer barocken Hochkultur und der Nichtachtung einfachster heutiger Reinlichkeitsforderungen. Sie berichtet dann von einem Eispalast, den die russische Zarin Anna im Jahre 1740 auf der Newa bauen ließ, komplett mit einem Brautbett aus Eis, auf dem ein Hofnarr, eigentlich 406 Egon Larsen, Die Welt der Gabriele Tergit, S. 101.

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ein Fürst Galitzin, mit einer verrückten Alten vermählt wurde, sowie von einem Bett, das das Kinderkriegen geradezu garantierte: Solange die Welt besteht, haben die Menschen entweder versucht, Kinder zu bekommen oder keine Kinder zu bekommen. Aber nie vorher oder nachher hat man ein Bett konstruiert, das den gewünschten Effekt des Kinderbekommens hervorbringen kann, außer in jenen kurzen Jahren vor der Französischen Revolution, als man Rückkehr zur Natur spielte und ein Schotte Dr. Graham in London einen Tempel der Gesundheit eröffnete. (Büchlein vom Bett, 49)

Dieser Tempel enthielt ein »magnetisch-elektrisches«, »himmlisches Bett« für Paare, die sich Kinder wünschten. Um die dazu erforderliche Stärke zu erwerben, verkaufte Graham einen eigenhändig gemischten »göttlichen Balsam« für nur 21 Mark die Flasche. Und die Benutzung des Wunderbettes? »Diejenigen, die bis zu diesem Thron des Vergnügens vordringen wollen, werden höflichst gebeten, mir ihren Wunsch schriftlich mitzuteilen, und nach einer festen Verabredung und der Einzahlung eines Schecks über 1000 Mark wird ihnen die Eintrittskarte zugehen.« (Büchlein vom Bett, 51) Am Ende des 18. Jahrhunderts »machte [Werther] die Liebe auf fünfzig Jahre hin zu einer Sache zum Sichtotschießen.« (Büchlein vom Bett, 52) Dieses Nebeneinander von Dichterischem, Erhabenem und Banalem sieht Tergit auch in der napoleonischen Epoche: »Der Lorbeerkranz wurde die Schutzmarke des Kaiserreiches. Kein Schlüsselloch ohne Lorbeerkranz.« (Büchlein vom Bett, 52) So mischen sich hier 18. Jahrhundert, modernes Patentrecht und Werbeslogan. Nach dem Ersten Weltkrieg, berichtet die Tergit, gaben die Amerikaner ihre während des Tages versenkbaren Patentbetten auf, »um sich richtige Schlafzimmer einzurichten«, während »in Europa das Schlafzimmer plötzlich und endgültig erledigt [schien]. Das Ehebett ist tot, vive la couch!« (Büchlein vom Bett, 62) Auch in diesem Zusammenhang dominiert der Hang zu anachronistischer Formulierung: An die Stelle des Bettes trat die Couch, die Liegewiese. […] Die Geselligkeit nach 1918 stand im Zeichen der Liegewiese. Sie war das Ende der europäischen Gewohnheit, die Beine beim Sitzen herunterzuhängen, und eine halb liegende Stellung war die einzig mögliche auch am hellerlichten Tage. Zum ersten Male wurde erkennbar, dass Frauen auch Beine hatten. Sie schienen sogar im Zeitalter der Liegewiese wichtiger als das Gesicht zu sein. Der liegewiesegeborene Seidenstrumpf erblickte das Licht der Welt, begann seinen Siegeslauf, der noch heute, nach mehr denn 30 Jahren, nicht beendet zu sein scheint. (Büchlein vom Bett, 62 f.)

Humor erreicht die Tergit im letzten Kapitel, »Von der Zukunft des Bettes« durch eine verblüffende Scheinlogik: Als man von der Liegewiese zum Bett zurückkehrte, machte man das Bett so niedrig, dass man nicht darauf sitzen konnte, um den Eindruck des Lagers zu erhöhen. Auch

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wurde um diese Zeit durch Absägen von hölzernen Bettenbeinen in ganz Europa ein großer Holzvorrat aufgestapelt. (Büchlein vom Bett, 64)

Spöttisch berichtet sie, wie »der erneute Bettenglanz« auf einem »Hintenherumwege« aus Hollywood gekommen sei: »[…] und zeitweise sah es so aus, als ob nur noch in Schleiflack geliebt werden könne.« (Büchlein vom Bett, 64) Nach diesem paradoxen Nebeneinander von Schleiflack und Liebe beschließt sie das Bändchen mit einem Gemeinplatz, der geradezu an Schulaufsätze Zehnjähriger erinnert und dies zum Zwecke der Erregung von Heiterkeit offensichtlich auch soll: »Die Bettenanordnung wird als Ursache von Scheidungen wahrscheinlich überschätzt, aber nach allem, was gesagt wurde, kann kein Zweifel bestehen, dass das Bett weiter eine große Zukunft hat.« (Büchlein vom Bett, 66) Heiterkeit und Humor sind so die die Hauptingredienzien dieses mit vielen kulturhistorischen Merkwürdigkeiten gespickten Abrisses, in dem die Tergit mit leichter Hand und ohne schlüpfrige Pikanterien die Geschichte dieses lebenswichtigen Meubles gestaltet hat. 1956 war die zweite Auflage des Bettenbuches vergriffen, aber Herbig wollte es zum Leidwesen der Tergit nicht wieder auflegen. Der Verlag glaubte, dass es neben Raymond Peynets 1966 bei Rowohlt erschienener Anthologie Lob des Bettes nicht konkurrenzfähig sei, obwohl Tergits Büchlein nur DM 4,20 kostete und Peynets Buch DM 8,50.

Kaiserkron und Päonien rot Heinrich Reifenberg hatte kurz nach dem Kriege ein großes altes Haus im Süden Londons, 315 Upper Richmond Road, S.W.15, im Stadtteil Putney gekauft, in das man am 1. September 1946 einzog. Endlich wohnten die Reifenbergs dreizehn Jahre nach ihrer Auswanderung in London in einer eigenen Wohnung im eigenen Haus. Die Ortswahl war nicht ideal, weil zu weit abgelegen, aber das Ehepaar Reifenberg hat immerhin jahrelang zur Not allein von dem Haus leben können; als sie es kauften, bestand keine Aussicht auf wesentliche andere Einkünfte.407 Ein Grund für die Ortswahl war, dass Heinrich Reifenberg aus der Emigrantenatmosphäre in Hampstead heraus wollte. Das Haus besaß einen großen, allerdings völlig verwilderten Garten. Es war ein günstiger Kauf, denn Häuser in London waren damals nicht teuer. Sowie sie umgezogen waren, machte sich die Tergit an die Arbeit, indem sie den Garten umgrub, Unkraut jätete, und sowohl nützliche, zur Nahrungsaufbesserung bestimmte Pflanzen als auch nutzlose: Blumen säte und pflanzte denn, »Wo Frauen gärtnern, gibt es 407 Vgl. Brief an Lisel Sanger vom 6. März 1955 (DLA).

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Blumen.« (KPr, 86)408 Erst in fortgeschrittenem Alter, als ihr die Arbeit zuviel wurde, nahmen sie und ihr Mann sich wöchentlich für vier Stunden einen Gärtner. »In England stehen kleine Häuser, die einen Vorder- und einen Hinterausgang haben und einen Vorder- und einen Hintergarten. Die Gärtnerei nimmt einen großen Platz im Leben ein, und ein Wetteifer ist entstanden, wer seinen Garten am besten hält.« (KPr, 10) »Pflanzen sind das einzige auf dieser Welt, das im Alter immer schöner wird«, schrieb sie später einmal.409 Blumen waren Gabriele Tergits große Leidenschaft, und das zeigte sich auch darin, dass sie schon zu dieser Zeit mit der Arbeit an ihrem international erfolgreichen Blumenbuch begann: Kaiserkron und Päonien rot. Kleine Kulturgeschichte der Blumen, ein Buch von immerhin 330 Seiten mit 35 Zeichnungen versehen, das 1958 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln erschien. Die Arbeit an dem Werk zog sich schon deshalb so lange hin, weil es sich um das am sorgfältigsten recherchierte Buch der Autorin handelt: Die Bibliographie am Schluss des Bandes enthält rund sechzig englische und deutsche Titel, die im 19. und 20. Jahrhundert erschienen sind, wobei es sich bei einigen, wie Hieronymus Bocks New Kreutterbuch (1539), auch um wesentlich ältere handelt. Ihre umfangreichen Studien nahm die Tergit zum großen Teil im Natural History Museum im Londoner Stadtteil Kensington vor, wo sie die Weltliteratur über Blumen zur Verfügung hatte. »Es war eine beglückende Zeit, eine beglückende Sache.«410 Leider gab es viel Ärger mit dem Verlag: »Was ich mit Kiepenheuer & Witsch durchmache, geht auf keine Kuhhaut, jetzt setzen sie schon den vierten Mann heran, der mein anständiges Deutsch in neudeutsches Geschwafel verbessert.«411 Das Buch war von Witsch im April 1956 angenommen worden. »Und [erst 1958] gedruckt ohne mir das meines privaten Tons beraubte Buch noch einmal vorzulegen. Es wurde auf schieres Hochdeutsch umgeschrieben. Ich sah es in den Fahnen und habe fast Selbstmord begangen. Fünf Jahre Arbeit haben mir diese Burschen kaputt gemacht!!!«412 Noch 1970 meinte sie, der Verlag habe ihr Buch »in Grund und Boden umgeschrieben […], so dass ich [bei] Dr. [Johann Caspar] Witsch anfragte, was er zu einem Kunsthändler sagen würde, der in ihm an-

408 Die in den Text eingefügten Seitenzahlen nach der Sigille KRr beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe: Gabriele Tergit, Kaiserkron und Päonien rot. Kleine Kulturgeschichte der Blumen. München, Zürich: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur. Nachf. 1963. 409 Gabriele Tergit, »So sind die Menschen«. In: Europäische Ideen (1978), Heft 43, S. 26 – 29; hier S. 27. 410 Interview mit Henry Jacob Hempel: Gespräch zwischen Henry Jacob Hempel, Berlin und Gabriele Tergit über ihre Emigration, geführt im April 1979 in London. Unveröffentl. Manuskript im Nachlass von Gabriele Tergit. 29 Seiten; hier S, S. 18 (DLA). 411 Brief an Annamarie Mommsen vom 4. November 1957 (DLA). 412 Brief an Hertha von Gebhardt vom 9. Dezember 1958 (DLA).

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vertraute Bilder hineinmalte.«413 Es ist geradezu ein Hohn, dass sie für 50.000 Exemplare nur 3.500 Mark erhielt. Das Blumenbuch ist »die Geschichte der Beziehung von Mensch und Blume durch die Jahrhunderte, zugleich eine Geschichte der Gärten und des Parfüms.«414 Der Titel des Buches stammt aus einem Gedicht von Joseph von Eichendorff mit dem Titel »Der alte Garten«, dessen sentimentale erste Strophe lautet: Kaiserkron’ und Päonien rot, Die müssen verzaubert sein, Denn Vater und Mutter sind lange tot, Was blühn sie hier so allein?

Gabriele Tergit war mit dem Titel ganz und gar nicht einverstanden und bezeichnete ihn in einem Brief an Hans Habe schlicht als »idiotisch«…415 Auch hätte sie das Buch, genau wie im Falle des Bettenbüchleins, lieber mit historischen Bildern illustriert gesehen – »es schrie danach« –, konnte dies aber auch nicht durchsetzen.416 Ihre auf das Zitat des ganzen Gedichts folgende »leicht sentimentale Einleitung über die allgemeine Freude an der Natur« beginnt folgendermaßen: Irgendwo wird es immer Gärten gegeben haben. Wo eine Kultur wächst, ordnete der Mensch das Wildwachsende. Wo man über die Not hinaussieht, wo der Hunger gestillt, die Blöße bedeckt ist und das schützende Dach dem Regen besser wehrt als Höhle und Erdloch, da beginnt der Mensch, das überflüssigste dieser Erde liebevoll zu bedenken, und er begießt die weder Nahrung noch Kleidung spendenden Blumen. In einem Garten zu sitzen, das ist ein Traum vom Ruhen und Rasten, wenn des Tages Werk getan, wenn der Woche Werk getan, wenn des Lebens Werk getan. (KPr, 9)

Die Autorin geht mehr oder weniger historisch vor, indem sie die wechselnden Moden von Blumenzucht und Blumenschmuck beschreibt. Sie beginnt mit den Gärten der Chinesen vor 5000 Jahren, Tempelgärten in Peking mit Päonien, Gärten, die 1400 Jahre alt sind, mit den Gärten im alten Ägypten und der Vorliebe der indischen Kultur für die Lotusblume. Persien sei das Land der Rosenkultur gewesen. Dann beschreibt sie den Ursprung der Botanik im Griechenland der Antike, den Rosenkult der Römer, die fruchtbares Ackerland in Rosengärten verwandelten, um die ungeheure Nachfrage zu bedienen. Die Bewunderung der Rose habe sich auch im Mittelalter fortgesetzt, indem die Rose von 37.000 Benediktinerklöstern in ganz Europa verbreitet worden sei. »Die Rose galt als die wirksamste Medizin und musste in jedem Klostergarten ge413 414 415 416

Brief an Kurt Morawietz vom 15. November 1970 (DLA). Brief an Dr. Sperr vom 28. Oktober 1958 (DLA). Brief vom 7. Januar 1966 (DLA). Brief o.D. an F. Mathys (DLA).

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pflanzt werden.« (KPr, 49) Doch wuchsen in den mittelalterlichen Gärten nur sehr wenige und bescheidene Blumen. Erst in der Renaissance »begann die Schönheit wieder einen legitimen Platz einzunehmen. Schönheit wurde wichtig« (KPr, 60) und mit ihr auch die Gärten. Bücher über Pflanzen und ihre Wirkung als Arzneimittel erschienen in vielen Auflagen, von Autoren, deren Namen uns heute nicht mehr geläufig sind. Gewächshäuser für ausländische Pflanzen wurden vor allem im 16. Jahrhundert angelegt. Die Autorin berichtet ausführlich über Tulpomanie und Tulpenschwindel im 17. Jahrhundert in Holland sowie über die nachfolgende Begeisterung, die Hyazinthen und Nelken auslösten; über Veilchen und Aurikel, Chrysanthemen, die Erfindung des Staudengartens. Der Zweite Teil des Buches behandelt allgemeine Themen wie »Die Rolle der Blumen im täglichen Leben« (KPr, 151 ff.), »Damen- und Tafelschmuck« (KPr, 136 ff.), »Alle Düfte Arabiens« (KPr, 172 ff.) (über die Parfümherstellung), »Wappenblumen« (KPr, 192 ff.) und, abschließend, »Modeblumen« (KPr,199 f.) In dem Kapitel »Blumenglauben« (KPr, 196 ff.) kommt die Autorin auch auf Heilpflanzen zu sprechen, wobei sie die Heilkraft von Pflanzen zunächst als alte Mythe bezeichnet, aber sofort danach konzediert: »Die Schulmedizin kommt heute wieder vielfach auf den alten Kräuterglauben zurück.« (KPr, 196) Wenn sie anschließend allerlei Aberglauben in Verbindung mit der Sammlung und Verwendung bestimmter Heilpflanzen schildert, ist dies verständlich. Dann beschäftigt sie sich mit dem »langgehegten Glauben«, dass »Ähnliches durch Ähnliches« (Similia similibis curantur) geheilt werde, also mit dem Grundprinzip der heute noch umstrittenen Homöopathie: Die Haut des Menschen wird zum Beispiel von Baumrindensäften geheilt. Die Windungen der Nüsse erinnern an das Gehirn, und Nussnahrung ist Gehirnnahrung. Die Lippenblütler heilen den Kopf. Rosmarin, Melisse, Thymian, Salbei und Pfefferminz, alles Lippenblütler, wirken günstig auf Hals und Mund und auf die Kopfnerven. Die Darmfasern ähneln den Wurzelfasern, und Wurzeln und Rüben bekämpfen Darmkrankheiten. Sie sind Kreuzblütler, und Kreuzblütler helfen gegen tiefliegende Leiden, so soll zum Beispiel das Hirtentäschel Blasen- und Gallensteine aus dem Körper treiben. […] Was es mit alledem auf sich hat, weiß nur der Pharmakologe, aber eins ist sicher : dass die alten Gewürzkräuter äußerst gesundheitsfördernd sind. (KPr, 198 f.)

Bei ihrer Darstellung bringt die Tergit immer wieder ihre persönlichen Anschauungen in Form von spöttischen Spitzen ein, so in den folgenden Bemerkungen: Die Kämpfer der französischen Fronde legten ihre hohen Stiefel ab und ihren Kämpfergeist, behängten sich mit Spitzen, bezahlten für eine solche Garnitur 13 000 Taler, und das einzige, worin die französische Hofgesellschaft von 1660 an die von 1630 erinnerte, war die Sehnsucht nach blonden Perücken, die den Herren das Aussehen von Löwen verschafften. Nach hundertfünfzig Jahren Totschlag aus Weltanschauung wollte man genießen, soweit das möglich war. (KRr, 86 f.)

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Oder, in Bezug auf Napoleon und Josephines Vorliebe für Veilchen: Als Josephine am 29. Mai 1814 starb, schickte Napoleon einen frischen Veilchenstrauß, und bei dem toten Napoleon in St. Helena fand man in einer goldenen Kapsel zwei getrocknete Veilchen, die er nach Waterloo auf Josephines Grab gepflückt hatte. Diese goldene Kapsel hatte er offenbar immer auf seiner Brust getragen. Man stelle sich einen modernen Diktator vor, der heimlich getrocknete Veilchen auf der Brust trägt. (KPr, 119)

Auch andere Anspielungen auf zeitgenössisches Geschehen finden sich, z. B. folgende: Sie [die von Virgil und Plinius zweimal erwähnte blühende Rose von Pästum] überlebte die Zerstörung von Pompeji und Pästum durch Feuer, Wasser und Lava nicht. Das ist merkwürdig, denn die Kraft der Natur war erschütternd und tröstlich zugleich in unseren vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Menschen waren getötet worden, die Häuser zerbombt, der Hausrat verbrannt, der alte Fliederbaum blühte weiter, und die Rosen rankten über den Schutt. (KRr, 123)

Es ist nicht klar, ob sich die Autorin dabei auf London oder Deutschland bezieht. Eindeutig ist dies jedoch in folgender Passage: In Berlin gab es einen Platz, der von geradezu gemeinen Spekulationsbauten von 1910 umgeben war. Dieser Platz hatte die üblichen Behördenbeete. Dann wurde er durch Bomben verwüstet. Er war zu einer Mondlandschaft, einer Urlandschaft geworden. Ein paar Jahre später gab es dort ein gerades Beet mit Stauden, bescheiden, aber immerhin ein Zusammenklang von leuchtenden Farben und ein Zusammenhang mit der Welt. (KPr, 144)

Kritik an Verhältnissen der Geschichte liebt sie besonders, wenn diese in irgendeiner Weise die Gegenwart spiegeln: »Kleine Kinder ermorden, zum Lügen erziehen, nichts wie schwarze Bohnensuppe essen und die Farbe und die Düfte verbieten, das war Sparta.« (KPr, 176) Über ihre eigenen Fähigkeiten als Blumenzüchterin macht sie sich mit einer Bescheidenheitsformulierung lustig: »Die Knospe [der Rose Gloria Dei (Peace)] ist rosa, die Blüten sind gelblich mit leichtem Rosa am Rand. Aber das wichtigste ist, dass selbst ein armseliger Rosendilettant wie ich 37 Knospen an einem Exemplar hatte […].« (KPr, 126) Über Liebe und ehemals schöne Frauen im Zusammenhang mit Reseden: Unglücklicherweise reimt sich »reden« auf »Reseden«, was [in dem Lied »Stell auf den Tisch die duftenden Reseden«] zu dem Satz verführte: »Und lass uns wieder von der Liebe reden«, und das ist das letzte, was man mit der Liebe tun sollte! Vor kurzem sah ich ein Beet mit Reseden, und der junge Gärtner fragte sich und mich: »Wozu man die Dinge pflanzt, weiß ich wirklich nicht.« Und ich erwiderte, wie man von einmal schön gewesenen Frauen sagt: Sie haben einmal herrlich geduftet.« (KPr, 136)

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Der Förderung der Ironie dient manchmal die Personifizierung lebloser Dinge, so in: »Um die Jahrhundertwende durfte kein Badezimmer, das auf sich hielt, ohne Wasserrosenkachelrand erscheinen.« (KPr, 138), oder einfach ein durch Negation eine Sprachformel umkehrendes Wort: »William Robinson riet, die Vasen nur mit einer Art von Blumen zu füllen, ein Rat, der zum Dutzend Nelken oder zum Dutzend langstieliger Rosen im geschliffenen Glas führte und der Phantasielosigkeit keine Grenze setzte.« (KPr, 152) Gabriele Tergit scheut sich nicht davor, immer wieder durch die erste Person ihre persönlichen Ansichten, ihre Vorlieben in ihre Betrachtungen einzubringen, so wenn sie sagt: Ich empfinde immer das Staudenbeet als einen verfeinerten Bauerngarten. […] Ich rede nicht davon, dass Blumen immer größer und höher und farbiger werden, sondern davon, dass sie auch ungezieferfrei, stärker, kräftiger, gesünder werden. Die meisten Stauden kommen nicht aus Europa, und auch das finde ich beglückend, dass alle Länder dazu beitragen […]. (KPr, 144)

Auch persönliche Erfahrungen führt sie auf diese Weise ein: »Aber in Tirol sah ich eine Goldrute als Mittelstück eines runden Beetes.« (KPr, 146) Sie zögert auch nicht, Zweifel an althergebrachten Ansichten anzumelden, so in ihrem Bericht über die Namengebung der Fuchsie: [Der Botaniker Charles] Plumier brachte sie nach Frankreich und nannte sie zu Ehren von Dr. [Leonhart] Fuchs Fuchsia. Es war schon davon die Rede, dass dessen Pflanzengeschichte 1545 ins Französische übersetzt und ein Bestseller wurde. Es ist eine hübsche Geschichte für Optimisten, dass Monsieur Plumier einer Pflanze einen Namen zur Erinnerung an eine zweihundert Jahre alte Schwarte gab. (KPr, 131)

Zeitkritik ist in folgenden Bemerkungen über den Mangel an Blumen im modernen Leben enthalten: 1930 sah ich im reichen Stockholm Blumen auf den weißgedeckten Tischen der Arbeiterlokale stehen, an denen den Arbeitern die Speisen serviert wurden, während in New York, genau wie in London, die arbeitende Bevölkerung in Selbstbedienungsläden isst. Dort ist das Essen üppig und billig, aber es ist zur Befriedigung des Hungers ohne jede Grazie erniedrigt worden. (KPr, 158)

Im Ganzen ist das Buch jedoch völlig auf Unterhaltung ausgerichtet und ein pädagogisch erhobener Zeigefinger ist nirgends zu sehen. »Mühelosen Schrittes, neugierig und staunend, von Erkenntnisblitzen oft erheitert, folgt der Leser den sprachlichen Gebinden, die sie daraus flocht, und ist dankbar dafür, den Menschen in seiner grimmigen Historie hier kontinuierlich für das Schöne, das

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Blühende und dessen Spiegelung in bildender und sprachlicher Kunst am Werke zu sehen.«417 1961 erschien eine englische Ausgabe des Buches bei Oswald Wolff in London (Flowers Through the Ages), Gabriele Tergits »erste[s] englische[s] Buch nach 22 Jahren«,418 eine italienische Ausgabe bei Sansoni in Florenz 1962 – diese unter Tergits eigenem Titel, »Kleine Kulturgeschichte der Blumen« (Piccola storia dei fiori) – sowie eine Taschenbuch-Ausgabe bei Droehmer. Sie bedauerte, dass nicht alle drei Ausgaben auf einmal mit den gleichen Illustrationen erschienen: »Was für eine Verschwendung, […].«419 1967 erschien das Büchlein auf Bulgarisch – 7000 Exemplare waren in wenigen Tagen vergriffen, von 10 Luxusexemplaren, die die »Bekenner der Gleichheit«420 herausbrachten, erhielt die Tergit eins – und 1975 auf Schwedisch.421 Die Taschenbuchausgabe wurde nach 15,000 verkauften Exemplaren zum Leidwesen der Autorin, weil angeblich nicht genügend verkauft, nicht wieder nachgedruckt. Am 7. März 1950 flog die Tergit »wegen einer ganzen Reihe von Fernsehfeatures aus diesem Buch nach BadenBaden«422 – offensichtlich zum SWF (Südwestfunk) Studio. 1966 wandte sie sich auch an Heinz Kamnitzer mit der Anfrage, ob das Buch, das auch die Arnold Zweig und seine Frau sehr liebten, nicht vielleicht auch für die DDR in Frage käme, »und wie fängt man das an?«423 Zum Erfolg des Blumenbuches bemerkte sie: »Die Engländer sagen zwar ›Better late than never‹, aber ich sage: ›Besser früher als später.‹ Aber das hat mir, uns allen, der Herr Hitler zerstört.«424 Der Erfolg des Buches im Gegensatz zu den Effingers und der Schwierigkeit, das Manuskript ihres neuen Romans So wars eben, unterzubringen, veranlasste die Tergit zu dem bitteren Kommentar : »Blumen sind eben beliebter als Juden.«425 1965 erschien im Landbuch Verlag, Hannover dann noch ein mit Farbfotos ausgestattetes Kleines Tulpenbüchlein, an dem sie bereits seit 1959 arbeitete. Ursprünglich sollte es im Ernst Heimeran Verlag in München erscheinen. Am 10. August 1959 hatte sich Margrith Heimeran an sie gewandt; sie habe das Blumenbuch gelesen und sie gäbe Blumenmonographien heraus, und ob Gabriele Tergit sich beteiligen möchte. Als Beispiel sandte Frau Heimeran ein »nicht gutes« Buch über Blumenarrangieren und schlug einzelne Blumen als Thema vor. Gabriele Tergit hatte geantwortet, um ein Bändchen zu schreiben, 417 Margarete Dierks, »Berlin-Romane und Blumen-Kulturgeschichte«. In: Frankfurter Hefte 36 (1981) H. 9, S. 65 – 68; hier S. 67. 418 Brief an Nelly Sachs vom 14. Oktober 1960 (DLA). 419 Brief an Herrn Stresow vom 21. Januar 1962 (DLA). 420 Brief an Doktor Lotsch [?], Droste Verlag, vom 9. Dezember 1967 (DLA). 421 Es war bereits 1969 akzeptiert worden… 422 Brief an Jane (Aennchen) Loep vom 9. Februar 1960 (DLA). 423 Brief an Heinz Kamnitzer vom 20. Oktober 1966 (DLA). 424 Brief an Hans Scholz vom 2. Juli 1962 (DLA). 425 Brief an Axel Eggebrecht vom 1. November 1975 (DLA).

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wüsste sie nur über die Tulpe genug von den Blumen, die Frau Heimeran aufzählte: »Ich habe zwar einen großen Garten, aber ich bin eine Historikerin, eine Meineckeschülerin. Wenn Sie mir mit Literatur über die botanischen Probleme ein bisschen helfen könnten, glaube ich schon ich könnte es schaffen. Schreiben kann ich ja und das ist schließlich die Hauptsache.«426 Sie war jedenfalls Feuer und Flamme und machte sich sofort an die Arbeit. Da sie zumeist englisches Material benutzte, hatte sie jedoch Schwierigkeiten mit den deutschen Artenbezeichnungen.427 Wer nun die Tulpe gewählt hatte, ob ich oder Frau Heimeran, weiß sich nicht mehr, und ich sowohl dämlich wie fleißig, anstatt zuerst eine Synopsis zu schicken, begann gleich zu arbeiten und machte das ganze Buch fertig. Frau Heimeran war schwer enttäuscht. Sie fand es viel zu gebildet, benahm sich aber reizend, indem sie mir versprach, dass sie in ihren Blumenmonographien die Tulpe nicht in Auftrag geben würde. […] Ich hatte das Buch auch dann an Prestel geschickt, wo mir Stresow schrieb, er hätte leidenschaftlich gern Kaiserkron herausgebracht, aber dies Buch sei zu kurz.

Ihrem Freund Eugen Skasa-Weiß gelang es schließlich, das Büchlein im Landbuch Verlag, Hannover unterzubringen. Wie im Falle des Büchleins vom Bett, bestimmte auch diesmal der letztendlich der Verlag den Titel. Das Büchlein vom Bett und das Blumenbuch hatte Gabriele Tergit ohne Mühe sofort unterbringen können. Der Misserfolg der Effingers hatte sie so entmutigt, dass sie nur noch verkäufliche Bücher schreiben wollte, aber wenn sie geahnt hätte, dass die beiden Bücher sie fünf Jahre kosten würden, hätte sie, wie sie meinte, genauso gut einen Roman schreiben können.428 Die These, die Tergit habe sich »in Reaktion auf das weitgehende Desinteresse an ihrem Roman [Effingers] in den fünfziger und sechziger Jahren heiter-neutralen kulturhistorischen Studien zugewendet«,429 ist infolgedessen nicht überzeugend. Tatsache ist, dass sie sich ja auch danach mit der Arbeit an dem Romanmanuskript So war’s eben wieder dem Roman zugewendet hat. Hinzu kommt, dass sie sich zur gleichen Zeit, als sie an ihren Kulturstudien schrieb, auch mit Porträtskizzen über Kemal Pascha, Benito Mussolini, Mahatma Ghandi, Josip Broz Tito und Antonio Oliveira Salazar beschäftige, die sie unter dem Titel Diktatoren und Rebellen vereinigen wollte. Das gemeinsame Thema war offensichtlich Macht in der Politik. Leider kam es nie zu einer Veröffentlichung.430 426 427 428 429

Brief an Margrith Heimeran vom 10. August 1959 (DLA). Brief an Margrith Heimeran vom 6. September 1959 (DLA). Brief an Nino Ern¦ vom 5. Juni 1959 (DLA). Irmela von der Lühe, »Schreiben im Exil als Chance: Gabriele Tergits Roman Effingers«. In: Charmian Brinson u. a., Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933 – 1945. München 1998, S. 48 – 61; hier S. 51. 430 Die Manuskripte befinden sich in der Sammlung von Jens Brüning in Berlin.

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Seit Anfang der sechziger Jahre lasen die Reifenbergs gemeinsam Bücher, d. h. Heinrich Reifenberg las seiner Frau vor. Man las gemeinsam die von Willy Haas vor dem Kriege herausgegebene Zeitschrift Literarische Welt. Diese, so in einem Brief an Haas, mochten sie lieber als Fritz Kortners Autobiographie Aller Tage Abend (1959) und das für sie »sehr enttäuschende[]« Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie (1960) von Ludwig Marcuse. Wie die Tergit 1964 an Willy Haas schrieb, hörte sie »mit größtem Interesse [Franz Theodor] Csokor seinen 8. November vorlesen«, was sie mit einem emphatischen »Mal etwas« kommentierte. Kurt Tucholskys »Vergöttlichung in Deutschland« empfinde sie »nicht als angenehm«.431

Die Jahre der großen Reisen In den fünfziger und sechziger Jahren konnten Tergit und ihr Mann endlich wieder reisen. Zwischen 1933 und 1947 waren sie nur einmal, 1944, bei Freunden in Wales: eine herrliche Erfahrung. Aus England ausreisen konnten sie erst nach ihrer Naturalisierung 1948. Der Bruder der Tergit hatte sie immer wieder eingeladen, ihn und ihre Mutter, die sie seit 1933 nicht gesehen hatten, in Guatemala zu besuchen. Die Mutter lebte in Guatemala bei dem Bruder Gabriele Tergits, dem es anscheinend sehr gut ging: »Haus, 2 Dienstboten, Auto und eine große Reise nach U.S.A., also kurz und gut amerikanischer Kolonialstil, während wir in diesem stark sozialisierten Land ein zwar friedliches aber doch sehr bescheidenes Leben leben.«432 Bisher fehlte es für eine so weite Reise an Geld. Im Winter 1952, bevor es irgendwelche Entschädigungen gab, gehörte Gabriele Tergit, aufgrund ihres Romans Die Effingers sowie ihrer Arbeit für die Neue Zeitung, zu den zwölf ersten Berlinern, die eine »Ehrengabe« von 10,000 Mark bekamen.433 Jens Brüning zufolge bekam sie das Geld für die ihr entgangene Karriere.434 Damit konnten sie und ihr Mann ihre größte und schönste Reise unternehmen. Im Dezember 1953 fuhren sie mit einem Bananendampfer von Hamburg nach Guatelama. Von dort ging es weiter nach Mexiko, um die Ruinen der Maja-Kultur in Uxmal und Chichenitza zu besichtigen. Von Merida aus flogen sie dann weiter über den Golf von Mexiko nach New Orleans und von dort aus mit dem Zug über Richmond, Virginia nach Washington, D.C. Enno Hobbing konnten sie in Washington leider nicht finden, denn er wohnte inzwischen nicht mehr dort:

431 432 433 434

Brief an Willy Haas vom 9. Dezember 1964 (DLA). Undatierter Brief an Manfred Geis (DLA). Brief an Hedi Geng vom 28. August 1971 (DLA). Email von Jens Brüning vom 8. Februar 2011.

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I must however admit that this was my only disappointment. Our whole journey was the grandest thing we ever had in life. I have spoken to so many people whom I had known in my former life 20 years ago and all had survived one way or the other in the New England States as in Virginia or in New York. Silly and ugly ones with no assets what so ever had found positions and a car and a little house of their own. Nature’s stepchildren could live on a standard impossible anywhere in Europe. For me personally the wave of love and friendship which greeted us in New York was almost too much. Old friends who work with »Life« included the Photographer Gore and Mr. Sharp the cartoonist.435

Von Washington ging es nach New York weiter, wo die Reifenbergs etwa zwei Wochen lang blieben und zahlreiche alte Freunde und Bekannte wieder trafen, die durch die Flucht in die USA dem Holocaust entkommen waren. Im New Yorker New World Club konnte die Tergit mit einer Lesung aus ihren Werken auftreten, und die deutsche Buchhandlung von Mary S. Rosenberg veranstaltete einen Abend für sie. Leider erlitt sie in New York einen schweren Asthmaanfall, und später hatte sie immer Angst, dass er wiederkehren würde. Wenn sie etwas erkältet war, kamen immer eine Bronchitis und ein leichtes Asthma hinzu. Von New York aus ging es mit der Queen Elisabeth zurück nach England. Über die Majas und ihre Kultur berichtete die Tergit für den Nordwestdeutschen Rundfunk und den Rias, Berlin. Im Winter 1956/57 waren die Reifenbergs in St. Moritz, was der Tergit besser gefiel als ihrem Mann, der in seiner Kindheit oft dort gewesen war. Zum 14. Juli 1957 flogen sie nach Paris und im September wieder dorthin zu einer Bauausstellung. 1958 fuhren sie »zum erstenmal zu den Opernaufführungen in Glyndebourne, was eine kostspielige aber offenbar herrliche Angelegenheit ist.«436 Im selben Jahr reisten sie für zwei Wochen zur Weltausstellung nach Brüssel und dann in die Bäder von Lucca. Auf der Rückreise machte man in München Station, weil Gabriele ihren dort ansässigen Onkel Anton, einen Bruder ihrer Mutter, noch einmal besuchen wollte, der kurz danach starb. Ende März 1959 fuhren sie nach Italien, wo sie auch ihren alten Freund Armin T. Wegner wieder trafen und einen gemeinsamen Abend verbrachten. Am 14. Oktober 1959 bedankte die Tergit sich in einem Brief an M. de Harcourt für die ausgezeichneten Ratschläge für die Italienreise und bat um weitere Empfehlungen für eine Reise zur Tulpenblüte in Holland. Der Brief gibt uns eine exakte Auflistung der Reisestationen des Ehepaars: We had quite comfortable rooms and the style was exactly what two elderly intellectuals wished for. 435 Brief an Enno Hobbing vom 22. Februar 1955 (DLA). 436 Brief an Liesel Sanger vom 2. Juni 1958 (DLA).

