Gabe und Geben bei Luther: Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre [Reprint 2012 ed.] 3110188392, 9783110188394, 9783110919332

Mit Hilfe des kulturanthropologischen Verständnisses von einer ‚Ökonomie der Gabe' (Reziprozität) wird anhand von T

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Gabe und Geben bei Luther: Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre [Reprint 2012 ed.]
 3110188392, 9783110188394, 9783110919332

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Bo Kristian Holm Gabe und Geben bei Luther

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer und W. Härle

Band 134

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Bo Kristian Holm

Gabe und Geben bei Luther Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · N e w York

Unterstützt durch den Aarhus Universitets Forskningsfond

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018839-4 ISBN-10: 3-11-018839-2 ISSN 0563-4288 Bibliografische

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Der Deutschen

Bibliothek

Die Dcutschc Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografic; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2006 bv Walter de Gruvtcr G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Hinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Für Jonathan Kristoffer Jens Jakob

Vorwort Dieses Buch über Gabe und Geben bei Luther ist das Resultat eines Forschungsprojekts, das zunächst in meiner Dissertation resultierte, die mit dem Titel Liv og Lov. Luthers forstäelse af det kristne menneske undersegt i lyset af udfordringen fra den nyere Pauluseksegese (Leben und Gesetz. Luthers Verständnis vom Christenmenschen im Lichte der Herausforderungen durch die neuere Paulusexegese untersucht) am 28. Februar 2001 an der Theologischen Fakultät der Universität Aarhus verteidigt wurde. Heuristisch wurde gefragt, ob es in Luthers Theologie ein Verständnis vom Christenmenschen gibt, das mit dem positiven Verständnis vom Getauften bei Paulus funktional äquivalent ist. Der größere Teil dieser Arbeit konzentrierte sich auf den Begriff der Gabe, der sich für die Herausarbeitung und Darstellung der Voraussetzungen für Luthers positives Verständnis vom Christenmenschen als besonders geeignet zeigte. Die Untersuchung von Luthers Theologie, die sich am Begriff der Gabe orientiert, verdiente aber eine selbständige Darstellung. Deswegen wird dieser Hauptteil der ursprünglichen Arbeit in einer durchrevidierten und erweiterten Fassung jetzt als Buch herausgegeben. Im Vergleich mit der ursprünglichen Fassung ist die explizite Behandlung des Verhältnisses zwischen Luther und Paulus herausgelassen. Der Leser wird aber bald entdecken, dass sich die zwei großen Problemstellungen des ursprünglichen Fragehorizonts, das Verhältnis zwischen Luther und Paulus und das damit zusammenhängende Problem der Paränese in der lutherischen Tradition, noch im Hintergrund befinden. Spätere Studien in der Spur des kultur-anthropologisch inspirierten Zugangs im ursprünglichen Werk sind eingearbeitet. Es handelt sich um eine Lesung von Luthers Auslegung von Mt. 11,2-10 aus der Wartburgpostille (in unterschiedlichen Fassungen vorher zugänglich in „Rechtfertigung und Gegenseitigkeit" in: Luther between Present and Past. Studies in Luther and Lutheranism, SLAG 56, hrsg. von U.B. Nissen u.a., Helsinki 2004, S. 70-88 und in „Luther's Theology of the Gift" in: The Gift of Grace. The Future of Lutheran Theology, hrsg. von N.H. Gregersen u.a., Minneapolis 2005, S. 78-86) und um eine Untersuchung von Luthers Verständnis von der Funktion der Lehre, die auf dem Seminar „Doctrina et vita in der großen Galatervorlesung" auf dem 10. Internationalen Kongress für Lutherforschung in Kopenhagen 2002 vorgetra-

VIII

Vorwort

gen wurde. (Die Originalfassung dieser Arbeit ist unter dem Titel „Zur Funktion der Lehre bei Luther" in: Kerygma und Dogma 51, 2005, S. 1732 zu finden.) Eine frühere Fassung der Interpretation von De libertate christiana ist unter dem Titel „Wechsel ohnegleichen. Uber die Grundstruktur der Rechtfertigung und Heiligung und das Austauschen von „Gaben" in Luthers Schrift ,Tractatus de libertate christiana'" in Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 40, 1998, S. 182-196 veröffentlicht. Mein besonderer Dank gilt allen, die mich bei der Entstehung dieser Arbeit auf verschiedene Weise inspiriert, ermuntert und unterstützt haben. Erstens meinen Lehrern, Lehrerinnen und Kollegen an der theologischen Fakultät der Universität Aarhus: meinem Doktorvater Prof. dr. theol. Peter Widmann für unsere noch bestehende Zusammenarbeit, Prof. dr. theol. Anna Marie Aagaard und Prof. PhD Niels Henrik Gregersen (jetzt Kopenhagen) für ihre ständige und bedeutende Ermunterung, Prof. dr. theol Erik Kyndal für seine Bereitschaft, auch als Emeritierter ein Milieu der Aarhusianischen Lutherforschung für mich zu schaffen und für die besondere Inspiration, die mir durch seine Arbeiten zugeflossen ist, Prof. dr. theol. Öle Davidsen für die Einführung in die Welt der Gaben und nicht zuletzt Prof. Anders Klostergaard Petersen für unsere über 15-jährige Studiengemeinschaft, Freundschaft und kollegiale Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt zweitens auch Prof. Dr. Jürgen Moltmann für die Anleitung zur kritischen Beschäftigung mit der lutherischen Tradition, Prof. dr. theol. Steffen Kjeldgaard-Pedersen für seine kritischen, aber hilfreichen Einwände, Prof. Dr. Risto Saarinen für unsere noch nicht zu Ende gebrachte Diskussion über die Bedeutung der Gabe in der Theologie und schließlich Prof. Dr. Oswald Bayer sowohl für einen inspirierenden und zuvorkommenden Empfang in Tübingen, als auch für den Anstoß zur Publizierung meines Buches auf Deutsch. Dank schulde ich auch Prof. PhD Niels Henrik Gregersen, Prof. Dr. Antti Raunio und Prof. dr. theol. Steffen Kjeldgaard-Pedersen für das Dissertations-Gutachten und Aarhus Universitets Forskningsfond für die finanzielle Unterstützung sowohl der Übersetzung als auch des Drucks, dem Verlag Walter de Gruyter, Prof. Dr. Oswald Bayer und Prof. Dr. Wilfried Härle für die ehrenvolle Aufnahme meines Buches in die Theologische Bibliothek Töpelmann, Lektor Dr. Albrecht Döhnert und Frau Sabina Dabrowski vom Verlag de Gruyter für Hilfe während der Druckvorbereitung, Michael Penzold für die umfangreiche Arbeit

Vorwort

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mit der Übersetzung, die manchmal auch den Inhalt klarer gemacht hat, Dr. phil. habil. Katharina Kunter für ihr sorgfältiges Durchlesen des Manuskriptes, auch sie hat die Klarheit des Textes hier und dort verbessert, und Pfarrerin Sabine Kjolsvik für ihre bereitwillige Hilfe bei der letzten Korrektur. Vor allem aber richtet sich mein Dank an meine Frau Lise, die viele Entbehrungen auf sich nehmen musste, aber immer zusammen mit unseren Söhnen bereit war zu zeigen, wo die größten Gaben des irdischen Lebens liegen. Dreimal in meinem Leben habe ich eine größere Abhandlung oder ein Manuskript mit einem halbjährigen Kind auf dem Arm abgeliefert. Meinen Söhnen ist deshalb dieses Buch zugeeignet.

Lisbjerg, Dänemark, April 2006 Bo Kristian Holm

Inhalt Vorwort I. Luther und die Gabe A. Die Gabe als Grundbegriff und Urwort B. Die positive Artikulation des Christenlebens bei Luther C. Die kulturanthropologische „Ökonomie der Gabe" 1. Sahlins' Reziprozitätsspektrum Abb. 1. Reziprozitätsspektrum 2. „Innerhalb" oder „Außerhalb" D. Methodische Konsequenzen für den Umgang mit Luthers Schriften E. Die Gliederung der Untersuchung II. Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick A. Die Betonung des negativen Moments: F. Chr. Baur B. Der Gott der Sozialität: Albrecht Ritsehl C. Die Verdammung als Durchgangsstation: Theodosius Harnack D. Die Gemeinschaft der Gegenseitigkeit: Wilhelm Herrmann .... E. Dilemma der Selbstpreisgabe: Karl Holl F. Das Gebet als die Wirklichkeitsdimension der Rechtfertigung: Rudolf Hermann G Die Grenze des Antisynergismus: Regin Prenter H. Einseitigkeit der Freiheit: Werner Eiert I. Theologia crucis: Walther von Loewenich J. Neuschöpfung durch Selbsterkenntnis: Gerhard Ebeling K. Die Notwendigkeit der „Gabe": Oswald Bayer L. Göttliche Teilhabe: Neuere finnische Lutherforschung M. Neuere deutsche Lutherstudien: Flogaus und Rieske-Braun ... III. Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität A. Die Ambivalenz der Reziprozität 1. Cessio bonorum 2. Sermo Die S. Andreae

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Inhalt Β. Überwindung der Ambivalenz 59 1. Sermo de duplici iustitia 59 2. Die strukturelle Ambivalenz der „renunciatio-Theologie" ... 67

IV. „Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519 70 A. Einleitung 70 B. Die Hervorhebung des Auferstehungs-Aspekts (Gal 1,1b) 71 C. Do und reddo als Schlüsselwörter von Christologie und Rechtfertigungslehre 74 1. Gal l,14f als Voraussetzung für die positive Artikulation des christlichen Lebens 74 2. Die Entfaltung von Gesetz und Evangelium im Modus der Negation 76 D. Gal 2,16f als Dreh- und Angelpunkt des Kommentars 77 1. Kalkulation und Lohn 77 2. Gerechtigkeit: Gott die Ehre geben 79 3. Luthers „Taxonomie der Werke" 81 Abb. 2. „Taxonomie der Werke" I 82 Abb. 3. „Taxonomie der Werke" II 83 E. Die neue Wirklichkeit 84 1. Spiritus et littera (Gal 2,19a) 84 2. Verbum et res (Gal 3,7) 89 F. Die neue Wirklichkeit und die Paränese (Gal 5,13-24) 91 1. Luthers Zäsuren 91 2. Libertas faciendi (Gal 5,13) 92 3. Der binäre Gedankengang Luthers (Gal 5,14) 94 4. Retrospektive und prospektive Aspekte des christlichen Lebens (Gal 5,16f) 98 5. Vereinigung von retrospektiven und prospektiven Linien im Bild vom Sauerteig (Gal 5,9) 100 6. Mögliche Kurzschlüsse in Luthers Verständnis von der Liebe? (Gal 6,2) 101 V. Die positive Verwendung der Reziprozitätsstruktur A. Von den guten Werken 1. Einleitung 2. Abendmahl und Gemeinschaft 3. Inhaltsbestimmung des guten Werks 4. Vier Typen von Menschen

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Inhalt

XIII

Β. De libertate Christiana 1. Christologie und Anthropologie 2. Die Selbsthingabe des inneren Menschen Abb. 4. „Die Reziprozitätsstruktur der Rechtfertigung" ... Abb. 5. „Die Reziprozitätsstruktur der Glaube" Abb. 6. „Die Reziprozitätsstruktur des Hochzeitsbildes" . 3. Die Selbsthingabe des äußeren Menschen Abb. 7. Die Selbsthingabe in Glaube und Liebe 4. Die goldene Regel als Matrix Exkurs: Die Zirkulardisputation über Mt 19,21 5. Das Motiv des Austausche im Freiheitstraktat: Zusammenfassung Abb. 8. Von Abweisung zur Bekräftigung der Reziprozität

Ill 111 112 114 117 117 118 123 123 125

VI. Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latomianae confutatio A. Einleitung B. Luthers Auslegung von Koh 7,20 1. Die Sünde 2. Peccatum regnans und peccatum regnatum a) Die Bedeutung der Taufe in der Theologie Luthers b) Der Unterschied zwischen dem Getauften und dem Ungetauften C. Die Auslegung von Römer 7: Gesetz und Evangelium 1. Gesetz und Sünde 2. Evangelium und Sünde D. Gratia und donum 1. Haupttendenzen der Forschung 2. Symmetrie und Asymmetrie in Luthers Schematisierung Abb. 9. Duplex malum - duplex bonum I 3. Das „Forensische" und das „Effektive" in den Metaphern des Antilatomus a) Der gefangene Räuber b) Der besiegte Jebusiter 3) Der eingemischte Sauerteig 4. Die Wirklichkeit der Relation der „Gabe" 5. Christus als „Glucke" 6. Die zwei Festungen E. Der neugeschaffene Mensch in Antilatomus

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Inhalt

VII. Göttliche Sozialität in der Wartburgpostille A. Einleitung B. Neuschöpfung und neues Leben 1. Das Reich Gottes besteht im Weitergeben (3. Adventssontag: Mt 11,2-10) 2. Das Reziprozitätsmodell der Wartburgpostille (Neujahstag: Gal 3,23-29) 3. Die Verwandlung des Christen: Gott durch die Liebe (Weihnachtsmorgen: Tit 3,4-7) C. Christologie und Anthropologie 1. Luthers Zweinaturenmodell Abb. 10. „Zweinaturenschema" 2. Verborgene Gerechtigkeit D. Christologie und Rechtfertigung im Antilatomus und in der Wartburgpostille Abb. 11. Gabe und Vorbild - Gratia et donum

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VII. Doctrina et exhortationes. Die Begrenzung der Beschreibung ... 201 A. Einleitung 201 1. Die Zweideutigkeit der Ermahnung 201 2. Seelsorge versus Kontroverstheologie 203 3. Die Bedeutung der doctrina in Luthers Theologie 204 B. Der große Katechismus 207 1. Die Strukturierung des großen Katechismus 207 2. Konsequenzen der Umstrukturierung 210 C. Der große Galaterbriefkommentar 215 1. Lehre als Trost und Lehre als Waffe 215 2. Beschreibung als Praxis 217 3. Die kommunikative Seite der Lehre 220 4. Die Gefahr einer lehrmäßigen Dysfunktion 223 5. Das Problem der Paränese 227 6. Die Lehre als Gedankenbild und Geschenk 234 IX. Zusammenfassung der Ergebnisse A. Resümee B. Ergebnisse in Punktform

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Inhalt

XV

Anhang Literaturverzeichnis Standardwerke, Hilfsmittel und benutze Übersetzungen Quellen Sekundärliteratur

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Register Bibelstellen Namen Sachen

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I. Luther und die Gabe A. Die Gabe als Grundbegriff und Urwort „Gaben" und die Tätigkeit des „Gebens" sind unumgängliche Bestandteile der zwischenmenschlichen Interaktion und ebenso unentbehrliche Elemente unserer Art und Weise, die Welt zu konzipieren. Das Gleiche gilt - unter einer bestimmten Perspektive betrachtet - für die Ökonomie der Reziprozität, die die „Gabe" unumgänglich mit sich bringt. Die Reziprozitätsnorm, das heißt die Norm, die es gebietet, eine Gabe zu erwidern, ist ebenso fundamental und universell wie das Inzesttabu.1 Das gegenseitige Geben von Gaben, der Austausch von Gaben insgesamt und die Bildung menschlicher Gemeinschaften sind untrennbar miteinander verbunden. Weil die Gabe und ihre Ökonomie von so grundlegender Bedeutung für Sozialität sind, ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass der Begriff der „Gabe" einen fundamentalen Platz in der Theologie einnimmt. Nicht ohne Grund behauptet Oswald Bayer in der vierten Ausgabe von Die Religion in Geschichte und Gegenwart, dass die „Gabe" als ein theologisches „Ur-Wort" anzusehen sei. Deswegen ist es eher verwunderlich, dass sich der Begriff der „Gabe" nicht schon längst als ein durchdachter theologischer Begriff manifestiert hat.2 Umgekehrt ist es ebenfalls überraschend, dass sich bislang die Kulturanthropologie nicht für den theologischen Gebrauch des Begriffs der „Gabe" interessiert hat. Was die theologische Beschäftigung mit dem Begriff der „Gabe" betrifft, hängt der bisherige Mangel an theologischer Reflexion damit zusammen, dass die Einbettung der „Gabe" in eine Ökonomie zur Folge hat, dass deren Beschreibung mit einer entscheidenden Schwierigkeit zu ringen hat; wie zu zeigen sein wird. Eine zu deutliche Gabe-Ökonomie im Herz der Theologie wird 1 2

Siehe A.W. Gouldner, The Norm of Reciprocity: A Preliminary Statement. Ο. Bayer, Gabe. Π. Systematisch-theologisch, in: RGG4 , Bd. 3, S. 445: „Gabe ist ein Urwort der Theologie (Rom 6, 23; Joh 3,16) - was von dieser aber erst noch zu entdecken und bis in die Ontologie hinein zu ermessen ist." Ferner in O. Bayer, The Doctrine of Justification and Ontology, S. 45: „The word ,gift' is a fundamental word of theology, nevertheless ignored; theology must first discover the meaning of this word in order to conceive its use in various fields - even unto ontology." J. Milbank, Being Reconciled. Ontology and Pardon, und R. Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, wären als solche Versuche anzusehen.

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Luther und die Gabe

nämlich leicht als Kalkulation, und damit als Werkgerechtigkeit, verstanden und damit äußerst verdächtig. 3 Wenn man die Perspektive einschränkt und sich auf Luthers Theologie konzentriert, wird schon auf den ersten Blick deutlich, dass die „Gabe" eine fundamentale Rolle spielt. Zunächst ist es deswegen hinreichend, auf die Verwendung des donwm-Begriffes zu verweisen sowohl im „Umbruch" des augustinischen sacramentum-exemplumSchemas als auch in der Unterscheidung des Antilatomus zwischen gratia und donum - oder auf die Entfaltung von Gottes trinitarischer Selbsthingabe in Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis4 und im Großen Katechismus.5 Auch die Vorstellung einer Ökonomie scheint Luther nicht vollständig fremd zu sein, wenn er sich beispielsweise in der Beschreibung der Rechtfertigung in der Vorrede zum Römerbrief von 1522 einer geradezu merkantilen Terminologie bedient: Gerechtigkeyt ist nu solcher Glaube / vnd heyst Gottis gerechtigkeyt/ odder die fur Gott gilt/ darumb das es Gottis gäbe ist/ vnd macht den menschen / das er yderman gibt/ was er schuldig ist/ Denn durch den glawben / wirt der mensch on sund/ vnd gewynnet lust zu Gottis gepotten/ damit gibt er Gott seyn ehre und betzalet yhn / was er yhm schuldig ist. Aber den menschen dinet er williglich / wo mit er kann / betzalet da mit auch yderman (StA 1, 395, 7-12. Hervorheb. vom Verfasser). Es gibt jedoch auch in der Lutherforschung keine ausführlichen Analysen der „Gabe" und der Bedeutung der Ökonomie der „Gabe" für 3

Auch im Bereich der Kulturanthropologie hat der theologische Gebrauch des Begriffs der „Gabe" zu breiteren Untersuchungen geführt. Es gibt allerdings einzelne Untersuchungen über das Verhältnis zwischen „Gabe", Gnade, Reziprozität und Christentum: T. Parsons, R.C. Fox und V. Lidz, The ,Gift of Life' and its Reciprocation. - J. Pitt-Rivers, Postscript: The Place of Grace in Anthropology. Der erste Artikel diskutiert die Bedeutung der Reziprozitätsstruktur im Christentum auf einer mehr allgemeinen Ebene und schließt sich bei der Bewertung des protestantischen Verständnisses vorwiegend an eine reformierte Tradition an. Pitt Rivers beschränkt sich in seinem Artikel auf die katholische Theologie. Hier sind vor allem die einleitenden Überlegungen über das Verhältnis zwischen Reziprozität und Gnade interessant. Ebenso wie sich die Reziprozität der Aufmerksamkeit der Theologen entzogen hat, hat sich der Begriff der Gnade der Aufmerksamkeit der Anthropologen entzogen. Siehe z.B. J. Pitt-Rivers, Postscript, S. 216: „Yet it remains an enigma that the notion of grace should have escaped the anthropologists for so long. This is only more remarkable in view of the attention they have given, in recent decade, to the problem of reciprocity. Can one explain systems of reciprocity adequately without considering the possibility of non-reciprocity, i.e. gratuity?"

4 5

StA 4,251-252,5 (zit. Seite 212, Fußnote 28). BSLK 651,10-15; 660,18-38; 661,38-42. - Siehe auch Μ. Seils, Die Sache Luthers, und S. Peura, Das Sich-Geben Gottes. Korreferat zu Ulrich Asendorf: Die Trinitätslehre als integrales Problem der Theologie Martin Luthers. Beide Arbeiten wollen zeigen, wie die ganze Theologie Luthers an den Gedanken der göttlichen Selbsthingabe gebunden ist.

Die Gabe als Grundbegriff und Urwort

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Luthers Theologie. Antti Raunio kann somit zu Recht am Schluss seines Buches mit dem Titel Summe des christlichen Lebens auf diesen Tatbestand hinweisen: Auf Grund dieser Ergebnisse ist die Analyse von Luthers Verständnis der communio sanctorum als Liebesgemeinschaft eine Aufgabe der weiteren Forschung. Dazu gehört eine eingehende Untersuchung dessen, wie Luther das Geben bzw. das Schenken versteht (S. 360).

Anstelle von Untersuchungen über die Bedeutung der „Gabe" für Luthers Theologie gibt es zahlreiche Beispiele für ein zu wenig problematisiertes Verständnis der Rechtfertigung als einer „reinen" oder „gratis" gegebenen „Gabe". In der lutherischen Tradition hat es eine nicht ganz unbegründete Tendenz gegeben, das reziproke Element abzuschwächen. Wegen der reformatorischen Hervorhebung des immer sündigen, geltungsbedürftigen Menschen muss ausgeschlossen sein, dass Gott mit „Gaben" gebändigt werden kann. Oder, um es in einer Formulierung von Leif Grane auszudrücken: „Rechtfertigung ist reine ,Gabe'." 6 Die Formulierung der Rechtfertigung als einer „reinen Gabe" entspricht auf ihrer Weise Luthers Insistieren auf der menschlichen Passivität, was die Erlösung angeht. Die vorhandenen reziproken Strukturen und Metaphern der Gegenseitigkeit in Luthers Schriften werden dadurch aber nicht erklärt. Diese Untersuchung ist gedacht als ein Beitrag einerseits zur Behebung dieses Mangels, andererseits soll sie den Begriff der „Gabe" zu einem operativen Begriff der theologischen Analyse entfalten. Auch aus der Perspektive der gegenwärtigen theologischen Situation ist ein solches Verfahren wünschenswert. Der Begriff der „Gabe" scheint nämlich besondere Vorteile zu haben für eine Neuformulierung der Rechtfertigungslehre.7 Der theologische Begriff der „Gabe" ist jedoch nicht unabhängig vom kulturellen Begriff der „Gabe" zu verstehen, 8 weshalb die folgenden Lutherlektüren sich auf die kulturanthropologischen Studien zur Ökonomie der Gabe stützen.

6 7

8

L. Grane, Confessio Augustana, S. 45. Vgl. ζ. B. W. Härle, Zur Gegenwartsbedeutung der ,Rechtfertigungs'-Lehre. Eine Problemskizze. Hier wird die Rechtfertigungslehre anhand von Begriffen wie „Gabe" und „Gegebensein" neuformuliert. Obwohl dieser Versuch nicht das ganze Potenzial des Gabebegriffs, besonders nicht das mit der Reziprozitätsdimension Zusammengehörende, ausnutzt, ist es ein illustratives Beispiel für die Leistungsfähigkeit des Gabebegriffs. O. Bayer, Gabe Π, S. 446: „Als Urwort der Theol. erschließt sich G. konkret im Bezug zur religionswiss. Erkenntnis der kulturanthropologisch fundamentalen Bedeutung der G."

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Luther und die Gabe

B. Die positive Artikulation des Christenlebens bei Luther Die vorliegende Arbeit hat ihre Daseinsberechtigung nicht allein im Mangel an Untersuchungen über die Funktion des Begriffs der Gabe bei Luther. Der Fokus richtet sich gleichermaßen auf Luthers Verständnis des neuen Lebens des Christen. Damit erweist der analytische Zugriff, den der Begriff der „Gabe" ermöglicht, seine Stärke in einer Darstellung der Möglichkeitsbedingungen für ein deutlich positives Verständnis des Christenmenschen bei Luther. Der Austausch der „Gabe" ist auf diese Weise in großem Maße die Form, durch die eine positive Artikulation des neuen Lebens des Christen zum Ausdruck kommt. Einen Überblick über die wesentlichen Haupttypen des Verständnisses des neuen Lebens bei Luther gibt die rezeptionsgeschichtliche Übersicht in Kapitel II dieser Arbeit. Wenn die „Gabe" und die Problematik der Reziprozität in Verbindung mit Luthers Verständnis des neuen Lebens des Christen interessant werden, dann liegt das an zwei Faktoren. Zum einen wird in beträchtlichen Teilen der lutherischen Theologie die negative Bestimmung - also der Vorrang der Negation vor der Position - bei der Beschreibung des neuen Lebens des Christen hervorgehoben. Zum anderen sieht es danach aus, als ob diese Problemlage mit dem Umstand zusammenhängt, dass die Gegenseitigkeit aus sehr verschiedenen Gründen in der lutherischen Theologiegeschichte problematisch geworden ist.9 Sofern es sinnvoll ist, mit einer einzigen Hauptthese zu operieren, soll diese für die Untersuchung lauten: Luthers Verständnis von der Rechtfertigung und dem neuen Leben hängt eng mit einer Vorstellung von Gegenseitigkeit oder Reziprozität zusammen. Angesichts dessen ist es notwendig darauf hinzuweisen, dass eine gewisse Beweglichkeit hinsichtlich des Gebrauchs der Begriffe von „positiv" und „negativ" unumgänglich ist, da beispielsweise der Begriff „positiv" sowohl eine Bewertung als auch - im Sinne einer „Posi9

J. Milbank erwähnt in The Soul of Reciprocity. Part One: Reciprocity refused mehrere Gründe, die mit dem nach-kartesianischen Denken vom Subjekt zusammenhängen, was das Verständnis der Moderne von der reinen „Gabe" als einer „ökonomiefreien Gabe" befördert. Eine Reihe von Beobachtungen Milbanks können direkt auf die Lutherrezeption übertragen werden. Sollte sich zeigen, dass Luthers Theologie einen erheblichen Grad an Gegenseitigkeit nicht ausschließt, so ist Luther nicht so sehr für die Idealisierung der „reinen Gabe" verantwortlich zu machen, wie Jacques Godbout zu meinen scheint. In L'Esprit du don, S. 27, schreibt er: „Au don est impartie la täche impossible d'incamer l'espoir absent d'un monde sans espoir, l'äme introuvable d'un monde sans äme. Un monde dont, depuis la Reforme, la grace a ete expulsee pour etre rejetee dans l'exteriorite radicale de la transcendence. Seul Dieu peut donner veritablement sa grace de fagon gracieuse, etre gracieux et genereux. Le don ne saurait done etre de ce monde".

Die positive Artikulation des Christenlebens bei Luther

5

tion" - eine selbständige Artikulation enthalten kann, ohne ein notwendiges negatives Übergangsstadium aufweisen zu müssen. Im ersten Fall geht es um Unterschiede in der Bewertung, im zweiten um den Unterschied zwischen einer via negationis und einer via positionis. Diese beiden Bedeutungen verschmelzen, wenn behauptet wird, dass die positive Entfaltung des neuen Lebens des Christen in dem Augenblick stärker wird, in dem es nicht an die Negation als seine es bedingende Artikulationsmöglichkeit gebunden wird. Diese im Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre angebrachte Unterscheidung zwischen negativer und positiver Entfaltung drängt sich auch in John Milbanks Unterscheidung zwischen Vergebung als negativer Geste und Vergebung als positiver Gabe auf.10 Wenn wir zunächst die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen Negation und Position in der Lutherforschung richten, so kommt die heftige Lutherkritik Adolf Schlatters in den Blick. Dieser warf Luther vor, Gottes Liebe auf einen ,,abwehrende[n] negative[n] Wille[n]" u reduziert zu haben. Diese Kritik wird von Jürgen Moltmann aufgenommen, der im Anschluss an Schlatter konstatiert, dass die lutherische Theologie der Reformationszeit zwar das pro nobis des Kreuzes betont, das pro nobis der Auferstehung jedoch übersehen habe. Damit habe sie die Möglichkeit verspielt, den „Verheißungsüberschuss" der Auferstehung zu artikulieren. Sie sei, so Moltmann, bei Kreuz und Vergebung der Sünden stehengeblieben und habe sich den Weg zu einer adäquaten Entfaltung des neuen Lebens in Rechtfertigung verstellt.12 Oswald Bayer übt ähnliche Kritik wie Moltmann. Nur richtet sich diese nicht gegen die lutherische Theologie der Reformationszeit, sondern gegen eine vor allem von Gerhard Ebeling repräsentierte bedeutende Strömung innerhalb der neuzeitlichen lutherischen Theologie.13 10 11 12

Vgl. J. Milbank, Being reconciled, S. 44-60. A. Schlatter, Luthers Deutung des Römerbriefs, S. 60. J. Moltmann, Der Weg Jesu Christi, S. 208f: „Die lutherische Theologie der Reformationszeit begründete den rechtfertigenden Glauben einseitig im Leiden und Sterben Christi ,für uns'. Sie erkannte das ,pro nobis' am Kreuz, aber nicht an der Auferstehung Christi. Sie verstand deshalb die Rechtfertigung des Sünders einseitig als Vergebung der Sünden', aber nicht als neues Leben in Gerechtigkeit. Die Bedeutung der Auferstehung Christi wurde auf diese heilsame Bedeutsamkeit seines Kreuzestodes reduziert. Nach Paulus aber ist Christus auferweckt worden ,um unserer Gerechtigkeit willen' (Rom 4,25) und ,um unserer Seligkeit willen' (Rom 5,10). Die Auferstehung hat einen Mehrwert und einen Verheißungsüberschuss gegenüber dem Tod Christi: Christus ist für uns ,gestorben, ja vielmehr auch auferweckt [...]' (Rom 8,34)".

13

O. Bayer, Leibliches Wort, S. 327: „Gottes Güte und Freiheit, als sein gut und frei machendes Handeln, werden im Sinne der Theologie Ebelings allein als Überwin-

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Luther und die Gabe

Bayer fragt, ob nicht die entscheidende Tiefe des Verständnisses vom allgemein Menschlichen verloren geht, wenn Gottes befreiende Handlung nur als Überwindung des Bösen und der Sünde erfahren werden kann. Bei Bayer richtet sich die Kritik zunächst gegen eine defizitäre Schöpfungstheologie, weitet sich aber von dort aus zu einer Kritik der fehlenden Möglichkeiten, die Neuschöpfung zu artikulieren: „Als Mitteilung der neuen Schöpfung hat das Evangelium einen Überschuss an Positivität gegenüber jener Bestimmung, die es erfährt, wenn es ausschließlich vom Bezug auf Erfahrungen des Negativen her verstanden wird." 14

Statt an die Unmöglichkeit anzuknüpfen, dem kategorischen Imperativ zu entsprechen, sollte die Theologie mit der Erfahrung von Gottes „kategorischer Gabe" beginnen.15

C. Die kulturanthropologische „Ökonomie der Gabe" Das Geben einer „Gabe" und die sprachliche Kommunikation haben zahlreiche wesentliche Züge gemeinsam. Die erste „Gabe" ist zumeist an den sprachlichen Ausdruck gebunden, beispielsweise an ein Wort, das gesagt wird, und damit eine Beantwortung ermöglicht, die die Kommunikation verwirklicht.16 Dadurch ist ein enger Zusammenhang gegeben zwischen dem, was für das Schenken einer „Gabe" gilt, und dem, was für die Kommunikation gilt. Die „Gabe" gehört wie die Sprache einer Ebene an, auf der die Reflexion nicht für die Praxis notwendig Sozialität „rankt" sich um die dreiteilige Verpflichtung des Gebens, des Empfangens und des „reziproken Handelns." 17 Jede „Gabe", das heißt jedes Objekt von Wert, das von einer Person oder Instanz gegeben und von einer anderen empfangen wird, hat eine bestimmte Wirkung auf den Empfänger. Die „Gabe" ist von einer unumgänglichen Rezidung des Bösen und der Sünde wahrgenommen. Es fragt sich, ob damit die von Ebeling selbst intendierte Weite und Tiefe des Menschlichen, das Gesamtmenschliche, wirklich erreicht oder ob nicht die Wahrnehmung der Schöpfung eingeschränkt wird und etwa Luthers Erklärung des ersten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus mit dem Ansatz, wie ihn Ebeling vertritt, nur schwer zusammengedacht werden kann." 14 15 16 17

O. Bayer, Martin Luthers Theologie, S. 57. O. Bayer, Freiheit als Antwort, S. 13-19. Siehe J. Godbout, L'esprit du don, S. 13: „parier est considere comme un don. Le premier peut-etre". Siehe M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften.

Die kulturanthropologische „Ökonomie der Gabe"

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prozitätsstruktur begleitet und begründet damit eine Ökonomie.18 Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn es sich um materielle Wertgegenstände handelt. Auch mentale oder symbolische Größen gehen ein in eine Ökonomie, die ebenso wie der Austausch materieller Güter oftmals auch andere Ziele hat als das des reinen Warenaustauschs.19 Diese Einsicht hat seit dem von Marcel Mauss verfassten und zum Klassiker gewordenen Essay über die „Gabe" allgemeine Anerkennung gefunden.20 Wenn das Verhältnis zwischen den beiden „Parteien" als ein gegenseitiges Verhältnis etabliert werden soll, muss der Geber durch seine „Gabe" den Empfänger in ein Verhältnis einsetzen, innerhalb dessen die „Gabe" zuerst empfangen und erst später beantwortet werden muss. Dies kann sowohl positiv als auch negativ verstanden werden - und positiv als auch negativ funktionieren. Der Geber kann mit seiner „Gabe" seinen höheren Status innerhalb einer Machthierarchie ausdrücken oder seinem Wunsch Ausdruck verleihen, eine Gemeinschaft aufzubauen oder zu erhalten. Entsprechend kann die nicht einsetzende Rückgabe einer „Gegengabe" sowohl Überlegenheit und Snobismus als auch Unvermögen und Schande ausdrücken. Die „Gabe" kann sowohl Machtrelationen als auch gleichwertige Gemeinschaften stabilisieren. Gleichzeitig ist eine anhaltende Reziprozität Voraussetzung für die Aufrechterhaltung dieser Relationen.21 Reziprozität ist, wie es Mauss formuliert, als „un fait social total" zu verstehen. Dies wird besonders deutlich in archaischen Gesellschaftsformen, beispielsweise zwischen Stammesverwandten, weshalb es vor allem solche Gemeinschaften sind, die den Hintergrund der Arbeiten von Mauss, Levi-Strauss, Malinowski und Bourdieu bilden. Die Einführung der 18

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Es muss um der Klarheit willen der Begriff „Ökonomie" dahingehend präzisiert werden, dass er hier in seiner weitesten Bedeutung - jede Form des Austausche umfassend - verwendet wird und nicht ausschließlich im Sinne einer kalkulierenden, merkantilen Ökonomie. Siehe C. Levy-Strauss, Les structures elementaires de la parente, S. 63: „Les biens ne sont pas seulement des commodites economiques, mais des vehicules et des instruments de realites d'un autre ordre: puissance, pouvoir, Sympathie, Statut, emotion." Siehe M. Douglas, Foreword: No Free Gifts, VH-VIH; B. Malinowski, Crime and Custom in Savage Society; C. Levy-Strauss, Structures, S. 61-79; M. Sahlins, On the Sociology of Primitive Exchange; A. Gouldner, The Norm of Reciprocity; B. Schwartz, The Social Psychology of the Gift. Siehe A. Gouldner, Norm, S. 176.: „Two distinct points have been made about the social functions of the norm of reciprocity. One is that this norm [i.e. the norm of reciprocity] serves a group stabilizing function and thus is quite familiar in functional theory. The second point, however, is the view that the norm is not only in some sense a defense or stabilizing mechanism but is also what may be called a ,starting mechanism.' That is, it helps to initiate social interaction and is functional in the early phase of certain groups before they have developed a differentiated and customary set of status duties."

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Ökonomie des Geldes hat die soziale Seite, die die Gesellschaft tragende Struktur des Austausche, gleichzeitig weniger deutlich sichtbar und komplexer werden lassen. Jedoch ist diese dadurch nicht weniger bedeutungsvoll geworden, wie dies neuere soziologische und kulturanthropologische Analysen gezeigt haben.22 Nach Mauss ist die Vorstellung von der „reinen" Gabe eine Illusion. „Gratis-Gaben" gibt es nicht. Eine „Gabe" bringt immer eine „Gegengabe" hervor. Geben bedeutet immer auch Empfangen, da eine „Gabe" immer reziprok ist.23 Sie wird explizit oder implizit, bewusst oder unbewusst die praktische Vorstellung von einer Gegengabe mit sich ziehen. Die „Gabe" existiert nur als ein Teil einer größeren Ökonomie. Sowohl bei Malinowski als auch bei Sahlins begegnet jedoch der Begriff der „reinen" oder „freien" „Gabe." 24 Malinowski hat sich jedoch kürzlich korrigiert25 und bei Marshall Sahlins ist der Begriff nur in Verbindung mit einer Präzisierung verschiedener Typen von Reziprozität anzutreffen. Nach Sahlins ist es möglich, alle denkbaren sozialen Relationen innerhalb eines Spektrums der Reziprozität einzustufen. Da dieses Reziprozitätsspektrum später bei der Analyse der entscheidenden Texte Luthers eine wesentliche Rolle spielen wird, ist an dieser Stelle eine kurze Einführung nötig.

1. Sahlins' Reziprozitätsspektrum Marshall Sahlins' Untersuchung archaischer Ökonomie führt u. A. zur Konstruktion eines Reziprozitätsspektrums, das gleichzeitig die Bedeutungsvarianten des Reziprozitätsbegriffs sichtbar macht. 2 6 Das Spektrum ist zwischen zwei Grenzfällen und einer mittleren Position linear angelegt:

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Siehe E. Komter (ed.), The Gift. Diese offensichtliche Ambivalenz des Begriffs der „Gabe" manifestiert sich auch als sprachliche Ambivalenz, siehe auch E. Benveniste, Gabe und Tausch im indoeuropäischen Wortschatz. Benveniste zeigt unter anderem, wie die Verbalform der Wurzel dö in indoeuropäischen Sprachen oftmals verwendet wird, um das Geben auszudrücken, wobei das hethitische Verb dä nicht „geben" sondern „nehmen" oder „bekommen" bedeutet. Auf Indo-Iranisch ist diese Doppeldeutigkeit noch offensichtlicher: Hier bedeutet das Verbum dä „geben", während es mit dem Präfix ä„bekommen" bedeutet (S. 351f). Zahlreiche andere Beispiele offenbaren das „Bewusstsein" der Sprache, dass eine „Gabe" immer zum „Geber" zurückkommt. B. Malinowski, Argonauts of Western Pacific, S. 177-180; M. Sahlins, Sociology, S. 194. B. Malinowski, Crime, S. 39-45. Siehe M. Sahlins, Sociology, S. 191-196.

Die kulturanthropologische „Ökonomie der Gabe' Generalisierte Reziprozität Sozialer Grenzfall

Balancierte Reziprozität Neutralität

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Negative Reziprozität Asozialer Grenzfall

Abb. 1. Reziprozitätsspektrum

Auf der einen Seite ist die „generalisierte Reziprozität" als der solidarische Grenzfall zu verstehen. Hier hat der Begriff der „freien Gabe" seinen Platz. Die generalisierte Reziprozität ist allerdings immer noch Reziprozität. Die „freie Gabe" ist also nicht in dem Sinne frei, dass sie nicht Gegengaben verursachen würde: This is not to say, that handing over things in such form, even to ,loved ones', generates non counter-obligation. But the counter is not stipulated by time, quantity or quality: the expectation of reciprocity is indefinite (S. 194).

Als absolutes Gegenteil zur generalisierten Reziprozität gibt es nach Sahlins die „negative Reziprozität", der asoziale Grenzfall, der nach Sahlins beschrieben wird als ... the attempt to get something for nothing with impunity, the several forms of appropriation, transactions opened and conducted toward net utilitarian advantage. [...] The participants confront each other as opposed interests, each looking to maximize utility at the other's expense (S. 195).

Negative Reziprozität baut damit in großem Maß auf der Ignoranz derjenigen Logik auf, mit der man erschließen kann, dass „Nehmen" immer vom „Geben" begleitet ist. Um ein vollständiges Bild des Reziprozitätsspektrums zu erhalten, ist es notwendig, Sahlins Modell auszuweiten und seine Begriffe um einige Nuancen anzureichern. Zunächst einmal sollte auch Sahlins' Bestimmung der balancierten Reziprozität als sozial neutral modifiziert werden. Denn die Neutralität des Tausches kann gerade dann sozial stabilisierend wirken, wenn durch den Tausch eben keine verpflichtende Gemeinschaft konstituiert oder voraussetzt wird, etwa wenn die am Austausch Beteiligten eine solche nicht wünschen. Gleichermaßen ist der mehr am Profit orientierte Austausch nicht unter allen Umständen asozial, sondern kann in Abhängigkeit von einer politisch-ökonomischen Observanz ebenfalls als geeignet betrachtet werden, soziale Wohlfahrt zu generieren.27 27

Will man beispielsweise Sahlins' Spektrum auf moderne Gesellschaften übertragen, ist es notwendig, zwischen mehreren verschiedenen Reziprozitätsfomen zu unterscheiden, die alle auf ihrem jeweiligen Niveau notwendig sind; siehe auch J. Godbout, L'esprit, der zwischen sozialem Schenken zwischen nahen Verwandten, Austauschformen des Marktes und der Aufrechterhaltung einer neutraleren Basis für gesellschaftliches Leben unterscheidet. Eine entsprechende Differenz ist u.a. hinter P. Bourdieus Unterscheiden zwischen einer Profitökonomie und einer Ökonomie

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Zum anderen konzentriert sich Sahlins auf einen dezidierten Warenaustausch und bezieht z.B. immaterielle Wertobjekte wie „Dankbarkeit" und „Hass" nicht mit ein. Sobald man sich auf eine abstraktere Ebene als der des reinen Warenaustauschs bewegt, zeigt sich deutlicher, dass die Reziprozität innerhalb des „negativen Reziprozitätsmodells" unverkürzt vorhanden ist. Der Dieb oder der Mörder, der nimmt ohne zu geben, fügt dem Beraubten einen Verlust zu, der der Logik der Rache gemäß dem Opfer das Recht gibt, dem Schuldigen einen entsprechenden Verlust beizufügen. Dies legt etwa auch der umgangssprachliche Ausdruck „das zahle ich dir heim!" nahe.28 Halbwegs analog verhält es sich mit demjenigen, der bei einem Handelsgeschäft betrogen worden ist. In der Mitte zwischen den beiden Grenzfällen ist die „balancierte Reziprozität" anzusiedeln: Der direkte Tausch, der sich in häufigem Geben von „Gaben" durch den Akt des Bezahlens und durch den Handels entfaltet. Hier entsprechen sich „Gabe" und „Gegengabe" (S. 194f). Sahlins' Modell ist mit Erfolg anwendbar, denn es zeigt, dass der Reziprozitätsbegriff auch Formen des Austausche umfasst, die auf den ersten Blick nicht reziprok zu sein scheinen. Dadurch, dass er die unterschiedlichen Reziprozitätsformen auf einer Linie ansiedelt, kann Sahlins auch hervorheben, dass die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Formen des Austausche nicht Grade materieller Balance oder Reziprozität repräsentieren, sondern Grade von Soziabilität. Und obwohl das Spektrum stellenweise unpräzis ist, stimmt es beispielsweise mit Luthers Verständnis der Logik des Austausche der „Gaben" überein. Daher lässt sich dies Modell für die spätere Analyse Luthers verwenden. Die Tatsache der Existenz verschiedener Reziprozitätsvarianten ändert nichts daran, dass gegenseitiger Austausch von „Gaben" die fundamentale Voraussetzung von Gemeinschaft ist. Gemeinschaften werden mit Hilfe von „Gaben" erschaffen und erhalten. Die Reziprozitätsstruktur ist entscheidend - sowohl für die Bildung von Gemeinschaften und Gesellschaften,29 als auch für deren Erhaltung. Erweist der „Gabe" zu erkennen, wobei hier die letztere auf einer Negation der ersteren beruht (P. Bourdieu, Marginalia, S. 234). 28

Siehe E.L. Schieffelin, Reciprocity and the Construction of Reality, S. 513: „If a man steals my pig, and I steal his in return (well), what is exchanged is not pigs, in effect, but the loss of pig. The significance is not that of achieving closer friendly relationship, but an agreement that the situation is concluded, and that anger and injury are satisfied. Further gestures (involving hospitality) are usually required to re-establish complete trust and friendship."

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Siehe G. Simmel, Exkurs über Treue und Dankbarkeit, S. 592: „Das Geben überhaupt ist eine der stärksten soziologischen Funktionen. Ohne dass in der Gesellschaft dauernd gegeben und genommen wird - auch außerhalb des Tausches - würde über-

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sich eine Instanz als permanent und absolut passiv, hört die Gemeinschaft mit ihr auf zu existieren. Die Analyse der Reziprozitätsstrukturen selbst und deren Mechanismen ist jedoch mit mehreren Schwierigkeiten verbunden. Vor allem eine davon hat eine große Bedeutung für die folgende Arbeit.

2. „Innerhalb" oder „Außerhalb"? Um die Reichweite der Reziprozitätsanalysen und die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten zu verstehen, ist eine Unterscheidung zwischen zwei fundamental unterschiedlichen epistemologischen Niveaus notwendig. Diese epistemologische Unterscheidung kann mit unterschiedlichen Gewichtungen formuliert werden. Man kann sie in Form der Entfaltung der Begriffe emisch und etisch antreffen, wie sie der Linguist Kenneth Pikes in seinem Buch Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behaviour aus dem Jahre 1959 vornimmt. Ausgehend von der sprachwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen phonemisch und phonetisch versucht er eine allgemeine Unterscheidung zwischen emisch und etisch zu begründen. Pike möchte einen methodischen Ansatz schaffen, der als Werkzeug in einer allgemeinen, interkulturellen Theorie verwendet werden kann. Dabei unterscheidet er deutlich eine interne Perspektive von einer externen, relative Kriterien von absoluten und die Entdeckung eines Systems von der wissenschaftlichen Systemkonstruktion.30 Dieser Neologismus wird von Marvin Harris übernommen, dem es gelungen ist, ihn zu einem allgemeingültigen Bestandteil des sozial- und kulturanthropologischen Vokabulars zu machen.31 Seitdem hat sich diese Unterscheidung in

haupt keine Gesellschaft zustande kommen. Denn das Geben ist keineswegs nur eine einfache Wirkung des Einen auf den Andern, sondern ist eben das, was von der soziologischen Funktion gefordert wird: es ist Wechselwirkung [...], und so ist jedes Geben eine Wechselwirkung zwischen Gebenden und Empfangenden." - Siehe auch L.T. Hobhouse, Morals in Evolution: Α Study in Comparative Ethics, der ohne irgendeine Definition des Begriffes Reziprozität wie folgt schließt: „reciprocity [...] is the vital principle of society" (S. 12). Dazu A. Gouldner, The Norm of Reciprocity: A Preliminary Statement, S. 161f. 30

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K. Pike, Language, S. 38. Pike führt eine ganze Reihe von Unterscheidungen an, die von der Unterscheidung zwischen emisch und etisch leben: „Creation versus discovery of a system [...]. External versus internal view [...]. Absolute versus relative criteria [...]. Non-integration versus integration [...]. Sameness and difference as measured versus systemic [...] Partial versus total data [...]. Preliminary versus final presentation." M. Harris, Cultural Materialism: The Struggle for a Science of Culture.

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verschiedenen Wissenschaften verbreitet und über die Exegeten mit kulturanthropologischem Ansatz auch die Theologie erreicht.32 Pikes Hauptinteresse galt einer präzisen emischen Beschreibung, die dem „Phänomen selbst" am nächsten kam. Mit Harris werden die Begriffe jedoch dahingehend redefiniert, dass sie auch für das Studium „alter" Texte, ohne gegenwärtig lebende Informanten, anwendbar werden. Das Studium vergangener Kulturen erfordert eine Strategie, die verdeutlichen kann, auf welcher epistemologischen Ebene sich die Analyse bewegt. Diese Strategie besteht für Harris darin, qualitative Kriterien für emische respektive etische Kriterien zu entwickeln. Die Qualität von emischen Operationen entscheidet sich beispielsweise dadurch, inwiefern der „eingeborene" Informant die Beschreibungen und Analysen des Beobachters akzeptieren kann.33 Das kann der Informant aber nicht mehr, wenn es sich um eine untergegangene, „vergangene" Kultur handelt. Die Qualität etischer Operationen dagegen entscheidet sich an ihrem wissenschaftlichem Standard, allem voran daran, produktive Theorien zu erzeugen.34 Später hat James Lett Harris' Bestimmung der Begriffe verschärft und eine der besten zusammenfassenden Definitionen formuliert, die wiederum die Grundlage des Gebrauchs der Begriffe in der vorliegenden Arbeit darstellt und deswegen äusführlich zitiert wird: Emic constructs are accounts, descriptions, and analyses expressed in termes of the conceptual schemes and categories regarded as meaningful and appropriate by the native members of the culture whose belief and behaviours are being studied. Etic constructs are accounts, descriptions, and analyses expressed in terms of the conceptual schemes and categories re-

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Die Begriffe haben inzwischen ein so bewegtes Leben geführt, dass die Präzisierung der Bedeutung und die Verwendung der Begriffe zu einer eigenen Konferenz und einem entsprechenden Konferenzband geführt haben: Headland, Pike, & Harris (edd.): Emics and Etics. The Insider/ Outsider Debate. Dass der Begriff nicht immer klar, ja sogar auf verwirrende Weise gebraucht worden ist, zeigen beispielsweise L.H. Ekstrand und G. Ekstrand, Developing the emic/etic concepts for cross-cultural Research, S. 52-65, ohne aber letztlich Klarheit schaffen zu können M. Harris, Cultural Materialism, S. 32: „Emic operations have as their hallmark the elevation of the native informant to the status of ultimate judge of the adequacy of the observer's descriptions and analyses. The test of the adequacy of emic analyses is their ability to generate statements the native accepts as real, meaningful, or appropriate." A.a.O.: „Etic operations have as their hallmark the elevation of observers to the status of ultimate judges of the categories and concepts used in descriptions and analyses. The test of the adequacy of etic accounts is simply their ability to generate scientifically productive theories about the causes of sociocultural differences and similarities."

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garded as meaningfull and appropriate by the community of scientific observers.35 Es ist für die Unterscheidung zwischen emisch und etisch bedeutsam, dass sie nicht mit der Unterscheidung zwischen demjenigen, der observiert und demjenigen, der observiert wird, verwechselt wird. Ein Beobachter kann sowohl emische als auch etische Analysen durchführen. Auf der Ebene des Beobachters ist es daher einerseits möglich, ein gegebenes Phänomen so zu beschreiben, wie es innerhalb einer gegebenen Kultur verstanden wird und es andererseits so zu beschreiben, wie das gleiche Phänomen von einer allgemeinen, theoretisierenden und interkulturellen Perspektive aus gesehen und verstanden werden muss.36 Ist das Untersuchungsfeld nun ein Text, ergibt sich eine besondere Situation. In diesem Fall funktioniert der Text auf der einen Seite selbst als Informant. Auf der anderen Seite kann das Resultat der Analyse in der Diskussion mit anderen Textlesern erneut auf die Probe gestellt werden. Von dieser Perspektive aus gesehen muss sich die Textanalyse auf das etische Niveau begeben. In dem Augenblick, wo die Analyse sich für die Reziprozitätsstrukturen im Text und dessen Kommunikationszusammenhang interessiert, lässt sich aber eine Unterscheidung zwischen einem „Innerhalb" und einem „Außerhalb" wiederfinden. Es ist vor allem diese notwendige Doppeltheit, die in Verbindung mit Reziprozitätsanalysen wichtig wird. Diese Unterscheidung trägt mit dazu bei, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass zwei Analysen aus ihrer jeweiligen Perspektive sich gegenseitig widersprechen sowie gleichzeitig jeweils adäquat sein können, gerade weil sie sich innerhalb ihrer jeweiligen Perspektive bewegen. Es gibt zahlreiche Beispiele für solche Fälle, in denen die Sichtweise des Informanten auf ein Phänomen entscheidend von der Sichtweise divergiert, die von einer interkulturellen, komparativen Perspektive generiert wird - und umgekehrt. Hinsichtlich der Analysen der sozialen Reziprozität wird diese Schwierigkeit weiter verstärkt. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass eine externe Beschreibung unter gewissen Verhältnissen störend in das zu untersuchende soziale Phänomen eingreifen kann. Man kann sich zum Beispiel einen Fall vorstellen, wo beispielsweise die adäquate Erwiderung einer „Gabe" darin besteht, die Möglichkeit der Erwiderung abzu35 36

J. Lett, Emics and Etics: Notes in the Epistemology of Anthropology, S. 131f. M. Harris, Cultural Materialism, S. 34f: „The importance of Pike's distinction is that it leads to a clarification of the meaning of subjectivity and objectivity in the human sciences. To be objective is not to adopt an etic view; nor is it subjective to adopt an emic view. To be objective is to adopt the epistemological criteria discussed in the previous chapter by which science is demarcated from other ways of knowing. [...] Objectivity is the epistemological status that distinguishes the community of observers from communities that are observed."

