Das Zwischen schreiben: Transgression und avantgardistisches Erbe bei Kathy Acker [1. Aufl.] 9783839423622

Die Transgression - verstanden als Überschreitung normativ gesetzter Grenzen von Wissen, Erfahrung und Identität - ist s

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German Pages 372 Year 2014

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Das Zwischen schreiben: Transgression und avantgardistisches Erbe bei Kathy Acker [1. Aufl.]
 9783839423622

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Erster Teil: Theoretische Grundlagen
Versuch einer Theorie der Transgression
Wider die Grenze zwischen Kunst und Leben – Avantgardekunst als transgressive Kunst
Zweiter Teil: Das Transgressive bei Kathy Acker
Vorwort zur Analyse
Außenseiter
Der Außenseiter als Leitfigur der Grenzüberschreitung
Rebellen
Die Rebellion der Jugend: Janey Smith
Die Rebellion gegen die Realität: Don Quixote
Pos tmoderne Anarchis ten: Revolutionäre, Terroris ten, Piraten
Küns tler
Les Poètes maudits: Rimbaud und Verlaine
Der Tod als let zte Grenze: Pasolini
Der entmys tifizierte Heilige: Genet
Sexualität, Körperlichkeit und Identitätspolitik
Über die Ambivalenz der Sexualität und die Rolle der Pornographie
„The bigges t shit in the world“ – Ödipus und die normative Kraft der Sexualität
Transgressive Sexualität und die Erweiterung der Grenzen des Selbs t
Der modifizierte Körper als transgressiver Körper
Die Haut als Grenze des Subjekts
Der hybride Körper
Ackers transgressive Ästhetik und ihre Funktion
Das äs thetische Erbe der Avantgarde
Experimentelle Äs thetik und die „Ins titution Kuns t“
Von der Äs thetik zur Ethik: Das Rhizom
Schlussbemerkung: „A humanist in some weird way“
Bibliographie

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Florian Zappe Das Zwischen schreiben

Lettre

Florian Zappe (Dr. phil.) ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er erforscht die Kreuzungspunkte, an denen Philosophie, Kulturtheorie, Kunst und Gesellschaft im kulturellen Raum interagieren.

Florian Zappe

Das Zwischen schreiben Transgression und avantgardistisches Erbe bei Kathy Acker

Dissertation der Freien Universität Berlin, D 188.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Kim Stringfellow 2012. Title: Kathy Acker, San Francisco, mid-1990s. Lektorat & Satz: Florian Zappe und Tobias J. Jocham Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2362-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung |7 Einleitung |9 E RS TER T EIL : T HEORETISCHE G RUNDLAGEN Versuch einer Theorie der Transgression |25 Die allgemeinphilosophischen Grundlagen der Überschreitung|25 Die Konstitution der Grenzen des Selbst – Identität als Konstrukt|35 Die Transgression und ihre Funktionen|49 Zwei Modelle der Transgression − Authentisches Jenseits vs. Hybrides Zwischen|55

Wider die Grenze zwischen Kuns t und Leben – Avantgardekuns t als transgressive Kuns t |65 Transgression und Avantgarde|65 Die Auf hebung der Grenze zwischen Kunst und Leben|67 Die Anti-Ästhetik und der bewusstmachende Schock|73 „Anything goes?“ – Das Problem der Avantgarde vor dem Hintergrund der Postmoderne|79 Exkurs: Pop und Avantgarde – Zwei transgressive Diskurse|96

Z WEITER T EIL : D AS T RANSGRESSIVE BEI K ATHY A CKER Vorwort zur Analyse |103 Außenseiter |119 Der Außenseiter als Leitfigur der Grenzüberschreitung|119 Rebellen|124 Die Rebellion der Jugend: Janey Smith|124 Die Rebellion gegen die Realität: Don Quixote|147 Postmoderne Anarchisten: Revolutionäre, Terroristen, Piraten|172 Künstler|190 Les Poètes maudits: Rimbaud und Verlaine|190

Der Tod als letzte Grenze: Pasolini|218 Der entmystifizierte Heilige: Genet|224

Sexualität, Körperlichkeit und Identitätspolitik |233 Über die Ambivalenz der Sexualität und die Rolle der Pornographie|233 „The biggest shit in the world“ – Ödipus und die normative Kraft der Sexualität|239 Transgressive Sexualität und die Erweiterung der Grenzen des Selbst|260 Der modifizierte Körper als transgressiver Körper|283 Die Haut als Grenze des Subjekts|287 Der hybride Körper|294

Ackers transgressive Äs thetik und ihre Funktion |299 Das ästhetische Erbe der Avantgarde|299 Experimentelle Ästhetik und die „Institution Kunst“|318 Von der Ästhetik zur Ethik: Das Rhizom|333

Schlussbemerkung: „A humanis t in some weird way“ |345 Bibliographie |357

Danksagung

„…and maybe the only thing worse than having to give gratitude cons tantly all the time is having to accept it—“ William Faulkner, Requiem for a Nun, Ac t 2, Scene 1

Danksagungen wohnt immer die Gefahr inne, ins Rituelle oder Floskelhafte abzudriften. Vermutlich werde ich bei dem Versuch scheitern, sie zu bannen, aber dieses Risiko nehme ich gerne auf mich, um jenen Menschen meine Anerkennung und meinen Dank auszudrücken, ohne die diese Arbeit nie hätte entstehen können. Hier ist zunächst Winfried Fluck zu nennen, der diese Studie betreut und in jeder Hinsicht unterstützt hat. Ohne seine Ermutigung, seine konstruktiven und inspirierenden Kommentare sowie seine Aufgeschlossenheit gegenüber meinem Thema und meiner manchmal solitären Arbeitsweise hätte ich dieses Projekt nicht realisieren können. Darüber hinaus möchte ich folgenden Personen und Institutionen meinen Dank aussprechen: Frank Mehring für die Übernahme des Zweitgutachtens, Susanne Rohr für ihre wertvollen Hinweise in der Frühphase des Projekts, Kim Stringfellow für die Umschlagfotografie, den Mitgliedern meiner Disputationskommission, den Mitgliedern der Kommission zur Vergabe der Elsa-Neumann-Stipendien des Landes Berlin für ihre Bewilligung der Förderung meiner Forschung, sowie der Ernst-Reuter-Gesellschaft für ihre Beteiligung an den Druckkosten. Meinen Korrekturlesern Karolin Schulz und Alexander von Nell danke ich für ihre Bereitschaft, sich immer wieder mit meinem Text auseinanderzusetzen und ihn durch ihre Anmerkungen und Kritik zu verbessern. Tobias J. Jocham gebührt Anerkennung für seinen langmütigen Einsatz, mit dem er beim Erstellen des Manuskripts meine Defizite in der Textverarbeitung kompensiert hat. Mein besonderer Dank gilt Caro Franke für ihre Hilfe und Unterstützung und vor allem dafür, dass sie die Energie und Geduld auf bringt, es mit mir „verkopftem Idioten“ auszuhalten.

Einleitung

Liest man die Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vom 18. September 1986 über die Indizierung des im Münchner Heyne Verlag erschienenen Romans Harte Mädchen weinen nicht von Kathy Acker, kann man den Eindruck gewinnen, die in den späten 1960er Jahren in Westdeutschland einsetzende Liberalisierung der Gesellschaft und die damit einhergehende zunehmende Akzeptanz von gegen- oder subkulturellen künstlerischen Ausdrucksformen habe nie stattgefunden. Glaubt man diesem Verdikt, das seiner Diktion nach auch aus der Adenauerzeit stammen könnte, enthält der Roman eine Reihe von Passagen, die „nicht nur als jugendgefährdend sondern auch als schädlich für Erwachsene anzusehen [sind].“1 Vor allem die explizite Darstellung von Sexualität berge die Gefahr, dass die „unfertigen, noch nicht durch Erfahrungen und genügenden eigenen geistigen Reifungsprozeß in ihren Wertvorstellungen wie in ihrem Urteilsvermögen gefestigten […] jugendlichen [Leser] in ihrer Entwicklung zu voll verantwortlichen Persönlichkeiten und Sexualpartnern gestört werden.“2 Dem Roman wird vorgeworfen, strafrechtlich verbotenen Inzest zu „propagieren“, Fellatio, Cunnilingus und Analverkehr zu „verherrlichen“, „deviante krankhafte Sexualhandlungen“ wie Sadomasochismus „positiv darzustellen“ und – scheinbar eine besondere Form der Jugendgefährdung – Abtreibungen zu „verharmlosen.“3 Die Darstellung dieser Inhalte sei auch nicht mit der Freiheit der Kunst zu begründen, da dieser Status dem Werk nicht zugeschrieben werden könne: Das Taschenbuch Harte Mädchen weinen nicht is t weder Kuns t noch dient es ihr. Eine Schrift dient der Kuns t nämlich nur, wenn sie ein bes timmtes Maß an küns tlerischem Niveau besit zt. Dies beurteilt sich nicht allein nach äs thetischen Kriterien, sondern auch nach dem Gewicht, das das Kuns twerk für die pluralis tische Gesellschaft nach deren Vors tellungen über die Funktion der Kuns t hat. 4

1 | Entscheidung Nr. 3659 der Bundesprüfs telle für Jugendgefährdende Schriften (BPjS) vom 18.09.1986, abgedruckt in: Kathy Acker: Ultra light-las t minute – ex+pop-literatur, Berlin 1990, S. 167–174, hier: S. 171. 2 | Ebd., S. 172. 3 | Vgl. ebd. 4 | Ebd.

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Hier offenbart sich ein selbst für das Jahr 1986 als konservativ zu bezeichnendes Kunstverständnis, an dem deutlich wird, welch ein hohes subversives Potential die Gutachter der Bundesprüfstelle dem Roman im Hinblick auf den Schutz der Jugend zuschreiben. Man traut diesem Kunstwerk, das man nicht als solches bezeichnen möchte, zu, „Schaden“ an der herrschenden Normen- und Werteordnung einer Gesellschaft anzurichten, die trotz der ausdrücklichen Betonung ihres Pluralismus offenbar als möglichst homogene Ordnung verstanden wird. Man mag eine solche Argumentation als Äußerung einer reaktionär auftretenden Zensurbehörde – nichts anderes war die Bundesprüfstelle5, auch wenn ihr Vokabular den Begriff „Zensur“ schon aus verfassungsjuristischen Gründen grundsätzlich meidet – abtun, deren Bewertungsmaßstäbe auf die veränderten Lebenswirklichkeiten einer sich immer schneller und immer mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft mit großer Trägheit reagieren. Dennoch beansprucht eine Institution wie die BPjS einen gesellschaftlichen Grundkonsens zu vertreten, den der Roman, so scheint es zumindest bei der Lektüre des Gutachtens, in vielfacher Hinsicht verletzt hat. Offenbar wurden hier Grenzen überschritten, die für die Sachverständigen der Prüfstelle, die ihrem Selbstverständnis nach nicht in erster Linie eine Institution des Staates, sondern der Gesamtgesellschaft war,6 unantastbar zu sein hatten. Dadurch, dass sie dem Roman ein derartiges Gefährdungspotential für den gesellschaftlichen Wertekonsens zugebilligt hat, wirft die Entscheidung eine der Grundfragen auf, die in der vorliegenden Studie eine zentrale Rolle einnehmen wird: Welche Grenzen kann Kunst (noch) überschreiten und welche gesellschaftspolitischen Wirkungen kann überschreitende Kunst haben? Die kurze Zusammenfassung der Indizierungsgeschichte der deutschen Erstausgabe des Romans Blood and Guts in High School macht deutlich, wieso seiner Verfasserin, der amerikanischen Schriftstellerin, Essayistin und Performancekünstlerin Kathy Acker (1947–1997), der Ruf anhaftet, eine Autorin der Überschreitung zu sein – einer Geste, die, glaubt man Michael Clune, das Wesen ihres Werkes ausmacht: „Transgression is central to Acker’s work and operates at all levels of her novels, from the trademark obscenity of her style to the criminality of her characters.“7 Clunes Feststellung verweist einerseits auf Charakteristika, die jedem Leser von Ackers Literatur offenkundig werden. Andererseits verschleiert sie – vermutlich unfreiwillig – die Vielschichtigkeit der angesprochenen Grenzüberschreitungen, da sie impliziert, der Begriff „Transgression“ spräche für sich selbst und ließe sich mit Vokabeln wie Obszönität und Kriminalität ausreichend beschreiben. 5 | Um den Veränderungen in der Medienlandschaft seit ihrer Gründung in den 1950er Jahren Rechnung zu tragen, wurde die Ins titution im Jahr 2003 in Bundesprüfs telle für jugendgefährdende Medien umbenannt. 6 | In den Gremien der BPjS waren (wie heute in der BPjM) nicht nur Vertreter s taatlicher Organe, sondern auch aus der Wissenschaft, dem Buchhandel, den Kirchen und von Jugendverbänden vertreten, um die Entscheidungen auf Basis eines möglichs t breiten gesamtgesellschaftlichen Konsenses zu treffen. 7 | Michael Clune: „Blood Money: Sovereignty and Exchange in Kathy Acker“, in: Contemporary Literature, 45.3 (Fall 2004), S. 486–515, hier: S. 495.

E INLEITUNG

Tatsächlich ist er höchst diffus. Er beschreibt ein Feld von sozialen, kulturellen oder ästhetischen Phänomenen und Praktiken, die in hohem Maße polymorph und doch eng verwandt sind. Bedenkt man dies bei der Betrachtung der „transgression at all levels“ in Ackers Romanen, muss man verschiedene Aspekte der Transgression differenzieren: Die Darstellung von deviantem Sozial- oder Sexualverhalten ist nicht dasselbe wie die Verwendung einer expliziten Sprache, wie sie im Literaturbetrieb des Mainstreams bestenfalls in Ausnahmefällen vorkommt. Der Zerfall der narrativen Ordnung ist etwas anderes als das Überschreiten von Tabus auf der inhaltlichen Ebene der Romane. Das Sympathisieren mit gesellschaftlichen Außenseitern als Protagonisten bedingt nicht zwingend eine experimentelle Ästhetik. Trotzdem lassen sich all diese Elemente – die Liste ließe sich noch fortsetzen – in Ackers Literatur mit dem Attribut „überschreitend“ oder „transgressiv“ versehen. Sie sind in ihrem Grundgestus eng miteinander verknüpft, obwohl sie verschiedene narrative, textuelle und politische Aspekte der literarischen Praxis betreffen. Sie laufen jedoch, was typisch für Kathy Ackers Literatur ist, untrennbar ineinander. Ihre Werke sind nicht nur Texte über Grenzüberschreitungen, sondern sind, wie ich im Folgenden zeigen möchte, selbst Transgressionen im Hinblick auf ihre Ästhetik und ihre identitäts- und gesellschaftspolitische Funktion. Obwohl in den Studien und Artikeln, die sich mit ihrem Werk befassen, immer wieder einzelne Aspekte ihrer transgressiven Ästhetik oder ihres normüberschreitenden Inhalts beleuchtet werden, gibt es bis jetzt keine ausführliche Studie, die den Fokus auf Acker als eine „Autorin der Transgression“ richtet. Mit der vorliegenden Untersuchung will ich diese Lücke schließen und mich dem in Ackers Werk so zentralen Thema der Überschreitung nähern und es in seiner ganzen Bandbreite untersuchen. Dabei werde ich mich auf bereits geleistete Forschungsarbeit beziehen und diese in Einzelfragen als Basis, Stichwortgeber und Bezugsrahmen für meine Fragestellung nutzen. Generell ist zu konstatieren, dass die Zahl der Publikationen zu Ackers Werk bis dato überschaubar geblieben ist. In der Literaturwissenschaft hat sie seit Mitte der 1990er Jahre vor allem in der angelsächsischen Welt zunehmend ein gewisses Maß an Beachtung gefunden, während die deutsche Forschung – im Speziellen die Amerikanistik – sie weitgehend vernachlässigt hat. Werner Reinhart hat Ackers Version des Don Quixote in seiner umfassenden Studie zum pikaresken amerikanischen Roman der 1980er Jahre ein Kapitel gewidmet, während ansonsten gerade einmal zwei deutschsprachige Artikel existieren, die sich ganz oder in Teilen mit Acker befassen.8 Die bedeutendsten englischsprachigen Publikation zu ihrem Werk sind die Aufsatz8 | Werner Reinhart: Pikareske Romane der 80er Jahre. Ronald Reagan und die Renaissance des politischen Erzählens in den USA, Tübingen 2001, dort besonders S. 418–480; Angela Krewani: „Harte Mädchen weinen nicht: Narrative Strategien des Pos t-Feminis t-Writing“ in: Lili: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguis tik, 1995 June, 25 (98), S. 162–170; Catrin Gersdorf: „Pos tmoderne Aventiure: ,Don Quijote‘ in Amerika“, in: Zeitschrift für Anglis tik und Amerikanis tik, 46.2 (1998), S. 142–156. Daneben is t noch der englischsprachige Artikel des deutschen Amerikanis ten Hanjo Berressem zu nennen: Hanjo Berressem: „Body-WoundWriting“ in: Amerikas tudien/American Studies, 1999, 44 (3), S. 393–411.

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sammlungen Lust for Life. On the Writings of Kathy Acker, die in Folge eines Symposiums an der New York University erschienen ist, und Kathy Acker and Transnationalism, die von Polina Mackay und Kathryn Nicol herausgegeben wurde.9 Grundsätzlich fällt auf, dass sich kaum eine der bis jetzt publizierten, längeren Arbeiten ausschließlich mit Acker befassen. So widmet ihr Victoria De Zwaan lediglich ein Kapitel in ihrem Buch Interpreting Radical Metaphor in the Experimental Fictions of Donald Barthelme, Thomas Pynchon, and Kathy Acker10, wobei sie ihr Augenmerk auf den oft – auch von Acker selbst – als Plagiarismus bezeichneten intertextuellen Aspekt in den Werken der Autorin richtet. Ein ähnliches Projekt verfolgt auch Jeffrey Ebbesen in seinem 2006 erschienenen Postmodernism and Its Others: The Fiction of Ishmael Reed, Kathy Acker, and Don DeLillo.11 Nicola Pitchford liest Ackers Romane im Vergleich mit der Literatur von Angela Carter vor dem Hintergrund feministischer Theorie auf ihre geschlechterpolitischen Aussagen hin.12 Neben diesen ausführlicheren Studien gibt es noch eine ganze Reihe von Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln, die sich mit einzelnen thematischen Facetten von Ackers Werk auseinandersetzen.13 Im Gegensatz zu diesen Arbeiten will ich meine Untersuchung nicht auf ausgewählte, relativ begrenzte Fragestellungen beschränken, sondern eine umfassende Perspektive auf das Thema der „transgression on all levels“ in Kathy Ackers Literatur gewinnen. Dabei wird zu zeigen sein, dass diese Grenzüberschreitungen keine bloßen Provokationen sind, dass sie nicht skandalös um des Skandals willen sind, sondern 9 | Amy Scholder/Carla Harryman/Avital Ronell (Hg.): Lus t for Life. On the Writings of Kathy Acker, London und New York 2006; Polina Mackay/Kathryn Nicol (Hg.): Kathy Acker and Transnationalism, Newcas tle upon Tyne 2009. 10 | Vic toria de Zwaan: Interpreting Radical Metaphor in the Experimental Fic tions of Donald Barthelme, Thomas Pynchon, and Kathy Acker, Lewis ton 2002. 11 | Jeffrey Ebbesen: Pos tmodernism and Its Others: The Fic tion of Ishmael Reed, Kathy Acker, and Don DeLillo, New York und London 2006. 12 | Nicola Pitchford: Tac tical Readings: Feminis t Pos tmodernism in the Novels of Kathy Acker and Angela Carter, Lewisburg und London 2002. 13 | Sie alle zu erwähnen würde den hier angemessenen Rahmen sprengen. Daher hier nur der Verweis auf eine repräsentative Auswahl, die die Bandbreite der behandelten Themen aufzeigen soll: Kathryn Hume: „Voice in Kathy Acker’s Fic tion“, in: Contemporary Literature, 42.3 (Autumn 2001), S. 485–513; Ryan Simmons: „The Problem of Politics in Feminis t Literary Criticism: Contending Voices in Two Contemporary Novels“, in: Critique: Studies in Contemporary Fic tion, 41.4 (Spring 2000), S. 319–334; Linda S.: Kauffman „Not a Love Story: Retrospec tive and Prospec tive Epis tolary Direc tions“, in: Amanda Gilroy und W. M. Verhoeven (Hg.): Epis tolary His tories: Letters, Fic tion, Culture, Charlottesville 2000, S. 198–216; Kathleen Hulley: „Transgressing Genre: Kathy Acker’s Intertext“, in: Patrick O’Donnell/Robert Con Davis (Hg.): Intertextuality and Contemporary American Fic tion, Baltimore 1989, S. 171–190; Lynn Hughey: „Cyberpunk Pilgrimages: Kathy Acker Inside/Outside of the Sublime“ in: Mosaic: A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature, 36.4 (Dezember 2003), S. 121–137; Richard Walsh: „The Ques t for Love and the Writing of Female Desire in Kathy Acker’s ,Don Quixote‘“, in: Critique: Studies in Contemporary Fic tion, 32.3 (Spring 1991), S. 149–168; Naomi Jacobs: „Kathy Acker and the Plagiarized Self“, in: The Review of Contemporary Fic tion, 9.3 (Fall 1989), S. 50–55.

E INLEITUNG

im Dienst einer Identitätspolitik stehen, die nach Möglichkeiten identitärer Selbstermächtigung jenseits von gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern sucht. Ackers literarisches Projekt ist somit ein dezidiert kulturkritisches und politisches, dem eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Machtstrukturen in den postmodernen spätkapitalistischen westlichen Gesellschaften (im Besonderen natürlich der Vereinigten Staaten) zu Grunde liegt. Um diese Dimension in den von mir untersuchten Romanen in vollem Umfang analysieren zu können, werde ich den Begriff der Überschreitung philosophisch möglichst weit fassen und damit über die üblichen Definitionsansätze hinausgehen, die sich mittlerweile in der Literatur- und Kulturwissenschaft um dieses Themenfeld herum etabliert haben. Julian Wolfreys definiert das gängige Verständnis von Transgression als ac t of breaking a law, committing a crime or sin, doing something illegal, or otherwise ac ting in some manner proscribed by the various forms of ins titutions of Law in societies, whether secular or religious, all of which have his tories and which themselves are mutable, self-translating.14

Entsprechend dieser Begriffsbestimmung gibt es eine lange Tradition, bestimmte Autoren und ihre Werke als „transgressiv“ zu bezeichnen, denen der Ruf des Skandalösen anhaftet. Man denke beispielsweise an so unterschiedliche Schriftsteller wie den Marquis de Sade, Antonin Artaud, Georges Bataille, Jean Genet, William S. Burroughs, Hubert Selby Jr. oder Bret Easton Ellis, die alle mit diesem Etikett versehen worden sind. Doch eine genaue Begriffsbestimmung dessen, was eine „Literatur der Transgression“ sein könnte, blieb lange Zeit aus. In den 1990er Jahren hat Anne H. Soukhanov schließlich den Versuch unternommen, „transgressive fiction“ als eigenständiges Genre zu definieren: [A] literary genre that graphically explores such topics as inces t and other aberrant sexual prac tices, mutilation, the sprouting of sexual organs in various places on the human body, urban violence and violence agains t women, drug use, and highly dysfunc tional family relationships, and that is based on the premise that knowledge is to be found at the edge of experience and that the body is the site for gaining knowledge.15

Sicherlich finden sich in dieser Definition wesentliche Elemente eines auf bestimmte Formen von Literatur anwendbaren Transgressionsbegriffs und natürlich schließt er auch wesentliche Motive von Ackers Literatur mit ein. Er ist jedoch, gerade wegen seiner Überbetonung des Körperlichen, nicht erschöpfend genug. Denn die Grenzüberschreitung in der Kunst lässt sich nicht nur inhaltlich auf „extreme Entgrenzungserfahrungen in Rausch, Ekstase oder sexuellem Tabubruch“ reduzieren, sondern kann auch „die Überschreitung darstellerischer Konventionen thematisieren, die ,Grenzen 14 | Julian Wolfreys: Transgression. Identity, Space, Time, Basings toke und New York 2008, S. 3. 15 | Anne H. Soukhanov: „Word Watch“, in: The Atlantic Monthly, December 1996, S. 128.

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des guten Geschmacks‘ berühren oder die ,Grenzen der Repräsentation‘ ausloten.“16 Eine Gattungsbestimmung wie Soukhanovs „transgressive fiction“ darf deshalb nicht außer Acht lassen, dass es nicht nur Literatur über Transgressionen gibt (jeder konventionelle Kriminalroman lebt von der Beschreibung der Überschreitung von moralischen Grenzen, ohne deswegen transgressiv zu sein), sondern dass Literatur auch als Transgression funktionieren kann. Das Überschreitende auf dem Feld der Ästhetik kann und darf bei der Betrachtung einer wirklichen Literatur der Überschreitung nicht von den inhaltlichen Aspekten getrennt werden. Die Auf lösung linearer narrativer Strukturen und realistisch-mimetischer Repräsentationsmodi, das Verwischen von Gattungs- und Genregrenzen, die Verwendung von Collagetechniken und das Experimentieren mit der Sprache bis hin zum Zerfall jedweder Möglichkeit des Verstehens korrespondiert dort mit den transgressiven Inhalten. Eine Analyse von Kathy Ackers Romanen kann sich daher weder in einer reinen Inhaltsanalyse erschöpfen, noch ist es ausreichend, den Fokus ausschließlich auf ihre intertextuelle Ästhetik zu legen. Will man das identitätspolitische Projekt, als das ich ihre Literatur verstehe, untersuchen, muss der Zusammenhang zwischen dem, was gesagt wird und dem, wie es gesagt wird, hergestellt werden: [F]orm and identity are interrelated, particularly in the sense that the form of a literary text serves to inform the reader about a charac ter’s identity, while the transgressive ac tions or attitudes of a charac ter can frequently be worked out not through the charac ter’s identity solely, but also in the form (or let us call it ,identity‘) of the literary text in ques tion. 17

Dieser Nexus von transgressivem Gehalt und überschreitender Form in einem gesamtgesellschaftlichen Funktionszusammenhang ist ein typisches Charakteristikum avantgardistischer Kunst, in deren langer Tradition Acker unbestreitbar steht. In der Tat kann man von ihr, die in den 1980er Jahren in der englischsprachigen Welt – vor allem in Großbritannien, wo sie zeitweise wie ein literarischer Popstar gefeiert wurde – ein beachtliches Maß an Popularität erreicht hat, behaupten, sie sei „[a]fter William Burroughs […] the only real inheritor of the bohemian tradition to cross over fully into the big-time publishing world.“18 Die hier zitierte „bohemian tradition“ verweist auf die avantgardistischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die durch das Überschreiten jener Grenzen, die von der herrschenden bürgerlichen Ideologie gezogen wurden, zahlreiche kunstphilosophische und gesellschaftspolitische Debatten entfacht haben. Durch die offen gesuchte Konfrontation und die Selbstpositionierung „jenseits der Grenzen“ des Erlaubten und Darstellbaren konnten diese Avantgardisten sich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als progressiv positionieren und 16 | Claudia Benthien/Irmela Marei Krüger-Fürhoff: „Vorwort“, in: dies. (Hg.): Über Grenzen – Limitation und Transgression in Literatur und Äs thetik, Stuttgart und Weimar 1999, S. 7–16, hier: S. 8f. 17 | Wolfreys: a. a. O., S. 3f. 18 | Elizabeth Young: „Children of the Revolution“, in: Elizabeth Young/Graham Caveney (Hg.): Shopping in Space. Essays on America’s Blank Generation Fic tion, New York 1992, S. 1–20, hier: S. 7.

E INLEITUNG

so deren Diskurshoheit angreif bar machen. Der Geist dieser Kunst ist in Ackers in jedem Sinne widerständiger Literatur allgegenwärtig. Ihre Texte scheinen ob ihrer experimentellen Ästhetik nur bedingt für einen Erfolg bei einem Massenpublikum geeignet zu sein. Ihre Romane folgen in der Regel nicht den perspektivischen und linearen Erzählmustern, die nach wie vor für das Erreichen einer großen Leserschaft ausschlaggebend sind, sondern verbinden autobiographische und essayistische Elemente mit fiktionalen Passagen, philosophischen Abhandlungen, plagiierten Texten anderer Autoren, populärkulturellen Referenzen und expliziten Darstellungen von Gewalt und Sexualität zu komplexen literarischen Collagen. Und auch in politischer Hinsicht tragen Ackers Bücher den konfrontativen, antibürgerlichen Gestus ihrer avantgardistischen Vorbilder in sich. Doch gilt es bei der Beschäftigung mit ihrem Werk zu beachten, dass sich die kulturellen Bedingungen, in denen sie lebte und schrieb, fundamental von denen ihrer Vorläufer unterschieden haben. Die kulturelle Entwicklung in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wirft die Frage auf, wie Grenzüberschreitung im angeblichen „Anything goes“ der Postmoderne funktionieren kann, nachdem der vielgestaltige gesellschaftliche Wandel in Westeuropa und Nordamerika seit den 1960er Jahren und die damit einhergehende zunehmende Heterogenisierung und Ausdifferenzierung des soziokulturellen Raumes die Maßstäbe für transgressive Literatur fundamental verändert hat. Mit dem Auftreten der Postmoderne und dem damit verbundenen, von Lyotard verkündeten Ende der „master narratives“ – die wichtige „Grenzzieher“ waren – scheint die Zeit der Transgression vorbei zu sein. Hierzu Dirk Hohnsträter: Die Pos tmoderne is t transzendierungssatt, weil alles bereits überschritten scheint, sie is t gekennzeichnet von eine Verknappung (ja: Erschöpfung) der Übertretungsreserven. Wenn die ,Chocs‘ schal, die Verfremdungen üblich und die Metaphern müde geworden sind, bleibt nur noch das Spiel mit den Zitaten und die Spirale der Selbs treferenz.19

Sicherlich sind diese von Hohnsträter beschriebenen Merkmale auch für Ackers Postmodernismus charakteristisch: Sie treibt das „Spiel mit den Zitaten“ bis zum Exzess, die Verfremdung klassischer narrativer Linearität bis hin zur Unverstehbarkeit haben Beckett, Robbe-Grillet, Burroughs und andere lange vor ihr durchexerziert und natürlich waren vor allem die inhaltlichen Übertretungsreserven in den 1980er und 90er Jahren, als Acker ihr Hauptwerk verfasste, „knapper“, als dies noch wenige Jahrzehnte zuvor der Fall war. Wer deswegen aber pauschal das Ende der Möglichkeit subversiver Überschreitung verkündet und behauptet, postmoderne Kunst sei per se unpolitisch, weil sie im Spiegellabyrinth der Selbstreferenzialität gefangen ist, übersieht, dass auch dieser kulturellen Praxis überschreitende Elemente innewohnen können, welche die in den Stand der Wahrheit gehobenen kulturell geformten Mythen der Gesellschaft dekonstruieren und so eine politische Wirkung entfalten: 19 | Dirk Hohns träter: „Im Zwischenraum. Ein Lob des Grenzgängers“, in: Benthien/Krüger-Fürhoff: a. a. O., S.231–244., hier: S. 235f.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Pos tmodern art cannot but be political, at leas t in the sense that its representations – its images and s tories – are anything but neutral, however ,aes theticized‘ they may appear to be in their parodic selfreflexivity. While the pos tmodern has no effec tive theory of agency that enables a move into political action [Hervorhebung im Original – d. Verf.], it does work to turn its inevitable ideological grounding into a site of de-naturalizing critique. 20

In der vorliegenden Studie will ich darlegen, dass die transgressiven Aspekte von Ackers Romanen in Inhalt und Ästhetik in diesem Sinne politisch sind. An ihnen lässt sich exemplarisch zeigen, dass der Schluss, nach dem Ende der Metadiskurse sei keine Übertretung mehr möglich, zu einfach ist. Der Sinn für das Randständige, Marginale und Grenzwertige ist, samt dem damit assoziierten subversiven Potential auch nach der postmodernen Wende erhalten geblieben. Auch wenn diese Entwicklung schon vorher begann, wurde das „Post“ als Präfix für die klassischen Diskurse der Moderne vor allem in den 1980er Jahren in geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen allgegenwärtig, ohne jedoch das abstrakte Konzept der Grenze abzuschaffen, wie der britische Soziologe Chris Jenks feststellt: [T]he academy erupted into the era of the pos t-, with pos t-his tory, pos t-feminism, pos t-colonialism, pos tnationalism and, overarching them all, the spec tre of the ,pos tmodern‘. Tangible metaphors of the social no longer seemed viable and our languages of order gave way to new geographies of social space, many of which appeared entirely cognitive. What remained, however, was a lingering, and real, sense of limits. Though diffuse and ill-defined, the limits, the margins, now took on a mos t important role in describing and defining the centre. Beyond the limits – be they classificatory, theoretical or even moral – there remained asociality or chaos, but ever more vivid and in greater proximity. Thus our new topic became the transgression that transcends the limits or forces through the boundaries. 21

Die Grenzen haben also lediglich einen anderen Charakter bekommen. Sie schöpfen ihre Geltungsmacht nun nicht mehr aus einem absoluten, sondern aus einem diskursgebundenen Wahrheitsverständnis. Dies hat Folgen für die Überschreitung als soziale und künstlerische Praxis. Mit dem Wegfall des Absolutheitscharakters von moralischen, sozialen, ästhetischen und identitätsstiftenden Grenzen (wohlgemerkt nicht der Grenzen selbst) kann Transgression nicht mehr ausschließlich als bloßes Überschreiten zum Zwecke der Befreiung von Restriktionen oder der Erweiterung von Erkenntnismöglichkeiten verstanden werden. Die binäre Struktur von „diesseits“ und „jenseits“ gerät unter Druck. Grenzen, die einst die Mehrheitsgesellschaft von ihren marginalisierten Räumen abgegrenzt haben, sind beweglich geworden und ordnen sich immer wieder neu, je nach dem, wo die Hoheit über die Diskurse der Gesellschaft gerade liegt. In einer solchen Umgebung kann Transgression nur heißen, nicht über, sondern auf den nach wie vor vorhandenen Grenzen zu gehen, wie Hohnsträter richtig festgestellt hat: „Statt zu leugnen, was sich nicht umgehen lässt: 20 | Linda Hutcheon: The Politics of Pos tmodernism, London und New York 1989, S. 3. 21 | Chris Jenks: Transgression, London und New York 2003, S. 4.

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die Grenze; statt zu verabsolutieren, was nach Übertretung verlangt: die Grenze; wäre es da nicht besser, auf der Grenze zu gehen? Ist es nicht an der Zeit, die Zwischenräume zu erkunden?“22 Im Folgenden werde ich das Transgressive in Ackers Literatur am Phänomen der Grenze und des Grenzgangs analysieren und dabei die These vertreten, dass die Autorin eine literarische Grenzgängerin in Hohnsträters Sinne ist, weil das ihren Romanen implizite Verständnis von Überschreitung genau auf diese Zwischenräume abzielt. Sie ergründet in ihren Texten nicht nur Felder jenseits ästhetischer, kognitiver und identitärer Grenzen, sondern bewegt sich zwischen diesen Feldern und ist so Teil einer „neuen Weltliteratur“, die nach Hohnsträter „hybride Formen des Schreibens und Lebens [erprobt].“23 Innerhalb dieser Literatur lassen sich zwei strukturell sehr eng verwandte Strömungen ausmachen. Ihr gemeinsames Thema ist die Konstruktion und Dekonstruktion von Identität und ihr bevorzugtes Vokabular ist das der Grenzüberschreitung. „Transgressing Boundaries“, „Crossing Borders“ oder „Living in the Borderland“ sind die Schlagworte der ersten Variante, die – nicht nur in den USA – versucht, durch das Experimentieren mit neuen künstlerischen und intellektuellen Formen ein vielschichtiges, postkoloniales, multiethnisches, multilinguales und interkulturelles Selbstbewusstsein zu erschaffen, das die etablierten national(istisch)en Konzepte von (kollektiver) Identität transzendiert. Autoren wie Gloria Anzaldua, Salman Rushdie oder V. S. Naipaul wären hier als prominente Beispiele zu nennen. Hier werden kulturelle Grenzüberschreitungen und Hybridisierungen verhandelt, bei denen die Ebene der Identität eng mit der ethnischen und geographischen Herkunft verknüpft ist. Die zweite Strömung ist jene Form transgressiver Literatur, die sich der Identitätsproblematik mit den Mitteln der Avantgarde und des literarischen „Undergrounds“ nähert. Sie ist weitaus individualistischer, weil die Grenzüberschreitung und die aus ihr resultierenden Probleme und Potentiale weniger an ethnische, sondern an symbolische Räume und an performativ konstituierte Formen von Subjektivität innerhalb der westlichen Gesellschaften geknüpft ist. Exemplarisch hierfür ist in Teilen die Literatur der verschiedenen Avantgarden des 19. und 20. Jahrhunderts, der Beat Generation, in jedem Fall aber jene von William S. Burroughs, Hubert Selby jr. oder die frühen Romane von J. G. Ballard. In dieser Tradition stehend beschränkten sich Ackers Transgressionen nicht nur auf die fiktionalen Wirklichkeiten ihrer Romane, sondern auch auf die Inszenierung ihrer öffentlichen Person. Sie hat in ihrer Selbstdarstellung zeitlebens ihr Image als subkulturelle Autorin außerhalb des literarischen Mainstreams gepflegt. Ihre bewusst und sorgfältig inszenierte Künstler-Persona, stets eine tragende Säule des „Gesamtkunstwerks Kathy Acker“, war von den klassischen Signifikanten populär- und subkultureller Dissidenz und Rebellion geprägt: Tätowierungen, Piercings, extravagante Haartrachten, Lederkleidung, Motorräder. Ihr Schreiben hat seine Wurzeln in der 22 | Hohns träter : a. a. O., S. 236. 23 | Ebd., S. 231.

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alternativen Dichterszene der Westküste der späten 1960er und frühen 1970er Jahre und später im „Underground“ des New Yorker East Village. Als Gegenstand meiner Untersuchung dienen mir folgende sechs Romane Ackers: Great Expectations (1983), My Death, My Life by Pier Paolo Pasolini (1983); Blood and Guts in High School (entstanden 1978, publiziert 1984), Don Quixote: Which was a Dream (1986), Empire of the Senseless (1988) und In Memoriam to Identity (1990). Die Auswahl dieses Korpus ist – wie ich später im Vorwort zum analytischen Teil der vorliegenden Studie noch detaillierter ausführen werde – unter dem Gesichtspunkt erfolgt, dass die Dekade der 1980er Jahre, in der diese Romane im Wesentlichen entstanden sind, gerade für die radikale amerikanische Kunst- und Literaturszene einen Wendepunkt darstellten. Die inhaltlichen und ästhetischen Widerstandsstrategien der 1960er Jahre, die Ausdruck einer der letzten Aktualisierungen des modernen avantgardistisch-transgressiven Gestus waren, hatten sich zu dieser Zeit entweder überlebt oder waren von der Mehrheitskultur inkorporiert worden. Ihre Schockpotentiale waren weitestgehend erschöpft und das Experimentelle als ästhetisches Programm des Widerstandes in die Krise geraten. Auf der theoretischen Ebene tobte die intellektuelle Debatte, inwieweit unter den Bedingungen der Postmoderne widerständige Kunst überhaupt noch möglich ist. Gleichzeitig gab es auf der Ebene der Realpolitik durch den Neokonservatismus der Reaganadministration Versuche, verschiedene emanzipatorische Errungenschaften zurückzudrängen, die das „Student Movement“ und die verschiedenen sozialen Bewegungen und Strömungen der Gegenkultur seit den „Sixties“ erzielt hatten. Doch gerade diese Renaissance der klassischen „Family Values“ als politisches Programm, der „War on Drugs“, Reagans paternalistisch-patriotische Rhetorik und die Ablösung des „Young Rebel“ zu Gunsten des materialistisch orientierten Yuppies als Leitbild für die Jugend führte zu einer expliziten Repolitisierung jener Formen von Kunst und Literatur, die sich als kritisch verstanden. Besonders auf dem Feld der experimentellen Kunst, deren einst radikale ästhetische Strategien in der enthierarchisierten postmodernen Zeichenvielfalt aufgegangen sind, bildete sich ein „postmodernism of resistance“ (Andreas Huyssen) heraus, der die transgressive Tradition der Avantgarde in Form und Inhalt aufgreift, dabei aber nicht nur repressive Aspekte der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch den eigenen Befreiungsanspruch kritisch reflektiert und versucht, in der Unbestimmbarkeit des Hybriden einen Raum für kreative Subversion zu finden. Die von mir ausgewählten Romane Ackers sind, wie meine Untersuchung erweisen wird, ein Beispiel eines solchen widerständigen und gerade für die 1980er Jahre typischen literarischen Postmodernismus. In der inhaltlichen Analyse der Romane werde ich zeigen, dass Ackers Protagonisten zum einen in metaphorischer Hinsicht Wanderer auf und über Grenzen sind. Sie leben verschiedenste Formen von kultureller Differenz aus, lehnen sich gegen soziale Konventionen auf, sind oftmals gewalttätig, kriminell, drogensüchtig, sexuell deviant, antisozial oder gehören gesellschaftlich marginalisierten Gruppen an. Durch ihre Handlungen transzendieren diese Figuren die ihnen von der Gesellschaft zugewiesenen Identitätsmerkmale, ohne jedoch – hier erweitert Ackers post-

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modernes Transgressionsverständnis das auf Authentizität abzielende der Moderne – dabei eine wesenhafte, stabile neue Identität zu gewinnen: sie bleiben zumeist hybride Zwischenwesen. Zum anderen sind viele Figuren Ackers auch geographische Grenzgänger innerhalb der fiktionalen Wirklichkeiten der Romane. Sie sind Flüchtlinge, Suchende, Reisende oder Umherirrende, die sich durch die Erforschung neuer geographischer Räume auch neue kulturelle Sphären erschließen und dadurch vorgeprägte Bedeutungs-, Bewusstseins- und Erfahrungshorizonte überschreiten. Die fiktionalen Welten, die sie durchstreifen, geben dabei nicht vor, Realität mimetisch wiederzugeben. Es sind liminale Zwischenwelten, die sich dadurch auszeichnen, dass die Ebenen des „Realen“ und des „Surrealen“ in einander verschwimmen. Durch die Repräsentation von sozialen Übertretungen und Tabubrüchen in solchen Schauplätzen legt Ackers Literatur auf vielen Ebenen den Konstruktionscharakter binärer kultureller Grenzziehungen zwischen „wahr“ und „falsch“, „real“ und „fantastisch“, „gut“ und „böse“ „normal“ und „anormal“, „krank“ und „gesund“ etc. offen und ermöglicht so dem Leser, die diskursiven Prozesse hinter diesen soziokulturellen Kategoriegrenzen zu durchschauen. Auch in formalästhetischer Hinsicht erkunden Ackers Bücher das „Zwischen“. Ihre Experimente mit der Abkehr von Linearität, die häufigen Perspektiv- und Identitätswechsel der Erzählstimme und unzähligen intertextuellen Bezüge haben ihre Vorbilder in den traditionellen Avantgarden. Gerade der Collagecharakter ihrer Romane ist stark von William Burroughs und seiner Cut-up-Technik geprägt, bei der verschiedene Texte – eigene wie fremde – buchstäblich ineinander geschnitten werden. Acker erweitert und radikalisiert dieses Verfahren. Bei ihr werden die unterschiedlichsten Gattungen und Textgenres auch mit fremdsprachigen (man denke an die persischen Textpassagen in Blood and Guts in High School) und aus anderen Medien (z.B. Zeichnungen) stammenden Versatzstücken vermischt. Dieses Verfahren macht Ackers Werk zu einem ästhetischen und literaturtheoretischen Grenzgang, der die gängigen Auffassungen von Autorschaft, Textcharakteristik, Authentizität und Narrativität in Frage stellt. Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Analyse wird dabei ihr offenes Bekenntnis zum Plagiat sein, das bei ihr offensiv zur narrativen Strategie in ihrem Kulturkampf erhoben wird und in seiner Plakativität über das für postmoderne Literatur übliche „Spiel mit Zitaten“ hinausgeht. Gleiches gilt für ihre Neufassungen von Klassikern wie Don Quixote oder Great Expectations, mit denen sie offensiv die Deutungshoheit des westlichen Kulturestablishments über die Literatur angreift – auch indem sie die hochkulturellen Stoffe mit Populärem vermengt. Methodisch wagt die vorliegende Studie selbst einen Grenzgang und ist zwischen Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie angesiedelt. Es geht mir bei meiner Analyse nicht ausschließlich darum, die textimmanenten und formalistischen Aspekte der Überschreitungen in Ackers Romanen zu untersuchen, sondern auch deren philosophische, kulturhistorische und gesellschaftspolitische Funktionszusammenhänge und Hintergründe zu beleuchten. Ich werde mich zwar auf ein breites Spektrum von Theorien aus den genannten Disziplinen beziehen, aber dabei nicht umhinkommen, einen Schwerpunkt auf das Denken des französischen Poststruktura-

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lismus zu legen. Ich tue das zum einen, weil dessen Theoriekomplexe der impliziten Philosophie von Acker Romanen eng verwandt sind und sie sich teilweise explizit auf diese Denksysteme (vor allem auf Foucault, Deleuze und Guattari) bezieht. Zum anderen, weil man den Poststrukturalismus als theoretischen Schatten des Postmodernismus (hier verstanden als künstlerische Praxis) bezeichnen kann, der es ermöglicht, die oftmals sperrig erscheinenden Texte dieser Strömung interpretatorisch zu fassen: Obwohl daher Pos ts trukturalismus und literarische Pos tmoderne keinesfalls identisch sind – wenn sie auch beide in durchaus vergleichbarer Weise aus den politischen Turbulenzen der sechziger Jahre hervorgingen –, wurden im Zuge der Akademisierung der pos tmodernen Literatur die Theorien Derridas, Foucaults oder Lacans (später auch die Lyotards und Baudrillards) gleichsam als paralleles Projekt vers tanden und daher auch als Schlüssel für das Vers tändnis zeitgenössischer literarischer Texte. 24

Meine Studie gliedert sich in zwei Teile. Der erste wird den philosophischen und kulturtheoretischen Referenzrahmen definieren, auf den sich die konkrete Analyse der einzelnen Aspekte des Transgressiven in den Romanen beziehen wird, die im zweiten Teil unternommen wird. Im ersten Teil werde ich mich zunächst mit den allgemeinphilosophischen Grundlagen des Konzepts der Transgression widmen, ehe ich mich mit den Funktionen des Wechselspiels von Grenzziehung und Überschreitung bei der Konstitution und Erweiterung von Identität und Subjektivität in der Gesellschaft auseinandersetze. In diesem Zusammenhang sind meiner Meinung nach grundsätzlich zwei Modelle der Transgression zu unterscheiden. Das erste Modell, das beispielsweise für die Avantgarden der Moderne kennzeichnend war, ging im wesentlichen davon aus, dass dem Menschen durch soziokulturelle Subjektivierungsprozesse eine Art von „falschem“ Bewusstsein auferlegt wird, von dem er sich durch transgressives Handeln befreien kann. Im Tabubruch, in der Regelverletzung, in der Verweigerung und der Selbstpositionierung im „Außen“ jenseits der gesellschaftlichen Grenzen glaubten die Verfechter dieses Modells, Räume für authentische alternative Identitätsmodelle und Erfahrungen zu öffnen und im „Außen“ ein Gegenmodell zu den definitorischen Machtmechanismen der Gesellschaft zu finden. Im Hinblick auf meine Analyse von Ackers Literatur erscheint es mir sinnvoll, ein zweites Übertretungsmodell einzuführen, das Transgression nicht ausschließlich als Regelverletzung durch Protagonisten versteht, die Authentizität gewinnen wollen. Ein solches Verständnis von Überschreitung kann angesichts der „postmodernen Wende“, nach der kulturelle Grenzen ihre Absolutheit immer weniger behaupten und ihren Konstruktionscharakter immer weniger verschleiern können, nicht mehr ausreichend sein, da auch die Vorstellung einer stabilen „Gegenidentität“ nicht mehr haltbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass unter das Konzept der Transgression ein historischer Schlussstrich gezogen werden kann. Da der Mensch auch in den heutigen 24 | Heinz Icks tadt: Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert. Transformation des Mimetischen, Darms tadt 1998, S. 172.

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Gesellschaften immer noch individualisierenden, subjektivierenden und normativen (und somit grenzziehenden) Prozessen ausgesetzt ist, entsteht auch immer noch das Bedürfnis dagegen Widerstand zu leisten. Da in der Postmoderne die Vorstellung von Authentizität im Außenseitertum jedoch ebenfalls als Konstrukt verstanden wird, kann diese nicht mehr als utopischer Fluchtpunkt herhalten. Die Überschreitung kann sich nicht mehr im Schritt ins „Außen“ erschöpfen. Somit leitet die postmoderne Wende auch einen Wandel des Transgressionsbegriffes ein, der weg von der Idee des „reinen Anderen“ hin zu Formen dynamischer Hybridität als mögliches Modell identitärer Selbstermächtigung geht. Das zweite Hauptkapitel des Theorieteils wird sich mit den gesellschafts- und identitätspolitischen ebenso wie mit den ästhetischen Aspekten avantgardistischer Kunst beschäftigen, die ich als transgressive Kunst verstehe. Schon die klassischen Avantgarden der Moderne haben mit ihrem Ziel, die von der bürgerlichen Ideologie gezogene Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, immer auch ein identitätspolitisches Projekt verfolgt, weil sie durch das Auf brechen etablierter Wahrnehmungsmuster auch eine Veränderung des Individuums anstrebten. Doch dieses klassische avantgardistische Projekt ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auch im Zuge der zunehmenden gesellschaftlichen Heterogenisierung – aus verschiedenen Gründen unter Druck geraten. Ich werde in diesem Abschnitt einige Aktualisierungsstrategien (hier seien vor allem die Stichworte „Pop“ und Huyssens bereits erwähnter „postmodernism of resistance“ genannt) des avantgardistischen Unternehmens diskutieren. Dabei werde ich Philip Nels methodischem Vorbild folgen und aufzeigen, wie sich das transgressive Potential avantgardistischer Kunst in der Postmoderne durch einen Blick auf ihre Tradition erschließt: „Focusing on the historical avant-garde has the following methodological and critical benefits: it provides a greater ability to distinguish between real and imaginary, and it makes possible a resistance that is contingent and multivocal.“25 Gerade diese Vielstimmigkeit verweist auf die inhaltliche und ästhetische Hybridität die für die Avantgardekunst in der Postmoderne eine der wenigen Möglichkeiten für Überschreitung bietet. Auf Basis dieses theoretischen Rahmens wird der Analyseteil zeigen, dass Acker eine Vertreterin einer postmodernen, auf Hybridität und Kreativität abzielenden Literatur der Überschreitung ist, in diesem Umfeld aber oft die „klassische“ Tradition zitiert, deren Projekt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Heterogenisierungsprozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufgreift und erweitert. Dabei dekonstruiert Acker die im Kern essentialistischen Strategien und Lösungsvorschläge dieses traditionellen Transgressionsverständnisses. Ihre Art des „postmodernism of resistance“ porträtiert den liminalen Raum des Hybriden als verbleibende Widerstandsoption. Dies soll anhand einer Untersuchung folgender Themenkomplexe in ihren Romanen nachgewiesen werden: 1. Außenseiterfiguren: Außenseiter galten lange als Inbegriff authentischer Identität jenseits der normierten Mehrheitsgesellschaft. Acker stellt in ihren Romanen die25 | Philip Nel: The Avant-Garde and American Pos tmodernity: Small Incisive Shocks, Jackson 2002, S. xvii.

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sen Automatismus in Frage. Daher werde ich in diesem Abschnitt untersuchen, wie sie prototypische Außenseiterfiguren wie Rebellen, Piraten oder Künstler im Hinblick auf ihren Authentizitätsmythos dekonstruiert und als Alternatividentitäten jenseits der Dialektik „falsch-authentisch“ umcodiert. 2. Sexualität, Körperlichkeit und Identitätspolitik: In diesem Abschnitt werde ich untersuchen, welche Rolle Körper und Körperlichkeit in den Romanen als Schauplätze transgressiver Handlungen gegen soziokulturelle Identitätszuschreibungen spielen. Für Acker ist hier die Frage der Sexualität bzw. der sexuellen Selbstbestimmung als Mittel zu „Ich-Erweiterung“ von zentraler Bedeutung. Daher werde ich auch die Funktion der expliziten Darstellung von Sexualität (um den politisch aufgeladenen Begriff „pornographisch“ zu vermeiden) in ihren Werken unter anderem vor dem Hintergrund der als „Feminist Sex Wars“ bekannt gewordenen Debatte zwischen den „anti-pornography feminists“ (Andrea Dworkin; Catharine MacKinnon etc.) und den „sex-positive feminists“ (zu denen Acker zu zählen ist) in den 1980er Jahren beleuchten. Dabei wird Ackers grundsätzliche Skepsis gegenüber traditionellen Strategien der „identity politics“ (die auf essentiellen Identitäten beruhen) deutlich. Zudem soll auch die Rolle von hybriden Körpern und Körperinszenierungen (Tätowierungen, Piercings etc.) in den Romanen im Rahmen der Frage nach der Überschreitung von diskursiv produzierten Körperidentitäten untersucht werden. 3. Ackers transgressive Ästhetik und ihre Funktion: Hier werde ich zeigen, dass Ackers postmoderne „Anti-Ästhetik“ der Versuch einer Weiterentwicklung der Ausdrucksmittel der klassischen Avantgarden ist, die ihrer Ansicht nach angesichts der Postmoderne in die Krise geraden sind. Besonderes Augenmerk werde ich dabei auf ihr offensives Bekenntnis zum Plagiat als eine Technik des Schreibens richten, die immer noch weithin gültige Auffassungen vom literarischen Text als Kunstwerk, vom Autor als Urheber des Textes, von Gattungs- und Genrekategorien etc. dekonstruiert und stattdessen hybride Formen des Schreibens versucht. In einem abschließenden Schlusswort werde ich schließlich versuchen, eine Bilanz von Ackers transgressivem Projekt ziehen und aufzeigen, welche Rolle ihr meiner Meinung nach in der amerikanischen Literaturgeschichte und im Avantgardediskurs allgemein zukommt. Ich werde dort auch deutlich machen, welche Widersprüche und welche Aktualitäten ich in der in den Romanen vertretenen Philosophie einer auf ein dynamisches Zwischen abzielenenden Überschreitung sehe.

Ers ter Teil: Theoretische Grundlagen

Versuch einer Theorie der Transgression

D IE ALLGEMEINPHILOSOPHISCHEN G RUNDLAGEN DER Ü BERSCHREITUNG Der Begriff der „Transgression“ beziehungsweise der „(Grenz)überschreitung“ ist, samt den damit verbundenen Assoziationen von „Übergang“ und „Entgrenzung“, in der theoretischen Diskussion äußerst unscharf geblieben, obwohl er zum Standardvokabular vieler Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften gehört. Gerade im Bereich der wissenschaftlichen Kunstbetrachtung ist er allgegenwärtig und wird meist als Etikett für Werke benutzt, die die vorherrschenden ästhetischen, politischen, religiösen, sozialen und moralischen Konventionen ihrer Zeit sprengen. Da auch die vorliegende Studie Romane zum Gegenstand hat, die auf vielerlei Ebenen transgressiv sind, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, der diffusen Kategorie des Transgressiven in all ihrer Vielfältigkeit – und auch im Angesicht der Wandlungen, denen das Konzept im Zuge verschiedenster kultureller Prozesse unterworfen war – Kontur und Tiefe zu geben, um sie für eine literarische Analyse fruchtbar zu machen. Ich möchte dabei ausdrücklich betonen, dass ich im folgenden Kapitel nicht den Anspruch erhebe, eine umfassende Kulturgeschichte der Transgression zu formulieren. Vielmehr geht es mir darum, die allgemeinphilosophischen Grundlagen des Begriffsfeldes von Grenzziehung, Überschreitung und Identitätskonstitution zu erarbeiten, um auf dieser Basis die in der Einleitung formulierten Fragen an Ackers Romane untersuchen zu können. Da Literatur immer an das soziokulturelle und historische Umfeld gekoppelt ist, in dem sie entsteht, ist sie zwangsläufig immer auch ein Ort, an dem Probleme und Fragen des Existenziellen, des Politischen, der Kultur, der Ästhetik, der Ethik, der Ökonomie, der Identitätspolitik, des Wissens und der Erkenntnis verhandelt werden. Dies hat sie mit der Philosophie gemeinsam. Eine wissenschaftliche Betrachtung von Kunst und Literatur kann daher nicht auf eine gute Portion Philosophie verzichten, wenn sie sich nicht im reinen Formalismus verlieren will. Es erscheint mir daher sinnvoll, sich dem Begriff der Transgression im Hinblick auf eine Analyse von Literatur von seinen philosophischen Wurzeln her zu nähern. Im Wesentlichen stellen sich bei der Behandlung dieses Themenkomplexes drei Grundfragen: Welche Rolle spielen

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Grenzen und Grenzziehungsprozesse innerhalb einer Kultur? Wie erklärt sich die Überschreitbarkeit von Grenzen? Und zu guter Letzt: Was sind die kulturellen Auswirkungen und Funktionen von Grenzüberschreitungen? Auch wenn sie selten explizit als solche bezeichnet werden, ist die Zahl der existierenden Diskurse über die Transgression Legion. Sie finden sich in den verschiedensten philosophischen Disziplinen – von der Erkenntnistheorie über die Ästhetik bis hin zur Ethik und zur Subjektphilosophie. Trotz dieser Allgegenwärtigkeit fällt auf, dass sich in den einschlägigen kulturwissenschaftlichen und philosophischen Nachschlagewerken nirgends das Stichwort „Transgression“ bzw. „Übertretung“ oder „Überschreitung“ findet, was der Tatsache geschuldet sein mag, dass mit diesen Begriffen eine Reihe von zwar grundsätzlich verwandten, gleichzeitig aber äußerst heterogenen Phänomenen beschrieben wird. Wie Julian Wolfreys in der Einleitung zu seinem Buch über das Thema schreibt, ist jeder Versuch, eine historisch lineare Geschichte der Transgression wiederzugeben, zum Scheitern verurteilt, weil sich der Begriff angesichts der zahlreichen und sich stets wandelnden Assoziationen, die er hervorruft, einer eindeutigen Definition entzieht: [T]here is no definable concept of transgression […] because the very idea of transgression is irreducible to conceptualization inasmuch as it is endlessly self-differentiating and protean, auto-heterogeneous, then there can be no real continuity, and subsequently, no real coverage of the subjec t in a really his torical way [Hervorhebungen im Original –d. Verf.].1

Dennoch haben alle Vorstellungen bezüglich der Transgression einen kleinsten gemeinsamen Nenner, den Michel Foucault treffend zugespitzt hat: „Die Überschreitung ist eine Geste, die die Grenze betrifft[.]“2 Über die Transgression zu reflektieren heißt somit immer auch, über Grenzen – im symbolischen wie im materiellen Sinn −, über Prozesse der Grenzziehung und auch über die soziokulturellen Kräfte und Diskurse, die diese Prozesse bestimmen, nachzudenken. Traditionell verortet man die Überschreitung in den Randbereichen der Gesellschaft. Als ihre Akteure sieht man die Außenseiter, die Unangepassten, die Marginalisierten, die Kriminellen, die Künstler. Aufgrund ihrer peripheren Stellung in den Grenzräumen des sozialen Gefüges wird ihnen ein besonders hellsichtiger Blick auf jenes Zentrum zugeschrieben, das die Grenzen definiert. Ihrem Handeln wird oft das Potential zugesprochen, Verborgenes sichtbar zu machen und Unbeachtetes ins Bewusstsein zu heben: Von der Untersuchung liminaler Phänomene darf man mithin besondere Erkenntnisse erwarten, enthüllt sich doch im Extremen, was in den Routinen des täglichen Lebens verborgen bleibt, wirft doch das Widerspiel von Grenze und Überschreitung ein besonders scharfes Licht auf kulturelle Prozesse. 3 1 | Wolfreys: a. a. O., S. 7. 2 | Michel Foucault: „Vorrede zur Überschreitung“, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 2003, S. 64–85, hier: S. 68. 3 | Hohns träter: a. a. O., S. 231.

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Es ist daher nur folgerichtig, dass es in den Kulturwissenschaften eine ausgeprägte Tradition gibt, das Funktionieren von Gesellschaften nicht durch die Betrachtung von Eliten oder von dominanten Diskursen zu erklären, sondern den Blick auf jene Bereiche zu richten, in denen das vorherrschende Ordnungs- und Regelgeflecht in Frage gestellt wird. Im Fokus dieser Untersuchungen stehen neben verschiedenen Konzepten von Ethnizität (z.B. in der Border Theory oder im Postkolonialismus) und der Betrachtung von devianten Lebenspraktiken und Identitätsentwürfen im Besonderen auch jene Formen von Kunstproduktion, die sich inhaltlich und formalästhetisch mit dem Ausgegrenzten beschäftigen bzw. die Grenzen des Erlaubten, des Denkbaren und des Sagbaren überschreiten. Interessanterweise ist die Grenze ein ähnlich schwer zu fassender Begriff wie die Transgression, im Gegensatz zu ihr ist er aber in verschiedenen Diskurszusammenhängen wesentlich präsenter, vielleicht, weil er in vielen Lebensbereichen eine sichtbare Rolle spielt. Als erste Assoziation wird vielen Menschen die Landesgrenze einfallen. Doch in seiner Lebenspraxis ist der Mensch in jeder Sekunde seines Handelns, Denkens und Fühlens mit Grenzen konfrontiert: Den Grenzen des Raumes und der Zeit, der Erfahrung und des Wissens, des Bewusstseins und der Vernunft, des Sag-, Denk- und Machbaren und der menschlichen Individualität. Während der Großteil der Menschen sich im Alltagsleben in der Regel nicht (zumindest nicht bewusst) mit Konzepten der Überschreitung auseinandersetzt, kann man sagen, dass es eine „Alltagssprache der Grenze“ gibt, in der der Begriff in mannigfaltigen Konnotationen und Bedeutungsassoziationen verwendet wird: Man spricht davon, „an seine Grenzen zu kommen“, „jemandem seine Grenzen aufzueigen“ oder in bestimmten schwierigen Situationen „die Grenzen der Belastbarkeit“ zu erreichen. Im politischen Diskurs gibt es vor allem in der Migrationsdebatte immer wieder die populistische Forderung, die „Grenzen dicht zu machen“, um sich gegen eine subjektiv gefühlte Bedrohung der eigenen Identität zu schützen. Wirtschaftsräume werden durch Zollgrenzen definiert, deren scheinbar abstrakter Charakter für jeden Reisenden, der sich einer Zollkontrolle unterziehen muss, sehr konkret wird. Und auch politische Räume (beispielsweise Staaten) haben Grenzen, auch wenn sie im Zeitalter der Globalisierung an Bedeutung zu verlieren scheinen. Zur Bemessung der Fahrtüchtigkeit unter Alkoholeinfluss hat man ebenso eine Grenze festgesetzt wie für den Lohnsteuerfreibetrag. Die Kulturindustrie hat, wie auch die sogenannte „hohe“ Kunst, Genregrenzen etabliert, die entweder eingehalten oder – was für die nachfolgende Diskussion natürlich wesentlich ist – überschritten werden können. Die Liste der im alltäglichen Sprechen präsenten Verwendungen des Begriffs ließe sich endlos fortsetzen, bis hin zum „guten Geschmack“, dessen Grenzen sprichwörtlich geworden sind. Aber auch in den nichtalltäglichen Diskursen der Philosophie war und ist die Grenze immer wieder Thema gewesen. Wie Norbert Wokart festgestellt hat, gibt es zwar „eine ausgebreitete Literatur zu einzelnen Aspekten aus dem Umfeld des Begriffs Grenze […], nicht aber allgemein zu diesem Begriff und seiner philosophischen

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Grundlegung selbst.“4 In seinem Aufsatz versucht er, im Bewusstsein der Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens, dann auch nicht, diese Lücke zu füllen, sondern das diskursive Chaos um die Grenze zumindest ein wenig zu ordnen. Dabei arbeitet Wokart die verschiedenen historischen Konzepte nicht einfach chronologisch ab, sondern trägt einige wesentliche Fakten zusammen, um damit das abstrakte Ideengeflecht hinter dem Begriff zu skizzieren. Dennoch kommt er nicht umhin, festzustellen, dass die Diskussion über die Greze zu den ältesten der abendländischen Philosophie zählt. Sie lässt sich bis zum Vorsokratiker Anaximander (ca. 610–547 v. Chr.) zurückverfolgen5 und wird seitdem immer wieder auf Neue erörtert. Das Begriffsfeld von Grenze und Überschreitung ist eng mit dem Konzept des binären Denkens verbunden, jener Denkstruktur, die lange die abendländische Geistesgeschichte dominiert, in Folge der Auf klärung ihren Höhepunkt erlebt und erst mit der Wende zu postmodernen Kulturmodellen ihre Hegemonie zunehmend eingebüßt hat. Chris Jenks hat festgestellt, dass sich eine Analyse der Transgression immer entlang bestimmter binärer Strukturen bewegt: „[It] will take us along a series of continua, both vertical and horizontal, such as sacred–profane; good–evil; normal–pathological; sane–mad; purity–danger; high–low, centre–periphery and so on.“6 Solche bipolaren Anordnungen können im kulturellen Raum nur entstehen, wenn klar wird, wo das „Eine“ von „Anderen“ abgegrenzt wird. Kathrin Audehm und Hans Rudolf Velten verweisen auf die Erkenntnisse Saussures, dessen Arbeit deutlich gemacht hat, dass der Binarismus die Grundstruktur von Sprache und somit von Kultur schlechthin ist: Es exis tiert keine Bedeutung ohne Differenz. Die Bedeutung eines Zeichens ergibt sich gemäß der s trukturalen Linguis tik nicht aus dem essenziellen Gehalt, sondern aus seinem Gegenteil: Wir wissen, was ,oben‘ bedeutet, weil wir es mit ,unten‘ kontras tieren können. Bedeutungen ergeben sich demzufolge aus dem Abs tand zwischen Zeichen bzw. sie hängen von der Differenz zwischen binären Gegensat zpaaren ab, Bedeutung is t also relativ.7

Dass sich das westliche Denken entlang von binären Differenzen strukturiert, ist keine neuzeitliche Entwicklung. Letztendlich ist Saussures differenzielle Beschreibung des Verhältnisses von Signifikant und Signifikat die semiotische Formulierung einer Logik, die sich bis zur Philosophie des Aristoteles zurückführen lässt. Jenks zufolge liegen die Wurzeln des Binarismus in der aristotelischen Syllogistik, deren Erkennt4 | Norbert Wokart: „Differenzierungen im Begriff ,Grenze‘. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs“, in: Richard Faber/Barbara Naumann: Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, Würzburg 1995, S. 275–289, hier:, S. 278. 5 | Vgl. ebd., S. 275ff. 6 | Jenks: a. a. O., S. 2. 7 | Kathrin Audehm/Hans Rudolf Velten: „Einleitung“, in: dies.(Hg.): Transgression, Hybridisierung, Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 2007, S. 9–40, hier S. 19.

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nislogik er an folgendem Satz verdeutlicht: „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Deshalb ist Sokrates sterblich.“ Das hinter dieser Deduktion stehende Muster wurde, so Jenks, zum prägenden Muster für die westliche Kultur: [H]is [gemeint is t Aris toteles – d. Verf.] ac tual axiom runs as follows: ,If all B is A, and all C is B, then all C is A‘ and this provides a principle to which any argument of syllogis tic form can be reduced and appraised. This moment signals the ins tillation and implicit adoption of an Either-Or logic in Wes tern culture. Here we see the generation of a life of binary thought and decisions. 8

Dieser Logik entsprechend wird die klar bestimmbare Differenz des Entweder-OderBinarismus zum zentralen Strukturmerkmal des abendländischen Denkens und Handelns. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine Uneindeutigkeiten und Zwischenräume zulässt: „On/Off, Blackness/Whiteness, Male/Female become our regular currency and what becomes omitted is a key grey area, namely the idea that ,not A‘ is possibly a ,diminished A‘ rather than a B.“9 Diese Struktur wirkt nicht nur unsichtbar im alltäglichen Leben, sondern ist zum grundlegenden Paradigma der wissenschaftlichen Reflexion über Kultur geworden: „Im ,border talk‘ der Kulturtheorie […] arbeiten Grenzen symbolisch und materiell rund um die binären Gegensatzpaare von Rein und Unrein, Gleichheit und Differenz, Innen und Außen.“10 Trotz seiner definierenden Eigenschaften wird der Begriff der Grenze im Allgemeinen mit etwas Negativem konnotiert: Sie unterbricht scheinbar etwas, markiert ein Ende, verhindert Kontakt und trennt. Wenn man an die Grenze stößt, kommt man nicht mehr weiter. Doch gleichzeitig wird an dieser Linie immer auch der Blick auf die andere Seite frei und dadurch deutlich, dass es immer auch ein Gegenüber gibt, zu dem der Zugang vielleicht versperrt erscheinen mag, das aber ohne die Grenzlinie nicht zu denken ist. Die wesentliche Wirkung einer Grenze – sei sie nun symbolischer oder materieller Natur – ist somit die Schaffung einer binären Struktur. In der Scheidung in ein „Hier“ und ein „Dort“, ein „Innen“ und ein „Außen“, ein „Diesseits“ und ein „Jenseits“ der gezogenen Linie offenbart sich der Doppelcharakter ihrer Definitionsmacht: Insofern die Grenze anderes aus einem Sachverhalt ausschließt, hat sie eine negative Funktion: Sie grenzt aus, engt ein und beschreibt somit einen Mangel der begrenzten Sache. […] Aber insofern das Ausschließen des anderen durch die Grenze ebensosehr ein Einschließen all dessen is t, was zu einer Sache gehört, hat die Grenze auch eine positive Funktion: Sie grenzt ein und kons tituiert damit allerers t einen identifizierbaren Sachverhalt.11 8 | Jenks: a. a. O., S. 10. 9 | Ebd. 10 | Susan Stanford Friedman: „Das Sprechen über Grenzen, Hybridität und Performativität. Kulturtheorie und Identität in den Zwischenräumen der Differenz“, in: Mittelweg 36, 5 (2003), S. 34–53, hier: S. 36. 11 | Wokart: a. a. O., S. 279. Wokart weis t dabei ausdrücklich darauf hin, dass die Bezeichnungen „positiv“ und „negativ“ hier eine logische, aber keine wertende Bedeutung haben (Vgl. ebd.).

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Das „Eigene“ kann es nicht geben, ohne dass man es durch einen Akt der Abgrenzung vom Bereich des „Anderen“ unterscheidet. Wie sollte beispielsweise die Identitätsbildung eines Individuums vonstattengehen, ohne dass es sich von anderen Individuen abgrenzt? Wie könnte ein Territorium (vom Kleingarten bis zur Nation) definiert werden, wenn nicht dadurch, dass man eine Linie zieht, die es von anderen Territorien trennt? Wie könnten Menschen in einer Gesellschaft zusammenleben, wenn diese nicht bestimmte, von den Gruppenregeln abweichende Verhaltensweisen ausschließen würde? Akte der Grenzziehung sind daher in allen Bereichen des kulturellen und sozialen Lebens notwendig und unumgänglich, da sich ohne sie keine Strukturen konstituieren können: „Wollte man daher einen Schachverhalt denken, der in jeder Hinsicht unbegrenzt sein sollte, käme man sofort in Schwierigkeiten, da er nicht mehr definierbar wäre; denn definieren bedeutet nichts anderes, als die Grenzen eines Schachverhalts zu bestimmen.“12 Erst die Definition durch Abgrenzung macht es möglich, materielle und symbolische Räume zu produzieren, kulturelle Aussagen zu formulieren, diese diskursiv zu verhandeln und als Wahrheiten zu etablieren. Die Grenze hat dabei nicht nur eine trennende Funktion, sondern verfügt gleichzeitig immer auch über ein verbindendes Element. Wie Wokart feststellt, „gibt es zwischen verschiedenen Dingen nicht verschiedene Grenzen, einmal die Grenze des einen und dann die Grenze des anderen, zwischen denen sich ein wieder anderes befände, vielmehr ist die eine Grenze sowohl Grenze des einen wie des anderen.“13 Somit kann sie nicht einem bestimmten Bereich zugeordnet werden, da sie einerseits die Instanz ist, die überhaupt erst die von einander abgegrenzten Teile entstehen lässt und andererseits selbst erst durch diesen Akt der Grenzziehung entsteht. Sie erschafft von einander abgegrenzte Räume, ohne dass sie einem dieser Räume zugehörig wäre. Damit hat die Grenze neben dem scheinbaren Paradox, gleichzeitig ein- und auszuschließen, auch eine zweite, nicht minder widersprüchlich erscheinende Doppelfunktion – sie trennt und verbindet gleichermaßen: Die Grenze is t der logische Ort, an dem und durch den unterschiedliche Dinge ein gemeinsames Interesse haben; denn dadurch, dass die Grenze das eine von dem anderen trennt, schließt sie es mit ihm zusammen. Eine Sache gegen eine andere abzugrenzen, bedeutet daher nicht, von dem anderen abzusehen, sondern hat die Konsequenz, das andere als notwendige Bedingung für die gemeinsame Grenze und somit als kons titutiv für die intendierte Sache anzuerkennen.14

Grenzen zu ziehen heißt somit, etwas als das „Andere“ auszuschließen, dessen Existenz man grundsätzlich anerkennt und nicht in Frage stellt, auch wenn man es aus dem Bereich des „Eigenen“ verbannen will. Nirgends wird dieser Mechanismus der wechselseitigen Definition so sichtbar, wie an dem Ort, den beide Räume dieser bi12 | Ebd., S. 280. 13 | Ebd., S. 278. 14 | Ebd., S. 279.

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nären Struktur gemeinsam haben – der Linie, entlang derer sie sich gegenseitig definieren. Die Grenze wird ebenso zum Ort der Begegnung, der Kommunikation und des Konflikts (der ja nur eine aggressive Form von Begegnung und Kommunikation ist) zwischen den beiden Seiten, wie auch zum Anlass der Reflexion über die Machtstrukturen, die für die Entstehung dieser Dualität verantwortlich sind. Bei einer solchen Definition des Eigenen ex negativo, wird implizit immer auch anerkannt, dass Grenzlinien grundsätzlich überschreitbar sind, auch wenn jene Autoritäten und Diskurssysteme, die diese Linien gezogen haben, dies zu negieren oder zu verschleiern versuchen: Wenngleich Grenzen die Idee der Undurchlässigkeit nachhaltig repräsentieren, sind sie real auch durchlässig. Grenzen trennen, während sie gleichzeitig verbinden. Sie beharren auf Reinheit, Unterscheidung, Differenz, doch sie ermöglichen Kontamination, Vermischung, Kreolisierung. Grenzen verfes tigen, demarkieren; aber sie selbs t sind imaginär, flüssig, in einem s tändigen Prozeß der Veränderung.15

Damit erweisen sich Grenzen als große Illusionsmaschinen. Sie gaukeln Stabilität und Unüberwindbarkeit vor, um zu verschleiern, wie fragil und durchlässig sie eigentlich sind. Diese Durchlässigkeit und Fragilität erklärt sich dadurch, dass Grenzen immer Produkte kultureller Prozesse sind und die ihnen zugeschriebene Absolutheit nur durch die jeweilige historische Situation und nicht durch überhistorische und überkulturelle Autorität legitimieren können. Letztendlich sind die Räume, die sie abstecken, arbiträr und daher auch veränderbar. Welche Rolle die Transgression in diesen Prozessen spielt, wird weiter unten noch eingehend erläutert werden. Aber es sei schon vorweggenommen, dass gerade im Akt der Transgression wesentliche Grundeigenschaften der Grenze offenbar werden: Ihre prinzipielle Überwindbarkeit sowie ihre Doppelfunktion der Definition des Eigenen bei gleichzeitigem Ausschluss des Anderen, dessen Existenz man aber nicht in Frage stellt. Denn die Idee der Transgression wäre absurd, wenn es kein Außen, kein Jenseits gäbe, in das man treten könnte. Zwar bestimmt die Grenze, was zum Innen gehört, da sie, wie Aristoteles feststellt, „das Äußerste eines jeden Dinges […] außerhalb dessen nichts [und] innerhalb dessen alles ist“ markiert.16 Eine solche Definition gilt aber nur von einem Standpunkt innerhalb eben jenes bestimmten Dinges aus und bedeutet nicht, dass es jenseits der äußersten Linie nicht noch andere „Dinge“ gibt, die durch die Begrenztheit der Innenperspektive vielleicht nicht sichtbar sind. Eine alles beendende Linie ist letztendlich nicht denkbar, auch wenn diese Assoziation beim Begriff „Grenze“ oft mitschwingt. Wann immer von Grenzen die Rede ist, wird meist auch von Räumen gesprochen. Sigrun Anselm hat festgestellt, dass sich in der vielfältig gebrauchten Metapher des Raumes geographisches und soziales Denken verbinden: 15 | Stanford Friedman: a. a. O., S. 37. 16 | Aris toteles: Metaphysik, Bd. 1, hg. von Hors t Seidl, Hamburg 1978, S. 229.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Die Grenze is t ein Begriff aus der räumlichen Sphäre, der gleich einer Vielzahl räumlicher Begriffe aus der sozialen Sprache nicht wegzudenken is t. Menschliche Beziehungen und soziale Strukturen werden häufig in Raummetaphern ausgedrückt. Aber nicht nur im metaphorischen, sondern auch im konkret materiellen Sinne haben der Raum und seine Grenzen Bedeutung für soziale Strukturen. Grenzen produzieren ein Innen und ein Außen, und zwar wechselweise für beide durch die Grenze getrennten Bereiche.17

Kategorien des Räumlichen sind bei der Festlegung von Grenzen historisch betrachtet immer eng mit soziokulturellen Aspekten verbunden gewesen. Von Anbeginn der menschlichen Zivilisation haben topographische Gegebenheiten wie Gebirge, Täler, Ozeane und Flüsse Herrschafts-, Kultur-, Sprach- und Wirtschaftsräume definiert und voneinander abgegrenzt. Dabei wurden diese scheinbar tatsächlichen Grenzen18 und Räume mit verschiedensten symbolischen Bedeutungen aufgeladen, so dass sie zu Identitäts- und Kulturstiftern wurden und soziales wie individuelles Handeln von Menschen entscheidend mitbestimmen konnten. Später, als durch die zivilisatorische Entwicklung diese naturgegebenen Hindernisse immer leichter zu überwinden waren, übernahmen es abstrakte Grenzdiskurse, Staaten als politische, soziale und ökonomische Einheiten zu entwerfen, die gleichzeitig ihren Bewohnern in der Idee der Nation als zentraler Bezugspunkt für den Entwurf einer kollektiven Identität dienen sollten. Benthien und Krüger-Fürhoff bilanzieren: Im geographischen, his torischen und politischen Denken trägt die Etablierung wie auch die Überschreitung von Grenzen dazu bei, nicht nur mythische und religiöse Räume, sondern auch moderne S taaten, ethnische Gruppen oder ideologische, wirtschaftliche und juris tische Sys teme ents tehen zu lassen; Grenzbildung und -überwindung scheinen grundlegende kulturkons tituierende Akte zu sein.19

Auch wenn die Metaphorik des Raumes ihre Wurzeln im geographisch-politischen Denken hat, ist sie ein verbreiteter Modus, um soziokulturelle Inhalte und Strukturen zu beschreiben. Grenzmetaphern definieren auch symbolische Räume und spielen eine zentrale Rolle bei der Konstitution und Repräsentation kultureller Codes, Wahrheitskonstrukten und Aussagen, die wiederum ihrerseits, wie ich noch ausführen werde, als Identitätsstifter dienen. Eine binär strukturierte symbolische Ordnung verdankt ihre Wirkmächtigkeit der Behauptung von Eindeutigkeit. Die Grenze muss einen klar definierbaren Unterschied schaffen, eine Differenz, die keine Grautöne zulässt, sondern klar macht, wo das „Hier“ 17 | Sigrun Anselm: „Grenzen trennen, Grenzen verbinden“, in: Faber/Naumann: a. a. O., S. 197–209, hier: S. 197. 18 | Sie sind deshalb nur scheinbar tatsächlich, weil „[s]elbs t ,natürliche‘ Grenzen wie die des Ges tades […] weniger selbs tvers tändlich [sind], als zunächs t anzunehmen wäre: Sie sind konventioneller Art, Erosionen unterworfen und noch lange nicht der absolute Anfang und das Ende dessen, was mit dem Land in Verbindung s teht.“ (Thors ten Feldbusch: Zwischen Land und Meer. Schreiben auf den Grenzen, Würzburg 2003, S. 12) 19 | Claudia Benthien und Irmela Marei Krüger-Fürhoff: „Vorwort“, in: dies.: a. a. O., S. 7–16, hier S. 7.

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und das „Dort“, das „Innen“ und das „Außen“, das „Eigene“ und das „Andere“ zu verorten ist, das als Referenzpunkt zur Bedeutungsstiftung dient. Dabei ist der Begriff der Differenz klar von dem der Differenzierung zu unterscheiden: Differenzierungen kons tituieren Bedeutungen, indem sie natürliche und kulturelle Phänomene kategorisieren und sie in ihrer Vielfalt und Variationsbreite zueinander in Beziehung set zen. Dagegen ziehen Differenzen Grenzen zwischen mittels Unterscheidung getrennten Phänomenen, ordnen sie in Gegensat zpaaren an, polarisieren und hierarchisieren sie. Differenzen erzeugen daher keine Varianten, sondern sind als wesentliche Unterschiede prägend für Identitätsbes timmungen. 20

Diese klaren Zuschreibungen in der Differenz haben es im Lauf der Geschichte der westlichen Zivilisation möglich gemacht, die unzähligen geographischen und symbolischen Räume, in denen sich das soziale Leben der Menschen abspielt, zu hierarchisieren und dadurch kulturelle, politische oder ethische Strukturen zu schaffen, die für individuelle und kollektive Identitätsstiftungsprozesse ebenso notwendig sind wie für die Organisation des Zusammenlebens. Jede Gesellschaft definiert für sich positiv besetzte Wahrheiten, Regeln, Rituale, Symbolsysteme und Aussagen, die von ihrem schlechten, unerwünschten und verbotenen Gegenteil abgegrenzt werden. Dies geschieht durch permanente Prozesse des Bewertens und der hierarchischen Anordnung entlang binärer Strukturen. Anders als in Differenzierungen, die Sachverhalte als verschiedenartig, aber nicht zwingend in Dualismen und hierarchischen Strukturen zu einander in Beziehung setzen, ist das Verhältnis von verschiedenen Sachverhalten in den binären Differenzstrukturen immer wertend. Audehm und Velten weisen mit Blick auf Derrida darauf hin, „dass nur wenige neutrale, binäre Oppositionen existieren. Vielmehr ist ein Pol in der Regel dominant, d. h. die Pole des Abstandes zwischen den Zeichen, aus denen Bedeutungen emergieren, stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander.“21 Innerhalb dieser vielgestaltigen bipolaren Struktur verbirgt sich die Grenze in unserer Kultur hinter unzähligen und verschiedenartigsten Namen: Gebot, Gesetz, Regel, Tabu, Konvention, Norm, Sitte, Gewohnheit, Verbot, Wahrheit, Unmöglichkeit oder auch Zaun, Mauer, Grenzbefestigung oder Demarkationslinie. Korrespondierend dazu ist die Vielfalt der Bezeichnungen, mit denen man versucht hat, die Übertretung zu beschreiben, kaum zu überblicken: Sünde, Verbrechen, Tabubruch, Exzess, Skandal, Entartung, Krankheit, Wahnsinn, Perversion, Auf lehnung, Revolte, Entkommen, Flucht oder Befreiung. Die Grenze fungiert stets als die Instanz, die die Scheidung zweier Räume in ein binäres Raster festlegt: Das Gebot scheidet das Rechte vom Sündigen, das Gesetz das Legale vom Illegalen, die Norm das Normale vom Unnormalen und Kranken, die politische Grenze ein nationales Hoheitsgebiet vom anderen etc. und legt dabei ein klares, möglichst eindeutiges bipolares Orientierungsmuster fest. 20 | Audehm/Velten: a. a. O., S. 17. 21 | Ebd.: S. 22.

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In binären Denksystemen gibt es immer die Tendenz, etwaige Grauzonen möglichst aus den Diskursen zu verbannen. In dieser Hinsicht lässt sich die Modernisierung als Prozess der fortschreitenden diskursiven Etablierung von Binarismen in allen Bereichen des Lebens beschreiben. Als die Ratio seit der frühen Neuzeit immer mehr zum Ausgangspunkt philosophischer, kultureller und intellektueller Debatten wurde und schließlich im Zuge der Auf klärung ihren Durchbruch als Maßstab für menschliches Denken und Handeln erlebte, wurden Sachverhalte und Bereiche, die vorher als existierende Phänomene toleriert wurden, zunehmend in einem Raster sich wertender Dichotomien hierarchisiert. Die Folge: Ausschluß, Kriminalisierung und Pathologisierung des „Anderen“. Exemplarisch für diese Entwicklung steht die von Foucault ausgiebig analysierte Kategorie des Wahnsinns, unter der verschiedene, aus dem Bereich des „Vernünftigen“ ausgegrenzte Denk- und Verhaltensmuster subsumiert und kontrolliert werden sollten. Alle Lebensbereiche der abendländischen Kulturen wurden zunehmend entlang von Differenzen strukturiert, innerhalb derer durch den hegemonialen gesellschaftlichen Diskurs ganz klar festgelegt wurde, was erlaubt war und was nicht. Diese Entwicklung ist charakteristisch für den Verlauf der Moderne im Zuge der Auf klärung, deren Rationalitätsideal bestrebt ist, „die Grenze zur Linie zu verdichten, deren Breite unendlich minimiert gedacht werden muss. Übergänge und indifferente Zonen haben scharfen Bestimmungen zu weichen.“22 Natürlich gab es harte Abgrenzungen im Laufe der Geschichte schon immer. Aber erst im Zeitalter der Moderne machte man sich im Glauben an die Unbestechlichkeit der Vernunft und der empirisch-objektiven Wahrheit daran, die Grauzonen in wirklich allen kulturellen Räumen und Lebensbereichen auszurotten und den Mythos der absoluten Sicherheit bezüglich der Definierbarkeit und Strukturierbarkeit der Welt zu etablieren. Die Naturwissenschaften schickten sich an, die Welt bis ins Kleinste zu enträtseln, sie klar zu vermessen, einzuteilen und Phänomene mit eindeutigen Zuschreibungen zu versehen. Gesellschaftspolitisch entstand mit der Entwicklung des Bürgertums in Folge der Auf klärung das Konzept des privaten Raumes in Abgrenzung zum öffentlichen, wobei jeder dieser Räume seine eigenen Machtstrukturen und Wahrheiten (die nicht immer zwingend miteinander im Konflikt stehen mussten) entwickelte. Kategorien wie Familie, Volk und Nation entstanden im Rahmen ideologischer Diskurse immer auch als Produkte multipler, performativer Abgrenzungsprozesse, die stets auch ihre Effekte auf den einzelnen Menschen hatten. Denn Akte der Grenzziehung dienen niemals nur der Abgrenzung sozialer Kollektive nach außen, sondern entfalten auch vielfältige Wirkungen nach innen. Sie greifen tief in den Gesellschaftskörper hinein, bis in seine kleinste Zelle, das einzelne Individuum. Dort definierten sie ethisch-moralische, ökonomische und politische Richtlinien und Spielräume für das Handeln des Einzelnen und stecken kognitive Rahmen ab, die den Erfahrungs- und Wissenshorizonten des Menschen und der von ihm geschaffenen Institutionen organisieren. 22 | Markus Bauer/Thomas Rahn: „Vorwort“, in: dies. (Hg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997, S. 7–9, hier S. 7.

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D IE K ONS TITUTION DER G RENZEN DES S ELBS T – I DENTITÄT ALS K ONS TRUKT Das Problem der Identität wird eine zentrale Rolle für die vorliegende Untersuchung spielen, da die Frage nach Grenzziehungen und Transgressionen in Kathy Ackers Romanen vor allem als Frage nach der Konstruktion und Dekonstruktion individueller Subjektidentitäten behandelt wird. Das Problem der Identitätsbildung schneidet ein breites Feld an philosophischen Modellen und Positionen an, die hier weder in ihrer Gesamtheit wiedergegeben werden können, noch müssen. Im Folgenden geht es nicht um die (ohnehin unmögliche) Darstellung des letzten oder gar endgültigen Standes der Diskussion über Identität, sondern vielmehr darum, den theoretischen Horizont zu vermessen, in dem Ackers Romane entstanden und in dem sie am gewinnbringendsten zu interpretieren sind. Um allen Aspekten dieses Themenkomplexes in den von mir untersuchten Texten gerecht zu werden, möchte ich den Begriff der Identität dabei dennoch sehr weit fassen und damit nicht nur das Selbstverständnis des Einzelnen im Verhältnis zu sich selbst und zur Gesellschaft bezeichnen, sondern auch alle Wissens-, Erfahrungs-, Verhaltens- und Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm von dieser Gesellschaft vorgeschrieben bzw. zugestanden werden. Die Gesamtheit dieser Aspekte definieren die „Grenzen des Selbst“ und damit den einzelnen Menschen als individuelles Subjekt. Jede Überschreitung dieser Grenzen ermöglicht damit zumindest potentiell eine Neudefinition eines bereits bestehenden Verständnisses von Identität und subjektiver Erfahrung. Diese öffnende Funktion der Transgression – und damit auch ihre gesellschaftliche Relevanz – wird evident, wenn man sich vor Augen führt, wie Identität und Subjektivität seit Beginn der Auf klärung konstruiert werden. Dies ist in zahlreichen Theoriepositionen beschrieben worden, die an dieser Stelle nicht alle präsentiert werden können. Letztlich erscheint mir dies aber auch nicht nötig, da es für das vorliegende Projekt ausreichend ist, jene postmodernen bzw. poststrukturalistischen Ansätze nachzuvollziehen, die entweder direkten Einfluss auf Ackers Literatur hatten oder ihrem Projekt eng verwandt sind. Es sind gerade diese Theorien, die dargelegt haben, dass Identitäten als Produkte der hegemonialen Diskurse der Kultur und damit als normative Machteffekte zu verstehen sind, die im Menschen ein Subjektbewusstsein im Rahmen der binären Wert- und Wahrheitskoordinaten der Auf klärung herrschenden bürgerlichen Ideologie23 konstruieren, die zahlreiche Anknüpfungspunkte für verschiedenste Mechanismen der sozialen Kontrolle bieten. Ehe ich im Folgenden auf die konkrete Funktion der Grenzziehung bei der Etablierung von Identitätskonstrukten eingehen werde, möchte ich einen kurzen 23 | Soweit ich nicht explizit auf bes timmte Ideologien verweise, verwende ich den in der Geis tesgeschichte oft genug selbs t politisch-ideologisch vereinnahmten Begriff der „Ideologie“ im Sinne von Winfried Nöths wertneutraler Definition: „In a value-neutral sense, ideology is any sys tem of norms, values, beliefs or weltanschauungen [Hervorhebung im Original - d. Verf.] direc ting the social and political attitudes and ac tions of a group, a social class, or a society as a whole.“ (Winfried Nöth: Handbook of Semiotics, Bloomington und Indianapolis 1990, S. 377).

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Exkurs über den performativen Charakter dieser Vorgänge unternehmen. Die vorliegende Arbeit geht von der Prämisse aus, dass Grenzziehungsakte ganz allgemein, aber auch im Besonderen mit Blick auf Identitätsstiftungsprozesse, performative Akte sind. Der ursprünglich aus der Sprachphilosophie stammende Begriff des Performativen hat mittlerweile auch außerhalb dieser Disziplin Karriere gemacht und wird in der gegenwärtigen Kulturtheorie zur Beschreibung bestimmter Phänomene verwendet, um zu unters treichen, dass diesen keine ontologische (oder biologische etc.) Vorgängigkeit zukommt, sondern dass sie durch kulturelle Prozesse hervorgebracht sind. Dieser Kons titutionsgedanke zielt bevorzugt auf solche Phänomene, die traditionell als ,natürlich‘, dem Wesen ,des‘ Menschen, einzelner Gruppen oder Individuen zugehörig betrachtet wurden – wie eben geschlechtliche, sexuelle und ethnische Identitäten −, oder als ,innerlich‘, wie etwa der religiöse Glaube oder andere mentale Eins tellungen. 24

Als prominente Vertreter dieser Denkrichtung führen Krämer und Stahlhut in dem oben zitierten Artikel neben Michel Foucault und Judith Butler auch Pierre Bourdieu und Slavoj Žižek an, deren Gebrauch des „performativen Vokabulars“ sich, trotz der Verschiedenheit ihrer theoretischen Ansätze, zur gemeinsamen Formel „konstituiert und nicht gegeben“ zusammenfassen lässt.25 In diesem Kontext sind Akte der Grenzziehung als Bestandteil permanenter, oftmals alltäglicher Aufführungen von kulturellen Aussagen zu verstehen, die sich im Kontext der kulturellen Koordinaten ihrer jeweiligen Zeit Bedeutungsräume „erspielen“, dabei die Fiktion von Wahrhaftigkeit erzeugen und somit im kulturellen Raum den Status des Natürlichen und Unverrückbaren bekommen. Um diese Fiktion wirksam werden zu lassen, muss der Aufführungscharakter verborgen bleiben: „[T]his act is not primarily theatrical, indeed; its apparent theatricality is produced to the extent that its historicity remains dissimulated (and, converesly, its theatricality gains a certain inevitability given the impossibility of a full disclosure of its historicity).“26 Der Begriff des „Aktes“, der in der wissenschaftlichen Terminologie oftmals im Zusammenhang mit Performativität verwendet wird, ist irreführend, da er eine einmalige Handlung suggeriert, durch die etwas Faktisches etabliert wird. Butler hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Vorstellung trügerisch ist, da das, was als einmalige performative Setzung erscheint, vielmehr eine Momentaufnahme innerhalb eines sich permanent wiederholenden diskursiven Prozesses ist: „Performativity is […] not a singular ,act,‘ for it is always a reiteration of a norm or set of norms, and to the extent that it acquires an act-like status in the present, in conceals or dissimulates the conventions of which it is a repetition.“27 Ich möchte im Folgen24 | Sybille Krämer/Marco Stahlhut: „Das ,Performative‘ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie“, in: Erika Fischer-Lichte/Chris toph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen, Berlin 2001, S. 35–64, hier S. 45f. 25 | Vgl. ebd. 26 | Judith Butler: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ,Sex‘, New York und London 1993, S. 12f. 27 | Ebd., S. 12.

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den trotzdem von Grenzziehungsakten sprechen, da gerade durch die Verschleierung des eigenen Entstehungsprozess hinter der Fassade einer einmaligen Handlung jene Fiktion von Wahrheit und Gültigkeit entsteht, die Grenzen brauchen, um im kulturellen Raum operativ zu werden. Es ist offensichtlich, dass Abgrenzungsakte sowohl auf der kollektiven wie auf der individuellen Ebene eine herausragende Rolle bei der Subjektivierung des einzelnen Individuums spielen, da sich der Mensch seiner selbst, wie Wokart schreibt, als Individuum wie als Mitglied einer Gruppe, nicht anders versichern kann als im Rückgriff auf die anderen, was freilich viele nicht an dem Versuch hindert, ihre Identität ohne Hinblick auf die anderen zu gewinnen, als wäre eine begrenzte Bes timmung alleine durch sich selbs t vers tändlich.“ 28

Dabei gibt es eine permanente Wechselwirkung zwischen den „sozialen Grenzen“, die verschiedenartigste Kollektive von Menschen produzieren und zu einander in Beziehung setzen, und den „Ich-Grenzen“ die dem Einzelnen, auch unter Einbeziehung seiner Zugehörigkeit zu verschiedensten sozialen Gruppen und in Abgrenzung von anderen Individuen ein Bewusstsein von sich selbst geben. 29 Die Konstitution sozialer Gruppen durch Grenzziehung funktioniert zunächst einmal sehr einfach: Eine bestimme Anzahl von Menschen wird durch eine Gemeinsamkeit definiert oder definiert sich selbst durch eine Gemeinsamkeit. So entsteht aus einer Ansammlung von Einzelwesen eine Gemeinschaft, die sich von anderen Menschen und Kollektiven abgrenzt bzw. abgegrenzt wird, die das verbindende Element dieser Gemeinschaft nicht teilen. Natürlich entstehen soziale Gruppen nicht ausschließlich durch Abgrenzung. Gruppenbildungsprozesse sind hochkomplexe Vorgänge, die von zahlreichen kulturellen, politischen, historischen, materiellen, ökonomischen, zivilisatorischen, ideologie- und ideengeschichtlichen Faktoren bestimmt werden. Das Setzen von sozialen Grenzen ist bei diesen Prozessen nur ein – allerdings notwendiger und unumgänglicher – Vorgang von vielen. Diese Grenzen erfüllen ihre typische Doppelfunktion. Einerseits schließen sie das „Andere“, also das nicht zur Gemeinschaft gehörige aus, andererseits werden die einzelnen Mitglieder in der Gruppe ein- und auch zusammengeschlossen. So entsteht eine binäre Grundstruktur, die die Welt in ein „Innen“ und ein „Außen“, in ein „Wir“ und „die Anderen“ einteilt. Die Kriterien dafür können höchst unterschiedlich sein. Geographische Gegebenheiten können ebenso Ursache für die Entstehung sozialer Gefüge sein, wie sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten oder eine bestimmte politische Ordnung. Auch übereinstimmende Interessen, politische oder religiöse Überzeugungen, Geschlechteridentitäten, kollektive Erfahrungen oder Traumata können soziale Grenzen ziehen. Diese Art der Grenzziehungsprozesse hat eine Reihe von sinnstiftenden Effekten für die Mitglieder von Gemeinschaften. Die Konstitution kollektiver Identität, 28 | Wokart: a. a. O., S. 279. 29 | Vgl. hierzu: Anselm: a. a. O., S. 199.