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Florence

Croce de Malta. Breakfast in that little Garden is unforgettable. Piazza Navona. Rome Hotel Minerva and all the restaurants around Siena Hotel Toscana, a room with a good sized table and everything one needs opposite a bar for a very good breakfast Bar Favorita with view of the Piazza for pastries and espresso. Ristorante Turrido, the Foyer of an old theatre In Arezzo Hotel Rosetta, not as Italian as the others A little bit jazzy but first class cuisine. San Gimigniano Hotel Cisterne much more elegant than the others but wonderful. (DLA)

Im Februar 1959 fuhren die Reifenbergs zum ersten Mal seit fast einem Vierteljahrhundert wieder nach Israel, eine Reise, die sie wahrscheinlich mit einer Griechenlandfahrt kombinierten. Bei allen Vorbehalten konzedierte die Tergit, dass dort inzwischen ein enormer Fortschritt geleistet worden war. Im selben Jahr 1959 nahm sie auch als Delegierte am PEN-Kongress in Frankfurt a.M. teil. Im Sommer 1960 ging es wieder nach Italien und anschließend ins Tessin, diesmal mit dem Auto gemeinsam mit Sohn und Schwiegertochter : »Am 7. August fuhren wir nach Chamonix machten dann mit Sohn, Schwiegertochter und Wagen eine Reise durch die Po Ebene, Parma, Piacenza, Pavia, Cremona, Bergamo, Aosta und vor allem Mantua. Dann gingen Heinz und ich auf 14 Tage nach Ascona, wo ich viel mit dem entzückenden Walther Mehring zusammenwar.«437 Anschließend fuhren die Reifenbergs zur Triennale, der 1933 begründeten Designaussellung, nach Mailand. Währenddessen hielten sich Sohn Peter und seine Frau zum Bergsteigen in die Dolomiten auf. Während der ganzen Reise hatte es nicht geregnet! Im Februar 1961 waren sie »in einem wirklich himmlischen Hotel in Beaulieu an der Riviera.«438 Im Oktober 1962 waren sie wieder in Italien, wo sie allerdings das Pech hatten, dass Gabrieles Handtasche gestohlen wurde: Nach einem herrlichen Ausflug in den Pincio mit Pferdchen und essen oben, zum erstenmal, wo es fast zu spät ist, fuhren wir zum Flughafen und saßen daselbst ein, zwei drei Stunden, ich weiß nicht, wie lange, und schließlich wurde klar, dass wir nicht nach London fahren konnten und wir wurden in einem herrlichen Hotel, Hotel Plaza untergebracht und dort wieder um 7 Uhr morgens geweckt. Was immer es war, Heinz stellte die Handtasche an einen falschen Platz im Hotel und sie wurde gestohlen. Darin waren sämtliche Notizbücher, das verbesserte Manuskript meines neuen Romans [So war’s eben] und die Nachtsachen. Über den Verlust des Adressenbuches war ich an sich garnicht so böse. Es war mehr eine Totentafel als ein Adressenbuch, aber einige Verluste waren schmerzlich, so die Ihre.439 437 Brief an Annamarie Mommsen vom 9. Oktober 1960 (DLA). 438 Brief an Emma Lehmann vom 16. Juni 1961 (DLA). 439 Brief an Armin T. Wegner vom 29. April 1963 (DLA).

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Wieder verbrachte man einen gemeinsamen Abend mit Armin T. Wegner und seiner Frau.440 Im Mai 1962 war Gabriele zunächst bei ihrem Augenarzt in Zürich, dann in Ascona. 1963 verbrachten die Reifenbergs vom 7. August an zunächst zwei Wochen im Park Hotel in Wengen in der Schweiz, fuhren dann aber – der Grund war Heinrich Reifenbergs andauernde Italienbegeisterung – nach Italien, und zwar nach Ferrara, Ravenna und Venedig weiter. Schon 5. Juni 1953 hatte die Tergit einen Vortrag über ihre Sizilienreise im Club 43 gehalten. In demselben Klub, der sich jeden Montag Abend um 8 Uhr in 9 Adamson Road, im Hannah Kaminsky House, London NW3 zu Vorträgen traf und oftmals gemeinsame Veranstaltungen mit dem Exil-PEN durchführte,441 trug sie am 21. Januar 1957 über »German Literature in ›Exile‹ (auf Grund neuerer amerikanischer Veröffentlichungen)« vor. Am 31. August 1959 hielt sie im Club 43 einen Vortrag über ihre Reise nach Israel und am 10. Juli 1967 sollte sie einen Vortrag über ihren Freund Armin T. Wegner halten.442 Am 28. Dezember 1964 sprach sie über »Deutsch-jüdische Briefe aus drei Jahrhunderten«. Am 26. Januar 1970 besprach sie vor demselben Forum Richard Friedenthals neuestes Buch Entdecker des Ich. Montaigne, Pascal, Diderot (1969). In ihren Berichten nannte Gabriele Tergit die Vorsitzenden dieses »Treffpunkt[s] für vereinzelte, oft verzweifelte Menschen in einer Stadt ohne Kaffeehäuser« die »Priester dieser Gemeinde mit Krankenbesuchen, Geburtstagsfeiern, Nachrufen«: »Der Treffpunkt war die Turnhalle einer alten Schule, einmal die Woche Sonntag. 400 – 500 kamen zu Goethes hundertstem Geburtstag 1949.«443 Der bis heute noch bestehende Club, der nie mehr als 200 Mitglieder hatte, führte bis 1963 bereits insgesamt mehr als 300 Veranstaltungen zur Literatur durch, vor allem zu klassischen deutschen Autoren wie Goethe, Hauptmann und Hesse.444

440 Am 10. Dezember 1972 sollte Gabriele Tergit im New Yorker Aufbau anlässlich seines 85. Geburtstags eine Würdigung Armin T. Wegners unter dem Titel »Wächter in der Nacht« veröffentlichen. 441 Hilde Spiel bezeichnete in ihren Erinnerungen den Club 43 als »schöngeistige[n] Verein«. Hilde Spiel, Die finsteren und die hellen Zeiten. Erinnerungen 1911 – 1946. München 1989, S. 193. Zur Geschichte des Clubs siehe Marion Berghahn, Continental Britons. GermanJewish Refugees from Nazi Germany. Oxford, Hamburg, New York 1988, S. 153 f. 442 1971 veröffentlichte Gabriele Tergit anlässlich des 85. Geburtstages ihres Freundes zwei fast identische Würdigungen Armin T. Wegners und seines Lebenswerkes: »Streiter für die Verfolgten«. In: AJR Information (London) vom Oktober 1971, S. 9 und »Ein Wächter in der Nacht«. In: Aufbau (New York) vom Oktober 1971. 443 Berichte 10/1979, S. 5. 444 Hermann Peitsch, »No Politics?«. Die Geschichte des deutschen PEN Zentrums in London 1933 – 2002. Göttingen 2006 (= Schriften des Erich-Maria Remarque Archivs, Bd. 20), S. 190.

Krankheit und Tod: Sohn Peter und Ehemann Heinrich Reifenberg

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Krankheit und Tod: Sohn Peter und Ehemann Heinrich Reifenberg Sohn Peter und sein Tod Gabriele Tergits Mutter war schon am 25. Juli 1958 gestorben. Damit war für die Tergit ihre »ganze Jugend und alle Familiengeschichte untergegangen«, und sie wusste gar nicht, wohin eigentlich die weitere Familie an Vettern und Kusinen ihres Vaters und ihrer Mutter und deren Nachkommen geraten war.445 Doch der Tod ihres geliebten Sohnes und Mannes sollte sie noch viel tiefer treffen. Beim Internationalen PEN-Kongress 1964 in Oslo saß sie in einer der ersten Reihen in der großen Kongresshalle bei einer Diskussion, als plötzlich eine junge norwegische Helferin auf sie zukam und sie heraus bat. Ihre Schriftstellerkollegen sahen, wie sie totenblass zum Ausgang ging. Erst nach dem Ende der Diskussion konnten sich ihre Freunde und Bekannten danach erkundigen, was vorgefallen war : Sie war zum Telefon geholt worden, wo sie die erschütternde Nachricht erhielt, dass ihr Sohn Peter beim Ersteigen eines Steilhangs in den Dolomiten bei San Martini di Castrozza von einem Stein erschlagen worden war. Er war erst 35 Jahre alt. Von diesem Schicksalsschlag erholten sich die Eltern nur schwer, denn, wie Gabriele Tergit schrieb: »Im Grunde hat unser Leben 35 Jahre um diesen Sohn gekreist. So ist es und Heinz ist sehr zerbrochen. Er hatte einen ulcer von dem Schock. Es geht ihm gesundheitlich jetzt wieder gut, aber jede Freude ist aus unserm Leben verschwunden.«446 Es ist kein Wunder, dass Peter das Ein und Alles seiner Eltern war und dass sich die Tergit mit Dankbarkeit an alle Einzelheiten seiner Kindheit erinnerte. Aus diesem Grunde sei es gestattet ein längeres Zitat aus einem Brief vom 29. Juni 1967 an Armin T. Wegner einzufügen, in dem sie sich ausführlich über ihren Sohn geäußert hat: Dein Wunsch dir etwas über meinen Peter zu schreiben erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Ich wollte längst etwas über ihn schreiben, aber erst jetzt bin ich dazu vielleicht fähig. Er wurde am 28. Oktober 1928 in Berlin geboren. Ich wurde kurz nach seiner Geburt schwer krank, so dass ich mein nächstes Kind nicht austragen konnte. Er war schon ganz früh hoch amüsant. Als die große Uhr meiner Eltern schlug, verbeugte er sich und sagte zu ihr : »Bitte, bitte omal (noch mal)«. Nach der Analogie von Petersilie fragte er, was denn nun Mamasilie und Papasilie seien. Als am 3. März 1933 die S.A., plus damals noch die rasch herbeigerufene Schutzpolizei, unsere Wohnung durchsuchte, stand der Vierjährige in seinem Bett auf und sagte ganz scharf: »Hier aber raus!« was sofort von Polizei und S.A. befolgt wurde. Wir flohen nach Spindlermühle, wo sich das Kind sehr wohl fühlte. In dem unvergesslichen Peterstal hatte er eine Beschäftigung, er nahm Gräser, tauchte sie in Pfützen 445 Brief an Hans Scholz vom 15. März 1955 (DLA). 446 Brief an Georg Heintz vom 1. August 1968 (DLA).

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und strich damit die Telegraphenstangen an. Er machte sich dabei furchtbar schmutzig und an einem Sonntag kam eine Schulklasse und verhöhnte ihn: »Seht da den Schmutzigen!« Mein Sohn tauchte beide Hände in die Pfütze und ging beide Hände vorgestreckt auf die Schulklasse zu. Ich wusste, dass einem, der mit vier Jahren unerschrocken dreißig Schulkinder in die Flucht schlägt nicht viel passieren kann. Damals als wir in Prag wohnten, ging er in einen Montessorikindergarten und die Leiterin sagte, das sei das erste Kind, das alle Montessorigegenstände so benutzt, wie sich das die Montessori ausgedacht hat und wie es fast alle nicht tun. Dass Menschen verschiedene Sprachen sprechen, kam ihm unwahrscheinlich vor und so sprach er eine ausgedachte Sprache, die völlig echt klang und von ihm als südafrikanisch bezeichnet wurde. Ich habe das in den Effingers, die du ja wohl hast, am Ende geschildert, wie dort auch noch mehreres über den kleinen Emanuel zu finden ist z. B. dass er die Schwierigkeiten seiner Eltern mythologisierte »Die Ungeheuer Visum und Pass«. Ich könnte seitenlang über seine Reaktion auf Israel schreiben z. B. fragte ihn Jemand: »Kennst du schon die 10 Gebote?« »Ja, natürlich, ganz schlechtes Hebräisch.« Oder als er sich mit einem größeren Jungen verkrachte: »Gideon wollte unser König und Herr sein, aber ich sagte, wir wollen keinen König und Herrn über uns, denn Gott allein ist König und Herr.« Aber eines Tages las er die griechischen Sagen auf hebräisch, blickte auf und sagte: »Das ist viel schöner als alle Geschichten aus der Bibel.« Ich hatte das Gefühl, die Weltgeschichte selber sitzt in meinem Zimmer. In Prag entdeckte ich bereits, er war vier, seine große Begabung. Ich fand ihn eines Tages auf seinem Bett sitzend und er streckte mir seine Händchen entgegen und sagte »noch 2 5 sind 4 5, sind 20.« In Palästina entdeckte ich auch seinen moralischen Sinn, er war etwa 8 Jahre alt. Ich las ihm Dornröschen vor, und er sagte: »Das ist ja ein abscheuliches Märchen«. »Warum? Auch in Schneewittchen wird die Stiefmutter sehr hässlich getötet.« »Aber Mama, die Stiefmutter will Schneewittchen vergiften, aber die Ritter wollen Dornröschen befreien und sterben eines qualvollen Todes. Nein, abscheulich.« In England die vierte Sprache und das vierte Land war wohl zu viel, er wurde sehr einsiedlerisch. Noch eins – Als wir 1938 unsre Familien in Thun trafen, wachte er eines morgens auf und sagte – wir kamen von Palästina: »Die Luft ist nicht zu warm und nicht zu kalt, das Bett ist nicht zu hart und nicht zu weich, die Milch ist nicht zu dick und nicht zu dünn, kurz ein Paradies.« Mein Mann sagte strahlend: »Das Lob der Mitte!« In England hatten wir es furchtbar schwer, wir mussten von Zimmer zu Zimmer ziehen, oft konnten wir nur eins nehmen und nahmen in den Ferien dann für ihn eins in der Nachbarschaft. Er was ungeheuer fleißig und kam auf eine sehr gute Schule St. Pauls wo er sehr bald in der Mathematik glänzte und mit siebzehn bekam er eine große Scholarship (Stipendium) für Trinity College Cambridge, das angesehenste College von Cambridge. Er war dankbar und loyal, nie ein Rebell, er war dem Direktor von St. Pauls dankbar, vor allem aber seinem Lehrer (Tutor) in Cambridge, Professor Bessicovitch, dessen Arbeiten er weiter führte. Peter veröffentlichte Arbeit nach Arbeit in den großen mathematischen Zeitschriften, er war von Anfang an ein Geometer, Geometrie im höchsten Sinne war seine Berufung, er versuchte allgemeine Gesetze aufzustellen für die verschiedenartigsten Oberflächen. Professor Fleming von Brown’s University, Boston, nannte ihn »den bedeutendsten Mathematiker, den England in diesem Jahr-

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hundert hervorgebracht hat«. Er hatte eine Commonwealth Scholarship für Berkeley university, San Francisco. Er wurde an Browns university berufen und sagte: »Sie bezahlen mich nur dafür, dass ich da bin. Ich brauche keine Vorlesungen zu halten, gar nichts.« Er wurde ein Fellow von Trinity College, d. h. ein ewiges Mitglied dieses Colleges. Er wurde nach Genua eingeladen, wo er mit Prf. Giorgi von der Universität Rom arbeitete. Vielleicht seine glücklichste Zeit. 1955 ging er permanent an die Universität Bristol. 1958 heiratete er eine bezaubernde Engländerin, gut, klug und nett und ungemein sportlich, leider.447 Er war ein leidenschaftlicher Kletterer. Sie hatten ein entzückendes altes Haus in Bristol, das sie gemeinsam verschönten und einrichteten, immer ein Auto. Meine Schwiegertochter arbeitete weiter als Physiotherapeutin mit spastic, ich glaube man sagt hirnverletzten Kindern, sie gingen jeden Sommer in die Berge. Peter liebte die Dolomiten. Am 23. Juni wurde er von einem Stein getroffen als er mit seiner Frau kletterte (1964) Er wurde am Arm getroffen. Meine Schwiegertochter holte Hilfe, das dauerte 2 Stunden. Als sie zurückkamen, war er tot. Er war allein gestorben. Wir bekamen das Telegram beim PEN Klub Kongress in Oslo. Es war ein ungemein glücklicher Moment seines Lebens, das nun begann die Früchte unendlicher Arbeit zu tragen: Die glückliche Ehe, eine völlig gesicherte Existenz, die Absicht (mit englischem Rationalismus), nach dieser Reise, to start a family, anzufangen Kinder zu bekommen, nur noch eine Frage der Zeit, wann ihm alle Ehren zufallen würden – und das alles zu Ende. Er hat mir übrigens gesagt, dass ich mir mit den »Effingers« eine ›niche‹ in der Weltliteratur geschaffen hätte und für das Blumenbuch könnte ich ohne weiteres den englischen Dr. phil. bekommen. Diese Lobstriche [sic] waren mir wichtiger als alles andre. Peter hatte Heinzens Begabungen, der ein vorzüglicher Statiker ist, seinen ganz klaren Kopf, dazu meines Vaters ganz ungewöhnlichen Fleiß und mein Gedächtnis. Über seine Praktischkeit eine Kleinigkeit. In Cambridge wohnte neben ihm ein reicher Inder, der sich immer sein Brotmesser borgte. Peter ging zu Woolworth, kaufte ein Brotmesse, legte es ihm hin und schrieb ›3 Schilling‹. Er besorgte alle Einkäufe für seinen Haushalt incl. Fleisch. Er lebte gern im Zelt und war mit allem zufrieden. Ich habe noch mal über seine Arbeit nachgelesen: »Es handelt sich um das Gesetz der Oberflächen, E. de Giorgi, H. Federer und W.H. Fleming und J.C. Shepherdson haben alle daran gearbeitet. Prof. Federer (America) schrieb über Peters letzte Arbeit: »Reifenbergs Bearbeitung des Oberflächen Problems ist sehr originell und ein außerordentlich wichtiger Beitrag zur Entwicklung des Kalkulus der Abwandlungen und geometrischen Messungen Theorie. Ich glaube, dass einige seiner Ideen weiter leben werden in bezug auf dieses Gebiet, eine Ansicht, die von Morrey bestätigt wird.« (DLA)

447 Am 28. Januar 1958 schrieb Gabriele an Lisel Sanger : „Inzwischen […] hat sich unser Peter entschlossen, am 29. März zu heiraten. Wir sind recht zufrieden. Es ist ein sehr liebes und hochintelligentes Mädchen. Keine Jüdin, was mir natürlich schmerzlich ist. Aber es war vorauszusehen. Sie heiraten eigentlich hier alle Engländer.“ (DLA)

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Reisen zur Überwindung des Unglücks Es ist nur allzu verständlich, dass Gabriele Tergit und ihr Mann den Tod ihres Sohnes nur schwer überwanden. Es entwickelte sich nun ein enges Verhältnis zwischen Peters Witwe Penny, die ihn auf seiner Bergtour begleitet und zu retten versucht hatte, und den Reifenbergs, die ihre junge Schwiegertochter auf Reisen mitnahmen, um sie nach dem Tode ihres Mannes zu zerstreuen und der in bescheidenen Verhältnissen Aufgewachsenen etwas mehr von der Welt zu zeigen. Schon am 20. Juli 1964 fuhren sie gemeinsam mit ihr auf 14 Tage mit dem Auto in Frankreich herum, um sich die Loireschlösser anzusehen. Es war eine wunderschöne Reise, bei der man eine Menge sah.448 Das Ch–teau de Chambord und die dortige Lichtshow Son et LumiÀre gefiel ihnen besonders gut. Da man mit dem Auto unterwegs war, war die Reise obendrein nicht sehr anstrengend. Im August blieb Penny bei ihnen in London, und Anfang September fuhren sie mit ihr nach Italien, diesmal ohne Auto, zuerst nach Florenz, dann, nachdem sie sich Pisa angesehen hatten, mit dem Flugzeug weiter nach Neapel, wo sie ein sehr schönes Hotel, einen alten Bourbonensitz mit einem herrlichen Park gebucht hatten. Von Sorrent aus besuchten sie Herculaneum und, Penny allein mit Heinrich Reifenberg, Pompeji. Anschließend fuhren sie zu ihrem Lieblingsort Ravello oberhalb Amalfi: »Man muss zum Baden hinunterfahren aber inmitten himmlischer Wälder von echten Kastanien. Das Hotel heißt Belvedere Caruso, ist ein alter Palazzo und wir haben immer ein Zimmer mit Bad und kleiner Terrasse, dabei ist ein Garten mit Liegestühlen. Essen tut man unter Weinlaub.«449 Anschließend fuhren sie nach Wien und danach nach Budapest, wo die Tergit eine Exekutivsitzung des PEN besuchte und sie »eine Bedienung, wie eben nur hinter dem eisernen Vorhang«450 erlebten. Im September/Oktober 1964 waren sie wieder in Italien, längere Zeit in Sorrent, Neapel und dann wieder ein paar Tage in Rom. Im Sommer 1966 flogen beide Reifenbergs zum Internationalen PEN-Kongress nach New York, den die Tergit als einen »wunderbare[n] Kongress« in Erinnerung behalten sollte. Sie flogen mit einem Charterflug des PEN nach New York, wo sie vom Internationalen PEN in einem Universitätshostel untergebracht waren. Der Kongress selbst dauerte vom 10. bis 18. Juni. Durch Joseph Leftwich lernte die Tergit dabei eine Menge jiddisch schreibender Autoren kennen, was für sie »ein tiefes Erlebnis« war.451 Die Reifenbergs waren schon 448 449 450 451

Vgl. Brief an Hanne Angel vom 30. Oktober 1964 (DLA). Ebd. Ebd. Brief an Yeshurun Keshet vom 22. August 1967 (DLA).

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früher nach New York geflogen und blieben insgesamt drei Wochen in der Stadt, um Zeit mit alten Freunden und Kollegen zu verbringen und nicht in die große Sommerhitze zu kommen. Am 20. Mai waren sie schon zu einer Party vom Aufbau für die Delegierten des Londoners Exil-PEN eingeladen, am 22. gab eine Freundin für sie eine Party. Am 2. Juli flogen sie zurück: Ich fand New York wieder aufregend und anregend. Noch nie waren wir vom PEN in großen Privathäusern eingeladen wie in New York. Und die Freundlichkeit der Menschen! Und die Harmlosigkeit! […] Am vorletzten Tag waren wir in den Cloisters [einer Zweigstelle des New Yorker Metropolitan Museums of Art, in dem ein Teil der mittelalterlichen Kunstwerke untergebracht sind]. Die Landschaft ist doch herrlich und keine Reklametafeln irgendwo.452

Heinrich Reifenbergs Krankheit und Tod Im folgenden Jahr 1967 erkrankte Heinrich Reifenberg an Lungenkrebs – er war Zeit seines Lebens ein starker Raucher gewesen. Am 27. Oktober 1967 wurde er im Brompton Hospital in London an Lungenkrebs operiert – der linke Lungenflügel wurde entfernt –, wobei man behauptete, es handele sich um einen sehr langsam wachsenden Krebs, und ihm Hoffnung auf eine Genesung machte. Beide Reifenbergs glaubten der Diagnose der Ärzte nicht recht, und als man Heinrich Reifenberg dringend riet, sich zur weiteren Untersuchung für einige Zeit ins Krankenhaus zu begeben, ignorierte er diesen Rat und fuhr stattdessen im Januar 1968 mit seiner Frau nach Teneriffa, wohin er auch seine Schwester Adele einlud, und anschließend nach Marrakesch in Marokko in das schönste Hotel, in dem sie je gewohnt hatten. »Es waren himmlische Wochen und auch hier [in London] unternahmen wir mehr, gingen zusammen spazieren und dann fuhren wir Ostern 1968 mit unserer geliebten Schwiegertochter Penny nach Spanien, sahen Madrid, Toledo, Aranjuez.«453 Heinz war unermüdlich und ging allein dreimal in den Prado. Es war ihm dabei durchaus klar, dass dies wahrscheinlich die letzte Reise seines Lebens sein würde, und damit sollte er Recht behalten. »Am 29. April bekam Heinz vom Lord Major von Hendon eine Plakette für das beste Gebäude in den letzten drei Jahren vom Civic Trust, […] eines seiner Altersheime. Wir waren sehr glücklich.«454 Eine Woche später versagte nach einen heißen Bad seine linke Hand, dann sein Arm, dann sein Bein. Man sagte den Reifenbergs zuerst, es sei ein Schlaganfall. Acht Tage später war er wieder in der Klinik in Brompton, in der er 452 Brief an Emma Lehmann von 7. Juli 1966 (DLA). 453 Brief an Anne Stern vom 20. August 1969 (DLA). 454 Brief an Frau Bremer vom 23. Oktober 1968 (DLA).

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operiert worden war. Wieder sagte man ihnen, er habe einen Schlaganfall erlitten. Dann kam eines Tages die Ärztin des Gesundheitsdienstes und sagte, es sei alles nicht wahr, es sei eine Krebsmetastase ins Gehirn gegangen, er habe nur noch ein paar Monate zu leben. Heinrich Reifenberg drängte mit alter Energie darauf, zur Behandlung nach Zürich zu gehen, weil er dort auf Rettung hoffte. Er hatte den Sohn seines Vetters Ernst Ginsberg angerufen, einen Neurologen, der ihm sofort ein Zimmer in demselben Hospital besorgte, in dem Ernst Ginsberg gestorben war. Am 29. Juni flog er mit seiner Frau in die Schweiz. Auch in Zürich war die Diagnose zunächst unklar ; man bestätigte dann aber, dass eine Metastase ins Bewegungszentrum im Gehirn gegangen sei. Wie die Röntgenaufnahmen ergaben, war diese in der Tat inoperabel, weil zu tief im Gehirn. »Die Kobaltbestrahlung war ohne jede Wirkung. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele er bekommen hat, jedenfalls wurde aufgehört, weil weitere gefährlich gewesen wären.«455 In Zürich hatte Heinrich Reifenberg einen alten Studienfreund namens Hösli, der Mitglied des Planungsamtes der Stadt war. Er kam jeden Sonntag mit Blumen und Büchern ins Krankenhaus und blieb manchmal den ganzen Tag. Reifenberg freute sich sehr, sich mit ihm dabei über berufliche Dinge unterhalten zu können.456 Seine Frau wohnte die ganze Zeit über im Hotel Eos, auf dem Weg zum Hotel Dolder Grand. Am 3. September 1968 flog Gabriele Tergit mit ihrem kranken Mann nach London zurück. Der Flug war für ihn eine Qual, weil er schwer sitzen und auch nichts mehr essen konnte. Die Tergit musste eine Tag- und eine Nachtschwester anstellen, vorzügliches Pflegepersonal, allerdings »at a price«.457 Ein paar Monate danach, am 16. November, starb ihr Mann. In seinem Beileidsschreiben an Gabriele Tergit drückte Erich Kästner seine Betroffenheit aus, da es offenbar kurz vorher noch Hoffnung gegeben hatte: Als Sie, Ihr Mann, Kasimir Werner und ich während der Kasselers PEN-Tagung vergnügt in der Kellerbar unseres Hotels beisammen saßen, hatten wir wohl alle die Hoffnung, dass Ihr Mann trotz der schweren Operation über den Berg sei. Als [Kurt] Maschler neulich in München war, besorgte er noch ein Rezept für die Treubelschen Tabletten und sauste von einer Apotheke zur anderen, um ein größeres Quantum des Medikaments mit nach London bringen zu können. Aber nun hat schließlich doch nicht die Hoffnung, sondern die Befürchtung gesiegt.458

Die rund 200 Kondolenzbriefe nach dem Tode ihres Mannes – nachdem ihr Kollege H.G. Adler an alle PEN-Mitglieder ein Rundschreiben geschickt hatte, 455 456 457 458

Brief an Heinz Goldberg vom 17. April 1969 (DLA). Brief an Edwin M. Landau vom 18. März 1969 (DLA). Brief an Charlotte Bremer-Wolff vom 23. 10. 1968 (DLA) Brief Erich Kästners an Gabriele Tergit vom 23. November 1968 (DLA).

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erhielt sie insgesamt 61 Briefe allein von ihren PEN-Freunden – sollten die Tergit noch lange beschäftigen: »Es wäre töricht, wenn ich nicht zugäbe, dass mir das ein großer Trost war. Nicht einsam im Weltall.«459 Sie selbst litt sehr unter ihrem Verlust. Am 7. April 1969 schrieb sie in einem Brief an Yeshurun Keshet so etwas wie einen huldigenden Nachruf auf ihren Mann, sein Leben und seinen Charakter, wie er besser nicht hätte geschrieben werden können. Er sei deshalb hier ausführlich zitiert: [Er] geriet [im Ersten Weltkrieg] in französische Gefangenschaft, auch kein Zuckerlecken und kam nach Hause – zu völlig zerrütteten Vermögensverhältnissen früher sehr reicher Leute. Die Familie meines Mannes – Ginsberg – hatte riesige Textilfabriken in Sawierce bei Lodz, man verlor in der russischen Revolution, in Polen, in der deutschen Inflation, mein Mann konnte kaum sein Studium bezahlen, hatte dann sofort einen teuren Haushalt, Mutter und Schwester zu ernähren, eine Architekturpraxis aufzubauen. Er ist diese Geldangst nie losgeworden, dann kam die Krise, ein Bankier verlor unsre Ersparnisse – und dann kam Hitler. Er fuhr 3. Klasse nach Palästina, was absolut nicht nötig gewesen wäre und worunter er litt, er wurde nicht willkommen geheißen, Sie können sich nicht vorstellen wie schrecklich es war ein Jecke zu sein. Und dann die Krankheiten! In seiner Jugend war mein Mann auf dem Zauberberg in Davos, dann hatte er dauernd mit Stirnhöhlenvereiterungen zu tun, bekam 1936 mit 42 Jahren Kinderlähmung, dann eine schreckliche Kiefernsache mit Tamponieren. […] Und in England hatte er keine Arbeitserlaubnis, war nie ein Mitglied des Royal Institute of British Architects, was man sein musste, um eine Karriere zu machen. Die englischen Professions sind verkommen. […] Auch die jüdischen Committees für die er dann die Altersheime baute, sahen nicht seine Integrität, seine unbeschreibliche Sorgfalt, sein Gewissen in Gelddingen, nie hat er einen Kostenanschlag überschritten. Er war entsetzlich leicht gekränkt, er hat nie genossen, seine Schönheit, seine Intelligenz. Unser brillanter Sohn machte ihm Freude, sein Aufstieg, er war entzückt von seiner Frau. Der Tod meines Sohnes hat ihn sehr verändert, endlich sah er was wichtig und was unwichtig war, er gab endlich Geld aus. Wir machten große Reisen mit meiner Schwiegertochter in große Hotels, er genoss es, trotz alledem, nachdem der erste Schock überwunden war, genoss er auch bewusst mit mir in London, machte, was ich mir immer gewünscht hatte viele Spaziergänge – und dann kam die endliche Anerkennung [:] Der Award für das beste Gebäude der letzten 3 Jahre in London, ein Anerkennungsschreiben, alles zwei Wochen bevor sein linker Arm versagte. In der Krankheit war er dann ganz groß. (DLA)

»Es geht mir nicht gut«, schrieb Gabriele Tergit am 19. April 1969 am Armin T. Wegner, »ich habe auch keine Lust mehr auf Reisen. Gerade die letzten Jahre waren so besonders harmonisch. Warum, warum? Es war natürlich das Rauchen, ich habe immer Angst gehabt. Die PEN-Freunde haben mir Beweise großer Freundschaft gegeben, es war ein Trost, aber dir brauche ich nicht zusagen, was es bedeutet was ich verloren habe.« (DLA) Und: »Glaube mir, es ist alles sinnlos 459 Brief an Edwin M. Landau vom 18. März 1969 (DLA).

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allein. Ich wollte so gern einmal Istanbul sehen, es war unser nächster Reiseplan.«460 Als 1978 der Mann einer Bekannten, Frieda Hebel, gestorben war, schrieb sie dieser : »Es ist das Schlimmste was einer Frau passieren kann ihren Lebensgefährten zu verlieren und das zu einer Zeit, wo überhaupt die Altersgenossen weggestorben sind und man niemanden mehr hat zu dem man sagen kann, weißt du noch? Ich habe meinen Mann kennengelernt als wir beide 15! Jahre alt waren. Ich habe niemand anderen gebraucht.«461 Trotz allem fragte sie sich immer wieder, ob sie auch immer nett genug zu ihrem Mann gewesen war : »Natürlich waren wir ungeheuer befreundet, von tiefster Zusammengehörigkeit, aber mir war meine Arbeit sehr wichtig und gerade die letzten Jahre, wo er sehr viel mehr Zeit hatte, hätte ich ihm mehr Zeit widmen müssen.«462 Natürlich war ihr rational klar, dass ihr Mann als Resultat seines jahrzehntelangen Rauchens gestorben war, dennoch machte sie sich völlig irrational Vorwürfe wegen ihres angeblichen Versagens als Frau und Lebenspartnerin. Auch machte sie sich Vorwürfe, dass sie die letzten Wochen mit ihm in der Schweiz der Herausgabe der Autobiographien für den PEN und nicht voll und ganz ihrem kranken Mann gewidmet hatte.463 Nach seinem Tod war sie zunehmend pessimistisch geworden. Kein Wunder, dass sein Tod nach so vielen Ehejahren Trauer und eine Stimmung der Verdüsterung hinterlassen hatte. Nach dem Tod ihres Mannes musste sie sich zunächst einmal mit finanziellen Dingen befassen, dann mit der Auflösung seines Architekturbüros, was nach seiner lebenslangen Arbeit ein Albtraum war. Seine Bücher schenkte sie der Brixton School of Building in London, die eine Ausstellung seiner Arbeiten veranstaltete. Sie lebte nun fast nur von dem Mieteinkommen der Wohnungen in ihrem Haus. Das deutsche Einkommen aus Honoraren verwendete sie für ihre Reisen mit Penny und zuerst einmal zu einer Reise zu ihren Freunden nach Berlin. Dort achtete sie nicht auf ihre Bronchitis und bekam eine Lungenentzündung, mit der sie wochenlang sehr krank in einem Hotel lag. Erst im Herbst 1968 konnte sie nach London zurückkehren. Heinrich Reifenberg hatte unbegreiflicherweise das Haus nur auf seinen Namen eingetragen, was zu einer riesigen Erbschaftssteuer geführt hätte. Gabriele Tergit sah daraufhin hunderte von Briefen durch, die ihr ihre Eltern zwischen 1933 und 1942 geschrieben hatte, bis sie schließlich einige ganz deutliche ihres Vaters fand, aus denen hervorging, dass ihnen ihr Vater ursprünglich das schließlich für das Haus verwendete Geld gegeben hatte. Die Verwaltung der Mietwohnungen machte ihr natürlich viel Arbeit und 460 461 462 463

Brief an Armin T. Wegner vom 12. Juni 1969 (DLA). Brief an Frieda Hebel vom 23. Januar 1978 (DLA). Brief an Hanne Angel vom 3. Juni 1969 (DLA). Brief an Egon Larsen vom 7. Juli 1968 (DNB).