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lehnen, oder wo die Gabe selbst begleitet wird von der durch den „Gebenden" geleisteten Hervorhebung des Umstandes, dass die „Gabe" eben nicht von der Erwartung einer späteren Erwiderung begleitet sein möge. Es ist diese Problematik, die hinter Pierre Bourdieus Untersuchung des Unterschiedes zwischen Levi-Strauss' strukturalistischen Reziprozitätsanalysen einerseits und Marcel Mauss' phänomenologischen Studien des „HAU" der „Gabe" andererseits auszumachen ist. Letzterer hat die „Gabe" als eine beinahe mystische Größe der Nachwelt überlassen, die auf unerklärliche Weise den Verlauf des Austausches bestimmt. Nach Bourdieu kann man Levi-Strauss' strukturalistischen Ansatz kritisieren, ohne dass man deshalb die darin erarbeitete ökonomische Struktur bezweifeln muss. 37 Die Kenntnis des strukturalistischen Erklärungsmodells ist nämlich nicht notwendig, um innerhalb der Ökonomie agieren zu können. Vielmehr sieht es sogar so aus, als ob die Teilnahme daran auf einer Art „Unwissenheit" (mäconnaissance) über die objektive Repräsentation der Ökonomie durch die soziale Reziprozität zu beruhen scheint.38 Wenn deswegen durch die externe, objektivierende Betrachtung die implizierte Ökonomie als das eigentliche Phänomen in den Blick kommt, so ist damit noch nichts darüber ausgesagt, was die konkrete Praxis steuert. Umgekehrt ist die interne Perspektive von der sie voraussetzenden „Unwissenheit" begrenzt. Die externe Perspektive reduziert die Teilnehmer im sozialen Spiel zu mechanischen Agenten, 39 während es im sozialen Leben eher die nicht abgesicherte Improvisation als die sichere Automatik ist, der die soziale Reziprozität gelingt. Das bedeutet, dass das wissenschaftliche Modell, das den Zusammenhang im Analysierten am sichersten zu erklären weiß, nicht das Prinzip ist, das tatsächlich die Praxis steuert, sondern

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P. Bourdieu, The Logic of Practice. P. Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, S. 5f: „... the operation of gift exchange presupposes (individual and collective) misrecognition (meconnaissance) of the reality of the objective ,mechanism' of the exchange ..." Vgl. J. Godbout, L'esprit, S. 14 (zit. Seite 86, Fußnote 32). Siehe P. Bourdieu, Logic, S. 98: „In postulating that the objective model, obtained by reducing the prophetic to the nomothetic, the detotalized, irreversible succession to the perfectly reversible totality, is the immanent law of practices, the invisible principle of the movements observed, the analyst reduces the agents to the status of automata or inert bodies moved by obscure mechanisms toward ends of such they are unaware.,Cycles of reciprocity', mechanical interlockings of obligatory practices, exist only for the absolute gaze of the omniscient, omnipresent spectator, who, thanks to his knowledge of the social mechanics, is able to be present at the different stages of the,cycle'."

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ein Prinzip, das Praxis stört oder gar zerstört.40 Es ist also das genaue Gegenteil. Der soziale Austausch der „Gaben" ist damit eines derjenigen Spiele, die nicht gespielt werden können, wenn der Spieler sich verweigert, die objektive Wahrheit zu akzeptieren (S. 105f). Anders gesagt: Die augenblickliche und identische Rückgabe einer „Gabe" ist nicht der Vollzug der Reziprozität, sondern deren Verweigerung. Andere Faktoren als die bloße Auswechslung sichtbarer Wertobjekte spielen also eine Rolle bei der sozialen Reziprozität. Die soziale Reziprozität baut deswegen in großem Maße auf Improvisation auf, weshalb beispielsweise Verschiedenheit und Verspätung für den Erfolg des sozialen Austausches zu mit-konstituierenden Faktoren werden. Mit dieser hochgradigen Ambivalenz in der Reziprozitätsstruktur lässt sich wissenschaftlich schwer arbeiten. Auf der einen Seite ist Gegenseitigkeit eine notwendige Voraussetzung für Sozialität. Auf der anderen Seite beruht die soziale Praxis offensichtlich auf einer Verkennung der sozialen Reziprozität. „Gaben" werden oft gerade eben ohne Erwartung einer „Gegengabe" gegeben. Der Unterschied zwischen konkreter Praxis und objektivierter Praxis, oder zwischen „erlebter" Wahrheit und „objektivierter" Wahrheit wird bei Jacques Godbout mit einem fast lutherischen Bild verglichen: Während in einer glücklichen Ehe die beiden miteinander Verheirateten sich gegenseitig helfen, wird in einer krisenhaften Ehe jede Tat gemessen und gewogen. Für Godbout ist dies aber keine Verteidigung der freien, unilateralen Gabe. Deswegen zitiert er ohne Bedenken Mary Douglas' Behauptung, dass es keine freien Gaben gibt - außer als Zeichen asozialen Benehmens.41 Godbouts Pointe wendet sich direkt gegen die misanthropische Tendenz in Bourdieus Theorie: Demnach beruht selbst das am meisten soziale und desinteressierte Geben auf einer objektiv ökonomischen, aber versteckten Wahrheit. Die lutherische Rechtfertigungslehre scheint mit einer ähnlichen Struktur zu operieren, nur unter umgekehrtem Vorzeichen. Gnade als gratis „Gabe" wird ohne Gegengabe empfangen. Die Unterscheidung 40

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Siehe a.a.O., S. 11: „One of the practical contradictions of scientific analysis of a practical logic lies in the paradoxical fact that the most coherent and also the most economical model, giving the simplest and most economical account of the whole set of facts observed, is not the principle of the practices which it explains better than any other construct; or - which amounts to the same thing - that practice does not imply - or rather excludes - mastery of the logic that is expressed within it." M. Douglas, Foreword; J. Godbout, L'esprit du don, S. 14f: „Le don gratuit y n'existe effectivement pas - ou alors de maniere asymptotique ä l'asocialite. Car le don sert avant tout ä nouer des relations (de la part de celui ä qui l'on donne ou d'un autre se substituerait ä lui), une relation ä sens unique, gratuite en ce sens et sans motif, n'en serait pas une."

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zwischen einer externen und einer internen Perspektive zeigt allerdings, dass eine Abweisung der Möglichkeit der „Gegengabe" aus einer internen Perspektive heraus aus einer externen Perspektive betrachtet gerade als die adäquate „Gegengabe" erscheinen kann. Das scheint die Textinterpretation besonders schwierig zu machen. Ist ein Abweisen der Möglichkeit der „Gegengabe" nun wirklich das Abweisen der Möglichkeit der „Gegengabe" oder nur der Ausdruck für die Realisierung der richtigen „Gegengabe", weil die richtige „Gegengabe" gerade im Bekenntnis der Unmöglichkeit der Gegengabe besteht? Andernorts scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Es scheint in vielen Fällen gerade die quasi-externe Perspektive bei der Beschreibung der durch die Rechtfertigung wieder etablierten Gegenseitigkeit zwischen Gott und Mensch zu sein, die die Praxis des Glaubenden ermöglicht. Das deutet darauf hin, dass es bei Luther nicht notwendigerweise die Ökonomie selbst ist, die problematisch ist, sondern vielmehr ein bestimmtes Verständnis davon.

D. Methodische Konsequenzen für den Umgang mit Luthers Schriften Ein Textzugang, der von der Kulturanthropologie inspiriert ist, muss sich über seine Voraussetzungen im Klaren sein. Beim Studium von Texten Luthers beschäftigt man sich zum einen - in kulturanthropologischer Terminologie ausgedrückt - mit historischen Texten ohne lebenden Informanten. Das bedeutet, dass die Untersuchung notwendigerweise aus einer externen Perspektive heraus stattfinden muss. Das schließt eine interne Perspektive nicht aus, nur muss man wissen, dass sich eine solche nicht anderswo als im Text selbst überprüfen lassen kann und dies ist nur mit Hilfe historisch orientierter Untersuchungen möglich. Über den Wert einer internen Analyse kann also nur im gemeinsamen Textverständnis der Forschungsgemeinschaft entschieden werden. Besonders bei einer Untersuchung der Logik von Luthers Begriffsverwendung der „Gabe" bekommt dies eine entscheidende Bedeutung, weil es die Untersuchung sowohl „in" als auch „über" dem Text verortet. Wenn ein von der Kulturanthropologie inspirierter Zugang in Verbindung mit dem Lutherstudium relevant ist, so ist das nicht zuletzt dem „praktischen" Charakter seiner Schriften zu verdanken. Die Beschäftigung mit Luthers Theologie als Seelsorge, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, hat diesen wesentlichen Aspekt von Luthers

Die Gliederung der Untersuchung

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Autorschaft hervorgehoben.42 Dass Luther selbst das binäre TheoriePraxis-Schema sprengt, schließt nicht aus, dass ein interpretatorischer Gewinn daraus geschlagen werden kann, Luthers Schriften aus einer externen Perspektive heraus gerade als Praxis zu analysieren. Dies wird unter anderem von Kenneth Hagens Verortung der Schriftdeutung Luthers innerhalb der monastischen sacra pagina-Tradition untermauert. Luthers Exegese ist kein Kommentar im modernen Verständnis, sondern vielmehr eine enarratio, eine verpflichtende Applikation der Botschaft.43 Die übergeordneten Ziele von Luthers theologischem und praktischem Beitrag sind deshalb formal und strukturell identisch, was aber nicht einer Einebnung der Unterschiede zwischen den Textgattungen gleichkommt. Denkt man die „praktische Funktion" der Schriften mit, ist es im Gegenteil sogar notwendig, die einzelnen Texte auf dem Hintergrund ihrer konkreten Kommunikationszusammenhänge zu lesen. Das Bewusstsein literarischer Gattungen ist für ein adäquates Verständnis von Luthers Schriften unverzichtbar.44 Es ist diese Rücksicht auf Ziel, Genre und historischen Zusammenhang, die das stärkste Bollwerk gegen die Tendenz einer Übersystematisierung von Luthers Aussagen bildet.

E. Die Gliederung der Untersuchung Die folgende Untersuchung beginnt mit einer typologischen Ubersicht über die Rezeptionsgeschichte. Es ist dabei nicht ihr Ziel Forschungsliteratur enzyklopädisch zu verarbeiten. Die Repräsentanten rezeptions-

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Siehe auch G. Ebeling, Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen - an seinen Briefen dargestellt; L. Sigurdsson, Mulmet i hjertet. Tro, tost og billeddannelse hos Martin Luther [Die Finsternis im Herzen. Glaube, Trost und Bildgestaltung bei Martin Luther]; O. Bayer, Die ganze Theologie Luthers. Nach Bayer sprengt Luther das binäre System „Theorie/Praxis" und ersetzt dieses durch ein dreigliedriges Schema, in das die Metaphysik als drittes Element gehört, das sowohl seine Basis als auch seine Begrenzung im Pathos hat. Der Glauben ist als vita passiva für die Theologie grundlegend. Gerade deswegen wird dieser seelsorgerlich: „Was damit in Luthers Theologiebegriff zur Geltung kommt, ist primär keine scholastische, sondern eine monastische Theologie, primär keine universitäre Disputierkunst - die Luther freilich meisterhaft übt - sondern ein seelsorgerlicher, ganz auf das Glauben schaffende, anredende Wort hin ausgerichteter Schriftgebrauch und die darin geschehende Bildung der Affekte [...]." (S. 256). Siehe K. Hagen, Luther's Approach to Scripture as seen in his „Commentaries" on Galatians 1519-1538; U. Asendorf, Lectura in Biblia. Luthers Genesisvorlesung (15351545). Siehe W. von Meding, Lohses Lutherbuch. Erwägungen zum Methodenproblem einer Darstellung von Luthers Lehre.

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geschichtlicher Tendenzen wurden vor allem deshalb ausgewählt, weil sie die Fähigkeit haben, signifikante typologische Unterschiede zu skizzieren. Auch die Auswahl der Schriften Luthers ist ohne den Wunsch nach Vollständigkeit vorgenommen worden. Die Untersuchung konzentriert sich bewusst auf die Lektüre einzelner Schriften, überwiegend verfasst innerhalb der Periode 1519-1522 (Kap. IV-VII). Was die Form anbelangt, ist dem Wunsch nach Variation des Genres nachzukommen versucht. Was den Inhalt anbelangt, orientiert sich die Auswahl an der Frage nach Luthers Verständnis vom Christenmensch und dem Gebrauch von Bildern und Strukturen, die erheblich von der Grundstruktur der Reziprozität bestimmt sind. Kapitel III untersucht Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität in seinen früheren Schriften. In Kapitel VIII verschiebt sich der Fokus auf das Verhältnis zwischen Lehre und Ermahnung im Großen Katechismus und im großen Galaterbreifvorlesung, weil dieses spezifische Problem in Verlängerung der Untersuchung geklärt werden kann. Am Ende der abschließenden Zusammenfassung in Kap. IX sind die Resultate der Untersuchung in Punktform aufgelistet.

II. Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick Zwei Faktoren sind für die Problematik der Gabe und der Reziprozität sowie für die Aufdeckung der Bedingungen, unter denen sich die Darstellung des neuen Lebens eines Christen artikuliert, relevant: Zum einen heben bedeutende Teile der Theologie Luthers die negative Bestimmung oder den Vorrang der Negation gegenüber einer positiven Bestimmung bei der Beschreibung des neuen Lebens eines Christen hervor. Zum anderen hängt diese Problemstellung damit zusammen, dass das Element der Gegenseitigkeit aus verschiedenen Gründen in der lutherischen Theologiegeschichte problematisch wird. Damit greift der rezeptionsgeschichtliche Überblick auf die durchgängige These zurück, dass Luthers Verständnis des neuen Lebens der Rechtfertigung eng mit einer bestimmten Vorstellung von Gegenseitigkeit oder Reziprozität zusammenhängt.

A. Die Betonung des negativen Moments: F. Chr. Baur Das hervorgehobene Verhältnis zwischen positiven und negativen Bestimmungen in der Theologie findet sich das erste Mal explizit bei Ferdinand Chr. Baur, der diese in seiner Definition der Grundprinzipien des Protestantismus einerseits und des Katholizismus andererseits unterscheidet. Für Baur bedeutet Rechtfertigung eine Wiederherstellung des prälapsarischen Zustandes.1 Diese Wiederherstellung ist jedoch nicht primär restaurativ gedacht, Rechtfertigung wird stattdessen als Wiedereinsetzung des Menschen in den ursprünglich für ihn vorgesehenen Reifungsprozess verstanden. Der Protestantismus unterschei-

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F. Chr. Baur, Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus nach den Principien und Hauptfragen der beiden Lehrbegriffe, S. lOOf: „Wenn aber die Erlösung die Aufhebung des durch die Sünde eingetretenen Zustandes ist, so ist eben dadurch auch die Wiederherstellung des der Sünde vorangegangenen Zustandes. Die Idee, die durch die Erlösung realisiert werden solle, ist in ihrer idealen Wahrheit schon an den Ursprung des menschlichen Daseyns vorangestellt; die Gerechtigkeit und Heiligkeit, mit welcher der Mensch ursprünglich aus der Hand des Schöpfers kam, ist dieselbe, zu welcher er wieder erneuert werden soll."

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

det sich nach Baur an dieser Stelle entscheidend dadurch vom Katholizismus, dass er diesen Prozess weder sukzessiv noch additiv versteht, sondern als ein neues Werden.2 Das bedeutet, dass der ursprünglich geschaffene, natürliche Mensch nur durch einen Vermittlungsprozess sein Ziel erreicht.3 Die Inspiration durch Hegel, die mit der zweiten Ausgabe von Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus offensichtlich wird, führt in Kombination mit dem kontroverstheologischen Anliegen zu einer spezifischen Auslegung der lutherischen Theologie: Der Fokus wird hier auf die Vergebung der Sünden gelegt und der forensische Aspekt der Rechtfertigung hervorgehoben.4 Dadurch wird die konkrete Entfaltung der positiven Seite der Rechtfertigung begrenzt. Teils wird diese zu etwas rein Momentanem eingegrenzt - und unterscheidet sich damit vom sukzessiven Verständnis der katholischen Theologie - ,5 teils kann das Positive nur durch das Negative gedacht und ausgedrückt werden:

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Baurs Entfaltung dessen geschieht innerhalb einer Kritik von Möhlers Supranaturalismus. Siehe J. A. Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenn tnißschriften, S. 2533. Wird iustitia originalis als donum superadditum verstanden, bleibt die Rechtfertigung bloß ein accidens des Menschen, für immer von dessen Wesen geschieden; F. Chr. Baur, Gegensatz, S. 109. Das besondere Merkmal des Protestantismus ist, dass er trotz einer scharfen Trennung des Göttlichen und Menschlichen im Grunde an der Einheit dieser beiden Sphären festhält (S. 114). Das Prinzip der zwei Naturen ist die Grundlage des Protestantismus (S. 117). Die ursprüngliche iustitia originalis hat zur ursprünglichen Natur des Menschen gehört. Darauf begründet sich auch das Verständnis der Rechtfertigung: „Ist die ursprüngliche Gerechtigkeit eine anerschaffene und natürliche, so kann auch die restaurierende oder erlösende keinen andern Charakter haben, d.h. der Erlöser selbst kann keine schlechthin übernatürliche Erscheinung seyn, sondern ist, nach Schleiermachers treffender Formel, die vollendete Schöpfung der menschlichen Natur." (S. 116; Hervorh. im Original gesperrt). F. Chr. Baur, Gegensatz, S. 213: „Der Protestantismus kann die Natur nicht als etwas schlechthin Gegebenes betrachten, das an sich gut wäre, und darum in seiner Unmittelbarkeit festgehalten werden müßte, sie kann ihm daher nur ein Moment des Processes seyn, welchen der Geist durchlaufen hat, um sich mit sich selbst zu vermitteln, und durch diese Vermittlung zu sich selbst zu kommen." A.a.O., S. 237f: „Der lutherische Lehrbegriff versteht, wie bekannt ist, unter der Rechtfertigung vorzugsweise und vor Allem den göttlichen Akt der Sündenvergebung. Wenn auch die Gerechtigkeit Christi, in deren Zurechnung vermittelst des Glaubens das Wesen der Rechtfertigung besteht, beides in sich begreift, das Negative des Austritts aus dem Zustand der Sünde, und das Positive des Eintritts in den Zustand der Gnade, [...], so ist doch der Hauptbegriff, aufweichen alles Gezvicht gelegt wird, immer die Sündenvergebung." (Hervorh. im Original gesperrt). A.a.O., S. 240: „Die Rechtfertigung des protestantischen Systems kann ebendeßwegen, weil sich nicht in die Heiligung, sondern in die Sündenvergebung gesetzt wird, nichts Successives, sondern nur etwas Momentanes seyn. Das einmal Geschehene kann nur dadurch aufgehoben werden, daß es als nicht geschehen betrachtet, oder für nicht geschehen erklärt wird."

Die Betonung des negativen Moments: F. Chr. Baur

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Der Protestant läßt also auch hier das Abstrakte dem Concreten vorangehen, während der Katholik, über das Abstrakte hinwegsehend, die Gerechtigkeit Christi erst in dem Momente auffaßt, in welchem sie schon concrete Bedeutung gewinnt, und auf dem Uebergang zum Realen steht, in dem sie als Princip der Heiligung im Menschen selbst sich zu realisiren beginnt, und nur von diesem Geschichtpunkt aus läßt sich erklären, warum der Protestant in dem Begriffe der Rechtfertigung das negative Moment der Sündenvergebung besonders hervorhebt, weil er sich das Positive der Rechtfertigung nur durch das Negative, das Eintreten in den Zustand der Gerechtigkeit nur durch das Austreten aus dem Zustand der Ungerechtigkeit bedingt denken kann (S. 289f).

Durch diese Unterordnung des positiven Aspekts unterscheidet sich nach Baur der Protestantismus grundlegend vom Katholizismus, der im Gegenteil den negativen Aspekt dem positiven unterordnet (S. 238f.). Vor diesem Hintergrund wird Hegel für Baur anwendbar. Das hegelsche Schema zeigt, wie der Weg durch das Negative die notwendige Möglichkeitsbedingung für das eigentlich Positive, das qualitativ Neue, ist. In seiner Beschreibung der protestantischen Eigenart hat Baur ein „dictum" formuliert, das in verschiedenen, modifizierten Ausgaben durch seine Wirkungsgeschichte hindurch immer wieder angetroffen werden kann, ohne dass direkte Verbindungen zu Baur oder zu seinem Hegelianismus bestehen müssen. Diese Verknüpfung des Vorrangs des negativen Moments mit der Betonung der Überwindung des Vergangenen durch die Vergebung der Sünden bestimmt auch den Gebrauch der Begriffe im Rahmen dieser Untersuchung. Es war diese Tradition in der Rezeptionsgeschichte lutherischer Theologie, die Adolf Schlatter und andere dazu bewegt hat, Luther die Reduktion von Gottes Liebe auf ,,ein[en] abwehrende[n] negativefn] Wille[n]" vorzuwerfen. 6 Die Konzentration auf den Themenkomplex der Vergebung der Sünden wird begleitet von der Hervorhebung des rezeptiven Charakters des individuellen, persönlichen Lebens. Der christliche Glaube ist „nur ein Akt der Receptivität", der das Gegebene „nur als Organ" (S. 261) wahrnimmt. Auf diesem Hintergrund kann der Protestantismus die Realität der wahren guten Taten nicht prinzipiell leugnen, sondern ist dazu gezwungen, sie zu behaupten. 7 Dies ändert jedoch nichts daran, dass sogar die beste Tat dem individuellen Bewusstsein von Sittlichkeit gegenüber mangelhaft erscheinen muss (S. 292f). Umgekehrt 6 7

A. Schlatter, Luthers Deutung, S. 60. F. Chr. Baur, Gegensatz, S. 292: „So gut demnach die protestantische Lehre die Realität des wahren Glaubens voraussetzt, muß sie auch die Realität wahrhaft guter Werke voraussetzen. Mit dem Einen ist das Andere notwendig gegeben, weil das Eine das Princip des Andern ist."

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

schließt dies aus, dass die erfahrene Wirklichkeit in einem absoluten Sinne die Möglichkeit eliminieren kann (S. 291f). Der Protestantismus existiert so mit einem Widerspruch zwischen prinzipieller Möglichkeit und erkenntnismäßiger Notwendigkeit. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Behauptung einer relativen Unmöglichkeit und der Behauptung einer absoluten Unmöglichkeit, und der Protestantismus behauptet lediglich die erste.

B. Der Gott der Sozialität: Albrecht Ritsehl Albrecht Ritsehl stellt sich der von Hegel inspirierten Vorstellung seines Lehrers F. Chr. Baur entgegen. Dass sich die Geschichte nach Baur durch Gegensätze hindurch bewege, wird von Ritsehl durch den tatsächlichen Verlauf der Geschichte widerlegt.8 Deswegen kann der positive Aspekt selbständig thematisiert werden. Ritsehl ist daher nicht an das negative Moment in seiner Funktion als notwendiges Durchgangsstadium angewiesen, das als Voraussetzung der positiven Artikulierung anzusehen wäre. Dies zeigt sich in seiner Bestimmung des Hauptbegriffes der reformatorischen Theologie, der Erkenntnis Gottes als Gott der Liebe.9 Aus diesem Grund tritt die Gewichtung des Ethischen und des Sozialen in den Vordergrund. Das Ziel ist die Verwirklichung des rechten Lebens. Luther zeichnet sich Ritsehl zufolge dadurch aus, dass er die Gemeinschaft höher wertet als den Einzelnen. Er unterscheidet sich dadurch von der mittelalterlichen Tradition, denn entfaltet man das Gottesverhältnis vom Gedanken des „meritum" aus, dann wird die privatrechtliche Sphäre nicht überschritten. Da die Reformationstheologie anstelle der Vorstellung vom „meritum" auf dem sittlichen Liebesgebot aufbaut, wird einem anderen und neuen Verständnis 8

A. Ritsehl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung Bd. I, S. 560-587. Wenn es um den negativen und den positiven Aspekt der Rechtfertigung geht, erweist sich der positive faktisch als die Vorausetzung des negativen. Siehe auch A. Ritsehl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung Bd. ΙΠ. Die positive Entwicklung der Lehre, S. 63: „Denn ein positives Urtheil ist nur scheinbar die Ergänzung des entsprechenden negativen, in Wirklichkeit dessen Voraussetzung. Die Rechtfertigimg führt nun die Nichtanrechnung der Sünden mit sich, weil sie als Anrechnung von Gerechtigkeit vorgestellt wird, nämlich als die Anrechnung der in dem doppelten Gehorsam Christi enthaltenen Gerechtigkeit für die Sünder, welche an Christus glauben."

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A. Ritsehl, Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott, S. 85: „Die Lehre vom offenbaren Gott, der durch Christus und die ganze Heilsgeschichte als allgemeiner Wille der Gnade, als Liebe erkannt wird, ist in Hinsicht des leitenden Erkenntnißgrundes wie des resultierenden Hauptbegriffes die neue Theologie der Reformation" (Hervorh. im Original gesperrt).

Der Gott der Sozialität: Albrecht Ritsehl

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der Weg bereitet. Das Gottesverhältnis verschiebt sich damit aus der privatrechtlichen Sphäre in das öffentliche Recht.10 Deshalb muss Ritsehl sowohl die Prädestinationslehre als auch die Vorstellung vom deus absconditus als nominalistische Reste verstehen, die damit im Widerspruch zu seinem Verständnis von Luthers reformatorischem Durchbruch stehen.11 Zu einer Lehre vom geoffenbarten Gott, der sich durch Christus und die Heilsgeschichte als der Gott der Liebe erweist, passt die Vorstellung von Gottes uneingeschränktem Recht über den Menschen nicht. Luthers bedeutendster Beitrag besteht nach Ritsehl darin, dass er das „gemeinschaftliche" Verständnis von Religion ernstgenommen hat und dass der Einzelne immer der Einzelne in einer Gemeinschaft bleibt.12 Seine Wendung zum Sittlichen geschieht zugleich mit einer scharfen Kritik an der pietistischen Tradition. Dieser wird vorgeworfen, an einem privatrechtlichen Denken festzuhalten, in dem Rechtfertigung zu einem analytischen Urteil über den sittlichen Wert des einzelnen Glaubenden reduziert wird.13 Wenn es hingegen ein Wesenszug reformatorischen Denkens ist, dass die Rechtfertigung in Gottes Willen und nicht in der Sittlichkeit des Einzelnen begründet ist, so ist diese als ein synthetisches Urteil zu verstehen.14 Nur unter der Bedingung der Vergebung und der Heilsgewissheit kann der Forderung der Liebe nachgegangen werden. Diesen Zusammenhang systematisch zu durchdenken ist den Reformatoren jedoch nicht gelungen. Und: Auch ihre Nachfolger konnten nicht vervollständigen, was Luther und Melanchthon in dieser Sache unfertig hinterlassen haben.15

10

A.a.O., S. 256f: „Aber der leitende Begriff der göttlichen Billigkeit begründet weder eine allgemeine Ordnung des sittlichen Handelns, noch vermag er das Christenthum als öffentliche Ordnimg aus der Sündenvergebung zu begründen; er führt dazu, die gesuchte sittliche und religiöse Weltordnung in lauter Privatverhältnisse zwischen Gott und den einzelnen Menschen zu zersplittern. Die protestantisch-scholastische Theorie begründet eine öffentliche Ordnung des Handelns der Menschen aus dem als rational vorausgesetzten Begriff von Gottes Gerechtigkeit, und die Sündenvergebung als öffentliche Ordnung aus der christlichen Offenbarung."

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A. Ritsehl, Studien, S. 87; ders., Lehre I, S. 221. A. Ritsehl, Lehre ffl, S. 27-30.107-109. A.a.O., S. 82. A.a.O., S. 77f. A. Ritsehl, Lehre I, S. 142f: „Erst in zweiter Linie richtet sich das Interesse der Reformatoren auf die Stellung des in der religiösen Praxis erprobten Gedankens in dem System. Dies Unternehmen hat aber bei Luther und Melanchthon niemals die wünschenswerte Klarheit und Selbständigkeit gegen den religiös-praktischen Gebrauch jener Wahrheit gewonnen, und es wird sich fragen ob und inwieweit die folgenden Dogmatiker dasjenige ergänzt haben, was die großen Vorbilder unvollendet gelassen haben."

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

C. Die Verdammung als Durchgangsstation: Theodosius Harnack Mit seinem Werk Luthers Theologie16 ist Theodosius Harnack Ritschis typologischer Gegenpol geworden. 17 Dort, wo Ritsehl große innere Spannungen bei Luther diagnostiziert, betont Th. Harnack, dass diese inneren Spannungen einen integrierten Bestandteil von Luthers Theologie ausmachen. Wo Ritsehl die Liebe als konstituierend für Luthers Gottesverständnis betont, hebt Th. Harnack Gottes Zorn als den notwendigen Gegenpol der Liebe hervor. Der Gerichtsaspekt tritt in den Vordergrund. Gerade die Konzentration auf das Gericht zeigt nach Th. Harnack, dass sich Luther auf einem genuin paulinischen Hintergrund bewegt. 18 Solange sich Luthers Theologie der inneren Anspannung in Gestalt von Paradoxien u n d Antinomien zeigt, drücken diese nicht Inkonsistenz, sondern „originale Tiefe u n d Kraft" aus (S. 41). Damit markiert Th. Harnack eine zweite bedeutende Tendenz der Lutherrezeption nach Ritsehl, bei der Gedanken, die im unmittelbaren Verständnis widersprüchlich erscheinen, nicht länger im gleichen Maß problematisiert werden, sondern stattdessen Luthers Originalität u n d seiner theologischen Tiefe zugeschrieben werden. Die offensichtlich widersprüchlichen Aussagen sind demnach darauf zurückzuführen, dass Luther mehr praktisch-christlich u n d polemisch orientiert u n d damit der aktuellen Kommunikationssituation unterworfen war, als dass er systematisch habe formulieren wollen. Luther hat sich mit realen, konkreten Verhältnissen befasst, nicht mit abstraktem Denken (S. 7-12). Daher berührt Harnack die Diskussion u m das Verhältnis zwischen Theorie u n d Praxsis, ohne jedoch die Frage zu beantworten, auf welche Weise man Aussagen systematisieren kann, die vor allem der aktuellen Kommunikationssituation verpflichtet sind. Der Unterschied zwischen Ritsehl u n d Harnack liegt also in der Perspektive. Denn wäh-

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Th. Harnack, Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungsund Erlösungslehre Ι-Π. Große Teile des Werkes bestehen aus einer direkten Kritik Ritschis. Siehe W. Mostert, Luther m . Wirkungsgeschichte, TRE 21, S. 577. - Zum Folgenden: Fr. W. Winther, Die Erlanger Theologie und die Lutherforschung im 19. Jahrhundert, S. 135-180. Th. Harnack, Luthers Theologie I, S. 30: „Die Stelle aber - die vor ihm fast ganz übersehene oder doch nur dürftig und oft geradezu irrige gewertete - in die Luther einsetzt und von der aus er epochemachend und schöpferisch in die Geschichte unseres Dogmas eingreift, ist die von ihm erst wieder rein und voll erfaßte und in das kirchliche Lehrganze wieder eingeführte paulinische Lehre vom Gesetz und im Zusammenhange mit ihr seine wahrhafte großartige und tiefe Anschauung vom dem Zorne Gottes."

Die Verdammung als Durchgangsstation: Theodosius Harnack

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rend Ritsehl sich auf die objektive Repräsentation der Lehre konzentriert und deshalb Aussagen, die mit der inneren Kohärenz der Lehre nicht in Einklang gebracht werden können, nicht weiterverfolgt, so ist sich Harnack stärker der im praktischen Diskurs notwendigen Spannung zwischen der für das Praktisch-Christlichen notwendige und der objektiv konsistenten Repräsentation der Lehre bewusst. Der Betonung von Gottes Zorn folgt eine Unterscheidung zwischen „Gott", wie er sich dem Sünder zeigt, und „Gott", wie er sich dem reuigen Sünder zeigt. Das zweideutige Verständnis von Gott bildet das Zentrum von Luthers Theologie und bestimmt auch sein Verständnis von Gottes Liebe.19 Die Rede von Gottes Liebe gilt nur dem Sünder, der in dem durch Christus vermittelten Gottesverhältnis seine Sünden bereut. Aus der Unterscheidung zwischen „Gott" und „Gott," zwischen dem richtenden Gott und dem gnädigen Gott, folgt die Betonung der Sündhaftigkeit des Menschen. Dieser Unterscheidung muss eine Unterscheidung von „Sünder" und „Sünder" entsprechen. Nur diejenigen, die sich als Sünder erkennen, können auf einen gnädigen und liebenden Vater hoffen. Damit wird die Funktion der Verdammung als notwendiges Durchgangsstadium hervorgehoben. In Th. Harnacks Unterscheidung von „dem Sünder" und „dem reuigen Sünder" kann man Züge von Baurs „dictum" wiedererkennen, die über Th. Harnack an Walther von Loewenich und Werner Eiert und andere weitervermittelt worden sind, während die positive Hervorhebung von Paradoxien und Antinomien in Luthers Denken sowohl in der Holl- als auch in der Barth-Schule weiterlebt.20 Auch in Luthers Gesetzesverständnis findet Th. Harnack diese fundamentale Unterscheidung wieder. Es muss zwischen „Gesetz" und „Gesetz" unterschieden werden. Denn für den Verlorenen außerhalb 19

A.a.O., S. 282f: „Freilich lehrt Luther, und mit Recht, daß Gott seinem Wesen nach eitel Liebe ist. Aber einerseits ist er dabei weit entfernt von der Trivialität, die sich dieser Wahrheit bemächtigt und sich den Gott einer Liebe erdichtet, die ohne allen Zorn ist. [...] Auch wissen wir schon, was und wie er vom Zorne Gottes lehrt, und daß nach ihm derselbe Gott, der von Natur die Liebe ist, ebenfalls "vermöge seiner göttlichen Natur gar keine Sünde leiden kann und den Sündern feind ist." Darum bestreitet Luther nicht minder auch einen solchen neuen, selbstgemachten Gott der Liebe und Güte. [...] So viel ist gewiß, um Luthers Lehre von der Liebe Gottes recht zu verstehen und zu würdigen, genügt es noch lange nicht, zu dem billigen Auskunftsmittel eines „Scheinzorns" oder eines „Zorns nur aus Liebe" seine Zuflucht zu nehmen. Denn Luther vertritt nicht nur den Gott der Liebe gegen einen eingebildeten Gott des Zorns, sondern macht auch mit derselben Energie den Gott des Zorns gegen einen selbstgemachten Gott der Liebe geltend. ... Er weiß von keiner anderen Liebe Gottes zur verlorenen Welt, als der durch Christum vermittelten; und wiederum darf sich derselben nur derjenige Sünder getrösten, der seine Sünde erkennt." (Hervorh. im Original gesperrt).

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Fr. W. Winther, Erlanger Theologie, S. 170.

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Uberblick

Christus behält das Gesetz sein unveränderliches Wesen und erzwingt sich seine Anerkennung. Bei den in Christus Seligen erfüllt es sich hingegen positiv. Das Gesetz selbst bleibt das Gleiche, die Unterscheidung geht ganz alleine auf dessen doppeltes Verhältnis zur Welt zurück. 21 Die Hervorhebung des Gotteszorns dem sündigen Menschen gegenüber korrespondiert mit einer vorwiegend forensischen Entfaltung der Rechtfertigung. Die Rechtfertigung kommt Gottes freiem Gnadenurteil gleich. Dieses zieht keine Verwandlung nach sich, sondern setzt als Rechtshandlung dagegen ein neues persönliches Verhältnis ein. 22 Hier treffen sich Th. Harnack und Ritschi. Denn auch Th. Harnack bleibt nicht bei der ausschließlich negativen Bestimmung der Rechtfertigung stehen. Denn die Rechtfertigung kann auch positive Aspekte besitzen: Die Rechtfertigung ist aber, nach Luther, nicht bloß im negativen Sinne Sündenvergebung, sondern diese positiv gefaßt als Schenkung der Gerechtigkeit und Aufnahme in die Gottes-Kindschaft (S. 336; Hervorh. im Original gesperrt). Mit dieser positiven Bestimmung kann Th. Harnack in Anlehnung an Luther festhalten, dass der Christ bereits jetzt im Besitz der besseren Hälfte der Auferstehung ist, nämlich der geistlichen Auferstehung. 23 Dennoch orientiert sich die Entfaltung des Inhalts der Rechtfertigung überwiegend retrospektiv als innere und äußere Uberwindung der Sünde. 24 W o das Positive bei Ritsehl die Voraussetzung des Negativen gewesen ist, ist dies bei Th. Harnack umgekehrt. Damit lebt Baurs „Grundstruktur" bei dem orthodoxen Lutheraner Th. Harnack weiter.

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Th. Harnack, Luthers Theologie Π, S. 398. A.a.O., S. 330f: „Was nun die Rechtfertigung des Sünders anlangt, so besteht sie nach Luther nicht, wie er selbst früher noch sagte, in der gratia infusa, nicht in der ethischen Umwandlung des Menschen, nicht in Bewirkung eines neuen Verhaltens. Die Gnade ist überhaupt nicht eine Kraft, sondern barmherzige Liebesgesinnung Gottes; und demgemäß ist die Rechtfertigung ein freies Gnadenurteil Gottes, ein judiziärer Akt, durch welchen ein neues, durchaus persönliches Verhältnis des Menschen zu Gott hergestellt wird, und erst aufgrund desselben ein neues Verhalten." A.a.O., S. 278f: „Wir haben schon das beste Stück hinweg von der Auferstehung, dass die leibliche Auferstehung des Fleisches aus dem Grabe, die noch zukünftig ist, dagegen geringe zu rechnen ist. [...] Wir haben schon mehr denn die Hälfte unserer Auferstehung, weil das Haupt und Herz bereits droben ist, [...] . Zudem ist noch eine andere Hälfte auch geschehn, ja auch weit über die Hälfte, nämlich, dass wir sind durch die Taufe im Glauben schon geistlich auferstanden, das ist nach dem besten Stück an uns; [...]" A.a.O., S. 357: „Darum unterscheidet Luther sehr bestimmt zwischen der inneren und der äußeren Rechtfertigung, zwischen der Vergebung aller Sünden und der allmählichen Tötung derselben, zwischen der Rechtfertigung selbst und der Gerechtigkeit des Lebens."

Die Gemeinschaft der Gegenseitigkeit: Wilhelm Herrmann

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D. Die Gemeinschaft der Gegenseitigkeit: Wilhelm Herrmann Die positive Seite des Lebens eines Christen wird von Wilhelm Herrmann als „ein durch Christus vermittelter Verkehr mit dem lebendigen Gott" bezeichnet. Hierin ist alles gefasst, was zur „Eigentümlichkeit" des christlichen Lebens gehört: „Offenbarung und Glaube, Sinnesänderung und Trost der Vergebung, Freude des Glaubens und Dienst der Liebe, Alleinsein mit Gott und das Leben in der Gemeinschaft." 25

Um die Ambivalenz der selbständigen positiven Aussagen, die bei Baur Kennzeichen der protestantischen Tradition sind, zu berücksichtigen, verbindet Herrmann den Begriff „Verkehr" mit dem Gedanken an die demütige Unterwerfung des Christen. Im Verhältnis zu Gott darf der Christ Gott nichts anderes geben als die Ehre. Jedweder Versuch, Gott anderes oder mehr zu geben, ist in letzter Konsequenz ein Abfallen von Gott - der Versuch, sich der totalen Abhängigkeit von Gott zu entziehen.26 Der Begriff der Abhängigkeit, den Herrmann von Schleiermacher übernommen hat, wird mit der Vorstellung vom „Erlebnis" verbunden. Da Herrmanns - ebenso wie Ritschis - Lutherverständnis von vorne herein in einen Verständnishorizont eingebettet ist, bei dem die echte reformatorische Theologie die Auseinandersetzung der wahren Erkenntnistheorie mit der falschen Substanzmetaphysik repräsentiert,27 muss er diejenigen christologischen Aussagen bei Luther verwerfen, die als zu direkte Ausläufer der patristischen - und damit metaphysischen - Theologie zu verstehen sind. Das bedeutet, dass er gleichzeitig eine ganze Reihe derjenigen Aussagen zurückweisen muss, die Luther selbst dazu gebraucht, um den fundamentalen „Verkehr mit Gott" zu illustrieren. Mit seiner Zurückweisung jeder Form von festgefahrenem Dogmatismus konstatiert Herrmann deshalb eine innere Spannung in Luthers Theologie. Auf der einen Seite steht die echte Erkenntnis des Glaubens, 25 26

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W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschluss an Luther dargestellt, S. 7. A.a.O., S. 194: „Der Christ kann mit Gott nur verkehren, indem er sich ihm gänzlich unterwirft. Jede innere Regung, in der er Gott etwas anders geben wollte, als diese Anerkennung seiner Ehre, oder jede Art von Gleichstellung mit Gott muß dem Christen als eine Abkehr von seinem Gott gelten. Zu unserem Gott sind wir nur dann hindurchgedrungen, wenn wir uns in unserer Lebenstiefe von ihm abhängig wissen. Dann kann aber der Verkehr mit ihm nur darin besten, daß wir diese Abhängigkeit erleben." Siehe R. Saarinen, Gottes Wirken auf uns. Die transzendentale Deutung des Gegenwart-Christi-Motivs in der Lutherforschung, S. 64-85.

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

die eine selbst erlebte „Tatsache" voraussetzt („Erlebnis") und die sich einer Fixierung in unveränderlichen Lehrsätzen widersetzt. Auf der anderen Seite steht eine falsche und dogmatische Metaphysik.28 Auch bei der Hervorhebung Gottes als Liebe erweist sich Herrmann als Ritschis Schüler. Gott ist „eitel lauter Liebe", so zitiert er Luther in einer zentralen Passage in Der Verkehr des Christen mit Gott (S.194).29 Deswegen kann die Vergebung der Sünden auch nicht zum dominierenden Ausdruck für Luthers Theologie werden. Die Vergebung der Sünden muss im Verhältnis zu dem Bedeutungsfeld gesehen werden, an der sie Anteil hat.30 Dazu gehört unter anderem, dass das höchste Gut „die Erhebung in göttliches Leben, ein Leben in und mit Gott" (S. 258) ist. Dieser „Verkehr mit Gott" ist die positive Entfaltung des Heils. Die Gemeinschaft mit Gott verbindet das Verhältnis zu Gott mit dem Verhältnis zum Nächsten und zur Welt. Das im Erleben des Glaubens implizite Erleben der Abhängigkeit von Gott hat eine neue „Sittlichkeit" zur Folge. Doch um das Gottesverhältnis nicht mit der „Sittlichkeit" zu vermischen, unterscheidet Herrmann zwischen der Liebe, die sich Gott gegenüber bemerkbar macht und der, die sich in der Welt bemerkbar macht. Das geschieht durch die Bestimmung der Liebe zu Gott als „Freude", die sich zum Teil als Dank (S. 247) und als „freudige Hingabe" (S. 214) ausdrückt, aber auch Gottesfurcht sein kann. Herrmann gebraucht hier einen Begriff, der den Aspekt der Erwiderung aus dem 28

Siehe W. Herrmann: Die Metaphysik in der Theologie, S. 52: „Sobald aber in der Reformation die Heilsgewißheit des Christen gleichgesetzt wurde der durch Christus erlebbaren Freiheit in der Versöhnung mit Gott, mußten auch andere Anforderungen an die Christologie sich erheben. Das Streben, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, ist auch bei Luther unverkennbar. Trotz seines regellosen Zurückgreifens auf patristische Wendungen bricht bei ihm überall das Gefühl hervor, daß die alte Christologie mit ihrer äußerlichen Verknüpfung der innerlich geschiedenen Naturen dem evangelischen Glauben widerstrebt. Aber freilich konnte er das seiner Heilsgewißheit entsprechende Verlangen, in dem Menschen Jesus unmittelbar den ewigen Gott zu erkennen, in der Theorie ebendeshalb nicht zum Ausdruck bringen, weil auch er in den Formeln der Zweinaturenlehre hängenblieb, die unter dem Einfluß eines entgegengesetzten Interesses gebildet waren."

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Siehe auch W. Herrmann, Verkehr, S. 194f: „Die Aufgabe der gänzlichen Hingabe an Gott setzt ja doch offenbar die Gewißheit voraus, daß die Freude am persönlichen Leben, also die Liebe, kein untergeordnetes Moment in dem Leben Gottes ist, sondern vielmehr die Einheit seines Lebens und Wirkens ausmacht." A.a.O., S. 196f: „Sehr häufig haben die Reformatoren den Inhalt dieses Glaubens unvollständig ausgedrückt, indem sie nur die Gewißheit der Sündenvergebung hervorheben, wie ζ. B. in dem oben angeführten Satze der Apologie. Daß aber nach ihrer Meinung das Leben des Glaubens, das ein Leben mit Gott ist, weiter greift, kann man schon aus der Augsburgischen Konfession ersehen, wo gesagt wird, daß die Erkenntnis des gnädigen, die Sündenvergebung verleihenden Gottes in dem Vertrauen auf die Fürsorge und Vorsehung Gottes, also im Vertrauen auf seine Hilfe gegenüber der Welt sich fortsetzt."

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Dilemma der Selbstpreisgabe: Karl Holl

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Gottesverhältnis ausschließt, weil sich die Erwiderung an einem Ausgleich orientiert und sich damit gegen den Abschluss eines Verhältnisses hin ausrichtet.31 Für das für die Gemeinschaft notwendige Geben und Nehmen ist nur Platz in der wunderbaren Gemeinschaft mit Christus,32 aber auch dort ist die Gegenseitigkeit notwendig. Wenn Herrmann sich deshab nicht um die Textstellen kümmert, in denen Luther die natürliche irdische Liebe als ein Bild für die christliche Liebe zu Gott verwendet, wie dies etwa im Bild von der Hochzeit der Fall ist, so liegt das an der Sinnlichkeit, die mit dem erotischen Bild verbunden ist (S. 223ff.), und nicht daran, dass das Bild von der Hochzeit auf Reziprozität aufbaut. Hier setzt Herrmann die Pietismuskritik Ritschis fort (S. 225) und richtet sich dabei deutlich gegen das Bild vom „süßen Jesus" (S. 227f). Aus dem Glauben heraus fließt die Liebe. Dies ist Herrmann zufolge Luthers entscheidende Einsicht. Diese verhindert, dass die Liebe autonom wird, wie dies im Katholizismus der Fall ist (S. 264f). Wenn jedoch beschrieben werden soll, wie die Liebe aus dem Glauben fließt, drückt sich Luther zu unbestimmt aus. Deshalb ist eine Weiterbearbeitung von Luthers Gedanken notwendig (a.a.O.). Die Verbindung zu Ritsehl wird erneut deutlich. Die Reformatoren haben den Inhalt des Glaubens unvollständig entfaltet, weil sie nur die Glaubensgewissheit und die Vergebung der Sünden hervorgehoben haben, obwohl der Inhalt des Glaubens weitaus weiter geht, weil er ein Leben mit Gott und in Vertrauen zu Gott ist.33

E. Dilemma der Selbstpreisgabe: Karl Holl Gegenseitigkeit ist als Struktur keine eindeutige Größe, sondern wird von einer gewissen Ambivalenz begleitet. Die gleiche Gabe kann sowohl Herzlichkeit als auch Berechnung ausdrücken. In Karl Holls Aus31

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A.a.O., S. 247: „In der freudigen Zuwendung zu Gott besteht der rechte Dank. Auch menschlichen Personen danken wir noch nicht damit, daß wir ihnen die Wohltat zu vergelten suchen. Eine solche Vergeltung kann immer den Sinn haben, daß wir uns mit ihnen abfinden, also von ihnen loskommen wollen." A.a.O., S. 212: „Durch diesen Glauben sind wir in die wunderbare Gemeinschaft mit Christus getreten, durch die unsere Sünde etwas zu seiner Person Gehöriges wird, und seine Stellung zu Gott und zur Welt die unsere. Das Nehmen und Geben, worin die Gemeinschaft besteht, vollzieht sich in unserem Verständnis der Person Christi, d.h. in dem Glauben, den er in uns weckt, und wir auf ihn gründen." Herrmann fügt in einer Anmerkung hinzu: „Deshalb ist auch die Ehe nur ein geringes Abbild einer solchen Gemeinschaft" (Hervorheb. im Original gesperrt). A.a.O., S. 196f.

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Gemeinschaft u n d neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

einandersetzung mit dem eudämonistischem Religionsverständnis ist daher eine große Aufmerksamkeit für die mögliche Ambivalenz der Gegenseitigkeit in radikalisierter Form anzutreffen. Das Motiv des „Verkehrs" ist bei Holl in dem Sinne wiederzufinden, dass auch er die positive Entfaltung der Rechtfertigung an den Gedanken der Gemeinschaft knüpft. In der Gemeinschaft mit Gott ist der Christ in einen neuen Zustand versetzt, der als eine „Quelle sittlicher Kraft" erlebt wird. Diese Kraft zeigt sich im neuen Willen des Christen, der von der Freude und der Freiheit vom Selbst getragen ist. Ab der Vorlesung „Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewissheit" von 1910 wird die Kategorie der Gemeinschaft in Holls Entfaltung der lutherischen Rechtfertigungslehre zunehmend wichtiger,34 da die Beschäftigung mit Luthers Römerbriefvorlesung für Holl ein Problem in seiner eigenen Theologie löst. Bis dahin hat er vergebens nach einem radikal anti-eudämonistischen Verständnis von Heil gesucht.35 Eine Antwort auf diese Frage findet er in der Auslegung des Römerbriefs des jungen Luther. Holl teilt Friedrich Loofs und Johannes Fickers Auffassung, dass es die Heilsgewissheit ist, die die Unterscheidungslinie zwischen Luthers reformatorischer und seiner vorreformatorischen Theologie ausmacht. An der Stelle, an der Loofs und Ficker jedoch die Römerbriefvorlesung innerhalb der vorreformatorischen Schriften ansiedeln, behauptet Holl deren genuin reformatorischen Charakter. Dies geschieht auf dem Hintergrund einer Analyse der Heilsgewissheit, die nach Holl eine doppelte Bedeutung bei Luther hat: Zum einen gibt es die Gewissheit darüber, eine sittliche Vollendung erreichen zu können, zum andern gibt es die Gewissheit das ewige Leben zu gewinnen (S.134). Mit Holls anti-eudämonistischem

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K. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewissheit (1910), S. 249f: „Die Anerkennung des Menschen durch Gott ist nicht eine Bewertung, bei der Gott u n d Mensch sich fremd blieben, sondern die Begründung einer Gemeinschaft." Von 1921 an ist die Formulierung ausführlicher: siehe K. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewissheit (51927), S. 115: „Aber diese Anerkennung ist doch nicht nur eine Bewertung, bei der Gott u n d Mensch sich fremd blieben; sie begründet zugleich, das ist für Luther wesentlich, zwischen ihnen eine Gemeinschaft. Rechtfertigen ist daher auch soviel wie Annehmen oder Aufnehmen (suscipere, recipere, assumere, acceptare). Und zwar kommt es dabei, was wiederum beachtet sein will, zu einer vorbehaltlosen, völligen Gemeinschaft" (Hervorh. im Original gesperrt). Siehe H. Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance - Ursprünge, Aporien u n d Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910-1935), S. 115.

Dilemma der Selbstpreisgabe: Karl Holl

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Ausgangspunkt muss er ersteres behaupten.36 Deshalb fungiert die Vorstellung Luthers von einer resignatio ad infernum als ein wichtiger Angelpunkt.37 Die Gemeinschaft, die der Inhalt des Heils ist, ist deswegen weitaus mehr als nur eine Willensgemeinschaft. Nach der antieudämonistischen Reinigung des Gemeinschaftsgedankens bleibt nämlich nur die Willensgemeinschaft übrig, in der der Einzelne sich freiwillig selbst preisgeben und seine eigene eventuelle Höllenfahrt akzeptieren kann. Die wahre Sittlichkeit wird naturgemäß ein wichtigerer Begriff als das ewige Heil. Der Fokus wird auf das Erlebnis des Gewissens gelegt, in dem der Mensch sich selbst in gehorsamer Dankbarkeit preisgibt.38 Obwohl der Gemeinschaftsgedanke immer deutlicher positioniert wird, beinhaltet Holls Lutherlektüre eine Aporie, die er nicht zu überwinden vermag. Dies wird beispielsweise in dem späteren Artikel „Was verstand Luther unter Religion?" deutlich, in dem der Begriff der „Gabe" eine zentrale Rolle spielt. In Holls Interpretation kommt der Ablehnung der „Gabe" Gottes eine zentrale Funktion in Luthers Verständnis der Erbsünde zu. Die Erbsünde drückt vor allem das Ablehnen der „Gabe" Gottes durch den Menschen aus.39 Die „Gabe" und die damit verbundene Gemeinschaft wird dementsprechend bestimmend für seine Sichtweise von Luthers Auffassung des Charakters des christlichen Lebens, wie es in der Beschreibung des Religionsverständnisses Luthers zum Ausdruck kommt. Einerseits ist Religion „Erleiden, ganz Innerlichkeit, ein unbedingtes Vertrauen" und „ein demütiges Ausharren". Diese Seite hat Luther leidenschaftlich betont und sie bleibt bei ihm die wichtigste. Gleichzeitig aber gibt es in Luthers Glauben eine außerordentlich starke Triebkraft zum Handeln, zu einem Wirken für Gott, zur „Tätigkeit". 40 Die Selbstaufopferung, die in der ersten Komponente des Satzes steckt, beinhaltet für Holl zugleich einen starken Aspekt der Gemeinschaft, der sich im zweiten Teil der Aussage äußert.

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K. Holl, Rechtfertigungslehre (1927), S. 134: „Um es noch deutlicher zusagen, es handelt sich für Luther nicht bloß, ja nicht einmal in erster Linie um die Frage, ob die Rechtfertigungsgewißheit zur Gewißheit der künftigen Seligkeit führt, sondern vorher noch um die wichtigere, ob der Mensch Sicherheit darüber gewinnen kann, daß Gott ihn in sittlicher Hinsicht zum Ziel führen wird." A.a.O., S. 150: „Darin zeige sich erst die Gottesliebe in ihrer vollen Reinheit, daß man den Willen Gottes selbst darin bejahe, wenn er das eigene Glück vernichte." K. Holl, Was verstand Luther unter Religion?, S. 35ff. A.a.O., S. 90: „In der Stumpfheit und Verdrossenheit, die die Gabe nicht zu würdigen und dem Geber nicht dafür zu danken vermochte, erblickte er [sc. Luther] ein Stück der Erbsünde." A.a.O., S. 95.