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ermöglicht es dem Einzelnen, sich einem größeren Ganzen zugehörig zu fühlen und sich mit einer übergeordneten Bedeutungsstruktur identifizieren zu können. Soziale und Ich-Grenzen stehen daher auch in einem reziproken Verhältnis zueinander, weil ein Teil der individuellen Identitätskonstruktion immer auch durch die kollektive Identität stattfindet. Jeder Mensch ist in ein Netz aus sozialen Gefügen eingebunden, in dem ihm permanent Gruppenidentitäten zugewiesen werden: Er wird immer als Teil eines Volkes, einer Nation, einer Familie, eines Geschlechts, einer Klasse, einer Berufsgruppe etc. wahrgenommen und auch dadurch definiert. Im Lauf der Moderne, in der durch die immer größere Mobilität einer immer größer werdenden Anzahl von Menschen topographische Gegebenheiten für die Etablierung von Kollektividentitäten zunehmend an Bedeutung verloren haben, wurden symbolische Grenzziehungen und die durch sie abgesteckten Räume für die Entstehung kollektiver Identitäten immer wichtiger: So scheinen wir in der räumlichen Grenzenlosigkeit zu leben, aber nur wir, denn unsere eigenen sozialen Grenzen verräumlichen wir, indem wir den von außen Kommenden unser Terrain s treitig machen. Auch diese Grenzen, die uns selbs t räumlich nicht begrenzen, werden ,seelisch wirksam‘, weil sie die Phantasie von Gefahr, Selbs tschut z und Verteidigung produzieren.30

Diese seelisch wirksamen sozialen Grenzen konstituieren „imagined communities“ (Benedict Anderson), grenzen sie zu anderen Gemeinschaften ab, fixieren sie in einer binären Wir/die Anderen-Differenz und entfalten dabei gleichzeitig ihre strukturierende, ordnende und Bedeutung stiftende Macht nach innen. Denn die „seelische Wirksamkeit“ sozialer Grenzen entsteht auch dadurch, dass sie dem Individuum seinen Platz innerhalb einer Gruppe zuweisen und so wesentlich zu seiner Subjektivierung beitragen. Damit soziale Grenzen aber wirklich einen sinnstiftenden Effekt haben können, ist es wichtig, „dass die Gruppe ein Tertium findet, das die Einzelnen verbindet und dadurch eine Grenze entsteht, die den sozialen Raum umschließt.“31 Wenn es unter den Mitgliedern von Gemeinschaften nicht auch gemeinsame Inhalte gibt, so gibt es laut Anselm die Gefahr, dass mit dem drohenden Schwund innerer Gemeinsamkeiten die Grenzen sich verselbs tändigen, bzw. die Grenzziehungen zum eigentlichen Modus werden, der die Gruppe aufrechterhält. Gerade heute is t die Frage brisant, inwieweit Grenzziehungen zum Modus der Gruppenbildung selber und daher die Aktionen der Grenzziehung zum alleinigen Aktionsfeld der Gruppe werden. Hier findet eine Umfunktionierung der Grenze s tatt. Sie dient nicht mehr dem Schut z und der Strukturbildung einer sozialen Gruppe, sondern hier soll via Grenzziehung überhaupt ers t eine Gruppe ents tehen, die im Extremfall aber nur in den Aktionen der Grenzziehung als solche eine Gemeinsamkeit bekommt.32 30 | Ebd., S. 197. 31 | Ebd., S. 199. 32 | Ebd.

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Tritt dieser Fall ein, ist die Stabilität der Gruppe extrem gefährdet, da sich die Individuen nicht mehr mit dem Kollektiv identifizieren können. Aber auch wenn dieses Stadium in einer Gemeinschaft nicht erreicht ist, gibt es immer die Möglichkeit, dass Individuen sich nicht zugehörig fühlen. Fehlt die Klammer des Gemeinsamen, werden die dem Einzelnen durch die soziale Gruppe zugeschriebenen Identitätsmerkmale als den eigenen Bedürfnissen nicht entsprechend, ihre Regeln als beschränkend, ihre Wahrheiten fragwürdig und ihre Grenzen als negativ und belastend empfunden. Aus diesen Widersprüchen entsteht innerhalb der Gruppe das Potential von Konflikten zwischen einzelnen Individuen oder Teilgruppen und der Gemeinschaft, die sich in verschiedenen Formen entladen können – auch in Aktionen, die man als transgressiv bezeichnen kann. Für das menschliche Selbstverständnis sind die Grenzen des eigenen Ichs jedoch weitaus bedeutender als die Grenzen sozialer Gefüge, da nur sie wirklich unmittelbar erfahren werden. Ich-Grenzen sind jene Grenzen, die dem einzelnen Individuum ein Bewusstsein von sich selbst in seinem kulturellen Umfeld geben, das Innere des „Ich“ vom Außen der Gesellschaft abgrenzen und damit konstituierend für die individuelle Identität sind. Die Wirkungen, die Ich-Grenzen im Menschen entfalten, müssen dem Bereich der Subjektivierung zugeschrieben werden. Subjektivität und individuelle Identität sind spätestens seit dem von den poststrukturalistischen Theorieansätzen postulierten „Tod des Subjekts“ nicht als essentiell absolute Kategorien zu verstehen, sondern als Konstrukte verschiedenster soziokultureller Diskurse, ideologisch produzierter „Wahrheiten“, historischer Situationen und gesellschaftlicher Institutionen, die nur die Fiktion einer solchen Wesenhaftigkeit erzeugen.33 Bei Subjektivierungsprozessen wirken verschiedene Faktoren zusammen. So spielt eine Vielzahl von kontingenten Determinanten eine Rolle. Meist handelt es sich dabei um durch soziale Grenzen definierte Räume, wie zum Beispiel National-, Rassen-, Klassen- oder Geschlechtszugehörigkeiten, mit denen je nach Gesellschaftsordnung und historischer Situation bestimmte Wahrheiten, Wissenshorizonte, Ausdrucks- und Partizipationsmöglichkeiten und Verhaltensregeln verbunden sind. Auf diese Strukturen hat der Mensch zunächst keinen Einfluss. Er wird in sie hineingeboren, von ihnen mit kollektiven Identitätszuschreibungen versehen und durch ihre Machteffekte auch in seinen individuellen Grenzen als Subjekt konstituiert. Stuart Hall, einer der wichtigsten Vertreter der bri33 | Vor dem Hintergrund dieser Theorien is t auch die klassische Unterscheidung zwischen Individuum und Subjekt obsolet, die Neuenhaus-Luciano wie folgt zusammenfass t: „Das Subjekt des modernen Humanismus hebt sich von Individuum ab durch seine Selbs treflexivität (als Transparenz sich selbs t gegenüber) und seine Fähigkeit zur Selbs tbegründung oder Autonomie, also dazu, sich selbs t das Geset z seines Handelns zu geben.“ (Petra Neuenhaus-Luciano: Individualisierung und Transgression. Die Spur Batailles im Werk Foucaults, Pfaffenweiler 1999, S. 9f.) Die dem Subjekt zugeschriebene Fähigkeit zum autonomen Handeln aus sich selbs t heraus und der Welt gegenüber wird von den subjektkritischen Denkansät zen als Mythos vers tanden, der als Effekt soziokultureller Subjektivierungsprozesse im einzelnen Individuum verankert wird.

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tischen Schule der Cultural Studies, hat deutlich gemacht, dass diese kollektiven Parameter in der Moderne lange Zeit ein Orientierungsmuster kreierten und garantierten, das eine stabile Basis für individuelles Identitätsempfinden bot: As one knew one’s class, one knew one’s place in the social universe. As one knew one’s race, one knew one’s racial position within the great races of the world in their hierarchical relationship to one another. As one knew one’s gender, one was able to locate oneself in huge social divisions between men and women. As one knew one’s national identity, one certainly knew about the pecking order of the universe. These collec tive identities s tabilized and s taged our sense of ourselves.34

So schrieben soziale Differenzkategorien kräftig an den Ich-Grenzen mit, ehe die großen Kollektive im Zuge der zunehmenden Heterogenisierung der westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr an identitätsstiftender Bedeutung verloren und die Funktion der sozialen Grenzziehung an immer kleinteiligere Gruppen, Milieus und Submilieus abgeben mussten. Ohnehin waren die Grenzen des „Ich“ immer prägender als die Grenzen des „Wir“, da „die Menschheit zuallererst aus Individuen und nicht aus sozialen Gebilden wie Nationen, Klassen, Ethnien etc. besteht, und […] die erste und fundamentale Einheit aller sozialen Gebilde das Individuum ist.“35 Manfred Frank hat darauf hingewiesen, dass die Konstitution des „Ich“ immer durch eine doppelte Abgrenzung erfolgt. Einmal gegenüber allem, „was nicht den Charakter eines Ich hat“ und was somit die Subjektivität „vom Gesamt des gegenständlich Existierenden“ unterscheidet.36 Diese Ebene definiert das Verhältnis zwischen dem Subjekt und der Welt. Die zweite Ebene der Abgrenzung definiert das „Ich“ im Verhältnis zu anderen „Ichs“, also zu „anderen Wesen, deren Seinsweise ebenfalls die Subjektivität ist“ und die somit das „Ich“ als „Individuum oder Person“ konstituiert.37 Die auf klärerische Subjektphilosophie der Moderne verortet die Basis dieses doppelten Abgrenzungsprozesses im cartesianischen Cogito, das sich aufgrund seiner Vernunftbegabung mittels der Erkenntnis diese Beziehungen zwischen dem „Ich“ und der Welt erschließt. In der postmodernen Kulturtheorie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend die Ansicht durchgesetzt, dass das menschliche Subjekt der modernen Welt nicht mehr ausschließlich durch die Denkfigur des autonomen Subjekts des cartesianischen Cogito beschrieben werden kann. Die Erkenntnisstrukturen der Ratio, denen in der auf klärerischen Philosophie noch der Status eines objektiven Maßstabs zuge34 | Stuart Hall: „Ethnicity: Identity and Difference“, in: Radical America 23 (1990), S. 9–20, hier: S. 12. Der Verlus t der S tabilität dieser Kollektive is t nach der „pos tmodernen Wende“ nicht mehr in dem Maße gegeben, was ihre Bedeutung für die Identitätskons titution zunehmend geringer macht. 35 | Neuenhaus-Luciano: a. a. O., S. 12. 36 | Manfred Frank: „Subjekt, Person, Individuum”, in: Manfred Frank/Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität, München 1988, S. 3–20, hier: S. 11. 37 | Ebd.

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billigt wird, werden nun als Verinnerlichung einer diskursiv vorproduzierten „Matrix des Erkennens“ verstanden. Dieser kognitive Rahmen wird, wie alle Bestandteile von Individualität, durch soziokulturelle Prozesse abgesteckt, die in ihrer Summe die Spielräume von Identität, Wissen, Erfahrung und (Selbst-)Bewusstsein des einzelnen Menschen entlang binärer Parameter definieren und in Konsequenz daraus die Optionen und Bedingungen seines Verhaltens vorgeben. Gerade weil es zum Wesen binärer Bedeutungsstiftung gehört, dass jedes Wesensmerkmal von Subjektivität sein dialektisches Anderes jenseits der Grenze hat, besteht die Möglichkeit der Überschreitung. Hierzu Judith Butler: [I]t is not enough to claim that human subjec ts are cons truc ted, for the cons truc tion of the human is a differential operation that produces the more or less ,human‘, the inhuman, the humanly unthinkable. These excluded sites come to bound the ,human‘ as its cons titutive outside, and to haunt those boundaries as the persis tent possibility of their disruption and rearticualtion. 38

Subjektgrenzen haben, wie viele andere Grenzen auch, performativen Charakter im Sinne der oben gegebenen Definition und ihre diskursive Produktion ist entsprechend zu beschreiben. Aus Perspektive der postmodernen Subjektphilosophie werden die Grenzen des „Ich“ nicht aus dem autonomen Vernunftsubjekt selbst heraus definiert, sondern von einer Instanz außerhalb seiner selbst: der Kultur. In der Diskussion besteht trotz der teilweise massiven Unterschiede der einzelnen Positionen ein Konsens, wonach Subjektivität und damit auch Identität interessengeleitete Zuschreibungen von Seiten der Gesellschaft sind, die nicht mit den Interessen des Einzelnen übereinstimmen müssen. Somit ist all diesen Theorien ein interpellatives Element gemeinsam. Das Modell der Identitätszuschreibung durch Anrufung bzw. Interpellation geht auf Louis Althusser zurück und besagt, dass die herrschende Ideologie in einer Gesellschaft durch einen Vorgang der Anrufung „aus der Masse der Individuen Subjekte ,rekrutiert‘ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ,transformiert‘ (sie transformiert sie alle).“39 Das Individuum, das den Ruf annimmt und damit die Identitätszuweisung anerkennt, wird so zum Subjekt.40 Verallgemeinert heißt das, dass keines der zahlreichen Identitätsmerkmale einer Person ontologische Absolutheit besitzt. Vielmehr handelt es sich hier um Etiketten, die ein bestimmtes Bewußtsein des Einzelnen von sich selbst und von seiner Stellung in der Gesellschaft überhaupt erst evozieren. In der Regel stammen diese „zugerufenen“ Parameter aus dem Fun38 | Butler: Bodies That Matter, a. a. O., S. 8. 39 | Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg und Wes tberlin 1977, S. 142. 40 | Dabei is t zu beachten, dass der Begriff „Subjekt“ eine Doppelbedeutung hat: „Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen is t und in seiner Abhängigkeit s teht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewuss tsein und Selbs terkenntnis an seine eigene Identität gebunden is t.“ (Michel Foucault: „Subjekt und Macht“, in: ders.: Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005, S. 240– 263, hier: S. 245.)

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dus an Binarismen der aristotelischen Entweder-Oder-Logik. Das Individuum wird als Frau (und eben nicht als Mann), als „schwarz“ (und eben nicht als „weiß“), als zur Nation „x“ gehörig (und eben nicht zur Nation „y“) etc. angerufen. Da der einzelne Mensch immer in eine seiner eigenen materiellen Existenz vorgängige ideologische Struktur hineingeboren wird, ist es nach Althusser unmöglich, das Angerufenwerden zu vermeiden – er ist ein „immer-schon Subjekt.“41 In diesem Modell können die ideologisch gezogenen Grenzen des Selbst für die Individuen deshalb an Wahrhaftigkeit gewinnen, weil die Ideologie ihre eigene diskursive Konstruiertheit durch die Allgegenwärtigkeit ihrer Aussagen in der Gesellschaft verschleiert. Es kommt zu einer „praktischen Verneinung [Hervorhebung im Original – d. Verf.] des ideologischen Charakters der Ideologie durch die Ideologie.“42 Althussers Modell der Subjektkonstitution durch Anrufung ist trotz aller berechtigten Kritik (etwa an seiner Fixiertheit auf staatliche Institutionen als Träger der Macht oder daran, dass er als Marxist trotz seiner ambivalenten Haltung zum Parteikommunismus selbst nicht außerhalb der Ideologie steht) deshalb noch immer von so großer Bedeutung für die Kulturtheorie, weil es ein brauchbares Erklärungsmuster für die performative Produktion von Subjekten liefert. Judith Butler bemerkt hierzu: „The call is formative, if not performative [Hervorhebung im Original – d. Verf.], precisely because it initiates the individual into the subjected status of the subject.“43Der performative Charakter der Interpellation ergibt sich aus der in der Sprechakttheorie wurzelnden Annahme, dass bestimmte Äußerungen „in dem Moment, in dem sie ausgesprochen werden, zur Tat werden“44 und etwas scheinbar Faktisches – in diesem Fall das Subjekt – ins Leben rufen. Anders als in humanistisch basierten Modellen der modernen Gesellschaftsanalyse, bei denen ein im Prinzip autonomes Individuum durch eine repressiv wirkende Macht zum Subjekt unterworfen wird, zeigt Althussers Interpellationsmodell, wie Individuen als Subjekte produziert werden, und dabei ihrer Unterdrückung nicht gewahr werden, weil ihnen von Anfang an durch ideologische Symbol- und Zeichensysteme die Grenzen ihres Selbst aufgezeigt werden. Butler weist jedoch auf eine entscheidende Schwäche in Althussers Argumentation hin. Dieser lässt nämlich die Möglichkeit einer Weigerung des angerufenen Subjekts, seinen Status als Subjekt anzunehmen, ebenso weitgehend außer Acht wie die Vielfalt der Möglichkeiten, durch die die Anrufung unterlaufen werden kann: Although he refers to the possibility of ,bad subjec ts,‘ he does not consider the range of disobedience [Hervorhebung im Original – d. Verf.] that such an interpellating law might produce. The law might not only be refused, but it might also be ruptured, forced into a rearticulation that calls into ques tion the monotheis tic force of its own unilateral operation. 45 41 | 42 | 43 | 44 | 45 |

Vgl. hierzu: Althusser: a. a. O., S. 144. Ebd., S. 143. Butler: Bodies That Matter, a. a. O., S. 121. Stanford Friedman: a. a. O., S. 40. Butler: Bodies That Matter, a. a. O., S. 122.

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Für Althusser sind diese „schlechten“ Subjekte absolute Ausnahmeerscheinungen, quasi Betriebsunfälle der Subjektproduktion, derer sich die repressiven Ordnungsmechanismen des gesellschaftlichen Apparates annehmen, während die überwältigende Mehrheit ob der Wirkungsmacht der ideologisch produzierten Wahrheiten „ganz von alleine“ funktioniert.46 Auf die bedeutsame Frage nach möglichen Motivationen für den Ungehorsam gegenüber der Anrufung geht er überhaupt nicht ein, obwohl unbestreitbar ist, dass er existiert und viele Gesichter hat. Butlers Einwand macht deutlich, dass es eben nicht nur die Widerstandsoption der „disobedience“ im Sinne des Nichtannehmens der Anrufung gibt, sondern auch eine „range of disobedience“, die eine Vielzahl an Formen von widerständigem Verhalten möglich macht. Althussers Interpellationsmodell erklärt zwar, dass Subjektidentitäten dem Individuum immer von Diskursformationen außerhalb seiner selbst zugeschrieben werden, er lässt dabei jedoch weitgehend offen, warum die Individuen diesen Subjektstatus (scheinbar) freiwillig annehmen und sich von ihm ihre Grenzen definieren lassen. Hier können die Überlegungen Foucaults und Butlers weiterhelfen, die in nicht unerheblichem Maße von Althussers Konzept beeinflusst wurden. Beide übernehmen die Grundannahme des Interpellationsmodells, wonach die Subjektivität dem Individuum ideologisch im Rahmen performativer kultureller Prozesse zugeschrieben wird.47 Foucault und in seiner Folge Butler gehen in ihrer Analyse der Subjektbildung in der Moderne aber einen Schritt weiter und versuchen zu erklären, wie die Subjektivitätsmerkmale dem Einzelnen nicht nur interpellativ zu-, sondern im Rahmen von Subjektivierungsprozessen eingeschrieben werden. Sie verabschieden sich dabei von der in Althussers Theorie noch mitschwingenden Vorstellung eines autoritären Sprechers (etwa der Ideologie als Institution), der die Anrufung ausführt, zu Gunsten einer diskursiven Vorstellung der Subjektkonstitution, die über die interpellative Signifikationspraxis hinausgeht. Der Begriff des Diskurses geht dabei im wahrsten Sinne des Wortes tiefer als der reine Sprechakt der Anrufung: „The notion of discourse emerges in Foucault in part to counter the sovereign model of interpellative speech in theories such as Althusser’s, but also to take account if the efficacy [Hervorhebung im Original – d. Verf.] of discourse apart from its instantiation as the spoken word.“48 Foucaults Arbeiten haben gezeigt, dass derartige Subjektivierungsprozesse vor allem im Zusammenhang mit soziokulturellen Machtfragen zu behandeln sind. Besonders in der mittleren Phase seines Werkes, während der 1970er Jahre, hat er eingehend analysiert, wie diese Konstitution von Subjekten durch die Machtstrukturen der modernen westlichen Gesellschaften erfolgt. Er hat gezeigt, dass Macht nicht nur als souverän auftretende, verneinende und unterdrückende Kraft, sondern vor allem 46 | Vgl. Althusser: a. a. O., S. 148. 47 | Hier is t anzumerken, dass Althusser selbs t den Begriff des „Performativen“ nicht kennt und die Auf fassung von der Interpellation als performative kulturelle Praxis aus Butlers Interpretation seiner Theorie s tammt (s. o.). 48 | Judith Butler: The Psychic Life of Power: Theories in Subjec tion, Stanford 1997, S. 6.

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als ein produktives Netzwerk im kulturellen Raum zu verstehen ist, das seine Wirkung in verschiedenen Dispositiven entfaltet – jenen heterogenen Ensembles, die „Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes [umfassen].“49 Mit Hilfe dieses Gewebes, das in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hineinreicht, wird dem Individuum jenes „Lebenswissen“ beigebracht, das es braucht, um in der Gesellschaft im Sinne der hegemonialen Kultur zu funktionieren. Genau das beschreibt der Begriff „Subjektivierung“: Die gesellschaftlichen Normierungsdiskurse setzen die Koordinaten von Wissens-, Denk- und Handlungshorizonten entlang binärer Oppositionen wie normal/krank, männlich/weiblich, richtig/falsch, natürlich/künstlich, gut/böse etc. und definieren so zu einem wesentlichen Teil die Ich-Grenzen des Subjekts. Die alte humanistisch-auf klärerische Vorstellung vom Menschen als souveränem, vernunftbegabtem und autonom handelndem Wesen, die schon durch die Interpellationsmodelle althusserscher Prägung in Frage gestellt wurde, kann nun erst recht nicht mehr aufrecht gehalten werden. Das Individuum ist, so Foucault, „zweifellos das fiktive Atom einer ,ideologischen‘ Vorstellung der Gesellschaft.“50 Bei seiner Konstitution entfalten die diskursiven Prozesse, die im Sinne der Ideologie bzw. der herrschenden Diskursformation am Werk sind, die für Grenzziehungen typische Doppelfunktion: Zum einen begrenzen sie das Individuum, indem sie es als Subjekt mit einem Bewusstsein seiner Selbst in Relation zu „den Anderen“ ausstatten, zum anderen setzen sie ihrem Produkt Grenzen des Mach-, Denkund Sagbaren, die wiederum formend auf das Subjektbewusstsein zurückwirken. So entwickelt das Individuum ein Verständnis von sich und der Welt, das durch eine diskursiv produzierte Wissens- und Erfahrungsstruktur vorgeprägt ist. Die Grenzen des „Ichs“ sind auch die Grenzen einer durch die in den Subjektivierungsprozessen von den kulturellen Wahrheitskonstrukten geformten Wahrnehmungsmatrix, die das Subjekt in seiner Selbstwahrnehmung in ein ideologisch gewolltes Verhältnis zu den es umgebenden Phänomenen setzt. Manches darf das Subjekt erfahren und erkennen, zu anderen Bereichen möglichen Wissens, möglicher Erfahrung und möglichen Handelns wird ihm der Zugang verwehrt. Dabei gibt es eine Wechselwirkung zwischen der Kontrolle des Verhaltens der Menschen im sozialen Raum und ihrer Konstitution als Subjekte. Zwei wesentliche Instrumente der Verhaltenskontrolle, die hier zu nennen sind, sind Norm und das juristische Gesetz. Bei beiden Begriffen handelt es sich um Regelkonstrukte, die darauf abzielen, die Verhaltensoptionen von Menschen im Dualismus von „Erlaubtem“ und „Verbotenen“ zu organisieren. Was sie allerdings unterscheidet ist die Art, wie sie ihre Autorität ausüben. Natürlich werden juristische Gesetze immer auch im Kontext einer soziokulturellen Normenstruktur erlassen oder geschrieben. Aber sie werden eben geschrieben und sind so, anders als Normen, institutionalisierte Impe49 | Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 119f. 50 | Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 249.

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rative der politischen Ordnung. Die Brockhaus Enzyklopädie liefert folgende Definition des Gesetzes: Im Recht wird unter G[eset z] in einem allgemeinen Sinne die von einem Organ des Gemeinwesens geset zte Regel vers tanden, die rechtsverbindlich und zukunftsgerichtet das Zusammenleben ordnet; typisch is t die Allgemeinheit des G[eset zes], d. h. die abs trakte Formulierung der Regel für unbes timmt viele Sachverhalte und Personen. Mit der Forderung nach Allgemeinheit des G[eset zes] is t die Vors tellung seiner Vernüftigkeit und Gleichheit verbunden. 51

Das Gesetz ist also eine von einer klar definierten, souveränen und in der Regel staatlichen Autorität geäußerte und zur Institution gewordene Formulierung, die die konkrete Differenz zwischen dem binären Oppositionspaar „legal“ und „illegal“ definiert. Für jeden ist ersichtlich und Schwarz auf Weiß nachzulesen, wo die Grenze zwischen diesen beiden Sphären verläuft, die bestimmte Verhaltensweisen erlaubt, andere hingegen nicht. Wird sie überschritten, hat das Sanktionen zur Folge, die ebenfalls klar – im Strafgesetzbuch – formuliert sind, das für jede Übertretung einen bestimmten Strafrahmen bereitstellt, innerhalb dessen ein Gericht in jedem einzelnen Fall Form und Grad der Sanktion festlegt. Die Norm wirkt hingegen subtiler und nimmt eine zentrale Funktion in Foucaults Theorie ein, da er die Subjektkonstitution in der Moderne, deren Beginn er im 18. Jahrhundert verortet, als Normierungsprozess versteht. Auch Normen ordnen Handlungsoptionen entlang des Erlaubt-Verboten-Binarismus (in Gestalt der Dichotomie normal – unnormal) an, doch es gibt hier keinen Souverän, kein offizielles Organ, das sie aufstellt oder verkündet und sie sind auch nicht in einem Gesetzbuch nachzuschlagen. Sie entstehen vielmehr im Geflecht verschiedenartigster Diskurse im gesellschaftlichen Raum. Daher handelt es sich bei Normen nicht um juristischpolitische, sondern um kulturelle Verhaltensimperative. Als solche entfalten sie eine wesentlich größere Wirksamkeit, da sie nicht erst wie das juristische Gesetz fall- und institutionsgebunden in Aktion treten, sondern von Anfang an der Subjektivierung der Menschen beteiligt sind und sie permanent begleiten. Normative Diskurse wirken in allen Bereichen des Lebens und werden in kulturellen Prozessen internalisiert. Die Diskursformationen, die diese Grenzen ziehen, haben neben ihrer produktiven auch eine kontrollierende Funktion. Letztere soll sicherstellen, dass die Normen im Interesse der Stabilität der hegemonialen Kultur eingehalten werden. Foucault hat diese für die modernen westlichen Gesellschaften so typischen Mechanismen der Konstitution und Kontrolle von Subjekten „Disziplinen“ bzw. „Disziplinarstrukturen“ oder „-regime“ genannt, die er als „Techniken der Individualisierung von Macht“52 versteht und die für die Internalisierung der binären Normenstruktur verantwortlich sind. Eine so verstandene normativ-produktive Macht wirkt als Grenzzieher in zwei Richtungen: 51 | Brockhaus Enzyklopädie, hg. von Annette Zwar et. al., Leipzig und Mannheim 2006, Band 10, S. 643f. 52 | Michel Foucault: „Die Machen der Macht“, in: ders.: Analytik der Macht, a. a. O., S. 220–239, hier: S. 228.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität [oder anders ausgedrückt: zieht die normativ auf den Einzelnen wirkenden sozialen Grenzen – Anm. d. Verf.], andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abs tände miss t, Niveaus bes timmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nut zbringend aufeinander abs timmt [oder: die Ich-Grenzen im Interesse der Normalitäts- und Nüt zlichkeitsökonomie der dominanten Gesellschaft zieht und kontrolliert – Anm. d. Verf.].53

Dabei ist für Foucault – und wie zu zeigen sein wird auch für Kathy Acker – vor allem die Disziplinierung des Körpers zentral, der als „gelehriger Körper“ konstituiert und zum zentralen Angriffspunkt für die Subjektivierungsprozesse wird. In Überwachen und Strafen erörtert Foucault in seinem berühmten Rekurs auf das Konzept des panoptischen Gefängnisbaus von Jeremy Bentham, wie moderne Gesellschaften mit Hilfe von verschiedenen Techniken der Disziplinierung (hierarchische Überwachung, normierende Sanktion und Verfahren der Prüfung) Subjekte produzieren. Das Gefängnis wird hier zur Metapher für eine Gesellschaft, die dem Individuum Grenzen des Handelns setzt und die Grenzen des „Ich“ determiniert, indem sie durch die Kontrolle und Zurichtung der Körper auch eine seelische Wirksamkeit im Inneren des Individuums entfaltet. Die normativen Diskursinhalte werden in das Subjekt eingeschrieben, wobei der Geist als „Schrifttafel in der Hand der Macht“ und die „Semiologie als Griffel“ fungieren.54 Dies geschieht nicht ausschließlich interpellativ (wie in Althussers Modell), sondern durch die Interaktion von körperpolitischen und seelisch-geistigen Aspekten bei der Subjektkonstitution, da „die Unterwerfung der Körper [auch] durch die Kontrolle der Ideen“ erfolgt.55 Somit ist die Seele, so Judith Butler in ihrer Interpretation von Foucaults Argument, „a normative and normalizing ideal according to which the body is trained, shaped, cultivated, and invested; it is a historically specific imaginary ideal (idéal speculatif) under which the body is materialized.“56 Es werden nicht nur die immateriellen Elemente der Subjektivität (Bewusstsein, kognitiver Rahmen, Wissen, Verhalten etc.) durch die Kontrolle der Körper geformt, sondern auch die Körper der Subjekte selbst. Diese Verbindung spielt besonders bei der Konstruktion von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten eine wichtige Rolle. Vor allem seit der Auf klärung wird Körperlichkeit in einem binären Raster fixiert. Dabei dienen biologische Geschlechtsmerkmale als eindeutige Signifikanten für „Männlichkeit“ bzw. „Weiblichkeit“. Der Mythos der wissenschaftlichen Objektivität wird hier zum Metaphysikersatz. Formen von geschlechtlicher Identität, die sich dieser geschlechtlichen Unzweideutigkeit entziehen, werden mit Gewalt in dieses Schema gepresst und naturalisiert. Foucault spricht an einer Stelle von der „Halsstarrigkeit“ mit der gerade die „aufgeklärten“ modernen Gesellschaften die normative Idee eines „wahren Geschlechtes“ verfolgten, während man in früheren Epochen anderen Geschlechtsidentitäten – etwa der Zwischenkate53 | 54 | 55 | 56 |

Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O., S. 237. Ebd., S. 131. Ebd. Butler: The Psychic Life of Power, a. a. O., S. 90.

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gorie des Hermaphroditen – zumindest ihre Existenz zugestand.57 Auch die körperliche Erfahrung auf dem Feld der Sexualität wurde entlang der Differenz „normal“ (im Sinne einer reproduktionsorientierten Heterosexualität) und „unnormal“ (jede vom heterosexuellen Ideal abweichende und als unmoralisch oder krankhaft apostrophierte sexuelle Praxis) organisiert. Man muss konstatieren, dass Foucaults Aussagen bezüglich der psychischen Seite der Subjektkonstitution, also bezüglich der Frage, wie der Prozess der Verinnerlichung der vorformulierten Identitätsmerkmale funktioniert, leider sehr vage bleiben. Judith Butler hat diesem Problem einen Aufsatz gewidmet, in dem sie versucht, die Unklarheiten und Widersprüche in Foucaults Ausführungen zu dieser Frage auszuräumen. Dort macht sie deutlich, dass der Begriff der „Seele“ bei Foucault nicht mit der Psyche im freudianischen Sinn gleichzusetzen ist. Dort ist sie eine Kategorie ontologisch-vordiskursiv vorhandener Innerlichkeit, die in die drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich unterteilt ist. In diesem Modell werden kulturelle Normen und Werte im Wesentlichen im Über-Ich internalisiert, während das Es als Ort der angeborenen Triebstruktur der Normierung durch die Gesellschaft weitestgehend entzogen ist und das Ich zwischen diesen beiden Polen steht. Nach Foucaults Vorstellung werden hingegen die innerlichen Aspekte des Subjekts (deren Existenz er durchaus anerkennt, auch wenn er ihnen eine Vorgängigkeit jenseits kultureller Prägung abspricht) durch Bedeutungszuschreibungsprozesse geformt, die hauptsächlich auf den Körper wirken: The figure of the interior soul unders tood as ,within‘ the body is produced through its inscription on [Hervorhebung im Original – d. Verf.] the body; indeed, the soul is inscribed on the surface, a signification that produces on the flesh the illusion of an ineffable depth. The soul as a s truc turing invisibility is produced in and by signs that are visible and the corporeal. Indeed, the soul requires the body for its signification, and requires also that the body signify [sic] its own limit and depth through corporeal means.58

Butler selbst hat in Gender Trouble am Beispiel der Geschlechteridentität aufgezeigt, wie durch auf den Körper gerichtete kulturelle Performanzen jene Binarismen in das Individuum eingeschrieben werden und dort jene seelische Wirksamkeit entfalten, die die Grenzen des „Ich“ definieren: Such ac ts, ges tures, enac tments […] are performative in the sense that the essence or identity that they otherwise purport to express are fabrications manufac tured and sus tained through corporeal signs and other discursive means. That the gendered body is performative sugges ts that it has no ontological s tatus apart from the various ac ts which cons titute its reality. [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] 59 57 | Vgl. hierzu. Michel Foucault: „Das wahre Geschlecht“, in: ders.: Schriften zur Literatur, a. a. O., S. 340–349. 58 | Judith Butler: „Foucault and the Paradox of Bodily Inscriptions“, in: The Journal of Philosophy, Volume LXXXVI, Number 11 (November 1989), S. 601–607, hier: S. 605. 59 | Dies.: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York und London 2007, S. 185.

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Strukturell funktionieren diese diskursiven Prozesse nicht nur für geschlechtliche oder sexuelle Identitätszuschreibungen, sondern definieren den gesamten Möglichkeitshorizont an Wissens-, Erfahrungs- und Verhaltensoptionen, die die Subjektivität des Einzelnen in der Gesellschaft ausmachen. Dennoch steht die Sexualität als zentrales Feld der menschlichen Erfahrung oftmals im Mittelpunkt der Diskussionen über den Konstruktionscharakter von Identität und Subjektivität. Kaum ein anderer Bereich ist in den westlichen Kulturen über die Jahrhunderte von verschiedenen Seiten in so hohem Maß ideologisch aufgeladen worden und diente so oft Schauplatz von vehementesten Kulturkämpfen aller Art. Die Sexualität ist neben der Geschlechtsidentität (wobei beide oftmals diskursiv gekoppelt sind) einer der Hauptsignifikanten von Subjektidentitäten und wurde, wie Foucault es formuliert, zur „Chiffre der Individualität“ schlechthin.60 Im Hinblick auf den Verlauf der Moderne seit der Auf klärung spricht er von einer „Geschichte der Abgrenzungen, die sich auf dem Feld der Sexualität vollzogen haben (erlaubte und verbotene, normale und anormale Sexualität, die Sexualität der Frauen und die der Männer, die der Erwachsenen und die der Kinder)“, in der sich „eine ganze Reihe von binären Teilungen, die auf ihre Weise die große Teilung Vernunft – Unvernunft weiter ausgeprägt hätten[.]“61 Die Bandbreite menschlicher Lust, wurde im Laufe dieser Entwicklung in einer dichotomischen Struktur kanalisiert, deren erlaubter Pol das eng umgrenzte reproduktionsorientierte heterosexuelle Begehren war, während alle davon abweichende Formen und Praktiken als verboten galten. Was die Normierung der Sexualität seit der Auf klärung von der christlichen Moral unterschied, ist die Fiktion der wissenschaftlichen Objektivität. Durch das Auf kommen einer Sexualwissenschaft, die sich nicht mehr auf moralisch-theologische Argumente, sondern auf Kriterien einer scheinbar essentiellen natürlichen Ordnung bezieht, konnte die binäre Scheidung in „normale“ und „unnormale“ Sexualität den „Tod Gottes“ überleben. Wenn Sexualität ein zentrales Feld der Produktion von Individualidentitäten ist, kann sie natürlich auch als Schauplatz für Überschreitungen dienen, die sich gegen diese Entwürfe richten. Ich werde später noch ausführen, dass dies gerade für Kathy Acker eine wesentliche Rolle gespielt. Der wohl am häufigsten formulierte Einwand gegen die oben skizzierten Theorien der Subjektivierung in der Moderne ist die Frage, woher die Motivation für Widerstand gegen die herrschende Ordnung kommen soll, wenn die Idee des autonomen Handelns nicht mehr haltbar und das Subjekt als reiner Effekt gesellschaftlicher Macht zu verstehen ist, dessen Wissens- und Handlungsspektrum durch die hegemoniale Kultur definiert wird. Diese Einwände sitzen dem Missverständnis auf, die Menschen würden in den beschriebenen soziokulturellen Normierungsprozessen wie ein leeres Gefäß mit ideologisch gewollten Inhalten befüllt oder programmiert wie ein Computer. Ein solches 60 | Michel Foucault: Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt am Main 1983, S. 141. 61 | Michel Foucault: „Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über“, in: ders.: Analytik der Macht, a. a. O., S. 126–136, hier: S. 127f.

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Verständnis der butlerschen, foucaultschen und ihnen verwandten poststrukturalistischen Theorien übersieht, dass sie alle dem als Subjekt konstituierten Individuum durchaus eine Ebene der Autonomie zugestehen, auch wenn sie der humanistischen Idealvorstellung des autonomen Individuums äußerst kritisch gegenüberstehen. Aber allein schon die Existenz der Disziplinarstrukturen, deren Ziel es ist, normabweichendes Verhalten zu korrigieren, zeigt, dass die Wirkung der Normierung nicht so umfassend ist, dass sie Devianz vollständig unterbinden könnten. In vielerlei Hinsicht braucht die Norm zudem die Übertretung, um sich selbst legitimieren oder ihre Geltungsmacht affirmieren zu können. Aber warum begehren manche der Subjekte auf? Diese Frage lässt sich meiner Meinung nach mit der bereits beschriebenen Charakteristik von Grenzziehungsprozessen erklären. Normgrenzen sind Grenzen wie alle anderen auch. Sie definieren sich durch ihr dialektisches Anderes, dessen Existenz sie nicht in Frage stellen können, weil sie sich sonst die Definitionsgrundlage ihrer eigenen Existenz entziehen würden. Somit ist das ausgegrenzte Andere immer auch bei der Subjektkonstitution präsent: Wenn ein Individuum verinnerlichen soll, was „normal“ ist, ist unumgänglich zu definieren, was „unnormal“ ist. Durch diese Strategien wird versucht, eine kulturelle Homogenität zu erreichen, die jedoch immer eine Fiktion bleiben muss, weil bei ihrer Konstitution, abhängig von der jeweiligen historischen und kulturellen Situation, immer eine Vielzahl existierender Formen von Differenz ausgegrenzt wird. Deren Existenz aber ist den Subjekten niemals vollständig zu verheimlichen und bedingt die Möglichkeit der Überschreitung. Somit haben die Individuen durchaus die Option nonkonformen Verhaltens - man denke nur an Althussers „schlechte Subjekte“. Die Motivation, gesellschaftlich gegebene Grenzen zu überschreiten ist letztendlich aber immer situativ im einzelnen Individuum zu suchen. Es gibt nicht den einen Grund für das Auf begehren. Individuelle Kontingenzen wie persönliche Überzeugungen, soziale Zugehörigkeit, Bildungsgrad, ideologische oder religiöse Positionierung, psychische Disposition, geschlechtliche Identität, sexuelle Vorliebe usw. können Grenzziehungen, Normsetzungen und Identitätsmodelle in der subjektiven Erfahrung des Einzelnen als positiv oder negativ erscheinen lassen. Was dem einen als ordnendes und unverzichtbares Regelwerk erscheint, das ein Zusammenleben in einer Gesellschaft überhaupt erst möglich macht, mag der andere als unerträgliche Einschränkung und Verengung der individuellen Freiheit und der Möglichkeit von Erfahrung und Selbstentfaltung empfinden.

D IE TRANSGRESSION UND IHRE FUNKTIONEN Wenn Grenzziehungen als performative Akte zu verstehen sind, die soziokulturelle Ordnungen und individuelle Subjektidentitäten konstituieren, dann sind Grenzüberschreitungen in Konsequenz daraus ebenfalls performativ. Transgressionen sind als Gegenperformanzen zu verstehen, die die Gültigkeit der durch die Grenzen codierten Strukturen der hegemonialen Ordnung in Frage stellen und sich mit den sie defi-

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nierenden Machtdynamiken auseinandersetzen. Sie sind Widerstandsakte, die gegen eine herrschende Wahrheitsordnung gerichtet sind und deren subversive Wirkung darin besteht, die oft verborgenen diskursiven Prozesse hinter der Grenzziehung sichtbar zu machen, ihre Willkürlichkeit zu thematisieren und so letztendlich einen öffnenden oder entgrenzenden Effekt zu haben. Das Modell eines binären Koordinatensystems als grundlegende Struktur kultureller Lebens- und Aussageformen beinhaltet zwangsläufig die Möglichkeit, den Raum des „Jenseits“ aus dem „Diesseits“ heraus durch einen Schritt über die Trennungslinie zwischen den beiden Sphären zu betreten. In der Geste der Transgression zeigt sich somit, dass die Grenze nicht der Endpunkt von Möglichkeit ist (auch wenn sie dies vorgeben mag), sondern eine willkürlich im Raum der Möglichkeiten verortete Instanz, die eben diesen Raum in erlaubte und unerlaubte Möglichkeiten teilt. Erst durch ihre Übertretbarkeit wird die Grenze zur Grenze: „Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überscheitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte Grenze durchbrechen würde, nichtig.“62 Demnach gibt es eine definitorische Wechselwirkung zwischen Grenze und Überschreitung, die sich dadurch erklärt, dass die Grenze als performatives Phänomen keine einfache Setzung ist, deren Gültigkeit endgültig festgeschrieben ist. Ihre Wirkmächtigkeit muss immer wieder neu bestätigt werden und Überschreitungen leisten dabei einen notwendigen Beitrag, da sie den Charakter des absolut Gültigen, den die Grenze für sich beansprucht, immer wieder in Frage stellen. Die Grenze braucht die Auseinandersetzung mit der Transgression grundsätzlich, um die Wahrhaftigkeit der von ihr erzeugten Aussagen behaupten zu können. Hierzu Foucault: „Vielleicht ist Überschreitung so etwas wie der Blitz in der Nacht, der vom Grunde der Zeit dem, was sie verneint, ein dichtes und schwarzes Sein verleiht, es von innen heraus und von unten bis oben erleuchtet und dem er dennoch seine lebhafte Helligkeit, seine herzzerreißende und emporragende Einzigartigkeit verdankt.“63 So kommt es zu einem kulturkonstituierenden Wechselspiel von Grenzziehung und -überschreitung, das gekennzeichnet ist von einer „ambivalenten Gleichzeitigkeit von Norm und Überschreitung, von Grenze und Grenzverletzung, von Repräsentation und Materialität, die für einen performativen [Hervorhebung im Original – d. Verf.] Umgang mit Grenzen charakteristisch ist.“64 Was dieses ambivalente Verhältnis von Grenze und Überschreitung konkret für die Frage der Subjektidentität bedeutet, hat Wofreys ausgeführt. Für ihn sind Transgressionen unumgängliche kulturelle Handlungen, die gerade dadurch, dass sie Identitätskonzepte angreifen können, notwendig für deren Entstehung sind. Ihm zufolge 62 | Foucault: „Vorrede zur Überschreitung“, a. .a. O., S. 69. 63 | Ebd. 64 | Audehm/Velten: a. a. O., S. 12.

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ist die Überschreitung nicht ausschließlich als Rebellion gegen Beschränkungen der identitären Prägung durch die Gesellschaft zu verstehen, sondern gleichermaßen als „the very pulse that constitutes our identities, and we would have no sense of our own subjectivity were it not for a constant, if discontinuous negotiation with the transgressive otherness by which we are formed and informed.“65 Wofreys legt hier den Finger auf den wunden Punkt jedweder transgressiven Geste: Die Überschreitung ist zwar Bedingung für Veränderung (mag man sie als Fortschritt interpretieren oder nicht), bedingt diese jedoch nicht automatisch. Denn es besteht immer die Möglichkeit, dass die Übertretung genau jene Grenze unfreiwillig reaffirmiert, die sie eigentlich zu überwinden gedenkt. Georges Bataille, der als einer der wichtigsten Theoretiker der Transgression in der Moderne gilt66, hat dies so beschrieben: „The transgression does not deny the taboo but transcends it and completes it.[…] There exists no prohibition that cannot be transgressed. Often the transgression is permitted, often it is even prescribed.“67 Manchmal ist es für die etablierte Ordnung unumgänglich, die von ihr gezogenen Grenzen durch Überschreitung legitimieren zu lassen. Denn wenn es ihr gelingt, den Überschreitenden zu disziplinieren oder zu renormieren, werden ihre Grenzen in ihrer Gültigkeit (zumindest zeitweise) wieder gestärkt und die Macht kann durch den Versuch der Überschreitung eine Festigung erfahren. Audehm und Velten sind sich dieser Problematik ebenfalls bewusst und schreiben in ihrem Aufsatz korrekt, dass diese Frage nach der subversiven Wirkung der Transgression „nicht abstrakt beantwortet werden [kann], sondern […] von Gegenstand und Kontext ausgehen [muss].“68 Bedenkt man Wolfreys’ oben zitierte Aussage, so muss man tatsächlich feststellen, dass Überschreitungen notwendige Akte für die Konstitution genau der hegemonialen Kulturgrenzen und Identitätskonzepte sein können, die paradoxerweise ihre eigene Überschreitung verbieten. In diesen Fällen offenbart sich die von Foucault beschriebene definierende und affirmative Wirkung der Transgression, die der Grenze erst – entgegen ihrer Absicht – ihr „dichtes und schwarzes Sein verleiht“ (s.o.). Diese Auffassung steht in Einklang mit Foucaults Theorie der alle Lebensbereiche umfassenden modernen Macht, die von der Kultur getragen wird und deren Normierungs- und Disziplinarstruktur die Möglichkeit transgressiven Verhaltens bereits einkalkuliert hat und dafür Räume der Toleranz ebenso bereithält wie Räume der Disziplinierung oder der Kontrolle. Trotz dieser möglichen affirmativen Wirkung ist die Grundintention der Transgression subversiv. Sie ist ein Akt der kritischen Auseinandersetzung mit der Autorität der Grenze und stellt zwangsläufig Fragen an sie: Wieso verläuft sie genau dort, wo sie verläuft? Woher bezieht sie ihre Legitimität? Welche Wirkungen hat sie auf die 65 | Wolfreys: a. a. O., S. 1. 66 | „Although he could claim no monopoly over the term, his work, perhaps beyond all others, is closely associated with the concept of transgression.“ (Jenks: a. a. O., S. 87) 67 | Georges Bataille: Death and Sensuality. A S tudy of Eroticism and the Taboo, New York 1962, S. 63. 68 | Audehm/Velten: a. a. O., S. 28.

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gesellschaftlichen Realitäten? Welche soziokulturellen, historischen, politischen und ökonomischen Machtwirkungen ziehen die begrenzenden Linien und nach welchen Gesichtspunkten und Interessen teilen sie den Raum der Möglichkeiten auf? Welche neuen Räume lassen sich durch das Ausagieren der ausgegrenzten Handlungs- und Wissensoptionen erschließen? Wie ist die Reaktion auf die Übertretung und was sagt das über die Grenze? Im Hinblick auf die subversive, erkenntnisstiftende und potentiell öffnende Funktion der Transgression erscheint die Frage interessant, was Foucault in der oben zitierten Aussage meint, wenn er von der „scheinbaren oder schattenhaften Grenze“ spricht. Im deutschen Diskurs ist bei der Beschreibung dieses Phänomens die Unterscheidung der Begriffe „Grenze“ und „Schwelle“ hilfreich, die Audehm und Velten folgendermaßen definieren: Im Unterschied zur Grenze is t die Schwelle immer zwischen zwei aneinander grenzenden, separierten Bereichen verortet, is t ein Raum des Übergangs, der Passage: Wer sich auf der Schwelle befindet, kann zurück […]. Die Schwelle is t somit eine Metapher der Transzendenz und der Identitätss tiftung, denn sie verspricht Neues: einen neuen Raum, einen neuen Lebensabschnitt, neue Erfahrungen. 69

Diese Öffnung hin zu neuen Formen von Subjektivität ist Schwellenübertretungen und Grenzübertretungen gemeinsam. Doch die Schwelle unterscheidet sich als Übergangsmetapher von der Grenze im Wesentlichen dadurch, dass sie es gestattet, ja geradezu verlangt, überschritten zu werden, während die Grenze genau das verbietet und verhindern will. Zudem ermöglichen Schwellen, was in der oben zitierten Definition durch Audehm und Velten nicht deutlich wird, nur den Zugang zu solchen neuen Bereichen des Handelns und der Erfahrung, die im Spektrum des Erlaubten liegen. Sie finden sich an den Übergangspunkten zu Räumen, die einem nach außen abgeschiedenen Innen angehören, berühren die als absolut gesetzten, das Gefüge nach außen definierenden Grenzen nicht und sind daher als „Ort der Passage vom einen zum anderen“70 zu verstehen. Solche Übergangsorte hat der Anthropologe Victor Turner im Rückgriff auf Arnold van Gennep als liminale Räume bezeichnet. Der Begriff „Liminalität“ stammt somit – wie ein Großteil des Vokabulars, das zur Beschreibung transgressiver Phänomene benutzt wird – aus der ethnologischen Ritualtheorie und bezeichnet dort jenes Zwischenstadium, das ein Mensch im Rahmen von Übergangsriten in seinem sozialen Leben durchläuft.71 In diesem liminalen Stadium sind die herkömmlichen 69 | Ebd., S. 14. 70 | Ebd., S. 15. 71 | Nach Turner gliedern sich Übergangsriten immer in drei Phasen: „[S]eperation, margin (or limen), and aggregation: The firs t phase of seperation comprises symbolic behavior signifying the detachment of the individual or group either from an earlier fixed point in the social s truc ture or a set of cultural conditions […]; during the intervening liminal period, the s tate of the ritual subjec t […] is ambiguous; he passes through a realm that has few or none of the attributes of the pas t or coming s tate; in the third phase the

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Geltungsbereiche der „Grenzen des Selbst“ vorübergehend aufgehoben und das Individuum befindet sich in einem Zustand des Zwischen, „betwixt and between“ verschiedener Identitätsentwürfe, eben genau auf der Schwelle zwischen zwei Rollenzuschreibungen innerhalb der Gesellschaft: „They are at once no longer classified and not yet classified.“72 Genau dieser rituelle (und somit kulturell vorgedachte) und zeitlich begrenzte Rahmen der Überschreitung im Liminalen macht den Unterschied zwischen Grenze und Schwelle aus. Die systemimmanenten Schwellenübertretungen können keinen subversiven Charakter haben, weil sie zwar einen Anspruch auf Erweiterung und Erschließung von Neuem einlösen, dabei aber nicht versuchen, an den Grundsätzen des Systems zu rütteln. Daher sind Schwellen, um auf Foucault zurückzukommen, bestenfalls „scheinbare oder schattenhafte“ Grenzen. Die Überschreitung73 jener „echten“ Grenze, die nicht überschritten werden darf, berührt hingegen das Fundamentale. Während Schwellen per definitionem den Zugang zu liminalen Räumen gestatten, muss diese Liminalität bei der Grenze erst durch die Transgression erzeugt bzw. erkämpft werden, wie auch Audehm und Velten feststellen: „Deshalb ist die Transgression auf die Grenze angewiesen, nicht aber auf die Schwelle, denn diese hat selbst liminale Kraft. Auf der Schwelle wird die Transgression zur Passage und verliert somit ihr provokatives und verletzendes Potenzial.“74 In diesem Sinne definieren sich, wie von Foucault postuliert, Transgression und Grenze gegenseitig, da sie sich gegenseitig mit Gewalt begegnen: Die Grenze versucht mit allen Mitteln, die Übertretung zu verhindern, während die Transgression gleichzeitig darauf abzielt, die Grenze gewaltsam zu übertreten. Oder um es mit Alois Hahn zu sagen: „Transgressionen setzen voraus, dass ihr Anderes, eben die Norm, ihnen mit Härte entgegentritt, sonst wirken sie flau.“75 Da Grenzen immer normativ konstruiert und von historischen und soziokulturellen Bedingungen abhängig sind, definieren sich auch Transgressionen immer kontextabhängig. Phänomene und Handlungen, denen dieses Attribut zugesprochen wird, dürfen daher niemals isoliert betrachtet werden. In der Tat gibt es keine Handlungen, keine Wissensinhalte und keine Aussagen, die per se transgressiv sind. Erst die Reaktion jenes soziokulturellen Umfelds, das auch für die Definition der Grenzen, die überschritten werden, verantwortlich ist, verleiht einem Akt diesen Charakter. Die Heftigkeit dieser Reaktion fungiert dabei als Indikator für das subversive Potential passage is consummated.“ (Vic tor Turner: „Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage“, in: ders.: The Fores t of Symbols, Ithaca 1967, S. 93–111, hier: S. 94). 72 | Ebd., S. 96 73 | Der Praktikabilität halber werde ich in der Vorliegenden Arbeit Begriffe wie Transgression, Übertretung, Überschreitung etc., soweit nicht anders angegeben, synonym im Sinne der unerlaubten Übertretung von „harten Grenzen“ verwenden. 74 | Audehm/Velten: a. a. O., S. 15. 75 | Alois Hahn: „Transgression und Innovation“, in: Werner Helmich et al. (Hg.): Poetologische Umbrüche. Romanis tische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München 2002, S. 452–465, hier S. 454f.

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der Übertretungshandlung, die sichtbar sein muss, um von den normativen Kräften der Gesellschaft registriert werden zu können: Doch zu Transgressionen werden Grenzüberschreitungen ers t durch ihre öffentliche Thematisierung. Nur dort, wo sie auf fallen, wo ein Skandal die Abweichung markiert und sanktioniert, kann man von einer Transgression sprechen. […] Folglich bezeichnet der Begriff weder nur den Akt der Grenzüberschreitung selbs t, noch betrifft er ausschließlich das wahrnehmbare Phänomen. Er meint vielmehr dessen kulturelle Dars tellung und psychosoziale Verarbeitung als Skandalon oder Politikum.76

Die Transgression definiert sich über ihre skandalöse Wirkung im öffentlichen Raum. Eine bloße Schwellenübertretung hingegen kann niemals zum Skandal werden, weil sie keine Verbindung zum kategorisch ausgegrenzten „Anderen“ herstellt. Dabei kommt es nicht notwendigerweise darauf an, dass dieses „Andere“ sich in einem klar definierten „Jenseits“ manifestiert. Manchmal genügt es auch, dass das „Andere“ sich ex negativo als das „Nicht-Eigene“ definiert, ohne, dass es auf der anderen Seite der Linie einen konkret ausformulierten Gegenentwurf gibt: „Transgressionen sind auch im Hinblick auf Systeme (Norm- und Rechtssysteme) und Strukturen (die Grammatik einer Sprache) verständlich, die kein Gegenüber bzw. kein Angrenzendes besitzen, weil sie als Entität gedacht werden.“77 Zum Wesen der Transgression gehört ferner, dass sie ein reflektierter und aktiver Akt des Widerstandes ist, der sich mit Gewalt gegen die Autorität der Grenze(n) stemmt und dabei Gegenwehr und Sanktion bewusst in Kauf nimmt. Anders als bei der Übertretung einer Schwelle muss der Zugang zu Neuem hier erkämpft werden. Eine Überschreitung, die in Unkenntnis des Verbotscharakters der vorgenommen Handlung stattfinden würde, wäre keine Transgression. Dieser Umstand bindet die Transgression immer an die dissidente Haltung des Handelnden. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Widerstand aus ideologischer, ökonomischer, religiöser oder individualpsychologischer Motivation heraus geschieht. Wer eine transgressive Handlung begeht, tut dies im vollen Bewusstsein der erwartbaren Konsequenzen. In ihrem Gestus als bewusste, öffentliche und verbotene Überschreitung von Grenzen, Regeln und Tabus ist das Ziel der Transgression immer, die herrschende Ordnung anzugreifen, ihre Begrenzungen zu überwinden und ihre Macht zu unterlaufen. Sie hat daher immer auch eine (gesellschafts)politische Komponente, ist dabei aber auch immer mit dem schon beschriebenen Dilemma konfrontiert: Der Gefahr, unfreiwillig und entgegen der eigentlich intendierten subversiven Absicht, auch einen affirmativen Effekt zu bewirken.

76 | Elfi Bettinger/Angelika Ebrecht: „Einleitungsessay“, in: dies. (Hg.): Transgressionen. Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts, Berlin 2000, S. 9–27, hier S. 10. 77 | Audehm/Velten: a. a. O., S. 15

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Z WEI M ODELLE DER TRANSGRESSION − A UTHENTISCHES J ENSEITS VS . H YBRIDES Z WISCHEN Der Erkenntnis, dass unsere gesamte Kultur, ebenso wie unsere Identität, unser Handeln und unsere Denk- und Wissensstrukturen, durch Akte der Grenzziehung geprägt wird, deren wesentliche Funktion es ist, binäre Oppositionen zu erzeugen, ist, wie ich deutlich gemacht habe, nicht grundsätzlich zu widersprechen. Es gilt aber zu bedenken, dass die Rolle der Grenzziehungen – und damit auch der Grenzüberschreitungen – heute nicht mehr dieselbe ist, wie noch vor fünfzig oder hundert Jahren. Die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Gesellschaften ereignet haben und oft als Übergang von der Moderne in die Postmoderne beschrieben werden, erfordern eine Betrachtung dieser Phänomene aus einem neuen Blickwinkel. Da aber die Grenze zwischen diesen beiden kulturellen Modellen nicht eindeutig im Sinne einer historischen Epocheneinteilung zu ziehen ist, sondern sich vielmehr als schwer überblickbarer Grenzraum, als diffuses Geflecht von verschiedenartigen, manchmal auch widersprüchlichen oder sich durch eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auszeichnenden kulturellen Strukturen präsentiert, kann man nicht sagen, dass die alten, traditionellen Formen und Funktionen der Grenze grundsätzlich obsolet wären. Was sich verändert hat, ist der Grad ihrer Wirkmächtigkeit. Der neue Blick muss sich daher weniger auf die strukturelle Beschaffenheit von Grenzziehungs- und Grenzüberschreitungsprozessen richten, die sich nur wenig verändert hat. Er muss sich vielmehr auf die Effekte richten, die diese Prozesse in der Kultur entfalten. Daraus ergibt sich die Frage, was es heißt, in subversiver Absicht Grenzen zu überschreiten, wenn diese, wie oft behauptet wird, ihre Bedeutung größtenteils verloren haben. Um diese Fragen zu klären, möchte ich im Folgenden zwei Modelle der Transgression unterscheiden, die sich zwar beide gegen kulturelle Identitätszuschreibungen richten, sich in ihren Lösungsvorschlägen aber, bedingt durch die kulturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, unterscheiden. Sie weichen vor allem in ihrer Auffassung voneinander ab, was transgressives Handeln in einer Gesellschaft bedeutet. Diese Unterschiede lassen sich entlang dem von Winfried Fluck konstatierten Wandel vom politischen Radikalismus der Moderne hin zum kulturellen Radikalismus der Postmoderne beschreiben. Fluck entwickelt sein Konzept des kulturellen Radikalismus anhand der Analyse eines Paradigmenwechsels in der theoretischen Reflexion der Funktion von Literatur im amerikanischen Universitätsbetrieb, der in dem für die kulturellen Transformationen des 20. Jahrhunderts so wichtigen Jahrzehnt der 1960er Jahre stattfand. In dieser Zeit setzte sich zunehmend die Auffassung durch, dass gesellschaftliche Machtkämpfe weniger auf dem Feld der Politik, als vielmehr auf dem Feld der Kultur auszufechten seien, wobei der Begriff der Kultur hier im Sinne Stuart Halls als „actual, grounded terrain of practices, representations, languages and customs of any speci-

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fic historical society“ zu verstehen ist.78 Gerade im Hinblick auf die Literatur ist der kulturelle Radikalismus nicht ausschließlich als akademisches Reflexionskonzept zu verstehen, sondern auch als Modus für die Produktion literarischer Texte selbst, da Fragen von Macht, Opposition, Identität und Überschreitung nicht nur in literaturwissenschaftlichen Diskursen, sondern natürlich auch in ihrem Untersuchungsobjekt, der Literatur selbst, verhandelt werden. Die Kategorien „politischer“ und „kultureller“ Radikalismus gelten daher nicht nur für die Metaebene akademischer Debatten, sondern sind auch für die literarische Produktions- und Rezeptionspraxis von fundamentaler Bedeutung. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so Fluck, hatte sich unter kritischen Intellektuellen zunächst eine liberale Lesart von Literatur durchgesetzt, die zwar noch dem politischen Radikalismus zuzurechnen war, jedoch dem kulturellen Radikalismus bereits die Tür öffnete. Sie stand dem (partei)politischen Engagement von Theoretikern und Künstlern in der Vorkriegszeit während der „red decade“ der 1930er Jahre bereits skeptisch gegenüber, da sich solche ideologischen Formen des Widerstands in der Kunst und in den intellektuellen Debatten nicht als zielführend erwiesen hatten. Dies führte zu einer zeitweiligen Renaissance der liberalen „idea of individual autonomy and an identity that would be stable enough to resist the conformist pressures of society.“79 Diese Vorstellung einer authentischen und autonomen Individualidentität, die sich normativen Identitätszuschreibungen entziehen und auf die sich oppositionelles und transgressives Handeln stützen könnte, geriet wiederum selbst seit den 1960er Jahren immer mehr unter Druck. Man verstand die liberale Idee des autonomen Individuums unter dem wachsenden Einfluss poststrukturalistischer Theorien zunehmend als besonders subtilen Machteffekt, der nichts anderes war als eine „normative idea tied to a restrictive set of social and discursive rules in which the much vaunted ,pluralism‘ excluded many manifestations of difference.“80 In Folge dieser Entwicklung wurde das politische Verständnis von Radikalismus von einem kulturellen abgelöst, das Macht weniger in gesellschaftlichen und politischen Institutionen verortet, sondern in kulturellen Strukturen, weswegen der Widerstand auch dort ansetzen muss. Den Unterschied zwischen diesen beiden Ausformungen des Radikalismus bringt Fluck wie folgt auf den Punkt: In political radicalism, dominant until the late 1960s, there are s till ins titutions like progressive political parties, or the labour unions, or the s tudent movement, or simply the ins titution of art, that hold a promise for resis tance or negation. In cultural radicalism, such hopes are rejec ted as liberal self-delusions, 78 | Stuart Hall: „Gramsci’s Relevance for the Study of Race and Ethnicity“, in: Journal of Communication Inquiry 1986, Vol. 10 (2), S. 5–27, hier: S. 26. 79 | Winfried Fluck: „Literature, Liberalism, and the Current Cultural Radicalism“, in: Rüdiger Ahrens/ Laurenz Volkmann (Hg.): Why Literature Matters. Theories and Func tions of Literature, Heidelberg 1996, S. 211–234, hier: S. 214. 80 | Ebd., S. 214f.

V ERSUCH EINER T HEORIE DER T RANSGRESSION because for this kind of radicalism the ac tual source of power does not lie in particular ins titutions but in culture and its processes of subjec t formation. 81

Wenn die Kultur zum eigentlichen Träger der Macht in der Gesellschaft wird und klassische politische Strukturen und Institutionen nur noch sichtbare Manifestationen oder ausführende Organe dieser alle Lebensbereiche umfassenden kulturellen Macht sind, wird klar, dass sich Dissens und Opposition nicht innerhalb dieser Strukturen äußern kann. Die Akteure des kulturellen Radikalismus sind daher weniger in politischen Parteien, sozialen Bewegungen oder ähnlichen Organisationsformen zu suchen, sondern unter unangepassten Individuen, kritischen Künstlern, marginalisierten Gruppen oder Subkulturen, die ihre oppositionelle Haltung auf dem kulturellen Feld ausdrücken – sei es in der sozialen (durch alternative Lebensformen, subkulturelle Aktivitäten etc.) oder in der künstlerischen Praxis. Dieser Wandel hatte grundlegende Auswirkungen auf den Charakter von Überschreitungen. Für den politischen Radikalismus liberaler Prägung war der Konflikt zwischen einem potentiell autonomen Individuum und den Institutionen einer als repressiv verstandenen Gesellschaft zentral. Das Modell der Transgression, das ich hier als das „moderne“ oder „humanistische“ einführen möchte, teilt mit diesem liberalen politischen Radikalismus zwei wesentliche Merkmale: Den Glauben an ein potentiell authentisches und autonomes Subjekt, sowie die Verwurzelung im binären Denken. Daher ist diesen modernen oder humanistischen Überschreitungskonzepten, so unterschiedlich sie im Hinblick auf ihren historischen und kulturellen Kontext, ihre Inhalte und ihre Äußerungsformen sein mögen, im Prinzip eine Grundannahme gemeinsam. In ihnen schwingt immer die Vorstellung mit, dass dem Menschen durch die soziokulturellen Subjektivierungsprozesse eine Art von „falschem“ Bewusstsein auferlegt wird, von dem er sich durch transgressives Handeln zugunsten einer wahren oder authentischen Subjektivität befreien kann. Im Tabubruch, in der Regelverletzung, in der Verweigerung und der Selbstpositionierung im „Jenseits“ der gesellschaftlichen Grenzen, glauben die Aktivisten dieses im Kern liberalen Modells, Räume für authentische alternative Identitätsmodelle und Erfahrungen zu öffnen und im „Außen“ ein meist als moralisch überlegen verstandenes Gegenmodell zu den definitorischen Machtmechanismen der Gesellschaft zu finden. Das falsche Bewusstsein, das dieses Modell der Überschreitung im Individuum diagnostiziert, wird durch normative und interpellative Sozialisationsprozesse erzeugt, die dem Einzelnen von außen Identitätsparameter im Sinne der herrschenden Ideologie zuschreiben. Die Interessen der hegemonialen Ordnung gehen demnach an den Bedürfnissen der Mehrheit der Individuen vorbei und nützen bestenfalls bestimmten Eliten. Überwindet der Mensch die Grenzen, die ihm durch dieses falsche Bewusstsein gesetzt werden, würde er authentischer und besser leben können. 81 | Winfried Fluck: „Theories of American Culture (and the Transnational Turn in American Studies)“, in: REAL. Yearbook of Research in English and American Literature, 23 (2007), S. 59–77, hier: S. 64f.

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Überschreitung ist diesem Verständnis nach ein Akt der Auf lehnung gegen eine Bevormundung durch die hegemoniale Kultur, ein Versuch, die Entfremdung durch die Gesellschaft zu überwinden und die eigene Identität zu „berichtigen“. Der Widerstand kann sich im Ausleben verschiedenartigster subkultureller Lebenspraktiken, die im Widerspruch zu den Normen und Werten der Hegemonialgesellschaft stehen, manifestieren oder auf dem Gebiet der Kunst in der Repräsentation verschiedener Bereiche der Erfahrung und des Wissens, die in Opposition zur dominanten, „falschen“ Ideologie als authentisch wahrgenommen werden. Oftmals kommt es zur Überschneidung von ästhetischer und tatsächlicher Erfahrung, da die Subkulturen ihre jeweils eigenen künstlerischen Ausdrucks- und Repräsentationsformen entwickeln. Ein solcher, auf eine authentische Gegegenidentität fixierter und damit in den Strukturen des Binarismus gefangener Transgressionsbegriff ist im kulturellen Radikalismus – der zum dominanten Radikalismusverständnis der Postmoderne geworden ist – nicht mehr zu vertreten. Da Begriffe wie Wahrheit, Identität, Normalität etc. in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zunehmend als Konstrukte der jeweiligen kulturell dominierenden Diskursformationen verstanden werden, die durch die Konstruktion binärer Bedeutungssysteme ihre soziale Wirkmächtigkeit in Individuum und Gesellschaft entfalten, muss das im Umkehrschluss auch für alle Aussagen und Optionen gelten, die gegen die hegemoniale Ordnung gerichtet sind. Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass analog zum Übergang vom politischen zum kulturellen Radikalismus auf der Ebene der theoretischen Reflexion ein Wandel in der transgressiven Praxis, sowohl im sozialen Handeln als auch in der Kunstproduktion stattgefunden hat bzw. stattfinden musste. Während der moderne Transgressionsbegriff der liberalen Ausprägung des politischen Radikalismus von der Annahme ausging, nur das „falsche Bewusstsein“ sei ein Konstrukt, dem man durch die Überschreitung in Richtung der Authentizität entkommen könne, postuliert der postmoderne Transgressionsbegriff, so wie ich ihn hier definieren möchte, dass die Vorstellung der Wahrhaftigkeit des unnormiert Authentischen ebenso Konzept oder Entwurf ist. Zahlreiche Theoretiker (Foucault ist hier nur der prominenteste) haben darauf hingewiesen, dass in einem Modell, in dem die gesamte Kultur zum Träger der Macht wird, Abweichung immer ein impliziter und vorgedachter Teil des Systems ist, der einen Schritt in ein Außen nicht zulässt. Das kulturell produzierte Individuum der liberalen Vorstellung ist somit nur scheinbar autonom. Es ist, wie Fluck schreibt, „subject to forces quite beyond his or her comprehension. This is true to such an extent that even oppositional gestures must be considered mere effects of the system and the promise of reform its shrewdest strategy of containment.“82 Hier wird das Dilemma des kulturellen Radikalismus offenkundig: Wie können Übertretungen funktionieren, wenn ihnen der Ort der großen Weigerung, die Utopie eines außersystemischen „Jenseits“ fehlt? 82 | Fluck: „Literature, Liberalism, and the Current Cultural Radicalism“: a. a. O., S. 216.

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Um einen möglichen Ausweg aus dieser Zwickmühle zu finden, will ich einen Transgressionsbegriff einführen, der dem Problem des fehlenden Außen nach der postmodernen Wende Rechnung trägt und den ich daher auch als „postmodern“ bezeichnen möchte. Dazu möchte ich auf Kathrin Audehms und Hans Rudolf Veltens These zurückgreifen, wonach sich transgressive Phänomene vor dem Hintergrund der Postmoderne am Besten entlang der Begriffstrias Differenzierung, Transgression und Hybridisierung analysieren lassen: 1. Die Baus teine symbolischer und sozialer Ordnungen werden in ihrem Verhältnis untereinander und in ihrer Bedeutung über Akte der Differenzierung fes tgelegt und hierarchisiert. Die so erzeugten Differenzen bes timmen die inneren und äußeren Grenzen dieser Ordnungen. 2. Transgressionen machen Grenzziehungen sichtbar und erfahrbar; sie können jene Grenzen aber auch verschieben und ,umfrisieren‘; sie erzeugen ambivalente Schwellenräume, in denen Hybridisierungen möglich werden. 3. Hybridisierungen wirken auf Differenzen ein, indem sie deren Anordnung durch Verfahren der Kontamination und Heterologie subvertieren und auf lösen. Sie schaffen andere Bedeutungen bzw. Bedeutungsräume. 83

Der wesentliche Unterschied zwischen dem traditionellen Transgressionsmodell und dem von Audehm und Velten ins Spiel gebrachten, ist die Kategorie des Hybriden. Die alte, moderne Vorstellung von Überschreitung ist in einer dualistischen Struktur verhaftet. Sie kennt nur das Entweder-Oder, ein „Zwischen“ ist ihr fremd. Würde man versuchen, einen ähnlichen Dreischritt auch für die diese Variante von Grenzübertretungen zu entwickeln, würden sich beide Modelle vor allem im dritten Punkt unterscheiden: Die Differenzierungen (Schritt 1), die durch die hegemoniale Kultur erfolgen und die eine soziokulturelle Ordnung definieren, bilden in beiden Überschreitungsmodellen die Ausgangslage. Die Transgression (Schritt 2) als Handlung, die liminale Zwischenräume erzeugt, in denen diese Ordnung ihre Gültigkeit verliert und die die Möglichkeit einer Umcodierung dieser Ordnung eröffnet, ist das Kernelement der beiden Konzepte. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch im Charakter dieser Umcodierung (Schritt 3). Das moderne Modell der Überschreitung nimmt im Wesentlichen eine Inversion der Differenz vor. Es privilegiert das von der Mehrheitskultur ausgegrenzte Außen und verleiht ihm dadurch eine neue Wertigkeit, die der hegemonialen Ordnung zuwiderläuft und die Arbitrarität ihrer Ausschlusskriterien offenlegt. Hybridisierungen funktionieren hingegen komplexer. Bei den auf das Hybride abzielenden Transgressionen kann es nicht darum gehen, einen Ort außerhalb der den gesellschaftlichen Normalisierungsprozessen unterworfenen Spielräumen von Identität und Erfahrung in einem authentischen Jenseits zu suchen – eben weil dieser ebenfalls als Entwurf verstanden wird. Vielmehr wird die Kategorie des Zwischen, die sich erst durch die gewaltsame Überschreitung (hier sei an den Unterschied zwischen Schwellen- und Grenzerfahrung erinnert) der Grenze eröffnet, als möglicher 83 | Audehm/Velten: a. a. O., S. 11.

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Ort des Widerstandes angesehen. Dieses hybride Zwischen ist nicht als jener liminale Übergangsraum zwischen zwei essenziellen Wahrheits-, Erfahrungs- und Identitätsbereichen zu verstehen, sondern als Sphäre, in der weder die Authentizitätsfiktionen und Normierungsmechanismen der dominanten Kultur noch die der vermeintlich authentischen Gegenkultur gelten. Hier können Elemente verschiedenster Diskurse miteinander verbunden werden und prozesshaft etwas Neues entstehen lassen, das in der Lage ist, alle soziokulturellen Normierungs- und Konformitätsansprüche zu unterlaufen. Waren die symbolischen Räume von „Diesseits“ und „Jenseits“ im alten Transgressionsmodell noch einer Fiktion von Reinheit unterworfen, entsteht mit dem Zwischen ein Raum, in dem es zu Verunreinigungen der widerstreitenden reinen Lehren welcher Provenienz auch immer kommen kann, die sich für Subversionen nutzen lassen. Gerade deshalb ist Hybridität als „eine Form der Transgression anzusehen […], eine kreative Kraft, die unterbricht, denaturalisiert und hegemoniale kulturelle Formationen potentiell zerlegt […]“ und dabei „binäre Oppositionen oder hierarchische Antithesen in Frage [stellt], indem sie die Grenzen zwischen den Bereichen verflüssigt bzw. völlig auf löst.“ 84 Gilles Deleuze und Felix Guattari, von deren Einfluss auf Ackers Denken noch zu reden sein wird, haben diese Überschreitungsstrategie in ihren Tausend Plateaus folgendermaßen beschrieben: „Die einzige Möglichkeit, aus den Dualismen herauszukommen, ist dazwischen sein, dazwischen hindurchgehen, Intermezzo[.]“85 Wenn die auf der liberalen Vorstellung individueller Autonomie beruhende Idee des authentischen Jenseits nur noch als weiterer Normierungsdiskurs verstanden wird, bleibt das „Zwischen“ im kulturellen Radikalismus die einzig verbleibende Widerstandsoption, weil es zumindest die Möglichkeit bietet, sich jeder Form von diskursiver Vereinnahmung zu entziehen. Somit bietet ein auf Hybridität abzielendes Transgressionsmodell einen Ausweg aus dem Dilemma des kulturellen Radikalismus – der Erkenntnis nämlich, dass auch die Gegendiskurse Teil jener allumfassenden kulturellen Ordnung sind, in der gesellschaftliche Macht zu verorten ist. Um die identitätspolitischen Implikationen dieses „hybriden Zwischen“ zu beschreiben, ist es hilfreich, einen Blick auf Homi K. Bhabhas Theorie des „dritten Raumes“ zu werfen, die er seinem Buch The Location of Culture (1994), geschult an Dekonstruktion und Poststrukturalismus, ursprünglich im Kontext der postkolonialistischen Literaturwissenschaft entwickelt hat. Löst man sie aber aus dem konkreten Zusammenhang dieses „ethnic postmodernism“ und abstrahiert ihre grundlegenden Aussagen, bietet sie ein für die Analyse von Kathy Ackers Werk äußerst brauchbares Modell für das Verständnis von Transgressionen im Hinblick auf individuelle und kollektive Identitäten in den an Überschreitungsoption angeblich so armen postmodernen Gesellschaften. Angesichts des Endes der großen Narrative, das sich seit den 1960er Jahren in den westlichen Ländern in einer zunehmenden Heterogenisierung der Gesellschaften 84 | Ebd., S. 17 und 31f. 85 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1982, S. 377.

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und später politisch im Ende des Kalten Krieges manifestierte, plädiert Bhabha dafür, Wege zu suchen, diese veränderten Realitäten im Hinblick auf ihre identitätspolitischen Auswirkungen theoretisch neu zu beschreiben. Solche Denkansätze sollten darauf abzielen, die alten essenziellen Binarismen, die auch für das Transgressionsverständnis der Moderne noch prägend waren, zu überwinden und sich grundsätzlich von der Idee der authentischen Subjektidentität zu verabschieden: What is theoretically innovative, and politically crucial, is the need to think beyond narratives of originality and initial subjec tivities and to focus on those moments or processes that are produced in the articulation of cultural differences. These ,in-between‘ spaces provide the terrain for elaborating s trategies of selfhood – singular or communal – that initiate new signs of identity, and innovative sites of collaboration, and contes tation, in the ac t of defining the idea of society itself. 86

Damit erteilt Bhabha der Vorstellung, soziale und kollektive Identitätsentwürfe könnten nur innerhalb eine dialektischen Struktur zwischen „Innen“ und „Außen“ bzw. „Diesseits“ und „Jenseits“ verhandelt werden, eine klare Absage, auch wenn er sich der historischen Bedeutung binärer Differenzen bei der Etablierung kultureller Ordnungen bewusst ist. Als Ort, an dem kulturell produzierte Identitäts- und Wahrheitskonstrukte sowie die daraus resultierenden sozialen Ordnungsmuster unterlaufen und reformuliert werden können, entwickelt Bhabha die Denkfigur eines „dritten Raumes“: „It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be approprioated, translated, rehistoricized and read anew.“87 Auch wenn Bhabha diese Metapher im Kontext postkolonialer Identitätsdebatten konzipiert hat, so kann sie doch als „Modell für kulturelle Vermischungen allgemein“ dienen, die sich „als Verunreinigung, als Kontamination, aber auch als Verundeutlichung und (subversive) Strategie des Mehrdeutig-Machens“ äußern können.88 Diese Ambivalenzen ermöglichen es, jene binären Denksysteme zu dekonstruieren, deren Ziel es ist, Fiktionen von Reinheit, Eindeutigkeit und Homogenität zu erzeugen und diese als wahrhaftig und natürlich zu fixieren. Im „dritten Raum“ lassen sich kulturelle Aussagen jenseits eindeutiger Differenzen verhandeln, weil etablierte Symbol- und Zeichensysteme ihre festgeschriebenen Bedeutungen verlieren und jenseits ihres ursprünglichen Kontexts neu kombiniert und performiert 86 | Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London und New York 1994, S. 1f. 87 | Ebd. S. 37. 88 | Vgl. Audehm/Velten: a. a. O., S. 33. Angesichts der positiven Konnotationen, die Bhabha der Hybridität im Kampf gegen Rassismus zuschreibt, erscheint es geradezu ironisch, dass dieses ursprünglich aus der Biologie s tammende Konzept als rassis tischer „Kampf begriff“ Eingang in die Kulturtheorie fand: „Der Begriff wurde […] im 18. und 19. Jahrhundert in die Rassentheorie übertragen und entwickelte sich hier zu einer kulturellen Metapher für das rassisch ,Unreine‘, das als krankhafte Abweichung angesehen und bekämpft wurde.“ (Ebd., S. 31).

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werden können. Während die moderne liberale Tradition der Überschreitung noch versucht, das „reine“ und bessere Andere zu erzeugen, gestattet Bhabhas Zwischenraum das Ineinanderlaufen verschiedener Diskurse und Repräsentationsformen. Er lässt somit jene Grauzonen zu, die die aristotelischen Entweder-Oder-Binarismen des westlichen Denkens zu eliminieren versuchten und verortet in der Ambivalenz des Hybriden den Schlüssel für alternatives politisches Handeln und kulturelle Innovation unter den Bedingungen der Postmoderne. Hier haben sämtliche Konzepte von Eindeutigkeit, mögen ihre Intentionen nun affirmativ oder subversiv sein, ihren Absolutheitsanspruch verloren: „My illustration attempts to display the importance of the hybrid moment of political change. Here the transformational value of change lies in the rearticulation, or translation, of elements that are neither the One […] nor the Other […] but something else besides [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] which contests the terms and territories of both.“89 Diese hybride, dritte und somit außerhalb aller Binarismen stehende Kategorie hat das Potential, kulturelle Symbolsysteme zu unterlaufen: „Hybridization […] produces new combinations and strange instabilities in a given semiotic system. It therefore generates the possibility of shifting the very terms of the system itself [Hervorhebung im Original – d. Verf.], by erasing and interrogating the relationships which constitute it.“90 Bhabhas Denkfigur lässt sich auf zahlreiche Kultur- und Identitätsdebatten anwenden. Konflikte zwischen einer normativ konstruierten Mehrheitsgesellschaft und devianten Individuen oder Gruppen gibt es in jedem Gemeinwesen. Daher kann der „dritte Raum“ allgemein gesprochen als die Sphäre verstanden werden, in der die Konflikte zwischen Hegemonie und Marginalität, zwischen Zentrum und Rand, zwischen Innen und Außen, zwischen Konformität und Abweichung vor dem Hintergrund einer postmodernen Heterogenität ausgetragen werden. Anhand dieser Metapher lassen sich alle Optionen hybrider Identitätsfindungsprozesse diskutieren, die sich entlang der klassisch gewordenen, diskursiv-performativ produzierten Identitätskategorien „race“, „class“ und „gender“, sowie an den zahlreichen Subdifferenzierungen, die die Kulturwissenschaften mittlerweile innerhalb dieser Begriffsfelder vorgenommen haben, orientieren. Der „dritte Raum“ ist als liminaler Zwischenraum zu denken, aber er ist nicht zwangsläufig mit dem Phänomen der Transgression verbunden. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit ist es wichtig zu betonen, dass der liminale Status der postkolonialen Literatur und der darin behandelten Identitäts- und Kulturentwürfe, an der Bhabha sein Konzept entwickelt, die Folge einer realpolitischen bzw. historischen Situation ist: Der rassistischen Ideologie, die die Grundlage für den Kolonialismus bildete, sowie der aus dessen Ende resultierenden Identitätsproblematik, der sich sowohl die ehemaligen Kolonialisten wie die Kolonisierten in einer zunehmend globalisierten und interkulturell vernetzten Welt ausgesetzt sehen. Die Literatur, die Bhabha als Referenzpunkt dient, ist vor dem Hintergrund dieser gegebenen historischen Umstände entstanden. 89 | Bhabha: a. a. O., S. 28. 90 | Peter Stallybrass/Allon White: The Politics and Poetics of Transgression, London 1986, S. 58.

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Wenn ich hingegen im Folgenden bei meiner Analyse von Kathy Ackers Romanen von Liminalität spreche, so meine ich jene Form, die erst durch Akte der Transgression, also durch die gewaltsame Übertretung von Norm- und Konventionsgrenzen aktiv erzeugt werden. Die Identitätszuschreibungen, die dort behandelt werden, basieren (meist) nicht auf rassistischen bzw. nationalistischen Stereotypen, sondern in erster Linie auf Rollenbildern innerhalb der westlichen bürgerlichen Gesellschaften, deren Wirkmächtigkeit sich im Zuge der postmodernen Wende deutlich verändert hat. Wie auch die von Bhabha beschriebenen rassistischen Diskurse, haben diese Identitätskonzepte vor dem Hintergrund der „postmodern condition“ nicht aufgehört, politisch und kulturell zu wirken, doch durch die Umformungsprozesse seit den 1960er Jahren ist – wie auch ihren Gegenmodellen gemäß des modernen Transgressionsverständnisses – ihr Wahrhaftigkeitscharakter zunehmend unter Druck geraten. In diesem Zusammenhang ist evident, dass der liminale Raum, den Acker in ihrer Literatur auf inhaltlicher und ästhetischer Ebene eröffnet, nicht jener der liberalen Transgression ist, der die Loslösung von diskursiv produzierten Formen von Subjektivität und den Übergang zu einer alternativen essenziellen Alterität ermöglicht. Vielmehr greift sie – wie im Verlauf der vorliegenden Studie zu zeigen sein wird – als verbleibende Widerstandsoption das dynamische und fluktuierende „Zwischen“ des „dritten Raumes“ auf, in dem sich das Individuum den Interpellativ- und Normativkräften von Kultur und Gesellschaft entziehen und deren Zuschreibungen neu verhandeln kann. Nur sind diese Reformulierungen von Identität weder stabil noch im ontologischen Sinne authentisch, sondern müssen prozesshaft immer wieder neu performiert werden. Das „betwixt and between“, das Turner als typisch für die Liminalität der Passage ausgemacht hat, wird hier permanent. So können diese Identitätsentwürfe im „dritten Raum“ noch subversiv sein, weil sie sich in ihre Flüchtigkeit und Prozesshaftigkeit jedweder Form von Arretierung sowohl durch hegemoniale als auch durch gegenkulturelle Diskurse entziehen, die immer auf die eine oder andere Art normativ wirken. In der Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit des „Zwischen“ unterscheiden sich die auf Hybridität abzielenden Formen der Transgression von den humanistisch-modernen, deren subversive Intention auf oppositionelle Eindeutigkeit gerichtet ist. Nicht im Überschreiten von Grenzen findet der Widerstand statt, sondern im Tanzen auf ihnen. Somit erschöpft sich Subversion nicht mehr ausschließlich in der Ablehnung der hegemonialen symbolischen Ordnung zugunsten eines positiv konnotierten, aber stabilen und essenziellen „Anderen“, sondern in einer Verwirrung der Eindeutigkeit kultureller Zeichensysteme und der darauf begründeten politischen und gesellschaftlichen Ordnungen. Die Hybridisierung ist eine Gegenform des mit sich selbs t Identischen, des Reinen, des Essenziellen, […] eine Form der performativen Hers tellung von Identität, die sich bes tändig eindeutigen Zuweisungen ent zieht. Diese Identität kons titu-

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN iert sich nicht mehr als Abgrenzung vom Anderen, sondern in seiner produktiven Aneignung bzw. mimetischen Angleichung an dieses Andere. 91

Transgression ist also vor dem Hintergrund des kulturellen Radikalismus nicht einfach ein Akt der Negation bzw. Inversion von Konventionen, Werten und Strukturen der hegemonialen gesellschaftlichen Diskurse, sondern ein permanentes Infragestellen dieser Symbolsysteme und ein kreatives und produktives Appropriieren ihrer Aussagen und Zeichen, etwa in Form von Bricolage (Lévi-Strauss) oder Parodie (Butler). Durch die Aufnahme und Neukombination werden Elemente, die ursprünglich den beiden Polen der binären Ordnung zugewiesen sind, in performativen Praktiken in neue Kontexte gesetzt und umsemantisiert. Dadurch wird die Differenz von Diesseits und Jenseits, von Innen und Außen, von Zentrum und Peripherie etc. durchlässig gemacht. Die Grenzen, die diese Unterscheidungen produziert haben, werden als arbiträr entlarvt, büßen an Autorität ein und verlieren ihre Definitionshoheit über den kulturellen und damit auch den politischen Raum. Transgression bedeutet nun nicht mehr den Übergang in eine Utopie des authentischen Außen, sondern Vermischung von Elementen denaturalisierter Konzepte von – um wieder zur Frage der Subjektivität zurückzukehren – „falsch“ und „richtig“. Da Grenzziehungsakte ebenso wie Transgressionen als performativ zu verstehen sind, sind die im durch die Überschreitung eröffneten „dritten Raum“ entstandenen Hybridisierungen ebenfalls nicht stabil und prinzipiell jederzeit veränderbar. Anders als die Kategorien im binären System können sie ob ihres Charakters als Vermischungen keine Fiktion von Reinheit, Stabilität und Essentialität auf bauen. Sie müssen permanent neu ausgehandelt werden. Abschließend scheint es mir hier wichtig zu betonen, dass eine performative Neuverhandlung von Identitäten durch Vermischung von Elementen verschiedener Zuschreibungen nicht heißen soll, man könne sich seine Identität nach Belieben aus einzelnen Bausteinen zusammenbauen. Natürlich bleiben auch postmoderne Hybrididentitäten an einen Möglichkeitsrahmen gebunden der durch kulturelle Strukturen, ökonomische Bedingungen oder individualpsychologische Prägungen definiert wird. Postmoderne Identitätspolitik heißt, zu versuchen, in diesem kontingenten Umfeld die Hoheit über die Diskurse des Selbst zu gewinnen.

91 | Audehm/Velten: a. a. O., S. 34.

Wider die Grenze zwischen Kuns t und Leben – Avantgardekuns t als transgressive Kuns t

TRANSGRESSION UND A VANTGARDE Kathy Ackers Romane stehen in einer langen Ahnenreihe avantgardistischer Literatur. Durch ihre Themenwahl, ihr ästhetisches Repertoire, den Bezug auf ihre unmittelbaren literarischen Vorbilder und die subversive Grundhaltung ihres Schreibens setzt sie eine Tradition fort, die über die gegenkulturellen Bewegungen der 1960er Jahre, die klassischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, die Bohème, den Symbolismus, die Romantik bis hin zu Sade zurückreicht. Diese Verwandtschaft ist eine Wahlverwandtschaft. Acker hat sich selbst dezidiert in diese Traditionslinie gestellt und betont ihre Bewunderung für Burroughs […] and the other writers I think of as in ,that tradition,‘ ,the other tradition,‘ ,the nonacceptable literary tradition,‘ ,the tradition of those books which were hated when they were written and subsequently became literary his tory,‘ ,the black tradition,‘ ,the tradition of political writing as opposed to propaganda‘ (de Sade would head this lis t)[.] 1

Beim Blick auf diese Linie fällt auf, dass viele der Autoren dieser Tradition mit den Etiketten „transgressiv“ und „avantgardistisch“ versehen wurden, als wären diese Begriffe bedeutungsidentisch. Um der Gefahr der pauschalen Gleichsetzung zweier eng verwandter, aber nicht synonymer Diskurse zu entgehen, ist eine Präzisierung notwendig: Avantgardekunst ist eine Form von Transgression. Sie verfolgt, wie zu zeigen sein wird, ein transgressives Projekt und sie bedient sich dabei transgressiver Mittel. Somit ist Avantgarde Grenzgang, ein Wandeln auf und über Grenzen. Jede avantgardistische Geste kann als transgressiv bezeichnet werden, aber nicht jede transgressive Geste ist im Umkehrschluss avantgardistisch. 1 | Kathy Acker: „A Few Notes on Two of My Books”, in: Review of Contemporary Fic tion, 9:3 (1989: Fall), S. 31–36, hier: S. 31.

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Angesichts der großen Schnittmenge zwischen diesen beiden Formen kultureller Praxis ist es unumgänglich, zunächst die grenzüberschreitenden Funktionen der Avantgarde in der Moderne (im Sinne der mit der Auf klärung beginnenden geistesgeschichtlichen Epoche) näher zu betrachten. Anschließend wird zu klären sein, was es eigentlich heißt, seit den 1970er und 80er Jahren, also in der Entstehungszeit der hier untersuchten Romane, nach dem oft verkündeten Scheitern der klassischen Avantgarden, dem Übergang vom politischen zum kulturellen Radikalismus (den man sich nicht als homogene Strömung, sondern als hochgradig polymorphes Phänomen vorstellen muss) und dem Durchbruch des postmodernen Paradigmas in der Kunstund Literaturproduktion, Avantgardist zu sein. Untrennbar damit ist die Frage verbunden, welche Rolle der Bereich des Ästhetischen für die transgressiven Funktionen der Avantgardekunst einnimmt. Um die überschreitenden Dimensionen avantgardistischer Kunst zu verstehen, erscheint es mir hilfreich, einige zentrale Argumente aus Peter Bürgers immer noch höchst einflussreicher Theorie der Avantgarde als Ausgangspunkt zu nehmen. Die Tatsache, dass viele Abhandlungen zu diesem Thema dieses bereits 1974 erschienene Werk, trotz der kritischen Debatten, die um seine Grundthesen geführt wurden,2 bis zum heutigen Tag als zentralen Referenzpunkt verwenden, zeigt seine nachhaltige Bedeutung als Stichwortgeber auch für die aktuelle Diskussion der sogenannten postmodernen Avantgarden. Die vorliegende Studie bildet hier keine Ausnahme, auch wenn ich mir der durchaus vorhandenen Schwächen von Bürgers Buch – etwa der äußerst selektiven Fokussierung auf einige wenige modernistische Strömungen unter Auslassung vorangegangener Avantgarden – bewusst bin. Seine Referenzpunkte sind die Avantgarden der Hochmoderne und er entwickelt seine These vor deren spezifischem historischen und kulturellen Kontext. Schon seine Ausführungen zu den von ihm so bezeichneten Neoavantgarden der 1950er und 60er Jahren zeigen, dass sein Argument gerade im Hinblick auf die Frage nach radikaler Kunst unter den Bedingungen der Postmoderne einer Weiterentwicklung bedarf, auf die ich ebenfalls in diesem Kapitel eingehen werde. Da sich eine solche Entwicklung allerdings nicht ohne ihr Fundament verstehen lässt, möchte ich im Folgenden kurz Bürgers Kernthesen zur Funktion und Ästhetik der autonomen Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer (intendierten) Überwindung durch die Avantgarden beleuchten. Ich werde ausdrücklich nicht versuchen, die wechselvolle Geschichte des Avantgardebegriffs nachzuzeichnen, da ein solcher historischer Gesamtüberblick einerseits für meine Untersuchung nicht notwendig ist und andererseits von Karlheinz Barck und Till R. Kuhnle in zwei sich gut ergänzenden Artikeln bereits unternommen wurde.3 2 | Zu den Schwächen von Bürgers Theorie vgl: W. Martin Lüdke (Hg.): „Theorie der Avantgarde“. Antworten auf Peter Bürgers Bes timmung von Kuns t und bürgerlicher Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976; Richard Murphy: Theorizing the Avant-Garde. Modernism, Expressionism, and the Problem of Pos tmodernity, Cambridge 1998, S. 26–48. 3 | Karlheinz Barck: „Avantgarde“, in: ders. (Hg.): Äs thetische Grundbegriffe. His torisches Wörterbuch, Bd. 1, Stuttgart und Weimar 2000, S. 544–577; Till R. Kuhnle: „Die permanente Revolution der Tradition – oder

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Was Bürgers von der Kritischen Theorie inspirierte und vor dem Hintergrund einer sich nach der 68er-Bewegung etablierenden „kritischen Literaturwissenschaft“ entwickelte Analyse in ihrem Kern immer noch relevant macht, ist die Tatsache, dass sie am pointiertesten formuliert, dass avantgardistische Kunst auf zwei Ebenen ein transgressives Projekt verfolgt – auch wenn Bürger den Begriff nicht verwendet. Zum einen betreibt die Avantgarde eine ästhetische Entgrenzung der Künste, ihrer Werkkategorien, ihrer (Re)präsentationsmodi sowie ihrer Vorstellungen von Autorschaft und von der Integralität des Kunstwerks. Damit eng verbunden ist die zweite, über den Bereich der Kunst hinausreichende gesellschaftspolitische Ebene, die auf die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben abzielt und sich dadurch kritisch mit den Normativkräften der modernen Gesellschaftsordnung auseinandersetzt. Auf diesen Aspekt möchte ich meinen Blick zuerst richten.