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Kopfzerbrechen, was sie nicht gewohnt war, da ihr Mann sich um alle finanziellen Angelegenheiten gekümmert hatte. Da ihr geschäftliche Dinge ohnehin nicht lagen, hatte sich in ihrer Ehe völlig abgewöhnt, sich darum zu kümmern. Sie hatte keine Ahnung von Steuern oder irgendwelchen Belangen in Verbindung mit den Vermietungen. »Aber dieser Geschäftsuntüchtigkeit steht der vielleicht größere Vorteil gegenüber, dass sich die Menschen in unserm Haus so wohl fühlen, dass wir in vielen vielen Jahren keine Kündigung haben.«464 Aber sie hatte später große Probleme mit ihren Mietern: 1979 hatte sich eine Frau, die fast 30 Jahre dort gewohnt hatte, mit einem Draht erhängt, ein Mann aus Rhodesien wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden; dann zog ein Mann ein, der einen Höllenlärm machte, das Haus überraschend verließ, dabei zwei antike Stühle stahl, alle Apparate in Küche und Bad unbrauchbar zurückließ sowie eine ungeheuer hohe Telefonrechnung… Leider war ihre Wohnung von ihren Bekannten weit entfernt, aber sie wollte sie nicht verlassen, weil sie dort alles an ihren Mann erinnerte; sie wollte diese Erinnerungen festhalten und hatte nur eine Angst: das Vergessen. »Meine Gedanken kreisen immer um die selben Fragen, habe ich das Glück, das ich gehabt habe genügend zu genießen gewusst.«465 Sie war nun sehr viel allein, aber merkwürdigerweise nicht als Folge der Abgelegenheit ihres Hauses, sondern weil sie es vorzog, allein zu sein: »[I]ch, die ich viele Jahre meinem Mann vorgeworfen habe, dass er hier draußen, fern von allen Bekannten, ein Haus gekauft hat, bin nun froh dass ich nicht unausgesetzt mit gleichgültigen Leuten zusammen sein muss.«466 Die Verwaltung des Hauses mit seinen Mietwohnungen stellte eine erhebliche Belastung für die Autorin dar, vor allem Anfang 1973, als ihr Haus vom Blitz getroffen worden war. Das wurde als »act of God« (höhere Gewalten) eingestuft, und die Versicherung zahlte nicht. Hinzu kam, dass, als die Schwiegertochter Penny wieder heiratete, ihre gemeinsamen Reisen, der große Trost nach dem Tod ihres Mannes, damit zu Ende waren. In einem Brief an Hans Keilson kommentiert sie dies selbstironisch mit dem Satz: »Witwenverbrennung hat sein Gutes.«467 Trotz allem arbeitete sie noch immer mit viel Freude in ihrem Garten: »Mein Garten ist ein ziemlicher Strick um den Hals, aber doch meine größte Freude.«468 Auf Reisen ging sie trotzdem wieder, wobei sie auch gern in sehr guten Hotels übernachtete. Denn sie tat sich viel leichter im Geldausgeben als ihr Mann, und es tat ihr mitunter entsetzlich leid, dass sie sich nie um ihre finanziellen Verhältnisse gekümmert hatte, sonst, so meint sie, hätte sie ihm seine »ewigen 464 465 466 467 468

Brief an Jane (Aennchen) Loeb vom 28. März 1963 (DLA). Brief an Yeshurun Keshet vom 7. April 1969 (DLA). Brief an Yeshurun Keshet vom 4. Oktober 1970 (DLA). Brief an Hans Keilson vom 2. März 1973 (DLA) Brief an Mina Bangen vom 17. November 1977 (DLA).

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›Worries‹« schon ausgeredet,469 obwohl ihr dabei sein Fehlen schmerzlich bewusst war. Trotzdem dachte sie immer daran, wie es mit ihm früher an demselben Ort gewesen war : »Ich persönlich war von Mentone [beim PEN-Kongress im September 1969] nicht angetan. Ich war mit Heinz im Februar 1962 in Beaulieu, ich hätte es nicht wiedererkannt, alles kommerzialisiert, selbst in diesen 7 Jahren hat es sich verändert. Das Auto nicht die Landschaft beherrscht alles. Und dann, mein Herz war zu schwer, ich bin ganz ohne Sinn noch auf der Welt. Mit Heinz wäre es sicher wieder sehr schön gewesen.«470 In einem anderen Brief schreibt sie, der PEN-Kongress in Mentone – der Kongress hatte das Thema »Literature in the Age of Leisure« – sei uninteressant und im Gegensatz zu London (1956) und New York (1966) zu bescheiden gewesen. Die Kongressteilnehmer seien nicht einmal in Privathäusern eingeladen gewesen. Besonders in New York sei die Gastlichkeit überwältigend gewesen.471 Die Reifenbergs hatten schon 1967 vom 3.–17 August in Noordwijk im Huis ter Duin gemeinsam Ferien gemacht, aber auch 1970, also zwei Jahre nach dem Tode ihres Mannes, kehrte Gabriele Tergit vom 27. Juli bis 10. August zusammen mit ihrer Schwiegertochter dorthin zurück. Vom 2.–4. Mai tagte der Internationale PEN in Varna in Bulgarien am Schwarzen Meer, woran sie teilnahm. Am 8. Mai flog sie dann von Varna nach Sofia und am 10. Mai von dort zurück nach London. In Sofia hatte sie sich ein gutes Hotel bestellt, und zwar mit der Begründung: »Ich bin leider anspruchsvoll, nicht weil ich aus London komme, sondern weil ich alt bin und Altersschwächen habe und es infolgedessen bequem haben muss, sonst kann ich eben nicht reisen.«472 Ende Oktober/Anfang November 1970 wollte sie gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter nach Istanbul fliegen, aber da dort die Cholera ausbrach, flogen sie stattdessen nach Berlin, das Penny noch nicht kannte. 1972 machte sie mit ihrer Schwiegertochter noch bei schönem Wetter eine Reise nach Jugoslawien und von dort über Padua, Verona, Gardone, Bellagio nach St. Moritz bis Zürich. Penny war sehr dankbar für den menschlichen Kontakt, vor allem mit ihrer Schwiegermutter. Sie heiratete am 17. März 1973 schließlich wieder und adoptierte eine kleine Tochter, die sie NoÚmi nannte, nach der großherzigen Schwiegermutter aus dem Buch Ruth im Alten Testament. Gabriele Tergit bedauerte, dass Penny nun in Ashbourne, Derbyshire lebte.

469 470 471 472

Brief an Hanne Angel vom 27. Januar 1970 (DLA). Brief an Armin T. Wegner vom 14. März 1970 (DLA). Brief an Hertha von Schultz vom 14. November 1969 (DLA). Brief an Josef Klein vom 18. Februar 1970 (DLA).

V. Spätsommer im Zeichen des PEN

PEN-Sekretärin: Konfrontationen und Kontroversen Die Arbeit als PEN-Sekretärin Gabriele Tergit lebte nach dem Tode ihres Mannes nun allein in ihrer Wohnung in ihrem Haus mit seinem großen Garten; das Erdgeschoss und das zweite Stockwerk hatte sie vermietet. Doch der Schein der Einsamkeit trügt, denn sie führte eine rege Korrespondenz, vor allem als PEN-Sekretär – so die offizielle Bezeichnung –, mit Schriftstellerkollegen, die zum großen Teil Mitglieder des »PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland« mit Sitz in London waren. Sie war deshalb die ideale Kandidatin für die Position der Sekretärin des Exil-PEN geworden, dem sie von 1954 bis 1957 bereits als Schatzmeisterin gedient hatte. Als Nachfolgerin Wilhelm Ungers (1955 – 57) übte sie das Amt des Sekretärs von 1957 bis 1981 aus, was nicht nur insofern wichtig war, als sich damit eine enorme Kontinuität im Londoner Zentrum ergab, sondern auch, dass London selbst weiterhin als Zentrum gelten konnte: Mit der Wahl auswärtiger Präsidenten – Ossip Kalenters (1957 – 67) aus der Schweiz, Will Schabers (1967 – 1972) aus den USA und, als Nachfolger Hans Günther Adlers (1973 – 85), Hans Keilsons (1985 – 88) aus den Niederlanden – sowie dem außergewöhnlichen Zuwachs an nicht in Großbritannien ansässigen Mitgliedern wäre London sonst kaum noch als Zentrum anzusehen gewesen. Gabriele Tergit hatte sich nicht danach gedrängt, die Aufgabe als Sekretärin zu übernehmen, aber schon 1957 gelang es den Vorstandsmitgliedern, sie doch dazu zu überreden. Schon aufgrund ihrer zahlreichen internationalen Kontakte baten zahlreiche neue Mitglieder um Aufnahme. Nachdem 1979 die Bestimmung, Mitglied könne nur sein, wer »wegen des Nationalsozialismus oder dessen Folgen ausgewandert« sei, gestrichen worden war, entschloss man sich, auch jüngere Auslandsgermanisten aufzunehmen. Im Laufe einiger Jahre stieg dadurch die Zahl der Mitglieder, trotz einer Reihe von Todesfällen, auf etwa 90 an. Die Tergit übte ihr unbezahltes Amt von ihrem 63. bis 88. Lebensjahr aus –

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erst 1981 trat sie aus Altersgründen zurück; ihr Nachfolger wurde Arno Reinfrank –, also ein Vierteljahrhundert lang, und damit länger als irgendjemand anders in irgendeinem der Zentren des Internationalen PEN. Gleichzeitig arbeitete sie schließlich auch noch an ihren eigenen Werken. Die Tergit hat ihre Tätigkeit als PEN-Sekretärin gern heruntergespielt, indem sie z. B. schrieb: »[W]as tue ich schon für unsere kleine Gruppe? Dreimal im Jahr mache ich einen Bericht und als eine geübte Journalistin brauche ich dafür ein paar Tage. Das ist alles. Dafür war der Dank unserer Kollegen fast beschämend überwältigend.«473 Doch zeigt ihre Korrespondenz, mit wie viel Energie, persönlichem Einsatz und großem Zeitaufwand sie dieses Amt erfüllt hat. Eine ihrer Hauptleistungen als Sekretärin war es, dass sie das sehr unregelmäßig erscheinende Mitteilungsblatt des Zentrums in regelmäßig erscheinende Berichte umwandelte, was obendrein faktisch bedeutete, dass sie diese selbst schrieb. Sarkastisch urteilte sie 1974: »Meine Berichte sind so gut, weil ich viel zu viel Zeit darauf verwende und ich verwende so viel Zeit darauf, weil ich nicht von irgend einer Seite, seit die ›Neue Zeitung‹ verstorben ist, zur Mitarbeit aufgefordert wurde.«474 Die einzige Stelle, wo sie sich aussprechen könne, sei das Blättchen der Association of Jewish Refugees, also die AJR Information.475 Und sie zeichnete als Herausgeberin der Autobiographien und Biographien der Mitglieder : P.E.N. Zentrum deutscher Autoren im Ausland. Sitz London. Autobiographien und Biographien (London 1959, 1968, 1970, 1982), in denen sie dem Leben und Werk der emigrierten und vielfach vergessenen Autoren nachspürte. Aber nicht nur dass diese achtzig Bibliographien zu redigieren, abzuschreiben und zu ergänzen eine sogenannte Sauarbeit war, schlimmer und wichtiger war die Zusammenstellung von 89 Bibliographien unsrer verstorbenen Mitglieder. Der Kürschner ist dabei gar keine Hilfe. Die Emigrantenliteratur muss man sich aus alten Verlagskatalogen der Amsterdamer und Pariser Verlage mühselig zusammenklauben.476

Sie habe manchmal 16 Stunden am Tag daran gesessen.477 1980 gestand sie z. B., dass sie sämtliche Nachrufe auf verstorbene Mitglieder selbst verfasst hatte, »bis in der letzten Zeit z. B. für Necker oder Bender seine persönlichen Freunde des Verstorbenen mit Namen gezeichnete Nachrufe geschrieben haben. Ganz sicher habe ich die Autobiographie von Heinz Liepmann im 1970 Heft geschrieben und die von Hugo Gold.«478 Interessant ist, dass sich die Tergit in ihrer »Einleitung« der Autobiographien 473 474 475 476 477 478

Brief an Edwin M. Landau vom 18. März 1969 (DLA). Brief an Kurt Karl Doberer vom 27. November 1974 (DLA). Brief an Manfred Geis vom 24. August 1959 (DLA). Brief an Ilse Urbach vom 18. Juni 1959 (DLA). Brief an Lisel Sanger vom 18. September 1959 (DLA). Brief an H.G. Adler vom 30. März 1980 (DLA).

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und Biographien auf Wilhelm Scherers (1841 – 1886) Wellentheorie der Blüteepochen der deutschen Literatur bezieht, um zu begründen, dass mit der Exilierung zahlreicher Schriftsteller im Dritten Reich wieder ein Tiefpunkt der deutschen Literatur erreicht sei: Wilhelm Scherer, der berühmte Historiker der deutschen Literatur, hat festgestellt, dass dreimal, nämlich im Jahre 600, im Jahre 1200 und im Jahre 1800, die deutsche Literatur einen Höhepunkt erlebt hat, und dass sie dann jedesmal schnell auf einen Tiefpunkt sank. Die Literaturen der anderen Kulturvölker zeigen kein derartiges Auf und Ab, sondern die grade Linie einer steten Entwicklung. Wie Älteren waren Zeugen, wie ein solches Tief herbeigeführt wurde.479

Die Einleitung zu den Autobiographien und Bibliographien blieb bei den von ihr betreuten Ausgaben die gleiche, »auch wenn es über die letzte Neubearbeitung schon 1980 zu Konflikten mit dem damaligen Präsidenten H.G. Adler kam; er warf ihr vor, die Neuausgabe ›eigenmächtig und nicht öffentlich gegen die bisherigen Beschlüsse des Vorstandes‹480 zu bearbeiten.«481 Die Autobiographien erschienen leider nicht in einem westdeutschen Verlag, was Jonas Lesser, Mitglied des Londoner Zentrums, in seiner Rezension in der Deutschen Rundschau beklagte,482 indem er geradezu aggressiv schrieb: »Während die Helden des Dritten Reiches Verleger für ihre Lügenbücher fanden, fand diese Schrift keinen.«483 Arno Reinfrank weitete diese Kritik in seiner Besprechung in der Mainzer Studentenzeitschrift nobis auf viele andere Buchmanuskripte der Londoner Emigranten aus. Die Ablehnung von Tergits spätem Romanmanuskript So war’s eben »durch ein großes Verlagshaus, dessen Besitzer selbst in der Emigration war«: »da bei uns das Drucken erst ab 10000 Stück anfängt«, wird für ihn zum allgemeinen Rezeptionsproblem der Londoner PENMitglieder : »[I]hren literarischen Arbeiten [wurde] von einer Verlegerschaft, die teilweise auch nicht frei von der deutschen Restauration geblieben ist, nicht die bevorzugte Aufnahme berei[t]et, die ihnen moralisch gebührte.«484 Es ist anzunehmen, dass ihm die Tergit emphatisch zugestimmt hätte. Alle Ausgaben der Autobiographien enthielten die kurze »Geschichte des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland« aus der Feder von 479 Gabriele Tergit, »Einleitung«. In: G.T. (Hg.), P.E.N. Zentrum deutschsprachiger Autoren in Ausland. Sitz London: Autobiographien. London 1970, S. [1]. Ein leicht anderer Wortlaut in der Ausgabe von 1968. 480 Brief H.G. Adlers an Tergit vom 20. Februar 1980 (DNB) 481 Helmut Peitsch, »No Politics?«. Die Geschichte des deutschen PEN Zentrums in London 1933 – 2002. Göttingen 2006 (= Schriften des Erich-Maria Remarque Archivs, Bd. 20), S. 205. 482 Zum Folgenden vgl. Helmut Peitsch, ebd. S. 290 f. 483 Jonas Lesser, PEN im Exil. In: Deutsche Rundschau 85 (1959), S. 1036 f.; hier S. 1036. 484 Arno Reinfrank, Das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. In: nobis. Mainzer Studenten-Zeitung 12 (1960), Nr. 92, S. 8 f; hier S. 9.

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Wilhelm Sternfeld. In der Ausgabe von 1959 hieß es dabei: »(Gekürzte Fassung eines ausführlichen Aufsatzes von Wilhelm Sternfeld)«,485 und die Tergit wies auf die »immer bereite[] Hilfe von Wilhelm Sternfeld«486 hin. Zu diesem Zeitpunkt und im folgenden Jahr war ihr Verhältnis zu Sternfeld offensichtlich noch sehr positiv, obwohl sie dessen Tätigkeit bei der Vorbereitung seines bibliographischen Werkes Deutsche Exilliteratur 1933 – 1945. Eine Bio-Bibliographie (Darmstadt 1962) falsch einschätzte. Sternfeld hatte sich schon 1956 als »Beauftragte[r]« der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt öffentlich »an alle deutschsprachigen Schriftsteller, die als Gegner des nationalsozialistischen Regimes nach 1933 ihr Heimatland verlassen mussten,«487 mit der Bitte um eine Liste ihrer Veröffentlichungen gewandt. Tergit schrieb des bezüglich am 20. Juli 1960 entschuldigend an Sternfeld: Es ist mir ein Herzensbedürfnis, Ihnen zu sagen, dass ich nicht geahnt habe, dass Sie die Arbeit für Darmstadt singlehanded leisten. Ich habe angenommen, die Anregung ging von Darmstadt aus. Dort arbeitet ein Komitee und Sie sozusagen als der Londoner Vertreter. Hätte ich das geahnt, ich hätte natürlich nie gefragt, uns die Früchte Ihrer Arbeit zur Verfügung zu stellen und ich fühle mich recht schuldig, dass ich einfach Ihre Arbeit benutzt habe. Vielleicht freut es Sie, wenn ich Ihnen sage, dass ich Ihr Verhalten in bezug auf unsere Autobiographien aufs höchste bewundere. (DLA)

Die Auseinandersetzung mit Wilhelm Sternfeld Das Verhältnis zu Sternfeld sollte sich leider jedoch aufgrund ihrer Kritik an dem von ihm und Eva Tiedemann herausgegebenen Werk bio-bibliograhischen Werk Deutsche Exilliteratur 1933 – 1945 verdüstern.488 Sie verfasste eine entsprechende Vorlage für den Vorstand des Londoner Zentrums, in der sie die kulturpolitische Wertung der von Sternfeld und Tiedemann erstellten Materialgrundlage zum Streitpunkt machte und von einer »unangenehmen Situation« sprach: Auf der einen Seite ist es schwierig und bedauerlich einen geschätzten Mitemigranten zu tadeln, auf der andern Seite kann es nicht zugelassen werden, dass eine Veröffent-

485 Gabriele Tergit (Hg.), P.E.N. Zentrum deutschsprachiger Autoren in Ausland. Sitz London: Autobiographien und Bibliographien. London [1959], S. 5. 486 Ebd., S. 1. 487 Brita Eckert, u. a.: 35 Jahre Exilliteratur in der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Ein Beitrag zur Geschichte der Exilforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a.M. 1984, S. 72. 488 Zum Folgenden vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 204 – 222.

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lichung, die in keiner Weise irgend welchen Kriterien, die man an ein historisches Werk anzulegen berechtigt ist, als Grundlage für künftige Forscher dienen darf.489

Wie auch aus der weitgehend identischen Kritik H.G. Adlers in einem Brief an Eva Tiedemann deutlich wird, ging es »um Uneinheitlichkeit und Inkonsequenz, die leider in diesem Buche waltet. Gewiss ist es kaum, und zuletzt bei einer Erstausgabe erreichbar, dass man vollständige Angaben erzielt, aber mehr als geleistet wurde, ließ sich doch erstreben: […].«490 Gabriele Tergit sprach schlicht von Fälschung. Besonders ihre Londoner Kollegen erschienen ihr beispielsweise im Vergleich zu Wieland Herzfelde zu kurz gekommen: Paul Marcus, Egon Larsen, Hans Jaeger, Ossip Kalenter und sie selbst. Als Erklärung für die Weglassung bei den einen und die größere Ausführlichkeit bei anderen führte sie an, »die Verfasser haben – wie allgemein – von den kommunistischen Parteistellen das Material fertig zubereitet bekommen, während sie im Westen große Mühe damit hatten.«491 Und ihr Vorwurf an Sternfeld war : »Er hat prinzipiell die Selbstbiographien unserer Mitglieder nicht benutzt, siehe also, wobei dann folgendes herauskommt.«492 Im Ganzen also ein Vorwurf der Parteilichkeit für die kommunistische Exilliteratur. Tergit veröffentlichte anschließend ihre Kritik des Sternfeld/Tiedemannschen Werkes in der Aprilnummer der Mitteilungsblätter des Londoner Zentrums. Sie erhielt daraufhin einen mit »Protest« überschriebenen und von Fritz Beer, Henry Alexander, Karl Gerold, Curt Geyer, Jonas Lesser und Paul Roubiczek unterschriebenen Brief, der zur Veröffentlichung im nächsten Mitteilungsblatt gedacht war. Die Unterzeichneten beschwerten sich darüber, dass damit in den »nur sachlicher Information dienenden PEN Mitteilungen […] zum erstenmal die private und polemische Stellungnahme eines Mitglieds zu einem umstrittenen Thema veröffentlicht worden [sei].«493 Es sei verständlich und gerechtfertigt, dass ein Werk über Exilliteratur gerade in ihren Kreisen, d. h. der betroffenen Exilanten, Gegenstand großen Interesses und kritischer Prüfung sei, »denn wir sind ein Teil dieser Literatur. Es wäre daher besonders wichtig gewesen, eine Stellungnahme in unsern offiziellen Mitteilungen objektiv, verantwortlich und maßvoll zu halten. Wir meinen, dass Frau Tergits Ausführungen

489 Gabriele Tergit, Der Vorstand des PEN Klubs, masch. Typoskript o.T., o.D. (DNB). 490 Brief H.G. Adlers an Eva Tiedemann vom 13. Dezember 1962 (DNB). Will Schaber schrieb am 7. Februar 1963 an GabrieleTergit.: »Was Sternfelds ›Exil-Literatur‹ angeht, so ist das zweifellos ein ›starter‹. Er und der Verlag werden Hunderte von Korrekturen und Zusätzen erhalten, und eine zweite Auflage wird wohl in absehbarer Zeit folgen.« (DNB) 491 Gabriele Tergit, Der Vorstand des PEN Klubs, masch. Typoskript o.T., o.D. (DNB). 492 Ebd. 493 »Protest«, masch. Typoskript o.D., als Anlage zu Brief Tergits an Kurt Pinthus vom 31. Juli 1963 (DLA).

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diesen Anforderungen nicht entsprechen.«494 Alfred Kantorowicz habe in seiner Rezension in der Welt »mit, wie uns scheint, größerer Sachkenntnis als Frau Tergit«, »sowohl dem Wert wie den Mängeln des Buches, dem Verdienst seiner Autoren wie auch ihren Fehlern, die richtigen Proportionen zugemessen […].« Tergits Opponenten beriefen sich auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit als Kriterien für eine Publikation in den Mitteilungen, wenn sie schrieben, über einen anderen Teil der Einwände der Tergit, z. B. ihre Kritik des Artikels »Emigrantenpresse«, könne man legitimerweise verschiedener Meinung sein: Nicht legitim ist es jedoch, wenn Frau Tergit, weil sie den Gesichtspunkt der Verfasser nicht teilt, ihnen politische Motive »mannigfacher Art« unterschiebt und sie zwischen den Zeilen kommunistischer Sympathien oder einer Begünstigung kommunistischer Autoren beschuldigt. Wir hätten gedacht, dass PEN Mitglieder es unter ihrer Würde finden würden, in literarischen Fehden Anleihen bei den Kampfmethoden Senator McCarthys zu machen. Wenn Frau Tergit schließlich das Buch als »Lotterie« und »trübe Quelle« bezeichnet, verlässt sie völlig das Gebiet literarischer Auseinandersetzung und gibt ihrer persönlichen Animosität und ihren Vorurteilen gegenüber den Autoren Ausdruck.495

Wichtig war der letzte Absatz der Entgegnung, »weil er eine Beziehung zwischen Wissenschaftlichkeit und Geschichte des Exils herstellte, die für das historische Selbstverständnis des Londoner Zentrums bedeutsam war«:496 Wir Schriftsteller der Emigration sollten besonders darauf bedacht sein, die heute leider so verschütteten Traditionen kritischer Sauberkeit und maßvoller Auseinandersetzung hochzuhalten. Uns scheint, dass Frau Tergit in ihren Ausführungen dieses Erbe vernachlässigt und der Sache unseres PEN damit in der Tat keinen Dienst geleistet hat.497

Wilhelm Sternfeld hatte schon am 3. Mai 1963 einen Rundbrief (»Strikt persönlich und vertraulich«) nach Deutschland gesandt, unklar an wen, in dem er u. a. über »[d]ie ganze Hohlheit der von Missgunst und verletzter Eitelkeit diktierten Tergitschen Kritik« oder »de[n] aggressive[n] und provozierende[n] Ton und die Impertinenz, mit der sie sich zur Richterin in einer Sache aufwirft, von der sie kaum eine Ahnung hat,«498 Klage führte. Gabriele Tergit schickte am 31. Juli 1963 eine Kopie des »Protestes« an Kurt Pinthus; sie wäre »für eine Rückendeckung von so prominenter Seite wie Ihnen sehr dankbar.« Sie könne gar nichts machen und wolle unter allen Umständen 494 495 496 497 498

Ebd. Ebd. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 215. Gabriele Tergit, »Protest«. Zitiert nach dem Brief Gabriele Tergits an Kurt Pinthus vom 31. Juli 1963 (DLA); vgl. auch ihren Brief an Ludwig Marcuse vom 31. Juli 1963, den sie ebenfalls um Unterstützung bat (DNB).

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einen Skandal, der über die Mitteilungsblätter hinausgehe, vermeiden. »Ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu sagen wie grässlich mir das Ganze ist.« (DLA) Warum ausgerechnet an Kurt Pintus? Von ihm konnte sich die Tergit tatsächlich eine Rückendeckung erwarten, denn er hatte ihr bereits geschrieben: Mit dem Verriss von Sternfelds »Exilliteratur« haben Sie leider vollkommen recht. Es ist mir völlig rätselhaft, warum das Buch so […] lückenhaft und fehlerhaft geworden ist, nachdem so viele Jahre daran gearbeitet wurde, und es noch dazu unter der Oberaufsicht von Professor Eppelsheimer und der jüngeren Mitarbeiterin Tiedemann stand. Für mich ist die Sache besonders bitter, weil ich mein gesamtes Material von etwa 3000 Titeln, das ich vor benahe 20 Jahren mit dem verstorbenen [kommunistischen Schriftsteller F(ranz) C(arl)] Weiskopf zu sammeln begann, Eppelsheimer und Sternfeld übergeben und mit ihnen durchgesprochen habe. Nicht einmal dies Material ist sachgemäß verwendet worden. Wenn ich bloß ansehe, was da über meine nächsten Freunde steht, wird mir ganz elend, zum Beispiel über Hasenclever ist alles falsch und über Manfred Georg steht nicht einmal da, dass er als Chefredakteur den »Aufbau«, das immerhin langlebigste und umfangreichste Exil-Blatt, herausgibt.499

Die Tergit meinte, sie wäre sehr dankbar, wenn sie das Meiste aus diesem Brief unter der Überschrift »Kurt Pinthus schreibt zu der Kritik von Gabriele Tergit« verwenden dürfte. Auch an Ludwig Marcuse schrieb sie und bat ihn um Unterstützung: Dieser Protest muss veröffentlicht werden, und wie Sie sich denken können, habe ich ein großes Interesse, eine Rückendeckung bei Prominenten zu finden. Prf. Pfeiler und Kurt Pinthus haben mir sehr zustimmend geschrieben, aber ob sie mir erlauben werden, diese Zustimmung in unsrem Mitteilungsblatt zu veröffentlichen, weiß ich noch nicht. Ich wäre Ihnen also sehr dankbar, wenn Sie in dieser Sache bei uns das Wort ergreifen würden.500

Helmut Peitsch meint, Tergits Auswahl von Unterstützern sei teils wissenschaftlichen, teils politischen Prinzipien gefolgt: In Pfeiler habe sie sich an einen Germanistikprofessor gewandt, der durch sein Buch als Experte des Exils ausgewiesen war, in Pinthus an einen Bibliographen des Exils, der von Eppelsheimer und Sternfeld in das Projekt einbezogen worden war, in Ludwig Marcuse habe sie dagegen einen Spezialisten des Kalten Krieges gewählt.501 Was Tergit aus einem Brief von Pinthus in den Mitteilungen zitieren wollte, wäre vor allem dazu geeignet gewesen, sie im Hinblick auf einen Verdacht kommunistischer Parteilichkeit zu unterstützen. 499 Zitiert in dem Brief Gabriele Tergits an Kurt Pinthus vom 31. Juli 1963 (DLA). Vgl. auch Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 217. 500 Brief Gabriele Tergits an Ludwig Marcuse vom 31. Juli 1963 (DNB). 501 Zum Folgenden vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 216.

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Den Schlüssel für die Vehemenz, mit der Tergit das Buch von Sternfeld/ Tiedemann attackierte, liefert wahrscheinlich folgender Satz in ihrer Vorlage an den Vorstand des Londoner Exil-PEN: »Man ist nicht in Auschwitz gestorben sondern ermordet worden.«502 Doch der implizite Vorwurf, »durch die breite Dokumentation des politischen, insbesondere kommunistischen Exils, die jüdischen Emigration zu diskriminieren, wurde nicht expliziert, weder von Tergit noch von den Rezensenten, die ihr zustimmten.«503 Am 3. Mai 1963 verfasste Sternfeld unter dem Titel »Strikt persönlich und vertraulich« eine Erwiderung. In Tergits Kritik war seiner Ansicht nach die Erwartung enthalten, die das Ziel seines Buches verfehlen müsse: »dass es ein ›Wer ist’s‹ der gesamten deutschen Emigration werden würde, ganz gleich, ob die Betreffenden im Ausland etwas veröffentlicht haben oder nicht.«504 Im Falle von fünf jüdischen Journalisten, deren Namen und Werk Tergit vermisste, berief er sich darauf, dass diese selbst den Wunsch geäußert hätten, nicht in der Bibliographie vertreten zu sein. Sie nenne aber nicht einen Namen von wirklich literarischem Rang, der nicht darin enthalten sei. Gegen den Vorwurf kommunistischer Sympathien berief er sich auf sein Bemühen um Objektivität: Frau Tergit verdächtigt den Schreiber diese Zeilen […] kommunistischer Sympathien. Ich habe mich ehrlich bemüht, objektiv zu sein, also auch die in Sowjetrussland erschienene deutsche Literatur aufzunehmen, von der in der Bundesrepublik kaum etwas bekannt ist. Aus der ungeheuren Fülle der dort publizierten Schriften wurde nur das berücksichtigt, was eindeutig von Flüchtlingen stammt.505

Sein eigentlicher Angriff gegen Tergit richtete sich aber gegen ihre 1959 erschienenen Autobiographien sowie gegen ihre im Manchester Guardian erschienenen Artikel gegen Kurt Hiller : Es ist nicht das erste Mal, dass sie in dieser Weise öffentlich gegen einen Schicksals-, aber beileibe nicht einen Gesinnungsgenossen polemisiert. Im Jahre der englischen Emigrationsinternierungen 1940/I [sic], hat Frau Tergit, damals selbst vor solcher Eventualität durch einen Palästinapass geschützt, den nach halbjähriger Internierung auf der Isle of Man gerade in die Freiheit nach London zurückgekehrten Dr. Kurt Hiller […] öffentlich bezichtigt, ein »forerunner of Nazism« gewesen zu sein. Eine Behauptung, die trotz ihrer grotesken Lächerlichkeit ungeheuerlich war und an Denunziation und Verleumdung grenzte.506

Als 1965 die Deutsche Bibliothek in Frankfurt eine erste Ausstellung zur Exilliteratur eröffnete, bemühte sich Sternfeld um die Vermeidung einer Konfron502 503 504 505 506

Gabriele Tergit, Der Vorstand des PEN Klubs, S. 4. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 217. Wilhelm Sternfeld, Strikt persönlich und vertraulich. Masch. Typoskript (DLA). Ebd. Ebd., S. 4.

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tation, indem er prominente Exilanten wie Manfred Georg(e), Katia und Erika Mann, Ossip Kalenter, Arnold Zweig, Lilli Becher, Ernst Bloch, den SDS (Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland) in Zürich, den österreichischen PEN und die Wiener Library um Begrüßungsprogramme und damit um ideelle Unterstützung aus den verschiedensten Lagern bat. Dennoch war auffällig, dass die Autoren bei der Eröffnung von Edwin Maria Landau, und nicht vom Londoner Zentrum vertreten wurden. Auf ähnliche Weise hatte Hermann Kesten 1963 das Londoner Zentrum in einem Bericht über das Gedenken des Internationalen PEN anlässlich des dreißigjährigen Jahrestages des Ausschlusses der Nationalsozialisten in Dubrovnik übergangen. Was in Tergits Auseinandersetzung mit Sternfeld deutlich wurde, war das Selbstverständnis des Londoner Zentrums, und damit der Tergit, das den Antifaschismus durch den Antikommunismus ersetzte. Damit beging das Zentrum, und mit ihm auch die Tergit, insofern einen Irrtum, als inzwischen eine politische Wende vom Kalten Krieg zur Entspannung zwischen Ost und West stattgefunden hatte. Auch innenpolitisch hatte insofern eine große Veränderung stattgefunden, als man sich in der Bundesrepublik nun aktiv um eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bemühte und sich damit auch eine positivere Einstellung zur Rezeption von Exilliteratur anbahnte. Allerdings sollte erst in den nächsten zehn Jahren die wissenschaftliche Beschäftigung mit Exilliteratur ein wichtiges Thema der deutschen Germanistik werden, so dass die Tergit damals noch an Johann Wolfgang Brügel schreiben konnte: »Sie wissen, dass an keiner Universität Deutschlands die Emigrationsliteratur zur deutschen Literatur gerechnet wird. Der Fall Heine hat sich einfach verhundertfacht.«507 Gabriele Tergit sah sich selbst wohl nicht einfach als Sekretärin, die im Auftrag und zum Wohl des Zentrums handelte, sondern sie identifizierte sich so sehr mit ihrem Amt, ja, mit dem Londoner PEN Zentrum an sich, dass sich verschiedentlich sogar Differenzen mit den diversen Präsidenten ergaben, zumal wenn diese nicht in Großbritannien lebten.508 »Für mich war Kalenter sehr schwierig«, schrieb sie beispielsweise an Ludwig Wronkow in New York. Er habe einerseits ihre Effingers gelobt, obwohl er ihr Jahre später zugegeben habe, nie Romane zu lesen: »So falsche Fuffziger sind nicht mein Fischkessel. […] Ich werde ungern schlecht behandelt. Kalenter hat mich immer von oben runter behandelt.«.509 H.G. Adler beschwerte sich in den Briefen an seine Sekretärin wiederholt über deren Eigenmächtigkeiten; so protestierte er : »[I]ch muss doch ganz energisch darum bitten, dass es absolut nicht mehr vorkommt jemanden zum Mitglied unseres Zentrums zu machen, ohne mich überhaupt zu konsul507 Brief Tergits an Brügel vom 27. November 1967 (DNB). 508 Zum Folgenden vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 262 f. 509 Brief Gabriele Tergits an Ludwig Wronkow vom 29. Januar 1976 (DNB).