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

Die geistlichen Güter sind ihrem Wesen nach Gemeinschaftsgüter. 41 Dies wird zu einem wichtigen Element in Holls Kirchenverständnis. Die Kirche kann nicht - wie nach katholischem Verständnis - nur als eine vor allem rechtliche Instanz verstanden werden. Sie muss ausgehend von dem Christen bestimmt werden, der in Verbindung mit Gott steht. Innerhalb der Kirche kann derjenige geistliche Austausch verwirklicht werden, der Luther auf dem Herzen lag.42 Als Konsequenz muss er deswegen zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche unterscheiden. Nur in letzterer wird die Sittlichkeitspraxis der göttlichen Gemeinschaft verwirklicht. 43 Durch seinen anti-eudämonistischen Ausgangspunkt entfaltet Holl einerseits diese Verwirklichung von einem kantianisch geprägten Pflichtbegriff, andererseits aus dem Gefühl heraus, Gottes Werkzeug zu sein.44 Die Kombination von jungem Luther und Holls ethischem Idealismus, auf der Vorstellung von einem realisierten Anti-Eudämonismus beruhend, bewirkt, dass der Aspekt der vivificatio dennoch überschattet wird von der mortificatio sui des Einzelnen. Der Gemeinschaftgedanke läuft bei Holl letztlich darauf hinaus, dass er wieder auf den Einzelnen zurückverweist, 45 weil die

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A.a.O., S. 96: „Die Gaben, die Gott ihm schenkt, Sündenvergebung und Gemeinschaft mit sich, gewährt er nicht nur ihm, sondern allen. Die geistlichen Güter sind ihrem Wesen nach Gemeinschaftsgüter. Sie haben die Art, daß sie die an ihnen Teilhabenden unter sich zusammenschließen und gerade in der gleichzeitigen Anteilnahme vieler nur wachsen."

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A.a.O., S. 98. „Kirche Christi konnte doch im Ernst bloß diejenige Gemeinschaft heißen, deren Glieder tatsächlich in der Verbindung mit Gott standen. Nur sie regierte Christus und nur sie vermochten auch unter sich den geistlichen Austausch zu verwirklichen, der Luther am Herzen lag."

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A.a.O., S. 101: „Damit setzte sich jenes lebendige Gemeinschaftsbewußtsein und das Hochgefühl über die empfangene Gnade in Schaffensfreude um. In dem Bau der ständig im Werden begriffenen unsichtbaren Kirche zeigte sich das Gotteswerk, zu dem jeder Christ mitberufen war. Wo eine äußere oder innere Bedrängnis bei einem Nebenmenschen, wo ein Mangel im religiösen und sittlichen Leben sich offenbarte, entstand jetzt eine Aufgabe. Dem, der sie wahrnahm, fiel die Pflicht zu, sie in seinem Teil zu erfüllen. Und wiederum jede Gabe, die einer besaß, fand hier das Feld, um sich auszuwirken. Luther verwendet die stärksten Ausdrücke, um die Herrlichkeit solchen Dienstes hervorzuheben. Jeder einzelne darf dem andern ein Christus, ja zuweilen wagt Luther, gestützt auf längst in diesem Sinn verwertete Bibelworte, selbst diese Kühnste - er darf ihm „Gott" werden. Er darf Größe zeigen, indem er wie Gott Geduld übt und vergibt, er darf Gaben spenden aus Gottes Reichtum, er darf sogar schaffen und Leben wecken, wie Gott es tut."

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K. Holl, Der Neubau der Sittlichkeit, S. 179-182. A.a.O., S. 152: „Er [sc. der Christ] bliebe auch dort mit Gott verbunden; verbunden gerade durch den Willensentschluß, mit dem er scheinbar seine Trennung von Gott bejahte. Ungesucht und ungewollt, ja fast wider seinen Willen, kommt Luther somit auch auf diesem Wege zu einer Heilsgewißheit. Wenigstens wenn man das Bewußtsein einer unlösbaren Gemeinschaft mit Gott als Heilsgewißheit gelten lässt."

Das Gebet als die Wirklichkeitsdimension der Rechtfertigung: Rudolf Hermann

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Selbstpreisgabe des Einzelnen nur schwer Garant für Gemeinschaft im eigentlichen Sinne sein kann.

F. Das Gebet als die Wirklichkeitsdimension der Rechtfertigung: Rudolf Hermann Obwohl Rudolf Hermann Wurzeln in der Lutherrenaissance hat, ist seine Theologie zugleich eine Auseinandersetzung mit deren stärksten Aporien.46 Wo Holl mit seiner Fokussierung auf das Gewissen die Erfahrung der Rechtfertigung als ein vorsprachliches Erlebnis deutet, ist es für Hermann entscheidend, die Unmöglichkeit einer vorsprachlichen Ebene zu betonen. Die Erfahrung der Rechtfertigung ist sprachlich und knüpft an das geoffenbarte Wort an. Im Versuch, eine Alternative zum Begriff „Erlebnis" zu finden, richtet er sein Interesse auf die Zeitlichkeit des Einzelnen und wird von dort ausgehend zu Luthers szmwZ-Begriff geführt. Hier findet Hermann den Schlüssel zum Verständnis Luthers und kann direkte Linien zu zentralen Aspekten von Luthers Theologie ziehen.47 Hermanns Konzentration einerseits auf Luthers simul, andererseits auf den Zeitbegriff, bedingt, dass die Dimension der Gemeinschaft in den Hintergrund rückt, und dass der Fokus auf den Einzelnen gerichtet wird. Die Neuschöpfung wird bei Hermann als Öffnung der Zeit des „Ich" auf Gottes Zeit hin verstanden. Das Gebet wird zu dem Ort, wo diese Offenheit am stärksten zum Ausdruck kommt. Die Konzentration auf das Gebet wird zum Schachzug, der die Aporien in Holls pointiert anti-eudämonistischem Heilsverständnis überwindet. Der Zusammenfall von Gewissheit und Ungewissheit, der bei Holl in der resignatio des Einzelnen zu verorten ist, ist bei Hermann im Gebet des Einzelnen anzutreffen, bei dem der Betende nur zu Christus aufsieht und sich damit für seine Zukunft öffnet. In diesem Augenblick ist das Heil gewiss. Sieht der Mensch dagegen auf sich selbst, so wird das Heil ungewiss.48 Die Orientierung des Gebets auf Christus hin nimmt die Zukunft vorweg. Deswegen gibt es bei Hermann auch keinen anderen Platz für die Heiligung des Christen und die profectio als allein das Gebet, eine Vorstellung, die er im folgenden Satz zusammenfasst: „Dem Gegenwart46 47 48

Dazu H. Assel, Aufbruch, S. 305-468. R. Hermann, Luthers These: Gerecht und Sünder zugleich, S. 7-9. A.a.O., S. 298: „Gewißheit um unsere Gerechtigkeit haben wir lediglich, wenn wir auf Gott in Christus sehen. Eben indem wir beten, sehen wir von uns ab und setzen auf uns nichts, sondern alles auf Christus. Auf uns zurückgesehen muß alles in Ungewißheit sich auflösen."

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

werden seiner (Christi) Zukunft dienen, das ist Fortschreiten" (S. 238). Fragt man deswegen nach der Wirklichkeitsdimension der Rechtfertigung, wird man bei Hermann wieder auf das Gebet verwiesen. Dieses macht sowohl die Wirklichkeitsgrundlage als auch die Wirklichkeitsgrenze der Rechtfertigung aus.49 Jede Art der Rede von der äußeren Verwirklichung der neuen Rechtfertigung ist deswegen prinzipiell ausgeschlossen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Hermann sich negativer Kategorien bedient, wenn er das neue Leben des Christen begrifflich entfalten muss. Das christliche Leben ist „Eifer, Mühe und Kampf." 50 Weil Hermanns Studie sich auf das rechte Verständnis vom „Ich" konzentriert, muss sich seine Beschreibung des Heils des „Ich" entsprechend um die Vernichtung des sündigen „Ichs" versammeln. Der positive Aspekt kann bei Hermann nur adäquat als Negation des Negativen ausgedrückt werden. Die Überwindung des Selbst ist „Wissen um das Nicht-Wissen des Ich um sich selbst." Dieses Wissen ist nur möglich im Empfang der Zusage. Strukturell gesehen liegt die positive Seite des Heils deshalb im Gespräch mit Gott. Das bedeutet die Betonung des Gemeinschaftsaspektes, den das Gespräch impliziert. Doch für eine positive Entfaltung des Lebens des Christen bleibt kein eigener Platz.

G. Die Grenze des Antisynergismus: Regin Prenter In Regin Prenters Habilitationsschrift Spiritus Creator aus dem Jahre 1944 ist die Inspiration durch Rudolf Hermann deutlich erkennbar. Prenter argumentiert mit Hilfe Hermanns gegen Karl Holl, dessen Lutherlektüre als „eine auf der Linie der Imitatio liegende, ethisierende Lutherinterpretation" charakterisiert wird. 51 Prenter kritisiert unter anderem Holl, weil er eine Aufspaltung der Einheit von Rechtfertigung und der realen Gegenwart Christi konstatiert. Damit ergibt sich das Hauptproblem, „das ,religiöse' Anliegen der Rechtfertigung und das ,ethische' Interesse der Heiligung miteinander zu versöhnen". Für 49

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R. Hermann, Rechtfertigung und Gebet, S. 66: „Bei der Rechtfertigung handelt es sich um Wirklichkeiten von der Art der Wirklichkeit, die im Gebet sich geltend macht. [...] Das Gebet bietet nicht allein die Wirklichkeitsgrundlage für die Rechtfertigung, es hat auch für die Rechtfertigung selbst wesentliche Bedeutung. Die Rechtfertigung ist nicht nur ohne das Gebet nicht zu verstehen, sie kommt auch allein durch das Gebet zustande." R. Hermann, Luthers These, S. 10: „ ,Gerecht und Sünder zugleich' ist eine Uberschrift über das Leben des Christen. Eben deshalb - letzten Endes wenigstens - ist das Leben des Christen Studium, labor und lucta, Eifer, Mühe und Kampf." Deutsche Ausgabe: R. Prenter, Spiritus Creator. Studien zu Luthers Theologie, S. 73.

Die Grenze des Antisynergismus: Regin Prenter

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Prenter ist es die reale Gegenwart Christi, die, durch den Heiligen Geist besänftigt, die Voraussetzung für die Imputation der Rechtfertigung ist, nicht die reale Verwandlung des Glaubenden (S. 44). Mit der Hervorhebung der realen Gegenwart Christi nimmt Prenter die spätere finnische Lutherforschung vorweg und kann in einem späteren Artikel herausarbeiten, dass der lutherische Rechtfertigungsgedanke mit der orthodoxen Theopoiesis-Lehre gemeinsame Intentionen hat.52 Prenters wichtigste Beiträge zum Verständnis der Notwendigkeit der Gegenseitigkeit sind in diesem Zusammenhang zum einen in seinen Vergleichen zwischen Luther und Bonhoeffer und zum andern in seiner Untersuchung des Begriffs der cooperatio zu finden. Die Behandlung von „Luthers Synergismus" fängt mit der Erkenntnis an, dass die Behauptung der vollständigen Passivität des Menschen keine garantierte Absicherung gegen die Werkgerechtigkeit darstellt. Radikaler Antisynergismus löst nicht das Problem des Synergismus. Denn die Null, das Nichts-Sein oder das Nichts-leisten-Wollen kann gerade als der notwendige Beitrag des Menschen zur Hervorbringung des Verdienstes angesehen werden, während die Gnade Gottes den göttlichen Beitrag darstelle.53

Die Behauptung von Gottes einseitiger Heilshandlung ergibt nach Prenter nur Sinn, wenn diese auch beinhaltet, was die vorliegende Untersuchung als einen Aspekt der Gegenseitigkeit definiert. Nach Prenter ist der Theologie des Wortes und des Kreuzes zu folgen. Der Satz „Gott offenbart sich im Kreuze Jesu Christi" ist deshalb nach Prenter notwendigerweise doppeldeutig. Er schließt zum einen eine worttheologische Pointe ein: „Die Liebe Gottes zu den Sündern ist diesen nur erkennbar in der Liebe, mit welcher der Sohn stellvertretend am Kreuz ihre Strafe trug", zum anderen eine kreuzestheologische: „Diese, uns allein am Kreuze Jesu Christi erkennbare Liebe Gottes wird von uns nur entgegengenommen, insofern wir willig unser eigenes Kreuz auf uns nehmen." 54 Die Entfaltung der Gegenseitigkeit geschieht jedoch nur unter dem Vorzeichen des Kreuzes, auch wenn hier deutlich nach einer Basis für eine positive Artikulation der Neuschöpfung durch die Rechtfertigung gesucht wird. Prenter setzt die Argumentationslinie fort, die er in Spiritus Creator begründete und die bereits dort um die Neuschöpfung des Menschen durch die Rechtfertigung kreist. Um der pietistischen Engführung zu begegnen, derer sich, wie er meint, Holl schuldig macht, unterscheidet 52 53 54

R. Prenter, Der Gott der Liebe ist. Das Verhältnis der Gotteslehre zur Christologie, S. 289. R. Prenter, Luthers „Synergismus"?, S. 224. R. Prenter, Bonhoeffer und der junge Luther, S. 37.

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

Prenter im Anschluss an Hermann die Heiligung von der „realen Frömmigkeit." 55 Holl macht Prenter zufolge den Fehler, dass er den bekehrten Menschen mit dem neuen Menschen verwechselt. Damit übersieht er, dass Heiligung im Verständnis Luthers einen ganzen und wirklichen Sünder voraussetzt und nicht einen, der kraft der zunehmenden realen Frömmigkeit nur teilweise sündigt (S. 225f). Das neue Leben des Christen in der Heiligung ist damit am besten mit Luthers incipere, hoc est semper a novo incipere aus der Römerbriefvorlesung auszurücken. Die Heiligung ist „das unaufhörliche Zurückkehren der fremden Gerechtigkeit", nicht der Zuwachs an realer Frömmigkeit (S. 89). Obwohl Prenter sein Verständnis modifiziert und später die Heiligung auch als Fortschritt des Christusglaubens verstehen kann,56 ist sein Verständnis doch stets an Hermanns Deutung des Fortschritts als Zeitbegriff gebunden.57

H. Einseitigkeit der Freiheit: Werner Eiert Werner Eiert sieht sich selbst als denjenigen an, der die Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium in die protestantische Theologie wieder einführt. Weder im 19. Jahrhundert noch in der dialektischen Theologie war man nach Eiert in der Lage, diesen Unterschied zu behaupten. Ritsehl und Herrmann kommen mit ihr zwar in Berührung, verbergen sie aber doch für eine ganze Generation. Für die dialektische Theologie, die sich - nach Schleiermacher - damit befasst, den Unterschied zwischen Gott und Mensch wieder aufzurichten, ist das Wesentliche, dass Gott spricht, nicht, was er sagt.58 Ein adäquates Verständnis findet Eiert nur bei Th. Harnack, deswegen finden sich bei Eiert auch so viele „harnack'sehe" Züge. Am auffälligsten ist hier die Hervorhebung von Gottes Zorn und seinem Gericht sowie die Vorliebe 55 56 57 58

R. Prenter, Spiritus Creator, S. 75-106. R. Prenter, Luthers Lehre von der Heiligung, S. 68. R. Prenter, Der barmherzige Richter. Iustitia dei passiva in Luthers Dictata super Psalterium 1513-1515, S. 149f. W. Eiert, Gesetz und Evangelium, S. 51: „Auch die dialektische Theologie war zunächst von Gesetz und Evangelium nicht interessiert. Sie erblickte ihre Aufgabe darin, die in der Theologie seit Schleiermacher verlorengegangene Distanz zwischen Gott und Menschen wiederherzustellen. In ihrer Sicht besteht diese Distanz im ontischen Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf, im noetischen zwischen göttlicher Offenbarung und menschlichem Vernehmen. Hierbei ist das Wesentliche der Offenbarung streng genommen nicht, was Gott redet, sondern daß er redet, nicht ivas der Mensch hört, sondern daß er hört. Der Unterschied von Gesetz und Evangelium ist dabei unerheblich, denn hier wie dort stehen sich göttliches Reden und menschliches Hören gegenüber."

Einseitigkeit der Freiheit: Werner Eiert

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für De servo arbitrio.59 In seiner Betonung des Unterschiedes zwischen Gesetz und Evangelium ist kein Platz für einen positiv verstandenen tertius usus legis als eigentlichem Gebrauch des Gesetzes, weder in einem von Melanchthon informierten Sinne noch im Sinne einer calvinistischen Deutung.60 Das Gesetz hat, was den Christen angeht, nur eine „negative" Funktion: Hier hat das Gesetz in der Predigt der Kirche wie im Leben ihrer Glieder seinen bleibenden notwendigen Ort. Es dient nicht dem Aufbau des neuen Menschen, sondern dem Abbau des alten. Es muß uns unablässig sagen, daß wir lügen, wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde. Es übt unablässig den usus proprius aus, weil es semper accusans ist und weil es niemals etwas anderes sein kann (S. 69).

Die Freiheit erfährt bei Eiert eine so starke Betonung, dass sie bei ihm den gleichen zentralen Platz einnimmt wie die Liebe bei Ritsehl und Herrmann. Das neue Leben ist „Ethos" unter Gottes Gnade und kann nur als Freiheit formuliert werden.61 Die Neuschöpfung des Evangeliums erweist sich damit als eine Überwindung desjenigen Freiheitsverlustes, den der Mensch als die absolute Bedrohung empfindet. Die Rechtfertigung ist Befreiung und gerade als Befreiung „Neuschöpfung der Lebendigkeit." 62 Die Konzentration auf den Freiheitsbegriff schließt aus, dass die Paränese ein positives Anliegen haben kann. Es gibt diesbezüglich nur das parakletische Gebot: „Lasst euch versöhnen mit Gott." 63 Anstelle der Paränese hat der Christ den Optimismus, der aus der Gewissheit erwächst, dass das Leben über den Tod hinausreicht (S. 72-77). Die positive Artikulation des christlichen Lebens kommt durch die Begriffe „Freiheit" und „Optimismus der Gewissheit" zum Ausdruck. Die Gegenseitigkeit, die sowohl bei Ritsehl wie bei Hermann anzutreffen war, ist durch die starke Betonung des Unterschiedes zwischen Gesetz und Evangelium zugunsten einer starken Hervorhebung der Einseitigkeit heruntergespielt. Das Gottesverhältnis des Menschen besteht darin, Gott die Ehre zu geben und ihn wirken zu lassen. Glauben bedeutet, sich versöhnen zu lassen (S. 48). Im Verhältnis zum Nächsten spielt die 59

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W. Eiert, Morphologie, S. 15-25, wo Eiert seinen Ausgangspunkt eben in De servo arbitrio nimmt, mehr spezifisch in der grausamen Begegnung mit dem verborgenen Gott. Siehe W. Eiert, Gesetz, S. 70-75. Vgl. W. Eiert, Das christliche Ethos. Hier unterscheidet Eiert zwischen einem „Ethos unter dem Gesetz" und einem „Ethos unter der Gnade". W. Eiert, Ethos, S. 304-313. Vgl. W. Eiert, Lehre. Dieses Buch ist in die folgenden drei Abschnitte eingeteilt: „Der Kampf mit Gott (Dogmatik I)", „Die Versöhnung (Dogmatik Π)" und „Die Freiheit (Ethik)". W. Eiert, Lehre, S. 47.70.

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

Feindesliebe eine entsprechend zentrale Rolle, weil auch diese eine betonte Einseitigkeit ausdrückt. Im Unterschied zu Holl macht Eiert jedoch aus dieser Einseitigkeit keine Tugend. Die Reziprozität ist nicht vollständig verschwunden. Glauben bedeutet vor allem Gott die Ehre zu geben. Entsprechend ist auch keine anti-eudämonistische Haltung zu finden. Ein solcher prinzipieller Anti-Eudämonismus ist mit dem reformatorischen pro me ausgeschlossen.64 Der Heilsegoismus und die damit verbundene Selbstreflexion ist nur möglich, weil der Inhalt des „Ichs" für den Christen nicht mehr der Christ selbst ist, sondern Christus (S. 62).

I. Theologia crucis: Walther von Loewenich Werner Elerts Widerstand gegen Spekulation und Systemdenken ist auch bei Walther von Loewenich wiederzufinden. Von Rudolf Ottos Begriff des „ganz Anderen" inspiriert, entfaltet er die theologia crucis als Grundprinzip der gesammten Theologie Luthers.65 Jede Form von Spekulation wird in Verlängerung der Heidelberger Thesen als theologia gloriae abgelehnt (S. 26).66 Von den Heidelberger Thesen zieht von Loewenich eine direkte Linie zu De servo arbitrio. Theologia crucis und deus absconditus gehören daher gedanklich zusammen, weil sie beide Gottes Freiheit verteidigen und an Gottes Verborgenheit festhalten (S. 33ff). Der Gott, der unter seinem Gegensatz verborgen ist, ist über jede Form von Berechnung erhaben.67 Ausgehend von einem solchen Gesichtspunkt könnte es sinnvoll sein, einen Versuch, implizite Reziprozitätsstrukturen aufzudecken, als Ausdruck eines tendenziell berechnenden Verfahrens abzufertigen. Die folgenden Ausführungen werden jedoch zeigen, dass diese Behauptung nur innerhalb eines reduzierten Ökonomiebegriffes Bestand hat. 64

65 66

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W. Eiert, Morphologie, S. 61: „Der ,Heilsegoismus', der dem Luthertum oft vorgeworfen wurde, ist also im Wesen des evangelischen Glaubens begründet. [...] Ohne Ichbezogenheit gibt es keinen evangelischen Glauben. [...] Die Freude über Christus, über seine Menschwerdung, Auferstehung, Himmelfahrt ist die eigentliche, jedenfalls die größte Freude, „die des Mensch herts kan empfinden" ([WA] 21,293,12; 496,12; 36,396,5). Und diese Freude hat wie jede andere ein egoistisches Motiv." W. von Loewenich, Luthers Theologia Crucis, 14. Siehe hierzu auch H. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, S. 25-30. Bei Th. Harnack kann man noch nicht entfaltete Ansätze dazu entdecken, so von Loewenich, Theologia crucis, S. 11, auf Th. Harnack, Luthers Theologie I, S. 41 verweisend. Von Loewenich, Theologia crucis, S. 53: „Der unter dem Gegensatz verborgene Gott, der Gott, der als der absolut Freie sich aller Berechnung entzieht, das ist der Gott der theologia crucis."

Theologia crucis: Walther von Loewenich

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Für von Loewenich kommt es in der Befreiung von der liberalen Theologie darauf an, die Eigenart der Theologie den anderen Geisteswissenschaften gegenüber zu behaupten (S. 9). Gleichzeitig versucht er, die reine Negationstheologie dadurch zu vermeiden, dass er hervorhebt, dass der Glaube eine doppelte, konstituierende inhaltliche Bestimmung erfährt, deren zwei Teile zusammenhängen, der Glaube und das Wort einerseits, der Glaube und Christus andererseits. 68 Gleichzeitig zeigt es sich, dass der Glaube weder vollständig negativ noch vollständig positiv bestimmt werden kann (S. 121). Von Loewenich thematisiert schließlich eine Glaubenserfahrung, die auf der einen Seite Ausdruck des neuen Lebens und deswegen wirkliche Erfahrung ist, auf der anderen Seite aber nicht empirisch ableitbar ist. Die theologia crucis zeigt an dieser Stelle ihre konsequent durchgehaltene Funktion als Erkenntnisprinzip. Das Baursche Modell offenbart sich hier in der dialektisch-theologischen Ausgabe: Es liegt ja im Sinn der theologia crucis, vor allem einmal zu sagen, was der Glaube nicht ist. Die theologia crucis könnte man wohl mit einem gewissen Recht theologia negativa nennen. Soll der Glaubensbegriff in der theologia crucis einen Platz haben, so muß vor allem einmal die Negation gehört werden, die in dem Wort Glaube liegt. [...] Aber wir mußten neben diese negative Bestimmung des Glaubensbegriffs eine positive stellen (S. 127). Der positive Begriff ist die existentielle Glaubenserfahrung selbst. Diejenige Instanz, die die negative und die positive Bestimmung zusammenhält, ist der Heilige Geist. Der Heilige Geist kann nach von Loewenich den Glauben sowohl auf der empirischen Ebene abgrenzen als auch zur gleichen Zeit den Wirklichkeitsanspruch der Glaubenserfahrung sichern. Die positive Bestimmung beruht jedoch zugleich in hohem Maße auf einem Negationsmodell. Die kommt in von Loewenichs Entfaltung der theologia crucis als einer scientia practica zum Ausdruck: Die Lehre von Kreuz, die den Gottes- und den Glaubensbegriff entscheidend bestimmt hat, wird nur verstanden in einem Leben unter dem Kreuz (S. 129). Deswegen hat der Glaube ein engeres Verhältnis zum Leiden als zu Taten (S. 130). Das Leben als Christ ist „Leidensnachfolge" 69 und concrucifigi Christo (S. 139), ein Umstand, der sich auf zweierlei Weise 68

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A.a.O., S. 113: „Der Glaube geht nicht darin auf, eine Negation zu sein, er lebt vielmehr von ganz bestimmten Inhalten. Die fides qua creditur ist bei Luther nicht denkbar ohne die fides quae creditur. [...] Dem Glauben kommt es nicht auf das ,Daß', sondern auch auf das ,Was' der Offenbarung an. Die inhaltliche Bestimmtheit ist für den Glaubensbegriff konstitutiv." Von Loewenich versucht an dieser Stelle die dialektische Theologie vor dieser Gefahr zu bewahren, die unter anderem auch Eiert darin lauern sah (Siehe Seite 36, Fußnote 58). A.a.O., S. 135-144.

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zeigt: im Inneren als mortificatio, im Äußeren als Feindschaft zur Welt. Die Entfaltung des christlichen Lebens erhält deswegen überwiegend retrospektiven Charakter: Es wird vor allem negativ entfaltet, und zwar als Kampf gegen den alten Menschen.

J. Neuschöpfung durch Selbsterkenntnis: Gerhard Ebeling Es ist nicht zuletzt von Loewenichs Studie zu verdanken, dass die theologia crucis ein Leitbegriff des Verständnisses der Theologie Luthers geworden ist. Bei Gerhard Ebeling sind somit die Ansätze des von Loewenichschen Buches wiederzufinden. In Ebelings Lutherlektüre wird - ausgehend von einem externen philosophischen Begriffsapparat - die radikale Neuschöpfung des Menschen zunächst als neues Selbstverständnis definiert.70 Die Luthersche Denkfigur, die für Ebeling dem Gedanken von der existentiellen Neuschöpfung entspricht, ist die Vorstellung der Änderung der coram-Relation des Menschen.71 Die Bindung an eine existenzphilosophische Terminologie und einen existenzphilosophischen Verständnishorizont bewirkt, dass die Rede vom Leben und vom Tod auf Kategorien der Existenz reduziert wird. In gleicher Weise ist die Vorstellung einer Progression von vorne herein ausgeschlossen. Alles, was anzutreffen ist, sind „zwei ausschließende Weisen des Existensverständnisses", wie es vom frühen Ebeling formuliert wird.72 Es gibt jedoch einen qualitativen Unterschied zwischen den beiden Wirklichkeiten, wie dies schon die sich gegenseitig ausschließenden Existenzverständnisse implizieren. Die umittelbar erfahrbare Wirklichkeit ist die faktische Wirklichkeit (esse rei). Die neue Wirklichkeit ist imputativ und eschatologisch. Sie ist vor allem an Gottes Gerichtswort gebunden.73 Dies wird für die Frage nach einer positiven Thematisierung des Lebens des Christen in der Welt bedeutsam. Der Unterschied zwischen dem Christen und dem Nichtchristen liegt in Ebelings Auslegung vor allem in der Unterscheidung zwischen Sünder 70

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G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, S. 189: „Das völlig andere, was Luther meint, wenn er vom Glauben spricht, kommt daran heraus, dass es sich primär und eigentlich nicht um eine Kraftzufuhr zum Menschsein hinzu handelt, sondern um ein radikales Neuwerden des Menschen, um Wiedergeburt, die das Sterben des Alten in sich schließt, um eine Änderung in bezug auf das Personsein selbst." A.a.O., S. 219-238. Siehe auch G. Ebeling, Luthers Wirklichkeitsverständnis, S. 416f. G. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, S. 203. G. Ebeling, Wirklichkeitsverständnis, S. 414: „,Gerechtigkeit' oder Ungerechtigkeit' ist nicht mit Philosophen und Juristen im Sinne einer qualitas animae als ein dinghafter Sachverhalt aufzufassen, vielmehr als ein Urteilsspruch Gottes, hängt deshalb stärker von der Imputation Seiten Gottes ab als vom esse rei."

Neuschöpfung durch Selbsterkenntnis: Gerhard Ebeling

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und Sünder, dem Sünder nämlich, der seine Sünde nicht erkennt und d e m Sünder, d e r dies tut (peccatores non sentientes u n d peccatores sentientes).74

Beim späten Ebeling sind zwar Aussagen anzutreffen, die scheinbar vom ursprünglich stark existential-hermeneutischen Ausgangspunkt abweichen. Der Gedankengang von der unio cum Christo ist deutlicher erkennbar als vorher. Das Gleiche geschieht mit dem „fröchlichen Wechsel", ein Gedanke, der nun in seinem Zusammenhang mit der Zweinaturenlehre entfaltet wird. 75 Diese Entfaltung zeigt jedoch, dass der ursprüngliche Ansatz bewahrt worden ist. Der „fröhliche Wechsel" ist an die Frage nach Identität und Selbstverständnis geknüpft. 76 Und obwohl Ebeling die unio cum C/zns to-Vorstellung hervorheben kann und im Zusammenhang damit Christus als die forma des Christen beschreibt77 - obwohl er selbst früher ausgeschlossen hat, dass Luther diesen aristotelischen Begriff gebrauchen könne 78 so wird durchgängig die vollkommene Externität der Gerechtigkeit als ausschließlich futurische Realität betont, die an Gottes Gerichtswort gebunden ist. Da Ebeling von seinem hermeneutischen Grundverständnis aus den Gegensatz von Leben und Tod als Ausdruck zweier gegensätzlicher Selbst- und Weltverständnisse denken muss, kann es zwischen dem Leben des Glaubenden und dem Leben des nicht Glaubenden keinen eigentlichen Unterschied geben. Beide leben letztlich in einer Offenheit auf die Zukunft hin. Der Unterschied besteht alleine in der Erfahrung dieser Offenheit - nicht im Vorgriff auf die eröffnete Zukunft. Der Unterschied zwischen „Sündersein" und „Gerechtfertigtwerden" ist außerhalb des Bereichs des Selbstverständnisses minimal. 79 74 75 76

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G. Ebeling, Lutherstudien Π/3, S. 428. G. Ebeling, Wirklichkeitsverständnis, S. 421. A.a.O., S. 173: „Der Tausch erstreckt sich vielmehr auf das Personsein selbst: Christus übernimmt und trägt, ja lebt geradezu die Person aller Sünder. Er identifiziert sich mit ihnen und lässt sie in ihm ihre Identität finden." G. Ebeling, Lutherstudien Π/3, S. 459. G. Ebeling, Lutherstudien I, S. 173: „Wenn man Luthers Verständnis der fides überhaupt mit dem aristotelischen forma-Begriff in Verbindung setzen wollte, müsste man von der fides als der forma caritatis sprechen. Aber schon das wäre verwirrend, weil in dem Relationsdenken, das Luthers fides-Begriff bestimmt, im Grunde kein Platz ist für die aristotelische Idee der forma." Zu dieser Beobachtung siehe S. Juntunen, Der Begriff des Nichts bei Luther in den Jahren von 1510 bis 1523, S. 14-19. G. Ebeling, Lutherstudien Π/2, S. 495f: „Das andere - die Unangemessenheit der Deutung auf lebensgeschichtliche Phasen - zeigt sich daran, daß der Mensch - fasse es, wer es fassen kann! - infolge der Erbsünde bereits als Sünder geboren wird und ein solcher bleibt, auch wenn er an Christus bleibt, wie umgekehrt der Nichtglaubende dennoch Adressat der Verheißung ist. So oder so erstreckt sich durch das ganze Leben das Ineinander von Sündersein und Bestimmtsein zur Rechtfertigung, von Gefangenschaft und Befreiungsgeschehen. Für den Nichtglaubenden bleibt bis

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

Die Neuschöpfung orientiert sich, bezogen auf die ständige Überwindung der sündigen Existenz, ausschließlich rückblickend. Eine selbständige Thematisierung des neuen Lebens kann nur durch die Negation des Alten ausgedrückt werden. Der eigentliche Inhalt der Rechtfertigung, die Zusagung der Vergebung der Sünden, ist annihilatio und creatio ex nihilo.80 In der Erkenntnis der Sünde wird eine neue Identität geschaffen. Das „Baur'sche Modell", das durch von Loewenich vermittelt eine dialektisch-theologische Gestalt bekommen hat, wird nun innerhalb existenztheologischer Rahmenbedingungen gestaltet.

K. Die Notwendigkeit der „Gabe": Oswald Bayer Oswald Bayer steht innerhalb der deutschen Lutherforschung in Opposition zu der Lutherrezeption, die sich, geprägt von der dialektischen Theologie, an das „Negationsprinzip" des „Baur'sehen Modells" gebunden hat. Das Buch Promissio hat deswegen aus einem übergeordneten Blickwinkel gesehen gewisse Ähnlichkeiten mit Ansätzen, die man später in der finnischen Lutherforschung antreffen kann. Bayer leugnet das Vorhandensein eines „Negationsprinzips" in Luthers Theologie nicht, verortet diese jedoch alleine in Luthers früher Phase. Luthers frühes Denken ist ein Denken auf der via negationis (S. 340). Seine Theologie setzt in dieser Phase auf die Dialektik zwischen Negation und Erfüllung (S. 123). Beim reiferen Luther ist dies nicht länger der Fall. Hier hat das Positive selbständige Bedeutung. Für Bayer kommt dieser Sachverhalt signifikant im promissio-Begriii zum Ausdruck, denn promissio drückt den „Gaben"-Charakter der Rechtfertigung aus. Im mündlichen Wort, in dem Christus selbst anwesend ist, gibt sich Gott selbst hin. Genau dies ist das Zentrum - und nicht Gottes verborgene Mitteilung im opus alienum (S. 304). Die Hervorhebung der Bedeutung der „Gabe" bringt mit sich, dass der positive Inhalt des Heils nicht dem Umschlag der Negation in Position entspringen kann: Diese theologiegeschichtliche und zugleich systematische Einsicht besagt inhaltlich, daß dem Gesetz - selbst in seiner schärfsten Zuspitzung - nicht das Evangelium erwächst, daß aus sich heraus der Tod nicht in Leben, das Kreuz nicht in Heil, das Sündenbekenntnis nicht in Sündenvergebung, die Bitte nicht in Erhörung, Not nicht in Errettung, radikale Fraglichkeit nicht in Gewissheit, die Negation nicht in die Position umschlägt. Wer als refor-

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zum Tode die Tür zur Rechtfertigung offen. Der Glauben aber überschreitet die Schwelle zwischen Gerechtfertigtwerden und Gerechtfertigtsein ebenfalls nicht früher als im Tode." G. Ebeling, Lutherstudien Π/3, S. 491.

Göttliche Teilhabe: Neuere finnische Lutherforschung

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matorischer Theologe dies freilich behaupten will (wie Gogarten), der wird die hier als „reformatorisch" beschriebene Wende nicht als solche anerkennen, damit aber sowohl den frühen Texten in ihrer Eigenart (indem er sie mit der Behauptung überlagert, dass sie „reformatorisch" seien) wie De captivitate Babylonica ecclesiae und Luthers späteren Rückblicken auf seine reformatorische Entdeckung, die durch das Stichwort „promissio" gekennzeichnet sind, nicht gerecht werden können (S. 344).

Wie Holl hebt Bayer die zentrale Bedeutung der „Gabe" und der Gemeinschaft für das Verständnis des Gottesverhältnisses in Luthers Theologie hervor, aber im Gegensatz zu Holl wird die Notwendigkeit einer positiven Bestimmung betont. Denn wenn dem Gottesverhältnis jede positive Bestimmung fehlt, bleibt faktisch allein die negative Selbsterkenntnis als Gottes- und zugleich als Weltverhältnis. Erschiene die Christuspromissio nicht oder nur als innerer Umschlag der Negation, dann wäre sowohl der Gottes- wie der Weltbezug allein als exinanitio der Existenz wahrgenommen (S. 350).

Das Evangelium ist wie promissio die Verkündigung Christi als „Gabe" für den Christen. Hier ist der positive Ausgangspunkt für das Verständnis des Christen anzusiedeln.81 Eben in dieser Hervorhebung der „Gabe" als zentralen theologischen Ausdruck ist mit einer gewissen Berechtigung von einem gemeinsamen Anliegen Bayers, Holls und der neueren finnischen Lutherforschung zu sprechen - allen bedeutenden Unterschieden zum Trotz.

L. Göttliche Teilhabe: Neuere finnische Lutherforschung Die neuere finnische Lutherforschung, die in den Fußstapfen von Tuomo Mannermaa wandelt, muss als dezidierte Auseinandersetzung mit einer großen Zahl von Haupttendenzen der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Vor allem richtet sich der Angriff zunächst teils gegen eine angebliche Melanchthonische Engführung der Lutherischen Rechtfertigungslehre, teils gegen ein bestimmtes Ritschl'sches Motiv in der Lutherforschung. Risto Saarinen hat diesbezüglich zu zeigen versucht, wie die Lutherforschung seit Albrecht Ritsehl die neukantianische Unterscheidung zwischen falscher Metaphysik und wahrer Erkenntnistheorie übernommen hat.82 Diese Unterscheidung, die Ritsehl selbst vor allem bei Hermann Lotze findet, prägt 81

82

O. Bayer, Wort, S. 39: „Denn das Evangelium ist nichts anderes als ,eyn predigt von den wohlthatten Christi und ertzeuget und zu eygen geben' [...] . In solchem Christus-wort teilt sich Gott selbst mit - als die Wahrheit und Macht, unverbrüchliche Gemeinschaft zu schaffen und auch durch den Tod hindurch durchzuhalten." R. Saarinen, Gottes Wirken.

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Gemeinschaft und neues Leben. Ein rezeptionsgeschichtlicher Überblick

den überwiegenden Teil der nachfolgenden Lutherforschung. Ritsehl selbst meint, Ansätze seiner grundlegenden Distinktion bei Luther selbst finden zu können.83 Die abgeleitete Unterscheidung zwischen „Sein" und „Wirkung" führt Saarinen zufolge mit sich, dass Ritsehl an einer adäquaten Auslegung der Aussagen gehindert wird, die eine reale Gegenwart Christi im Glaubenden zur Sprache bringen. Die Gegenwart Christi kann Ritsehl nur als Wirkungskategorie verstehen, nicht als Seinskategorie. Diese Alternative wird von der finnischen Lutherforschung abgelehnt. Der Gegenwart Christi kommt vielmehr eine strukturierende Position innerhalb der Theologie Luthers zu. Dies ermöglicht eine betont positive Thematisierung des Aspektes der Neuschöpfung als theosis. Geht man von der Vorstellung vom real anwesenden Christus im Glauben aus, kann man mit einem anderen Grad an Stringenz als zuvor von einem engen Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Heiligung, zwischen dem Forensischen und dem Effektiven, zwischen „Gerechterklärung" und „Gerechtmachung" reden. Dieser enge Zusammenhang ermöglicht ein Reden von der Vergöttlichung des Menschen, der der orthodoxen Lehre von der Theosis entgegensteht. Der Inhalt der Rechtfertigungslehre ist mit der Vergebung der Sünden nicht erschöpft. Bei der Vorstellung von der realen Gegenwart Christi benötigt die positive Entfaltung der Neuschöpfung des Christen nicht notwendigerweise den Umweg über die Negation. Wo Luther von annihilatio spricht, ist die Teilhabe am Sein Gottes immer positiv vorhanden. Die Begriff des Nichts bei Luther ist ein Ausdruck für die völlige ontologische Abhängigkeit des Menschen von Gott. 84 Obschon die neuere Lutherforschung teilweise auf einer scharfen Abrechnung mit den Einflüssen Ritschis fußt, so findet man in der Betonung der Liebe85 und in der Ablehung des Baur'sehen Modells zwei wesentliche Motive. Die positive Entfaltung gründet sich dabei nicht mit Notwendigkeit in der negativen Entfaltung, vielmehr ragt die positive Entfaltung als die Voraussetzung des Negativen hervor. So wird in der Deutung des Verhältnisses zwischen gratia und donum deutlich, dass die Vergebung der Sünde auf dem Hintergrund des im Glauben real anwesenden Christus geschieht, weil gratia und donum

83 84 85

A.a.O., S. 27-33. S. Juntunen: Der Begriff des Nichts, S. 405. A. Raunio, Summe des christlichen Lebens, S. 362: „Erstens wird gezeigt, daß die Liebe kein zweitrangiger Bestandteil in Luthers Theologie ist, sondern daß gerade die Verwirklichung der göttlichen Liebe sogar das entscheidende Anliegen seines Denkens ist."

Neuere deutsche Lutherstudien: Flogaus und Rieske-Braun

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von Christus selbst zusammengehalten werden.86 Damit eng zusammenhängend wird auch der Gedanke an die „Gabe" exponiert, zum Beispiel in der Vorstellung von einem dreifältig sich hingebenden Gott. Der trinitarische Gott offenbart sich als Liebe, indem er sich den Menschen gibt. Und das ganze dreifache Werk des trinitarischen Gottes ad extra hat zum Ziel, daß der glaubende Mensch Gott als Liebe erkennt und an ihm partizipiert.87

Obwohl die Metaphysikkritik Ritschis nicht wiederholt wird, wird hier wie bei Ritsehl das Verständnis von Gott als der Liebe von einer Hervorhebung der Dimension der Gemeinschaft begleitet. Diesen Zusammenhang behandelt auch Antti Raunio, der in verschiedenen Arbeiten über die Funktion der goldenen Regel in Luthers Theologie eine Dimension der Reziprozität in Luthers Denken zu integrieren vermag: „Through the gift of divine nature or love the Christian gives himself continually to God and to his neighbor." 88 Hiervon ausgehend kann Raunio direkt auf den Begriff der koinonia schließen: In this spiritual communion the requirement of natural law is fulfilled in its deepest sense, as giving oneself to the other. During this life such love does not become perfect. Its transforming presence has just begun its work. For this reason the communion of love is not an object of sense knowledge but an object of faith. As an object of faith it is an existing reality; it participates in self-giving and unites ever more with divine love. Thus, Luther's thinking on natural law and faith leads to the most discussed theme of ecumenical theology: the church as koinonia.89

M. Neuere deutsche Lutherstudien: Flogaus und Rieske-Braun In den letzten Jahren sind zwei deutsche Dissertationen erschienen, die zwar nicht schulbildend gewirkt haben oder typische Repräsentanten einer bestimmten Forschungsrichtung sind, aber doch Aufmerksamkeit verdienen. Reinhard Flogaus kritisiert einerseits verschiedene Aspekte der finnischen Lutherforschung in Theosis bei Palamas und Luther, übernimmt aber auch wichtige Pointen dieser. So lehnt er den Gedanken ab,

86 87 88 89

T. Mannermaa, In ipse fide Christus adest; S. Peura, Christ als Favor and Gift: The Challenge of Luther's Understanding of lustification. S. Peura, Das Sich-Geben Gottes, S. 140; ders., What God Gives Man Receives: Luther on Salvation. A. Raunio, Natural Law and Faith: The Forgotten Foundations of Ethics in Luther's Theology, S. 114. A.a.O., S. 122.

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dass die Rechtfertigung mit der Vermenschlichung des Menschen gleichbedeutend sei und damit in einer prinzipiellen Opposition zu jeder Rede von der Vergöttlichung des Menschen stehen müsse, wie dies in einem großen Teil der deutschen Lutherrezeption nach dem zweiten Weltkrieg behauptet worden ist, Eberhard Jüngel und Ernst Wolf wären hier als wesentliche Repräsentanten zu nennen. 90 Damit erkennt er den finnischen Angriff auf ein all zu einseitiges forensisches Verständnis der Rechtfertigung an und behauptet auch die Notwendigkeit ontologischer Aussagen. Der Wechsel zwischen Mensch und Gott ist zwar für Luther ein ontologischer Wechsel, ein Austauschen der Substanz und nicht ein bloßer Effekt, eine transzendentale Wirkung, doch die jeweilige quidditas lässt er in der Tat unberührt (S. 333). Ein entscheidender Unterschied zwischen Flogaus und der finnischen Lutherforschung besteht jedoch im Verständnis der ontologischen Dimension. Flogaus akzeptiert den Sturmlauf gegen die relationale Ontotogie nicht, die, wie er festhält, den Rahmen der Entfaltung der ontologischen Dimension ausmacht. Bei Luther geschieht eine „Gleichsetzung der Substanz mit der extrinsezistischen Qualität." Das ist für Luther das punctum saliens. Die partizipierte substantia Dei ist eben substantia fidei, also das, worauf sich der Glaube gründet. Der Glaubende partizipiert Flogaus zufolge deswegen nur an den Gütern Gottes, nicht an der Substanz Gottes (S. 334f). In Verlängerung der Ebeling-Tradition unterscheidet er deswegen zwischen Rechtfertigung als ontologischer Begebenheit und der Existenz des Menschen als Sünder im Sinne einer „Realität". Die Vergöttlichung kann auf dieser Seite ihrer endlichen Realisierung nicht von der Erniedrigung unterschieden werden. Die finnischen Lutherforscher schweben deswegen seiner Meinung nach in der Gefahr, die Heiligung zu stark zu exponieren. Die Vergöttlichung des Menschen ist nichts anderes als die Rechtfertigung des Menschen in ihrer ganzen eschatologischen Spannweite und ist gleichzeitig mit dem Kreuz eng verbunden (S. 352). Auch in Uwe Riske-Brauns Untersuchung von Luthers Verwendung des duellum mirabile-Motivs wird das Vorhandensein eines positiven Tons in Luthers Theologie untermauert. 91 Hinweise auf ein duellum mirabile sind in Luthers Schriften bereits von Anfang an anzutreffen, allerdings ohne große Bedeutung zu erlangen. Diese bekommen sie jedoch in dem Moment, wo die letzten Reste synergistisch geprägter Formulierungen verschwinden. Dies ist das erste Mal in der Hebräer90 91

R. Flogaus, Theosis bei Palamas und Luther. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, S. 15. U. Rieske-Braun, Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Luthers Theologie.

Neuere deutsche Lutherstudien: Flogaus und Rieske-Braun

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briefvorlesung der Fall, in der die Christologie nun durch ein Verständnis Christi teils als sacramentum, teils als exemplum Gestalt gewinnt (S. 141). Das Motiv des Kampfes kann Luther nun dazu gebrauchen, den „Gaben"-Charakter der Rechtfertigung zu unterstreichen - in Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen zmzMzo-Christologie, die ja noch in der Römerbriefvorlesung Luthers Terminologie prägt (S. 136). Im Gleichklang mit dem verstärkten Gebrauch des Motivs des Kampfes wird auch die positive Dimension in Luthers Theologie deutlicher. Auf diesem Hintergrund meint Rieske-Braun, dass es notwendig sei, von Loewenichs klassische Bestimmung der Theologie Luthers zu modifizieren. Luthers Theologie ist eine theologia simul crucis et resurrectionis.92 Das Motiv des Kampfes hängt eng mit der Vorstellung vom „fröhlichen Wechsel" zusammen, was dazu führt, dass gerade das Kampfmotiv hilfreich für ein positives Verständnis des Menschen sein kann. Das positive Verständnis hängt zwar eng mit der Konzentration auf die Vergebung der Sünden zusammen, behält aber ihr gegenüber einen Überschuss bei. Dieser Überschuss ist an Christi siegreichen Kampf gegen die Mächte des Verderbens gebunden und kann beispielsweise in Verbindung mit der Auseinandersetzung mit den Schwärmern aktiviert werden. Obwohl Rieske-Braun Luthers positive Entfaltung des christlichen Seins nicht in das Zentrum seines Interesses stellt, verweist er auf die signifikante Konsequenz des Zusammenhangs des Kampfmotivs mit dem des „fröhlichen Wechsels" und der Zweinaturenlehre. Der Glaube muss nicht ohne Werke bleiben. Die divinitas, an der der Christ im Glauben Anteil hat, zeigt sich im Handeln des Christen efficax in humanitate (S. 211). Sowohl bei Flogaus als auch bei RieskeBraun werden die positiven Aussagen über den Christenmenschen letztendlich von der Vorstellung des „fröhlichen Wechsels" getragen. Diesem muss aufgrund der ihm als Bild eingeschriebenen Gegenseitigkeit in dieser Untersuchung besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. 92

A.a.O., S. 258f: „Im Licht des Kampfmotivs ist sie [i.e. die Theologie Luthers] zweifellos eine ,theologia simul crucis et resurrectionis', sofern sich mit ihm der fidelen christlichen Erfahrung sub specie contratria verwirrenden und bedrückenden Selbstund Welterlebens eine eschatologische Vorabschattung himmlischer Freude offenbart."

III. Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität A. Die Ambivalenz der Reziprozität Reziprozität ist als Begriff in sich selbst wertneutral und macht die strukturelle Basis für sowohl positive wie auch negative Relationen aus. Die Bindung der Reziprozität an faktische Austauschverhältnisse bedeutet, dass sie, statt als neutral angesehen zu werden, oft für denjenigen als ambivalente Größe in den Blick kommt, der an ihr teilhat. Ein Modell, das die „Gegengabe" als einen unumgänglichen Teil der „Gabe" ansieht, bedroht den sozial sensiblen und notwendigen Abstand zwischen konkretem Austausch der „Gaben" und seiner objektiven Repräsentation, der sicherstellt, dass „Gaben" ohne bewusste Berechnung gegeben werden können.1 Diese Ambivalenz ist auch in Luthers Theologie anzutreffen. Auf der einen Seite hat das reziproke Modell den Anschein, menschliche Werke notwendig zu machen, wenn es mit der Rechtfertigungslehre verbunden wird. Auf der anderen Seite kann - wenn man den engen Zusammenhang zwischen Gemeinschaft und Gegenseitigkeit akzeptiert - die Wiederherstellung des gebrochenen Verhältnisses zu Gott schwer thematisiert werden, ohne eben die notwendige Gegenseitigkeit der Gemeinschaft in Rechnung zu stellen. Die Entfaltung derselben in Luthers früher Theologie kann angesichts dessen als der Versuch gesehen werden, die negative Bedeutung der Reziprozität zu vermeiden ohne ihre positive zu unterschlagen.2 Die frühen Versuche fallen deswegen als Verständnishintergrund für die spätere vollständige Integration des Gegenseitigkeitsmodells ins Gewicht, die den eigentlichen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellt.

1 2

Siehe Kap. I, Seite 13ff. Diese Ambivalenz im Rechtfertigungsbegriff ist mit einer entsprechenden möglichen Ambivalenz im Begriff der Gnade verbunden; siehe dazu J. Pitt-Rivers, Postscript, S. 218: „by, [...], stressing the gratuitous nature of the gesture by denying that any obligation has been incurred, it not only maintains the purity of the motives of the gratifier, it maintains his moral supremacy, which is not to be modified simply by verbal thanks but leaves him a creditor, should the occasion ever arise where a more serious return of grace is possible."

Die Ambivalenz der Reziprozität

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Die verschiedenen mehr oder minder geeigneten Lösungen des Problems können mit Gewinn einerseits ausgehend von Luthers Bild der Ehe, andererseits ausgehend von zwei juristischen Begriffen betrachtet werden: der traditionellen Definition von Gerechtigkeit im Sinne eines suum cuique tribuere und der cessio bonorum, der freiwilligen Abtretung von Eigentum. 3

1. Cessio bonorum Die Vorstellung vom freiwilligen Verzicht, cessio bonorum, begegnet bei Luther das erste Mal in der Römerbriefvorlesung. Darin soll dieser juristische Begriff illustrieren, wie der Mensch, der sowohl Gott gegenüber als auch als Geschöpf selbst Schuldner ist, Gott gegenüber Genüge tut: nämlich, indem er auf das Geschaffene verzichtet, sich selbst aufgibt, frei und willig in den Tod und das Nichts eingeht und sich sponte als Verdammter anerkennt. Indem er sich somit nicht des Geringsten würdig erkennt, hat der sündige Mensch bereits Genüge getan und ist gerecht. 4 Dieser Gebrauch des juristischen Ausdrucks cessio bonorum muss vom traditionellen Gerechtigkeitsbegriff aus verstanden werden, der die Gerechtigkeit als reddere unicuique, quod suum est versteht - jedem möge das Seine gegeben werden. 5 Luthers Verwendung des cessio 3

Damit danke ich Prof. Dr. theol. Steffen Kjeldgaard-Pedersen für seine Hinweise auf eine Reihe notwendiger Präzisierungen, vor allem bezüglich Luthers Gebrauch des Begriffs der cessio bonorum, dargestellt im Artikel „Socialantropologisk prokrustesseng?" [Sozialanthropologisches Prokrustesbett?]. Siehe auch B. Holm, Afkaldets begraensning [Die Begrenzung des Verzichts].