D IE A UF HEBUNG DER G RENZE ZWISCHEN K UNS T UND L EBEN Bürgers Argument zufolge zielen die von ihm so genannten „historischen Avantgarden“4 darauf ab, die Grenzlinie zwischen der ästhetischen Sphäre der Kunst und der lebensweltlichen des Alltags zu durchbrechen. Die Trennung dieser beiden Diskurse entwickelte sich während des 18. Jahrhunderts im Zuge von Auf klärung und Frühmoderne und dem damit einhergehenden Aufstieg des Bürgertums zur tragenden Schicht der gesellschaftlichen Ordnung.5 Dahinter stand die Vorstellung, die Kunst könne und solle aus ihren bisherigen religiösen (Sakralkunst) und politischen (höfische oder repräsentative Kunst) Funktionszusammenhängen herausgelöst und zu einer idealisierten, der Welt entrückten Sphäre der Bildung und Vervollkommnung des Menschen werden. Die Kunst hatte frei von religiösen, politischen und ökonomischen Interessen (nicht Inhalten!), also autonom von der Zweckrationalität der Moderne zu sein und hehren Idealen wie der Beförderung der Humanität zu dienen, was nur sie eben wegen ihres „interesselosen“ autonomen Status leisten könne. Bürger wird nicht müde zu betonen, dass der Begriff der „autonomen Kunst“ nur den Status der Kunst innerhalb der Gesellschaft beschreibt, dabei aber keinerlei die Wiederaufers tehung der Kuns t aus dem Geis t der Avantgarde?“, in: Hans Vilmar Geppert/Hubert Zapf (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. 2, Tübingen 2005, S. 95–133. 4 | Er bezieht sich vor allem auf Dadaismus, Surrealismus, Futurismus, Expressionismus, sowie die pos trevolutionären sowjetischen Avantgardebewegungen. Den von ihm so genannten Neoavantgarden seit den 1950er Jahren (z. B. der Fluxus-Bewegung oder der Situationis tischen Internationalen) spricht er ihr avantgardis tisches Potential aus verschiedenen Gründen ab. Vgl. dazu: Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, FN 4, S. 44f. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt dieser Arbeit ausführen, warum ich diese Auf fassung nicht teile. 5 | Die im Folgenden nachgezeichnete Zusammenfassung der Entwicklung des Autonomiebegriffs der Kuns t in der bürgerlichen Gesellschaft s tüt zt sich auf: Erika Fischer-Lichte: „Grenze oder Schwelle? Zum Verhältnis von Kuns t und Leben“, in: Sprache und Literatur, 36. Jahrgang, 2005 1. Halbjahr, S. 3–14, besonders S. 3–5; sowie Bürger: a. a. O., S. 57–63.

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Aussagen über deren Inhalte macht. In der Tat ist Autonomie hier nicht mit Freiheit gleichzusetzen und schon gar nicht als Freiheit der Wahl der behandelten Themen und verwendeten Ausdrucksmittel misszuverstehen. Fischer-Lichte hat zurecht darauf hingewiesen, dass die inhaltlichen und ästhetischen Aspekte von Kunstwerken in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft auch innerhalb des Systems der autonomen Kunst von einem Heer von Kritikern, Theoretikern, Administratoren, Zensoren und Agenten kontrolliert wurde (und in modifizierten Formen immer noch wird), das darüber wacht(e), „dass sich die Kunst in ihrem Wahrheits- und Totalitätsanspruch nicht dadurch beschmutzte, dass sie sich auf Partielles richtete und sich in Angelegenheiten der Politik, der Religion, der öffentlichen Moral einmischte.“6 Dieses Autonomieideal bildet die ideologische Grundlage für das, was Bürger als die „Institution Kunst“ bezeichnet. In ihr manifestieren sich eine bestimmte Vorstellung von Kunst als ästhetischem Konzept in Verbindung mit einer bestimmten Struktur von materiellen Produktions- und Distributionsbedingungen, die in ihrer Summe die Modi der Herstellung und Rezeption von Kunst definieren.7 Durch diese Institutionalisierung wurden seit der Auf klärung die Bereiche der Kunstproduktion und -rezeption auf der einen, und der Alltags- und Lebenswirklichkeit auf der anderen Seite – zumindest dem Ideal nach – radikal von einander getrennt. Darin spiegelt sich die mit der auf kommenden Moderne und der Entstehung des Bürgertums einhergehende Individualisierung der Gesellschaft. Parallel zur Entwicklung des autonomen Kunstbegriffs entwickelte sich auch die Idee des autonomen Individuums zu einer der tragenden Säulen der bürgerlichen Ideologie, was eine Veränderung künstlerischer Produktions- und Rezeptionspraktiken mit sich brachte. Im Gegensatz zur Sakralkunst, die kollektiv-handwerklich geschaffen und im Rahmen religiöser Kulthandlungen auch in Gemeinschaft erfahren wurde und zur höfischen Kunst, die zwar schon den individuellen Künstler kannte, deren Rezeptionsformen aber auch kollektiv waren, erscheint die bürgerliche Kunst in jeder Hinsicht individualisiert: „Nicht nur die Produktion, auch die Rezeption wird jetzt individuell vollzogen. Einsame Versenkung in das Werk ist der adäquate Modus der Aneignung von Gebilden, die der Lebenspraxis des Bürgers entrückt sind, wenngleich sie noch den Anspruch erheben, diese zu deuten.“8 Diese scheinbar paradoxe Verquickung von Lebensentrücktheit und einem gleichzeitigen Deutungsanspruch des Lebens zeigt die Janusköpfigkeit der Funktion von ästhetischer Erfahrung innerhalb der bürgerlichen Ordnung auf: Einerseits ist sie durch den zitierten Deutungsanspruch mit der Lebenswelt verbunden und sogar in der Lage, Ort kritischer Reflexion über die Gesellschaft zu sein. Andererseits ist sie 6 | Fischer-Lichte: „Grenze oder Schwelle?“, a. a. O., S. 3. Die in der Einleitung zitierte Entscheidung der Bundesprüfs telle für jugendgefährdende Schriften zu Ackers Harte Mädchen weinen nicht belegt, dass diese „altbürgerlichen Autoritäten“ auch nach der pos tmodernen Wende teilweise bis heute exis tieren und funktionieren, auch wenn ihre Wirkungsmacht geringer sein mag. 7 | Vgl. Bürger: a. a. O., S. 29. 8 | Ebd., S. 65.

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dabei aber von der realen Praxis des Lebens abgekapselt. Sie entführt den Rezipienten zwar, wie Hans Robert Jauß schreibt, „in andere Welten der Phantasie und hebt damit den Zwang der Zeit in der Zeit auf; sie greift vor auf zukünftige Erfahrung und öffnet damit den Spielraum möglichen Handelns“9, doch bleiben diese Alternativen stets auf der Ebene des Imaginären und werden aufgrund des Autonomiestatus’ der Kunst nicht in tatsächliche Handlung übersetzt. Die autonome Kunst wird so, um es mit Habermas zu sagen, zum „Reservat für eine, sei es auch nur virtuelle Befriedigung jener Bedürfnisse, die im materiellen Lebensprozess der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam illegal werden[.]“10 Sie entwirft das Bild einer besseren Ordnung, insofern protes tiert sie gegen das schlechte Bes tehende. Aber indem sie das Bild einer besseren Ordnung im Schein der Fiktion verwirklicht, entlas tet sie die bes tehende Gesellschaft vom Druck der auf Veränderung gerichteten Kräfte. Diese werden in einem idealen Bereich gebunden.11

Das Potential für tatsächliche Veränderungen oder Verbesserungen gesellschaftlicher Strukturen oder individueller und kollektiver Lebensbedingungen ist dem bürgerlichen Ideal nach der Sphäre der politischen Betätigung zugeschlagen. Radikales Handeln wird hier immer als politisch radikales Handeln verstanden, manifestiert in Institutionen, Administrationen, Parteien, Bewegungen etc., während das Kulturelle vor allem als „potential realm of creativity“12 wahrgenommen wird, der in erster Linie das Ausleben von Alterität auf der Ebene der ästhetischen Erfahrung ermöglicht. Das wesentliche Ziel der klassischen Avantgarden war es, so der immer noch valide Kern von Bürgers Argument, diese ideologisch gezogene Grenze zwischen den Sphären der Kunst und des Lebens einzureißen und somit den Schritt von politisch radikalem Handeln zu kulturell radikalem Handeln zu unternehmen. Der Versuch, die Trennlinie von Kunst- und Lebenspraxis zu überschreiten, verleiht jeder avantgardistischen Geste zunächst unabhängig von Form und Inhalt transgressiven Charakter. Dem liegt die Ansicht zu Grunde, dass das subversive und emanzipatorische Potential künstlerischer Produktion und Rezeption eine tatsächliche Wirkung in der Gesellschaft entfalten könnte, wenn es gelänge, sie aus ihrer Einkapselung im Autonomiestatus und aus den Strukturen der „Institution Kunst“ zu befreien. Solange alternative Handlungen, Erfahrungen, Meinungen, Wahrheiten oder Identitätsentwürfe nur auf der Ebene der ästhetischen Erfahrung ausgelebt werden können, bleibt Kunst nichts weiter als ein Disziplinardiskurs der hegemonialen Ideologie, der eben dadurch, dass er das „Andere“, das die bürgerliche Ideologie aus der Lebenspraxis 9 | Hans Robert Jauß: Äs thetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1982, S. 40. 10 | Jürgen Habermas: „Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins“, in: Siegfried Unseld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt am Main 1972, S. 173–223, hier: S. 192. 11 | Bürger: a. a. O., S. 68. 12 | Fluck: „Literature, Liberalism, and the Current Cultural Radicalism“, a. a. O., S. 215.

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ausgegrenzt hat, auf der imaginären Ebene bindet, eine Art Ventilfunktion ausübt und so die herrschende bürgerliche Ordnung stabilisiert. So ist die Autonomie der Kunst lediglich als Scheinunabhängigkeit zu verstehen, die, wie Habermas es formuliert, „den Glücksanspruch der Individuen nur im Bereich der Fiktion gelten lässt und die Glücklosigkeit der täglichen Realität verschleiert[.]“13 Die „autonome“ Kunst war somit alles andere als interesselos, sondern hatte eine hochgradig affirmative Funktion für die bürgerliche Ordnung. Erst durch die Überwindung der Bindung des subversiven Potentials in der Kunst durch die avantgardistische Praxis kann auch das ausgeschlossene „Andere“ in Individuum und Gesellschaft wirksam werden. Den etablierten bürgerlichen Konstrukten von Individualität, Subjektivität und sozialer Struktur werden durch die avantgardistische Geste Alternativen gegenübergestellt, die nun auch in das reale Leben übersetzt werden sollten. Das zentrale Anliegen der Avantgardisten war, so Bürger, „die ästhetische (der Lebenspraxis opponierende) Erfahrung, […] ins Praktische zu wenden. Das, was der zweckrationalen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft am meisten widerstreitet, soll zum Organisationsprinzip des Daseins gemacht werden.“14 Die Zweckrationalität ist das Grundnarrativ der bürgerlichen Ordnung. Sie wurde vor dem Hintergrund von Auf klärung, Vernunft- und Fortschrittsglauben und Kapitalismus zum Hauptparadigma der Moderne und manifestierte sich in zahlreichen Einzeldiskursen, von denen hier nur einige exemplarisch genannt werden sollen: der Wettbewerb des ökonomischen Marktes, die Biopolitik (im foucaultschen Sinne), das Konzept der Nation (als die zentrale politische Einheit des modernen Industriezeitalters), oder die Kriminalisierung und Pathologisierung von all jenen Verhaltensweisen, die das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft zu stören drohen. Die Avantgarden stellten sich solchen normativen Diskursen durch alternative Formen in der Kunstproduktion und Lebenspraxis entgegen. Sie versuchten, sich dem kapitalistischen Arbeits- und Konsumzwang durch die Freiheiten des Lebensstils der Bohème zu entziehen, propagierten die Libertinage jenseits der reproduktionsorientierten und moralisch überladenen bürgerlichen Ehe, wandten sich als Internationalisten gegen nationalstaatliche Grenzen und zeigen sich fasziniert von den verbotenen Sphären des Wahnsinns und des Verbrechens, beides Kategorien, die zur Kontrolle von deviantem Verhalten durch die Mehrheitsgesellschaft etabliert wurden. Dies sind nur einige ausgewählte Beispiele, die für die zahlreichen und vielgestaltigen Strategien stehen, von denen sich die Avantgardisten Zugang zu jenem „Glück einer kommunikativen Erfahrung, die den Imperativen der Zweckrationalität enthoben ist und der Phantasie ebenso Spielraum lässt wie der Spontaneität des Verhaltens“15 erhofften, das ihnen durch die strikten Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft verstellt war. Zwar stand auch die autonome bürgerliche Kunst ihrem Ideal nach außerhalb der zweckrationalen Verwertungslogik, in ihrer affirmativen Funktion aber erfüllte 13 | Habermas: a. a. O., S. 177. 14 | Bürger: a. a. O., S. 44. 15 | Habermas: a. a. O., S. 192f.

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sie sehr wohl einen „Zweck“ im Sinne der herrschenden Diskurse. Die neue avantgardistische Kunst sollte auch aus diesem funktionalen Zweckverhältnis befreit werden. Durch eine Neubewertung der Rolle von Kunst in der Gesellschaft, durch das Einbeziehen von Themen und Diskursen, die von der bürgerlichen Ordnung ausgegrenzt wurden und durch radikale ästhetische Experimente sollten die Tore zu neuen Formen von subjektiver Erfahrung aufgestoßen werden, die über die Veränderung der Rezipienten letztendlich die gegebenen Verhältnisse der Gesamtgesellschaft umformen, ja umstürzen sollten.16 In dieser Hinsicht ist der Begriff „Avantgarde“ durchaus als kultureller Kampf begriff zu verstehen, der nicht von ungefähr ursprünglich aus dem militärischen Kontext stammt. Ihre Vertreter haben erkannt, dass die Kultur das tragende Kontrollsystem der Gesellschaft ist, und sie versuchen, sich daraus mit den Mitteln der Kunst zu befreien. Man kann diese historischen Avantgarden als künstlerische Manifestation jenes Transgressionsmodells verstehen, das ich im vorangegangenen Kapitel als „modern“ bezeichnet habe. Ihrem Selbstverständnis nach erheben sie durch ihre dezidierte Selbstpositionierung außerhalb der Gesellschaft den Anspruch, jene für die bürgerliche Ordnung konstitutiven Grenzziehungsprozesse offenlegen zu können, die die bürgerliche Kunst trotz ihrer postulierten Autonomie ob ihrer affirmativen Funktion innerhalb des Systems nicht effektiv kritisieren kann. Mit ihrer Negation des Autonomiestatus der Kunst, greifen sie aus ihrer Sicht eine tragende Säule des Bürgertums an, die dazu beiträgt, in den Individuen ein gesellschaftlich aufoktroyiertes „falsches“ Bewusstsein zu stabilisieren, das jede Form der Abweichung durch ihre Ausgrenzungsmechanismen aus der Sphäre der Lebenspraxis verdrängt. Diese modernen Avantgarden unterscheiden sich, wie ich später noch ausführlicher darlegen werde, von den postmodernen dadurch, dass sie zwar umfassend kulturell radikal handeln, indem sie ihre Kämpfe nicht innerhalb politischer Institutionen, sondern auf den Feldern von Kunst und Leben ausfechten, gleichzeitig aber die Struktur des humanistisch modernen Transgressionsmodells nicht überwinden. Letztendlich bleiben sie in der binären Ordnung der etablierten Denkmuster gefangen. Denn durch die avantgardistische Kunst sollte der Charakter des „Falschen“ in der bürgerlichen Kultur entlarvt und ein Bewusstsein für das „authentische Andere“ geschaffen werden, das der Herrschaft der als beschränkend empfundenen Konventionen und Identitätsentwürfe der Mehrheitsgesellschaft entzogen ist. Wo dieser Ort der Befreiung zu finden sein soll, wird hingegen selten formuliert: „Allzuoft hören sich diese Manifeste [der modernistischen Avantgarden – d. Verf.] zugleich großspre16 | Murphy weis t zurecht darauf hin, dass diese die bei Bürger und Habermas überwiegend positive Bewertung der Auf hebung der bürgerlichen Kuns tautonomie auch ihre Schattenseiten haben kann: „One should consider too the various failures resulting from the abandonment of autonomy, such as the false reconciliations of art and life exemplified by the ,aes theticized politics‘ of fascism, by Soviet and socialis t realism, by the culture indus try and by the aes thetics of consumerism (,Warenäs thetik‘). In this light the advantages offered by autonomy (in terms of providing art with a degree of independence and critical dis tance) seem to outweigh the disadvantages.‘‘ (Murphy: a. a. O., S. 28.)

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cherisch und harmlos an, so als wäre es ihnen nur darum zu tun, bürgerliche Konventionen zu verscheuchen, die ohnehin nichts weiter als Gespenster sind.“17 Aber auch wenn die Avantgarden in ihrer Verweigerungshaltung nihilistisch erscheinen, streben sie doch gerade in ihrer Negativität (verstanden als Ablehnung alles bürgerlich Normativen) nach einer Utopie der Authentizität. Dass diese Sphäre nicht innerhalb der Bandbreite der politischen Ideologien positioniert wird, belegt, dass die avantgardistische Praxis als kulturell radikales Handeln zu verstehen ist, dem es nicht in erster Linie darum geht, konkrete Entwürfe für neue Ordnungen zu formulieren, sondern vielmehr, tradierte Bewusstseinsformen in Frage zu stellen, ihren Wahrhaftigkeitscharakter zu problematisieren und neue Erfahrungsräume jenseits einer als entfremdend verstandenen Moderne zu eröffnen. In gewisser Weise liegt diesem Unternehmen die geradezu humanistische Hoffnung zu Grunde, man könnte, wenn es gelänge, die gesamte kulturelle Prägung, die den Menschen formt, abzustreifen, seinem Wesen näher kommen. Bürger übergeht in seiner Avantgardetheorie, dass die von ihm ins Zentrum gerückten „Ismen“ der 1910er und 20er Jahre in einer langen Tradition transgressiver Kunst stehen, die seit der Auf klärung diese Utopie des authentischen „Anderen“ jenseits der zwangsrationalen Ordnung höchst unterschiedlich verortet hat. Auf dem Feld der Literatur stellt das Werk Sades, der oft als Avantgardist avant la lettre bezeichnet wird und auf den auch Acker immer wieder rekurriert, einen Anfangspunkt dar. Sein Versuch, in der Verbindung aus purer Vernunft und reinem Trieb der Natur des Menschen jenseits aller gesellschaftspolitischen und moralischen Zwänge näher zu kommen, wurde in einer Sprache unternommen, die „die alten Gesetze der Repräsentation außer Kraft gesetzt hat, sich von ihr abgewendet und dem Diskurs des ,Draußen‘ überlassen [hat.]“18 Dieses „Draußen“ als Ort unnormierter Erfahrung und Identität war auch der Fluchtpunkt zahlreicher nachfolgender Strömungen in der Kunst, die man – wenn man den Begriff breiter fasst als Bürger dies tut – als avantgardistisch bezeichnen kann: „Hölderlin fast zeitgleich mit Sade, danach Klossowski, Blanchot, Bataille und Roussel […]. Ihre Texte sind – darin Sades Unternehmen ganz verwandt – Ausdruck des Ausgeschlossenen, Ausdruck eines Erfahrungsbereichs, der hinter der Grenze liegt.“19 Eine Reihe von weiteren Beispielen lässte sich anführen: Die Romantiker suchten diese Sphäre in der radikalen Subjektivität emotionalen Empfindens. Während die Drogenkulturen in allen Epochen (angefangen bei Baudelaires Künstlichen Paradiesen bis zur „drug culture“ der 1960er Jahre) zu neuen Ufern des Bewusstseins auf brechen wollten, war für die Surrealisten das Unbewusste der Ort unnormierter Authentizität. 17 | Hans Magnus Enzensberger: „Aporien der Avantgarde“, in: ders.: Einzelheiten, Frankfurt am Main 1962, S. 290–315, hier: S. 304. 18 | Martina Meis ter: „Die Sprache, die nichts sagt und die nie schweigt. Literatur als Übertretung“, in: Eva Erdmann et al. (Hg.): Ethos der Modere – Foucaults Kritik der Auf klärung, Frankfurt am Main 1990, S. 235–259, hier: S. 247. 19 | Ebd.

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In jedem dieser zugegebenermaßen sehr selektiv ausgewählten Fälle wird das authentische „Andere“ dialektisch definiert, da sich die Avantgardisten unabhängig von ihrem konkreten ästhetischen und inhaltlichen Programm immer als Antithese zur hegemonialen bürgerlichen Diskursstruktur positionieren, ohne den binären Überbau dieser Struktur auf brechen zu können. Die klassische Avantgarde bleibt damit eng an jene Ordnung gebunden, die sie zu überwinden beabsichtigt und fungiert als „the political and revolutionary cutting-edge of the broader movement of modernism, from which it frequently appears to be trying with difficulty to free itself.“20 Diese Schwierigkeiten sind darin begründet, dass die Avantgarden letztendlich ein zentrales Grundnarrativ der Moderne fortschreiben. Sie verstehen ihr Tun als progressiv und repräsentieren somit eine Sonderform des modernen Auf klärungs- und Fortschrittsglaubens. Ihre Versuche, durch die Kunst die Welt zu verbessern und die Menschen aus dem entfremdenden Geflecht von Restriktion und Normierung in der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung zu lösen, erheben den Anspruch auf die Innovation des Gegebenen und die Emanzipation von den Fehlentwicklungen der Moderne. Doch anders als in der nicht-avantgardistischen modernistischen Kunst, die ihre gesellschaftsverändernden Intentionen auf dem Feld des politischen Engagements zu verwirklichen sucht, rücken die Avantgarden die ideologische Funktion der Ästhetik in den Mittelpunkt.

D IE A NTI -Ä S THETIK UND DER BEWUSS TMACHENDE S CHOCK Eine avantgardistisch-transgressive Politisierung des Funktionszusammenhangs von Kunst musste zwangsläufig eine entsprechende Politisierung der Ästhetik mit sich bringen. Dies galt für die bildenden Künste ebenso wie für Musik, Theater, Film und Literatur. Die althergebrachten Repräsentationsmodi der bürgerlichen Kunst wurden von den Avantgardisten als im Dienst der hegemonialen Ideologie stehend betrachtet und waren somit Teil der zu überwindenden Ordnung. Von dieser Art des künstlerischen Ausdrucks konnte nicht erwartet werden, bei den Rezipienten ein Bewusstsein ihrer eigenen Rolle als funktionierende Rädchen in einem zweckrational organisierten System hervorzurufen, das dem Einzelnen bestimmte Wissens-, Erfahrungs- und Handlungsoptionen vorenthält. Wenn die Avantgarden die bürgerliche Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern wollten, mussten sie auch in der Wahl ihrer künstlerischen Ausdrucksmittel radikal sein, um traditionelle Wahrnehmungsmuster im Rezipienten aufzubrechen und ihn so in die Lage zu versetzen, das Gegebene zu hinterfragen. Ihre Kunst verstanden sie als eine bewusste Absetzbewegung von etablierten Werkkategorien, Darstellungskonventionen und Themensetzungen sowie von konventionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionspraktiken – kurz von der Idee des „organischen Kunstwerks“: „The various component parts of the organic work form a rounded and continuous whole, and in imitating the appearance of a natural phenomenon or ,work of nature‘ the organic work covers up 20 | Murphy: a. a. O., S. 3.

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the traces of its own construction, producing artificially the appearance of the ,givenness‘ of nature.“21 Das organische Kunstwerk ist die ästhetische Manifestation der bürgerlichen Ideologie. In seiner Tendenz, seinen eigenen Konstruktionscharakter zu verschleiern und die eigenen Formen und Aussagen zu naturalisieren, ist es ein konstruiertes Artefakt, das, wie Murphy feststellt, im Wesentlichen die Funktion hat, einen „imaginary sense of social unity“ zu evozieren.22 Dabei gibt es eine Analogie zwischen der soziokulturellen Struktur der Gesellschaft und der Ästhetik ihrer Kunst. Die bürgerliche Moderne zielte auf eine möglichst umfassende Homogenität ab, die nicht integrierbare Formen von Differenz) aus den Mehrheitsdiskursen ausgrenzte, um die Fiktion eines organischen, „reinen“ Gemeinwesens zu erzeugen. Das Individuum erfährt seine Subjektivierung innerhalb dieses Systems, durch die es eine normative Matrix internalisiert, die definiert, wie diese homogene „Realität“ wahrgenommen werden soll. Murphy beschreibt dies als Konstruktion eines „smooth and efficient social imaginary [meine Hervorhebung – d. Verf.] capable of imposing a continuum of time, space and causality upon the fundamentally contingent and chaotic world of experience.“23 Somit ist dieses soziale Imaginäre – das als kulturelle Diskursformation weit über einen rein politischen Ideologiebegriff hinausgeht – gleichzeitig Grenze und Grenzzieher. Es konstituiert ein Gemeinwesen, gibt ihm Struktur nach innen und Identität nach außen. In seiner Innenwirkung definiert es die Wahrheiten, die in diesem Raum zu gelten haben und produziert die Individuen, die in ihm leben. Die bürgerliche Kunst reproduziert dieses soziale Imaginäre durch eine entsprechende „organische“ Ästhetik. Hierzu schreibt Bürger mit Blick auf Adorno: „Statt die Widersprüche der Gesellschaft der Gegenwart bloßzustellen, würde das organische Werk schon durch seine Form die Illusion einer heilen Welt befördern, mögen die explizit gemachten Inhalte auch etwas ganz anderes intendieren.“24 Es kommt zu einer Reduktion der Komplexität der Welt im Ästhetischen. Nicht umsonst war der Realismus in seinen verschiedenen Ausprägungen lange das vorherrschende ästhetische Ideal der bürgerlichen Kunst. Selbst Werke, die auf der inhaltlichen Ebene Kritik am Bestehenden übten, mussten dies innerhalb jener Symbolsysteme tun, die gemäß dem sozialen Imaginären der bürgerlichen Ideologie definierten, wie die Wirklichkeit auszusehen hatte. Wollte ein Werk als Kunst gelten, hatte es stilistisch den Vorstellungen dessen was „natürlich“, „organisch“ und „realistisch“ war zu entsprechen, damit der Rezipient eine Erfahrung machen konnte, die innerhalb seines Horizonts lag und ihm die Auseinandersetzung mit dem Inhalt auf einer Ebene der ästhetischen Erfahrung ermöglichte, die er verstehen konnte. Jede künstlerische Äußerung von Kritik hatte sich diesem Paradigma zu fügen und ihre Opposition durch Parteinahme und Engagement für eine bestimmte politische Richtung, Per21 | 22 | 23 | 24 |

Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 259f. Bürger: a. a. O., S. 120.

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son oder soziale Gruppe im Rahmen der Repräsentationsmodi des Realismus ausdrücken. Ungeachtet seines Inhalts musste das organische, bürgerliche Kunstwerk zuallererst Sinn machen. Um eine subversive Kraft zu entfalten, die auf das Leben wirken konnte, musste die transgressive Ästhetik des avantgardistischen Kunstwerks die im Dienst der herrschenden Ideologie stehende Sinnstruktur der Zeichen und Aussagen im organischen Kunstwerk zerstören: Diese Versagung von Sinn erfährt der Rezipient als Schock. Ihn intendiert der avantgardis tische Küns tler, weil er daran die Hoffnung knüpft, der Rezipient werde durch diesen Ent zug von Sinn auf die Fragwürdigkeit seiner eigenen Lebenspraxis und die Notwenigkeit, diese zu verändern, hingewiesen. Der Schock wird anges trebt als Stimulans einer Verhaltensänderung, er is t das Mittel, um äs thetische Immanenz zu durchbrechen und eine Veränderung der Lebenspraxis einzuleiten. 25

Hier ging es um nichts Geringeres als die gegebene Vorstellung von der Welt und ihrer Wahrnehmung zu erschüttern. Der Schock sollte den Rezipienten aus seinem falschen Bewusstsein reißen, ihm die Arbitrarität und Grenzen seiner eigenen Subjektivität und des ihn definierenden sozialen Imaginären verdeutlichen und ihn veranlassen, diese Fremdbestimmung zu seinem eigenen und letztendlich zum Wohle aller hinter sich zu lassen. Eine solche heilsame Schockwirkung suchte das avantgardistische Kunstwerk durch zwei Strategien zu erreichen, die untrennbar miteinander verflochten sind: durch eine transgressive Themenwahl auf der inhaltlichen und durch formales Experimentieren auf der ästhetischen Ebene. Die inhaltlichen Schocks beschworen die Avantgarden dadurch herauf, dass sie die Grenzen des Sagbaren und des sprichwörtlichen guten Geschmacks verletzten. In ihnen kehrt wieder, was aus den Diskursen der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft und ihrer Kunst als das „Andere“ verdrängt worden war: Unvernunft, Unmoral, Sexualität, das Abseitige, Groteske und Banale, liminale Bewusstseinszustände (Traum, Rausch, Ekstase), Außenseitertum (in Gestalt von Kriminellen, Prostituierten, Wahnsinnigen, Künstlern, Angehörigen ethnischer Minderheiten, Anhängern devianter Sexualpraktiken etc.), radikale Subjektivität usw. Die Konfrontation mit diesen Sphären des Abnormen, des Fremden, des Tabuisierten sollten beim Rezipienten therapeutische Wirkung haben, ihm die Willkürlichkeit und Begrenztheit des eigenen Erfahrungs- und Realitätshorizonts aufzeigen und ihm alternative Formen von Subjektivität vor Augen führen. Da derartige inhaltliche Transgressionen auch entsprechender ästhetischer Ausdrucksmittel bedurften, experimentierten die avantgardistischen Künstler mit Darstellungsformen, die sich radikal von den etablierten unterscheiden sollten. Dabei ging es nicht primär um den Skandal (auch wenn dieser zweifellos gesucht wurde), sondern um ein radikales Unterlaufen der affirmativen Funktion von Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft, an der auch historisch bedingte Innovationsschübe und 25 | Ebd., S. 108.

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sich verändernde künstlerische Moden im Grundsatz nichts änderten. Die bürgerliche Gesellschaft war niemals eine unveränderbare monolithische Struktur und somit selbstverständlich immer historischem Wandel unterworfen. Die Normativmacht der „Institution Kunst“, die festlegte, welche Ausdrucksmittel, Darstellungsformen und Stile den hehren ästhetischen Ansprüchen der „hohen“ (autonomen) Kunst genügten, erwies sich aber allen Entwicklungen gegenüber resistent. Sie definierte Werkkategorien und Genres, Stilrichtungen und Gattungsgrenzen und legte allgemein die Standards für das fest, was als „Kunst“ gelten konnte. Parallel zu diesen Kategorien wurden entlang der herrschenden bürgerlichen Werte jene Inhalte festgelegt, mit denen sich die Kunst beschäftigen durfte bzw. nicht zu beschäftigen hatte. Andere Formen kulturellen Ausdrucks, die den Ansprüchen der Hochkultur nicht entsprachen, wie etwa Volkskunst, Werke von „Wahnsinnigen“ oder später auch Produkte der Arbeiter- oder Massenkultur, wurden nicht nur wegen ihrer Anliegen und Inhalte, sondern auch mit dem Argument der formalen Trivialität aus diesem Diskurs ausgeschlossen. Da es das Ziel des ästhetischen Programms der bürgerlichen Kunst war, die Fiktion eines Ganzen in Form des „organischen Kunstwerks“ zu erzeugen und zu stützen, war das Auf brechen dieser scheinbar natürlichen Einheitlichkeit die logische Konsequenz der avantgardistischen ästhetischen Attacken. Das Fragmentarische und Gebrochene wurde zu ihrem zentralen Modus des Ausdrucks, ohne dabei die Idee der Einheit per se abzulehnen. Vielmehr wandte man sich, wie Bürger ausführt, gegen „einen bestimmten Typus von Einheit, den das organische Kunstwerk charakterisierenden Bezug von Teil und Ganzem.“26 Ein Ganzes – also auch ein avantgardistisches Kunstwerk – besteht immer aus einzelnen Teilen, etwa einzelnen Zeichen oder zu Sinneinheiten zusammengefassten Zeichenmengen. Doch im organischen Kunstwerk wird die Kombination der Teile durch die Fiktion einer sinnstiftenden, reduktionistischen und naturalisierten Einheit verborgen. Das avantgardistische Kunstwerk, wie Bürger es beschreibt, stellt hingegen seine Konstruiertheit dadurch offensiv zur Schau, dass es vorgefundenes Zeichenmaterial für alle Rezipienten sichtbar umcodiert. Damit nimmt es die poststrukturalistische Erkenntnis vorweg, dass es keine organisch gewachsene, „natürliche“ Form von kulturellen Aussagen gibt. Das Homogene der etablierten Sinnordnung ist ihm fremd. Lineare Strukturen, die in der bürgerlichen Ordnung nicht nur das konventionelle narrative Grundmuster in der Kunst, sondern auch für das Leben selbst sind (man denke nur an die Bruchlosigkeit der idealen bürgerlichen Biographie), werden aufgebrochen. Der avantgardistische Künstler kombiniert die Symbole und Zeichen, die er im kulturellen Raum vorfindet, radikal neu und nutzt sein ästhetisches Arsenal zur Sabotage des organischen und scheinnatürlichen sozialen Imaginären der bürgerlichen Kultur. Dadurch schafft er Bedeutungszusammenhänge, die jenseits des traditionellen Vernunftparadigmas liegen: „Wo der Klassiker im Material den Träger einer Bedeutung erkennt und achtet, sieht der Avantgardist darin nur das leere Zeichen, dem Bedeutung zu verleihen einzig er befähigt 26 | Ebd., S. 77.

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ist.“27 Durch seinen Collage- bzw. Montagecharakter präsentiert das avantgardistische Kunstwerk seine Artifizialität, was im Umkehrschluss die scheinbare Organizität des klassischen Kunstwerks in Frage stellt: „Through its de-aestheticized forms it produces a new aesthetics (or ,anti-aesthetics‘) of the ugly, the fragmentary and the chaotic in order to subvert precisely this illusory sense of mastery, artificial closure and aesthetic control which clings to the traditional, organic notion of form[.]“28 Eine solche, alle ästhetischen Konventionsgrenzen sprengende „Anti-Kunst“ bewegte sich weg vom Realismus hin zur Abstraktion, von der Idee des Schönen hin zum Porträt des Hässlichen, von der vollendeten harmonischen Form zum Chaos des Kleinteiligen, von der Kontinuität hin zum Zerrissenen und vom Reinen zum Vermischten. In allen Sparten der Kunst entstand eine Ästhetik der Zersplitterung (etwa in der Malerei des Kubismus), des intendierten Bedeutungsverlustes (z.B. in den dadaistischen Zufallsgedichten), der Abkehr von der Idee Urheberschaft durch den Künstler (etwa in der ready-made Kunst Duchamps) und der Spontaneität (z.B. in den surrealistischen Experimenten mit dem automatischen Schreiben), deren „kleinster gemeinsamer ästhetischer Nenner ein anti-mimetisches (oder anti-repräsentatives) Konzept der Abkehr von Formen eines darstellungsästhetischen Realismus war.“29 Im Zuge dieses ästhetischen Konzepts wurde auch die Idee des Kunstwerks als buchstäblich greif bares, materielles Artefakt umgestoßen. Im vorangegangenen Kapitel habe ich auf den performativen Aspekt der gesellschaftlichen Normativkräfte sowie der dagegen gerichteten Transgressionen hingewiesen. Gerade in modernistischen Avantgarden gewinnt dies eine besondere Bedeutung, haben diese doch in den verschiedenen Künsten „Performativierungsschübe“ herbeigeführt, „welche die Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstgattungen immer wieder überschritten, wenn nicht gar verwischt haben. An die Stelle des Kunstwerks sollte das Kunstereignis treten“30 Der symbolische Gehalt solcher Aktionen – ein Begriff, der in der Diskussion über performative (post)avantgardistische Kunst immer noch zentral ist – war es, „die Grenze zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Aufführungen, zwischen Kunst und Leben aufzuheben.“31 Also holten die Avantgarden den Kunstkonsum aus den privaten bürgerlichen Stuben in den öffentlichen Raum und erschlossen so neue Distributionswege außerhalb der Institution Kunst: Literatur wird nicht mehr nur individuell, sondern kollektiv im Rahmen von inszenierten Lesungen und Aufführungen rezipiert (hier seien Tristan Tzaras „Gedichtabende“ im Café Voltaire beispielhaft genannt), im Bereich der Bildenden Künste wird für die Avantgarde die zeitlich begrenzte Ausstellung das ideale Gegenmodell zum Ewigkeitsanspruch bürgerlicher Museen und privater Kunstsammlungen. Ohne dieses Heraustreten aus den 27 | Ebd., S. 95. 28 | Murphy: a. a. O., S. 36f. 29 | Barck. a. a. O., S. 559. 30 | Erika Fischer-Lichte: Äs thetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen und Basel 2001, S. 20f. 31 | Dies.: „Grenze oder Schwelle?“, a. a. O., S. 4.

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traditionellen Kontexten der bürgerlichen Kunstrezeption wäre der überschreitende Anspruch der Avantgarde in Leere gelaufen. Hier sei auf die im vorangegangenen Kapitel zitierte Aussage von Bettinger und Ebrecht verwiesen, wonach eine Grenzüberschreitung erst durch die skandalöse Wirkung in der Öffentlichkeit transgressiv wird. Die Liste solcher Skandaleffekte in der Geschichte der Avantgardekunst ist lang. Man denke an die verstörten Reaktionen des Publikums bei dadaistischen Aufführungen, die Tumulte bei den Uraufführungen der surrealistischen Filme von Dali und Buñuel oder an die teils heftigen ablehnenden Reaktionen von Seiten des Establishments auf die Armory Show von 1913 in New York, angesichts derer Theodore Roosevelt schrieb, die dort ausgestellten Werke seien eher in pathologischer denn in künstlerischer Hinsicht von Bedeutung.32 Der Grad der Radikalität, mit der die klassische avantgardistische Kunst die Hierarchie der Zeichen und vor allem der Aussagen der bürgerlichen Kunst zertrümmerte und neu kontextualisierte, mag je nach historischer Situation und Umgebung höchst unterschiedlich gewesen sein. Paradoxerweise können alle Strömungen trotz ihres anti-mimetischen Ansatzes den Anspruch erheben, der „Realität“ gerechter zu werden und gerade in ihrer Fragmentiertheit Wirklichkeitserfahrung authentischer wiederzugeben als die bürgerliche Kunst, deren Repräsentationsformen die Widersprüche und Brüche der Lebenswirklichkeit in das ordnende Korsett des Organischen pressen will. Alle Formen der Darstellung, die diese Begrenzungen sprengten, versprachen einen Zugang zu einem wie auch immer gearteten authentischen Außen. Die Überschreitung formaler Darstellungsregeln und -normen erfüllt in dieser Hinsicht dieselbe Funktion wie die von inhaltlichen. Durch sie soll beim Rezipienten, der an diese begrenzten Repräsentationsmodi der organischen bürgerlichen Ästhetik gewohnt ist, ein bewusstmachender Schock provoziert werden, der ihn dazu veranlasst, sich selbst und die Welt um sich herum zu hinterfragen. Die Schockwirkung öffnet jenen gewaltsam erkämpften liminalen Raum der Transgression: Die Sinnordnung des Etablierten erweist sich dort als ideologisch-kulturelles Konstrukt, die Normen der bestehenden Ordnung werden als willkürlich und die eigene Subjektivität als begrenzt entlarvt. Die Möglichkeit der Überschreitung der eignen Grenzen zu etwas Neuem, Unbekannten tut sich auf. Es ist nun am Rezipienten, den Schritt zu machen und Sinn jenseits des Vertrauten zu finden, sowohl im avantgardistischen Kunstwerk, das ihm seine Bedeutung nicht einfach „serviert“, als auch in der eigenen Lebenspraxis, die durch die schockinduzierte veränderte Wahrnehmung neu bewertet werden muss. Der innovative und emanzipatorische Anspruch des avantgardistischen Skandals trägt dabei immer ein schwer aufzulösendes Dilemma in sich. Die Empörung beim Rezipienten, so heftig sie auch sein mag, ist zwangsläufig nur von kurzer Dauer. Der Grund dafür liegt in einer simplen Wahrheit, die Bürger auf den Punkt gebracht hat: „Nichts verliert seine Wirkung schneller als der Schock, weil er seinem Wesen nach eine einmalige Erfahrung ist.“33 32 | Vgl. Milton W. Brown: The Story of the Armory Show, New York 1988, S. 145f. 33 | Bürger: a. a. O., S. 108.

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Was bedeutet diese Erkenntnis für das Projekt der historischen Avantgarden und vor allem für Kunst, die in ihrer Nachfolge den Anspruch erhebt, avantgardistisch zu sein, zumal unter den Bedingungen einer Postmoderne, in der angeblich alles erlaubt und somit nichts mehr schockierend ist?

„A NYTHING GOES?“ – D AS P ROBLEM DER A VANTGARDE VOR DEM H INTERGRUND DER P OS TMODERNE Die Bilanz des avantgardistischen Projekts – wenn man es wie Bürger als historisch begrenztes Unternehmen versteht – ist ambivalent. Misst man die klassischen Avantgarden an ihrem Anspruch, die „Institution Kunst“ zu zerstören und die von ihr aufrecht erhaltene Trennung von Kunst und Leben aufzulösen, gibt es durchaus Argumente, sie als gescheitert zu betrachten. Die „Institution Kunst“ hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits soweit etabliert, dass, wie Fischer-Lichte schreibt, „alle Attacken gegen sie und gegen die Autonomie von Kunst nicht nur ins Leere stießen, sondern ihr vielmehr integriert wurden.“34 Es dauerte in der Tat nur wenige Jahrzehnte bis die eigentlich als Anti-Kunst konzipierten Produkte der modernen Avantgardebewegungen in den systematischen Betrieb der Institution Kunst inkorporiert worden waren. Ihre Bilder und Skulpturen fanden Eingang in die bürgerlichen Sammlungen und Museen, ihre Filme in die Kinematheken und ihre Literatur ist zumindest in den Kreisen der professionellen Kritik und an den Universitäten längst kanonisch geworden. Aufgrund der Kurzlebigkeit des Schocks ist ihre Skandalwirkung schnell verflogen. Ihre der Intention nach subversive Ästhetik hat durch diese Vereinnahmung eine radikale Entpolitisierung erfahren. Ihre darstellerischen Mittel haben, wie Bürger es formuliert, selbst Kunstwerkstatus erlangt, so dass „mit ihrer Anwendung der Anspruch einer Erneuerung der Lebenspraxis legitimerweise nicht mehr verbunden werden [kann].“35 Was gemessen an den ursprünglichen avantgardistischen Intentionen vielleicht noch mehr für ein Scheitern spricht, ist die Tatsache, dass die experimentellen ästhetischen Ausdrucksmodi (Fragmentiertheit, Montage, Sinnverlust, kalkulierter Skandal etc.), die die scheinbar organische Sinnstruktur der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft angreifen sollten, heute geradezu stilbildend für die Ästhetik von Unterhaltungsindustrie und Werbung sind und damit vollständig von der zweckrationalen Verwertungslogik des Kapitalismus vereinnahmt wurden. Das einstmals Schockierende ging in den leicht konsumierbaren, banalen Zeichensystemen des Konsumalltags auf. Auf der anderen Seite waren die modernistischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts trotz dieser in gewisser Weise ernüchternden Bilanz auf dem Feld der Kunst keinesfalls wirkungslos. Sie haben das Verständnis von Kunst verändert, Normenstrukturen aufgebrochen, erstarrte darstellerische Konventionen überwunden, Wahrnehmungsmuster erschüttert und alternative Formen von Subjektivität (und 34 | Fischer-Lichte: „Grenze oder Schwelle?“, a. a. O., S. 4. 35 | Bürger: a. a. O., S. 80.

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deren Möglichkeit der kulturellen Repräsentation) aufgezeigt. Insofern erzielten sie durchaus innovative und emanzipatorische Effekte innerhalb der hochkomplexen Diskursstruktur der Gesellschaft, die ihren Intentionen entsprachen. Doch es ist ihnen weder gelungen, die Institution Kunst zu zerschlagen, noch hat sich die utopische Vision, das Individuum durch die Kunst aus dem normativen Machtgeflecht der bürgerlichen Ideologie zu befreien, verwirklichen lassen. Der Schritt in ein authentisches Außen hat nicht stattgefunden. Das oftmals konstatierte Scheitern der historischen Avantgarden kann somit als starkes Argument für jene Theorien gelesen werden, die der radikalen Machkritik des kulturellen Radikalismus verpflichtet sind und die Auffassung vertreten, eine sich radikal im „Außen“ positionierende Kunst sei nicht möglich, da in der Moderne die Kultur selbst zum Träger einer gesellschaftlichen Macht geworden ist, die die Möglichkeit von Dissidenz bereits einkalkuliert hat, um sich selbst zu legitimieren: „Bourgeois culture is not ,one-dimensional‘ but clearly two-dimensional, a dialectical system that relies on internal oppositions in order to sustain and advance itself. Modern culture can only progress by a kind of internalized violence; it must continually attack itself in order to survive and prosper.“36 Wieder zeigt sich das bereits beschriebene Paradox jeder transgressiven Praxis: die Möglichkeit, entgegen der eigenen revolutionären Absicht das Bestehende unfreiwillig zu affirmieren. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich grundlegende Fragen an die posthistorischen Avantgarde, also an jene Künstler und Bewegungen, die in ihrem konfrontativen antibürgerlichen Gestus eindeutig als Erben der früh- und hochmodernistischen Avantgardisten gelten können. Ist es ihnen noch möglich, ihren subversiven und transgressiven Anspruch zu verwirklichen? Bürger vertritt hier im Hinblick auf die von ihm so bezeichneten neoavantgardistischen Bewegungen der 1950er und 60er Jahr eine eindeutig ablehnende Position. Für ihn ist jede Form erfolgreicher avantgardistischer künstlerischer Betätigung nach dem Scheitern der Avantgardebewegungen der 1910er bis 1930er Jahre aussichtslos: „Die Neoavantgarde institutionalisiert die Avantgarde als Kunst [Hervorhebung im Original – d. Verf.] und negiert damit die genuin avantgardistischen Intentionen.“37 Selbst wenn die Künstler die ehrlichsten avantgardistischen Intentionen verfolgen, werden ihre Produkte nach Bürgers Argument dank der Integrationskräfte der „Institution Kunst“ immer „unabhängig von den Absichten ihrer Produzenten Werkcharakter annehmen.“38 Diese Einschätzung scheint mir etwas zu pessimistisch zu sein und zeigt die Sackgasse auf, in die sich Bürger durch seine sehr selektive Fokussierung auf die von ihm ausgewählten modernistischen „Ismen“ manövriert hat. Da er frühere Versuche, Kunst und Leben mit dem Ziel bewusstmachender Kritik an der dominanten Kultur zusammenzuführen in seinem engen Blickwinkel ignoriert und nachfolgende als bloße Zi36 | Paul Mann: The Theory-Death of the Avant-Garde, Bloomington und Indianapolis 1991, S. 11. 37 | Bürger: a. a. O., S. 80. 38 | Ebd.

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tate abtut, kapselt er die Möglichkeit avantgardistischen Handelns und Schaffens in der historischen Situation des frühen 20. Jahrhunderts ein und spricht ihm damit jede Tradition und jede Entwicklungsoption ab. Meiner Meinung nach ist es fruchtbarer, „Avantgarde“ angesichts der unbestreitbar vorhandenen Inkorporationskräfte der hegemonialen Kultur als immer wieder auftretendes temporäres und nicht wie Bürger als einmaliges historisches Phänomen zu verstehen. Ich stimme vollständig mit Barck überein, der schreibt: „Avantgarde meint keine Stilepoche […], sondern konnotiert militant ein Prinzip der Aktualisierung und der Selbstauf hebung in Permanenz [meine Hervorhebung – d. Verf.].“39 Eine ähnliche Position vertritt auch Umberto Eco, wenn er sagt, er verstehe Avantgarde als „metahistorische Kategorie“, die immer wieder aufs Neue „mit der Vergangenheit abrechnen, sie erledigen“ will.40 Jede Zeit hat ihre Avantgarden, die in ihrem spezifischen historischen Kontext versuchen, Kunst und Leben zu vereinigen, das zu ihrer Zeit Gegebene zu sprengen und Räume für alternative Identitäten und Erfahrungen zu öffnen. Dieses zentrale Charakteristikum der avantgardistischen Geste lässt sich schon in der Frühmoderne bei Sade verorten (der gerade deshalb auch eine zentrale Inspirationsfigur für die klassischen Avantgarden, besonders für den Surrealismus wurde41), es hört aber eben nicht mit den modernistischen „Ismen“ auf. Sicherlich greifen die „Neoavantgarden“ auf allen Feldern der Kunst die Traditionen der historischen Avantgarde auf und präsentieren somit nichts radikal Neues. Aber ist es nicht naiv, das von Kunst zu erwarten? Und bedeutet das zwangsläufig, dass die Avantgarde sich nur noch selbst zitiert, ohne gesellschaftspolitische Wirkung zu entfalten? Eine solche Betrachtung reduziert die Avantgarden auf einen einzigen Aspekt: „Mit den Konzepten ,Scheitern‘ und ,Wiederholung‘ wurde der Avantgardebegriff […] auf jene ursprüngliche Kategorie festgelegt, die von Seiten der Künstler selber von Anfang an unter Kritik gestellt wurde: auf ,Originalität‘“42. Eine solche auf das Originelle und auf Stilfragen verengte Betrachtungsweise verliert die politischen Implikationen des Avantgardebegriffs aus den Augen. Ich halte die ideologiekritischen und identitätspolitischen Funktionen von Avantgardekunst für die Beurteilung ihres transgressiven Potentials für relevanter als die formalästhetischen, obwohl die beiden Felder nicht vollständig voneinander zu 39 | Barck: a. a. O., S. 560. Laut Barck war dieses Vers tändnis schon für die Avantgarden nach dem 1. Weltkrieg kennzeichnend. 40 | Umberto Eco: Nachschrift zum ,Namen der Rose‘, München 1986, S. 77f. 41 | „The Surrealis ts – mos t notably Breton, Argon, Eluard, Char, and Peret – who celebrated Sade’s work did so with a double intent. There was an ac tivis t, even revolutionary, motivation aimed at overthrowing bourgeois mentality and culture (certainly derived from the Dadais t desire to ,épater le bourgeois‘ – hence the Surrealis ts’ thrill at the extremes of Sadean outrageousness). But there was also an aes thetic, psychological motivation, aimed at appropriating Sade’s thought as a singular precursor to Surrealism.“ (David B. Allison/Mark S. Roberts/Allen S. Weiss: „Introduc tion“, in: dies. (Hg.): Sade and the Narrative of Transgression, Cambridge 1995, S. 1–15, hier: S. 1f.) 42 | Barck: a. a. O., S. 573.

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trennen sind. Versteht man Avantgarde nicht als zeitliche Epoche, deren Formen und Aussagen zwangsläufig im Verlauf der Geschichte an Originalität verlieren müssen, sondern als permanentes Prinzip der Auf hebung herrschender kultureller und symbolischer Ordnungen mit künstlerischen Mitteln, lässt sich der Begriff immer wieder politisch aktualisieren. Er muss wesentlich über die Auseinandersetzung mit den hegemonialen Normativdiskursen seiner jeweiligen Zeit definiert werden. Verändern sich diese Diskursformationen, müssen die Avantgarden darauf eine Antwort finden und aus ihrer eigenen Tradition heraus neue Formen radikaler, kritischer Kunst entwickeln, selbst wenn diese nur für eine bestimmte Zeit ihr transgressives Potential entfalten können, ehe sie von der Mehrheitskultur vereinnahmt und historisiert werden. Es braucht eine, wie Kuhnle schreibt, „permanente Revolution der Avantgarde, welche sich als eine permanente Revolution der Tradition erweist.“43 Avantgardekunst ist daher immer zeitgebunden zu interpretieren und muss ihren absoluten, überhistorischen Befreiungsanspruch aufgeben, wenn sie relevant bleiben will. Aber auch wenn man den von Bürger und anderen vertretenen Interpretationsansatz des Scheiterns der Avantgarden aus den oben genannten Gründen ablehnt, kommt man nicht umhin, eine Krise des avantgardistischen Projekts festzustellen. Die entscheidende Zäsur ist hier meiner Meinung nach aber nicht das Scheitern der Ansprüche der avantgardistischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr der Durchbruch der Postmoderne als dominantem Kulturmodell und des kulturellen Radikalismus’ als Muster kritischer Theorie und Praxis, der in den 1980er Jahren zu verorten ist. Die postmoderne Wende hat die Bedingungen für Kunst, die radikal, experimentell und avantgardistisch sein will, grundlegend verändert. Die Avantgarden der Moderne (hier seien die vor den „Ismen“ des frühen 20. Jahrhunderts liegenden Formen mit eingeschlossen) haben stets versucht, die von ihnen abgelehnten Binarismen der hegemonialen Ordnung zu überwinden und basierten dabei selbst auf dem Dualismus von Unterdrückung und Befreiung bzw. von Entfremdung und Authentizität. Die veränderte Bedeutung von Binarismen in der Postmoderne macht diese alten avantgardistischen Strategien obsolet, weil der Bereich eines authentischen Außen als – wenn auch diffuse und unbestimmte – Utopie wegfällt. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der sozialen und kulturellen Sphäre haben die Avantgarden ihr eindeutig definiertes Gegenüber in Gestalt einer homogenen bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft verloren. Angesichts des Bedeutungsverlustes der homogenisierenden bürgerlichen Ideologie und der Pluralisierung der Gesellschaft ist der Anspruch, die Menschen vom „falschen“ Bewusstsein und damit aus ihrer unbewussten Unterdrückung zu befreien, nicht mehr dadurch einzulösen, dass man Tabus bricht, verstört, Grenzen überschreitet und Normen verletzt. Die klassischen Positionen und Methoden der historischen Avantgarden scheinen in einem Umfeld, das scheinbar alles erlaubt, ins Leere zu stoßen. 43 | Kuhnle: a. a. O., S. 126.

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Wie kann aber Radikalität aussehen, wenn die Grenzen diffus, die Feindbilder ambivalent und die Schocks, wie Hohnsträter in der von mir bereits in der Einleitung zitierten Passage schreibt, schal geworden sind? Wo kann sich transgressive Kunst noch verorten, wenn das Machtverständnis im kulturellen Radikalismus die Idee eines authentischen Außen jenseits aller gesellschaftlichen Norm- und individuellen Subjektgrenzen nicht mehr zulässt? Wie kann eine experimentell-subversive Ästhetik aussehen, wenn sich spätestens seit den 1980er Jahren das postmoderne Paradigma vom „freien Spiel der Zeichen und Zitate“ immer mehr durchgesetzt und die modernistischen Strategien zur Auf lösung etablierter Sinnstrukturen immer mehr in den Mainstream geholt hat? Im Zuge der kulturellen Veränderungen durch die postmoderne Wende wurde, so Barck, das avantgardistische Programm der Zusammenführung von Kunst und Leben entweder „als von der Postmoderne verwirklicht angenommen oder aber als Beweis für das Scheitern und den Tod der Avantgarde“ verstanden.44 Dass der Vorwurf des Scheiterns wegen seiner Überbetonung des Originalitätsanspruchs (und damit der impliziten Überbetonung der ästhetischen und Vernachlässigung der politischen Elemente) unzureichend ist, habe ich bereits ausgeführt. Somit steht die Frage im Raum, ob die Pluralität der Postmoderne den Befreiungsanspruch der Avantgarde eingelöst hat. Exemplarisch für diese Position sei hier Wolfgang Welsch zitiert: Die Pos tmoderne kongruiert mit den Forderungen der wissenschaftlichen und küns tlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts (der ,Avantgarde-Bewegungen‘). Ihr Unterschied von diesen is t nur, dass das, was dort gefordert wurde, jet zt eingelös t wird. Pos tmoderne is t so der Zus tand, in dem die Moderne nicht mehr reklamiert werden muß, sondern realisiert wird. 45

In der Tat besteht jene Ausprägung einer monolithisch erscheinenden bürgerlichen Ordnung nicht mehr, gegen die die Avantgarden zu allen Zeiten rebelliert haben. Ihren homogenisierenden Normen und Konventionen haben an Geltung eingebüßt und den Weg frei gemacht für eine größere Vielfalt an Lebensstilen und kulturellen Ausdrucksformen, die, so Frederic Jamesons berühmte Definition der postmodernen Situation, „the presence and coexistence of a range of very different, yet subordinate, features“46 erlaubt. Das organische soziale Imaginäre der bürgerlichen Moderne 44 | Barck: a. a. O., S. 545. Die Auf fassung, in der Pos tmoderne hätten sich die avantgardis tischen Intentionen verwirklicht, mag vielleicht auch der im englischen Sprachraum verbreiteten Praxis geschuldet sein, die Begriffe „avant-garde“ und „modernism“ oftmals synonym zu verwenden. Diese unreflektierte Gleichset zung läss t außer Acht, dass Avantgardekuns t lediglich ein Teilbereich der modernen Kuns t is t (selbs t wenn man diesen Begriff eng fass t und nur die Epoche der Hochmoderne zwischen 1900 und dem Ausbruch des 2. Weltkriegs mit diesem Etikett belegt). So war beispielsweise Thomas Mann unbes treitbar ein Autor der Moderne, aber es dürfte einige interpretatorische Arbeit bedeuten, aus ihm einen Avantgardis ten zu machen. 45 | Wolfgang Welsch: Unsere pos tmoderne Moderne, Weinheim 1988, S. 36. 46 | Frederic Jameson: Pos tmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991, S. 4.

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wird ob dieser Ausdifferenzierung für die avantgardistische Kunst als Angriffsfläche immer schwieriger fassbar. Dennoch hat Kunst, die den Anspruch erhebt, im avantgardistischen Sinne transgressiv zu sein, nicht aufgehört zu existieren. Dies als nostalgische Wiederholung innerhalb der „Institution Kunst“, als pubertäre Lust an der Rebellion an sich oder als reines Distinktionsmerkmal auf dem Kunstmarkt abzutun, wäre zu einfach. Warum gibt es also noch das Bedürfnis nach Opposition und Überschreitung und somit auch für die avantgardistische Kunst als eines ihrer Schlachtfelder, wenn ohnehin, wie ein oft gemachter Vorwurf an die Postmoderne behauptet, alles erlaubt ist? Meiner Meinung nach liegt die Antwort darin begründet, dass in der Postmoderne eben nicht die von der modernen Avantgarde intendierte Befreiung stattgefunden hat. Diese Interpretation, die wie die folgende Untersuchung zeigen wird auch Kathy Acker vertritt, steht in einer intellektuellen Tradition (vorwiegend europäischer Provenienz), die die Postmoderne nicht als Erfüllung des modernen avantgardistischen Befreiungsprojekts versteht, sondern als eine Intensivierung von modernen Individualisierungstendenzen (Foucault hat sie beschrieben), die in erster Linie der sozialen Kontrolle innerhalb des kapitalistischen Systems dienen. Die Vorstellung, der Pluralismus des Spätkapitalismus würde im Rahmen kultureller Prozesse automatisch das „Beste“ für das Individuum und ein Höchstmaß an Freiheit hervorbringen, ist aus dieser Perspektive naiv und stellt eine Verschleierung der tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse dar. Zwar haben die bürgerlichen Diskurse im Zuge der Postmodernisierung der westlichen Gesellschaften in bestimmten Feldern des sozialen Lebens – etwa bezüglich Akzeptanz diverser Lebensmodelle oder in Fragen sexueller Moral – einen gewissen Teil ihrer Homogenisierungsmacht eingebüßt, was unbestreitbar zu einer Liberalisierung der westlichen Gesellschaften geführt hat. Doch diese Befreiung trägt eine trügerische Ambivalenz in sich. Denn für Acker wie für ihre philosophischen Vorbilder stellt, wie noch deutlich werden wird, diese Art des gesellschaftlichen Pluralismus die Systemfrage nicht. Mit der Ausdifferenzierung der Lebensstile ging aus dieser Perspektive eine Verfeinerung ihrer subkutanen Individualisierungs- und Kontrollstruktur einher, die nicht mit deren Auf hebung verwechselt werden darf. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass in der Postmoderne keinerlei Konformitätsdruck mehr auf das Individuum wirkt, nur weil die Bandbreite an akzeptierten Lebensformen breiter geworden ist. Es hat vielmehr eine Transformation der Mechanismen der Subjektivierung und der sozialen Kontrolle gegeben, die Theoretiker wie Gilles Deleuze oder Michael Hardt und Antonio Negri als Übergang von den Disziplinargesellschaften der Moderne zu den Kontrollgesellschaften der Postmoderne beschrieben haben. Demnach sind die klassischen bürgerlichen Institutionen und Einschließungsmilieus wie Familie, Schule, Militär etc., die auf der produktiven Ebene für die Konstitution von Identität und Subjektivität und auf der disziplinarischen Ebene für die Einhaltung der gesellschaftlichen Konventionen und Normen verantwortlich waren, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in die Krise geraten und wurden von

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„ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“ abgelöst.47 Hardt und Negri haben diese Entwicklung in ihrem einflussreichen Buch Empire aus dem Jahr 2000 anschaulich beschrieben. Wie viele andere sehen auch sie die Postmoderne als Intensivierung bestimmter individualisierender Tendenzen der Moderne an, die sie im Geiste Foucaults als Instrumente soziokultureller Machtdiskurse verstehen. Vor dem Hintergrund der postmodernen Wende werden die klassischen Kontrollmechanismen (Normierung, Subjektivierung, Disziplinierung) der modernen bürgerlichen Ordnung jedoch immer unabhängiger von konkreten Institutionen, immer kleinteiliger, individueller und letztendlich „ever more ,democratic‘, ever more immanent to the social field, distributed throughout the brains and bodies of the citizens.“48 Es ist nicht mehr die Fiktion einer homogenen Gesellschaft an sich, die normativen Druck auf den Einzelnen ausübt, sondern eine Vielzahl von Submilieus, die verschiedene Aspekte des Lebens nicht mehr unter einer einzigen Subjektidentität zu subsumieren versuchen, sondern eine Vielzahl von Teilidentitäten produzieren, die allesamt internalisiert werden und aus denen sich individuelles Selbstbewusstsein zusammensetzt. In den Disziplinargesellschaften der Moderne waren Lebens- und Erfahrungsbereiche wie Beruf, Sexualität, Konsum- oder Sozialverhalten stets im übergeordneten Narrativ der bürgerlichen Identität zusammengefasst, nach deren Bild die Subjekte konstituiert wurden. Etwaige identitäre Brüche und Konflikte mussten hinter der Fassade des „Normalen“ verborgen werden, andernfalls wurden sie durch die von Foucault beschriebenen Disziplinarmechanismen gesellschaftlich sanktioniert oder korrigiert. Das postmoderne Individuum der Kontrollgesellschaft besteht hingegen aus (mindestens) einer beruf lichen, (mindestens) einer sexuellen, (mindestens) einer Konsumund (mindestens) einer sozialen Identität (die Liste ließe sich endlos fortsetzen), denen jedoch die homogenisierende Klammer der alle Bereiche umfassenden Normidentität fehlt. Stattdessen hat jede dieser Teilidentitäten ihre eigenen normativen Ideale und Vorgaben, was zu einer Vervielfältigung der Konformitätszwänge führt, denen das Individuum in der Gesellschaft nun ausgesetzt ist. Es ist damit in ein vielgestaltiges Netz gesellschaftlicher Submilieus eingebunden, die alle ihre jeweiligen Verhaltens-, Konsum- und Politikimperative an es richten, denen es einerseits entsprechen und die es andererseits koordinieren muss. So werden zahlreiche – aber bei Weitem nicht alle – Formen von Differenz und Alterität, die in der Moderne durch die Mechanismen des Ausschlusses diszipliniert wurden, in die gesellschaftliche Kontrollstruktur mit einbezogen. Normierung und Kontrolle greifen somit noch tiefer in alle Bereiche des menschlichen Lebens ein, aber anders als die bürgerlichen Disziplinardiskurse gestatten die postmodernen Kontrolldiskurse eine größere oberflächliche Heterogenität an Identitätsformen. Diese neue Vielfalt ist nach dieser Lesart somit nicht die Manifestation, sondern die Behauptung einer Befreiung. Auch wenn die Kontrollgesellschaften in geringerem Maße entlang einer einheitlichen, alle Lebensbereiche in sich fassenden Vorstellung 47 | Gilles Deleuze: Unterhandlungen, Frankfurt am Main 1993, S. 255. 48 | Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, Cambridge und London 2000, S. 23.

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von Normalität und Abnormität organisiert sind, bedeutet das keine grundsätzliche Abkehr vom aristotelisch-binären Denken. Vielmehr ist es zu einer Multiplikation und Überschneidung von binären Identitätsmaschinen gekommen. Gilles Deleuze spricht in seinen gemeinsam mit Claire Parnet verfassten Dialogen von höchs t unterschiedlichen binären Maschinen – solchen gesellschaftlicher Klassen, Geschlechter (Mann – Frau), Lebensalter (Kind – Erwachsener), Rassen (Weißer – Schwarzer), sozialer Sektoren (öffentlich – privat), Subjektivationen (von uns – nicht von uns). Diese binären Maschinen sind um so komplexer, je mehr sie sich überschneiden oder aufeinander s toßen und uns selbs t zerschneiden. Sie sind auch nicht im globalen Sinne dualisitsch, vielmehr dichotomisch; sie können diachronisch operieren (bis t du weder a noch b, dann bis t du c – der Dualismus hat sich verset zt, bezieht sich nicht mehr auf auszuwählende simulante Elemente, sondern auf sukzessive Wahlentscheidungen; bis t du weder Weißer noch Schwarzer, dann bis t du ein Mischling, bis t du weder Mann noch Frau, dann bis t du ein Transves tit: Jedes Mal bringt die Maschine der binären Elemente binäre Wahlentscheidungen zwischen Elementen hervor, die in der ers ten Alternative nicht s teckten). 49

Der Zwang, sich in diesen Binarismen identitär zu verorten bleibt bestehen und ihre Vervielfältigung macht es den Individuen noch schwerer, sich der Anrufung zu entziehen. Diese Form der Subjektkonstitution ist durchaus systemorientiert. Sie dient, wie Hardt und Negri darlegen, veränderten Anforderungen an das Individuum in einem veränderten kapitalistischen System: The produc tion of subjec tivity in civil society and disciplinary society did in a certain period further the rule and facilitate the expansion of capital. […] The subjec tivities produced by modern ins titutions were like the s tandardized machine parts produced in the mass fac tory: the inmate, the mother, the worker, the s tudent, and so forth. Each part played a specific role in the assembled machine, but it was s tandardized, produced en masse, and thus replaceable with any part of its type. At a certain point, however, the fixity of these s tandardized parts, of the identities produced by the ins titutions, came to pose an obs tacle to the further progression toward mobility and flexibility.50

Diese flexiblen und mobilen Identitäten, die charakteristisch für die Postmoderne geworden sind, dienen also nicht minder der zweckrationalen Ordnung des Kapitalismus, nur dass die veränderten Anforderungen der postindustriellen Gesellschaft keine Standardindividuen mehr verlangen, sondern komplexere Subjekte, die komplexere Aufgaben als Produzenten und Konsumenten in einem individualisierten, postindustriellen und postnationalistischen, aber eben immer noch zweckrationalkapitalistischen System erfüllen müssen. Die „serielle“ Produktion von eindimensionalen Individuen entlang der „Fertigungsstrasse“ des bürgerlichen Lebenslaufs (mit Stationen wie Familie, Schule, Kaserne, Büro oder Fabrik) wurde von neuen Formen der Subjektivierung abgelöst: „As the walls that defined and isolated the effects of 49 | Gilles Deleuze/Claire Parnet: Dialoge, Frankfurt am Main 1980, S. 139. 50 | Hart/Negri: a. a. O., S. 331.

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the modern institutions progressively break down, subjectivities tend to be produced simultaneously by numerous institutions in different combinations and doses.“51 Während in den Disziplinargesellschaften fixierte Identitäten immer an einen institutionellen Rahmen gebunden waren (man war Vater bzw. Mutter im familiären Heim, Schüler in der Schule, Arbeiter in der Fabrik, Angestellter im Büro, Häftling im Gefängnis, Patient in der Klinik etc.) kommt es in den Kontrollgesellschaften zu einer Überlappung verschiedenster Identitätszuschreibungen und damit zu einer Multiplikation der interpellativen Anrufungen im soziokulturellen Feld. Anstatt nur einem Rollenbild folgen zu müssen, wird es in der Postmoderne zur Norm, alle Teilidentitäten „richtig“ zu bedienen. Das auf diese neue Weise konstituierte Subjekt wird vielschichtig und vielgestaltig, ohne dabei jedoch wirklich frei zu sein: „It belongs to no identity and all of them – outside the institutions but even more intensely ruled by their disciplinary logics.“52 Die alten, auf Gleichförmigkeit gegründeten subjektivierenden und disziplinarischen Strategien von Einschluss und Ausschluss sind damit ebenfalls obsolet geworden. In den postmodernen Kontrollgesellschaften funktioniert die Disziplinierung unerwünschter kultureller Differenz durch die Marginalisierung innerhalb eines pluralen Systems. Was von den hegemonialen Diskursformationen im Zentrum des gesellschaftlichen Feldes nicht erwünscht ist, wird an den Rand, in die Unsichtbarkeit verschoben. Gegen eine als entfremdend verstandene Standardisierung der Individuen als Rädchen in der bürgerlich-modernen Gesellschaftsmaschine konnten sich die historischen Avantgarden ihrem Selbstverständnis nach als authentischer Gegenpol außerhalb dieses Systems positionieren. Die Komplexität der postmodernen Ordnung macht eine derart simple binäre Identitätspolitik schwierig. Wie Deleuzes, Hardts und Negris Argumentation zeigt, sind postmoderner Individualismus und Identitätspluralismus nicht unbedingt als Befreiung zu deuten, sondern als Effekte einer Vervielfältigung von interessegeleiteten Subjektivierungsdiskursen. Somit sind diese Mechanismen nicht minder interpellativ und normativ als jene der modernen Gesellschaft. Sie finden nur nicht mehr überwiegend in traditionellen Institutionen statt, sondern verteilen sich auf allen Feldern der Kultur (deshalb ist das Konzept der Kontrollgesellschaft auch ein eindeutig kulturell radikaler Kritikbegriff). So schaffen sie es, ihr Wirken besser zu verschleiern und die Individuen auf perfide Weise in die zweckrationale Verwertungslogik eines transnational agierenden Kapitalismus einzuweben, dessen scheinbar befreiter kultureller Pluralität Paul Mann vorwirft, sie sei „the same monotonous plural one finds in the shopping mall or on cable television: the hip doxa of the plural as just a cover for the latest phase of consumerism.“53 War das charakteristische Ideal der Disziplinargesellschaften der Moderne noch die standardisierte Homogenität, ist es in den postmodernen Kontrollgesellschaft eine standardisierte Heterogenität, die zudem nur ideologisch erwünschte Formen von Differenz sichtbar werden lässt. 51 | Ebd. 52 | Ebd., S. 332. 53 | Mann: a. a. O., S. 123.

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In Gesellschaften, die ein solches Stadium der Subjektkonstitution erreicht haben, gelten radikal veränderte Rahmenbedingungen für avantgardistische Kunst. Ihr Anspruch, den Menschen durch die Zusammenführung von Kunst und Leben aus seinem falschen Bewusstsein zu holen, kann angesichts der Überschneidung und Vervielfältigung der identitätskonstitutiven Diskurse nicht einmal mehr behauptet werden. Waren die historischen Avantgarden noch dem klassischen Transgressionskonzept verbunden und gegen die Strukturen der Disziplinargesellschaft gerichtet, steht die Avantgardekunst nach der postmodernen Wende im Zeichen jener Transgressionskonzepte, die auf das Hybride abzielen. Den Avantgardisten der Moderne bot sich in „der Gesellschaft“ oder „dem System“ noch ein klar definiertes Feindbild, an dem man sich abarbeiten konnte. Positionierte man sich außerhalb davon – in Lebenspraxis und künstlerischer Produktion, die ja dem Anspruch nach nun nicht mehr getrennt waren – glaubte man sich mit einem Authentizitätsgewinn aus den normativen Diskurszusammenhängen befreit zu haben. Die Strukturen der Kontrollgesellschaft lassen eine solche Vorstellung eines authentischen „Außen“ nicht mehr zu und machen die avantgardistische Geste der Verweigerung unmöglich. Angesichts der unauf löslichen Verstricktheit der Individuen in das Machtnetz der Kontrollgesellschaften bleibt den neuen Avantgarden nur noch, sich liminale Räume zu erkämpfen, an denen sie sich mit der Vielzahl an vorgegebenen Sinnstrukturen und Subjektivitätszuschreibungen kritisch auseinandersetzen können, ohne die dort entstehenden Alternativen als essentiell zu verstehen. In der vom kulturellen Radikalismus geprägten Machtanalyse der postmodernen Transgression müssen die essentialistischen Gegendiskurse der historischen Avantgarden in all ihren Formen und Ausprägungen als Trugbild bzw. sogar als eine weitere Variante normativer Diskurspraxis verstanden werden. Natürlich gesteht auch dieser Interpretationsansatz den alten Avantgardisten zu, sich zumindest zeitweise jenseits gesellschaftlicher Konventionen oder Strukturen als Antipoden des Bürgers positionieren zu können. Doch dieses „Jenseits“ kann nicht mehr Authentizität beanspruchen als das abgelehnte System. Im subjektiven Empfinden mag der Übertritt in das „Außen“ natürlich als Gewinn von Freiheit oder Wahrhaftigkeit verstanden werden. Aber jede alternative Lebensform, jede Subkultur und jede künstlerische Bewegung bildet ihre eigenen Regeln und Konventionen aus, die sich zwar in Abgrenzung zur hegemonialen Kultur definieren mögen, in ihrer Struktur jedoch nicht minder normativ sind. Für Enzensberger, der dem avantgardistischen Projekt ohnehin äußerst kritisch gegenüberstand, weisen die „Ismen“ der modernistischen Avantgarde sogar totalitäre Züge auf: „Nicht anders als der Kommunismus in der Gesellschaft will Avantgarde in den Künsten Freiheit doktrinär durchsetzen. Ganz wie die Partei glaubt sie, als revolutionäre Elite, und das heißt als Kollektiv, die Zukunft für sich gepachtet zu haben.“54 Der avantgardistische Gegendiskurs wird so als ein weiterer Normierungsdiskurs verstanden, in dem das Individuum, das ihm folgt, eigenen Konventionen, Regeln und Identitätszuschreibungen ausgeliefert ist. Besonders wenn 54 | Enzensberger: a. a. O., S. 304.

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sich die Avantgarde als Bewegung institutionalisiert (etwa dadurch, dass sie sich in einem Manifest ein Programm auferlegt), läuft der Avantgardist Gefahr, die Fremdbestimmung durch die Mehrheitsgesellschaft gegen die Fremdbestimmung durch das Kollektiv seiner Subkultur einzutauschen und sich nun unter den Vorzeichen des Gegendiskurses als Subjekt konstituieren zu lassen – ein Nullsummenspiel. Als letzter Ort für Subversion – und damit auch für subversive Kunst – in den postmodernen Kontrollgesellschaft bleibt, wie Deleuze feststellt, somit nur das Zwischen: „Das Wichtige wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“55 Widerstand ist nur mehr in einer Sphäre des Unbestimmten bzw. Unbestimmbaren möglich, die viele Namen haben kann: Hybridität, „dritter Raum“, Postmodernismus. So stellt sich die Frage, welche Wege die Protagonisten einer postmodernen Avantgardekunst des Zwischen unter diesen Umständen gehen können, wenn sie sich mit den unzähligen Dispositiven der Kontrollgesellschaften ebenso kritisch, wie mit den Befreiungsversprechen der alten avantgardistischen Gegendiskurse auseinandersetzen und dabei dennoch oppositionell bleiben wollen. Bei ihrer Beantwortung kann es keinen Königsweg geben. Dennoch möchte ich zwei mögliche Strategien ins Spiel bringen: Zum Ersten eine radikale Individualisierung und Politisierung avantgardistischer Kunst, die sich vom kollektiven und potentiell doktrinären Charakter der alten kollektiven Avantgardebewegungen absetzt und auf die Individualisierung der Kontrollstruktur zwangsläufig mit einer Individualisierung des künstlerischen Widerstandes reagiert. Um ihre Wirkung zu entfalten, kann sich diese Art von Kunst nicht mehr allein auf die Kategorie des Ästhetischen verlassen, sondern muss, um als kritische Kunst sichtbar zu werden, einen neuen Umgang mit der Kategorie des Politischen entwickeln. Zum Zweiten muss es zu einer Neuformulierung des avantgardistischen Befreiungsanspruchs kommen, der sich nicht mehr auf eine essentielle Gegenidentität jenseits der Kontrolle richtet, sondern die Kategorie des Hybriden ins Zentrum seiner Bewusstseins- und Identitätspolitik stellt. Wenden wir uns zunächst der Strategie der Individualisierung zu. Fluck unterscheidet in seinem Aufsatz über die Möglichkeiten radikaler Ästhetik im zeitgenössischen kulturellen Radikalismus zwischen zwei Formen von Individualismus in den westlichen Gesellschaften – einer ökonomischen und dem von Robert Bellah geprägten Konzept des expressiven Individualismus: „In economic individualism, economic and social achievement is the supreme goal. Self-realization means to get ahead on one’s own initiative.“56 Diese Spielart ist typisch für die bürgerlich-liberale Moderne. Im Zentrum steht die Vorstellung eines autonom handelnden Subjekts, das für sein systemkonformes Handeln in einer überwiegend nach ökonomischen Werten organisierten kapitalistischen Gesellschaft mit Anerkennung und sozialer Teilhabe belohnt wird. Dafür muss der Einzelne auf all jene individuellen Bedürf55 | Deleuze: a. a. O., S. 252. 56 | Winfried Fluck: „Radical Aes thetics“, in: REAL: Yearbook of Research in English and American Literature, Volume 10 (1994), S. 31–47, hier: S. 37.

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nisse und Formen von Wissen und Erfahrung, die der zweckrationalen Werteordnung im Wege stehen könnten, verzichten: „This requires, above all, self-discipline, a willingness to subordinate personal goals of self-fulfilment to socially defined ideals of economic and social success, and provides self-esteem through one’s position in a social hierarchy.“57 Distinktion ist dem Individuum nur innerhalb der sehr engen Grenzen des Systems möglich, etwa durch den Erwerb bestimmter Statussymbole (Auto, Haus, Familie etc.) oder das Erreichen bestimmter gesellschaftlicher oder beruf licher Positionen. Im expressiven Individualismus tritt der rein ökonomisch definierte Statuserwerb zu Gunsten einer „deeper cultivation of the self“ zurück.58 Auch wenn Bellah sein Konzept am Beispiel kritischer Individualisten des 19. Jahrhunderts (z.B. Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und Walt Whitman) entwickelt, kann es als charakteristisches Individualismusmodell für die Postmoderne angesehen werden: „In expressive individualism, self-esteem is thus gained through ever new forms of cultural self-dramatisation and role-taking.“59 Jetzt wird vom Individuum nicht mehr die einfache Anpassung an die standardisierten Identitätsentwürfe der modernen Disziplinargesellschaften verlangt, sondern die kompetente und „richtige“ Bewegung zwischen den multiplen Anrufungen der postmodernen Kontrollgesellschaften. Radikale avantgardistische Kunst muss daher ihre (identitäts)politischen Ansprüche neu formulieren. In der Moderne war ein Abweichen von der traditionellen organischen Ästhetik des bürgerlichen Kunstbegriffs per se schon ein politischer Akt. In der Postmoderne hingegen, „scheint die eine Hälfte des avantgardistischen Projekts Wirklichkeit zu werden; die Ästhetisierung des Alltags erfolgt – kulturindustriell produziert – ohne eine radikale Veränderung des Lebens.“60 Die Verwendung bestimmter Zeichen, denen in der Moderne noch etwas Subversives anhaftete, dienen nun nicht mehr der Selbstpositionierung außerhalb der Gesellschaft, sondern vielmehr der Distinktion innerhalb eines Gemeinwesens, das kein Außen mehr kennt. Im expressiven Individualismus werden Stilmittel und Methoden ihrer ursprünglichen Intention entkleidet und werden immer mehr zu modischen Accessoires – im Alltag wie in der Kunst. Es droht die Gefahr einer „Entleerung der symbolischen Zeichen. Diese werden nur mehr ,ästhetisch‘ aufgenommen und funktionieren – ähnlich wie der Bildungskanon im 19. Jahrhundert – als Statussymbole.“61 57 | Ebd. 58 | Robert N. Bellah: Habits of the Heart. Individualism an Commitment in American Life, Berkeley, Los Angeles und London 1985, S. 33. 59 | Fluck: „Radical Aes thetics“, a. a. O., S. 37. 60 | Chris ta Bürger: „Das Verschwinden der Kuns t. Die Pos tmoderne-Debatte in den USA“, in: Chris ta und Peter Bürger (Hg.): Pos tmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde, Frankfurt am Main 1987, S. 34–55, hier: S. 42. 61 | Ebd., S. 41.

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Acker selbst kommt in ihrem Aufsatz über den „Postmodernism“ angesichts der sozialen Polarisierung in der spätkapitalistischen westlichen Welt – gerade in den Ländern der wirtschaftsliberalen Ikonen Reagan und Thatcher – zu einem ähnlichen Schluss: „We are now, in the United States and in England, living in a world in which ownership is becoming more and more set: The rich stay rich, the poor stay dead. Death-in-life. The only social mobility left occurs in terms of appearance [meine Hervorheung – d. Verf.]: things no longer change hands.“62 Ein solches kulturelles Umfeld, in dem, um eine pessimistische Formulierung Jamesons zu verwenden, „depth is replaced by surface“63, stellt den Avantgardisten bei seiner Absicht, radikale und vor allem politische relevante Kunst zu produzieren, vor ein Dilemma: One way to remain on the cutting edge of artis tic developments is to radicalize formal experimentation. However, since the idea of the aes thetic is under attack, this can no longer be sufficient in itself. On the other hand, a mere politicization of cultural material cannot be sufficient either, not only because it would hold little pres tige in art circles but also because it would disregard cultural radicalism’s critique of representation. 64

Ein weiteres Drehen an der Schraube des formalen Experiments allein würde die Gefahr bergen, im Durcheinander der enthierarchisierten postmodernen Zeichen unterzugehen und den avantgardistischen Gestus des Kunstwerks zur reinen Pose gerinnen zu lassen. Eine simple, womöglich an einem binären ideologischen Raster orientierte Repolitisierung im Stile der engagierten Kunst der Moderne würde hingegen reaktionär wirken. Um sich von den rein ästhetisch rezipierten sinnentleerten Symbolen des ästhetisierten Alltags unterscheiden und wieder transgressives Potential gewinnen zu können, bedarf es, so Fluck, einer neuen Art der Verbindung von avantgardistischer Kunstpraxis und politischer Positionierung: Avantgarde art needs the ,serious s tatement,‘ preferably in the form of a moral or political commitment, in order to be rescued from the consequences of its own radical experimentation, that is from its own attack on the idea of the work of art. This […] is one of the reasons for the surprising re-emergence of the political in a pos tmodern situation charac terized by a far-reaching dehierarchization of cultural values, including those of art. 65

Eine solche Repolitisierung von experimenteller Ästhetik bedeutet weder einen Rückfall in die ideologischen Binarismen des politischen Radikalismus, noch schmälert sie die gesellschaftspolitische Bedeutung der formalen Experimente der klassischen 62 | Kathy Acker: „Pos tmodernism“, in: dies.: Bodies of Work. Essays, London und New York 1997, S.4–5, hier: S. 5. 63 | Jameson: a. a. O., S.12. 64 | Fluck: „Radical Aes thetics“: a. a. O., S. 33. 65 | Ebd. S. 35.

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Avantgarden. Im Gegenteil, solange die organische Ästhetik des bürgerlichen Kunstwerks ihre affirmative Funktion erfüllte, war ihre Destruktion durch die Avantgarden per se schon politisch, ohne dass diese eindeutige ideologische Positionen beziehen mussten. Da nun aber diese einst subversive Anti-Ästhetik Eingang in den Mainstream gefunden hat, ist die Aufwertung der Kategorie des Politischen eine Möglichkeit für experimentelle Künstler, wieder an Relevanz und Tiefe zu gewinnen. Die politische Haltung wird zum Distinktionsmerkmal postmoderner avantgardistischer Kunst gegenüber anderen kulturellen Botschaften, die sich oberflächlich einer ähnlichen experimentellen Ästhetik bedienen, aber in Diensten des spätkapitalistischen Systems stehen (z.B. in Werbung, Filmen oder Musikvideos). Diese Form des politischen Engagements in der Kunst unterscheidet sich nicht nur ästhetisch von dem des alten politischen Radikalismus. Hieß politisches Handeln auf der kulturellen Ebene dort noch Klassen-, Rassen-, Geschlechts-, Partei- oder andere Gruppeninteressen in meist realistischen, der organischen Ästhetik verpflichteten Werken zu vertreten (die politische Kunst während der „red decade“ der 1930er Jahr in den USA ist ein Beispiel), findet im kulturellen Radikalismus eine analog zur fortschreitenden Ausdifferenzierung der westlichen Gesellschaften verlaufende Individualisierung des Politischen statt, die sich auch in den Avantgarden niederschlägt: Nowadays, political commitment […] has become such a form of self-expression, because – after the promises of experimental art are exhaus ted and the aes thetic has come under radical suspicion – the political is one of the few realms left which s till holds a promise of relevance and importance. Thus the separation of politics and aes thetics is indeed overcome and the two are reunited, although in an unforeseen and entirely unexpec ted sense: namely, as equally useful cultural options of expressive individualism. 66

In ihrer Selbstdefinition rechnen sich die postmodernen Avantgardisten, anders als ihre modernistischen Vorläufer, in der Regel nicht einer Gruppe oder Bewegung zu. Vielmehr gehört es für Künstler mittlerweile zum guten Ton, es brüsk zurückzuweisen, von Seiten der Kunstkritik oder vom Universitätsbetrieb einem „Ismus“ zugerechnet zu werden. Dies hat nicht nur mit dem Konformitätszwang zu tun, der solchen kollektiven Kategorien immer innewohnt, sondern auch mit dem Charakter der Disziplinardiskurse in den Kontrollgesellschaften. Wenn das Wechselspiel zwischen subjektkonstitutiver Normierung und sozialer Kontrolle immer kleinteiliger wird, kann sich Widerstand dagegen nicht mehr als Konflikt zwischen klar definierten Gruppen entlang der Linien „wir“ (im Sinne einer Bewegung) gegen „sie“ (als Verkörperung einer homogen auftretenden Mehrheitsgesellschaft) orientieren. Transgression wird im expressiven Individualismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts angesichts des Bedeutungsverlustes von kollektiven Identitäten zu einem „intensly privatised project“, das zur Folge hat, dass der „contemporary rebel is left with neither utopianism nor nihilism, but rather lonliness.“67 66 | Ebd. S. 37. 67 | Jenks: a. a. O., S. 6f.

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Avantgardistische Kunst kann sich somit nicht mehr in Gestalt kollektiver Ismen äußern, sondern muss von Individuen getragen werden. Nur so kann sich der Künstler der Fremdbestimmung sowohl durch den hegemonialen als auch durch den institutionalisierten Avantgardediskurs entziehen. Radikale Ästhetik kann in diesem Zusammenhang einen subversiven Effekt haben, wenn sie im Dienst einer individuellen Kritik an Identitätszuschreibungen von allen Seiten – also auch von Seiten vermeintlich avantgardistisch-subversiver Gegendiskurse – auftritt, die versucht, die Hoheit über die Diskurse des „Selbst“ zu gewinnen: „In the culture of expressive individualism, politics and aesthetics increasingly take on similar functions as forms of cultural selfdefinition, cultural self-expression, and in the final analysis, self-advertisment.“68 Eine solche Selbstdefinition kann für den Künstler lediglich dann fruchtbar sein, wenn sich der avantgardistische Anspruch den neuen Gegebenheiten anpasst. Da die Vorstellung eines authentischen Gegendiskurses im postmodernen Transgressionsverständnis nicht mehr möglich ist, kann avantgardistische Kunst auch nicht mehr den Anspruch erheben, ihn zu erfüllen. Tut sie es doch, ist der Vorwurf berechtigt, sie würde nur noch folgenlos ihre eigene Tradition zitieren und auf sich selbst verweisen. In der Postmoderne kann radikale Kunst nur dann noch transgressiv und subversiv sein, wenn sie nicht nur die scheinbar natürlichen und organischen Wahrheiten einer sich ohnehin immer mehr zersplitternden Mehrheitsgesellschaft dekonstruiert, sondern sich genauso kritisch mit den alten avantgardistischen Authentizitätsversprechen auseinandersetzt, die ihre emanzipatorische Zielsetzung nicht erreichen konnten. Somit hat, wie Lyotard es an einer Stelle formuliert, „die Postmoderne, in der der Niedergang der modernen Ideale zum Ausdruck kommt, die Aufgabe, das Werk der Avantgarde-Bewegungen fortzuführen, ohne sich durch diese Ideale zu legitimieren.“69 Mit anderen Worten: Die Avantgarden müssen auch in der Lage sein, ihre eigene Tradition als Teil der etablierten Kunst anzusehen, ihre eigenen Mythen – allen voran den eines stabilen authentischen Gegendiskurses – in Frage zu stellen und ihr Spektrum durch ein Element radikal dekonstruktivistischer Selbstreferentialität zu erweitern. Das Zeichenrepertoire, aus dem sich die Avantgarde für ihre Umcodierungen bedient, muss sich nicht nur aus dem, was noch als bürgerliche Kunst bezeichnet werden kann, sondern auch aus den Werken ihrer eigenen Geschichte speisen. Sie muss parasitär gegen sich selbst werden! Und sie muss sich aus der theoretischen Sackgasse des Binarismus „repressive und entfremdende Mehrheitsgesellschaft“ versus „authentische avantgardistische (Sub)kultur“ lösen. Die alten Dichotomien können nach der postmodernen Wende nicht mehr gelten, der Verlauf der Grenzziehungen und damit auch der transgressiven Diskurse haben sich verschoben. Andreas Huyssen hat dies schon in den 1980er Jahren erkannt: [M]y main point about contemporary pos tmodernism is that it operates in a field of tension between tradition and innovation, conservation and renewal, mass culture and high art, in which the second terms 68 | Fluck: „Radical Aes thetics“, a. a. O., S. 46. 69 | Jean-François Lyotard: Immaterialität und Pos tmoderne, Berlin 1985, S. 30.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN are no longer automatically privileged over the firs t; a field of tension which can no longer be grasped in categories such as progress vs. Reac tion, left vs. Right, present vs. Pas t, modernism vs. Realism, abs traction vs. Representation, avantgarde vs. Kitsch. 70

Wenn avantgardistische Kunst in diesem Umfeld glaubhaft für sich in Anspruch nehmen will, eine Sphäre für Widerstand und Innovation zu sein, muss sie als „permanente Revolution der Tradition“ auch die überkommenen Binarismen, an denen sich ihre modernen Vorgänger orientiert hatten, überwinden: It [resis tance – d. Verf.] cannot be defined simply in terms of negativity or non-identity à la Adorno, nor will the litanies of a totalizing, collec tive projec t suffice. At the same time, the very notion of resis tance may itself be problematic in its simple opposition to affirmation. After all, there are affirmative forms of resis tance and resis ting forms of affirmation. 71

Weil sich die kulturellen Kämpfe von Herrschaft und Befreiung, denen sich die neue Avantgardekunst in Form und Inhalt stellen muss, nicht mehr in einer Verneinungshaltung erschöpfen können, müssen sie aktiv und produktiv werden. Nicht Negation, sondern kreative und subversive Appropriation ist ihr Modus. Daher finden sie unter den Bedingungen der Postmoderne in Bhabhas „dritten Raum“ des Hybriden statt, der eine Entsprechung zu jenem Zwischen ist, das Deleuze in den Kontrollgesellschaften als letzte Option für Widerstand und kreative Subversion bezeichnet hat. Wo dieses Zwischen liegt muss permanent neu verhandelt werden, da sich im dynamischen Diskursnetzwerk der Kontrollgesellschaften die kulturelle Hegemonie ebenso permanent verschiebt. Huyssen plädiert in diesem Zusammenhang für einen „postmodernism of resistance [meine Hervorhebung – d. Verf.], including resistance to that easy postmodernism of the ,anything goes‘ variety. Resistance will always be specific and contingent upon the cultural field within which it operates.“72 Ein so verstandener, widerstäniger Postmodernismus bietet die Möglichkeit (er gibt wohlgemerkt keine Garantie) subversiv zu wirken, weil er eklektisch ist, dabei aber stets dynamisch und offen für immer neue Kontextualisierungen, Hybridisierungen und Umcodierungen bleibt. Er ist nicht arretierbar und kann sich dadurch der Vereinnahmung durch jedwede Form von Ideologie – egal auf welchem kulturellen, politischen oder gesellschaftlichen Feld – entziehen: Pos tmodern resis tance seems to entail some arrangement of the following more or less interrelated tasks: a continuation of the anti-aes thetic attack on the ins titution of art that Bürger associated with the historical avant-gardes; a critique of the dominant forms of ideological representation, frequently employing methods adapted from decons truc tion and semiotics, sometimes direc ted at the ins titution of art, sometimes at a broader social field, and often involving specific attacks on formations of gender, class, 70 | Andreas Huyssen: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Pos tmodernism, London 1988, S. 216f. 71 | Ebd., S. 221. 72 | Ebd., S. 220.

W IDER DIE G RENZE ZWISCHEN K UNST UND L EBEN or ethnicity; the manipulation of mass-media imagery and technologies as both the targets and tools of the critique; a continuing effort to comprehend what it means for critical art to occupy an internal rather than an autonomous site; and an attempt to transform internalization into s trategies of empowerment rather than a form of imprisonment. 73

Wie die folgende Untersuchung zeigen wird, entspricht Ackers Kunstschaffen diesen Kriterien. Das kulturelle Feld, das sie sich für ihre postmodernen Widerstandskämpfe ausgesucht hat, ist das Feld der Sprache und der Literatur. Angesichts der herausragenden Rolle, die die Sprache bei der Konstitution und der umfassenden und permanenten Kontrolle der Individuen spielt, kann Postmodernismus (verstanden als ästhetisch-politisches Programm im kulturellen Zustand der Postmoderne) dort als subversive Praxis funktionieren: In such a society as ours the only possible chance for change, for mobility, for political, economic, and moral flow lies in the tac tics of guerrilla warfare [meine Hervorhebung – d. Verf.], in the use of fic tions, of language. Pos tmodernism, then, for the moment, is a useful perspec tive and tac tic. If we don’t live for and in the, this, moment, we do not live. 74

Die Avantgardisten der Moderne waren Revolutionäre, die versuchten, im Kollektiv der Bewegungen ihre Gegner in den Kulturkämpfen auf breiter Front anzugreifen und zu besiegen. Ein Guerrillakämpfer hingegen ist nicht Teil einer großen, statischen Armee und kämpft nicht an einer klar definierten Frontlinie, auf deren anderer Seite der Feind seinem Spiegelbild gleich liegt. Er ist vielmehr dynamisch und flexibel, ständig in Bewegung. Seine Taktik besteht darin, seinem ihm meist an Mitteln und Macht überlegenen Gegner zu analysieren, sich strategisch permanent neu zu positionieren und über Art der Attacke und die Wahl der Mittel situativ zu entscheiden. Er führt keinen Stellungskrieg in der Hoffnung, die gegnerische Front irgendwann endgültig überrennen zu können, sondern kreuzt sie, bewegt sich auf ihr und nutzt das Zwischen des Niemandslandes als Basis. In der Figur des Guerilleros hat Acker eine treffende Metapher für den postmodernen Avantgardisten gefunden.

73 | Mann: a. a. O., S. 125. 74 | Acker: „Pos tmodernsim“, a. a. O., S. 5.