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tieren.«510 Oder : »Ich muss Sie dringend darum bitten, sich strikt solchen Beschlüssen zu fügen und so lieb zu sein, mit uns allen einträchtig zu arbeiten.«511 Und: Nun habe ich leider erfahren, dass Sie leider den eindeutigen Beschluss unseres Vorstandes Herrn Will Schaber mit der Redaktion einer Neuauflage unserer »Selbstbiographien« zu betrauen missachten und einen Text kompilieren ohne den Vorstand und mich oder auch nur Herrn Schaber zu verständigen. Bei aller Verehrung von mir und von uns allen für Sie, darf ich das nicht dulden. Ihr Vorgehen ist absolut unzulässig, zumal die meisten Materialien ohnedies von unsern Mitgliedern Herrn Schaber geliefert worden sind. Außerdem habe ich Ihnen bereits am 20. Februar mitgeteilt, dass es nicht angeht Vorstandsbeschlüssen eigenmächtig entgegen zu handeln. Ich muss Sie dringend darum bitten[.] sich strikt solchen Beschlüssen zu fügen […].512

Die Tatsache, dass die letzten beiden Briefe aus der Zeit nach Tergits Aufgabe ihres Amtes stammen, erklärt sich daraus, dass sie nun »Ehrensekretärin« war und sich trotzdem von ihren früheren Aufgaben, einschließlich der Redaktion der Berichte, keinesfalls zurückgezogen hatte. Unter Tergits Sekretariat wurde die Absicht, das Londoner Zentrum dem BRD-Zentrum einzuverleiben, endgültig aufgegeben. Darin war sie sich mit Kalenter und Schaber durchaus einig. Als Tergit im Jahre 1959 einen Jerusalemer Adressaten als Mitglied gewinnen wollte, schrieb sie an ihn: We are a remnant of those who neither wanted to join the German nor the Austrian PEN but are still writing in German and publishing in Germany. Of course, the majority of our members all over the world are Jews, but there is a strong minority especially in Switzerland who are Anti-Nazi Germans as our President Ossip Kalenter, Zurich.

Interessant ist, dass sie ursprünglich statt »Anti-Nazi« »Anti-German« geschrieben hatte.

Die »Affäre-Luschnat« und andere Konflikte Als PEN-Sekretärin war Gabriele Tergit auch mit der Aufnahme neuer Mitglieder beschäftigt, hatte damit aber manchmal auch Probleme, zumal wenn sie die Zulassungsbedingungen etwas weit auslegte. Dies war der Fall bei David Luschnats Frau Lotte Hoffmann-Luschnat. Auf dem Internationalen PEN-Kongress in Mentone513 vom 14. bis 20. September 1969 hatte diese die Tergit gebeten, in

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Brief H.G. Adlers an Gabriele Tergit vom 10. Oktober 1977 (DNB). Brief H.G. Adlers an Gabriele Tergit vom 24. Oktober 1980 (DNB). Brief H.G. Adlers an Gabriele Tergit vom 30. Oktober 1980 (DNB). In einem Brief an die Franz und Ilse Denner vom 12. Februar 1970 berichtete G.T.: »Ich war

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den Exil-PEN aufgenommen zu werden. Bis 1973 hatte der Vorstand dies abgelehnt, da sie nie eine berufsmäßige Schriftstellerin war, nie ein Buch, sondern nur gelegentlich Artikel veröffentlicht hatte. 1973 schickte sie der Tergit eine Broschüre, die dieser sehr gefiel, und da setzte sie die Aufnahme gegen die Bedenken der übrigen Vorstandsmitglieder durch. Sie schrieb an David Luschnat: »Warum Ihre Frau in unsre winzige macht- und einflusslose Organisation eintreten wollte ist mir seit 1969 nicht klar geworden, da sie doch die wenigen Vorteile, Berichte und Teilnahme an Kongressen durch ihren Ehemann sowieso hat. Der PEN Klub nimmt nicht Leute ihrer Gesinnung wegen auf sondern wegen ihrer gedruckten Produktion.«514 Unmittelbar nach der Aufnahme hatte Gabriele Tergit den von Frau Luschnat eingereichten, obendrein viel zu langen Lebenslauf, in dem nicht ein einziges schriftstellerisches Werk erwähnt war, veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt war Frau Luschnat noch auf keiner Mitgliedsliste verzeichnet, da erhielt der Vorstand schon drei Briefe, und zwar von einem Vorstandsmitglied und einem Mitglied in der Schweiz sowie von Alfred H. Unger, die die sofortige Aufhebung der Aufnahme verlangten. Es ging bei der ganzen Affäre aber nicht einfach um die Tatsache, dass Frau Luschnat keine anerkannte Schriftstellerin war, sondern in Wirklichkeit um ihre Gesinnung, die sich in einem Artikel mit dem Titel »Zweierlei Maß« in der Schweizer Zeitschrift Der Aufbau ausdrückte. H.G. Adler forderte die Tergit, die, als der Vorstand ihre Aufnahme diskutierte, sich »so warm« für HoffmannLuschnats »vermeintlich großartigen Verdienste eingesetzt« habe, auf, ihr »den freiwilligen Austritt aus unserem Zentrum nahe[zu]legen« ohne »viel Aufhebens [zu…] machen.«515 Diese Aufforderung begründete Adler mit einem Artikel von Frau Hoffmann-Luschnat, von dem er durch Alfred Ungar erfahren hatte: Niemand muss Israels Partei ergreifen, aber wer so von Kenntnissen ungetrübt, doch leider von Propaganda getrübt scheinbar sachlich und in Wahrheit oft falsch sowie durchweg scheinheilig über die ›sich gewaltsam Gehör‹ verschaffenden Münchner Attentäter [bei den Olympischen Sielen 1972] (übrigens in dürftigem Deutsch) schreibt, wie das diese Dame tut, hat meiner Ansicht nach im PEN und jedenfalls in unserem Zentrum nichts zu suchen.516

Wie aus einem ausführlichen Brief an Ulrich Seelmann-Eggebert deutlich wird,517 bekam Tergit auch einen Brief von Edwin Maria Landau, in dem er verlangte, dass Frau Luschnat ausgeschlossen würde, da der Artikel »ein Skan-

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bis Ende September in Mentone, aber die Riviera ist scheußlich geworden, überbaut, kommerziell, und ich habe mit Heinz so glückliche Tage in Beaulieu 1960 verbracht.« (DLA) Brief an David Luschnat vom 7. April 1975 (DLA). Brief von H.G. Adler an Tergit vom 24. Oktober 1973 (DNB). Ebd. Alle Zitate im Folgenden sind in einem Brief an Ulrich Seelmann-Eggebert vom 14. November 1973 enthalten (DLA).

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dal« sei. Kommentiert Tergit: »Der Artikel war tatsächlich schlimm, eine im hämischen deutschen Ton geschriebene Rechtfertigung der Morde der Palästinenser bei der Münchener Olympiade, außerdem von falschen Angaben wimmelnd.« Sie versuchte trotzdem, Landaus Forderung zu umgehen. Da erhielt sie einen Brief von Wilhelm Unger, in dem es hieß: »Ich erhielt von dieser ›Dame‹ einen Artikel […] der von zynischen Beleidigungen des Volkes Israel [strotzt] und für ein Mitglied unseres Klubs – vornehm gesagt – völlig inkompatibel ist, […] denn ich könnte mich mit dieser Person nicht an einen Tisch setzen.« Gleichzeitig kam ein Brief von Hans Kühner-Wolfskehl: »[…] es geht hier einzig um das infame Pamphlet der Hoffmann Luschnat und ihre Palästinenserhetze. Das ist für Landau und mich [eine] ganz bitter ernste Frage. Unser Zentrum muss sich nämlich entscheiden auf welche Art von Mitgliedern es Wert legt. Zusammenzuspannen sind wir jedenfalls nicht. […] Ich stelle formell den Antrag diese Frau auszuschließen oder aber zu riskieren, dass namhafte Autoren vielleicht dann das Londoner Zentrum verlassen.« H.G. Adler forderte die Tergit, die sich »so warm« für Luschnats-Hoffmann »vermeintlich großartigen Verdienste eingesetzt« habe, als der Vorstand ihre Aufnahme diskutierte, auf, »den freiwilligen Austritt aus unserem Zentrum nahe[zu]legen« ohne »viel Aufhebens [zu…] machen.«518 Erst einige Zeit später, im Januar 1973 war eine Vorstandssitzung geplant, um alles zu besprechen, doch inzwischen ging die Korrespondenz weiter : auch Alfred H. Unger und H.G. Adler, ein Überlebender von fünf KZs, der erst seit 1947 in London war, verlangten, dass Frau Luschnat ausgeschlossen würde, und zwar umgehend. Die Schweizer Mitglieder drohten andernfalls geschlossen mit dem Austritt. Der Vorstand traf sich in London und war sich einig, dass Frau Luschnat nicht in den PEN gehöre und dass die Tergit töricht gehandelt hatte, als sie sie wegen einer Broschüre aufnahm. Man teilte Frau Hoffmann-Luschnat diese Entscheidung in einem Schreiben mit, das mit »Im Auftrag Dr. H.G. Adler (Präsident)« endete, wobei unklar ist, ob es aus der Feder Gabriele Tergit stammte oder von beiden gemeinsam verfasst war : Ihr Artikel »Zweierlei Maß« (12. 2. 73) widerspricht dem § 3 der Charta des Internationalen PEN: »Mitglieder sollen jederzeit ihren ganzen Einfluss für das gute Einvernehmen und die gegenseitige Achtung der Nationen einsetzen. Sie verpflichten sich für die Bekämpfung von Rassen-Klassen und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals in einer einigen Welt in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken«, und der Vorstand ist der Auffassung, dass Ihre kürzlich erfolgte Mitgliedschaft in aller Stille wieder aufgehoben werden muss, falls Sie nicht vorziehen selbst auszutreten.519 518 Brief von H.G. Adler an Tergit vom 24. Oktober 1973 (DNB). 519 Brief H.G. Adlers and Charlotte Luschnat vom 12. November 1973 (DNB).

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Daraufhin forderte Frau Hoffmann-Luschnat, »dass der gesamte Vorstand mir nachweist, dass ich gegen Artikel 3 der Charta des PEN verstoßen hätte,« und sie verlangte »die Argumente der Anklage«, bevor sie ihre »Gegenargumente geltend mache.«520 Dies zwang Adler, nun die gesamte Mitgliederversammlung einzubeziehen sowie, um die Rechtslage zu klären, Johann Wolfgang Brügel, Fritz Hellendall, Heinz G. Alexander und Wilhelm Necker. Auf eine ausführliche Diskussion ließ man sich allerdings nicht ein, sondern Frau Hoffmann-Luschnat erhielt nur einen Brief von Gabriele Tergit, in dem ihr mitgeteilt wurde, die Mitgliederversammlung vom 24. Januars 1974 habe den Brief Adlers gutgeheißen und ihre Mitgliedschaft sei daher erloschen.521 Parallel zur Korrespondenz mit Frau Luschnat gab es auch eine briefliche Auseinandersetzung mit ihrem Mann, der sich vehement für seine Frau einsetzte, indem er sich auf die Freiheit des Wortes berief: »Das Vorgehen von Dr. H.G. Adler verstößt gegen Recht, Wahrheit, freie Meinungsäußerung – ist diktatorisch gerichtet gegen alle Grundrechte des Schriftstellers und gegen Menschenrechte überhaupt. Dr. Adler stellt Behauptungen auf, ohne Beweise oder Begründungen zu bringen.«522 Tergit berief sich Luschnat gegenüber auf Briefe von Mitgliedern, »die erklärten nicht mit der Verteidigerin von Mördern unschuldiger Menschen in einem Verein zusammensitzen zu können«, sowie auf die Mitgliederversammlung: »[Die] Mitglieder eines Landes [d.h. der Schweiz] erklärten geschlossen auszutreten, falls Ihre Frau ein Mitglied bleibe.«523 In demselben Brief setzte sich die Tergit aber auch ausführlich mit dem Artikel von Luschnats Frau auseinander und gab damit die Begründung für ihren Ausschluss. Sie legte dar, dass »die fast unbewaffneten Juden« 1948 von Arabern »überfallen« worden seien, dass niemand die Araber zur Flucht gezwungen hätte und die jetzigen Terroristen »damals […] noch nicht geboren« gewesen seien. Sie schlussfolgerte daraus: »Der Verfolgungswahn der Araber ist genau der der Deutschen. Für 60 Millionen Deutsche waren 500000 Juden untragbar, […] für […] 300 Millionen Mohammedaner sind die 3 drei [sic] Millionen Juden und ein Streifen Land, das ein Zehntausendstel des arabischen Landbesitzes ist, ›untragbar‹.«524 Genau dies war die Version des Palästina-Konflikts, der von Lotte HoffmannLuschnat in ihrem Artikel in Frage gestellt worden war. Sie ging dabei von einem Leserbrief aus, in dem sie sich gegen den Nachdruck eines Artikels des Israelischen Wochenblatts wandte, der »sich die Propagandasprüche der Jerusalemer 520 Brief Charlotte Luschnats an Tergit vom 21. Januar 1974 (DNB). 521 Brief an Charlotte Luschnat vom 25. Januar 1974 (DNB). 522 Brief David Luschnats an Tergit vom 8. Januar 1974 [wahrscheinlich aber vom 8. Februar, da er auf Briefe vom 25. und 31. Januar Bezug nimmt]. (DNB). 523 Brief an David Luschnat vom 25. Januar 1974 (DNB). 524 Ebd.

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Regierung zu eigen macht[e]«,525 und von der Dokumentation der bayerischen und der Bundesregierung zum Überfall auf die israelische Olympiamannschaft« von »verbrecherischem Engagement«526 sprach. Hoffmann-Luschnat plädierte demgegenüber für einen »Sinn für Gerechtigkeit« gegenüber den Attentätern, »dass man sie nicht als gemeine Mordgesellen beschimpft«: Wenn man statt dessen die Motive ihres Handelns zu verstehen versucht, würde es einem immer schwerer fallen, mit zweierlei Maß zu messen und beispielsweise die eine Seite als »stahlhart geschmiedete Israelis« zu verherrlichen [Zitat aus einer WDRSendung], weil sie mit den Palästinensern nicht verhandeln wollen, die andere Seite dagegen als »zynische Mörder« zu diffamieren, weil sie mit am Verhandlungstisch sitzen wollen.527

Der Fall wurde dem Schweizer Vorstandsmitglied Edwin M. Landau zur Bearbeitung übergeben, wobei er in einem Brief an Frau Hoffmann-Luschnat die Begründung des Ausschlusses folgendermaßen veränderte: Das P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland, London setzt sich überwiegend aus rassisch verfolgten und darum exilierten Schriftstellern zusammen. Für diesen Kreis sind Sie durch Ihren Artikel im Zürcher AUFBAU untragbar geworden und Ihre Mitgliedschaft unzumutbar. Hätte Frau Tergit diesen Artikel gekannt, hätte sie Ihren Antrag [auf Mitgliedschaft] nie weitergeleitet. Damit ist die Angelegenheit erledigt, jede weitere Korrespondenz in dieser Angelegenheit zwecklos.528

Damit verstand sich das Zentrum nun, und zwar zum ersten Mal, selbst als jüdisch.529 Mehr als ein Jahr später schrieb Gabriele Tergit abschließend an Luschnat: Wir haben alle über diese Sache geschwiegen. Sie wissen wie sehr ich an den Erinnerungen unsres Zusammenseins mit Heinz, in Nizza, Lucca und New York hänge, aber ich werde mich nicht durch Sie zu einer sechsten Querelle allemande drängen lassen. […] Nun noch etwas Persönliches. Ich werde mich unter gar keinen Umständen weiter mit dieser Sache beschäftigen, mein Leben ist zu kurz und die Welt von zu ernsten Fragen erfüllt.530

Damit war die »Affäre Luschnat« beendet. Die Berichte Gabriele Tergits gingen über den Ausschluss von Frau Hoffmann-Luschnat mit Schweigen hinweg, obwohl der Fall »für das Selbstverständnis des Zentrums programmatische Be525 Der Aufbau. Zürich vom 16. Dezember 1972. 526 Charlotte Hoffmann-Luschnat, Zweierlei Maass, Sonderdruck aus Der Aufbau. Schweizerische Wochenzeitung für Recht, Freiheit und Frieden. Zürich, 10. Februar 1973, S. 1 (DNB). 527 Ebd., S. 3. 528 Brief Edwin M. Landaus an Charlotte Hoffmann-Luschnat vom 20. Februar 1974 (DNB). 529 Vgl. Helmut Peitsch , »No Politics?«, S. 312. 530 Brief an David Luschnat vom 7. April 1975 (DLA).

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deutung haben sollte.«531 Er zeigt vor allem die Empfindlichkeiten der Mitglieder des Zentrums, die auf der Integrität der Mitglieder in allen Aspekten, die mit dem Dritten Reich und speziell dem Holocaust zusammenhingen, bestanden. Die Affäre zeigt auch, dass Sekretärin des kleinen Klubs zu sein, ein hohes Maß an diplomatischem Feingefühl erforderte. Streit in den Vereinigungen der Literati war ja nichts Außergewöhnliches, aber hier ging es um mehr als literarische Querelen. Gabriele Tergit selbst führte die PEN-Streitigkeiten zwischen Graz und Wien an, das Ende von Helmut Müsseners Stockholmer Koordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Exil-Literatur, den Streit innerhalb des ISDS, Freier Autorenverband gegen VS (Verband deutscher Schriftsteller) usw. Wie vorsichtig das Zentrum vorher in Fragen der Akzeptanz von Mitgliedern gewesen war zeigt sich in folgendem Fall: »Als sich Ende der fünfziger Jahre unter dem Vorzeichen der Vergangenheitsbewältigung das kritischere Verhältnis zur Bundesrepublik im Selbstverständnis des Zentrums durchzusetzen begann, wandte sich die Tergit in einer ›recht diskreten Angelegenheit‹ an Kurt Kersten in New York«:532 Wir haben einen Karl O. Paetel als Mitglied. Aus seiner Autobiographie geht hervor, dass er der Strasser-Gruppe oder den Nationalbolschewisten angehört hat. Ferner hat er, was ich doch sehr peinlich finde zwei Bücher über Ernst Jünger geschrieben, den Erfinder der Nazibrutalität. Von Ernst Jünger stammt die Beschreibung der Füsilierung eines Deserteurs und »der grosse ästhetische Reiz, der von der Kurvung des Rückens beim Eintritt der Kugel ausgeht.« Was tun? Ernst Jünger ist für antinazistische Deutsche das Rote Tuch. Können wir in unseren Reihen einen Mann haben, der sein Biograph ist?533

In diesem Fall hatte die Tergit dafür plädiert, »ihn stillschweigend [zu] behalten«, denn: »Ich möchte keinen Skandal.«534 So erscheint er in den Autobiographien von 1959, und im Mitgliederverzeichnis von 1982 wird er unter den verstorbenen Mitgliedern aufgeführt. Im Falle des ehemaligen Emigranten, dann Humboldt-Professors Alfred Kantorowitz, der 1957 nach West-Berlin geflohen war, war sie nur indirekt involviert, wobei leider unklar ist, aus welchem Jahr das Dokument stammt, in dem sie sich zu seiner Aufnahme in den Bundes-PEN geäußert hat. Sie bekam jedenfalls eines Tages über den englischer PEN-Klub einen Brief vom Kantorowitz wegen Aufnahme in den Bundes-PEN. Diese Bitte gab sie mit freundlichen Worten weiter »und wurde mit ebenso freundlichen Worten von einem 531 532 533 534

Helmut Peitsch , »No Politics?«, S. 313. Ebd., S. 312. Brief an Kurt Kersten vom 9. Juli 1957 (DNB). Ebd.

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mir bekannten Mitglied dahingehend aufgeklärt, dass man Professor Kantorowicz nicht aufnehme.« Ohne weiteren Kommentar macht sie anschließend klar, dass der PEN-Club eine gesellschaftliche Vereinigung sei und sonst nichts: Der PEN ist eine englische Gründung und ein Klub, d. h. keine Gewerkschaft, Kulturkammer, Akademie etc., wo Aufnahme oder Ablehnung einen Affront bedeuten können oder eine Schädigung im beruflichen Fortkommen, sondern eine gesellschaftliche Vereinigung wie ein Tennisklub, bei dem man übrigens – streng genommen – nicht um Aufnahme ersuchen darf, sondern vorgeschlagen werden muss, und dem freisteht, sich die Leute zu kooptieren, die dem Klub geeignet erscheinen. Es bedeutet weder einen Affront noch eine Schädigung im beruflichen Fortkommen, wenn man einer gesellschaftlichen Vereinigung nicht angehört.535

Später berichtete sie von einem Gespräch mit Erich Kästner, das den wahren Grund der Ablehnung Kantorowicz’ deutlich macht: […] als der Kantorowicz sich darüber beschwerte, dass er nicht in den PEN aufgenommen wurde, sagte mein Mann [Heinrich Reifenberg] zu Kästner : Na hören Sie mal, Kästner, der PEN ist ja nun keine solche Angelegenheit. Und wenn sich der Kantorowicz nun so darum reißt und an Gott und die Welt Briefe schreibt, warum er nun nicht aufgenommen wird, dann nehmen Sie ihn doch einfach auf. Daraufhin habe ich Kästner zum erstenmal ganz böse gesehen. Hat er gesagt: Reifenberg, es gibt Grenzen für Schweinereien, das wissen Sie. Dieser Kantorowicz, der ein solches Terrorregime im Paris während der Emigrationszeit geführt hat, der kommt nicht in den PEN, so lange ich lebe.536

Auch Gabriele Tergit selbst beschwerte sich über das Verhalten von Alfred Kantorowicz in Paris. Er habe nicht erlaubt, dass ihre Effingers in eine dort veranstaltete Emigrantenausstellung kam; dort hätten nur garantierte Kommunisten ausstellen können. Was sich damals abgespielt habe, könne sich niemand vorstellen.537 Hilde Walter habe daraufhin 1938 eine neue Vereinigung gegründet. Auch die Kontakte zu den anderen Mitgliedern des Londoner PEN-Zentrums 535 Brief [?] ohne Adressat, ohne Anrede und ohne Datum, offensichtlich eine Stellungnahme zu einem Interview mit Alfred Kantorowicz im Forum der Welt. Da die Tergit darin auf ein 1957 erschienenes Buch Bezug nimmt (terminus post quem), muss der Brief aus der Zeit nach Kantorowicz’ Flucht in den Westen stammen. (DLA). 536 Interview mit Henry Jacob Hempel: Gespräch zwischen Henry Jacob Hempel, Berlin und Gabriele Tergit über ihre Emigration, geführt im April 1979 in London. Unveröffentl. Manuskript im Nachlass von Gabriele Tergit. 29 Seiten; hier S. 28 (DLA). Helmut Peitsch (»No Politics?«, S. 318) zufolge machte sich Tergit damit die Polemik ihres Korrespondenten Iven G. Heilbut zu eigen, der ihr am 11. Januar 1972 geschrieben hatte: »Haben Sie selber nicht Ihrer Verwunderung Ausdruck gegeben, darüber, dass eines der Vorstandsmitglieder im Pariser Schutzverband Deutscher Schriftsteller, 1936 ein stalinistischer Mitläufer reinster Prägung, in den bundesdeutschen Zeitungen weitgehend veröffentlicht wird?« (DNB) 537 Ebd.

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waren nicht immer konfliktfrei, denn sowohl Gabriele Tergit als auch ihre Londoner Schriftstellerkollegen waren eigenwillige, starke Persönlichkeiten, die eine Kontroverse nicht scheuten. So kam es 1978 zu Auseinandersetzungen zwischen ihr und der Leitung des Londoner PEN. Als Arno Reinfrank einen Teil von Tergits Aufgaben übernommen hatte, wehrte sie sich dagegen, aus dem organisatorischen Bereich verdrängt zu werden. H.G. Adler berichtet in einem Brief an Reinfrank, sie könne sich nicht erinnern, um Hilfe bei ihrer Arbeit als Sekretärin gebeten zu haben, außer zum Versand der Briefe.538 Im September des Jahres teilte sie allerdings versöhnlich dem in Albany, N.Y. tätigen Wiener Professor Joseph P. Strelka mit, dass »das Technische der Berichte jetzt von A. Reinfrank übernommen wurde.«539 In einem Brief an Will Schaber vom 29. Mai 1979 berichtete sie allerdings, dass ein Eklat vorausgegangen war : Das, was ich 25 oder 27 Jahre vermieden habe, nämlich einen Stunk ist nun ganz willkürlich hervorgebracht worden. Ich bin, wie Sie aus dem neuen Vorstandstableau auf dem Juni –Bericht [ersehen,] zur Ehrensekretärin abgesetzt worden. Dazu folgendes: Für den Februar Bericht 1979 gab ICH Reinfrank folgende Notiz (ungefähr) »Arno Reinfrank hat mir mit dem Technischen dieser Berichte schon 1978 hervorragend geholfen und ich möchte ihm hiermit meinen Dank aussprechen«. Diese Bemerkung wurde nicht gebracht. Weder bei unserer Mitgliederversammlung am 3. Mai noch am Telefon London/London wurde mir irgend eine Mitteilung gemacht, dass von nun an die Berichte von H.G. Adler und Reinfrank gemacht werden sollen ohne mir vorgelegt zu werden. […] Ich werde unter diesen Umständen natürlich mich in keiner Weise mehr an den Berichten beteiligen. Was kann ich machen, wenn Reinfrank und Adler den folgenden Satz nicht in die Berichte aufnehmen: »Gabriele Tergit lehnt den Posten einer ›Ehrensekretärin‹ ab und überlässt die Verfassung der Berichte jüngeren Kollegen?« (DNB)

Die brieflich geführte Auseinandersetzung mit Reinfrank selbst verlief vordergründig auf der Sachebene; Tergit polemisierte dabei gegen Sympathiebezeigungen mit der Baader-Meinhof-Gruppe, die ihr junger Kollege weder getätigt noch je intendiert hatte – sowie gegen eine Reinfrank mit Recht unterstellte Sympathie mit dem DDR-Regime. Reinfrank seinerseits blieb stets freundlichgelassen, er akzeptierte, soweit möglich, die Vorschläge der alten Dame, glich unter den PEN-Kollegen da aus, wo sie durch Polemik Ärger entfacht hatte und half ihr sogar, ihr Image in der Bundesrepublik zu wahren.540 1963 wurde die Tergit zum ersten Mal von Rudolf Kämer-Badoni zur jährli538 Brief H.G. Adlers an Arno Reinfrank vom 28. Mai 1978 (DNB). 539 Brief an Joseph Strelka vom 1. September 1978 (DLA). 540 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht im literarischen Werk der Gabriele Tergit. Diss Aachen [1966], S. 39.

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chen Tagung des Bundes-PEN nach Braunschweig eingeladen. Sie fuhr ohne ihren Mann, denn sie dachte törichterweise, man könne doch eine persönliche Einladung und viele Dinner nicht auf den Ehemann ausdehnen. 1964 war das Bundestreffen in Berlin, und sie fuhr leider wieder alleine. 1968 war es in Kassel, ein Treffen an dem sie und Heinrich Reifenberg, von Spanien kommend, gemeinsam teilnahmen. Sie genossen besonders ein sehr schönes Hotel, die Museen und einen wunderschönen Ausflug. 1969 kam eine Einladung von Hans Schwab-Felisch, diesmal nach Mannheim. Aber Heinrich Reifenberg war inzwischen gestorben. Es interessierte die Tergit nicht mehr : »[I]ch kenne sie nun alle. – Das ist das Alter mit all seinen Schrecken.«541 Trotzdem fuhr sie im Juni 1971 noch zum Treffen des Bundes-PEN nach Nürnberg und besuchte anschließend Ilse Gräfin Seilern, die Schwester von Rudolf Olden, in Basel. 1980 gestand sie, dass sie gern noch zum Treffen des Bundes-PEN nach Darmstadt gefahren wäre, aber sie könne nicht mehr laufen, sie sei 86 Jahre alt…542 Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren waren unter den neu hinzugekommenen Mitgliedern zahlreiche Germanisten, vor allem aus den USA, die nicht während des Dritten Reiches aus Deutschland emigriert waren. Wie Egon Larsen berichtet, war auch Gabriele Tergit an dieser Öffnung aktiv beteiligt: Später entschloss man sich, […] aus den Reihen der zumeist jüngeren Germanisten, die starkes Interesse an deutscher Literatur hatten, neue Mitglieder aufzunehmen; Tergits eifrigster Helfer bei dieser Aktion – und schließlich ihr Nachfolger – war der Pfälzer Dichter Arno Reinfrank, unterstützt von seiner Gattin Karin.543

Im Januar 2002 lösten der Präsident und der Sekretär das Londoner Zentrum auf mit der Begründung, »eine Mitglieder-Befragung über das Weiterbestehen […] sei […] auf wenig Resonanz gestoßen.«544 Im September desselben Jahres erklärte der Internationale PEN auf Antrag mehrerer Mitglieder das Londoner Zentrum trotzdem für ruhend. Im November 2003 wurde es dann vom Internationalen Kongress in Mexiko City wieder für aktiv erklärt. »Von den 36 Mitgliedern, die sich auf der im September 2005 eingerichteten Website des Zentrums vorstellten, lebten nur noch zwei in Großbritannien, in Cambridge und Southampton – keins in London. Die Geschichte des deutschen PEN in London war zu Ende.«545 Schon am 3. November 1975 hatte die Tergit als PEN-Sekretärin im Namen 541 Brief vom an Heinz Goldberg vom 17. April 1969 (DLA). 542 Brief an Hans Sahl vom 31. August 1980 (DLA). 543 Egon Larsen, Die Welt der Gabriele Tergit. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. München 1987, S. 116. 544 Fachdienst Germanistik 3 (2002), S. 2. Zitiert nach Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 359. 545 Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 363.

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des Vorstands das Archiv ihres Clubs der Abteilung Exilliteratur 1933 – 1945 der Deutschen Bibliothek in Frankfurt a.M. angeboten; einen Monat später wurde es nach Frankfurt gebracht. Später sorgte sie dafür, dass auch die Archivbestände von 1941 bis in die fünfziger Jahre in die Abteilung Exilliteratur der Deutschen Bibliothek kamen.546

Weiter leben nach Heinrich Reifenbergs Tod Im 1969 fuhr Gabriele Tergit nach Berlin, wo es plötzlich über -20 Grad kalt wurde und sie zwei Tage vor ihrer Abreise wegen einer Lungenentzündung mit der Ambulanz ins Krankenhaus gebracht werden musste. Es war wohl kein Zufall, dass sie zwei Jahre nach dem Tode ihres Mannes ernsthaft erkrankte. Der Portier des Hotels am Zoo und auch ihre alte Schulfreundin Hilde Walter kümmerten sich rührend um sie. An ihrem 75. Geburtstag, also am 4. März, flog sie nach London zurück. Dort wurde ihr, wohl auf den Vorschlag von Richard Friedenthal, bei einer kleinen Feier in der Deutschen Botschaft kurz danach das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. Arno Reinfrank, ihrem Nachfolger als PEN-Sekretär, zufolge soll sie den Orden bald ohne große Emotion in einer Schublage versenkt haben.547 Das ist wohl als Ausdruck ihrer skeptischen Einschätzung der bundesdeutschen politischen Szene zu werten. Dennoch: »Bis an ihr Lebensende verfolgt sie wach und kritisch die politische wie die literarische Entwicklung der BRD, abonniert die ›Zeit‹ und liest regelmäßig den Bonner ›Deutschlandbericht‹ des Journalisten Vogel […].«548 Von großer persönlicher Eitelkeit kann man bei Gabriele Tergit sicherlich nicht sprechen, aber als der New Yorker Aufbau ihren 80. Geburtstag völlig ignorierte, irritierte sie das doch. »Dass der Aufbau keine Notiz von meinem 80. Geburtstag genommen hat, die ich schließlich den heute anerkanntermaßen bedeutendsten jüdischen Familienroman geschrieben habe, finde ich ja komisch«, schrieb sie am 11. April 1974 an Will Schaber, der in New York zur Redaktion des Aufbaus gehörte. (DNB) Während diese Jahre kam es übrigens einige Male zur Verwechslung mit dem 1951 gegründeten Zentrum »Writers in Exile«, ein Fehler, der u. a. auch Erich Kästner unterlief, der 1960 glaubte, Gabriele Tergits Gruppe veranstalte einen Kongress in Düsseldorf, ohne den bundesdeutschen PEN davon zu unterrichten. 546 Vgl. Werner Berthold, »Der deutsche PEN-Club im Exil. Bericht aus ungedruckten Materialien der Deutschen Bibliothek«. In: Günther Pflug u. a. (Hg.), Bibliothek – Buch – Geschichte. Kurt Köster zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1977, S. 531 – 557; hier S. 553. 547 Vgl. Alexandra Maria Feith, »Man muss doch der Historie zusehen.« ›Geschichte‹ im Werk von Gabriele Tergit. Magisterarbeit Darmstadt 2005, S. 23. 548 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 37.