4

W A 56,419,2-15: „Quod autem iustitia Philosophi ita dispertitur in distributivam et c o m m u t a t i v a m , deinde et generalem, venit ex cecitate mentis seu ex h u m a n a sapientia in temporalibus tantum intenta s e c u n d u m rationem tractandis, sc. ubi potest fieri, ut aliquis nulli, alius paucis, alius multis debeat et c o m m u n i c e t . V e r u m in iustitia Dei h o m o nulli non debet, quia ,factus est o m n i u m reus'. Offenso enim creatori debet gloriam et innocentiam suam, creature vero b o n u m u s u m et c o o p e r a t i o n e m servitutis Dei. Ideo non solvit, nisi iis o m n i b u s subiectus humiliet se in n o v i s s i m u m locum, nihil sibi in o m n i b u s querens. Sicut iuriste dicunt: ,Qui cedit omnibus bonis, satisfecit'; ita qui cedit Deo creaturis, etiam seipso et libens ac volens it in nihilum et m o r t e m ac d a m n a t i o n e m sponte confitens nec d i g n u m sese arbitrans aliquid h o r u m sese participare, hie sane Deo satisfecit et iustus est. Quia nihil retinuit sibi, omnia cessit D e o et creaturis."

5

Die scholastische Definition von Gerechtigkeit hat ihre W u r z e l n unter a n d e r e m bei Aristoteles, Rhetorica, A 1366 b 7: „εστί δέ δικαιοσύνη μέυ δΓ ηυ τα αϋτώυ έκαστοι εχουσι, κα! ώ ϊ ό νόμο?." Diese erhält ihre klassisch g e w o r d e n e Form bei C i c e r o , D e I n v e n t i o n e , 11,53,160: „Iustitia est habitus animi, c o m m u n i utilitate c o n s e r v a t a , s u u m c u i q u e tribuens d i g n i t a t e m " und ist in D o m i t i u s U1p i a n s F o r m u l i e r u n g in C o r p u s iuris civilis zu f i n d e n : Iustitiani d i g e s t o r u m seu p a n d e c t a r u m , D. 1,1,10: "Iustitia est constans et perpetua voluntas ius s u u m

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Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität

bonorum-Gedankens als Bild der Glaubensgerechtigkeit ist ein Versuch, diesen Gerechtigkeitsbegriff von innen heraus umzuformen, damit Gottes erlösende Gerechtigkeit als Gegenteil der irdischen Gerechtigkeit ausgedrückt werden kann. Obwohl die annihilatio des Menschen bereits in den Dictata super psalterium als eine komplementäre Seite der Agape-Liebe Gottes gestaltet worden ist, wie sie von Sammeli Juntunen in Der Begriff des Nichts bei Luther gezeigt ist,6 so bezeugt der Gebrauch der cessio bonorum in der Römerbriefvorlesung die Schwierigkeiten des frühen Luthers damit, missverständliche Formulierung zu vermeiden, die darauf hinauslaufen könnten, dass die Selbsterniedrigung des Menschen heilsrelevant sein könnte.7 Diese Schwierigkeiten sind eng verbunden mit der Ambivalenz der Reziprozität und mit dem Verständnis des Austauschverhältnisses zwischen Gott und Mensch und können in der Frage nach dem Charakter der für die Gemeinschaft notwendigen „Gabe" des Menschen für Gott zugespitzt werden. Wenn Luther der Ansicht ist, das juristische Raisonnement des cessio bonorum-Begriiis nutzen zu können, so verdankt sich dies der Tatsache, dass dieser primär auf den Verzicht und nicht auf eine eventuelle Äquivalenz der Güter mit dem Guthaben des Kreditors basiert. Cessio bonorum leistet damit im juristischen Sinne keine eigentliche Satisfaktion,8 was jedoch aus dem Gebrauch in der Römerbriefvorlesung nicht explizit hervorgeht.

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cuique tribuendi". Durch Macrobius, Commentarius in somnium Scipionis, 1,8: „Iustitiae est servare unicuique suum" wird die Definition an die mittelalterlichen Theologen weitervermittelt und ist beispielsweise anzutreffen bei Petrus Lombardus, Glossa psalterii Dauid, MPL 191,1014. Siehe hierzu A. McGrath, Luther's Theology of the Cross. Martin Luther's Theological Breakthrough, S. 136-141; E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, S. 48-52. S. Juntunen, Nichts, S. 244: „Luthers Äußerungen über die annihilatio mit ihrer Betonung der Demütigung des Menschen bis hin zum Selbsthaß mögen düster klingen. Der Gedankengang jedoch, der hier im Hintergrund steht, hat allerdings einen Unterton, der die bedingungslose Gnade Gottes, seine Agape-Liebe, sehr stark zum Klingen bringt." Zur Diskussion der in der Lutherforschung oft berührten Frage nach der Entwicklung der Theologie des jungen Luther siehe U. Rieske-Braun, Duellum mirabile, S. 131. Zu Luthers Gebrauch des duelleum mirabile-Motivs in der Römerbriefvorlesung konstatiert Rieske-Braun: „Doch bleibt neben der mere passive empfangenden fides noch ein Rest jener als heilsrelevant erachteten menschlichen dispositio bestehen: Die gegen den sich stets neu einstellenden affectus gloriae durchzuhaltende humilitas bleibt ihrerseits eine mental affektuale Verfassung, die erst für den Empfang der iustitia aliena empfänglich werden lässt." Siehe die Anmerkung zu WA 56,419,11: „Nicht eigentlich eine satisfactio wird mit der cessio vollzogen, der Cedent ist nur ζ. B. von Schuldhaft befreit." Cessio bonorum löst damit nicht notwendigerweise die Schuldverpflichtung ein, sondern beschützt lediglich den Schuldner vor dem Schuldgefängnis. Siehe auch Corpus Iuris Civilis,

Die Ambivalenz der Reziprozität

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2. Sermo Die S. Andreae Im Sermo Die S. Andreae von 1516 führt Luther seine Versuche weiter, teils, indem er seine Rechtfertigungslehre in der Verlängerung des traditionellen Rechtfertigungsbegriffes entfaltet, teils, indem er die Ambivalenz zu umgehen versucht, die sich am reziproken Anteil dieses Gerechtigkeitsbegriffs festmachen lässt.9 Die Glaubensgerechtigkeit löst keine Schuld ein, sondern leistet dagegen Verzicht auf alle Güter und bezahlt niemandem irgendetwas. Deshalb ist die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, verwunderlich, denn sie gibt nicht alles zurück, was sie schuldet, sondern erlässt alles und leistet Verzicht auf alle Güter. Wenn wir nämlich alle alles zurückgeben müssten, könnten wir Gott nicht einmal für eine Stunde des Lebens Genüge tun.10

Die Fokussierung auf den Verzicht, der in Kraft des Evangelientextes (Mt 4,20) den ganzen Sermon prägt, begegnet bereits in der Römerbriefvorlesung. Allerdings mit dem Unterschied, dass im Sermon eher von der Befreiung des Debitors von Schande die Rede ist, die den Gebrauch des Begriffs bestimmt, als von der Abtretung von Eigentum als Satisfaktionsmöglichkeit. Vergleicht man das oben angeführte Zitat, in dem die Eingliederung des Schuldners negativ als Freistellung von der Strafe definiert ist, mit der Vorrede zum Römerbrief von 1522, ist der Unterschied kaum zu übersehen. Wo Luther im Sermo Die S. Andreae die Metapher der Zurückzahlung ablehnt, kann er in der Römerbriefvorlesung den traditionellen Gerechtigkeitsbegriff positiv nutzen, und zwar in der Aussage, dass die Gerechtigkeit als „Gabe" Gottes den Menschen in die Lage versetzt, jedem zu geben, was er schuldig ist, sodass sowohl Gott als auch dem Nächsten zurückbezahlt werden kann Denn durch den glawben / wirt der mensch on sund / und gewynnet lyst zu Gottis gepotten / damit gibt er Gott seyn ehre und betzalet yhn / was er yhm schuldig ist. Aber den menschen dienet er williglich / wo mit er kan / vnd betzalet da mit auch yderman (StA 1,395,7-12).

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Cod. VII tit. 71,1: „Qui bonis cesserint, nisi solidum creditor receperit, non sint liberati. in eo enim tantum hoc beneficium eius prodest, ne iudicati detrahantur in carcerem."; vgl. ferner Degest. XLII, tit. 3. Sermo Die S. Andreae ist in Ernst Löschers Sammlung anzutreffen, die zugleich die einzige Quelle darstellt, da dessen Vorlage verlorengegangen ist. Selbst wenn es deswegen unmöglich ist, nachzuweisen, dass diese auch wirklich von Luther ist, so wird dies allgemein angenommen; siehe I. K. F. Knaakes Vorwort, WA l,18f. WA 1,102,15-18: „Ideo mira est iustitia quae est ex fide, quia non reddit omnibus debita, sed relinquit omnia et cedit omnibus bonis. Si enim omnibus omnia reddere debemus, Deo nec pro unius horae vita satisfacere possemus."

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Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität

Während Luther im Sermon von 1516 am Rande einer eigentlichen Zurückweisung der traditionellen Gerechtigkeitsdefinition balanciert, scheint diese in der Vorrede von 1522 vollständig integriert zu sein. Diese Veränderung ist direkt verbunden mit den inhaltlichen Voraussetzungen einer positiven Entfaltung des Lebens des Christen. In der Galaterbriefvorlesung von 1516/17 ist eine Formulierung zu finden, die an das oben angeführte Zitat aus dem Set. Andreas-Sermon erinnert, aber explizit in Verbindung mit dem traditionellen Gerechtigkeitsbegriff gebracht ist. Wunderbar und neu ist das Verständnis der Gerechtigkeit, die gewöhnlich auf die folgende Weise beschrieben wird: „Gerechtigkeit ist die Tugend, jedem zu geben, was das Seine ist." Das sagt in Wahrheit: „Gerechtigkeit ist Glaube an Jesus Christus."11

Wie Ernst Bizer hervorgehoben hat, ist es nicht die Definition von Gerechtigkeit, die Luthers Problem ist, sondern vielmehr wie die Glaubensgerechtigkeit im Verhältnis zu ihr verstanden werden kann.12 Wie im Set. Andreas-Sermon, so geschieht dies in der Galaterbriefvorlesung unter Zuhilfenahme des juristischen Begriffs der cessio bonorum: „Qui cedit omnibus suis bonis, nulli debet et omnibus satisfecit" ( W A 57 G,70,2).

Die Hauptpointe daran ist, dass derjenige, der durch den Glauben gerecht ist, nicht jedem ex seipso entspricht, sondern ex alio, das heißt durch Christus, der allein gerecht ist. Beim Versuch, die Glaubensgerechtigkeit in Verlängerung zum klassischen Gerechtigkeitsbegriff auszudrücken, greift Luther auf den Begriff cessio bonorum zurück, der sich ja gerade am Rande des suum cuique-Gedankens bewegt. Die cessio bonorum nimmt den Schuldner aus dem allgemeinen Austauschwesen der Gesellschaft heraus. Der Debitor bezahlt niemandem etwas, sondern vermeidet durch den Verzicht auf sein Eigentum allein die Schuldstrafe 11

12

WA 57 G,69,15-17: „Mira et nova diffinitio iustice, cum usitate sie describatur: ,Iusticia est virtus reddens unicuique, quod suum est.' Hie vero dicit: ,Iustitia est fides Ihesu Christi'." Der Zeitpunkt, an dem die Vorlesungen abgehalten wurden, kann mit großer Sicherheit benannt werden. Die erste Vorlesung fand am 26. Oktober 1516 statt, die letzte am 13. März 1517. Da der Sermo Die S. Andreae wahrscheinlich am 30. November 1516 gehalten wurde, weist alles darauf hin, dass sie im Großen und Ganzen gleichzeitig verfasst wurden. E. Bizer, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit durch Martin Luther, S. 150f: „Aber charakteristischerweise ist nun Luthers Problem nicht, warum der Glaube als Gerechtigkeit bezeichnet werden könne, sondern ihn beschäftigt die Frage, wie die Glaubensgerechtigkeit mit dieser hergebrachten und von ihm als richtig angenommenen und nicht bestrittenen Definition in Einklang gebracht werden könne. [...] Das Auffallende dabei ist, dass Luther an der überkommenden Definition keine Kritik übt, sondern versucht, das, was er von Christus weiß, auf diese Definition anzuwenden."

Die Ambivalenz der Reziprozität

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und rettet sich vor der Schande, indem er einen letztlich bescheideneren Platz innerhalb der gesellschaftlichen Reziprozitätsverhältnisse behält. Die weiter bestehende Möglichkeit einer Teilnahme am sozialen Leben ist jedoch bedingt durch eine Dispensierung von der allgemeinen Gesellschaftsordnung. Denn diese setzt für jedes faktische Eigentum voraus, dass es unter bestimmten Voraussetzungen mit jeder Forderung vonseiten des Kreditors äquivalieren kann. Am Ende vom Sermo Die S. Andreae treffen wir auf Luthers ersten Gebrauch des Bildes von der Ehe. Wenn Luthers Problem als Frage nach der Integration der Gegenseitigkeit in ein Erlösungsmodell wiedergegeben werden kann, in dem Gottes unilaterales Geben als konstitutives Element eingeht, so ergibt der Gebrauch des Bildes von der Ehe eine Möglichkeit der Integration der notwendigen Gegenseitigkeit. Die Metapher von der Ehe enthält ein bedeutendes Maß an Gegenseitigkeit. Die Präsenz der Metapher am Ende des Sermo Die S. Andreae verdankt sich der Vorstellung der gegenseitigen Selbsthingabe, die vom Kreuz ausgehend im Sermon entfaltet wird. Luther bemerkt in der Einleitung, dass die Schlußfolgerung, zu der die Predigt vorstößt, sowohl zu den Texten des Tages passt, wie zu der Legende, die sich um den Heiligen Andreas und seiner Liebe zum Kreuz rankt. Es ist die Konzentration auf Kreuz und Verzicht, die Grundlage für die Zurückweisung der Terminologie des Zurückbezahlens ist, wie es gleichermaßen der reziproke Aspekt des traditionellen Verständnisses von Gerechtigkeit als reddens unicuique, quod suum est, ist, der ausmacht, dass dieser nicht ohne weiteres übernommen werden kann. Die Vorstellung von Gütern bindet den Menschen an sein Eigeninteresse. Es ist von hier aus nicht weit bis zu der in der Römerbriefvorlesung präsenten Vorstellung von der dem Christen notwendigen resignatio ad infernum, die besagt, dass der Christ wie Christus am Kreuz sich selbst preisgeben muss und bereit dazu ist, in die Hölle geschickt zu werden, wenn Gott dies wollen sollte.13 Es ist nicht zufällig, dass es der Luther der Römerbriefvorlesung ist, bei dem der „Vater" der Lutherexegese, Karl Holl, die Antwort auf sein eigenes Suchen nach einem anti-eudämonistischen Religionsverständnis findet.14 Im Sermo Die S. Andreae betrifft der Verzicht vor allem zeitliche Güter, 13

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WA 56,393,24-26: „Ideo oportet fugere bona et assumere mala. Et hoc ipsum non voce tantum et ficto corde, Sed pleno affectu confiteri et optare, nos perdi et damnari." - 391,33f: „Vbi tanem non fit purgatio, nisi fiat ad infernum resignatio." - 392,79: „Nam et Christus plus quam omnes sancti damnatus est et derelictus. Et non, Vt aliqui imaginantur, facile fuit passus. Quod realiter et vere se in §ternam damnationem obtulit Deo patri pro nobis." Κ. Holl, Rechtfertigungslehre (1910). Siehe hierzu H. Assel, Der andere Aufbruch, S. 81-111.

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Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität

obschon auch der Verzicht auf die Angst vor den Strafen der Hölle erwähnt wird. 15 Hier ist dieser jedoch nicht als resignatio ad infernum verstanden, sondern als Verzicht auf die Logik des Kalküls. Die Folge der Auseinandersetzung mit der ökonomischen Logik, die an anderen Stellen bei Luther dazu verwendet wird, den Mechanismus des Gesetzes auszudrücken, ist, dass das menschliche Geben von einem göttlich geschenkten Überschuss aus verstanden werden muss, den der Mensch beantworten kann, und von dem er geben kann. Im Sermon liegt der Fokus jedoch auf dem Verzicht. Das Kreuz Christi zu tragen wird mit dem Verlassen aller Güter identifiziert, mit dem das durch den Glauben ermöglichte, alleinige „Hängen" des Herzens an Christus verbunden ist.16 „Alles verlassen" und „glauben" sind hier zwei Seiten der gleichen Sache, 17 so, wie auch Kreuz und Auferstehung in der Römerbriefvorlesung durchgängig zwei Seiten der gleichen Sache sind, wie dies etwa von Ulrich Asendorf gezeigt worden ist.18 Es ist jedoch die im Verhältnis zur Römerbriefvorlesung reduzierte Verwendung der Struktur des Verzichts, die bedingt, dass die demütige Selbsthingabe im Sermo Die S. Andreae deutlicher als in der Römerbriefvorlesung als das Korrelat des Glaubens hervortreten kann. 19 Ebenso operiert Luther hier mit einer graduellen Einteilung des Glaubens, die an höchster Stelle die fides perfecta sieht, die auf alles verzichtet. Deswegen wird der Glaube ausgehend von dem möglich gemachten Verzicht definiert, statt ausgehend vom Empfang der gött15

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WA 1,103,25-27: „Nam intelligentia vera est haec, quod ideo omnino velint esse boni. ut solus Deus in hoc glorificaretur et proximus iuvetur, nihil soliciti de meritis ac praemiis nec de timore poenae inferni." WA 1,101,19-23: „Crux Christi est nihil aliud nisi omnia relinquere et per fidem cordis Christio soli adhaerere, Vel sic: omnia relinquere et credere, hoc est crucem Christi ferre. Sic Apostolus ad Gal. 2. Christo crucifixus sum, vivo tanem non ego, vivit vero in me Christus." S. Kjeldgaard-Pedersen, Prokrustesseng, S. 286. U. Asendorf, Gekreuzigt und Auferstanden. Luthers Herausforderungen an die moderne Christologie, S. 293: „Kreuz und Auferstehung müssen im unmittelbaren Zusammenhang der Rechtfertigung gesehen werden. Dann aber ist es unzulässig, die Rechtfertigung lediglich als aktualisierte Kreuzestheologie zu begreifen. Nicht nur wegen der effektiven Linie, wie sich zeigte, sondern ganz allgemein wird die Rechtfertigung mit Kreuz und Auferstehung in Beziehung gebracht." Asendorfs Nachweis der Bedeutung des Auferstehungsgedankens für den jungen Luther richtet sich doch zunächst vor allem gegen den Gebrauch der Kreuzestheologie auf Kosten der Auferstehungstheologie, wie sie ihn die kerygmatische Theologie zu verantworten hat. Dass Luther, was die Entfaltung der positiven Seite angeht, auf mehreren Saiten spielen, geht aus Asendorfs Darstellung nicht hervor. Siehe dazu U. Rieske-Braun, Duellum mirabile, S. 122 mit dem Hinweis auf WA 1,102,10-20 (passim): „Idcirco difficillima rex est crux et omnium relicto et fides. [...] Ideo mira est iustitia quae est ex fide, quia non reddit omnibus debita, sed relinquit omnia et cedit omnibus bonis."

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liehen Güter. Glauben kann man nur, wenn man nicht länger sieht, fühlt oder berührt, weder in seinem Inneren, noch im Äußeren. Glauben kann nur der, der perfecte mortificatus ist.20 Im geistlichen Verzicht auf die zeitlichen Güter erfolgt eine strukturelle Wiederholung des Kreuzestodes Christi. Es ist jedoch eine entscheidende Pointe, dass die Wiederholung struktureller Natur ist. Nur so kann am Unterschied zwischen Gott und Mensch, zwischen göttlicher Heilshandlung und menschlicher Einwirkung in sie festgehalten werden. So ist es unmöglich, die Wiederholung des Kreuzestodes mit dem Kreuzestod Christi selbst zu verwechseln. Vielmehr ist es der Kreuzestod Christi selbst, der überhaupt erst die Möglichkeit für eine strukturelle Wiederholung schafft. So lange Gewicht auf den Verzicht und die mortificatio des Christen gelegt wird, gibt es weiterhin die Möglichkeit für Formulierungen, die die Neigung haben, die strukturelle Wiederholung als Voraussetzung des Heils erscheinen zu lassen. Die synergistische Prägung, die viele der frühen Formulierungen Luthers aufweisen, ist noch nicht vollständig gelöscht. Sie ist weiterhin anzutreffen, obwohl sie mit der Intention nicht in Einklang steht, die er selbst in der Römerbriefvorlesung explizit benennt.21 Man kann somit in den Schriften, die vom Verzicht handeln, eine gewisse Zweideutigkeit bezüglich des zmiiaizo-Gedankens antreffen. Im Sermo Die S. Andreae zeigt sich diese als eine positive Zustimmung zum Bericht des Andreas-Martyriums, wie Andreas trotz des Angebots der Begnadigung freiwillig entscheidet zu bleiben und am Kreuz zu sterben.22 Bevor der Mensch an den geistlichen Gütern Anteil haben kann, muss er erst vollständig absterben. Das gleiche Denkmuster liegt dem Verständnis der Kindertaufe zu Grunde.23 Diese 20

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WA l,102,39f: „Iustus enim ex fide vivit, credere autem non potest nisi nihil videat aut sentiat aut tangat intus et extus." - 1,103,20t: „Nam nisi quis sit perfecte mortificatus, plus nocent ei virtutes et bona opera quam peccata." Siehe hierzu S. Kjeldgaard-Pedersen, Prokrustesseng, S. 287f, der doch die strukturelle Begrenzung in dem hier entfalteten Glaubensbegriff nicht erkennt. Siehe z.B. WA 56,171,8-18: „Igitur Conclusio finalis: Oportet eum, qui credit euangelio, infirmum fieri et stultum coram hominibus, Vt sit potens et sapiens in virtute et sapientia Dei. [...] Oportet ergo omnem virtutem, sapientiam, Iustitiam abscondi, sepeliri, non apparere, omnino ad imaginem et similitudinem Christi, Qui Ecce exinaniuit seipsum ita, ut potentiam, sapientiam, bonitatem maxime absconderet, et potius infirmitatem, stulti[tiam] et asperitatem exhibuit." W. Schneemelcher & E. Hennecke (edd.), Neutestamentliche Apokryphen Π. Apostoliches, Apokalypsen und Verwandtes, S. 292. Vgl. WA 1,102,28-30, wo Luther mit dem heiligen Andreas sagen kann: „o bona crux, salve crux pretiosa, quae decorem et pulcheritudinem de membris Domini traxisti, suseipe nie et redde me Magistro, qui per te me redemit" (Hervorhebung von mir). WA l,103,17f: „Sicut melius est pueris mori, antequam bona et mala corporalia sciunt, ita istis, antequam spiritualia."

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Zweideutigkeit kann man mit Gewinn innerhalb der Rahmenbedingungen eines übergeordneten Reziprozitätsbegriffs beschreiben. Luther will das Heil nicht auf einem kalkulierenden do ut des-Verhältnis beruhen lassen. Um dies zu umgehen und die negativen Aspekte der Reziprozität auszuschließen, besteht er so weit wie möglich auf den Verzicht und die Selbstpreisgabe. Gott alleine ist der Geber. Der Mensch kann nichts geben, sondern nur von dem Wenigen, das er hat, Abstand nehmen, und das nicht, um die Schuld zu bezahlen, sondern um dem Schuldgefängnis zu entkommen. Es ist festzuhalten, dass es nicht der Gedanke vollständiger Selbsthingabe selbst ist, der den frühen Luther vom späteren unterscheidet. Ebenso wenig ist es der Gebrauch der imitatio-Vorstellung. Der Unterschied liegt vor allem in dem Blickwinkel, von dem aus die Selbsthingabe und die „Christus-Wiederholung" betrachtet wird, und in der Akzentuierung, die den einzelnen Bauelementen zuteil wird. Luther legt seine Betonung auf das Kreuz und den Verzicht und nicht auf die Gegenseitigkeit zwischen Gott und Mensch, an der Kreuz und Verzicht lediglich einen Teil darstellen. Damit beinhaltet das Kreuz exakt die Vorstellung der Selbsthingabe, die zur Realisierung der Gegenseitigkeit notwendig ist. In dem Moment, in dem diese Gemeinschaft als die positive Voraussetzung der Selbsthingabe entfaltet wird, wird der Glaube nicht mehr in erster Linie als Verzicht und Selbstpreisgabe definiert. Im Sermon ist, wie bereits erwähnt, das erste Beispiel für Luthers Anwendung des Bildes von der Hochzeit - angewendet auf das Verhältnis zwischen Christus und dem Christen - anzutreffen. Zusammen mit der kreuzzentrierten Auslegung von Mt 4,20, die den Sermon prägt, wird dieses wie folgt ausgeführt: Darum ist die Gerechtigkeit nicht außer uns zu suchen, sondern innerlich im Herzen durch den Glauben, wie es im Rom. 10 heißt: „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen"; man darf nicht über das Meer gehen oder sie durch andre Werke äußerlich suchen, gleich wie viele die Gerechtigkeit durch Werke erlangen wollen, weil die Gerechtigkeit vielmehr die Werke schafft. Darum ist dir Christus genug durch den Glauben, dass du gerecht bist: Wenn dies geschieht, lebst, wirkst, leidest du nicht für dich, sondern für Christus. Darum ist durch dasselbe nichts dein, aber nur Christi. Denn wessen Werkzeug du bist, von dem hast du, das heißt Christus selbst durch den Glauben, lass ihn auch haben, was sein ist, dich und die Werke in dir, und es wird eine vollkommene Ehe sein.24

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WA 1,104,17-25: „Non itaque extra nos est iusticia quaerenda, sed intus in corde per fidem, ut Rom. 10. prope est verbum tuum in ore tuo in corde, non maria transire aut aliis operibus quaerere exterius, ut multi volunt per opera iustitiam acquirere, cum potius iustitia faciat opera. Ideo tibi sufficit Christus per fidem, ut sis iustus: quo facto non tibi vivis, operaris, pateris, sed Christo. Ideo per illa nihil tuum sed

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Auf diese Weise endet der Sermon. Wie es auch in der Römerbriefvorlesung der Fall ist, liegt die Botschaft von der Auferstehung direkt hinter der Verkündigung des Kreuzes, aber wegen der Konzentration des Sermons auf das Kreuz zeigt sich dies erst im letzten Satz. Deswegen unterscheidet sich das hier verwendete Bild von der Hochzeit von der Art und Weise, wie es Luther später gebraucht. Der Gebrauch im Sermo Die S. Andreae ist bedingt vom Kreisen des Sermons um den Verzicht und das Kreuz. Am deutlichsten kommt dies zum Ausdruck in der Beschreibung der via proficientium, die darin besteht, dass man so hoch am Kreuz hängt, dass man die Erde nicht länger berühren kann.25 Indem man der Welt abstirbt, nimmt man Anteil am Tode Christi, der der Weg zum Leben ist. Da die Qualifizierung von „Austauschobjekten" in erster Linie als Verzicht auf Selbsthingabe negativ qualifiziert ist, also als „Todes-Gaben", fehlt hier eine positive Basis für die Entfaltung des Lebens des Christen in der Welt. Vereinfacht gesagt: es ist schwierig, etwas weiterzugeben, wenn man im Voraus auf alles verzichtet hat. Zur Etablierung eben jener positiven Basis jedoch trägt das Bild von der Hochzeit bei. Im Sermo Die S. Andreae ahnt man bereits das Potential, das sich auf die eheliche Vereinung und ihre Gütergemeinschaft gründet. An dem Ort, an dem dieses Potential später entfaltet wird, ist der Platz zwischen Himmel und Erde von den Werkgerechten übernommen worden, so wie dies in der Epistelpredigt zum Neujahrstag der Wartburgpostille geschieht.26 Das Bild von der Hochzeit, das im Sermo Die S. Andreae auf den letzten Satz verwiesen hat, greift in der konkreten Verwendung nicht über sich selbst hinaus, sondern verbleibt innerhalb der Relation zwischen Christus und dem Christen. Die Selbsthingabe des Christen ist eng verbunden mit der wiederholten, strukturellen Wiederholung des Kreuzstodes Christi. Somit leistet es die Konzentration auf den Verzicht, dass der Mensch

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Christi tantummodo. Cuius instrumentum enim es, eius tu habes tuum, scilicet Christum ipsum per fidem, habeat et ipse suum, id est, te et opera in te, et erit perfectum matrimonium." WA 1,102,40-103,2: „Hoc autem est suspendi in cruce, ubi nusquam tangit terram in qua confidat: haec est via proficientium." WA 10 1/1, 461,14-20: „Denn gleych wie Absalom bleyb hangen zwischen hymell und erden an eynem eychembaum mit seynem eygen hawbt .2. Reg 18, Alßo hangen diße [i.e. die Werckheiligen] auch tzwiscyhen hymell und erden; denn durch das vorschließen des gesetz ru(e)ren sit nit an die erden, das ist, sie thun nit, was die boß natur gern wolt. Widerum, dieweyl das gesetz die natur nit besser macht, ßondern tzerret und reytzet sie nur, das sie dem gesetz feynd wirt, ßo sind sie nit frum und ru(e)ren auch nit an den hymell." Der Gebrauch des Bildes ist nicht völlig parallel, teils, weil sich die Perspektive verändert hat, was die Pointe verstärken würde, teils, weil bereits im Sermo Die S. Andreae das Kreuz ein Stück negativ definierter Himmel ist.

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immer in der Erkenntnis verharrt, dass er selbst nichts ist, semper manere in suae nullitatis aestimatione (WA 1,103,30). Deshalb wird auch der Tod des Menschen als die notwendige Voraussetzung der Empfängnis der geistlichen Güter hervorgehoben.27 Und obwohl dieses Element nicht aus Luthers Theologie verschwindet, wird es doch mit einer stärkeren Hervorhebung der positiven Seite verbunden. Die Selbstaufgabe des Herzens und das leibliche Leben in der Welt stehen in diesem Sermon als getrennte Größen nebeneinander, nur mit einer negativen Bestimmung der Verbindung versehen. Im Verzicht auf die Sorge um Lohn und Verdienst wird Gott die Ehre gegeben und dem Nächsten geholfen. Der Schwerpunkt liegt auf der Selbsterkenntnis. Eine solche Erkenntnis ist Ausdruck des vollkommensten Werkes, das wiederum unmöglich ist ohne die vollkommenste Gnade.28 Der Sermon zeigt in einem Zug die strukturelle Begrenztheit der renunciatio-Theologie und gleichzeitig die Voraussetzung für deren Überwindung. Es ist diese Begrenzung gewesen, die Lutherforscher wie Ernst Bizer und Oswald Bayer beschäftigt hat. So lange man sich auf den menschlichen Nullpunkt fokussiert, so ist aus einer Sichtweise, die der Ökonomie der „Gabe" verpflichtet ist, der Weg zwischen einem sola fide zu einem sola humilitate nicht weit.29 Oder - anders gesagt: Von der Selbsthingabe zur Selbstpreisgabe ist es nur ein kleiner Schritt.30 Dass Luther dennoch nicht bei einem Modell der Selbstpreisgabe endet, das an Züge aus der Erzählung von Pyramus og Thisbe erinnert, wo die eigentliche Vereinigung erst in der Urne stattfinden kann, liegt daran, dass auch die Demütigung des Menschen Gottes Werk ist, wie dies bereits seit den Dictata super psalterium von Luther gedacht werden

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WA 1,103,17-21: „Ideo melius cum patientia mortem susciperent quam tarn immortificati in spiritualia bo[n]a venirent. Sicut melius est pueris mori, antequam bona et mala corporalia sciunt, ita istis, antequam spiritualia. Nam nisi quis sit perfecte mortificatus, plus nocent ei virtutes et bona opera quam peccata." WA 1,103,25-32: „Nam intelligentia vera est haec, quod ideo omnino velint esse boni, ut solus Deus in hoc glorificaretur et proximus iuvetur, nihil soliciti de meritis ac praemiis nec de timore poenae inferni. Sic autem esse affectum, ut nihil sibi de meritis ac praemiis suis vindicet, et opera Dei intelligere ea esse solius nec plus ea sibi arrogare quam si S. Andreas ipsa fecisset, semper manere in suae nullitatis aestimatione et cognitione et hoc ipsum sine dolo et Actione, quod sine perfectissima gratia non es possibile et es officium perfectissimorum." Siehe E. Bizer, Fides, S. 59-74; O. Bayer, Promissio, S. 32-77. E. Bizer, a.a.O, S. 124-130; O. Bayer, a.a.O, S. 52 (Über die Römerbriefvorlesung): „Die Worte Gottes dulden keine Aufspaltung der Gerechtigkeit, keinen teilweisen Gehorsam, kein stückweises Tun; sie fordern vielmehr vom Menschen totale Aufgabe seiner selbst und ungebrochene Hingabe an Gott und seine Geschöpfe."

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kann. 31 Die Kreuzigung mit Christus ist Ausdruck des Lebens Christi im Christen. 32 Deswegen kann Luther Gal. 2, 20 zu Beginn des Sermons zitieren. Die positive Entfaltung ist zwar spärlich, doch ist es die Vorstellung der Teilhabe des Christen an Christus durch den Glauben, die die Voraussetzung für den Gebrauch des Bildes von der Hochzeit darstellt. In sich selbst hat das Bild deswegen ein Potential, das in der Transformierung der frühen renunciatio-Reziprozität in deren positiver Variante ausgenützt werden kann. Die Position, die sich im Sermo Die S. Andreae primär durch die Negation entfaltet, muss klar und deutlich als der Ausgangspunkt etabliert werden, dessen Ambivalenz bezüglich der Gegenseitigkeit überwunden werden muss. Die Reziprozität der mortificatio muss als eine vwificatio-Reziprozität entfaltet werden.

B. Überwindung der Ambivalenz 1. Sermo de duplici iustitia Das Potential des Bildes von der Hochzeit, das die Begrenztheit des renunciatio-Modell aufbricht, zeigt sich im Sermo de duplici iustitia, in dem sich die Transformation erfolgreich durchsetzt. Es ist nicht zufällig, dass viele Forscher gerade in diesem Sermon einen Durchbruch in Luthers Theologie konstatieren konnten. 33 Die Frage nach der Datie31

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R. Prenter, Der barmherzige Richter, S. 134: „Das Gericht Gottes entspringt somit seiner Güte und ist eben aus diesem Grunde gerecht. Gerechtigkeit und Güte (Wahrheit und Barmherzigkeit) sind nicht Gegensätze, sondern ein und dasselbe. So ist auch die Demütigung und die Rechtfertigung ein einziges Werk der göttlichen Güte." WA 1,101,21-23: „omnia relinquere et credere, hoc est crucem Christi ferre. Sic Apostolus ad Gal. 2. Christo crucifixus sum, vivo tarnen non ego, vivit vero in me Christus." StA 1, 221-229. E. Bizer, Fides, S. 124-130: „... das Neue in diesem Sermon [ist] der Nachweis, daß Christus durch den Glauben alle seine Güter und sich selbst dem Menschen zu eigen gibt" (S. 129). - M. Brecht, Martin Luther 1, S. 222f: „Noch im Februar hatte Luther als Gerechtigkeit die Selbstanklage bezeichnet. Völlig klar und eindeutig liegt dann die neue Konzeption in dem Sermon von der doppelten Gerechtigkeit vor. [...] Luther verzichtet in dieser Predigt ganz auf die Absicherungen der Demutstheologie und verkündigt nichts als die Christus- und Glaubensgerechtigkeit, und das in einem unüberhörbar hellen und freudigen Ton. Hier hatte sich etwas verändert. Das war die reformatorische Entdeckung." - Vgl. ferner J. Mehlhausen, Die reformatorische Wende, S. 359: „Im Sermon von der doppelten Gerechtigkeit hat Luther die alles bestimmende christologische Mitte seines neuen Wort- und Glaubensverständnisses in die eindrucksvollen Worte gefaßt: ,So wird durch den Glau-

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rung von Luthers reformatorischer Entdeckung soll jedoch an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Der Anschluss an Lutherforscher wie E. Bizer, M. Brecht, J. Mehlhausen und O. Bayer betrifft alleine die Konstatierung einer entscheidenden Veränderung in Luthers Theologie. Insofern sollte auch beispielsweise E. Bizer korrigiert werden, da bereits im Sermo Die S. Andreae deutlich ist, dass Christus selbst den Glauben schenkt. Es wird an dieser Stelle allein beabsichtigt zu zeigen, dass die Strukturierung selbst und die Perspektive auf die Struktur des Austausches eine entscheidende theologische Bedeutung hat. Wenn der Sermo de duplici iustitia sich in einem besonderen Maße auszeichnet, so liegt das unter anderem an dessen Verortung des Bildes von der Ehe und dessen Vertiefung, insofern als nun auch die „Güter" Christi in der Gütergemeinschaft einbegriffen sind.34 Im Sermon unterscheidet Luther bei der Auslegung von Phil 2,5ff zwischen der ersten, fremden und eingegossenen Gerechtigkeit (iustitia prima, aliena, infusä),35 die Christi eigene Gerechtigkeit ist und die dem Christen im Glauben geschenkt wird, und der zweiten, aktuellen Gerechtigkeit (iustitia propria, nostra, actualis), die die dem Christen eigene ist.36 Diese zweite Gerechtigkeit äußert sich im Verhältnis zum Glaubenden selbst als Absterben des Fleisches, im Verhältnis zum Nächsten als Nächstenliebe und im Verhältnis zu Gott als Demut.37 Die Demut hat im Verhältnis zur Römerbriefvorlesung einerseits und zum Sermo Die S. Andreae andererseits den Ort gewechselt. Sie wird nun nicht mehr vor

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ben an Christus die Gerechtigkeit Christi unsere Gerechtigkeit, und alles, was sein ist, ja er selbst wird unser'." Zur Datierungsproblemen des Sermons siehe StA 1,219; D. Olivier, Les deux sermons sur la double et trible justice. Dieses Verständnis ist in Resolutiones diputationum de indulgentiarum virtute (1518) vorbereitet; WA 1,593,4-38. Siehe hierzu M. Brecht, Luther I, S. 218. StA 1,221,5-7: „Prima est aliena et ab extra infusa, haec est qua Christus iustus est, et iustificans per fidem." In der Lutherforschung hat es eine Tendenz gegeben zu übersehen, dass Luthers Entfalung der doppelten Gerechtigkeit von Phil 2,5ff veranlasst ist. R. Prenter übersieht dies in Spiritus Creator, S. 89f, und entdeckt dies erst zwanzig Jahre später in seinem Werk „Luthers ,Synergismus'?", wo es ihm gelingt, die aktuelle Gerechtigkeit des Christen in der Rechtfertigungslehre zu betonen - im starken Kontrast zu der schroffen Abweisung jeder Rede von realer Frömmigkeit in Spiritus Creator. E. Bizer bemerkt dies und sieht die reformatorische Erkenntnis ausgedrückt in Luthers veränderter Auslegung dieser Verse, vgl. Fides, S. 130: „Phil. 2,5ff. wird dann nicht mehr im Schema exemplum-sacramentum ausgelegt, sondern als Beispiel der Demut des Gläubigen"; doch er sieht den Abschnitt über die doppelte Gerechtigkeit nicht als ein integrierter Teil des Sermons an; siehe a.a.O. S. 127. StA 1,223,7-12: „Secunda iusticia est nostra et propria, non quod nos soli operemur earn, Sed quod cooperemur illi primae et alienae. Haec nunc est illa conuersatio bona in operibus bonis, primo in mortificatione carnis et crucifixione concupiscentiarum, erga seipsum, [...]. Secundo et in charitate erga proximum. Tercio et in humilitate, ac timore erga deum."

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oder gleichzeitig mit der Gerechtigkeit des Schenkenden entfaltet, sondern danach. Es kommt sozusagen zu einer kleineren Umstellung des Inventars der Rechtfertigungslehre. Zugleich lässt sich weiterhin beobachten: Wo Luther im Sermo Die S. Andreae die scholastische Rede von der iustitia acquisita vel infusa (l,104,6f) als Gegensatz zur iustitia divina formulieren kann, kommt in Sermo de duplici iustitia der Begriff der iustitia infusa auf der positiven Liste vor. In der Römerbriefvorlesung hat Luther als Hauptziel des Römerbriefs beschreiben können, alle Weisheit und fleischliche Gerechtigkeit zu verwüsten und zu vernichten und die Sünde auf die Spitze zu treiben,38 weil die Ausrottung der privaten Gerechtigkeit die Voraussetzung dafür ist, dass die von außen kommende Gerechtigkeit genug Platz hat.39 Das gleiche Anliegen prägt den Aufbau des Sermo Die S. Andreae. Es ist diese Struktur, die die Voraussetzung für Luthers Verständnis des Verhältnisses zwischen Gesetz und Evangelium bildet. Am Anfang des Sermo de duplici iustitia stellt Luther beispielsweise klar, dass die doppelte Gerechtigkeit des Christen im Lichte der doppelten Sünde des Menschen zu sehen ist (StA l,221,4f). Dennoch unterscheidet sich dieser Sermon vom Sermo Die S. Andreae, weil wir hier eine Form antreffen, die für Luthers Predigten charakteristisch bleiben soll, und die eine positive Nutzung des Begriffs iustitia infusa bedingt. Gerade weil der Ausdruck infusa eigentlich zu einem habituellen Verständnis führt, ist Luthers positiver Gebrauch interessant. Luther kann im Antilatomus geradewegs die scholastische Unterscheidung zwischen fides infusa und fides aquisita zurückweisen (StA 2,503,6-9); aber wenn es wie hier darum geht, das Werk Gottes im Menschen zu entfalten, hat Luther keine Skrupel und kann deswegen beispielsweise im Antilatomus von einer virtus Dei infusa sprechen (StA 2,470,1-4). Luthers Verwendung des Ausdrucks an dieser Stelle unterstützt die Vorstellung von der Gerechtigkeit als einer „Gabe", die eine intime Relation zwischen Gott und dem Christen einschließt.40 38

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WA 56,157,2-6: „Summarium huius Epistole Est destruere et euellere et disperdere omnem sapientiam et Iustitiam camis (id est quantacunque potest esse in conceptu hominum, etiam coram nobis ipsis), quantumius ex animo et synceritate fiant, Et plantare ac constituere et magnificare peccatum (quantumuis ipsum non sit aut esse putatabatur)." WA 56,158,10-15: „Deus enim nos non per domesticam, Sed per extraneam Iustitiam et sapientiam vult saluare, Non que veniat et nascatur ex nobis, Sed que aliunde veniat in nos,Non que in terra nostra oritur, Sed que de celo venit. Igitur omnino Externa et aliena Iustitia oportet erudiri. Quare primum oportet propriam et domesticam euelli." Luthers Gebrauch des Ausdrucks infusa ist deswegen keineswegs unpräzise. Sic von Lowenich, Duplex Iustitia. Luthers Stellung zu einer Unionsformel des 16. Jahrhunderts, S. 2. Stattdessen führt dieser nach Simo Peura hin zu dem Gedanken an die

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Wie bereits gesagt, beinhaltet die Verwendung des Bildes von der Hochzeit im Sermo Die S. Andreae die Voraussetzung für die Entwicklung fort von der renunciatio-Theologie. Wenn der Gedanke der Römerbriefvorlesung von einer notwendigen resignatio ad infernum noch eine unsichere Handhabung der Ambivalenz der Reziprozität bezeugt, so kann doch der Gebrauch des Bildes von der Hochzeit deren Uberwindung bezeugen. Diese Überwindung fällt mit der Transformation des Klostertheologen Luther zum Kirchentheologen zusammen. Die transformierte Theologie hat nämlich eine Reihe klarer Vorteile, wenn es darum geht, Aussagen zu formulieren, die zur Reformierung des kirchlichen Lebens und der Frömmigkeit gebraucht werden können, wobei die notwendige soziale Formierung der Reformationsbewegung bedingt, dass die starken Kampfausdrücke der frühen Periode um positivere Ausdrucksformen ergänzt werden müssen. Bei der Beschreibung der ersten Gerechtigkeit stützt sich Luther auf zwei Schriftstellen, Joh 11,25:41 „Ich bin die Auferstehung und das Leben: wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt" und Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Er stellt heraus, dass die erste Gerechtigkeit mit der Taufe und der waren Buße verliehen wird.42 Luthers Entfaltung des Inhalts der ersten Gerechtigkeit lehnt sich an die Vorstellung des „fröhlichen Wechsels" an, die bereits in der Römerbriefvorlesung eine gewisse Rolle spielt, obwohl auch dort dieses Motiv seine endgültige Form noch nicht gefunden hat.43 Kraft der ersten Gerechtigkeit hat der Christ an allem Anteil, was Christus zugehört. So wie Braut und Bräutigam Gütergemeinschaft haben, weil sie ein Fleisch sind, sind auch Christus und die Kirche eines Geistes.44

Präsenz Christi, siehe S. Peura, Der Vergöttlichungsgedanke in Luthers Theologie 1518-1519, S. 173: „Die Habitualität der Gnade wird im Schema Luthers mit dem Gedanken von der realen Anwesenheit Christi ersetzt." Vgl. ferner E. Huovinen, Fides, S. 123-168. Nach Huovinen macht die Vorstellung v o m Glauben als einer fides infusa einen integrierten Teil von Luthers Taufverständnis aus. Siehe dazu Kap. VI, Seite 135f. 41

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Z u m Folgenden siehe E. Huovinen, a.a.O., S. 23-43; B. Holm: Forstäelsen af menneskets helliggorelse hos Martin Luther og Jürgen Moltmann [Das Verständnis von der Heiligung des Menschen bei Martin Luther und Jürgen Moltmann], S. 56-63. StA 1,221,10: „Haec ergo iusticia datur hominibus in Baptismo et omni tempore, verae poenitentiae." U. Rieske-Braun, Duellum mirabile, S. 130. StA 1,221,12-16: „meum est, quod Christus vixit, egit, dixit, passus est, et mortuus est, Non secus quam si ego ilia vixissem, egissem, dixissem, passus essem, et mortuus essem, Sicut sponsus habet omnia, quae sunt sponsae, Et sponsa habet omnia quae sunt sponsi. Omnia enim sunt communia vtriusque, sunt enim una caro, ita Christus et Ecclesia sunt vnus spiritus."

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Im Verhältnis zu früheren Texten tritt nun ein wesentlicher Umstand an Christi Selbsthingabe deutlicher hervor: Darüber hinausgehend, dass Sühne und Satisfaktion für die Sünden der Menschen da sind und damit eine „Gabe" darstellen, die eine strukturelle Wiederholung in der Buße des Christen ermöglicht, ist der Kreuzestod gerade weil er Sühne ist, auch eine „Gabe" für die Menschen. Damit kommt die Selbsthingabe Christi als „Lebensgabe" auf eine andere Weise denn als „Kehrseite" der „Todesgabe" in den Blick. Das, was implizit in der Römerbriefvorlesung und im Sermo Die S. Andreae vorhanden ist, wird hier eigenständig entfaltet. Mit der Hervorhebung von Christi „Gabe" als einer „Lebensgabe" bekommt das Bild von der Hochzeit seine zentrale Platzierung und Luther hat es damit leichter, den Reziprozitätsgedanken positiv auszufüllen. Die Hervorhebung der Leben spendenden Bedeutung des Kreuzestodes wird nicht nur mit der Taufe verbunden, sondern auch mit dem Abendmahl, das der am meisten signifikante Ausdruck für Christi Selbsthingabe an den Menschen ist (StA 1,222,9). Für Luthers Disposition bedeutet dies, dass er seine Entfaltung der Gerechtigkeit mit den beiden erwähnten Zitaten aus dem Johannesevangelium beginnt, die beide den Aspekt der Auferstehung hervorheben. An dieser Stelle ist die gleiche herausragende Stellung des Evangeliums von der Auferstehung wie im gedruckten Galaterbriefkommentar zu vermerken. Der Sermo de duplici iustitia tritt damit als ein prägnantes Beispiel für Luthers neue Strategie hervor. In der Taufe wird dem Menschen die erste Gerechtigkeit geschenkt, die ihn mit Gott verbindet und ihm alle Güter gibt. Diese wird durch die Gnade allein und ohne Werke eingegossen. Sie ist der Gerechtigkeit Gottes gleich, die wiederum dem Glauben gleich ist, das heißt, dem Glauben, mit dem der Gerechte lebt.45 Die synonyme Zusammenstellung der Begriffe ist zentral. Hier ist der Christ simul totus iustus et totus peccator. Die einleitende positive Hervorhebung der geschenkten ersten Gerechtigkeit bildet die Grundlage für die ebenso positive Entfaltung der anderen Gerechtigkeit, die in Zusammenarbeit mit der ersten zu Stande kommt.46 Erst bei der Entfaltung der zweiten Gerechtigkeit treffen wir im Gebrauch von Gal 5,25 auf das Kreuz aus dem Sermo Die S. Andreae: „Die aber Christus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt samt

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StA 1,222,12-14: „Ideo appellat earn Apostolus iusticiam dei ad Ro: i. Iusticia dei reuelatur in Euangelio sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit. Denique et fides talis vocatur iusticia dei." StA 1,223,7fr „Secunda iusticia est nostra et propria, non quod nos soli operemur earn, Sed quod cooperemur illi primae et alienae."

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Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität

den Leidenschaften und Begierden." 47 In der zweiten Gerechtigkeit ist der Christ Gott gegenüber demütig. Hier tötet er sein Fleisch und liebt seinen Nächsten. Alle drei Glieder sind in der gleichen Reihe genannt. Hier folgt der Christ dem Exempel Christi und wird ihm seinem Bilde ähnlich gebildet.48 Phil 2,5ff strukturiert Luthers Aussage. Die erste Gerechtigkeit drückt die Tat Christi aus, die zweite Gerechtigkeit die Tat des Christen. Die Struktur des Philipperbriefs wird hier gebraucht, weil sie in das sacramentum-exemplum-Schema passt, das später auch den De libertate christiana disponiert. Die zweite Gerechtigkeit stellt das Gegenstück zur eigenen aktuellen Sünde des Menschen dar. Hier ist der Christ simul partim iustus et partim peccator. Hier kann der Christ seine Glieder der Gerechtigkeit zur Verfügung stellen, damit es zur Heiligung kommt. Zur Illustrierung dessen gebraucht Luther das Bild von der Hochzeit. Dessen Bedeutungsfeld ist im Verhältnis zum Sermo Die S. Andreae ausgeweitet und liegt nahe beim Gebrauch im De libertate christiana: Auf diese Weise erhebt sich durch die erste Gerechtigkeit die Stimme des Bräutigams, der da zu der Seele sagt: Ich bin dein; aber durch die andere Gerechtigkeit die Stimme der Braut, die da sagt: Ich bin dein. Dann ist eine feste, vollkommene und vollzogene Ehe da, wie es im Hohelied heißt: Mein Freund ist mein, und ich bin sein [Hohel 2,16], was soviel heißt wie: Mein Geliebter ist mein, und ich bin die Seine. Dann sucht die Seele nicht weiter vor sich selbst gerecht zu sein, sondern sie hat als ihre Gerechtigkeit Christus. Deshalb sucht sie allein der anderen Seligkeit 49

Luther spielt hier auf diejenige Bestimmung des kanonischen Rechts an, die besagt, dass die Ehe erst dann rechtsgültig ist, wenn sie als copula carnalis vollzogen ist.50 Im Verhältnis zum Sermo Die S. Andreae ist die Unterscheidung zwischen verschiedenen Stufen des Glaubens verschwunden. Dafür werden das Vollendete und der Vollzug im Bild der

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StA l,223,10f: „Qui autem sunt Christi, carnem suam crucifixerunt cum viciis et concupiscentiis." StA 1,223,28: „Et in hos imitatur exemplum Christi et conformis fit imagini eius." StA 1,223,24-224,6: „igitur per iusticiam priorem oritur vox sponsi qui dicit ad animam, tuus ego. Per posteriorem vero, vox sponsae quae dicit, tua ego, tunc factum est firmum perfectum atque consumatum matrimonium, vt in Can. Dilectus meus mihi et ego illi quod dicit dilectus meus est meus, et ego sum sua. Tunc anima non querit amplius esse sibi iusta, sed habet suam iusticiam Christum, quaerit ergo aliorum salutem tantummodo." Corpus Iuris Canonici: Deer. Greg. IX lib. ΙΠ tit. ΧΧΧΠ, De conversione coniugatorum cap. ΥΠ: „Sane, quod Dominus in evangelio dicit, non licere viro, nisi ob causam fornicationis uxorem suam dimittere, intelligendum est secundum interpretationem sacri eloquii de his, quorum martimonium carnali copula est consummatum, sine qua matrimonium consummari non potest, et ideo, se praedicta mulier non fuit a viro suo cognita, licitum est [sibi] ad religionem transire" (Hervorhebung von mir).