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E XKURS : P OP UND A VANTGARDE – Z WEI TRANSGRESSIVE D ISKURSE Gerade was die Frage von Opposition, Überschreitung und Dissidenz betrifft, haben sich im Zuge der Postmoderne zwei verschiedene Diskurse ununterscheidbar vermengt, die, was ihre Strukturen und Intentionen angeht, viele Gemeinsamkeiten aufweisen: Der hochkulturelle Diskurs der avantgardistischen Kunst und der vermeintlich profane des Pop, der als Sonderform der Populärkultur zu verstehen ist. Lange wurde dieser, etwa von den Denkern der Frankfurter Schule, jedwedes Potential abgesprochen, in gesellschaftsverändernder Weise transgressiv zu wirken. Sie wurde im Gegenteil – man denke an Horkheimer und Adornos wirkmächtige Thesen über die „Kulturindustrie als Massenbetrug“ – als hochgradig affirmativ, ja sogar als potentiell totalitär verstanden. Mittlerweile ist es ein akademischer Allgemeinplatz, zu betonen, dass diese Interpretation in ihrem universellen Anspruch nicht zutreffend und das weite Feld des Populären weitaus differenzierter zu betrachten ist, auch wenn es die Diskussion über die systemstabilisierende Funktion von Populärkultur damals wie heute gibt – man denke nur an die zeitgenössischen Feuilletondebatten über das „Unterschichtenfernsehen“. Horkheimers und Adornos generalisierendes Argument fasst ein sehr enges Spektrum an Ausdrucksformen unter dem eigentlich ein sehr breites Spektrum abdeckenden Signifikanten des „Populären“ zusammen und beschneidet den Begriff so um seine subversiven Potentiale. Das Verdienst, populär- und subkulturelle Ausdrucksformen als Sphäre möglichen Widerstands theoretisch auszuleuchten, kommt erst den Cultural Studies zu. Versteht man Populärkultur in erster Line als jene Sphäre der Kultur, an der aufgrund niedriger Zugangsbedingungen (etwa geringere finanzielle Hürden oder Bildungsvoraussetzungen) nicht nur eine bestimmte Elite, sondern die breite Masse der Menschen teilhaben kann, kann man nicht von einem widerständigen Diskurs per se sprechen. Andererseits bot dieses Feld lange Zeit bestimmten marginalisierten Gruppen die einzige Möglichkeit, ihre Differenz kulturell zu äußern, auch wenn dies von Mainstream der Eliten meist ignoriert wurde. Dies gilt vor allem für ethnische Minoritäten. Zu einem transgressiven Diskurs mit Breitenwirkung wurde die populäre Kultur historisch gesehen erst in dem Moment, als eine Entwicklung einsetzte, die man als „Avantgardisierung der Massenkultur“ bezeichnen könnte: als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte Ausdrucksformen der Populärkultur zu Pop und damit zu einem Gegendiskurs zum gesellschaftlichen Mainstream wurden. Die britischen Cultural Studies – allen voran die Arbeiten von Stuart Hall – haben schon in den frühen 1970er Jahren gezeigt, dass die dem Argument von Horkheimer und Adorno zugrunde liegende Auffassung vom Rezipienten, der kritiklos kulturindustriell produzierte Artefakte konsumiert und dadurch politisch sediert wird, zu kurz greift. Auch Produkte der Massenkultur können kritisch appropriiert und in subversiver Absicht umsemantisiert werden. Ihre Anfänge nahm diese Entwicklung in den 1950ern, als „sich Teile dieser Kulturindustrie nach dem Krieg in Verbindung mit der Jugend zu einem manifesten Me-

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dium von gesellschaftlicher Veränderung [entwickelten].“75 Ihren Durchbruch erlebte sie in den 60ern, als die Popkultur – zuerst in den USA, mit leichter Verzögerung auch in Westeuropa – zum dominanten Gegendiskurs zu den traditionellen, bürgerlich geprägten Mehrheitsgesellschaften wurde: [It] s tood for beat and rock music, pos ter art, the flower child cult and the drug scene – indeed for any manifes tation of ,subculture‘ and ,underground.‘ In short, pop became the synonym fort the new life s tyle of the younger generation, a life s tyle which rebelled agains t authority and sought liberation from the norms of exis ting society.76

Pop verstand sich in diesem Generationenkonflikt als das „Andere“ der etablierten Gesellschaft. Seine performativen Ausdrucksformen – in Musik, Kleidung, Habitus und Stil – wurden von der Jugend als Medium identitärer Selbstermächtigung gegen die von der Elternwelt vorgesehenen Lebensentwürfe entlang der Werte des ökonomischen Individualismus genutzt. Diese gegenkulturelle Ausprägung von Populärkultur griff damit die zentrale Intention der klassischen modernen Avantgarden, mit den Mitteln von Kunst und Ästhetik das Leben zu verändern, wieder auf und hauchte ihnen neues subversives Potential ein, nachdem sich deren Strategien in der Sphäre der „hohen“ Kunst totgelaufen hatten. Zwar war die postmoderne Vereinnahmung der avantgardistischen Anti-Ästhetik durch die massenorientierte „Kulturindustrie“ in den 1960ern noch nicht erfolgt, aber Surrealismus, Dadaismus und andere Bewegungen hatten ihr Innovations- und Schockpotential längst verbraucht und fanden sich bereits, von der „Institution Kunst“ verschluckt, im Kanon der Universitäten und Museen wieder. Von ihnen war keine Befreiung mehr zu erhoffen. Im Diskurs des Pop der 1960er und 70er Jahre bäumte sich das alte avantgardistische Projekt der Moderne zum letzten Mal auf. Seinen Anspruch, durch die Überwindung der Grenze zwischen Kunst und Leben Individuum und Gesellschaft aus Beschränkung und Stagnation zu befreien, konnten die Ausdrucksformen des Pop dadurch revitalisieren, dass sie eine weitere Grenze überschritten, an der die alten Avantgarden zwar gekratzt, nicht aber auf breiter Front durchbrochen hatten: Jene Grenze zwischen elitärer Hochkultur und der lange Zeit als trivial und nicht kunstwürdig verachteten Massenkultur. Huyssen hat diese Kluft schon im Titel seines Buches als „Great Divide“ bezeichnet. Die Pop-Art ist das augenfälligste Beispiel für die Öffnung der Kunst für die (scheinbare) Banalität des Alltäglichen. Aber auch das Alltägliche wandte sich der Ästhetik zu. Huyssen beschreibt die damit verbundene utopische Erwartung folgendermaßen: Pop seemed to liberate high art from the isolation in which it had been kept in bourgeois society. […] A new avenue seemed to lead almos t by necessity to the bridging of the traditional gap between high and 75 | Tom Holert/Mark Terkessidis: „Einführung in den Mains tream der Minderheiten“, in: dies. (Hg.): Mains tream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1996, S. 5–19, hier: S. 12. 76 | Huyssen: a. a. O., S. 141.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN low art. From the very beginning, Pop proclaimed that it would eliminate the his torical separation between the aes thetic and the non-aes thetic, thereby joining and reconciling art and reality. 77

Der letzte Satz dieses Zitates belegt den avantgardistischen Anspruch der gegenkulturellen Popkultur der 1950er und 60er Jahre. In den diversen seit dieser Zeit entstandenen Subkulturen des Pop wurde der Versuch unternommen, durch eine Ästhetisierung des Alltagslebens, oft in Verbindung mit einer explizit gegen die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft gerichteten Lebenspraxis (etwa durch Konsumverweigerung, Drogenexperimente und den freien Umgang mit Sexualität), jene Utopie der Befreiung im authentischen Außen zu verwirklichen, an denen die klassischen hochkulturellen Avantgarden gescheitert waren. Diese in der Regel von Jugendlichen getragenen Bewegungen versuchten durch eigene künstlerische Ausdrucksformen (die auch Ausdrucksformen ausgegrenzter ethnischer Minderheiten – etwa in der Musik – appropriierten), eigene Codes und eigene Lebensstile der Entfremdung im „Establishment“ zu entkommen. Subkulturen wie Rocker, Biker, Beatniks, Hippies, Mods oder später auch Punks vereinten Ästhetik und Lebensweise in grundsätzlicher, als authentisch verstandener Opposition zu den Normen der Mehrheitsgesellschaft. Die Teilnehme an subkultureller Praxis war ein identitätspolitischer Akt gegen die interpellativen Anrufungen und normativen Zwänge der Mainstreamgesellschaft. Dabei waren die verschiedenen Formen des Pop nicht vor den Vereinnahmungsmechanismen der Gesellschaft gefeit. Anders als bei den hochkulturellen Avantgarden war es hier nicht die Institution Kunst, sondern die Kulturindustrie, die sich das subkulturelle Inhalts- und Zeichenrepertoire einverleibte, seine subversiven Kanten abschliff, es massenkompatibel machte oder als Innovationsreservoir für die eigene Produktion plünderte. Wie jeder gegenkulturelle Diskurs war auch Pop der ständigen Gefahr ausgesetzt, durch die Inkorporationsstrategien der Mehrheitskultur seines wichtigsten kulturellen Kapitals beraubt zu werden: Authentizität und Glaubwürdigkeit. Holert und Terkessidis haben dieses permanente Spannungsverhältnis zwischen oppositioneller und massentauglicher Populärkultur für das Feld der Musik beschrieben, strukturell gilt es aber genauso für die bildende Kunst (etwa in Gestalt der zunächst sehr angefeindeten Pop-Art oder der Street Art) oder für die sogenannte Pop-Literatur78: Aber die dissidente Authentizität dauert nur einen kurzen Moment, dann kommen die bösen äußeren Mächte und kooptieren das gerade Gespielte. Kaum jedoch glauben sich diese Mächte – also die Indus trien der Älteren – im Besit ze dieser Authentizität, so entgleitet sie ihnen und taucht irgendwo anders wieder auf. Neue bewegliche junge Leute spielen andere Töne oder auf anderen Geräten. Und bis sich die Unwissen77 | Ebd., S. 143. 78 | Einen guten Überblick über das Phänomen der Pop-Literatur in den USA und Wes teuropa findet sich in: Heinz Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur, München 2003. Geradezu exemplarisch für die Verschmelzung von Avantgarde und Populärkultur zu „Pop“ spricht, dass beispielsweise die Beatautoren wie Kerouac, Burroughs, oder Ginsberg oftmals beiden Diskursen zugeordnet werden.

W IDER DIE G RENZE ZWISCHEN K UNST UND L EBEN den mühsam zum Ort der neues ten Hips ter geschleppt haben, um ihn zu erobern oder die Hips ter selbs t zu korrumpieren, is t die Authentizität längs t schon wieder verschwunden. 79

Erst die gesellschaftliche Ausdifferenzierung im Zuge der postmodernen Wende machte die „Mythen über Pop, die in den achtziger Jahren tatsächlich noch zu einer politischen Praxis taugten […] fragwürdig.“80 Die binäre Struktur von authentisch-subversiver Subkultur und industriell produzierter Massenkultur, in die die Produkte und Codes des subversiven Diskurses nur um den Preis ihrer Entschärfung eingehen konnten, ist angesichts des Auf kommens der Kontrollgesellschaften obsolet geworden. Für Holert und Terkessidis waren Pop(sub)kulturen historisch gesehen „spezifische (und erfolgreiche) Widerstandsformen gegen die Disziplinargesellschaft“, die „wie andere soziale Bewegungen auf eine ambivalente Weise zu deren [der Kontrollgesellschaft – d. Verf.] Herbeiführung beigetragen [haben].“81 Wie den Avantgarden im Bereich der Kunst, fehlt nun auch den Pop-Subkulturen das klare Feinbild eines homogenen Mainstreams. Es ist vielmehr ein kleinteiliger „Mainstream der Minderheiten“ entstanden, der die vielfältigen Ausdrucksformen sub- bzw. popkulturellen Widerstands in seine pluralistische Markt- und Kontrolllogik integriert. Die Kulturindustrie hat sich zwar immer der Popmythen von Auf lehnung und Rebellion bedient, doch in den Kontrollgesellschaften muss sie Dissidenz nicht mehr „weichzuspülen“, um sie massenkompatibel zu machen. Vielmehr wird jetzt das authentisch-rebellische nicht mehr nur für die avantgardistisch-subkulturellen Ränder, sondern für die Mehrheit zum Konsumanreiz. War die Glättung popkulturellen Widerstands durch die Kulturindustrie noch der in der Mittelklasse aufgegangenen bürgerlichen Wertestruktur der modernen Disziplinargesellschaft geschuldet, kann in der Kontrollgesellschaft rohe, ungeschliffene Dissidenz selbst verkauft werden. Für Holert und Terkessidis markiert das 1992 erschienene Album Smells like Teen Spirit der amerikanischen Band Nirvana einen Wendepunkt, weil seitdem die Kulturindustrie „zum ersten Mal nicht Glättung, sondern kompromisslose Abweichung“ in allen Formen verlangte, was dazu führte, dass sich der „Mainstream nun selbst als Minderheit“ präsentieren konnte.82 Betrachtet man aber – ein für diese Arbeit naheliegendes Beispiel – den Erfolg, den Kathy Ackers Romane in den 1980er Jahren in Großbritannien hatten (während sie ironischerweise in Deutschland zur gleichen Zeit zensiert wurden), zeigt sich, dass diese Entwicklung schon einige Jahre vorher ihren Anfang genommen hatte. Die Metapher des „Mainstreams der Minderheiten“ ist ein Versuch, das komplexe Verhältnis von sub- und mehrheitskulturellen Diskursen im expressiven Individualismus der postmodernen Kontrollgesellschaften zu beschreiben. Hier greift wieder Paul 79 | Holert/Terkessidis: a. a. O., S. 5. 80 | Ebd., S. 6. Hier genaue, his torische Zäsur fes t zuset zen, is t schwierig. Es gibt gute Argumente, in der Punkbewegung Ende der 1970er bzw. Anfang der 80er die let zte popkulturell-avantgardis tische Subkultur der alten Schule zu sehen. 81 | Ebd., S. 14. 82 | Ebd., S. 6.

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Manns Begriff des „shopping mall pluralism“ (s.o.). Der Konsum bestimmter Zeichen und Produkte ungeglätteter Dissidenz wird zum Distinktionsmerkmal innerhalb der Gesellschaft, das dem Konsumenten die Illusion vermittelt, er oder sie würde tatsächlich subversiv handeln. Gemessen an den alten Idealen der modernen bürgerlichen Wertestruktur mag das auch so sein, doch diese hat ihre flächendeckende Hegemonie in vielerlei Hinsicht eingebüßt. Das Gefühl der Befreiung, das der Einzelne bei seinem Konsum haben mag, ist, trügerisch. Es wird nur die Norm der Mehrheitsgesellschaft gegen die Norm der Subkultur getauscht – der Konformitätsdruck bleibt derselbe. Die Subkultur kann in diesem Spiel – anders als zu Zeiten der modernen Disziplinargesellschaft – nicht mehr Authentizität für sich beanspruchen als der Mainstream. Im kleinteiligen Machtnetz der postmodernen Kontrollgesellschaften wird auch sie Teil der herrschenden Ordnung: „Während Pop früher zumindest die Idee einer ,anderen‘ Seite, wie falsch das schon immer gewesen sein mag, aufrecht erhielt, findet das neue gesellschaftliche Kontrollethos in den Fluchtlinien selbst statt.“83 So teilen Pop und Avantgarde, versteht man sie als teilkongruente subversivtransgressive Diskurse, nach der postmodernen Wende das gleiche Problem: Ihnen fehlt das utopische „Außen“. Dennoch warnen Holert und Terkessidis davor, deswegen „mit den (sub-)kulturellen Praktiken pseudoradikal abzuschließen. Damit wäre jede Möglichkeit dahin, auf die Verhältnisse anders als kulturpessimistisch zu reagieren.“84 Somit bleibt dem Pop nur dynamisch und flexibel zu bleiben und stets Ausdrucksformen und Subkulturen zu entwickeln, die sich zwischen jenen Minderheiten bewegen, die mittlerweile den Mainstream ausmachen.

83 | Ebd., S. 15. 84 | Ebd., S. 10.

Zweiter Teil: Das Transgressive bei Kathy Acker

Vorwort zur Analyse

Kathy Ackers Literatur ist ein idealtypisches Beispiel für jene Ausprägung transgressiver Kunst, die versucht, dem avantgardistischen Projekt neue ästhetische und funktionale Möglichkeiten auch über die postmoderne Wende hinaus zu erschließen. Gerade weil sich ihr künstlerisches Schaffen genau über den Zeitraum dieses Wandels erstreckt, kann sie als exemplarisch für die Veränderungen in der Literatur der Überschreitung betrachtet werden. Waren ihre schriftstellerischen Anfänge zunächst noch von dem alten Glauben an ein „Außerhalb“ des Systems gekennzeichnet, weist ihr Werk seit den späten 1970er Jahren eine deutliche Postmodernisierung dieses klassisch-modernen transgressiven Anspruchs auf. Im Zuge dieser Entwicklung hat ihr Schreiben eine selbstreflexive Tiefe gewonnen, die sich nicht nur kritisch mit Strukturen und Inhalten von hegemonialen Diskursen, sondern auch mit gegenkulturellen Praktiken und deren emanzipatorischen Ansprüchen auseinandersetzt. Ihre Heils- und Erlösungsversprechen werden in ihrem Werk stets einer kritischen Prüfung unterzogen, was es schwer macht, Acker einer bestimmten Richtung oder Bewegung zuzurechnen. So ist Acker beispielsweise ohne Zweifel eine feministische Autorin in dem Sinn, dass sie gegen patriarchale Machtstrukturen in der Gesellschaft anschreibt. Aber sie tut das, anders als die Vertreter eines klassisch modernen Feminismus, nicht vom Standpunkt einer essentiellen weiblichen Identität aus, die sich nur aus der Unterdrückungssituation durch das „andere Geschlecht“ (in diesem Fall das männliche) lösen muss, um „frei“ zu sein. Sie ist eindeutig eine subkulturelle Autorin, ohne dem Missverständnis zu erliegen, in der subkulturellen Verweigerungshaltung und Selbststilisierung per se schon einen effektiven Ausweg aus gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen zu sehen. Sie kritisiert die Auswüchse des Kapitalismus, ohne sich dabei die teils dogmatische Ideologie oder die organisierten Protestformen der Neuen Linken der 60er Jahre zu Eigen zu machen. Zweifellos ist Acker auch eine avantgardistische Künstlerin, die sich dabei aber gleichzeitig bewusst ist, dass eine Zusammenführung von Kunst und Leben allein die Gesellschaft nicht verändert. Sie ist eine kritische und theorieaffine Intellektuelle, die ihre Reflexionen jedoch nicht in der starren Form von akademischen Abhandlungen, sondern in literarischen Genrehybriden äußert, in denen Theorie und Fiktion, Autobiographie und Essayistik, Lyrik und Dramatik so un-

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entwirrbar ineinander fließen, dass sich ihr Werk jedweder eindeutigen Gattungszuordnung entzieht. Ihre Romane, so Reinharts treffende Bilanz, „provozieren alle: feministische Aktivistinnen ebenso wie das konservative Establishment, Traditionalisten und Progressive beiderlei Geschlechts.“1 In Ackers Werken finden sich Elemente beider bereits beschriebener transgressiver Traditionen künstlerischer Praxis: Zum einen dienen ihr hochkulturelle Avantgardisten wie Genet, Rimbaud, Baudelaire oder Burroughs ausdrücklich als Vorbild und Inspiration. Andererseits hat sie die Grenze zwischen „hoher“ und „trivialer“ Kunst hinter sich gelassen und bedient sich in ihrer plagiaristischen Art zu schreiben ohne Berührungsängste bei populären Genres wie Science Fiction, Thriller oder Pornographie. Ihre Literatur trägt den konfrontativen, antibürgerlichen und antiinsitutionellen Gestus der historischen Avantgarden bzw. deren Aktualisierung in der Gegenkultur der 1960er Jahre weiter, drückt aber gleichzeitig eine tief sitzende Skepsis gegenüber dem diesen Diskursen eigenen Glauben an authentische Alternativen von Subjektivität aus, so lange diese fixierte Identitätsentwürfe beinhalten. In ihren Romanen geht es nicht darum, die ethische Sicherheit einer „guten“ Gegenidentität zu propagieren, sondern das Konzept der Identität an sich in Frage zu stellen. Für Acker ist jede Form von stabiler Identität normativ und bietet daher Angriffsflächen für die unterschiedlichsten Formen sozialer Kontrolle. Ihr Projekt zielt darauf ab, die Wirkmächtigkeit aller operativen Fiktionen identitärer Authentizität in Individuum und Gesellschaft zu zerstören. Den für die folgende Analyse äußerst nützlichen Begriff der „operativen Fiktion“ hat Nicola Pitchford am Beispiel der weiblichen Identität definiert: „The category ,woman‘ may be artificially bounded – a fiction – but it is nevertheless an operative [Hervorhebung im Original – d. Verf.] fiction. It carries real consequences in terms of how I and others are viewed, treated, and how we conceive of ourselves and the world.“2 Verallgemeinert lässt sich der Begriff auch auf alle anderen Formen von Identität und Subjektivität anwenden, die ihre eigene Essentialität behaupten. Ackers Werk steht exemplarisch für ein Konzept postmoderner Avantgarde, das sich von der Vorstellung essentialistischer Alternativmodelle lossagt und versucht, in der Unbestimmtheit des Hybriden einen Ort kultureller Opposition zu finden. Dieses Hybride entsteht nicht einfach durch nihilistische Ablehnung, sondern durch kreative Auseinandersetzung mit allen Formen von Zuschreibung. So lässt sich Ackers Prosa als permanenter Grenzgang beschreiben, in dem nicht nur über, sondern auf Grenzen gegangen wird. Hier vermischen sich identitäts-, sexual-, körper- und gesellschaftspolitische ebenso wie kultur- und kunstphilosophische Diskurse. Ihre Romane können gleichermaßen als Diagnose und Symptom der kulturellen Veränderungen im Zuge der postmodernen Wende zur Zeit ihrer Entstehung gelesen werden. Gerade im Hinblick auf das breite Themenfeld der Transgression erscheinen sie als Experimentierfeld, in dem symbolische Grenzen, gesellschaftliche Konfliktlinien, Nor1 | Reinhart: a. a. O., S. 434. 2 | Pitchford: a. a. O. S. 13.

V ORWORT ZUR A NALYSE

menstrukturen, Identitätsmodelle und ästhetische Kategorien, die durch kulturelle Enthierarchisierungstendenzen unter Druck geraten sind, neu verhandelt werden. Der Film- und Kulturtheoretiker Peter Wollen hat dies in einer kurzen, aber sehr treffenden Charakterisierung zugespitzt: Acker’s work, more than that of any other writer I can think of, challenged the traditional lines of demarcation between poetry and novel, between high culture and popular trash, and perhaps mos t important of all, between literature and art world. In all these respec ts, her work signalled the tremors of a deep cultural shift, as she sought to negotiate a new relationship between avant-garde artis t and popular entertainer, between esoterica and pulp, between conceptualism and narrative.3

Acker selbst ist den Weg dieses kulturellen Wandels Schritt für Schritt mitgegangen. Deswegen erscheint es mir für die folgende Analyse ihrer Literatur hilfreich, zumindest die Eckpunkte ihres Lebensweges nachzuzeichnen. Zwar lässt sich nicht eins zu eins aus dem Leben ihrer Verfasser erklären, ist aber andererseits – anders als die verschiedenen Schulen des Formalismus behaupten – auch kein davon vollständig abgetrennter Kosmos. Dennoch geht es mir nicht darum, die Sperrigkeit ihrer Texte mit den Methoden des Biographismus zu glätten und die zahlreichen autobiographischen Referenzen eindeutig bestimmten Ereignissen im Leben der Autorin zuzuordnen. Dies würde schon deswegen keinen Sinn machen, weil Acker in ihrer intertextuellen Kritik am Autorenbegriff auch das Konzept der Autobiographie dekonstruiert, indem sie Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte fiktionalisiert oder mit biographischen Elementen über reale Personen oder völlig fiktive Charaktere vermengt. Da für Acker als Avantgardistin die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht maßgeblich ist, besteht eine gewisse Wechselwirkung zwischen ihren literarischen Experimenten mit verschiedenen Identitätskonzepten und ihrer Biographie. Gemessen an dem bruchlosen Ideal des bürgerlichen Lebensnarrativs, das ihr „von Haus aus“ (im Wortsinne) sicherlich zugedacht war, ist ihr permanentes Experimentieren mit alternativen Lebens- und Erfahrungsformen als Analogie zu ihrer Dekonstruktion linearer Erzählmuster in ihren Romanen zu verstehen. Eine biographische Skizze über Ackers Leben zu zeichnen gestaltet sich auf Grund der schlechten Quellenlage als äußerst schwierig. In verschiedenen Artikeln, Aufsätzen und Nachrufen finden sich immer wieder einzelne Angaben oder Anekdoten zu ihrer Vita, die sich zu einem teilweise widersprüchlichen, oftmals lückenhaften oder an manchen Stellen offensichtlich eher dem Mythos des „Gesamtkunstwerks Kathy Acker“ denn einer ordentlichen Recherche geschuldeten Bild zusammenfügen lassen. Somit lässt sich ihre Lebensgeschichte ähnlich schwer rekapitulieren wie ihre Prosa. Bis dato hat sich niemand des Projekts angenommen, eine ausführliche Biographie über Acker zu schreiben. Der umfassendste und ergiebigste biographische Referenzpunkt ist der im Jahr 2007 entstandene Dokumentarfilm Wer hat Angst vor Kathy 3 | Peter Wollen: „Kathy Acker“, in: Scholder/Harryman/Ronell: a. a. O., S. 1–11, hier: S. 2.

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Acker? der österreichischen Künstlerin Barbara Caspar.4 Die Filmemacherin hat dafür ausgiebige Gespräche mit Freunden, Verwandten und Weggefährten Ackers geführt, Einblick in ihren Nachlass erhalten und umfangreiches Bild- und Tonmaterial (Videoaufzeichnungen von Lesungen, Fernsehauftritten, Interviews und Performances, Tonaufnahmen von Radiosendungen sowie private Fotos und Filmaufnahmen) zumindest auszugsweise für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auch wenn Caspars Film noch einige Leerstellen aufweist, füllt er doch viele Lücken, die die skizzenhaften biographischen Abrisse über Ackers Leben in Artikeln, wissenschaftlichen Aufsätzen und Nachrufen zuvor offen gelassen haben. Soweit ich nicht explizit auf andere Quellen verweise, sind die Informationen der folgenden biographischen Skizze diesem filmischen Portrait entnommen. Kathy Acker wurde vermutlich am 18. April 1947 als Karen Lehmann in eine jüdische Mittelklassefamilie in Manhattan geboren. Zum genauen Geburtsjahr gibt es jedoch verschiedene von einander abweichende Angaben, wie der Eintrag zu Acker in Kindlers Literatur Lexikon auf listet: „Als Geburtsjahr nennt der offizielle Library of Congress-Eintrag 1948, mehrere Nachrufe 1944, persönlich Nahestehende bestanden auf 1947, wie auch die Geburtsurkunde ausweisen soll[.]“5 Ihr Vater hat die Familie noch vor ihrer Geburt verlassen, nach ihrer eigenen Aussage hat Acker ihn nie kennengelernt. Von ihrer Mutter, die Ende der 1970er Jahre Suizid6 begangen hatte, fühlte sie sich zeitlebens abgelehnt. Dieser Tatsache ist zweifellos die durchweg negative Zeichnung von Mutterfiguren in Ackers Romanen geschuldet, von der im Folgenden noch zu reden sein wird. Trotz dieser schwierigen Familiensituation schien ihr Lebensweg zunächst entlang der klassischen vorgedachten Konventionen der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft zu verlaufen. Ihre Leistungen in der Schule waren ausgesprochen gut und sie war bei den Lehrern beliebt. Eine Mittelklassebiographie wie aus dem Bilderbuch schien sich zumindest oberflächlich abzuzeichnen. So übte sie sich nach ihrem Schulabschluss früh in dem Versuch, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Im Jahr 1967 schließt sie, gerade 20 jährig, eine kurzlebige Ehe mit einem jungen Mann namens Robert Acker, über den weder in der Sekundärliteratur, noch in Caspars Dokumentarfilm nennenswerte Informationen zu finden sind. Lediglich im Interview mit Andrea Juno und V. Vale äußert sich Acker kurz dazu und erklärt, sie habe geheiratet, „because that was the only way I could get money from my parents. But it didn’t mean [Hervorhebung im Original – d. Verf.] anything[.]“7 Retrospektiv wirkt Robert Acker – wie auch die kurze Eheepisode an sich – wie eine Fußnote in Ackers Biographie, von der sie letztendlich nur den Nachnamen behal4 | Wer hat Angs t vor Kathy Acker? (Deutschland/Ös terreich 2007, 79 min., Regie: Barbara Caspar) 5 | Alexander Greiffens tern: „Kathy Acker“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kindlers Literatur Lexikon, Band 1, Stuttgart und Weimar 2009, S. 75f., hier: S. 75. 6 | Vgl. dazu: Sylvère Lotringer/Kathy Acker: „Devoured by Myths. An Interview with Sylvère Lotringer“, in Kathy Acker: Hannibal Lec ter, My Father, New York 1991, S. 1–24, besonders S. 3. 7 | Andrea Juno/V. Vale: „Kathy Acker“, in: dies. (Hg.): Angry Women, San Francisco 1991, S. 177–185, hier: S. 179.

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ten hat. Caspar zeigt in ihrer Dokumentation ein Foto der Hochzeitszeremonie. Die darauf abgebildete, schüchtern wirkende junge Braut erscheint dem Betrachter wie die Antithese zu der selbstbewussten, mit Tätowierungen und Piercings geschmückten Rebellenpersona, als die sich Acker später inszenieren sollte. Auch über Ackers zweite Ehe, die sie in den 70er Jahren für einige Jahre mit dem Komponisten Peter Gordon geführt hat, gibt es nur sehr wenige Informationen. Sie erwähnt im Interview mit Ellen G. Friedman lediglich eine zweite Ehe (ohne auf den Namen des Ehepartners einzugehen), im Gespräch mit Sylvère Lotringer eine mehrjährige Beziehung zu Gordon (ohne jedoch die Eheschließung zu erwähnen)8 und erklärt im Interview mit Juno und Vale, dass eine langjährige Beziehung (der Zusammenhang macht klar, dass es sich um die Beziehung zu Gordon handelt) letztendlich am Akt der Eheschließung scheiterte: „Actually, getting married fucked up the relationship.“9 Trotz dieser Eheepisoden hat sich Ackers Interesse für das „Andere“ abseits der bürgerlichen Ordnung, besonders in Gestalt von Kunst jenseits des offiziellen Kanons früh entfaltet. Retrospektiv betrachtet erweist sich ihr Weg durch verschiedene sub- und gegenkulturelle Lebens- und Erfahrungsformen als ständige Passage, als eine Reihe von suchenden Grenzgängen, die letztendlich niemals in ein authentisches Außen führen. Acker lebte das avantgardistische Prinzip der „Auf hebung in Permanenz“ auch im realen Leben und reagierte auf konformistische Zwänge und identitäre Essentialismusansprüche von welcher Seite auch immer mit Mobilität. Im Rückblick lässt sich sagen, dass die flexible und schwer arretierbare Hybridität ihres Werkes sich auch in ihrer Vita widerspiegelt. Bereits als Teenager lernte sie zahlreiche Größen der New Yorker UndergroundFilmszene wie Stan Brakhage, Ron Rice, Gregory Markopoulos und Jack Smith kennen.10 Mit dem damals jungen Avantgardefilmtheoretiker P. Adams Sitney, der später einer der Mitbegründer des Anthology Film Archives in New York werden und mit dem 1974 erstmals erschienenen Buch Visionary Film: The American Avant-Garde eines der bedeutendsten Werke über den amerikanischen Experimentalfilm schreiben sollte, hatte sie in dieser Zeit eine Beziehung und knüpfte weitere Kontakte zur Künstlerszene im East Village.11 Die nächste Stufe auf dem Weg der radikalen Infragestellung der gegebenen sozio-kulturellen Ordnung fand, wie bei vielen Mittelschichtskindern ihrer Generation, im universitären Umfeld statt. Von 1964 bis 1966 hatte sie an der Brandeis University unter anderem bei Herbert Marcuse studiert, dem sie nach seinem Wechsel an die University of California in San Diego folgte und für den sie als „teaching assistent“ 8 | Vgl. hierzu: Ellen G. Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, in: Review of Contemporary Fic tion, 9:3 (1989:Fall), S. 12–22, S. 21, sowie: Lotringer/Acker: a. a. O., S. 2f. 9 | Juno/Vale: a. a. O., S. 179. 10 | Vgl. hierzu: Lotringer/Acker: a. a. O., S. 3. 11 | Vgl. hierzu: Acker: „A Few Notes on Two of my Books“, a. a. O., S. 33; sowie: Nayland Blake: „Kathy Acker: ,Because I want to Live Forever in Wonder‘“, in: Scholder/Harryman/Ronell: a. a. O., S. 99–109, besonders: S. 103.

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arbeitete.12 Es ist bezeichnend für den Charakter ihrer späteren künstlerischen Transgressionen, dass Marcuse einer ihrer frühen intellektuellen Einflüsse war, ist er doch die Personifizierung des Übergangs vom politischen zum kulturellen Radikalismus.13 In dieser Zeit engagierte sich Acker auch bei den Students for a Democratic Society (SDS), doch diese Berührung mit dem politischen Radikalismus der Studentenbewegung dauerte nur kurz. Sie wandte sich bald der künstlerischen Betätigung und im Besonderen dem Schreiben als Form des Widerstandes zu. In der alternativen Literaturszene der Westküste machte Acker unter dem Pseudonym „Black Tarantula“ ihre ersten literarischen Gehversuche und hielt erste Lesungen ab. Somit wurzeln die Anfänge ihres künstlerischen Schaffens im gegenkulturellen Zeitgeist der 1960er Jahre, der noch an der Möglichkeit einer Befreiung des Individuums aus den Zwängen des „Systems“ durch transgressives Handeln und transgressive Kunst festhielt. In ihrer Zeit in Kalifornien hat Acker eine Prägung erfahren, die sie, wie Peter Wollen im Rückblick feststellt, trotz aller Weiterentwicklung, nicht mehr losgelassen hat: „Kathy Ackers aesthetic and political stance […] was set for life [meine Hervorhebung – d. Verf.] in San Diego, where she went as a student toward the end of the 1960s.“14 In der Tat lassen sich selbst Ackers dem postmodernen Transgressionsverständnis zugewandten Werke der 1980er und 90er nur im Kontext ihrer Politisierung in dieser an revolutionärer und grenzüberschreitender Energie so reichen Zeit verstehen. Denn auch wenn sich in ihren Werken eine große Skepsis gegenüber den Befreiungsversprechen der Gegenkultur der „Sixties“ manifestiert, sind ihre Romane doch immer von jener überzeugten Ablehnung der Normen und Werte eines MainstreamAmerika gekennzeichnet, die sich damals so lautstark geäußert hat. Blickt man auf Ackers intellektuelle und künstlerische Einflüsse in dieser Zeit, verwundert das nicht: Hier sind neben Marcuse Künstlerpersönlichkeiten wie William S. Burroughs, David und Eleanor Antin oder Jerome Rothenberg zu nennen, die sie neben den klassischen europäischen Avantgarden auch mit amerikanischen Bewegungen wie der Beat Generation oder der Black Mountain School bekannt machten.15 Ihre Literatur hatte von Anfang an ein ausgeprägtes konzeptionelles Element. Den Zugang zum experimentellen Schreiben fand sie in dieser Zeit vor allem durch die von William Burroughs und Brion Gysin entwickelte Cut-Up-Methode, bei der Texte buchstäblich ineinandergeschnitten werden, um die ideologisch-normative Funktion der Sprache zu dekonstruieren (ich werde im Kapitel über Ackers literarische Ästhetik noch ausführlich auf diesen Einfluss eingehen). Zudem experimentierte sie mit alternativen Distributionswegen für ihre Literatur, die die Mechanismen des konventionellen, kommerziellen Literaturbetriebs ablehnen: 12 | Vgl. hierzu: Wollen: a. a. O., S. 4; Ebbesen: a. a. O., S. 7f. 13 | „In fac t, Marcuse’s idea of repressive tolerance can be said to s tand at the beginning of contemporary cultural radicalism.“ (Fluck: „Literature, Liberalism, and the Current Cultural Radicalism“, a. a. O., S. 215.) 14 | Wollen: a. a. O., S. 3. 15 | Vgl. ebd., S. 4.

V ORWORT ZUR A NALYSE [S]he had dis tributed her writing in serial form as part of a mail art network, another spin-off from conceptualism, this time in the form as part of a mode of dis tribution rather than produc tion, one with its own political spin as the model for a de-centered community, based on reciprocity and a culture of the gift rather than the commodity. She sent her work to anyone who asked for it, free.16

Im Jahr 1973 kehrte Acker nach New York zurück und wurde dort durch verschiedene Ausprägungen der „Underground Culture“ im East Village beeinflusst. Zunächst fand sie dort Anschluss an das „St. Mark’s Poetry Project“, das seit 1966 eine Plattform für junge alternative Literaten bot. In dieser Szene fühlte sie sich nach eigener Aussage aber nicht heimisch, auch weil sie sich eher als Prosaautorin denn als Lyrikerin verstand. Zudem führte eine andere, nicht künstlerische Erfahrung dazu, dass sie sich im Hinblick auf ihre Auffassung von gegenkulturellem Handeln von den etablierten Formen der 1960er Jahre entfernte: Aus Geldmangel sah sich Acker gezwungen, in einer Sex-Show in der 42nd Street zu arbeiten, was ihrer eigenen Aussage nach ihr Weltbild nachhaltig verändert hat: „When I was in the university at San Diego I was SDS, but the student left was very elitist. The 42nd Street experience made me learn about street politics. […] Then you see it in a different way, especially power relationships in society.“17 Die Arbeit im damaligen Rotlichtviertel von Manhattan war für Ackers kritisches Bewusstsein ein entscheidender Wendepunkt. Von da an stand die diskursive und institutionelle Verknüpfung von Kapitalismus und Phallozentrismus im Fokus ihrer Kunst- und Identitätspolitik und rückte damit auch ins Zentrum der Gesellschaftskritik, die sie in ihrer Literatur unternahm. Der Blickwinkel der „Politik der Strasse“ wird zum zentralen Bezugspunkt in ihren Romanen, weil ihrer Ansicht nach dort, was auch die folgende Analyse zeigen wird, diese Verknüpfung ungeschminkt zu Tage tritt. Diese Politisierung, die ihrem literarischen Werk trotz aller Transformationen einen klaren Standpunkt verschaffte, führte zum Bruch mit der St. Mark’s-Lyrikszene, in der sie ohnehin nie wirklich angekommen war: I really wasn’t comfortable there. I felt very rejec ted. […] At that point the culture was hippy and all these hippies in the St. Mark’s Poetry Projec t at that time were very much into fucking around with each other and writing about it.[…] So I was very separated culturally from these people. And they thought I was weird, I was some kind of a pervert.18

Acker wandte sich der ihr in vieler Hinsicht verwandteren und gerade auf blühenden Kunstszene im East Village zu, wo in Nachtclubs wie dem CBGB und später dem etwas elitäreren Mudd Club, in zahlreichen (meist illegalen) Galerien oder auf offener Straße eine vitale und kreative Subkultur entstand, in der Musik, Performancekunst, 16 | Ebd., S. 5. 17 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 4f. 18 | Ebd., S. 5f.

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Literatur und Bildende Kunst für einige Jahre eine ebenso radikale wie produktive Verbindung eingehen konnten, ehe die Inkorporierungskräfte der Institution Kunst viele der Protagonisten dieser Szene in mehr oder weniger großem Maß vereinnahmte: „On the Lower East Side others began to cross-hatch avant-gardism with porn, pulp, and schlock, the lower reaches of popular culture, in the birthpangs of a vernacular postmodernism.“19 Dieses Milieu stand ihr nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch näher als die hippieske St. Mark’s-Szene. In dem Konzeptkünstler Sol Lewitt fand sie dort auch einen prominenten Förderer, der die Publikation ihrer ersten beiden Bücher The Childlike Life of the Black Tarantula: Some Lives of Murderesses (1973) und I Dreamt I Was a Nymphomaniac: Imagining (1974) unterstützte. In diesem Umfeld verkehrte auch der Literaturprofessor Sylvère Lotringer regelmäßig, dem das Verdienst zugeschrieben wird, die poststrukturalistische französische Philosophie in den akademischen Diskurs der USA eingeführt zu haben. Acker begann eine Affäre mit ihm und erhielt durch ihn darüber hinaus wichtige intellektuelle Impulse, die ihrem weiteren Werk eine entscheidende Prägung geben sollten. Es war Lotringer, der Acker mit einer Reihe von Theoretikern in Berührung brachte, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass sich der transgressive Gestus ihres Werkes der sich entwickelnden Postmoderne öffnen konnte: Gilles Deleuze und Felix Guattari, R. D. Laing und natürlich Michel Foucault. Deren Denken war für Acker praktische Philosophie, die als Grundlage für radikales Handeln dienen konnte: „When I had first read Foucault and Deleuze and Guattari and met Felix Guattari, I knew that those philosophers were working as they were working for cultural and political [Hervorhebung im Original – d. Verf.] reasons and purposes.“20 In den Schriften Schriften dieser Philosophen präsentierte sich Acker eine Form des Denkens, das im doppelten Sinne transgressiv war – nicht nur weil es sich gegen die herrschenden Machtverhältnisse richtete, sondern weil es die Grenze zwischen Theorie und Praxis überwinden wollte. In einem Interview mit Ellen G. Friedman äußert Acker ihr großes Unbehagen über die Vereinnahmung dieser Theoretiker durch den akademischen Diskurs, der diese Philosophie ihrer Meinung nach ihres subversiven Potentials beraubte: When I was firs t introduced to the work of Foucault and Deleuze, it was very political; it was about what was happening to the economy and about changing the political sys tem. By the time it was taken up by the American academy, the politics had gone to hell. It became an exercise for some professors to make their careers. 21

Für Acker werden all diese potentiell widerständigen Theorien zu Werkzeugen der Subjektivierung und Kontrolle, sobald sich die Universitäten (als Institutionen mehrheitsgesellschaftlicher Inkorporation) ihrer bemächtigen. 19 | Wollen: a. a. O., S. 6. Eine gute Beschreibung dieser Szene findet sich in: Robert Siegle: Suburban Ambush. Downtown Writing and the Fic tion of Insurgency, Baltimore und London 1989, S. 1–23. 20 | Kathy Acker: „Critical Languages“, in: dies.: Bodies of Work, a. a. O., S. 81–92, hier: S. 85. 21 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 20f.

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Trotz ihrer Wertschätzung für Persönlichkeiten wie Lotringer, Foucault, Deleuze oder Guattari, die, wie auch schon ihr früher Mentor Marcuse, allesamt ihre subversiven Gedanken als Professoren innerhalb des akademischen Betriebs entwickelt haben, sah Acker im Gelehrten universitärer Provenienz einen Zensor individueller, spontaner und unnormierter Kreativität. In ihrem wohl bekanntesten Roman Blood and Guts in High School heißt es dazu: A scholar is a top cop ‘cause he defines the roads by which people live so they won’t get in trouble and so society will survive. A scholar is a teacher. Teachers replace living dangerous creatings with dead ideas and teach these ideas as his tory and meaning of the world. Teachers torture kids. Teachers teach you intricate ways of saying one thing and doing something else. 22

Im Jahr 1984 zog Acker schließlich für einige Jahre nach England, wo sie mit ihrer Literatur zum ersten Mal nicht nur als Szenegröße Erfolg hatte, sondern kurzzeitig zu einer Art literarischem Popstar avancierte. Die ästhetische und inhaltliche Radikalität ihres Werks machte sie zu einer kontroversen und berüchtigten Figur im britischen Kulturbetrieb, für den es zu dieser Zeit äußerst schick war, sich mit ihr auseinanderzusetzen. In Caspars Film sind Ausschnitte aus den damals renommiertesten Literatur- und Kultursendungen im britischen Fernsehen zu sehen, in denen Acker entweder zu Gast oder zumindest Thema war (u.a. aus The Southbank Show mit Melvyn Bragg von 1984 und Writers Talk mit Angela McRobbie von 1986). Acker selbst stand diesem plötzlichen Ruhm, den sie nie gesucht hatte, distanziert gegenüber, weil er sich vor allem auf Seiten des Literaturestablishments zwar auf Neugier und Interesse gründete, jedoch nie zu vollständiger Akzeptanz führte. Entsprechend nüchtern hat sie ihn kommentiert: „[T]hey parade me as a freak, that’s the role I play for them.“23 Acker blieb für einige Jahre in England, ehe sie Ende der 1980er Jahre, trotz ihres vergleichsweise großen Erfolges dort, wieder in die USA zurückkehrte. Im Gespräch mit Larry McCaffery hat sie ihre Gründe für den Abbruch ihres Daseins als „Expatriate“ dargelegt. Neben privaten Motivationen (einer gescheiterten Beziehung) war hier vor allem ein drohender Rechtsstreit mit dem Bestsellerautor Harold Robbins ausschlaggebend, der eine unfreiwillige Konsequenz ihres konzeptionellen Plagiarismus war: [M]y own publisher let me know that they were taking one of my books off the market because they had been informed there was some chance that Harold Robbins might sue me over some material that I’d appropriated. Anyway, it was a horrendous experience that completely disrupted my life. I couldn’t even answer my phone for three weeks, so I jus t had to get out of the country for a while. 24 22 | Kathy Acker: Blood and Guts in High School, in: dies.: Blood and Guts in High School, plus two [Great Expec tations und My Death, My Life, By Pier Paolo Pasolini], London 1984, S. 68. Im Folgenden zitiert als B&G. 23 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 22. 24 | Larry McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, in: Mississippi Review, 20 (1991), S. 83–97, hier: S. 84.

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Acker ließ sich wieder in den Vereinigten Staaten nieder und setzte ihre Karriere dort in verschiednen Bereichen fort. Sie verfasste neben ihren radikalen Romanen und Theaterstücken zahlreiche Essays für so unterschiedliche Publikationen wie den Guardian, The Village Voice, Artforum oder Marxism Today, unterrichtete trotz ihrer kritischen Haltung gegenüber akademischen Institutionen an verschiedenen Kunsthochschulen, hielt weltweit Lesungen und veranstaltete Performances. Dabei schaffte sie es stets, sich zwischen Subkultur und Mainstream (der nun immer mehr zum Mainstream der Minderheiten wurde) zu bewegen, ohne sich von einem der beiden Diskurse vollständig vereinnahmen zu lassen. Im April 1996 wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Nach der für sie traumatischen Erfahrung einer Brustamputation wandte sie sich in einem letzten, sicherlich verzweifelten transgressiven Akt von der traditionellen Schulmedizin ab und zog sich in ein alternatives Behandlungszentrum in Mexiko zurück, wo sie am 30. November 1997 starb. Dieser kurze biographische Abriss zeigt, dass das permanente Wandeln auf und über Grenzen, so paradox es sich anhören mag, die größte Konstante in Ackers Leben war. Gleichzeitig spiegelt er auch exemplarisch die Transformation wieder, der transgressives Handeln und radikale künstlerische Praxis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterworfen war. Dieser Entwicklung in ihren Werken Schritt für Schritt nachzuspüren, wäre sicherlich ein interessantes Projekt, das ich aber in der folgenden Untersuchung nicht unternehmen möchte. Vielmehr werde ich mich auf eine konkrete Schaffensperiode beschränken und verschiedene inhaltliche und ästhetische Einzelaspekte der Transgression unter besonderer Berücksichtigung dieses Wandels analysieren. Dabei werde ich zeigen, dass Acker eine prototypische Vertreterin einer postmodernen, auf Hybridität und Kreativität abzielenden Literatur der Überschreitung ist, in diesem Zusammenhang aber oft die klassische Tradition zitiert und deren Projekt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Heterogenisierungsprozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufgreift. Sie dekonstruiert teilweise die essentialistischen Lösungsvorschläge des traditionellen Transgressionsmodells und identifiziert die Zwischenräume des Nichtfassbaren und Heterogenen als verbleibende Widerstandsoption für emanzipatorische Identitätspolitik und radikale Ästhetik. Die sechs Romane, die das Korpus meiner Untersuchung bilden, habe ich gewählt, weil sie exemplarisch für Ackers Literatur in den 1980er Jahre stehen: Great Expectations (1983), My Death, My Life by Pier Paolo Pasolini (1983), Blood and Guts in High School (1984)25, Don Quixote: Which was a Dream (1986), Empire of the Senseless (1988) 25 | Strenggenommen is t Blood and Guts in High School kein Roman der 80er Jahre. Er ents tand bereits 1978 und wurde von Acker zunächs t im Eigenverlag in kleins ter Auf lage veröffentlicht, ohne Beachtung zu finden. Ers t die Publikation durch die etablierten Verlage Grove Press und Picador im Jahr 1984 machte das Buch bekannt und seine Autorin berüchtigt. Aber vor allem hat der Roman, wie Susan E. Hawkins schreibt, „a pivotal position s truc turally and politically in terms of Acker’s trajec tory as a writer. Formally it marks the beginning of her serious use of plagiarism – in ac tuality a self-conscious appropriation of others’ texts – as a technical device[.]“ (Susan E. Hawkins: „All in the Family: Kathy Acker’s ,Blood and Guts

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und In Memoriam to Identity (1990). Der Fokus auf diese Phase von Ackers Schaffen erscheint mir aus drei Gründen sinnvoll: Zum Ersten waren die 1980er das Jahrzehnt, in dem sich die Postmoderne in den USA und der westlichen Welt als zentrales Kulturparadigma in allen Bereichen des Lebens durchzusetzen begann.26 Die Kulturkämpfe der 1960er und 70er Jahre hatten die Gesellschaft verändert, doch die subversiven Strategien ihrer gegenkulturellen Praxis und ihrer Kunst hatten aus den bereits beschriebenen Gründen an Potential verloren. Auch auf dem Feld der Literatur bestand die Notwendigkeit für Neues. Acker war eine jener Autorinnen, die in der Lage waren, diesen Anspruch zu erfüllen: „In den 80er Jahren sind es vor allem die Werke Kathy Ackers, die entschieden die Freiräume ausfüllen, die das Vorläuferjahrzehnt erschlossen hat, und die diese Freiräume erneut auszuweiten versuchen.“27 Zum Zweiten ist diese Dekade vor dem Hintergrund der Reaganadministration gerade im Hinblick auf die im vorherigen Kapitel angesprochene Repolitisierung avantgardistischer Kunst unter den Bedingungen des kulturellen Radikalismus besonders interessant, weil diese auch als Reaktion auf Versuche der institutionalisierten Politik zu verstehen ist, der soziokulturellen Liberalisierung und Ausdifferenzierung in Folge der gegenkulturellen und sozialen Bewegungen der 1960er Jahre durch eine besondere Betonung konservativer Werte entgegenzuwirken. Hierzu schreibt Reinhart: Die Republikanische Partei, die Repräsentanten der Neuen Rechten, die Wortführer der Neuen Chris tlichen Rechten und Ronald Reagan selbs t leis teten sich während der 80er Jahre (und darüber hinaus) ein ers taunlich kons tantes Feindbild. In beinahe allen Lebensbereichen wurden die Wertesys teme und Vertreter der radikalen Sixties zum ideologischen Hauptfeind erklärt; dort wurden – mit Recht – die Wurzeln bahnbrechender sozialer Umwälzungen, die Wurzeln des modernen Feminismus, des Lesbian and Gay Movement, [Hervorhebung im Original – d. Verf.] des neuen Selbs tbewuss tseins ethnischer Minoritäten ausgemacht. 28 in High School‘“, in: Contemporary Literature, 45.4 (Winter 2004), S. 637–658, hier: S. 638). Da er damit das Mus ter für Ackers literarische Strategie der 1980er Jahre vorgibt, is t es sinnvoll, den Text in die Reihe der ausgewählten Romane einzubeziehen. 26 | Dies spiegelt sich auch in der Explosion der akademischen Pos tmodernedebatten in diesem Jahrzehnt wider. Die bereits zitierten Arbeiten von Huyssen, Jameson, Hutcheon, Welsch sowie Chris ta und Peter Bürger zählen zu den maßgeblichs ten Werken dieses Trends. 27 | Reinhart: a. a. O., S. 422. 28 | Ebd., S. 44. Da Acker einen Teil der 1980er Jahre in England verbracht hat, weis t Paul Giles auf die Gemeinsamkeiten zwischen dem Amerika Reagans und dem Großbritannien unter der Regierung Margaret Thatchers hin, auch wenn let zterer die chris tlich-moralische Komponente fehlte: „Nevertheless, the personalities of Thatcher and Reagan made them particularly easy to caricature and demonize, and in Acker’s work we see an attempt to criticize national conditions through an intense focus on the s tate’s political figurehead.“ (Paul Giles: „His toricizing the Transnational: Robert Coover, Kathy Acker and the Rewriting of British Cultural His tory, 1970–1997“, in: Journal of American Studies, 41.1 (April 2007), S. 3–30, hier: S. 20.)

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Angesichts dieser Entwicklung spricht Marilyn B. Young von den 1960ern als einer „long decade […] by some accounts beginning with the Beats in the mid-1950s and ending with the 1980s redux presidency of Ronald Reagan[.]“29 Andreas Huyssen, dessen After the Great Divide im reaktionären politischen und intellektuellen Klima der 80er Jahre entstand, hob angesichts dieser intendierten konservativen Wende der amerikanischen Gesellschaft die Notwendigkeit hervor, für die politischen und ideologiekritischen Errungenschaften der verschiedensten (im weitesten Sinne) avantgardistischen und gegenkulturellen Traditionen einzutreten: Especially in the face of recent wholesale neo-conservative attacks on the culture of modernism, avantgardism and pos tmodernism, it remains politically important to defend this tradition agains t neo-conservative insinuations that modernis t and pos tmodernis t culture is to be held responsible for the current crisis of capitalism.30

Acker, deren politische Koordinaten während der kulturellen Revolution der 1960er gesetzt wurden, und die durch ihre Lebensweise und ihre Kunst aktiv an den Befreiungstendenzen in Folge dieser Dekade mitgewirkt hat (auch wenn sie sie, wie die folgende Analyse zeigen wird, später sehr kritisch gesehen hat), musste sich von den neokonservativen Attacken des „Reaganism“ betroffen fühlen. In My Death, My Life by Pier Paolo Pasolini findet sich eine wütende Suada über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft dieser Zeit, die deutlich macht, warum die 1980er Jahre in politischer Hinsicht Ackers bedeutendste Schaffensperiode sind: For the las t six months the American people have been reac ting to the cons tant political nausea, fluc tuating economy, and social breakdown by returning to their only memories of social and political s tability: the McCarthy era. They are worshipping various pos t-capitalis t phenomena such as the nuclear family. Such contents are now hollow or formal; only the forms are sacred, thus the hypocrisy of the middle class; no American believes in anything. If nothing’s real, how can anything be real and is this hell?31

Die für meine Untersuchung ausgewählten Romane sind somit auch als Auseinandersetzung mit bzw. als Reaktion auf diese reaktionären Tendenzen in der amerikanischen Gesellschaft zu verstehen, deren polarisierende Politik versuchte, die uneingeschränkte Gültigkeit binärer Entweder-Oder oder Freund-Feind-Strukturen zum ideologischen Organisationsmuster in allen Bereichen von Kultur, Politik, Ökonomie, Bildung und Wissenschaft zu restituieren, um die gesellschaftlichen Heterogenisierungsprozesse der vorangegangenen Jahrzehnte zunichtezumachen. Robert M. Collins hat in seiner Kulturgeschichte der Reaganjahre diesbezüglich von einem Kultur29 | Marilyn B. Young: „Foreword“, in: Peter Brauns tein/Michael William Doyle (Hg.): Imagine Nation: The American Counterculture of the 1960s and ’70s, New York und London 2002, S. 1–4, hier: S. 2. 30 | Huyssen: a. a. O., S. 174. 31 | Kathy Acker: My Death, My Life, By Pier Paolo Pasolini, in: Blood and Guts in High School, plus two [Great Expec tations und My Death, My Life, By Pier Paolo Pasolini], a. a. O., S. 354. Im Folgenden zitiert als PPP.

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krieg gesprochen, der wiederum selbst mit den etablierten binären Kategorien des politischen Radikalismus nicht mehr adäquat beschrieben werden kann: „Although it is tempting to view the culture war as pitting left against right, liberal against conservative, in a continuation of partisan political conflict by other means, such ordinary political categories, although salient, are not quite capacious enough.“32 Mit Bezug auf den Soziologen James Davison Hunter schlägt er das Begriffspaar „orthodox – progressiv“ vor, um die diffusen Fronten dieses kulturellen Hegemonialkampfes zu beschreiben: The orthodox impulse, although it took many shapes, at bottom entailed commitment to ,an external, definable, and transcendent authority.‘ Such external authority was located variously in cultural tradition, religion, or conceptions of natural law. The progressive impulse, on the other hand, denied such authority and relied ins tead on subjec tive values derived from the contemporary zeitgeis t.33

Auch wenn sich Acker wahrscheinlich in ihrer Skepsis gegenüber der einer solchen Etikettierung impliziten auf klärerischen Fortschrittsideologie verwahrt hätte, ist sie der Seite der Progressiven zuzurechnen und dort am äußeren, radikalen Rand zu verorten. In ihren Romanen wird jedwede Form des binären Denkens, das sich auf eine solche absolute, „orthodoxe“ Autorität bezieht, zum Feindbild. Ihre Bücher stehen für einen „postmodernism of resistance“, der sich gegen die Wiederkehr eines starren und geschlossenen Weltbildes entlang der konservativen Wertetrias Religion, Nation und Familie wendet: „Acker, writing in the Reagan eighties, focuses primarily on breaking apart the apparently stable subject constructed by the rational, paternal rhetoric of conservatism.“34 Damit war sie, so Larry McCaffery “[d]uring the somnolent, repressive 1980’s decade of Reagan/Bush/Helms/Bennett […] one of postmodernism’s boldest and most original fiction innovators (and one of the most controversial as well).“35 Zum Dritten weisen Ackers Romane seit den 80er Jahren eine größere Reflektiertheit ihres eigenen transgressiven Anspruches auf. Zwar stehen auch sie in der Tradition der avantgardistischen Intention, durch Radikalität in Form und Inhalt repressiv empfundene kulturelle Strukturen aufzubrechen. Doch anderes als ihren frühen Romanen aus den 1970er Jahren ist diesen späteren Werken trotz des intendierten Tabubruchs auf allen Ebenen eine Reflexion der Mittel und Ziele des transgressiven Anspruchs gegenkultureller Werke implizit, wie ich im Folgenden aufzeigen werde. Der weitgehende Zerfall traditioneller narrativer Muster und linearer Sinnstrukturen, der typisch für Ackers Literatur ist, bringt eine Reihe von interpretatorischen Problemen mit sich, weil ihre Texte dadurch schwer zu (er)fassen sind. Sie selbst hat 32 | 33 | 34 | 35 |

Robert M. Collins: Transforming America: Politics and Culture in the Reagan Years, New York 2007, S. 172. Ebd., S. 172f. Pitchford: a. a. O., S. 16f. McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 83.

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ihre Romane einmal „the most unreadable stuff around“36 bezeichnet. In der Tat sind diese Texte, wie Reinhart ausführt, „schwierige“ Lektüre, weil sie sich durch ihren Verzicht auf Kausalität und Chronologie den Gepflogenheiten des realistischen Erzählens völlig verweigern: „Erzählerfiguren mutieren urplötzlich zu Tieren, ändern ihr Geschlecht oder ihre Biographie; herkömmliche Konzeptionen von Raum und Zeit werden problematisiert, Erzählinstanzen fragmentiert und mit surrealen Bildern und unrealistischen Ereignissen konfrontiert.“37 In der Anti-Ästhetik ihrer Romane, „the narrative neither follows one thread nor signals its transitions. Metaphors fail to describe fairly – it is not exactly layered, because no one thread is higher than the other; it is not as continuous as a multistranded cable or rope, not as orchestrated as polyphony, not as staged as choral reading.“38 Diese Erzählstrategie der völligen Enthierarchisierung der textuellen Elemente hat eine Reihe von kulturkritischen Funktionen, auf die ich noch näher eingehen werde. Wie bei vielen Formen konzeptueller Kunst wird hier Methode und Kontext gegenüber der traditionellen Idee der Verständlichkeit privilegiert. So ist es schwierig bis unmöglich, die Romane einer handlungsbasierten und werkimmanenten Einzelanalyse zu unterziehen. Ackers Literatur gehört zu jener Form von postmoderner und experimenteller Literatur, der man sich nicht mit den Erwartungen und Gewohnheiten einer an Realismus – egal welcher Spielart – gewohnten Lektürepraxis nähern kann, weil einem sonst der Zugang verwehrt bleiben wird. Das bedeutet im Gegenzug jedoch nicht, dass sie politisch und ästhetisch in einem destruktiven Nihilismus oder einer simplen Verweigerungshaltung verharrt. Im Gegenteil, sie ist kritisch, verfügt über klare politische Standpunkte, sprengt Konventionen und dekonstruiert vermeintliche Wahrheiten – aber eben auch jene des avantgardistisch-transgressiven Diskurses. Acker rekurriert dabei auf einen Fundus wiederkehrender Motiv- und Themenkreise (Familie und Schule als normative Einschließungsmilieus, Subkultur, sexuelle Devianz, Armut, Erlösung durch die Kunst etc.) aus verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten, um ihre Kritik zu üben und kommt dabei zu höchst ambivalenten Schlüssen. Ihre Romane sind komplexe Referenzmaschinen, die weit in die Literatur-, Geistes- und Kulturgeschichte ausgreifen und das dort vorgefundenen Material zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit den Grundmustern unseres Denkens verarbeiten. Gerade in ihrer Sperrigkeit, die sich einer klassischen Lektüre entzieht, eröffnet Acker Leerstellen und Bedeutungsoptionen, die den Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich der Rezipient aus den verstreuten Fragmenten seinen eigenen Sinn zusammensetzen muss. Ihr in jeder Hinsicht antimetaphysisches Projekt liefert keine ausformulierten Inhalte und, trotz all der den Texten impliziten Philosophie, keine in sich geschlossenen Theoriesysteme. Als Romanschriftstellerin, als die Acker trotz aller Genrekonfusion noch am ehesten zu kategorisieren ist, ist letzteres auch nicht 36 | Ebd: a. a. O., S. 90. 37 | Reinhart: a. a. O., S. 432. 38 | Siegle: a. a. O., S. 79.

V ORWORT ZUR A NALYSE

ihre Aufgabe. Ihre theoretischen Referenzen wirken oftmals assoziativ, ohne jedoch, wie die folgende Analyse zeigen wird, beliebig zu sein. In ihrer Überzeugung, dass kohärente Bedeutungssysteme immer Zwangssysteme sind, evoziert sie bewusst Leerstellen, die dem Rezipienten Spielraum zur Bedeutungsfindung und Selbstreflexion lassen. Da auch ein wissenschaftlicher Interpret letztendlich immer zuerst ein Leser ist, muss er sich für einen Weg entscheiden, mit der Komplexität von Ackers Romanen umzugehen und eine adäquate Methode finden, die Texte „fassbar“ zu machen. Die im ersten Teil dieser Arbeit formulierten theoretischen Ausführungen zu Transgression und Avantgarde haben hier propädeutischen Charakter. Sie liefern den kulturhistorischen und philosophischen Zusammenhang, aus dem heraus ich mich den Romanen nähern will, definieren aber noch keine Erfolg versprechende Methode. Meiner Meinung nach verlangen die ausgewählten Primärtexte aufgrund ihrer experimentellen Ästhetik, ihrer Kleinteiligkeit und ihres Reichtums an Referenzen bei der Analyse ein „close reading“ ausgewählter Textpassagen, wobei ich mit diesem Begriff hier nicht die rein werkzentriert orientierte Lektüremethode des New Criticism meine, sondern eine Form von detaillierter, textnaher und manchmal punktueller Lektüre, die die zahlreichen Referenzen auf kulturelle Symbolsysteme und narrative Traditionen außerhalb des Textes offenlegen soll. Mit Hilfe dieser Methode und des theoretischen Rüstzeuges werde ich die in der Einleitung formulierten Fragestellungen romanübergreifend anhand von drei thematischen Gesichtspunkten des Transgressiven untersuchen, die mir in Ackers Werk wesentlich zu sein scheinen, und meine Analyse auf themengebunden ausgewählte Passagen aus den Romanen gründen. Zwei dieser Themenkomplexe konzentrieren sich auf die inhaltliche Ebene der Texte und behandeln identitätspolitische Fragen. Sie setzen sich mit soziokulturellen Aspekten der Transgression innerhalb der fiktionalen Wirklichkeiten der Texte auseinander. Zunächst werde ich untersuchen, wie Acker in ihren Romanen typische Außenseiterfiguren wie Piraten, Rebellen, Künstler und Ausgestoßene inszeniert, im Hinblick auf ihren Authentizitätsmythos dekonstruiert und als Alternatividentitäten jenseits der Dialektik „falsch-authentisch“ neu verhandelt. Da es zu ihren erzähltechnischen Markenzeichen gehört, mehrere Motiv- und Handlungsebenen (so weit solche überhaupt erkennbar sind) ineinander zu verschachteln, bleibt es nicht aus, dass ich bei meiner Konzentration auf die besagten Außenseiterfiguren andere Aspekte der Texte bei meiner Analyse vernachlässigen muss. Das zweite Themenfeld beschäftigt sich mit Ackers komplexer Körper- und Identitätspolitik. Hier werde ich untersuchen, welche Rolle Körper und Körperlichkeit in den von mir ausgewählten Romanen als Schauplätze von Überschreitungen spielen. Es ist offensichtlich, dass für Acker in diesem Zusammenhang die Frage der Sexualität bzw. der sexuellen Selbstbestimmung als Möglichkeit der „Ich-Erweiterung“ von zentraler Bedeutung ist. Daher ist es unumgänglich, sich mit der Funktion der expliziten Darstellung von Sexualität auseinanderzusetzen, die sich – wie zu zeigen sein wird – nicht nur in Provokation und Tabubruch erschöpft. Neben dem Bereich

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des Sexuellen wird in meiner Analyse auch die Rolle von hybriden Körpern und von verschiedenen Formen von Körperinszenierungen (etwa durch Tätowierungen, Körperschmuck etc.) im Hinblick auf die Überschreitung kulturell produzierter Körperkonzepte im Zentrum stehen. Der dritte Themenbereich, auf den sich meine Aufmerksamkeit richten wird, ist die Funktion von Ackers transgressiver Ästhetik. Sie beschäftigt sich mit ihrer Literatur als Transgression und damit als kulturkritischer Intervention im avantgardistischen Sinn. Hier werden vor allem Ackers Appropriation und Radikalisierung verschiedener traditioneller Avantgardetechniken vor dem Hintergrund des postmodernen Paradigmas diskutiert. Besonderes Augenmerk werde ich dabei auf ihr offensives Bekenntnis zum Plagiat als Technik des Schreibens richten, das die immer noch verbreiteten Auffassungen vom literarischen Text als Kunstwerk, vom Autor als Urheber des Textes und von Gattungs- und Genrekategorien dekonstruiert und stattdessen hybride Formen des Schreibens versucht.

Außenseiter

D ER A USSENSEITER ALS L EITFIGUR DER G RENZÜBERSCHREITUNG Das Motiv des Außenseiters ist eines der zentralen literarischen Motive der Transgression. Es findet sich zu allen Zeiten und in unzähligen Ausformungen und Varianten wieder:1 „Die Literatur hat, was ihres Amtes war und auch zusammenhing mit Lebensläufen der Literaten, stets lieber die Außenseiter abgeschildert und Spielverderber: Thersites und Sokrates, den Melancholiker, Narren und Misanthropen; den Sonderling, den Geisteskranken und den Bohemien.“2 Klassischerweise werden mit dieser Figur positive (die des Befreiers, Entdeckers, Propheten, Genies, Wahrheitsbringers) wie negative (die des Kriminellen, Asozialen, Unmoralischen, Pathologischen, Unruhestifters) Rollenbilder verbunden, wobei solche Wertungen immer durch die ideologischen Positionierung des jeweiligen literarischen Werkes bzw. des Rezipienten bedingt sind. Gerade in Literatur, die sich als gesellschaftskritisch versteht, wird Außenseiterfiguren ob ihres marginalen Status’ oftmals ein direkter und unverstellter Zugang zur „Wahrheit“ zugeschrieben. Als marginale Existenzen verfügen sie demnach über eine besondere Sensibilität für die in Kollektiven – seien es in ganzen Gesellschaften oder in einzelnen sozialen Gruppen – wirkenden Machtstrukturen. Sie können von außen bzw. vom Rand auf die im Inneren ablaufenden Prozesse blicken, ohne die Betriebsblindheit der dort Eingewobenen zu teilen. Sie können über ihre eigene Identität und über die kollektive Identität jener Gruppen, an deren Rand sie sich bewegen, reflektieren und sind in der Lage, von dort aus Kritik zu äußern oder gar 1 | Entsprechend groß is t auch die Zahl der wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mal ganz allgemein, meis t jedoch mit spezifischen Formen des Außenseitertums beschäftigen. Ein umfassender Überblick über die wichtigs ten Studien zu diesem Thema findet sich in: Klaus Schmidt: ,The Outsider’s Vision‘ – Die Marginalitäts thematik in ausgewählten Prosatexten der afro-amerikanischen Erzähltradition. Richard Wrights Native Son, Toni Morrisons Sula und John Edgar Widemans Reuben, Frankfurt am Main et. al. 1994, S. 19–42. 2 | Hans Mayer: „,Steppenwolf‘ und ,Jedermann‘. Zur literarischen Typologie des Sonderlings“, in: Gert Ueding (Hg.): Materialien zu Hans Mayer, Außenseiter, Frankfurt am Main 1978, S.61–90, hier: S. 63.

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Veränderungen herbeizuführen. Dem marginalen Raum wird so das eigentliche Innovationspotential in der Kultur zugeschrieben. Der Schweizer Aphoristiker Ludwig Hohl hat diese Sichtweise wie folgt beschrieben: „Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein. ,Seht, da kommt der Träumer her.‘ Morgen beherrscht er das Land. ,Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist gesetzt worden zum Eckstein.‘“3 Der Randständige kann nach diesem Verständnis Avantgarde im Wortsinn, also Vorhut für gesellschaftliche Entwicklungen sein. Er besitzt die Einsicht und die subversive Energie, die Gesellschaft aus ihrer Lähmung und Stagnation herauszulösen. Doch Außenseiter ist nicht gleich Außenseiter. In seiner für die moderne Literaturtheorie bahnbrechenden Studie zu diesem Thema (die, wie Bettinger und Ebrecht behaupten, den Begriff der Transgression überhaupt erst in die literaturwissenschaftliche Diskussion im deutschen Sprachraum eingeführt hat4) unterscheidet Hans Mayer zwischen zwei Typen von Außenseitern: den intentionellen und den existentiellen. Der intentionelle Außenseiter positioniert sich aus eigener Motivation durch sein transgressives Handeln jenseits der symbolischen und materiellen Linien, die die Gesellschaft konstituieren. Seiner gegen alle Beschränkungen gerichteten Überschreitungshandlung haftet etwas Heroisches an: „Wer die Grenze überschreitet, steht draußen. Titanismus mochte man nennen, was willentlich, in prometheischer Auflehnung, unternommen wurde.“5 In ihrer Inszenierung als Lichtbringer wird den intentionellen Außenseitern die Fähigkeit zugeschrieben, jene Strukturen in der Gesellschaft anzugreifen, die den Menschen im Dunkel seines falschen Bewusstseins halten. Wie Prometheus sich über die Autorität der Götter hinwegsetzte, so stellen diese Individualisten aus freiem Willen durch ihre Überschreitungshandlungen die normative Macht der herrschenden Ordnung in Frage und die Hierarchie von Innen und Außen auf den Kopf. Der intentionelle Außenseiter ist dieser Lesart nach somit eine ausgesprochen auf klärerische und im klassischen Sinn moderne Gestalt, die souverän über ihre Motive urteilt und autonom handelt. Er wird vorzugsweise zum Protagonisten von Erzählungen, die dem humanistisch-modernen Transgressionskonzept verpflichtet sind. Solche Figuren erleben die Identität, die ihnen interpellativ zugeschrieben wird, als falsch und versuchen, ihrem „wahren Selbst“ jenseits von Normierung und Subjektivierung näherzukommen. Den Kern dieses positiven Verständnisses von Außenseitertum, das in der Hochmoderne ihren Höhepunkt findet, hat Collin Wilson in seinem 1956 erschienenen Buch The Outsider auf den Punkt gebracht: „The outsider is not sure who he is. He has found an ,I‘, but it is not his true ,I‘. His main business is to find his way back to himself.‘‘6 Die Überschreitung wird hier zum quasi-metaphysischen Unternehmen. In der Moderne wird das „wahre Selbst“ noch als wahrhaftige Entität 3| 4| 5| 6|

Ludwig Hohl: Von den hereinbrechenden Rändern. Nachnotizen, Frankfurt am Main 1986, S. 94. Vgl. Bettinger/Ebrecht: a. a. O., S. 13. Hans Mayer: Außenseiter, Frankfurt am Main 1981, S. 18. Colin Wilson: The Outsider, London 1956, S. 147.

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verstanden und noch nicht, wie in der Postmoderne, als kulturelles Konzept. Aus einer durch welche Gründe auch immer motivierten Identitätskrise heraus überwindet der moderne intentionelle Außenseiter die Grenzen seiner Entfremdung vom „wahren Ich“ auf der Suche nach seinem essentiellen, den identitätskonstitutiven Kräften der Gesellschaft entzogenen Selbst. Dieser Typus des Außenseiterprotagonisten findet sich nicht nur in der von Mayer als Basis seiner Analyse genutzten klassischen europäischen Literaturgeschichte. Besonders die Narrative der von einem hohen Individualismusideal geprägten amerikanischen Kultur haben eine lange Tradition, Identifikationsfiguren zu präsentieren, die sich auf die eine oder andere Weise von den Zwängen der Gesellschaft abwenden, um ihre jeweils eigene, in der Form höchst unterschiedliche, aber immer als authentisch verstandene Variante des Glücks zu finden: Die Frontiersmen und Pioniere, die sich von der Zivilisation abwandten; die Outlaws, die gerade durch ihren Gesetzesbruch zu populären Mythen wurden; Huck Finn, in seinem permanenten Freiheitsdrang und seiner Auf lehnung gegen das Konventionelle; Melvilles Bartleby, der seine konsequente Verweigerungshaltung gegenüber einer entfremdenden Welt bis zum Tod aufrecht erhält; Thoreau, der sich selbst als Prometheus des Transzendentalismus und sein Einsiedlertum am Walden Pond als Alternative zum Materialismus der Gesellschaft inszeniert; die Hardboiled-Detectives, denen der Glaube an Gerechtigkeit innerhalb bürgerlicher Strukturen abhanden gekommen ist und die deshalb als Einzelgänger für ihre Ideale eintreten; oder die Helden von Kerouacs On the Road, die beispielhaft für jene von Norman Mailer gepriesenen Hipster stehen, die das Paradies jenseits aller normativen Zwänge in permanenter Bewegung, Hedonismus und Drogenkonsum verorten und für die „the only life-giving answer is to […] divorce oneself from society, to exist without roots, to set out on that uncharted journey into the rebellious imperatives of the self.“7 Diesen Protagonisten der selbst gewählten Überschreitung steht ein zweiter Typ des Außenseiters gegenüber, dessen Positionierung jenseits der Grenze, so Mayer, nicht seinem eigenen Willen und Antrieb entspringt: „Wie aber, wenn der Übertritt ins Abseits und Außen durch Geburt auferlegt war: durch das Geschlecht, die Abkunft, die körperlich-seelische Eigenart? Dann wurde die Existenz selbst zur Grenzüberschreitung. [Hervorhebung im Original – d. Verf.]“8 Diese Außenseiter wider Willen werden durch eine soziokulturelle Struktur geschaffen, die ihnen die Teilhabe am „Innen“ der Gesellschaft verweigert. Ihr marginaler Status wird ihnen interpellativ von einer Autorität außerhalb ihrer selbst, oft im Konflikt zu den eigenen Interessen, zugeschrieben. Ihre Differenz ist nicht selbst gewählt, sondern von Gesellschaft und Kultur auferlegt und als „natürlich“ arretiert. Ihre Außenseiteridentität ist in der Regel eine kollektive, ihnen sind religiöse und ethnische Minderheiten ebenso zuzurechnen wie Anhänger devianter sexueller Identitäten und nicht zuletzt Frauen als Angehö7 | Norman Mailer: „The White Negro“, in: ders., Advertisements for Myself, New York 1959, S. 337–358, hier: S. 339. 8 | Mayer: Außenseiter, a. a. O., S. 18.

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rige einer strukturellen Minderheit, der aufgrund der patriarchalen Struktur der Gesellschaft die Teilhabe an wesentlichen sozialen Prozessen lange verweigert wurde: „Die Bürgerwelt war seit ihren Anfängen im Zeitalter von Humanismus, Renaissance und Reformation fast süchtig nach Evozierung eines weiblichen Außenseitertums.“9 Das existentielle Außenseitertum ist somit nicht die Konsequenz eines subversiven emanzipatorischen Aktes, sondern eines Machteffekts durch die hegemoniale Kultur, die bestimmte Formen des „Andersseins“ ausschließt und unterdrückt. Dennoch gibt es zwischen diesen beiden Außenseiteridentitäten eine Reihe von Berührungspunkten. Gerade im Zuge der zunehmenden Postmodernisierung der westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts fand eine teilweise Umwertung des existentiellen Andersseins statt. Zunächst wurden – in der Übergangsphase zwischen Moderne und Postmoderne – bestimmte Ausdrucksformen existentieller Außenseitergruppen zum Vorbild für Grenzüberschreitungen, die ihren Ursprung in der Mitte der Gesellschaft haben. Hierfür sei wieder beispielhaft Mailers „White Negro“ zitiert: „[I]t is no accident that the source of Hip is the Negro for he has been living on the margin between totalitarianism and democracy for two centuries.“10 Die zugewiesene Differenz wird hier für die Unzufriedenen aus dem „Innen“ – wohlgemerkt nicht unbedingt von den existentiellen Außenseitern selbst, die ihrer unfreiwilligen Ausgrenzung wenig abgewinnen konnten – als Überlegenheit interpretiert, weil sie den Normierungen und Entfremdungen der Mitte entzogen ist und somit als Alternative gelten konnte. Marginalität konnte so, natürlich nur unter bestimmten Bedingungen, zum Vorteil in Kulturkämpfen werden. Diese Entwicklung setzte sich fort und brachte Phänomene hervor, in denen die Differenz auch von den betroffenen Gruppen selbst kreativ appropriiert, und intentionell als Werkzeug identitärer Selbstermächtigung eingesetzt wurde (beispielhaft hierfür wäre der „Ethnic Postmodernism“ in seinen verschiedenen Ausprägungen). Da sich Außenseitertum und Überschreitung immer gegenseitig bedingen, bietet es sich an, den Blick auf die Inszenierung der in Kathy Ackers Romanen omnipräsenten Außenseiterfiguren zu richten, wenn man den transgressiven Charakter ihrer Literatur verstehen will. In ihrem Werk vereinigen sich in der Identität des Außenstehenden in bester avantgardistischer Tradition Kunst und Leben: Like William Burroughs, who greatly influenced her, Acker has embraced the s tance of cultural outlaw not only in her narratives, but has adopted it for her life. […] Alienated from her family and living as an American expatriate in London, she embodies the perspec tive of outsider and outcas t that she cultivates in her fic tion. Raised on 57th Street and Firs t Avenue in New York City, child of upper-middle-class Jewish parents, Acker, now over forty [Der hier zitierte Text s tammt aus dem Jahr 1989 – d. Verf.], is heavily tattooed and a bodybuilder.11 9 | Ebd., S. 34. 10 | Mailer: a. a. O., S. 340. 11 | Ellen G. Friedman: „,Now Eat Your Mind‘: An Introduc tion to the Works of Kathy Acker“, in: Review of Contemprary Fic tion, 9:3 (1989:Fall), S. 37–49, hier: S. 46.

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Es verwundert daher nicht, dass Ackers Texte hauptsächlich von Außenseiterfiguren wie Nonkonformisten, Ausgestoßen, Rebellen, Piraten, Künstlern und Kriminellen bevölkert werden, die meist Elemente beider Außenseiteridentitäten – der intentionellen und der existentiellen – in sich vereinen. Sie wählt Protagonisten, die aufgrund ihres existentiellen Außenseitertums ein besonderes Gespür für die gesellschaftlichen Machtstrukturen haben und beginnt ihre „instructive analytical critique of the cultural processes [der Normierung – d. Verf.] precisely at the point from which they are experienced by the Other of the culture – children, women, the poor, the trapped.“12 Diese Marginalität ist für diese Figuren aber nicht nur Nachteil, sondern dient ihnen auch als Ausgangspunkt für die Auf lehnung gegen die hegemoniale Kultur. Die existentielle Außenseiteridentität wird angenommen, ins Positive umgewertet und so Motor und Basis für intentionelles, transgressives Außenseitertum. Wie im Folgendenen deutlich werden wird, steht Acker dem Typ des heldenhaften Außenseiterprotagonisten in seiner konventionellen Form mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Zwar sieht auch sie den „outcast“ als Vorreiter im kulturellen Kampf gegen Subjektivierung und Kontrolle des Einzelnen durch die Gesellschaft, doch anders als viele ihrer avantgardistischen und gegenkulturellen Vorbilder erliegt sie nicht der Versuchung, in dieser Identität automatisch den Schlüssel für deren Überwindung zu sehen. Sie neigt nicht zur unreflektierten Idealisierung und Romantisierung von randständigen Figuren. Ihren Protagonisten ist nicht jener aus „prometheischer Auflehnung“ gespeiste „Titanismus“ eigen, der nach Mayer für den intentionellen Außenseiter typisch ist. Acker geht es bei ihrem Projekt nicht um eine generelle Absetzung von ihren transgressiven literarischen Vorbildern und deren Protagonisten, sondern um eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Schwächen und Sackgassen. Dabei begegnet sie dem in der Moderne vorherrschenden Glauben an authentische Wahrheits- und Identitätssphären mit dem postmodernen Zweifel an der Idee der Authentizität an sich. So hat sie in ihren Romanen der 1980er eine selbstreflexive Auffassung von Transgression entwickelt, die sich aus dem etablierten Repertoire an Außenseiterfiguren zwar bedient, dabei aber gleichzeitig die mit ihnen assoziierte heroische Aura des Befreiers dekonstruiert und zumindest teilweise in Frage stellt. Acker steht zudem bei aller Identifikation und Sympathie mit verschiedensten Formen von selbstgewählter und zugeschriebener Marginalität der Idee einer fixierten Alternatividentität äußerst kritisch gegenüber. Die Überschreitungshandlung des Außenseiters kann für sie nur Erfolg versprechend sein, wenn man sie nicht als einmaligen Befreiungsschlag, sondern als Überwinden der gesellschaftlich oktroyierten Identität zu Gunsten einer permanenten Neuverhandlung der „Grenzen des Selbst“ versteht. Diese Haltung wird in Ackers Romanen an zwei prototypischen Außenseiterfiguren deutlich, die immer wieder in verschiedenen Formen auftreten: dem Rebellen und dem Künstler.

12 | Siegle: a. a. O., S. 48.

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R EBELLEN Die Rebellion der Jugend: Janey Smith Die erste rebellische Figur, auf die ich meinen Blick richten möchte, ist Janey Smith, die Protagonistin aus Blood and Guts in High School. Anders als andere Werke Ackers weist dieser Text trotz seines Collagecharakters und der daraus resultierenden Zerrissenheit seiner narrativen Struktur einen Rest von Erzähllogik auf, der es gestattet, eine kurze Inhaltsangabe zu geben. Wie alle Romane Ackers spielt auch dieser in einer Art liminalen Zwischenrealität, die sich jedem Anspruch einer mimetisch-realistische Repräsentation entzieht, gleichzeitig aber eindeutige Referenzen zur „wirklichen Welt“ aufweist. Im Zentrum der Geschichte steht Janey, ein zehnjähriges Mädchen, das mit ihrem Vater in Merida, der Hauptstadt der mexikanischen Halbinsel Yucatán, lebt. Das Verhältnis der beiden ist, was ihre emotionalen und sexuellen Bindungen angeht, explizit inzestuös. Der Vater, Johnny, ist für sie Elternteil, Ernährer und Liebhaber zugleich. Diese innige Beziehung gerät unter Druck, als er sich in eine andere Frau – Sally – verliebt, für die er Janey verlassen will. Um seine Tochter loszuwerden, schickt er sie auf eine Schule in New York. Dort schließt sie sich einer Jugendgang an, entwickelt ein obsessives Sexualverhalten (das mehrfach zu unfreiwilligen Schwangerschaften und Abtreibungen führt) und lässt sich immer mehr in eine Halbwelt aus Drogen, Prostitution, Gewalt und Kriminalität abgleiten. Eines Tages wird Janey von zwei jugendlichen Kriminellen überfallen, entführt und an einen persischen Sklavenhändler namens „Mr. Linker“ verkauft. Sie wird in einen dunklen Raum gesperrt, ihr einziger Kontakt ist der Perser, der sie zur Prostituierten „ausbilden“ will: „You are going to remain in this room until you become a whore. You have no other choice except to die. When you are ready to be a real whore, I will let you out of this room and you will bring all of the money you have earned back to me“ (B&G 61). In ihrem Verlies findet Janey einen Bleistift und beginnt in Gefangenschaft (eine eindeutige Referenz auf Sade, der den Mauern der vielen Gefängnisse, in denen er einsaß, zumindest auf der imaginären Ebene durch das Verfassen seiner in jeder Hinsicht grenzüberschreitenden Texte zu entkommen versuchte), über ihre Erlebnisse, Gedanken und Fantasien Tagebuch zu führen. Obendrein beginnt sie, persisch zu lernen und in dieser Sprache einfache, aber teilweise sexuell sehr explizite Gedichte zu schreiben. Als sie ihre „Ausbildung“ beendet hat, findet der persische Sklavenhändler, zu dem sie inzwischen wegen ihres emotionalen masochistischen Charakters Zuneigung gefasst hat, heraus, dass Janey an Krebs erkrankt ist. Da sie nun für ihn nutzlos geworden ist, lässt er sie frei, obwohl sie versucht, sich an ihn zu klammern. Als er sie nicht erhört, beschließt sie nach Tanger zu gehen, jenem scheinbar allen Regeln enthobenen Fluchtpunkt für Unangepasste jeglicher Couleur, der von Ikonen transgressiver Literatur wie Paul Bowles, William S. Burroughs und Jean Genet als mythische Antithese zu den Restriktionen und der Zweckrationalität des Westens

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stilisiert wurde. Auf letzteren trifft sie dort auch und reist mit ihm durch Nordafrika. Zusammen erleben sie eine surreale Revolution in Ägypten, ehe Genet Janey verlässt. Sie stirbt allein, an den Folgen ihrer Krankheit. Betrachtet man nur diese nacherzählbaren Stationen der Handlung des Romans, scheint Blood and Guts in High School die Geschichte einer permanenten Viktimisierung zu erzählen, die im wesentlichen durch äußere Umstände bestimmt ist und somit einen existentiellen Charakter hat, der wenig Raum für rebellische Initiative zuzulassen scheint. Doch die Komplexität des Romans lässt eine solche, der zwangsläufig oberflächlichen Inhaltsangabe geschuldete Lesart nicht zu. Janey ist, wie sich zeigen wird, eine durch und durch ambivalente, skizzenhafte Figur, die Acker als narratives Vehikel nutzt, um verschiedene Formen sozialer Kontrolle und die dagegen gerichteten Widerstandsstrategien zu reflektieren. Generell wird man keinen Zugang zu Ackers Literatur finden können, wenn man versucht, ihre Charaktere als komplexe und tiefe Figuren im Stil des psychologischen Romans zu verstehen. Sie sind vielmehr immer funktionale Elemente im Dienst von Ackers Kulturkritik. Vor diesem Hintergrund muss man die Widersprüchlichkeit von Janey Smith behandeln. Welcher Aspekt von Janeys Persönlichkeitsprofil gerade welche Funktion erfüllt, erschließt sich aus dem jeweiligen narrativen Kontext. Mit derselben Vielschichtigkeit, mit der Acker verschiedenste literarische Ausdrucksformen vermischt, verschachtelt sie – wie im Folgenden deutlich wird – eine Reihe von Außenseiteridentitäten in ihrer Protagonistin. Diese wird somit zur prototypischen ackerschen Heldin, die Reinhart als „sexuell besessen, amerikakritisch, an der Grenze zwischen Normalität und Wahn angesiedelt“ definiert.13 Die weitgehende Auf lösung der narrativen Ordnung des Romans und die zahllosen Brüche in der Biographie seiner Protagonistin finden in der Ästhetik ihre Entsprechung: The irreality of Janey’s life coincides with increasingly larger segments of textual breakdown, marked by ins tantaneous shifts in generic, compositional, and narrative points of view; interpolations of various texts, including those of Vallejo, Mallarmé, Hawthorne, and Genet; segments of dramatic dialogue; excerpts from Janey’s diary; Janey’s letters and so on. The textual portions are, in turn, interspersed with graphics, for example line drawings of male and female genitalia; a few pages of childlike treasure maps called ,A Map of my Dreams‘; a childishly hand-written sec tion entitled ,The Persian Poems‘; and a final sec tion of the novel, which pic torially explores an Ackerian combination of The Egyptian Book of the Dead; Hindu deities, particularly Shiva and Kali; and Catullus’s tomb.14

Meiner Meinung nach nimmt Blood and Guts in High School in Ackers künstlerischer Entwicklung von einem auf Authentizitätsgewinn ausgerichteten, im Kern modernen 13 | Reinhart: a. a. O., S. 423. 14 | Hawkins: a. a. O., S. 644. Besonders die Erzählperspektive des Romans wechselt permanent zwischen auktorialer, personaler und Ich-Perspektive, weswegen die nachfolgenden Zitate je nach Kontext in der ers ten oder der dritten Person s tehen.

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Transgressionsverständnis, das ihr Frühwerk noch geprägt hatte, hin zum „postmodernism of resistance“ eine interessante Zwischenposition ein, die vielleicht auch der Entstehungszeit des Buches – es ist 1978 entstanden, auch wenn es erst 1984 mit seiner Veröffentlichung durch die namhaften Verlage Grove Press (in den USA) und Picador (in Großbritannien) ein größeres Publikum erreicht hat – geschuldet sein mag. Der Roman trägt, trotz seiner konfrontativen Ablehnung der im Kern bürgerlichen Werte eines von der Mittelklasse geprägten Mainstreamamerika, auch eine kritische Bilanz der gegenkulturellen Bewegungen der beiden vorangegangenen Jahrzehnte in sich, die für Ackers künstlerische Entwicklung vielleicht notwendig war, um zu dem kreativen (und damit produktiven) hybriden Transgressionsverständnis der anderen hier untersuchten Romane heranzureifen. Die Elemente jenes kreativen „postmodernism of resistance“, der in den 80er Jahren eine der letzten Optionen literarischen und lebenspraktischen Widerstandes bleibt, sind in Blood and Guts in High School noch selten. Den Text als eine selbstreflexive Bilanz gegenkultureller Praxis zu lesen, bietet sich auch deswegen an, weil Acker deutlich macht, dass gerade juvenile Gesten der Rebellion, von denen sich zwei Generationen junger Amerikaner und Westeuropäer den Ausbruch aus dem starren Normenkorsett und den Konformitätszwängen der Gesellschaft erhofften, ihre Befreiungsversprechen nicht wahrmachen konnten. In einem Interview mit Larry McCafferey hat sie ihre Skepsis auf den Punkt gebracht: „I didn’t think the ‛60s generally worked.“15 Diese Aussage ist zentral für das Verständnis von Ackers transgressiver Literatur und ihrem kritischen Verhältnis zu „den Sechzigern“. Dennoch gilt es, von vornherein ein Missverständnis zu vermeiden: Auch wenn Acker die gegenkulturelle Revolution – gemessen an ihren Ansprüchen – als weitgehend gescheitert ansieht, so war sie doch immer von ihrer Notwendigkeit überzeugt. Sie hielt die Auf lehnung gegen das Establishment dieser Zeit für unabdingbar und notwendig. Ihre Literatur plädiert explizit und implizit für eine radikale Transformation der Gesellschaft und für eine Auf lösung des Bestehenden durch eine Veränderung des Individuums. Zweifelsohne würde Acker Christopher Gairs Bilanz der 1950er und 60er Jahre zustimmen können: „[T]he counterculture in these decades brought the limits of national doctrines of ,freedom‘ to the surface.“16 Nur weil sie sich kritisch mit den „Sixties“ auseinandersetzt, macht sie das keinesfalls zu einer Neokonservativen im Wolfspelz einer Tabubrecherin. Es geht ihr nicht darum, hinter die unzweifelhaft vorhandenen emanzipatorischen Effekte dieser Überschreitungsbewegungen zurückzugehen, wohl aber darum, ihre strukturellen Widersprüche offen zu legen. So macht Acker in Blood and Guts in High School am Beispiel von Janeys gegenkulturellen Rebellionen deutlich, dass sie den dort beschriebenen kulturellen Praktiken der Transgression nicht traut. Sie billigt ihnen zwar durchaus die Möglichkeit zur Veränderung zu, nicht aber die der Befreiung. Der Roman beschreibt somit ein Scheitern bestimmter Strategien der Transgression, weil die rebellischen 15 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 96 16 | Chris topher Gair: The American Counterculture, Edinburgh 2007, S. 10.

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Gesten der jungen Protagonistin nicht in der Lage sind, sie aus bestimmten Machtstrukturen herauszulösen. Schon der Titel des Romans kündet von seiner rebellischen Attitüde: Hier sollen die Machtverhältnisse und Normierungsmechanismen der Gesellschaft buchstäblich seziert und deren lebenserhaltendes subkutanes Inneres („blood and guts“) gewaltsam nach Außen gekehrt werden. Die Institution der High School steht dabei metaphorisch für die Zurichtungs- und Subjektivierungsmechanismen der Gesellschaft bzw. „figures as a trope for America’s psyche, its ,culture‘ as all as its national policy“17, gegen deren Konformitätsdruck es sich aufzulehnen gilt. So wie die High School weniger für eine spezifische Institution als vielmehr allgemein für den normativen Charakter der amerikanischen Kultur steht, repräsentieren auch die einzelnen Figuren des Romans eher archetypische Rollenbilder als komplexe Charaktere: „The names of the parent/ child lovers, Janey and John Smith […] signal that they represent societal attitudes rather than individuals and are supposed to be caricatures rather than characters with depth.“18 Diese holzschnittartige, absichtlich artifizielle Figurenzeichnung und das Episodenhafte der rest-narrativen Struktur geben dem Roman seine manchmal etwas plakativ wirkende Radikalität. Die Protagonistin Janey wird – trotz ihres kindlichen Alters – als Prototyp des unangepassten Teenagers dargestellt: „Janey had always been the first in her group to explore whatever frontier presented itself. She had been the first one in her family to hate her family. She had been the first girl in her class to fuck. She had been the first in her class to say No and run away.“ (B&G 116) Gerade ihre Jugend – die Romanhandlung spielt sich im Zeitraum zwischen ihrem zehnten und vierzehnten Lebensjahr ab – legt es nahe, Blood and Guts in High School als „parodic bildungsroman“19 oder als „bruised and bruising portrait of coming of age“20 zu lesen. In dieser Art von Narrativen stehen individuelle Entwicklungsprozesse junger Menschen im Mittelpunkt, die meist mit Revolten gegen die Regeln und Werte der Gesellschaft der älteren Generation einhergehen. Generell ist bei einer solchen Lesart zwischen zwei Formen der Jugendrebellion zu unterscheiden. Die erste ist die systemisch vorgedachte und gesellschaftlich akzeptierte Variante juveniler Auf lehnung. Ihre Überschreitungen finden im Rahmen jener Übergangsriten oder der Passagen statt, die von Turner und Van Gennep (s.o.) beschrieben worden sind. Sie finden meist in jener Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenwerden statt, die gemeinhin als Pubertät bezeichnet wird. Das Individuum befindet sich hier in seiner Entwicklung in jenem liminalen Stadium zwischen jugendlicher Unreife und Abhängigkeit und dem Eintritt in die Mündigkeit 17 | Hawkins: a. a. O., S. 643. 18 | Ann Bomberger: „The Efficacy of Shock for Feminis t Politics: Kathy Acker’s Blood and Guts in High School and Donald Barthelme’s Snow White“, in: Cindy L. Carlson et al. (Hg.): Gender Recons truc tions. Pornography and Perversions in Literature and Culture, Aldershot 2002, S. 189–204, hier: S. 191. 19 | Hawkins: a. a. O., S. 643. 20 | Siegle: a. a. O., S. 50.