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Auf geradezu humorvolle Weise erklärte sie Kästner den Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Wir sind »the German speaking writers abroad, deutschsprachige Autoren im Ausland,« ein paar (80) übriggebliebene alte Juden und ganz wenige Nichtjuden. Die Kästnersche Idee wir könnten fähig sein einen eigenen Kongress noch dazu in Düsseldorf abzuhalten ist zwar ehrenvoll, aber höchst abwegig. Die Writers in Exile sind ganz feine Pinkel. Das sind die Anti-Kommunisten, von totschlägerigen Weißrussen bis zu braven ehrlichen tschechischen Sozis oder auch von höchst anständigen russischen Menschiviki zu ungarischen und lettischen Nazis. Natürlich können die einen Kongress abhalten. Ganz allein. Nicht wir, bei denen ein Fünfziger a ganz a kloans Kind ist. Aber dass Sie geglaubt haben, Tergit, Sekretärin der deutschsprachigen Autoren im Ausland könnte hinter Ihrem und [Kasimir] Edschmid’s [sic] Rücken einen Kongress in Deutschland sekretären im wahren Sinne des Wortes (secret geheim) wundert mich.549

In einem Brief an H.G. Adler bezeichnete sie die Writers in Exile als eine Versammlung von Antikommunisten und Antisemiten.550 Bei der Verlagssuche war ihr vor allem ein neuer Freund behilflich, der seit 1955 ihr literarischer Agent war : der Verleger Kurt Maschler (1898 – 1986), Sohn einer Berlinerin und eines Österreichers. Das hatte für ihn – bis zum sogen. Anschluss Österreichs an Deutschland im Februar 1938 – den Vorteil, dass er als jüdischer Verleger in Deutschland einen österreichischen Pass besaß. Selbst Eigentümer des Josef Singer Verlags, erwarb er 1933 von Edith Jacobsohn, der Witwe Siegfried Jacobsohns, die nach England geflohen war und schon 1935 dort starb, den Verlag Williams & Co., der Erich Kästners Kinderbücher herausgebracht hatte. Als die Nazis 1935 in die Verlagsräume eindrangen und alle Kästnerbücher, bis auf je ein Archivexemplar, beschlagnahmten, gründete Maschler den Atrium-Verlag eigens zur Wahrung der Rechte Erich Kästners. Als sich abzeichnete, dass Maschler als Jude zum 31. Mai 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen werden würde und Deutschland würde verlassen müssen, übertrug er Anteile des Williams-Verlags offiziell auf Cecilie Dressler, damit nach außen nicht erkennbar war, dass im Grunde er selbst weiterhin Eigentümer des Verlags war. Schon 1936 emigrierte er dann aus Deutschland. Als österreichischer Staatsbürger ging er zunächst nach Wien, und nach dem ›Anschluss‹ Österreichs nützte ihm auch der österreichische Pass nichts mehr. Nachdem einer seiner Angestellten den Nationalsozialisten verra549 Brief an Erich Kästner vom 14. März 1960 (DLA). 550 Brief an H.G. Adler vom 2. August 1979 (DNB). Andererseits schrieb sie aber am 6. April 1957 an Hermann Kesten: »Unter diesen sind eine Menge Juden z. B. der sehr gescheite Vorsitzende Tabori und eine Menge Sozialdemokraten aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei.« (DNB)

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ten hatte, dass und wie er verbotene Literatur vertrieb, floh er weiter nach Amsterdam. Seine Wohnung, seine Bücher und Sammlungen, sein Büro und sein Lager ihn Wien wurden beschlagnahmt. Ein Jahr später bekam er die Einreisegenehmigung nach England und ließ sich permanent in London nieder, von wo er weiterhin seinen Züricher Atrium Verlag leitete. Verlagssitz des Atrium Verlags war zunächst Basel/Wien/Mährisch-Ostrau, er wurde aber später nach Zürich verlegt. Ein Großteil der Rechte des Verlags Williams & Co wurde an den Atrium Verlag übertragen. Kästners Bücher, die zunächst nur im Deutschen Reich verboten waren, konnten weiterhin nur in der Schweiz erscheinen und weltweit vertrieben werden. Folglich konnte Maschler nach dem Kriege dem verarmten Kästner schnell mit ausländischen Währungen unter die Arme greifen und auch dem nach England emigrierten Illustrator Kästnerscher Bücher, Walter Trier, hilfreich zur Seite stehen. Auch die WeltRechte der nachgelassenen Werke Stefan Zweigs, der 1942 in Verzweiflung im fernen Petropolis in Brasilien seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, erwarb er. Schließlich verschaffte er auch Gabriele Tergit bundesdeutsche Verleger, sowohl für alte, wie den Käsebier, als auch für neue. Auch ausländische Übersetzungen kamen durch seine Vermittlung heraus, so vom Büchlein vom Bett sowie von ihrem Blumenbuch Kaiserkron und Päonien rot, das damit zum größten Erfolg der Autorin wurde. Als Maschler 1978 einen Autounfall hatte, war das für die Tergit »katastrophal«. Alle Erfolge verdanke sie ihm und einem Hans Erb, der jetzt zu Ullstein übergewechselt sei.551 Doch kamen diese späten Erfolge der Autorin so spät, dass sie geradezu schmerzlich beglückend für sie waren. Schon 1963 schrieb sie an Annemarie Mommsen: »Sie kennen doch den Ausspruch der schönen Schwester meiner Mutter, als sie eine lange kostbare Perlenkette erbte? ›Wenn die Perlenketten kommen, ist der Nacken verblüht.‹«552 Und am 12. Oktober 1977 an Marta Mierendorf: »[W]ir hatten in den Berliner Festwochen eine recht erfolgreiche Zeit. Ich habe jedenfalls noch nie im Leben so viel Erfolg gehabt. Aber es ist zu spät. Jetzt wollen sie jede Zeile von mir drucken, aber ich bin nicht mehr dazu fähig, halb fertige Manuskripte fertig zu machen.« (DLA) Bei der am 7. September 1977 im Rahmen der Festwochen von der Akademie der Künste am Hanseatenweg organisierten Lesung »Tendenzen der zwanziger Jahre« hatte Walter Höllerer aus dem Käsebier vorgelesen. Bei einer Veranstaltung über das Berlin der Zwanziger Jahre im Renaissance-Theater definierte die Tergit in einer Podiumsdiskussion »die ›Zwanziger‹ über das primäre Merkmal der unerbitt-

551 Brief an Richard Friedenthal vom 11. November 1978 (DLA). 552 Brief an Annemarie Mommsen vom 23. Oktober 1963 (DLA).

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lichen journalistischen Kritik, die damals geübt worden sei und die heute fehle, die neue Literaturszene produziere allzu viel Minderwertiges.«553 In den sechziger und siebziger Jahren war Gabriele Tergit sowohl durch ein Augenleiden, das mehrere Operationen verlangte, als auch durch eine Gehbehinderung in ihren Aktivitäten erheblich eingeschränkt. Sie besuchte seit 1956, als sie Probleme mit ihrer Retina hatte, jedes Jahr ihren Augenarzt Dr. Alfred Huber in Zürich. Dieser verschrieb ihr eine Weit- und eine Nahsehbrille, und sie war im Ganzen sehr zufrieden damit. Ihr Mann und sie gewöhnten sich an, dass er ihr ihrer schlechten Augen wegen jeden Abend vorlas. Am 6. Juli 1976 musste sie schließlich wegen eines grauen Stars operiert werden, weshalb ihre Schwiegertochter Penny zu ihr kam und sie ins Krankenhaus brachte. Bei der Operation, die sie sehr mitnahm, entdeckte man, dass sie auf einem Auge so gut wie blind war, denn man hatte bei der Untersuchung 1956 in Zürich »im linken Auge ein Glaukom übersehen«554 Dafür sind wir jedes Jahr nach Zürich gefahren!!! Man hat bei dieser Operation meine Kurzsichtigkeit verbessert, ich sehe zum erstenmal die Welt ohne Brille, was ein zweifelhafter Erfolg ist denn erstens sieht man jetzt, dass ich Säcke unter den Augen habe, was nicht gerade verschönt und außerdem sehe ich doch nicht so gut wie vorher mit Brille – aber ich sehe zum erstenmal viel kräftigere Farben!!555

1981 verschlechterte sich ihre Lesefähigkeit weiterhin sehr, und es wurde ihr eröffnet, dass sie zwar nicht blind würde, aber auch mit Vergrößerungsglas nicht würde lesen können. Trotz ihres Augenleidens korrespondierte sie unentwegt mit all den in anderen Ländern lebenden Mitgliedern, und sie schrieb und redigierte alljährlich etwa dreimal einen umfangreichen Bericht über die Tätigkeit der Mitglieder, über Todesfälle, Auszeichnungen und literarische Projekte sowie über Ausschreitungen und Verfolgungen, denen Autoren in vielen diktatorischen Ländern ausgesetzt waren. 1959, 1968 und 1982 gab sie drei dicke Hefte mit Autorenbiographien und -bibliographien aller Mitglieder heraus, wobei das letzte Heft erst erschien, als sie ihr Amt bereits aus Gesundheitsgründen niedergelegt hatte. Sie hielt oft Vorträge in Londoner Emigrantenkreisen, und sie sprach auch bei der Einweihung einer Heinrich Heine gewidmeten marmornen Gedenktafel, die der deutsche Exil-PEN auf die Initiative ihres damaligen Schweizer Präsidenten Ossip Kalenter im Gedenken an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 im Herbst 1963 in Lucca anbringen ließ, wo Heine 1828 gewohnt und seine Bäder von Lucca verfasst hatte. Bei dieser Einweihungsfeier erinnerte sie an ein oft zitiertes prophetisches Zitat aus Heines Trauerspiel Almansor von 1820: 553 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 39. 554 Brief an Ulrich Seelmann-Eggebert vom 10. Januar 1977 (DLA). 555 Brief an Annemarie Mommsen vom 16. November 1976 (DLA).

Autobiographisches: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen

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»Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.« Kein Wunder, dass sie 1978 eingestand, sie sei »völlig überarbeitet. Man kann eben nicht einen grossen Garten, ein Haus, in dem eben doch immer was zu erledigen ist und ein neues schwieriges Buch und dreimal im Jahr sozusagen ein Mitteilungsblatt für den PEN herausgeben, wenn man 84 ist. Der Winter war schrecklich.«556 Trotz all dieser Aktivitäten wurde sie jedoch immer einsamer, denn fast alle Freunde, die sie in London und Berlin hatte, waren 1970 schon tot. Dadurch war es immer stiller um sie geworden: »Es wird immer leerer, immer einsamer. Mit wem redet man überhaupt noch die gleiche Sprache?«557 Ihr bester Freund in London, Hans Jaeger, war im Oktober 1976 gestorben, Hilde Walter und viele andere Freunde und Bekannte waren tot. Hilde Walters Tod 1976 war für die Tergit »ein schrecklicher Verlust.«558

Autobiographisches: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen Schon 1957 hatte die Tergit an ihre Freundin Hertha von Gebhardt geschrieben, sie arbeite an ihrer Autobiographie, der sie damals den Arbeitstitel »Wanderungen« gegeben hatte. Im Jahre 1980 schrieb sie noch an Hans Sahl, ein wichtiges politisches Buch von ihr komme 1982 heraus: »Das möchte ich noch erleben, Begegnung mit Hitler, Goebbels, Naziprozesse. Berlin nach 1945, Harlanprozess.«559 Sie hat das Erscheinen ihres Buches leider nicht mehr erlebt, denn erst 1983 erschien postum ihr autobiographisches Werk Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Der Titel stammte aus der Feder von Rudolf Olden, der einst geschrieben hatte: »Etwas Seltenes ist die Tergit überhaupt…« (Etwas Seltenes, 21) Es handelt sich nicht um eine Autobiographie, in der ab ovo erzählt wird, sondern die Autorin berichtet assoziativ über Personen und Einzelsituationen, so wie man mündlich erzählt; die Chronologie ist nur ungefähr eingehalten,560 und wir erfahren relativ wenige konkrete Einzelheiten über das Leben der Tergit, am ehesten noch über ihre Tätigkeit als Journalistin in der Weimarer Republik. Das Buch beschränkt sich mehr oder weniger auf die Jahre vor und eine kurze Periode nach dem Dritten Reich. Das beherrschende Thema ist der 556 557 558 559 560

Brief an Annemarie Mommsen vom 15. März 1978 (DLA). Brief an Annemarie Mommsen vom 6. September 1978 (DLA). Brief an Will Schaber vom 27. Januar 1979 (DNB). Brief an Hans Sahl vom 25. Oktober 1980 (DLA). Christa Rotzoll kritisierte in ihrer Rezension: »Sie [Gabriele Tergit] hätte diesen Text, falls ihre Zeit und ihre Kraft gereicht hätten, wohl noch bearbeitet. Vieles geht hin und her und kommt vom Wege ab, wie im Gespräch.« C.R. In: »Eine Berlinerin von Rang«. In: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Mai 1983, S. 22.

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Antisemitismus und seine Zunahme in den Jahren vor Hitlers ›Machtergreifung‹, denn einem Brief an den amerikanischen Germanisten Alexander Stillmark zufolge handelte es sich um »the poor attempt to try to explain what Professor Walter Jens (Tübingen) called Jahrtausend-Katastrophe.«561 Die Hauptfrage, um die es der Autorin geht, ist: »Wie konnte es geschehen, dass eine Gruppe von rechten Radikalen das Gefüge einer Republik zum Einsturz brachte?«562 In einem Brief an ihre Freundin Ilse Langner erzählt Tergit, wie sich die Arbeit an ihren Erinnerungen entwickelte, so dass schließlich so etwas wie eine Autobiographie entstand: Ich begann ein Buch »Warum, wieso, weshalb?« Natürlich Hitler. Dann sagte der wunderbare Richard Friedenthal zu mir, Tergit, schreiben Sie nichts über Hitler. Sämtliche Studenten arbeiten an nichts anderem, oder alle Professoren mit einer Herde von Studenten, da kommen Sie allein im Stübchen nie mit. Nur Ihre persönlichen Erlebnisse! So begann ich mit meiner Stellung beim BT [Berliner Tageblatt] und die Naziprozesse. »Verwirrte Fronten« Totschlag zwischen Spd/Kpd und Nazis in den Straßen Berlins und Zusammenarbeit Reichswehr und Rote Armee gleichzeitig in Russland. Es endete mit komischer Rettung durch Nazis und Flucht am 3. März 1933. Die Korrespondenz war nicht benutzt. Ich nannte das Ganze unter uns »Tadsch Mahal«. Das ist die Geschichte des indischen Fürsten, der einen Tempel für den Sarg der geliebten Frau baut und als nach 20 oder 30 Jahren das herrliche Riesengebäude steht mit dem winzigen Sarg in der Mitte, sagte der Fürst: »Nehmt den Sarg raus«. Die Atmosphäre war außerdem nichts für so ein Buch in Deutschland. Ganz langsam fügte ich einen »Besuch bei Theodor Wolff« in Nizza 1937 bei und dann einen zweiten. Dann Besuch in Berlin 1945, dann doch ein Teil der Korrespondenz mit »Karl«. […] Zehn Jahre habe ich mindestens daran gearbeitet. […] Ich möchte die »Erinnerungen« noch erleben. Das Kraut und Rübenbuch, mein Tadsch Mahal, in dem nichts mehr von der ursprünglichen Idee drin ist, liest sich merkwürdig gut.563

Trotz allem ist das Buch so etwas wie eins über Hitler geworden, aber natürlich, wie es Richard Friedenthal vorgeschlagen hatte, ganz aus dem persönlichen Erleben heraus geschrieben. Das Fortleben des nazistischen Geistes ist das beherrschende Thema in allem, was die Tergit über die Zeit nach 1945 zu berichten weiß. Selbst in kleinen Bemerkungen von Menschen in Deutschland wird ihr klar, dass der alte Geist des Dritten Reiches auch im deutschen Alltag der siebziger Jahre noch nicht tot ist; so sagte noch im Jahre 1972 in Deutschland ein Herr zu ihr, man habe in Deutschland dreizehn Millionen »Judenstämmlinge«, die »alles in der Hand« haben und Gastarbeiter, Marokkaner, Türken, ins Land 561 Brief an Alexander Stillmark vom 5. April 1979 (DLA). 562 Walter Höllerer, »Das Seltene ist das Leben«. In: Tagesspiegel vom 4. März 1994, S. 13 f.; hier S. 14. 563 Brief an Ilse Langner vom 17. Oktober 1980 (DLA).

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bringen wollten, um »unsere arische Rasse« zu verderben. (Etwas Seltenes, 8 f.). Selbst noch 1977 hörte sie, wie ein älterer Herr in einem überfüllten Berliner Restaurant zu einer jungen Frau sagte: »In das Caf¦ kannst du nicht gehen, das ist völlig verjudet.« (Etwas Seltenes, 134). Eindeutigen Antisemitismus und Nazigebaren gab es sogar bei dem deutschen Personal ihres englischen Hotels: Eine wirkliche »Nazisse« war die Frau am Empfangsschalter des englischen LancasterHauses am Fehrbelliner Platz. Sie sprach deutsch, ich englisch. »Sind Sie denn überhaupt englisch?« fragte sie »I am British.« Sie verlangte im unverschämten Ton: »Na, zeigen Sie mir mal Ihren Pass.« Ich gab ihn ihr. »Sie sind ’ne Deutsche, nur naturalisiert.« Sie wandte sich an einen englischen Polizisten und flüsterte ihm zu: »Das ist wahrscheinlich ’ne Jüdin.« Der Polizist nickte traurig. Sie sagte ins Telefon: »Geben Sie mir den Dolmetscher.« Sie gab mir den Hörer und ich hörte jämmerliches Schulenglisch. »Danke«, sagte ich. »Ich kann auf Ihre Dienste verzichten.« Einen besonders nett aussehenden jungen Deutschen mit dem Opfer-des-FaschismusAbzeichen am Hemd brüllte sie an: »Jeschlossen.« »Ich komme aus der Zone, ich habe nur eine Frage.« »Jeschlossen«, brüllte sie wieder. Es war seine erste Begegnung mit der englischen Demokratie. »Das ist doch eine Nazisse«, sagte er zu mir. »Natürlich«, sagte ich. (Etwas Seltenes, 180 f.)

Dass der nazistische Geist noch nicht tot war, zeigte sich auch in anderen Bemerkungen: Heinrich Reifenbergs alter Berliner Freund Franz Denner (Karl) schrieb ihr am 23. Juli 1953 in einem Brief mit der beigelegte Postkarte eines Bildes von Paul Klee: Die beigefügte Postkarte wollte ich gar nicht kaufen, aber als ich kürzlich einen kleinen Papierladen in Wilmersdorf betrat, kaufte eine Kundin gerade Postkarten, wobei sie auf diese grellbunten Bilder schimpfte und von dem Ladeninhaber kräftig unterstützt wurde. Ich gab meine Freude über diese Karten zu erkennen und suchte mir die buntesten aus. Die Kundin verließ mit der Bemerkung, dass das doch entartete Kunst wäre, knallend den Laden. (DLA; vgl. Etwas Seltenes, 218)

Franz Denner berichtet am 11. April 1960 aus Kiel von einer Lehrerin, die an einer großen Mädchenschule unterrichtete und zeitweise an der Pädagogischen Hochschule angehende Lehrerinnen ausbildete. Sie hielt das Tagebuch der Anne Frank für eine jüdische Erfindung: Sie sagte, sie wäre heute noch genauso antisemitisch eingestellt wie früher u. ist dafür, dass die Juden aus Deutschland verschwinden, weil sie eine andere Rasse sind u. nicht hierher gehören.

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Sie hält die Diktatur für viel besser als die Demokratie. Der totale Zusammenbruch der Hitlerdiktatur hat also auf diese Lehrerin nicht den geringsten Eindruck gemacht. (DLA; auch in: Etwas Seltenes, 223)

Das zweite große Anliegen der Erinnerungen ist es, auf die Verlogenheit und Perversität des Kommunismus hinzuweisen; so schreibt die Tergit, mit Bezug auf Carl von Ossietzky, die Russische Revolution sei die seltsamste aller Zeiten. Revolutionen hätten, seit Spartakus, stattgefunden, um Macht zu beschränken: die religiöse, verwaltende, richterliche, ebenso wie die des Eigentums: Die Russische Revolution, ›die tollste intellektuelle Niederlage der Weltgeschichte‹, wollte das Gegenteil. Nach einem Bürgerkrieg mit einer Million Gefallener übergaben die Sieger demütig alles, was auf der Erde stand und wuchs und darunterlag, der Partei, die den Staat repräsentierte, als Alleinbesitzer, […]. Dieser Staat, der sich schließlich in der Gestalt Stalins wiederfand, ließ vier bis fünf Millionen russischer Bauern verhungern, richtete Arbeitssklavenlager ein, tötete Massen von Menschen […]. (Etwas Seltenes, 63)

Auch auf die Verlogenheit des kommunistischen Systems in der Ostzone bzw. in der DDR weist die Tergit wiederholt hin, so in folgender Bemerkung: Die Revolution, die alle Revolutionen auf ewig beendete, hatte hier stattgefunden. Jede Änderung, jeder Zweifel an der Heiligen Schrift war mit Tanks zu beenden. Die DDR ist eine Mischung aus den Zuständen vor der Französischen Revolution – der Mensch an die Scholle gebunden, ohne Freizügigkeit, ohne Lehr-, Rede-, Versammlungs-, Pressefreiheit. (Etwas Seltenes, 178)

Oder sie schreibt über die Zeit der Berliner Blockade: Sicher, es wurde auch eingeflogene Kohle in Westberlin gestohlen: »Aber es war immer noch besser als im Osten. Die Verlogenheit zeigte sich, als es im Ostsektor von Berlin, das offener vor den Augen der Welt lag, viel besser aussah als in der Ostzone, wohin seltener Fremde reisten.« (Etwas Seltenes, 207) Am Ostberliner Alexanderplatz »macht ein Junge seinen Freund, der nur Lumpen anhatte, auf einen Buchladen mit marxistischer Literatur aufmerksam. ›Lass mich bloß mit dem Mist in Frieden‹, sagte der Zerlumpte. Und ein Hochgebildeter nannte es den ›größten Bluff der Weltgeschichte.‹« (Etwas Seltenes, 159 f.) Die gegen Ende des Buches zahlreichen eingestreuten Briefe ihres Freundes Franz Denner (Karl) benutzt sie einerseits dazu, auf die ungerechte Behandlung von Nazigegnern im Unterschied zu ehemaligen Nazis hinzuweisen, die zum Teil enorm hohe Pensionen beziehen, und: »Nazi-Ärzte, Nazi-Richter und Nazi-Verbrecher bilden weiterhin eine verschworene Gemeinschaft‹«, schrieb Karl. (Etwas Seltenes, 222) Andererseits zitiert Tergit diese Briefe, um das kommunistische System in der Ostzone bzw. in der DDR durch Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus bloßzustellen, so wenn sie Karl zitiert: »Und nun etwas zum Weinen. 1945 waren wir trotz Ruinen, Hunger und Kälte froh, von der Diktatur des Faschismus befreit zu sein. Dafür

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haben wir jetzt die Diktatur des Proletariats, und dagegen waren die Nazis die reinsten Waisenkinder. Es herrscht ein unglaublicher geistiger Terror.« (Etwas Seltenes, 212) Oder, so Franz Denner (Karl) über den Aufstand vom 17. Juni 1953: »Alles spricht und schreibt über die Vorgänge im Ostsektor und in der Zone. Alle bewundern die Menschen, die es gewagt haben, zu demonstrieren. Wenn man bedenkt, dass diese Menschen ja auch im Hitlerreich gelebt haben, muss man sich fragen, warum sie nicht schon damals demonstriert haben, denn zwischen SED-Diktatur und Hitlerdiktatur ist kein Unterschied.« (Etwas Seltenes, 217)

Dies ist eine Ansicht, die man auch in Tergits Korrespondenz bestätigt findet, schreibt sie doch z. B. an Jan Hans: Sie haben übrigens neulich etwas veröffentlicht – wo war es? – was mich sehr erschüttert hat, weil es so grundlegend falsch war. Sie schrieben, man könne nicht zugleich Anti-Nazi und Anti-Kommunist sein. Gerade, denn unsereiner kann nur für die Freiheit sein. Die Freiheit ist das Ideal für das am meisten gestorben wurde. Die Idee, dass eine verschiedene Wirtschaftsordnung irgend etwas mit den Geheimnissen des Menschenlebens und dem Recht sie zu lösen zu tun hat, ist nur grotesk.564

Was an Etwas Seltenes überhaupt am meisten überrascht, ist die Tatsache, dass Gabriele Tergit bei ihrer Rückkehr nach Deutschland 1948 den Eindruck hat, trotz der Verwüstung durch den Krieg in ein Land zu kommen, das an Modernität England überlegen ist. »Ich kam aus England«, schreibt sie, wo Stafford Cripps in einer Mischung von Sozialismus und dem von den meisten Engländern geliebten Puritanismus eine Welt der Entsagung aufgebaut hatte. Alles kam mir elegant vor, Hamburgs Flughafen, Luftwaffengebäude in Gatow, die Wohnung von Heinzens geliebter Cousine Heide Sachs im zerbombten Haus in Westend mit zwei großen Balkons in roten Kastanienblüten, gekacheltem Bad, gekachelter Küche, zwar kein heißes Wasser, aber ich hatte jahrelang jeden Tropfen heißes Wasser auf dem Primus machen müssen. (Etwas Seltenes, 151)

Man fragt sich, ob es Kritik am deutschen Charakter oder fast ein wenig verärgerter Neid ist, wenn die Tergit in einem Restaurant am zertrümmerten Bahnhof Zoo in Berlin eine völlig verkachelte Toilette vorfindet und, als sie zu der Kellnerin sagt: »Na, das ist aber elegant, ’ne gekachelte Toilette in den Trümmern«, die Antwort erhält: »Na, wenn man’s schon macht, macht man’s doch richtig.« (Etwas Seltenes, 158) Ähnlich ist die Reaktion des Fahrstuhlführers im Tempelhofer Druckhaus. Dieser meint, der Fahrstuhl müsse auch einmal überholt werden. »Na sagen Sie mal«, entgegnet ihm die Tergit, »die Stadt ist zerstört, niemand hat etwas zu essen, kein Fahrstuhl funktioniert, und Sie werden sich über einen unzerbombten, funktionierenden Fahrstuhl beschwe564 Brief an Jan Hans vom 24. Juni 1975 (DLA).

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ren.« Daraufhin entgegnet ihr der Fahrstuhlführer, sehr im Einklang mit dem deutschem Charakter : »Na, es muss doch alles seine Ordnung haben.« (Etwas Seltenes, 168) Gabriele Tergit weist auch darauf hin, dass der Lebensstandard der Deutschen »aus alten Zeiten« dem Englands überlegen war : »Jeder weiß heute, dass Deutschland vor 1914 das reichste Land nach England war und noch eine viel gesündere Vermögensverteilung hatte.« (Etwas Seltenes, 193) Man hat immer wieder den Eindruck, als wenn die Tergit die Deutschen nicht mehr versteht und umgekehrt die Deutschen sie nicht. An ihr bestätigt sich die alte Beobachtung der Exilanten: Man kann nicht zurückgehen, denn die ehemalige Heimat hat sich verändert. In ihrem Falle wäre hinzuzufügen: Die alte Heimat hat sich leider in vieler Hinsicht nicht geändert: Der Antisemitismus herrscht beispielsweise noch wie eh und je. Ab 1977 fand eine Wiederentdeckung Gabriele Tergits statt; es erschienen Neuauflagen von Käsebier erobert den Kurfürstendamm – sowohl eine Hardcover- als auch eine Paperbackausgabe – bei Krüger/Fischer in Frankfurt am Main, mit dem sie nun einen Generalvertrag abschloss, vom Büchlein vom Bett sowie Kaiserkron und Päonien rot im Ullstein Verlag, Berlin. 1990/91 erschien Käsebier erobert den Kurfürstendamm sogar als Fortsetzungsroman im Berliner Tagesspiegel, für den sie nach 1945 einige Jahre lang ihre »Briefe aus London« geschrieben hatte. Ende des 20. und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts hat sich der Berliner Journalist Jens Brüning um die Autorin verdient gemacht, indem er, vor allem im Verlag Das Neue Berlin, ein Tergit-Buch nach dem anderen herausgegeben hat. Das Echo war leider gering. Die Kritik bescheinigte ihr Achtungserfolge, die Auflagen waren niedrig. Über die Ursachen dafür kann man nur spekulieren.

Der Roman So war’s eben und anderes zum Exil Eine Art autobiographische Fortsetzung der Effingers,565 allerdings rein zeitlich gesehen, stellt der Roman So war’s eben dar, an dem die Tergit seit 1959 sieben Jahre lang gearbeitet hat. Er hatte ursprünglich den Arbeitstitel »Die Vertriebenen«.566 Das ursprüngliche Manuskript war, genau wie das der Effingers, rund 700 Seiten lang. »In dieser Form war es bei Kiepenheuer & Witsch, bei Desch, bei Rowohlt lehnte man ab, weil [man] ›im Zeitalter Johnsons nicht mehr so schreiben könne.«567 Das war 1965. Daraufhin kürzte sie das Manuskript und in 565 In einem Brief an Will Schaber (o.D., wohl nach dem 120. 1. 1962) schreibt die Tergit, im Vergleich zu Carl Zuckmayers Als wär’s ein Stück von mir sei ihr Roman »anders, nicht eigentlich autobiographisch.« (DNB) 566 Brief an Dr. Bohne vom 3. Januar 1960 und an Ilse Urbach vom 18. Juni 1959 (DLA). 567 Brief an Wolf Jobst Siedler, den Eigentümer des Siedler Verlags, vom 9. Mai 27. (DLA).

Der Roman So war’s eben und anderes zum Exil

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dieser Form war es bei Karl Ludwig Leonhard beim Bertelsmann Verlag, der, falls das Buch zwischen harten Deckeln erscheine, 4000 Exemplare zu übernehmen versprach. Dann war es beim Droste Verlag, da die Autorin es zu Herrn Losch von S. Fischer geschickt hatte, der inzwischen zu Droste übergewechselt war. Ferner war es beim österreichischen Zsolnay Verlag, dann bei dem Verleger Heinrich Scheffler, den Gabriele Tergit in Frankfurt besuchte, da sie ohnedies mit ihrem Mann dorthin fuhr : »Er riet mir nur den Anfang zu kürzen, die übergroße Personenzahl zu verringern, der ganze letzte Teil sei großartig. Also setzte ich mich noch einmal hin, mordete einige und endete mit 420 Seiten, um zu meiner größten Enttäuschung zu hören, dass zwar der Anfang großartig, aber das Ende, an dem ich gar nichts geändert hatte zu überstürzt sei. […] Noch eins[:] Kindler und Nymphenburger Verlag lehnten ab, das Manuskript zu lesen.«568 Gabriele Tergit bot Scheffler sogar an, dass sie ihm im Falle einer Publikation des Buches finanziell entgegenkommen würde.569 Sie schickte das Manuskript an den Siedler Verlag, der es an einen Außenlektor weiterleitete. Nach sieben Monaten hatte sie noch immer nichts gehört… Zwischen Ende 1968 und August 1970 ging das Typoskript anscheinend noch an Hoffmann & Campe, DVA und Herder.570 Das ursprüngliche Manuskript hatte sie 1968, als sie mit ihrem kranken Mann in der Schweiz war, gekürzt, um es in dieser neuen Form – vergeblich – dem Kindler Verlag anzubieten, der schließlich 1964 die »Volksausgabe« ihrer Effingers publiziert hatte. Das im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N. vorhandene Manuskript hat einen Umfang von insgesamt rund 460 einzeiligen Typoskriptseiten, aufgeteilt in etwa gleich lange zwei Bände. In Tergits Erinnerungen Etwas Seltenes überhaupt wird der Roman nicht einmal erwähnt; sie scheint ihn resignierend ad acta gelegt zu haben. Es gibt allerdings bei So war’s eben ein paar entscheidende Unterschiede zu den Effingers, auf die die Tergit selbst hingewiesen hat: »So war’s eben« ist ein politischer Roman. Zeitung spielt eine große Rolle darin. Insofern ist der Roman mehr ein »Käsebier« als ein »Effingerroman. […] […] dass »Effingers« 1933 aufhören, während »So war’s eben« nicht nur viel später anfängt, sondern die Nazijahre und die Nachkriegszeit schildert fast bis in die Mauerzeit. Während Effingers fast nur Liberale schildert, sind die wesentlichen Personen in »So war’s eben« Kommunisten und ein Nazi. Die Verworrenheit einer idealistischen revolutionären Jugend (Wie aktuell!!) ist das Thema.571

568 569 570 571

Ebd. Brief an Heinrich Scheffler vom 3. Mai 1968 (DLA). Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 110. Brief an den Horst Erdmann Verlag vom 7. November 1968 (DLA).