Überwindung der Ambivalenz

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ehelichen Vereinigung hervorgehoben. Luther knüpft hier an die sexuellen Hinweise des Bildes an. Der Unterschied zwischen diesem Gebrauch des Bildes von der Ehe, bei dem der Fokus auf dem Aspekt der gegenseitigen Selbsthingabe liegt, die die Sexualität mit sich bringt, und dem Gebrauch desselben Bildes in der Römerbriefvorlesung ist deutlich. Teils wird das Bild von der Ehe nicht gebraucht und dort, wo auf es angespielt wird, ist es die damals gängige Auffassung von der weiblichen Passivität bei der Empfängnis, die zur Illustration verwendet wird. Hier wird hervorgehoben, wie der Mensch beim Empfang der ersten Gnade sich immer rein empfangend und vollständig passiv verhält. Das Bild wird damit mit der notwendigen Bewegung hinaus ins Dunkel und in die Vernichtung verbunden.51 I m Sermo de duplici iustitia ist die eheliche V e r e i n i g u n g nicht n u r

ausgeweitet, sodass sie nun als Austausch entfaltet wird, dieser Austausch bildet nun auch explizit die Grundlage für das Leben zusammen mit dem Nächsten. Im Dienst für den Nächsten kann der Mensch dem exemplum Christi nachfolgen. Weil die Sünden des Christen nun bei Christus sind und der Christ Anteil an Christi Gerechtigkeit hat, muss der Christ wie Christus auf seine göttliche Gestalt verzichten und sich in die Gestalt eines Dieners kleiden (vgl. StA 1,224,8-12): Der Apostel will, dass jeder Christ nach dem Beispiel Christi des anderen Knecht sein soll. Und wenn einer Weisheit, Gerechtigkeit oder Gewalt hat, womit er die anderen übertrifft und sich gleichsam einer „göttlichen Gestalt" rühmen könnte, so soll er das nicht für sich in Anspruch nehmen, sondern Gott zuschreiben. Uberhaupt soll man so werden, als hätte man nichts. Man soll sich so geben wie einer, der nichts hat, damit jeder seiner selbst vergesse und, der Gaben Gottes ledig, mit seinem Nächsten so umgehe, als wären die Schwachheit, Sünde und Torheit des Nächsten sein eigen. Man soll sich nicht rühmen noch brüsten, nicht jemanden verachten oder über ihn triumphieren, als wäre man sein Gott und Gott gleich. Weil man das Gott allein anheim stellen soll, geschieht durch solche hochmütige Unbesonnenheit der „Raub". 52

51

52

WA 56,379,2-9: „Ad primam gratiam sicut et ad gloriam semper nos habemus passiue sicut mulier ad conceptum. Quia et nos sumus sponsa Christi. Ideo Licet ante gratiam nos oremus et petamus, tarnen quando gratia venit et anima impregnanda est spiritu, oportet, quod neque oret neque operetur, Sed solum patiatur. Quod certe durum est fieri et vehementer affligit, Quia animam sine actu intelligendi et volendi esse est eam in tenebras ac velut in perditionem et annihilationem ire, quod vehementer ipsa refugit." StA 1,225,15-23: „[...] Apostolus id vult, vt singuli Christiani exemplo Christi fiant alterius serui. Et si quid habent sapientiae vel iusticiae, vel potentiae, quibus caeteris possint prestare et gloriari, tanquam formis dei, non hoc seruent, sed in deum referant, et omnino fiant quasi non habeant, et efficiantur sicut vnus illorum, qui non habent, vt quisque sui oblitus et exinanitus a donis dei, agat cum proximo suo, eo affectu, quasi sua sit propria infirmtias, peccatum stulticia, proximi, non glorietur

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Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität

Der aktive Aspekt, die Selbsthingabe der zweiten Gerechtigkeit, ist deutlich nach dem passiven Aspekt platziert, also nach den Ausführungen über die erste Gerechtigkeit. Damit hält Luther eine Spannung zwischen dem Glauben als Gabe und dem Glauben als Aktivität fest, aber ohne dass die Formulierungen missverständlich würden. Die Struktur ist formal betrachtet die gleiche wie vorher. Die Selbsthingabe Christi wird von der Selbsthingabe des Christen beantwortet, doch die Entfaltung geschieht nun auf einer positiven Basis, nämlich auf der Ebene der geschenkten Gerechtigkeit. Diese wird von der Selbsthingabe des Menschen beantwortet und macht damit deutlich, dass die Selbsthingabe aufgrund eines Uberschusses geschieht, nämlich der geschenkten göttlichen Gestalt. In der ersten Gerechtigkeit wird der Christ mit Christus vereint. Damit wird die entscheidende Möglichkeitsbedingung für die Vollendung der ersten Gerechtigkeit in der Beantwortung von Gottes Zuwendung durch den Christen gesehen.53 Der Glaube ist in De duplici an beiden Stellen verortet. Er gehört unter die erste Gerechtigkeit als „Gabe" und unter die zweite Gerechtigkeit als menschliche „Aktivität". Für die menschliche Aktivität kann Luther Platz finden, weil es letztlich Christus ist, der im Christen lebt und handelt. Dies war zwar schon so im Set. Andreas-Sermon der Fall. Dort jedoch war die Wiedergabe der Austauschstruktur unterschiedlich, weil sie sich auf das menschliche Defizit konzentrierte, während in Luthers De duplici iustitia die Entfaltung des erlösenden Austausches auf dem geschenkten göttlichen Überschuss basiert. Deswegen muss betont werden, dass die Gerechtigkeit von außen eingegossen worden ist, denn so kann Luther an dieser Stelle behaupten, dass die Gerechtigkeit nicht das Eigentum des Menschen ist, sondern die unumgängliche Basis für menschliche Aktivität.

53

neque infletur neque fastidiat, neque triumphet aduersus illum, quasi deus illius, et aequalis deo sit, quod cum soli deo sit relinquendum, rapina fit per talen, superbamque temeritaten." E. Huovinen, Fides, S. 27: „Die Spannung in Luthers Glaubensbegriff wird also nur vom oben skizzierten Gedanken der doppelten Gerechtigkeit her verständlich. Entscheidend ist hierbei zu beachten, daß die erste Gerechtigkeit die reale Anwesenheit Christi im Glauben bedeutet. Gerade und nur weil sich in dieser ersten Gerechtigkeit die Vereinigung von Gott und Mensch vollzieht, kann auch von der Aktivität des Glaubens sowie von der Zusammenarbeit von Gott und Mensch gesprochen werden." Huovinen drückt sich hier in Anlehung an R. Prenter, Synergismus?, S. 228 aus: „Nur weil die erste Gerechtigkeit nun wirklich auch im strengsten Sinne für uns die erste ist - sie wird uns in der Taufe geschenkt - , gibt es überhaupt für uns eine zweite Gerechtigkeit, in der wir etwas wirken und dies in die Dienste der ersten Gerechtigkeit stellen können."

Überwindung der Ambivalenz

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Das Verständnis des doppelten Charakters des Glaubens in De duplici entspricht dem Verhältnis zwischen promissio und fides in De captivitate Babylonica ecclesiae.54 Der Glaube ist bei Luther sowohl donum dei als auch menschliche Aktivität, was besagen will: sowohl „Gabe" von Gott als auch „Gabe" für Gott. Die Reihenfolge ist hier völlig eindeutig. Die Verbindung zwischen dem inneren Leben des Herzens mit Gott sowie dem äußeren Leben mit dem Nächsten kann deswegen leichter hergestellt werden, weil die Selbstdemütigung Gott gegenüber und die Nächstenliebe nun innerhalb derselben Domäne verortet werden. Mit der Struktur aus dem Sermo de duplici iustitia kann Luther einerseits den cooperafz'o-Gedanken als Voraussetzung zurückweisen und auf der anderen Seite auf ihn als Konsequenz hinweisen, wie dies ja dann auch explizit in De servo arbitrio geschieht.55

2. Die strukturelle Ambivalenz der „renunciatio-Theologie" Aus der Perspektive der Ökonomie der „Gabe" ist es möglich, auf ganz einfache Weise diejenigen Züge zu skizzieren, die eine theologische Weiterentwicklung in dem Moment, in dem die Reformation die Universität und das Kloster verlässt und kirchenbildend wirkt, notwendig machen. Diese Entwicklung bringt eine vollständige Aufgabe des strukturellen Modells des Verzichts beispielsweise der Römerbriefvorlesung mit sich, wo sowohl der Christ wie auch Christus sich selbst preisgeben, und wo der Christ ohne die Erwartung einer „Gegengabe" wünschen muss, in die Hölle geschickt zu werden. Zwar geschieht Christi Selbsthingabe auch dort pro nobis, aber sie ist zugleich der Typos für die eigene Selbsthingabe des Christen. Die Vereinigung, die in der gegenseitigen Selbstpreisgabe geschieht, beinhaltet eine

54

StA 2,217,9-19: „Nos ergo aperientes oculum discamus, magis uerbum quam signum, magis fidem quam opus, seu usum signi obseruare. Scientes, ubicunque est promissio diuina, ibi requiri fidem. Esseque utrunque tarn necessarium, ut neutrum sine utro efficax esse possit. Neque enim credi possit, nisi assit promissio, nec promissio stabilitur, nisi credatur. ambae uero si mutuae sint, faciunt ueram et certissimam efficatiam sacramentis. Quare, efficatiam sacramenti, citra promissionem et fidem querere, est frustra niti, et damnationem inuenire. Sic Christus qui crediderit et baptisatus fuerit, saluus erit, qui non crediderit, condemnabitur. Quo monstrat, fidem in sacramento adeo necessariam, ut etiam sine sacramento seruare possit, ideo noluit adiicere, Qui non crediderit, et non baptisatus fuerit." Siehe auch E. Huovinen, Fides, S. 29.

55

WA 18,766,24: „Haec iusticia est opus prioris iusticiae et fructus atque sequela eiusdem." - 754,4f: „[...] sed non operatur in nobis sine nobis operatur, ut quoad ad hoc creauit et seruauit, ut in nobis operatur, et nos ei cooperaremur [...]."

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Luthers Ringen mit der Ambivalenz der Reziprozität

latente Ambivalenz. Diese zeigt sich im synergistischen Anstrich, der unbeabsichtigt - an verschiedenen Formulierungen auszumachen ist. Der Grund hierfür ist in dem Umstand zu suchen, dass es die totale Selbsthingabe und ihr Verzicht auf eine „Gegengabe" ist, die in einer „Gegengabe" mündet, ausgedrückt als der Umschlag der Erkenntnis der Sünde in die Rechtfertigung. Was hier aus einer internen Sichtweise den Reziprozitätsgedanken leugnet, bekräftigt es geradezu aus der externen Perspektive. Dieser Umstand kommt bei Luther selbst zum Ausdruck, wenn er in Verbindung mit der Notwendigkeit der Selbsthingabe darauf verweist, dass es unmöglich ist, dass derjenige, der sich ganz dem Willen Gottes preisgibt, außerhalb Gottes bleiben könne.56 Eine Zurechtlegung hat Konsequenzen für die Entfaltung der Nächstenliebe und der positiven Seite des Lebens des Christen, die, so lange wie sie auf dem Weg der Negation verstanden werden muss, in Bedrängnis gerät.57 Eine solche Möblierung des Inventars der Rechtfertigungslehre ist im Sermo Die S. Andreae anzutreffen, wo eine lange Predigt über die Selbstaufopferung des Christen erst im letzten Satz zum positiven Gehalt des Bildes von der Hochzeit vorstößt. Eine via positionis erfordert die Umstellung des Inventars, wie dies in De duplici geschieht, wo das Bild von der Hochzeit nicht den Abschluss einer Redesequenz bildet, sondern den Mittelpunkt. Die radikalen Formulierungen des Kampfes der frühen Theologie gegen eine gescheiterte scholastische Theologie scheinen gerade in einem konsequenten Festhalten an dem, was man das „Defizitmodell" der Reformation nennen könnte, ihre Radikalität zu entwickeln. Der Christ muss sich selbst als Sünder erkennen und dadurch die Gnade empfangen. Dieses Modell hat eine Reihe rhetorischer Vorteile, aber nicht ohne Grund wird es von einem „Überschussmodell" ergänzt, das von einer „Gabe" Gottes an die Menschen ausgehend argumentiert, und zwar in dem Moment, als der Kampf gegen eine gescheiterte Theologie nicht länger Luthers einziger Horizont ist, sondern sich als Voraussetzung des „Defizitmodells" zu erkennen gibt. Auf diese Weise verschwindet der Gedanke der cessio bonorum auch aus Luthers Schriften, weil dieser darauf fixiert ist, dass der Christ aus einer Konkurs56

57

WA 56,391,9-16: „Tales enim Libere sese offerunt in omnem Voluntatem Dei, etiam ad internum et mortem §ternaliter, si Deus ita Vellet tantum, vt sua Voluntas plene fiat; adeo nihil querunt, que sua sunt. Veruntamen sicut seipsos ita pure conformant Voluntati Dei, Sic est impossibile, vt in inferno maneant. Quia impossibile est, vt extra Deum maneat, qui in voluntatem Dei sese penitus proiecit. Quia Vult, quod vult Deus; Ergo placet Deo. Si placet, ergo est dilectus; Si dilectus, ergo Saluus." Vgl. WA 56,390,17f: „Est enim h§c dilectio a contrario fortissima et extrema, Vbi per summi I in seipsum I odii signum summam ostendit dilectionem in alterum."

Überwindung der Ambivalenz

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masse heraus handelt und nicht aus göttlichem Reichtum. Die nächste Stelle, an der Luther den Ausdruck gebraucht, ist die Fastenpostille von 1525, in der er in völlig traditioneller Weise bei einer Auslegung von Rom 13,8 in Bezug auf die Liebe gebraucht wird.58

58

WA 17 11,90,21-29: „Also, wer niemand nichts will schuldig seyn, der werde yderman allerley schuldig, so behellt er nicht eygens, damit ist er so balde über alle gesetz gehaben, wilche er nu(e)r bindet, die was eygens haben, Denn auch die menschen recht sagen: "Qui cedit omnibus bonis, omnibus satis fecit". Wer seyn gutt alles faren lesset, der har yderman bezalet. Wie kan der selb yemand schuldig seyn, so er nichts mehr eygens hatt noch haben kann? Also thut aber die liebe. Darum ists die beste weyse nieman ichtes schuldig seyn, so eyn mensch allerley yderman sich schuldig macht durch die liebe."

IV. „Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519 A. Einleitung Schon zu Beginn des Galaterbriefkommentars1 knüpft Luthers Exegese an die eigenständige Bedeutung der Auferstehung an. In einer tropologischen Exegese, in die sowohl Rom 4,25 als auch Gal 2,20 mit einbezogen werden, wird die Rechtfertigung des Einzelnen als Teilhabe an der Auferstehung Christi verstanden (WA 2,455,16-23).2 Zwar ist die Verknüpfnung mit dem Aspekt der Auferstehung vom einleitenden Gruß des Galaterbriefes veranlasst und der Verweis auf Rom 4,25 ist auch in der Vorlesung von 1516/17 als ein Hinweis auf Rom 5 verstanden, doch die Miteinbeziehung von Gal 2,20 ist neu.3 Zwischen den Vorlesungsnotaten und dem gedruckten Kommentar scheint keinerlei Unterschied zu bestehen, was das Verständnis des übergeordneten Anliegens des Briefes betrifft, das an beiden Stellen als der Kampf gegen die Werkgerechtigkeit verstanden wird (WA 2,455,11-1; 57 G,6,l), doch die enge Koppelung von Auferstehung und Anthropologie ist nur im Kommentar anzutreffen. Der Galaterbriefkommentar gehört nicht zu den in der Forschungsliteratur am meisten bedachten Texten Luthers. Was den Zeitpunkt seiner Abfassung angeht, ist er sehr ungünstig gelegt: Beim Studium 1

2 3

WA 2,443-518. Als deutsche Übersetzung wird die Übersetzung von I. Mann in Kommentar zum Galaterbrief 1519 benutzt. Dazu K. Bornkamm, Luthers Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531. Ein Vergleich, S. 21-24. WA 57 G,54,5-7 (zit. Seite 71, Fußnote 4). Die Aussage über den Inhalt der Vorlesung selbst muss mit einer gewissen Vorsicht vorgebracht werden, da die einzige Textgrundlage Vorlesungsnotizen aus dem Auditorium sind. Diese sind allerdings sorgsam angefertigt und vermitteln den Eindruck, ganz nahe an dem in der Vorlesung tatsächlich Vermittelten zu liegen, siehe auch Κ. A. Meißingers Vorwort, WA 57 G,III-XXII (IV.VII). Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Notizen Passagen überspringen und zusätzliche Anmerkungen in der gedruckten Ausgabe deswegen nicht mit vollständiger Sicherheit nachgewiesen werden können (XI). Der Unterschied zwischen den Notizen und der gedruckten Ausgabe zeigt jedoch, dass nicht alles Sondergut in der Letzteren den Auslassungen der Notizen von 1516/17 zugeschrieben werden kann. Die Umarbeitung bis zur Ausgabe von 1519 muss ebenfalls Spuren hinterlassen haben.

Die Hervorhebung des Auferstehungs-Aspekts (Gal 1,1b)

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von Luthers reformatorischem Durchbruch konzentrierte man sich auf die frühen Schriften, während man sich bei der Erforschung von Luthers stärker programmatischem Ansatz auf Texte aus der Zeit ab 1520 konzentriert hat. Dies ist in einem gewissen Ausmaß unberechtigt, denn als Luther Ende 1518 die Vorlesung aus den Jahren 1516/17 umzuarbeiten begann - und zwar mit dem Ziel, sie herauszugeben - , so wurde er dadurch erstmals dazu veranlasst, in direkter Nachfolge des Paulus seine theologische Position in einem größeren, veröffentlichten Werk zum Ausdruck zu bringen. Damit ist der Galaterbriefkommentar der erste größere Text, in dem das reformatorische Anliegen nach der Kontroverse mit Cajetan in Augsburg im Oktober 1518 entfaltet wird. Für eine Untersuchung der Voraussetzung einer positiven Artikulation des Lebens des Christen ist der Galaterbrief von 1519 sehr geeignet. Die Umarbeitung der Vorlesung in eine zu druckende Ausgabe fand mitten in einer Phase größeren Umbruchs statt. Die Auferstehung erhält, wie bereits erwähnt, im Galaterbriefkommentar eine außerordentlich auffallende Platzierung, deren Verständnis dazu beitragen kann, die Möglichkeitsbedingungen einer positiven Artikulation des Lebens des Christen in Luthers Theologie auszuleuchten.

B. Die Hervorhebung des Auferstehungs-Aspekts (Gal 1,1b) Für Paulus ist es von entscheidender Bedeutung, dass er als Apostel nicht von Menschen, sondern vom auferstandenen Christus selbst ausgesandt worden ist. Für Luther ist dies der Anlass, die Botschaft von der Auferstehung einerseits und die Werkgerechtigkeit andererseits einander gegenüber zu stellen. Luthers Einbeziehung zweier weiterer Verse in seine Exegese von Gal 1,1b illustriert dies. Auch in der Vorlesung wird die Einleitung des Galaterbriefs im Lichte von Rom 4,25 betrachtet. Luther hält sich streng an das augustinische Verständnis von der einen Auferstehung Christi als sacramentum und exemplum für die doppelte Auferstehung des Christen.4 Der Gebrauch des augustini4

WA 57 G 54,5-9: „Hii enim negant, immo derident resurrectionem Christi, cum sie Christus sit resuscitatus, ut sit exemplar resurrectionis corporalis et causa spiritualis, ut Rhomanorum 5.: 'qui traditus est propter peccata nostra et resurrexit propter iustificationem nostram." Cf. Augustin, De Trinitate, MPL 42,889: "Una mors et resurrectio corporis Christi, duplici nostrae morti ac resurrectioni corporis et animae concinit ad salutem". 891: "Huic ergo duplee morti nostrae Salvator noster impendit simplam suam: et ad faciendam utramque resuscitationem nostram, in sacramento et exemplo praeposuit et propusuit unam suam. [...] cum in ea fierit interioris hominis sacramentum, exterioris exemplum."

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„Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519

sehen sacramentum-exemplum-Schemas kann, wie dies unter anderem Erwin Iserloh nachgewiesen hat,5 durch das gesamte Werk Luthers hindurch verfolgt werden. Das verdeutlicht, wie er sich inhaltlich immer weiter von seiner augustinischen Vorlage entfernt. Im Jahre 1519 ist es nicht mehr das augustinische Schema selbst, das für die Auslegung von Gal 1,1b wichtig ist, die tropologische Auslegung der Auferstehung ist vielmehr als Angriff auf die Werkgerechtigkeit formuliert. Die tropologische Auslegung hat seit der ersten Psalmenvorlesung im Jahre 1513 für Luther eine immer größere Rolle gespielt. Ebeling hat daher nicht ohne Grund auf den engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Hermeneutik Luthers und der Entwicklung seiner Rechtfertigungslehre hingewiesen.6 Im Kommentar von 1519 wird deutlich, dass es die Lehre von der Rechtfertigung ist, die die tropologische Auslegung begründet und nicht umgekehrt. In Luthers Christologie kann eine entsprechende Entwicklung beobachtet werden.7 Diese zeigt sich auch in der Miteinbeziehung von Gal 2,20, einer Stelle also, die nun im Jahre 1519 dazu verwendet wird, die tropologische Auslegung zu begründen: Wer aber an den sterbenden Christus glaubt, der stirbt zugleich auch selbst der Sünde mit Christus; und wer an den Auferstandenen und Lebendigen glaubt, wird in eben diesem Glauben auch selbst der Auferstehung teilhaftig und lebt in Christus und Christus in ihm. Darum ist die Auferstehung Christi unsere Gerechtigkeit und unser Leben, nicht nur dem Vorbild, sondern auch der Kraft nach.8

Hinter dieser Formulierung ist die Unterscheidung von sacramentum und exemplum zu vermuten, doch der Fokus ist ein anderer als in der beinahe wörtlichen Wiederaufnahme von Kapitel 3,6 aus dem vierten Buch von Augustins De trinitate,9 wo Augustin das sacramentumexemplum-Schema dazu gebraucht, den doppelten Tod und die doppelte Auferstehung des Menschen einerseits und den einen Tod Christi 5 6 7

8

9

E. Iserloh, Sacramentum et exemplum. Ein augustinisches Thema lutherischer Theologie. G. Ebeling, Anfänge, S. 180-182. Vgl. ferner K. Bornkamm, Luthers Auslegungen, S. 22. Siehe dazu E. Kyndal, Skriftens Spiritus. En unders0gelse til Luthers hermeneutik i farste salmeforeleesning [Spiritus der Schrift. Eine Untersuchung zur Hermeneutik Luthers in der ersten Psalmen Vorlesung], Kyndal argumentiert hier dafür, dass die Entwicklung in Luthers Hermeneutik und Rechtfertigungslehre nicht von der Entwicklung in der Christologie getrennt gesehen werden kann. WA 2,455,19-23: „Qui autem in Christum morientem credet, simul et ipse moritur peccato cum Christo, et qui credit in resurgentem et viventem, eadem fide et ipse resurgit et vivit in Christo et Christus in eo. Ideo resurrectio Christi est iusticia vitaque nostra, non tantum exemplo sed et virtute." WA 56,321,23,-322,1; MPL 42,891 (zit. Seite 71, Fußnote 4).

Die Hervorhebung des Auferstehungs-Aspekts (Gal 1,1b)

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und dessen eine Auferstehung andererseits zu unterscheiden. In der Römerbriefvorlesung ist es der doppelte Tod des Menschen, der im Mittelpunkt steht, wie dies auch schon bei Augustin der Fall ist. Im Galaterbriefkommentar liegt der Schwerpunkt an anderer Stelle, was in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die Römerbriefvorlesung enger an das Verständnis in den frühen Randbemerkungen anschließt.10 Das sacramentum-exemplum-Schema strukturiert, wie das Zitat zeigt, Luthers Aussage immer noch durch die Unterscheidung von virtus und exemplum. Gal 2,20 unterstreicht die Bedeutung der Auferstehung als die Kraft des Christen, durch die die Auferstehung des Christen selbst in einem stärkeren Maße als bei Augustin an Christi Auferstehung gebunden ist.11 Der Zusammenhang zwischen Christologie und Anthropologie, der beim jungen Luther überwiegend an Jesu Kreuzestod gebunden ist, wird jetzt auf der Grundlage der Auferstehung auf eine Art und Weise entfaltet, die auch für die Schriften der folgenden Jahre kennzeichnend ist. Dieser Ton setzt sich fort, wenn Luther in der Entfaltung der Bedeutung der Auferstehung für den Christen auf die vorausgegangene Begründung des Apostolats des Paulus zurückgreift und auf den Heiligen Geist zu sprechen kommt.12 Der Verweis auf diesen im doppelten Wortsinn eher positiven Ton in Luthers Schriften darf jedoch nicht in die Richtung hin verstanden werden, dass jegliche Verbindung zum jungen Luther damit unterbrochen wäre. Dies ist in keiner Weise der Fall. Luther kann beispielsweise im eigentlichen Kommentar zu Gal 2,19f das sacramentum-exemplum-Schema mit Verweisen auf Augustins De trinitate, Kap. 4, Rom 6,3-11 und Kol 3,3 überwiegend mit dem Kreuzestod Christi und dem Tod des Glaubenden verbinden (2,501,2910

WA 9,18,18-23. Randbemerkungen zu Augustins De Trinitate: „Interioris enim hominis nostri sacramento: Sacramentum. vetus homo noster simul crucifixus: Crucifixio Christi isacramentum ] ί significat sie crucem poenitentiae Est Ί \ quia Ί [ Exemplum J [ hortatur pro veritate corpus morti iin qua moritur anima peccato [ offerre vel cruci."

11 12

Hier wird sacramentum mit crucifixio Christi und poenitentia, exemplum mit mors corporis verbunden. WA 2,455,23-25: „Sine resurrectione Christi nemo resurgit, quantumlibet operetur bona: rursum, per resurectionem quilibet resurgit, quantumlibet operatus sit mala." WA 2,455,25-29: „Forte etiam ideo meminisse solet in salutatione resurrectionis, quod spiritussanetus datus est per resurrectionem Christi, quo spiritu distributa sunt dona apostolatus et alia i. Corin. xij. ut sie se Apostolum asserat autoritate divina per spiritum resurrectionis Iesu Christi."

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„Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519

502,16). Die Etablierung eines deutlichen und selbständig positiven Ausgangspunktes schließt nicht aus, dass die Position nicht auch durch die Negation ausgedrückt werden könnte.

C. Do und reddo als Schlüsselwörter von Christologie und Rechtfertigungslehre 1. Gal l,4f als Voraussetzung für die positive Artikulation des christlichen Lebens Die Ebeling-Tradition hat die hermeneutische Frage als Dreh- und Angelpunkt der Theologie Luthers verstanden. Die neue Wirklichkeit der Rechtfertigung zeigt sich als ein neues Selbstverständnis, das sich wiederum an die imputative Seite der Rechtfertigung anschließt. Dies führt dazu, dass die hermeneutische Dimension der Christologie auf Kosten anderer ebenfalls wesentlicher Dimensionen betont wird.13 Die Christologie hat bei Luther eine viel umfassendere Bedeutung als die rein hermeneutische, kann aber natürlich nicht von ihr abgetrennt werden. Eine „Gabe" funktioniert nur als „Gabe", indem sie empfangen wird. Vergleicht man den gedruckten Kommentar mit der Vorlesung, ist die verstärkte christologische Dimension bemerkbar. Das Grundanliegen der christologischen Akzentuierung lässt sich durch Luthers Auslegung von Gal l,4f belegen, vor allem in der Sequenz Qui dedit semetipsum pro peccatis nostris. In den Vorlesungsnotizen des Auditoriums gibt es keinen Kommentar zu dieser kurzen Sequenz. Anders stellt sich dies bei der gedruckten Ausgabe dar. Zunächst wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, dass jeder einzelne Teil des Satzes zentrale Bedeutung hat. Paulus formuliert hier nämlich, dass das Gesetz und der Wille des Menschen nichts sind. Das einzige, was gilt, ist der Glaube an Christus, der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat (2,457,3739). Danach setzt er fort: „ Der gegeben hat", sagt er, also gleich wie ein unentgeltliches Geschenk an solche, die es nicht verdient haben. Es heißt nicht: „er bezahlte", als handelte es sich um Lohn für Leute, denen ein solcher gebührte. So auch Rom 5,10: „Als wir noch Feinde waren, sind wir Gott versöhnt durch den Tod 13

Vgl. G. Ebeling, Evangelienauslegung, S. 424: „Sakramentale Auslegung des Textes heißt darum: Christi Geschichte als für mich geschehen auszulegen und so die Weise vorzuzeichnen, wie eben dies durch das so verstandene und geglaubte Wort an mir geschieht."

Do und reddo als Schlüsselwörter von Christologie und Rechtfertigungslehre

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seines Sohnes." „Gegeben" hat er jedoch nicht Gold und nicht Silber, aber auch nicht einen Menschen, und nicht alle Engel, nein sich selbst. Größeres als das gibt es nicht und hat er nicht. Nun, er hat einen solchen unschätzbar hohen Kaufpreis gegeben für unsere Sünden, für etwas dermaßen Verachtetes, das nichts als Hass verdient hatte.14

Dieses Verständnis von der Bedeutung Christi ist um die Vorstellung vom „fröhlichen Wechsel" und um das damit zusammenhängende Verständnis von Christus als dem, der sich selbst hingibt, aufgebaut und es bildet die Grundlage für Luthers positives Verständnis des Christenmenschen. Diese Hervorhebung der Rechtfertigung als Initialhandlung ist auch Ausdruck für eine Entwicklung fort vom früheren Fokus auf Demut und Verzicht. Wenn die Entfaltung nicht ihren Ausgangspunkt in der Erniedrigung des Bußfertigen nimmt, sondern im Verständnis vom Tod Christi als Selbsthingabe, so ändern sich die Möglichkeitsbedingungen für ein ausformuliertes positives Verständnis des Daseins des Christen. Die Selbsthingabe Christi wird im Folgenden mit zwei anderen Hauptmotiven verbunden: der Gegenwart Christi und der Vorstellung von den Christen als den Kindern Gottes. Luther unterstreicht, dass der Glaube an Christus gerade darin besteht, ihn als „Gabe" zu empfangen und ihn sich zu eigen zu machen. Dieses Empfangen wird als so intim verstanden, dass sowohl Gal 2,20 als auch Rom 8,16 zu dessen Beschreibung herangezogen werden: Dieser Glaube rechtfertigt dich; er wird es bewirken, dass Christus in dir wohnt, lebt und regiert. Er ist das Zeugnis des Geistes, das er unserem Geist gibt, dass wir Gottes Kinder sind.15

Die veränderte christologische Vorlage zur Rechtfertigungslehre bedingt, dass positive Aussagen über den Christenmenschen jetzt leichter neben den nur negierenden auftreten können. Die Hervorhebung des Sich-Hingebens Christi für den einzelnen Christen gibt Luther bessere Möglichkeiten, die Neuschöpfung anders als nur durch die Negation hindurch ausdrücken zu können. Das Verb „do" und das Substantiv „donum" etablieren sich als Schlüsselwörter der Soteriologie.

14

2,458,1-6: ,„Qui dedit', inquit, tanquam immeritis donum gratuitum, non ,reddidif tanquam dignis praemium. Sicut Rhoma. v. Cum inimici essemus, reconciliati sumus deo per mortem filii sui. Dedit autem non aurum, non argentum, sed neque hominem, neque omnes angelos, immo ,semetipsum', quo maius nihil est neque habet. Dedit, inquam, tarn inaestimabile precium ,pro peccatis nostris', pro tarn despecta odioque dignissima re" (Hervorh. im Original gesperrt).

15

W A 2,458,24-26: „Haec fides iustificat, Christum in te habitare, vivere et regnare faciet. Haec est testimonium spiritus, quod reddit spiritui nostro, quod simus filii dei."

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„Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519

2. Die Entfaltung von Gesetz und Evangelium im Modus der Negation Das Verb „reddo" ist eines von denjenigen Verben, die sich am deutlichsten durchgängig in Luthers Beschreibungen der Rechtfertigung wiederfinden. Es wird sowohl negativ im Zusammenhang mit der Forderung des Gesetzes verwendet, als auch positiv in Verbindung mit dem Inhalt des Evangeliums. Ein späteres Beispiel aus der Freiheitsschrift (Siehe S. 114) zeigt, wie gerade das Verb „reddo" sowohl mit menschlichem als auch göttlichem Subjekt gebraucht werden kann, wenn es um die Artikulation der durch das Heil wiedererrichteten Gemeinschaft von Gott und Mensch geht. Im Galaterbriefkommentar kann man das Verb „reddo" in einer Bedeutung antreffen, die sowohl direkt auf Mt 18,28 und die sozio-ökonomische Sphäre referiert. Evangelium und Gesetz unterscheiden sich ihrem Wesen nach darin, daß das Gesetz predigt, was zu tun und was zu lassen ist und was unmöglich mehr getan und unterlassen werden darf; darum ist ihm nur das Amt übertragen, „Erkenntnis der Sünde" zu schaffen. Das Evangelium dagegen predigt, daß die Sünden vergeben sind, und daß alles erfüllt und getan ist. Das Gesetz nämlich spricht: „Bezahle mir, was du mir schuldig bist" [Redde, quod debes], das Evangelium aber „Deine Sünden sind dir vergeben". 1 6

Hier wird das Evangelium vor allem definiert als die Negation der Sünde, als Gegensatz zur Forderung des Gesetzes. Was die Forderung des Gesetzes anbelangt, so antwortet das Evangelium mit einer Annullierung der Schuld, doch wenn der innere Zusammenhang funktionieren soll, so muss das Evangelium mehr umfassen als nur eine restaurative Tilgung der Schuld, was jedoch eben auch der Fall ist. Die Entfaltung des Verhältnisses zwischen Gesetz und Evangelium als Forderung und Annullierung konfrontiert Luther mit einem Problem die Verortung der Paränese betreffend, die sich ja gerade im Modus der Forderung ausdrückt. Der Schwierigkeit ist er sich bewusst, weshalb er die rhetorische Frage stellt: Und w a r u m gibt dann Christus im Evangelium so viele Gebote und Lehren, wenn dies eigentlich das A m t des Gesetzes ist? Und w a r u m geben ebenso die Apostel viele Gebote, w o sie doch Prediger des Evangeliums sind? 1 7

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WA 2,466,3-6: „Euangelium et lex proprie in hoc differunt, quod lex praedicat facienda et omittenda, immo iam commissa et omissa ac imposibilia fieri et omitti (ideo solam peccati ministrat cognitionem), Euangelium autem remissa peccata et omnia impleta factaque. Lex enim dicit,Redde quod debes'. Euangelium autem ,Dimittuntur tibi peccata tua'" (Hervorh. im Original gesperrt). WA 2,466,17-19: „Sed cur Christus in euangelio multa praecipit et docet, si hoc legis officium est, item et Apostoli multa praecipiunt, cum tarnen sint euangelici praedicatores?"

Gal 2,16f als Dreh- und Angelpunkt des Kommentars

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Es ist, wie gesagt, die These dieser Arbeit, dass selbst Luther keine vollständig klare Antwort bietet, in der die Paränese teils als interpretationes legis und teils als remedia et observationes verstanden wird,18 und dass dies beiläufig durch die Miteinbeziehung kulturanthropologischer Studien über die Ökonomie der Gabe erklärt werden kann (siehe die abschließende Analyse in Kap VIII).

D. Gal 2,16f als Dreh- und Angelpunkt des Kommentars 1. Kalkulation und Lohn Die Stelle, um die herum sich der ganze Galaterbrief bewegt, sieht Luther in Gal 2,16. Die Exegese hat bis zu diesem Punkt immer wieder auf diesen Vers verwiesen und greift danach laufend auf ihn zurück. Die Auslegung beginnt damit, dass zwischen zwei Formen der Gerechtigkeit unterschieden wird, einer äußeren Gerechtigkeit durch die Werke und einer inneren Gerechtigkeit durch den Glauben (WA 2,489,21491,34). Die äußere Rechtfertigung wird zunächst verhältnismäßig neutral als Ausdruck des Gerechtigkeitsbegriffs beschrieben, der in der bürgerlichen, der philosophischen und der kirchenrechtlichen Domäne anzutreffen ist. Wird die äußere Gerechtigkeit allerdings in die theologische Domäne transferiert, so zeigt sich, dass diese schon auch die Einhaltung der Gebote mit sich führt, aber zugleich Gefahr läuft, dass gerade die Observanz der äußeren Gebote das eigentliche Wesen dieser Gerechtigkeit verschleiert. Diese wird als eine Gerechtigkeit der Sklaven und Tagelöhner entlarvt, als eine fiktive, zeitliche, weltliche und menschliche Gerechtigkeit, eine Beschönigung, die den Menschen die himmlische Herrlichkeit nicht einmal einen kleinen Schritt näher rückt. Deren Lohn und deren Lob fällt ausschließlich in dieses Leben und sie veranlasst deswegen Leute zu der trügerischen Sicht, einen Vorschuss auf ein sündenfreies Leben erhalten zu können (WA 2,489,30-38). Als dessen diametraler Gegensatz ist die innere Rechtfertigung anzusehen, die allein aus Glauben und aus Gnade geschieht und in der völligen Verzweiflung des Menschen über seine eigene Gerechtigkeit besteht. Durch dieses Sündenbekenntnis demütigt sich der Mensch Gott gegenüber und bittet um seine Gnade. Im Zuge dessen kann die 18

Als Heil- und Schutzmittel ist es die Funktion der Paränese, die bereits empfangene Gnade und den geschenkten Glauben zu beschirmen, zu nähren und zu vollenden: WA 2,466,19-26.

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„Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519

innere Gerechtigkeit als nichts anderes als Anrufung des göttlichen Namens identifiziert werden, der Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Kraft und Weisheit ist (WA 2,490,9-15). In der aufrichtigen Anrufung werden das Herz des Menschen und der Name des Herrn vereinigt. In dieser Vereinigung des Glaubens, durch die das Herz und der Gottesname eins und miteinander gegenseitig verbunden werden (cohaerentia),19 hat der Glaubende Anteil an den gleichen Eigenschaften, die der Name des Herrn hat.20 Luther setzt hier den Gedankengang aus der Römerbriefvorlesung fort, demzufolge die Angleichung des Menschen an Gott (deiformitas/conformitas dei) und das Anteilhaben an den Eigenschaften Gottes gerade als „Kehrseite" der Demut eine zentrale Rolle spielen.21 In der Vereinigung werden die Glaubenden Gottes Kinder (Joh 1,12) und der Heilige Geist wird in ihre Herzen eingegossen (Rom 5,5). Hier wird das negierende Verständnis des Evangeliums als Annullierung der Schuld ergänzt durch ein positionierendes Verständnis des Evangeliums als „Gabe" und Gemeinschaft. Der Glaubende macht nun all das Gute, das vor dem Glauben nur in Form einer heuchlerischenden Verkleidung möglich und nur unter dem Zwang des Gesetzes (WA 2,490,27-31) erreichbar schien: „Nun sind alle Dinge frei und erlaubt, und das Gesetz ist erfüllt durch den Glauben und die Liebe." 22 Dies jedoch ändert nichts daran, dass es weiterhin zugelassen und geboten ist, die Werke des Glaubens zu tun. Die Abweisung gilt nicht nur dem Vertrauen in sie. Die Abweisung hängt zusammen mit der Verortung des Gesetzes innerhalb der Sphäre der Berechnung. Soll das Gesetz zu Werken führen, so kann dies auf der Grundlage des gefallenen menschlichen Willens nur dann geschehen, wenn dem Menschen gedroht, oder wenn er verlockt wird. Die eigentliche Motivation des sündigen Menschen zur Einhaltung des Gesetzes kann nur im kalku-

19 20 21

22

WA 2,490,17t: „Invocatio autem nominis divini, si est in corde et ex corde vere facta, ostendit, quod cor et nomen domini sint unum simul et sibi cohaerentia." WA 2,490,19-21f: „Ideo impossibile est, ut cor non participet eiusdem virtutibus, quibus pollet nomen domini. Cohaerent autem cor et nomen domini per fidem." WA 56,329,30-330,5: „Quod fit, dum per fidem seipsam captiuat et destruit, conformat se verbo, credens verbum esse verum, se vero falsum. Sic ,Verbum caro factum est' et ,assumpsit forman serui', vt caro verbum fiat et homo formam assumat verbi; tunc, vt c. 3. dictum est, homo fit Iustus, verax, sapiens, bonus, mitis, castus, sicut est verbum ipsum, cui se per fidem conformat." WA 2,490,32f: „omnia sunt iam libera, licita, et lex per fidem et charitatem est impleta."

Gal 2,16f als Dreh- und Angelpunkt des Kommentars

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Herten Eigeninteresse begründet sein, das sich nach dem Risiko der Strafe oder der Möglichkeit einer Belohnung bemisst. 23 Deswegen kann in Verbindung mit den Werken des Gesetzes der Mensch keinen weitergehenden Anspruch begründen, denn alle sind vom Gesetz selbst abhängig und nicht von dem erforderlichen frohen Willen. Der Glaube drückt auf diesem Hintergrund einen Bruch mit dem Prinzip der Kalkulation aus. Er befreit den Glaubenden vom Gesetz so, dass das Gesetz nun dem Glaubenden gehört. Entsprechend gehören die Werke nicht länger dem Gesetz an, sondern vielmehr der Gnade. Wo die Werke zuvor vom Gesetz gewissermaßen erpresst worden sind, so quellen sie (scaturiunt) nun frei und süß hervor (WA 2,492,32-35). Im Verhältnis sowohl zur Römerbriefvorlesung als auch zum Sermo Die S. Andreae ist es hier deutlicher, dass der Verzicht auf die Betrübnis über die Höllenstrafen eng mit dem Umstand zusammenhängt, dass es der bereits zugeteilte Lohn ist, der eine Freiheit vom Kalkulationszwang ermöglicht.

2. Gerechtigkeit: Gott die Ehre geben Luthers Entfaltung der Rechtfertigung ist gebunden an die Verzweiflung des Menschen. Das Bekenntnis der Sünden hat hier einen zentralen Stellenwert, bleibt aber angesichts der Rolle, die Gottes Namen spielt, in einen positiven Rahmen eingelagert. Das Bekenntnis der Sünden ehrt Gott, weshalb ihm mehr zukommt als die bloße Hervorhebung des Menschen eigener Sünde. In den für die folgenden Analysen ausgewählten Sermonen der Wartburgpostille wird gezeigt, wie diese Reihenfolge mit Gewinn von einem übergeordneten Modell des Austausches, das ebenso die Verzweiflung als Erfahrung des Ausgeschlossensein verorten kann, wiedergegeben werden kann. Luthers Verständnis sowohl der äußeren, weltlichen Gerechtigkeit als auch der inneren, geistlichen Rechtfertigung, wird unter Zuhilfenahme grundlegender sozialer Strukturen und Mechanismen entwickelt. So ist die äußere Gerechtigkeit als eine Konzentration auf Lohn und Verdienst zu verstehen. Die Berechtigung des Verdienstes wird nicht abgewiesen, sondern lediglich als notwendige Bedingung für ein irdisches Leben verstanden. Anders verhält es sich mit der inneren Rechtfertigung. Diese beginnt dort, wo der Mensch über seine frühere Gerechtigkeit verzweifelt, deren Unreinheit nun entlarvt ist. In demüti23

Vgl. WA 2,492,24f: „quia opera legis vere legis sunt, non nostra, cum non fiant voluntate nostra operante, sed lege per minas ea extorquente vel per promissa eliciente."

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„Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519

gen Seufzern der Verzweiflung bekennt sich der Mensch als Sünder, als einer, der sich wegen seiner mangelnden Gerechtigkeit aus der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen hat. In der Anrufung der Barmherzigkeit Gottes geschieht die Rechtfertigung. In der Anrufung des göttlichen Namens, der Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Kraft und Weisheit - die damit implizite Anklage des Eigennamens des Menschen ist, der im Gegensatz dazu Sünde, Lüge, Leere und Dummheit impliziert - , ist der Mensch bereits gerechtfertigt, denn in der Anrufung des göttlichen Namens gibt der Mensch Gott die Ehre. Damit ist die Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen wieder etabliert, Gott bekommt die Ehre, die ihm zusteht und der Mensch bekommt Anteil an der heilsbringenden Gottesgemeinschaft. Da der Umstand, dass Gott wieder die Ehre gegeben wird, eine neue Gemeinschaft mit Gott begründet, kann dies nicht mit sozialen Kategorien der Ehre erschöpfend beschrieben werden, sondern erfordert eine stärkere und breitere Entfaltung, die das Verständnis der heilsbringenden Bedeutung und Realität der Gottesgemeinschaft vertiefen kann. Zwischen Vorlesung und Kommentar kann ein einziger bedeutender Unterschied konstatiert werden. An beiden Orten wird die Gerechtigkeit ausgehend von der klassischen Definition reddere unicuique, quod suum est entfaltet. Luther kann im Jahre 1516 sein Verständnis von Gerechtigkeit als wunderbar und neu beschreiben, weil die Gerechtigkeit das Gleiche ist wie der Glaube an Christus und gerade dadurch eine Erfüllung der klassischen Gerechtigkeitsdefinition ermöglicht. Die Sorgfalt, mit der Luther in der Vorlesung herauszuheben versucht, dass nur Christus Gott geben kann, was Gottes ist, führt mit sich, dass die das Miteinbeziehen des Menschen in dieses Verhältnis durch den Gedanken der cessio bonorum ausgedrückt wird.24 Das wiederum hinterlässt das strukturelle Problem, dass dieses Abtreten von Eigentum nur in äußerst begrenztem Umfang die Wiedereinsetzung des Schuldners in die Gesellschaft auszudrücken in der Lage ist. Diese Einschränkung der Verständnismöglichkeiten fällt in der Vorlesung fort. Dagegen liegt der Fokus auf der positiven Dimension des Sündenbekenntnisses, wo24

WA 57 G,69,15-70,2: „Mira et nova diffinitio iusticie, cum usitate sie describatur: ,Iusticia est virtus reddens unicuique, quod suum est.' Hie vero dicit: ,Iustitica est fides Ihesu Christi.' [...] Quare sequitur, quod iustus per fidem nemini det, quod suum est ex seipso, sed ex alio, sc. Christus, qui solus ita iustus est, ut omnibus reddat, quod reddendum est, immo omnia ei debent. Ideo qui in Christum credit, per Christum non solum omnibus satisfacit, sed eciam facit, ut omnia sibi debeant, cum per fidem efficiatur unum cum Christo. [...] Corollarie: Si iusticia fidei est dicenda reddere unicuique, quod suum est ex nobis, non est aliter intelligendum nisi per cessionem omnium bonorum, ut dicunt iuriste: ,Qui cedit omnibus suis bonis, nulli debet et omnibus satisfecit.'"

Gal 2,16f als Dreh- und Angelpunkt des Kommentars

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nach Gott die Ehre gegeben wird und es damit dem Miteinbeziehen des Menschen zukommt, auch juristisch gesehen in einem positiveren Licht zu erscheinen. Die menschliche Selbsthingabe an Gott ist damit nicht eine Selbstaufgabe, sondern kann positiv auf eine Weise verstanden werden, die gleichzeitig die Doppeltheit dessen ausdrückt, dass das „Gott-die-Ehre-Geben" auch damit einhergeht, dass man selbst darauf verzichtet.

3. Luthers „Taxonomie der Werke" Ausgehend von der grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Formen der Gerechtigkeit und Rechtfertigung kann Luther nun eine vierteilige „Taxonomie der Werke" aufstellen, die in Verlängerung von Luthers Vorliebe für anschauliche Modelle hier in schematischer Gestalt wiedergegeben werden soll:25

25

Es gibt - grob gesagt - zwei Einstellungen zu schematischen Darstellungen. Entweder betrachtet man sie als Unsinn, weil jedes Schema immer eine Reduktion von Bedeutung mit sich bringt, und weil ein Schema zudem nicht viel Neues sagen kann, oder man betrachtet Schemata als eine Hilfe, teils, weil sie als Reduktionen das Arbeiten übersichtlicher machen, teils, weil sie das nicht Reduzierbare präzisieren können. So ist es auch bei Luther der Fall. Dass die Verwendung von Schemata im Umgang mit Luthertexten nicht unberechtigt sein dürfte, liegt aber auch an Luthers eigenem binären und pädagogisch-didaktischen Denken. Dass Luther sich nicht durch eine konsequente Terminologie auszeichnet, ist ja allgemein bekannt. Die Schematisierung von Luthers Begriffspaaren ist dann hilfreich, wenn man gern verschiedene Texte mit unterschiedlicher Terminologie vergleichen will.

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.Selbsthingabe" als Schlüsselwort im Galaterbriefkommentar von 1519

Die Werke der Sünde,

sie geschehen unter der Herrschaft der bösen Lust, ohne dass die Gnade Widerstand leistet.

Die Werke des Gesetzes, sie geschehen so, dass wohl die böse Lust nach außen in Schranken gehalten wird, innen aber brennt sie um so mehr und hasst das Gesetz. D.h. sie sind gut dem Augenschein nach, aber im Herzen sind sie böse.

Die Werke des Friedens und der vollkommenen Gesundung, sie geschehen, wenn die böse Lust ausgelöscht ist, mit vollkommenster Leichtigkeit und Süßigkeit. Das wird im zukünftigen Leben der Fall sein; hier kommt es nur zu einem Anfang.

Die Werke der Gnade, sie geschehen unter dem Widerstreben der bösen Lust, aber so, dass der Geist der Gnade Sieger bleibt.26

Abb. 2. „Taxonimie der Werke" I

Bevor man eine solche vierteilige Taxonomie aufstellen kann, müssen zwei dichotome Variablen kombiniert werden können. Das sind in diesem Fall die Unterscheidungen zwischen Sünde und Gerechtigkeit und zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Die letzte Unterscheidung tritt zwar explizit nur unter dem Begriff der opera legis auf, funktioniert aber nichtsdestoweniger als Voraussetzung des Schemas. In Verbindung mit einer Untersuchung von Luthers Gebrauch von Begriffen sind gewisse methodische Erwägungen notwendig. Luthers binäres Denken ist alles andere als systematisch, was jedoch nicht ein beträchtliches Maß an Stringenz ausschließt. Diese Stringenz ist allerdings vor allen Dingen auf der strukturellen Ebene anzutreffen und nicht auf der terminologischen. In der obigen Aufstellung spielen nicht nur die Begriffspaare Sünde/Gerechtigkeit und Inneres/Äußeres eine 26

WA 2,492,36-493,2: „Opera peccati, quae dominante concupisscentia fiunt sine resistentia gratiae. Opera legis, quae foris coercita concupiscentia fiunt, tarnen intus eo magis fervente et legem odiente, id est quae sunt bona in specie, mala in corde. Opera gratiae, quae repugnante concupiscentia, Victore tarnen spiritu gratiae fiunt. Opera pads et perfectae sanitatis, quae, extincta concupiscentia, plenissima facilitate et suavitate fiunt, quod in futura vita erit, hie incipitur" (Hervorh. im Original gesperrt). Um die strukturelle Logik zu berücksichtigen, folgt die Aufstellung nicht in der Reihenfolge des Zitats.

Gal 2,16f als Dreh- und Angelpunkt des Kommentars

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Rolle, sondern auch die Begriffspaare Gesetz/Gnade, Begehren/Geist, Sünde/Heilung. In einer schwächer entfalteten Form kann man auch die Paare Widerstand/Leichtigkeit und Hass/Liebe antreffen. Es ist jedoch vor allen Dingen die Unterscheidung Inneres/Außeres (intusforis), die in Kombination mit Sünde und Gerechtigkeit die Taxonomie trägt. Deswegen ist es möglich, das Schema ausschließlich mit Hilfe dieser Begriffe zu wiederholen.

Opera peccati

Opera pads et perfectae sanitatis

S'/SÄ (Innere Sünde/äußere Sünde usw.)

G'/GÄ

Opera legis

Opera gratiae,

S'/„G"Ä

G'/(G>

Der Verzicht des Menschen auf eine Gabe

I

B. Bekräftigung der Reziprozität von einer externen Perspektive aus gesehen: (Die "Matrimoniums"-Theologie:) Gottes Selbsthingabe

Der Verzicht des Menschen auf eine Gabe

Abb. 8. Von Abweisung zur Bekräftigung der Reziprozität

Auf dem internen Niveau wird die passive Empfängnis des Glaubens unterstrichen, auf dem externen Niveau wird diese Betonung der Passivität allerdings zu einem Teil der Reziprozität. Obwohl Prenter der humilitas-Theologie des jungen Luther positiv gegenüber steht, sieht er doch die Ambivalenz der völligen Zurückweisung der Gegenseitigkeit.52 Bei Luther selbst kommt dies in der zweiten Tugend des Glaubens zum Ausdruck: Gott zu ehren. Hier wird Gott das gegeben, was sein ist (reddens deum suum).53 Damit wird deutlich, dass es für Luthers Theologie nicht hinreichend ist, lediglich auf den Unterschied zwischen einer internen, Reziprozität zurückweisenden Perspektive und einer externen, Reziprozität unterstreichenden Perspektive hinzuweisen, denn Luther muss selbst den Reziprozitätsgedanken positiv ausnützen und eine „quasi-externe" Perspektive anlegen, um überhaupt Gottes

52 53

Siehe R. Prenter, „Synergismus"?, S. 224. Auch in Ebelings Sprachgebrauch kann man beide Niveaus antreffen, denn eine Hervorhebung des menschlichen Empfangens scheint nicht an einer reziproken Grundstruktur vorbei formuliert werden zu können. Siehe auch G. Ebeling, Luther, S. 133: „Gottes Wort im qualifiziertem Sinne dagegen ist dasjenige Wort, in dem Gott als Anwesender und Offenbarer kommt, das heißt aber das Wort, durch welches er schafft und zustande bringt, daß ich ihn als Gott gelten lassen, ihm als Gott Ehre gebe, ihm Glauben schenke, und darum ihm mich öffne, ihm vertraue, ihm mich ausliefere um so von mir selbst und von allen Mächten, an die ich mich verkauft habe, frei zu werden. Gottes Wort in diesem strengen Sinn kann nur das Wort des Glaubens sein, d.h. das Wort, das den Menschen ganz darauf anspricht, daß er Empfangender, Beschenkter, Begnadeter ist. Denn Gott gegenüber ist der Mensch nicht Täter, sondern er kann ihm allein durch den Glauben gerecht werden" (Hervorhebung von mir).

De libertate Christiana

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„erste Gabe" als die Voraussetzung der Gemeinschaft mit Gott zu begründen. Die Asymmetrie ist also nicht strukturell, sondern gebunden an den Inhalt. Göttlichkeit wird mit Sündigsein vertauscht. Für den Christen ist dies eine Befreiung, nicht von Reziprozität, sondern zu Reziprozität.54 In der Einsetzung des Christen in den „göttlichen Austausch der Gaben" findet Luthers Verständnis vom Christen seine positivste Entfaltung. Die positive Anwendung von Strukturen des Austausches zeigt, dass Reziprozität nicht nur die vollständige Demütigung und Unterwerfung des Christen impliziert, sondern auch den neuen Wert und die neue Freiheit des Menschen hervorhebt, die mit der ersten „Gabe" Christi gegeben ist. Die Grundlage der Rechtfertigung ist die Vereinigung des Christen mit Christus. Commercium admirabile und unio cum Christo folgen darauf und ziehen den Christen in die göttliche Gemeinschaft hinein. Was zunächst aussieht wie eine einseitige Übertragung, erweist sich als ein gegenseitiger Austausch.55 54

Siehe D. Korsch, Freiheit als Summe. Uber die Gestalt christlichen Lebens nach Martin Luther, S. 148: „Diese Neuerschaffung des Ichs folgt einem klar benennbaren Muster, und das soll hier besonders hervorgehoben werden: Sie geschieht als Eröffnung von Gegenseitigkeit. Gott eröffnet dem mit sich zerstrittenen, in sich zerfallenen Menschen die Beziehung zu ihm. Er tut das nicht im Modus der Herablassung aus überheblicher Distanz, sondern in der Form der Selbsthingabe. Was daraus resultiert, ist eben: Gegenseitigkeit."