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und Autonomie des Erwachsenendaseins, an dem die alten Identitätszuschreibungen nicht mehr und die neuen noch nicht gelten. Der Bildungs- bzw. „Coming-of-Age“-Roman ist die traditionelle Form der literarischen Repräsentation dieser Art von juveniler Auf lehnung. In der Regel sind diese Texte jedoch nicht subversiv, da die in ihnen repräsentierten Übertretungen eher als Schwellenübertretungen denn als wirkliche Transgressionen zu bewerten sind. Die im „Coming-of-Age“-Narrativ dargestellte Rebellion ermöglicht ihren Protagonisten zwar das temporäre Ausbrechen aus einer bestimmten zugewiesenen Identität. Der dabei entstehende liminale Freiraum ist aber nur jenes von Victor Turner beschriebene „betwixt and between“ zwischen zwei gesellschaftlich vorgedachten Identitätszuschreibungen, die letztendlich nie das diskursive System der Subjektivierung durch die Gesellschaft verlassen. Einem pubertierenden Jugendlichen wird von der Gesellschaft zugebilligt, in einem gewissen Alter bestimmte Konventionen in Frage zu stellen und die sprichwörtlichen „Grenzen auszutesten“, solange dies in einem entsprechenden, durch die jeweiligen Zeit- und Milieuumstände definierten Rahmen stattfindet und am Ende dieses Prozesses die Wiedereingliederung des „gereiften“ jungen Menschen in die Gesellschaft steht. Die Normverstöße und Regelbrüche wirken daher – entgegen der Intentionen ihrer Protagonisten – letztendlich affirmativ, weil sie als Übergangsriten Teil des kulturell vorgedachten Subjektivierungsprozesses sind. Salingers Catcher in the Rye oder Nicholas Rays Film Rebel without a Cause sind kanonische Beispiele für diese Art von „Coming-of-Age“-Narrative, die zwar mit dem Motiv der Jugendrebellion arbeiten, ohne jedoch echte Transgressionen zu portraitieren. Blood and Guts in High School repräsentiert die zweite Form jugendlicher Rebellion. Zwar bedient sich Acker in der für sie typischen Weise zahlreicher Elemente der klassischen Literatur über die adoleszente Passage zum Erwachsenwerden, doch die Gesten der Revolte sind hier keine zeitweiligen, vielleicht über die Stränge schlagenden pubertären Auf lehnungen innerhalb eines „normalen“ Entwicklungsprozesses, sondern radikale identitätspolitische und kulturkritische Überschreitungen. Janey Smiths Auseinandersetzung mit der Gesellschaft der „Erwachsenen“ ist eine andere als die Holden Caulfields. Acker appropriiert viele der klassischen „Coming-of-Age“Motive (Auf lehnung gegen elterliche und schulische Autorität, „Ausreißen“, Provokation, subkulturelles Leben etc.) bewusst für eine Auseinandersetzung mit der dominanten Kultur als System der Kontrolle. Die geschilderten Grenzüberschreitungen Janeys sind Versuche, sich den soziokulturellen Identitätszuschreibungen grundsätzlich zu entziehen und dadurch der höheren Wahrheit eines Selbstverständnisses ohne Normen näherzukommen. Sie wird mit diesem metaphysischen Unternehmen – soviel sei der folgenden Analyse vorweggenommen – scheitern. In seiner Radikalität ist Blood and Guts in High School weniger mit dem im Grunde konservativen Bildungsroman verwandt als mit jener zweiten Form von Narrativen über jugendliche Rebellion, die zwar auch immer einen „Coming-of-Age“-Konflikt im Sinne eines Generationenkonflikts zum Thema haben, in ihrem transgressiven Anspruch aber weiter gehen, weil die Kluft zwischen den Generationen hier zu einer

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Kluft von grundsätzlich verschiedenen Lebensmodellen wird. Diese Geschichten behandeln jene spezifische Form von juveniler Auf lehnung, die – ohne ein vergleichbares historisches Vorbild zu haben – nach dem zweiten Weltkrieg in der westlichen Welt auftrat, als sich spezifische Jugend-, Gegen-, Sub- und Popkulturen herausbildeten, die sich als Opposition zum Etablierten verstanden und von wohlmeinenden Beobachtern als Motor von gesellschaftlichem Fortschritt gesehen wurden: „In the 1950’s, ,youth‘ came to symbolise the most advanced point of social change: youth was employed as a metaphor [Hervorhebung im Original – d. Verf.] for social change.“21 Jugendrebellion markierte nun nicht mehr nur ein pubertäres Austoben an der Schwelle des Erwachsenseins, sondern begann, die „echten“ Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung zu übertreten und eine veritable, dabei aber vielgestaltige Gegenkultur auszubilden. Den Begriff der „Counter Culture“, unter dem viele dieser Jugendsubkulturen subsumiert wurden, hat Theodore Roszak erstmals im Jahr 1968 in die Diskussion eingeführt und folgendermaßen definiert: „Indeed, it would hardly seem an exaggeration to call what we see arising among the young a ,counter culture.‘ Meaning: a culture so radically disaffiliated from the mainstream assumptions of our society that it scarcely looks to many as a culture at all, but takes on the alarming appearance of a barbaric intrusion.“22 Während dieses Auf begehren der Jugend vom Establishment (zu recht) als ernsthafte Bedrohung gesehen wurde, wurde es von Sympathisanten mit geradezu utopischem Potential aufgeladen: „[Y]outh was the vanguard party [Hervorhebung im Original – d. Verf.] – of the classless, post-protestant, consumer society to come.“23 Ich habe im ersten Teil meiner Untersuchung bereits dargestellt, dass die zum überwiegenden Teil von Jugendlichen getragenen Subkulturen des Pop das letzte Auf lodern des transgressiven und avantgardistischen Anspruchs der Moderne auf ein Dasein im authentischen Außen jenseits gesellschaftlicher Normierung darstellten. So wird der „Teenage“ oder „Young Rebel“ zum Avantgardisten des Popzeitalters. Diese Vorstellung entkoppelte den Begriff der Jugend vom tatsächlichen Lebensalter und ließ ihn vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Synonym für die transgressiven Potentiale werden, die am Rand der Gesellschaft lauern. 21 | John Clarke, S tuart Hall, Tony Jefferson und Brian Roberts: „Subcultures, Cultures and Class: A theoretical overview“, in: Stuart Hall/Tony Jefferson (Hg.): Resis tance Through Rituals: Youth Subcultures in Pos t-war Britain, London 1975, S. 9–74, hier: S 71. 22 | Theodore Roszak: The Making of a Counter Culture. Reflec tions on the Technocratic Society and Its Youthful Opposition, London 1970, S. 42. Roszak selbs t hat sich Jahre später darüber beklagt, dass der Begriff von konservativer Seite oftmals als „little more than an adolescent outburs t“ definiert wird, um ihm seinen radikalen politischen Anspruch abzusprechen. (Roszak zitiert in: Paul Brauns tein und Michael William Doyle: „Introduc tion: His toricizing the American Counterculture of the 1960s and ’70s“, in: dies. (Hg.): Imagine Nation: a. a. O., S. 5–14, hier: S. 6) 23 | Clarke/Hall/Jefferson/ Roberts: a. a. O, S. 71. Wie sehr diese Klassenlosigkeit Utopie geblieben is t, zeigten die Autoren selbs t in ihrer Arbeit, die belegt, dass sich die Klassens truktur der Gesellschaft auch in den Jugendsubkulturen widerspiegelte.

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Die Wurzeln eines solchen Verständnises von Jugend entstand, noch bevor sie vom Popdiskurs aufgegriffen und weiterentwickelt wurde, in den europäischen Avantgarden nach dem zweiten Weltkrieg, als sich, ganz ähnlich wie schon nach dem ersten Weltkrieg, meist junge Künstler gegen die Wertewelt ihrer Elterngeneration wandten, deren Gültigkeit sie auch durch die Erfahrung des Krieges endgültig diskreditiert sahen. Greil Marcus nennt hier vor allem das Werk des Lettristen Isidore Isou als wichtigen theoretischen Einfluss und fasst die darin formulierte Auffassung von Jugend folgendermaßen zusammen: ,[Y]outh‘ was a concept and it could be enlarged to include anyone who was excluded from the economy – and anyone who through volition, or for the matter of dissipation, refused to take a preordained place in the social hierarchy. It was only among those who, whatever their age, were not encumbered by the routines of family and wage labor that one could find the source of revolution. 24

Wo Jugend zur Trope für eine avantgardistische Grundhaltung wird, kann sie tatsächliches transgressives Potential entfalten und ist weitaus mehr als nur eine liminale Passagenphase in der individuellen Entwicklung. Dieses Konzept von Jugend wird gerade in den Narrativen des Pop immer wieder mit dem Element des Kriminellen – Gangster und Outlaws als positiv besetzte Außenseiter zu betrachten hat vor allem in der amerikanischen Kultur eine lange Tradition – verknüpft. Reale Ereignisse wurden dabei aufgegriffen und medial popularisiert. So konnten sie zum Nährboden für Mythen der Transgression werden: In 1947, four thousand motorcyclis ts invaded the quiet town of Hollis ter, California, and held a party, the town was partially des troyed. […] In 1958, Charley Starkweather, nineteen and his girlfriend, Carol Fugate, fourteen, murdered ten people in Nebraska and Wyoming, including Fugate’s mother, s tepfather, and baby half-sis ter; among other vic tims was a couple about the same age as the killer. These events and others like them became myths almos t before the were acknowledged as events[.] 25

Das Überwinden der „Great Divide“ zwischen Hoch- und Massenkultur machte es − unabhängig von den damit einhergehenden kommerziellen Ausbeutungen – möglich, diese rebellischen Jugendlichen als prometheische Außenseiterfiguren zu inszenieren und mit einer großen Breitenwirkung zu popularisieren. Gerade in der amerikanischen Kultur ist der „Young Rebel“ zum wiederkehrenden Sinnbild von Transgression und Dissidenz geworden. Neben mittlerweile kanonischen Romanen wie Kerouacs On the Road oder anderen Texten der „Beat Generation“, die die wichtigste literarische Gegenkultur der 1950er Jahre war, ist das Motiv der jugendlichen Rebellen in vielen kulturindustriellen Werken zu finden. Vor allem Hollywood hat in dieser Zeit angefangen, den jugendlichen Rebellen zu einem populären Mythos der Transgression zu überhöhen, der die etablierten Tabus, Normen und Gesetze des Es24 | Greil Marcus: Lips tick Traces – A Secret His tory of the Twentieth Century, London 2001, S. 270. 25 | Ebd. S. 262f.

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tablishments sprengte und ihm eigene Stil- und Ausdrucksmittel entgegenstellte. So stand der oben beschriebene Vorfall in Hollister Pate für László Benedeks Film The Wild One (1953) und das Genre der „Bikerfilme“ an sich. Der Starkweather/Fugate-Fall inspirierte über Jahrzehnte Filme von Terence Maliks Badlands (1973) bis zu Oliver Stones Natural Born Killers (1994). Der Teenagerrebellenfilm der 1950er Jahre setzte – trotz seiner Kommerzialität – die Themen, die die kulturelle Revolution des folgenden langen Jahrzehnts dominieren sollten: Sex (als Symbol für die Ablehnung der Restriktionen der rigiden Moralvorstellungen in der Gesellschaft) und Rock’ n’ Roll (als genuine und für die Elternwelt schockierende Form künstlerischen Selbstausdrucks): „Films such as Rebel without a Cause (1955), Blackboard Jungle (1955), and Rock Around the Clock (1956) portrayed youth as icons of defiance and rock and roll as the subversive space where sexual desire was explored and its excesses were repudiated.“26 Ein Jahrzehnt später sollte sich die Drogenkultur mit diesen beiden Elementen zur Begriffstrias „Sex & Drugs & Rock n’ Roll“ verbinden, die bis heute inflationär gebraucht wird, um die Mythen der Jugendrebellion zu beschreiben. Aus historisch-soziologischer Perspektive hatte die Auf lehnungshaltung gegen das Establishment in den 1950ern ihren Ausgang an den Rändern der Gesellschaft genommen und erreichte im Laufe der 1960er Jahre auch deren Mitte: „Beatnicks, Hell’s Angels, and ghetto youth were familiar figures of rebellions against the mores of conventional society. What was new about the counterculture was that it recruited the most privileged sectors of the younger generation.“27 Auch die Jugend der „Mitte der Gesellschaft“ begann nun, ihr Gefühl der Entfremdung zu artikulieren und sich selbst im Außen der etablierten Ordnung zu positionieren. Zahlreiche gegenkulturelle Bewegungen wie die Neue Linke, die Studentenbewegung oder auch die Hippiekultur wurde von den Kindern jener gebildeten Mittelschicht getragen, deren Eltern sich dem Konformismus des Konsumkapitalismus verschrieben hatten und für die Individualität sich vor allem durch die Maßstäbe des ökonomischen Individualismus definierte. Acker war selbst Teil dieser radikalisierten Mittelschichtsjugend, die gegen diese „nicey-nicey-clean-ice-cream-TV society“ (B&G 94) auf begehrte, auch wenn ihre Teilhabe an der Rebellion nicht dem gängigen Klischee über ihre Generation entspricht. Zwar stammt sie aus dem Mittelschichtsmillieu der Ostküste und wurde im studentenbewegten Kalifornien politisiert, doch waren – wie ich bereits beschrieben habe – ihre Affinitäten zu den Bewegungen dort eher gering. Sie teilte die kritischen theoretischen Ansichten der akademischen Jugend über den desolaten Zustand des Ka26 | Henry A. Giroux: „Teenage Sexuality, Body Politics, and the Pedagogy of Display“, in: Jonathon S. Eps tein (Hg.): Youth Culture. Identity in a Pos tmodern World, Malden et al. 2002, S.24–55, hier: S. 29. 27 | Gary Schwart z: Beyond Conformity or Rebellion. Youth and Authority in America, Chicago 1987, S. 1. Diese Entwicklung nahm zwar in den USA ihren Anfang (die deswegen immer auch Vorbildcharakter für die Gegenkultur hatten), is t jedoch – mit verschiedenen zeitlichen Verschiebungen und lokalen Transformationen – als Phänomen zu betrachten, das in den meis ten wes tlichen Demokratien s tattgefunden hat.

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pitalismus, des politischen Systems und der Gesellschaft als ganzer, stand jedoch den meisten der damals üblichen Formen des politischen Aktionismus distanziert gegenüber. Ihrer Sympathien galten schon damals, noch vor ihrer Konfrontation mit der „Politik der Strasse“ auf der New Yorker 42nd Street weniger dem intentionellen Außenseitertum der Hippies und Neuen Linken, als vielmehr den existentiell Marginalisierten. Zudem war ihre Rebellion schon damals eher individualistisch, das potentiell Normative der „Movements“ entsprach nicht dem Charakter ihrer Transgressionen in ihrer Kunst- und Lebenspraxis. Dennoch sind die klassischen Gesten der jugendlichen Auf lehnung ein zentrales Topos in Blood and Guts in High School. Die soziale Situation, in der Janeys Rebellion ihren Ausgang nimmt, wird schon im ersten Kapitel des ersten der drei Romansegmente („Inside High School“, „Outside High School“ und „A journey to the end of the night“) deutlich, das die pubertär anmutende Parole „Parents stink“ als Überschrift trägt. In den ersten Zeilen erfährt der Leser, dass die Protagonistin nach dem Tod ihrer Mutter in einer inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater Johnny zusammenlebt und in allen ökonomischen, emotionalen und sexuellen Bindungen völlig auf ihn fixiert ist: „Never having known a mother, her mother had died when Janey was a year old, Janey depended on her father for everything and regarded her father as boyfriend, brother, sister, money, amusement, and father.“ (B&G 7) Ihre Auf lehnung richtet sich zwangsläufig zunächst gegen die (wenn auch unvollständige) Familie, jenem in der bürgerlichen Ideologie zur „Kernzelle der Gesellschaft“ überhöhten Einschließungsmilieu, das in der Moderne „zum Hauptort der Disziplinarfrage nach dem Normalen und Anormalen geworden ist.“28 Die Rebellion gegen die elterliche (hier explizit väterliche) Autorität repräsentiert mehr als einen pubertären Ablösungsprozess in der individualpsychologischen Entwicklung Janeys. Die Auf lehnung gegen die Familie steht synonym für die Auf lehnung gegen die Gesellschaft an sich. Mit ihrer Darstellung der „Familie“ Smith – der Allerweltsname verweist auf die Allgegenwärtigkeit des Familialismus als soziokulturellem Grundnarrativ der bürgerlichen Ordnung – dekonstruiert Acker die scheinbare Natürlichkeit der familiären Subjektproduktion in der Gesellschaft. Man muss sich dabei vor Augen führen, dass das Ideal der „nuclear family“ zur Entstehungszeit des Romans Ende der 1970er Jahre noch einen weitaus höheren gesellschaftlichen Stellenwert hatte als heute, in einer Zeit, in der Patchworkfamilien, gleich welchen Zuschnitts, zunehmend Akzeptanz genießen. In Blood and Guts in High School geht es um die Kritik der traditionellen Kern- oder Kleinfamilie, die seit Beginn der Moderne die prägendste normative Institution in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist, weil das Individuum dort schon im Moment seiner Geburt (bzw. schon bei seiner Zeugung) in einem Zustand vollkommenen Ausgeliefertseins in die Mechanik der Subjektkonstitution eingespeist wird. Hier werden die identitären, psychosexuellen und ökonomischen Eckpunkte gesetzt, nach denen der Mensch der hegemonialen Ideologie gemäß geformt werden soll. Es ist daher nur konsequent, wenn Acker die Familie 28 | Foucault: Überwachen und Strafen: a. a. O., S. 277.

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ins Zentrum ihrer auf die Gesamtgesellschaft zielenden Machtkritik stellt, wie Susan E. Hawkins richtig bemerkt: Her political analysis, always informed by a national and international critique of late capital, utilizes the dis tortions of family s truc ture as a micromodel for the discursive and ac tual asymmetries within this larger political frame. Capital’s deformative failures and violent disarticualtions reveal themselves within the family, jus t as the family s truc ture models the inequities and oppressions of capital.29

Die Institution der Familie hat für Acker politisch-affirmative Funktion da in ihr in erster Linie die ideologischen und materiellen Verhältnisse der bürgerlichen Ordnung reproduziert werden: „We can observe the distance of Acker’s view of nature from traditional, conservative conceptions in the force of her insistence that the family structure comes after the market and constitutes a kind of regulation imposed on it.“30 Die zentrale symbolische Autorität, in der sich dieses verborgene Geflecht sichtbar kristallisiert, ist die Figur des Vaters: „In Acker’s fiction, the father’s power […] derives from, and reinforces, his place within significant discursive and material regimes: the economic, the psychoanalytic, the literary, the mimetic, and so on.“31 Im inzestuösen Verhältnis mit ihrem Vater entsteht Janeys masochistischer Persönlichkeitszug, der in einem Spannungsverhältnis zu ihrer rebellischen Haltung steht und die schwer zu deutende Ambivalenz dieser Figur ausmacht. Einerseits flieht sie vor den von ihr als unterdrückend empfundenen patriarchalen Strukturen, andererseits ist sie so sehr durch diese geprägt, dass sie ihnen nicht entkommen kann. Ich werde im Kapitel über Ackers Sexualitätspolitik ausführlich darauf eingehen, welche Rolle die Übertretung des Inzesttabus in den Romanen für ihre Kritik an der Implementierung gesellschaftlicher Machtregime im Rahmen der Subjektivierung spielt. Für den Moment ist festzuhalten, dass Acker die Familie zum Ausgangsort von Janeys gegenkultureller Rebellion macht, weil diese Regime dort im Individuum operativ werden. Die Auf lehnung gegen die väterliche Autorität und damit gegen den familialistischen Charakter der Gesellschaft an sich ist einer der konstanten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Gegenkulturen der 1960er Jahre: Die sexuelle Revolution wollte die Beschränkung des breiten Erfahrungsfeldes der Sexualität durch die Institutionen Ehe und Familie überwinden, der Feminismus dieser Zeit attackierte das Rollenverständnis vom Vater als Ernährer und Oberhaupt der Familie und die Homosexuellenbewegung wandte sich gegen die Privilegierung der heterosexuellen Norm über andere Formen von Lust und Begehren. Mögen die spezifischen Ziele und Ausdrucksformen dieser Bewegungen auch vielfältig gewesen sein, ihre Kritik war immer eine fundamentale. Die rebellischen Kinder dieser kulturellen Revolution wollten nach der Pubertät nicht wieder in den Schoß der Familie zurückkehren, 29 | Hawkins: a. a. O., S. 639. 30 | Clune: a. a. O., S. 497. 31 | Hawkins: a. a. O., S. 639.

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sondern die Gesellschaft von dieser patriarchalen Struktur und den mit ihr einhergehenden diskursiven Regimen befreien. Ihre vollständige Auf lösung ist den gegenkulturellen Aktivisten sicherlich nicht gelungen. Dass sie mit ihrer Lockerung jedoch auch nicht völlig erfolglos waren, lässt sich nicht zuletzt an der Reaktion des vielleicht nicht zerschlagenen, in jedem Fall aber um seine alleinige Deutungshoheit gebrachten Establishments ablesen. Besonders der konservative Teil der amerikanischen Gesellschaft radikalisierte sich, was sich mittelfristig im politischen Aufstieg der Neuen Rechten und im Auftreten eines neuen Pater familias äußerte: Ronald Reagan. Werner Reinhart hat darauf hingewiesen, wie zentral familiäre und paternalistische Metaphorik für dessen Selbstinszenierung und Rhetorik war. Auch wenn Blood and Guts in High School drei Jahre vor dem Amtsantritt des ehemaligen Schauspielers fertig gestellt wurde, kann der Roman doch auch als Zeitkommentar zu der damals in der amerikanischen Gesellschaft weit verbreiteten Sehnsucht nach einer Person gelesen werden, die in der Lage wäre, die Rolle des Landesvaters auszufüllen und damit „die nationale Psyche anzusprechen und, nachdem Besetzungen wie Nixon, Ford und Carter aus unterschiedlichen Gründen als defizitär empfunden worden waren, angestaute Sehnsüchte zu befriedigen.“32 Wie Janey Smith erweist sich auch die amerikanische Gesellschaft, trotz aller Transformationen, durch und durch von der Prägung der patricharchalen Kultur durchdrungen und verlangt nach einer Figur, die die „Funktion des Vaters“ übernehmen kann. Um dem Gesetz des Vaters – das hier, wie ich noch ausführen werde, durchaus im Sinne Lacans zu verstehen ist – und der Kultur der Eltern zu entkommen, verfolgt Janey zunächst eine idealtypische Strategie jugendlicher Transgression. Sie wendet sich von der durch die Konventionen der Erwachsenen definierten Gesellschaft ab und schließt sich einer Subkultur an. Nach ihrer Ankunft in New York kümmert sie sich nicht mehr um ihre Schulbildung und wird Mitglied der Jugendgang THE SCORPIONS. In ihr findet sie eine neue Familie, die buchstäblich an die Stelle ihrer Beziehung mit Johnny tritt: „I was running around with a wild bunch of kids and I was scared. We were part of THE SCORPIONS. Daddy no longer loved me. That was it.“ (B&G 31) Mit der „Gang Culture“ greift Acker einen der vor allem in der amerikanischen Gesellschaft einflussreichsten populären Mythen der Jugendrebellion auf. Er hat seine Wurzeln in der ökonomischen Blütezeit und der konformistischen Enge der 1950er Jahre, in der die Vorstellung von kriminellen marodierenden Horden jugendlicher Gewalttäter zu einem der zentralen Angstphantasmen der Mittelschicht wurde: „The early ’50s saw near-hysteria about the ,problem‘ of unruly teenagers: in 1954, there was a Senate Subcommittee on Juvenile Delinquency, and the educationalist and journalist Benjamin Fine published his far-reaching study, 1,000,000 Delinquents.“33 Gleichzeitig idealisierten zahllose Filme, Bücher, Popsongs und selbst Musicals (Leonard Bernsteins West Side Story) das Gangleben als Form einer authentischen, konsequenten und wütenden Auf32 | Reinhart: a. a. O., S. 41. 33 | Gair: a. a. O., S. 102.

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lehnung der Jugend gegen die als repressiv, ungerecht und moralisch bigott empfundene Kultur der Eltern.34 Jungendgangs sind subkulturelle Gebilde, in denen sich verschiedene Elemente der Übertretung verbinden. So können sie natürlich als eine radikale Ausdrucksform innerhalb eines Übergangsstadiums im Prozess der Adoleszenz verstanden werden. Auf diesen Aspekt reduziert, könnte man sie als kriminelle Aberration pubertärer Rebellion „betwixt and between“ zweier Stadien eines individuellen Entwicklungsprozesses betrachten. Doch ein solcher Blick lässt die gesellschafts- und identitätspolitischen Aspekte des transgressiven Gestus der „Gang-Culture“ völlig außer Acht und spricht ihm seine Subversivität ab. Das Phänomen der Jugendgangs als rein strafrechtliches Problem zu betrachten – wie es gerade in den USA von Seiten der politischen Rechten immer wieder getan wurde – steht in der klassischen Tradition der Moderne, Formen von deviantem Verhalten, die aus Entfremdung geboren sind, zu kriminalisieren und damit ihre soziale Wirksamkeit zu entschärfen. Eines der signifikantesten Merkmale der Gangkultur ist, dass sich in ihr existentielles und intentionelles Außenseitertum vereinen. Zahlreiche kultursoziologische Untersuchen belegen, dass die „Gang“ als kollektiver Ausdruck von subkulturellem Dissens typisch für die marginalisierte Jugend überall in den westlichen Gesellschaften ist und somit im unfreiwilligen, existentiellen Außenseitertum wurzelt. Die mittlerweile kanonisch gewordenen soziologischen Studien des „Centre for Contemporary Cultural Studies“ haben beispielsweise gezeigt, dass in den 1970er Jahren – also zur Entstehungszeit von Blood and Guts in High School −, die Organisation des subkulturellen Selbstausdrucks noch in hohem Maße klassengebunden war: „Working-class sub-cultures are clearly articulated, collective structures – often, ,near-‘ or ,quasi‘gangs.“35 Auch wenn der Untersuchungsgegenstand der Birmingham School die britische Nachkriegs-Jugendkultur war, lässt sich die Erkenntnis, wonach Jugendliche aus der Mittelklasse sich eher individuell ausgerichteten Subkulturen anschließen, während die Jugend der unteren sozialen Schichten sich eher in klar strukturierten Kollektiven sammelt, grundsätzlich auch auf die amerikanische Gesellschaft anwenden. Tom Hayden – als Mitglied der „Chicago Seven“ selbst eine Ikone der Gegenkultur der 1960er Jahre – verknüpft die „Gang Culture“ ebenfalls mit dem Aspekt sozialer Herkunft. Auch wenn die Gang als soziales Phänomen schon vorher existierte, erlebte sie laut Hayden erst in der konkreten historischen Situation des neokonservativen 34 | Vor allem die Popularisierung dieses Mythos durch das Hollywoodkino macht das ambivalente Spannungsfeld von subkultureller Dissidenz und ihrer kulturindus triellen Vereinnahmung deutlich: „[T] he very fac tors that made juvenile delinquency seem threatening could also make it appealing for the Hollywood s tudios. […] In addition, the s tudios were quick to recognise a burgeoning market for such films: a youth culture with disposable income unthinkable during their parents’ Depression-era childhood offered an untapped market for films about teenagers. Although Hollywood s tudios were driven by the conservative desire not to offend long-term patrons, they also recognised the need to develop the potential new audience.“ (Ebd.) 35 | Clarke/Hall/Jefferson/Roberts: a. a. O., S. 60.

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Backlashs eine Renaissance als Form des kollektiven identitären Selbstausdrucks unterprivilegierter Jugendlicher, die vorher keine Möglichkeiten hatten, ihren Dissens zum Ausdruck zu bringen: As the promise of the nation’s war on poverty was erased by the war in Vietnam, a new politics of law and order was born. Being tough on crime replaced a primary emphasis on social jus tice as the s taple of winning politics. The frightening menace of youthful ,super-predators‘ scared many Americans into funding more prisons and police. Like riders on the s torm, violent s treet gangs grew and expanded in the vacuum left by the civil rights movement and Vietnam.36

Blood and Guts in High School ist in genau diesem Klima entstanden und teilt implizit Haydens Analyse, die „Gang Culture“ sei eine Strategie jugendlicher Selbstermächtigung gegen Armut und soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft, der es nicht gelungen ist, mit diesen Problemen fertig zu werden. Die skizzenhafte Zeichnung der Familie Smith lässt zwar den sozialen Status von Janeys Herkunftsmilieu offen. In jedem Fall aber identifiziert diese sich vollständig mit den Gangmitgliedern der SCORPIONS, die allesamt aus marginalisierten und unterprivilegierten Bereichen der Gesellschaft stammen: „My friends were just like me. They were desperate – the products of broken families, poverty – and they were trying everything to escape their misery.“ (B&G 31f.) Janey kann in dieser Hinsicht durchaus als Alter Ego der Autorin verstanden werden, ist die Solidarität mit den existentiellen Außenseitern der benachteiligten Schichten der Gesellschaft doch eine politische Konstante, die Ackers gesamtes Werk durchzieht, ohne dass sie sich deswegen als Linke im traditionellen Sinn einordnen ließe. Vielmehr spricht hier die „Politik der Straße“ aus Ackers Text. Die Aktionsfeld der SCORPIONS ist ihrer sozialen Herkunft entsprechend die Schattenseite des urbanen Raumes, die heruntergekommenen Strassen der unterprivilegierten Stadtviertel, in denen die negativen Seiten des Kapitalismus an die Oberfläche treten: „The East Village stinks. Garbage covers every inch of the streets. The few inches garbage doesn’t cover reek of dog and rat piss. All of the buildings are either burnt down, half-burnt down, or falling down. None of the landlords who own the slum live in their disgusting buildings.“ (B&G 56) Anhand solcher Viertel wird deutlich, dass die Grenzziehungsprozesse, die die kapitalistische Gesellschaft konstituieren, sich nicht nur auf einer symbolischen (in Klassenidentitäten) und ökonomischen (in der ungleichen Verteilung von Besitz) Ebene äußern, sondern sich auch in der geografischen Verteilung im Stadtraum (in Form einer Ghettoisierung von Außenseitern verschiedenster Art) zeigen. Die besitzenden, dominierenden Klassen grenzen sich auch geographisch von ihrem (klassenpolitisch gesehen) dialektischen Anderen ab. Das East Village war in den 1970er und frühen 1980er Jahren ein solcher Ort des urbanen Ausschlusses, in dem die Marginalisierten (Einwanderer, Unterprivilegierte, Drogensüchtige, Obdachlose, Künstler etc.) abseits der symbolischen und 36 | Tom Hayden: Street Wars – Gangs and the Future of Violence, New York 2004, S. 1.

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materiellen Zentren der Gesellschaft leben. Für Janey wird diese Umgebung gerade deshalb zu einem Ort der Authentizität, den sie freiwillig als Lebensmittelpunkt auswählt. Das East Village ist „[t]he slum where she chooses to live.“ (B&G 56) Acker platziert ihre Protagonistin bewusst in diesem Milieu, in dem sich das intentionelle Außenseitertum des Rebellischen mit dem existenziellen des materiell Benachteiligten verbindet. Diese Verknüpfung bedient einen ganz spezifischen populären Mythos von der Jugend als transgressiver Avantgarde – der aus den sozialen Randbereichen stammenden, meist kriminellen, dabei aber immer auch romantischen und romantisierten „teenage“ oder „juvenile delinquency.“ Folgerichtig beginnt auch Janey eine Karriere als kriminelle Jugendliche: „Me and Monkey were the first to steal. We were high on meth. We ripped off Bloomingdale’s, a big department store in New York City.“ (B&G 35) Die kriminelle Handlung wird hier zur Einforderung der Teilhabe der Unterprivilegierten an den vermeintlichen Segnungen des Kapitalismus und an den Statussymbolen des ökonomischen Individualismus: „As soon as Monkey and I got into Bloomingdale’s, we separated. I checked my appearance. My curly hair, light makeup, and dark red suit made me look like a nice, rich girl. I wanted to stay that way. Being nice and rich is a dream.“ (B&G 35) Aus den Faktoren Armut und Entfremdung von einer Gesellschaft, die ihnen die Teilhabe verweigert, speist sich auch der transgressive Furor, mit dem die SCORPIONS als Gruppe agieren. Er hat somit eine explizit politische Konnotation und ist weit mehr als der Ausdruck einer liminalen Übergangsphase während des Adoleszenzverlaufs. Seine Triebfeder ist die explizite Oppositionshaltung gegen ein Gemeinwesen, das als ungerecht, normativ und entfremdend empfunden wird: We s tarted out making trouble. Early one morning we rode in a s tolen van into a Connec ticut town and bus ted into a hardware s tore. We threw everything in the s tore out of the door. We didn’t hate, unders tand, we have to get back. Fight the dullness of shit society. Alienated robotized images. [meine Hervorhebung – d. Verf.] Here’s your cooky, ma’am. No to anything but madness. Broken glass lies over the floor. Gum s ticks everywhere. Shit smeared in the cracks of the table. Their cash regis ter is ash-black like a burnt-up telephone book. We made the s tore into a death-house and the s treet look like the New York City eas t-side slum we had to live in. (B&G 35)

Dennoch sind die Aktionen der SCORPIONS, obwohl es klassenspezifische Ursachen hat, dezidiert kein politisch radikales Handeln. Die Gang versteht sich nicht als politische Bewegung, sie hat kein Manifest und ihre Auf lehnung gegen die herrschende Gesellschaft ist kein Klassenkampf im marxistischen Sinn. Den Überfall auf den Laden in Connecticut kann man, wenn man es sich einfach machen will, als nihilistischen und kriminellen Akt des Vandalismus durch eine Gruppe von „juvenile delinquents“ interpretieren. Doch es geht hier um mehr als nur um die Pose des Bürgerschrecks. Die Aggression hat hier auch unbestreitbar ein performatives Element und kann daher auch als eindeutige sozialkritische Botschaft an die Mitte der Gesellschaft verstanden werden: „We made the store into a death-house and the street

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look like the New York City east-side slum we had to live in.“ (s.o.) Sie ist jedoch in keinem Fall ein revolutionärer Akt im traditionellen Sinn, es geht hier nicht um die Umverteilung von Kapital oder Macht. Die Gang ist sich bewusst, dass ihre Auflehnung die gegebenen Verhältnisse nicht verändern und das herrschenden System nicht stürzen wird. Daher versuchen sie durch die Erweiterung der eigenen Subjektivität der „dullness of shit society“ zu entkommen und den „alienated robotized images“ der zweckrationalen Welt eine authentische Gegenidentität gegenüberzustellen: „We knew we couldn’t change the shit we were living in so we were trying to change ourselves.“ (B&G 32) Die Strategien dazu sind die der klassischen „Counter Culture“: „Despite the restriction of school, we did exactly what we wanted and it was good. We got drunk. We used drugs. We fucked.“ (B&G 32). Dem Wort „school“ wohnt hier eine große Ambiguität inne. Einerseits bezeichnet es eine konkrete Institution der High School, schließlich ist Janey von ihrem Vater auch nach New York geschickt worden, um eine Schule zu besuchen. Andererseits steht es vielleicht noch viel mehr, wie ich oben bereits erwähnt habe, für die hegemoniale Kultur als System der Normierung und Kontrolle an sich. Mit „restrictions“ sind also auch die Normgrenzen der Gesellschaft gemeint, durch deren Übertretung Janey versucht, sich eine eigene „zone of Being“37 im „Außen“ zu erschließen. Janeys Grenzüberschreitungen radikalisieren sich, als sie ihren neuen Freund Tommy kennenlernt. Diese Figur erfüllt im Roman für Ackers Bilanz der gegenkulturellen Transgressionen zwei Funktionen. Zum Ersten macht sie hier deutlich, dass die „Politik der Strasse“ sich zwar in Zeichenhaftigkeit und Symbolpolitik als das „Andere“ des bürgerlichen Mainstreams definiert, geschlechterpolitisch aber dessen hierarchische Strukturen reproduziert, weil sich ihrer Meinung nach das gegenkulturelle Außenseitertum nicht aus den Machtstrukturen lösen kann, die es eigentlich überwinden will: As is common in some types of pos ts truc tural analysis, Acker also equates the marginalized – in our case the poor in capitalis t society – with the derided or oppressed term; hence, women have oppression in common with the poor. For Acker there is no escaping the logic of all this within current consciousness, the logic is thoroughgoing and inescapable. All male and female relationships will fall into forms of domination, jus t as all relationships within capitalism will.38

An Janeys Beziehung zum Straßenrebellen Tommy zeigt Acker, dass der hierarchische Geschlechterbinarismus in ihren Augen ein kulturkonstituierendes Grundnarrativ der westlichen Gesellschaften ist, das nicht nur die Mehrheitsgesellschaft organisiert, sondern auch jene expressiven Subkulturen, die in Blood and Guts in High School bilanziert werden. Diese Beziehung beginnt mit einem Nötigungsversuch durch Tommy und seine Gang, in der der strukturelle Sexismus dieser Subkultur verdichtet lesbar wird: 37 | Siegle: a. a. O., S. 79. 38 | Ebbesen: a. a. O., S. 8.

A USSENSEITER ,What’s the bitch crying about?‘ ,Why don’t you beat her up, Tommy?‘ ,Punch her in the s tomach.‘ ,My friends like you, ‘ he whispered right into my ear as he pushed me along. ,We’re gonna be hot together.‘ (B&G 41)

An Janeys Reaktion auf diesen Übergriff wird die ambivalente Sexualität dieser Figur evident. Einerseits versucht sie, Widerstand zu leisten, andererseits wirkt ihre ödipal-masochistische Prägung durch die Gesellschaft (von deren Mechanismen noch zu sprechen sein wird) nach: „,You can’t.‘ I was back to my old hard SCORPION way of speaking. And his hand running up and down my back hard made my legs wet.“ (B&G 41) Schließlich gibt sie Tommys gewaltsamem Werben doch nach. Er wird – wie vor ihm der Vater und später der persische Sklavenhändler – das neue Objekt ihrer ödipal codiertenBegehrensstruktur. „Daddy“ hat Janey seine Liebe entzogen, ihre Promiskuität hat nicht die erhoffte Befreiung gebracht, also erfüllt Tommy für sie die „Funktion des Vaters“ und wird damit zum Brennpunkt ihrer emotionalen und sexuellen Fixierung: „I went home with him and didn’t give a shit anymore about anything else but him.“ (B&G 41) Neben dem ihm innewohnenden Sexismus führt Acker an Tommy auch eine grundlegende Aporie im heroischen Rebellenmythos vor: Tommy was a SCORPION He was an intellec tual criminal. He believed his plans worked and they did. He couldn’t see reality beyond his plans. Totally scared out of his mind in the blackness no ground SPLIT. All the SCORPION boys hit SPLIT. That’s why they hated women. They depended on crime and crime kept them s tupid. (B&G 42)

Als Handlungen eines „intellectual criminal“ gründen Tommys Grenzüberschreitungen, bei all ihrer Impulsivität immer auf einer reflektierten Oppositionshaltung. Sein Intellektualismus ist ein Attribut jenes von Mayer so gefeierten prometheischen intentionellen Außenseitertums, das sich bewusst außerhalb der herrschenden Ordnung positionieren will. Doch Acker bricht sofort wieder mit diesem uneingeschränkt positiv konnotierten Bild. Zwar billigt sie Tommys Transgressionen zu, auf der Ebene der subjektiven Erfahrung eine gewisse Wirkung zu haben („He believed his plans worked and they did.“), macht aber gleichzeitig deutlich, dass diese Art der traditionellen Überschreitung in ihrer eigenen Freiheits- und Authentizitätsfiktion gefangen bleibt („He couldn’t see reality beyond his plans.“). Dabei beruht diese Fiktion auf einer reinen Verweigerungshaltung innerhalb der binären Struktur, die jeder Form der Transgression eigen ist, die sich auf den reinen Schritt ins „Außen“ verlässt. Der Outlaw Tommy unternimmt den Schritt in die Welt des Verbrechens, ohne zu erkennen, dass sie kein normloses „Außen“ ist. Er erliegt dabei dem Mythos der Entgrenzung und Befreiung durch eine einmalige Überschreitung, den er jedoch nicht zu hinterfragen in der Lage ist: „crime kept them stupid.“

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Generell sind Janeys Handlungen während ihrer Zeit mit den SCORPIONS in New York typische Gesten einer auf Authentizität ausgerichteten Form von Transgression. Selbstpositionierung außerhalb der Gesellschaft, Bewusstseins- und Erfahrungserweiterung durch Drogen- oder Lustrausch, intentionales Übertreten von Gesetzen, Normen und Konventionen der herrschenden Ordnung: „Every day a sharp tool, a powerful destroyer, is necessary to cut away dullness, lobotomy, buzzing, belief in human beings, stagnancy, images, and accumulation.“ (B&G 37) In den 1950er und 60er Jahren waren diese Strategien in den Stand quasimetaphysischer Erlösungsideologien gehoben worden, die den Weg aus der Entfremdung und Normativität eines im wesentlichen zweckrational, kapitalistisch und patriarchal ausgerichteten Mittelklasseamerika weisen sollten. In Blood and Guts in High School werden die Grenzen dieser Mythen aufgezeigt. Acker inszeniert Janeys Rebellion lediglich als Flucht, als Absetzbewegung, die sich, ungeachtet ihrer Form, im Wesentlichen in der Ablehnung der Gesellschaft erschöpft. Die dahinterstehende Utopie ist jene der Befreiung durch Verweigerung, die schon prägend für die Avantgarden der Moderne war und die in den Jugendsubkulturen ihre letzte große Blüte erlebte: „Negation was accompanied by nihilism – which, once glamorized in the media, was understood by young people eager for new myths as a promise of freedom .“39 Doch ist dieses Versprechen, wie ich schon ausgeführt habe, nicht durch eine einfache Selbstpositionierung im Außen zu erfüllen. Acker hat das begrenzte Potential dieser transgressiven Strategien erkannt und legt den Finger immer wieder in die offene Wunde jeder simplen Verweigerungsutopie, die sich nie vollständig erfüllen kann, weil der Transgressor niemals allen Strukturen, denen er sich verweigern will, vollständig entkommen kann. Auch die mythische Figur des jugendlichen Außenseiterrebellen ist in ein Netz von Machtstrukturen, materiellen Gegebenheiten und psychosozialen Beziehungen eingebunden. Um dies darzulegen, bedient sich Acker einer vergleichsweise einfachen narrativen Strategie. Sie konfrontiert ihre Protagonistin mit dem dialektischen „Anderen“ der vermeintlichen Befreiung. Zwar hat Janey die Grenzen der bürgerlichen Ordnung hinter sich gelassen, aber die sozialen Bindungen und Strukturen, die sie dafür eingetauscht hat, können ebenfalls mit auch mit Schmerz, Angst un Traumatisierung besetzt sein: „I was running around with a wild bunch of kids and I was scared.“ (B&G 31); „We hurt each other sexually as much as we could. The speed, emotional overload, and pain every now and than dulled our brains. Demented our perceptional apparatus.“ (B&G 32). Sie macht damit deutlich, dass Transgression in Form von Negation nur zu einer Positionsveränderung im auf Binarismen basierenden „Kontrollsystem Kultur“ führen kann, nicht aber zur vollständigen Überwindung desselben. Als weiteren Beleg für diese Auffassung führt Acker neben Gangkultur und „juvenile delinquency“ (als typische Beispiele der Jugendrebellion der 1950er) auch die prägende Gegenkultur der 1960er an – die Hippie-Bewegung. Als würde sie Adornos 39 | Marcus: a. a. O., S. 262.

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berühmte Behauptung, es gäbe kein richtiges Leben im Falschen belegen wollen, zeigt Acker an dieser Subkultur beispielhaft auf, dass authentizitätsorientiertes gegenkulturelles Handeln ins Leere laufen muss, weil es keine Möglichkeit bietet, der kapitalistischen Grundstruktur – einem von Ackers größten Feindbildern – zu entkommen: „In typical Acker fashion, the seriousness of protest is laced with Janey’s compliance with the economic realites of earning a living[.]“40 Janey wird zwar nicht selbst zum Hippie, nimmt aber aus ökonomischen Gründen eine Stelle als Verkäuferin in einer von Hippies betriebenen alternativen Bäckerei an: „I didn’t have enough food, so I started working in a hippy bakery. It was 1977.“ (B&G 37) Die Jahreszahl „1977“ führt Acker nicht zufällig an. Sie markiert das Scheitern der transgressiven Ideale der Hippie-Bewegung zehn Jahre nach dem „Summer of Love“ von 1967. Acker führt damit ihre eigene Bilanz zu dieser Revolution implizit in den Roman ein. Obwohl sie Ende der 1960er Jahre selbst in Kalifornien lebte, stand sie dieser damals unter jungen Nonkonformisten dominanten Kultur der „Blumenkinder“ von jeher mit großer Skepsis gegenüber. Über sich selbst sagte sie im Gespräch mit Sylvère Lotringer: „I guess I wasn’t a very good hippy.“41 Ihre Erfahrungen im Rotlichtmilieu haben ihren Argwohn weiter verstärkt. Durch die Konfrontation mit den harten Realitäten der Straße und dem Nexus von Markt und Sexualität konnte die postmaterielle Libertinage des Hippie-Ideals nur noch naiv wirken: „[I] could see that politics were what was involved in separating me from the St. Mark’s crowd – class (because they were basically upper middle class, while 42nd St. wasn’t) and sexism. All this stuff the hippie crowd were totally denying at the time.“42 Gerade das vermeintlich antibürgerliche Ideal der „Freien Liebe“ war Ackers Ansicht nach nicht weniger patriarchal als die Mehrheitsgesellschaft selbst: „And in those days, the men really had all the power, all they did is to get these women pregnant. It wasn’t really much fun, you end up with five babies and no boyfriend.“43 Doch auch jenseits dieser persönlichen Enttäuschungen ist die Revolte der Hippies ins Leere gelaufen. Mochte die Kultur der Blumenkinder, die nicht zuletzt aus einer Ablehnung des unkritischen Konsumkapitalismus der 1950er und 60er Jahre entstanden ist, noch eine bestimmte Utopie eines authentischen anderen Lebens behaupten können, so war dieses Potential 1977 – auf dem Höhepunkt der Punkbewegung – definitiv erloschen. Die Schockwirkung, die die Hippies durch ihren Stil und ihre Lebensweise beim Establishment ausgelöst hatten, war verflogen, die Ideale von Frieden, freier Liebe und Konsumverzicht hatten die Gesellschaft nicht revolutionär in ihr Gegenteil verändert. Auch an ihnen wird das Dilemma jeder gegenkulturellen Auf lehnung deutlich. Einerseits haben sie zur Ausdifferenzierung der sozialen Sphäre beigetragen, andererseits hat diese Ausdifferenzierung dem kleinteiliger werdenden Mainstream die Möglichkeit der Vereinnahmung des gegenkulturellen Diskurses er40 | 41 | 42 | 43 |

Siegle: a. a. O., S. 79. Lotringer/ Acker: a. a. O., S. 2. McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 95. Lotringer/ Acker: a. a. O., S. 2.

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öffnet. So hat sich auch der Hippiestil seine Nische im Gemischtwarenladen des Spätkapitalismus gefunden, in der seine Symbole nicht mehr fundamentale Opposition, sondern nur noch das Image von Nonkonformität repräsentierten. Acker persifliert diese Entwicklung in der Passage des Romans, in der sie Janey in der Hippie-Bäckerei arbeiten lässt. Auch wenn sich dieser Laden alternativ gibt, sind die Gesetze nach denen er funktioniert doch die des kapitalistischen Marktes, der seine Anforderungen auch an Janey richtet: „I have to pretend I like the customers and love giving them cookies no matter how they treat me […] As soon as I dare to take the time to think a thought, to watch a feeling, usually hatred, develop, to rest my aching body, a customer enters.“ (B&G 37f.) Anders als mit der Gangkultur der Unterschicht kann sich Janey nicht mit der von der Mittelklasse getragenen Hippiekultur identifizieren und hat nur Spott für ihre Posen übrig: „A twenty-sixyear-old English-accented Parisian hippy worked the counter with the Lousy Mindless Salesgirl [so bezeichnet Janey sich selbst – d. Verf.]. The hippy never did any work because she had to spend all her time finding out from the customers what she could do with her life and how she was going to be creative.“ (B&G 39) Mit nicht minder beißender Ironie kommentiert Janey den Widerspruch zwischen dem ideellen Antimaterialismus der Bewegung und der Tatsache, dieses nonkonformistische Image (hier in Form von Backwaren) zum Konsumgut zu machen: „Hippies have ideals and sell good cookies cheap.“ (B&G 38) Indem Acker in ihrer Identifikation die Unterprivilegierten der New Yorker East Side bevorzugt, greift sie eine verbreitete Kritik am „Hippie Movement“ auf: „The hippies’ adoption of virtual poverty as part of their outsider, Christ charade was often regarded as cruel mockery by the black, Hispanic, and immigrant residents of these neighbourhoods, who dreamed of attaining entry into the very material world the hippie children had casually – and provisionally – repudiated.“44 Ihre skeptische Bilanz der in Blood and Guts in High School portraitierten transgressiven Strategien der Jugendrebellion formuliert Acker sloganhaft: „BEYOND CRIME, DREAMS; AND SEX: DISASTER“ (B&G 42). Dieses Desaster manifestiert sich für jeden dieser Bereiche in anderer Form. Das Verbrechen wird für Tommy und Janey, wie Siegle richtig feststellt, zur „metaphor for trying to think or do for one’s own ends against the social determinations of one’s Being.“45 Acker erzählt diese konfrontativ jede Konvention der Mehrheitsgesellschaft attackiernde Beziehung als Parodie auf die populären Mythen über Gangsterpärchen wie Bonnie Parker und Clyde Barrow oder von Starkweather und Fugate: Love turned me back to crime. Tommy and I kidnapped children. Smeared up the walls of buildings. Carried dangerous weapons and used them. Did everything we could to dull our judgement and ac ted as outright-

44 | Brauns tein/ Doyle: a. a. O., S. 12. 45 | Siegle: a. a. O., S. 80.

A USSENSEITER ly violent as possible. Shitted on the s treets. Attacked s trangers with broken bottles. Hit people over the head with hard objec ts. Kicked the guts out of people on the s treets. Started fights and riots. (B&G 41f.)

Besonders der Vergleich mit Bonnie und Clyde drängt sich auf, ist Arthur Penns Verfilmung dieses Falles aus dem Jahr 1967 doch „a veritable parable of radical youth in the 1960s, a Rosetta stone for deciphering their utopian aspirations, destructive impulses, and revolutionary pretensions.“46 Ähnlich wie die Raubzüge von Bonnie und Clyde endet auch die Outlaw-Utopie von Janey, Tommy und den anderen SCORPIONS in der Konfrontation mit dem Gesetz. Die Gang findet auf der Heimfahrt von einem Rockkonzert, verfolgt von der Polizei, bei einem Autounfall ihr Ende: The cops’ sirens were louder. Greaso’s foot hit the accelerator all the way. We were in a totally black sec tion of Newark. A tiny red light appeared in the blackness. The red light grew larger and larger. I don’t remember the crash. Everyone died but monkey who got brain damage and me. ( B&G 44)

Siegle kommentiert diese Szene so: „The crash, if a bit melodramatic, serves well metaphorically to mark the tactical hopelessness of the punk rebellion of the Scorpions – chased by the police, blazing toward a red light, they have the ultimate encounter with the disciplinary side of the law.“47 Dieser Interpretation ist, was die „tactical hopelessness“ der Handlungen der SCORPIONS angeht, durchaus zuzustimmen. Doch liegt der Grund für diese strategische Sackgasse sicherlich nicht in der Stärke der institutionalisierten Disziplinarmacht des Gesetzes in Form der Polizei, sondern in der Struktur der Rebellion selbst. Weil die SCORPIONS versuchen, der Macht durch eine stabile Gegenidentität zu entkommen und dabei verkennen, dass jede Form von fixierter Identität letztendlich wieder normativ wirkt, muss ihre Befreiungsutopie scheitern. Der Autounfall steht für dieses Versagen. Acker inszeniert das Ende der Gang nicht im Stil von Penns Bonnie and Clyde als plakativen Showdown zwischen der kriminellen Jugend und der Staatsmacht. Zwar flieht die Bande vor der Polizei, doch den Unfall verursachen sie selbst. Die SCORPIONS scheitern nicht, weil die repressiven Mechanismen der Mehrheitsgesellschaft zu übermächtig sind, sondern weil sie Abgrenzung mit Befreiung verwechseln. Hier liegt der eigentliche der Kern der taktischen Hoffnungslosigkeit ihrer Überschreitung. In ihrem Nihilismus sind sie nicht in der Lage, immer wieder aufs neue kreativ und produktiv neue Formen von Identität und subjektiver Erfahrung zu generieren, weil sie in ihrem Innen-Außen-Denken in der binären Grundstruktur der westlichen Kultur verhaftet bleiben. Ihre Transgression in die Sphäre des Verbrechens ist eine einmalige Selbstpositionierung, ein vermeintlich endgültiger Befreiungsschlag, der einen vorher unzugänglichen Bereich von Hand46 | Peter Brauns tein: „Forever Young. Insurgent Youth and the Sixties Culture of Rejuvenation“, in: Brauns tein/Doyle: a. a. O., S. 243–273, hier: S. 261. 47 | Siegel: a. a. O, S. 79.

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lungs- und Erfahrungsoptionen erschließt, in dem sie jedoch gefangen bleiben, weil sie nicht in der Lage sind, diese Identität ebenfalls zu hinterfragen. Ihre Handlungen bleiben stets die gleichen: Diebstahl, Gewalt, Drogenkonsum. Damit positionieren sich die SCORPIONS sicherlich ihrer Intention entsprechend außerhalb des Wertekonsenses der Gesellschaft, doch ihre identitäre Entwicklung stagniert hier. Das Prinzip der permanenten Auf hebung ist ihnen fremd. Wie Tommy ist die gesamte Gang nicht in der Lage, die Realitäten jenseits ihrer Gesetzlosenromantik zu sehen. Wieder gilt Janeys Kommentar: „Crime kept them stupid.“ (s.o.). Dabei werden die SCORPIONS fast zwangsläufig in eine Dynamik der sich ständig wiederholenden transgressiven Gesten gezogen, deren Zweck es auch ist, die eigene Identität als Outlaw zu fixieren und damit eine weitere Entwicklung zu blockieren. Was bleibt, ist die Qualität und Quantität der Überschreitungen zu steigern, bis letztendlich ein „heroischer“ Märtyrertod die einzige Option bleibt, die Außenseiterposition vor der Banalität der leeren Geste zu bewahren. Was das „disaster beyond dreams“ angeht, dekonstruiert Acker hier – ohne sie explizit beim Namen zu nennen – jene Strategien der „Counter Culture“, sich durch Bewusstseinserweiterung die Sphäre des Traums und des Rauschs als Gegenraum jenseits der von Janey konstatierten „dullness of shit society“ zu erschließen. Diese Welt jenseits der Rationalität, wurde von den Surrealisten bis hin zur Beat Generation und der „Drug Culture“ zum metaphysischen Raum authentischer Subjektivität stilisiert. In der Tradition von Vorbildern und Inspirationsfiguren wie Aldous Huxley oder Timothy Leary setzte sich in der psychedelischen Drogenkultur der „Sixties“ die Auffassung durch, that adults’ perception of their environment was so shuttered, rigid, and one-dimensional that, not surprisingly, their response to s timuli always followed the same dismal pattern, producing war, injus tice, poverty, racism, and sexual repression. The antidote to this psychic tunnel vision called maturity was ,deconditioning‘, a term coined by Burroughs. 48

Janey setzt zunächst große Hoffnungen auf diese Sphäre jenseits des kulturell überformten Bewußtseins: „Dear Dreams, You are the only thing that matters. You are my hope and I live for you and in you. You are rawness and wildness, the colours, the scents, passion, events appearing. You are the things I live for. Please take me over. Dreams cause the vision world to break loose our consciousness.“ (B&G 36) Hier verortet sie ihren „point of access to the possibility of something different from the scenarios of gender, economics, and political subjection readied for her.“49 Wie genau diese Andere beschaffen ist, bleibt unklar. Es ist, wie alle authentizitätsorientierten Fluchziele transgressiven Handelns eine Utopie ex negativo. Im Unbewußten, jenseits der Zweckrationalität, kann man der Entfremdung der modernen menschlichen Existenz entkommen und auf Authentizität und Erfüllung hoffen. Janey erwar48 | Brauns tein: „Forever Young. Insurgent Youth and the Sixties Culture of Rejuvenation“, a. a.O., S. 253. 49 | Siegle: a. a. O., S. 81.

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tet, jenseits der kulturellen Überformung, die das Konzept des Menschen (im humanistischen Sinn) erst produziert, eine Form von Wahrhaftigkeit erlangen zu können, die eine Glückserfahrung ohne Restriktionen ermöglicht: „As soon as we stop believing in human beings, rather know we are dogs and trees, we’ll start to be happy.“ (B&G 37). Siegle hat hier auf die offensichtliche Ähnlichkeit zu Foucaults Konzept vom Ende des Menschen hingewiesen: „The passage is obviously more hopeful than Foucault would care to be about getting outside the culturally determined ,dullness‘ of human beings, of overcoming the ,lobotomy‘ that prevents a being-of-the-body.“50 Wie Siegle auf diese optimistische Bewertung kommt, erschließt sich nicht, da Acker diese Authentizitätsphantasie typischer Manier umgehend wieder dekonstruiert: „Dreams by themselves aren’t enough to destroy the blanket of dullness. The dreams we allow to destroy us cause us to be visions/see the vision world.“ (B&G 37) Die Welt der Visionen erscheint hier nicht als Raum authentischer Erfahrung, sondern als Zustand, dem man mit Skepsis zu begegnen hat: „Once we’ve gotten a glimpse of the vision world (notice here how the conventional language obscures: WE as if somebodies are the centre of activity SEE what is the centre of activity: pure VISION […].“ (B & G 37) Die vermeintlich authentische (weil unnormierte) Sphäre der visionären Erfahrung ist für Janey hier eine Schimäre, auch ein den normativen Kräften entzogenes „WE“ taugt nicht zur Selbstermächtigung, wird nicht zum autonomen „centre of activity“. Somit ist die „vision world“ ein Gegendiskurs, dessen vermeintliche Wahrhaftigkeit in Frage gestellt werden muss, weil er möglicherweise selbst wieder Subjektivität produziert: „Actually, the VISION creates US. Is anything true?“ (B & G 37). Wenn Realität durch Wahrnehmung entsteht, wie es Acker impliziert (und später in Don Quixote explizit ausführt, s.u.), ist es gleichgültig, ob der Wahrnehmungsrahmen durch die dominante Kultur oder durch bewusstseinserweiternde Drogen definiert wird. Als Sphäre authentischer Erfahrung ist die „Vision World“ somit diskreditiert. Auch hinter Janeys Sexualität wartet das Desaster, da die gegenkulturelle Libertinage ihre Befreiungsversprechen nicht einhalten kann, weil sie an bestimmte Strukturen gebunden bleibt. Hier wäre zum ersten die Biologie zu nennen. Janeys Versuche, die Grenzen ihrer ödipal geprägten Sexualität durch „freie Liebe“ bzw. ihre persönliche sexuelle Revolution zu überwinden, haben für sie gravierende Folgen: „I don’t remember who I fucked the first time I fucked, but I must have known nothing about birth control ’cause I got pregnant. I do remember my abortion. One-hundred-ninety dollars.“ (B&G 32) Acker geht es hier nicht darum, die kulturalistischen Theoriemodelle über die Konstruiertheit von Geschlechtsidentität mit dem Verweis auf die Biologie zu entkräften, wie es der konservative Diskurs immer wieder versucht hat. Aber natürlich leugnet sie die biologischen Komponenten von Identität – etwa die Reproduktionsfähigkeit – nicht. Diese sind für sie aber kontingente Gegebenheiten, deren Faktizität zwar nicht zu bestreiten ist, aus denen aber keine Wesenhaftigkeit und keine identitäre Natur abgeleitet werden. Die Auf ladung dieser Faktoren mit scheinbar essentiellen Identitätseigenschaften erfolgt Ackers Ansicht nach durch kulturelle Pro50 | Ebd.

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zesse. Folgerichtig kritisiert sie in der Passage über Janeys Abtreibung in erster Linie den Umgang der patriarchalen westlichen Gesellschaft mit einer biologischen Tatsache, die als Rechtfertigung für die Produktion einer pseudonatürlichen Identität genutzt wird. Für Acker ist die weibliche Sexualität in der westlichen Kultur durch das Patriarchat konstruiert und kolonisiert. Janey, als Karikatur des im ödipalen Familialismus konstituierten weiblichen Subjekts wird aus Gründen der Machtausübung über die Folgen ihrer Sexualität im Unklaren gelassen („[…] I must have known nothing about birth control […]“, s.o.). Die Abtreibungsklinik, die Janey aufsucht, wird als ein Ort wahrgenommen, an dem der von Acker stets kritisierte Nexus von kapitalistischem und phallozentristischem Diskurs ungeschminkt zu Tage tritt: Women lined up. Women in chairs nodding out. A few women had their boyfriends with them. They were lucky, I thought. Mos t of us were alone. The women in my line were handed long business forms: at the end of each form was a paragraph that s tated she gave the doc tor the right to do whatever he wanted and if she ended up dead, it wasn’t his fault. We had given ourselves up to men before. That’s why we were here. All of us signed everything. Then they took our money. (B&G 32)

Angesichts der Stabilität der diskursiven Verbindung von Patriarchat, Kapitalismus und Biopolitik bleibt Janey nichts anderes übrig, als den idealistisch-emanzipatorischen Feminismus der „Sixties“ sarkastisch zu kommentieren: „It’s all up to you girls. You have to be strong. Shape up. You’re a modern woman. These are the days of post-woman’s libaration. Well, what are you going to do? You’ve grown up by now and you have to take care of yourself. Noone is going to help you. You’re the only one.“ (B&G 32) Ackers in Blood and Guts in High School gezogene Bilanz der „Counter Culture“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Für sie funktionieren diese Strategien nicht, weil sie in ihrer kulturell radikalen Machtanalyse erkennt, dass sie nach wie vor in jenem dualistischen Denken verhaftet bleiben, das die Unterdrückung überhaupt erst erzeugt. Ihre Protagonistin Janey muss erkennen, dass der vermeintliche subkulturelle Gegendiskurs nicht minder materialistisch und patriarchal ist als der Mehrheitsdiskurs. Zudem ist das Scheitern ihrer gegenkulturellen Rebellion zwangsläufig, weil es separatistisch ist. Mit dem Begriff des Separatismus beschreibt Acker das traditionell moderne, auf Authentizität ausgerichtete transgressive Handeln, für das Widerstand zu leisten bedeutet, sich von der Gesellschaft abzuspalten und Wahrhaftigkeit jenseits der Entfremdungen der bürgerlichen Ordnung zu finden. Acker glaubt nicht an den Erfolg solcher Strategien, weil sie nicht aus der Struktur des Kontrollsystem der westlichen Kultur herausführen, sondern lediglich zu einer Neupositionierung innerhalb des Systems führen. Ein Akt der Selbstabgrenzung etabliert in seinem binären Charakter immer auch eine Verbindung zur anderen Seite. Im Gespräch mit McCafferey erläutert sie ihre Skepsis gegenüber separatistischen Überschreitungsstrategien am konkreten Beispiel der Hippiebewegung:

A USSENSEITER Because it’s the hippie line, and the hippie line hasn’t worked. To my mind anything that is separatis t is going to have the same problems the hippies had. You can’t separate yourself from society at large. […] Either the whole thing changes or nothing changes. Which doesn’t mean you can’t change things slowly, or on a person-to-person basis[.]51

Gerade in den letzten beiden Sätzen dieses Zitates, die als Zuspitzung von Ackers Transgressionsverständnis gelesen werden können, wird wieder eine Parallele zum Denken Foucaults deutlich. Wie er hält sie einen Ort des Widerstandes, der völlig außerhalb der soziokulturellen Machstrukturen liegt, für unmöglich. Wie für ihn sind auch für Acker die authentizitätsorientierten Gegenkulturen als Strategie zur Entgrenzung eines soziokulturell konstituierten Ichs und zur Auf lehnung gegen die Norm bestenfalls bedingt brauchbar. Der Glaube an die eigene Essentialität und die kollektive (und damit selbst immer auch normative) Ausrichtung stehen dem Erfolg des gegenkulturellen Widerstands im Weg, weil er damit, wenn auch entgegen der eigenen Absicht, jene Binarismen, die er zu überwinden sucht, affirmiert. Das Problem der ackerschen Transgression ist also ein klassischer Doublebind: Einerseits hält Acker die Überwindung soziokulturell konstruierter Norm- und Identitätsgrenzen für absolut notwendig, um den Menschen zu befreien. Anderseits ist ihr klar, dass jede, besonders jede kollektive Freiheitsutopie, die auf den Mythos der Authentizität gründet, selbst wieder strukturell ähnlich wirkende Grenzen produziert. In jedem ihrer Romane schwingt eine tiefe Sehnsucht nach einem authentischen Außen mit, doch anders als viele ihrer modern(istisch)en Vorläufer hat sie erkannt, dass eine solche Sphäre absoluter Freiheit Illusion bleiben muss. In keinem ihrer Romane präsentiert sie ein Modell, dass es ihren Protagonisten erlaubt, sich erfolgreich aus dem Netzwerk von Subjektivierung und Kontrolle herauszubewegen. Auch wenn diese Strukturen ideologisch konstruiert sind, sind sie auf vielen Ebenen so wirkmächtig und umfassend, dass sie durch authentizitätsorientierte Gegenkultur nicht – zumindest nicht durch Negation und Separatismus – überwindbar wären. Ihre Hoffnung muss Acker auf das einzelne Individuum richten, dem sie das Potential zubilligt, sich durch die Flucht in die Unbestimmbarkeit des Hybriden den mannigfaltigen Zugriffen der Macht zu entziehen. Janeys Transgressionen in Blood and Guts in High School scheitern, weil ihrer identitären Suche das Bewusstsein für dieses Zwischen fehlt. Ackers Don Quixote ist hier schon weiter.

Die Rebellion gegen die Realität: Don Quixote Das Bild vom seltsam aus der Zeit gefallenen Ritter, der gegen Windmühlen anreitet, die er für Riesen hält, hat einen Bekanntheitsgrad, der die tatsächliche Leserschaft von Cervantes’ Roman weit übersteigt. Der Kampf des „Ritters von der traurigen Gestalt“ ist als Beschreibung für jene Auseinandersetzungen sprichwörtlich geworden, denen man keine Aussicht auf Erfolg zubilligt, weil sie als unrealistisch und von der 51 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S.96.

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Wirklichkeit abgekoppelt erscheinen. Wer gegen Windmühlen kämpft, wird von der Mehrheit belächelt und entweder als realitätsferner Dummkopf oder als verblendeter Idealist geschmäht. Don Quixote ist eine Symbolfigur der Realitätsverweigerung, ein Rebell gegen alles, was Gesellschaft und Kultur als Wirklichkeit definieren. Es verwundert also nicht, dass Acker diese kanonische Figur der Weltliteratur für ihre Zwecke appropriiert hat. Schon der Untertitel ihrer postmodernen Version des Don Quixote-Narrativs verweist auf die Abkehr von der Vorstellung einer empirisch messbaren und objektiven Realität. Don Quixote: Which was a Dream trägt seinen Überschreitungsanspruch bereits im Titel, werden doch „[i]m Traum wie in der Überschreitung […] die klassischen Dichotomien von Immanenz und Transzendenz, Subjektivität und Objektivität ungültig, und insofern mag es gerechtfertigt sein, hier bereits von einer Bewegung der ,Überschreitung‘ zu sprechen.“52 Dabei wird der liminale Charakter der Traumrealität, anders als bei Janeys Abrechnung mit der Traumwelt in Blood and Guts in High School, nicht per se schon als Ort der Befreiung verstanden, nur weil er jenseits aller Zweckrationalität liegt. Vielmehr eröffnet er die Möglichkeit des kreativen Umgangs mit verschiedenen Elementen von Identität und Subjektivität. In der Sphäre des Traumes enthüllen sich hier keine alternativen Wahrheiten, sondern Freiräume, in denen ein subversives Spiel mit kulturell erlernten Konzepten von Identität und Realität möglich werden. Ackers postmoderne Ritterfigur nützt diese Potentiale weit umfassender als die in der Sackgasse der reinen Negation gefangene Rebellin Janey. Doch es ist nicht in erster Linie der Untertitel, der den gesamten Roman auf den Boden einer liminalen Zwischenrealität „betwixt and between“ mimetischem Repräsentationsanspruch und reiner Phantastik stellt und den Text dadurch als transgressiv ausweist. Es ist vielmehr die Figur des Don Quixote selbst, die ich als Rebell(in) gegen ein ideologisch produziertes Konzept von Realität (und somit auch der Realität des Selbst) verstehe. Auch wenn es in Ackers Roman mehrfach zu Transformationen und Verwirrungen von Don Quixotes Geschlechtsidentität kommt, auf deren kulturkritische Funktion ich in der folgenden Analyse eingehen werde, wird die Hauptfigur über weite Strecken des Buches als weiblich präsentiert. Daher werde ich trotz aller Genderkonfusion von „der“ Don Quixote sprechen, soweit ich mich auf Ackers Version der Geschichte beziehe. Gerade in identitätspolitischer Hinsicht ist der Ritter von der traurigen Gestalt eine prototypische Figur der Transgression. Er ist ein personifiziertes Plädoyer gegen das cartesianische Konzept vom autonomen Subjekt, das sich die Wirklichkeit der Welt und die eigene, authentische Identität darin mittels seiner Vernunftbegabung erschließt. Schon Cervantes’ Don Quixote geht den umgekehrten Weg und wendet sich von der Vernunft und vermeintlichen Objektivität der Realität ab, um ein eigenes Selbst – das des fahrenden Ritters – zu kreieren. Aus diesem Grund ist Ackers Aussage, sie habe Cervantes’ Roman eher zufällig für ihr eigenes politisches Anliegen appropri52 | Neuenhaus-Luciano: a. a. O., S. 141.

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iert53, mit Skepsis zu begegnen. Zu sehr korrespondiert dieser Stoff mit ihrer Auffassung, wonach jede Vorstellung von Realität, die den Anschein erweckt, essentiell zu sein, ein nicht minder ideologisch konstituiertes Zwangssystem ist, wie das Konzept der fixierten Individualidentität. Sie vertritt hier ein dem radikalen Konstruktivismus nicht unverwandtes Verständnis von Realität, das vor allem die subjektive Wahrnehmung als konstitutiv für das ansieht, was wir für die Wirklichkeit halten. Ernst von Glasersfelds Postulat, wonach das, „[w]as wir aus unserer Erfahrung machen […] allein […] die Welt [bildet], in der wir bewusst leben“54, entspricht im Prinzip Ackers Feststellung: „Seeing is almost reality itself.“55 Erfahrung wird so zum transgressiven Schlüsselbegriff: Die Grenz- bzw. Überschreitungserfahrung führt zu einem Infragestellen der Realität – auch der Realität des eigenen Ich. Damit jedoch das konstruierte Subjekt aus dem soziokulturell definierten Rahmen erlaubter Erfahrungen heraustreten kann, muss es in der Lage sein, auch normdeviante Entscheidungen zu treffen. Hier stellt sich einmal mehr die Frage nach der Autonomie des Individuums. Jedes konstruktivistische Kulturmodell – von Glasersfelds kognitives ebenso wie Foucaults diskursives – ist mit dieser Frage konfrontiert. Auch Ackers Don Quixote stellt sie: „Are my actions ever free? Can I behave totally intentionally?“56 Wie im Folgenden deutlich werden wird, billigt Acker, wie alle Anhänger poststrukturalistischer Subjektbildungstheorien, dem Individuum selbstverständlich eine Ebene individueller Autonomie zu. Auch wenn diese nicht so weit gefasst ist, wie jene der auf klärerischen Subjektphilosophie, kann sie dennoch die Basis für Überschreitungen sein. Selbst von Glasersfeld muss in seiner Radikalität konstatieren: „Innerhalb gewisser Grenzen kann es [das Individuum – d. Verf.] sogar entscheiden, eine Erfahrung zu machen oder nicht.“57 Schon die Entscheidung, diese „gewissen Grenzen“ auszuloten, ist ein transgressiver Schritt, der dazu führen kann, den Rahmen dessen zu sprengen, was das Natürlichste überhaupt zu sein scheint – die Wirklichkeit. Im ersten Teil dieser Studie habe ich beschrieben, wie nach den poststrukturalistischen und konstruktivistischen Theoriemodellen in den Individuen eine Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsmatrix diskursiv etabliert wird, durch die neben dem 53 | „I picked Don Quixote as a subjec t really by chance.“ (Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 12); „[…] Don Quixote was chosen by random. That was the book I had taken with me to the hospital when I was about to have an abortion.“ (McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 91.) 54 | Erns t von Glasersfeld: Radikaler Kons truktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt am Main 1997, S. 22. Natürlich s timmen nicht alle im ers ten Teil dieser Arbeit vorges tellten Theoriepositionen – ebenso wenig wie die impliziten Theorien in Ackers Prosa – in ihrer Radikalität mit von Glasersfelds nicht unums trittenen Thesen überein. Was ihnen aber in jedem Fall gemeinsam is t, is t die Auf fassung, dass es, um mit Kant zu sprechen, eher die Sichten der Dinge als die Dinge an Sich sind, die eine Vors tellung vom „Wirklichen“ in der Gesellschaft etablieren. 55 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 93. 56 | Kathy Acker: Don Quixote: Which was a Dream, London 1986, S. 112. Im Folgenden zitiert als DQ. 57 | Von Glasersfeld: a. a. O., S. 204.

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Selbstverständnis des Einzelnen auch die Vorstellung von Wirklichkeit konstituiert wird. Hinter dem Begriff „Realität“ verbirgt sich demnach eine bestimmte Form der Wahrnehmung der Welt, eine kognitive Norm, die von der hegemonialen Kultur als wirklich, wahr oder real definiert wird. Diese Naturalisierung eines bestimmten Erfahrungsmodus’ der Welt (die Frage, ob die Welt „tatsächlich“ erfahren werden kann, stellt sich für den Konstruktivismus nicht, weil jede Form von Erfahrung und Wahrnehmung ideologisch überformt ist58) hat Roland Barthes als Mythos bezeichnet: „Die Welt liefert dem Mythos ein historisch Reales, das durch die Art und Weise definiert wird, auf die es die Menschen hervorgebracht oder benutzt haben. Der Mythos gibt ein natürliches [Hervorhebung im Original – d. Verf.] Bild dieses Realen wieder.“59 Er ist somit ein ideologisches Werkzeug der Authentifizierung, das Kultur in „Pseudonatur“60 transformiert. Grenzziehungsprozesse und die daraus resultierende Hierarchie verschiedenster binärer Gegensatzpaare spielen in diesen Prozessen eine entscheidende Rolle, weil sie eindeutige Bedeutungen produzieren. Eine der wirkmächtigsten Dichotomien dieser Art ist die von Verstand und Wahnsinn. Wahn und Wahnsinn zählen zu jenen diskursiv konstruierten Begriffen, denen vor allem seit der Moderne eine wesentliche Rolle dabei zukommt, Gemeinwesen und Individualidentitäten zu erschaffen. Ich habe bereits dargelegt, dass sich eine Kultur in nicht unwesentlichem Maße durch die Dinge definiert, die sie ausgrenzt. Für eine zweckrationale Kultur wie die moderne abendländische manifestiert sich – natürlich immer historischen Transformationen unterworfen – eine Form dieser ausgegrenzten Differenz in der Kategorie des Wahnsinnigen oder Unvernünftigen. Deshalb kann es ein Schlüssel für das Verständnis von Don Quixotes (dies gilt sowohl für Cervantes’ als auch für Ackers Version der Geschichte) Rebellion sein, seinen Wahn eingehender zu betrachten. Der Wahnsinnige ist gerade gemessen am auf klärerischen Ideal der Rationalität eine transgressive Figur, weil er die sprichwörtlich gewordenen Grenzen des „gesunden Menschenverstandes“ und der „objektiven Wirklichkeit“ sprengt und dadurch zum Außenseiter wird. Er verhält sich anders, denkt anders, fühlt anders und nimmt seine Umwelt anders wahr als der „normale“ und „gesunde“ Mensch. Es ist dabei nicht von Belang, ob man den Wahn tatsächlich als pathologische Gegebenheit akzeptiert (wie es das moderne Vernunftparadigma tut) oder als Disziplinarkategorie für deviante Ansichten oder Handlungen (wie es verschiedene poststrukturalistische und psychiatriekritische Modelle tun) versteht. In jedem Fall beschreibt das „Irre-Sein“ einen Zustand der Rebellion gegen die Macht der dominanten soziokulturellen Diskurse in der Gesellschaft. Diese Macht, analysiert Foucault, „produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine 58 | Für die radikale Form des Kons truktivismus is t die Objektivität des „Realen“ ohnehin nicht beweisbar: „Wenn du unter richtig immer noch vers tehen möchtes t, dass die Realität am adäquates ten widergespiegelt wird, dann sage ich: Das interessiert mich nicht, denn ich kann es ja nicht überprüfen.“ (Ebd., S. 327). 59 | Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1996, S. 130. 60 | Ebd.

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Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“61 Der Irre steht außerhalb der Grenzen, die diese Maschinerie diskursiver Wirklichkeitsproduktion performativ ziehen und deren Konstruiertheit die naturalisierende Wirkung des Mythos verschleiert. Seine Wahrnehmungsmatrix deckt sich nicht mit jener Vorstellung des Realen, die die hegemoniale Kultur ihm vorgibt. Da Wahrnehmung der konstruktivistischen Ansicht nach konstitutiv für das „Wirkliche“ ist, produziert eine differente Wahrnehmung ein anderes, für das betreffende Individuum aber subjektiv gültiges „Reales“. So kann Don Quixote in seinem Irrsinn Windmühlen sehen und doch Riesen erfahren. Sich dem Wahnsinn zu verschreiben und alles, was als unvernünftig und verrückt gilt, als Ausbruch aus dem Korsett der Normativität zu verstehen, wurde zu einem oft genutzten Motiv in der Kunst der Transgression – besonders in ihrer avantgardistischen Ausprägung –, um grundsätzliche Fragen von Macht und Herrschaft innerhalb einer Gesellschaft zu verhandeln. Man denke nur an Schriftsteller wie Sade oder Antonin Artaud, die wegen ihrer Tabubrüche (in Kunst und Leben) als Wahnsinnige eingesperrt wurden oder an die Titelheldin aus Bretons Nadja, die dasselbe Schicksal ereilte. Auch in der gegenkulturellen amerikanischen Literatur der 1950er und 60er Jahre erlebt dieser klassische avantgardistisch-transgressive Wahnsinn als Raum unnormierter Freiheit eine späte Blüte. Exemplarisch hierfür sind Ginsbergs Howl oder Ken Keseys One Flew over the Cuckoo’s Nest. Diesen Werken geht es vor allem darum, das um die Ratio zentrierte cartesianische Subjektverständnis der Moderne zu überwinden und es durch die Konfrontation mit seinem Anderen – dem Wahn – zu unterminieren. Sie sind zwar transgressiv, wenn auch im modernen Sinn, bleiben sie doch in der binären Struktur des traditionellen westlichen Denkens gefangen. Acker greift dieses Motiv vom Wahnsinn als Mittel der Subversion auf und entwickelt es vor dem Hintergrund ihrer eigenen philosophischen Koordinaten weiter. Dabei setzt sie, wie im Folgenden deutlich werden wird, vor allem auf seine Dekonstruktionspotentiale. Der Wahn wird für sie bzw. ihre Figuren zum Mythenbrecher, allerdings ohne per se als Sphäre authentischer Freiheit wahrgenommen zu werden. Die Haltung, wonach die Wahnsinnigen die eigentlichen Gesunden seien, ist für Ackers komplexes Transgressionsverständnis zu einfach, weil sie lediglich auf einer Inversion eines ideologischen Dualismus gründen würde. Dieser Binarismus von Vernunft und Unvernunft ist eine der zentralen kulturkonstituierenden Dichotomien der westlichen Kultur seit der Auf klärung, und wurde immer auch als Instrument der Herrschaft genutzt. Der zweckrationale Diskurs der Moderne hat mit der Kategorie des Wahnsinns sein dialektisches Gegenstück definiert und damit auch ein Werkzeug erschaffen, das es möglich machte, verschiedenste Formen von Abweichung und Übertretung zu pathologisieren und deren subversive Potentiale so unter dem Deckmantel der Unbestechlichkeit wissenschaftlicher Rationalität kontrollieren zu können. Das Resultat dieses in sich polymorphen historischen Prozesses ist das zweckrationale „gesunde“ moderne Subjekt. Hierzu Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft: 61 | Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O., S. 249f.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Dadurch, dass er seinen Wahnsinn gemeis tert hat, ihn in den Kerkern seines Blicks und seiner Moral gefangen hat, indem er ihn befreite, dadurch, dass er ihn entwaffnet hat, indem er ihn in eine Ecke seiner selbs t zurückdrängte, war es dem Menschen möglich, schließlich jene Beziehung von sich selbs t zu sich selbs t herzus tellen, die man ,Psychologie‘ nennt. Dazu war es notwendig, dass der Wahnsinn auf hörte, Nacht zu sein, und flüchtiger Schatten im Bewuss tsein wurde, damit der Mensch behaupten konnte, seine [Hervorhebung im Original – d. Verf.] Wahrheit zu besit zen und sie in der Erkenntnis zu entschlüsseln. 62

Es ist viel – gerade auch von Foucault selbst – über die normierenden bzw. renormierenden Funktionen der Psychologie geschrieben worden. Was den eben zitierten Abschnitt ungeachtet seiner Kritik an der disziplinierenden Funktion der Kategorie des Wahnsinns im Zusammenhang mit Ackers Roman so interessant macht, ist seine Metaphorik: In Gestalt der Psychologie leuchtet das „Licht“ der rationalen Auf klärung die finstere Nacht des irrationalen Wahns aus und macht sie auf diese Weise beherrschbar – „enlightenment“ im Wortsinn. Das Bild, das Foucault hier benutzt, findet sich auch in Ackers Don Quixote wieder. Hier einen kausalen Zusammenhang herstellen zu wollen würde ins Reich der Spekulation führen, obwohl Acker eine gründliche Leserin Foucaults war. Dennoch fällt auf, dass auch sie die metaphorische Gleichsetzung von Nacht und Wahnsinn als das „Andere“ der durch die Auf klärung erhellten modernen Zweckrationalität aufgreift. Der erste Teil des Romans, an dessen Beginn der Wahnsinn von Ackers Don Quixote-Figur seinen Anfang nimmt, trägt den Titel „The Beginning of Night“ (DQ 7). Anders als Cervantes’ Don Quixote, der passiv von seinen Wahnvorstellungen überwältigt wird, inszeniert Acker den Wahn in ihrer Version der Geschichte implizit als intentionales Heraustreten aus der Fremdbestimmung einer „dualistic reality which is a reality molded by power“ (DQ 28), deren Koordinaten durch die hegemoniale Kultur gesetzt wurden. Ihre Protagonistin wird zur „Stimme jener Bereiche, die von der Vernunft zum Schweigen gebracht, unterworfen oder diszipliniert worden sind: Natur und Instinkt, Wahnsinn und Wollust.“63 Dass die (Zweck)rationaliät der Moderne die Struktur ist, gegen die sich diese Übertretungen richten, expliziert Acker im Roman im Rahmen eines Dialoges zweier japanischer Horrorfilmmonster (eine Szene, die zudem beispielhaft belegt, dass Ackers Werk bei allen ironischen Referenzen auf die Populärkultur und allem postmodernen Zitatenspiel immer eine politische Position einnimmt): In the modern period, exchange value has come to dominate society; all qualities have been and are reduced to quantitative equivalences. This process inheres in the concept of reason. For reason, on the one hand, signifies the idea of a free, human, social life. On the other hand, reason is the court of judgement of calculation, the ins trument of domination, and the means for the greates t exploration of nature. […] Ins trumental or ossified reason takes two forms: technological reason developed for purposes of dominating nature and social reason direc ted at the means of domination aimed at exercising social and political power. (DQ 72) 62 | Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969, S. 15. 63 | Reinhart: S. 465.

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Der Wahnsinn von Ackers weiblicher Don Quixote-Figur beginnt auch folgerichtig als Überschreitung zweier konkreter Grenzen, die von der technologischen (in Gestalt der reproduktionsorientierten Biopolitik) und der sozialen (in Gestalt eines soziokulturell konstituierten Konzepts von Weiblichkeit) Version der Rationalität gezogen wurden: „When she was finally crazy because she was about to have an abortion, she concieved of the most insane idea that any woman can think of. Which is to love.“ (DQ 9) In diesem Eröffnungssatz des Romans finden sich bereits zwei transgressive Aspekte des Wahnsinns bzw. der Verrücktheit, die sich durch das gesamte Buch ziehen werden. Der erste drückt sich in der von Don Quixote verfolgten „insane idea…to love“ aus. Damit tritt Ackers Text in den Dialog mit den Wahnvorstellungen von Cervantes’ Helden, „because the chivalric code of courtly love that motivates the first Quixote finds an equivalent in Acker’s novel as the obsessional romantic idea of love that possesses her knight.“64 Der zweite liegt in der „crazy[ness] because she was about to have an abortion“ (s.o.). Das Verrücktsein wird von der Protagonistin geradezu ersehnt („when she was finally crazy“), als hätte sie erst lange Mut fassen müssen, sich nonkonformistisch zu verhalten. Als sie schließlich soweit ist, appropriiert sie die eigentlich pathologisierende und damit disziplinarische Kategorie des Irrsinns für ihre Zwecke. Sie wertet diese Etikettierung in einem Akt positiver Aneignung um, verleiht ihr ein performatives Element und macht sie zur Chiffre für ihre Suche nach Selbstbestimmung. Immer wieder wird der Wahnsinn im Verlauf des Romans positiv konnotiert. Die vermeintliche Wahnsinnstat Abtreibung selbst wird somit, wie auch Reinhart feststellt, zum Akt der Verweigerung gegenüber der „sozialen Kontrolle und Normierung“65 und hat in ihrer Reflektiertheit transgressiven Charakter: „I had the abortion because I refused normalcy which is the capitulation to social control.“ (DQ 17f.) Dies ist unbestreitbar auch als konkreter politischer Kommentar zur restriktiven Haltung der Neuen Rechten in der innenpolitischen Abtreibungsdebatte in den USA zur Entstehungszeit des Romans zu verstehen.66 Aber auch jenseits dieses historischen Kontextes positioniert sich Don Quixote mit dieser Handlung grundsätzlich gegen den patriarchalen Mythos von der Mutterschaft als integralem Element der weiblichen Identität. Der Schwangerschaftsabbruch wird hier als grundsätzliche Widerstandshandlung gegen die reproduktionsorientierte Sexualitätsnorm der modernen Biopolitik verstanden und steht am Beginn von Don Quixotes Dasein als fahrende Ritterin: „Because to Don Quixote, having an abortion is a method of becoming a knight and saving the world. This is a vision. In English and most European societies, when a woman becomes a knight, being no longer anonymous she receives a name. She’s able to have adventures and to save the world.“ (DQ 11) Dieser Ritterschlag entbindet die Prota64 | Walsh: a. a. O., S. 150. 65 | Reinhart: a. a. O., S. 435. 66 | Die Auseinanderset zung mit dieser Frage war eine der am emotionals ten und heftigs ten geführten Debatten im Kulturkampf zwischen den „Orthodoxen“ und den „Progressiven“ in der Reaganära. Vgl. Collins: a. a. O., S. 189ff.

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gonistin in konkret geschlechterpolitischer Hinsicht von ihrer Identität als „normale“ Frau (traditionell ist der Ritter eine männliche Heldenfigur) und generell von jeder interpellativen Identitätszuschreibung. Das permanente Plagiieren und Collagieren vorformulierter Identitätsentwürfe findet seine Entsprechung auch in der Textpolitik des Romans, wie De Zwaan in ihrer Studie herausgearbeitet hat: „The female Don Quixote who travels through Nixon’s and Reagan’s America is the picaro working her way […] not through geographic territory as much as through the texts of western culture, including dramas like Sophocles’ Oedipus, Shaw’s Pygmalion, Beckett’s Waiting for Godot, and many others[.]“67 Intertextualität wird für Don Quixote zur Methode des identitären SichSelbst-Schreibens. Die Figur nimmt im Roman Namen, Identitätsmerkmale, Charaktereigenschaften und sogar physische Gestalten von verschiedenen literarischen Charakteren an – neben Cervantes’ Ritter etwa von Wedekinds Lulu (DQ 77–97) oder der Sade-Figur De Franville (DQ 129ff.) – und steht damit exemplarisch für die für Acker so typische Verknüpfung von Text- und Identitätspolitk auf die ich im Ästhetikkapitel ausführlicher eingehen werde. Für das Verständnis von Don Quixote ist zunächst nur wichtig, dass Acker in ihrer poststrukturalistischen Weltsicht gesellschaftlich produzierte Identitätskonzepte und literarische Texte gleichermaßen als Narrative versteht, die erst im Kontext der hegemonialen Diskursstruktur Bedeutung gewinnen und zu operativen Fiktionen werden. Da ihnen jede objektive Gültigkeit fehlt, können beide Zeichensysteme als Material für subversive Experimente dienen. Der Beginn des Romans ist in dieser Hinsicht bereits programmatisch und verschränkt das Zeichensystem der individuellen Identität mit dem des literarischen Erzählens: Eine weibliche Protagonistin benennt sich in einem Akt interpellativer Selbstermächtigung nach dem männlichen Titelhelden eines zentralen Romans des westlichen Literaturkanons. Dieser Schritt ist in mehrfacher Hinsicht transgressiv. Acker löst damit nicht nur die Grenze zwischen realer und fiktionaler Welt auf, indem sie Cervantes’ Don Quixote in ihre eigene, durchaus autobiographisch inspirierte Fiktion einbindet und ihn nach ihren eigenen Vorstellungen reformuliert. Sie löst ihre Protagonistin auch aus etablierten weiblichen Rollenbildern, indem sie sie mit den Attributen der klassisch männlichen Heldenfigur des Ritters ausstattet. Und gerade damit unternimmt Acker ihren dritten und interessantesten transgressiven Schritt: Sie sprengt das binäre Zuschreibungssystem der Kategorien „männlich“ und „weiblich“. Während Janey Smith, in ihrer Verhaftung im modern-emanzipatorischen Transgressionskonzept noch eindeutig weiblich war, wird die Protagonistin dieses Romans in Homi Bhabhas „drittem Raum“ angesiedelt, in dem Signifikanten verschiedenster Identitäts-, Subjektivitäts- und Kulturmodelle jenseits ihrer historisch gewachsenen Bedeutungszusammenhänge neu verhandelt werden können. Acker verortet dort eine Option für Subversion. Auch wenn Don Quixote über weite Strecken des Romans als „she“ bezeichnet wird, deutet doch die ständige Kontextualisierung dieses Personalpronomens mit dem männlichen Titel „Don“ auf eine hybride Identität, die 67 | De Zwaan: a. a. O., S. 114.

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sich den Dualismen traditioneller Identitätsint(re)produktion zu entziehen versucht. Ackers Held(in) definiert sich als „female-male or a night-knight“ (DQ 10) oder wird passagenweise mit dem Pronomenkonstrukt „she(he)“ (z.B. DQ 133ff.) beschrieben. Diese Abkehr von klassischen identitären Codes führt zu einer Verwirrung traditioneller Rollenbilder und -zuschreibungen: „[S]he was both a woman therefore she couldn’t feel love and a knight in search of Love. She had had to become a knight, for she could solve this problem only by becoming partly male.“ (DQ 29) Aus der Position des zweckrational begründeten Geschlechterbinarismus der modernen Biopolitik kann dies nur verrückt erscheinen. Bedenkt man zudem angesichts der hier präsentierten Verknüpfung von Ritterschlag und Verrücktheit auch die Nachtmetaphorik, die Foucault um den Wahnsinn gesponnen hat, erscheint es fast, als sei Acker davon inspiriert worden, wenn sie schreibt, der Abtreibungsarzt habe Don Quixote mit der Operation in den Stand der „knighthood or nighthood“ (DQ 12) erhoben. Sie spielt im Roman mehrfach mit dem phonetischen Gleichklang der beiden Begriffe, unter anderem in der Szene, die dem Schwangerschaftsabbruch unmittelbar vorausgeht: „The receptionist extended her arms. ,All night our nurses’ll watch over you, and in the morning,‘ to Don Quixote, ,you’ll be a night.‘ The receptionist asked the knight-to-be for her cash.“ (DQ 11) In der motivischen Verbindung von Abtreibung, Ritterschaft und Wahnsinn findet Don Quixote die Möglichkeit der Selbstbestimmung und der Unabhängigkeit des intentionalen Außenseiters von der Gesellschaft: „[N]ow that she had achieved knighthood, and thought and acted as she wanted and decided, for one has to act in this way in order to save this world, she neither noticed nor cared that all the people around her thought she was insane.“ (DQ 13) Acker beschreibt die Abtreibung allerdings nicht als rein positiven, emanzipatorischen Akt, sondern führt auch die physischen und psychischen Traumata, die damit verbunden sind auf: „Seeing that she was all battered and bruised and couldn’t rise out of her bed due to a severe infection[.]“ (DQ 15). Wie so oft in Ackers Werk, wird Transgression mit Leiden verbunden. Hier werden die Folgen des Abbruches beinahe schon als Passion in christlichen Sinn68 inszeniert, die es zu ertragen gilt, um sich aus dem traditionellen, patriarchalen und reproduktionsorientierten Rollenbild „Frau“ befreien zu können. Don Quixote erläutert dies St. Simeon, ihrem „cowboy sidekick“ (DQ 13), der im Roman meist in Gestalt eines Hundes auftritt (die wiederkehrenden Identitätswechsel und -verwirrungen betreffen beinahe alle Charaktere des Romans): „It’s a hard thing […] for a woman to become a knight and have adventures and save 68 | Cris tina Garrigós hat fes tges tellt, dass Acker die im Roman immer wieder anklingende katholische Motivik aus Cervantes Vorlage in ihren Text übernommen hat: „In this sense, she connec ts the Spanish literary tradition of Don Quixote to sixteenth-century mys tics, such as St. Theresa or St. John of the Cross, who have made explicit in their works a preoccupation with the theme of death and passion from both a spiritual and sensorial perspec tive. Thus, the allusions to Catholicism and the experience of pain as a way to attain truth […] are inscribed agains t a Spanish background.“ (Cris tina Garrigós: „Kathy Acker’s Spanish Connec tion: Plagiarism, Madness and Love in Don Quixote“, in: Mackay/ Nicol: a. a. O., S. 115–132, hier: S. 124f.

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this world. It’s necessary to pass through trials sometimes so perilous, you become mad and even die. Such trails are necessary.“ (DQ 15) Schmerz, Leid und Demütigung werden, wie Reinhart schreibt, „mit stolzen Triumphgebärden“69 ertragen, sind sie doch Nebeneffekte der Transgression, die auftreten können, wenn man sich mit Gewalt aus der Bindung durch die Konvention löst. Auf der Habenseite steht hingegen die Befreiung von den Beschränkungen des Normenkorsetts, die zwar nach Ackers Verständnis nicht schon per se ein utopischer Freiheitsraum ist, wohl aber die Möglichkeit zu kreativer Selbstgestaltung von Differenz eröffnet. In jedem Fall positioniert diese „Adelung“ die Protagonistin außerhalb der Normgrenzen einer Gesellschaft, von der sie sich entfremdet fühlt. Doch anders als in den im traditionell-modernen Sinn transgressiven Texten von beispielsweise Sade und Breton findet sie keine Befreiung in Form einer stabilen und authentischen Gegenidentität als „Irre“. Aber der Wahn ermöglicht es ihr, die Deutungshoheit und Verfügungsgewalt über den gesamten Prozess interpellativer Identitätszuschreibung zu gewinnen: „She decided that since she was setting out to the greatest adventure any person can take, that of the Holy Grail, she ought to have a name (identity). She had to name herself. [meine Hervorhebung – d. Verf.]“ (DQ 9) Hier führt Acker gleich zu Beginn ihres Romanes einen zentralen Aspekt des Don Quixote-Motivs ein: die Überschreitung der Grenzen der soziokulturell konstituierten Identität zu Gunsten eines Aktes der Selbstinterpellation. Sowohl Cervantes’ Held als auch Ackers Protagonistin konstituieren sich durch ihre Umbenennung als Don Quixote und bestätigen diese neu etablierte Subjektivität auch auf der performativen Ebene, weil sie, ungeachtet der „Realität“ um sie herum, als Ritter agieren. Acker lässt dabei die diesem Akt vorgängige Identität ihrer Titelfigur weitgehend offen. Während Cervantes in seinem Urtext den Edelmann Alonso Quijano einführt und sein Leben vor seiner identitären Überschreitung hin zu Don Quixote eingehend beschreibt, erfährt der Leser bei Acker nur, dass ihre Protagonistin die Identitätsmerkmale einer der Norm der Mehrheitsgesellschaft entsprechenden Frau hat – und somit, wie auch schon Janey, mehr eine allegorische Figur denn ein psychologisch ausdifferenzierter Charakter ist. Diese elliptische Auslassung ist angesichts des dem Roman zu Grunde liegenden identitätspolitischen Projekts nur konsequent, geht es doch darum, identitäre Binarismen zu überwinden, zu denen man auch eine dualistische Konstruktion „vor dem Wahn“ und „nach dem Wahn“ zählen muss. Natürlich kann sich auch Don Quixote in ihrer Absetzbewegung nicht völlig von ihrer interpellativ zugeschriebenen Subjektivität lösen. Hier sei an Ackers Skepsis bezüglich aller separatistischen Strategien erinnert. Doch geht es bei der Positionierung außerhalb der Norm in Don Quixote nicht um eine einfache Negation derselben. Die Protagonistin folgt hier nicht dem Konzept der „Identitätsverweigerung [meine Hervorhebung – d. Verf.] als politische[m] Programm“70, wie Reinhart interpretiert, sondern unternimmt viel69 | Reinhart: a. a. O., S. 439. 70 | Ebd., S. 449.