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Die Hauptfigur von So war’s eben ist eine Frau, Grete Jacoby, hinter der Gabriele Tergit selbst leicht zu erkennen ist. Immer wieder werden von ihr Dinge erlebt, die Tergit in ihren Erinnerungen Etwas Seltenes überhaupt von sich selbst berichtet hat: Wie sie, wird auch Grete Journalistin: als sie ihren ersten Artikel publiziert, will sie, wie die Tergit, am liebsten die Schnellpresse anhalten. Bei einer Kriegshochzeit in Berlin während des Ersten Weltkrieges wird ein Sketch aufgeführt, bei dem eine Ina wieder zur Christl werden soll, indem sie ihren Verkehr mit Juden aufgibt. Die autobiographische Grete verlässt spontan die Feier. In der Redaktion der Berliner Rundschau, bei der Grete mit 500 Mark monatlich angestellt wird, darf der Leitartikler Heye nicht gestört werden (So war’s eben, MS, 134) – genau wie Theodor Wolff in der Redaktion des Berliner Tageblatts. Wie beim Berliner Tageblatt wird auch bei der Berliner Rundschau des Romans ein neuer Verlagsdirektor mit einem phantastischen Gehalt angestellt, der die Zeitung umgestaltet und sich ein modernes Büro mit Stahlmöbeln einrichtet. Den einfachen Redaktionsmitgliedern wird hingegen das Gehalt gekürzt. (So war’s eben, MS, 218 bzw. 220) Wie Heinrich Reifenberg als Architekt, bekommt auch Gretes Mann Otto Jacoby, der im Roman als Filmregisseur erscheint, einen Brief, der ihn aus politischen Gründen beruflich einschränkt: »Was fernerhin Ihre Filmidee betrifft, so können wir uns im Augenblick noch nicht entscheiden. Ich bitte Sie also, sich deswegen bis nach den Preußenwahlen zu geduldigen.« (So war’s eben, MS, 257) Wie Heinrich Reifenberg die Wohnungstür seiner Familie mit Eisen hat beschlagen lassen, so geschieht es nach Hitlers ›Machtergreifung‹ auch im Roman: »Ich lasse auf alle Fälle unsre Wohnungstür mit Eisen beschlagen und Sicherheitsschloss und Kette anbringen.« (So war’s eben, MS, 281) Nachdem die SA in ihre Wohnung eingedrungen ist, setzt sich Grete mit ihrem Mann und mehreren Journalistenkollegen nach Prag ab. Über Paris zieht sie nach England weiter. Otto, der jahrelang vergeblich auf eine ihm gemäße Arbeit als Regisseur hofft, wird ähnlich wie Tergits Mann Heinrich Reifenberg verbittert. Unmittelbar nach dem Kriege kehrt Grete, wie ihre Autorin, als Berichterstatterin in ihre Heimatstadt Berlin zurück, wo sie die Restauration alter Machtstrukturen miterlebt. Neben solchen autobiographischen Elementen sind Geschichten eingearbeitet, die die Tergit als Gerichtsreporterin erfahren und über die sie auch als solche berichtet hat: Auch im Roman berichtet sie von politischen Morden, die nur geringe Geldstrafen nach sich ziehen, weil sie von der politischen Rechten begangen werden. (So war’s eben, MS., 142) Ein Schlächtergeselle sagt vor Gericht aus, er habe kein Messer bei sich gehabt, sondern einen Malerpinsel (So war’s eben, MS, 201), einem politischen Plakatkleber sagen seine jüngeren Freunde, er sei dafür zu alt: »Du bist schon zwanzig. Dir verhaften se bloß.« (Ebd.) Der SA-Überfall auf die Wohnung von Grete und ihrem Mann Otto entspricht genauestens der eigenen Erfahrung der Reifenbergs. (So war’s eben, MS,

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283) Die Geschichte von einem Kind, das, mit Schlamm bespritzt, auf eine ganze Schulklasse zugeht, gibt die Erfahrung des eigenen Sohnes Peter wieder. Die Geschichte von einem Deutschen, dem in der Tschechoslowakei klar wird, dass die Caf¦s in den Händen von Juden sind (So war’s eben, MS, 310), beruht ebenfalls auf der eigenen Erfahrung der Tergit. Wie diese bekommt auch Grete in Paris das Angebot, an der in der Sowjetunion herausgegebenen Exilzeitschrift Das Wort mitzuarbeiten, und lehnt auf dieselbe Weise ab. (So war’s eben, MS, 316) Wie Heinrich Reifenberg darf auch Otto Jacoby in London keine Arbeit annehmen, »bezahlt oder unbezahlt«. (So war’s eben, MS, 330) Nach dem Kriege kehrt Grete Jacoby von London auf den Kontinent zurück (So war’s eben, MS, 394), und wie sie reist auch sie nach Südamerika und fliegt in die USA weiter, wo es zum Schluss zu einer Wiederbegegnung mit zahlreichen Überlebenden des Holocaust kommt. (So war’s eben, MS, 408) Der Sohn Gretes bekommt ein Stipendium, um in Cambridge zu studieren, genau wie Tergits Sohn Peter. Kurz: ein leicht verhüllter autobiographischer Roman. Auf den letzten 70 Seiten wird Gretes Reise nach New York geschildert, die sie, inzwischen verwitwet, als alte Frau unternimmt und dort viele ihrer alten Bekannten wieder trifft. Grete stellt fest, dass sich die Menschen wenig verändert haben… Der Roman, dessen Handlung um 1888 einsetzt und in den frühen fünfziger Jahren endet, besteht überwiegend aus Dialogen, die zumeist politische Diskussionen beinhalten, so dass man den Eindruck gewinnt, dass viele Figuren nur erfunden sind, um verschiedene politische Standpunkte zu repräsentieren. Insgesamt handelt es sich deshalb um eine Art dramatisierte Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. »Genau wie der Käsebier hat ja ›So war’s eben’ keine Handlung«, schrieb Gabriele Tergit einmal, »es ist ein Bilderbogen wie Menschen auf dem Hintergrund einer kranken Epoche gelebt haben.«572 Der Szenenwechsel dabei geht in atemberaubender Schnelle vonstatten. Im Roman treten so viele Personen auf, dass schon am Ende des ersten Typoskriptbandes ein zur Orientierung absolut notwendiges Personenverzeichnis von 64 Hauptund neun Nebenpersonen unter der Überschrift »Dramatis Personae« angefügt ist. Allein schon die Unterteilung dieses Verzeichnisses zeigt, worum es der Tergit in diesem Roman geht: um das Thema Antisemitismus: Die Juden – Berlin O Die Juden – Berlin W Die deutsche Oberschicht Die Zeitungsmenschen Die Kommunisten Figuren am Rande 572 Brief an Eugen Skasa-Weiß vom 13. Mai 1969 (DLA).

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Die letzte »Szene« des Romans ist wieder, ganz im Stil eines Dramas, überschrieben: »Letzter Auftritt. Das ganze Ensemble«. (So war’s eben, Ms. 458) Abgesehen von Erfahrungen eines ›alltäglichen Antisemitismus‹ werden wortwörtliche antisemitische Zitate aus dem nationalsozialistischen Angriff wiedergegeben. (So war’s eben, MS, 220) sowie ein längerer Ausschnitt aus einer Goebbelsrede aus dem Berliner Sportpalast: »Der pechschwarze hinkende Zwerg, ein nachgedunkelter Schrumpfgermane, von blonden Riesen umgeben […].« (So war’s eben, MS, 212) Die Tergit berichtet über den deutschvölkischen Jungsturm, über Jugendliche, die angehalten werden, bei einem Judenfriedhof auszuspucken, und über Wandervögel, die über Judenblut singen, das fließen müsse – beide werden vom Gericht nicht verurteilt. (So war’s eben, MS, 230 f.) Gabrieles Erfahrung bei der Schifffahrt von Palästina nach Frankreich, sowohl auf dem Schiff mit der Aussage eines Mitreisenden, die Franzosen wollten nicht von Juden regiert werden, die Aufschrift auf der Hafenmauer in Marseille, »Heil Hitler! õ bas les Juifs« sowie die unsinnige Behauptung eines Mitreisendem im Zug, in Frankreich seien 3 Millionen jüdische Tischler eingewandert (So war’s eben, MS, 331) beruhen auf eigener Erfahrung der Tergit. In Berlin weigert sich ein Arzt, einer »alten Judensau«, die Zyankali genommen hat, zu helfen, ebenfalls eine Geschichte, die an anderer Stelle auftaucht. Leider hat der Roman stilistische Schwächen, die einer Publikation in den sechziger Jahren im Wege standen: Die Dialoge sind zum großen Teil in einem papiernen Deutsch geschrieben, einem Leitartikeldeutsch, das nicht sehr realistisch wirkt, und beim Leser wird ein hoher Grad an historischem Wissen vorausgesetzt. Wenn beispielsweise über Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs diskutiert wird, so ist dies nur jemandem verständlich, der entweder diese Zeit selbst miterlebt hat oder historisch entsprechend vorgebildet ist. Der Roman wirkt deshalb streckenweise zu oberlehrerhaft pädagogisch. Die Schwächen des Romans werden übereinstimmend immer wieder in den Ablehnungsbriefen der Verlage deutlich. So schrieb ihr beispielsweise der Desch Verlag: Wir alle, die wir das Manuskript gelesen haben, sind zu dem gemeinsamen Ergebnis gekommen, dass es sich bei diesem Manuskript noch um ein Romanmanuskript handelt, an das nun die Autorin herangehen muss, um es sehr ökonomisch zu behandeln, um es zu straffen, zu raffen und zu beschneiden. Nach unserer Meinung ist das Thema von Ihnen zu weitschweifig behandelt worden. Es kommt zu keiner Zusammenballung der Ereignisse. Es läuft vor allem gegen Ende hin auseinander. Vor allem ermüden die endlosen Gespräche. Seien Sie nicht ungehalten, wenn ich die Gespräche mit ›endlos‹ bezeichne. Sie sind wirklich so und hemmen in

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einem ermüdenden Ausmaß den Lauf der Handlung. Wir glauben nicht, dass dieses Manuskript in der vorliegenden Form druckreif ist…573

Es schmerzt auch heute noch, derartige Beurteilungen zu lesen, zumal wenn man ihnen zustimmen muss. Es lässt sich nur erahnen, wie entmutigend sie auf Gabriele Tergits Psyche gewirkt haben müssen. Ihre Klagen über die Schwierigkeiten, den Roman bei einem Verlag unterzubringen, wollen kein Ende nehmen. So schreibt sie beispielsweise am 18. März 1970 an Erich Kästner : Für mich ist es grauenhaft, dass gleichzeitig mit Heinzens Verschwinden auch meine Bücher nicht mehr unterzubringen sind. Mein Mann hat noch in den letzten Wochen gesagt, ich wünsche mir nur noch eins mit dir Korrektur zu lesen. Ich habe nämlich wie ich glaube einen sehr schönen Roman geschrieben »So war’s eben«. Nicht unterzubringen. […] Aber für mich wäre es eben der einzige Trost, wenn der Roman »So war’s eben« herauskäme. (DLA)

Es ist interessant zu lesen, wie die Lektoren der Verlage nicht etwa das Thema ›jüdisches Schicksal in Deutschland im 20. Jahrhundert‹ als Ablehnungsgrund angeben, sondern, natürlich auch nicht zu unrecht, die unzeitgemäßen stilistischen Mängel, die sich darin zeigten, dass sich die Tergit seit 1933 als Schriftstellerin nicht geändert hatte und damit Mitte der fünfziger Jahre den Ansprüchen des Literaturlebens in Deutschland nicht mehr entsprach. Auch hier machten sich also wieder die »verlorenen Jahre« bemerkbar, die aus der Distanz von London nicht einzuholen waren. Auf die tatsächlichen Schwächen des Romanmanuskripts sowie seine Unzeitgemäßheit weist folgender Ablehnungsbrief des Verlegers Heinrich Scheffler hin, der zwei Drittel des Romans gelesen hat: Verständlicherweise wollen Sie gern wissen, welchen Eindruck ich habe und wann das Buch bei mir erscheinen wird. Aber so einfach liegt die Sache nicht. Der Roman hat große Qualitäten, die vor allem in der instinktsicheren literarischen Bewältigung des Milieus liegen. Zweifellose handelt es sich um Literatur, mitnichten um Schreibe. Aber gewisse kompositorische Mängel sind auch nicht zu übersehen. Die Vielzahl der Personen verschwimmt im Fortschreiten der Handlung, schließlich geht die Übersicht ganz verloren. Überhaupt wäre die Drucklegung eine wahre Sisyphosarbeit für den Lektor. Und die Absatzaussichten beurteile ich auch nicht gerade verlockend. Vor 15 Jahren wäre dieser Stoff ein sicherer Erfolg geworden. Doch will ich Sie mit meinen Einwänden jetzt nicht länger quälen. Ich bin zur Zeit weder negativ noch positiv entschlossen, muss wohl auch noch ein zweitesmal lesen und Jemand anderen damit betrauen, auf dessen Urteil ich Wert lege. Sie müssen mir kurzum, noch etwas Zeit

573 Zitiert nach einem Brief an Eugen Skasa-Weiß vom 22. April 1966 (DLA).

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lassen. Das ist kein »Verlagsobjekt« zu dem man sich leichten Herzens entschließen kann.574

In einem Brief an Horst Krüger vom 26. August 1965 zitiert die Tergit aus einem anderen Ablehnungsbrief, der das Schwergewicht noch stärker auf die Unzeitgemäßheit des Stils legt: Ich glaube tatsächlich nicht, dass man heute noch, in einer Zeit, in der die Literatur, Sprache, Struktur und die Möglichkeit, einen Roman zu schreiben, sich doch ganz wesentlich verändert haben, in der Unsicherheit, Mutmaßung und Ambivalenz der Modernen Welt nicht ohne Einfluss auf die Literatur geblieben sind, in der auch das literarische Experiment vom Surrealismus bis zum Nouveau Roman sich doch ganz merklich und vor allem in den letzten 15 Jahren literarisch niedergeschlagen hat, – dass man also in einer solchen Zeit einen Roman noch so konzipieren und schreiben kann, wie Sie das hier getan haben. Verstehen Sie mich bitte recht: ich rede nicht dem Surrealismus oder dem Nouveau Roman das Wort mit dieser Argumentation, sondern ich meine, dass sich Sprache und Struktur in den letzten Jahrzehnten doch so wesentlich geändert haben, dass der Zugriff zur Realität, dass sich die Kunstprosa selbst einer Veränderung nicht entziehen konnte, und mir scheint, dass Sie mit diesem Buch jener Veränderung zu wenig Rechnung tragen….. (DLA)

Jens Brüning zufolge handelt es sich um einen Brief aus der Feder von Fritz J. Raddatz, der ihn als Cheflektor von Rowohlt geschrieben hat und nicht, wie er wiederholt behauptete, privat.575 Dass die Tergit stilistisch einer vergangenen Epoche angehörte, dass sie die Entwicklung der Literatur in Deutschland nach 1945 nicht mitgemacht hatte, wollte sie verständlicherweise nicht einsehen, und sie polemisierte deshalb: »Die Lektoren im Westen sind völlig unsicher in ihrem Urteil und alles sind Buchfabriken. […] Zu allen anderen Zeiten wäre das Buch gedruckt worden. Aber Westdeutschland ist eine kulturelle Wüste bei aller [sic] überintellektuellen Gehaben.«576 Auch das Argument, dass die Deutschen ein Buch über die Juden nicht lesen wollten, erkannte sie nicht an, war doch der Roman Die Gärten der Finzi-Contini (1962) des Italieners Giorgio Bassani, der, sehr ähnlich, das Schicksal des reichen jüdischen Bürgertums in Ferrara zur Zeit des späten Faschismus seit den Rassegesetzen zum Thema hatte, ein Riesenerfolg gewesen. 200.000 Exemplare hatten sich allein in Italien verkauft. »Über meinen neuen Roman So war’s eben schreiben alle deutschen Verleger, dass die Deutschen über dieses Thema nichts lesen wollen. Bitte vergleichen Sie!«577 Da Karl Ludwig Leonhardt ihr verspro574 575 576 577

Zitiert nach einem Brief Gabriele Tergits an Hertha von Schulz vom 21. März 1968 (DLA). Email von Jens Brüning vom 2. September 2011. Brief an Hertha von Schulz vom 21. März 1968 (DLA). Brief an Armin T. Wegner vom 14. März 1970 Brief Gabriele Tergits an Hertha von Schulz vom 21. März 1968 (DLA).

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chen hatte, 4000 Exemplare für Bertelsmann zu übernehmen, wenn der Roman als Hardcover erscheinen würde, wies sie in ihren Verlagsanschreiben immer wieder darauf hin, dass nach dieser Zusage die Veröffentlichung kein verlegerisches Risiko darstelle.578 Es war ihr größter Wunsch, die Veröffentlichung des Romans noch zu erleben, aber als es sich als unmöglich herausstellte, einen Verleger zu finden, hatte sie die Lust am Schreiben verloren.579 Sie bedauerte vor allem, dass sie die viele mit dem Schreiben vergeudete Zeit besser mit ihrem Mann hätte genießen können.580 Kein Wunder, dass sie sehr unglücklich war, weil sie glaubte, dass für sie alles auf einmal zu Ende sei: »Was soll ich allein! Und wenn noch wenigstens meine Publikationen weitergingen. Ich schreibe genauso gut wie eh und je. Aber ›das deutsche Publikum will eben nichts von der Vergangenheit lesen‹. Damit bekomme ich meinen Roman von allen Verlegern zurück.«581

Der Engel aus New York Im Jahre 1970 und in den drauffolgenden Jahren bot sie verschiedenen Verlagen ein nach 1966 entstandenes Manuskript von etwa 90 Seiten Umfang mit dem Titel Der Engel aus New York582 über die Rettung von Intellektuellen, österreichischen Sozialisten, Marc Chagall, Heinrich Mann, Franz Werfel und seine Frau Alma, Hans Sahl sowie von Katholiken aus Frankreich nach Amerika an:583 »I wrote the book, because I had heard in New York that the Jewish tailors had succeeded in 1940, when France fell in persuading President Roosevelt, to give 578 Z.B. in ihrem Brief vom 29. August 1970 an Dr. Stadler vom Herder Verlag. 579 »Ich habe keine Lust mehr zu schreiben, nachdem mein neuer Roman offenbar nicht zu verlegen ist.« Brief an Annemarie Mommsen vom 12. November 1969 (DLA). »Ich möchte eben nicht aufhören zu schreiben, aber ich bin unsicher geworden, da ich meinen neuen Roman in Deutschland nicht unterbringen kann.« Brief vom 22. September 1967 an Yeshurun Keshet (DLA). 580 Brief an Joachim Kaiser vom 4. April 1971 (DLA). 581 Brief an Hertha von Schulz vom 10. September 1970 (DLA). 582 Das im DLA erhaltene Typoskript hat den von den Marbacher Archivaren formulierten Titel Bevor Frankreich im Sommer 1940 besiegt wurde. Eins der Kapitel, in dessen Mittelpunkt die Rettungsaktion Varian Frys steht, hat die Überschrift »Der Engel aus New York«. Die ebenfalls im DLA vorhandene englische Fassung des Manuskripts trägt den Titel Before France Fell. Jens Brüning zufolge (Email vom 2. September 2011) waren Tergits Titel »Der Engel aus New York« und »Scarlet Pimpernel«. 583 Sie wollte das Buch ursprünglich gemeinsam mit Will Schaber schreiben. Am 20. Juli 1966 schrieb ihr dieser : »Ich bin sehr gern bereit, als Researcher an einem solchen Projekt zu arbeiten. […] Gleichzeitig halte ich es aus stilistischen und organisatorischen Gründen für richtiger, dass das Buch nur unter Ihrem Namen erscheint.« (DNB) Wie aus der weiteren Korrespondenz (DNB) deutlich wird, hat sich Schaber dann in der Tat als »Researcher« für das Buch betätigt.

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them 1000 visitors visa with no strings attached for their trade union comrades and for European intellectuals trapped in France.«584 Das Geld für die Rettungsaktion sei von den jüdischen und italienischen Schneidern in New York mit Überstunden und Sonntags- und Sonnabendarbeit gesammelt worden. Im Mittelpunkt des Manuskripts steht jedoch nicht die Rettungsaktion der New Yorker Schneider, sondern die des jungen Amerikaners Varian Fry, der die Hauptarbeit geleistet hatte. Das letzte Kapitel behandelt kurz die Rettungstätigkeit der Italiener und der Geistlichkeit in Nizza. Der Spiegel interessierte sich zunächst für das Projekt. Gabriele Tergit betonte in ihrer Korrespondenz mit dem Magazin, dass sie ihnen das Material nicht anonym geben könne. Irgendwo müsse ihr Namen genannt werden.585 In seinem Antwortbrief vom 24. April 1969 ging Dr. J. Reimann586 auf diese Forderung zunächst nicht ein. Als die Tergit feststellen musste, dass der Spiegel in einem Artikel seiner Ausgabe vom 16. März 1970 auf Seite 68 in vier Absätzen sehr wohl ihren »Engel aus New York« benutzt hatte, erbat sie sich ein Honorar von 250 Mark, nicht »für die Absätze sondern für die ausführliche Korrespondenz über das Thema.«587 Sie erhielt darauf keine Antwort. Mit Recht war sie empört: Der Spiegel hat sich ganz gemein gegen mich benommen. Das Manuskript wurde ihnen von ihrem hiesigen Vertreter angeboten. Sie wollten grosse Teile bringen schickten mir Fragebögen, veranlassten mich nach Hamburg zu telefonieren. Wenn mich nicht 2 Jahre später der sehr anständige hiesige Vertreter des »Spiegel« angerufen hätte und mir mitgeteilt hätte, dass sie mein Manuskript benutzt hätten, hätte ich nie was erfahren. Sie haben weder meinen Namen genannt noch mir auf Aufforderung für ein Honorar geantwortet. Ich kann nicht mit dem »Spiegel« kämpfen.588

Im September 1970 bat sie um Rücksendung des Manuskripts, »das Sie wohl doch nicht benutzen wollen.«589 1967 bot die Tergit eine englische Version – sie hatte das Buch von vornherein ursprünglich, unter Mitarbeit von Will Schaber, auf Englisch geschrieben!590 – mit dem Titel »Scarlet Pimpernel or The Angel From New York« – vergeblich – englischen Verlagen an, zumal Richard Friedenthal von Anfang an meinte, das 584 Brief an Ernest Hearst (Londoner Wiener Library) vom 29. Juli 1967 (DLA). In einem Brief von Arno Reinfrank an Gabriele Tergit vom 15. Januar 1969 ermuntert sie dieser, ihren »Engel von Marseille« Verlagen anzubieten (DLA). Es handelt sich offensichtlich um dasselbe Manuskript. 585 Brief an Dr. Reimann (Spiegel) vom 6. März 1969 (DLA). 586 Am 5. Februar 1969 hatte Dr. Reimann der Tergit einen umfangreichen Fragenkatalog zum Manuskript zugeschickt. 587 Brief an Dr. Reimann vom 30. Mai 1970 (DLA). 588 Brief an ManÀs Sperber vom 8. Juni 1972 (DLA). 589 Brief an Will Schaber vom 7. Juli 1970 (DNB); vgl. auch Brief an Dr. Reimann (Spiegel) vom 9. September 1970 (DLA). 590 Vgl. Brief an Will Schaber vom 21. Juni 1967 (DNB).

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Manuskript wäre für Deutschland nicht geeignet.591 Da das Manuskript ziemlich kurz sei, meinte sie später, wenn ein guter Schriftsteller zur Hand sei, könne dieser leicht ein Kapitel hinzufügen.592 Der Verlag Weidenfeld & Nicolson sandte das Manuskript zurück mit den Worten: »I was terribly interested to see your manuscript, and I am very sorry to return it to you. I discussed it with my colleagues and we feel that, although it is [a] very interesting new approach to the subject, it is not a field in which recent books have had great commercial success, and it is almost impossible economically to publish a very brief book.«593 – 1972 bot Tergit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Mainz den Briefwechsel Rudolf Oldens mit allen Großen der Emigration an. Es handelte sich bei den Briefen »weniger um Literatur als Politik, obzwar die Briefe von Literaten stammen, so handeln sie doch wesentlich um die Rettung vor Hitler aus der Tschechoslowakei, was ja hier der englische PEN organisierte.«594 Sie schrieb eine Einleitung und sandte eine Unzahl Briefe nach Mainz, die sie auf ihre Kosten hatte ablichten lassen. Die Akademie bot ihr daraufhin an, das ganze Material zu übernehmen, damit es ihre Studenten bearbeiten könnten. Gabriele Tergit war zu Recht empört: »Haben Sie schon so eine Frechheit gehört. Aus unserem Untergang machen die Schweine Doktorarbeiten und haben nicht den Anstand zu sagen, natürlich unter Ihrer Leitung mit Ihren Kommentaren, Frau Tergit.«595 1978 verkaufte sie die gesamte PEN Korrespondenz von Olden, unter ihnen viele Briefe von Heinrich Mann, »an die Bibliothek in Frankfurt.«596 Sie bekam DM 8000 dafür, die sie vor allem dem englischen PEN sowie den Damen übergab, die 1938 ein Jahr ihres Lebens geopfert hatten, um deutsche Schriftsteller aus der Tschechoslowakei zu retten.597

Später Streit: die PEN-Berichte, Manfred Durzak und Elisabeth Frenzel Die PEN-Berichte und der Kalte Krieg Die Qualität von Gabriele Tergits allein geschriebenen Berichten, wie die Mitteilungen seit 1976 hießen – man fühlt sich an Karl Kraus’ Fackel erinnert – blieb 591 Vgl. Brief an Will Schaber vom 15. 11. 1966 (DNB). 592 Brief an Mrs. Linden (?) vom 9. April 1971 (DLA). »Scarlet Pimpernell 1940« war die Überschrift des Kapitels, das in der deutschen Fassung »Der Engel aus New York« hieß. 593 Zitiert nach einem Brief Gabriele Tergits an Will Schaber vom 27. Juli 1967. 594 Brief an Siegfried Sudhof vom 28. September 1975 (DLA). 595 Brief an Kurt Karl Doberer vom 7. Juli 1972 (DLA). 596 Brief an Siegfried Sudhof vom 27. Oktober 1978 (DLA). 597 Brief an Will Schaber vom 13. März 1976 (DNB).

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nicht immer und nicht von allen Mitgliedern unbestritten.598 Im Allgemeinen gab es nur Lob, wenn sich auch schon 1958 Zentrumspräsident Ossip Kalenter an der oft erratischen Schreibweise Tergits gestoßen hatte. So teilte H.G. Adler ihr ironisch mit, Präsident Kalenter sei mit der Sprache der Mitteilungen unzufrieden.599 Andererseits lobte Kurt Kersten aus New York im selben Jahr das »vorzüglich redigiert[e]« Mitteilungsblatt vor allem deshalb, weil es geeignet sei, neue Mitglieder zu werben.600 Auf die wichtige Funktion des Blattes wurde die Tergit 1962 auch von H.G. Adler hingewiesen: »[D]enn das von Ihnen mit soviel Mühe und Liebe hergestellte Bulletin unseres PEN-Zentrums soll ja auch immer wieder beweisen, dass wir eine aktive Gruppe sind.«601 Das sollte sich in den siebziger Jahren allerdings ändern. So schrieb Hans Keilson, der als Delegierter des Zentrums an dem Internationalen PEN-Kongress in Den Haag teilgenommen hatte, 1976 an Adler als Präsidenten einen ausdrücklich als vertraulich deklarierten Brief, der zu einem ausgesprochen negativen Urteil über die Berichte der Tergit kam: So wie bisher geht es meiner Ansicht nach nicht. Bereits nach dem ersten Konferenztag […] sagte ich meiner Frau, dass mir die ungeheure Diskrepanz zwischen der Art und Weise, wie man auf der Konferenz mit einander umging, und der Berichterstattung unseres Zentrums über die aktuellen Probleme aufgefallen sei. Ich möchte […] keine sozio-psychologische Analyse der Lage unseres Zentrums vornehmen. Aber wir sollten uns dessen bewusst sein, dass wir nicht eine fatale Rolle spielen dürfen, nur weil uns eine andere nicht zur Verfügung steht.602

Keilson ging es vor allem um den negativen Effekt, den die Berichte der Tergit im internationalen Zusammenhang des PEN spielten,603 was er mit einem Zitat Stephan Hermlins begründete: »Ich finde – und dies ist der Grund meines Schreibens – dass wir dem PEN […] keinen Dienst beweisen [sic], wenn wir Sätze formulieren und drucken, die – wir mir Hermlin persönlich sagte – ›die Tage des kältesten Krieges wieder heraufbeschwören‹.«604 Keilson belegte seine Aussagen mit der detaillierten Darstellung entsetzter Reaktionen internationaler Delegierter auf Tergits Berichterstattung über den Internationalen Kongress in Wien: »Zerstritten ist man im PEN seit Becher bis Kamnitzer und Henryk Keisch die Führung im literarischen Weltkommunismus übernommen haben.« Und:

598 Die Berichte erschienen dreimal im Jahr im Umfang von acht bis zehn Seiten. Zum Folgenden vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 313 ff. 599 Brief H.G. Adlers an Tergit vom 18. März 1958 (DNB). 600 Brief Kurt Kerstens an Tergit vom 12. Juli 1958 (DNB). 601 Brief H.G. Adlers an Tergit vom 8. September 1962 (DNB). 602 Brief Hans Keilsons an H.G. Adler vom 15. Mai 1976 (DNB). 603 Zum Folgenden vgl. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 314 ff. 604 Brief Hans Keilsons an H.G. Adler vom 15. Mai 1976 (DNB)

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»Hätte er [John Peet] in einer Sowjet Agentur für ein freies Berlin gearbeitet, würde er heute ohne Kopf dastehen.«605 Keilson glaubte mit seinem Brief Adler zur Intervention bewegen zu können, vor allem, wenn er die Befürchtung aussprach, die Berichterstattung Tergits könne »dem von mir hochgeschätzten Heinrich Böll in den Rücken fallen«, und »Walter Jens [würde] wenig erbaut« über sie sein.606 Auch in den folgenden Jahren blieb Tergit bei ihrer, wie Keilson formulierte, »Mischform aus Zitaten und Kommentar«, die »eine emotional geladene und keine sachbezogene Darstellung« erlaubte.607 In Den Haag war u. a. folgendes Beispiel aus dem Bericht vom Januar 1976 kritisiert worden: »Bei einem Besuch in Buchenwald gab eine italienische Journalistin ihrer Empörung darüber Ausdruck, dass auf den Schrifttafeln dort nur und immer wieder von den faschistischen Mördern und den Opfern des Faschismus die Rede ist. Bei Mussolini gab es keine Menschenvernichtungslager.«608 Diese Notiz sei, so Keilson, insbesondere von italienischen und niederländischen Delegierten kritisiert worden, denn darin sei als selbstverständlich vorausgesetzt worden, dass es keinen deutschen Faschismus, sondern einen deutschen Totalitarismus gegeben habe, der essentiell Antisemitismus gewesen sei. Ferner sei der Sozialismus der DDR ebenfalls totalitär und deutsch. Entgegen Keilsons Wunsch, den Brief als vertraulich zu behandeln, gab ihn Adler an die Tergit weiter, die auf dem Kalten Krieg beharrte und merkwürdigerweise ihre Hoffnungen auf die Volksrepublik China setzte: »Es ist schrecklich traurig, dass unser Weltfreundschaftsbund nichts mehr weiter ist als ein Schlachtfeld zwischen Ost und West. Wenn die Stimmung gegen den Osten überhaupt steigt, so ist das das Verdienst der Chinesen, die in Nairobi eine gewaltige Rede gegen die Ausnutzung der Dritten Welt durch die Russen gehalten haben.«609 Der Historiograph des Londoner Zentrums, Helmut Peitsch, kommentiert die Tergitsche Tendenz ihrer Berichte folgendermaßen: Die Selbstdefinition als antitotalitär, mit der Besonderheit, dass Kommunismus mit Antisemitismus und deutsch mit antisemitisch gleichgesetzt wurde, während der Begriff ›Faschismus‹ ausdrücklich abgelehnt und ›Nazismus‹ oder ›Nationalsozialismus‹ kaum noch verwendet wurden, durchzog die Berichte in den siebziger Jahren als

605 606 607 608 609

Berichte 1/1976, S. 1. Brief Hans Keilsons an H.G. Adler vom 15. Mai 1976 (DNB) Ebd. Berichte 1/1976, S. 6. Brief an Adler vom 1. Mai 1976 (wahrscheinlich aber Juni, weil sie damit auf ein Xerox von Keilsons Brief vom 15. Mai antwortete) (DNB).

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Frontstellung gegen die Entspannungspolitik des Internationalen wie des bundesrepublikanischen PEN.610

Als Arno Reinfrank kurz nach der Internationalen PEN-Kongress in Den Haag seinen für die Berichte bestimmten Artikel über die Wahl von Walter Jens zum Präsidenten des bundesrepublikanischen PEN an den Internationalen PEN geschickt hatte, intervenierte dessen Sekretär, wie aus einem Brief Tergits an Adler deutlich wird: Reinfrank glaubte, dass ich meine Berichte an den Internationalen PEN geschickt hätte, bevor sie in den »Berichten« sowieso erschienen. Elstop war sehr aufgeregt über den Bericht und behauptete Reinfrank hätte falsche Angaben über Äußerungen des neugewählten Bundespenpräsidenten Walter Jens gemacht, was aber nicht der Fall war. Jens hat tatsächlich der weiteren Politisierung das Wort geredet – ich las – mit Schwierigkeiten die deutschen Zeitungsberichte, von denen jede[r] etwas anderes sagt. Hinzu kam Brügels Bericht über Wien, der Elstop ärgerte.611

Tergit war empfindlich in Bezug auf alles, was nach Akzeptanz von Kommunisten oder Mangel an Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Antisemitismus aussehen konnte. So reagierte sie auf den Beschluss der Mitgliederversammlung des BRD-Zentrums, die Mitgliedschaft im FDA,612 dem Freien Deutschen Autorenverband, der konservativen Gegengründung zum VS, sei »unvereinbar mit der Mitgliederschaft [sic] im P.E.N. Zentrum Bundesrepublik Deutschland« mit den Worten: »Dieser Antrag ist nichts Geringeres als ein Ermächtigungsgesetz zum Ausschluss von Pen Mitgliedern […] eine erschreckende Entwicklung in einem westlichen Land«613 Die von Keilson diagnostizierte Rolle »bestand in einer Frontstellung gegen alle: Insbesondere Juden, die mit der eigenen Orientierung nicht übereinstimmten, wurden als Gegner identifiziert, ob Kesten oder Fabian im BRD-Zentrum oder Hermlin im DDRZentrum […].«614 Für Tergit war der Kalte Krieg der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre anscheinend noch nicht zu Ende.615 Dem widerspricht allerdings eine briefliche Äußerung ihrerseits aus dem Jahre 1966, in der sie an Johann Wolfgang Brügel schrieb: Kann die Atmosphäre des kalten Kriegs zu einer friedlichen Welt führen? Ich glaube nicht. Alle kommunistischen Regimes sind in der Umwandlung. […] Der Pen hat immerhin Julius Hay und andere ungarische Schriftsteller aus dem Gefängnis geholt. 610 Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 315. 611 Brief an H.G. Adler vom 29. Juli 1976 (DNB). 612 Seit 1978 hatte Tergit das Londoner Zentrum mit dem FDA-Organ der literat verbunden. Vgl. Berichte 2/1979, S. 7 und Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 326. 613 Berichte 5/1973, S. 3/4. Weitere Beispiele bei Helmut Peitsch, No Politics?«, S. 316. 614 Helmut Peitsch, No Politics?«, S. 316. 615 Vgl. Helmut Peitsch, No Politics?«, S. 317.

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[…] Der Präsident des polnischen PEN ist Parandowski, er war es schon unter Pilsudski, kein Kommunist so wenig wie mein alter Freund Arnold Zweig. Es sind doch alles Menschen und Menschen können Menschen beeinflussen. […] Und Deutschland? Haben Sie […] die grausigen Tatsachen über die menschenmordenden Ärzte gelesen, die heute in Deutschland Universitätsprofessoren sind? Ich war in meiner Berliner Tageblatt Zeit eine wilde Antimarxistin und damit höchst unbeliebt bei all den Halbroten inclusive Paul Scheffer. Etwas mag dazu beitragen, dass mir [die] slavischen Menschen so viel angenehmer sind wie die versnobten Franzosen und Engländer.616

Diese anscheinend doch offene, versöhnliche Haltung »stand in Kontrast zur Distanz, in die das Zentrum in der Ära der internationalen Entspannung geriet.«617 Aus dieser Isolierung versuchte sich die Londoner Gruppe dadurch zu befreien, dass sie sich 1965 mit Amnesty International und 1971 mit Index on Censorship assoziierte.