55

Siehe F. W. Kantzenbach, Christusgemeinschaft, S. 42: „Es handelt sich dabei zunächst offenbar mehr um eine einseitige Übertragung als um einen wechselseitigen Austausch. [...] Das Neue besteht darin, daß jetzt aus der einseitigen Übertragung wirklich ein wechselseitiger Austausch geworden ist." Hier ist Kantzenbach näher am Kern der Sache als z.B. M. Lienhard, Zeugnis, S. 107: „Christus übernimmt also das Verderben und die Schuld des Menschen, die aus der Sünde erwachsen. Seinerseits überläßt er dem Menschen seine eigene Gerechtigkeit vor Gott. Es sei nebenbei bemerkt, daß es nicht ganz richtig ist, von , Austausch' (commercium) zu reden. Ein , Austausch' würde vermuten lassen, daß zwei Partner eine Art Tauschhandel treiben, in dem jeder von den Gütern des anderen profitiert. Im vorliegenden Fall kommen alle Güter nur von dem einen Partner, nämlich von Christus." Lienhards Formulierung macht nur Sinn innerhalb einer emischen Perspektive. Die Einseitigkeit führt zu einer Gegenseitigkeit. Wäre das nicht der Fall, würde das Bild seine Bedeutung einbüßen. W. Joest kommt deswegen der Sache ein bisschen näher, denn, obschon auch er die Einseitigkeit übermäßig betont, so wechselt er doch die Reihenfolge und unterschätzt die Gegenseitigkeit in der ehelichen Vereinigung, ohne welche Luthers Anspielung auf die sexuellen Hinweise ihre Bedeutung verlieren. W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, S. 372f: „Christus übernimmt von uns das unsrige: die Sünde, und gibt uns dafür das seinige: die Gerechtigkeit. Man muß sich zunächst klarmachen, daß dieser ,Wechsel' alles andere ist, als ein wirklicher gegenseitiger Gütertausch, bei dem jeder etwas gibt und nimmt. Er ist in Wahrheit ein Vorgang mit höchst einseitigem Gefalle (und sprengt insofern das Bild der Ehe). Denn was der Mensch hier Christus übergibt, ist ja keine positive Bestimmung seines Seins und Vermögens, sondern seine Verkehrtheit und Selbstverderbnis, und seine Schuldverhaftung über ihr."

130

Die positive Verwendung der Reziprozitätsstruktur

Das ist möglich, weil Luther stellenweise Christi Kreuzestod hervorhebt als Gottes erste unbedingte „Gabe" an die Menschen. Dadurch kommt es dem Kreuzestod zu, als ein „starting mechanism" der Gemeinschaft zu funktionieren. Und gerade weil diese „Gabe" in aller Freiheit geschieht, beinhaltet sie einen nicht einholbaren Überschuss.56 Der Nachweis einer grundlegenden Reziprozitätsstruktur in Luthers Lehre von der Rechtfertigung ist damit nicht eine Verkennung von Luthers Festhalten an der göttlichen Initiative im Heil. Auch aus externer Sicht wird diese in Form der inhaltlichen Asymmetrie bewahrt. Die Anwendung kulturanthropologischer Einsichten hat jedoch gezeigt, dass das „gratis"-Element bei Luther nicht jede Art von Reziprozität unmöglich macht. Christi „Gratis-Gabe" markiert dagegen die gemeinschaftsstiftende Initialhandlung. Was Luther zurückweist ist, dass die erste Gabe Gottes von einem vorausgegangenen Austausch abhängig sein sollte. Das ist die Pointe im „fröhlichen Wechsel". Fragistu aber wo der glaub vnd zuuorsicht muge funden werden odder herkummen / das ist freylich das notigist zuwissen. Zum ersten / an zweifei kompt er nit ausz deinen wercken noch vordinst. sondern allein ausz Jesu Christo / vmbsunst vorsprachen vnd geben (StA 2,29,28-31).

Der Nachweis einer grundlegenden Reziprozitätsstruktur in Luthers Theologie gibt Luthers Verständnis des Christen eine besondere Nuance. Das Reziprozitätsmodell in Luthers Schriften zeigt, dass ein positives Verständnis nicht den Weg der Negation einschlagen muss. Dem Negationsprinzip wird mit dem „fröhlichen Wechsel" widersprochen, bei dem die positive „Gabe" der Ausgangspunkt ist. Mit dem Ausgangspunkt im Begriff der Gabe wird deutlich, dass der Christ nicht nur an Jesu Kreuzestod Teil hat, sondern auch an der Auferstehung.57 Die Reziprozitätsanalysen untermauern somit unter anderem Uwe Rieske-Brauns Bestimmung von Luthers Theologie als theologia simul 56

57

Vgl. A. Gouldner, Norm, und G. Simmel, Exkurs. Dies könnte auch die Pointe hinter O. Bayers Hervorhebung des kategorischen Charakters der „Gabe" sein, der nur noch innerhalb des Rahmens eines nuancierten Reziprozitätsbegriffes entfaltet werden müsste, um diese Untersuchung unterstützen zu können. Vgl. z.b. die Vorsetzung zum Zitat, StA 2,30,2-13: „Vnd szo wir got vorsunet sein / durch seinsz suns todt / do wir sein feindt waren / vil mehr szo wir nu vorsunet sein / werdenn wir behalten werdenn durch sein leben. Sich alszo must Christum in dich bilden vnd sehen / wie in ym got seine barmhertzickeit dir furhelt vnd anbeuttet / an alle deine vorkummende vordinst. Vnnd ausz solchem bild seiner gnadenn / schepffen den glauben vnnd zuuorsicht der vorgebung aller deiner sund. Darumb hebt der glaub nit an den wercken an / sie machen yhn auch nit / sondern er musz ausz dem blut / wunden / vnnd sterben Christi quellen vnd fliessen / In wilchem szo du siehst / das dir got szo hold ist / das er auch sein(n) sun fur dich gibt / musz dein hertz susz vnd got widderumb hold werden / vnd also die zuuorsicht ausz lauter gunst vnd lieb herwachszen / gottis gegen dir / vnd deiner gegen got."

De libertate Christiana

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crucis et resurrectionist Eine positive Nutzung der sozialen Reziprozitätsstruktur macht es leichter zu erklären, dass der Christ nicht nur am Kreuzestod Jesu, sondern auch an der Auferstehung Teil hat.

58

U. Rieske-Braun, Duellum mirabile, S. 258t

VI. Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio A. Einleitung Luthers eigener expliziter Gebrauch des Begriffes „Gabe" ist in der Periode von 1519 bis 1522 nicht extensiver als bei der Auslegung des Verhältnisses zwischen gratia und donum im Antilatomus.1 Die ausführliche Bearbeitung des Verhältnisses zwischen gratia und donum ist Teil einer größeren, viergliedrigen schematischen Entfaltung des Unterschieds zwischen Gesetz und Evangelium. Die viergliedrige Schematisierung fußt wiederum auf einer Kombination zweier dichotomer Variablen, die dazu beitragen, der Entfaltung eine eigene Stringenz zu verleihen. Diese wiederum ist ein wesentlicher Grund für den Ruf der Antilatomus-Schrift als einer der am meisten systematischen Schriften Luthers.2 Die Diskussion mit Latomus konzentriert sich vor allem auf die eine Frage, nämlich die Frage nach der Gültigkeit der Aussage: „Jede gute Tat ist Sünde." Die Argumentation baut auf der Auslegung zentraler Schriftstellen (Jes 64,5, Koh 7,20, Rom 7) auf, denn in der Exegese dieser drei Verse entscheidet sich nach Luthers Ansicht, wer Recht hat. Die folgende Analyse konzentriert sich auf Luthers Auslegung der zwei letzten Verse.

B. Luthers Auslegung von Koh 7,20 1. Die Sünde Obwohl die Berücksichtigung des Antilatomus vor allem mit der darin anzutreffenden ausführlichen Auslegung des Verhältnisses zwischen 1 2

StA 2,410-519. Als deutsche Übersetzung wird die Münchnerausgabe benutzt. M. Brecht, Martin Luther 2, S. 17; H. Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens, S. 166; Siehe auch R. Prenter, Luthers Lehre von der Heiligung; R. Hermann, Zur Kontroverse zwischen Luther und Latomus; ders. Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich".

Luthers Auslegung von Koh 7,20

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gratia und donum begründet werden kann, ist der „Ton" der Schrift in diesem Zusammenhang ebenfalls zu beachten. Im Vergleich sowohl zum Galaterbriefkommentar als auch zum Freiheitstraktat sucht man hier vergeblich nach einer überwältigenden Beschreibung der neuen christlichen Freiheit. Den „fröhlichen Wechsel" kann man zumeist als grundlegende Struktur vorfinden, so wie dies auch bei Luthers Überlegungen über die christologische Sprache der Theologie der Fall ist.3 Eine Entfaltung des christlichen Lebens in der Liebe wie im Galaterbriefkommentar ist ebensowenig anzutreffen. Die Kommunikationssituation ist eine andere. Alles wird in Hinblick auf die Verteidigung der radikalen Hauptthese der Schrift in Bewegung gesetzt. In der Auslegung von Koh 7,20 entfaltet Luther seinen Begriff von der Sünde und weist den von Latomus vorgenommenen Versuch der Differenzierung der Sünden zurück. Die Schrift kennt nur einen einzigen Begriff von der Sünde. Sünde ist nichts anderes als alles, was im Widerstreit mit Gottes Gebot steht,4 das heißt also auch, das Begehren selbst, die concupiscentia (StA 2,461,29-462,4). Deswegen ist der Rest der Sünde, der im Christen anzutreffen ist, vollgültige Sünde und wird immer sogar der guten Tat anhaften. Die Sünde ist eine Eigenschaft (praedicatio) die der guten Tat zueigen ist, ebenso wie es zum Menschen gehört, dass er lachen kann.5 Weil die Sünde als substantiell verstanden wird, ändern quantitative Differenzierungen nichts an ihrem grundsätzlichen Charakter. Sie gehört zur gefallenen Natur des Menschen (StA 2,489,17). Sünde ist ohne alle Bildrede, wo immer sie sich findet, in Wahrheit Sünde nach ihrer Natur, und es ist nicht die eine mehr als die andere, entsprechend der Eigentümlichkeit der Substanz, für die es kein mehr oder weniger gibt - mag auch die eine größer und stärker sein als die andere, wie ja auch eine Substanz größer ist als die andere - denn die Mücke ist nicht 3

4 5

Siehe auch hierzu Anna Vind: Latomus og Luther. Striden om, hvorvidt enhver god gerning er synd [Latomus und Luther. Der Streit darüber, inwiefern jede gute Tat Sünde ist]. Mit Ausgangspunkt in Luthers abschließender Zusammenfassung zeigt sie, wie der Schlüssel zu Luthers Verständnis des göttlichen Sprachgebrauchs in der Person und dem Werk Christi zu suchen ist, wie sie in der Lehre von der communicatio idiomatum ausgedrückt ist. StA 2,463,26f: „Peccatum vero aliud nihil est, quam id quod non est secundum legem die." StA 2,455,12-17: „Peccatum enim volui et nunc dico praedicatione perseitatis inesse operi bono quam diu viuimus, sicut risibile inest homini sed esca, somnus, mors, insunt praedicatione per accidens." Luther unterscheidet hier in Verlängerung der scholastischen Logik zwischen praedicatio substantiate und praedicatio accidentialis, und bestimmt somit die Sünde als eine Substanzeigenschaft des guten Werks.

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Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

weniger eine Substanz als der Mensch, und der schwache Mensch nicht weniger als der starke.6

Luther macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass er in seiner Verwendung des Wortes substantia nicht Aristoteles, sondern dem Rhetoriklehrbuch Quintilians folgt, bei dem der Begriff substantia als Synonym zu res, also dem „Wesen der Sache", verwendet wird.7 Es ist die Substanz, die darüber bestimmt, was die Sünde ist, nicht die Eigenschaften (praedicamenta), die im übrigen die Sünden kategorisieren, und sich allein auf die Macht und das Vermögen der Sünde beziehen (StA 2,470,4-8). In Latomus' Argumentation spielen diese Kategorien überhaupt keine Rolle.8 Luther kann damit die klassische Philosophie gegen Latomus in Anschlag bringen und damit den Unterschied zwischen der substantia der Sünde und ihrer praedicamenta zwischen dem Menschen vor und nach der Taufe verdeutlichen.

2. Peccatum regnans und peccatum regnatum Die Diskussion im Antilatomus dreht sich um das Verhältnis zwischen der Bedeutung der Taufe und dem peccatum reliquum. Bei der Verteidigung seiner radikalen These muss Luther Latomus gegenüber einräumen, dass die Taufe trotz des Verbleibens der Sünde im Christen dennoch einen Unterschied macht. Sowohl die Behauptung des Verbleibens der Restsünde im Christen als auch die heilswirksame Bedeutung der Taufe sind für Luther gleichermaßen unhinterfragbar. Deshalb muss er zwischen dem peccatum regnans im Ungetauften und dem peccatum regnatum im Getauften unterscheiden (StA 2,468,15483,20). In der Hervorhebung der fehlenden Herrschaft der Sünde im Antilatomus ist die Weiterführung des Freiheitsbegriffs im Freiheitstraktat zu sehen.

6

7

8

StA 2,469,9-14: „Peccatum citra metaphoram, vbi vbi fuerit vere peccatum est, natura est, nec vnum magis peccatum quam aliud, iuxta proprietatem substantiae, quae non suscipit magis neque minus, licet vnum sit maius et fortius alio, sicut et substantia vna maior quam altera, non enim minus substantia est musca quam homo, nec minus homo infirmus quam robustus." Quintilian, Inst. orat. 1. Buch, prooemium 21, wo Quintillian von der Substanz der Rhetorik redet: „[...] prima apud rhetorem elementa et quae de ipsa rhetorices substantia quaeruntur tractabimus." StA 2,469,2-4: „Vitra dicimus, sophistas non nihil capere, quae sit substantia peccati, scilicet offensio dei et legis dei transgressio, sed quale sit in praedicamento quantitatis, qualitatis, relationis, actionias, passionis, hic prorsus nihil sciunt."

Luthers Auslegung von Koh 7,20

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a) Die Bedeutung der Taufe in der Theologie Luthers Die Unterscheidung zwischen peccatum regnans und peccatum regnatum geschieht durch das Kriterium der Taufe. Es ist die hiermit zusammenhängende virtus dei infusa, die dem sündigen Menschen die Freiheit vor der Herrschaft der Sünde verleiht. 9 Luthers Taufverständnis ist in vielen Interpretationen des Antilatomus zu wenig bedacht. So wird die Taufe in Rudolf Hermanns großem Werk zur Grundstruktur des fortbestehenden Seins des Christen reduziert. 10 Diese Tendenz liegt unter anderem daran, dass man aus kontroverstheologischen Gründen an Luthers Bruch mit der katholischen opus operatum-Lehre festhalten wollte und damit ein lutherisches sola fide in Opposition zu einer Gott bezwingen wollenden Sakramentalmagie aufrechterhalten konnte. Hier konnten sich die Lutherleser auf Aussagen sowohl bei den Reformatoren als auch bei deren Gegner stützen. 11 Dass beide Seiten auf breiter Front die gegnerische Position auf der Grundlage einer solchen Gegenüberstellung interpretiert haben, trägt nicht unbedingt zu einem adäquaten Verständnis von Luthers eigenem Verständnis der Taufe bei. In der Monographie Fides infantium hat Eero Huovinen versucht, Luthers Taufverständnis aus der kontroverstheologischen Zwangsjacke zu befreien. Ausgehend vom Wunsch, den Zusammenhang mit Hilfe von Luthers Verständnis der Kindstaufe zu entwickeln, wirft er ein lutherisches Licht auf Begriffe wie fides infusa, opus operatum und character indelebilis. Nirgends weist Luther nämlich die Wirksamkeit des Sakraments zurück, sondern allein dessen babylonische Gefangenschaft unter dem katholischen Messeopfergedanken. 12 Deswegen wird die

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StA 2,470,2-4: „sed post baptismum et infusam virtutem dei, sie se habet, vt nondum penitus nihil sit, contritum tarnen est subiectum, vt iam non possit quod potuit." R. Hermann, Luthers These, S. 68-70. 78-83. Es ist auch werkwürdig, dass der katholische Lutherforscher Iserloh, der ansonsten darum bemüht ist, den sachlichen Abstand zwischen und Luther zu minimieren, nicht auf Luthers Taufverständnis eingeht, vergleiche E. Iserloh, Gratia und Donum, Rechtfertigung und Heiligung nach Luthers Schrift „Wider den Löwener Theologen Latomus". Die kontroverstheologische Agenda macht sich bereits im Sakramentsverständnis der Reformationszeit geltend. Vergleiche Tridentinum, Sessio VII, Decretum primum, De sacramentis, DS 685,4-6: „Si quis dixerit, per ipsa novae Legis sacramenta ex opere operato non conferri gratiam, sed solam fidem divinae promissionis ad gratiam consequendam sufficere: an.s." E. Huovinen, Fides, S. 59: „Luther verwirft das Opferverständnis der falschen Messe und gibt damit auch die Einschätzung des Sakraments ,als vollbrachtes Werk' auf, da es in diesem Sinne zu einem Gott dargebrachten sakrifizialen Opfer des Menschen pervertiert ist. Dagegen ist jenes sakramentale Opfer, d.h. Gottes Werk für die Menschheit, das den Empfängern von Taufe und Abendmahl sakramental zugeeignet wird, nicht Gegenstand der apus-operatum-Kritik."

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Bedeutung des Sakraments auch nicht in Luthers Theologie abgeschwächt, ganz im Gegenteil! (S. 65). Den Schlüssel zu Luthers Verständnis der Taufe und des Kinderglaubens holt Huovinen in der Grundstruktur aus dem Sermo de duplici iustitia (S. 23-43).13 Die in diesem Sermon vorgenommene Verknüpfung des passiven Aspekts, der ersten Gerechtigkeit, mit dem aktiven Aspekt, der zweiten Gerechtigkeit, bewahrt die Spannung zwischen dem Glauben als „Gabe" und als Aktivität. In der ersten Gerechtigkeit wird der Christ mit Christus vereinigt. Die Möglichkeitsbedingung für die Vollendung der ersten Gerechtigkeit ist dabei etabliert, wenn der Christ Gottes Zuwendung im Glauben beantwortet (S. 27).14 Im Taufverständnis in De captivitate Babylonica ecclesiae findet Huovinen das gleiche Verständnis des Doppelcharakters des Glaubens ausgedrückt im Verhältnis zwischen promissio und fides (S. 29f).15 Huovinens Interpretation bereichert und untermauert die hier vorgetragenen Analysen von Luthers Rechtfertigungslehre aus der Perspektive der Begriffe „Gabe" und Reziprozität. Der Glaube ist sowohl donum dei als auch Antwort des Menschen, also sowohl „Gabe" von Gott als auch „Gabe" für Gott. Die Unterscheidung zwischen Glauben als donum dei und Glauben als von Gott geschaffene menschliche Aktivität zeigt, dass Luther auf zwei verschiedene Weisen vom Glauben reden kann, einerseits als „Gabe", andererseits als Werk (S. 33ff); das heißt demnach als „Gegengabe" - wenn man sich der Terminologie des Austausche bedienen will. Diese Unterscheidung ist von fundamentaler Bedeutung für Luthers Verständnis der Bedeutung der Taufe. In der Taufe wird der Täufling mit Christus gekreuzigt und steht mit ihm auf. Dieser Tod und diese Auferstehung geschehen in dem Augenblick, in dem die Taufe geschieht (S. 67).16 In der Taufe empfängt der Getaufte die fides 13

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Siehe ζ. B. StA 1,221,10-12: „Haec ergo iusticia datur hominibus in Baptismo et omni tempore, verae poenitentiae, ita vt homo cum fiducia possit gloriari in Christi, et dicere meum est, quod Christus vixit, egit, dixit, passus est, mortuus est." Zit. Seite 66, Fußnote 53. StA 2,217,9-19: „Nos ergo aperientes oculum discamus, magis uerbum quam signum, magis fidem quam opus, seu usum signi obseruare. Scientes, ubicunque est promissio diuina, ibi requiri fidem. Esseque utrunque tarn necessarium, ut neutrum sine utro efficax esse possit. Neque enim credi possit, nisi assit promissio, nec promissio stabilitur, nisi credatur. ambae uero si mutuae sint, faciunt ueram et certissimam efficatiam sacramentis. Quare, efficatiam sacramenti, citra promissionem et fidem querere, est frustra niti, et damnationem inuenire. Sic Christus qui crediderit et baptisatus fuerit, saluus erit, qui non crediderit, condemnabitur. Quo monstrat, fidem in sacramento adeo necessariam, ut etiam sine sacramento seruare possit, ideo noluit adiicere, Qui non crediderit, et non baptisatus fuerit." StA 2,217,20-34: „Significat itaque baptismus duo, mortem et resurrectionem, hoc est plenariam consumatamque iustificationem. [...] Hanc mortem et resurrectionem ap-

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infusa (StA 2,221,15), der in der Latomusschrift als virtus dei infusa auf-

taucht. Für Luther ist die Taufe deswegen ein effektives Gnadenzeichen, das selbst auch den gottlosen Erwachsenen verändern kann (S. 68). Luthers Verständnis der Taufe kommt hier funktionell gesehen der opus operatum-Lehie gleich.17 Es ist, trotz seines Bruchs mit der scholastischen Theologie, nicht im absoluten Gegensatz zu ihr zu verstehen. Ein Vergleich mit der Abendmahlsschrift von 1519, zu der Huovinen nicht Stellung bezieht, unterstützt diese Deutung noch weiter. Luther unterscheidet hier zwischen dem Sakrament, das zum einen als opus operatum, und zum anderen als opus operantis verstanden wird (StA

1,281,40-283,5). Das ist nur auf den ersten Blick eine Abschwächung der Bedeutung des vollzogenen Sakraments. In der Unterscheidung zwischen opus operatum und opus operantis nimmt Luther zur Möglichkeit des Missbrauchs des Sakraments Stellung. Missbrauch ist nur möglich, wenn der Teilnehmende selbst in den Missbrauch mit einbezogen ist. Dies ist auf der anderen Seite nur möglich, wenn das Sakrament in sich selbst eine Heilswirklichkeit mitteilt, die im Glauben vollendet werden kann. Alßo auch hie / yhe edler das sacrament ist / yhe gro(e)ßer schaden auß seynem mißprauch kommet vbir die gantzen gemeyn / dan es ist nit vmb seynet willen eyngesetzt / das es gott gefalle / ßondern vmb vnßer willen / daß wir seyn recht brauchen / den glauben dran vben / vnd durch dasselb gott gefellig werden. Es wirckt nichts vberall / wen es aHeyn opus operatum ist dan schaden. Es muß opus operantis werden / gleych wie brott vnd weyn / wirckt nichts dan schaden / ßo man seyn nit braucht / sie gefallen gott an yhn selb / wie hoch sie mügen. Alßo ists nit gnug / das das sacrament / gemacht werde Es muß auch praucht werden ym glauben (StA 1,282,10-18).

Das Gott Wohlgefällige hat sich vom opus operatum-Aspekt zum opus operantis-Aspekt verschoben. Das unterstreicht, dass es Gott ist und nicht der Mensch, der im Sakrament handelt. Was die Kindstaufe an-

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pellamus novam creaturam, regenerationem et spiritualem natiuitatem, quam non oportet allegorice tantum intelligi de morte peccati et uita gratiae, sicut multi solent, sed de vera morte et resurrectione. [...] Nam donee in carne sumus, desyderia carnis mouent et mouentur. Quare dum ineipimus credere, simul ineipimus mori huic mundo, et uiuere deo in futura uita, ut fides uere sit mors et resurrectio, hoc est, spiritualis ille baptismus, quo immergimur et emergimus." E. Huovinen, Fides, S. 68f: „Luthers Auffassung von der Wirkung der Sakramente weist deutlich solche Elemente auf, die den ursprünglichen theologischen Intentionen der opus-operatum-Lehie analog sind. [...] sachlich sind in [...] ,De captivitate' bereits Akzentuierungen enthalten, deren Abstand zur scholastischen opus operatumLehre keineswegs so groß ist, wie man in der Forschung lange angenommen hat. In seinen späteren Arbeiten, beispielsweise in seiner Schrift ,Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn' aus dem Jahre 1528, gebraucht er schon explizit eine Terminologie, die seinen recht verstandenen ex-crpere-operato-Ansatz deutlich erkennen läßt".

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geht, bei der das Kind keine fides propria hat, wird dies herbeigeführt durch die fides aliena, wenn die Kirche betet und das Kind zur Taufe bringt. Mit der Hilfe von Gottes Wort und dem Glauben der Kirche wird dem Kind eine fides infusa geschenkt. 18 Huovinen behauptet in seiner Interpretation von De captivitate Babylonica ecclesiae, dass die Kindstaufe bei Luther keine Ausnahme ist, sondern vielmehr ein paradigmatischer Ausdruck für Luthers Verständnis der Wirkung des Sakraments (S. 70). Deswegen schließt Luthers Theologie auch nicht völlig den Gedanken vom character indelebilis aus. Zwar muss er ein Verständnis zurückweisen, das den character indelebilis an einen im Menschen einwohnenden habitus bindet. Das ändert jedoch nichts an der Grundauffassung, dass die Taufe niemals ihre Bedeutung verliert. 19 Sie bleibt immer das Schiff, mit dem sich der Schiffbrüchige retten kann (StA 2,211,27-37). Die Taufe ist eine ständige und notwendige Voraussetzung dafür, dass Unglaube wieder Glaube werden kann, denn der Glaube ist kein autonomes opus hominis.20 Man kann daher von einem character indelebilis bei Luther sprechen, als der character indelibilis an die Taufe selbst und nicht an den Getauften gebunden ist. Das Verständnis der Taufe ist dem Wesen nach nicht von dem unterschieden, das Luther im Taufsermon von 1519 formuliert: Hie ist nu das dritte stuck / des sacraments zu handeln / das ist der glaub / das ist / das man diß alles festiglich glaub / das das sacrament / nit allein bedeut / den todt vnnd auffersteeung am Jüngsten tag / durch wilche der mensch new werd ewiglich an sund zu leben / Sondern das es auch gewißlich dasselb anhebe vnd wirck / vnd mitt gott vorpyndet / das wir wollen biß ynn den tod / die sund todten vnd widder sie streyten / vnd her

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E. Huovonen, Fides, S. 69: „Gerade in der Kindertaufe verwirklicht sich somit die für die scholastische opus-operatum-Lehxe spezifische Intention, daß das Sakrament unabhängig von der subjektiven Disposition des Empfängers Gnade vermittelt." StA 2,211,17f: „Ita uides, quam diues sit homo Christianus siue baptisatus, qui etiam uolens non potest perdere salutem suam quantiscunque peccatis, nisi nolit credere." Ε. Huovinen, Fides, S. 164: „Luther versteht also die unzerstörbare Gabe der Taufe so, daß signum, vis und res der Taufe stets Realitäten im Leben des Menschen sind. In einem Menschen, der ungläubig geworden ist, bewirkt die Kraft des Sakraments ihr ,fremdes Werk' (opus alienum), wohingegen sie im Gläubigen ihr ,eigenes Werk' (opus suum) vollbringt." Siehe StA 2,207,15-19: „Igitur, sicut impius potest baptisare, id est, uerbum promissionis et signum aquae super baptisandum ferre, ita potest et promissionem huius sacramenti proferre et ministrare uescentibus, et simul ipse uesci, sicut Iudas traditor in coena domini, manet tarnen semper idem sacramentum et testamentum, quod in credente operatur suum opus, in incredulo operatur alienum opus." Hier geht es zwar um das Abendmahl und die manducatio impiorum, aber nach Huovinen hat diese Haltung auch Bedeutung für Luthers Verständnis der Taufe. Die Taufe schafft selbst den Glauben in den Kindern, deshalb schadet die Taufe ihnen nicht. Das Verständnis der Wirkung des Sakraments ist hier das gleiche wie in der Abendmahlsschrift von 1519 (siehe oben).

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widderumb vnß wolle zu gute halten vnd gnedig mit vns handeln / nit richten nach der scherpfe / das wyr an sund nit seyn ynn dissem leben / biß das wyr reyn werden durch den todt.21

In der Taufe hat die Auferstehung bereits begonnen. Es ist alles andere als zufällig, dass Luther über das Taufwasser und das Kreuzeszeichen noch ein weiteres rituelles Element bei seinem großen liturgischen Aufräumen im Taufbüchlein von 1526 beibehält, in dem alles ohne direkten Bezug zur Schrift verschwindet.22 Unmittelbar nach der Taufe gibt der Pfarrer das Kind den Paten zurück: Denn sollen die paten des kindlein halten ynn der tauffe, und der priester spreche, weil er das westerhembd an zeucht (WA 19,541,10-13).

Im selben Moment, in dem das Kind das Taufkleid angezogen bekommt, sagt der Pfarrer: Der Almechtige Gott und vater unsers herrn Jhesu Christi, der dich anderweyt geporn hat durchs wasser und den heiligen geist, und hat dir alle deine sunde vergeben, der stercke dich mit seiner gnade zum ewigen Leben. Amen (WA 19,541,14-17).

Obwohl Luther in der Vorrede die äußeren Dinge im Taufritual aufgezählt hat und betont, dass sie weniger wichtig sind und deswegen auch weggelassen werden können (WA 19,538,3-10), behält er doch das Kreuzeszeichen und das Taufkleid bei. Die Einkleidung ins Taufkleid ist eines der deutlichsten Zeichen der Wirkung des Sakraments, ein Zeichen für die Neuschöpfung des Menschen. Das Taufkleid ist als Bild für die Auferstehung und die Geburt des neuen Menschen zu betrachten, das Kreuzeszeichen verweist dagegen auf den Tod des alten Menschen. Es führt ein gerader Weg von Luthers Verständnis der Taufe im Jahre 1519 zu Luthers Beibehaltung des Taufkleides in der Revision des Taufrituals von 1526.23 21

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StA 1,264,12-19. Luther führt seine Präzisierungen betreffend der Frage, in welchem Ausmaß der Getaufte rein geworden ist und inwiefern weiterhin von einer Sünde die Rede sein kann, die getilgt werden muss (StA 1,264,19-25): „Alßo verstehstu wie eyn mensch vnschuldig / reyn an sund wirt yn der tauff / vnd doch bleybit voll / vill poßer neygung das er nit anderß reyn heyst / das das er angefangen ist reyn tzu werden / vnd der selben reynickeit eyn zeichen vnd bund hatt / vnd yhe mehr reyn werden soll / vmd wilchs willen yhm gott seyn nachstelligen vnreynickeyt nit rechnen will / vnnd alßo mehr durch gottis gnediges rechnen dann seyns weßens halben reyn ist / wie der prophet sagt ps 31." WA 19,537-541. Hierzu A. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen Bd. 5, S. 159162. Siehe auch S. Peura, Wort, Sakrament und Sein Gottes, S. 54f, wo Peura mit dem Ausgangspunkt in einer Taufpredigt von 1534 zeigt, wie Luther Gottes Anwesenheit im Taufwasser parallel zu Gottes Anwesenheit in den Elementen des Abendmahls

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Das Verständnis, das hier hervortritt, enthält die Vorstellung einer durchgreifenden Neuschöpfung des menschlichen Seins. Die Taufe unterscheidet deutlich zwischen einem „Vorher" und einem „Nachher", zwischen dem Sein des Ungetauften und dem Sein des Getauften. Zur gleichen Zeit dehnt Luther mit Hilfe der Buße die Bedeutung der Taufe als totalen Übergang auf das ganze Leben des Christen aus. Paulus' „horizontaler" Übergang vom „Zuvor" zum „Danach" wird von Luther mit einem „vertikalen" simul übersetzt.24 Deshalb behält die Buße ihre zentrale Position bei. Die Funktion, die die Buße erfüllt, ist jedoch nur auf dem Hintergrund der Taufe denkbar. Deswegen bewahrt die Taufe ihren Charakter als radikale Neuschöpfung. Oder anders gesagt: Die szmwZ-Bestimmung wird erst auf dem Hintergrund der Neuschöpfung durch die Taufe möglich. Vor der Taufe ist der Mensch eindeutig Sünder. Nach der Taufe ist der Mensch Sünder und gerecht. Damit drückt die Taufe auch den Umstand aus, dass die erste „Gabe" die „Gabe" Gottes ist. Schon allein aus diesem Grund kann Luthers Verständnis des Christen die Taufe auch nicht als Übergangsglied entbehren. Zwar bringt Luthers Entfaltung der Taufe im Antilatomus keine markante Entfaltung der Auferstehungsdimension mit sich. Doch ist die Funktion der Taufe als markantes Zeichen, das zwischen einem „Zuvor" und einem „Danach" unterscheiden hilft, deutlich hervorgehoben. b) Der Unterschied zwischen dem Getauften und dem Ungetauften Luthers Entfaltung der Taufe im Antilatomus geht zwar nicht auf markante Weise auf die Auferstehungsdimension ein, wie dies im Galaterbriefkommentar der Fall ist. Der Unterschied zwischen dem Ungetauften und dem Getauften wird hier ausgedrückt durch eine Beschreibung dessen, was die Sünde vor der Taufe und der Eingießung der göttlichen Kraft (infusa virtutem dei) hat ausrichten können: Sie machte uns schuldig vor Gott und beunruhigte das Gewissen als ein Tyrann und trieb es von Tag zu Tag in größere Übel, und war mächtig nach Quantität, Qualität und Aktivität, herrschte räumlich und zeitlich,

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sieht: „Das Taufwasser an sich ist somit für Luther keineswegs bloß äußeres Zeichen, sondern es ist göttliches Wasser, in dem der trinitarische Gott selbst - aufgrund der Union des Wortes mit dem Wasser - nach seinem göttlichen Wesen und nach seiner Kraft gegenwärtig ist." Siehe z.B. G. Ebeling, Erwägungen zur Lehre vom Gesetz, S. 269-271; Α. K. Petersen, Shedding new Light om Paul's Understanding of Baptism, S. 3-28. Während das Sein des Getauften bei Paulus als ein „liminales Sein" zu verstehen ist, ist das Sein des Getauften bei Luther durch die Gleichzeitigkeit zweier Wirklichkeiten geprägt.

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denn über alle und immer, in allen Kräften und zu jeder Stunde hatte sie das Übergewicht. In der Kategorie der Leidendlichkeit aber war sie ein Nichts, denn sie litt nicht die Anklage des Gesetzes, wollte auch nicht angerührt sein. Dazu hatte sie ihren Sitz (Lage) im Herzen aufgeschlagen, ihr Angesicht nach unten zu beugen und zur Hölle zu eilen. Ferner, was die Kategorie der Beziehung angeht, da war es denkbar schlecht bestellt, denn sie war der Gnade entgegengesetzt und dem Zorn und Eifer Gottes unterworfen. So herrscht sie, und wir unsererseits dienten ihr. 25

Nach der Taufe ist alle Macht der Sünde gebrochen, nur einige Reste davon sind in den Gliedern des Christen zurückgeblieben. Diese Reste der Sünde soll der Christ nun „mit eigener Faust ausrotten" (nostro marte abolere). Das jedoch ändert nichts daran, dass die Ausrottung doch erst in der Herrlichkeit vollständig möglich ist (470,20-25). „Die besiegten Jebusiter" werden hier zur Hauptmetapher (Vgl S. 155f.). Das Vorhandensein von Resten der Sünde ist jedoch ein Indiz dafür, dass der Christ mit der vertriebenen Sünde in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnis steht. Zwar sind die Eigenschaften der Sünde radikal verändert, aber deren Substanz ist nach wie vor unverändert. Ihrer Natur nach ist die Sünde weiterhin Sünde. Sie ist jedoch, was die Kategorien der Quantität, der Qualität und der Aktivität angeht, nicht länger Sünde. Was allerdings die Kategorie der Passivität angeht, ist die Sünde nun vollständig Sünde (StA 2,473,38-40). Nun wird sie nämlich dazu gezwungen, das Gesetz zu ertragen. Mit Hilfe der Taxonomie des Galaterkommentars ausgedrückt entspricht der Christ durch die vollständige Passivität der Sünde der Bestimmung GVGÄ//S'/GÄ.26 Formuliert man dies im Anschluss an Luthers frühere Argumentation, ist die Sünde nun unter der Kategorie der Relation betrachtet Gottes Gnade und Gunst unterworfen. Zu diesem Ergebnis kommt Luther selbst später in der Schrift. Der Christ herrscht nun kraft der Gnade, und die Sünde ist zum Diener geworden. Die Übereinstimmung mit dem Hauptanliegen des Freiheitstraktats und den anthropologischen Überlegungen im Galaterbriefkommentar ist deutlich. Der Christ ist frei von Gottes Zorn und damit der freieste Herr von allen (siehe auch 25

StA 2,470,4-12: „reos nos agebat coram deo et conscientiam infestabat tyrannice, trahebatque de die in diem in maiora mala, eratque in quantitate, qualitate et actione potens, in vbi et quando regnabat, quia vbique et semper in omnibus viribus, omni hora praeualebat. In passionis vero praedicamento nihil erat, non enim paciebatur legem arguentem, nolebat tangi etiam. Deinde situm suum in corde posuerat, declinare faciem suam deorsum, et ad inferos properare. Porro, relatio erat omnium pessima, quod opponebatur gratiae, subiectum irae et furori dei. Sic regnabat, nos seruiebamus."

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Die Anführungszeichen über dem letzten Element des Terms sind an dieser Stelle weggelassen, da hier nicht länger von Heuchelei die Rede sein kann, sondern nur noch davon, dass der Christ weiß, dass Werke keine Rettung bewirken können.

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StA 2,264,17). Ausgehend von dieser fundamentalen Freiheit kann er sich einer freiwilligen Knechtschaft unterwerfen und in seinem Äußeren gegen die Sünde kämpfen (vgl. die Werktaxonomie S. 82 ). Durch seine Verwendung der aristotelischen Kategorien hat Luther für den Hauptabschnitt der Schrift, dem Abschnitt über gratia und donum in der Auslegung von Rom 7, die Voraussetzungen geschaffen.

C. Die Auslegung von Römer 7: Gesetz und Evangelium 1. Gesetz und Sünde Durch die ganze Schrift hindurch diskutiert Luther die rechte Schriftauslegung. Luthers eigene einfache und eindeutige Schriftauslegung wird gegen die dunkle und mehrdeutige des Latomus ausgespielt. In wenigen Zeilen im letzten Teil der Schrift fasst Luther sein Verständnis der Sicht der Schrift, was die Sünde betrifft, zusammen: Die mal Das von

göttliche Schrift handelt von unserer Sünde auf zweierlei Weise, eindurch das Gesetz Gottes, zum andern durch das Evangelium Gottes. sind die zwei Testamente Gottes, geordnet zu unserem Heil, dass wir der Sünde befreit werden. 27

Die Funktion des Gesetzes ist primär „hermeneutischer" Natur. Dessen Umgang mit der Sünde hat deren Entlarvung zum Ziel. Durch das Gesetz kommt der Mensch zur Erkenntnis der Sünde (Rom 3,20). Diese Erkenntnis ist nun aber zweiteilig. Der Mensch erfährt teils die Verdorbenheit der Natur, das heißt die Sünde selbst, teils erfährt er Gottes Zorn. In der nun folgenden Vertiefung des Problems wird dies dahingehend präzisiert, dass die Natur nicht selbst dazu in der Lage ist, die wirkliche Sünde zu identifizieren, sondern den Begriff Sünde ausschließlich auf deren Ausübung hin bezogen verwendet. Die Erkenntnis darüber, dass selbst das dahinter liegende Begehren Sünde ist, setzt voraus, dass das Gesetz die Sünde entlarvt (Rom 7,7; StA 2,488,19-21). Das andere Element, Gottes Zorn, ist für den Menschen das bei weitem schlimmere. Mit der Verderbnis hätten die Menschen leben können, wenn sich nicht Gottes Zorn mit seinen Drohungen mit Tod und Hölle in den Weg gestellt hätte. Deswegen ist der Zorn schlimmer als die

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StA 2,488,15-17: „Scriptura diuina peccatum nostrum tractat duobus modis, vno per legem dei, altero, per Euangelium dei. Haec sunt duo testamenta dei ordinata ad salutem nostram, vt a peccato liberemur."

Die Auslegung von Römer 7: Gesetz und Evangelium

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Verderbnis selbst, weil der Mensch die Strafe immer mehr hasst als die Sünde (StA 2,489,10-15). Das äußere und das innere Böse, das das Gesetz offenbart, kann mit Hilfe der aristotelischen Kategorien überführt werden. Das innere Übel, die Sünde, entspricht der substantia. Das äußere Übel, der Zorn, entspricht der Relation. Das innere Übel hat der Mensch sich selbst zugezogen. Das äußere Übel stammt von Gott. Auch der Sünder steht also in einem Verhältnis zu Gott, doch das Verhältnis wird erst in der Konfrontation mit dem Gesetz offenbar. 2. Evangelium und Sünde Die Behandlung, die das Evangelium der Sünde angedeihen lässt, läuft darauf hinaus, diese zu tilgen. Was diese Absicht angeht, ist die Asymmetrie im Verhältnis zum Gesetz entscheidend.28 Es ist im Anschluss an die von Ebeling begründete Deutungstradition üblich, die Bedeutung sowohl des Gesetzes als auch der Sünde auf deren hermeneutische Dimension zu reduzieren, weil die Frage nach deren rechtem Verständnis eine herausragende Rolle spielt. Das kommt unter anderem in Luthers Kritik des Evangelienverständnisses des Latomus zum Ausdruck. Mit Hilfe der spiritus-littera-Oistinktion klagt Luther ihn an, nicht zwischen Buchstabe und Geist, Gesetz und Evangelium unterscheiden zu können.29 Luthers Entfaltung der Begriffe Sünde und Zorn, „Gabe" und Gnade sind eine Vertiefung dieser grundlegenden Unterscheidung. In der Gegenüberstellung der Begriffspaare peccatum/ira und donum/gratia ist es auch die hermeneutische Dimension, die die schematische Aufstellung strukturiert. Die soteriologische Dimension spielt, was die Aufstellung selbst angeht, eine sekundäre Rolle. Der diesen Verhältnissen übergeordnete Zusammenhang gebietet es jedoch an dieser Stelle weiter zu gehen, da eine einseitig hermeneutische Betrachtung die Sache zu verzeichnen droht. Ebeling hat diesbezüglich Recht mit seinem Nachweis eines engen Zusammenhangs zwischen der

28 29

Vergleichend sind in diesem Zusammenhang die Aussagen in StA 2,488,17f heranzuziehen: "Lex aliter non tractat peccatum, quam vt ipsum reuelet" und 491,19f: "Evangelium contra sie tractat peccatum, vt ipsum tollat" (Hervorhebung von mir). StA 2,447,6-10: „Error venit inde, quod Euangelium doctrinam legum arbitrentur. Breuiter, Duo sunt ministeria praedicationis, alterum literae, alterum spiritus. Litera est legis, spiritus est gratiae, illa ad vetus, iste ad nouum pertinet. Legis claritas est cognitio peccati, spiritus claritas est reuelatio seu cognitio gratiae quae est fides."

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R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e u n d d e r H e r m e n e u t i k . 3 0 D o c h ist d i e F r a g e , o b er in e i n e m h i n r e i c h e n d e n M a ß berücksichtigt, dass es die Soteriologie b z w . d i e C h r i s t o l o g i e ist, d i e d i e h e r m e n e u t i s c h e B e d e u t u n g t r ä g t u n d nicht umgekehrt.31 Die hermeneutische Dimension, sofern diese die Erkenntnis einer e m p f a n g e n e n „ G a b e " beinhaltet, setzt auch eine soziale D i m e n s i o n v o r a u s , d i e i m m e n s c h l i c h e n E m p f a n g e n d e r „ G a b e " d a m i t b e r e i t s e i n g e l a g e r t ist. D i e s e r s o z i a l e Z u s a m m e n h a n g k a n n d e m M e n s c h e n n u r d e s w e g e n zuteil w e r d e n , weil der Geber mit seiner durch die Selbsthingabe mit ihm identisch g e w o r d e n e n „Gabe", das Subjekt, w a s d e n Christen angeht, ersetzt hat. Dieser A u s t a u s c h k a n n sich a u ß e r h a l b d e r Relation n u r als Verzicht e r w e i s e n . W i e das Gesetz einerseits u n d des Evangeliums andererseits mit d e r S ü n d e u m g e h e n , w i r d völlig parallel dargestellt. D e s w e g e n sollte m a n u m s o a u f m e r k s a m e r auf die Variationen u n d Brüche der Parallelität achten, d i e es e b e n d e n n o c h gibt. D a s E v a n g e l i u m lehrt, w i e a u c h das Gesetz, zwei Dinge, Gottes G n a d e u n d Gottes „Gabe": D u r c h d i e Gerechtigkeit heilt es d i e V e r d e r b n i s d e r N a t u r - d.i. d i e Gerechtigkeit, d i e Gottes G a b e ist, n ä m l i c h d e r G l a u b e a n Christus, w i e es R o m . 3,12 heißt: „ N u n aber ist o h n e Z u t u n d e s Gesetzes d i e Gerechtigkeit, d i e v o r G o t t gilt, g e o f f e n b a r t " , u n d w i e d e r u m Rom. 5,1: „ N u n w i r d e n n sind gerecht g e w o r d e n u m s o n s t d u r c h d e n G l a u b e n [Zu iustificati gratis, siehe Fußnote], so h a b e n w i r F r i e d e n u s w . " . U n d Rom. 3.28: „So h a l t e n w i r es n u n , d a s s d e r M e n s c h gerecht w e r d e (allein) d u r c h d e n G l a u b e n . " U n d d i e s e Gerechtigkeit, d i e d e r S ü n d e e n t g e g e n g e s e t z t ist, w i r d in d e r H e i l i g e n Schrift z u m e i s t als d i e innerste W u r z e l gefasst, d e r e n F r ü c h t e d i e g u t e n W e r k e sind. D i e s e m G l a u b e n u n d dieser Gerechtigkeit ist als Begleiter beigestellt d i e G n a d e o d e r Barmherzigkeit, die G u n s t Gottes, g e g e n d e n Z o r n ,

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Siehe G. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, S. 227f: „Das Sein des Menschen interpretiert Luther als ein sich so oder so verstehendes Sein. Abgesehen von der Existenz als einer sich verstehenden hat alles den Charakter objektiver facta. Auf die Existenz bezogen kommt es dagegen nicht mehr als objektives Faktum in den Blick." Ebeling kann zwar auf die herausragende Rolle der Christologie verweisen, aber nur soweit sie sich innerhalb eines vorgegebenen, festgelegten hermeneutischen Schemas wiedergeben lässt. Deswegen konzentriert sich die Christologie hier auch auf die Inkarnation und das Kreuz, während die Auferstehung in den Hintergrund gedrängt wird: „Luther hat dabei nie aus den Augen verloren, daß die conversio der Existenz bewirkt ist durch die conversio Gottes zur Existenz und d.h. durch Inkarnation und Kreuz" (S. 229). Dies bedeutet in der Realität, dass die Christologie ihren bedeutungsmäßigen Mehrwert im Verhältnis zu der hermeneutischen Reduktion verliert. Die Abwesenheit einer eigentlichen Christologie in Ebelings Lutherbuch ist hierfür symptomatisch (Ebeling, Luther).

31

Eine entsprechende Anfrage ist von E. Kyndal formuliert worden in seiner Schrift: Skriftens Spiritus, S. 50.

Die Auslegung von Römer 7: Gesetz und Evangelium

145

der der Begleiter der Sünde ist - das bedeutet, dass jeder, der an Christus glaubt, einen gnädigen Gott hat. 32 Die Parallelität zeigt sich auch in der Bewertung der zwei Güter. So, wie sich der Zorn als größeres Übel als die Verderbnis der Natur erweist, ist die Gnade ein größeres Gut als die Heilung durch die Rechtfertigung. Die Heilung der Verderbnis der Natur durch die Rechtfertigung kann nämlich nicht alleine außerhalb der Gnade Gottes bestehen. Nur weil die „Gabe" die Gnade Gottes gewinnt, gibt es einen Grund, Gott zu preisen (StA 2,491,30-32). Luther präzisiert hier die Bedeutung der Gnade: Gratia muss hier ausschließlich verstanden werden als favor dei, als Gottes Gunst. Sie darf entsprechend nicht als qualitas animae gedeutet werden (StA 2,492,1). Luther hat in seiner Unterscheidung zwischen gratia und donum im Antilatomus seinen bisherigen Gebrauch der Begriffe geändert. In der Römerbriefvorlesung identifizierte er diese miteinander, genau so wie dies auch bei Paulus in Rom 5,15 der Fall ist. 33 In der Auslegung von Gal 3,7 im Galaterbriefkommentar wendet er sich explizit gegen denjenigen, der meint, gratia bedeute mehr favor als donum, als ob Gottes Zurechnung außerhalb Gottes nichts bedeute. 34 Gottes Liebe zeigt sich vielmehr in der gegenwärtigen Wirklichkeit und nicht nur im Wort

32

StA 2,491,23-30: „Per iustitiam sanat corruptionem naturae, Iustitiam vero quae sit donum dei, fides scilicet Christi, sicut Ro. iij. dicit. Nunc autem sine lege manifestata est iustitia dei. Et iterum Ro. v. Iustificati gratis ex fide, pacem habemus etcetera. Et .iij Arbitramur enim hominem iustificari ex fide. Et haec iustitia peccato contraria in scripturis ferme pro intima radice accipitur, cuius fructus sunt bona opera. Huic fidei et iustitiae comes est gratia seu misericordia, fauor dei, contra iram, quae peccati comes est, vt omnis qui credit in Christum, habeat deum propitium." Luther fügt in seine Wiedergabe von Rom 5,1 ein gratis ein, das weder in der Vulgata noch in der Ausgabe des Erasmus zu finden ist, das seinem Anliegen jedoch ausgezeichnete Dienste leistet.

33

WA 56,318,28f: „ ,Gratia Dei' autem et ,donum' idem sunt sc. ipsa iustitia gratia donata per Christum." Man kann dahingehend argumentieren, dass die Beifügung das gleiche artikuliert, was die Pointe des Antilatomus darstellt und die Interpretation der Römerbriefvorlesung ist offen für die Differenzierung des Antilatomus. Luther sagt hier beispielsweise unmittelbar vorher: „Mud, in gratia vnius' de personali gratia Christi inteligitur, respondetur ad peccatum proprium et personale Ad§, ,donum' autem ipsa iustitia nobis donata" (318,24ff). Nach E. Iserloh, Gratia, S. 147. Die Unterscheidung wird jedoch in der Römerbriefvorlesung zu nichts verwendet. Das pointierende Unterscheiden im Antilatomus ist neu.

34

WA 2,511,14-17: „Aut ergo nihil facit, aut accipiere spiritum et reputari ad iusticiam idem erit. Quod et verum est, et ideo refertur, ne divina reputatio extra deum nihil esse putetur, ut sunt, quibus verbum Apostoli,gratia' magis favorem quam donum significari putatur. Nam favente et reputante deo vere accipitur spiritus, donum et gratia. Alioquin ab aeterno gratia fuit et intra deum manet, si tantummodo favorem significat, eo quo in hominibus modo favor est. Deus enim sicut diligit reipsa, non verbo tantum, ita et favet re praesente, non tantum verbo."

146

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

alleine. Die Passage ist in der revidierten Ausgabe des Kommentars von 1523 getilgt.35 Im Antilatomus versteht Luther nun gratia vor allem als favor dei?6 Es gibt deswegen allerlei Gründe, die Änderungen in der Latomusschrift als Ausdruck einer bewussten Entscheidung anzusehen. Zieht man die weitere Entwicklung Luthers mit in Betracht, sieht es so aus, dass die Latomusschrift den ersten Schritt bei der begrifflichen Verselbständigung des donum markiert, die dann beim späteren Luther deutlich wird und in der Zeit um den Antinomerstreit kulminiert. Hier wird donum ausschließlich mit der Heiligung verknüpft und die gratia mit der Rechtfertigung, genau so wie das schon die ganze Zeit bei Melanchthon der Fall gewesen ist.37 Doch das ist in der Latomusschrift noch nicht so und die Veränderung des Gebrauchs der Begriffe durch das Werk Luthers hindurch ist nicht notwendigerweise deckungsgleich mit einer entscheidenden theologischen Veränderung. Wie schon früher hervorgehoben, ist die Stringenz in Luthers Theologie nicht terminologisch, sondern eher strukturell begründet. Wenn der ältere Luther sich anscheinend dem bei Melanchthon anzutreffenden Verständnis von gratia und donum annähert, ist dies also in erster Linie nur der Ausdruck eines veränderten Gebrauchs der Terminologie und nicht notwendigerweise Ausdruck einer Veränderung der grundlegenden Ansichten Luthers. Doch ist zu berücksichtigen, dass ein veränderter Gebrauch von Begriffen bezüglich des durch diese umrissenen Inhalts zu inhaltlichen Verschiebungen führen kann, und zwar in dem Sinne, dass dieser dann leichter bestimmte Aspekte nahelegt als andere. So gesehen ist die nachreformatorische Reduktion der Rechtfertigung eine Konsequenz der terminologischen Unterscheidung von Rechtferti-

35

36 37

1523 wird die ganze Passage von „et ideo" bis „non tantum verbo" gelöscht. Siehe EGal 111,263, wo die Auslassungen in der Ausgabe von 1523 mit einer Klammer markiert werden. Siehe M. Schloenbach, Glaube als Geschenk Gottes. Das Glaubensverständnis Luthers nach der Unterscheidung von Gnade und Gabe, S. l l f . StA 2,491,32-492,2: „Gratiam accipio hic proprie pro fauore dei, sicut debere, non pro qualitate animi, vt nostri recentiores docuerunt." Bei Melanchthon ist donum eindeutig pneumatologisch qualifiziert und schließt sich an die Gnade an. Siehe auch Loci 1521 (StA Π/1,104,32-105,3): „Gratiam vocat favorem dei, quo ille Christum complexus est et in Christo et propter Christum omnes sanctos. Deinde quia favet, non potest deus non effundere dona sua in eos quorum misertus est [...] Donum vero dei est ipse spiritus sanctus, quem effundit deus in corda suorum." Zugleich versteht Melanchthon den Glauben als Frucht des Geistes,womit donum und gratia wieder zusammengebracht werden, wenn auch auf andere Weise wie bei Luther. So formliert er (105,19-21): „In summa, non aliud est gratia nisi condonatio seu remissio peccati. Donum est spiritus sanctus regenerans et sanctificans corda." Siehe hierzu R. Flogaus, Luther versus Melanchthon? Zur Frage der Einheit der Wittenberger Reformation in der Rechtfertigungslehre, S. 36-42.