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mehr den Versuch, sich auf kreative Weise identitäre Alternativen zu erarbeiten, die jedoch nicht statisch sind, sondern sich in ihrer Flexibilität jedweder Kontrolle entziehen können. Die Idee einer essentiellen Subjektidentität an sich wird auch in diesem Roman radikal in Frage gestellt und als Werkzeug sozialer Kontrolle entlarvt: „But who do you think you are? Are you real? Such reality is false. You can only be who you’re taught and shown to be. Those who have and are showing you, most of the controllers, are shits.“ (DQ 22) In ihrer Mission „to name herself“ schickt sich Ackers Don Quixote an, den liminalen Raum „betwixt und between“ aller Identitätszuschreibungen, der sich durch ihre Transgression eröffnet, produktiver zu nutzen, als Janey Smith dies in Blood and Guts in High School tat. Während Janey in ihrer gegenkulturellen Inversion bürgerlicher Interpellation im Wesentlichen im Zwangssystem fixierter Identitätskonzepte gefangen bleibt, ist Don Quixotes Suche nach dem heiligen Gral einer selbstdefinierten und Glück versprechenden Identität zumindest im Moment der Transgression ergebnisoffen. Dass im Verlauf des Romans das Motiv der Identitätsfindung mittels transgressiver Strategien als permanente Bewegung bzw. als Suche inszeniert wird, hat durchaus eine Tradition in der westlichen Literatur, in der geographische Grenzgänge oft mit identitären Grenzgängen analogisiert werden. So weist Reinhart, der Ackers Don Quixote als postmodernen Schelmenroman interpretiert, darauf hin, dass der Text in dieser Hinsicht seinem klassischen Vorbild folgt: Die pikarischen Ges talten der spanischen Literatur des Goldenen Zeitalters, in endlosen Kreisbewegungen auf der Wanderschaft an der gesellschaftlichen Peripherie (und nicht die zumeis t zentralitäts- und karrieresüchtigen Pikaros der US-amerikanischen Literatur), dienen Acker als Modell für die Mentalität ihrer Figuren. Deren Reisen durch Raum und Zeit bleiben auf eine demons trativ-aggressive Weise ziellos; die Bewegung selbs t wird zum Ziel einer um Authentizität bemühten Exis tenz.71

Diese Authentizität besteht paradoxerweise gerade darin, dass es keine Authentizität gibt – zumindest nicht im Sinne des klassisch modernen Verständnisses von Transgression als wahrhaftige Gegenidentität jenseits eines dem Individuum durch die Kultur auferlegten falschen Bewusstseins. Dieses dualistische Konzept ist, wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, gescheitert und führt – wie auch Don Quixote erkennt – in eine identitätspolitische Sackgasse: „The self must be more complicated than life and death, more complicated than duality [meine Hervorhebung – d. Verf.].“ (DQ 190) Erst die permanente Bewegung im Unbestimmten der Hybridität, evoziert die Möglichkeiten, sich zumindest momentan und zeitweise der Macht der binären Zwangssysteme zu entziehen. In ihrer identitären Flexibilität und Beweglichkeit führt Don Quixote ein Nomadendasein, wie Douglas Shields Dix in seinem kurzen, aber prägnanten Artikel auf Basis der Theorien von Deleuze und Guattari dargelegt hat. „If we are to es71 | Ebd. S. 440.

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cape, we must become schizoid – we must become what the French theorists Gilles Deleuze und Felix Guattari term ,nomads‘, for only then do we initiate the movements necessary to escape from those parts of ourselves determined by this society.“72 In Tausend Plateaus unterscheiden Deleuze und Guattari den Nomaden vom Migranten folgendermaßen: Der Nomade is t durchaus kein Migrant, denn ein Migrant geht prinzipiell von einem Punkt zum anderen, selbs t wenn dieser andere Punkt ungewiß, unvorhersehbar oder nicht genau lokalisiert is t. Aber der Nomade geht nur durch den Zwang der Notwendigkeit, als Konsequenz, von einem Punkt zum anderen: im Prinzip sind die Punkte für ihn Relaiss tationen auf einem Weg. 73

Übertragen auf die von mir unterschiedenen Transgressionsmodelle bedeutet das: Der Migrant ist der Prototyp der modernen Transgression. Er bewegt sich in einem einmaligen Schritt von seinem ihm unzumutbar gewordenen Ursprungsort (beispielsweise eine bestimmte zugewiesene Identität) zu einen bestimmten anderen Punkt, von dem er denkt, dort sei eine Sphäre authentischer Freiheit zu finden. Der postmoderne Nomade hingegen muss immer in Bewegung zwischen verschiedenen Punkten bleiben, um sich nicht von ihnen vereinnahmen zu lassen. Sein Weg führt durch einen „offenen Raum [Hervorhebung im Original – d. Verf.], der nicht definiert und nicht kommunizierend ist.“74 Während der Migrant eine gültige Grenze zur Selbstdefinition als „Überschreitender“ braucht, macht den Nomaden gerade das Nichtanerkennen derselben aus. Ständige Mobilität macht Vereinnahmung unmöglich und wer nicht in einem „Innen“ arretiert werden kann, kann es auch nicht in einem „Außen“ – er bewegt sich in einem dynamischen „Zwischen“. Unbestimmbarkeit wird dabei zum Freiraum in einer postmodernen Kultur, in der sich die interpellativen Anrufungen und mit ihnen die sozialen Kontrollmechanismen multipliziert haben. Wenn es in der Kontrollgesellschaft nicht mehr ausschließlich um Konformität und Uniformität geht, sondern um die korrekte und kulturell erwünschte Bedienung der verschiedenen Teilidentitäten, dann kann Widerstand nur stattfinden, wenn man diese verweigert und sich bewusst „falsch“ bewegt, indem man Elemente verschiedenster Teilidentitäten entgegen den Vorgaben der herrschenden Diskursstruktur appropriiert und in kreativer Weise neu kontextualisiert. Nicht Verweigerung sondern Verwirrung wird zum Modus der Transgression; nicht das Gehen über, sondern das Tanzen auf Grenzen wird subversiv. Als Nomadin, als Wanderin über alle Grenzen, lebt Ackers Don Quixote ein Leben, das auf die Sesshaftigkeit einer fixierten Identität verzichtet und dadurch an Freiheit gewinnt. Reinhart interpretiert dies als ein typisch pikareskes Charakteristikum des Romans: 72 | Douglas Shields Dix: „Kathy Ackers Don Quixote: Nomad Writing“, in: Review of Contemprary Fic tion, 9:3 (1989:Fall), S. 56–62, hier: S. 56. 73 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a.a. O., S. 523. 74 | Ebd.

A USSENSEITER Die heimatlose, nomadisch-pikarische Exis tenz bedarf bei Acker […] der permanenten räumlichen Bewegung, weil Stills tand Kontrollverlus t und, in let zter Konsequenz, gemäß der Logik des pikarischen Denkens, Tod zur Folge hätte. Mobilität, Mobilität ohne (selbs t- und fremdgeset zte) Ziele und Grenzen: das is t der Wunschtraum, das is t die Phantasie der Kinder und der Revolutionäre[.] 75

Je nach der präferierten theoretischen Referenz kann man die Protagonistin auch als Wanderin in Bhabhas „drittem Raum“ oder prototypische Guerillakämpferin des „postmodernism of resistance“ interpretieren. Der Wahnsinn wird dabei zur wirksamen Methode dieses Widerstands: It is necessary to sing, that is to be mad [meine Hervorhebung – d. Verf.], because otherwise you have to live with the s traights, the compromisers, the mealy-moths, the reality-deniers, the laughter-killers. It is necessary to be mad, that is to sing, because it’s not possible for a knight, or for anyone, to foray successfully agains t the owners of this world. (DQ 193)

Der Irrsinn kann die „owners of this world“ ihrer Macht nicht berauben, er ist keine Strategie im traditionellen politisch-revolutionären Sinn. Aber er kann ihre Autorität unterlaufen, indem er in Frage stellt, wie sie gesehen werden. Das dem Roman innewohnende konstruktivistische Wirklichkeitsverständnis geht davon aus, dass die Realität – also auch die Realität der Macht und ihrer Repräsentanten – in der subjektiven Erfahrung der Individuen erst durch internalisierte Wahrnehmungsmuster evoziert wird. Versteht man den Wahn als von der Norm abweichendes Wahrnehmungsmuster, kann er ein Schlüssel sein, die vermeintliche Naturgegebenheit der Macht in Frage zu stellen. Im Romansegment „TEXTS OF WARS FOR THOSE WHO LIVE IN SILENCE“ trifft ein(e) Ich-Erzähler(in) – es bleibt einmal mehr offen, ob es sich um die Stimme der Protagonistin handelt – auf drei nicht näher bezeichnete Herrscherfiguren („These are the men who cause war.“, DQ 74): A white toga which signifies the highes t form of human culture knowledge and being-in-the-world in our Wes tern his tory, is hanging off of his hairy ape-flesh. Since reality/my seeing [meine Hervorhebung – d. Verf.] can’t be clear, he’s either eating a half-peeled banana and/or holding a cross. One of our rulers is a monkey and/or a high religious figure. (DQ 75)

Der im wahrsten Sinn des Wortes verrückte Blick des Irrsinnigen verwischt die klaren Codes der hegemonialen Kultur und kann so auch Don Quixote Freiräume eröffnen, in denen alle Formen von ideologie-, religions- oder naturgläubiger Metaphysik überwunden und ihre Inhalte neu verhandelt werden können: „I am [Hervorhebung im Original – d. Verf.] mad […] Since I’m mad, I can believe anything.“ (DQ 19) Dieses „anything“ ist jedoch nicht jenes des „anything goes“ einer ausschließlich im Spiel der Zeichen und Referenzen gefangenen und damit unpolitischen Postmoderne. Das Gegenteil ist der Fall. Deleuze und Guattari haben darauf hingewiesen, dass der „no75 | Reinhart: a. a. O., S. 442.

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madische Raum“, den man als Grundmodell postmoderner Transgressionen verstehen kann, „lokalisiert und nicht eingegrenzt“ ist.76 „Nicht eingegrenzt“ bedeutet hier, dass die Überschreitung – hier durch Don Quixotes Wahn symbolisiert – nicht durch ideologische oder metaphysische Tabukonstrukte beschränkt ist. Da die Transgression aber trotzdem Ausdruck von Kritik auf Basis bestimmter Standpunkte ist, ist sie innerhalb gewisser politischer Koordinaten (Ackers Kritik an Patriarchat und Kapitalismus) „lokalisiert“, die keine rigiden ideologischen Zwangssysteme etablieren und dennoch alles andere als willkürlich sind. Ackers Don Quixote ist somit auch ein mustergültiges Beispiel für jene im Theorieteil dieser Arbeit beschriebene Form von avantgardistischer und experimenteller Kunst, die versucht, durch eine Repolitisierung jenseits der ideologischen Koordinaten des politischen Radikalismus unter den Bedingungen des expressiven Individualismus der Postmoderne gesellschaftskritische Relevanz zu entfalten. Hier fungieren der kapitalistische und der patriarchale Diskurs als eindeutige Feindbilder, doch diese werden nicht durch die traditionellen, in politischen Binarismen gefangenen Strategien der „Ismen“ bekämpft. Der Roman und seine Protagonistin nehmen das avantgardistische Prinzip der „Auf hebung in Permanenz“ ernst und nutzen es als Werkzeug der Kritik am Absolutheitsanspruch jeder Form politisch und kulturell radikaler Ideologie. Die Ablehnung von Patriarchat und Kapitalismus geht, wie in allen Romanen Ackers, mit der Solidarität mit den Ausgegrenzten und Benachteiligten in der Gesellschaft einher. Implizit ist das Buch ihnen gewidmet (auch wenn es die fragmentierte Antiästhetik des Texts ein weiteres Mal unmöglich macht, festzustellen, welche Figur hier spricht): „It is for you, freaks my loves, I am writing and it is about you.“ (DQ 202) Dabei nimmt der Roman Bezug auf den historischen Kontext seiner Entstehungszeit und richtet sich explizit gegen die in Wirtschaftsfragen liberalen, in Wertefragen jedoch reaktionären Ausprägung der beiden oben genannten Diskurse im Amerika des „evil enchanters“ (DQ 101) Ronald Reagan. Somit ist Don Quixote auch als Zeitkommentar zu lesen. Immer wieder kritisiert Acker explizit die Tagespolitik der Reaganära. In einer Passage mit dem Titel DON QUIXOTE IN AMERICA, LAND OF FREEDOM kommentiert sie sarkastisch, was von den Versprechen des ideologisch so aufgeladenen Begriffes „Freiheit“ angesichts der sozialen Folgen der Reaganomics übriggeblieben ist: „Reagan barks commerce’s thriving in this country. Free trade, freedom: what’re they? In peace as now: freedom is starvation.“ (DQ 108) Schon vorher werden im Roman die Bigotterie und intellektuelle Armut der Moral- und Wertepolitik der Neuen Rechten angeprangert: „President Reagan doesn’t believe this crap he’s handing out or down about happy families and happy black lynchings and happy ignorance. Worse: he might.“ (DQ 21) Ackers Analyse der Verknüpfung von neokonservativer Gesellschaftspolitik, die gegen alle gesellschaftlichen Transformationen gerichtet ist, wofür die kulturelle Revolution der „Sixties“ steht, und eine die soziale Spaltung befeuernde Marktradikalität („The USA government is run by greed.“, DQ 104) ist trotz ihres konkreten politischen 76 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 526.

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Bezuges kulturell radikal. Sie macht deutlich, dass alle politischen, institutionellen und diskursiven Kontrollstrukturen auf der Ebene des Kulturellen ineinander verwoben sind: „[M]orals’re part and parcel of a government which runs partly by means of the so-called ,have-nots’‘ or bourgeoisie’s cover-up, (via ,Culture‘), of the ,haves’‘ total control. Morality and ,Culture‘ are similar tools.“ (DQ 21) Der religiös gefärbte Moralismus und die entsprechende Rhetorik der Neokonservativen verschleiert dieser Lesart nach das eigentliche moralische Defizit der kapitalistischen Gesellschaft – ihre auf verschiedenen Formen von Ausbeutung gründende ungerechte Verteilung von materiellen Gütern und politischer Macht. Darüber hinaus versucht die neokonserative Bewegung, einen Kontrolldiskurs zu etablieren, um den durch die gegenkulturelle Revolution unter Druck geratenen, restriktiven Koordinaten konservativ-bürgerlicher Sexual- und Biopolitik wieder Gültigkeit zu verleihen. Diese Politik ist für Don Quixote eine Herausforderung zu einem „fight to death or to life against the religious white men and against all the alienation that their religious image-making or control brings to humans.“ (DQ 178) Dieser Kampf ist nichts anderes als ein Kulturkampf um die diskursive Deutungshoheit über die Realität, die der orthodoxe Diskurs im Zuge der gegenkulturellen Revolution der 1960er zumindest in Ansätzen verloren hatte. Auch wenn die Neue Rechte der 1980er Jahre die angesichts der bis dahin stattgefundenen Ausdifferenzierung der Gesellschaft ohnehin illusorische Intention gehabt haben mag, das moralische und geschlechterpolitische Wertegerüst der konformistischen „Fifties“ soweit wie möglich wieder herzustellen, hält Acker die tabubrecherischen Mittel der ersten Welle der „Counter Culture“ als Antidot gegen diesen Reaktionismus für ineffektiv. Zwar konstatiert sie: „The only culture that ever causes trouble is amoral.“ (DQ 12) Doch ist dies nicht als Plädoyer für Wiederaufnahme der alten Strategien modern-avantgardistischer Praxis zu verstehen. Acker thematisiert deren Unzulänglichkeiten auch in Don Quixote, als St. Simeon, der meist in Gestalt eines Hundes auftretende Gefährte der Protagonistin, über die rebellischen Phasen in seinem Leben reflektiert. Zweifellos ist diese Textstelle eine fiktionalisierte Bilanz von Ackers eigener gegenkultureller Biographie: When I was a puppy, I lived among rich dogs because my family was haute bourgeoisie, I was a special mutt in dog society because I was trained to think that way. I lived on the outskirts of, in the lowes t parts of, society because I worked a sex show; […] I was a member of a certain group – the art world – whose members, believing that they’re simultaneously society’s outcas ts and its myths, blow up their individual psychologies into general truths. (DQ 112)

Hier nimmt sie direkt auf die Tendenz transgressiver bzw. avantgardistischer Kunstbewegungen Bezug, ihre eigene Verweigerungshaltung zu einer allgemeinen Erkösungsideologie zu überhöhen, die, einmal etabliert, ebenso wenig Freiräume für Individualität und Spontaneität lässt wie die Norm der hegemonialen Kultur. Gleiches gilt für den politischen Radikalismus, dessen Strategien ebenfalls im Roman persifliert werden. Auch hier verarbeitet Acker persönliche Erfahrungen, die sie während ihres Studiums Ende der 1960er Jahre im politisch radikalen Mi-

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lieu der Studentenbewegung gemacht hat. Besonders die Linke, deren Attitüden sie, wie ich im biographischen Abriss bereits beschrieben habe, als elitär empfunden hat, wird in einer Sequenz zum Ziel offenen Spotts: Nach ihrer Abtreibung erholt sich Don Quixote zusammen mit ihrem „Sancho Pansa“ St. Simeon (dessen Name eine Anspielung auf den Frühsozialisten Henri de Saint Simon sein dürfte) und drei Gefährten, die allegorisch für drei ideologische Gegenentwürfe zum konservativen Bürgertum stehen: ein(e) Liberale(r), ein Linker und eine Feministin. „The Liberal“ bleibt in dieser Passage weitgehend stumm, „the feminist“ hingegen findet mit ihren Anliegen kein Gehör: „,What about women?‘ asked the feminist, but noone listened to her.“ (DQ 16). „[T]he Leftist, who refused to drink in pubs […] who never listened to anyone but himself […] who always had to explain the world to everyone“ (DQ 16) hingegen dominiert den Diskurs, um letztendlich die Stimme normativer Autorität zu erheben: „You have to become normal and part of this community.“ (DQ 16) Selten hat Acker ihre persönliche Wahrnehmung des politischen Radikalismus und der Studentenbewegung so konzentriert wie in dieser Miniatur. Die logische Bilanz lautet auch hier: „All political techniques, left and right, are the praxis and speech of the controllers.“ (DQ 22) Die kollektiven Widerstandsformen der politisch radikalen „Ismen“ der Moderne werden als strategische Sackgassen abgelehnt: „As a schizo, or nomad, Don Quixote is (must be) unaffiliated with any revolutionary group – she rejects their methodologies because such groups, in the process of setting themselves up as [Hervorhebung im Original – d. Verf.] groups, directly risk the recuperation by the bureaucratic or state apparatus.“77 Somit bleibt die Frage: „How can we get rid of these controllers, their praxis and speech or politics?“ (DQ 22) Für Don Quixote ist die Antwort darauf klar: Die kollektiven Gegenkulturen mit ihren internen normativen Machtstrukturen können das Individuum nicht wirklich befreien. So kann sie nur auf Freiräume im individuellen Außenseitertum setzen – sie sucht in erster Linie ihren perönlichen „heiligen Gral“, nicht einen für die gesamte Gesellschaft. Ihr Modus ist aber nicht das heroische, promethische Außenseitertum des Avantgardisten und gegenkulturellen „Outcasts“, sondern ein Außenseitertum, das sich den Zwangssystemen Identität und Realität grundsätzlich durch die Verweigerung von Fixierung entzieht. Der Wahnsinn ist die Metapher dieses Außenseitertums. Er ist individuell (es gibt keinen kollektiven Wahnsinn), er bietet das Potential für das Unverständliche und Widersprüchliche und er steht abseits sämtlicher Normen, ohne wirklich fassbar zu sein. Nur durch ihn kann sich Don Quixote eine Welt erschließen, die nicht vom als Zwangssystem verstandenen Vernuftparadigma definiert wird. Die politisch-ideologischen „Ismen“ können dies nicht leisten, weil sie lediglich verschiedene Positionen innerhalb der rationalen Ordnung vertreten. Wer nach einem alternativen „Ismus“ ruft, ruft aus Ackers Perspektive nach einem neuen ideologischen Herrn. In der Sphäre des Wahns hingegen verlieren alle Ideologien ihre Bedeutung: „In such a reasonless world, isms 77 | Dix: a. a. O., S. 56.

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such as capitalism, rationalism, imperialism, socialism, communism can’t make sense!“ (DQ 186) Somit bietet Acker weder ihrer Hauptfigur noch ihren Lesern die Erlösung durch eine verortbare Utopie einer besseren Realität oder einer besseren Identität. Im Gegenteil: Ihre dekonstruktivistische Literatur löst vielmehr angstbeladene existentielle Erschütterungen aus, weil sie eine Reihe von Grenzen in Frage stellt, die Sicherheit produzieren. Andererseits sind diese Erschütterungen unabdingbare Voraussetzung für die Suche nach selbstbestimmter Erfahrung und Identität in der Sphäre des Hybriden: „The Acker protagonist, then, embarks upon an anxiuos search for balance between the isolate nothingness of no-identity and the death of fixed identity.“78 So nimmt Don Quixote auf der Wanderung zwischen diesen beiden Polen „viele Masken und Rollen ein (Seherin, politische Anarchistin, Irrsinnige, Visionärin, sexuelle Masochistin), so viele, dass eine einheitliche Identität nicht mehr zu ermitteln ist.“79 Fluck hat gezeigt, dass im expressiven Individualismus der Postmoderne „cultural self-dramatisation and role-taking“ (s.o.) zum zentralen Modus der Identitätspolitik geworden sind – sowohl in affirmativer als auch in subversiver Hinsicht. Don Quixote nutzt diese performativen Strategien zum Widerstand gegen eindeutige interpellative Anrufungen. Dass es ihr überhaupt möglich ist, Zwischenidentitäten einzunehmen, verdankt sie der Erkenntnis, dass ihre vermeintlich natürliche weibliche Identität vor dem Ritterschlag durch die Abtreibung ein Konstrukt soziokultureller Prozesse ist. In einem als „History and Women“ betitelten Kapitel diskutiert Don Quixote mit St. Simeon die ontologischen Grundfragen weiblicher Identität und ihrer Entstehung: ,Therefore, who am I?‘ she asked St Simeon. ,Who cares.‘ ,Of course I’m not interes ted in personal identity. I mean: what is it to be female.‘ (DQ 29)

Die Antwort darauf findet sie in der mythenbildenden und naturalisierenden Kraft von Tradition und Geschichte: „If history, the enemy of time, is the mother of truth, the history of women must define female identity.“ (DQ 29) Die Geschichte als Wahrheits- und Identitätsproduzent steht dieser Auffassung nach immer in Diensten der hegemonialen Ideologie und etabliert jene diskursive Wahrnehmungsmatrix, durch die die Grenzen dessen definiert werden, was das Individuum als Realität – und damit auch als Wahrheit bezüglich der eigenen Identität und Subjektivität – zu verstehen hat: „[T]he only thing you can perceive is history. History’s a fiction, and, as such, propaganda.“ (DQ 30) Damit nimmt Acker implizit ein von Roland Barthes formuliertes Geschichtsverständnis ein, wonach jede Form der Repräsentation von Geschichte eine ideologische Funktion erfüllt: 78 | Jacobs: a. a. O., S. 52. 79 | Reinhart: a. a. O., S. 449.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Wie man sieht, is t der his torische Diskurs schon durch seine Struktur, und ohne dass die Subs tanz des Inhalts bemüht werden müss te, wesenhaft ein ideologisches Elaborat oder, um genauer zu sein, ein Imaginäres [Hervorhebung im Original – d. Verf.], wenn es s timmt, dass das Imaginäre die Sprache is t, mit der der Sprecher eines Diskurses (eine rein sprachliche Entität) das Subjekt der Äußerung (eine psychologische oder ideologische Entität) ,auf füllt.‘80

Die von Barthes wie von Acker konstatierte propagandistische Funktion von Geschichte zielt darauf ab, die Realitätskonzeption der Hegemonialkultur in allen Bereichen der Gesellschaft zu etablieren. Dies trifft nicht nur auf den institutionalisierten historiographischen Diskurs der Wissenschaft zu, sondern auch auf die Vermittlung von Geschichte im kulturellen Gedächtnis von Alltagswelt und Lebenswirklichkeit, die den Mythos erzeugt, etwas habe den Charakter des Wirklichen, weil es immer schon so gewesen sei. Der Diskurs der Geschichte wirkt auf diese Weise normativ und erreicht damit einen realitätskonstitutiven Effekt, der jenem der „realistischen“ bürgerlichen Kunst sehr ähnlich ist: Es gibt in unserer ganzen Zivilisation eine Vorliebe für den Wirklichkeitseffekt, die aus der Entfaltung spezifischer Genres wie des realis tischen Romans, des Tagebuchs, der dokumentarischen Literatur oder der vermischten Nachrichten, aus dem his torischen Museum, der Auss tellung alter Gegens tände und vor allem aus der massiven Entfaltung der Photographie hervorgeht, deren einziger relevanter Zug (im Verhältnis zur Zeichnung) eben darin bes teht zu bedeuten, dass das darges tellte Geschehen wirklich [Hervorhebung im Original – d. Verf.] s tattgefunden hat. 81

Diese Aussage Barthes’ hat Hayden White, der sich ausführlich mit den Problematiken bei der Unterscheidung zwischen dem vermeintlich objektiven geschichtswissenschaftlichen Schreiben und fiktionalem Erzählen beschäftigt hat, konkretisiert: Barthes’s analysis of narrative discourse was part of a wider inquiry into the his tory and potential fate of the ideology of realism inherited from the period of bourgeois hegemony in the nineteenth century. In Barthes’s view, nineteenth-century ,realism,‘ in his torical no less than fic tional writing, was intimately linked to the narrative mode of discourse. Since, for him, ,realis tic representation‘ itself was nothing but an effec t produced by nineteenth-century bourgeois discursive prac tises, it followed that as narrative remained a dominant mode of his torical representation, his torical inquiry mus t remain a merely pseudoscientific and therefore ideological enterprise. 82

Gegen diesen Realitätseffekt des Geschichtsnarrativs richtet sich Don Quixotes identitätspolitische Rebellion. Die normative Vermittlung von Lebenswissen aller Art im Rahmen der individuellen Geschichte ist ein wesentlicher Bestandteil der gesellschaft80 | Roland Barthes: „Der Diskurs der Geschichte“, in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), Frankfurt am Main 2005, S. 149–163, hier: S. 160. 81 | Ebd. S. 162. 82 | Hayden White. „Storytelling: His torical and Ideological“, in: Robert Newman (Hg.): Centuries’ Ends, Narrative Means, Stanford 1996, S. 58–78, hier: S. 61.

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lichen Subjektproduktion. Gelingt es, sich davon zu befreien und aus der Geschichte herauszutreten, tun sich neue Möglichkeiten der identitären Selbstbestimmung auf: „,Without personal history or memory,‘ Don Quixote explained, ,you wouldn’t know. Then everything would be possible.“ (DQ 30f.) Gerade im Hinblick auf den die eigene Subjektivität produzierenden Realitätseffekt der Individualgeschichte (die, das sollte klar sein, in den Rahmen größerer Geschichtsnarrative eingebunden ist) billigt Don Quixote dem Wahn eine transgressive Wirkung zu. Er wird ihr zur Waffe gegen die Normativität einer Vorstellung von Wirklichkeit, die durch den Mythos der Wahrhaftigkeit ihre kulturelle Konstruiertheit verschleiert: „This is the way Don Quixote fought: ,Man. I don’t accept your argument. If you’re realistic, I’m mad. My madness is love. I isn’t possible for your Culture to judge or explain my love.“ (DQ 33) Andererseits ist der Wahnsinn hier Methode und nicht Utopie. Die von Acker gesetzte Analogie von Wahnsinn und Liebe hat nicht weniger den Charakter eines Mythos als alle anderen operativen Fiktionen. Es gibt für Don Quixote keine überhistorische oder metaphysische Autorität, die ihr ihre Frage „For how can anyone judge if another person’s sane or mad?“ (DQ 33) endgültig beantworten kann. Natürlich gibt es diskursive Instanzen innerhalb der Gesellschaft, die sich hier ein Urteil erlauben. Durch sie wird die Identität des „Irrsinnigen“ erst geschaffen, kann dieser doch „nicht für sich wahnsinnig sein, sondern nur in den Augen eines Dritten, der allein die Vernunfttrübung von der Vernunft zu unterscheiden vermag.“83 Doch billigt ihnen Don Quixote im Kampf um die Realität keine Autorität zu, weil ihre Entscheidungsgrundlage ein Mythos ist. Die vermeintlich unbestechliche und objektive Vernunft ist ihrer Überzeugung nach selbst ein metaphysisches Konzept, das es zu dekonstruieren gilt: „A judge, who showed up said, that being rational he couldn’t decide. [meine Hervorhebung – d. Verf.]“ (DQ 33) Gleichzeitig – und das unterscheidet Acker von den modernistischen „Autoren des Wahnsinns“ wie Sade, Breton, Artaud etc. – kann deviantes Denken und Verhalten, das als Wahn apostrophiert wird, nicht als authentischer Gegenraum jenseits des Vernunftparadimas gelten. Einmal mehr offenbart sich hier eine enge Verwandtschaft zu den Theorien Foucaults, der dieses Problem folgendermaßen beschrieben hat: It is illusory to believe that madness – or delinquency or crime – speak to us from a position of absolute exteriority. […] The margin is a myth. The word from beyond is a dream that we keep renewing. The ,cra zies‘ are placed in an outside space of creativity or mons trosity. And nonetheless, they are caught in the network, they are shaped and func tion within the mechanisms of power. 84

Dem impliziten (post)strukturalistischen Kulturverständnis des Romanes nach sind die Kategorien von empirisch erfassbarer Welt und Wahnsinn lediglich zwei Mythen, die um die ideologische Vorherrschaft innerhalb der Gesellschaft ringen: „All reality 83 | Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, a. a. O., S. 180. 84 | Michel Foucault: „The Social Extension of the Norm“, in: Sylvère Lotringer: Foucault Live. Collec ted Interviews 1961–1984, New York 1996, S. 196–199, hier: S. 198.

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and madness are trying to destroy each other. Bam! Bam! Wop! Swop.“ (DQ 33) Acker dekonstruiert an dieser Stelle – Foucaults Thesen klingen hier ebenso unüberhörbar mit wie die psychiatriekritischen Schriften R. D. Laings – die scheinbar naturgegebene Autorität des Binarismus von „gesund“ und „wahnsinnig“ und legt die historischkulturell begründete Arbitrarität dieser Kategorien offen. Gleichzeitig stellt sie ihre Protagonistin vor das Dilemma, sich einen „dritten Weg“, zwischen diesen beiden in der Kultur äußerst wirkmächtigen Fiktionen suchen zu müssen. Pitchford hat in einem interessanten Gedanken die in Ackers Romanen implizite Haltung zum Vernuftparadigma mit dem Adjektiv „unreasonable“ charakterisiert, weil dieser Begriff ihrer Ansicht nach die Zwischenposition jenseits der ideologisch aufgeladenen Dichotomie der Kategorien „rational“ und „irrational“ zutreffender beschreibt: To be unreasonable frequently carries connotations of protes t, of someone’s s tubborn refusal to acknowledge the superiority of the logic of the person using the term. The unreasonable person’s position implies that rationality isn’t everything, that other desires or even needs mus t also be taken into account. To be irrational, on the other hand, is simply to be incomprehensible or hys terical, to remove oneself from contes tation entirely. 85

Irrationalität würde dieser Auffassung nach lediglich eine simple Inversion des Vernunftparadigmas bedeuten. Dies ist ohne Zweifel auch eine Überschreitung, aber eben jene des transgressiven Mythos’ der klassischen Moderne, die dem Wahnsinnigen ein geringeres Maß an Entfremdung und damit ein höheres Maß an Authentizität zubilligen würde. Der Wahn als transgressive Strategie, die diesem Muster folgen würde, läuft Gefahr, das Schicksal aller separatistischen Überschreitungsstrategien zu teilen – die fixierte Gegenidentität des Wahnsinnigen, die gerade in ihrer Erstarrung wieder Angriffspunkte für die gesellschaftlichen Kontrollmechanismen (Psychologie, Psychiatrie etc.) bietet. Die Kategorie des Unvernünftigen im Sinne des Wortes „unreasonable“ lässt, so Pitchfords Argument, jedoch eine Reihe von Identitäts- und Erfahrungsoptionen zu. Sie ist nicht Umkehrung, sondern Abweichung von der rationalen Norm. Der unvernünftige Wahn dieser Provenienz negiert lediglich die „superiority of the logic of the person using the term“ (s.o.). Die Autorität des hegemonialen Diskurses wird in Frage gestellt, ohne dass ihm ein „authentischer“ Gegendiskurs gegenübergestellt wird. Vielmehr soll der Freiraum für weitere, von der Norm abweichende Optionen eröffnet werden, „that other desires or even needs must also be taken into account“ (s.o.). Der Schlüssel zu diesen Formen des „anderen“ Verlangens liegt in der Emotion: „Acker grounds her own revolutionary force directly in her feeling, or affect.“86 Dix greift hier eine weitere Parallele zwischen Acker und der Philosophie von Deleuze und Guattari auf, nach der im Rahmen der „nomadischen Kriegsmaschinerie“ affekthafte Emotionsausbrüche als Waffen gegen die herrschende Ordnung zu verstehen 85 | Pitchford: a. a. O., S. 103f. 86 | Dix: a. a. O, S. 57.

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und vom romantischen Gefühl zu unterscheiden sind: „Der Affekt ist die schnelle Entladung der Emotion, der Gegenschlag, während das Gefühl immer eine verschobene, verzögerte und beharrliche Emotion ist. Affekte sind Projektile, genauso wie Waffen[.]“87 Das Verlangen nach Liebe, das neben der Suche nach neuen Identitätsformen im Zentrum von Don Quixotes Mission steht, ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen, bedeutet diese Emotion ihrer Auffassung nach doch eine Form von Unvernunft, die von der dominanten Vorstellung von Realität pathologisiert wird: „It’s sick to love someone beyond rationality, beyond a return (I love you you love me). Real love is sick.“ (DQ 18) Liebe wird in Don Quixote strategisch als Waffe gegen die instrumentelle Ratio präsentiert. Im ökonomischen Individualismus der bürgerlichen Moderne – speziell in seiner amerikanischen Variante – ist der dem Roman impliziten Gesellschaftsanalyse nach kein Platz mehr dafür: „The American dogs didn’t want to live dogs’ lives. They wanted to make their own lives and they succeded. The self-made American dog has only itself and it must make success, that is, survive. It isn’t able to love, especially, another living dog.“ (DQ 112) Daraus folgert Dix: „In a society where materialistic, hyper-rational, capitalist instrumentalism reigns, love is nearly impossible, affect is nearly impossible: consequently, love is subversive.“88 Liebe als Entgrenzung der Vernunft wird für Ackers Protagonistin zum Vehikel der Flucht aus der Normativität: „I can’t be normal because I can’t stop loving.“ (DQ 33) Daher muss sie von den herrschenden Diskursen als „insane“ (DQ 9) rubriziert werden, um kontrolliert werden zu können. Don Quixote greift diese Kategorisierung wiederum auf und wertet sie in ihrer transgressiven Attitüde zum Positiven um. Liebe und Wahnsinn werden analogisiert („My madness is love.“, s.o.) und damit mit der Abkehr vom „Faktischen der Realität“ gleichgesetzt: „Don Quixote’s mentality was so mad, she, maddened, took such mental perceptions to be facts. She had visions: Her first vision was of human love.“ (DQ 32) Als Vision ist die Liebe den dominanten Narrativen von Realität entzogen und wird zum Ausgangspunkt für eine – wenn auch unbestimmte – soziale Utopie: „By loving another person, she would right every manner of political, social, and individual wrong[.]“ (DQ 9) Ihr Potential bezieht sie aus der Überschreitung etablierter kultureller Codes: „Her vision [of love – d. Verf.] is crazy because it requires a radical revision of what counts as ,whole‘ or ,sane‘“89 Die Maßstäbe dieser Begriff lichkeiten werden ihr von der Gesellschaft gesetzt: „[…] Acker’s Don Quixote is mad only by the lights of the logic she opposes and frequently transgresses.“90 In welcher Form die Vision des Liebesideals durch die Übertretungen Erfüllung finden kann, lässt der Roman offen. Affekthaften „Liebesausbrüchen“ wird aber eindeutig ein höheres Befreiungspotential zugebilligt, als dem Ideal der romantischen 87 | 88 | 89 | 90 |

Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 552. Dix: a. a. O., S. 56. Siegle: a. a. O., S. 98. Ebd., S. 99.

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Liebe. Diese Vision erscheint unerfüllbar, Ackers dekonstruktivistischer Mythensturm macht natürlich auch vor der Liebe als beharrlichem Gefühl (im Sinne der Definition von Deleuze und Guattari, s.o.) nicht halt, obwohl ihre Romane von der Sehnsucht nach einer solchen Beständigkeit durchzogen sind. Wieder der für Ackers Transgressionsverständnis typische Doublebind: „The paradox Acker confronts is how to reconcile the need for love with a critique of romance’s ideology.“91 Diesen Widerspruch formuliert Don Quixote explizit: „Because there’s no possibility for human love in this world. I loved. You know how much I loved.“ (DQ 17) Ein weiteres Mal wird hier die typische, aber unerfüllbare Sehnsucht nach dem Authentischen deutlich, die alle Acker-Protagonisten auszeichnet. Don Quixote sehnt sich nach der Erfahrung „wahrer“ und „reiner“ Liebe, doch hat sie längst erkannt, dass das romantische Liebesideal zum einen ein Mythos, zum anderen ein durch und durch bürgerlicher Diskurs ist, der in seiner traditionellen Form von patriarchalen Mustern strukturiert wird und dazu dient, das weibliche Begehren zu kontrollieren. Letzteres wird an der im Roman ausgedrückten Kritik an der Ehe deutlich. Die traditionelle Ehenorm entpuppt sich bei Don Quixotes Versuch mit dieser Lebensform als Beschränkung von Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die nichts anderem als der sozialen Kontrolle der Individuen dient: „As soon as I’m married, I’ll be a prisoner; I’ll be normal. I’ll have to stop having the dreams by which I now act. No longer being able to perceive dreams, since perceiving is feeling and touching, will narrow my feelings and touchings into a controllable range.“ (DQ 202). In einem mit dem Titel MARRIAGE überschriebenen Abschnitt beschreibt Acker die Ehe ihrer Protagonistin: „Worse than being shit and dead, Don Quixote knew she was no longer a knight but shit and dead, that is, normal. Better to be a businessman.“ (DQ 34) Den „Quest for Love“ innerhalb der gesellschaftlichen Normenstruktur erfolgreich vollenden zu können, wird unmöglich: „[H]er line of flight is captured and normalized[…]: the molar segmentation of marriage has ,killed her,‘ insofar as it has stifled her becomings to the point where she must exist, if she is to exist at all, outside the socius.“92 Der Erkenntnis, dass das traditionelle Ideal der romantischen Liebe ein Mythos ist, folgt ein Strudel verschiedenster sexueller Erfahrungen, der „Quest for Love“ wird, wie Walsh feststellt, zum „vehicle of Acker’s inquiry into female sexuality and the social pressures that impinge upon it.“93 Die emotionale Affektpolitik verbindet sich mit der sexuellen. Einige der von Don Quixote und anderen Protagonisten ausgeführte Praktiken – vornehmlich homoerotischen und sadomasochistischen Charakters – sind von der modernen Ratio als das pathologische „Andere“ der heteronormativen und reproduktionsorientierten Sexualnorm definiert worden. In dieser Hinsicht liegen sie auf der Linie von Don Quixotes Strategie des subversiven affektiven Wahns. Am Ende dieser Erfahrung steht Walshs Interpretation nach zwar eine völlige Dekonstruktion des romantischen Liebesmythos, jedoch nicht das völlige Nichts: „The cycle of 91 | Kauffman: a. a. O, S. 202. 92 | Dix: a. a. O., S. 58. 93 | Walsh: a. a. O., S. 150.

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defeats inflicted upon Don Quixote’s quest for love leaves behind a residue of desire. This remnant, which is the continuing will to connect, to find a viable form of love, is Acker’s primary value and her refutation of emotional nihilism.“94 Wohin Don Quixotes Flucht vor den Zwangssystemen fixierter Identitäts- und Realitätsmodelle geht, ist angesichts der Diskreditierung authentischer ideologischer (und, wie noch zu zeigen sein wird, auch ästhetischer) Alternativräume schwer zu sagen. Sicher ist, dass Don Quixotes transgressives Handeln nicht separatistisch ist. Weder Wahnsinn noch Liebe noch Ritterschaft noch Rebellion können ihr ein authentisches Außen bieten: „There’s no escape: not even exile’s escape.“ (DQ 148) Die Identität des Exilanten wäre eben auch wieder eine Identität – und damit das Gegenteil von Freiheit. Es überrascht daher, dass Reinhart in seiner Interpretation durchaus noch ein gewisses Moment des Ankommens in einer positiv konnotierten, wenn auch vage verorteten Utopie sieht. Er leitet dies aus den letzten beiden Sätzen des Romans ab, die ich aus diesem Grund hier zitieren möchte: „As I walked along beside Rocinante, I thought about God for one more minute and forgot it. I closed my eyes, head drooping, like a person drunk for so long she no longer knows she’s drunk, and then, drunk, awoke to the world which lay before me.“ (DQ 207) Reinhart deutet diese Stelle so: Don Quixotes Erwachen in einer vermutlich neuen, vielleicht unschuldigen, ganz sicher aber veränderten Welt erinnert an ein seit langem tradiertes pikareskes Motiv – das Erwachen des Schelms – und an einen spezifisch im amerikanisch-pikaresken Roman der 80er Jahre immer wieder anzutreffenden Topos. Die Sehnsucht nach dem locus amoenus [Hervorhebung im Original – d. Verf.], nach einer erneuten Entdeckung Amerikas, nach dem Blick auf eine noch unbesiedelte und unerschlossene Welt. […] Am Ende des Träumens, erwacht, träumt auch Don Quixote ihren amerikanischen Traum. Es is t keiner der individuelle Karriere- und Aufs tiegschancen zum Inhalt hat, aber er birgt dennoch ein ,promise‘: die Verheißung einer künftigen egalitären Gesellschaftsordnung.95

Hier ist Reinharts ansonsten in vieler Hinsicht sehr hilfreichen Interpretation zu widersprechen. Zwar schließt das Ende von Don Quixote die „Verheißung“ einer besseren Realität sicherlich nicht aus (Dix spricht hier von „some sense of affirmation and the possibility of transformation“96), doch die Vorstellung, in einer Reaktualisierung des Mythos’ vom amerikanischen Traum einen „locus amoenus“ finden zu wollen, widerspricht der Haltung des Romans: „America’s the land of freedom. That is, America’s the land of the myth or belief of freedom.“ (DQ 112) Wenn der Begriff der „Freiheit“ ideologisch vereinnahmt wird – was nach Ackers Auffassung im Narrativ vom „American Dream“ geschieht – wird er zum Werkzeug soziokultureller Kontrolle im Dienste der beiden Diskurse, die die amerikanische Gesellschaft von je her 94 | Ebd. S. 162. 95 | Reinhart: S. 476f. 96 | Dix: a. a. O., S. 61.

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prägen: Materialismus und Patriarchat. Der Mythos vom „Land of the Free“ stellt für Acker lediglich ein weiteres Zwangssystem dar, das seinen beinahe totalitären Charakter geschickt hinter einer idealistischen Freiheitsrhetorik verbirgt (Reagan hat es in dieser Disziplin zur Meisterschaft gebracht) und gerade deswegen als Zielpunkt für Don Quixotes Kulturkampf nicht taugen kann. Unter der Oberfläche eines scheinbar freien politischen Systems liegt eine Kultur der Unfreiheit: „The political mirror of this individual simultaneity of freedom and imprisonment is a state of fascism and democracy: the United States of America.“ (DQ 187) Sicherlich schwingt auch in Don Quixote die für Ackers Werk typische Sehnsucht nach einem Utopia mit – die jedoch trotz aller Sympathie für eine solche Idee als Mythos entlarvt wird. Ein solcher Ort würde genau jene Form von authentischer Alternativsphäre jenseits der entfremdeten Wirklichkeitskonstruktionen der dominanten Kultur sein, gegen die das Transgressionsverständnis des Romans gerichtet ist. Ob die „neue Welt“, die Don Quixote am Ende des Romans offensteht, nun gerecht und egalitär wäre, wie Reinharts optimistische und vom Prinzip Hoffnung geleitete Interpretation behauptet, hängt davon ab, wie erfolgreich Don Quixotes Guerrillakämpfe bleiben. Acker hat am Beispiel Janeys in Blood and Guts in High School gezeigt, dass die separatistischen Freiheitsversprechen von utopischen Sphären an ihren inneren Widersprüchen scheitern müssen und sich auch destruktiv gegen die Grenzgänger wenden können. Ihre Don Quixote-Figur hat dies im Laufe der Romanhandlung (sofern diese angesichts der unzähligen Brüche der Narration nachzuvollziehen ist) gelernt und versucht, eine Alternative zu Janey Smiths Drang nach authentischer und vor allem stabiler Freiheit zu suchen. Das wird bei einem Vergleich der beiden Hauptfiguren deutlich. Während Janey in ihrer Hoffnung, ihren symbolischen und geographischen „locus amoenus“ zu finden, scheitert und am Ende stirbt, besteht für Don Quixote, der klar geworden ist, „that she is unable to know anything for certain“97, immerhin noch die Möglichkeit zur weiteren Suche bzw. Flucht – auch wenn diese kein authentisches Ziel im „Jenseits“ hat. Janey ist eine Migrantin, deren einmalige Rebellion gegen die Realitätsordnung sie in einer statischen Identität gefangen hält. Don Quixote ist hingegen eine Nomadin, deren Nicht-Arretierbarkeit Optionen zur permanenten Störung der Ordnung eröffnet: Having to flee when there is no utopian space to reach, driven to the cultural piracy of appropriation in order to speak at all, proceeding not on the solid ground of authoritative truth but rather on the ,shifting mixtures‘ of sensory and his torical somethings and the nothings of cultural fic tions, the knight becomes the one whose crying texts dis turb everyone around her.98

Nicht in einem „locus amoenus“ ist das verbliebene Erlösungspotential von Don Quixotes Rebellion zu suchen, sondern in der Fluchtbewegung selbst: „Although she 97 | Ebd. S. 60. 98 | Siegle: a. a. O., S. 98.

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cannot change the society itself in some final way, she can become a nomad, increase the velocities of her lines of flight, and disrupt the hegemonic control of the state apparatus.“99 Die Fluchtlinien verlaufen dabei nicht nur geradlinig über, sondern in einer permanenten Zickzackbewegung zwischen den Grenzen der multiplizierten Binarismen und machen so deren Verlauf diffus. Der Modus dieser Transgressionen ist in Don Quixotes Fall „a type of affirmative madness.“100 Affirmativ, weil er die Notwendigkeit und vor allem Möglichkeit von Veränderung anerkennt; wahnsinnig in seinen Mitteln, die darauf abzielen, sich jedem Versuch institutioneller, identitärer oder ideologischer Arretierung zu entziehen: „Don Quixote has gone mad, and her language is the language of madness, or nomad language […] which strives to communicate her reality outside of the conventions of her society – a language that breaks down all the orders, without replacing them with new orders.“101 Verstörung, Verwirrung, Diffusion, Mehrdeutigmachen und Hybridisierung verbleiben der Protagonistin als subversive Strategien, die jede Form der Hegemonialkultur herausfordern können, weil sie sich gegen den kulturellen Konsens der Realität stellen. Nicht nur die Handlungen der Protagonisten in der „Wirklichkeit“ des Romans richten sich gegen dieses Konstrukt. Die Lektüre des Romans wird selbst zur transgressiven Erfahrung: However res tless some reviewers may have become with Acker’s fic tion of indirec tion, its s trategy is essential if readers are to experience in reading [Hervorhebung im Original – d. Verf.] the breaks, fissures, and contradic tions within Wes tern reason’s ideological arrangement of reality. 102

Acker bietet aber weder ihren Figuren, noch den Lesern ein Utopia an, in dem diese Brüche, Risse und Widersprüche dieser konstruierten Wirklichkeit endgültig geheilt bzw. gelöst würden. Sie macht durch sie nur den Scheincharakter ihrer „Natur“ offensichtlich. Am Ende dieser Dekonstruktion steht eine metaphysische Leerstelle, die jedes Individuum – literarische Figur wie Leser – selbst permanent in kreativer Weise zu füllen hat. Die Sehnsucht nach einer Sphäre authentischer und dauerhafter Freiheit, die in Ackers transgressiver Prosa immer mitschwingt, bleibt auch in Don Quixote angesichts der Erkenntnis der Uneinlösbarkeit dieses Ideals, zwangsläufig unerfüllt. Transgression, so wie sie hier verstanden wird, heißt immerwährendes Infragestellen und permanente Suche.

99 | Dix: a. a. O., S. 61. Zu ergänzen wäre hier, dass die hegemoniale Kontrolle durch die Kultur als ganzes ausgeübt wird. Dix’ Regression in das Vokabular des politischen Radikalismus beschreibt die Überschreitungen von Don Quixotes Nomadentum nur unzureichend. 100 | Ebd. 101 | Ebd. 102 | Siegle: a. a. O., S. 100.

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Pos tmoderne Anarchis ten: Revolutionäre, Terroris ten, Piraten Der Revolutionär ist ebenfalls eine transgressive Außenseiterfigur, beginnen Revolutionen doch immer an der Peripherie jener Ordnung, die überwunden werden soll. Anders als die bereits beschriebenen Rebellenfiguren, die sowohl allein als auch in der Gruppe handeln können, gehört es zum Wesen des Revolutionärs, dass er stets im Verbund mit anderen handelt. Auch wenn Acker in ihren Romanen immer wieder ihre Skepsis gegenüber kollektiven Formen des Widerstands ausdrückt, gehören Gruppen bzw. Zusammenschlüsse von Rebellen zu ihrem wiederkehrenden Figurenrepertoire. Ihr ist klar, dass die einzelne, individuelle Transgression zwar subversiv-kreative Potentiale für den Einzelnen eröffnen kann, sich aber nur bedingt mit dem ideologisch aufgeladenen Realitätseffekt von Kultur und Geschichte abarbeiten kann. Größtmöglicher kreativer Individualismus ist für Acker sicherlich die zentrale Form der Auf lehnung, aber natürlich erkennt sie an, dass das menschliche Individuum immer auch ein soziales Wesen ist. Daher ist für sie, wie für ihre Protagonisten, der sozialrevolutionäre Diskurs als eine Form der Überschreitung unter vielen von großem Interesse, wenn sich in ihm einzelne Individualisten zu einer temporären taktischen Allianz im Rahmen ihrer Kulturkämpfe zusammenschließen. Sobald sich ein solches Bündnis aber verstetigt, seine Flexibilität verliert und sich ideologisch und strukturell zum „Ismus“ verhärtet, lehnt sie kollektive Überschreitungsversuche ab. Aufgrund dieses potentiell totalitären Charakters agitiert sie gegen alle politisch radikalen Formen von revolutionärem Handeln in organisierten Bewegungen, politischen Parteien oder doktrinären Gruppen. Die solchen Organisationen innewohnenden Hierarchien bergen ihrer Ansicht nach immer die Gefahr, jene Machstrukturen, die sie eigentlich überwinden wollten, unter anderen ideologischen Vorzeichen zu reproduzieren. Politische Revolutionen im Sinne der Moderne etablieren durch harte ideologische Abgrenzungen stabile Differenzen. Dynamische Differenzierungen jedoch, die die Grundlage für Widerstand gegen die zahlreichen Mikromächte der Kontrollgesellschaften sind, sind ihnen fremd. So ist für Acker, wie ich im dritten Kapitel bereits ausgeführt habe, die Mobilität des Guerillakämpfers die passende Metapher, um Kulturkämpfe unter den Bedingungen der Postmoderne zu beschreiben. Dies spiegelt sich auch bei der Darstellung kollektiver Übertretungen in ihren Romanen wider. Dort wird dezentralen, lokal und zeitlich begrenzten und dynamischen Allianzen von grenzüberschreitenden Individuen ein weitaus höheres subversives Potential zugebilligt, als Organisationen und Bewegungen mit starren Hierarchien und absolut gesetzten Ideologien, die dem multinationalen Spätkapitalismus und den postmodernen Kontrollgesellschaften nur die immer gleichen, gegen diese Art von Strukturen nicht mehr wirksamen Strategien der Moderne entgegensetzen. Vergegenwärtigt man sich Ackers skeptische Haltung gegenüber der studentischen Linken der 1960er kann man folgende Aussage der Figur Quentin aus In Memoriam to Identity auch als Äußerung ihrer eigenen Ansichten lesen: „There’ve been no major radical political

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movements in America since the thirties.“103 Gerade traditionellen linken Strategien – weder nach dem Modell der 30er noch nach dem der 60er Jahre – werden in Ackers Werk keine wirklichen Erfolgsaussichten gegen die kapitalistische Grundordnung der westlichen Welt zugebilligt. Gleiches konstatiert sie auch für den kulturell radikalen, aber utopiegläubigen Antimaterialismus der Hippie-Gegenkultur: „When I began writing my most recently published novel, Empire of the Senseless, I heard myself saying to myself repeatedly: ,You can’t change this society. You know this. The fucking hippies didn’t change anything; maybe it’s worse even than in the McCarthy days[.]‘“104 Dabei argumentiert Acker, was die Gründe für kollektive Rebellionen angeht, durchaus von einer Position aus, die man als „undogmatisch links“ bezeichnen kann. Die (spät)kapitalistische Ordnung des Westens ist ein konstantes Feindbild in ihrem gesamten Werk. Das in den Romanen immer wieder aufscheinende Klassenbewusstsein und die Parteinahme für marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft sind ebenfalls ein Beleg dafür. Auch wenn Acker einen radikalen transgressiven Individualismus vertritt, zeigt sie durchaus Sympathie für die Versuche der existentiellen Außenseiter, ihre ausweglos erscheinende Situation nicht allein durch expressiv-individualistische Strategien verbessern zu wollen. An einer Stelle in Empire of the Senseless heißt es programmatisch: „The poor can reply to the crime of society, to their economic deprivation retardation primitivism lunacy boredom hopelessness, only by collective crime or war.“105 Verbrechen und Krieg sind für Acker hier keine juristischen, sondern politisch-ethische Begriffe. Sie unterscheidet zwischen der „criminality of the businessman or of society [and] that of the disenfranchised“ (EoS 124). Letztere steht für sie für notwendige und erwünschte Übertretungen des Status Quo einer kapitalistischen Ordnung. Acker plädiert jedoch nicht für eine Revolution im marxistischen Sinne. Ihre Analyse der Ursachen für den revolutionären Impuls hat zwar durchaus Anklänge an den historischen Materialismus, sie erweitert sie aber um eine identitäts- und eine geschlechterpolitische Komponente: Jede Kontrollstruktur in der westlichen Gesellschaft hat, um es noch einmal in Erinnerung zu rufen, Ackers Ansicht nach ihren Ursprung im Nexus von Kapitalismus und Phallozentrismus (ein Konzept, das dem traditionellen Marxismus unbekannt war.). Wahrheits- und Subjektproduktion, Normierung, Biopolitik, oder Kategorisierungen entlang solcher Koordinaten wie Ethnizität, Klasse oder Geschlecht sind lediglich Folgephänomene dieser kulturkonstituierenden diskursiven Verbindung von sexueller und ökonomischer Macht. Folgerichtig muss sich jede Revolution, die die herrschende Ordnung stürzen will, gegen diese Verknüpfung richten. Den traditionellen Marxismus und die klassische Psychoanalyse der freudschen Schule hält sie nicht für erfolgversprechende Strategien gegen den kapitalistisch-phallozentristischen Komplex, weil sie selbst innerhalb dieser kulturellen Matrix entstanden sind. In In Memoriam to Identity heißt es: 103 | Kathy Acker: In Memoriam To Identity, New York 1990, S. 157. Im Folgenden zitiert als IM. 104 | Acker: „A Few Notes on Two of my Books“, a. a. O., S. 34. 105 | Kathy Acker: Empire of the Senseless, New York 1988, S. 7. Im Folgenden zitiert als EoS.

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„Marxism is irrevocably tied to certain rationalist and positivist tenets of nineteenthcentury thought. Mechanistic determinism lies at its heart. The same could be said of Freudianism.“ (IM 52) In Empire of the Senseless beschreibt Acker exemplarisch das Scheitern des traditionellen revolutionären Diskurses nach dem modernen Modell unter den kulturellen, ökonomischen und politischen Bedingungen der Postmoderne. Der Hauptschauplatz des Romans, in dessen Mittelpunkt der Pirat Thivai und der weibliche Cyborg Abhor („part robot, and part black“, EoS 3) stehen, ist ein dystopisches, heruntergekommenes und teilweise zerstörtes Paris, das für Siegle metaphorisch die „socially apocalyptic era of the eighties“106 repräsentiert. Einmal mehr verbindet Acker hier konkrete Zeitkritik mit einer Reflexion über historische Formen von radikalem Widerstand. In ihrem Paris, einem modellhaften Raum postmoderner Urbanität, hat gerade eine Revolution durch die Minderheit der dort lebenden Algerier stattgefunden, die dem traditionellen modernen Muster folgt. Die Algerier werden hier zum Synonym für die von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung mit Hilfe der kategorisierenden Diskurse „race“ und „class“ ausgebeuteten und an die Peripherie gedrängten Gruppen der Gesellschaft: „The Parisian and the French government desired simply to exterminate the Algerian trash, the terrorists, the gypsis.“ (EoS 75) Ganz klassisch konstituieren hier Ausgrenzung, Konzentrierung sowie die nunmehr digitale Kategorisierung und Überwachung des „Anderen“ in Gestalt der Algerier im Umkehrschluss die kollektive Identität der Mehrheitsgesellschaft: „The urban sections inhabited by Algerians were literally areas of plague to the parisians who knew how to speak properly. The French authorities murdered pregnant women. They made every Algerian they could locate carry a computerized identity card.“ (EoS 75) Die zugeschriebene Differenz wird so bürokratisch fixiert und in die disziplinarische Überwachungsmaschinerie des digitalen Zeitalters eingespeist, die nichts anderes ist, als eine bis ins Kleinste verfeinerte und durch technische Mittel radikal beschleunigte Ausweitung des Panoptismus der Moderne. Mehr noch als vorher wird nun die gesamte Gesellschaft zum Gefängnis: „[P]rison is a being, a social being, who is against human life.“ (EoS 148) So werden die Algerier qua Existenz ins Außenseitertum gedrängt, was wiederum die Wurzel ihrer Revolte ist. Ihnen geht es dabei zunächst um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an der materiellen Verteilung der Güter: „The Algerians had taken over Paris so they would own something. Maybe, soon, the whole world.“ (EoS 83) Angeführt wird die Revolution von einer Figur namens Mackandal, einer literarischen Aneignung des realhistorischen haitianischen Sklavenführers François Mackandal, der im 18. Jahrhundert mit Hilfe eines Untergrundnetzwerks aus versklavten Afrikanern versuchte, Speisen und Trinkwasser der französischstämmigen Plantagenbesitzer zu vergiften, um auf diese Weise das koloniale Sklavenhaltersystem zu stürzen.107 Nun taucht er im zeitgenössischen Paris mit dem Ziel auf, die Eliten der 106 | Siegle: a. a. O., S. 107. 107 | Richard House hat herausgearbeitet, dass Acker hier eine ganze Reihe von Passagen aus C. L. R. James’ unter dem Titel The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution erschienen Chronik

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dortigen Gesellschaft zu entmachten. Seine Strategie auch hier: „[T]he poisoning of every upper-middle and upper-class apartment in Paris.“ (EoS 77) Bei dieser Verschmelzung der verschiedenen Widerstandserzählungen geht es Acker nicht in erster Linie darum, für eine bestimmte ethnische Gruppe Partei zu ergreifen, sondern allgemein Kritik am Mechanismus rassistischer Identitätskonstruktion zu üben, der in jedem Kontext nach dem gleichen Muster funktioniert. Sie zeigt die strukturelle Ähnlichkeit dieser Prozesse by mapping the Haitian revolution onto the s treets of 1950s Algiers during the war agains t imperial France and by depic ting these political s truggles in 1980s Paris (when, his torically, immigrants clashed with French citizens in the suburbs). […] In the s toryworld of Empire, Haiti is Algiers, and Haiti simultaneously is Paris.108

Motivisch ruft Acker damit zunächst eine typisch moderne, antikoloniale Revolutionsphantasie auf: Die einstigen Kolonisierten, deren politische, ökonomische und kulturelle Unterdrückung rassistisch (und damit durch ein naturalisiertes Identitätskonstrukt) begründet wurde, stürzen die Kolonialherren und besetzen mit der Hauptstadt das symbolische Zentrum ihrer Macht. Doch aus der Perspektive der in Empire of the Senseless inhärenten Machtanalyse führt dieser Umsturz – als politisch radikale Revolution – letztendlich nur zu einer Inversion der politischen Macht innerhalb der Kultur und folgt einem ideologischen Dualismus: Eine beherrschte Klasse setzt sich institutionell an die Stelle der ehemals herrschenden. Für Acker, als Vertreterin eines kulturell radikalen Gesellschaftsverständnisses, kann ein solcher Umsturz nur die Erscheinungsformen, nicht aber die Struktur von Macht oder ihre Mechanismen in einer Gesellschaft verändern. Sie selbst sagte angesichts dieser gescheiterten politischen Utopie: „As I wrote the second part [von Empire of the Senseless, in dem die Revolutionsepisode geschildert wird – d. Verf.] I learned that it is impossible to have, to live in a hypocritical, not utopian but perhaps freer, society if one does not actually inhabit such a world.“109 Vor allem in ihrer binären Codierung entsprechen diese traditionellen politischen Taktiken der Organisationsform postmoderner Macht nicht mehr und können ihr nicht wirklich gefährlich werden. Ackers Protagonistin Abhor konstatiert dies („Yes. The Algerian revolution had succeeded. Whatever political success is worth.“, EoS 109) und muss zwangsläufig die revolutionäre Gretchenfrage stellen: „Someone may wonder whether in a post-industrial world a revolution can change a city’s architecture. Or anything.“ (EoS 110) Wenig später beantwortet sie sie selbst: „I realized that the Algerian revolution had changed nothing.“ (EoS 110) Damit bilanziert Acker des besagten Sklavenaufs tandes appropriiert hat. Vgl. dazu: Richard House: „Informational Inheritance in Kathy Acker’s ,Empire of the Senseless‘“, in: Contemporary Literature 46.3 (Fall 2005), S. 450–482, besonders S. 454f. 108 | Angela Naimou: „,Death-in Life‘: Conflation, Decolonization, and the Zombie in Empire of the Senseless“, in: Mackay/ Nicol: a. a. O., S. 133–154, hier: S. 134. 109 | Acker: „A Few Notes on Two of my Books“, a. a. O., S. 35.

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auch den Wandel ihrer eigenen Einstellung zur Transgression. Denn schenkt man ihrer eigenen Aussage Glauben, hat sie beim Verfassen von Empire of the Senseless die Algerier noch als essenzielles Gegenmodell zum globalen Kapitalismus der multinationalen Konzerne gesehen – und damit auch in gewisser Weise einen romantisierenden Orientalismus gegen einen vermeintlichen westlichen Kultur- und Wirtschaftsimperialismus positioniert: „I thought, as I wrote this section, that today, as the ,Great Powers,‘ as they were formally known, meet and melt economically, then culturally, as more and more of the known world goes Coca-Cola and McDonalds, only the Muslim world resists.“110 Sie hat dies jedoch als naiven Irrtum erkannt: „Today, the opposite is true.“111 Die muslimische Welt ist weder weniger phallozentrisch noch weniger anfällig für die verschiedensten Ausprägungen des Materialismus. Diesen Perspektivwandel macht sie auch im Roman deutlich: Die Umstülpung der Machtverteilung in der Gesellschaft durch die „antiimperialistische“ algerische Revolution führt nur zu einer Reproduktion von binären Hierarchien und normativ-repressiven Institutionen unter Umkehrung der ideologischen Vorzeichen. Eine Freiheit im Sinne eines Außerhalb der Macht erkämpft sie nicht. Deshalb möchte ich auch Michael Clune entschieden widersprechen, wenn er die Revolution der Algerier als im Kern anarchistisch charakterisiert: „The Algerians’ goal is not to reform society, but to enact a total refusal of the social order: Law, family, religion, even language.“112 Wie jeder „Ismus“ trägt der Antikolonialismus der Algerier, bei all seiner Berechtigung, auch die Gefahr des Totalitarismus in sich – und erliegt ihr. So unterscheidet sich in Empire of the Senseless der Rassismus der neuen Herren strukturell – in seinem Beharren auf einer hierarchischen und essentiellen Dualität, sowie in seiner Fixierung auf die Fiktion ethnischer Reinheit – in nichts von dem der abgelösten Ordnung. Dem Revolutionsführer Mackandal schwebt kein postkolonialer Multikulturalismus als Alternative zum Kolonialismus vor, sondern eine geradezu völkisch anmutende Exterminationsphantasie: „[H]e dreamed of paradise, a land without whites. He determined to get rid of every white.“ (EoS 77) Auch die repressiven Institutionen überstehen den Umsturz und kehren nur die Rollenverteilung im dialektischen Verhältnis von Herr und Knecht um. An Stelle der „flics, as bourgeois as all other Parisians“ (EoS 76) marodieren nun „algerische“ Polizeihorden durch Paris und terrorisieren die Bevölkerung: „It was after the revolution. Six jeeps of The New Revolutionary Arab Police […] braked in front of a group of young children. The cops butted at them with the ends of their pistols.“ (EoS 90) Sie mögen sich in ihrer Ethnizität oder anderen Identitätsmerkmalen von ihren vorrevolutionären Vorgängern unterscheiden, in ihrer Mentalität, in der Beschränktheit ihrer geistigen Provinzialität jedoch kaum: Though the revolution in Paris had eradicated mos t of the middle class, the middle-class cops were left. These cops, dumb as they come, (a human has to pass a tes t of dumbness in order to become a cop), s till 110 | Ebd. 111 | Ebd. 112 | Clune: a. a. O., S. 487.

A USSENSEITER considered the pornographers, the massage parlour workers, the s treetwalkers, and the homosexuals who openly committed ,crimes of sex‘ in the urban shadows of corners their main, often only, enemies. (EoS 119)

Hier belegt der Roman ein weiteres Mal die Grundthese des kulturellen Radikalismus: Nicht im politischen System, sondern in der Kultur selbst – deren sichtbare, ideologische und institutionalisierte Ausformung das politische System natürlich ist – sind die in einer Gesellschaft wirksamen Machtmechanismen zu verorten. Ein Sturz der oberflächlichen Institutionen von Staat und Regierung verändert das darunter liegende diskursive Wurzelwerk, das der eigentliche Ort der Macht ist, zunächst nicht. Eine Kultur wie die westliche, die in vielen Bereichen auf binären Dualismen beruht, kann nicht allein durch eine Umwälzung der politisch-ideologischen Ordnung überwunden werden – gerade weil sich der vermeintlich neue revolutionäre Diskurs als das dialektische Andere der ehemals herrschenden Ideologie definiert und damit auch immer ein vorgedachter Teil des Systems ist. Acker macht das nicht nur an bestimmten Kontinuitäten wie der Struktur von Mackandals postrevolutionärem Rassismus Mackandals oder des Gewaltpotentials der Polizeikräfte deutlich, sondern vor allem an der ungebrochenen Wirksamkeit des Nexus’ von Kapitalismus und Sexismus. Oberflächlich vertreten die vermeintlichen Umstürzler eine rigide Moral: „Revolutionaries are always puritanical.“ (EoS 111) Doch in ihrem Freizeitverhalten offenbart sich ihre Doppelmoral; „In the evenings, the revolutionary Algerian soldiers drank themselves to death in the brothels.“ (EoS 89) Materialismus und Kapitalismus bleiben zwei sich zwar in ihrer Gestalt verändernde, aber in historischer Perspektive immer weiterbestehende operative Grunddiskurse der westlichen Welt. Die daraus resultierende ökonomische Ordnung ist relativ resistent gegenüber politischen Machtwechseln, weil sie, so Ackers Ansicht, Symptom einer kulturellen Ordnung sind. So kann sie alle modernen revolutionären Ansätze überdauern, inkorporieren und sogar zur eigenen systemischen Affirmation nutzen: „Any revolution, right-wing left-wing nihilist, it doesn’t matter a damn, is good for buisness. Because the success of every business depends on the creation of new markets.“ (EoS 182) Ein ähnlicher Kommentar findet sich auch in Don Quixote aus dem Mund eines in Hundegestalt auftretenden Richard Nixon: „,There is no such thing as revolution,‘ Nixon barked to the bitch. ,There’s only big business.‘“ (DQ 108) Besonders der postindustrielle, transnational organisierte, netzwerkartige Kapitalismus der Postmoderne, den Acker in Empire of the Senseless explizit als Feindbild inszeniert, kann nicht mehr durch die politisch radikalen Ansätze des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überwunden werden, die sich gegen den traditionellen, eher nationalen Industriekapitalismus gerichtet haben. Es gibt keine konzentrierten Akkumulationen von Kapital mehr, die sich einfach enteignen ließen: „Wealth was the price and cost of capitalism. But now there’re multinationals.“ (EoS 3) Pitchford fasst dies so zusammen: The revolution may be inevitable – and even necessary [Hervorhebung im Original – d. Verf.] for the Algerians – but it is not a sufficient form of resis tance agains t the current hegemonic forces, for it misreco-

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN gnizes the forms that power now takes. It is aimed agains t a monolithic radical identity as the source of oppression: whites, especially, wealthy whites.113

Ungeachtet der solche Revolutionen zweifellos begleitenden subjektiven Befreiungserfahrungen der revolutionären Protagonisten, ist das flexible und dynamische Netzwerk dieses Kapitalismus selbst weitgehend immun gegen Angriffe auf seine sichtbaren Institutionen. Er ist ein von ideologischen, politischen und ökonomischen Strukturen getragenes System, das weitgehend unabhängig von Persönlichkeiten funktioniert: „So killing someone, anyone, like Reagan or the top IBM executive board members, whoever they are, can’t accomplish anything[.]“ (EoS 83) Die politischen Vorzeichen von Ackers postrevolutionärem Frankreich mögen sich verändert haben, doch das ändert angesichts der Größe und Verflechtungen der multinationalen Konzerne nichts am ökonomischen Geschehen. Sie drückt das metaphorisch dadurch aus, dass sie die Protagonisten der Geschäftswelt, die ihrer Ansicht nach die wahren Akteure (nicht Inhaber!) der Macht sind, im Unsichtbaren agieren lässt: „The men who worked in the corporations spent so much time in the corporations or driving to and from the corporations inside mirrored styrofoam cars, they were no longer visible.“ (EoS 110) Die Gesellschaft ist gewissermaßen im Besitz dieser Konzerne und wird nicht von politisch oder ethischen Maximen strukturiert, sondern von rein wirtschaftlichen. Clune bezeichnet das postrevolutionäre Paris des Romans durchaus treffend als „market without a society.“114 Die soziokulturelle Subjektproduktion folgt ökonomischen Gesetzen: Die gleichermaßen als Konsumenten wie Produzenten konstituierten Individuen haben die multiplen Anforderungen dieser multipolaren kapitalistischen Ordnung im Rahmen ihrer Sozialisation so sehr internalisiert, dass keine offene und gewaltsame Repression mehr nötig ist, um ihr Funktionieren zu gewährleisten – Ausbeutung und Konsum erfolgen auf freiwilliger Basis: „Who needs slaves anymore?“ (EoS 83) Die sozialen Realitäten, die die Verteilungs- und Unterdrückungsstrukturen dieses ökonomischen Systems hervorbringt, werden von der Frage der politischen Herrschaft kaum tangiert. Diesbezüglich stellt Abhor fest: „I know one thing for sure: in this world, right-wing or left, there are always slums. Only with the right-wing all places besides the homes of the upper middle-class are slums.“ (EoS 111) Gerade die Mittelklasse, in der identitäre Distinktion vornehmlich durch ökonomischen Erfolg erlangt wird, hat diese soziale Spaltung insbesondere in den Vereinigten Staaten nachhaltig vorangetrieben, weil sie von Abstiegsängsten geleitet ist: „And it was that calls in the United States who are moving from middle-class splendour down to lower-class or, rather, no-class stagnation who put Reagan, for instance, in power and gave way full to the Multi-Nationals.“ (EoS 124) Die Ungerechtigkeit, die der Kapitalismus produziert, ist auch nach seiner Häutung zum postindustriellen globalisierten System nicht verschwunden, sondern hat sich vielmehr fragmentiert und 113 | Pitchford: a. a. O., S. 97. 114 | Clune: a. a. O., S. 487.

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in alle Bereiche des Lebens ausgebreitet. Ein binär codierter revolutionärer Radikalismus – sei er in seiner Ausführung nun kollektiv oder individuell organisiert – ist angesichts der ubiquitären Mechanismen der Kontrollgesellschaften keine adäquate Widerstandstaktik mehr. Die vorangegangene Untersuchung der Episode über die Revolution der Algerier zeigt einmal mehr idealtypisch, dass Acker jede Form des traditionellen politischen Radikalismus für eine Sackgasse hält, wenn dessen Identitätspolitik von der Überzeugung geleitet ist, erst die Organisationsstrukturen umwälzen zu müssen, um die Kultur und über sie letztendlich das Individuum zum Besseren verändern zu können. Das Idee des „neuen Menschen“, das von rechten wie linken Totalitarismen des 20. Jahrhunderts unter den jeweiligen ideologischen Vorzeichen verfolgt wurde, ist beispielsweise Ausdruck dieser Strategie. Der von Acker vertretene kulturelle Radikalismus funktioniert genau umgekehrt: Erst muss sich das Individuum – durch Transgressionen – verändern, um über den Einzelnen schließlich die Kultur, die der eigentliche Träger der Machtstrukturen ist, transformieren zu können. Die Kategorie des Politischen im Sinne eines Systems aus Ideologien, organisierten Bewegungen und staatlichen Institutionen ist dafür zweitrangig. Wenn aber eine bestimmte Form des politischen Diskurses mit dem individualpolitischen Projekt der Transgression zusammentrifft, billigt Acker den daraus erwachsenden Formen kollektiven Handelns durchaus Überschreitungspotential zu. Sie hat das zwar nicht expliziert, liefert aber in ihren Romanen durchaus Beispiele. Um diese auch theoretisch beschreiben zu können, eignet sich das von Lewis Call im Jahr 2002 entwickelte Konzept des „postmodernen Anarchismus“ hervorragend, weil es in vielem dem entspricht, was Acker in ihrer Literatur bereits in den 1980er Jahren entworfen hat. Call hält den Anarchismus von allen politisch radikalen Widerstandsdiskursen der Moderne für den anschlussfähigsten an die postmodernen Kontrollgesellschaften: „Anarchism, which is by its very nature sceptical of fixed structures, is a far more fluid and flexible theory [verglichen mit anderen traditionellenen „Ismen“ – d. Verf.]. Anarchism thus is a political philosophy which seems perfectly well suited to the postmodern world.“115 Um ihn jedoch als Widerstandsform unter den Bedingungen der Postmoderne wirksam zu machen, bedarf es, so Call, einer Überführung des „conventional anarchist project into the cultural and linguistig realms.“116 Mit anderen Worten: der Anarchismus muss von einem politisch radikalen zu einem kulturell radikalen Diskurs werden. Er kann sich nicht mehr nur am klar verortbaren Feindbild der staatlichen Ordnung, ihren Institutionen und Organisationsformen abarbeiten, sondern muss die soziokulturell produzierte Vorstellung von einem mit sich selbst identischen Vernunftsubjekt, das die Herrschafts- und Widerstandsdiskurse der Moderne gleichermaßen bestimmt hat, in Angriff nehmen: „[P]ostmodern anarchism declares, beginning with Nietzsche, an anarchy of the subject [Hervorhebung im Origi115 | Lewis Call: Pos tmodern Anarchism, Lenham 2002, S. 11. 116 | Ebd., S. 21.

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nal – d. Verf.]. The postmodern subject is and must remain multiple, dispersed, and (as Deleuze would have it) schizophrenic.“117 Auch wenn Call eine ganze Reihe von Theoretikern (der Fokus liegt dabei auf Foucault, Baudrillard und Debord) bei der Formulierung seines Konzepts heranzieht, dient ihm vor allem Nietzsche als Fundament. Wie viele andere Postmoderneexegeten verortet er in dessen Denken die Keimzelle für dieses kulturelle Modell, weil es die Aufsprengung des auf klärerischen Konzeptes vom authentischen und autonomen Subjekt zugunsten eines anarchistischen Feld des „Werdens“ ermöglicht: In the space created by this radical critique of modern subjec tivity, Niet zsche unleashes another kind of anarchy, an anarchy of becoming [Hervorhebung im Original – d. Verf.]. By teaching us that we mus t pursue a perpetual projec t of selfovercoming and self-creation, cons tantly losing and finding ourselves in the river of becoming, Niet zsche ensures that our subjec tivity will be fluid and dispersed, multiple and pluralis tic rather than fixed and centered, singular and totalitarian.118

Ein nietzscheanisch geprägter „Anarchismus des Werdens“ entspricht damit im Prinzip jener Form von Subjektivität, die Acker durch ihre Transgressionspolitik erreichen will: Hybrid, selbstreferenziell, ideologisch und identitär nicht arretiert und jeder Form des Absoluten ablehnend gegenüberstehend, dabei aber keineswegs nihilistisch, sondern im produktiven und kreativen Sinn affirmativ. Eine archetypische postmoderne Anarchistenfigur in Ackers Romanwelt ist der Nomade, wie ich ihn am Beispiel Don Quixotes beschrieben habe. Mit ihm eng verwandt ist der Pirat, der wie der Nomade die Autorität von Grenzen nicht anerkennt und seine Freiheitsutopie in der permanenten Bewegung im nicht arretierbaren Zwischen lebt. In Don Quixote formuliert Lulu (eine der vielen literarischen Figuren, deren Identität die Protagonistin im Verlauf des Romans annimmt) in einem kurzen, gerade einmal sechs Druckzeilen umfassenden Kapitel mit dem Titel „To See The Sea“ das mit der Figur des Piraten verbundene Freiheitsversprechen: „Now I must find others who are, like me, pirates journeying from place to place, who knowing only change and the true responsibilities that come from such knowing sing to and with each other.“ (DQ 97) Ungeachtet der Tatsache, dass die Raubzüge des Piraten eine treffende Metapher für Ackers freibeuterische Art des Schreibens, des „Enterns“ von Texten (in diesem Fall Wedekinds Lulu-Dramen) darstellen, macht diese Stelle deutlich, dass die Figur auch auf inhaltlicher Ebene für Ackers Überschreitungsprojekt eine große Bedeutung hat. So hat Acker die Suche der Protagonisten von Empire of the Senseless als „search for a myth to live by“ beschrieben, der auch gefunden wurde: „The myth to me is pirates.“119 Clune hat die Bedeutung des Freibeuters in Ackers Figurenkosmos auf den Punkt gebracht: „For Acker, the pirate is the revolutionary subject of an 117 | Ebd. S. 22. 118 | Ebd., S. 33. 119 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 17.

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entirely economic social world, with the free market imagined as the open sea, the horizon of the possible.“120 Er lässt sich nicht von den Ansprüchen und Anrufungen der Gesellschaft einfangen, sondern segelt über alle Grenzen hinweg, „ankert“ nur temporär in verschiedenen (identitären) Häfen und fügt der Nomadenexistenz das subversive Element der Kriminalität zu – eine Symbolfigur nicht arretierbarer Freiheit und selbstbestimmter Subjektivität. Für Thivai wird er zum nachahmenswerten Vorbild: „As long as I can remember, I have wanted to be a pirate. As long as I can remember, I have wanted to sail the navy seas.“ (EoS 20) Der Seefahrer bzw. Pirat – Acker verwendet diese Begriffe weitgehend synonym – ist der „normalen“ Gesellschaft schon allein wegen seines nomadischen Daseins verdächtig: „Throughout history most normal people have thought that sailors are immoral and should be burned.“ (EoS 112) Dabei ist er die Personifizierung von Ackers transgressivem Doublebind angesichts der postmodernen Situation – getrieben von der Sehnsucht nach dem absoluten, erlösenden Ziel, sich aber gleichzeitig bewusst, dass nur in permanenter Bewegung und Auf hebung Freiheit gefunden werden kann: „Though the sailor longs for a home, her or his real love is Change. Stability in change, change in stabilty.“ (EoS 114) Zudem wird der Seemann als existentieller Außenseiter geschildert, der seinen unverschuldeten, politisch und ökonomisch marginalen Status hier offensiv gegen die desolate soziale Situation der 1980er Jahre wendet: I say that a sailor is someone who came out of poverty, the sailor knows that the wors t poverty is that of the heart. All good sailors espouse and live in the material simplicity which denies the poverty of the heart. Reagan’s heart is empty. A sailor is a human who has traded poverty for the richness of imaginative reality. (EoS 114)

Kreativität und Selbsterfindung werden so zur Alternative zu den harten ökonomischen Gegebenheiten der Reaganära. Seine Opposition zum herrschenden System macht den Seefahrer zum Piraten. Er ist eine Aktivist des „Anarchismus des Subjekts“, über den letztendlich eine Umwälzung der zentralen Werte des neokonservativen Zeitgeistes und ihrer gesellschaftlichen Ordnung herbeigeführt werden soll: „Such an act [gemeint ist die oben beschriebene Umwertung des existenziellen Außenseitertums – d. Verf.] constitutes destruction of society thus is criminal. Criminal continuously fleeing, homeless, despising property, unstable like the weather, the sailor will wreck any earthbound life.“ (EoS 114). Neben den zuvor beschriebenen anarchistisch-nomadischen Figuren finden sich in Ackers Werk aber auch Rebellen, die auf der Grenze zwischen politischem und kulturellem Radikalismus wandeln. Bereits Don Quixote hat Sympathien für den Anarchismus als Strategie gegen die postmodern-spätkapitalistische Ordnung in einer Zeit, in der „dualism’s no longer a usable logical model“ (DQ 94), erkennen lassen. In einem kurzen Kapitel mit dem Titel „Don Quixote’s Dream“ erklärt die 120 | Clune: a. a. O., S. 487.

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Hauptfigur, im Anarchismus der Zweiten Spanischen Republik (1931–1939) ein Vorbild für ihr eigenes – auch gegen Reagans Amerika gerichtetes121 – nomadisches Rittertum zu entdecken: The Spain of the Spanish Republic of 1931 is my dream or model: Many of the early anarchis t leaders resembled the mendicant friars of former centuries: abs temious wanderers, proud to possess little and to be under-dogs, though physically not developed accus tomed to the mos t s trenuous physical battles and physically demanding situations: to accomplish something-or-other. They were motivated by that inner certainty which by its very being denies human leadership and any hierarchy except for that gentleness and kindness. The anarchis ts, being nights, were knights. (DQ 204f.)

Bedenkt man die im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten Charakteristika von Don Quixotes Rittertum, entspricht es in allen wesentlichen Punkten dem, was Call im Anschluss an Nietzsche als „Anarchismus des Subjekts“ bzw. des „Werdens“ bezeichnet und zum Fundament seines Konzeptes vom postmodernen Anarchismus erklärt hat. Allianzen solch anarchistischer Ritter können ein mögliches Modell kollektiver Rebellion sein, die den pluralen Zugriffen der Kontrollgesellschaften etwas entgegenzusetzen haben, weil sie als nicht ideologisch und strukturell fixierte Bewegungen, sondern als lockere taktische Bündnisse weniger anfällig für die Gefahr sind, in einen Totalitarismus abzugleiten. Beispielsweise ist das revolutionäre Rudel streunender Hunde, das Don Quixote über weite Strecken ihrer Wanderungen begleitet, ein solcher Verbund anarchistischnomadischer Individuen. Die Hunde repräsentieren für Reinhart die „Underdogs der US-amerikanischen Gegenwartsgesellschaft“, deren Anführerin Don Quixote den „klassisch-anarchistischen Traum von einer emanzipierten, herrschaftsfreien und libertären Gesellschaft [träumt].“122 Wie ich im vorangegangenen Kapitel bereits dargelegt habe, muss sie diesen Glauben an einen utopischen „locus amoenus“ aufgeben und erkennen, dass Veränderung der Gesellschaft nur durch eine Veränderung von kulturellen Strukturen möglich ist. So muss sich ihr am spanischen Modell geschulter Anarchismus postmodern wenden und auf semantischer Ebene ansetzen. Acker hängt der Grundthese des Poststrukturalismus an, dass Zeichensysteme soziale und kulturelle Realitäten nicht repräsentieren, sondern produzieren. Will man diese Wirklichkeitsfiktionen verändern, gilt es, die etablierten Symbolsysteme, durch die sie konstituiert werden, zu sprengen. Genau in diesem Feld verortet auch Call das revolutionäre Potential seines postmodernen Anarchismus: „[I]f Marxism and classical anarchism retain too much of the language of bourgeois political economy, postmodern anarchism offers a transsemiotic revolution grounded in radical symbolic [Hervorhebung im Original – d. 121 | Folgt man Reinharts Interpretation, hat Acker in Don Quixote auf subtextueller Ebene gewisse his torische Analogien zwischen dem Spanien der 1930er und den USA der 1980er Jahre diagnos tiziert: Vgl. Reinhart: a. a. O., S. 464. 122 | Reinhart: a. a. O., S. 458.

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Verf.] theory.“123 Nicht Marx, Kropotkin oder Bakunin liefern das theoretische Fundament für diese Revolution, sondern die zeichentheoretischen Überlegungen Jean Baudrillards: The semiotic sys tem of the modern world is, on Baudrillard’s reading, a universal and implicitly totalitarian sys tem which uses the languages of reason, science, and humanism to jus tify both the free markets of the Wes t and the centralized s tate planning of the Eas t. To transcend these twin sys tems of political and economic repression, we mus t find a way to s tep outside of the semiotics which authorize such sys tems.124

Wenn die gesamte zu überwindende Kultur, zugespitzt formuliert ein „totalitärer Text“ ist, muss der Code, nach dem sich die Zeichen zu diesem Text fügen, gesprengt werden. Nur durch eine Anarchie der Zeichen, die die ideologisch zementierte Verbindung von Signifikat und Signifikant auf bricht, lassen sich die vorherrschenden Konzepte von Realität, von Gesellschaft, von Identität und Subjektivität unterlaufen: Neu- oder Umcodierung werden möglich. Da Call sein Konzept des postmodernen Anarchismus, das mit Ackers Projekt vieles gemeinsam hat, mit Baudrillard begründet, erscheint es mir wichtig, einen kurzen Exkurs über Ackers Haltung zu diesem Philosophen zu machen. Denn anders als Call interpretiert sie die politisch-subversiven Potentiale seiner Theorien völlig anders. Baudrillard ist der einzige unter den prominenten Denkern der „French Theory“, von dem sich Acker in ihren Romanen, Essays und Interviews wiederholt und dezidiert distanziert hat. So betont sie zum Beispiel gegenüber McCaffery ihre Ablehung, („And I never took to Baudrillard’s work.“125), die sie auch mehrfach in ihren fiktionalen Texten zum Ausdruck gebracht hat. Zum Beispiel sieht R, der Hauptprotagonist von In Memoriam to Identity in ihm einen Verbündeten des Systems: „I’m sick of Baudrillard. The intellectual side of American postcapitalism. Cynicism.“ (IM 6) An einer anderen Stelle desselben Romans wird in einem von ihm rezitierten Gedicht die Figur des „Satan Triple-Master“ mit den hier eindeutig negativ besetzten Attributen „cynic, money-hungry, pupil of Baudrillard“ (IM 22) belegt. Der Grund für diese Angriffe ist in Ackers Ablehung von Baudrillards Simulationstheorie zu suchen, die man nicht teilen muss, ohne die sich aber bestimmte Bezüge in den Romanen nicht verstehen lassen. Wie Acker Baudrillards zeichenpolitisch basierte Marxismuskritik sieht, offenbart ein längeres, keinem klar identifizierbaren Sprecher zugeordnetes Theoriefragment im Pasolini-Roman: The separations between signifiers and their signifieds are widening. According to Baudrillard, the powers of pos t-capitalism are determining the increasing of these separations. Pos t-capitalis ts’ general s trategy right now is to render language (all that which signifies) abs trac t therefore easily manipulable. For example: money. Another example is commodity value. Here Baudrillard differs from Marx: according to 123 | Call: a. a. O., S. 23. 124 | Ebd., S. 90f. 125 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 89.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Baudrillard, political power is determining economy. In the case of language and of economy the signified and the ac tual objec ts have no value don’t exis t or else have only whatever values those who control the signifiers assign to them. (PPP 340)

Zwar vertritt auch Acker die Ansicht, dass die Sprache im Spätkapitalismus als kulturelles Kontrollsystem funktioniert und die „Realität“ in der subjektiven Erfahrung durch eine ideologische Wahrnehmungsmatrix konstruiert wird, doch sie geht nie so weit, auch bestimmte materielle Gegebenheiten als Simulationen zu bezeichnen. Wie Ebbesen hat richtig analysiert hat, ist Baudrillard’s vision […] not exac tly what Acker has in mind. Certainly, her position bears some [Hervorhebung im Original – d. Verf.] similarity to Baudrillard’s, but there remain decisive differences, and I would maintain the mos t important difference has to do with Baudrillard’s s teadfas t assertion that in pos tmodernity simulation alone exis ts. To put the objec tion bluntly, this assertion flies in the face of Acker’s philosophy of writing and her vision of the text. Firs t, Acker’s texts clearly have worldly goals, if by ,goals‘ one means the changing of real [Hervorhebnung im Original – d. Verf.] – not simulated – social and economic conditions.126

Baudrillard ist für Acker ein postmoderner Nihilist im negativen Sinn, der es versäumt, die kreativen Möglichkeiten, die sich aus der Dekonstruktion von Realitätsnarrativen ergeben, zu produktiver, widerständiger Veränderung zu nutzen: „[T]hat’s what Baudrillard looks to me, he wallows in his own nihilism. Not that Baudrillard is apolitical, it’s not apolitical at all, but it’s a different sort of politics. He’s made his point and things have gone on. [meine Hervorheung – d. Verf.]“127 Aus der Perspektive von Ackers appropriativem Transgressionsverständnis macht Baudrillard nur den ersten Schritt und lässt die entkontextualisierten Signifikanten in sträf licher Weise liegen. Seine Form von Dekonstruktion evoziert ihrer Ansicht nach keinen „dritten Raum“, in dem es zu einer politisch nutzbaren kreativen Umcodierung von Identitäts- und Wirklichkeitsnarrativen kommt, sondern vielmehr eine Sackgasse, die Acker polemisch als „Baudrillard’s black hole“128 bezeichnet hat, in dem die „freien Signifikanten“ wirkungslos verschwinden, was letztendlich zu einer Affirmation des spätkapitalistischen Systems führt. Acker ist sich durchaus darüber im Karen, dass sich der Rebell der postmodernen Welt mit den abstrakten Begriff lichkeiten auseinandersetzen muss, wenn er langfristig über die Ebene der Subjektivität die gesamte Gesellschaft verändern will. So heißt es in Empire of the Senseless: „The realm of the outlaw has become redefined: today, the wild places which excite the most profound thinkers are conceptional.“ (EoS 140) Anders als sein traditioneller Vorläufer, der durch die Zerschlagung von Institutionen Befreiung zu erreichen hofft, bemüht sich der postmoderne Anarchist, dies durch 126 | Ebbesen: a. a. O., S. 187. 127 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 17. 128 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 93.

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eine Attacke auf die Symbol- und Denksysteme hinter den Institutionen zu erreichen: „Postmodern anarchism challenges an entire psychology and an entire semiotic structure which underwrite the dominant system of political economy. Such an anarchism seeks to undermine the very theoretical foundations of the capitalist economic order and all statist politics.“129 Der traditionelle moderne Anarchismus wendet sich gegen politische Zwangsysteme, der postmoderne gegen kulturelle. Seine Vorbilder findet der postmoderne Anarchist konsequenterweise auch eher in der Zeichentheorie und der Avantgardekunst als in der traditionellen politischen Philosophie. Er verfolgt ein „deeper project of semiotic liberation whose outlines have been sketched by Baudrillard, Debord, and the Situationists.“130 Genau für einen solchen postmodernen Anarchismus der Zeichen bzw. der Sprache, der neue Formen von Zusammenleben und Subjektproduktion ermöglicht (ohne sie freilich garantieren zu können), plädiert Ackers Don Quixote. Denn die Sprache, die, wie Benedict Anderson gezeigt hat, in wesentlichem Maße dafür verantwortlich war, „imagined communities“ zu konstituieren, kann auch als Waffe gegen diese von außen zugewiesenen Kollektividentitäten eingesetzt und zur Konstuktion von neuen genutzt werden: Don Quixote Explained Poetry To The Dogs ,I write words to you whom I don’t and can’t know, to you who will always be other than and alien to me. These words sit on the edges of meanings and aren’t properly grammatical. For when there is no country, no community, the speakers unsure of which language to use, how to speak, if it’s possible to speak. Language is community. Dogs, I’m now inventing a community for you and me.‘ (DQ 191)

Die Dekonstruktion soziokultureller Eindeutigkeiten wird so für Don Quixote und ihre Hundemeute zur postmodernen anarchistischen Strategie einer neuen, in diesem Fall aber kollektiv ausgerichteten Identitätspolitik. Es geht nicht nur darum, die operative Fiktion des „Ich“ zu entgrenzen, sondern auch die Vorstellung von einem essentiellen „Wir“. Genau hier setzt jener semantische Terrorismus an, den Acker in Empire of the Senseless als Alternative zum politischen Radikalismus positioniert. Rhetorisch formuliert sie im Roman seine programmatischen Grundfragen: „What is language? Does anyone speak to anyone? Is language computer language, journalese, dictation of expectation an behaviour, announcement of the allowed possibilities or reality? Does language control like money?“ (EoS 164) Dass die Antwort auf die letzte Frage nur bejahend sein kann, ist klar. Der semantische Terrorismus greift die Machteffekte der Sprache an, indem er sich Deleuzes bereits beschriebener Taktik verschreibt, sich den multiplen Zugriffen der postmodernen Kontrollgesellschaften durch die Schaffung von störenden Unterbrechungen und „Zwischenräumen der Nicht-Kommunikation“ 129 | Call: a. a. O., S. 117f. 130 | Ebd. S. 130. Dass man Ackers Literatur angesichts ihrer Äs thetik durchaus als pos tmodern anarchis tisches Projekt bezeichnen kann, is t offenkundig.

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(s.o.) zu entziehen. Er ist der idealtypische Modus des Guerillakämpfers im „postmodernism of resistance“. In Empire of the Senseless werden Strategien des Mehrdeutigmachens und des damit verbundenen Unterlaufens hegemonialer symbolischer Ordnungen als erfolgversprechendes Gegenbeispiel zur Revolution der Algerier präsentiert, die, weil sie der Struktur binärer Eindeutigkeit verhaftet bleibt, ins Totalitäre kippt. Verkörpert wird diese semantische Revolte durch die Gruppe der „Moderns“. Auch hier handelt es sich nicht um eine eigene literarische Schöpfung Ackers. Die „Moderns“ entstammen William Gibsons im Jahr 1984 erschienenen Roman Neuromancer, aus dem sie bei der Komposition von Empire of the Senseless großzügig plagiiert hat. Diese Aneignung des Gründungstextes des Science-Fiction-Subgenres „Cyberpunk“ kann als weiterer Beleg für die enge Verwandtschaft zwischen Ackers Transgressionsverständnis und Calls Konzept vom postmodernen Anarchismus gelesen werden. Call versteht die Cyberpunkliteratur als idealtypisches postmodern-anarchistisches Genre, geht es ihr doch im Kern um ein „new concept of human subjectivity which is proudly different from the conventional Cartesian model.“131 Sie verfolgt somit ein ähnliches Projekt wie Ackers Literatur, ohne sich allerdings einer vergleichbaren experimentellen Ästhetik zu bedienen. Die Charakteristika, die Calls Ansicht nach die typische Figur des Revolutionärs im Cyberpunk ausmachen, sind weitestgehend kongruent mit dem typischen postmodern-transgressiven Ackerprotagonisten: These people, who shed conventional forms of consciousness and perception like some unnecessary modernis t skin, are perhaps the true revolutionary vanguard. They are beyond ideology. They have no s take in theoretically bankrupt dialec tical agendas. They experience power (and resis tance) at a capillary level, and perhaps even at a molecular level.132

Die Gruppe der „Moderns“, die Acker in Empire of the Senseless auftreten lässt, sind eine kaum veränderte Aneignung der „Panther Moderns“ aus Gibsons Neuromancer. Für Call sind sie die idealtypischen postmodernen Anarchisten: Part Black Panther, part Situationis t, part Merry Pranks ter, the ironically named Moderns articulate an aggressive, violent ges tural politics[.] […] They are revolutionaries for a pos tmodern world, and although their political prac tice does contain a real component, much of what they do happens on the virtual terrain of image, media and matrix.133

Die Rebellion der „Moderns“ in Ackers Roman richtet sich nicht wie die der algerischen Revolutionäre gegen den Staat und sein politisches System, sondern greift die tiefer liegenden kulturellen Ordnungsstrukturen der postmodernen Kontrollgesellschaften an. Ihr Guerillakampf lässt sich als „non-reality terrorism“ (EoS 35) bezeich131 | Ebd. S. 118. 132 | Ebd. S. 24. 133 | Ebd. S. 121.