Die Auseinandersetzung mit Manfred Durzak Schon 1972 hatte die Tergit ein großes Ärgernis in Verbindung dem damals in Kiel lehrenden Germanisten Manfred Durzak erlebt, und zwar in Zusammenhang mit ihrem Artikel »Die Exilsituation in England«, der in dem von Durzak herausgegebenen Band Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945.618 erschienen ist.619 Am 28. Juni 1971 hatte Durzak bei ihr angefragt, ob sie bereit wäre, »an einem Sammelwerk über deutsche Exilliteratur mitzuarbeiten, das im Reclam Verlag erscheinen wird und in Zusammenarbeit mit der Stockholmer Forschungsstelle und Herrn Müssener entsteht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie bereit wären, den wichtigen Aufsatz über ›Die Exilsituation in England‹ zu übernehmen.« (DLA) Tergit antwortete ihm daraufhin: Sehr geehrter Herr Durzak, verzeihen Sie bitte, dass ich nicht sofort geantwortet habe. Ich bin prinzipiell bereit an Ihrem Sammelwerk mitzuarbeiten, aber ich bin mir nicht ganz klar, was Sie erwarten. Ich schicke Ihnen ein Heft, das wie Sie sehen werden 1951 erschien. Ich nehme an, Sie können genug englisch, um diese Aufsätze in recht primitivem Englisch zu verstehen. Ich habe das Gefühl, Sie möchten eine Abhandlung, die meinen und den Aufsatz des verstorbenen Lutz Weltmann (The Authors’ Dilemma) kombiniert. Wenn das richtig 616 Brief an Johann Wolfgang Brügel vom 27. Januar 1966 (DNB). 617 Helmut Peitsch, No Politics?«, S. 302. Weitere Details zur Isolation des Londoner Zentrums ebd., S. 303 ff. 618 Stuttgart: Philipp Reclam 1973, S. 135 – 144. 619 In dem faktenreichen Beitrag erwähnt sich die Tergit selbst allerdings mit keinem Wort.

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ist, bitte teilen Sie mir das mit. Ich hatte damals das Vergnügen, dass mein Aufsatz als einziger in der englischen Presse erwähnt wurde.620

Daraufhin schickte ihr Durzak die folgende bestätigende Antwort: Sehr verehrte Frau Tergit, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Zeilen vom 16. Juli und die liebenswürdigerweise übersandte Schrift Britain’s New Citizens. In der Tat trifft Ihre Charakteristik zu: Der Aufsatz über die Exilsituation in England müsste gewissermaßen Ihren sehr informativen Essay und die Arbeit von Lutz Weltmann kombinieren, wobei das Hauptgewicht auf den Schriftstellern läge, auch wenn das Bild dadurch etwas an Vollständigkeit verliert. Ich freue mich sehr, dass Sie den Beitrag übernehmen wollen und werde veranlassen, dass Ihnen der Verlag in Kürze den Vertrag zuschickt.621

Diesen Vertrag schickte ihr Reclam am 23. September 1971 zu. Sie traf Durzak 1972 auf dem Exilsymposium in Kopenhagen und hatte von ihm damals einen sehr positiven persönlichen Eindruck. Er gefalle ihr sehr gut, berichtete sie. »Er sagte das Wort Redlichkeit und ich glaube, das Wort trifft auch auf ihn selber zu, von gedankenvoller Redlichkeit, einer, der sichs schwer macht.«622 Dieser Eindruck sollte sich schlagartig ändern, als sie vom Verlag die Umbruchkorrekturen ihres Beitrags bekam. Sie schrieb einen geharnischten Brief an den Reclam Verlag, in dem sie ihren Beitrag zurückzog: Sehr geehrte Herren, ich erhielt gestern Druckbogen – nicht Fahnen – einer Arbeit, die sehr wenig mit meinem Beitrag zu tun hat. Die Arbeit wurde wohl auf die Hälfte verkürzt. Es wurde umgestellt, hinzugefügt und weggelassen. Entgegen meinen Absichten wurden einige Schriftsteller hervorgehoben, andre hintenangestellt. Ich verwahre mich entschieden dagegen, dass diese Arbeit gedruckt wird. […] Wenn man einer Schriftstellerin wie mir einen Auftrag gibt, so hätte man mir mitteilen müssen, dass man keine Darstellung von mir allein haben will, dass ein Bearbeiter andre Arbeiten einzufügen gedenkt. Wenn man ihre Arbeit, und noch dazu etwa um die Hälfte verkürzen will, so muss man ihr das auch mitteilen. Sie haben mich leider vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich bedaure das besonders, da eine Darstellung des Lebens der Vertriebenen sehr wünschenswert gewesen wäre. Aber ich muss leider meinen Beitrag »Die Exilsituation in England« zurückziehen.623

In einem kurz darauf verfassten Brief an den in Basel ansässigen Theaterkritiker Ulrich Seelmann-Eggebert beklagte sie sich bitter :

620 621 622 623

Brief an Manfred Durzak vom 16. Juli 1971 (DLA). Brief von Manfred Durzak an Gabriele Tergit vom 24. Juli 1971 (DLA). Brief an Barbara Glauert vom 17. Oktober 1972 (DLA). Brief an den Reclam Verlag vom 28. Dezember 1972 (DLA).

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Professor Durzak schrieb mir am 3. Juli 1971 »Ihr sehr informatives Manuskript befindet sich beim Reclam Verlag…« Er bat mich um genaue Belege verschiedener Zitate, aufschlussreiche, wenig bekannte Zitate. Ich gab die Belege. Vorgestern bekam ich den Umbruch – nicht die Fahnen. Sie werden alles aus dem beigelegten Brief an Reclam ersehen. Nur eins, das von Reclam bearbeitete Manuskript ist belangloser Quatsch, von Information kann keine Rede mehr sein, und ich habe verboten meinen Beitrag zu drucken. Sämtliche Zitate, die Durzak belegt haben wollte, sind weggelassen, ein Beweis, dass nicht Durzak, sondern irgend ein Angestellter diesen Betrug begangen hat. Den Artikel von Jemand anders aus der Broschüre ›Britain’s new citizens‹ der von Fehlern strotzt, in meinen Beitrag einzuarbeiten, ist wohl eine Frechheit. Was kann ich tun. Das darf unter keinen Umständen mit meinem Namen gedruckt werden – und wie komme ich dazu das Gerippe und die Tatsachen für einen Beitrag ohne meinen Namen zu geben? Ich versichre Sie mit solchen Redakteuren hätte es nie einen Heine, nie eine Weltbühne gegeben. (DLA)624

Auf ähnliche Weise empörte sich Tergit in einem Brief vom 30. Januar 1973 an Cecilie Dressler, in dem sie folgendes Beispiel für Durzaks inhaltliche Verzerrung gab: Ich hatte geschrieben: »Vorher hatte Arnold Hahn [die] Broschüre »Vor den Augen der Welt« über Stefan Lux veröffentlicht, der im Saal des Völkerbunds Selbstmord beging, um die Welt vor Hitler zu warnen. Daraus hatte dieser Professor bearbeitet: »Nachdem Stefan Lux seine Broschüre vor den Augen der Welt« veröffentlichte. (DLA)

Sie kritisierte z. B. auch, dass der Name Hilde Spiel mehrfach eingefügt worden war.625 Am 29. Dezember 1972 legte sie einem Brief an Eugen Skasa-Weiß einen »offenen Brief« an den Reclam Verlag bei und bat ihn, diesen an den SDS, den Vorläufer des von Dieter Lattmann gegründeten »Verbands deutscher Schriftsteller« (VS) und nicht identisch mit dem »Sozialistischen Deutschen Studentenbund«, weiterzuleiten. (DLA) Als Skasa-Weiß nicht umgehend darauf antwortete, kam auch sie zu der Überzeugung, dass die Angelegenheit nichts für den SDS sei. In einem Brief vom 29. Januar 1973 an Lotte Hoffmann-Luschnat schrieb sie: Aber das Schlimmste ist ein gigantischer Aerger mit Deutschland. Ich bekam den Auftrag von Reclam den Beitrag über England in einem Sammelwerk über die Emi624 Brief an Ulrich Seelmann-Eggebert vom 4. Januar 1972 (DLA). Ähnlich schrieb sie am 8. Juni 1972 an Lotte Hoffmann-Luschnat: »Würde es [ihr Beitrag] so publiziert, so hat dieser Gewissenlose mich um mein ganzes Renomme, den guten Namen meines Lebens gebracht« (DLA). 625 Brief an Eugen Skasa-Weiß vom 29. Dezember 1972 (DLA).

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gration zu übernehmen. Törichterweise um festzustellen, was sie wollen, schickte ich ein Heft »Britains New Citizens« in dem ich und viele andere über England geschrieben hatte [sic] an den Herausgeber. Großartig schrieb der zurück, genau so. Ich schrieb die verlangten 20 Seiten. Wahrscheinlich meine letzte wirklich wertvolle Arbeit. »Sehr informativ«, schrieb der Herausgeber zurück. Kurz nach Weihnachten erhielt ich die gedruckten Seiten. NICHT EIN Satz von mir, alles umgeschrieben, weder meine Beschreibung wie und wovon die Menschen vor und im Kriege lebten, weder die geistigen Erkenntnisse, die Wichtigkeit des hiesigen Bibliothekswesens, alles weggelassen, nur ein etwas erweiterter Kürschner mit Unmengen von falschen Angaben gelassen. Unglaublich. Ich verbot den Abdruck. Darauf Heulen und Zähneklappen. Es ist eine trockene Aufzählung geworden. Sie fanden, man hätte die Beiträge aneinander angleichen müssen. Dass Schriftsteller eine eigene Handschrift haben und dass die wichtig ist, haben die Herren noch nicht gehört. (DLA)

Am 15. Januar 1972 kommentierte sie in einem Brief an Seelmann-Eggebert noch einmal: »Ich will Sie nicht mit meiner Reclamsache belasten, aber es ist ein tolles Stück. Ich telefonierte mit Dr. Bode, der sehr nett war. Trotz Nachfrage hat mir Durzak nie ein Wort der Beanstandung geschrieben, wie Sie aus den Auszügen sehen. […] Ich rief ihn von Berlin Weihnachten 71 an, kein Wort, ich war mit ihm in Kopenhagen zusammen, kein Wort.« (DLA) Sie fügte »Durzaks albernen Brief« und eine kleine Liste von dessen Verschlimmbesserungen bei. Ihr Kommentar : »[…] wenn Schlosser und Installateure so gewissenlos und leichtfertig arbeiten würden, wärs aus mit dem industrialisierten Westen.« (DLA) Am 21. Dezember 1972 erhielt sie von Dietrich Bode vom Reclam Verlag die Korrekturfahnen ihres Beitrags sowie das zum Vergleich beiliegende Manuskript. Auf die redaktionellen Veränderungen ging er nur mit sehr vorsichtigen Formulierungen ein. Herr Durzak habe ja ihr Manuskript noch hier und da etwas überarbeitet, auch redaktionell habe es gewisse Retuschen bei den Daten gegeben… (DLA) Am 14. Februar 1973 teilte sie Eugen Skasa-Weiß mit, sie habe sich mit Dr. Bode verständigt. Auf den Brief von Manfred Durzak habe sie nicht geantwortet. (DLA) Sie hatte in der Tat am 8. Juli 1972 einen Brief an Bode geschrieben, in dem sie ihm mitteilte, sie sei ursprünglich der Meinung gewesen, dass ihr Beitrag durch die Bearbeitung durch Manfred Durzak so falsch und schief sei, dass er am besten wegbleibe. Bode hätte dann nur die Seitenzahlen ändern und ein Errata einlegen müssen. Inzwischen habe sie sich überlegt, dass man den Beitrag vielleicht retten könnte, und sie habe begonnen, die Fahnen zu korrigieren. (DLA) Sie legte dem Brief zwei Seiten mit Änderungen bei. Ein erklärender, entschuldigender Brief von Manfred Durzak trägt allerdings das späte Datum vom 3. Januar 1973. Die Redaktion ihres Beitrags, den er großenteils selbst zu verantworten habe, sei lediglich von äußerlichen Gründen

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bestimmt worden und habe nichts mit der Qualität ihres Beitrags zu tun. Fast alle anderen Beiträge des Bandes, die die Exilsituation in verschiedenen Ländern abhandeln, seien »historische Faktenreferate im guten Sinne.« Ihr Beitrag stieß mit seiner sehr persönlichen, das schriftstellerische Temperament des Autors verratenden Sicht leider so sehr davon ab, dass wir uns um der Einheitlichkeit des Bandes willen genötigt sahen, Ihre sehr eindrucksvolle essayistische Darstellung mit etwas positivistischer Erdenschwere zu versehen. Wenn man Ihren Beitrag isoliert betrachtet, lässt sich das allerdings als Verschlimmbesserung ansehen. Beurteilt man jedoch Ihren Beitrag jetzt im Rahmen des Kontextes, d. h. des Bandes, so passt er nun viel besser hinein. (DLA)

In ihrem kurz darauf, am 17. Januar 1973 verfassten Brief an Dietrich Bode, dem sie in der Anlage ihr durchgesehenes Manuskript beifügte, meinte Tergit, ihrer beider Mühe wäre nicht nötig gewesen, wenn sie von Anfang an von Durzak klare Richtlinien bekommen hätte. Als sie ihm 1971 ihren Aufsatz über das Exil in England geschickt hätte und fragte, ob es so recht sei, sei die Antwort gewesen: »sehr recht«. Sämtliche Bemerkungen von Durzak seien falsch bzw. schief, z. B. dass es den Emigranten nach Kriegsausbruch besser ging, sei nicht »paradox«, »sondern wir wissen seit zwei Kriegen, dass Krieg Arbeitslosigkeit beendet hat. Es ist auch nicht überraschend, dass die Emigranten nicht zurückkehrten. Wer kehrt in ein Haus zurück, aus dem er rausgeworfen wurde?« (DLA) Richard Friedenthal hatte sie schließlich davon überzeugt, dass der Artikel auch in der überarbeiteten Fassung »soo schlecht« nicht sei. Sie merzte also »mit Hilfe von Reclam« nur die »entsetzlichen Fehler des ganz gewissenlosen Herrn Durzak« aus, so dass der Beitrag letztendlich doch erscheinen konnte.626 –

Ignorierter Antisemitismus: Elisabeth Frenzel Im Jahre 1978 wurde Gabriele Tergit in einem Fall aktiv, in dem es um die Verwicklung von Germanisten in antisemitische Aktionen des Dritten Reiches ging, und zwar in diesem besonderen Fall um Elisabeth Frenzel (geb. 1915), Diese hatte 1938 in Berlin mit einer Dissertation über Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne promoviert, eine Arbeit, die einen auf den Rassetheorien von Hans F.K. Günther beruhenden Antisemitismus und große Begeisterung für den Nationalsozialismus verrät. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie als wissenschaftliche Angestellte des Amtes für Kunstpflege in der »Reichsleitung Rosenberg«. 1943 erschien in der »Schriftenreihe zur weltanschaulichen Schulungsarbeit der NSDAP« ihre Broschüre Der Jude im 626 Brief an Nino Ern¦ vom 8. November1973 (DLA).

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Theater, eine der schlimmsten antisemitischen Arbeiten der Germanistik des Dritten Reiches. Anschließend plante sie ein Lexikon jüdischer Schriftsteller für Rosenbergs Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt a.M., das, ähnlich wie das dort bereits erschienene Lexikon der Juden in der Musik (1940, hg. Herbert Gerigk und Theophil Stengel), der leichteren Ausgrenzung jüdischer Schriftsteller im Kulturleben Deutschlands dienen sollte. Dieses umfangreiche Projekt konnte aber vor 1945 genauso wenig erscheinen wie ein 1944 angekündigtes einbändiges Handbuch. Nach dem Kriege wurde Elisabeth Frenzel durch Handbücher zur Stoff- und Motivforschung wie Stoffe der Weltliteratur (1962, 10. Aufl. 2005), Stoff-, Motiv- und Symbolforschung (1963, 3. Aufl. 1970). Stoff- und Motivgeschichte (1966, 2. Aufl. 1974) sowie durch das gemeinsam mit ihrem Mann, dem ehemaligen Regierungsrat und Schriftleiter im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Herbert A. Frenzel, herausgegebene Standardwerk für Studenten der Germanistik, Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriss der deutschen Literaturgeschichte (1953; 34. Auflage bei dtv, 2004) bekannt. Die Daten deutscher Dichtung, die für jede Neuauflage aktualisiert wurden, enthielten bis in die neuesten Auflagen hinein empfindliche Lücken über die Werke im Dritten Reich bekannter, aber unerwünschter Autoren wie z. B. Kurt Tucholsky, Klaus Mann, Oskar Maria Graf, während andererseits nationalsozialistischen Autoren der Vorzug gegeben wurde. Der Deutsche Taschenbuch Verlag nahm das Werk deshalb nach einer Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Mai 2009 aus seinem Programm. Mit ihren zahlreichen Publikationen waren die beiden Frenzels jedenfalls trotz ihrer ideologischen und politischen Vorbelastung voll in die bundesdeutsche Germanistik und Theaterwissenschaft der fünfziger Jahre integriert, obwohl ihnen eine akademische Laufbahn verwehrt war. Von 1978 bis 2001 war Elisabeth Frenzel Mitglied der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 1977 erhielt sie sogar das Bundesverdienstkreuz am Bande…. Marta Mierendorf, der Tergit zufolge ein »großartiges christliches Mädchen, der man ihren Herrn Salomon weggenommen hat«,627 eine Frau, die eine Art Ehrenprofessorentitel an der privaten University of Southern California in Los Angeles hatte, machte Gabriele Tergit auf die Aktivitäten von Elisabeth Frenzel aufmerksam, u. a. darauf, dass diese »noch kurz vor dem Einmarsch der Russen in Polen für das Amt Rosenberg herumgefahren [sei], um nach Juden auf oder in den Theatern zu suchen.«628 Viel wusste man nicht, aber in Kürschners Deutschem Literaturkalender von 1943 las die Tergit: »Elisabeth Frenzel, Theater, Literatur, Judenfragen. Dr. phil. Wissenschaftliche Angestellte des Amtes für 627 Brief an Dolf Sternberger vom 27. September 1978 (DLA). 628 Brief an Dolf Sternberger vom 6. September 1978 (DLA).

Die letzten Jahre

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Kunstpflege und Reichsleitung Rosenberg. V[eröffentlichung] Judengestalten auf der deutschen Bühne«. Kommentiert die Tergit: »Der Entnazifizierung hat sie sich entzogen.« Durch einen PEN-Bericht der Tergit war der Politikwissenschaftler und Journalist Dolf Sternberger auf den Fall aufmerksam geworden, und es entspann sich ein Briefverkehr darüber zwischen ihm, Marta Mierendorf und der Tergit.

Die letzten Jahre Gegen Ende ihres Lebens war Gabriele Tergit eine weitgehend vergessene Autorin, die sich nur noch auf ihre Erfolge während der Weimarer Republik, vor allem auf ihre Autorschaft des Käsebier berufen konnte. Aber auch in Bezug auf die Weimarer Republik war sie in den Hintergrund gedrängt durch AutorInnen wie Irmgard Keun, Hans Fallada und Erich Kästner, mit deren Berlin-Romanen sich ihr Käsebier durchaus messen kann. Ihre Kurzgeschichten und Gerichtsreportagen, die Jens Brüning mit viel persönlichem Engagement wieder zugänglich gemacht hat, zeigen ihre Meisterschaft in der kleinen Form. Dass sie bei der wissenschaftliche Erforschung der Exilliteratur übersehen wurde, ist geradezu unerklärlich. Die exilierten Autoren neigten immer wieder dazu, die bundesrepublikanischen exilinteressierten Germanisten als Kommunisten zu verdächtigen, seien es Mathias Wegener, Manfred Durzak oder Hans-Albert Walter. Die Tergit ging dabei einen etwas anderen Weg, indem sie noch 1957, als in Hamburg die erste wissenschaftliche Tagung zur Exilliteratur stattfand, behauptete, an keiner deutschen Universität werde die Emigrantenliteratur zur deutschen Literatur gerechnet.629 Dabei wurde das Londoner Zentrum durchaus in die Reihe der seit 1969 in Stockholm beginnenden Internationalen Symposien einbezogen, doch sie behauptete weiterhin steif und fest, Exilliteratur sei nur ein Thema amerikanischer Universitäten.630 Zu dem Symposium zum Thema Exil in Kopenhagen 1972 war Gabriele Tergit zunächst »sozusagen ausgeladen«,631 schließlich aber als »Beobachterin« zugelassen worden. Es war ihrer Meinung nach »völlig östlich gefärbt. Ausstellung aus Leipzig. Vortrag über Exiltheater von Trepke, Kommunist aus Schwerin, Vortrag in der Aula der Universität von Anna Seghers. Natürlich sind wir nicht erwünscht. Und das in Kopenhagen!«632 629 630 631 632

Brief an Johann Wolfgang Brügel vom 27. November 1967 (DNB). Brief an Heinz Norden vom 5. Januar 1970 (DNB). Brief an David Luschnat vom 4. Juni 1972 (DLA). Brief an David Luschnat vom 8. Juni 1972 (DLA). Vgl. auch ihr Brief vom 8. Juni 1972 an

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Spätsommer im Zeichen des PEN

Hans Albert Walter wurde von der Tergit polemisch gar als »Marxist in der Verpackung eines Menschen«633 angegriffen, weil er eine Statistik der kommunistischen Mitarbeiter des New Yorker Aufbaus aufgestellt hatte. Über den außerordentlichen Kongress des BRD-Zentrums von 1980 wurde nur verspätet und ironisch-distanziert berichtet. »[H.G.] Adlers Mitteilung an Tergit, dass er der Einladung nach Bremen nicht folgen wolle, belegt eine Haltung, die nicht nur die des Präsidenten des Zentrums war : ›Zur Bremer Tagung diesen Herbst hat man mich schon vor vielen Monaten eingeladen, aber ich habe, wenn auch äußerst höflich, gleich abgewinkt.‹«634 Diese Haltung wird in den Berichten immer wieder deutlich, »wenn Exilliteratur einerseits als Tradition, die fortleben muss, aufgefasst wurde, andererseits darauf bestanden wurde, dass dies Fortleben nur außerhalb der beiden deutschen Staaten Wirklichkeit sei.«635 Der bundesdeutsche PEN-Kongress in Bremen 1980 war mit einer Ausstellung zur Geschichte des Pen-Klubs im Exil verbunden, die von der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main veranstaltet wurde. Aus Raumgründen konnte nur ein kleiner Teil der Exponate gezeigt werden; die vollständige Ausstellung war im Winter 1980/81 in Frankfurt am Main zu sehen.636 Schon zum PEN-Kongress 1973 in Israel war die Tergit nicht mehr gefahren: »Nein, ich komme nicht zum PEN Kongress«, schrieb sie an Ulrich SeelmannEggebert, »Ich werde im März 80 Jahre alt. Sie haben ja in Kopenhagen gesehen, dass ich eine sehr alte Dame bin. Und Israel ist sehr anstrengend. Für mich ist das sehr traurig, da ich noch viele Freunde in I. habe.«637 Dass eine Reise nach Israel nicht in Frage komme, schrieb sie auch an Hedi Geng. Sie gehe in England kaum noch aus, sei schon jahrelang nicht mehr im Theater gewesen, es sei alles zu anstrengend für sie.638 Die politische Entwicklung in Deutschland, vor allem das Erstarken der »Neuen Linken« beobachtete Tergit mit Sorgen, sah sie darin doch Parallelen zum Erstarken des Nationalsozialismus in den zwanziger Jahren: What Will Schaber calls radical socialistisch is »Die Neue Linke«, a most dangerous movement. I was invited to the last meetings of the Bundes PEN and have written about it. I would say German intellectuals under 35 years of age are infected by this disease

633 634 635 636 637 638

ManÀs Sperber : »Der einzige Name auf dem Programm der kein Kommunist ist, ist der vorzügliche Müssener […] Man wollte offenbar keine Westleute da haben. In Kopenhagen!!!« (DLA). Berichte 6 (1980), S. 9. Helmut Peitsch, »No Politics?«, S. 338 f. Brief an H.G. Adler vom 11. Juli 1980 (DNB) Ebd., S. 339. Dazu der Katalog: Der deutsche PEN-Club im Exil. 1933 – 1948. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung GmbH. 1980. Brief an Ulrich Seelmann-Eggebert vom 14. August 1973 (DLA). Brief an Hedi Geng vom 13. August 1973 (DLA).

Die letzten Jahre

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exactly as the university students in the twenties were infected by the Nazi disease. Die Neue Linke is an embarrassment to say the least.639

In den letzten Jahren ihres Lebens litt Gabriele Tergit unter den Beschwerden des Alters: Ihre Augen waren schlecht, und das Gehen fiel ihr schwer. Schon 1963 hatte sie geklagt, dass sie wegen Arthritis in der Hüfte beim Gehen große Probleme habe, dass sie »watschle«, was ihr das Reisen mit Heinz verderbe.640 Bis 1973 sei sie noch »recht munter«641 gewesen, danach erschwerte ihr die Arthritis das Reisen immer mehr. Am 19. Mai 1974 schrieb sie an ihre Freunde, die Denners: »Ich wurde am 4. März 80 Jahre alt, und ich bin fast immer zu haus. Ich traue mich nicht allein in Ausstellungen und ins Kino zugehen und ohne Heinz! Ich habe kaum jemanden mit dem es mir Spaß machen würde zu gehen.« (DLA) Ende der siebziger Jahre war ihr das Reisen einfach zu anstrengend; so teilte sie schon am 8. April 1978 Marta Mierendorf mit, reisen könne sie nicht mehr. (DLA) Wenige Monate später wurde sie ernstlich krank, denn am 6. November 1978 berichtete sie an den amerikanischen Germanisten Alexander Stillmark in Nebraska: »[…] because I had an unexplicable attack on 7th July and since I have become in 12 hours 12 years older, I am forbidden to work in the garden and anyhow I was not out since July.« (DLA) Am 5. April 1979 schrieb sie ihm gar, sie sei vom Juli bis Oktober 1978 krank gewesen. (DLA) Zwei Jahre später berichtete sie Ilse Langner, sie habe 1978 »einen Knochen aus der Wirbelsäule verloren.«642 Erklärend füge sie später hinzu, winzige Splitter lösten sich beim Rückgrat bei sehr alten Leuten, was zuerst furchtbare Schmerzen verursache, dann aber gar nicht mehr. Die Splitter oder der Splitter lösten sich im Körper auf; sie sei seitdem aber eine »gebückte Alte«.643 Außerdem klagte sie darüber, dass ihre Augen rapide schlechter würden; sie könne keine Schecks oder Formulare mehr lesen.644 Am 31. März 1981 schrieb sie an Walter Höllerer : »Ich käme so gern noch einmal nach Berlin, aber es ist zu spät.« In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1982 starb Gabriele Tergit an einer Lungenentzündung im Londoner Krankenhaus von Roehampton, das 1,5 km (Luftlinie) von ihrer Wohnung entfernt war. Am folgenden Tage schrieb Arno Reinfrank das Gedicht Abschied von Gabriele Tergit (26. Juli 1982) Bald rudern wieder die Vögel im Keil durch die nördliche Luft. 639 640 641 642 643 644

Brief an Mr. Straus vom, 29. August 1973 (DLA). Brief vom 23. Oktober 1963 an Annemarie Mommsen (DLA). Brief vom 21. August 1974 and Ilse Langner (DLA). Brief an Ilse Langner vom 12. Mai 1980 (DLA). Brief an Ilse Langner o.D. (DLA). Brief an Kurt Maschler vom 18. Oktober 1980 (DLA).

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Spätsommer im Zeichen des PEN

Bald steigt aus den Nebelfeldern der brandige, rauchherbe Duft. Bald stürmt übers Meer zum Gebirge Die Kälte des Sonnenabschieds. Bald näselt ein einsamer Sänger die Noten des Trauerlieds. Hafdolah ist rundum gebetet, der Sabbath, der letzte, vorbei. Im Trostverlorensein tröstet: Wir lebten würdig und frei.645

Gabriele Tergits Nachlass, der aus einer umfangreichen Korrespondenz sowie unveröffentlichten Manuskripten besteht, befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ein kleiner Teil, meist PEN-Korrespondenz, im Exilarchiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main. In Berlin wurde eine lange und breite Promenade, die vom Potsdamer Platz zum Landwehrkanal führt, nach ihr benannt. Zu ihrem 100. Geburtstag wurde am 4. März 1994 im Literaturhaus Berlin eine Ausstellung zu Leben und Werk der Autorin eröffnet; ab 23. Mai 1994 war sie bis zum 27. August in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt a.M. zu sehen, anschließend im Landesarchiv Bremen und danach in der Hansa-Bibliothek in Berlin-Tiergarten. Anlässlich ihres Todes erschien in der Frankfurter Allgemeinen ein »Nachruf« von 38 Zeilen und in der Stuttgarter Zeitung einer von insgesamt 16 Zeilen Länge.646 Gabriel Tergit war eine hochbegabte Journalistin und Schriftstellerin, die am Ende der Weimarer Republik auf dem frühen Zenith ihrer Karriere stand. Ihre journalistischen Arbeiten, allen voran ihre Gerichtsreportagen, geben ein unverblümtes, kritisch gezeichnetes Bild der Weimarer Republik. Sie sind erfüllt vom Bewusstsein der eigenen sozialen Verantwortung und von sozialem Engagement. In den Gerichtsreportagen berichtet sie kritisch über hochkontroverse, unbequeme Fragen wie Abtreibungsgesetze oder die konservative Rechtsprechung in Fällen zunehmender Gewalt politischer Rechtsextremisten. In jedem Fall geht es ihr nicht um das Juristische, sondern um das Menschliche der behandelten Fälle. Das Individuum, der einzelne Mensch in seiner Not ist ihr wichtiger als die Paragraphen. Schon in der Weimarer Republik zeigt sich immer wieder ihre kritische Distanz gegenüber allen sich absolut setzenden Ideologien, seien es konserva645 Arno Reinfrank, »Abschied von Gabriele Tergit«. In: Arno Reinfrank (Hg.), Zehn Takte Weltmusik. Eine Lyrik-Anthologie des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Vorwort von Karl Krolow. Gerlingen 1988, S. 87. 646 fjg., »Käsebiers Berlin«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Juli 1982, S. 17; dpa, »Gabriele Tergit gestorben«. In: Stuttgarter Zeitung vom 28. Juli 1982, S. 21.

Die letzten Jahre

243

tives Festhalten an der guten alten Zeit des Kaiserreiches, am Nationalsozialismus oder am Kommunismus. Diese Frontstellung sollte sie auch nach 1945 beibehalten. Genauso wendet sie sich immer wieder gegen religiöses Absolutheitsdenken, gegen zionistische Begeisterung oder orthodoxes Judentum, obwohl sie sich auch im Alter als religiöse Jüdin sieht.647 Ihre Grundeinstellung war vom Liberalismus ihres Doktorvaters Friedrich Meinecke und später von englischem Demokratieverständnis geprägt. Den politischen Gegebenheiten sowohl der Bundesrepublik als auch der DDR gegenüber blieb sie skeptisch. Ihr in der Spätphase der Weimarer Republik handelnder satirischer Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm zeigt auf, wie Alltagskultur zur Ware degradiert wird, wie Werbung Inhalt ersetzt und künstliche Berühmtheit durch Hype erschafft. Damit hat sie Probleme der Moderne ins Visier gefasst, die heute noch dieselbe, ja sogar gesteigerte Gültigkeit besitzen. Durch ihre journalistische und schriftstellerische Tätigkeit in der Weimarer Zeit hat sie nicht nur auf diese Problematik hingewiesen, sondern gleichzeitig auch eine ausgedehnte Leserschaft zur Diskussion darüber aufgerufen und vor den Konsequenzen gewarnt.648 Ein zweites großes Thema ist das Judentum und seine Stellung in der Gesellschaft. Bereits in ihrem Palästinabuch ist dies zum Hauptthema geworden, besonders in seinen unveröffentlichten Teilen. Ihr Roman über die Effingers verfolgt in realistischer Manier jüdische Assimilation und Schicksal einer Familie in Deutschland bis zu ihrer Ermordung im Dritten Reich. In dem zweiten großen Romanmanuskript, dem unveröffentlichten So war’s eben, erfuhr es eine Fortsetzung. Ihre Verdienste um den PEN-Klub deutscher Autoren im Ausland, dem sie länger als irgendjemand anders als Sekretärin diente, sind kaum zu ermessen. Es ist tragisch, dass sie nach dem Kriege den Anschluss an den Literaturbetrieb in Deutschland nicht mehr fand, dass das deutsche Lespublikum in den fünfziger Jahren für die jüdische Thematik ihrer Effingers nicht aufnahmebereit war und dass sie, um überhaupt bescheidene Erfolge zu haben, auf das neutrale Gebiet kulturgeschichtlicher Studien ausweichen musste. Sie hat das Dritte Reich unter größten persönlichen Schwierigkeiten überlebt; als Schriftstellerin war sie ein Opfer des deutschen Hitlerwahns. Die Jahre ihres Exils waren »verlorene Jahre«. Das heißt nicht, dass sie im Exil aufhörte zu schreiben, doch hatte sie kaum eine Möglichkeit, ihre Arbeiten zu veröffentlichen. »Schreiben aus dem Exil heraus heißt für Tergit ja: gegen das Vakuum des Vergessens anzukämpfen, gegen die Ohnmacht der räumlichen und zeitlichen Distanz und der erzwungenen politischen Passivität anzuarbeiten. Auch ihre 647 Vgl. Interview Hempel, S. 6 (DLA). 648 Vgl. Fiona Sutton, S. 207.

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Spätsommer im Zeichen des PEN

jahrzehntelange Tätigkeit für den Exil-PEN in London steht unter dieser Motivation.«649 In ihrer Herausgeberschaft der Autobiographien der exilierten Schriftsteller kulminiert das Bemühen, die aus Deutschland Verbannten vor dem Vergessen zu bewahren. Besonders hervorzuheben ist die Vielseitigkeit der Autorin, die nicht nur Romanschriftstellerin und Autorin von Kurzgeschichten, sondern auch Feuilletonistin, Gerichtsreporterin, und Sachbuchautorin war. Als Gerichtsreporterin und Autorin des Romans Käsebier erobert den Kurfürstendamm war sie vor allem in der Weimarer Republik bekannt, als Autorin von Kulturstudien wie Das Büchlein vom Bett und Das Blumenbuch in den fünfziger Jahren. Der große Durchbruch nach dem Kriege ist ihr mit ihrem opus magnum Effingers leider nicht geglückt. Im Wohlstandsstaat der endfünfziger und sechziger Jahre fiel ihr Hauptwerk dem Vergessenwollen zum Opfer. Auch die zahlreichen Neuauflagen des Käsebier, selbst der Effingers und verschiedener Anthologien ihrer journalistischen Arbeiten ab Ende der siebziger Jahre haben nicht zur großen Wiederentdeckung und spätem Ruhm geführt. Es ist deshalb ein Paradox, dass so viele ihrer Arbeiten auch heute noch im Buchhandel verfügbar sind, dass ihr Name aber selbst unter Spezialisten für Exilliteratur nicht geläufig ist. Sie ist deshalb ein bitteres Beispiel für den durch ihr Exil verursachten Karrierebruch einerseits und die Ablehnung der jüdischen Thematik ihrer Romane durch das deutsche Lesepublikum nach dem Kriege andererseits. Ihr Werk und Wirken war damit nicht nur ein Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch einer Öffentlichkeit, die das Vergessenwollen auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Sie war bis zum Ende ihres Lebens ungemein fleißig, hatte keine Furcht vor Konfrontationen und Kontroversen mit Kollegen, wobei ihre Scharfzüngigkeit sie zur streitbaren Gegnerin machen konnte, deren letztes Kriterium jedoch immer die historische Wahrheit war. Als exilierte Jüdin, deren Werk im Stil und Liberalismus der Weimarer Republik verwurzelt war, hat sie den Anschluss an das deutsche Literaturleben nach 1945 nicht mehr gefunden. Sie saß zwischen mehreren Stühlen, behielt dabei aber stets ihre Integrität und Unabhängigkeit des Urteils.