Gratia und donum

147

gung und Erneuerung, die wiederum auf der späteren Unterscheidung von gratia und donum beruht.38

D. Gratia und donum 1. Haupttendenzen der Forschung Nicht ohne Grund hat der Antilatomus immer wieder vor allem wegen des hier formulierten Verhältnisses von gratia und donum Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In Luthers Verständnis dieses Verhältnisses hat man versucht, einen Schlüssel für die Klärung des Verhältnisses der forensischen zu den effektiven Aspekten der Rechtfertigung zu sehen. Großer Eifer ist in Versuche investiert worden, diese gegenseitige Relation zu entwirren. Drei Haupttendenzen dieser Versuche lassen sich im Nachhinein unterscheiden: Man betont entweder 1) die Einheit der Begriffe, 2) die Gnade oder 3) den Aspekt der „Gabe". Für die Einheit der Begriffe hat sich unter anderen Rudolf Hermann stark gemacht. In seiner Abhandlung Luthers These: gerecht und Sünder zugleich verweist er darauf, dass in Luthers Unterscheidung zwischen gratia und donum keine zeitliche oder wertende Differenzierung anzutreffen ist (S. 84). Dieses verdankt sich dem Umstand, dass donum hier das gleiche bedeutet wie das Festhalten des Glaubens an der Gnade (S. 98): „Das donum zeigt, daß die gratia die Sünde wirklich getroffen und daß die Sünde ihren Meister in der gratia gefunden hat" (S. 88). Die sanativen Elemente müssen in direkter Relation zum Glauben an die Vergebung gesehen werden (S. 109). Die „Gabe" drückt also nur den Aspekt des Empfangens der Gnade aus. Regin Prenter schließt sich in Spiritus Creator an Hermann an, nuanciert aber das Bild, indem er die christologische Qualifizierung der Begriffe herausstellt. Luthers Unterscheidung zwischen gratia und donum ist hier nur Ausdruck eines gedanklichen Experiments Luthers: „Daß die gratia ein größeres Gut sei als das donum, besagt nur, daß die gratia der Ursprung des donum ist" (S. 47). Zugleich ist Luthers Unterscheidung Ausdruck für eine Spannung zwischen „einer Theologie der Prädestination und einer Theologie der Versöhnung", die von „Christi realer, erlösender Gegenwart" geprägt ist (S. 49f). Mit dieser letzten Präzisierung hat Prenter innerhalb

38

Siehe auch hierzu F. Nüssel, Allein aus Glauben. Zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre in der konkordistischen und frühen nachkonkordistischen Theologie.

148

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

der Rahmenbedingungen einer eher traditionellen Lutherforschung die finnische Lutherinterpretation vorweggenommen. Sowohl Hermann als auch Prenter können infolge ihres Verständnisses von gratia und donum an der Einheit von Rechtfertigung und Heiligung festhalten. Bei Walther Matthias trifft man in seiner Abhandlung „Imputative und sanative Rechtfertigung" eine einseitige Konzentration auf den forensischen Aspekt an. Diese tritt zwar auch bei Hermann auf. Bei Matthias bedeutet dies jedoch, dass die Einheit von gratia und donum vollständig gebrochen ist. Donum ist ein unter dem Aspekt der Gnade abgetrennter und untergeordneter Begriff (S. 145). „Glaube und Gaben der Gerechtigkeit sind die anthropologische Seite der Rechtfertigung, aber sie haben nur indirekt etwas mit der göttlichen Gnade und mit der Sündenvergebung zu tun, sie sind Folge und Aneignungsmittel" (S. 139). Die letzte Möglichkeit, eine Betonung der „Gabe" vorzunehmen, ist unter anderem bei Bengt Hägglund anzutreffen. Hägglund hat im Gegensatz zu den verschiedenen forensischen Interpretationen für den Vorrang der „Gabe" argumentiert. Damit hat auch er, wenn gleich auf andere Weise als Prenter, Vorarbeit zu wesentlichen Aspekten der neueren finnischen Lutherforschung geleistet. Dem Christen werden Gnade und die Vergebung der Sünde geschenkt, weil er bereits wegen des Glaubens ein neuer Mensch in Christus geworden ist.39 Wenn dennoch Unklarheiten vorliegen, so liegt das an der mangelnden Fixierung der Bedeutung von donum. Donum kann nämlich sowohl bezüglich des Christusglaubens und des inneren Menschen als auch in bezug auf den Gehorsam und auf die Früchte des Geistes gebraucht werden. Doch gibt es keinen wirklichen Gegensatz in den zwei Bedeutungsmöglichkeiten, „nur dass es eher eine Frage eines und desselben kontinuierlichen Geschehens ist, wo die Unterscheidung nur eine Differenz zwischen Anfang und Fortsetzung, Verborgenheit und Manifestation, Quelle und Ausfluss etc." markiert.40 Der entscheidende Punkt für Hägglunds Verständnis der Sache ist der enge Zusammenhang zwischen dem Glauben und Christus, der wiederum ganz deutlich an Prenters Interpretation erinnert. Dies ermöglicht es ihm, von einer realen Verwandlung des Menschen zu reden, ohne dass diese mit dem Erwerb einer neuen qualitas animae zu verwechseln wäre.41 Eine stärkere Betonung der Verwandlung des Christen ist bei dem katholischen Lutherforscher Erwin Iserloh anzutreffen. Iserloh inter39 40 41

B. Hägglund, Die Rechtfertigungslehre in der frühen Reformationstheologie, S. 115. B. Hägglund, De homine. Människouppfatningen i äldre luthersk tradition [Das Verständnis vom Mensch in der älteren lutherischen Tradition], S. 340. B. Hägglund, Rechtfertigungslehre, S. 117f.

Gratia und donum

149

pretiert in einer intensiven Diskussion mit Hermann gratia relational (S. 148) und donum habituell. 42 Donum ist eine neue Natur im Menschen, die Seite an Seite mit der alten zu existieren vermag (S. 152). Der Unterschied zwischen gratia und donum kommt dem Unterschied zwischen Rechtfertigung und Heiligung gleich; aber man missversteht diesen Unterschied, wenn man die eschatologische Dimension übersieht: „Gratia und donum müssen immer mehr zur Deckung kommen" (S. 155). Der zentrale Gesichtspunkt der Auseinandersetzung der finnischen Lutherforschung mit der traditionellen Lutherexegese ist der, dass Christus selbst sowohl favor als auch donum ist.43 Die Interpretationen stehen in direktem Gegenteil zur Konkordienformel, in der gratia zur Vergebung der Sünden reduziert ist und vollständig vom donum getrennt ist. Die Bedeutung von donum wird dort auf ein Minimum hin reduziert, nämlich zum Empfang des Glaubens und zum Vertrauen des Glaubens. 44 Die finnischen Forscher teilen die Annahme, dass die Lutherrezeption entscheidend von der Bedeutungsreduktion durch die Konkordienformel geprägt ist. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Hermanns Reduktion der „Gabe" des Glaubens „to a mere relation". 45 Nach Peura kommt man nur dann zu einem adäquaten Verständnis, wenn man den Gedanken von der unio cum Christi als Schlüssel nimmt: „The core of the matter is that the meaning of baptism, the death of sin and the resurrection of the new person, becomes effective in the baptized person because God unites himself with the sinner both through the sacramental act and through faith."46

2. Symmetrie und Asymmetrie in Luthers Schematisierung Die Gegenüberstellung der Begriffe peccatum/ira und donumlgratia setzt eine Kombination der beiden konträren Begriffspaare malum/bonum und externum!internum voraus. Mit Blick auf die Galaterbriefvorlesung ist festzuhalten, dass Luther hier ausschließlich die Rechtfertigung im 42 43 44

E. Iserloh, Gratia, S. 148. So ζ. B. S. Peura, Christ. Siehe SD ΙΠ,ΙΟί (BSLK 917,34-918,6): „Haec bona nobis in promissione evangelii per spiritum sanctum offeruntur. Fides autem unicum est medium illud, quo illa apprehendimus, accipimus nobisque applicamus. Ea fides donum Dei est, per quod Christum redemptorem nostrum in verbo evangelii recte agnoscimus et ipsi confidemus, quod videlicet tantum propter ipsius obedientiam, ex gratia, remissionem peccatorum habeamus et iusti a Deo reputemur et in aeternum salvemur."

45 46

S. Peura, Christ, S. 47. Vgl. R. Hermann, Luthers These, S. 109f. 280. S. Peura, a.a.O., S. 54.

150

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

(Substanz)

Die Entfernung der Sünde durch das Evangelium Duplex bonum

Externum

Ira

Gratia Favor dei

Internum

Peccatum Concupiscentia, corruptio naturae, fermentum malum

Donum Iustitia, fides Christi, intima radix, fermentum bonum, cognitio gratiae

Partial

Die Entlarvung der Sünde durch das Gesetz Duplex malum

Total

Relation

inneren Menschen beschreibt. Diese Beobachtung wird wieder wichtig, wenn man den Antilatomus mit der Wartburgpostille vergleicht. Die im Text selbst vorfindliche schematische Aufstellung kann in Verlängerung von Luthers eigener Darstellung unter Miteinbeziehung des Verhältnisses zur Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, der Anwendung aristotelischer Kategorien und der Relation zwischen Total· und Partialaspekt folgendermaßen ausgebaut werden:

Abb. 9. Duplex malum - duplex bonum I

Luthers eigene „schematische" Darstellung von Gesetz und Evangelium ist hier versuchsweise an die aristotelischen Kategorien Relation und Substanz gekoppelt, die Luther zuvor bei der Beschreibung des Unterschieds zwischen dem Getauften und dem Ungetauften verwendet. Diese Koppelung bringt mit sich, dass donum Substanzcharakter erhält, wenn die Parallelität des Schemas eingehalten wird. Während es in der traditionellen Lutherforschung nicht als ein Problem angesehen worden ist, Gottes Zorn und Gottes Gnade zur Kategorie der Relation hinzuführen, so gibt es doch sehr wenige Stellen, an denen das Verhältnis des donum zu der Kategorie der substantia behandelt wird. Dies hängt unter anderem zusammen mit einem spezifischen Verständnis der scholastischen Substanztheologie zusammen, die alles Substantielle mit dem Gesetz und damit direkt mit dem menschlichen Drang, sich selbst zu rechtfertigen, in Verbindung bringt.47 Die neuere finnische Lutherforschung hat als einzige Richtung lutherischer Lutherforschung 47

Dazu M. Ruokanen, Das Problem der Gnadenlehre in der Dogmatik Gerhard Ebelings, S. 8f.

Gratia und donum

151

die Bedeutung der Substanz-Kategorie für Luthers Theologie hervorgehoben. 48 Bei der Untersuchung von Luthers Gebrauch der aristotelischen Kategorien darf man nicht übersehen, dass Luther trotz des Gebrauchs des Substanzbegriffs bei seiner Entfaltung des Charakters der Sünde nicht ein einziges Mal diesen Begriff auf das donum bezieht. Wenn die ganze Argumentation im Übrigen von einer strengen Parallelität geprägt ist, so kann diese Zuordnung nicht zufällig sein. Während Luther also keine Probleme damit hat, die Begriffe Zorn und Gnade, sowie Tod und Leben mit der Kategorie der Relation zu verbinden, 49 über die Luther später in der Enarratio Psalmi LI von 1532 schreibt, dass sie ein Minimum von Sein, aber ein Maximum an Kraft hat, 50 so hatte er bereits in seiner ersten Vorlesung, den Dictata super psalterium, Probleme mit dem Substanzbegriff. In den Dictata drückt er sich bewusst in Opposition zur gültigen philosophischen Terminologie aus. Substantia

48

49 50

Τ. Mannermaa, Einig in Sachen Rechtfertigung?, S. 334: „Die Kritik Luthers am kath. habitus-Begriif bedeutet, daß die Gnade nicht als Akzidenz in der Substanz Mensch verstanden werden darf. Dagegen bedeutet diese Kritik jedoch nicht, daß die Befindlichkeit Christi im Glauben nicht den Charakter der Substanz hätte - sonst wäre Christus ein Akzidenz im Menschen, d.h. er hätte kein Sein in sich selbst, sondern er wäre nur eine qualitative Bestimmung des Menschen selbst." StA 2,493,22-24: „vt longe, sicut dixi, gratia a donis secernenda sit, cum sola gratia sit vita aeterna Ro. vi. Et sola ira sit mors aeterna." WA 40 11,421,20-24 [Dr]: „Nam hanc distinctionem Paulus tradit, Aliud esse gratiam et aliud esse donum. Gratia significat favorem, quo nos Deus complectitur, remittens peccata et iustificans gratis per Christum. Pertinet autem ad praedecamentum relationis, quod dixerunt Dialectici minimae entitatis et maximae virtutis esse, Ne putetis esse qualitatem, sicut Sophistae somniarunt." Liest man weiter, so kann man erkennen, dass Luther jetzt die Qualifizierung des rfoni/m-Begriffs verlassen hat, wie er ihn im Antilatomus entfaltet und das nun Gegenstand einer eindeutig pneumatologischen Diskussion wird, nicht unähnlich derer, die Melanchthon bietet. Zugleich besteht hier nun auch eine klare Reihenfolge von gratia und donum·. Zuerst kommt die Gnade, danach die „Gabe", WA 40 11,421,25-32: „Pendet enim remissio peccatorum simpliciter ex promissione, quam fides accipit, non ex nostris operibus aut meritis, sed ex eo, quod Deus gratuito nos ad se revocat per compunctionem legis, ut agnoscamus eum largitorem esse gratiae. Donum seu χαρίσματα sunt, quae a Deo reconciliato per Christum post remissionem peccatorum credentibus donantur. Ad haec dona, meo iudicio, proximi tres versiculi pertinent. Nam ego coniungendus esse censeo, propterea, quod ter repetit nomen Spritus: Spiritum rectum, sanctum et principalem." Eine gründliche Untersuchung von Luthers Gebrauch von donum und gratia bedarf eines Ausblicks auf diese spätere pneumatologische Qualifizierung des donumBegriffs, damit erklärt werden kann, ob es sich hier nur um einen veränderten Gebrauch von Begriffen handelt, oder ob dieser veränderte Gebrauch der Begriffe eine veränderte Theologie mit sich bringt. Dass eigentlich nicht notwendigerweise ein eigentlicher Widerspruch besteht zwischen den beiden, zeigt unter anderem Bengt Hägglunds schematische Darstellung (zit. Seite 199, Fußnote 52).

152

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

wird in der Schrift metaphorice gebraucht. Dies ist ein Hinweis auf etwas, worauf man mit seinen Füßen stehen kann.51 Substantia bekommt eine Bedeutung, die etwa mit „Grund des Lebens" wiedergegeben werden könnte. 52 Und einen solchen kann es in der Welt nicht geben: Wäre dies möglich, so wäre Christus nicht am Kreuz gestorben. An die Stelle der Substanz tritt der Glauben als substantia rerum futurarum, das heißt: eine Substanz, die weder gesehen noch berührt werden kann. 53 Es ist die zukünftige Uberwindung des Todes, die den Lebensgrund des Glaubenden in der Welt ausmacht und offenbart, dass die Welt an sich sine substantia ist. Deswegen kann Luther die substantia fidei mit der substantia dei identifizieren und sagen, dass der Mensch hier eine permanente und bessere Substanz hat (vgl. Heb 10,S4).54 Zwei zusammenängende Aspekte sind in Luthers „Dekonstruktion" des scholastischen Substanzbegriffs im Spiel: einerseits die Frage nach der Sichtbarkeit, andererseits die Frage nach der Überwindung des Todes. Eine Parallele zu Luthers früheren Überlegungen ist im Antilatomus anzutreffen. Donum wird, wie bereits gesagt, niemals substantia genannt, sondern als fides Christi steht donum im Gegensatz zu peccatum, das als substantia hominis zu verstehen ist. Es ist so gesehen weiterhin die Substanz-Terminologie, die als überkommene das Inventar zu Luthers Formulierungen stellt. Es ist jedoch ebenfalls deutlich, dass es eben die Ambivalenz des Substanzbegriffs ist, die bedingt, dass dieser nicht mit dem donum in Verbindung gebracht werden kann. 55 51

52

53

54 55

WA 3,419,25-31: ,„Substantia' in Scriptura metaphorice accipitur tarn ex grammatical! quam physicali significatione. Et proprie, non ut philosophi de ea loquuntur, hic accipienda est. Sed pro substaculo seu subsidentia, in qua pedibus stari potest, ut non in profundum labantur et mergantur. Et sie Christus non habuit tale substaculum vite, quin caderet omnino in mortem. Si autem passus solum, non usque in mortem fuisset, substantiam utique habuisset et in quo constitisset." Dazu und zum Folgenden, siehe G. Ebeling, Anfänge, S. 189-197; R. Flogaus, Theosis bei Palamas und Luther, S. 330-342. WA 3,420,3f: „Quare breviter quiequid est in mundo, quo aliquis potest secundum hanc vitam subsistere et florere, substantia dicitur." Das Wort „Lebensgrund" ist gewählt, um Ebelings anachronistische Gegenüberstellung mittelsalterlicher Ontotogie und existentialem Denken zu vermeiden, da die Terminologie des existentialen Denkens verschleiert, dass hier auch auf eine Weise von Leben und Tod die Rede ist, die sich nicht auf die Analyse von Existenzmöglichkeiten reduzieren lässt. WA 3,420,5-8: „Sed Sancti talem non habent Heb. 10.[34] ,Consyderantes vos habere meliorem et permanentem substantiam'. Et ,fides est substantia rerum sperandarum', id est possesio et facultas rerum, non mundarum (que est visio vel sensus), sed futurarum." WA 3,440,35-38: „Has autem substantias Christus per suam non substantiam omnes destruxit: ut fideles in illis non subsistant nec confidant, sed sint sine substantia, habeant autem fidem pro eis, que est substantia alia, scilicet substantia die." Zu beachten ist, dass die geruckte Ausgabe der Enarratio Psalmi LI von 1538 weiter die Nähe des Heiligen Geistes mit Hilfe des Substanzbegriffes zu formulieren ver-

Gratia und d o n u m

153

Das Gratia-Donum-Schema fügt sich auch an die Unterscheidung von der totalen und der partiellen Dimension der Rechtfertigung an. Die externe Gnade ist unteilbar, weil der Mensch, den Gott in seiner Gnade annimmt, von Gott ganz und gar angenommen ist. Die Gnade kann deswegen nicht Seite an Seite mit dem Zorn bestehen, denn die Gnade betrifft den ganzen Menschen. 56 Aus der Perspektive der Gnade ist der Christ totus iustus. In seinen „Gaben" ist Gott hingegen unterschiedlich und vielgestaltig (diversus et multiformis; StA 2,493,20). „Gaben" begegnen nun im Plural und unmittelbar danach wiederum im Singular (StA 2,493,22), was teils Luthers fließender Terminologie zuzuschreiben ist, teils auf das breite Bedeutungsfeld der „Gabe" verweist. Während die Gnade also den Menschen ganz begnadet und heiligt (StA 2,493,25-31), 5 7 heiligt die „Gabe" nur teilweise. Sie ist wie ein Sauerteig, der in den sündigen Teig gemischt ist und dabei ist, den Teig zu durchsäuern und die Sünde auszutreiben (StA 2,493,33-494,2). Das Donum-Niveau entspricht der Bestimmung des Christen als partim iustus et partim peccator.58 Tritt man hier einen Schritt zurück und vergleicht Luthers Verständnis des Substanzbegriffs mit seiner szmwZ-Bestimmung des Chrisucht: W A 40 n,421,36f [Dr]: „Habitat ergo verus Spiritus in credentibus non tantum per dona, sed quoad substantiam s u a m " . H s zitiert nur Joh: „spiritus sanctus habitat in cordibus nostri" (421,15). Da die Enarratio Psalmi LI z u m Teil von Veit Dietrich redigiert w o r d e n ist, kann die Aussage nicht mit Sicherheit auf Luther zurückgeführt werden, weshalb das Zitat wenigstens aber als Beleg dafür herhalten kann, dass zumindest Veit Dietrich in diesem Z u s a m m e n a n g keinen prinzipiellen Widerstand gegen den Begriff substantia geleistet hat. M a n kann jedoch feststellen, dass Luther in der drei Jahre jüngeren Auslegung v o n Gen 1-3 keine Probleme damit hat, A d a m s iustitia originalis mit d e m Substanzbegriff z u verbinden. Siehe W A 42,XX,27-33.: \ substantia „Imago

Similitu to"i [ officio

] }• originalis J

quia infra dicit, Sed et vita, sapientia, in veritate, bonitate intus erga deum, foris sanctitate et obedientia membrorum, prudentia, notitia rerum super omnes, securitate, pace et maiestate gubernandi. N u n c vita, sapientia, iustiticia, bonitate sunt leprosa omnia, sicut et corpus leprosum est et vincitur animalibus et notitia rerum." Dieses Verständnis v o n iustitia originalis liegt in einer Linie mit demjenigen, das in der im Antilatomus formulierten Auffassung v o n der Sünde artikuliert wird. W e n n die Sünde Substanzcharakter hat, muss etwas anderes als die Sünde vor d e m Fall deren Platz eingenommen haben. 56

StA 2,493,11-13: „Iam sequitur, quod ilia d u o ira et gratia, sic se habent < c u m sint extra nos>."

57

Die Heiligung ist hier verknüpft mit der Gnade u n d nicht mit der „Gabe", w a s zeigt, wie wenig Luther z u diesem Zeitpunkt daran interessiert gewesen ist, diese v o n der Rechtfertigung z u trennen.

58

R. Hermann, Luthers These, S. 68-107.

154

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

sten, kann man noch eine weitere Parallele konstatieren, die innerhalb des Rahmens des gratia-donum-Schemas funktioniert. In den Dictata ist der Glaube innerhalb der Substanzterminologie bestimmt als substantia rerum futurarum. Das dritte Glied der szmw/-Beschreibung fasst den Christen als peccator in re, iustus in spe. Peccator ist der Christ, was sein Verhältnis zu dieser Welt angeht; iustus, was sein Verhältnis zu der kommenden angeht, an der der Christ bereits Anteil hat. Vergleicht man dieses Verständnis mit der gratia-donum-Distinktion, so drückt gratia die vollendete Gerechtigkeit aus, die erst auf dem donum-Niveau in der Herrlichkeit realisiert wird, an der aber der Christ kraft des donum bereits Anteil hat. Aus diesem Grund kann der sogenannte Totalaspekt nicht der Gnade vorbehalten werden, weil auch die „Gabe" an dieser Anteil hat. Der Totalaspekt tritt auf diese Weise an zwei Stellen auf, aber dies ist nicht weiter verwunderlich, da Luthers Entfaltung dieser Problematik strukturell von einem Zweinaturenmodell gesteuert wird. Dass das gratia-donum-Schema genau so verstanden werden muss, geht aus den Bildern hervor, die Luther als Illustration verwendet.

3. Das „Forensische" und das „Effektive" in den Metaphern des Antilatomus Auf die Asymmetrie in Luthers eigenen Schemata ist bereits mehrfach verwiesen worden. Diese zeigt sich hier im Unwillen, den Substanzbegriff auf das donum bezogen zu verwenden. Sie zeigt sich darüber hinaus in der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, bei der es die Aufgabe des Gesetzes ist, die Sünde zu entlarven, und die des Evangeliums, die Sünde zu tilgen. Die Entfernung der Sünde, die das Evangelium bewirkt, geschieht auf zwei Ebenen: Gottes Gnade tilgt die Sünde, so dass sie Gott gegenüber nicht mehr existiert, und Gottes „Gabe" heilt den Glaubenden, indem sie die Sünde im Christen selbst entfernt. Die eigentlichen Gegensätze ziehen sich teilweise quer durch das Schema hindurch, da der wirkliche Kampf der zwischen Gott und der Sünde ist. Luthers Wahl von Metaphern ist durch drei Hauptgesichtspunkte bedingt: 1) Die Metapher soll verdeutlichen, dass das peccatum reliquum weiterhin Sünde ist. 2) Die Rolle der Taufe darf nicht heruntergespielt werden. 3) Die eschatologische Spannung im Verhältnis von gratia und donum muss berücksichtigt werden. Drei Bilder sind an mehreren Stellen anzutreffen. Es handelt sich um dasjenige des gefangenen Räubers, des besiegten Jebusiters und des eingemischten

Gratia und donum

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Sauerteigs. Alle drei entsprechen den gestellten Anforderungen. In den zwei letzten kommt ferner ein prozessueller Aspekt zum Ausdruck. a) Der gefangene Räuber Luther verwendet das Bild vom gefangenen Räuber als Bild für den Status der Restsünde als peccatum regnatum. Wie ein gefesselter Räuber weiterhin trotz seiner Fesseln ein Räuber bleibt, ist das peccatum reliquum seiner Substanz nach weiterhin Sünde, trotz seiner gebrochenen Herrschaft. Während einerseits das Verbleiben der Sünde hervorgehoben wird, illustriert das Bild auf der anderen Seite auch den radikal veränderten Charakter der Sünde. Bezüglich aller anderer Kategorien als derjenigen der Substanz ist eine entscheidende Veränderung eingetreten (siehe S. 140f). b) Der besiegte Jebusiter Die gleiche Änderung des Charakters der Sünde kommt im Bild der besiegten Jebusiter, Kanaanäer und Amoriter zum Ausdruck, die sich weiterhin im Lande Palästina aufhalten, auch nachdem es von den Israeliten erobert worden ist. Deren Könige sind tot. Sie sind selbst tributpflichtig und müssen den neuen Herrschern dienen, aber ihre Natur ist unverändert. Anders gesagt: Der Natur und dem Blut nach sind sie weiterhin ein Teil der besiegten Völker. Erst als David sich auf den Thron setzt, werden sie schließlich ausgemerzt. Bis zu diesem Tage muss die Sünde mit der „eigenen Faust" ausgerissen werden (StA 2,470,15-25; 497,7-10). Das Faktum, dass die Sünde, obschon besiegt, weiterhin bekämpft werden muss, ist für Luther ein Beweis dafür, dass die Sünde weiterhin Sünde ist (StA 2,510,6-14). Zugleich setzt Luthers Argumentation voraus, dass eine faktische Ausrottung geschieht, die weiter geht als die non-imputatio der Sündenvergebung. Diese Argumentation zielt in zwei Richtungen. Auf der einen Seite drückt der Kampf des donum aus, dass die Sünde mehr und mehr geschwächt wird. Auf der anderen Seite zeigt die Notwendigkeit des Kampfes, dass die Sünde weiterhin zur Stelle ist. Luther macht die Sünde gleichzeitig kleiner und größer. Beide Aspekte sind für Luther gleich wichtig, weil sie aufeinander verweisen. Dass die Sünde groß gemacht wird, ist eine Voraussetzung für ihre Bekämpfung. Hat man nur die eine Seite im Blick, die Entfernung der Sünde durch Gottes

156

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

Gnade, vereinfacht m a n die v o n Luther herausgearbeitete Bedeutung.59 D i e E i n g i e ß u n g v o n G o t t e s K r a f t d u r c h d i e T a u f e ( S t A 2 , 4 7 0 , 2 f ) trifft auch die Fähigkeit der Sünde, den M e n s c h e n zu Untaten anzustiften. U m in e i n e m a n d e r e n B i l d e z u s p r e c h e n : D i e „ G a b e " r a s i e r t n i c h t n u r d i e H a a r e ab, s o n d e r n r e i n i g t d i e i n n e r s t e W u r z e l s e l b s t (intima

radix),

d a m i t d i e b ö s e n W e r k e w e n n n i c h t v o l l s t ä n d i g a u f h ö r e n , s o d o c h in geringerem Ausmaß

emporsprießen.60

Die Sünde hört jedoch

nicht

v o l l s t ä n d i g a u f . D i e S u b s t a n z bleibt d i e g l e i c h e , s e l b s t d o r t , w o sie a m m e i s t e n g e s c h w ä c h t ist. W e n n d e r C h r i s t d e s w e g e n d e n n o c h n i c h t d e m Z o r n G o t t e s a n h e i m f ä l l t , s o ist d i e U r s a c h e h i e r f ü r d a r i n z u e r b l i c k e n , d a s s d i e G n a d e u n d d i e „ G a b e " in i h m ist. A u f d e m H i n t e r g r u n d d e r G n a d e u n d der „ G a b e " w i r d die S ü n d e d e m G l a u b e n d e n nicht angerechnet.61

c) D e r e i n g e m i s c h t e Sauerteig A l s d a s Bild, d a s a m d e u t l i c h s t e n d e n p r o z e s s u e l l e n A s p e k t d e r R e c h t f e r t i g u n g a u s d r ü c k t , ist e r n e u t a u f d a s B i l d v o m S a u e r t e i g z u v e r w e i s e n ( s i e h e K a p . I V ) . D a s P o t e n t i a l d e r M e t a p h e r ist s o g r o ß , d a s s L u t h e r das Bild sowohl zur Illustrierung der Sünde62 w i e der Gabe63 v e r w e n -

59

Siehe W. Matthias, Imputative und sanative Rechtfertigung, S. 141. Die Schwächung der Macht der Sünde durch die Taufe reduziert Matthias auf die forensische Dimension: „Sie [sc. die Erbsünde] ist aber völlig abgetan hinsichtlich ihrer Kräfte (totum secundum vires), dergestalt, daß sie nun nicht mehr das Gewissen beunruhigen und den Menschen anschuldigen kann." Matthias möchte alle sanativen Aspekte aus der Rechtfertigung ausscheiden. Deswegen hat er keinen Raum für eine Aussage darüber, dass die Taufe die Sünde in allen Kategorien bis auf die Substanz schwächt. Die gleiche einseitige Fokussierung auf den Aspekt der Gnade ist bei J. Rogge, Gratia und donum in Luthers Schrift gegen Latomus, S. 151, anzutreffen: „Deren [sc. die Sünde] Wesen wird weder verkleinert noch gar annuliert. Luther macht die Sünde groß". Rogge sagt zwar: "Aber eine andere Wirklichkeit ist größer, nämlich die der Gnade, die von außen auf den Menschen zukommt und unter allen damit verheißenen Gaben als vornehmstes Geschenk den Glauben in sich birgt;" doch die Hinzufügung kann nicht in ausreichendem Maße die Aussagen fassen, die Luther damit ausdrückt, dass er sagt, dass die Sünde in re ausgetrieben wird.

60

StA 2,496,27-497,2: „Et sicut similitudo habet a Latomo inducta similis est iste modus curandi, radenti capillos vbi denuo renascuntur. Non sie donum dei, quod radices morticare laborat, et non actus sed ipsam personam purgat, vt venialia illa cessent aut certe minus pullulent." StA 2,509,39-510,2: „Ita peccatum peccatum est vere, sed quia donum et gratia in me sunt, non imputatur, non propter suam innocentiam, quasi non nocens sit, sed quia donum et gratia in me regnant." Die Lokalisierung der gratia ist an dieser Stelle zu beachten, die Luthers freie Anwendung des Begriffspaares verdeutlicht. StA 2,488,25f: „Videtur enim ferme radicale fermentum sic vocare quod fruetifieat male opera et verba."

61

62

Gratia und donum

157

den kann. Wenn das Bild für die Sünde verwendet werden kann, illustriert es, wie selbst die am wenigsten sündige Tat den Menschen zu einem Sünder macht, der immer noch der Gnade bedarf. In Bezug auf die Sünde gebraucht, drückt die Sauerteigmetaphorik aus, dass es keinen Unterschied zwischen dem Glaubenden und dem NichtGlaubenden gibt. Wenn das Bild in Bezug zur „Gabe" gebracht wird, illustriert es die Tilgung der Sünde durch die „Gabe", die bereits unter der Gnade vergeben worden ist. Hier wird das Bild gebraucht, um auszudrücken, dass es doch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Glaubenden und dem Nicht-Glaubenden gibt. Das Bild vom Sauerteig drückt auf das donum bezogen den Prozess aus, durch den der Christ in Christus verwandelt wird. Ebenso wenig wie die Vergebung der Sünden „genug" ist, sondern vielmehr eine faktische Tilgung der Sünde zur Folge haben muss, ebenso wenig kann der Glaubende sich damit begnügen, die „Gabe" einmal empfangen zu haben. Vielmehr muss er mehr und mehr in Christus einrücken, zu ihm gezogen werden und schließlich völlig in ihn verwandelt werden.64 Sowohl das Bild vom Sauerteig als auch die Vorstellung von einer Transformation zeigen, dass der Gerechtigkeit, die in der Gnade dem Begnadeten zuteil wird, ein entsprechender Prozess im Menschen folgen muss, durch den die Sünde faktisch getilgt wird. In Übereinstimmung mit der Auffassung vom Substanzcharakter der Sünde kann die letztliche Tilgung erst nach dem leiblichen Tod geschehen, dann nämlich, wenn - um mit dem anderen Bild zu sprechen - David sich auf den Thron gesetzt hat. Es ist deswegen nicht falsch, wenn beispielsweise Iserloh das Ziel der Rechtfertigung beschreibt als das, dass gratia und donum sich decken - nicht als das Überholen der gratia durch das donum sondern als dessen Einholen.65 In der Herrlichkeit braucht der 63 64

65

StA 2,492,10-12: „Quia fides est donum et bonum internum oppositum peccato, quod expurgat, et fermentum illud Euangelium in tribus farinae satis absconditum." StA 2,493,33-494,2: „Remissa sunt omnia per gratiam, sed nondum omnia sanata per donum. Donum etiam infusum est. fermentum mixtum est, laborat, vt peccatum expurget, quod iam personae indultum est, et hospitem malum extrudat, cui licentia facta est eiiciendi." Siehe E. Iserloh, Gratia, S. 155: Diese ist die grundlegende Struktur in Luthers Unterscheiden zwischen gratia und donum. Dies übersieht unter anderem Hermann aus ideologischen Gründen; siehe R. Hermann, Luthers These, S. 280: „Und ein plane transformari, ein völliges, sei es Identisch-Werden mit ihm, sei es Seine-GestaltAnnehmen, ist Gottes Wille mit uns!? Ist das wirklich Luthers Meinung? Wenn wir seine Worte genau das bedeuten lassen, was sie sagen, so kann es nicht so gemeint sein." Der Freiheitstraktat zeigt, dass Luther, wenn es um das Verhältnis des Christen zu Chrstus geht, keine Probleme damit hat, von einem „Seine-GestaltAnnehmen" zu sprechen. Hermann glaubt, dass dies eine Unterscheidung der „Gabe" vom Gebenden, von „Gabe" und Gnade nach sich zöge, doch das Gegenteil ist

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

158

M e n s c h nicht w e i t e r d i e V e r g e b u n g der S ü n d e n , d e n n in der v o l l k o m m e n e n G e m e i n s c h a f t m i t G o t t ist d e r M e n s c h e b e n a u f d e m N i v e a u d e s donum,

a l s o l e t z t l i c h totus

iustus.

D i e s ist d e r G r u n d dafür, d a s s

donum

strukturell gesehen auf der selben Ebene fungieren kann wie die Substanz der Sünde. Luther m u s s deswegen nachweisen, dass die Vergeb u n g der Sünden, die allerdings die Grundlage für die Tilgung

der

S ü n d e ist, a u c h a l l e i n e s t e h e n k a n n . S i e m u s s e i n e Ä n d e r u n g d e s L e b e n s n a c h s i c h z i e h e n . E r s t d u r c h b e i d e A s p e k t e ist d i e B u ß e v o l l s t ä n dig: Christus sagt bei Lucas a m letzten, daß die B u ß e u n d V e r g e b u n g gepredigt w e r d e in seinem N a m e n . W e s h a l b genügte nicht: V e r g e b u n g der Sünden? S t i m m t ' s nicht hiermit überein, daß die B u ß e die U m w a n d l u n g der Verderbnis u n d die b e s t ä n d i g e Erneuerung v o n der S ü n d e ist, die der G l a u b e u n d die G a b e Gottes wirkt, u n d die V e r g e b u n g ist die G a b e der Gnade, d a ß da nicht m e h r S ü n d e unter d e m Z o r n e ist? D e n n er lehrt auch nicht, j e n e eingebildete B u ß e der Sophisten z u predigen, w i e sie bis zur Stunde n o c h andauert. So lange gepredigt wird, so lange wir leben, m ü s s e n wir B u ß e tun u n d u n s erneuern, daß die S ü n d e ausgetrieben werde. [...] „Tut Buße, das H i m m e l r e i c h ist n a h e h e r b e i g e k o m m e n . " W a s heißt das anderes als das L e b e n ändern, - u n d das tut der Glaube, der die S ü n d e ausfegt - , u n d unter Gottes Herrschaft sein - das tut die G n a d e , die (die Sünde) vergibt - ? D e n n d a s n e n n t J o h a n n e s rechte Früchte (der Buße), w e n n die Sünd e ausgefegt wird u n d nicht äußere W e r k e geheuchelt w e r d e n . 6 6 Die wesentliche Erneuerung geschieht im Inneren. Doch ebenso wenig w i e im Freiheitstraktat schließt dies eine entsprechende äußere Erneuer u n g aus. D i e ä u ß e r e E r n e u e r u n g ist a b e r falsch, w e n n sie in

einer

Nachäffung einiger äußerer W e r k e besteht. Die wirkliche Erneuerung i m Ä u ß e r e n k a n n n u r als F r u c h t des G l a u b e n s g e s c h e h e n . D a s Verhält-

zutreffend. Ist der Angelpunkt der Argumentation christologisch, wird genau das möglich, was Hermann kaum über die Lippen bringt. - Siehe ζ. B. S. Peura, Christ, S. 61: „Clearly on the grounds of an exclusively forensic understanding of justification and a so-called relational ontology, this passage from Luther is either incomprehensible or reveals a pantheism. But we can discount the possibility of pantheism if we acknowledge the presupposition of Luther's understanding of transformation, unio cum Christo, where Luther's view of justification appears in its fullness." 66

StA 2,495,33-496,12: „Christus Lucae vltimo poenitentiam et remissionem praedicari dicit in nomine eius. Cur non satis erat remissio peccatorum? Nonne hue congruit, quod poenitentia est immutatio corruptionis, et renouatio de peccato assidua, quam operatur fides, donum dei et remissio Gratiae donum est, vt non sit ibi peccatum irae? Nec enim praedicari docet poenitentiam illam ficticiam sophistarum, quae ad horam durat. Quam diu praedicatur, quam diu viuitur, poenitendum et nouandum est, vt peccatum expellatur. [...] Poenitentiam agite, appropinquat regnum coelorum. Quid hoc est, nisi mutare vitam, quod fides facit peccatum expurgans, et sub dei regno esse, quod gratia facit remittens? Nam hos fructus dignos vocat Iohannes si peccatum expurgetur, et non opera externa simulentur." Die Fortsetzung verweist auf das Gleichnis vom Sauerteig nach Matt 13,33.

Gratia und donum

159

nis zwischen innerer und äußerer Erneuerung klärt sich im eigentlichen Sinne erst in dem Augenblick, in dem die Erneuerung im Lichte der Lutherischen Christologie verstanden wird. 4. Die Wirklichkeit der Relation der „Gabe" Das Interesse an der gratia-donum-Unterscheidung verdankt sich dem Umstand, dass man gemeint hat, eine Präzisierung dieser zwei beiden Begriffe könne das Verhältnis zwischen dem Imputativen und dem Sanativen bzw. zwischen dem Forensischen und dem Effektiven aufklären. Dazu eignet sich das gratia-donum-Paar jedoch nur, wenn man sich klarmacht, dass Luthers Terminologie nicht besonders präzise ist. Wie Beispiele zeigen, verändert sich sogar die genaue Qualifizierung des donum-Begniis durch Luthers Verfasserschaft. Wird diese Entwicklung bei einer Untersuchung der Begriffe bei Luther bedacht, ist es alles andere als einleuchtend, dass Luther im Antilatomus zum ersten Mal Rechtfertigung und Heiligung unterschieden haben soll, wie dies von mehreren Interpreten vorausgesetzt wird. Es deutet vieles darauf hin, dass die Unterscheidung im Antilatomus mehr terminologischer als sachlicher Art ist. Denn sie ermöglichlicht lediglich, wie auch von einer sachlichen Unterscheidung die Rede ist, ein Unterscheiden der beiden Aspekte, die als untrennbar miteinander verbunden verstanden werden. Der Wunsch, die forensische Seite der Rechtfertigung hervorzuheben, hat oftmals die Tendenz nach sich gezogen, einseitig am Vorrang der Gnade gegenüber der „Gabe" festzuhalten. Ein solches Verständnis ist jedoch nur dann möglich, wenn man übersieht, dass der Bedeutungsinhalt von donum bei Luther alles andere als fixiert ist.67 Die Probleme, die die Unterscheidung von gratia und donum mit sich bringt, lassen sich mit Hilfe einiger allgemeiner semantischer Betrachtungen beleuchten. Der Inhalt von favor dei lässt sich nicht ohne den Hinweis darauf begreifen, dass darunter auch eine Handlung zu verstehen ist. Der begriffliche Gehalt von favor dei impliziert einen Hinweis darauf, was Gott in seiner Gunst tut. Und was Gott tut, das ist nach Luthers Verständnis am prägnantesten mit „geben" zu bezeichnen.68 Gottes Geben wird der konkrete Ausdruck für Gottes Gnade. Die semantische Zusammengehörigkeit der beiden Begriffe zeigt sich auch, wenn Luther mit Paulus sagen kann „Gott sei Dank für seine unaus67

68

Ein signifikantes Beispiel für eine all zu synchrone Lutherlektüre wird in M. Schloenbach, Glaube, gegeben. Hier werden ohne Problematisierung Texte aus völlig verschiedenen Schaffensphasen zusammengestellt. Siehe auch unten Seite 211f.

160

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

sprechliche Gabe" (1 Kor 9,15), und mit der „Gabe" Gottes „überwältigende Gnade" meint.69 Während sich gratia auf Gottes Wirken in einem übergeordneten Sinn bezieht, so ist donum auf Gottes Wirken bezogen insofern als es den Menschen zu Teil wird.70 Der Zusammenhang ist das Entscheidende. Der Unterschied wird erst in dem Augenblick deutlich, in dem Gottes von außen kommendes Handeln im Menschen sprachlich gefasst werden muss. Auf diese Weise kann die Gnade sich nur als „Gabe" erweisen und die „Gabe" ist zugleich der Ausdruck für eine bereits etablierte Beziehung, nämlich die der Gnade. Unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, der Gnade einen gewissen Vorrang einzuräumen, auch wenn die Gnade nur aufgrund einer „Gabe" Wirklichkeit werden kann, die letztendlich den Menschen neu erschafft. Wenn die Gnade also somit vor der „Gabe" kommt und die „Gabe" vor der Gnade, so ist dies eine weitere Auslegung der dreigliedrigen Struktur im Freiheitstraktat, der die Vereinigung mit dem Wort und Christus als jeweils erstes und letztes Glied platziert. Dieser grundlegende Zusammenhang ist mit im Spiel, wenn Luther später donum pneumatologisch als etwas entfaltet, das auf die Gnade folgt (Siehe Seite 151, Fußnote 50). Im selben Augenblick, in dem sich donum auf die „Gaben" des Heiligen Geistes bezieht, wird mit gratia der „Geist" umschrieben, mit dem die „Gaben" gegeben werden, also letztlich favor dei. Die inhaltliche Veränderung von donum ändert nichts daran, dass favor dei weiterhin voraussetzt, dass der Glaube und Christus als „Gabe" gegeben worden sind. Hier ist es dann nicht mehr länger die Zusammengehörigkeit zwischen dem Glauben und Christus, die für Luthers Gebrauch der Begriffe entscheidend ist. Donum hat bei Luther ein außerordentlich weites Bedeutungsfeld und verschiedene Aspekte davon können kontextabhängig hervorgehoben werden. Donum kann sich auf die „Gabe" beziehen, die dem Menschen gegeben wird, also auf Christus, den Glauben, die innere Gerechtigkeit, den Heiligen Geist usw. Der Fokus liegt hier auf dem Inhalt der „Gabe". Das Gewicht kann jedoch auch auf der Handlung liegen, also auf dem Geberaspekt. Dies ist an den Stellen der Fall, wo Luther donum mit Christus oder dem Heiligen Geist identifiziert. Hier sind der Geber und die „Gabe" identisch, wie dies auch der Fall bei der Unterscheidung zwischen Christus als donum und exemplum ist.71 Diese 69 70 71

StA 2,503,5f: „Magniflcanda est gloria gratiae, nec potest satis magnificari, ita vt Paulus exclamat, Gratias deo pro inenarrabilii dono eius." Zu dieser Formulierung siehe auch A. Vind, Latomus og Luther, S. 304. Die beiden gleichen Grundvarianten sind bei M. Schloenbach, Heiligung als Fortschreiten und Wachstum des Glaubens, S. 13, anzutreffen. Schloenbach bringt zudem eine dritte Zwischenvariante ins Spiel: „Erstens: Die sanativ wirksame Gabe ist

Gratia und donum

161

Bedeutungsmöglichkeit scheint in ihrer christologischen Form am stärksten zu sein. Hier ist es nämlich möglich, auf Christi Selbsthingabe pro nobis am Kreuz anzuspielen, was beim pneumatologischen Pendant nicht möglich ist. Je weiter man sich in Luthers Werk vertieft, desto deutlicher ist der Akzent auf dem pneumatologischen Aspekt zu bemerken, der zugleich den inhaltlichen Aspekt vorantreibt: die Gabe, die dem Glaubenden gegeben worden ist. Die Entwicklung wird ab dem Großen Katechismus deutlich, wo die terminologische Trennung der Begriffe Rechtfertigung und Heiligung beginnt und donum mit wachsendem Ausmaß eindeutig der gratia untergeordnet wird.72 Aber dies ist im Antilatomus nicht der Fall. Es ist deswegen fraglich, ob man behaupten kann, dass die eindeutige Unterordnung von donum unter gratia bereits im Antilatomus vorweggenommen worden ist. Der Gegenstand der Diskussion über das Verhältnis zwischen donum und gratia kann auf die folgenden Fragen reduziert werden: Bedingt das donum die gratia auf die gleiche Weise, wie die Sünde den Zorn Gottes verursacht? Oder ist donum nur ein Ausdruck für das Festhalten des Glaubens an der Gnade, die alleine den Menschen vor dem Urteil des Gesetzes retten kann? Beide Deutungen sind in der Latomusschrift anzutreffen.73 Die Frage nach deren gegenseitigem Verhältnis ist nun zu stellen: Wenn die Frage in diesem Zusammenhang wichtig ist, so liegt das daran, dass sich mit dem Bedeutungsfeld von donum ein positives Verständnis des christlichen Lebens verbindet. Denn die eine einseitige Hervorhebung von favor dei - verstanden als remissio tendiert dazu, einerseits die negative Seite des christlichen Lebens, die fortgesetzte Sündigkeit des Christen, hervorzuheben, andererseits die Neuschöpfung allein retrospektiv zu verstehen und negierend zu entfalten. Eine Korrektur dieses Verständnisses schließt nicht aus, dass es auch weiterhin eine wesentliche Seite des donum ist, sich auf die weiter wirksame Sündigkeit des Christen hinzuorientieren, nämlich auf die faktische Vertreibung der Sünde.

mit ihrem Geber identisch. Oder zweitens·. Sie ist mit dem Geber zum Teil identisch, zum Teil sein Instrument. Oder drittens: Sie ist nur Instrument - also in keinem Teile mit ihrem Geber identisch" (Hervorh. im Original gesperrt). B. Hägglund unterscheidet in De homine, S. 340, zwischen zwei verschiedenen Hauptbedeutungen von donum (Siehe oben S. 147f). 72

Siehe ζ. B. W A 40 Π,421,20.

73

StA 2,491,28-30: „Huic fidei et iustitiae comes est gratia seu misericordia, fauor dei, contra iram, quae peccati comes est, vt omnis qui credit in Christum, habeat deum propitium." - StA 2,475,19-476,3: „Iustitia non est sita in formis illis qualitatum, sed in misericordia dei. Reuera enim si a piis remoueris misericordiam, peccatores sunt et verum peccatum habent, sed quia credunt et sub misericordiae regno degunt, et damnatum est et assidue mortificatur in eis peccatum, ideo non imputatur eis."

162

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

Die finnische Lutherforschung meinte das Problem lösen zu können, indem sie Christus sowohl mit donum als auch favor die identifizierte: „Christus ist nicht nur Gottes Gunst (favor) bzw. die Vergebung, sondern er ist auch real die Gabe (donum)." 74 Damit wird die Verbindung zwischen favor dei und donum dei so dicht, wie es überhaupt möglich zu sein scheint. Beide, favor dei und donum/iustitia sind im Christen kraft der Nähe Christi zur Stelle. Eine solche Deutung kann erklären, warum die Gnade als comes fidei beschrieben werden kann, 75 wie sie auch erklären kann, was Luther im Sinn hat, wenn er sagt, dass die Gnade aufgrund der „Gabe" gegeben wird. 76 Die finnische Interpretation ist jedoch nicht unproblematisch. Nirgends im Antilatomus wird nämlich explizit hervorgehoben, dass donum mit Christus identisch sei.77 Es wird lediglich gesagt, dass donum das Gleiche ist wie iustitia und fides Christi. Der Gedanke von Christus als dem donum spielt dage74 75

76

77

T. Mannermaa, Christus, S. 29. - Siehe auch ders., Das Verhältnis von Glaube und Nächstenliebe in der Theologie Luthers, S. 99. StA 2,491,28-30 (zit. 32, Fußnote 32). Dazu Κ. H. zur Mühlen, Nos extra nos, S. 204210. Es ist charakteristisch für das Deutungsparadigma, in dem sich zur Mühlen bewegt, dass er es in seiner Auslegung der Latomusschrift unterlässt, diejenigen Stellen zu kommentieren, an denen die Gnade von der „Gabe" abhängig gemacht wird. Zur Mühlen ist allein damit beschäftigt, den extra nos-Aspekt als Alternative zum habituellen Gnadenverständnis herauszustellen. In zur Mühlens Deutung wird gratia somit auf „Gewissheit" reduziert, „das Prinzip wahrer guter Werke" und donum drücken in erster Linie „die Externität der Gnade" aus (S. 207). T. Mannermaa, Rechtfertigung, S. 333: „Der «m'o-Gedanke erklärt nicht nur, was das Wesen der Gabe und Gnade und deren Verhältnis zueinander ist. Der Gedanke der Vereinigung von Christus und dem Glaubenden löst auch das Problem der Zurechnung der Gerechtigkeit und zugleich das Problem der Rechtfertigung überhaupt. Der Glaube rechtfertigt, weil er Christus als Gabe und Gnade gegenwärtig hat. Darum wirken auch beide, sowohl Gnade als auch Gabe in ihrer Weise, daß der Mensch in Gottes Wohlgefallen steht." Gunther Wenz hat herausgearbeitet, dass Mannermaas „additives" Verständnis von favor og donum theologische Probleme bereitet. G. Wenz, Unio. Zur Differenzierung einer Leitkategorie finnischer Lutherforschung im Anschluß an CA I-VI, S. 369: „[...] eine Bestimmung des Zusammenhangs von favor und donum im Sinne eines additiven Ergänzungsverhältnisses [führt] in dogmatische Aporien [...] und [ist] unter reformatorischen Bedingungen zu vermeiden." Ohne an diesem Ort auf mögliche daraus folgende Aporien einzugehen, muss man vor dem Hintergrund der in dieser Abhandlung präsentierten Analyse des gegenseitig sich bedingenden Verhältnisses zwischen Gnade und „Gabe" darauf verweisen, dass gerade ein „additives" Verständnis das sich gegenseitig Bedingende in ausreichendem Maße zum Ausdruck bringt. Die Lösung liegt jedoch nicht wie bei Wenz in einer Reduktion des Verhältnisses zwischen gratia und donum zum effektiven Charakter der Vergebung der Sünden, ebenda S. 369f: „Gibt es, so ist zu fragen, Realistischeres als - die in bestimmter Weise die Erschaffung der Welt an Liebe übertreffende - schöpferische Wirklichkeit göttlicher Sündenvergebungsgunst, die als Neuschöpfung des durch die Sünde grundlos verkehrten Gottesbunds mit dem Menschen alle göttlichen Gaben vermittelt?"