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nen. Zweifellos klingt hier auch Burroughs’ immer wieder geäußerter Aufruf zum Sturm auf das „Reality Studio“ an. Mit den „Moderns“ führt Acker zudem eine Form des postmodernen Untergrundkämpfers in ihren literarischen Kosmos ein, der in den 1980er Jahren erstmals die Bühne betrat und angesichts der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche zum Sinnbild des postmodernen, dezentralen aber dennoch politischen Rebellen des Computerzeitalters wurde: Den Hacker. In ihm vereinen sich der Geist des Punks, des Piraten und des Anarchisten zu einer veritablen Subkultur mit großem subversivem Potential. Bedenkt man Ackers Methode des Plagiierens als literarische Technik, scheint eine gewisse Sympathie für diese Szene naheliegend, lehnen sie doch ebenfalls den das Konzept des Besitzes und die kommerzielle Verwertung von geistigem Eigentum aus politischen Gründen ab. Außerdem greift sie die für die Cyberpunkliteratur der 1980er typische Heroisierung des Hackers als Rebellen auf (jedoch nicht, ohne sie kritisch zu reflektieren, wie ich weiter unten noch zeigen werde): „Cyberpunk portrays the amalgamation of the technological knowledge of hackers with the antiestablishment ethos of the punk rocker.“134 Gerade in seinem Gebrauch der Technik ist der Hacker ein dezidiert postmodernes Phänomen: Er versucht nicht, die Technologie, die den hegemonialen Kräften zur Kontrolle dient, zu zerstören, sondern nutzt sie, dringt viral über sie in die Macht ein und versucht, sie von innen zu sabotieren. Acker beschreibt die Moderns als lose zusammenhängende Gruppe, die ihre Freiheitsutopie nicht in einem wie auch immer gearteten Außen suchen, sondern in permanenter Bewegung: „The modern Terrorists are a new version, a modern version, so to speak, of the hoboes of the 1930s USA“ (EoS 35). Als nomadische Außenseiter, die für ihre Gegner schwer zu fassen sind, können sie die Kontrollmechanismen der ökonomischen Ordnung unterlaufen: Jus t as those haters of all work, (work being that situation in which they were being totally controlled; the controllers didn’t work), as far as they were able to take over their contemporary lines of communication, so these Terroris ts, being aware of the huge extent to which the media now divorce the ac t if terrorism from the original socioploitical intent, were not so much nihilis ts as fetishis ts. (EoS 35)

Als Hacker ist ihr Fetisch die freie Information oder, um es anders auszudrücken, das (herrschafts)freie, referenzlose, für neue Kombinationen offene Zeichen. Die Passage, in der Acker eine Hackerattacke der „Moderns“ beschreibt, ist größtenteils aus Gibsons Neuromancer plagiiert, weswegen viele der dort angedeuteten narrativen Stränge und Motive ohne Anknüpfung an andere Handlungsfragmente in Empire of the Senseless versanden.135 Dennoch kommt diesem Abschnitt große Be-

134 | Paul A. Taylor: Hackers. Crime in the Digital Sublime, London und New York 1999, S. 169. 135 | Verschiedne Kritiker haben sich die Mühe gemacht, die genaue Herkunft einiger Texts tellen aus Neuromancer herauszuarbeiten. Vgl. dazu: House: a. a. O., S. 463, FN 6; Brian McHale: Cons truc ting Pos tmodernism, London und New York 1992, S. 239ff.

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deutung zu, weil er beispielhaft zeigt, wie ein Terrorismus der Nicht-Kommunikation (im Sinne von Deleuze) kurzlebige Widerstandsräume erzeugen kann, in denen alternative Formen von Subjektivität zumindest für den Moment möglich werden. Thivai, der Pirat, sucht die Allianz mit den „Moderns“, um an einen nicht näher definierten „Code“ zu gelangen: „I need to find a code for a certain construct.“ (EoS 35) Es bleibt an dieser Stelle relativ unscharf, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. In einem Gespräch mit Abhor äußert Thivai allerdings kurz vorher folgenden Satz: „All I know is that we have to reach this construct. And her name’s Kathy.“ (EoS 34) Diese etwas kryptische Aussage lässt sich auch angesichts des folgenden Handlungsverlauf dahin deuten, dass der Begriff „Code“ hier für den Schlüssel zur permanenten Neucodierung von Subjektivität – sowohl der Romanfiguren, als auch ihrer Autorin – jenseits der hegemonialen Symbolsysteme steht, die Call als typisch für den postmodernen Anarchisten definiert hat. Dieser begehrte, befreiende Code ist in der „CIA library“ verborgen, auf die die „Moderns“ einen digitalen terroristischen Angriff vorbereiten (vgl. EoS 36). Die meisten Interpreten nehmen den Begriff der CIA wörtlich und sehen in ihm die tatsächlich existierende Geheimdienstinstitution. Diese Interpretationen sind keineswegs falsch, aber sie übersehen, dass hier noch eine zweite Bedeutung mitschwingt: Der Begriff CIA steht im Roman immer wieder synonym für den neoliberalen Zeitgeist der Reaganjahre, in dem sich die Außenseiterprotagonisten ausgeschlossen fühlen. Exemplarisch hierfür sei eine Aussage Thivais zitiert: „I had been thrown by the CIA into the isolation of air. Who descended into nihilism, who descended deep than nihilism into the grey of yuppy life (the worship of commodities, the belief that there is nothing left but commodities, who turn to the surfaces of class race money for reality, who despise taboo).“ (EoS 147) Dahinter wiederum steht der multinationale Konsumkapitalismus, der unabhängig vom politischen System funktioniert: „[T] hough the Algerians had taken over Paris, the American CIA still ran everything[.]“ (EoS 198) Zwangsläufig muss die Auf lehnung, wenn sie Erfolg haben will, am ideologischen System dieser „CIA“ ansetzen. Die Bibliothek, auf die die „Moderns“ ihren Hackerangriff starten, ist die logische Metapher für die Grammatik der kulturellen Erfahrungs-, Wahrnehmungs-, Wissens- und Erfahrungsmatrix, in deren Rahmen diese yuppieske Form der Subjektivität produziert und kontrolliert wird: „The library was the American Intelligence’s central control network, its memory, what constituted its perception and understanding. (A hypothesis of the political uses of culture.) It was called MAINLINE. The perception based on culture is a drug, a necessity for sociopolitical control.“ (EoS 35) So ist Wahrnehmung, ganz im Sinne des Radikalen Konstruktivismus zunächst „a philosophical problem“ (EoS 27), dessen Kontrollfunktionen nur durch die Subversion der Wahrnehmungsmatrix aufgehoben werden können. Die Attacke auf die symbolische Ordnung der Gesellschaftsstruktur zielt auf deren vermeintliche Eindeutigkeit ab: „The Modernists [sic!] planned to shoot misinformation into MAINLINE’s internal video. Due to the misinformation each video screen would strobe for twenty seconds in a frequency that would cause the constructs and other robot viewers to have seizures.“ (EoS 36f.) Es erscheint hier beinahe wie

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ein Allgemeinplatz, darauf hinzuweisen, dass mit den „constructs and robot viewers“ die Individuen als Produkte der Gesellschaftsordnung gemeint sind. Am Ende diese Angriffs steht der totale Zusammenbruch der etablierten symbolischen Ordnung: „The Terrorists would be happy when two minutes later their infiltrated message ended with the main system’s end in white noise. The Terrorists were happy.“ (EoS 37) Doch trotz dieses Triumphs sind die „Moderns“ nicht an einer Neuordnung der symbolischen Ordnung interessiert. Hier kritisiert Acker die Heroisierung, die in cyberpunkaffinen Milieus um die Hacker betrieben wurde (s.o.). Sie subvertieren zwar die Ordnung, nehmen dann aber die Möglichkeit nicht wahr, aus ihren Trümmern individuelle oder kollektive Alternativen aufzubauen. Man muss sie als Jünger Baudrillards – zumindest in dem Sinn wie Acker ihn interpretiert – verstehen. Sie nutzen die von ihnen fetischisierte freie Information, das neu kombinierbare Zeichen nicht kreativ, um sich an einer „Subjektivität des Werdens“ zu beteiligen. Thivai moniert ihre Einstellung zu „their work, terrorism: they didn’t give a damn. They just wanted to have fun. Like parrots, they become easily bored.“ (EoS 36) Der gegen die Konstrukte von Realität gerichtete Terrorismus mag vielleicht ein guter „place to start because one has to start somewhere“ (EoS 35) sein, als Geste um ihrer selbst Willen ist sie für Acker zu wenig. So werden die „Moderns“ nur – typisch für den postmodernen Anarchismus – zu temporären Alliierten für Thivai: „I never actually worked with the Moderns, but then I only work with people out of my need.“ (EoS 36) Die Allianz hat nun ihren Zweck erfüllt. Was der Dekonstruktion folgen muss ist eine Phase der kreativen Affirmation. Thivai kann den verfügbaren „Code“ für eine Neukonstruktion von Subjektivität nützen: Inside the library’s research department, the cons truc t cunt inserted a sub-programme into that part of the video network. The sub-programme altered certain core cus todial commands so that she could retrieve the code. The code said: GET RID OF MEANING: YOUR MIND IS A NIGHTMARE THAT HAS BEEN EATING YOU: NOW EAT YOUR MIND. The code would lead me to the human cons truc t who would lead me to, or allow me, my drug. (EoS 37f.)

An dieser Stelle geht es nicht um Thivais Drogensucht, sondern um die oben zitierte Art von Narkotikum für die Gesellschaft: Eine kulturell überformte Wahrnehmungsmatrix, durch die die Gesellschaft kontrolliert wird. Thivai hat nun eine neue „Droge“, sprich: die Möglichkeit einer neuen semantischen Ordnung, die, um es mit Huxley zu sagen, neue „Pforten der Wahrnehmung“ eröffnen und damit alternative Codierungen von Subjektivität zulassen kann – mit offenem Ausgang. Die revolutionäre Allianz mit anderen war vor diesem Hintergrund kein ideologischer Kreuzzug einer Bewegung, sondern temporäres kollektives Handeln, das als Mittel zur Neukonzeption des Individuums dient.

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K ÜNS TLER Les Poètes maudits: Rimbaud und Verlaine Unter den verschiedenen Handlungs- und Motivsträngen in Ackers Roman In Memoriam to Identity nimmt die legendäre Amour fou zwischen Arthur Rimbaud und Paul Verlaine in den 1870er Jahren einen breiten Raum ein. Dieser historische Stoff drängt sich für Ackers literarische Revision transgressiver Mythen geradezu auf, verbindet sich hier doch das für sie so zentrale Motiv der affekthaften, intensiven Liebe als Gegendiskurs zur zweckgeleiteten Ratio mit dem nachhaltigsten Rollenbild vom grenzüberschreitenden Künstler – dem Poète maudit. Um zu zeigen, wie sehr Rimbaud und Verlaine dieses Bild in der Rezeption geprägt haben, sei einmal mehr auf Hans Mayers verdienstvolle Studie über die Außenseiter verwiesen. Mayer sieht gerade in Rimbaud den prototypischen KünstlerAußenseiter der Moderne, in dem sich das transgressive Projekt der klassischen Avantgarde – die Zusammenführung von Kunst und Leben – erfüllt. Rimbaud ist für ihn ein „Aktivist seiner Erfahrungen, der poetischen wie der anderen“, der versucht hat, „eine Antimoral und Antiästhetik nicht bloß zu konzipieren, sondern auch zu praktizieren.“136 Seine Biographie und vor allem seine turbulente Beziehung zu Paul Verlaine überschritt beinahe alle Grenzen der bürgerlichen Werteordnung der damaligen Zeit. Rimbaud stammte aus einem Milieu, das geradezu klischeehaft nach Übertretung zu verlangen scheint. Er wurde am 20. Oktober 1854 in dem französischen Provinzdorf Charleville in eine kleinbürgerliche Familie geboren, die ihm die für diese soziale Umgebung typischen engen Grenzen im Hinblick auf Erfahrung und Selbstverwirklichung setzte. Rimbauds Vater war Soldat und daher oft von der Familie getrennt. Als Arthur sechs Jahre alt war, verließ er sie endgültig. So kam der stark vom Katholizismus – einer der wesentlichen ideologischen Säulen des französischen Bürgertums – geprägten Mutter, die im Spannungsfeld zwischen sozialen Aufstiegsträumen und Abstiegsängsten mit großer Strenge über die moralische und schulische Entwicklung ihrer vier Kinder wachte, die alleinige Erziehungsarbeit zu. Die intellektuelle und moralische Enge dieser kleinbürgerlichen Welt steckte die Grenzen ab, die der junge Rimbaud – sich spätestens seit seiner Pubertät aufgrund seiner homoerotischen Neigungen und seiner künstlerischen Ambitionen seines Andersseins bewusst – übertreten sollte. Im Alter von 16 Jahren unternahm er inmitten der Wirren des Deutsch-Französischen Krieges seinen ersten Ausbruchsversuch: Ohne Geld versuchte er sich nach Paris durchzuschlagen und wurde schließlich von der Polizei zu seiner Mutter in die Provinz zurückgebracht. Ein Jahr später schrieb er an den zehn Jahre älteren und von ihm verehrten Dichter Paul Verlaine, der ihn darauf hin nach Paris einlud und ihn in die Welt der dortigen Künstlerbohème einführte. Die Begegnung war für beide schicksal136 | Mayer: Außenseiter: a. a. O., S. 239.

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haft. Verlaine, der bereits etablierte, schwer alkoholkranke Dichter, versuchte zu diesem Zeitpunkt gerade, sein Leben als Bohemien hinter sich zu lassen, um sich eine Existenz als „respektabler“ Bürger aufzubauen. Seine Frau Mathilde erwartete zu diesem Zeitpunkt gerade ein Kind, was ihn nicht daran hinderte, eine stürmische Affäre mit dem jungen Rimbaud zu beginnen, die von diversen Grenzüberschreitungen und Konflikten geprägt war. Verlaines Versuche, aus seiner bürgerlichen Ehe auszubrechen; seine Zerrissenheit zwischen den Konventionen seiner Zeit und seinen Gefühlen für Rimbaud; die gemeinsamen Fluchtversuche nach England und Belgien; die Drogen- und Gewaltexzesse – alles klassische Kennzeichen von Transgression, die Mayer als Belege für das promethische Außenseitertum der beiden Künstler anführt: Von Anfang an die Skandale. Der junge Rimbaud als Ehes törer. Der Absinthrausch, aber der Junge kann mehr vertragen, während der betrunkene Verlaine in einen s tümperhaften Mörder sich zu verwandeln pflegt: am 13. Januar 1872 erwürgt er beinahe seine Frau, bittet eine Woche später um Vergebung; am 10. Juli schießt er in Brüssel auf Rimbaud, verlet zt ihn am Handgelenk und bringt ihn dann zerknirscht ins Krankenhaus.137

Dieser Angriff führte zum Zerwürfnis zwischen den beiden Dichtern, Verlaine wurde dafür sogar zu einer Haftstrafe verurteilt. Rimbaud kehrte in sein Elternhaus, aus dem er geflohen war, zurück und vollendete mit den Gedichtzyklen Une saison en enfer und Illumniations seine beiden wichtigsten literarischen Werke, ehe er im Alter von 21 Jahren das Schreiben endgültig aufgab. Doch es hielt ihn nicht lange am als unerträglich empfundenen Ort seiner Kindheit. Auch nach seiner Abkehr von der Kunst blieb er ein unsteter Grenzgänger, nun vor allem im geographischen Sinn. Er reiste ständig durch Europa und Afrika und versuchte sich in verschiedenen Berufen (u.a. als Kaffee- und Waffenhändler), ohne sich jemals eine bürgerliche Existenz im traditionellen Sinn auf bauen zu können. Am 10. November 1891 starb er schließlich im Alter von 37 Jahren an Krebs. Verletzung der bürgerlichen Moral in Form einer homosexuellen Beziehung, Rausch, Exzess, Gewalt verbunden mit ästhetisch innovativer, antibürgerlicher Dichtung, Armut, Bohème: In Gestalt von Rimbaud und Verlaine findet der Mythos des verfemten Dichters, des Poète maudit, der seinen Namen ja überhaupt erst durch Verlaines über eine Dekade nach der Amour fou mit Rimbaud erschienenen Schrift Les Poètes maudits bekommen hat, seine Vollendung. Verlaine hat in diesem Werk einer Ausprägung des Phänomens des Künstler-Außenseiters einen Namen gegeben, das schon lange existierte: The concept of the poètes maudits [Hervorhebung im Original – d. Verf.] – certainly not a new one by the time Verlaine’s essays were published initially in 1883 – was immediately recognized as one that had long exis ted. The notion of accursed poets was now applied retrospec tively to artis ts of earlier times. Verlaine 137 | Ebd., S. 234.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN thus happens to have originated one of the mos t widespread critical myths of the nineteenth and twentieth centuries.138

Dieser Typus des Künstlers ist die charakteristische Künstlerfigur des Transgressionskonzepts der Moderne: Durch die Gesellschaft seines „wahren Selbst“ entfremdet und daher „ill-adapted to his environment“139, sprengt er die engen Grenzen von subjektiver Erfahrung und Identität, die ihm durch Normierung und Sozialisation durch die Gesellschaft auferlegt wurden. Er tut dies nicht ausschließlich auf der Ebene der ästhetischen Erfahrung. Seine Kunst ist inhaltlich gegen die hegemoniale Kultur gerichtet, doch diese Dimension allein macht ihn noch nicht zu einer Leitfigur der Transgression. Der Poète maudit ist immer auch Avantgardist, er führt seine transgressiven Inhalte aus der Sphäre der Kunst heraus ins Leben und stellt sich in Opposition zur an der instrumentellen Vernunft orientierten, kapitalistisch-industriellen Ordnung der Moderne: „The middle of the nineteenth century was a period that gave rise to the phenomenon of the poètes maudits [Hervorhebung im Original – d. Verf.], driven to Bohemia and to starvation by the creed of a materialistic society.“140 Als Bohemien stellt sich der verfemte Dichter seinem Selbstverständnis nach bewusst und absichtlich außerhalb der bürgerlichen Ordnung. Er stilisiert sich offensiv und durchaus provokant als Außenseiter, was seinen Überschreitungen eine ausgeprägte performative Ebene verleiht. Die Bohème bietet ihm jenen Raum des authentischen Außen, jenseits sozialer Konventionen und Beschränkungen, in dem er die gesellschaftliche Entfremdung überwinden kann. Sein Dasein wird zum Skandal für den Bürger, der im Poète maudit mit seinem ausgegrenzten und verdrängten „Anderen“ konfrontiert wird, sich aber dabei gleichzeitig durch dieses „Andere“ seiner eigenen Identität versichern kann. Ross Wetzsteon hat deutlich gemacht, wie sehr diese Abgrenzungs- und Ausschlussprozesse für beide Seiten identitätsstiftend waren: [M]iddle- class assaults on bohemia followed so closely upon its birth that criticism of its values became almos t as central to its definition as articulation of its vision. Bohemia welcomed artis tically inspired, politically disaffec ted renegades living in carefree disarray – and encouraged pseudo-artis tic, politically irresponsible outcas ts living in unthinkable debauchery. Bohemia rejec ted hypocritical morality – and had no moral s tandards. Bohemia repudiated conventional working hours and domes tic arrangements – and flaunted its slovenly habits and uns table relationships. Bohemia condemned a money-driven society – and parasitically depended on others to support it. Bohemia educated itself into self-expression – and sank into self-indulgence.141 138 | Diana Fes tal-McCormick: „The Myth of the Poètes Maudits“, in: Robert L. Mitchell: Pre-Text, Text, Context – Essays on Nineteenth-Century French Literature, Columbus 1980, S. 199–215, hier: S. 209. 139 | Ebd., S. 199. 140 | Ebd., S. 202. 141 | Ross Wet zs teon: Republic of Dreams – Greenwich Village: The American Bohemia, 1910–1960, New York 2002, S. 8. Bohème is t dabei, wie der ihr verwandte Begriff der Avantgarde nicht als his torisches

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Die Überhöhung des Poète Maudit als Symbolfigur des sich von der Gesellschaft abwendenden Künstlers hat in der Rezeption von Rimbauds Leben und Werk in verschiedenen Formen Ausdruck gefunden. Edmund White, einer der zahlreichen Biographen des Dichters, hat zusammengefasst, wie nachhaltig der „Mythos Rimbaud“ sowohl die modernen Avantgarden als auch die Popkultur inspiriert hat: [T]he Surrealis ts […] declared Rimbaud one of their formative influences and precursors. […] Marcel Prous t wrote that he was ,almos t superhuman.‘ Bob Dylan in a song lyric said, ,Relationships have all been bad, mine have been like Verlaine’s and Rimbaud’s‘ […]. Patty Smith wrote a song called ,Eas ter‘ about Rimbaud’s firs t communion. Jim Morrison claimed Rimbaud as his ,mas ter‘. Antonin Artaud announced that Rimbaud had been killed ,because they wanted to kill him.‘ (The ,they‘ was never made clear.) Milan Kundera wrote that in 1968 ,thousands of Rimbauds‘ took to the barricades in the worldwide s tudent rebellions. Jack Kerouac wrote a poem to Rimbaud – in fac t all the Beats honored the man who had called for a sys tematic disordering of the senses.142

Dieser Aufzählung wäre in jedem Fall auch noch das Buch The Time of the Assassins. A Study of Rimbaud hinzuzufügen, das Henry Miller, selbst eine Ikone avantgardistischer Überschreitung, im Jahr 1946 verfasst hat. Auch Paul Verlaine, der vermeintlich weniger schillernde Pol des Duos, wirkte als Inspirationsfigur nach und stand beispielsweise dem Musiker Thomas Miller Pate, der unter dem Künstlernamen Tom Verlaine als Kopf der Avantgarderockband Television firmierte, die durch ihre Auftritte in der Undergroundszene des East Village Mitte der 1970er Jahre stilbildend für die Punkbewegung war. Angesichts dieser nachhaltigen Wirkung überrascht es nicht, dass Acker Rimbaud und Verlaine zum Gegenstand ihrer Reformulierung jenes Mythos vom AußenseiterKünstler nimmt, den sie auch in ihrer eigenen Biographie in verschiedenen Ausformungen zu leben versucht und in ihrem Werk immer wieder aufgerufen hat. Besonders zu Rimbaud, den White nicht nur als „exalted revolutionary“, sondern auch als „the most experimental poet of his day, someone who in the four short years of his career managed to have three utterly different styles“143 beschreibt, hat sie in vielerlei Hinsicht eine Verwandtschaft gefühlt. Im Interview mit Ellen G. Friedman äußerte sie sich dazu folgendermaßen: I chose Rimbaud because I wanted to remember who influenced me, to explore the his tory of the imagination, and of dreaming and of art, how art can matter politically in a society [meine HervorhePhänomen, sondern als aktualisierbares Vers tändnis des Verhältnisses von Kuns t und Leben in Opposition zu den hegemonialen Werten der Gesellschaft zu betrachten. Die Mittelklasse, die spätes tens nach dem 2. Weltkrieg zur dominanten Klasse in den wes tlichen Gesellschaften wurde, is t in ihrer Werteorientierung im Kern bürgerlich. Deshalb können beide Begriffe, zumindes t im Hinblick auf die in dieser Arbeit untersuchten Fragen, synonym verwendet werden. 142 | Edmund White: Rimbaud – The Double Life of a Rebel, New York 2008, S. 184f. 143 | Ebd. S. 5.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN bung – d. Verf.]. For me, one lineage that I’ve come out of is Rimbaud. So to inves tigate Rimbaud is to go back to the beginning of me.144

Dennoch hat sie, in ihrer Skepsis gegenüber jeder Form der Heldenverehrung, kein unreflektiertes und schwärmerisches Loblied auf den Dichter geschrieben, sondern sein Schicksal zum Anlass genommen, die in der Moderne stattgefundene Heroisierung des Außenseiterkünstlers kritisch zu hinterfragen. In In Memoriam to Identity appropriiert sie in ihrer typischen Art Versatzstücke der zur Legende geronnenen Originalgeschichte der skandalträchtigen Beziehung von Rimbaud und Verlaine und setzt dieses Material in neue Kontexte, was zwangsläufig zu Brüchen im Mythos führen muss. Die erste dieser Verwerfungen wird schon bei der Frage deutlich, auf Basis welcher Realität dieser Mythos im Roman erzählt wird. Die Überschreitungen der beiden Poètes maudits finden nicht in einer klar verorteten fiktionalen Wirklichkeit statt. Das Frankreich, das Acker in In Memoriam to Identity präsentiert, ist ein für die liminale Realität ihrer Romane typischer ahistorischer und ageographischer Ort, der zwar auf zahlreiche geographische und historische Referenzpunkte verweist, ohne aber wirklich fassbar zu sein. Acker sabotiert eine genaue geschichtliche Verortung bewusst, indem sie verschiedene Zeit- und Ortsangaben ineinander verschachtelt. So wie sie in ihren Texten weitgehend auf lineare Erzählmuster verzichtet, bricht sie hier mit dem Konzept des geradlinigen, zusammenhängenden Geschichtsnarrativs. Man kann die im Roman präsentierte historische Umgebung in ihrer Struktur durchaus als rhizomatisch bezeichnen, da keines der angeschnitten Geschichtsnarrative als das „wirkliche“ privilegiert wird, alle jedoch in einem diskursiven Netz miteinander verbunden sind. Die Historie dient Acker als Steinbruch, aus dem sie das Material für dieses Gewebe holt. Figuren und Ereignisse aus verschiedene Zeitepochen werden im Text miteinander verknüpft, lassen sich aber niemals eindeutig einem kohärenten Raum- und Zeitmodell zuordnen. Der daraus erwachsene antirealistische Motivund Geschichtseklektizismus mag bei flüchtiger Betrachtung als avantgardistische Verstörungstechnik oder als postmodernes Verwirrspiel erscheinen, bei eingehender Analyse merkt man aber, dass es Acker an bestimmten Schnittstellen um konkrete Gesellschafts- und Kulturkritik geht. Die entstehenden Bedeutungsverknüpfungen sind nicht so arbiträr, wie sie bei oberflächlicher Lektüre erscheinen. Acker nutzt sie gezielt, um verschiedene strukturelle Gleichartigkeiten von Phänomenen aus verschiedenen Epochen der Moderne aufzuzeigen. So befindet sich das Frankreich des Romans unter der Besatzung deutscher Invasionstruppen. Acker nimmt damit einerseits auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 Bezug, der den realgeschichtlichen Hintergrund für die ersten sozialen Überschreitungen des historischen Rimbaud darstellt.145 Gleichzeitig verschränkt 144 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 22. 145 | So unternahm der damals 16jährige Rimbaud den bereits erwähnten ers ten Ausbruchsversuch aus Charleville nach Paris wenige Woche nach Ausbruch dieses Krieges im Sommer 1870, wurde dort als

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sie diese Zeitebene mit der Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs, etwa wenn ihre Rimbaudfigur, die im Roman schlicht R heißt, ein Gedicht mit dem Titel „To the Germans both Nazis and Peaceniks“ (IM 22f.) vorträgt oder seinen Lehrer „Father Fist“ als „the vampire, the bloodsucker, Nazi.“ (IM 12) beschimpft. Dazu kommen zahlreiche weitere Sprünge aus jeder Zeitkontinuität, etwa wenn R sich darüber beklagt, es sei das Ziel der deutsch-französischen Kollaborationsregierung, „to turn people into TV zombies and corpses“ (IM 7) und damit ein immer wiederkehrendes Argument der Medienkritik des 20. Jahrhunderts parodiert. Besonders interessant ist, dass dieses historische Mosaik Acker auch als Folie für einen Kommentar über den Zustand der spätkapitalistischen Welt zur Entstehungszeit des Romans, also Ende der 1980er Jahre (der Roman ist 1990 erschienen) dient. Sie macht dezidiert deutlich, dass die fiktionale Wirklichkeit (auch wenn sie nicht den Konventionen „realistischer“ Literatur entspricht), durch die sich ihre Protagonisten bewegen, nicht nur das historische Frankreich zur Zeit Rimbauds und Verlaines ist, sondern metaphorisch für die politische und soziale Situation in den USA steht: „This society isn’t France; it’s America.“ (IM 6) Dieser historische Pastiche hat nicht nur die Erschütterung des traditionellen Verständnisses von Raum und Zeit zum Ziel, sondern ermöglicht auch kritische Analogisierungen zum Zeitgeschehen. So werden die deutschen Invasoren bei Acker zu Vorkämpfern der reaktionären Bestrebungen der Reagan-Ära: „At this moment liberals think bums should be saved and made into yuppies. Like themselves. The yuppies are the Germans. [meine Hervorhebung – d. Verf.]“ (IM 7). Die Besetzung durch die Deutschen/Yuppies findet in einer Zeit der Heimsuchung durch „AIDS and other germs“ (IM 7) statt. Die beiden assoziierten Kriege funktionieren als Analogien für den Kulturkampf zwischen den Deutschen bzw. Yuppies, die die neokonservative Agenda Reagans repräsentieren, gegen die Franzosen, die hier mit ihrem „poetical, frivolous streak“ (IM 19) die progressiven Kräfte in der Gesellschaft symbolisieren. Die „Germans“ (die hier implizite Analogisierung zwischen deutschem Faschismus und der amerikanischen Neuen Rechten ist sicher kein Zufall) haben es sich zum Ziel gesetzt, die durch die „Liberals“ in Frage gestellte Diskurshoheit über die in erster Linie den Bedürfnissen des Kapitalismus dienenden Subjektproduktion zu reimplementieren. Wieder benutzt Acker die Schule als Metapher für die Beschreibung dieser gesellschaftlichen Prozesse: „First, we’ll close all the free schools whose lessons have turned lower and lower-middle-class mongrels into poets, painters, and fashion designers. We only want laborers.“ (IM 19). Die Werteorientierung dieser Subjektproduktion folgt der religiös-konservativen Ideologie der Neuen Rechten: „After we have impoverished a socialist educational system and transformed education based on questioning into one based on religious – that is, political – doctrine, we shall directly wage war on those who are Lands treicher verhaftet und erlebte die Kapitulation Napoleons III. in einer Pariser Gefängniszelle, ehe er wieder zu seiner Mutter zurückgeschickt wurde (vgl. hierzu: Edmund White: a. a. O., S. 30ff.)

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unemployed and still alive.“ (IM 19) Den reaktionären Kräften geht es um die Restitution der Hierarchie der ökonomischen und kulturellen Dualismen, deren unumstößliche Gültigkeit seit der kulturellen Revolution der 1960er zunehmend in Frage gestellt wurde. Diese Rebellion hat an gewissen Konstanten der bürgerlichen Ordnung gesägt, aber sie ist gemessen an ihren Zielen – auch in diesem Roman bleibt Acker dieser Ansicht treu – letztendlich an ihren inneren Widersprüchen gescheitert. Einer davon war der nachhaltige Elitismus vieler dieser Protestbewegungen: „These French aren’t ready for revolution. Before the Germans conquered them, the French scummy masses thought they could work with their intelligentsia against their military government. The intelligentsia believe the lower classes are stupid.“ (IM 26) Der Schluss liegt nahe, dass Acker das „French“ hier wörtlich meint und dadurch eine weitere historische Ebene einführt. Diese Textstelle lässt sich als Referenz auf die Ereignisse im Mai 1968 in Paris deuten, als der gemeinsame Aufstand von Studenten- („intelligentsia“) und Arbeiterbewegung („scummy masses“) gegen die Regierung des ehemaligen Generals De Gaulle („their military government“) nicht zuletzt an unterschiedlichen kommunikativen Registern zwischen diesen beiden Gruppen gescheitert ist. In den Wirren dieser umkämpften Welt spielt Ackers Nach- oder besser Neudichtung des Mythos’ des legendären Dichterpaares. Durch die Verschachtelung der verschiedenen historischen Ebenen beschwört sie einen Dialog zwischen dem trangressiven Künstlerarchetypen des Poète Maudit des 19. und seinen Aktualisierungen im ausgehenden 20. Jahrhundert herauf, der verdeutlicht, dass diese separatistische Form der Lebensführung, ebenso wie ihre ästhetische Inszenierung schon in der Moderne nur beschränkte Befreiungspotentiale hatte und daher, zumindest in Teilen, für die Postmoderne neu verhandelt werden muss. Ackers Fokus liegt dabei weniger auf der Person Verlaines als auf Rimbaud, der in ihrer Version zu R, dem ungeliebten Kind von Madame Rimbaud wird: „R’s mother hated him because her husband, Captain Frédéric Rimbaud had hated children so much that when he had learnt that his wife was pregnant for the second time, he abandoned her for a second time.“ (IM 3)146 Die Ablehnung des Kindes durch seine Mutter geht soweit, dass seine Geburt mit Krankheit, es selbst mit einem störenden und letztendlich überflüssigen Teils des Körpers analogisiert wird: „On the day Mme. R had Jean Nicolas Arthur (R), she also had appendicitis.“ (IM 3) Hier wird bereits deutlich, dass Acker in In Memoriam to Identity die Lebensgeschichte Rimbauds sehr radikal auf der Basis ihres eigenen Gesellschaftsverständnisses interpretiert. Dennoch hält sie sich enger an ihre „Vorlage“, als sie es bei anderen Aneignungen getan hat – etwa im Fall von Cervantes’ Don Quixote, den sie mehr als Stichwortgeber denn als strukturelles Vorbild genutzt hat. Natürlich hat sie auch hier, ihrer üblichen Metho146 | Acker weicht hier leicht von den his torischen Fakten ab: „Five children in six years of marriage (four survived) was quick work, but it seems that Captain Rimbaud didn’t much like children and didn’t get along with his s tern and bigoted wife. One day in 1860, he left Charleville to join his regiment and never returned. Arthur was six.“ (Edmund White: a. a. O., S. 11.)

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de folgend, etliche Textbausteine anderer Herkunft eingearbeitet.147 Dennoch bleibt die Biographie des Dichters über weite Strecken des Buches sichtbar, auch wenn die Geschichte von R nicht als der Versuch einer kongruenten Nacherzählung der Biographie des historischen Rimbaud verstanden werden darf. Eine zentrale Rolle in dieser Verschränkung von biographischem und fiktionalem Schreiben nimmt Rs Mutter als Symbolfigur der Repression ein. White weist darauf hin, dass es der Grundtenor unter den Biographen der historischen Figur Rimbauds ist, Madame Rimbaud als „unfeeling, closed-minded woman“148 darzustellen, die den Keim für den Konflikt ihres Sohnes mit der Gesellschaft gepflanzt hat. Man kann es durchaus als Zeichen der Distanzierung verstehen, dass der heranwachsende historische Rimbaud seine Mutter tatsächlich auf Englisch als „the Mother“ betitelt hat.149 Acker macht in ihrer Version „the Mother“ zum Monster und damit zur einer der typischen ackerschen Mutterfiguren, die in ihren Romanen – so sie nicht durch Abwesenheit glänzen – durchweg negativ besetzt sind. Hier wird Madame Rimbaud zu einer geradezu dämonischen Instanz der Normierung und Unterdrückung. In ihr konzentriert sich die Kritik an der bürgerlichen Sozialisation im Einschließungsmilieu Familie, die für Acker immer ein Prozess psychischer und physischer Gewalt ist. Führt man sich die oben zitierte Aussage Ackers vor Augen, ihre Beschäftigung mit Rimbaud sei auch eine Auseinandersetzung mit ihren eigenen Anfängen, sind angesichts des problematischen Verhältnisses zu ihrer eigenen Mutter gewisse Parallelen zu ihrer eigenen Biographie nicht zu bestreiten. Beide hatten früh Probleme mit gesellschaftlichen Autoritäten, waren an Kunst interessiert, ausgesprochen gute Schüler, wuchsen vaterlos auf und fühlten sich von ihren Müttern vehement abgelehnt. R als Alter Ego der Autorin zu verstehen, wäre dennoch eine vereinfachende Fehlinterpretation. Acker geht es nicht um die literarische Verarbeitung eigener Erfahrungen und Traumata. Vielmehr nutzt sie die Parallelen zwischen ihrem und Rimbauds Leben bewusst als Material für ein Hybrid aus Biographie und Autobiographie, was die Autorität beider Gattungen der Lebensbeschreibung in Frage stellt. Der biographische Hintergrund bildet zusammen mit dem etablierten Klischee der herrischen Madame Rimbaud und Ackers genereller Ablehnung der familialistischen Ideologie die Basis für die teils radikalen Bilder, die sie im Roman findet, um die Sozialisation des Individuums in der bürgerlichen Ordnung zu kritisieren. Rs Er147 | Neben dem Handlungss trang um Rimbaud und Verlaine is t eine von der mittelalterlichen japanischen Schrifts tellerin Murasaki Shikibu inspirierte „Japanese Interlude“ sowie die Geschichte zweier weiblicher, in der pos tmodernen Gegenwart beheimateter Figuren namens „Airplane“ und „Capitol“ in dem Textgewebe erkennbar. Dazu kommen eine Reihe von Fragmenten autobiographischer und theoretischer Abhandlungen, sowie einige Illus trationen. Charles J. Stivale hat den mühevollen Versuch unternommen, die komplexe Struktur dieser Collage zu skizzieren. Vgl. Charles. J. Stivale: „Acker/Rimbaud: ,I‘-dentity Games“, in: Angelaki Dec. 1998, 3 (3), S. 137–42, besonders S. 140f. 148 | Edmund White: a. a. O., S. 14. 149 | Vgl. ebd., S. 55.

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ziehung wird als brutale Zurichtung geschildert, die jede Form von authentischem Leben und sinnlicher Erfahrung buchstäblich abtöten soll: The mother came to realize that she wasn’t the Virgin Mary though she was a mother. So in spite of god this draconian woman who could tolerate no slight to her authority decided to become the Mother of Maternal Crimes (MMC): she was going to murder pitiful R, not exac tly by killing him, but by des troying and annihilating every shred of his will and soul while he s till lived on. (IM 4)

Zu den „Maternal Crimes“ zählen die Unterdrückung der auf keimenden Sexualität des Heranwachsenden („R’s mother strutted into the room and told R to stop masturbating.“, IM 9), die Verdammung ihres homosexuellen Charakters („Why didn’t I have a scorpion? Why’d I give birth to a human homosexual?“, IM 3) sowie emotionale und intellektuelle Vernachlässigung („His mother taught him nothing, wanted nothing to do with him.“, IM 4). Wie der historische Rimbaud, dessen „Wesen so beschaffen war, dass er sich unweigerlich an den Grenzen stoßen musste, die die bürgerliche Welt ihm setzte“, wobei „die Mutter die erste Repräsentantin dieser bürgerlichen Welt für den Knaben war“150, sucht auch Ackers R nach Auswegen aus dem Spannungsfeld zwischen dem engen Normenkorsett des Kleinbürgertums und dem Wunsch nach grenzenloser Erfahrung und Ich-Erweiterung. Die strukturelle physische und psychische Gewalt, als die Acker die familialistische Sozialisation Rs inszeniert, löst letztendlich sein transgressives Verhalten aus: „Tied to his mother, the more miserable she made him, the more he did whatever he wanted.“ (IM 4) Neben der von der Mutter repräsentierten Familie wird vor allem die Schule, die, wie schon in Blood and Guts in High School, als Generalmetapher für die Normierungsinstanzen der Gesellschaft dient, zum Auslöser seiner Transgression. Acker bezeichnet Rs Schule, zu deren Besuch ihn seine Mutter mit körperlicher Gewalt zwingen muss, als „acting school“ (IM 9). Schauspiel wird hier als korrektes Ausagieren soziokulturell vorformulierter Rollen auf der Bühne des gesellschaftlichen Lebens verstanden, das jede Form von abweichender Individualität und Identität unter das Joch der Norm zwingen soll: „,Education,‘ one of R’s teachers taught, ,teaches you not to be yourself.“ (IM 9). Das Ziel des schulischen Erziehungsprozesses, wie er im Roman dargestellt wird, ist das funktionierende Individuum der modernen Gesellschaft, das Subjekt im foucaultschen Doppelsinn als von der Macht produziertes, ihr dabei stets unterworfenes „Ich“: „All education was games the teachers played with students or victims. Our teachers are playing games with us, games that they love us, games that we need them, so that they can carve us up into lobotomies and servants to a lobotomized society. So that we’ll learn to obey orders.“ (IM 13) Zwangsläufig fühlt sich R mit seinen devianten Bedürfnissen in diesem Umfeld isoliert: „In school, R contemplated suicide more times than he had before. He was too shy to have any friends.“ (IM 9) Er befindet sich in einem grundlegenden existentiellen Konflikt mit 150 | Thomas Eichhorn: „Nachwort: Das Schreiben und das Schweigen“, in: Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen, München 1997, S. 402–413, hier: S. 403.

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dem ihn umgebenden Provinzialismus, der nicht nur ein geographischer, sondern ein geistiger Zustand ist: ,I hate the fucking provinces,‘ R said to a friend, Charles Bretagne. ,No one cares about anything here. All these humans, taught by their pries ts, think that whores, ex-soldiers, riffraff are evil. The real evil is these people who’ll do anything to protec t their own safety. Whatever they think is their safety. Money. Who lie to themselves that they have other values. They’re deeply, morally religious: evil is everything but them. (IM 23)

„Der Kleinbürger“, schreibt Roland Barthes, „ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den Anderen vorzustellen.“151 In dieser Unfähigkeit seiner provinziellen Umgebung, mit seinem Anderssein umzugehen, liegt die Ursache für die Entfremdung, die R fühlt: „In these dead provinces, the other is a freak.“ (IM 23) Die Modelle von Wirklichkeit und Identität, die ihm seine kleinbürgerliche Umgebung vorgibt, können ihn, den „Freak“, in seinem Bedürfnis nach Kreativität, Spontaneität, Emotion, Rausch und Erfahrung nicht befriedigen. Er erkennt, dass er sich diesen Strukturen gewaltsam entziehen muss: „R now wanted to escape this school and, axe in hand, to demolish FF [einen seiner Lehrer – d. Verf.], the school, and his identity.“ (IM 18) Der Kampf um eine selbstbestimmte Identität wird zum Krieg gegen die herrschende Gesellschaft: „If there’s any civil war around here, it’s identity.“ (IM 15) Acker inszeniert Rs transgressiven Weg als einen kontinuierlichen Prozess des Ausprobierens verschiedener transgressiver Diskurse und Praktiken, in dem in mancher Hinsicht auch ein Echo ihrer eigenen Biographie widerhallt. Wie für sie selbst ist der politische Radikalismus für R keine aussichtsreiche Option. Früh im Roman wird mitgeteilt, er sei „[d]isillusioned with left-wing or French politics[.]“ (IM 10) Vielversprechender erscheint es ihm zunächst, dem Pfad des traditionellen Transgressionsprojekts zu folgen und nach einer Sphäre des Authentischen jenseits der ihm von der Gesellschaft vorgegebenen Wirklichkeitskonstrukte zu suchen und dabei den Realitätseffekt der bürgerlichen Kultur zu unterlaufen: „R screamed. With a teacher or a master, there’s no reality, and I have to find reality.“ (IM 13) Diese unnormierte Wirklichkeit sucht er in klassischer Weise in der Sphäre des „Asozialen“. Das ausgegrenzte „Andere“ seiner kleinbürgerlichen Herkunft wird zur Projektionsfläche seiner Befreiungsfantasien: „In the time of good-for-nothings, bums, liberty will triumph. R said.“ (IM 7). Sein erster Ausbruchsversuch in die Welt der „good-for-nothings“ findet in den Bereich der Subkultur statt. Acker greift ein weiteres Mal das Motivkonglomerat aus Teenagerrebellion, Jugendkriminalität und Bandenkultur auf und lässt ihre Version Rimbauds zunächst sein Heil bei einer Rockergang suchen: „R would do anything to get away from school. Break the heart’s dead ice. He knew that the habitual self had to be broken. He phoned up the local motorcycle gang and asked them to save him.“ (IM 16) Hier zeigt Acker, wie sehr sich die Bedingungen für subkulturelle Transgressi151 | Barthes: Mythen des Alltags: a. a. O., S. 141.

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onen durch die postmoderne Wende verändert haben: Der in der klar codierten Welt der 1950er Jahre auf die Mehrheitsgesellschaft noch existenziell bedrohlich wirkende Mythos der Rockergang verkörpert in den 1980ern nur mehr das Image von Rebellion. Er kann keine wirklich subversive Wirkung mehr entfalten, auch, weil er längst Warencharakter angenommen hat: R kann die Gang wie einen Dienstleister anrufen, der sein Bedürfnis nach Befreiung befriedigen soll. Dubois, der Anführer dieser Bande hält R einen Vortrag, in dem er das transgressive Selbstverständnis der Gang darlegt: „Learn a real lesson: in this world today crime is your only protection. Our only other class privileges are disease, stupidity, material and psychic deprivation, madness and legal punishment.“ (IM 20) Anders als Janey Smith, die glaubte, in den transgressiven Mythen von „juvenile delinquency“ und „gang culture“ noch authentische Befreiung zu finden, bleibt R skeptisch, auch wenn ihm die Gang die Augen für bestimmte Strukturen der Gesellschaft öffnet: „He still wondered what he really wanted. At least here, unlike school, he was learning about actual society.“ (IM 20) Letztendlich entscheidet sich R dagegen, sich der Gang anzuschließen. Er lehnt das Klischee des zornigen jungen Mannes mit Lederjacke und Motorrad ab, weil er – und in dieser Hinsicht ist er an Reflexionsvermögen Janey überlegen – erkennt, dass die dialektische Grundstruktur dieser Form von Rebellion keine authentische Befreiung darstellt. Diese jeder Gegenkultur innewohnende Aporie stellt ihn lediglich vor die Wahl, ob er sich dem Diskurs der „normalen“ Gesellschaft oder dessen Antithese unterwirft, was Acker in der für ihr Werk typischen, die Machtverhältnisse sexualisierenden Metaphorik offenlegt: The motorcycle leader finished up his Hegelian argument. ,You decide. You can either be a criminal or a vic tim. You can either kill or be killed.‘ The guys in the motorcycle gang wanted to fuck R because he was young. Dubois was holding them off until R decided whether he was going to join the gang or be a vic tim. (IM 20f.)

R erkennt, dass sein transgressiver Impuls den Binarismus von normierter und subkultureller Identität zu Gunsten einer Sphäre der kreativen Neugestaltung überwinden muss: „R didn’t want any of this: he wanted a new world [meine Hervorhebung – d. Verf.].“ (IM 21) In dieser Passage wird Rs Lernprozess im Bezug auf seine transgressive Haltung deutlich. In Anlehnung an die Denkfigur von „Wittengsteins Leiter“152 kann man 152 | Dieses Bild geht auf den vorlet zten Sat z in Wittgens teins Trac tatus zurück und beschreibt einen Entwicklungs- bzw. Erkenntnisprozess, in dessen Verlauf Theoriepositionen, Erkenntnisse oder vermeintliche Wahrheiten immer abges toßen werden müssen, wenn man eine nächs thöhere Entwicklungsebene erreicht und den Mythos der Wahrhaftigkeit der Vorherigen als solchen erkannt hat. Methoden und Theoriepositionen dienen als Leitern zwischen diesen Ebenen, die immer wieder neu hinterfragt und transzendiert werden müssen. Lediglich für den Moment, in dem man aber auf ihnen s teht, haben sie alle Gültigkeit und Wahrhaftigkeit. Ein S tehenbleiben oder Zurückgehen aber is t ausgeschlossen: „Meine Sät ze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich vers teht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er

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vielleicht von einer „Leiter der Transgressionen“ sprechen. Wann immer R erkennt, dass die Befreiungseffekte einer bestimmten Form von Transgression erschöpft sind, nutzt er eine neue als Leiter zu einer weiteren Ebene der Entgrenzung vorformulierter Identitätskonzepte und Erfahrungshorizonte. Die alte lässt er dabei hinter sich. Dieses Verhalten trägt durchaus schon Züge eines Verständnisses von Avantgarde als Prinzip der „Auf hebung in Permanenz“ in sich, bleibt aber trotzdem ambivalent. Einerseits lehnt R die klar codierten Fronten von politischem Radikalismus und Jugend(subkultur) wegen ihres potentiell normativen Charakters ab. Er erkennt, dass ein Seitenwechsel innerhalb einer dualistischen Struktur nicht von der Struktur selbst befreit und hofft, sich über seine „transgressive Leiter“ einen wie auch immer gearteten dritten Raum als Freiraum zu erschließen. Andererseits bleibt er in seiner Suche nach dieser „neuen Welt“ noch der Idee eines unnormierten Außen verhaftet. Hierin besteht die Ambivalenz: Obwohl seine Rhetorik durchaus noch eine utopische Freiheitsutopie im modernen Sinn kommuniziert, weist seine transgressive Strategie dezidiert postmoderne Elemente auf. Wie schon Don Quixote muss er, um sich die neue Welt zu erschließen, zum Nomaden zwischen den binären Kategorien des westlichen Denkens werden: „Having emitted his venom, discovered that he didn’t want either side of a moralistic or dualistic society, R had nothing better to do than wander [meine Hervorhebung - d. Verf.].“ (IM 22). R beginnt ein Leben, „given over to vagabondage, to restless travelling, while seeking adventure or profit or simple employment, perhaps, but always driven to go on, go on. […] His remaining twenty years would see him constantly in motion[.]“ (IM 39) Schon lange vor diesem Entschluss, zum Nomaden im geographischen Sinn zu werden, hat R begonnen, im Imaginären zu umherzuschweifen und dort die Erfüllung seines unverstandenen Begehrens nach Erfahrung, Lusterfüllung und Entgrenzung gesucht: „The infinity and clarity of desire in the imaginative made normal society’s insanitiy disappear.“ (IM 5) Durch die ästhetische Erfahrung des Lesens konnte er der geistigen Provinz entkommen: „There was nothing for the children of Charleville to do in Charleville, France. R used to hang out in the one bookstore in town which buyers never came to.“ (IM 4) Bedenkt man jedoch die affirmative Wirkung des bürgerlichen Kunstkonsums, wird deutlich, dass R die erhoffte Befreiung auf dieser Ebene nicht finden kann. Wenn Literatur mehr sein soll, als eine Möglichkeit des temporären Eskapismus aus „normal society’s insanity“ (s.o.), muss sie eine tatsächliche identitätspolitische Alternative bieten. R muss vom reinen Rezipienten zum Kreativen werden, um die Hoheit über das Narrativ seiner selbst zu gewinnen – er muss eine literarische Existenz werden. So hofft er, in der oft besungenen Identität des Künstlers Erlösung zu finden. Sie scheint ihm eine Option auf authentische Befreiung zu sein, nachdem die Strategien von Politik und Subkultur versagt haben. Er folgt dem klassischen Pfad der avantgardistischen Zusammenfühdurch sie – auf ihnen – über sie hinausges tiegen is t. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufges tiegen is t.)“ (Ludwig Wittgens tein: Trac tatus logico-philosophicus, in: ders.: Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1969, S. 8–83, hier: S. 83)

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rung von Kunst und Leben, die ihm alternative Formen des „Selbst“ erschließen soll: „To be a poet is to wake inside someone else’s skin.“ (IM 23) In die Haut des Dichters zu schlüpfen heißt für ihn, sich dem Mythos des Poète maudit zu verschreiben, der bürgerlichen Werteordnung den Rücken zu kehren, alle Grenzen konventioneller Erfahrung und Subjektivität zu sprengen und so einen Freiraum zu schaffen, in dem er „sich selbst“ schreiben kann. In einem seiner berühmten „Seher-Briefe“ hat der historische Rimbaud die R als Vorbild dienende lebenspoetische Programmatik dargelegt, durch die neue Erfahrungsmodi erschlossen werden sollen: Der Dichter macht sich zum Seher durch eine dauernde, umfassende und planvolle Verwirrung aller Sinne [Hervorhebung im Original – d. Verf.]. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns; er suche sich selbs t, er schöpfe alle seine Gifte aus, um nur ihre Quintessenzen zu bewahren. Unsägliche Folter, zu der er seinen ganzen Glauben nötig hat, all seine übermenschliche Kraft, unter der er unter allen der große Kranke wird, der große Verbrecher, der große Verdammte, - und der höchs te Weise! 153

Als klassischer Avantgardist ruft Rimbaud hier beinahe die Gesamtheit des „ausgegrenzten Anderen“ der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft als Alternative zu deren entfremdenden Zwängen auf: Bewusstseinserweiterung (auch in Form von Lustund Drogenrausch), alle Formen der Liebe (und Sexualität), Wahnsinn, Krankheit und Verbrechen. Der verfemte Dichter wird buchstäblich zur prometheischen Figur: „Also ist der Dichter wahrhaftig der Dieb des Feuers.“154 Er kann mittels dieser Strategien, so Rimbauds Überzeugung, in eine metaphysische Sphäre des Unbekannten eintreten, die jenseits jeder Norm liegt: „Denn er kommt im Unbekannten an, und wenn er auch, betört von seinen Visionen, den Verstand über ihnen verliert, so hat er sie doch gesehen!“155 Der Dichter-Seher wird zum Erlösten in Rimbauds persönlicher Kunstreligion. Acker lässt R seinem historischen Vorbild folgen und ihn diese mythisch überhöhte Gegenidentität anstreben, von der er sich die Befreiung aus den Beschränkungen seiner Kultur und den Zugang zu einem wahren Selbst erhofft. Das Transgressionsverständnis des Protagonisten erweist sich hier einmal mehr als zwiespältig. Er hat bereits erkannt, dass seine Transgressionen die binäre Struktur von Mehrheits- und Subkultur überwinden und einen dritten Raum, eben jene „neue Welt“, von der bereits die Rede war, erschließen müssen. Doch während er die Dualismen seiner Kultur bereits als Mythen, als Naturalisierungen kulturell gewachsener Phänomene erkennt, die ihm auf keiner Seite Authentizität bieten können, hofft er in dieser dritten, nie genau definierten, stets diffusen Sphäre Wahrhaftigkeit erlangen zu können. Den Mythos vom Dichterdasein als authentischer Alternative hat er (noch) nicht dekonstruiert. Diese Stufe der transgressiven Leiter hat er noch nicht hinter sich gelassen. 153 | Rimbaud an Paul Demeny, 15. Mai 1871, zitiert in: ders.: Sämtliche Dichtungen, a. a. O., S. 373. 154 | Ebd., S. 375. 155 | Ebd., S. 373.

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Um in das mythische Idealbild eines Seher-Dichters hineinwachsen zu können, muss R sich verpflanzen und seine kleinbürgerliche Umgebung verlassen. Sein Sehnsuchtsort ist die urbane Literaturbohème, in deren Imaginations- und Erfahrungswelt er eintauchen will. Die Rolle des Türöffners zu diesen Kreisen spielte für den historischen Rimbaud ein anderer exzentrischer Charakter aus seinem Heimatort Charleville, der kunstsinnige Angestellte Charles Bretagne. Zwischen dem ambitionierten jungen Poeten und diesem „older gay man of Falstaffian girth“156 bestand eine enge Geistesverwandtschaft. Ihr Interesse für die Schönen Künste und ihre homoerotischen Vorlieben machten beide zu Außenseitern in ihrer Umgebung. Bretagne wurde zu Rimbauds Alliiertem und erlaubte ihm beispielsweise, seine Adresse für seine Korrespondenz zu nutzen, um sie der Zensur seiner Mutter entziehen zu können. Vor allem aber stellte Bretagne für Rimbaud den Kontakt zu Paul Verlaine her, dessen Werk der Junge verehrte. In ihm, den er als „wirklichen Dichter“157 betrachtete, glaubte Rimbaud seinen Messias auf seiner kunstreligiösen Suche nach dem Unbekannten gefunden zu haben. Verlaine ist ein integraler Teil des Mythos um Rimbaud, mit ihm hat er die Antimoral und Antiästhetik, von der Hans Mayer im eingangs dieses Kapitels wiedergegebenen Zitat sprach, gelebt. Dabei war die Beziehung von Anfang an unsymmetrisch. Rimbaud war jünger, unerfahrener und vor allem radikaler, Verlaine älter und in seinem Inneren zerrissener, stand er doch mit einem Bein in der Bohème, mit dem anderen im Bürgertum. Doch trotz aller Widersprüche und Konflikte war die Zeit ihrer gemeinsamen „amoralischen“ Beziehung für beide auch in künstlerischer Hinsicht einer der produktivsten. Rimbaud sollte das Zerbrechen dieser Verbindung zumindest als Dichter nicht lange überleben. Er vollendet die Illuminations und Une saison en enfer kurz nach dem endgültigen Zerwürfnis mit Verlaine und trat danach Zeit seines Lebens nicht mehr als Poet in Erscheinung. Hierin kann man den Grund sehen, dass Acker in In Memoriam to Identity zwei kulturelle Mythen plakativ miteinander verknüpft: den der romantischen Liebe und den des Poète maudit. Wie schon Don Quixote begibt sich R auf einen „Quest for Love“, der die ökonomische Zweckrationalität der „Germans/Yuppies“ unterlaufen soll. In V, seinem Messias auf dem Feld der Kunst, hat er auch ein Objekt für diese Sehnsucht gefunden. Dichter sein wird in In Memoriam to Identity in erster Linie als Form der Lebensführung dargestellt, von Dichtkunst ist wenig die Rede. Das Leben soll selbst Kunst werden und es dem Poeten ermöglichen, selbst kreativ am Narrativ seines „Ichs“ zu arbeiten, sich selbst jenseits gesellschaftlich definierter Rollenbilder zu erfinden – Autopoiesis in ihrer etymologischen Grundbedeutung. Die Beziehung zwischen Rimbaud und Verlaine kam, wie ich bereits beschrieben habe, auf Vermittlung Charles Bretagnes zustande. Ackers Version der Geschichte folgt hier im wesentlichen der Historie: „Charles deigned to open his mouth and remarked that, when he was just in Fampoux, he had been introduced to the poet Verlaine. Even though R had never met V, he knew that he had to go to V and, if 156 | Edmund White: a. a. O. S. 56. 157 | Rimbaud an Paul Demeny, 15. Mai 1871, zitiert in: ders.: Sämtliche Dichtungen, a. a. O., S. 379.

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he did, V would save him.“ (IM 24) V, der ersehnte Erlöser, lebt in Paris, der Hauptstadt der Bohème, die als „seedbed for the intellectual and revolutionary forces which’re capable of dragging people up out of the mire into which what has seemed to be an implacable destiny has thrown them“ (IM 7) in allem die Antithese zu Charleville zu sein scheint. Mit der Ankunft in Paris beginnt für R eine Reihe von positiven transgressiven Erfahrungen, aber auch von Kämpfen, Leiderfahrungen, Selbstzerstörungen, und Desillusionierungen, die sich um den erhofften Erlöser drehen. Wie der historische Verlaine lebt auch Ackers Version jenes Dichters, der das Konzept des Poète maudits theoretisch gefasst hat, in der Praxis die Fassade einer bürgerlichen Existenz: „A year before this V had married a sixteen-year-old uppermiddle-class girl. The girl was about to have a baby.“ (IM 24) Doch diese Oberfläche verdeckte nur seinen großen inneren Zwiespalt. Im realhistorischen Verlaine, der vor dieser Ehe ein umtriebiges Mitglied der Pariser Literatenbohème gewesen war, tobte ein „contest between bourgeois calm and respectability on the one hand, and on the other hand the lurid but exiting depths of bohemian depravity.“158 Das bürgerliche Narrativ, dessen Druck er sich aller Zerrissenheit zum Trotz unterworfen hatte, zwang Verlaine, seinen Drang nach grenzenloser Erfahrung auf allen Ebenen zu unterdrücken. Erst Rimbauds Eintritt in sein Leben – er hatte den jungen Dichter, der ihm auf Bretagnes Vermittlung einige Gedichte geschickt hatte, zu sich nach Paris eingeladen – war der Katalysator, der diesen unterdrückten Konflikt zwischen den normativen Zwängen der Gesellschaft und seinen eigenen verdrängten Bedürfnissen offen zum Ausbruch brachte. Hierzu sein Biograph Edmund White: „In the fourteen months since he’d married, Verlaine had written no new poetry, though he had successfully curbed the exsesses of his drinking. Now Rimbaud was encouraging him to live like a savage and stay drunk – and to write like the seer he was destined to be.“159 Ähnlich verhält es sich in Ackers Roman. Zunächst versucht V vergeblich, die Versuchung, die R für ihn repräsentiert, durch konformistisches Verhalten zu übertünchen. Rs offensiv zur Schau gestellte Antibürgerlichkeit, von der V sich angezogen fühlt, führt zum Konflikt mit seiner Umgebung: „V met R at one of the Parisian train stations, took him home to meet his wife and her parents. The father-in-law, Théodore-Jean Mauté, didn’t approve of the beautiful peasant. V told R to get out.“ (IM 26) Während der historische Rimbaud sehr zum Missfallen von Verlaines Familie von diesem in die Welt der Bohème eingeführt wurde, ist R in In Memoriam to Identity zunächst obdachlos. Er beginnt ein unstetes Vagabundenleben am Rande der urbanen Gesellschaft in den „dog-shitted streets“ (IM 26) und nächtigt in „bum hostels“ (IM 27) inmitten der existentiellen Außenseiter von Paris. Einmal mehr sind die harten Realitäten der Straße das Motiv, das Acker nutzt, um den Romantizismus vom „armen Poeten“ zu entzaubern. Doch bald erfährt er Unterstützung aus der Bohème, wobei Acker offen lässt, wie der Kontakt zu dieser Szene geknüpft wurde: „Théodore 158 | Edmund White: a. a. O., S. 61. 159 | Ebd., S. 77.

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de Banville and some other Parnassian poets banded together to give R money; de Banville let him have the maid’s room in his apartment. These actions didn’t save R from suffering.“ (IM 28) Das Leiden hat der historische Rimbaud in den „Seher-Briefen“ als notwendiges, beinahe kathartisches Moment beschrieben, das erduldet werden muss, um letztendlich in der authentischen Alternatividentität des avantgardistischen „Seher-Dichters“ aufgehen zu können. Es ist das Leiden eines Individuums, das seine von außen zugewiesene Identität hinter sich gelassen hat. Es gewinnt zwar an Freiheit, ist aber auch mit einer existenziellen Sinnkrise, einer Heimatlosigkeit des „Ich“ konfrontiert. Denn die Grenzen des Selbst, die es zu überwinden sucht, haben auch die Sicherheit eines Selbstverständnisses produziert: „Provincials, like married people, aren’t homeless.“ (IM 27) Wie in Don Quixote macht Acker auch hier deutlich, dass das Leiden an der identitären Verunsicherung der Schatten ist, der dem Freiheitsgewinn der Transgression folgt. Ein weiteres Mal inszeniert sie es als Passionsmythos, diesmal als Teil von Rs kunstreligiösem Projekt: R had nowhere to live. ,The sufferings enormous,‘ he wrote Izambard, a friend of his. This s tatement described nothing because a s tatement can mean only to someone who knows. […] Every morning R woke up to no one on concrete. Human flesh needs human flesh. Because only flesh is value. R continued, ,I’m increasing my suffering cause I have to be s tronger to be a writer. I’m training myself.‘ (IM 27)

Zur größten Quelle für Rs Leiden entwickelt sich die spannungsreiche Beziehung, die sein Messias V letztendlich doch verschämt mit ihm beginnt. Wie in Don Quixote wird auch in In Memoriam to Identity zunächst die Liebe als Raum authentischer Erfahrung jenseits der bourgeoisen Sozialisation und ihres Vernunftparadigmas präsentiert: „Humans have been educated, trained, reduced into white pastry. Who dies for love now? Who questions reality through suffering and madness?“ (IM 50) Für R ist V ist das künstlerische, emotionale und sexuelle Objekt seines Liebesverlangens, in das er seine gesamte Hoffnung auf Erlösung setzt: „I’m waiting! I’m waiting for what I want! A certain type of life which I call life [Hervorhebung im Original – d. Verf.]. So far I haven’t been able to get there because I need another person, V, and what’s happened and is still happening between me and V is nothing, shit.“ (IM 28) R unterscheidet hier implizit zwischen der Utopie eines selbstbestimmten Lebens jenseits der Norm und einem jeder Authentizität entfremdeten, normalen „gelebt werden“ durch die bürgerliche Gesellschaft. Um zu verstehen, warum Rs Erlösung durch das Modell des Poète maudit letztendlich nicht in erhofftem Maße erfolgreich ist, muss man sich stets vor Augen halten, dass Acker diese avantgardistische Utopie eng an die Liebesbeziehung zwischen den beiden Dichtern knüpft. Sie bildet den Rahmen, in dem ihre moralischen und ästhetischen Überschreitungen stattfinden. Doch um eine wirkliche Transgression zu werden, muss die Verbindung aus dem Verborgenen treten, zum Eklat führen. Die bis dahin geschehene heimliche Annäherung der beiden Protagonisten genügt R nicht – er will den Skandal leben! Er sehnt sich nach einer offen sichtbaren, mit offensiver Geste

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alle bürgerlichen Tabus sprengenden Beziehung zu V und ist von dessen bigottem Doppelleben angewidert. V, zerrieben im Konflikt zwischen seinem eigenen Verlangen nach R und dem Konformitätsdruck der bürgerlichen Norm, scheut zunächst die offene Überschreitung aus Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen: „V feared that all that he cared about, for his identity was socially predicated, true of all bourgeoisie, would be taken away from him; at the same time he drank even more; he beat up his wife.“ (IM 30) An seiner Person werden die identitätskonstitutive Macht der Sozialisation und die Schwierigkeiten, sie zu überwinden offenkundig. Rs Reaktion ist entsprechend deutlich und von Verachtung geprägt: „R spat at V and told V V was too disgusting, bourgeois, married for R to touch him.“ (IM 27) Dennoch kann er die Sehnsucht nach V als Liebhaber und künstlerischen Mentor, mit dem er sich gemeinsame Erlösung durch die „Verwirrungen aller Sinne“ verspricht, nicht überwinden: „I need V because together we can get to life; life is something other than shit. I’d rather suicide than live in the bourgeoisie or shit.“ (IM 28) Um dieses authentische, antibürgerliche Leben erreichen zu können, müsste V die seinen eigenen Bedürfnissen entfremdete, aber stabile Sicherheit, die ihm seine etablierte Existenz bietet, aufgeben. Doch er zögert, sich zu entscheiden: In R’s obsessed or freakish eyes, this was proof that, when forced to choose [Hervorhebung im Original – d. Verf.], V preferred odious bourgeois exis tence and identity in the bosom of the odious bourgeois family to reality, to chance, to the vulnerability of real identity, above all to the des tiny that had been assigned him. Becoming a seer[.] (IM 32)

Noch immer ist die Authentizität des Sehers das Ziel von Rs Überschreitungen. Er, der nomadische Geist, setzt V schließlich unter Druck: „V, I’ve decided to go travelling. I who am no one – the opposite of your bourgeois identity – your married being – no one will keep on travelling so you’ll never be able to touch me and turn me into shit again.“ (IM 56) Ganz gezielt spielt R als Trumpf sein ungezügeltes, unnormiertes und auf Erfahrung ausgerichtetes Begehren gegen die bürgerlich kontrollierte, reproduktionsorientierte und damit funktionale Sexualität in Vs Ehe aus. Er stellt ihn vor die Wahl „between a boring (boring is valueless) [Hervorhebung im Original –d. Verf.] existence as a father, an existence heightened depressed or unchanged by moments of placing his cock inside the same cunt and moving (it) in the same manner, and an unstable existence with a child who was half pure imaginative will and half tiger.“ (IM 57) Letztendlich entscheidet sich V, mit R über die Grenzen der Norm zu wandern. Ihr Auf bruch setzt die bekannte, von Widersprüchen, Exzessen, Selbstzerstörungen und teils gewaltsamen Konflikten geprägte Beziehungsspirale in Gang, die zum Kern der Legendenbildung um das Paar Rimbaud-Verlaine geworden ist. Sie trägt alle Kennzeichen einer klassischen Amour fou, in der nach Oliver Jahraus’ Definition sexuelles Begehren und emotionale Affinität so ins Unermessliche ges teigert werden, dass sie ununterscheidbar werden. Dann nämlich fällt jede wechselseitige Funktionalisierung weg, die Effekte der Sozia-

A USSENSEITER lisation und Domes tikation werden obsolet, und es kommt eine Drift zum Tragen, die von der Gesellschaft nicht mehr aufgefangen werden kann.160

Die Amour fou ist somit ein moderner Topos der Transgression, eben weil sie „nicht normal“ ist und durch sie „die Individuen erst zu Individuen [werden], weil sie sich aus der gesellschaftlichen Ordnungsmacht befreien.“161 R und V geben sich dieser Aufwallung mit dem Ziel hin, sich eine paradiesisch-utopische Sphäre außerhalb der bürgerlichen Norm zu erschließen. Deren operative Fiktionen von Wirklichkeit und Subjektivität gilt es von nun an durch die vom historischen Rimbaud geforderte „Verwirrung aller Sinne“ aufzusprengen. R und V folgen dabei einer „brutal philosophy: ignorance of all rational facts and concepts, raging for personal physical pleasure; may the whole Western intellectual world go to hell.“ (IM 71) Die schrankenlose, völlig entgrenzte Erfahrung soll an die Stelle der restriktiven, nutzorientierten und ökonomischen Ratio treten. Affekt und Wahnsinn, diese für die ackerschen Transgressionen so zentralen Begriffe, sind integrale Bestandteile einer jeden Amour fou: „Die Freisetzung des Gefühls führt direkt zur Amour fou; und im Wahnsinn ist die Freisetzung des Gefühls letzte Realität geworden. […] Die Amour fou ist Wahnsinn gewordenes Gefühl, eine Tautologie!“162 Affekt und Wahn werden zur Überlebenstrategie für R und V. „And now that we’re worthy of the torture through which we’ve put each other, we can reap the results of that promise we made to the body and soul we created. A promise, a belief, made in madness! Through madness, we’ve survived.“ (IM 63) Natürlich würde Acker ihrem Skeptizismus gegenüber authentizitätsorientierten Transgressionsmodellen untreu werden, wenn sie der verbreiteten Verklärung dieser Entgrenzungsideologie uneingeschränkt folgen würde. In Memoriam to Identity ist ein idealtypisches Beispiel für das, was ich als ihre postmoderne Haltung zum Avantgardismus bezeichnet habe. Einerseits teilt sie die Motivation für die Transgressionen ihrer beiden Hauptprotagonisten (Rs Zurichtung durch die den Familialismus repräsentierende Mutter, seine Normierung durch die Schule, seine Isolation in einer von „Yuppies/Germans“ dominierten Gesellschaft ebenso wie Vs Entfremdungsgefühle in seiner bürgerlichen Umgebung) und stellt sie als berechtigte, sogar notwendige Widerstandsakte gegen die hegemoniale Kultur dar. Andererseits macht sie auch die Sackgasse deutlich, in die diese auf ein unnormiertes Jenseits zielende Amour fou der beiden Poètes maudits führt. Sie folgt in ihrer Schilderung der Flucht der beiden Poeten den historischen Stationen der Vorbilder: Paris als Zentrum der abgelehnten Ordnung („This city was the most bourgeois in Europe.“, IM 64) ist der Ausgangsort. Frankreich, als Chiffre für die Zweckrationalität des Spätkapitalismus an sich, steht für die zu überwindende Gesell160 | Oliver Jahraus: Amour fou – Die Erzählung der ,Amour fou‘ in Literatur, Oper, Film, Tübingen und Basel 2004, S. 10. 161 | Ebd. S. 12. 162 | Ebd. S. 30.

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schaft: „V: ,But we’ve got to get out of France right now in order to reach paradise.‘“ (IM 64) Das Paradies erwarten R und V außerhalb der bürgerlichen Kultur. Die erste Station ihrer Flucht ist Brüssel, das hier nicht als geographischer, sondern als symbolischer Zielort jenseits der Grenzen des verhassten Frankreich fungiert. Doch die belgische Hauptstadt kann kein Entkommen aus den „Konzepten der intellektuellen westlichen Welt“ (s.o.) repräsentieren, weil es in Ackers an Foucault geschultem Kulturverständnis keinen Ort der Weigerung außerhalb dieser Machtstrukturen gibt. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn Acker von „cops“ spricht, die die beiden Flüchtigen ohne Unterlass verfolgen. Damit beschreibt sie die Diskurspolizei des modernen Sexualitätsdispositivs: „The boys couldn’t reach their paradise because cops were after them. The cops from R’s mother who was trying to prevent her son from becoming a homosexual. The cops from V’s wife and mother-in-law who were trying to prevent V’s wife from killing herself.“ (IM 61f.) Acker übt damit auch implizit Kritik am Zustand der amerikanischen Gesellschaft ihrer Zeit. Ihrer Ansicht nach ist die heterosexuelle Kernfamilie aller Liberalisierung zum Trotz zur Entstehungszeit des Romans immer noch eine konstante repressive Norm, deren uneingeschränkte Reimplementierung weit oben auf der Agenda der damaligen neokonservativen Politik stand. Die „cops“ sind noch unterwegs – in Brüssel auf der Zeitebene Rs und Vs genau so wie im New York der Reaganära, was den Unterschied der beiden Schauplätze verwischt: „V and R entered Brussels. Brussels (which resembled the New York City of July 4, 1988, by some quirk of time) was both paradise and the end of paradise.“ (IM 67) Acker zeichnet mit diesem Brüssel/ New York eine Karikatur dessen, was sie am amerikanischen Mainstream ihrer Zeit ablehnt: An der glitzernden Oberfläche seiner Konsumwelt eine scheinbar „classless city“ mit „subways […] made out of diamonds“ (IM 67). Doch hinter der Fassade der yuppiesken Reaganjahre verbirgt sich nichts als groteske Ungleichheit („In this city where diminutive roses cost as much as military weapons, the bums and other homeless watch roses tumble down the slopes of Wall Street toward the Stock Exchange.“, IM 68f.), religiöse Doppelmoral („The Church bells ring out for sex: for the loneliness of the absence of sex, for blood. For sexual repressions. For the people.“, IM 69), und homophobe AIDS-Hysterie („Above these abandoned stations, the memories of homosexual orgies, for due to disease there’s no overt sexuality left in the city except as memory[.]“, IM 67). Trotzdem kann sich in dieser Umgebung für einen kurzen Moment das Gefühl subjektiver Befreiung einstellen. R und V können sich dort kurzzeitig der Illusion hingeben, „that their love for each other was eternal.“ (IM 69) Dies erweist sich als Trugschluss. Die Turbulenzen der Beziehung zwischen den realhistorischen Figuren Rimbaud und Verlaine sind hinreichend bekannt und ausführlich untersucht worden. Eine entsprechende psychologische Analyse dieser Vorgänge in In Memoriam to Identity ist aufgrund von Ackers typischer Art, Figuren als funktionale Elemente und nicht als ausgearbeitete Charaktere zu präsentieren, nicht möglich. Die komplexen psychischen Dispositionen der beiden Dichter, die in nicht unwesentlichem Maß zur Mythologisierung des Paares Rimbaud/Verlaine beigetragen haben, schlüsselt

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Acker nicht auf. Die daraus folgenden Konflikte und Selbstzerstörungen zitiert sie bestenfalls bruchstückhaft. Angesichts der fehlenden Psychologisierung möchte ich die transgressionspolitischen Implikationen von Ackers Schilderung des Scheiterns dieser Beziehung in den Fokus rücken, weil daran sowohl die normative Kraft der bürgerlichen Sozialisation als auch die Unerfüllbarkeit von R(imbauds) transgressivem „Seher“-Ideal deutlich wird. Ersteres manifestiert sich an V, der der bourgeoisen Norm auch durch die symbolische Distanz im vermeintlich paradiesischen Brüssel nicht entkommen kann. Einmal mehr macht Acker hier deutlich, dass absoluter Separatismus ihrem kulturell radikalen Gesellschaftsverständnis nach nicht funktioniert. Auch Brüssel und das spätere Fluchtziel London symbolisieren keine „loci amoeni“ außerhalb der hegemonialen Kultur. Die Selbstpositionierung im vermeintlichen Außen kann angesichts der Allgegenwart der Macht nicht gelingen, zeitweilige Freiräume müssen immer wieder neu erkämpft werden. V, immer schon der bürgerlichere der beiden Poeten, verliert diesen Kampf, weil er nicht in der Lage ist, ihn permanent zu führen. Die erhoffte Befreiung durch eine einmalige Überschreitung der Grenzen der bürgerlichen Ordnung hat sich nicht eingestellt. Deren Normativität holt V in Gestalt seiner Frau ein: „Mathilde […] wrote to her husband who she knew loved her that she was coming to Brussels to get him so that they could live in the happiness that was rightfully theirs. [Hervorhebungen im Original – d. Verf.]“ (IM 70) Mathilde wird hier zur interpellativen Autorität, die V an seinen Status als bürgerliches Subjekt erinnert und der er sich nicht entziehen kann: „V was reading Mathilde’s letter. He looked up. ,I’m a good person. I have to go back to my family.‘“ (IM 71) So erweist er sich letztendlich, trotz seiner zeitweiligen Devianz als jenes „gute Subjekt“, das Althusser beschrieben hat – auch auf der Ebene seiner Sexualität. Die heteronormative und reproduktionsorientierte Sexualnorm des bürgerlichen Familialismus ist gemäß der dem Roman impliziten Kulturkritik eben nicht nur ein Zwangssystem für Frauen (in Gestalt des Patriarchats), sondern auch für Männer, denen es nicht erlaubt, alternatives Verlangen auszuleben. V folgt, nach einem schwierigen und teils gewalttätigen Trennungsprozess von R, dem Ruf der Norm, auch wenn dies für ihn ein Leben in gefühlter Entfremdung bedeutet. Warum es V letztlich nicht gelingt, diese Form von Subjektivität abzuschütteln, erklärt Acker nicht. Hier orientiert sie sich an der Historie, ohne irgendeine Kausalität deutlich zu machen. Sie konstatiert diese Tatsache lediglich und lenkt den Blick nun auf R, der der Renormierung seines vermeintlichen Erlösers verständnis- und fassungslos gegenübersteht. Diese Ereignisse haben Rs Glauben an die Überschreitung der bürgerlichen Ordnung mit den Mitteln der Kunst nachhaltig erschüttert. Die enttäuschte Liebe zu V ist auch die enttäuschte Liebe zum Ideal des Poète maudit, das nicht halten konnte, was R sich von ihm versprochen hatte. Da er sein Künstlerdasein unüberwindbar an die Amour fou zu V geknüpft hat, bedeutet das Scheitern der Beziehung zum vermeintlichen Messias seiner kunstreligiösen Suche auch das Scheitern der damit verbundenen Utopie, durch die vernunftsprengende Verbindung von Kreativität, Affekt und der „Verwirrung aller Sinne“ zum Seher zu werden und damit zu seinem authentischen

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Selbst zu gelangen. Die tabubrecherischen Gesten und Erfahrungen der Sinnesverwirrung haben für ihn jeden Reiz eingebüßt: „Quick rages, doing anything to reach oblivion total delusion or madness – I’ve been through it all.“ (IM 87) Seine Überschreitungen sind an einem toten Punkt angelangt: „R’s only choices were to move from madness to death or to realize that the experiment of having a human, an honest [Hervorhebung im Original – d. Verf.] relationship had failed.“ (IM 78) Ihm bleibt nur der lyrische Abgesang auf alle absoluten Ideale: „Goodbye to all phantasms, ideals, misconceptions.“ (IM 82) In einer Passage mit dem aussagekräftigen Titel „The End of Poetry“ findet sich ein Abschiedsgedicht auf das verlorene Leitbild: POEM IN THE TRADITION OF THE POET MAUDIT Come come come What I’ve been wanting In every bit of my flesh To happen. I’ve been so fucking patient That I’ve forgotten Reality: How bad he treated me. Here’s a way, monks, To put an end to pain: I longed for him so much, Disease touched my veins. Come come come What all of me Wants to happen! All nature is mad, oblivious; The fucking flies drink down blood; Nature mus t be good. (IM 91)

Noch einmal ruft R – man darf in diesem Fall durchaus den Verfasser mit dem lyrischen Subjekt gleichsetzen – hier die Sehnsucht nach der Amour fou zu V und die damit verbundene Seher-Dichter Utopie auf („Come come come/What I’ve been wanting/In every bit of my flesh/To happen“), um dann schließlich zu erkennen, dass die erhoffte Erlösung unerfüllbar bleibt („I’ve been so fucking patient/That I’ve forgotten/Reality“). Wenn R hier von Realität spricht, ist dies nicht als Affirmation des Wahrhaftigkeitsmythos’ des bürgerlichen Diskurses gemeint, sondern die Erkenntnis,

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dass der intendierte Separatismus, der in der Amour fou zu V seinen Ausdruck finden sollte, nicht funktionieren kann. Denn eine Amour fou kann – gleiches gilt übrigens für den Künstler als Außenseiter −, gerade weil sie sich ex negativo zum bürgerlichen Liebesideal definiert, niemals ein authentisches Außen jenseits der herrschenden Ordnung der Moderne darstellen. Hierzu Jahraus: „Die Amour fou ist ein kulturelles Phänomen; denn ihre Subversionsleistung z.B. gegen die Gesellschaft erfolgt immer noch im Rahmen eben der Kultur der Gesellschaft. Man könnte also von einer Subversion von innen heraus ausgehen.“163 So ist R wieder auf einer neuen Erkenntnisebene angekommen, er sieht klarer: „I’ve won life: my eyes’re no longer swollen and diseased; my thoughts, no longer dreams. I’ve forgotten that I can’t live without him.“ (IM 95) Die Konsequenz dieser Entromantisierung des Künstlerideals im Sinne des Poète maudit ist die Abkehr von der Kunst selbst, wie Acker an späterer Stelle im Roman mit bitterer Ironie bilanziert: „Only poetry is rebellion and Rimbaud had gone, rebelled against his inheritance in order to make himself into a businessman. He was still a poet. A dead poet. Dead poets don’t have ears.“ (IM 183) Angesichts des konstatierten Scheiterns dieses Modells stellt sich die Frage, wie der verfemte Dichter als Leitbild der Transgression wiederbelebt werden kann. Warum sollte die deviante Existenz des Künstlerbohèmiens erstrebenswert sein, wenn sie nicht erlöst? Diese Frage drängt sich um so mehr auf, weil Acker das Scheitern eines bestimmten Rollenbildes vom Künstleraußenseiter in einem Kunstwerk porträtiert, dabei aber selbst ein Künstlerleben geführt hat, das man ohne Zweifel als postmoderne Inkarnation des Poète maudit bezeichnen kann. Offenbar traut sie der Kunst doch ein gewisses Widerstandspotential zu. Doch gerade dadurch, dass sie die Widersprüche des Rimbaud/Verlaine-Mythos reflektiert, macht sie deutlich, dass er – bei aller Sympathie, die man im Roman für die Auf lehnung der beiden Protagonisten spürt – in seinem Separatismus nicht erfolgreich sein kann. Ich habe Rs Versuch, sich als Seher-Dichter zu entwerfen oben als im Wortsinne autopoietisches Unternehmen bezeichnet. Gerade weil er dieses Schreiben seiner Selbst an ein „Genre“ – das der idealtypischen modernen Erzählung vom verfemten Künstler – gebunden hat und es nicht schafft, dessen Konventionen zu überschreiten, muss er scheitern: R bleibt den in ihrer Authentizitätsgläubigkeit eindeutig modernen Genreregeln des Narrativs vom Poète maudit verhaftet. Ein einmaliges Heraustreten aus der bürgerlichen Kultur in die Welt der Bohème als Weg zur Überwindung der Entfremdung kann nicht vom Zwangssystem Identität an sich befreien. So wird erneut betont, dass die Konsequenz nur sein kann, ein Dasein in permanenter Auf hebung zu führen. Der Prozess der Suche nach Identität muss selbst zur Utopie werden – auch für den Künstler, der sich in Opposition zur Gesellschaft definiert. Er muss sich von der Idee einer stabilen Gegenidentität verabschieden. Autopoiesis muss für den transgressiven Künstler heißen, sich nicht im Rahmen eines festen Rollenbildes (etwa dem des Poète maudit) zu schreiben, sondern solche Archetypen zu dekonstruieren, um sich aus ihren Trümmern neu zu erfinden. 163 | Ebd., S. 32.

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Was Acker vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis in In Memoriam to Identity unternimmt, ist der Versuch einer postmodernen Neuformulierung des Mythos vom verfemten Künstler. Dafür bricht sie mitten im Roman den ohnehin nur fragmentarischen Erzählstrang um R und V ab und schlägt eine Brücke zu einer Aktualisierung des Konzepts des Poète maudit vor dem Hintergrund der spätkapitalistischen Kontrollgesellschaften. Stivale hat in seinem Artikel aufgezeigt, dass sie sich dafür eines narrativen Tricks bedient, der in seinem intertextuellen Ansatz selbst dezidiert postmodern ist: Acker juxtaposes this his torically des tabilized ,life‘ with two others, jus t as uns table and as inves ted with sexual violence as R’s, those of two women charac ters named Airplane and Capitol. […] Through the pain and loss of romantic love, these lives intersec t with R’s as ,identity‘ is transformed into and through a continuous process of ,becoming‘, thematic as well as discursive.164

Airplane und Capitol sind Figuren, die zwar zahlreiche Referenzen auf Ackers eigene Biographie aufweisen, die aber zu sporadisch und fragmentarisch sind, als dass man sie als Alter Ego der Autorin bezeichnen könnte. Die skizzierten Biographien dieser beiden Protagonistinnen sind darüber hinaus teilweise von William Faulkners The Sound and the Fury inspiriert und werden mit zwei aus diesem Roman übernommenen Charakteren namens Quentin (während in Faulkners Roman sowohl der Bruder als auch ihre Tochter der Protagonistin Caddy diesen Namen tragen, ist bei Acker damit eindeutig Capitols Bruder gemeint) und Jason verwoben.165 In dieser Konstellation erleben Capitol und Airplane verschiedene Formen von normativer Repression und psychosexueller Verletzung, die ihr transgressives Handeln motivieren. Wie für Ackers Literatur typisch, spielen sich diese Verwundungen vor allem im Rahmen traumatisierender Familiensituationen und selbstzerstörerischer, teils inzestuöser Liebesbeziehungen ab. Die Details werden noch im Abschnitt dieser Arbeit über Körperpolitik und Sexualität eine Rolle spielen. Für den Moment genügt es, festzustellen, dass Acker auch hier wieder den Familialismus als normative Zwangsstruktur versteht, die den Ausgangspunkt für die Transgressionen markiert. So begibt sich jede Figur auf die Suche nach identitären Alternativen: In den „Capitol“ und „Airplane“ betitelten Kapiteln stehen zunächst die jeweiligen Protagonistinnen jeweils für sich im Zentrum, in „The Wild Palms“ (eine weitere Referenz auf Faulkner) collagiert Acker die 164 | Stivale: a. a. O., S. 141. 165 | Faulkners Roman is t neben dem Leben Rimbauds der zweite große „Text“, aus dem Acker für In Memoriam to Identity plagiiert hat. Am Ende des Buches hat sie dies entgegen ihrer sons tigen Praxis sogar – unter Auslassung anderer Quellen (vgl. FN 147 dieses Kapitels) – in einer Quellenangabe deutlich gemacht: „Note: All the preceding has been taken from the poems of Arthur Rimbaud, the novels of William Faulkner, and biographical texts on Arthur Rimbaud and William Faulkner.“ (IM 264) Neben seiner für seine Zeit experimentellen Äs thetik is t The Sound and the Fury für Acker vor allem wegen der transgressiven Figuren der Caddy (die ihre Sexualität als Mittel der Auf lehnung gegen die sie umgebende Moral nut zt) und des Quentin (wegen seines inzes tuösen Begehrens) interessant.

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beiden Handlungsstränge miteinander, ohne dass es zu einer direkten inhaltlichen Interaktion der beiden Protagonistinnen kommt. In Airplanes Leben äußert sich der Drang, die engen Grenzen ihrer kulturellen Umgebung zu sprengen, ähnlich wie bei R, früh: „When I was a girl, the strongest feeling in me was to go out. That’s how I put it. As far out as I could go, in any way, concerning anything. Then beyond.“ (IM 99). Schon hier wird ein Bewusstsein dafür deutlich, dass ein einmaliger Schritt in ein vermeintliches Außen nicht zielführend ist, sondern nur ein erster Schritt auf dem Weg zur permanenten Infragestellung des identitären Status Quo sein kann. Die „Leiter der Transgressionen“, die Airplane hier zu besteigen beginnt, ist der von R insofern überlegen, dass die Protagonistin nicht davon ausgeht, irgendwann auf einer letzten Ebene unnormierter, grenzenloser Freiheit anzukommen. Dieser letzte Rest von modernem Transgressionsverständnis, der in Rs Handeln verbleiben war, wird hier überwunden. Auch Capitol hadert mit ihrer zugeschriebenen Identität und stellt sie in Frage: „Who am I? That’s not quite the question which I keep asking myself over and over. What’s my story? [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] That’s it. Not the stories they’ve been and keep handing me. My story.“ (IM 154) Das Ziel der Überschreitungen beider Protagonistinnen ist, wie bei R, Autopoiesis – die Hoheit über das Narrativ des eigenen „Ich“. Acker erweitert in diesem Handlungsstrang den transgressiven Diskurs des Poète maudit (Airplane und Capitol werden im weiteren Verlauf des Romans künstlerisch bzw. kreativ tätig sein) um einen weiteren Aspekt. Sie konstatiert, dass die Entfremdung, die die beiden Figuren fühlen, sich nicht nur aus der Unfähigkeit der Umgebung, ihren Erfahrungsbedürfnissen gerecht zu werden, speisen, sondern auch aus ihrer Differenzerfahrung als Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. In dem Kapitel „Capitol“ findet sich eine längere Passage, die den Titel „The Last Days of Rimbaud“ (IM 176ff.) trägt. Dort findet sich eine feministische Auseinandersetzung mit der avantgardistischen Erzählung vom verfemten Dichter als patriarchalem Diskurs. In der Tat kennt die lange Geschichte der modernen Avantgarden nur wenige weibliche Protagonisten, die, wie etwa Gertrude Stein oder Virginia Woolf, auch erst seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftraten. Selbst Acker war als Frau zu Beginn ihrer Karriere in der Szene der radikalen Experimentalisten der 1960er Jahre noch eine weitgehend solitäre Erscheinung. Im 19. Jahrhundert, als der Mythos um den Poète maudit Gestalt annahm, waren Frauen beinahe ausnahmslos Objekte und nicht Subjekte avantgardistischer Kunst. Der Archetyp des Bohèmien ist bis heute eher männlich konnotiert und oftmals mit chauvinistischen Bildern aufgeladen. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass die Liaison von Rimbaud und Verlaine durch ihren homosexuellen Charakter das zu ihrer Zeit herrschende Maskulinitätsideal des heterosexuellen, virilen, Nachwuchs zeugenden Mannes subvertiert hat. Anders als etwa im Werk und Leben Baudelaires ist hier nicht die Frau das Objekt des männlichen Dichterblicks. Wenn jedoch Frauen in dem autopoietischen Entwurf der beiden Poeten auftauchen, dann, wie etwa Mathilde oder Madame Rimbaud, als Störerinnen der homoerotischen Amour fou, die trotz ihres transgessiven Charakters natürlich ihrer-

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seits paradoxerweise – eben durch die Exklusion positiv besetzter Weiblichkeit – auch eine Affirmation der phallozentristischen Grundstruktur der westlichen Kultur ist. An diesem Punkt setzt Capitols Auseinandersetzung mit diesem modernen Mythos an. Die kulturell konstituierte, aber wirkmächtige Fiktion der „weiblichen Identität“ wird bei ihr zum Ausgangspunkt für avantgardistisches Handeln. Da Frauen, so ihre Position, in der traditionellen bürgerlichen Ordnung wenn auch nicht zahlenmäßig, so doch was ihre gesellschaftlichen Teilhabe angeht, eine strukturelle Minderheit darstellen, sind sie per se existentielle Außenseiter. Eine ähnliche Auffassung äußert auch Airplane, wenn sie sich konkret auf ein berühmtes Zitat des historischen Rimbaud166 und implizit auf Simone de Beauvoirs These von der Frau als sozial konstituiertem anderen Geschlecht bezieht: Rimbaud had said, „I am an other.“ [Hervorhebung im Original – d. Verf.] Airplane: „But Rimbaud wasn’t a woman. Perhaps there is no other to be and that’s where I’m going.“ (IM 226)

In ihrer grundsätzlichen Differenzerfahrung sind Frauen immer Entfremdete in einer vom Phallozentrismus dominierten Kultur und daher geradezu prädestiniert, Dichter zu werden. Hierzu Capitol: „If poetry is the salt of this earth, females by education or economic training are more poets than males. I told Rimbaud this while he was ripping up my clothes.“ (IM 183) Aus weiblicher Perspektive „vergewaltigt“ der Avantgardediskurs der Moderne das existentielle Außenseitertum der Frauen, indem er ihnen ihr potenziell poetisches „Anders-Sein“ abspricht. Ob ausgerechnet Rimbaud die geeignete Figur ist, um die zweifellos vorhandenen misogynen Elemente der Poète maudit-Tradition zu symbolisieren, sei dahingestellt, auch wenn Acker diese Analogie herstellt: „R stands for rapist. [Hervorhebungen im Original d. Verf.]“ (IM 138). Baudelaire wäre in diesem Zusammenhang sicherlich eine schlüssigere Wahl gewesen. Trotz dieser Kritik fungiert R bzw. Rimbaud (in diesen Passagen des Romans wird der Name des Dichters manchmal auch nicht abgekürzt) auch als positiv besetzte Klammer, die Airplane und Capitol verbindet. Denn beide folgen seinem Vorbild, sich neue Formen von Subjektivität durch die Verbindung von Künstlerdasein und normdevianter Liebesabenteuer zu erschließen: Acker develops their narratives in such a way that the childhood pain and cruelty at the core of R’s/ Rimbaud’s life and art provide both the model for the painful familial circums tances and the creative impetus for the subsequent pursuits of both women: Airplane the writer is a transatlantic connec tion all to herself, coming (in all senses) and going between New York and elsewhere in a love/hate, sex/violence relationship with a German reporter. Capitol finds love of sorts with the passive, amiable Harry, but spurns and finally loses him for the sake of her art[.] 167 166 | „Denn Ich is t ein anderer.“ (Rimbaud an Paul Demeny, 15. Mai 1871, zitiert in: ders.: Sämtliche Dichtungen, a. a. O., S. 371. 167 | Stivale: a. a. O., S.141.