649 Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht, S. 148.

Zeittafel

4. März 1894

Gabriele Tergit wird in Berlin als Elise Hirschmann geboren. Nach Schulbesuch freiwillige Arbeit in Kinderhorten und bei der Lehrstellenvermittlung. Besuch des »Pestalozzi-FröbelHauses«. 22. November 1915 Ein erster Zeitungsartikel, »Frauendienstjahr und Berufsbildung«, erscheint im Berliner Tageblatt. 1918 Elise Hirschmann holt als »Externe« das Abitur nach. ab 1919 Studium der Geschichte, Philosophie und Soziologie in München, Heidelberg, Frankfurt a.M. und Berlin. ab 1920 Feuilletons für die Vossische Zeitung und den Berliner BörsenCourier. 1925 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Frankfurt a.M. mit einer Arbeit über den deutsch-schweizerischen Professor Karl Vogt, aus Gießen, 1848 – 49 Mitglied der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Januar 1925 – März 1933 Redaktionsmitglied des Berliner Tageblatts. 1928 Eheschließung mit dem Architekten Dipl. Ing. Heinrich (Heinz) Julius Reifenberg. Geburt des Sohnes Peter. ab 1928 Artikel für die Weltbühne, zunächst unter dem Pseudonym Christian Thomasius, später unter dem Namen Gabriele Tergit. 1931 Der Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm erscheint im Ernst Rowohlt Verlag, Berlin. 4. März 1933 Überfall des SA-Sturms 33 auf die Wohnung des Ehepaars Reifenberg in Berlin-Tiergarten. Flucht in die Tschechoslowakei. Mitarbeit beim Prager Tageblatt, der Deutschen Zeitung Bohemia u. a. 1935 Die Familie Reifenberg lebt in Tel-Aviv. Heinz hat Bauaufträge in Palästina, Gabriele Tergit schreibt für deutschsprachige Zeitungen und arbeitet an ihrem Roman Effingers. 1938 Übersiedlung nach London. Sporadische Mitarbeit an verschiedenen Exilzeitungen und Zeitschriften, wie z. B. Die Zeitung in London und Das Neue Tagebuch in Paris. Fortsetzung der Arbeit an dem Roman Effingers.

246 ab 1946

1948 1951 1954 Ab 1957 1958

1964 1965 16. November 1968 1968 Seit 1977

1981 25. Juli 1982 1983

ab 1984

Zeittafel

Mitarbeit bei Alfred Döblins Zeitschrift Das goldene Tor, beim Berliner Tagesspiegel (»Brief aus London«), danach auch Artikel für Die Neue Zeitung, München. Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit. Im Mai erste Berlinreise. Der Roman Effingers erscheint bei Hammerich & Lesser in Hamburg. Das Sachbuch Das Büchlein vom Bett erscheint bei F.A. Herbig, Berlin-Grunewald. Sekretär(in) des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (Sitz London), vormals Deutscher Exil-PEN. Das Sachbuch Kaiserkron und Päonien rot. Kleine Kulturgeschichte der Blumen erscheint bei Kiepenheuer & Witsch in Köln. Der Sohn Peter verunglückt tödlich auf einer Bergtour in den Dolomiten. Das Sachbuch Das Tulpenbüchlein erscheint im Landbuch Verlag, Hannover. Heinrich Reifenberg stirbt in London an Lungenkrebs. Gabriele Tergit wird das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. Neuauflagen von Käsebier erobert den Kurfürstendamm (Frankfurt a.M.: Wolfgang Krüger 1977; Berlin Arani 1988) und Effingers (Frankfurt a.M.: W. Krüger 1978; Frankfurt am Main: Fischer), sowie Das Büchlein vom Bett, Kaiserkron und Päonien rot bei Ullstein, Berlin. Rücktritt vom Amt der PEN-Sekretärin. Gabriele Tergit stirbt in einem Londoner Krankenhaus. Gabriele Tergits »Erinnerungen« Etwas Seltenes überhaupt erscheinen im Ullstein Verlag, Frankfurt a.M., Berlin, Wien (Ullstein-Buch 20324). Eine Reihe von Anthologien Tergitscher Kurzprosa und Neudrucke ihrer Romane erscheinen, herausgegeben von dem Berliner Journalisten Jens Brüning.

Bibliographie

Veröffentlichte Werke Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman. Berlin: Ernst Rowohlt 1931. Neuauflagen Frankfurt a.M.: Krüger ; Berlin: Arani 1988. Nachauflage Berlin: Arani 1997. Neuausg. hrsg. und mit einem Nachw. von Jens Brüning. Berlin: Das neue Berlin 2004. Effingers. Roman. Hamburg: Hammerich & Lesser 1951. Neuausg.: Gütersloh: Bertelsmann 1963 [= gekürzte Volksausgabe]; Frankfurt a.M.: Krüger 1978. 2. Aufl. 1979 [= Faksimile Nachdr. der Erstausgabe]. Frankfurt a.M.: Fischer 1978 (Fischer TB 8044). Von der Autorin bearb. [gekürzte] Ausg.: München: Lichtenberg 1964. Das Büchlein vom Bett. Berlin-Grunewald: F.A. Herbig 1954. Kaiserkron und Päonien rot. Kleine Kulturgeschichte der Blumen. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1958. Neudruck [gekürzte Fassung]: München, Zürich: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 1963, auch als Taschenbuch, und Frankfurt a.M., Wien, Berlin: Ullstein 1981. Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein 1983. Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923 – 1933. Hrsg. von Jens Brüning. Berlin: Rotation 1984. Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Jens Brüning (suhrkamp taschenbuch 2280). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Im Schnellzug nach Haifa, mit Fotos aus dem Archiv Abraham Pisarek. Hrsg. von Jens Brüning und mit einem Nachw. vers. von Joachim Schlör. Berlin: TRANSIT 1996. Neuausg: (Fischer Taschenbuch 13992). Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1998. Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Hrsg. und mit einem Vorwort vers. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin 1999. Der erste Zug nach Berlin. Novelle. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin 2000. Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970. Hrsg. und mit einem Nachw. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin [2001].

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Bibliographie

Sekundärliteratur (Auswahl) Chambers, Helen, »Eine ganze Welt baut sich im Gerichtssaal auf – Law and Order in the Berlin Reportage of Joseph Roth and Gabriele Tergit«. In: John Warren (Hg.), Vienna Meets Berlin. Cultural Interaction 1918 – 1933. Oxford 2005 (Britische und irische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 41). S. 79 – 94. Deese, Teut Augustin, »›Eine Satire auf den Betrieb‹ – Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm«. In: T.A.D., Neue Sachlichkeit zwischen Satire und Sentimentalität. Diss. Univ. of California, Los Angeles 2006, S. 151 – 180. Feith, Alexandra Maria, »Man muss doch der Historie zusehen: ›Geschichte‹ im Werk von Gabriele Tergit. Magisterarbeit Darmstadt 2005. Horst, Ann-Katrin Silke, Ein vernachlässigter Aspekt der Berliner Pressegeschichte: Die Journalistinnen der Zeitschrift Die Weltbühne in der Weimarer Republik. Magisterarbeit München 1998. Josting, Petra; Fähnders, Walter; Karrenbrock, Helga, »Mediensatire wider die Entpolitisierung der Zeitung. Journalismuskritik in Romanen von Gabriele Tergit und Erich Kästner.« In: Laboratorium Vielseitigkeit. Zur Literatur der Weimarer Republik. Festschrift für Helga Karrenbook zum 60. Geburtstag. Bielefeld 2005, S. 267 – 286. Lange, Nadine, Das Werk der Berliner Journalistin Gabriele Tergit während der Weimarer Republik im Kontext der Entgrenzung von Journalismus und Literatur. Magisterarbeit München 1997. Larsen, Egon, Die Welt der Gabriele Tergit. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. München 1987. Littlejohn, Fiola, »Mobility in the Metropolis. Responses to the Changing City in Gabriele Tergit’s Käsebier erobert den Kurfürstendamm and J.B. Priestley’s Angel Pavement. In: New Readings 5 (1999), S. 39 – 50. Lumachi, Monica, »Prima viene la morale, poi la porcellana dipinta«: Gabriele Tergit l’esperienza di vita e l’attiv— di una scrittice ebraico-tedesca dalla rep¾bblica di Weimar all’emigrazione. Firenze: Univ. Tesa di laurea, 1992/93. Mirwald, Marie-Christine, »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« – ein Roman im Kontext der Neuen Sachlichkeit? Magisterarbeit Bremen 1997. Mockel, Eva-Maria, Aspekte von Macht und Ohnmacht im literarischen Werk von Gabriele Tergit. Diss. Aachen 1996. Irmgard Roebling, »›Haarschnitt ist noch nicht Freiheit‹. Das Ringen um Bilder der Neuen Frau in Texten von Autorinnen und Autoren der Weimarer Republik«. In: Sabina Becker (Hg.), Frauen in der Literatur der Weimarer Republik. Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik, Bd. 5 (1999/2000). St. Ingbert 2000, S. 12 – 76. Schlenk, Heidemarie, Die »Neue Frau« in den Romanen »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« und »Effingers« von Gabriele Tergit. Lebensentwürfe von Frauen zwischen Tradition und Moderne. Magisterarbeit Freiburg i.Br. 1994. Schönfeld, Christiane; Finnan, Carmel, Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic. Würzburg 2006. Schüller, Liane, Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik. Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Gabriele Tergit. Bielefeld 2005. Schütz, Ehrhard, Romane der Weimarer Republik. München 1986.

Sekundärliteratur (Auswahl)

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Ders., »Von Fräulein Larisssa zu Fräulein Dr. Kohler? Zum Status von Reporterinnen in der Weimarer Republik – das Beispiel Gabriele Tergit«. In: Walter Fähnders und Helga Karrenbrock (Hrsg.), Autorinnen der Weimarer Republik. Bielefeld 2003, S. 215 – 237. Soltau, Heide, »Die Anstrengungen des Aufbruchs. Romanautorinnen und ihre Heldinnen in der Weimarer Zeit«. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2. München 1988, S. 220 – 235. Stephan, Inge, »Stadt ohne Mythos. Gabriele Tergits Berlin-Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm«. In: Sabina Becker und Christoph Weiß (Hg.), Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart 1995, S. 291 – 313. Sucker, Juliane, »Fette Beute gibt’s nicht mehr!« Gabriele Tergits Werk bis 1933: Zeitdiagnostik in Literatur und Journalismus. Magisterarbeit Berlin: Humboldt-Univ. 2006. Sutton, Fiona, Models of Modernity : Readings of Selected Novels of the Late Weimar Republic. Diss. Nottingham 2001. Dies., »Weimar’s Forgotten Cassandra: the Writings of Gabriele Tergit in the Weimar Republic«. In: Karl Leydecker (Hg.), German Novelists of the Weimar Republic. Intersections of Literature and Politics. Rochester, N.Y. 2006, S. 193 – 209. Ujma, Christina, »Gabriele Tergit and Berlin: Women, City and Modernity«. In: Christiane Schönfeld (Hg. in Zusammenarbeit mit Carmel Finnan), Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic. Würzburg 2006, S. 262 – 277. von der Lühe, Irmela, »Schreiben im Exil als Chance: Gabriele Tergits Roman Effingers. In: Charmian Brinson u. a. (Hrsg.), Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933 – 1945. München 1998, S. 48 – 61. Wrobel, Dieter, »Vergessene Texte der Moderne wiedergelesen: Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm«. In: Literatur im Unterricht. Texte der Moderne und Postmoderne in der Schule 6 (2005), Heft 2, S. 165 – 174. Ders., Mediensatire wider die Entpolitisierung der Zeitung. Journalismuskritik in Romanen von Gabriele Tergit und Erich Kästner«. In: Petra Josting und Walter Fähnders (Hgg.), »Laboratorium Vielseitigkeit«. Zur Literatur der Weimarer Republik. Festschrift für Helga Karrenbrock zum 60. Geburtstag. Bielefeld 2005, S. 267 – 286. Bei der Wiedergabe der Texte wurden offensichtliche Fehler der Orthographie stillschweigend verbessert, während die originale Interpunktion beibehalten wurde. Bei maschinenschriftlichen und gedruckten Vorlagen wurde ß für ss gesetzt und umgekehrt, wie es den heute gültigen Rechtschreiberegeln entspricht; ae, oe und ue wurden in ä, ö und ü umgewandelt. Ergänzungen wurden in eckigen Klammern eingefügt, Auslassungen sind durch […] kenntlich gemacht. DLA steht für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach a.N., DNB für die Exilbibliothek innerhalb der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a.M.

Personenregister (Gabriele Tergit, Elise Hirschmann [Christian Thomasius, Emmy Grant, Irene Bersil] sowie Verlagsnamen, Fußnoten und Bibliographie wurden nicht berücksichtigt.)

Adler, Hans Günther 153, 188, 193, 195, 197, 201, 203 – 205, 209, 212, 230 – 232, 240 Alechem, Scholem 140 Alexander d. Gr. 168 f. Alexander, Henry (Heinz G.) 197, 205 Anderson, Hans Christian 37 Anna, Zarin 169 Annot 35 Arendt, Hannah 112 Asch, Schalom 84, 140 Aubertin, Victor 23 Bab, Julius 148 Bäumer, Gertrud 15, 17 Banck 124 Beauharnais, Jos¦phine de 175 Becher, Johannes R. 106, 114 – 116, 119, 145, 230 Becher, Lilli 201 Beer, Fritz 197 Beheim, Martin 110 Behr 117 Bender 194 Ben-Gavri¦l, MoschehYa’akov 70, 143 Benn, Gottfried 59 Berendsohn, Walter A. 115 Bergengruen, Werner 115, 146 Berghahn, Marion 89 Berman(n), Richard R. 97 Bernhard, Georg 106 Bernhard, Prinz 58 Bessicovitch, Abram Samoilowitsch 184

Bismarck, Otto von 17, 100, 131, 134 Blanvalet, Lothar 129 Bloch, Ernst 201 Blüher, Karl 100 Blum, L¦on 83 Bock, Hieronymus 172 Bode, Dietrich 152, 236 f. Böll, Heinrich 118 f., 143, 153, 231 Born(e)mann, Ern(e)st 95 Brahm, Otto 22 Braun, Felix 164 Brecht, Bert(olt) 84, 106, 145 Bredel, Willi 14 Brehm, Eugen 102 Brentano, Bernhard von 106 Brod, Max 112 Bruckner, Ferdinand 84, 106, 111 Brügel, Johann Wolfgang 201, 205, 232 Brüning, Heinrich 55, 61 Brüning, Jens 9, 15, 27, 45, 65, 74, 156, 179, 220, 226, 239, 246 Buch, Fritz Otto 105 Burckhardt, Carl Jacob 36 Burney, Fanny 104 Burschell, Friedrich 110, 114 Canetti, Elias 93 Carbe, Martin 59 Carow, Erich 39 Ceram, C. W. => Marek, Kurt Wilhelm Chagall, Marc 227 Corinth, Lovis 33 Cripps, Stafford 219

252 Csokor, Franz Theodor 179 Deese, Teut Augustin 48 Denner, Franz 64, 125, 158 f., 217 – 219, 241 Denner, Ilse 125, 158 f., 241 Desch, Kurt 129 Dickes, E.W. 123 Dietrich, Marlene 154 Dix, Otto 54 Doberer, Kurt Karl 114 Döblin, Alfred 45, 55, 98, 121 f., 129, 153, 246 Dos Passos, John 112 Dressler, Cecilie 212, 235 Dröscher, Lily 15 Dunlop, Erna 142 Durieux, Tilla 35 Durzak, Manfred 7, 229, 233 – 237, 239 Edschmid, Kasimir 119, 163 f., 212 Eggebert-Seelmann, Ulrich 81 Eggebrecht, Axel 140, 142 Ehlmann, Hans 102 Eichendorff, Joseph von 173 Eicke, Theodor 36 Einstein, Alfred 23 Einstein, Albert 112 Elisabeth II., engl. Königin 164 Elster, Hanns Martin 105 Elstop 232 Engel, Erich 20, 55 Engel, Fritz 17, 23, 59 Eppelsheimer, Hanns Wilhelm 199 Erb, Hans 213 Fabian 232 Faktor, Emil 22 Fallada, Hans 38, 44, 57, 142, 239 Fechner, Eberhard 56 Federer, H. 185 Fehling, Jürgen 148 Fein, Maria 63, 65 Feiner, Ruth 93 f. Fenner-Barash, Ruth 135 Feuchtwanger, Lion 84 f., 94, 106, 108

Personenregister

Fields, Gracie 160 Fischer, Heinrich 163 Fleming, William H. 184 Flesch-Brunningen, Hans 93, 117 f., 163 f. Fodor 127 Fontane, Theodor 135 Francesco, Hilde Körber 148 Frank, Bruno 84, 106 Frank, Leonhard 106 Freiligrath, Ferdinand 115 Frenzel, Elisabeth 229, 237 f. Frenzel, Herbert A. 238 Friedenthal, Richard 93, 110, 112, 114 – 117, 119, 143, 153, 182, 211, 216, 228, 237 Friedmann, Hermann 116, 119 Friedrich II., d. Gr., Kg. von Preußen 40 Frisch, Max 143 Fröbel, Friedrich 15 Fry, Varian 228 Fuchs, Leonhart 176 Galinski, Heinz 161 Galitzin, Fürst 170 Galsworthy, John 133, 135 Gandhi, Mahatma 178 Gebhardt, Hertha von 35, 125, 164, 215 Geis, Manfred 146 Geng, Hedi 81, 135, 152, 240 George, Lloyd 34 Georg(e), Manfred 112, 113 f., 199, 201 Gerigk, Herbert 238 Gerlach, Hellmuth von 36, 106 Gerold, Karl 197 Geyer, Curt 197 Gibson, Mrs. 95 Giefer, Mr. 127 Ginsberg, Ernst 32, 188 f. Giono, Jean 136 Giorgi, E. de 185 Globke, Hans 145 Gluckmann-Gidoni, Elsa 81 Goebbels 26, 60, 61, 100 f., 148, 215, 224 Göring, Hermann 36, 63 Goethe, Johann Wolfgang von 32, 143, 145, 182

253

Personenregister

Götz, Barbara 126 Gold, Hugo 194 Goldstein, Moritz 61, 153 Gore, Arnold 180 Goring, Marius 95 Gottfurcht, Fritz 96 Graf, Oskar Maria 109, 112, 238 Graham, James 170 Grenfell-Baines, George 160 Gruenfeld, Fritz 63 Grossmann, Kurt 36 Grützbach, Frank 56 Grynszpan, Herschel 150 Günther, Hans F.K. 237 Gumbel, Emil Julius 106 Gundolf, Friedrich 17 Haas, Willy 123, 150, 179 Habe, Hans 28, 141 f., 173 Haffner, Sebastian 139, 142 Hagelstange, Rudolf 164 Hahn, Arnold 235 Hahn, Major 63 Halpern, Ika 28 f., 29 Hans, Jan 219 Harlan, Veit 148 f., 215 Harrison, Mr. 96 Hasenclever, Walter 84, 199 Hauptmann, Gerhart 19, 22, 182 Hausmann, Manfred 146 Hebel, Frieda 190 Hegemann, Werner 30, 63, 65, 106 Heimeran, Magrith 177 f. Heine, Heinrich 201, 214, 235 Heine, Wolfgang 62 Heinrich VIII., engl. Kg. 169 Heise, Hans 161 Hellendall, Fritz 74, 205 Hempel, Henry Jacob 52, 64, 83, 89 Henneke 164 Hermann, Georg 18 Hermlin, Stephan 230, 232 Herrmann-Neiße, Max 93, 106, 109 Herzen, Alexander Iwanowitsch 35 Herzfelde, Wieland 197 Herzog, Wilhelm 84, 117

Hesse, Hermann 182 Hessel, Franz 38 Heuser, Margret 35 Heuss, Theodor 65 Heyl, Hedwig 15, 17 Hildenbrand, Fred 23, 42 Hiller, Kurt 6, 100 – 104, 120 Hirsch, Hugo => Hirst, Hugo Hirsch, Samson (Samuel) Raphael 12, 135 Hirschberg, Grete 73 Hirschmann, Bernhard 135 Hirschmann, Frieda 11, 68, 86, 183 Hirschmann, Siegfried 11, 68, 84, 86, 135 f., 185, 190 Hirschmann, Seligmann 135 Hirst, »Dini« 34 Hirst, Hugo 3 Hitler, Adolf 25 f., 30, 55, 61, 70, 73, 75, 77, 82 – 84, 86 – 88, 90, 95, 99 – 102, 107 f., 108, 117, 122, 124, 130, 149, 158, 177, 189, 215 f., 219, 222, 229, 243 Hobbing, Enno 127, 129, 146, 150, 179 Hoeflich, Eugen => Ben-Gavri¦l, Moscheh Ya’akov 70 Höllerer, Walter 57, 81, 213, 241 Höllriegel, Arnold 23 Hösli 188 Hoffmann, Kurt 143 Hoffmann-Luschnat, Lotte => Luschnat, Lotte Holitscher, Arthur 106 Hollander, Walther von 128, 138, 142, 147 Horch, Franz J. 139 Huber, Alfred 81, 214 Hubertus, Prinz zu Löwenstein 30, 97, 106 Huxley, Aldous 84 Isolani, Gertrud 117, 164 Jackson, Felix => Joachimson, Felix Jacob, Berthold 30 Jacob, Heinrich Eberhard 112, 223 Jacobi, Lotte 35 Jacobi, Luci von 63 Jacobs, Monty 21, 93, 110 Jacobsohn, Edith 212

254 Jacobsohn, Siegfried 28, 212 Jacoby, Hugo 154 Jäger (Jaeger), Hans 73, 99, 102 f., 118, 215 Jahnke 164 Jens, Walter 216, 231 f. Jessner, Leopold 20, 81, 148 Joachimson, Felix 20 Johnson, Uwe 142, 220 Johst. Hanns 55 Jünger, Ernst 207 Jünger, Friedrich Georg 146 Kästner, Erich 9, 20, 28, 38, 44, 57, 115 f., 119, 122, 142, 153, 163 f., 188, 208, 211 – 213, 225, 239 Kahnert, Walter 125, 167 Kalenko, Mascha 153 Kalenter, Ossip 118, 163, 193, 197, 201 f., 214, 230 Kamnitzer, Heinz 177, 230 Kanowitz, Siegfried 80 Kantorowicz, Alfred 83, 198, 207 f. Karl August, Herzog von Sachsen-WeimarEisenach 32 Karsch, Walter 62, 125 Kaufmann, Oskar 126 Keilson, Hans 191, 193, 230 – 232 Keisch, Henryk 230 f. Kerr, Alfred 84, 93, 101, 103, 105 f., 110 f., 114 – 116 Kersten, Kurt 207, 230 Keshet, Yeshurun 189 Kessel, Martin 163 Kesten, Hermann 84, 106, 119, 163 – 165, 201, 232 Keun, Irmgard 9, 57, 142, 239 Kiaulehn, Walther 5, 22 f., 27, 29, 31, 38 – 41, 54, 62, 122, 127, 129, 147, 153, 164 Kisch, Egon Erwin 74 Klages, Dietrich 30 Klee, Paul 217 Klepper, Gerhard 167 Klupp, Robert (Bob) 124, 125, 150 f. Knaus, Albrecht 131, 138 Knickerbocker, Hubert Renfro 30 Knobloch, Dieter 161

Personenregister

Koestler, Arthur 84, 98 Koffka, Friedrich 103 Kolb, Anette 84, 164 Kortner, Fritz 148, 179 Krämer-Badoni, Rudolf 209 Kramer, Theodor 91 Kramstycz, Sophie 128 Kraus, Karl 229 Kreische, Gerhard 167 Kreuder, Ernst 163 Krüger, Horst 226 Kühner-Wolfskehl, Hans 204 Lachmann-Mosse, Hans 22, 42, 85 Landau, Edwin Maria 201, 203 f., 206 Landau, Lola 80 Landshoff, Fritz 106 Langer, Felix 117 f. Langner, Ilse 35, 40, 125, 216, 241 Larsen, Egon => Egon Lehrburger Latte, Grete 124 f. Lattmann, Dieter 235 Leers, Johann von 105 Leftwich, Joseph 71, 186 Lehmann, Wilhelm 163 Lehrburger, Egon 117, 153, 160, 164, 197, 210 Lehrburger, Ursula 160 Leonhard, Karl Ludwig 221, 226 Leonhard, Rudolf 84 Lesser, Georg 147 Lesser, Jonas 195, 197 Liepmann, Heinz 194 Linke, Lilo 93 f. Loos, Anita 154 Losch 221 Ludwig, Emil 106, 108 Ludwig XIV., Kg. von Frankreich 169 Lüders, Marie Elisabeth 150 Lühe, Irmela von der 43 Lützow, von 63 Lund, John 154 Luschnat, David 6, 163, 202 f., 205 f. Luschnat, Lotte 202 – 206, 235 Luther, Martin 143 Lux, Stefan 235

255

Personenregister

Magnus, Erich 61 Mahler-Werfel, Alma 227 Mann, Erika 112, 201 Mann, Heinrich 37, 84, 106, 108, 110, 120, 145, 165, 227, 229 Mann, Katia 33, 201 Mann, Klaus 84, 106 f., 238 Mann, Thomas 9, 15, 19 f., 33, 84, 94, 106, 112, 116, 134 f., 138, 145 Marcks, Erich 17 Marcu, Valerio 84 Marcus, Paul 197 Marcuse, Ludwig 18, 84, 106, 112, 179, 199 Marek, Kurt Wilhelm 128 Marschalk, Margarete 19 Maschler, Kurt 188 Massari, Fritzi 84 Mandelsohn, Erich 59 Maschler, Kurt 131, 212 f. Mayer, Paul 147 McCarthy, Joseph 198 Mehring, Walter 142, 181 Meinecke, Friedrich 17, 178, 243 Mendelssohn, Peter de 93, 106, 110, 148, 164 Metternich, Klemens Fürst von 100 Mierendorf, Marta 213, 238, 241 Milch, Werner 110 Mittelbach, Hans 63 Mohrenwitz, Lothar 138 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 99 Mommsen, Annamarie 117, 125, 160, 213 Morgan, Charles 163 Morrey, Charles 185 Mosse, Rudolf 22, 42 Mosse, Theodor 21 Müller-Jabusch, Maximilian 125 Müssener, Helmut 207, 233 Munch, Edvard 22 Musil, Robert 114, 163 Mussolini, Benito 178, 231 Napoleon Bonaparte 175 Necker, Wilhelm 194, 205 Neumann, Robert 93 f., 118, 164

Neurath, Konstantin von 85 Nietzsche, Friedrich 114, 133 Norman, Mrs. von 127 Noth, Ernst E. 84 Oberländer, Theodor 145 Olden, Balder 84 Olden, Christine 98 Olden, Elisabeth (Ilse) 29 Olden, Hans => Oppenheim, Johann Olden, Ika => Halpert, Ika Olden, Mary Elisabeth 29 Olden, Rudolf 5, 23, 27, 29, 31, 40, 43, 54, 62, 65, 71, 85, 91 – 93, 99, 106 – 111, 120, 210, 215, 229 Ould, Hermon 106, 108, 110 Oppenheim, Johann 28 Ossietsky, Carl von 5, 28, 35, 37, 62, 125, 218 Ould, Hermon 106, 114 Paetel, Karl O. 207 Papen, Franz von 61 Pascha, Mustafa Kemal 178 Pauli, Hertha 112 Paynet, Raymond 171 Peet, John 231 Peitsch, Helmut 89, 101, 199, 231 Persius, Friedrich Ludwig 32 Pfeiler, Konrad Ludwig 199 Pinthus, Kurt 143, 198 Piscator, Erwin 84 Plinius der Ältere 175 Plumier, Charles 176 Polgar, Alfred 112 Priestley, J[ohn] B[oynton] 49 Raddatz, Fritz J. 226 Rath, Ernst vom 150 Rathenau, Walther 136 Reger, Erik 126 Rehfisch, Hans Jos¦ 102 Reifenberg, Adele 33, 187 Reifenberg, Adolf 69, 78, 81 Reifenberg, Benno 32 Reifenberg, Esther 78, 81

256 Reifenberg, Heinrich (Heinz) Julius 6, 9, 31 – 33, 37 – 39, 52, 58 – 65, 67, 69 f., 73, 78, 82 f., 85 f., 89, 91 f., 94, 99, 104 f., 114, 124 f., 129, 136, 147 f., 153 f,, 156, 158, 159 – 163, 165, 171 f., 179, 181 – 183, 185 – 193, 206, 208, 210 f., 217, 221 f., 225, 227, 241, 245 f. Reifenberg, Penny 104, 181, 185 – 187, 189, 190 – 192, 214, 221 – 223 Reifenberg, Peter (eig. Ernst Robert) 6, 32, 38, 52, 59, 63, 67, 69 f., 78 f., 83, 85 f., 92, 98 f., 104 f., 124, 165 f., 181, 183 – 186, 189, 223, 246 Reinfrank, Arno 153, 194 f., 209 – 211, 232, 241 Reinfrank, Karin 210 Reinhardt, Max 22, 140, 148 Reimann, Dr. J. 228 Remarque, Erich Maria 59, 138, 142 Ribbentrop, Joachim von 99, 102 Riess, Curt 112 Ringelnatz, Joachim 142 Robinson, William 176 Ro[c]que, Francois de la 83 Roosevelt, Franklin D. 227 Rosenberg, Alfred 237 – 239 Rosenberg, Mary 180 Roth, Joseph 84 Roubiczeck, Paul 106, 197 Rowe, Leon 11 Rowohlt, Ernst 30, 40, 49, 55 f., 70, 78, 98, 128 – 130, 152 Ruest, Anselm 106 Sachs, Heide 122, 124, 219 Sachs, Nelly 105 Sachse, Peter 39, 40 Sahl, Hans 81, 112, 153, 215, 227 Salazar, Antonio Oliveira 178 Salomon, Alice 14 f. Schaber, Will 112, 193, 202, 209, 211, 228, 240 Schaper, Edzard 146 Scheer, Wilhelm 195 Scheffer, Paul 65 Scheffler, Heinrich 221, 225

Personenregister

Schickele, Ren¦ 84 Schlesinger, Paul 23 Schlör, Joachim 74 Schmidt-Pauli, Edgar von 105 Schneider-Braillard, Mary 151 Scholem, Gerschom 112 Scholz, Hans 159 f. Schrader-Breymann, Henriette 15 Schütz, Ehrhard 41, 57, 156 Schütz, Wilhelm Wolfgang 111 Schultz, Frl. von 35 Schultze, Jutta Siegmund 57 Schwab-Felisch, Hans 142, 210 Schwarzschild, Leopold 106 Schwarzschild, Theodor 37 Seghers, Anna 145, 239 Seelmann-Eggebert, Ulrich 203, 234, 236, 240 Seifert, Heribert 77 Seilern, Carlo Graf von 29 Seilern, Ilse Gräfin von 210 Selinko, Annemarie 138 Sernau, Lola 85 Sewering, Carl 60 Sharp 180 Shepherdson, J. C. 185 Siegmund-Schultze, Jutta 46, 58 Silone, Ignacio 146 Simon, James 135 Skasa-Weiß, Eugen 142, 178, 235 f. Sklarek, Leo 26 Sklarek, Max 26 Sklarek, Willi 26 Sling => Paul Schlesinger 23 Sokolow, Nachum 72 Solchenitzyn, Alexander Issajewitsch 143 Sounders, Marion 55 Spartakus (eig. Spartacus) 218 Spenders 146 Spengler, Oswald 59 Spiel, Hilde 93, 235 Spranger, Eduard 17 Springer, Axel 128 – 130, 134 Stalin, Joseph 100, 218 Stefan, Paul 164 Stein, Rosa 28

Personenregister

Stengel, Theophil 238 Sternberger, Dolf 239 Sternfeld, Wilhelm 6, 110, 114, 119, 153, 196 – 201 Sternheim Carl 114 Sternheim, Thea (Mopsa) 84 Stillmark, Alexander 216, 241 Storm-Jameson, Margaret 107 Strasser, Gregor 107 Strelka, Joseph P. 209 Stresow 178 Suhrkamp, Peter 129 Tasiemka, Hans 90 Thiess, Frank 144, 146 Tiedemann, Eva 196 f., 199 f. Tito, Josip Broz 178 Tönnies, Ferdinand 62 Toller, Ernst 84, 106 Tralow, Johannes 115, 119 Trepke 239 Trier, Walter 20, 213 Troeltsch, Ernst 17 Tucholsky, Kurt 49, 142, 179, 238 Ulbricht, Walter 126 Ullmann, Anton 180 Ullstein, Leopold 129 Umgelter, Fritz 159 Unger, Alfred H. 110, 117 – 119, 163 f., 203 f. Unger, Wilhelm 103, 110, 117 f., 193, 204 Unruh, Fritz von 84, 111 Valentin, Antonina 84 Velde, Henry van de 82 Vercors 116 Verneuil, Marquise de 169 Vetter, Karl 40, 59 Virgil 175 Vogel 211 Vogeler, Erich 19 f. Vogelweide, Walter von der 169 Vogt, Karl 18, 245 Voss, Karl Andres 128 Vring, Georg van der 163

257 Walden, Herwarth 105 Waldorff, Claire 124 Walter, Hans-Albert 152, 239 f. Walter, Hilde 5, 15, 17, 35 f., 49, 153, 165, 208, 211, 215 Wandt, Heinrich 30 Wassermann, Jakob 15, 59 Webb, K. H. 98 Weber, Max 17 Wedekind, Frank 44 Wegener, Mathias 165, 239 Wegner, Armin T. 80, 117, 130, 139, 153, 163, 180, 182 f., 189 Weinert, Erich 114 Weisenborn, Günter 119 Weiskopf, Franz Carl 199 Wells, H[erbert] G[eorge] 106 Weltmann, Lutz 233, 234 Werfel, Alma => Werfel, Alma MahlerWerfel Werfel, Franz 84, 114, 227 Werner, Kasimir 188 Wiechert, Ernst 115 f. Wilder, Billy 154 Wilder, Thornton 112 Witsch, Johann Caspar 172 Wolf, Friedrich 84, 114 Wolf, Kurt 84 Wolff, Theodor 21, 28, 32, 59, 65, 67, 84, 94, 106, 216, 222 Wolkenstein, Alfred 114 Wronkow, Ludwig 201 Wüsthoff, Freda 35 Wyneken, Gustav 100 Zadek, Walter 82 Zeitlin, Leon 114, 118 Zuckmayer, Carl 112 Zweig, Arnold 37, 78, 84 f., 94, 106, 145, 153, 177, 201 Zweig, Beatrice 37, 153, 177 Zweig, Stefan 84, 92 f., 111 – 213 Zielinski 11 Zollschan, George K. 73