Gratia und donum

163

gen eine zentrale Rolle im Adventsteil der Wartburgpostille. Da ist der Zusammenhang jedoch ein anderer. Es ist vor allem die Lehre von der Rechtfertigung, mit der sich die Latomusschrift beschäftigt. Die Unterscheidung zwischen donum und exemplum gehört in die „Christologie". 78 Es macht natürlich nur in einem sehr beschränkten Maße Sinn, auf diese Weise zwischen Soteriologie und Christologie zu unterscheiden ein Umstand, den auch der „christologische" Schluss des Antilatomus bezeugt. Mit dieser wesentlichen Modifizierung ist es jedoch möglich, zwischen zwei Perspektiven zu unterscheiden. Diese kommen unter anderem in den beiden verschiedenen Begriffspaaren, in die donum im Antilatomus und in der Wartburgpostille eingeht, zum Ausdruck. In der Wartburgpostille ist es nämlich nicht die Unterscheidung zwischen gratia und donum, die den Angelpunkt bildet, sondern das donum als Alternative zum augustinschen sacramentum (siehe nächstes Kapitel).79 Wenn Mannermaa meint, dass der Gedanken an Christus als donum in der Latomusschrift entwickelt wird,80 so ist dies deswegen eine These, die nach einer Präzisierung verlangt. Diese liefert Simo Peura in seinem Artikel „Christ as Favor and Gift".

5. Christus als „Glucke" In seiner Untersuchung des gratia-donum-Abschnittes im Antilatomus bezieht sich Simo Peura auf Eero Huovinens Untersuchung von Luthers TaufVerständnis. Bei der Beschreibung des donum als fides Christi in direkter Verlängerung von Rom 5,15 (donum in gratia vnius homines, fidem Christi vocat, StA 2,492,15f) nimmt Luther die entscheidende christologische Qualifizierung der Begriffe vor.81 Mit der Einbeziehung von Luthers Taufverständnis zeigt Peura, wie die Unterscheidung zwischen gratia und donum parallel zum Verhältnis der Vereinigung des Christen 78

E. Kyndal, Sacramentum et Sacramenta i Luthers Theologi 1519-1520 [Sacramentum et Sacramenta in der Theologie Luthers 1519-1520].

79

An dieser Stelle ist ferner darauf hinzuweisen, dass der Gedanke an Christus als donum bereits in der ersten Predigt des Weihnachtsteils anzutreffen ist, die in etwa zur gleichen Zeit wie die Latomusschrift verfasst worden ist; W A 101, 49,1-3: „Wenn nu solch glawb ynn dyr ist, und du nu Christum hast ym hertzen, darffistu nitt dencken, das er bloß, arm kumme. Er bringt mit sich seyn leben, geyst und allis, was er ist, hat und vormag."

80

Siehe ζ. Β. T. Mannermaa, Christus, S. 30.

81

S. Peura, Christ, S. 53: „Thus, the basic starting point of Luther's interpretation of Romans 5:15 (gratia Dei et donum in gratia) is as follows: Christ himself is grace and gift. Christ himself is the grace that covers a sinner and the sinner internally and makes him righteous. This occurs, then, when Christ unites himself with the sinner."

164

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

mit Christus in der Taufe und im Glauben verstanden werden kann. 82 Die Gnade und die „Gabe" setzen einander auf die gleiche Weise voraus, wie das Sakrament und der Glaube dies tun. Die entscheidende christologische Qualifizierung des Begriffspaares wird untermauert von Luthers Beschreibung Christi als „Glucke". Nach der Entfaltung von gratia und donum präzisiert Luther erneut, auf welche Weise sich sein Glaubensbegriff von dem des Latomus unterscheidet, der doch ebenfalls behauptet, dass das, was nach der Taufe zurückbleibt, nicht zur Verdammung führe (StA 2,500,1-3). Der Unterschied ist jedoch der, dass für Luther der Glaube - isoliert betrachtet nicht ausreichend ist: Was will der Apostel mit diesen Worten anderes, als daß jener ungewisse Glaube der Sophisten nicht genug sei, der - so meinen sie - nachdem er die Gabe empfangen hat, (damit von sich aus) wirken soll? Sondern das ist erst Glaube, der dich zum Küchlein und Christus zur Glucke macht, unter deren Flügeln du Hoffnung findest. Denn „Heil" (ist) unter ihren Flügeln, sagt Maleachi [3,20 (4,2), d.h. du sollst dich nicht auf den (einmal) empfangenen Glauben stützen, das ist nämlich Hurerei, sondern sollt wissen: das ist Glaube, wenn du ihm anhängst und seiner dich rühmst, daß er dir (für dich) heilig und gerecht sei. Sieh, dieser Glaube ist die Gabe Gottes, die uns die Gnade fest macht und jene Sünde (nach der Taufe) ausfegt und uns selig und gewiß macht, nicht durch unsere, sondern durch Christi Werke, so daß wir bestehen und bleiben können in Ewigkeit, wie geschrieben steht: "Seine Gerechtigkeit bleibet ewiglich".83 Das Bild von Christus als einer Glucke ist das deutlichste in der Latomusschrift anzutreffende Indiz für die Richtigkeit der Behauptung, dass der wmo-Gedanke eine konstitutive Rolle für Luthers Verständnis von gratia und donum spielt und dass Christus deswegen gleicher82

A.a.O., S. 54: „The core of the matter is that the meaning of baptism, the death of sin and the resurrection of the new person, becomes effective in the baptized person because God unites himself with the sinner both through the sacramental act and through faith. This most important standpoint of Luther must be brought into the discussion, since his view of grace and gift in his Antilatomus relies on it. Luther explains his understanding of the relation between grace and gift from the point of view that even though all sins are forgiven in baptism (favor), real sin must be expelled by gift in the baptized person. Therefore the real presence of Christ and union with God are necessary for the Christian."

83

StA 2,499,25-34: „Quid istis vult Apostolos, nisi quod non satis est ilia fides vaga sophistarum, quae accepto dono putatur operari? sed ea demum fides est, quae te pullastrum Christum gallinam facit, vt sub pennis eius speres. Nam salus in pennis eius, ait Malachias, vt scilicet non in fide accepta nitaris, hoc est enim fornicari, sed fidem esse scias, si ei adheseris, de ipso praesumpseris, quod tibi sanctus iustusque sit. Ecce haec fides est donum dei, quae gratiam dei nobis obtinet, et peccatum illud expurgat, et saluos certosque facit, non nostris sed Christi operibus, vt subsistere et permanere inaeternum possimus, sicut scriptum est, Iustitia eius manet in seculum seculi."

Gratia und donum

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maßen favor und donum dei ist. Somit behauptet Peura, dass das Zitat nur auf der Basis einer realen Vereinigung mit Christus verständlich ist (S. 55). Kurz danach verbindet Luther selbst dieses Bild direkt mit der entsprechenden Passage aus Rom 5,15: [...] - aber deswegen ist nichts Verdammliches da, nicht weil da keine Sünde wäre, wie Latomus lügt, sondern weil sie in Christo Jesu sind, sagt Paulus, d.h. weil sie Küchlein unter (den Flügeln) der Henne sind und Ruhe finden unter dem Schatten seiner Gerechtigkeit, oder, wie Rom. 5,15 noch klarer sagt, weil sie die Gnade und die Gabe in seiner Gnade haben. 84

Nicht durch den Glauben alleine kommt dem Christen Frieden zu, sondern in der Gnade, in der der Getaufte an Christus Anteil hat. Allein auf dem Hintergrund des Antilatomus kann kein Christus-praesensGedanke gewonnen werden, doch die christologische Qualifizierung von sowohl gratia als auch donum ist eindeutig genug. Wenn Luther hier zum ersten Mal auf terminologischer Ebene die gratia vom donum unterscheiden kann, so geschieht das um der Verdeutlichung dessen, wie das Evangelium die Sünde tilgt. Es erklärt auch das Vorhandensein gewisser Unklarheiten der Formulierungen. Das Unpräzise kann sich jedoch zugleich dem Umstand verdanken, dass Luther kein Interesse daran hat, die Begriffe von einander zu trennen, aber dennoch im Sinn hat, die zwei Aspekte von einander zu scheiden, die durch die Unterscheidung selbst zum Ausdruck kommen. Damit wird ebenfalls deutlich, weshalb in der Vorrede zum Römerbrief von 1522 Formulierungen anzutreffen sind, die in einem höheren Maß diese Begriffe verbinden als sie von einander trennen.85 Eine Forcierung der Unterscheidung zwischen gratia und donum übersieht ihre Zusammengehörigkeit, die im Antilatomus eine wesentliche Pointe ausmacht, und die in der Rede von den beiden „Festungen" des Glaubenden ausgedrückt wird.

84

StA 2,502,3-7: „sed ideo nihil est damnationis, non quia non sit ibi peccatum, vt Latomus mentitur, sed quia sunt in Christo Ihesu, dicit Paulus, id est pullastri sub galliana et sub vmbra iustitiae illius pausant, seu vt. Ro. v. clarius dicit. Gratiam et donum in gratia illius habent."

85

StA 1,393,32-35: „Gnade vnd gäbe sind des vnterscheyds / das gnade eygentlich heyst / Gottis hulde odder gunst / die er zu vns tregt bey sich selbs / aus wilcher er geneygt wirt / Christum / den geyst mit seynen gaben ynn vns zu gissen / wie das aus dem funfften Capitel klar wirt / da er spricht / gnad vnd gäbe ynn Christo etcetera."

166

Donum und sein Bedeutungsfeld. Rationis Latominanae confutatio

6. Die zwei Festungen Gott hat dem Glaubenden zwei Festungen gegeben, die absichern sollen, dass die Sünde nicht zur Verdammung führt. Der Hinweis auf die beiden Festungen kommt unmittelbar, nachdem Luther Latomus erneut belehrt hat, dass es für den Glaubenden keine Verdammnis geben könne. Dies liegt nicht daran, dass die Glaubenden keine Sünde hätten, sondern dass sie sich wie kleine Küken unter den Flügeln der „Glucke" einfinden, in Christus Jesus seien, und dort die Gnade und die „Gabe" in seiner Gnade erführen (StA 2,502,6). Die erste Festung ist deshalb [...] [...] Christus selbst als Sühnopfer (oder Gnadenstuhl), wie es Rom 3,25 heißt, daß sie unter seiner Gnade sicher seien, nicht weil sie glauben oder den Glauben und die Gabe haben, sondern weil sie (beides) in der Gnade Christi haben. Denn keines (Menschen) Glaube würde bestehen, wenn er sich nicht auf Christi eigene Gerechtigkeit stützte und durch seine Fürsprache gerettet würde. Das ist nämlich, wie gesagt, der wahre Glaube, nicht jene absolute, vielmehr obsolete Qualität in der Seele, wie jene träumen, sondern (der Glaube), der sich von der Gnade Christi nicht abtreiben läßt und sich auf nichts anderes stützt, als daß er weiß, jener (Christus) sei in der Gnade Gottes und könne nicht verdammt werden, und (daher) auch keiner, der sich so auf ihn geworfen hat.86

Man könnte erwarten, dass der Gedanke, der in dem Bild der beiden Festungen zum Ausdruck kommt, der Distinktion zwischen gratia und donum entspräche, doch man kann sehen, dass dies nicht der Fall ist. Der Ausgangspunkt für Luthers Rede von der Verteidigung des Glaubenden ist Rom 5,15. Die erste Festung ist deswegen Christus selbst als Mittler zwischen Glaube und Gnade, donum und gratia. Die zweite Festung ist die Feststellung, dass [...] sie (die Christen), da sie die Gabe empfangen haben, nicht nach dem Fleische wandeln und der Sünde nicht gehorchen - aber jene erste ist die Hauptfestung und die allerstärkste; gewiss bedeutet auch die andere etwas, aber nur in der Kraft der ersten.87

Wie man sehen kann, entspricht die zweite Festung nicht dem donum. Sie umschreibt vielmehr, wie der Glaubende im Empfang der „Gabe" 86

StA 2,502,10-17: „Primum, ipsum Christum propitiatorium vt sub huius gratia tuti sint, non quia credunt et fidem aut donum habent, sed quia in gratia Christi habent. Nullius enim fides subsisteret, nisi in Christi propria iustitia niteretur, et illius protectione seruaretur. Haec est enim fides vera, non absoluta immo obsoleta illa qualitas in anima, vt illi fingunt, sed quae se a gratia Christi non patitur auelli, nec alio nititur, quam quod seit, ilium esse in gratia dei nec posse damnari, nec aliquem qui sic in eum se proiecerit."

87

StA 2,502,21-23: „Alterum est, quod dono aeeepto non ambulant secundum carnem, nec obediunt peccato, sed prius illud principale et robustissimum est, licet et alterum sit aliquid, sed in virtute prioris."

Der neugeschaffene Mensch im Antilatomus

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(dono accepto) nach der Eingießung einer neuen intima radix leben soll. Das bedeutet, dass die zweite Festung weniger Ausdruck einer Vertiefung der Bedeutung der „Gabe" wäre, als denn eine Austreibung der Sünde nostro marte, das heißt, des Kampfes zwischen Glaube und Sünde, der notwendig zu erfolgen hat. Das Verhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Festungswerk entspricht dem Unterschied zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen. Im inneren Menschen hat der Glaubende die Rechtfertigung und Christus als „Gabe" und Gnade, im äußeren muss die Sünde bekämpft werden. Auch diese Passage belegt die Unterscheidung zwischen donum und gratia im Antilatomus. Alles andere ist als der Ausdruck einer wie auch immer gedachten Trennung der Begriffe. Vielmehr drücken sie zwei wesentliche Aspekte der Rettung in Christus aus. Will man die beiden Festungen unter eines der Begriffspaare Luthers einordnen, so ist es sinnvoll, sie mit der Unterscheidung zwischen sacramentum und exemplum in Verbindung zu bringen, die Luther zu diesem Zeitpunkt eher zugunsten der Unterscheidung von donum und exemplum hinter sich zu lassen im Begriff war, oder mit der gratia-donum-Unterscheidung in ihrer späteren Ausprägung (Siehe Seite 151, Fußnote 50).

E. Der neugeschaffene Mensch im Antilatomus Die Neuschöpfung des Menschen verbindet sich im Antilatomus mit der Heilung der Verderbnis der Natur durch die Rechtfertigung (StA 2,491,23). In der Bekämpfung der Sünde durch das donum setzt sich die göttliche Wirklichkeit mehr und mehr zugunsten der Sünde durch. Dieses Sich-Durchsetzen entfaltet im inneren Menschen die größte Kraft, bei der die Gnade Christi zu den Flügeln wird, unter denen sich der Christ verbergen kann. Luthers Unterscheiden zwischen gratia und donum in der Latomusschrift kann nur ausgehend von Rom 5,15 verstanden werden. Bei Paulus sind beide Begriffe an die Gnade Christi gebunden. Diese direkte christologische Konnotation setzt Luther fort, indem er festhält, dass jede gute Tat Sünde sei. Zugleich behauptet er, dass er keineswegs die Bedeutung der Taufe abgeschwächt habe, sondern stattdessen deutlich zwischen dem Getauften und dem Ungetauften unterscheiden könne. Hinter Luthers Formulierungen und vor allem hinter seinem Gebrauch des Bildes vom Sauerteig vermutet man wiederum die Zweinaturenlehre der Christologie. Der gerechte und göttliche Sauerteig ist in den sündigen Teig eingemischt - mit dem Ergebnis, dass von der Perspektive Gottes aus gesehen der ganze Teig mit der Gerechtig-

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keit gleichgesetzt werden kann, obwohl der Teig noch nicht vollständig durchsäuert ist. Obwohl das Bild vom Sauerteig einerseits seine Grenzen hat, da es nicht vollständig die chalkedonensische Pointe auszudrücken vermag, nämlich weder zu vermischen noch zu trennen, so drückt sie doch andererseits gerade einen bestimmten Aspekt der christologischen Sicht auf den gerechtfertigten Menschen aus. So ist in Luthers Gebrauch des Sauerteigbildes als eine direkte Konsequenz der abschließenden Hervorhebung der Inkarnation ein Schlüssel zum rechten theologischen Verständnis zu sehen. Das Verständnis von gratia und donum ist nach Luther nur für denjenigen sinnvoll, der verstanden hat, was Gott und der Mensch in Christus sagen will. Denn wer von Sünde und Gnade, von Gesetz und Evangelium, von Christus und dem Menschen christlich handeln will, der muß schier nicht anders als von Gott und Mensch in Christus handeln. Dabei muß er sorgsam darauf achten, daß er beide Naturen mit allen ihren Besonderheiten von der ganzen Person bezeugt, und doch muß er sich hüten, daß er dieser nicht zuschreibt, was einfach Gott oder einfach dem Menschen zukommt. Denn etwas anderes ist es, von dem fleischgewordenen Gott und dem gottgewordenen Menschen zu sprechen, und etwas anderes, einfach von Gott oder von dem Menschen. Entsprechend ist etwas anderes die Sünde außerhalb der Gnade, etwas anderes (die Sünde) in (dem Bereich) der Gnade - das kannst du dir so vorstellen, daß die Gnade oder die Gabe Gottes zur Sünde geworden (eingesündet) ist, und die Sünde zur Gnade geworden (eingegnadet), solange wir hier (auf Erden) sind, und darum ist um der Gabe und der Gnade willen die Sünde nicht mehr Sünde.88

Die Christologie alleine gibt diesem den Schlüssel zum Verständnis von Sünde und Gnade. Und die „Doppelheit" der Zweinaturenlehre ermöglicht gerade zwei Perspektiven, die, ohne einander auszuschließen, in unterschiedliche Richtungen weisen. Der glaubende Mensch kann in seinem Verhältnis zu Gott sowohl von oben als auch von unten angesehen werden, aus der Perspektive der göttlichen Gerechtigkeit und aus der der menschlichen Sündhaftigkeit. Die Gratia-donumDistinktion drückt die letztere Perspektive aus und ist für Luther anwendbar, weil sie sowohl die Rechtfertigung extra nos als auch diejenige in nobis zu fassen vermag. Der externe und der interne Aspekt 88

StA 2,516,11-20: „Nam qui de peccato et gratia, de lege et Euangelio, de Christo et homine volet Christianiter disserere, oportet ferme non aliter quam de deo et homine in Christo disserere. Vbi cautissime obseruandum, vt vtramque naturam de tota persona enunciet, cum omnibus suis propriis, et tarnen caueat, ne quod simpliciter deo, aut simpliciter homini conuenit, ei tritubat. Aliud enim est, de deo incarnato, vel homine deificatio loqui, et aliud de deo vel homine simpliciter. Ita aliud est peccatum extra gratiam aliud in gratia, vt possis imaginari gratiam seu donum dei ess impeccatificatum, et peccatum gratificatum, quam diu hie sumus, vt propter donum et gratiam, peccatum iam non peccatum sit."

Der neugeschaffene Mensch im Antilatomus

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der „Gabe" kann bei einer Rekonstruktion der strukturierenden Logik Luthers dem Unterschied zwischen der göttlichen und der menschlichen Seite von Gottes Kampf gegen die Sünde an die Seite gestellt werden. Dass die „Gabe" der Sünde gegenüber in einem permanenten Kampf steht, entspricht dem siegreichen Kampf gegen die Sünde, den Jesus selbst errungen hat. Der Sünde gegenüber steht die „Gabe" als die göttliche Gestalt des Menschen. Der Gnade gegenüber verhält sich dies anders: Hier drückt die „Gabe" noch immer das Unvollkommene im Menschen aus, das sich bis zur endgültigen Vollendung auf die göttliche Gnade stützen muss. Diese Doppelperspektive auf die „Gabe" ist wichtig. Donum ist so gesehen Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit im Christen und gleichzeitig Ausdruck für die vorläufige Unvollkommenheit der Gerechtigkeit. Sowohl donum als auch gratia - und gerade auch beide - sind das erste Festungswerk des Christen. Hier befindet sich der Christ in einer intimen Gemeinschaft mit Christus, wo er sich im Glauben an ihn unter seinen Flügeln bergen kann. Die andere Festung ist alleine mit dem Aspekt der „Gabe" verbunden, denn die „Gabe" ist ein Ausdruck für die Gegenwart der göttlichen Gerechtigkeit im Christen. In der zweiten Festung, die sich gegen das richtet, was im Freiheitstrakat dem äußeren Menschen angehört, soll der Christ als „Anfang" der vollen Gerechtigkeit der Sünde nicht gehorchen. Der äußere Mensch soll mit anderen Worten versuchen, dem inneren so weit wie möglich ähnlich zu werden. Die Grundstruktur aus der Zweinaturenlehre ist damit auf das Verhältnis zwischen Glaube und Werken übertragen, so wie dies explizit im Freiheitstraktat der Fall gewesen ist. Dass der Antilatomus auf diese Weise gelesen werden kann, unterstreicht die Behauptung von der starken christologischen Qualifizierung von sowohl gratia als auch donum. Die Doppelheit, die sich im Freiheitstraktat und im sacramentum-exemplum-Schema durchschlägt, und die eine deutliche Verbindung mit der Christologie aufweist, ist in der gratia-donum-Distinktion auf die Lehre von der Rechtfertigung übertragen. Die gratia-donum-Distinktion stellt deswegen einerseits eine Parallele zum donum-exemplum der Wartburgpostille dar, andererseits aber auch nicht. Die Parallelität ist in der Strukur selbst verankert, die Struktur jedoch ist an zwei verschiedenen loci zur Anwendung gebracht worden. Was in der Latomusschrift unter gratia oder donum verortet wird, ist in der Wartburgpostille unter der Rubrik donum zu finden. Die Schwierigkeit bei der Würdigung des donum liegt darin, dass dieses je nach Perspektive zwei unterschiedliche Aspekte ausdrücken

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kann: Einerseits die anwesende Gerechtigkeit, die bereits dabei ist, den Menschen zu heilen und zu reinigen, andererseits die weiter bestehende Sündigkeit des Gerechtfertigten, die dazu führt, dass der Christ, trotz des donum, sich auf Gottes Gnade alleine verlassen muss. Die letztgenannte Pointe ist entscheidend. Sie ist Luthers Garant dafür, dass der Glaube nicht in Verlängerung der scholastischen Begriffswelt mit einer latenten Werkgerechtigkeit verbunden werden muss. Der Glaube, als menschliche Aktivität verstanden, reicht nicht aus. Sieht man den gleichen Glauben als donum dei, als Gottes heilende „Gabe", ist er völlig hinreichend, da er nicht nur die Heilung beginnen lässt, sondern diese Funktion sogar noch übertreffend, den Menschen unter die beschützenden Flügel Christi führt. Auch Luthers Verständnis von donum im Antilatomus ist so gesehen nach dem Modell aus De duplici strukturiert. Der Glaube ist sowohl „Gabe" als auch Aktivität. Im Antilatomus geht es um die Verteidigung der Hauptthese, wonach jedes gute Werk Sünde sei. Hier wird die Unterscheidung zwischen gratia und donum sehr gut anwendbar, weil sie es als ein brauchbares Instrument ermöglicht, die notwendige Externität darzustellen und gleichzeitig die ebenso notwendige Internität weiter behaupten zu können. Die ganze Entfaltung von Sünde und Zorn, „Gabe" und Gnade ist in der Diskussion mit Latomus an einem Festhalten an der Sündigkeit des Menschen orientiert. Die Wartburgpostille unterliegt diesem direkten polemischen Interesse nicht. In der Postille geht es um die umweglose Verkündigung des Evangeliums, weshalb die „Gabe" und nicht zuletzt ihre Weitergabe - hier eine deutlicher hervortretende Rolle spielt.

VII. Göttliche Sozialität in der Wartburgpostille A. Einleitung Zwei Tage, nachdem die erste Predigt der Weihnachtspostille, die Epistelpredigt, zum Weihnachtsabend (Tit 2,11-15) fertig geworden ist, beginnt Luther mit dem Antilatomus. Die Arbeit am ersten Teil der Weihnachtspostille und die Arbeit am Antilatomus geschieht also gleichzeitig.1 Luthers Formulierungen zeigen, dass die erste Predigt von Anfang an als Einleitungspredigt gedacht gewesen ist. Er entfaltet darin ein übergeordnetes Programm, von dem er sich möglicherweise erhofft hat, dass es durch die ganze Postille hindurch zur Anwendung kommen könne. Dieses besteht in der grundlegenden Unterscheidung von zwei Arten, Gottes Wort anzuwenden. Es kann und muss teils als Brot und teils als Schwert verwendet werden: Es ist teils Speise, teils Waffe. Es führt zum einen zum Frieden und zum anderen zum Krieg, mit der einen Hand baut es auf, verbessert und belehrt die Christenheit, mit der anderen Hand leistet es Widerstand gegen den Teufel, die Ketzer und die Welt (WA 10 1/1,18,20-19,4). In den ersten Auslegungen wird das Programm konsequent durchgehalten. In der Epistel zum Weihnachtstag (Heb 1,1-12) beginnt sich der Griff zu lockern, und es wird für Luther nun immer schwieriger, die beiden Aspekte auseinander zu halten. Nach den ersten sechs Predigten hat Luther das Programm aufgegeben. Die Unterscheidung zwischen Christus als „Gabe" und Vorbild disponiert nun stattdessen die Auslegungen Luthers. Verglichen mit dem großen Galaterbriefkommentar trifft man hier eine entsprechende Überlappung sowohl in Luthers Verständnis der Funktion der Lehre als auch in der praktischen Anwendung (Siehe Kap VIII). Das beste Kampfmittel ist der Trost des Gewissens. Und Trost bekommt das Gewissen erst in dem Augenblick, in dem es Christus als Gabe voll und ganz empfangen hat. Luthers Veränderung des ursprünglich augustinischen Begriffspaars sacramentum et exemplum zur Unterscheidung von „Gabe" und „Vorbild" geschieht also gleichzeitig mit seinem Unterscheiden von gratia und donum im Antilatomus. In verschiedenen Artikeln hat Erik Kyndal diese 1

S. W. Köhler, Einleitung zur Wartburgpostille, WA 10 I,2,XLI-LXIX (vor allem XLILXII).

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Göttliche Sozialität in der Wartburgpostille

Änderung in Luthers Terminologie hervorgehoben und ihr eine entscheidende Bedeutung zugeschrieben. 2 Es ist Kyndals Hauptpointe, dass diese Veränderung die Änderung sowohl in der Christologie als auch in der Rechtfertigungslehre widerspiegelt. Die Analysen, die unter dem Blickwinkel des Begriffs der „Gabe" durchgeführt werden, untermauern diese Beobachtung. Das Verschwinden des sacramentumBegriffs zugunsten des Gedankens von Christus als dem donum liegt in direkter Verlängerung derjenigen Christologie, die unter anderem im Freiheitstraktat entfaltet wird. Die explizite Unterscheidung zwischen „Gabe" und „Vorbild" ist zum ersten Mal im Einleitungssermon der Weihnachtspostille anzutreffen, der mit der Überschrift „Eyn kleyn Unterricht, was man ynn den Euangelijs suchen und gewartten soll" versehen ist: 3 Das hewbtstuck und grund des Euangelij ist, das du Christum tzuuor, ehe du yhn tzum exempel fassist, auffnehmist unnd erkennist alß eyn gäbe und geschenk, das dyr von gott geben und deyn eygen sey, alßo das, wenn du yhm tzusihest odder ho(e)rist, das er ettwas thutt odder leydet, das du nit tzweyffellst, er selb Christus mit solchem thun und leyden sey deyn, darauff du dich nit weniger mügist vorlassen, denn alß hettistu es than, ia alß werist du der selbige Christus. [...] Wenn du nu Christum alßo hast tzum grund und hewbtgutt deyner selickeytt, Denne folget das ander stuck, das du auch yhn tzum exempel fassist, ergebist dich auch alßo deynem nehisten tzu dienen, wie du sihest, das er sich dyr ergeben hat. Sihe, da gehet denn glawb und lieb ym schwanck, ist gottis gebot erfüllet, der mensch frolich unnd unerschrocken tzu thun unnd tzu leyden alle ding. Drumb sihe eben drauff, Christus als eyn gäbe nehret deynen glawben und macht dich tzum Christen. Aber Christus als eyn exempel übet deyne werck, die machen dich nit Christen, ßondern sie gehen von dyr Christen schon zuuor gemacht. Wie ferne nu gäbe und exempel sich scheyden, ßo fern scheyden sich auch glawbe und werck, der glawb hatt nichts eygens, ßondern nur Christus werck und leben, Die werck haben etwas eygen von dyr, sollen aber auch nit deyn eygen, ßondern des nehisten seyn (WA 10 1/1,11,1218;12,12-13,2). Der Einleitungssermon ist nach dem Weihnachtsteil und vor dem Adventsteil verfasst worden. In der Tat sind die Predigten von dieser Reihenfolge geprägt. Erst im Adventsteil wird das Begriffspaar „Gabe/Vorbild" explizit genannt, 4 während es in der Weihnachtspostille lediglich als implizite Struktur vorauszusetzen ist. Als eine solche ist es jedoch bereits in der ersten Evangelienauslegung deutlich (Weih2

3 4

E. Kyndal, „Den dyre og den billige näde" hos Luther? [„Die teure und die billige Gnade" bei Luther?]; ders., Sacramentum; ders., Christus, „Sakrament" und „Gabe". Eine terminologische Präzisierung von Luthers Christologie. WA 101/1,8-18. WA 10 1,2,15,21; 22,6. Dazu K. W. Köhler, Einleitung, LV.

Einleitung

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nachtsabend: Luk 2,1-14), wo es in Verlängerung der Christologie des Freiheitstraktats wie folgt heißt: Wenn nu alßo Christus deyn worden ist, und du durch yhn ynn solchem glawben bist reyn worden, hast deyn erb und hewbtgutt empfangen, on allen deynen vordienst, wie du sihest, ßondern auß lautter gottis liebe, der seynß ßonß gutt und werck dyr tzu eygen gibt. Da folget nu das Exempel gutter werck, das du deynem nehisten auch thuist, wie du sihest, das dyr Christus than hat (WA 10 1/1,73,23-74,4).

Verglichen mit der im Freiheitstraktat anzutreffenden Grundstruktur, gibt das Gabe-Vorbild-Schema nur die eine gedankliche Linie wieder. Gott gibt Christus, und Christus gibt sich selbst, womit der Mensch wie im Bild der Ehe gleichzeitig Anteil an Christus und an all seinem Eigentum bekommt. Die Selbsthingabe Christi wird im nächsten Argumentationsglied Vorbild für den Christen, der seinem Nächsten gegenüber so handelt, wie Christus ihm gegenüber gehandelt hat. Anders gesagt: Was der Christ im Glauben empfangen hat, wird in der Nächstenliebe weitergegeben. Verweise auf diese Struktur sind in der Wartburgpostille in großer Zahl zu finden. Das liegt daran, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Werken hier eine große Rolle spielt, einerseits auf aggressive Weise nach außen als ein Teil des Angriffes auf deren Missbrauch durch die Papstkirche und zugleich nach innen mit erbaulich-belehrendem Unterton im Hinblick auf das rechte evangelische Verständnis der Bedeutung der Werke. In der zitierten Passage wird die Verbindung von Christi Kreuzestod mit dem einzelnen Menschen als Empfänger der „Gabe" Christi unterstrichen. Aus strukturellen Gründen liegt der Begriff der „Gabe" inhaltlich gesehen bereits vor, während ihm auf der Ausdrucksseite vom Antilatomus auf den Weg geholfen wird. Die Unterscheidung zwischen Christus als „Gabe" und Vorbild zieht natürlich Erwägungen über die Funktion der Paränese mit sich. Infolgedessen entfaltet Luther in der ersten Epistelauslegung der Adventspostille (Rom 13,11-14) die Vorstellung eines doppelten Predigtamtes: Diße Epistel leret nitt vom glawben, ßondernn von den wercken und fruchten des glawbens, und tzeygt an, wie eyn Christlich leben soll eußerlich nach dem leybe auff erden unter den menschen sich hallten; denn wie ym geyst und fur gott der mensch soll wandelln, leret der glawbe, von wilchem er fur dißer Epistell reychlich und gantz Apostolsch schreybt und leret, unnd wenn wyr die Epistell eben ansehen, ßo leret sie nitt, ßondern reytzt, vormanet treybt und wecket auff die da schon wissen was sie thun sollen (WA 10 1/2,1,12-17).

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Luther muss hier unterscheiden zwischen der Predigt als doctrina, Lehre, und exhortatio, Ermahnung, und er erklärt den Unterschied folgendermaßen: Lare ist, ßo man predigt, das unbekandt ist und die leutt wissend odder vorstendig werden. Vormanen ist, ßo man reytzt, vormanet an dem, ßo yderman schon woll weyß (WA 101/2,1,20-2,2). Die Einteilung in Lehre und Ermahnung läuft hier teilweise über Kreuz mit der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, weil die Lehrpredigt verstanden wird als eine Predigt über etwas, das den Hörern unbekannt ist, während die Predigt der Ermahnung sich um etwas dreht, das den Zuhörern bereits bekannt ist. Es ist jedoch nicht ganz klar, welchem übergeordneten Zusammenhang die Ermahnungen angehören; ob sie nach vorne hin ausgerichtet sind auf die Verwirklichung des neuen Lebens oder nach hinten, als Aufforderung zum fortgesetzten Kampf gegen den alten Menschen.

B. Neuschöpfung und neues Leben 1. Das Reich Gottes besteht im Weitergeben (3. Adventssontag: Mt 11,2-10) In den Predigten ist die Verwandlung des Glaubenden ein durchgängiges Thema. Dies gilt auch in Bezug auf die Auslegung von Mt 11,2-10, 5 die sich auf das Thema des rechten Gottesdienstes konzentriert und Luther kann deshalb die Predigt damit abschließen, dass er die Bedeutung der Werke unterstreicht. Das Bemerkenswerte an dieser Predigt ist, dass diese sich ohne weiteres in Verlängerung eines nuancierten Reziprozitätsbegriffs strukturieren lässt. In einer anfänglichen Auseinandersetzung mit der Auslegungstradition werden immer wieder zur Sprache gebrachte mögliche Zweifel des Johannes abgelehnt. Es ist gewiss, dass Johannes genau wusste, wer Jesus war. Dabei spielt Johannes im Kontext eine bestimmte Rolle für seine Jünger, und für den Leser oder Zuhörer von Luthers Auslegung: „Christus muss groß werden, Johannes aber kleiner werden" (WA 10 1/2,149,23). Das war die versteckte Absicht Johannes', als er seine Jünger zu Jesus schickte, und diese hängt wiederum mit seinem doppelten Amt zusammen. Hierin liegt der Hauptakzent des Sermons. Aber es 5

W A 101/2,147-170.

Neuschöpfung und neues Leben

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gibt eine weitere verbindende Linie, die Luther am Ende Anlass gibt, 1. Kor 4,20 anders zu übersetzen als gewöhnlich: "Das reych gottis stehet nicht yn Worten, ßondernn ynn thatten" (WA 10 1/2,170,20). 6 In der Auslegung spielen Tat und Wort gegen- und miteinander. Mitten in der Predigt finden wir aber eine längere Ausführung des Unterschieds zwischen Gesetz und Evangelium, veranlasst durch die rhetorische Frage: „Was ist aber das? daß er spricht: den Armen wird das Evangelium gepredigt" (WA 10 1/2,155,17). Am Ende der Predigt kommt dazu auch eine Erklärung über den Nutzen des Evangeliums. Die „Taten Jesu" werden am Ende der Einleitung das erste Mal thematisiert. Sie werden von Luther in der Auslegung der Antwort Jesu zu den Jüngern Johannes' ganz bewusst und auf hervorgehobene Weise gebraucht. Die Werke sind hier die kräftigsten Beweise der Gottessohnschaft Jesu. Wenn die Jünger die Wirklichkeit, d.h. die Taten Jesu, mit den Worten der Schrift konfrontieren, wird die Frage indirekt beantwortet. Dass Jesus sich hier auf seine Werke beruft, wird dem einleitenden Sermon zufolge als ein Exempel vorgestellt. Wo die Werke nicht folgen, da ist Christus auch nicht. Die Einwendung, dass nicht alle die Blinden sehend machen können, wird nicht als legitime Einwendung zugelassen. Es gibt ja genug andere Christuswerke, die nachgeahmt werden können (WA 10 1/2,153,24-29). Das vornehmste dieser Werke ist die Armenpredigt. Dieses Argument ist nicht nur als Entgegnung auf einen möglichen Einwand zu verstehen, sondern hat auch einen „ökonomischen" Sinn. Dem Einwand zufolge gibt es unmittelbar einen Konflikt zwischen Jesu Hinweis auf seine Werke und den Spruch „Man soll die Lehre, nicht das Leben ansehen". Der Widerspruch verschwindet aber Luther zufolge, wenn man auch das Lehren für ein Werk hält. Den Sinn der Worte „den Armen wird das Evangelium gepredigt" kann Luther nur erklären, wenn er auf die zwei Worte Gottes, Gesetz und Evangelium, hinweist, die beidem in gleichem Maß ursprünglich sind. Die Gleichursprünglichkeit kehrt in Luthers Verständnis von der Funktion Johannes' zurück. Johannes ist sowohl ein Bote der Herrlichkeit Christi wie ein Bote der notwendigen Bußfertigkeit des Menschen. Grundsätzlich gibt es nur zwei Weisen sich dem Gesetz gegenüber zu verhalten. Entweder glaubt man das Gesetz erfüllen zu können und man wird vermessen; oder man erfährt, dass es unmöglich ist, das Gesetz zu erfüllen und man verzweifelt. Luther drückt hier in Verlänge-

6

So heißt es in der Vulgata: „in virtute"; auf Griechisch: „'ευ δυνάμει"; und in Luthers eigener Bibelübersetzung: „in Kraft".

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rung des augustinischen Verständnisses der Sünde Doppelheit als praesumptio und desperatio aus. Die „ökonomische", aber falsch beurteilte Struktur hinter der Vermessenheit ist die Vorstellung, dass eine „ausgewogene Reziprozitätsform" für das Gottesverhältnis grundlegend sei. Es ist die Vorstellung, dass der Mensch sich mit einer zeitlichen Gabe etwas Ewiges oder Geistliches verdienen könne. Was der Vermessene aber nicht erfahren hat, ist, dass er Gott nicht mit Gütern und frommen Taten bezwingen oder bestechen kann. Stattdessen muss er seinen Eigenwillen vernichten und sich selbst aufgeben. Das ist die einzige adäquate Gabe, und diese kann der Mensch Luther zufolge nicht „geben". Es fehlt ihm einfach die Lust dazu. Weil er nur auf die äußeren Taten blickt, bleibt ihm das Angesicht des Mose verdeckt. Das Gesetz ist nur dann erfüllt, wenn kein Interesse mehr an Strafe oder Lohn besteht. Es ist nur dort erfüllt, wo der Mensch selbst dem göttlichen Willen hingegeben ist.7 Dies kann nun auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Entweder ist hier von einer anti-eudämonistischen Selbstaufgabe in der Hollschen Bedeutung die Rede - und damit von einer absolut interesselosen Selbsthingabe. Oder es ist hier gemeint, dass das Gesetz nur von demjenigen erfüllt werden kann, der sich in einer Situation befindet, in der Strafe und Belohnung ihre Bedeutung verloren haben. Diese zwei Möglichkeiten fallen nicht notwendigerweise zusammen. Zudem gibt es gute Gründe dafür, dass die zuletzt genannte Deutungsmöglichkeit die Richtige ist.8 Bei der „Verzweiflung" als Haltungsmöglichkeit dem Gesetz gegenüber handelt es sich um die Folge der rechten Beurteilung der Struktur hinter der Gesetzesfrömmigkeit. Hinter der Vermessenheit liegt nicht eine „ausgewogene Reziprozitätsform", sondern eine „negative Reziprozitätsform". Wird das Gottesverhältnis als eine „ausgewogene Reziprozitätsform" verstanden, ist es bereits Ausdruck eines Raubs, d. h. man nimmt, ohne etwas zu geben. Zu glauben, dass man sich mit Gaben die Gerechtigkeit verdienen kann, ist ein Versuch, sich selbst in die Lage Gottes zu versetzen. Gott wird nicht die Ehre gegeben, sondern die Ehre entzogen. Die Vermessenheit ist also sowohl

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WA 10 I/2,156,33f: „nicht umbs hymels noch der helle willen, nicht umb ehre noch schände willen, ßondern umb des willen alleyne, [...]" Vgl. ζ. B. WA 10 1/2,158, 25-29: „Wer nu dran glewbt, der empfehet die gnade und den heyligen geyst, davon wirt denn das hertz frolich und lustig ynn gott, und thutt alsdenn das gesetz freywillig umbsonst, on furcht der straff unnd on gesuch des lohnß; denn es hatt an der gnade gottis satt und gnug, dadurch dem gesetz ist gnug geschehen."

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Ausdruck eines falschen Gottesverständnisses, als auch eines falschen Sündenverständnisses. Eine menschliche Gabe an Gott ist deshalb unmöglich. Die Verzweiflung ist hier die notwendige Folge einer Erkenntnis der Unmöglichkeit der Gabe, weil die Unmöglichkeit der Gabe schon immer auch die Unmöglichkeit der Gemeinschaft ist. Deswegen bleibt nur die einsame Verzweiflung übrig. Gemeinschaftslosigkeit ist hier ein Versuch, die Selbstbeurteilung innerhalb eines „sozial-ökonomischen" Horizonts wiederzugeben. Dass eine solche Umschreibung nicht sinnlos und willkürlich ist, lässt sich mit dem Hinweis auf Luther selbst belegen. Er weiß, dass „der Buchstab todtet" (WA 10 1/2,157,24) und dass der Tod die absolute Individualität oder Einsamkeit ist, wie er es ζ. B. in der Einleitung zur ersten Invocavitpredigt ausdrückt (Siehe Seite 208, Fußnote 18). Das Gesetz ist deswegen ein Gesetz des Todes. Es fordert nur und gibt nichts. So muss es von dem Betroffenen verstanden werden. Von einer sozusagen „verzweiflungsexternen" Position gibt das Gesetz dem Menschen fast die Möglichkeit zurück, sich Gott gegenüber adäquat zu verhalten. Das weiß Luther, und deswegen kann diese Demut nicht ein Werk des Menschen sein. Sie kann nur als eine von außen gewirkte Demut verstanden werden. Aus der internen Logik heraus kann es aber keinesfalls als eine Gabe gedacht werden, sondern muss als eine Leugnung der Möglichkeit der „Gabe" überhaupt verstanden werden. Das war auch die eigentliche Lehre des Gesetzes. Aber von außen betrachtet kann in einer Reziprozitätsstruktur die Leugnung der Möglichkeit einer Gegengabe sehr wohl als adäquate Gegengabe gelten. Was nicht möglich ist im Bereich des Gesetzes, ist, die menschliche Gegengabe zu Gott positiv zu entfalten - ja, überhaupt als "Gegengabe" zu entfalten. Auf diese Weise enthält die Verzweiflung ein rechtes Sündenverständnis, aber kein rechtes Gottesverständnis. Weil der Mensch sich selbst in der rechten Demut und Erkenntnis eigener Armut gibt, folgt das Evangelium, das alles schenkt. Auf der einen Seite leitet das Gesetz zum Evangelium. Auf der anderen Seite ist dieser Übergang nicht kausal gedacht. Das göttliche Geschenk kann nicht von der menschlichen Selbsthingabe bedingt oder initiiert werden. Das ist nur möglich, weil sowohl Gesetz als auch Evangelium von Gott geschenkt verstanden werden. Im Evangelium wiederholt sich nun diese Struktur, aber diesmal in positiver Entfaltung. Jetzt wird von Gott alles geschenkt, was früher fehlte, wie z.B. Gerechtigkeit und Leben. Zum Evangelium gehören keine Werke, sondern nur der Glaube. Der Glaube fungiert hier als Organ des „Empfangens". Im Glauben wird alles empfangen und im

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Glauben wird Gott auch die Ehre gegeben. Deswegen ist der Glaube ein Werk, nämlich das einzige Werk, das Gott haben möchte. Hier liegt der Unterschied zum gesetzlichen „fast". Im Evangelium wird die Unmöglichkeit der Gegengabe zu einer Möglichkeit der Gegengabe. Hier kann der Mensch ohne einen Lohn zu ersuchen und ohne Furcht des Strafens sich Gott hingeben, weil diese Hingabe nicht mehr aus einer Armut heraus geschieht, sondern in einem Reichtum und einem Überschuss begründet ist, um noch einmal eine „ökonomische" Redeweise zu bemühen. Auch hier lässt sich eine dreiteilige Struktur finden, obwohl diese nicht stringent entfaltet ist. Erst kommt die Zusage, dann der Glaube, zuletzt der Empfang göttlicher Gnade und des Heiligen Geistes, als Ausdruck für die jetzt realisierte Gemeinschaft (vgl. hierzu auch die dreiteilige Struktur im Freiheitstraktat). Formal lässt sich dies in der Reihenfolge: Gabe - Gegengabe - Gabe ausdrücken. Nach dem Exkurs zu Gesetz und Evangelium wendet sich Luther wieder dem Text zu. Es gibt bei Luther nun Passagen, die als eine bewusste Verweigerung des Gedankens der Gegenseitigkeit interpretiert werden können. Aber meyn reych, weyll das nicht nutz von andern sucht, ßondern nur nutz gibt, und yn yhm selber gnug hatt und niemants darf, darumb kan ich nit umb mich leyden, die schon gnug habe, gesund, reych, starck, reyn, lebend, frum und allerdinge geschickt sind, denn solchen byn ich keyn nutz [,..]"(WA 101/2,161, 24-28).

Man muss hier fragen, was Formulierungen wie „genug haben" und „niemand darf" in einem Reziprozitätszusammenhang bedeuten. Sie so zu verstehen, als spielten die Menschen keine Rolle für das Gottesreich, scheint ein Missverständnis zu sein. Die Selbstgenügsamkeit des Gottesreiches muss etwas anderes bedeuten, was deutlich wird, wenn man die folgenden Ausführungen miteinbezieht. Luther vergleicht Christus mit den weltlichen Fürsten. Da Christus schon reich ist, ist es unsinnig, ihm etwas geben zu wollen. Deswegen sucht Christus Leute, unter denen er seinen Reichtum verteilen kann, so dass diese wiederum den von ihm empfangenen Reichtum weiter verteilen können. Luther argumentiert hier mit der donum-exemplum-Linie. Zwar steht nicht die menschliche Rückgabe an Gott im Zentrum, aber verschwunden ist sie auch nicht. Sie wird hier allerdings nicht markant thematisiert, auch nicht am Ende der Predigt, wenn Luther schließlich zum Nutzen des Evangeliums kommt. Diese Zweckorientierung hat eine eigene ökonomische Logik und ist daher nicht zufällig. Zwei Lehren sollen der Leser oder der Zuhörer aus allen Evangelien ziehen: Glauben und Lieben. Das ist dasselbe wie gute Werke empfangen und erzeugen. Den Glauben soll man preisen und Liebe üben.

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Hier spiegelt sich Mauss' alte Einsicht wider, dass sich eine Gabe, die nicht weitergegeben wird, zu einem Raub verwandelt.9 Die göttlichen Güter müssen an die Nächsten ausgeteilt werden, und jedes andere Verständnis muss vermieden werden. Deswegen gebraucht Luther den letzten Abschnitt dazu, die wahre Glaubensauffassung negativ abzugrenzen, ζ. B. mit Hilfe von Jak 1,22-24. Aus der gegenseitigen Gemeinschaft von Gott und Mensch im Glauben folgt nun ein unmittelbar einseitiges Weitergeben. Dieses Weitergeben ist aber in die große Austauschstruktur auf zwei zusammenhängende Weisen eingebaut. Zum ersten ist der Dienst am Nächsten auch Gottesdienst. Zweitens verwirklicht sich innerhalb der christlichen Gemeinschaft tatsächlich eine Gegenseitigkeit, in der die Christen - mit den Worten aus dem Freiheitstraktat - „Christus für einander" sein werden, was aber in anderen Texten deutlicher zum Ausdruck kommt. So kann man auch ein Rücksichtnehmen darauf finden, dass der Nächste niemals an der Gemeinschaft teilnehmen kann, wenn er nur Empfänger bleibt. Um nicht den Nächsten außerhalb der Gemeinschaft im Stich lassen zu müssen, muss auch der Nächste teilhaben an der Quelle des Gebens. Es gibt also auch, so kann man behaupten, einen sozialen Grund dafür, dass für Luther die Predigt des Evangeliums das vornehmste Werk ist. Und so verwirklicht sich anfänglich die sozial extreme Reziprozitätsform im gegenseitigen Geben und Tragen in der Kirche. Aus solchen Werken besteht das Reich Gottes (vgl. 1 Kor 4,20). Der Status der Werke als Werke des Gottesreiches wird jedoch erst dann offenbar, wenn die Werke mit dem Wort zusammen gehalten werden. Die Ablehnung der Reziprozität ist also Bestandteil einer übergeordneten und notwendigen Bekräftigung von Reziprozität. Das Evangelium ist dem Gesetz gegenüber nur dann sinnvoll, wenn es den Menschen wieder in die intendierte Gemeinschaft einsetzt. Die interne Abweisung der Reziprozität wird deswegen begleitet von einer Bestärkung von Reziprozität, was bedeutet, dass man bis zu einem gewissen Grad von einer quasi-externen Perspektive Luthers selbst sprechen kann, weil die Beschreibung der wieder hergestellten Gemeinschaft mit Gott zugleich die Voraussetzung ihrer Verwirklichung ist. Damit drückt die „Gabe" gleichermaßen eine bereits existierende Relation zwischen Gott und dem Menschen aus und zugleich signalisiert sie, dass diese Relation erst durch sie selbst, als „Gabe", zum Ausdruck kommen kann. Die Zurückweisung einer bestimmten Form der Ökonomie zieht logisch gesehen nicht automatisch die Ablehnung jeder 9

M. Mauss, Die Gabe, S. 31-36.

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denkbaren, anderen Form der Ökonomie nach sich, sondern vielmehr dies, dass nur eine ganz bestimmte Ökonomie des Heils bewirkt wird, nämlich diejenige, die den Menschen wieder in den Austausch, in den Kommerz mit Gott einsetzt. Das interne Verhältnis zwischen der Abweisung von Reziprozität und ihrer Bekräftigung lässt sich durch Luthers Verständnis von Gottes zweierlei Worten an die Welt bestimmen (WA 101/2,155,22).

2. Das Reziprozitätsmodell der Wartburgpostille (Neujahrstag: Gal 3,23-29) Luthers Verständnis des Verhältnisses zwischen Gottes beiden Worten an die Welt trennt auf der einen Seite das Evangelium scharf vom Gesetz, lässt aber zugleich das Evangelium auf das Gesetz zurück verweisen. Dieser Verweis auf das Gesetz hat jedoch einen anderen Charakter als der Verweis auf das Gesetz, den Luther bei seinen Gegnern anzutreffen glaubt. Diese verstehen, wie Luther behauptet, Christus als einen neuen Gesetzgeber und das Evangelium als eine nova lex. Der Unterschied kann, so Luther weiter, auf die Frage nach der Verortung der Erfüllung des Gesetzes reduziert werden. Die Erfüllung des Gesetzes, die sich unter dem Vorzeichen des Gesetzes ereignet, bindet sich alleine an die Werke. Die Erfüllung, die das Evangelium in die Tat umsetzt, ist an den Glauben gebunden (WA 10 1/2,158,23-25). Erst wenn Gesetz und Evangelium Seite an Seite platziert werden, wird die eigentliche Funktion des Gesetzes offenbar. In der Forderung lehrt das Gesetz, was man tun soll. In der Zusage schenkt das Evangelium die Erfüllung.10 Die Definition aus dem Galaterbriefkommentar ist unverändert geblieben. Innerhalb dieses Schemas ist die paulinische Paränese eindeutig dem Gesetz zugeschrieben und wird mit der unerfüllbaren Forderung des Gesetzes identifiziert.11 Zurück bleibt, gewissermaßen in der Luft schwebend, die Ermahnung. Wenn diese die paränetische Funktion versehen soll, kann sie dem richtenden Gesetz nicht zur Seite gestellt werden. Luther versucht in der Epistel zum Neujahrstag (Gal 3,23-29), zwischen drei Arten des Gebrauchs des Gesetzes zu unterscheiden, die jedoch nicht mit dem 10 11

WA 10 1/2,159,8-10: „Denn er leret durchs gesetz, was tzu thun ist, und durch die tzusagung, wo manß nemen sol." WA 10 1/2,159,5-8: „Mochtestu aber sagen: sind doch ynn den Euangelien und Episteln Pauli viel gesetz: Widderumb ynn Moses und propheten bucher viel tzusagung gotis? Antwort: Es ist keyn buch ynn der Biblien, darynnen sie nicht beyderley sind, gott hatt sie alwege beyeynander gesetzt, beyde, gesetz und tzusagung."

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nachlutherischen triplex usus legis identisch sind. Zuvor hat Luther begründet, dass das Gesetz notwendig und gut ist. Zum einen züchtigt es nämlich die Menschen, auf dass sie sich nicht gegenseitig fressen mögen (WA 10 1/1,454,10-13). Zum anderen gibt es drei Arten des Gebrauchs des Gesetzes, die drei Arten von Menschen entsprechen: Die ersten, die es gantz und gar ynn die schantz schlahen und vrech dawidder ynn eynem freyen leben thun, dißen ists eben als were es nitt eyn gesetz. Die andern, die dadurch sich fur solchem wüsten leben enthalten und ynn eynem erbern leben bewarrt werden, gehn alßo ynn der tzucht eußerlich, aber ynnwendig sind sie dem tzuchtmeyster feynd, alle yhr ding gehtt auß furcht des tods unnd der hellen. Und alßo hallten sie das gesetz nur eußerlich, ia, das gesetz hellt sie eußerlich, ynnwendig hallten sie nit und werden auch nit gehallten. Die dritten, die haltens außwendig und ynnewendig, das sind die taffein Moses, außwendig unnd ynnwendig von gotts finger selb geschrieben. Wie nu die ersten wider außwendig noch ynnwendig frum seyn, alßo die andern nur außwendig frum un ym hertzen nit frum. Aber diße sind durch und durch gutt (10 1/1,456,10-21).

Diese drei Menschentypen lassen sich problemlos in die Taxonomie des Galaterbriefs einordnen. Die ersten entsprechend der Bestimmung S'/SÄ, die zweiten nach der Bestimmung SV„G"Ä. Die dritte Gruppe schließlich ist mit der Bestimmung G'/GÄ in Verbindung zu bringen. Die Variante GV(G>