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Airplane und Capitol sind dabei aber keine blind folgenden Jünger Rimbauds/Rs. Ihnen sind die Schwächen des Konzepts des Poète maudits durchaus bewusst und sie kritisieren in den oben zitierten Stellen mit ihm ein Künstlerideal, das in verschiedenen Ausformungen immer noch Gültigkeit hat. Doch auch unabhängig von den geschlechterpolitischen Aspekten weist die Kritik von Capitol und Airplane auf die identitätspolitische Sackgasse hin, in die Rimbauds/ Rs authentizitätsorientierte Überschreitungspolitik führt. Auch der Poète maudit steht nicht außerhalb der Kultur, sondern hat lediglich seine Position in diesem vielschichtigen diskursiven Kontrollsystem verschoben. Der historische Rimbaud kann beispielsweise nicht aus der materialistischen Ordnung der westlichen Welt heraustreten. Zwar blieb er Zeit seines Lebens ein randständiger Wanderer, ein Nomade, der für seine Zeit sicherlich nicht dem Ideal bürgerlicher Ernst- und Tugendhaftigkeit entsprach. Doch auch er blieb den ökonomischen Zwängen seiner Welt unterworfen, vor denen er, zumindest gemessen an den Werten der Dichteridentität, die er einst vertreten hatte, kapitulieren muss. Zwar wurde er, der vagabundierende Kaffee-, Gewürz- und Waffenhändler nie ein respektabler Kaufmann im traditionellen Sinn – aber eben auch kein „Seher-Dichter“, sondern ein „dead poet“. Wie kann aber „lebendige Poesie“ – nicht nur im Sinne der Dichtkunst, sondern des poetischen Lebens – aussehen? Sie kann, so Ackers Ansicht, nur in Gestalt einer postmodernen und dynamischen Avantgardistenidentiät Erfolg haben, die in ihrer Flexibilität die Aporien des statischen Modells der Moderne umgehen kann. Die nächste „transgressive Leiter“, über die hinweggestiegen werden muss, ist die des Avantgardediskurses im modernen Sinn, der nicht mehr als „reiner“ Diskurs außerhalb der Kultur verstanden werden kann. Auch eine postmoderne Avantgarde definiert sich als Opposition, ist sich aber bewusst, dass sie in ihrer Verweigerungshaltung Ambivalenzen unterworfen ist, die unumgängliche punktuelle Kollaborationen mit der Hegemonialkultur erzwingen, da sie kein völlig separiertes kulturelles oder soziales „Außen“ (re)präsentieren kann. Deutlich wird dies am Beispiel der beiden Figuren Capitol und Airplane. Sie bewegen sich in der postmodernen Aktualisierung der Bohème der verfemten Dichter, in jener New Yorker Künstler- und Literatenszene, in der sich auch Acker bewegt hat. Der Ausgangspunkt ihrer Überschreitungen ist ein geographischer und intellektueller Provinzialismus. Capitol flieht aus dem kleinbürgerlichen Amerika, dem zeitgenössischen Äquivalent zum Charleville Rimbauds. Begleitet wird sie von ihrem Freund Harry, der ihre Entfremdung von dem oberflächlichen Wertegerüst des Vorstadtprovenzialismus teilt: „When they had met in a small town outside New York City (all small towns were equivalent to each other to New Yorkers), they had both felt lost, Capitol, because she was outside the American family, Harry because he felt (even was) unattractive[.]“ (IM 228) Auch Airplane beginnt ihre transgressive „Journey“ (so auch der Titel des Kapitels, das ihren Auf bruch schildert) als Flucht aus einer „world of power“, die Individuen als fremdbestimmte „zombies“ (IM 114) produziert. Die Metropole New York verspricht, wie einst Paris für Rimbaud, jene Freiräume, die die kleinbürgerliche Enge der Sozialisation nicht erlaubt: „New York City was

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freedom not because no one cared (no one did care) about something called humanity perhaps due to the growing poverty, the streets of disease, the number of dead bodies lying everywhere. […] But because, for the first time, she was being given a way to be a person.“ (IM 227f.) In diesem Milieu kann sie identitäre Alternativen nicht nur durch die bloße Verneinung ihrer soziokulturell konstruierten Identität erreichen, sondern kreativ am Narrativ des eigenen Ich arbeiten: „To say other than no. [Hervorhebung im Original – d. Verf.] Through work or the movement of the heart or of the imagination in the world.“ (IM 228) Doch der urbane Freiraum hat seine Schattenseiten. In ihrer typischen, jede Romantisierung unterlaufenden Art kontrastiert Acker diese positiven Aspekte des Künstlerdaseins mit den materiellen Zwängen, denen auch der Künstler in der Gesellschaft ausgesetzt ist und macht so die Ambivalenzen des Bohèmedaseins offensichtlich. Damit lehnt sie die Bohème als transgressives Lebensmodell nicht grundsätzlich ab (schließlich hat sie es selbst gelebt), kritisiert aber den die Moderne dominierenden verklärenden Blick darauf. Schon ihre eigenen Erfahrungen halten sie davon ab, die New Yorker Kunstwelt als „locus amoenus“ darzustellen: „For Capitol, the main thing was money. She didn’t have any. She had almost finished off the seven thousand and she wasn’t going to do a straight job (higher than the level of dog) because she was married to something called art. New York City understood.“ (IM 229) Ohne es beim Namen zu nennen, beschreibt Acker das East Village als ambivalente Szene zwischen künstlerischer Selbstbestimmung und materieller Not: [A] center for some of the wilder artis ts who made no money and therefore were slightly famous for wildness and the lowes t of the low. Lowes t of the low artis ts of whom there was now no visibility crouching, perhaps croughing, in a s treet where no one seemed to live, Puerto Rican s treet, boarded-up windows, no real windows, Caddies lined up in front of the seemingly uninhabitated tenements, invisible humans trying to score the royalty of objec ts. (IM 234)

Der Verzicht auf die materielle Sicherheit und Anerkennung der Werte des ökonomischen Individualismus der bürgerlichen Ordnung steht in diesem Umfeld der identitäre Mehrwert des expressiven Individualismus dieser Künstlerbohème gegenüber: „[T]he only real currency in New York is hope and a form of hope, fame.“ (IM 234) So hat der Kunstbetrieb seine eigene Aufmerksamkeits- und Anerkennungsökonomie, die Acker am Beispiel eines jungen Künstlerkollegen Airplanes persifliert, der sich, wie die Autorin einst selbst, mit einer Arbeit im Rotlichtmilieu über Wasser hält: „The kid was now cleaning the piss and other items out of the cubicles and hoping to be discovered by Andy Warhol.“ (IM 125) Nach einem langen Weg über die „Leiter der Transgression“ finden Airplane und Capitol ein Modell für eine postmoderne Form der Künstleridentität, die ihnen ein vielversprechendes autopoietisches Potential bietet ohne sie in einem bestimmten Rollenbild zu fixieren. Es funktioniert, weil es zwar auf Überschreitung von Normen und die Bohème als Lebensform setzt, diese aber nicht in die Identität des Poète maudit gießt. Hier geht es nicht darum, Seher-Dichter zu werden, weil gerade darin die Ge-

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fahr der Arratierung liegt: Ein Seher glaubt immer, eine absolute Wahrheit zu sehen. Er ist eine Figur der einmaligen Überschreitung, nicht der permanenten. Vielmehr heißt es hier, „nur“ Dichter, zu werden, was nicht bedeutet, „Autor“ seiner selbst zu sein, da sich niemand von Grund auf ohne den Ballast von Sozialisation und Individualgeschichte neu erfinden kann. Dichter sein heißt, durch Erfahrung, Affekt und Ästhetik jene von der Umwelt vorgedachten Identitätsschablonen zu zertrümmern und die Bruchstücke mit Elementen des Neuen immer wieder neu zu collagieren. Das Feld des Poetischen, das bei R/Rimbaud noch klar codierte Formen hatte (und deswegen als Freiheitsutopie scheitern musste) wird hier zu einem offenen experimentellen Freiraum, in dem sich Inhalte und Formen (künstlerischer) Identität immer wieder neu verhandeln lassen. Exemplarisch deutlich wird dies in Capitols Kunst. Sie beginnt, gemeinsam mit einem anderen Künstler namens Rhy Performances zu veranstalten, für die sie Puppen baut, zerschmettert und wieder neu zusammensetzt: During some of the performances, Capitol’s smashed dolls would make speeches, even enac t scenes out of real-life personal dramas, while Rhy or someone else did something musical or even once, a beautiful girl showed a movie about high school and sex. One of the smashed dolls was a Quixote, not the usual Quixote looking for love and purity in a society in which there weren’t. (IM 240)

Hier nimmt Acker nicht nur auf eine typische Art der performativen Kunstausübung der East-Village-Bohème und ironisch auf ihr eigenes Werk Bezug, sondern formuliert auch ein mögliches Modell postmodern-transgressiver Identitätspolitik: „Now in her work she smashed up dolls and remade the pieces, as one must remake oneself [meine Hervorhebung – d. Verf.], into the most hideous abstract nonunderstandable conglomeration possible which certain people saw as beautiful.“ (IM 249) Heterogenität, Hybridität und kreative Appropriation von verschiedenen identitären Signifikanten haben die einmalige Negation als den Erfolg versprechenden transgressiven Modus abgelöst. Nur das ständige „Zerschmettern“ und wieder Zusammensetzen von Identitätsfragmenten, das ständige Neuerfinden seiner selbst bietet die Möglichkeiten, sich der Eindeutigkeit der Normativität zu entziehen: „For freedom,‘ Capitol said, ,no man is going to tell me what to do nor woman. Sometimes women are the worst of all. Smash all the goddamn dolls again and again that’s what my beauty is.“ (IM 249) Auch Airplane verschreibt sich der Idee des permanenten identitären Werdens, nachdem sie die Potentiale dieser identitätspolitischen Praxis erkannt hat: „Airplane had decided, after considering the facts of herself, that women don’t have shifting identities today, but rather they roam.“ (IM 220) Nicht die einmalige Standortveränderung („shifting“), der beispielsweise der traditionelle Feminismus der Moderne anhing, bietet das Potential für Befreiung, sondern das permanente identiäre Herumschweifen („roam“). Aus diesem Grund lässt Airplane auch die vermeintliche Utopie der Künstlerbohème New Yorks mit all ihren scheinbar antinormativen Normen und ihrer Aufmerksamkeitsökonomie hinter sich, um sich neue Identitätsoptionen zu ermöglichen:

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Though it no longer mattered returned to her life which was mainly work and some friends. […] By returning to a reality which no longer mattered or exis ted for her, work or art criticism (the old New York art world was dead) and friends (who had become totally desperate to be famous because, approaching middle age, it was their las t chance), she was ac tually building a new life. Not in terms of content, but form. Fic tion. Realized that fic tion, only as reality, mus t work: life begins in nothingness. (IM 244)

Die Auslassung des grammatikalischen Subjekts im ersten Satz dieser Passage signalisiert, dass Airplane sich von jedem Entwurf eines fixierten Selbst losgesagt hat (hier schließt sich der Kreis zum Titel des Romans) und bereit ist, „sich selbst“ neu zu schreiben. Diese Sphäre der Selbstkonzeption (nicht der Selbstfindung, die zu den transgressiven Diskursen der Moderne gehört) findet sie in einem „Nichts“ („life begins in nothingness“), das jedoch keine nihilistische postmoderne Beliebigkeit bezeichnet, sondern eine Nichtarretierbarkeit, deren Basis die permanente kreative Appropriation und Neukontextualisierung verschiedenster identitärer Parameter ist, die als Trümmer nach der Zerschlagung gesellschaftlicher Rollenmuster zurückbleiben.

Der Tod als let zte Grenze: Pasolini Mit Pier Paolo Pasolini behandelt Acker eine weitere Ikone grenzüberschreitender Kunst in einem ihrer Bücher. Der Titel, My Death, My Life by Pier Paolo Pasolini führt in die Irre, verleitet er doch zu der Annahme, Pasolini sei die zentrale Figur dieses Romans, den Acker selbst als „probably unreadable“168 bezeichnet hat. Tatsächlich taucht die Figur Pasolini nur auf wenigen Seiten des Textes auf. Der Rest dieses selbst für Ackers Verhältnisse schwer zugänglichen Werkes ist eine Collage aus ShakespeareAdaptionen, selbstverfassten Dramenfragmenten (die unter anderem die Französische Revolution und den Nordirlandkonflikt zum Inhalt haben), autobiographischen Passagen, plagiierten Fragmenten aus Kriminalromanen, einem zur Hälfte aus dem Original übernommenen und zur Hälfte von Acker selbst verfassten Briefwechsel zwischen den Brontё-Schwestern sowie einer Reihe von fragmentarischen kunsttheoretischen Reflexionen. Dennoch kann man sagen, der Roman sei in der Tradition Pasolinis geschrieben, der, wie Acker selbst betont hat, prägenden Einfluss auf ihr eigenes Werk hatte: „The influence of Pasolini’s theories on my work is particularly important. He refused to separate genres – film, poetry, criticism. He refused to separate body and mind.“169 Im Werk beider Künstler finden sich zahlreiche Parallelen: ihre Ablehnung der bürgerlichen Ideologie und ihrer Scheinmoral, ihre Kritik am Materialismus der westlichen Welt, ihre Faszination für die marginalisierten Schichten der Gesellschaft, ihr Interesse an der Funktion von Mythen in der Kultur, ihr Gebrauch von devianter Sexualität als identitätspolitisches und gesellschaftskritisches Werkzeug, ihre Freude am Tabubruch, ihre Skepsis gegenüber der Studentenrevolte der 1960er Jahre und na168 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 19. 169 | Ebd., S. 20.

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türlich ihr intermedialer Kunstansatz. Beiden dient der Pirat als idealtypischer transgressiver Außenseiter (Pasolini hat eine Anthologie politischer Texte unter dem Titel Freibeuterschriften170 herausgegeben), beide haben Sades Literatur der Überschreitung für ihre jeweilige künstlerische und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung genutzt (Pasolini hat mit seiner 1975 entstandenen Sade-Adaption Salò o le 120 giornate di Sodoma einen bis heute umstrittenen, exzessiven Höhepunkt des transgressiven Films geschaffen). Liest man, was Pasolini vom Rezipienten seiner Kunst verlangt, könnte man glauben, auch eine Lektüreanweisung für Ackers Romane zu erhalten: Er muss die Fragmente eines vertrauten und unvolls tändigen Werkes zusammenset zen. Er muss verschiedene Stücke, die sich jedoch ergänzen, zusammenfügen. Er muss die widersprüchlichen Momente ordnen und ihre wesentliche Einheit aufdecken. Er muss mögliche Inkonsequenzen (das heißt verworfene Untersuchungen oder Hypothesen) beseitigen. Er muss die Wiederholungen durch mögliche Varianten erset zen[.]171

Trotz dieser vielen Gemeinsamkeiten bewegten sich Acker und Pasolini in zwei nicht vollkommen kongruenten transgressiven Diskursen – die postmoderne Wende trennt sie. So hat Pasolini, anders als Acker, nie vermeintlich triviale Kunstformen oder populäre Mythen appropriiert. In der Wahl seiner Stoffe steht er in der Tradition der Hochmoderne. Seine Bezugspunkte sind entweder eine als nicht-bürgerliche und daher als Ausdruck eines authentischen Menschseins verstandene Volkskunst (etwa in seinen friaulischen Gedichten) oder der Kanon der westlichen Kultur (die griechische Mythologie; die Bibel; Dante; Boccaccios Decamerone etc.). Selbst seine radikale SadeVerfilmung ist mit einem Literaturverzeichnis versehen, als bedürfe es einer akademischen Legitimierung für die Auswahl dieses Stoffes. Vor allem in der Zielsetzung seiner Überschreitungen kann man Pasolini als einen der letzten bedeutenden Avantgardisten der modernen Schule bezeichnen, dessen Gesellschaftskritik und Programmatik sich im Rahmen der entsprechenden Koordinaten bewegt hat: In der heutigen Welt lebt das Individuum, ein Opfer der Entfremdung, mit einer falschen Vors tellung seiner selbs t, unauthentisch. Das Verhältnis von Authentischem und Unauthentischem liegt außerhalb der sprachlichen Kommunikation […]. Also s türzt der Einbruch des Authentischen in die unauthentische Welt diese nur in die Krise, eine Krise aber, die selbs t eine Form der Rettung is t. 172

In seiner Lebens- und Kunstpraxis hat Pasolini versucht, das Authentische – eine Kategorie, an die er fest glaubte – nicht nur sprachlich, sondern in beinahe allen Formen kreativen Ausdrucks zu kommunizieren, um dadurch letztendlich eine Transformation der Gesellschaft (ihre „Rettung“) anzuschieben. Gerade die Vielgestaltigkeit seiner 170 | Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Texte und Polemiken über die Zers törung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1979. 171 | Pasolini zitiert in: Giuseppe Zigaina: Pasolini und der Tod. Ein rein intellektueller Krimi, Frankfurt am Main 2005, S. 7. 172 | Pasolini zitiert in: Otto Schweit zer: Pasolini, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 101.

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authentizitätsorientierten Überschreitungen etablierten seinen Status als idealtypischer Avantgardist: Er lebte im konservativen und katholisch geprägten Italien seine Homosexualität offen aus und machte sie allen Anfeindungen und Zensurversuchen zum Trotz zum Thema seiner Kunst. Durch ihn hat das sprichwörtlich gewordene „pasolinische“ Subproletariat der italienischen Großstädte Eingang in die künstlerische Repräsentation und in die politische Debatte der damaligen Zeit gefunden. Er engagierte sich für die kommunistische Partei, ohne ihren orthodoxen Tendenzen anzuhängen und versuchte auf diese Weise den schwierigen Spagat zwischen politischem und kulturellem Radikalismus. Er suchte den offen Konflikt mit der Kirche, die in Italien noch immer eine bedeutende gesellschaftliche Autorität darstellt. Pasolini wird für Acker zur prototypischen Figur des modernen Avantgardisten, der mit der anbrechenden Postmoderne und den damit einhergehenden Veränderngen in der westlichen Welt – weg vom national organisierten Industriekapitalismus hin zu einem zunehmend globalisierten, postindustriellen Spätkapitalismus – konfrontiert ist. Sie bilden symbolträchtig die kulturelle Szenerie für seine Ermordung, das My Death aus dem Romantitel: The scene: Increasingly overt control of dynamic materialism by Multinationals in Italy expresses itself particularly in rise of terrorism (right-wind [sic!] media s trategy and expression of the populace’s inability to ac t func tionally and politically) and in Americanism, that homogenization of daily lives and identities. (PPP 249)

Diese gesellschaftliche Transformation erscheint als Krise der Idee des „Reinen“ und damit auch des reinen transgressiven Diskurses: „Up until the 1970s the ancient world, the world which is daily life and thinking and loving, existed – but was swept away, and from the age of innocence we’re passed to the age of corruption.“ (PPP 249) Ackers Version Pasolinis befindet sich genau wie ihr historisches Vorbild in einer ideologischen Krise, nachdem die Fronten der traditionellen binären Kulturkämpfe der Moderne sich verschoben haben. Für den realhistorischen Pasolini hat der „derzeitige Spätkapitalismus eine Richtung [eingeschlagen], die mit den Wünschen der Massen übereinstimmt. So dass die letzte Hoffnung auf eine Erneuerung der Werte durch die kommunistische Revolution verschwindet.“173 In dieser Aussage drückt sich das Scheitern des dem modernen Transgressionsverständnis verpflichteten Avantgardisten aus, dessen gegen die Disziplinargesellschaft durchaus wirksame Waffen angesichts der subtil wirkenden Kontrollgesellschaft stumpf geworden sind. Der Kommunismus als antibürgerliche Utopie, in der die Entfremdung des modernen Menschen überwunden werden kann, hat für Pasolini immer eine zentrale Rolle in seiner avantgardistischen Praxis gespielt, auch wenn sein Engagement mehr auf dem künstlerischem als auf (partei)politischen Feld stattgefunden hat. Alberto Moravia hat konstatiert, dass Pasolinis Kommunismus, den man durchaus als kulturell 173 | Pier Paolo Pasolini: „Die Apokalypse“, in: Peter W. Jansen und Wolfram Schütte (Hg.): Pier Paolo Pasolini (Reihe Film, Bd. 12), München und Wien 1977, S. 94–102; hier: S. 101.

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radikalen bezeichnen kann, kein dogmatisch-marxistischer war, sondern ein „populistischer und romantischer, ein von nationalem Mitgefühl, philologischer Nostalgie und anthropologischer Reflexion stimulierter, der in der archaischsten Tradition wurzelt und gleichzeitig in die abstrakteste Utopie sich verlängert“, der zudem „zutiefst emotional war im Sinne einer existenziellen, kreatürlichen, irrationalen Erfahrung.“174 Die Erkenntnis, dass der Spätkapitalismus (der nicht umsonst in der Kontrollgesellschaft sein soziales Ordnungsmodell findet) eine derart perfide Subtilität entwickelt hat, die dazu führt dass die zur Produktion und zum Konsum sozialisierten Individuen ihre eigene Entfremdung auch nicht mehr durch aufgeklärtes Klassenbewusstsein erkennen können, war für Pasolini gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch seines dualistischen Transgressionsmodells. Peter Kammerer bemerkte dazu: Was Italien bis vor kurzem von Zentraleuropa unterschied, war die Exis tenz breiter, von bürgerlicher Kultur nicht kolonialisierter Volksmassen. Dieser Entdeckung verdankt Pasolini seine Dichtung. Es mag sein, dass der Alptraum des Dichters sich verwirklicht und die Integration des italienischen Volkes in die bürgerliche Kultur genauso lückenlos sein wird, wie sie es im zentralen Europa zu sein scheint.175

Pasolinis Weltbild war damit das „Außen“, das authentische „Andere“ abhanden gekommen. Zu seiner Krise trug weiterhin bei, dass er, trotz aller Kontroversen um seine Person und sein Werk, Mitte der 70er Jahre immer mehr von der „Institution Kunst“ vereinnahmt und zumindest in seiner Rolle als „enfant terrible“ durchaus akzeptiert war. Er erlitt das Schicksal vieler transgressiver Künstler zu erleiden: Das Schockierende seiner Kunst wurde in bestimmten Kreisen schick und somit teilweise schal, selbst wenn es außerhalb der Intellektuellen- und Kunstszene durchaus noch Verstörung hervorrufen konnte. Seine selbstgewählte Rolle als Außenseiterkünstler konnte er nur noch halb erfüllen. Ähnlich wie Acker eineinhalb Jahrzehnte später während ihrer Phase als literarischer Popstar in Großbritannien war Pasolini ein geduldeter „Freak“ im Kulturestablishment – nicht ganz zugehörig, aber auch kein Verdammter mehr. Doch anders als Acker konnte er diesen Zwischenstatus nicht produktiv nutzen. Gerade weil Pasolini nicht in der Lage war, seinen Glauben an ein authentisches Außen zu überwinden, bleibt er in einem bestimmten Transgressionsverständnis arretiert, das zunehmend nicht mehr den sich verändernden kulturellen Realitäten entsprach. Das selbstgewählte identitäre Etikett des radikalen Avantgardisten, das einst für Befreiung stand, wurde ihm nun zum Gefängnis. Es setzte ihn dem Druck aus, Tabubrecher in einer kulturellen Situation zu sein, in der seine Form der Tabubrüche immer weniger an subversiver Kraft und skandalösem Potential entfalten konnten, weil sich das Koordinatensystem gesellschaftlicher Normen verschoben hatte. Deshalb gewinnt auch sein letzter großer Skandal so große Bedeutung – sein Tod. Die immer noch nicht vollständig aufgeklärten Umstände seiner Ermordung in 174 | Alberto Moravia: „Der Dichter und das Subproletariat“, in: Jansen/Schütte: a. a. O., S. 7–12; hier: S. 7f. 175 | Peter Kammerer: „Der Traum vom Volk. Pasolinis mythischer Marxismus“, in: Jansen/Schütte: a. a. O., S. 13–34, hier: S. 33.

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der Nacht zum 2. November 1975, für die der damals minderjährige Strichjunge Pino Pelosi verurteilt wurde, waren letztendlich auch der Stein des Anstoßes für Ackers Roman: „[…] I was fascinated by his murder and also by the media around his murder. In the media, the idea advanced was ,pornmaker, homosexual‘ murdered in gory homosexual murder. Everything was covered over in the trial.“176 In der Tat hat die Undurchsichtigkeit der juristischen Aufarbeitung des Mordes zu einer Reihe von Gerüchten, Legenden und Verschwörungstheorien geführt, die im Wesentlichen drei Stoßrichtungen erkennen lassen: 1. Pasolini fiel einem von vielen möglichen Morden zum Opfer. 2. Pasolini wurde wegen seiner Angriffe gegen die chris tdemokratische Regierung von den ,Geheimdiensten eliminiert‘. 3. Pasolini selbs t war der ,Organisator‘ seines Todes, der, als Ausdrucksmittel konzipiert, dazu bes timmt war, seinem Werk den vollen Sinn zu geben.177

Im Hinblick auf Pasolinis Ruf als radikaler und transgressiver Künstler ist der dritte Ansatz, der seinem Tod eine performative Ebene zuschreibt, sicherlich der interessanteste, interpretiert er doch den Tod als integralen Bestandteil von Pasolinis Avantgardistendasein. So schreibt beispielsweise Otto Schweitzer: Die Szenerie seines Todes war ,pasolinianisch‘ (das kann man in diesem Fall ohne Verhöhnung sagen): […] Die unwirkliche Landschaft der Baracken und Schuttfelder bei Os tia erkannten alle seine Freunde wieder: aus seinen Romanen, aus seinen Gedichten, aus seinen Filmen. Das soziale Milieu, aus dem Pelosi s tammt, die ,wilde‘ Sexualität, die Ums tände des let zten Kampfes entsprachen den mythischen Topoi seiner Werke.178

Folgt man dieser Interpretation, wäre Pasolinis Ende eine letzte Geste seiner Authentizitätssuche, eine Überschreitung der endgültigsten und existentiellsten Grenze gewesen, so, „als wäre ein anderer Sinn seiner Handlungen und seines Erlebens gar nicht denkbar gewesen.“179 Da es Pasolini nicht gelang, sich aus seiner avantgardistischen Sinnkrise zu befreien, blieb ihm, wie Schweizer andeutet, letztendlich nur eine Option: „War diese Situation nun eingetreten, gönnte ihm die Welt […] nicht einmal mehr die Gnade der Ablehnung? Hatte er den Kampf verloren; war sein Tod, dieser Tod, ein letzter, unfreiwilliger Triumph, eine letzte Selbstbehauptung?“180 Ackers postmoderne Appropriation des „Mythos Pasolini“ nimmt das spektakuläre Ende seines Leben als Ausgangspunkt für ihren Roman. Gleich am Beginn fragt der ermordete Künstler selbst: „Did I ask to die? Was my murder a suicide by 176 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 19f. 177 | Zigaina: a. a. O., S. 6. 178 | Schweit zer: a. a. O., S. 136. 179 | Ebd., S. 129. 180 | Ebd., S. 137.

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proxy?“ (PPP 249) Im Gespräch mit Friedman äußerte sie, ihr Ziel sei gewesen, eine (nach eigener Aussage letztendlich gescheiterte) „Agatha Christie version of Pasolini’s murder“181 zu verfassen, in der der Ermordete selbst seinen geheimnisvollen Tod auf klären soll. Dahinter steht der Versuch, sich dem Künstler Pasolini dekonstruktiv vom Mythos Pasolini her zu nähern: „As I got into solving his murder, I didn’t learn how he died, so much was coverd over. What I did learn was, how multi-leveled he was.“182 Es scheint beinahe, als hätte Acker damit versucht, einen Auftrag Pasolinis zu erfüllen, der über sich gesagt hat: „Solange ich nicht tot bin, kann niemand behaupten, mich wirklich zu kennen, das heißt meinem Handeln einen Sinn geben zu können, das also, linguistisch betrachtet, schwer dechiffrierbar ist.“183 Nicht zuletzt durch Zitate wie dieses trug Pasolini selbst nicht unwesentlich dazu bei, dass sein Tod von manchen Kommentatoren und Biographen als eine Art von Performance interpretiert wurde. Acker selbst scheint mit dieser Lesart zu sympathisieren. Sie schwingt auf einer subtextuellen Ebene mit und die unter einem Dramenfragment wohl nicht zufällig in Klammern stehenden Signatur „(Pasolini died by suicide)“ (PPP 318) deutet ebenfalls darauf hin, dass sie Pasolinis Tod als performativen Selbstmord interpretiert. Auf die tatsächlichen historischen Umstände dieser „Aufführung“ geht sie kaum ein. Sie montiert auf wenigen Seiten (PPP 249ff.) Beschreibungen des Mordes aus den Perspektiven Pasolinis, Pelosis und eines nicht näher identifizierten Zeugen ineinander. Pasolini selbst verschwindet anschließend weitestgehend aus dem Roman, nachdem er angekündigt hat, Licht ins Dunkel dieser Angelegenheit bringen zu wollen: „I, Pier Paolo Pasolini, will solve my murder by denying the principle of causation and by proposing nominalism.“ (PPP 254) An dieser Stelle kommt es zu einer Verschiebung weg vom konkreten Fall und der Person Pasolinis hin zu einer Reflexion dreier Diskurse, die in seiner wie in Ackers Kunst einen großen Stellenwert haben: Sex, Sprache und Gewalt (vgl. PPP 255) Die „Ermittlung“ wird somit zum diskursiven Kampf gegen den Realitätseffekt hegemonialer Machtstrukturen, bezeichnet der Begriff „Nominalismus“, so Pitchford, doch eine Theorie, nach der abs trac t principles exis t only in language and have no objec tive reality, […] that meaning – causality – is a func tion of language and not prior to it. Nominalism is a counterrational position because it resis ts the view of language as inert matter to be subjec ted to a user’s will. Nominalism identitifies causality at work in language itself, in the movement from signified (cause) to signifier (effec t). That movement – meaning – mus t be blocked in order to break control.184

Die Auf klärung des Verbrechens wird bei Acker zu einem poststrukturalistischen Unternehmen der Dekonstruktion, der Text selbst nimmt nun die Rolle des Detektivs 181 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 20. 182 | Ebd. 183 | Pier Paolo Pasolini. „Anmerkungen zur Eins tellungssequenz“, in: Jansen/Schütte: a. a. O, S. 77–84, hier: S. 83. 184 | Pitchford: a. a. O., S. 79f.

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ein und die Figur Pasolinis tritt in den Hintergrund. Seine nominalistische Methode erweist sich als Spiegelbild von Ackers Methode der Textproduktion: I picked three ways of solving the murder. I wanted a non-political way of solving it. So I picked three categories: sex, language and violence. They had to be appropriate categories. The way of solving it was by way of nominalism. Once I had these categories, anything went. Once I had the category sex, anything went that was about sex. Language was any language experiment, so I played with language school theory.185

Der entmys tifizierte Heilige: Genet Neben dem Duo Rimbaud/Verlaine und Pasolini ist Jean Genet eine weitere radikale Künstlerikone, an deren Beispiel Acker den avantgardistischen Diskurs der Moderne kritisch hinterfragt. Auch er gehört zu den klassischen Autoren der Transgression, zu denen sie, wie schon zu den oben genannten, ein ambivalentes Verhältnis hat. Einerseits ist er ist ein Vorläufer ihres eigenen literarischen Überschreitungsprojekts, mit dem seine Schriften eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen: Die Identifikation mit den „unteren“ Schichten der Gesellschaft; die Glorifizierung von Nomadentum und (sadomasochistischem) Begehren als Strategien der Erweiterung des eigenen „Ich“; die explizite Beschreibung des devianten „amoralischen“ Sexuellen und das daraus resultierende Image des Pornographen; die Beschäftigung mit Mechanismen der sozialern Kontrolle und Unterdrückung angesichts der gesellschaftlichen Normativität. Gleichzeitig erkennt Acker gewisse Grenzen bzw. blinde Flecken in Bezug auf die transgressive Ambition von Genets Werk, die angesichts seiner Reputation oft übersehen werden. Genet gilt in der allgemeinen Wahrnehmung als einer der größten Tabubrecher und Grenzgänger der Literatur des 20. Jahrhunderts. Seine Existenz als Delinquent, wie er sie in seinem autobiographischen Roman Journal du Voleur (1949) beschrieben hat, hat ihren Ursprung zwar im existentiellen Außenseitertum des halbwaisen Fürsorgezöglings, gewinnt aber – nicht zuletzt durch ihre Literarisierung durch den Protagonisten selbst – den prometheischen Anspruch des intentionellen Außenseiters. Sein Vagabundieren, sein Stehlen, sein Sich-Prostituieren und schließlich das Schreiben sind von dem Selbstverständnis getragen, ein gegen die verhasste bürgerliche Ordnung gerichtetes performatives Gesamtkunstwerk zu sein. Genet hat sein Journal selbst als identitätspolitische „Suche nach dem Unmöglichen Nichtsein“186 bezeichnet. Durch seine Weigerung, ein „gutes Subjekt“ zu sein, setzte er sich heftigen Angriffen durch die herrschende Ordnung aus und wurde so symbolisch zum Märtyrer des Nonkonformismus. Diesem Bild folgen auch die zeitgenössischen Sympathisanten. Verfolgt von Zensur, bürgerlichen Sittenwächtern und Justiz ging es ihm, so diese Rezipienten, nicht nur darum, „der Realität zu entfliehen, sondern sie zu überschreiten“187, wie 185 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 20. 186 | Jean Genet: Tagebuch eines Diebes, Hamburg 1966, S. 107. 187 | Jean-Paul Sartre: Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 30.

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Jean-Paul Sartre in seinem monumentalen Essay Saint Genet schrieb, der die Rezeption Genets nachhaltig geprägt und seine Denkmalwerdung wesentlich befördert hat. Sartre und Jean Cocteau waren es auch, die im Jahr 1948 eine von zahlreichen Intellektuellen unterstützte Petition an den französischen Staatspräsidenten Auriol verfasst hatten, in der die Begnadigung des wegen verschiedener Delikte von einer lebenslangen Haftstrafe bedrohten Schriftstellers gefordert (und auch erreicht) wurde. Hans Mayer hat den Mythos Genet in seinem Buch über die Außenseiter folgendermaßen kommentiert: „Daß sich Genet durch Schreiben von den äußeren Zwängen, die er bisher interiorisiert hatte, freimachen konnte und dadurch zur Identität gelangte, ist unverkennbar. Das war nicht ungewöhnlich, besitzt nahezu bereits Klischeecharakter.“188 Es ist das Klischee eines modernen Verständnisses von Transgression: Die Überschreitung – in Genets Fall seine offen gelebte Homosexualität, seine Kriminalität, sein Schreiben darüber und sein Dasein als Poète maudit – erschließt authentische Identität. Es überrascht nicht, dass Acker ein solches Verständnis von Transgression als zu einfach kritisiert. Ihre Auseinandersetzung mit dem „Mythos Genet“ findet, wie immer eingebettet in ein Gewebe von Texten verschiedener Formen und Inhalte, im dritten Teil von Blood and Guts in High School statt, der den Titel „A journey to the end of the night“ trägt. Nachdem Janey mit ihrer Jugendrebellion mit den SCORPIONS gescheitert und sie auf Grund ihrer Krankheit von dem persischen Sklavenhändler Mr. Linker freigelassen wurde, reist sie „to that place of magic, Tangier.“ (B & G 116) Tanger ist für Ackers Revision gegenkultureller Transgressionen ein logischer Schauplatz – nicht nur, weil der realhistorische Genet dort einige Zeit gelebt hat. Die Stadt ist nicht zuletzt durch die Literatur zum Synonym für grenzüberschreitendes Leben schlechthin geworden. Sie war für die Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts ein idealtypisches transgressives Utopia, ein – zweifellos durch einen orientalistischen Blick verklärter – Ort der Verweigerung des „Westlich-Seins“, an dem scheinbar alle Grenzen aufgehoben und Erfahrungen jenseits aller Normen möglich waren. Während der Zeit unter internationaler Verwaltung (1923–1956) hatte Tanger einen politischen und wirtschaftlichen Sonderstatus, in dem viele Restriktionen traditioneller staatlicher Ordnung nur eingeschränkte Geltung hatten. Die Stadt wurde zum Tummelplatz für Existenzen, die für das an klare Verhältnisse gewohnte Auge des Bürgers zwielichtig erscheinen mussten: Kriminelle, Schmuggler, Spione. Zudem zog die dort herrschende Freizügigkeit und Toleranz gegenüber devianten Formen von Sexualität und dem Konsum von Drogen zunächst zahllose Aussteiger, Nonkonformisten, Homosexuelle, Künstler und Drogensüchtige an, denen in den 1960er Jahren dann auch viele Hippies und Anhänger anderer (Jugend)subkulturen dieser Zeit folgten. So scheint Tanger für den transgressiven Diskurs der Moderne ein klassischer „locus amoenus“ zu sein, steht er doch für „das Andere“ der westlichen Kultur und somit für Authentizität. Acker beschreibt diesen Mythos, indem sie sich der Worte Genets bedient: 188 | Mayer: Außenseiter, a. a. O., S. 297.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN In Journal du Voleur Genet wrote: Movies and novels have made Tangier into a scary place, a dive where gamblers haggle over the secret plans of all the armies in the world. From the American coas t, Tangier seemed to me a fabulous city. It was the very symbol of treason. (B&G 128)

Im Originalzitat spricht Genet statt von der amerikanischen von der spanischen Küste.189 Durch diesen Austausch des Adjektivs schlägt Acker den Bogen zu der Bedeutung, die Tanger als Sehnsuchtsort in besonderem Maße für die amerikanische Literatur hatte. Das Image von Verruchtheit, Libertinage und Freizügigkeit wirkte auf auffallend viele, mal mehr oder weniger kritische und avantgardistische Autoren aus den Vereinigten Staaten wie ein Magnet, die entweder dauerhaft (wie Paul und Jane Bowles) bzw. über längere Zeiträume (William Burroughs) ihren Lebensmittelpunkt nach Tanger verlegten oder die Stadt bereisten (Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Truman Capote, Tennessee Williams). Bei den meisten von ihnen sind die Erfahrungen und Eindrücke dieser Aufenthalte in irgendeiner Form in ihr Werk eingeflossen. Dieser literarische Kultort wird nun zum Schauplatz des Zusammentreffens zwischen dem rebellischen aber uramerikanischen High-School Mädchen Janey Smith und Jean Genet. An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs zu Ackers Strategie der Textkonstruktion (des „Schreibens“ wäre hier ein unpassender Begriff) für das Verständnis ihrer Kritik am „Mythos Genet“ wichtig. Über weite Strecken verzichtet sie bei der Beschreibung dieser Begegnung auf ihre eigenen Worte. Megan Milks hat herausgearbeitet, dass Acker sich hier vor allem eines Textes als Material für ihre Aneignung bedient, der nicht weniger zur Mythenbildung um Genet beigetragen hat als etwa der Sartres: „At this point, Acker plagiarizes Mohamed Choukri’s Jean Genet in Tangier, which is a diary of Choukri’s daily meetings with Genet translated into English by Paul Bowles.“190 Acker nutzt diesen Text natürlich nicht ohne Grund. Laut Milks unternimmt Acker, indem sie ihre Protagonistin an die Stelle eines erst durch die Übersetzer- und Herausgeberschaft eines Weißen für ein westliches Lesepublikum konsumierbar gemachten marokkanischen Autors setzt, eine Kritik am kolonialen Blick, der den meisten Texten der „Expatriates“ von Tanger innewohnt. Der Roman wird damit zu einem Vorläufer einer ganzen intellektuellen Strömung, antizipiert er doch die „decades of postcolonial criticism that has since developed and is only now being applied to her work.“191 Dieses Verfahren hat auch einen transgressiven Aspekt, da Acker das Identitätsmerkmal der ethnischen Zugehörigkeit überschreitet, das die gegenkulturellen 189 | Vgl. Genet: a. a. O., S. 96. 190 | Megan Milks: „Janey and Genet in Tangier: Power Plagiarism in Kathy Acker’s Blood and Guts in High School“, in: Mackay/Nicol: a. a. O., S. 91–114, hier: S. 93. In ihrem Aufsat z hat Milks zudem in einer synoptischen Gegenübers tellung herausgearbeitet, welche Textpassagen Acker aus Choukris Buch und auch aus Genets Drama The Screens (Originaltitel: Les Paravents) aus dem Jahr 1961 plagiiert und in den Kontext der Geschichte von Janey Smith geset zt hat. Siehe dazu ebd.: S. 108–113. 191 | Ebd. S. 91. An gleicher Stelle weis t Milks darauf hin, dass Blood and Guts in High School zeitgleich mit Edward Saids Orientalism ents tand.

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Exilanten aufrechterhalten hatten. Tanger war eben keine Version des von Bhabha skizzierten postkolonialen „dritten Raumes“ avant la lettre. Die binäre Differenz zwischen Orient und Okzident hatte in dieser „Interzone“, wie Burroughs die Stadt in seinen Werken genannt hatte, immer ihre Gültigkeit behalten. Zwar solidarisierten sich beinahe alle westlichen Literaten der Moderne, die sich in Tanger niedergelassen hatten mit den „Natives“ und übten Kritik an den Ungerechtigkeiten des politischen und ökonomischen Imperialismus. Gleichzeitig überhöhten sie das „Anderssein“ der orientalischen Kultur als authentische kulturelle Gegensphäre zur bürgerlichen Ordnung des Okzidents. An die Stelle des imperialen Unterdrückungsrassismus tritt ein transgressiver Authentizitätsrassismus. Der grundlegende binär codierte Modus der Identitätskonstitution durch die Produktion von eindeutigen Differenzstrukturen wird mit dieser Umwertung aber reproduziert. Es konnte so zweifellos zu einem literarischen Dialog und zur sozialen Interaktion zweier Kulturkreise kommen, eine Hybridisierung im postmodernen Sinn fand aber in keiner Weise statt. Erst Acker gelingt es eher beiläufig, durch die Übernahme von Choukris Erzählstimme durch ihre eigene Protagonistin ein solches Hybrid zumindest auf der Ebene der Textualität herzustellen. Gleichzeitig erfüllt dieser Akt der literarischen Piraterie eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Rolle von Genets Reputation als „heiligem“ Künstler-Außenseiter. Mittels dieser Appropriaton eines zentralen Textes der Legendenkonstitution, die den wenigsten Lesern bewusst sein dürfte, setzt sich Acker eben nicht mit der realen Person Genets auseinander und versucht nicht, deren psychologische Tiefendimensionen auszuloten. Für Ackers Gesamtwerk gilt Milks Feststellung „that, through plagiarism, Acker is not representing the world, but textual representations of the world[.]“192 Angesichts dessen geht es bei prominenten Akteuren der Überschreitung, die sie in ihren Romanen auftreten lässt, nicht um Biographie, sondern in erster Linie um Rezeption. Janey, die mittels des Plagiats gewissermaßen in die identitäre Position Choukris geschlüpft ist (ohne jedoch zu Chourki zu „werden“), trifft nicht auf die realhistorisch Person Jean Genet, sondern auf den Mythos, der sich, wie bei den meisten kulturellen Ikonen, auf Basis von Biographie, soziokulturellem Kontext, Werk und Rezeption zu einem von der konkreten Persönlichkeit losgelösten Narrativ entwickelt hat. Genet wird in Blood and Guts in High School somit zur Personifizierung einer spezifischen Ausprägung des Diskurses der transgressiven Literatur der Moderne. Mit ihm sucht Janey Kontakt – auch weil sie mittlerweile selbst zur Schriftstellerin geworden ist. In der Gefangenschaft des persischen Sklavenhändlers hat sie das Schreiben für sich entdeckt: „Janey lived in the locked room. Twice a day the Persian slave trader came in and taught her to be a whore. Otherwise there was nothing. One day she found a pencil stub and scrap paper in a forgotten corner of the room. She began to write down her life…“ (B&G 65) Hier erzeugt Acker bewusst eine Ambivalenz: „Write down her life“ kann gleichermaßen autobiographisches oder autopoietisches (im Sinne eines Selbstentwurfes des eigenen Lebens) Schreiben bedeuten. 192 | Ebd. S. 103.

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Genet jedenfalls wird sie sich mit den Worten „I’m a writer.“ (BG 118) vorstellen. In den im Roman eingestreuten „Excerpts from Janey’s diary while she is in Tangier“ (B&G 117ff.) wird die Begegnung zwischen den beiden als Treffen zwischen Schüler und Mentor beschrieben. Dieses Verhältnis ist jedoch frei von Rs kunstreligiösem Pathos aus In Memoriam to Identity. Vielmehr arbeitet sich Acker hier wieder implizit am Zeitgeist der 1960er ab, als sich viele Aktivisten der „Counter Culture“, inspiriert von dem nicht zuletzt durch die Literatur beförderten Mythos von Tanger als utopischem Ort jenseits der westlichen Normen auf den Weg dorthin machten. Noch bedeutender für das Verhältnis der beiden Figuren erscheint mir aber, dass Janey in vielem ein weibliches Spiegelbild Genets ist (zumal sich ihre Namen in der englischen Aussprache beinahe identisch anhören): Er wuchs vaterlos auf, sie ohne Mutter. Beide wurden, jeweils auf eine andere Art, vom verbliebenen (gegengeschlechtlichen) Elternteil verlassen. Für beide waren sexueller Exzess und Kriminalität Modi der Ich-Erweiterung und der Rebellion gegen die Gesellschaft. Beide wählten Slums und Armenviertel als Schauplätze ihrer Überschreitungen und solidarisierten sich mit ihren Bewohnern. Beide fanden in der Gefangenschaft zur Schriftstellerei (Genets Erstlingsroman Notre-Dame-des-Fleurs entstand während eines Gefängnisaufenthalts in den Jahren 1942/43). Und nun treffen die beiden in Tanger aufeinander. Janey verhält sich dabei fast wie ein Fan oder Groupie, das sich einem Popstar der literarischen Bohème Tangers, nähern will: I’m sitting in the Café Tangier and smoking [sic!] a cigarette. ,Look,‘ my friend Michal says to me, ,that’s Jean Genet!‘ […] I have to meet Genet. It’s that simple. It’s not often something’s simple. If Genet refuses to talk to me I’ll walk away so I won’t be hurt. […] I say to my friend, ,I’m going.‘ He cries, ,You’re out of you mind.‘ As I’m walking towards Genet I hear: ,You can’t throw yourself on a famous writer like Genet, on a man who’ll rejec t you. You have to learn to control yourself.‘ (B&G 117)

Doch Genet lässt sich auf Janey ein. Die beiden führen Gespräche, die die stereotypen Probleme subkultureller Autoren im System des etablierten Literaturbetriebs zum Inhalt haben: „[W]e talk about writers, writing, and some of the problems of publication.“ (B&G 118) Im Folgenden entsteht eine Art Freundschaft zwischen den beiden, die schließlich darin gipfelt, dass Janey sich mit dem Autor nach dem Vorbild seines transgressiven Nomadentums, wie er es in seinem Jounal du Voleur beschrieben hatte, auf eine Reise durch Nordafrika macht. Janey scheint damit eine neue Identität als „Diebin“ und Autorin im genetschen Sinne und mit der Literaturbohème Tangers einen entsprechenden sozialen Raum gefunden zu haben: „I’m accepted in this world. I shake hands with Genet.“ (B&G 128)

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Die Reise, auf die sich das Duo begibt, ist nicht nur ein geographischer Grenzgang „through North Africa, through Rabat across the inland through Fés to Oujda, through Tiemsen the city of oases, straight north to Oran, and then, just as summer hits, along the Algerian sea border through Algiers and Bougie down to the mysterious city of Constatine“ (B&G 129), sondern auch ein textueller, der auch durch die fiktionale Welt von Genets Drama Les Paravents führt.193 Dabei muss Janey feststellen, dass ihre Wanderung auf den Spuren Genets ihr als Frau keine Freiheitsutopie bieten kann. Acker blickt hier von einer feministischen Perspektive aus auf das maskulin geprägte Narrativ vom „heiligen Genet“. Die avantgardistische Existenz als Dieb und Literat nach seinem Modell mag zwar nach außen die Sprengung der bürgerlichen Normenordnung bedeuten, doch gilt das vor allem für eine bestimmte Ausprägung des existentiellen Außenseitertums – das des Homosexuellen. Wie schon am Beispiel von Rimbaud und Verlaine deutlich wurde, steht diese Form der Differenzidentität in einer verdrehten Komplizenschaft mit dem patriarchalen Mehrheitsdiskurs, solange man sie, wie Genet es tut, als essentiell betrachtet. Das homosexuelle „Ich“ wird in der Genets Lebens- und Kunstpraxis impliziten identitätspolitischen Theorie als wahrhaftige Entität verstanden, deren Entfaltung von der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückt wird und sich daher gewaltsam durch gelebte wie künstlerische Transgressionen befreien muss. Diese richten sich nicht nur gegen den Staat und seine Institutionen (obwohl diese ein bevorzugtes Feindbild in Genets Literatur sind), sondern auch gegen Materialismus und sexuelle Heteronormativität. Damit haben sie durchaus kulturell radikale Züge. Doch die grundlegende Denkfigur hinter diesem Modell ist die eines Kampfes des authentischen Selbst gegen die Repression durch das Gemeinwesen. Damit ist Genets Projekt der Überschreitung ein durch und durch modernes. Aus der Perspektive von Ackers postmodernem Kulturverständnis kann dieses binäre Überschreitungsmuster nicht befreien, weil es nicht das Konzept einer authentischen Identität an sich angreift, sondern lediglich den Binarismus von Freiheit und Unterdrückung umzukehren versucht. So kann nur eine Scheinerlösung erreicht werden. Die „Realität“ als Produkt der Hegemonialkultur wird damit nicht, wie Sartre im oben stehenden Zitat behauptet, überschritten, sondern nur Positionen innerhalb dieses Konstrukts neu ausgehandelt. Schon Mayer hat das Fehlen einer glaubhaften Sphäre des Außen bei Genet konstatiert: „Die Gegenwelt bleibt innerhalb der Welt, wie die Gegenmoral innerhalb der Moral. […] Die Negierung bürgerlicher Werte mit Hilfe der durch die bürgerliche Gesellschaft ihrerseits negierten Werte führt aus dieser Gesellschaft nicht heraus.“194 Genet ist somit ein weiteres Beispiel dafür, dass auch der radikalste Separatismus letztendlich scheitern muss, weil er immer sein „Anderes“ zur Produktion der eigenen Identität braucht und so immer mit ihm verbunden bleibt. Dass der „Mythos Genet“ (es darf nicht vergessen werden, dass Janey nicht mit der Person reist) trotz aller Distanz zu den oberflächlichen Ausdrucksformen bürgerlicher 193 | Vgl. ebd., S. 100ff. 194 | Mayer: Außenseiter, a. a. O., S. 299.

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Moral ihren Phallozentrismus in radikalisierter Form reproduziert hat, wird Janey auf der Reise bald klar. Die Kategorie des Weiblichen spielt in seinem „authentischen“ Identitätsentwurf als Voleur (und eben nicht als Voleuse) als Emanzipationsfaktor keinerlei Rolle, weil er für die Formen der Unterdrückung, der sie als Frau ausgesetzt ist, keinerlei Sensibilität besitzt: „Genet doesn’t know how to be a woman. He thinks all he has to do to be a woman is slobber. He has to do more. He has to get down on his knees and crawl mentally every minute of the day.“ (B&G 130) Genet wird hier demaskiert. Er ist, obwohl er die homosexuelle Identität als antibourgeoisen Diskurs feiert, in geschlechterpolitischer Hinsicht doch ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft. Milks hat in ihrem Aufsatz betont, dass Acker ihre Aneignung von Texten Genets dazu nutzt, auf die in der Mythenproduktion um den Dichter lange übersehenen „inability to get at the partriarchal levels of oppression that exists beyond the colonizer/ colonized binary“195 aufmerksam zu machen. Transgression im identitätspolitischen Sinn kann nicht nur auf einem Feld identitärer Signifikation stattfinden, wenn Identitätszuschreibung auf vielen Ebenen funktioniert. Genet mag sich in seinem Werk gegen Heteronormativität und Kolonialismus gewandt haben, die Geschlechtergrenze und die dahinterstehenden Mechanismen soziokultureller Identitätsproduktion hat er jedoch nie hinterfragt. Sein Werk weist zwar eine Reihe von weiblichen Figuren auf, doch die Art und Weise ihrer Darstellung reproduziert den traditionellen Geschlechterbinarismus mit allen aus ihm resultierenden hierarchischen Strukturen. Acker spitzt diese in ihrem Roman zu und verdeutlicht sie auch typographisch: The hierarchy is (Genet has to explain the nature of the social world to her because she’s American): Rich men Poor men Mothers Beautiful women Whores Poor female and neo-female slut scum Janey (B&G 130f.)

Wie im Falle von Rimbaud und Verlaine hat man es bei Genet mit einem avantgardistischen Diskurs zu tun, in dem Frauen Objekte, nicht jedoch Subjekte sind. Dies gilt besonders für die Literatenszene in Tanger, in der Frauen kaum eine Rolle gespielt haben. So folgert Milks richtig: „[…] Acker indicts the female-excluding homosociality to the writerly realm while also erasing male subalternity, insisting that, in a partriarchal world, subalternity is by definition female – male subalternity cannot exist if female subalternity is an inherently worse position.“196 Folgerichtig ist die authentische Befreiung, die sich Janey von der Nachfolge des „heiligen“ Genet erwartet, für sie als Frau mittels dieses transgressiven Vorbildes nicht 195 | Milks: a. a. O., S. 102. 196 | Ebd., S. 99.

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möglich. Die Unterdrückungsstrukturen, denen sie in der westlichen Gesellschaft unterworfen ist, sind andere als bei Genet. Sein Modell des „Voleurs“ ist – auch in seinem impliziten absoluten Anspruch – nicht auf ihre Situation anwendbar. Acker verdeutlicht dies durch ein Persiflage der Idealisierung Genets durch den modernen transgressiven Diskurs, für die Sartres Saint Genet das im Grad der Verehrung und im Umfang der Huldigung massivste Beispiel ist: Little by little Janey begins to unders tand how beautiful Genet is. She’s so enamoured with him she’s creating him [meine Hervorhebung – d. Verf.]. Truth and falsehood, memory, perception, and fantasy: all the toys in this swirling that is him-her. She’s predic ting her future. Her future: Genet spits on her and kicks her. (B&G 131)

Hier geht es Acker nicht nur um Kritik an der im Mythos Genet impliziten Geschlechterhierarchie, sondern auch um den Modus der Transgression. Indem Janey den „heiligen“ Genet zum Vorbild für ihre eigenen Überschreitungen macht, evoziert sie für sich ein absolutes Idealbild und ist außer Stande, diese zu hinterfragen. Sie bekräftigt die dem Ideal innewohnenden Widersprüche und Defizite unkritisch, weil sie sich eine Idee des Absoluten verschreibt. Es gilt zu bedenken, dass Sartre Genet gerade deswegen „heilig gesprochen“ hat, weil dieser in seinen Augen den dem Existenzialismus zu Grunde liegenden absoluten Begriff von Freiheit verkörpert. Janey, die, daran sei ein weiteres Mal erinnert, immer nach einem authentischen Jenseits sucht und der der postmoderne Zweifel am Absoluten fremd ist, ist einmal mehr in einer arretierten Gegenidentität gefangen. Gleiches gilt auch für die literarische Ebene des Mythos. Genets Status als literarische Ikone der Gegenkultur hat zur Entstehungszeit des Romans die Phase der tatsächlichen subversiven Wirkung seiner Werke längst überdauert. Da sein Avantgardismus nicht dem Prinzip der permanenten Auf hebung, sondern der einmaligen Überschreitung verpflichtet war, konnte er sich den Inkorporationskräften der „Institution Kunst“ nicht durch ein immerwährendes Infragestellen seiner Literatur und seiner Funktion als Autor der Überschreitung entziehen. Seine Karriere hat sich in ähnlicher Form und relativer Gleichzeitigkeit zu der Pasolinis entwickelt: Zu Ruhm gekommen als heftig angefeindeter Provokateur in den 1940er und 1950er Jahren, nach den 1960ern kanonisiert. Das übliche Schicksal des der Idee einer wahrhaftigen Gegenidentität verhafteten modernen Avantgardisten: „Der Dieb Genet, der kultische Verräter, der Heilige einer Einmannreligion des Satanismus ist in die Literatur zurückgeholt worden, damit jedoch in die gesellschaftliche Kommunikation.“197 In Blood and Guts in High School persifliert Acker diese Verbürgerlichung. Die genetsche Identität als „Voleur“ – zweifelsohne eine Variation des Poète maudit – wird zum normalen Beruf, der Status als literarischer Superstar als Image ist so gewöhnlich wie ein Bürojob: „At this moment, Genet’s secretary runs over to him and helps him off with his coat. ,Thank you, M’Namah,‘ Genet says politely. ,Reporters have been running after 197 | Mayer: Außenseiter, a. a. O., S. 300.

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me all day. I shook hands with all of them and smiled a lot. I’m very tired.‘“ (B&G 131) Als eine solche Karikatur eines Büroangestellten der Mittelklasse kann der „Skandal“Schriftsteller Genet natürlich auf die Unterstützung der servilen Weiblichkeit zählen: ,We have to keep you a great writer,‘ M’Namah says to Genet inside the hotel room. ,Yes. The mos t important thing is that I be the bes t possible writer. Writing is the great thing, the great teacher.‘ ,Don’t worry about anything else. I and the crab girl who crawls in those dirty…‘ ,Janey…‘ ,…will take care of everything else.‘ M’Namah laughs and laughs. (B&G 131)

In seinem ersten Gespräch mit Janey hat Genet noch von sich behauptet: „I don’t like institutions[.]“ (B&G 118) Dabei ist er längst zu einer Institution geworden und kann nicht mehr als Vorbild für eine wahrhaft transgressive Schriftstellerexistenz herhalten. An ihm wird das Scheitern der modernen Ausprägung der Avantgarde deutlich. Die Erkenntnis, dass Genet als vielfach gespielter Autor in der „Kulturindustrie“ angekommen ist, tötet Janeys transgressives Ideal „Autorin“ ihres selbstbestimmten Identitätsentwurfs zu werden: „There Genet hands her some money and tells her to take care of herself. He has to go to see a production of one of his plays. She dies.“ (B&G 140) Zwar ist Janeys Ende ihrer Krankheit geschuldet, doch darüber hinaus steht es auch für ihren symbolischen Tod als Avantgardistin. Wie R in dem Jahre später entstandenen In Memoriam to Identity wird sie zum „dead poet“, doch in Blood and Guts in High School ist Acker in der Entwicklung ihres eigenen Konzeptes von Transgression noch nicht so weit, eine postmoderne Alternative anzubieten.

Sexualität, Körperlichkeit und Identitätspolitik

Ü BER DIE A MBIVALENZ DER S EXUALITÄT UND DIE R OLLE DER P ORNOGRAPHIE „Human power comes,“ schreibt Acker in Don Quixote, „at least partly, from sexuality.“ (DQ 147). Sie steckt die Sexualität damit als politisches Feld, als Arena des Kulturkampfes ab, in der sowohl bio-, körper- und identitätspolitische Normierungs- als auch Transgressionsprozesse aufeinandertreffen. Acker ist, wie Robert Siegle sehr richtig feststellt, bewusst, „that the culture works on its members most subtly and most profoundly by colonizing the libidinal aesthetics, turning desire into the most productive means of channeling, normalization, and even if by pure distraction, social control.“1 Ihre ins Explizite gesteigerte Sexualmetaphorik rekurriert auch auf diese politische Funktion des Sexuellen. Die Vorstellung von der Sexualität als Kampfzone von Norm und Überschreitung ist selbstverständlich nicht neu und hat gerade in der sich als subversiv verstehenden Kunst und Literatur seit der Auf klärung immer eine wesentliche Rolle gespielt. Die explizite Darstellung von exzessiven oder devianten Formen der Sexualität als Mittel der Kritik an der Moral der bürgerlichen Moderne gehört seit Sade zum Standardrepertoire der Avantgarde. Als Kennerin der westlichen Literaturgeschichte ist es Acker überaus bewusst, dass sie mit ihrer Verknüpfung von macht- bzw. identitätspolitischen Fragen und Sexualität auf einer langen Tradition auf baut, die sie dann in ihrem soziokulturellen Kontext weiterentwickelt: „It’s not that I write erotic or pornographic materials (although I have, obviously, within specific sections of my books), but that my general view is erotic or sexual. I think I share this very deeply with that lineage of writers I said I feel I’m working out of – Genet, Sade, Rimbaud, Bataille, those sorts of writers.“2 In der von diesen Autoren verkörperten Überschreitung von sexuellen Normen verortet Acker neben dem offensichtlichen avantgardistischen Schockaspekt auch eine identitätspolitische Ebene, die ihr als Vorbild für ihre eigene literarische Produktion dient: 1 | Siegle: a. a. O., S. 47. 2 |  McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 95.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN [T]here are those people who think that it’s sexuality that deeply dis turbs their identity – whatever it is you call ,identity‘. […] So since I’m very much interes ted in this whole issue of identity – and in both the textual and personal aspec ts of it – sexuality has naturally appeared a lot in all my books. I’ve also had a cons tant concern with sex and power, and how they join and reinforce each other.3

Angesichts dieser Verbindung ist Ackers Verhältnis zur Sexualität sehr ambivalent. Auf der einen Seite bewertet sie die Normativität des Sexuellen als Mittel der Subjektivierung und Verhaltenskontrolle höchst kritisch. Andererseits bietet die Sexualität, eben gerade weil ihr bei der Subjektkonstitution eine so große Rolle zukommt, auch vielversprechende Potentiale der Ich-Erweiterung. Das Transgressive in Ackers Auseinandersetzung mit dem Nexus von Sexualität und Macht besteht nicht in erster Linie darin, dass sie vom bürgerlichen Diskurs als „pervers“ abgestempelte Paraphilien schildert, das „Obszöne“ als das bessere Andere einer dem Menschlichen entfremdenden Moral feiert oder in der Tradition des Liberalimus die Emanzipation von devianten Formen von Sexualität von einer als rein repressiv verstandenen Normativität fordert. Dieses Projekt hatten zur Entstehungszeit der Romane diverse Ausprägungen des Avantgardismus auf künstlerischer und die Sexuelle Revolution seit den 1960er Jahren auf gesellschaftspolitischer Ebene längst unternommen – auch wenn die durch diese Bewegungen erreichte Teilliberalisierung Ackers Analyse nach die sexistischen Grundmuster der westlichen Sexualität nicht überwunden hat. Es geht ihr nicht darum, die Sexualität entlang der Dialektik von Unterdrückung und Befreiung zu verhandeln. Als Schülerin Foucaults lehnt sie die Repressionshypothese ab, die besagt, dass die Sexualität und das Sprechen über sie über Jahrhunderte unterdrückt wurde, sondern behandelt diesen Themenkomplex als Frage der produktiven Macht. Wie ich im Folgenden ausführen werde, geht es Acker darum, jene kulturellen Muster, die Körperlichkeit, Lust und Begehren im Zuge der Subjektkonstitution ideologisch strukturieren, zu dekonstruieren und mögliche Alternativen aufzuzeigen. Dabei kämpft Acker an zwei Fronten gleichzeitig, die sie in zwei realhistorischen Symbolfiguren personifiziert: „Evil enchanters such as Ronald Reagan and certain feminists, like Andrea Dworkin, who control the nexuses of government and culture[.]“ (DQ 102) Diese beiden Figuren sexualpolitisch in einem Atemzug zu nennen erscheint zunächst als Widerspruch. Reagan verkörpert ein reaktionäres Patriarchat, während Dworkin als Ikone des „radical feminism“ der 1970er und 80er Jahre genau für das Gegenteil steht. Doch aus Ackers Perspektive repräsentieren diese beiden Figuren nur zwei Seiten derselben Medaille: beide sind innerhalb klarer ideologischer Koordinaten verortete Essentialisten und daher in ihrer Politik von einem binären Freund-Feind-Denken geleitet. Die politisch radikale Variante des Feminismus (als zur Ideologie und somit zum normativen System verhärtetem „Ismus“ verstanden), wie Dworkin sie vertreten hat, ist für Acker keine aussichtsreiche Strategie gegen das Patriarchat. Im Gespräch mit Friedman erläutert sie dies: „There is an attack on 3 | Ebd.

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Andrea Dworkin in Don Quixote, not her personally […], but on her dualistic argument that men are responsible for all the evil in the world. Her views go beyond sexism. She blames the act of penetration in sexual intercourse. I find that not only mad but dangerous.“4 Für Acker sind weder „die Männer“ noch „der Sex“ an sich das Problem, sondern die machtpolitische Auf ladung dieser Begriffe im sich immer weiter auffächernden sozialen Feld: „This may not be a politically correct thing to say but I like men [Hervorhebung im Original – d. Verf.]. I don’t have any problems with guys. But I have lots of problems with society.“5 In einer postmodernen Gesellschaft, in der sich Seximus und Kapitalismus Ackers Ansicht nach in beinahe alle Verästelungen der sozialen Sphäre erstrecken, erscheint Acker der orthodoxe, auf klare Fronten ausgerichtete Bewegungsfeminismus, den sie in Dworkin personifiziert sieht, als weltfremd, naiv und, wie noch zu zeigen sein wird, sogar potentiell totalitär. So präsentieren die Romane auch im „Kampf der Geschlechter“ einen kulturell radikalen Feminismus als Alternative zum politisch radikalen und zu dessen festgefahrenen ideologischen Kategorien. In diesem Kontext ist auch die Frage nach dem subversiven Charakter von Ackers „Pornographie“ zu betrachten. Dieses Genre umweht seit jeher der Ruf, transgressiv zu sein, weil es regelmäßig die jeweils gültigen Grenzen des Sag- und Darstellbaren im Bezug auf die Sexualität überschreitet. Und wenn die Zensur, die der Pornographie im Lauf der Geschichte wie ein Schatten gefolgt ist, ein Gradmesser für die subversive Wirkung solcher Transgressionen ist, scheint Acker eine „erfolgreiche“ Pornographin gewesen zu sein – noch 1992 wurden ihre Bücher in Kanada beschlagnahmt.6 Doch das eigentlich Interessante an Ackers literarischem Umgang mit der Sexualität ist nicht, dass dieser noch in der letzten Dekade des vergangenen Jahrhunderts solche anachronistisch anmutenden juristischen Reflexe auslösen konnte, sondern dass sich an ihm verändernden diskursiven Spielregeln der Transgression vor dem Hintergrund der postmodernen Wende nachvollziehen lassen. Dass der Begriff „Pornographie“ nie neutral, sondern immer mit politischen Absichten verwendet wird, wird besonders mit Blick auf die in den 1980er heftig geführten und als „Feminist Sex Wars“ bekannt gewordenen Debatten zwischen Vertreterinnen eines „anti-pornography feminsm“ und denen des sogennannten „sex-positive“ bzw. „pro-sex feminism“ deutlich. Den Verlauf der Konfliktlinien in diesem zum Teil hochideologisch geführten Streit über die Beziehung von Feminismus und Pornographie wurde bereits 1990 von Carla Freccero in einem lesenswerten Artikel dargestellt und einzelne Aspekte wurden von Pitchford, Kauffman und Colleen Kennedy bereits in Beziehung zu Ackers Werk gesetzt.7 Es ist daher nicht nötig, diese Diskussion hier ausführlich nachzuzeichnen. Zwei exemplarische Grundpositionen möchte 4 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 13. 5 | Mc Caffery : a. a. O., S. 97. 6 | Vgl. Pitchford: a. a. O., S. 150. 7 | Vgl. Carla Freccero: „Notes of a Pos t-Sex Wars Theorizer“, in: Marianne Hirsch/Evelyn Fox Keller (Hg.): Conflic ts in Feminism, New York und London 1990, S. 305–325, sowie: Pichford: a. a. O., S. 151ff. , Kauffman:

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ich dennoch zitieren, um zu zeigen, dass diese Debatte im Kern auch eine zwischen politisch und kulturell radikalen Positionen war und die sexualpolitischen Aspekte von Ackers expliziten Beschreibungen von sexuellen Praktiken, Fantasien und Haltungen entsprechend einzuordnen ist. Eine der prominentesten Stimmen der „Anti-Pornography Feminists“ ist „the evil enchanter“ Dworkin, für die Pornographie grundsätzlich das Patriarchat und die daraus erwachsene Objektivierung und Unterdrückung alles Weiblichen affirmiert: The major theme of pornography as a genre is male power, its nature, its magnitude, its use, its meaning. Male power, as expressed in and through pornography, is discernible in discrete but interwoven, reinforcing s trains: the power of self, physical power agains t others, the power of terror, the power of naming, the power of owning, the power of money, and the power of sex.8

Acker lehnt eine solche pauschale Verdammung aus den bekannten Gründen ab. Mit ihrer Analogisierung von Reagan und Dworkin in Don Quixote weißt sie auf die implizite Gefahr der totalitären ideologischen Verhärtung hin, die einem solch politisch radikalen Feminismus innewohnt. Wegen dieser Haltung und auch wegen ihrer Kontakte zur „Feminist Anti-Censorship Task Force (FACT)“ wird Acker gelegentlich den „Pro-Sex“ bzw. „Sex-Positve Feminists“ zugeordnet9, deren Kritik an Patriarchat und Pornographie kulturell radikal begründet wird. Sie lehnen Dworkins grundsätzliche ablehnende Haltung zur „Pornographie“, sowie ihre gemeinsam mit Cathrine MacKinnon verfolgte Strategie, diese generell juristisch verbieten zu lassen10 dezidiert als undifferenzierten politischen Reflex gegen das Patriarchat ab, der zudem extrem elitär ist, weil er vorgibt, für die Frauen in ihrer Gesamtheit zu sprechen und damit das breite Spektrum an Positionen innerhalb des feministischen Diskurses unter eine ideologische Homogenität zu zwingen versucht. Exemplarisch für die Position des „Sex-Positive Feminsim“ sei hier Gayle Rubins zentraler Essay „Thinking Sex. Notes for a Radical Theory of the Politcs of Sexuality“ zitiert, der der Antipornographiebewegung eine im Kern kleinbürgerliche, distanzierte und autoritäre Haltung zur Sexualität als Sphäre menschlicher Erfahrung vorwirft: [P]roponents of this viewpoint have condemned virtually every variant of sexual expression as anti-feminis t […] Mos t gay male conduc t, all casual sex, promiscuity, and lesbian behaviour that does involve roles or kink or non-monogamy are also censured. Even sexual fantasy during mas turbation is denounced as a phallocentric holdover.11 a. a. O., S. 199f. und Colleen Kennedy: „Simulating Sex and Imagining Mothers“, in: American Literary His tory, Spring 1992, Vol. 4 (1), S. 165–185. 8 | Andrea Dworkin: Pornography. Men possessing Women, New York 1981, S. 24. 9 | Vgl. Reinhart: a. a. O., S. 433. 10 | Vgl. Freccero: a. a. O., S. 308f. 11 | Gayle Rubin: „Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality“, in: Carole S. Vance (Hg.): Pleasure and Danger: Exploring Female Sexuality, Bos ton et al. 1984, S. 267–319, hier: S. 301.

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Rubins Fazit ist deutlich: „Finally, this so-called feminist discourse recreates a very conservative sexual morality.“12 In ihrem verengten und verengenden Blickwinkel auf die potentielle Polyformität der Sexualität als Erfahrungsfeld reichen sich Neokonservatismus und die feministische Antipornographiebewegung die Hand. Ackers gesellschaftpolitische Diagnose, wonach Dworkin und Reagan „the nexuses of government and culture“ (s.o.) kontrollieren (oder zumindest kontrollieren wollen) hat durchaus seine Berechtigung. Dworkins Position affirmiert – ohne es zu wollen – das patriarchale Sexualitätsdispositiv der bürgerlichen Moderne, das Rubin folgendermaßen beschreibt: „Part of the modern ideology of sex is that lust is the province of men, purity that of women. Women have been to some extent excluded from the modern sexual system. It is no accident that pornography and the perversions have been considered part of the male domain.“13 Ein kulturell radikaler transgressiver Feminismus muss dem Patriarchat diese Deutungshoheit über Pornographie und Perversionen entreißen und für eine Neuverhandlung der Sexualität nutzen. Und weil ihm nun einmal kein „Außen“ jenseits der patriarchalen Matrix als Zufluchtsort zur Verfügung steht, muss er diese von innen heraus angreifen und sich offensiv ihrer Mittel zu bedienen. Die Tatsache, dass die Pornographie des Mainstreams unbestreitbar sexistisch ist, ist für Acker kein Grund, Pornographie als Genre per se abzulehnen. Sie plädiert vielmehr für eine „feindliche“ Übernahme: „All things are sexist! Pornography is sexist, books are sexist, magazines are sexist. For many historical reasons, there is this fear of sex – in women. It was a big step when women said, ,We’ll start making pornography; we’ll take over those areas.‘ It’s fantastic that women are doing this! [Hervorhebungen im Original – d. Verf.]“14 Wenn Acker sich bei der Beschreibung von sexuellen Handlungen einer „pornographischen“ Sprache samt der entsprechender Motive und Bilder bedient, tut sie das in Piratenmanier. Sie kapert damit eine Textgattung, die ursprünglich rein patriarchal war und transformiert sie zu einer literarischen Waffe gegen das Patriarchat. Man kann sie daher als „moralische Pornographin“ im Sinne Angela Carters verstehen. Carter hat im „Polemical Preface“ zu ihrem Langessay über The Sadeian Woman, das den ironisch-programmatischen Titel „Pornography in the Service of Women“ trägt, das Modell eines solchen subversiven Pornographen (sie verwendet interessanterweise des männliche grammatikalische Geschlecht) entworfen, der, eben weil er die Grenzen der repressiven Normsexualität aufsprengen will, als „moralisch“ zu bezeichnen ist: The moral pornographer would be an artis t who uses pornographic material as part of the acceptance of the logic of a world of absolute sexual licence for all the genders, and projec ts a model of the ways such a world might work. A moral pornographer might use pornography as a critique of current relations bet12 | Ebd., S. 302. 13 | Ebd., S. 307f. 14 | Juno: a. a. O., S. 177.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN ween the sexes. His business would be the total demys tification of the flesh and the subsequent revelation, through the infinite modulations of the sexual ac t, of the real relations of man and his kind.15

Acker erfüllt viele Kriterien dieser Definition des „moralischen Pornographen“: Sie ist Künstlerin (keine kommerzielle Pornographin) und ihre Romane sind ein Plädoyer für die sexuelle Freiheit jenseits aller kulturellen Konstrukte von „sex“ und „gender“. Gleichzeitig nutzt sie das „pornographische Schreiben“ als Medium der Analyse und Kritik herrschender sexueller Machtregime und der Körper dient ihr gleichermaßen als Ort der Entmystifizierung und der Erkenntnis. Als moralische Pornographin geht es für Acker nicht um die Frage nach Legitimität der Pornographie, sondern um die Frage nach ihren Funktionszusammenhängen. Ihr Ziel ist es nicht in erster Linie, eine eigene „pornographische“ Sprache zu entwickeln. Dies ist in einer Kultur, deren sexuelle Sprache in jeder Hinsicht patriarchal überformt ist ohnehin kaum möglich. Vielmehr will sie die zahlreichen ideologischen Binarismen, in deren Spannungsfeld der Diskurs über die Pornographie eingewoben ist, thematisieren, kritisieren und auf lösen. Dabei spielen Ästhetik und Rezeptionszusammenhang eine wichtige Rolle. Pornographie kann für Acker nur dann subversiv wirken, wenn sie sich der Verwertungslogik des Kapitalismus verweigert, indem sie die schillernde Oberflächlichkeit der Produkte der Sexindustrie, die ausschließlich Warencharakter haben, durch eine sperrige, den einfachen Konsum erschwerende Ästhetik ersetzt. Carter hat betont, dass der „moralische Pornograph“ Künstler sein müsse. Im Falle Ackers heißt das, die entsprechenden Passagen ihrer Romane als experimentelle Pornographie im Dienste eines identitätspolitischen Projekts zu verstehen. Ihre Methode ist bekannt: Sie greift auf Sprache, Szenarien, Motive und Bilder – etwa die in die Romane eingefügten Illustrationen von Geschlechtsteilen oder Geschlechtsakten (B&G 8, 14, 19, 22, 24, 30, 62 und 63 oder IM 39) – der existierenden Pornographie zurück, um durch die Neukontextualisierung dieses Materials zu versuchen, hybride Formen des expliziten Schreibens über Sexualität zu ermöglichen, in der die SubjektObjekt-Dialektik des patriarchalen Sexismus kritisiert und unterlaufen werden kann. Das macht Acker zu der Art von Guerillakämpferin im Dienst einer freien Sexualität und ihrer Repräsentation, die Carter gefordert hat: [T]he pornographer has it in his power to become a terroris t of the imagination, a sexual guerilla whose purpose is to overturn our mos t basic notions of these relations. To reins titute sexuality as a primary mode of being rather than a specialised area of vacation from being and to show that the everyday meetings in the marriage bed are parodies of their own pretensions, that the frees t unions may contain the seed of the wors t exploitations.16

Der „sexual guerrila“ ist somit ein idealtypischer Aktivist des „postmodernism of resistance“, der ständig zwischen den Fronten kämpft: Auf der einen Seite gegen den 15 | Angela Carter: The Sadeian Woman. An Exercise in Cultural His tory, London 1979, S. 19. 16 | Ebd., S. 21f.

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Sexismus des Patriarchats, auf der anderen gegen einen selbst zur verhärteten Ideologie gewordenen feministischen Gegendiskurs. Diese Zwischenposition ermöglicht es Acker, die Sexualität in ihrer gesamten Ambivalenz zu behandeln, d.h. ihren normativen Charakter zu kritisieren und ihre subversiven Potentiale zu propagieren.

„The bigges t shit in the world“ – Ödipus und die normative Kraft der Sexualität Aus der Perspektive von Ackers Kulturanalyse ist die sexuelle Normierung ein gleichsam körperlicher wie psychosozialer Prozess im Rahmen der Subjektkonstitution. Im Zentrum ihrer Kritik der normativen Macht des Sexuellen steht die Familie, der ihrer Auffassung nach dabei eine wesentliche Rolle zukommt. Ich habe im vorangegangenen Kapitel über die Rebellenfiguren hauptsächlich über die sozialen Dimensionen der familialistischen Normierung – verkörpert durch Figuren wie Johnny Smith oder Madame R – gesprochen. Im Folgenden werde ich meinen Blick auf die psychosexuelle Ebene dieser Prozesse richten. Die Basis für diese Betrachtung wird die poststrukturalistische Kritik der traditionellen Psychoanalyse sein, die Acker ihrer eigenen Aussage nach überhaupt erst das Vokabular für ihr sexualpolitisches Projekt gegeben hat: „[W]hen I read Anti-Oedipus and Foucault’s work suddenly I had this whole language at my disposal. I could say, Hi! And that other people were doing the same thing.“17 Besonders deutlich klingt bei ihrer Kritik an der Familie der Einfluss von Deleuze und Guattari durch, für die die „familiäre Triangulation […] die minimale Bedingung, unter der ein ,Ich‘ die Koordinaten erhält, die es in einem hinsichtlich der Generation, des Geschlechts und des Status differenzieren“ darstellt.18 Das Konstrukt der traditionellen Kleinfamilie, bestehend aus dem Dreieck Vater-Mutter-Kind(er), das sich im Lauf der bürgerlichen Moderne als Norm mit pseudonatürlichem Charakter etabliert hat, ist für Acker ein Feindbild, an dem sie sich nicht nur in ihrer Lebenspraxis verweigert, sondern auch auf allen Ebenen ihres Werkes inhaltlich und ästhetisch abgearbeitet hat. Die gesellschaftspolitische Agenda der Neuen Rechten um Ronald Reagan, auf der in der Entstehungszeit der hier untersuchten Romane die Stärkung der traditioneller Familienwerte höchste Priorität hatte, macht ihre Kritik am Familialismus nicht nur zu einer grundsätzlichen Kulturkritik, sondern auch zum aktuellen Zeitkommentar.19 17 | Lotringer/Acker : a. a. O., S. 10. 18 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1977, S. 97. 19 | Rubin hat dargelegt, wie wichtig die Positionierung gegen jede Form von „anti-familialis tischer“ Sexualität für den politischen Erfolg der neokonservativen Bewegung um Reagan war: „Rightwing opposition to sex education, homosexuality, pornography, abortion, and pre-marital sex moved from the extreme fringes to the political center s tage after 1977, when right-wing s trategis ts and fundamentalis t religious crusaders discoverd that these issues had mass appeal. Sexual reac tion played a significant role in the right’s elec toral success in 1980.“ (Rubin: a. a. O., S. 273f.)

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Um die sexualpolitischen Implikationen von Ackers Kritik an der Familie zu verstehen, ist es unumgänglich, die normative Funktion der Psychoanalyse zu beleuchten, die in ihren verschiedenen Schulen und Ausprägungen nicht nur eine Therapieform, sondern immer auch eine Theorie des Subjekts und der Subjektkonstitution ist. Als diskursives Produkt der Moderne hat sie ideologische „Wahrheiten“ um die Sexualität etabliert, die Acker und andere Vertreter eines widerständigen Postmodernismus zu dekonstruieren versuchten. Acker rückt dabei vor allem einen zentralen Mythos der westlichen Kultur in den Fokus ihrer Kritik, dessen ideologischen Charakter sie entlarven will: Die ödipale Familienstruktur, deren Funktion darin besteht, im Rahmen der Subjektproduktion die sexuellen und geschlechtlichen Identitäten eindeutig binär zu codieren und das Individuum in einer für die jeweilige Kategorie geltende klar festgelegten Bewusstseins- und Erfahrungsmatrix zu fixieren. Freud hat seine Theorie des ödipalen Konflikts in der Familie in seinem 1923 erschienenen Aufsatz „Das Ich und das Es“ ausgeführt. Diesem Konflikt kommt demnach bei der Konstitution sexueller und geschlechtlicher Identitäten eine entscheidende Bedeutung zu. Im Familienverband bilden Vater, Mutter und Kind ein Dreieck, in dem das bis zu diesem Stadium laut Freud noch „konstitutionell bisexuelle“ Kind während der ödipalen Entwicklungsphase das gegengeschlechtliche Elternteil unbewusst begehrt und sexuell besitzen will, während es das gleichgeschlechtliche Elternteil als Konkurrenz empfindet und den Wunsch entwickelt, es zu töten. Das Ausleben dieses Begehrens wird durch die kulturelle Institution des Inzesttabus verhindert. Diese Spannung zwischen Begehren und Verbot wird als Ödipuskonflikt bzw. -komplex bezeichnet. In einer „normalen“ psychischen Entwicklung wird der unbewusste Inzestwunsch des Kindes durch die vom Kind imaginierte Kastrationsdrohung von Seiten des Vaters überwunden. Das Kind kann sich jetzt mit seinem gleichgeschlechtlichen Rollenmodell identifizieren: Durch den Untergang des Ödipuskomplexes hätte so die Männlichkeit im Charakter des Knaben eine Festigung erfahren. In ganz analoger Weise kann die Ödipuseins tellung des kleinen Mädchens in eine Vers tärkung ihrer Mutteridentifizierung (oder in die Hers tellung einer solchen) auslaufen, die den weiblichen Charakter des Kindes fes tlegt. 20

Somit dient die ödipale Situation dazu, im Individuum bei seiner Konstitution als Subjekt eine gesellschaftlich vorgedachte, heteronormative Geschlechterrolle wie auch die damit konnotierten Verhaltensnormen zu verankern. Das „Nein des Vaters“ im Ödipuskonflikt ist also kein rein repressives, sondern vor allem ein produktives. Es fixiert durch das Verbot des Inzests das Kind in seiner zugeschriebenen Subjektrolle innerhalb der heterosexuellen Matrix und trägt so, wie Butler in Gender Trouble zusammenfasst, massiv zur Ausbildung des sozialen Geschlechts bei: „Indeed, if we conceive of the incest taboo as primarily productive in its effects, then the prohibi20 | Siegmund Freud: „Das Ich und das Es“, in: ders.: Psychoanalyse. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1984, S. 299–342, hier: S. 318. Siehe hierzu auch Butler: Gender Trouble: a. a. O., S. 78–89.

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tion that founds the ,subject‘ and survives as the law of its desire becomes the means by which identity, particular gender identity, is constituated.“21 Aus kulturalistischer Perspektive muss hier explizit von einem Mythos gesprochen werden, ist der Ödipuskonflikt als psychoanalytisches Modell doch ein spezifisch abendländisches und bürgerliches Konzept. Gerade nach der Auffassung ihrer poststrukturalistischen Kritiker kann der Psychoanalyse freudscher Prägung weder in Theorie noch Praxis den Charakter einer wirklich objektiven Wissenschaft zugeschrieben werden, weil sie innerhalb eines konkreten historisch-diskursiven Kontextes – der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – entstanden ist und nicht außerhalb der kulturellen Koordinaten dieser Zeit gedacht werden kann. Acker vertritt in ihren Romanen implizit dieselbe Haltung. Die psychoanalytische Version des Narrativs von Ödipus ist für sie eine in der Gesellschaft operativ wirkende Erzählung, die aber – als kulturelles Konstrukt – keinen essentiellen Wahrheitscharakter haben kann. Freud hat, wie Deleuze und Guattari schreiben, „die Sexualität an den Familienkomplex [geschmiedet]“ und damit „Ödipus zum Kriterium der Sexualität in der Analyse“ gemacht.22 Ackers in den Romanen ausgedrückte Kritik an dieser diskursiven Verbindung folgt den beiden Philosophen, für die das ödipale Modell nichts anderes ist als eine moderne Disziplinarideologie, ein „Teil jenes allgemeinen bürgerlichen Werkes der Repression, das darin besteht, die europäische Menschheit unter dem Joch von Papa-Mama zu belassen und nie mit diesem Problem zu brechen [Hervorhebung im Original – d. Verf.].“23 In diesem Geist schreibt Acker immer wieder gegen dieses Joch an, ihre Texte werden zu Auf lehnungen gegen das familialistische Narrativ. Ihr Werk ist somit sexual- und identitätspolitisch ein zutiefst anti-ödipales Projekt. In Don Quixote lässt Acker Ödipus – mehr als Mythos denn als Figur – sogar selbst auftreten und zu seiner eigenen Abschaffung aufrufen: „Oedipus: I am the biggest shit in the world. I murdered my father and raped and effectually killed my mother. All righteous people should murder me.“ (DQ 147) Die Literatur wird zum Schlachtfeld ihres anti-ödipalen Feldzuges. Ebenfalls in Don Quixote gibt es eine Passage, in der einer der „dogs“ einen Vortrag über das Geschichtenerzählen als Revolte hält, der sich auch als Metakommentar auf Ackers Programmatik bezüglich ihrer Kritik an der Familie lesen lässt: „These stories or revolts are especially revolts against parents. Why? Because parents have control, not only over children, but also – to the extent that adults’re products of their childhood – over everyone.“ (DQ 146) Das „Joch von Papa-Mama“ stellt also ein sich immer wieder reproduzierendes Machtsystem dar: Die in ihren sexuellen und geschlechtlichen Identitäten im ödipalen Diskurs binär kodierten Eltern reproduzieren sich in ihren Kindern nicht nur biologisch, sondern auch – vorausgesetzt ist eine „normale“ Entwicklung – in ihren Rollenbildern. Die Familie nach diesem Muster zu strukturieren ist nach der Auffassung, die Acker, Deleuze und Guattari gemeinsam ist, der ideolo21 | Butler : Gender Trouble, a. a. O., S. 99. 22 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O., S. 74. 23 | Ebd., S. 63.

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gische Beitrag der Psychoanalyse (verstanden als eine Theorie des Subjekts) zu einer im Hinblick auf geschlechtliche und sexuelle Identitäten dualistisch organisierten Gesellschaft. In ihrer pseudowissenschaftlichen Scheinobjektivität wird der diskursive Nexus von heterosexueller Norm, Geschlechterbinarismus und Patriarchat naturalisiert und die Möglichkeit geschaffen, davon abweichende Modelle von Geschlechtsund Sexualidentität als „krank“ oder „pervers“ pathologisieren zu können. Denn jede „Perversion“ entsteht aus psychoanalytischer Perspektive durch eine Störung bei der Auf lösung des Ödipuskonflikts im Familienverbund. Hiergegen gilt es anzuschreiben und die Autorität psychoanalytischer Erklärungsmodelle für bestimmte Formen menschlichen Verlangens und Verhaltens in Frage zu stellen: „Who gives a shit how your mother died or if you have a real father. Only stupid Oedipal-obsessive theorists care about that sort of thing.“ (IM 174) Durch die vorgebliche wissenschaftliche Objektivität ihrer Lehren verschleiern die „stupid Oedipal-obsessive theorists“ der traditionellen Psychoanalyse, dass das ödipale Modell ein kulturelles Konstrukt mit ideologischen Zielsetzungen ist. Lacan, dessen Einfluss (v.a. die Annahme, das Unbewusste funktioniere wie eine Sprache und werde im Individuum erst durch dessen Eintritt in die symbolische Ordnung der hegemonialen Kultur erzeugt) im französischen Poststrukturalismus überall zu spüren ist, stellt in seiner Reformulierung des Ödipuskonfliktes immerhin fest, dass dieser als „Folge einer sozialen Determination, nämlich der paternalistischen Familie“ zu verstehen sei.24 Die ideologische Vorstellung der Vaterherrschaft – und mit ihr der Organisation aller Lebensbereiche der Gesellschaft unter dem „Gesetz des Vaters“ – ist also der durch die bürgerliche Ideologie naturalisierten ödipalen Familienstruktur vorgängig. Diese kann somit nicht Ausdruck einer überhistorischessentiellen Ordnung sein, sondern ist aus der psychoanalysekritischen Perspektive des Poststrukturalismus ein klassisches subjektkonstitutives Einschließungsmilieu, das im Individuum die Macht des Vaters, die heterosexuelle Norm, die binäre Geschlechterkategorisierung und die damit verbundene Körperpolitik als vermeintlich unumstößliche Wahrheiten verankern soll. In dieser Funktion dient die Familie nicht zuletzt den biopolitischen Anforderungen der bürgerlich-kapitalistischen Ideologie. Ihr Ziel ist es, die reproduktionsorientierte Sexualnorm von Generation zu Generation weiterzugeben und so eine instrumentelle Sexualität zur Deckung des Bedarfs an „Humankapital“ zu fixieren. Der primäre Signifikant, um den herum sich die familiaristische Ordnung etabliert, ist der Phallus. Lacan macht deutlich, dass Freuds Darstellung des ödipalen Dreiecks von Vater-Mutter-Kind ungenau ist und vielmehr als ein „Dreieck (Vater)-PhallusMutter-Kind“25 beschrieben werden sollte. Der Phallus, der nicht mit dem tatsächlichen, individuellen männlichen Penis als anatomische Gegebenheit verwechselt wer24 | Jacques Lacan: „Die Familie“, in: ders.: Schriften III, Olten und Freiburg im Breisgau 1980, S. 39–100, hier: S. 73. 25 | Jacques Lacan: „Der Phallus und der Meteor“, in: ders.: Seminar III. Die Psychosen (1955–1956), Weinheim und Berlin 1997, S. 365–380, hier: S. 376.

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den darf, ist eine Metapher für den hegemonialen Machtdiskurs in der patriarchalen Gesellschaft. Durch die Übersetzung eines biologischen Geschlechtsmerkmales in ein kulturelles Zeichen trägt Lacan der Tatsache Rechnung, dass die ödipale Kodierung der Gesellschaft eben nicht über die biologische Funktion des Vaters stattfindet, sondern über seine soziokulturelle Rolle. Der Vater ist kein tatsächlicher Souverän, sondern ein diskursives Prinzip der Signifikation innerhalb des soziokulturellen Raumes: Der Begriff des Vaters kann nur als mit einer ganzen Reihe signifikanter Konnotationen ausges tattet angenommen werden, die ihm seine Exis tenz und seine Konsis tenz verleihen, welche bei weitem nicht mit denjenigen des Genitalen zusammenfallen, von dem er sich durch alle linguis tischen Überlieferungen hindurch semantisch unterscheidet. 26

Der Vater als soziale Funktion etabliert die phallozentristische Norm bzw., freudianisch formuliert, ein patriarchales Über-Ich, das als autoritäre Instanz die Ge- und Verbotsstruktur bei der Subjektkonstitution bestimmt. Das Resultat ist die Herrschaft des „Gesetzes des Vaters“ in den Individuen, wie Ebbesen unter Verweis auf die Verwandtschaft von Lacan und Acker ausführt: ,The Name-of-the-Father‘, or what I will broadly call ,The Law of the Father‘ – because it emphasizes ,law‘ – is central to entrance into the ,symbolic‘. This entrance – which is also entrance into language and society – is direc tly related to the phallus as the aforementioned primary signifier. It also has for Acker, as it does for Lacan, legal and legislative [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] aspec t. […] The power of ,The Law of the Father‘ or ,The-Name-of the Father‘ is legislative, law-like, and part of its law is the ,paternal metaphor‘ enabling identity, or if you will, that entity called the ,subjec t‘. 27

Die Kategorie des „Symbolischen“ bezeichnet bei Lacan die „Struktur einer Gesellschaft oder Kultur in ihrer Bedeutsamkeit“ und ist dabei „identisch mit der bzw. gebildet durch die Sprachstruktur. […] Es stellt dem Menschen und seinen Einbildungen gegenüber (zunächst) das ganz und gar Andere dar, da es das Gesetz, die Grenze und die Untersagung gebietet. Andererseits ermöglicht es Austausch und gewährt Schutz und Orientierung.“28 Da sich patriarchal-familialistische Sprach- und Organisationsmuster in allen Bereichen der bürgerlich geprägten westlichen Kultur finden, dienen Väter oder Vaterfiguren Acker als wiederkehrende Feindbilder, an denen sie sich literarisch abarbeitet: „I wanted to take the patriarchy and kill the father on every level.“29 Jede erfolgreiche Form der Transgression ist bei ihr gleichbedeutend mit einem mühevollen Sich-Frei26 | Ebd. 27 | Ebbesen: a. a. O., S. 88. 28 | Chris toph Braun: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin 2007, S. 18. 29 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 17. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Ackers antiödipales Projekt um den symbolischen Vatermord kreis t, is t der Vatermord eine essentielle Komponente des Ödipusnarrativs.

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schwimmen von der als monströs empfundenen normativen Kraft des „Gesetzes des Vaters“, wie Thivai in Empire of the Senseless darlegt: I would have dived into the ice-cold water to escape fear. Daddy Mons ter Fear [meine Hervorhebung – d. Verf.]. All I’ve ever wanted is freedom from fear or to fly. But the ice-cold freedom which I barely tas ted, tas ted only in my imagination, was way too weighty for a child whose identity is predicated upon Monsters. (EoS 171)

Dabei geht es oft nicht um „reale“ Väter, sondern in erster Linie um die „Funktion des Vaters“ als Teil eines politischen, ökonomischen, linguistischen und sexuellen Machtregimes im Sinne Lacans. Die Autorität dieser Regime gründet sich darauf, dass sie „im Namen des Vaters“ sprechen: „Im Namen des Vaters [Hervorhebung im Original –d. Ver.] müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit seine Person mit der Figur des Gesetzes identifiziert.“30 Das „Gesetz des Vaters“, das das Inzestverbot etabliert, gebietet über die Sexualität (der Frau im Übrigen genauso wie der des Mannes). Da in Ackers Gesellschaftsverständnis Macht und Sexualität eng verwoben sind, kann der patriarchale Diskurs begrenzen, bestimmen, verbieten. Dylan Evans weist darauf hin, dass Lacan „mit der Homophonie von le nom du père (der Name des Vaters) und le non du père (das ,Nein‘ des Vaters) [spielt], um die gesetzgebende und verbietende Funktion des symbolischen Vater herauszustreichen.“31 Gleichzeitig ist das „Nein des Vaters“ aber nicht ausschließlich Ausdruck einer verneinenden Macht, sondern auch einer im foucaultschen Sinn produktiven, durch die das Individuum die Normidentität verinnerlichen soll. Der Vater ist die Autorität der sexuellen Interpellation, der die Individuen als sexuelle Subjekte anruft und somit ein „Vertreter der sozialen Ordnung als solche, und das Subjekt kann nur durch die Identifizierung mit dem Vater im Ödipuskomplex Zugang zu dieser Ordnung erlangen.“32 Da diese Funktion nicht an den realen biologischen Vater geknüpft ist, kann sie sogar von einer Mutter erfüllt werden, solange diese die bürgerlich-patriarchale Norm vertritt. So erklären sich die dämonischen Mütter, wie Madame Rimbaud aus In Memoriam to Identity in Ackers Werk. Der Zwangs- und Unterdrückungscharakter des Geschlechterbinarismus, den Acker immer wieder kritisiert hat, ergibt sich aus dem Phallozentrismus der psychoanalytischen Subjekttheorie. Die ödipale Codierung im Familialismus schafft überhaupt erst die dualistischen Kategorisierungen, die es ermöglichen, dass ein Geschlecht das andere unterdrückt. Die operativen Fiktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit samt den damit verbundenen Rollenbildern stehen sich in einem asymmetrischen Machtverhältnis gegenüber. Wie in beinahe jeder Dichotomie ist auch 30 | Jacques Lacan: „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“, in: ders.: Schriften I, Olten und Freiburg im Breisgau 1973, S. 71–169, hier: S. 119. 31 | Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, S. 197. 32 | Ebd., S. 325.

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hier ein Pol gegenüber dem anderen privilegiert, in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft natürlich zu Gunsten des Vaters bzw. Mannes, also des Inhabers des phallischen Machtsignifikanten. Aus ihm lässt sich zwar keine „natürliche“ Ordnung ableiten, er schafft aber unbestreitbare soziokulturelle Realitäten. In Blood and Guts in High School beklagt Janey, dass der Wirklichkeitseffekt des patriarchalen Diskurses im Laufe der Geschichte seine eigenen „Wahrheiten“ etabliert hat: „For 2,000 years you’ve had the nerve to tell women who we are. We use your words; we eat your food.“ (B&G 132) Somit hat die männlich dominierte Geschichte auch der Verbindung von Phallozentrismus, Phallogozentrismus („we use your words“) und Kapital ihre pseudonatürliche Autorität verliehen, da der Vater im traditionellen Familienmodell die Funktion des Ernährers („we eat your food“) innehat und damit immer auch Zentrum der ökonomischen Macht ist. Daraus zieht Acker die bittere Erkenntnis: „Having any sex in the world is having to have sex with capitalism.“ (B&G 135) Jeder Versuch von weiblicher Seite, die Verhältnisse innerhalb dieses Systems zu verändern, wurde über weite Strecken der Geschichte des phallozentristisch-kapitalistischen Komplexes kriminalisiert: „Every way we get money has to be a crime. We are plagiarists, liars, and criminals.“ (B&G 132) In In Memoriam to Identity konstatiert Airplane die psychosexuelle Grundierung dieser gesellschaftlichen Machtverteilung: „There aren’t any rules in an insane world. A world of power. It all has something to do with sex. And men have the power, within all the fear; those men who deny this, lie.“ (IM 114) Ebbesen zufolge ist nach der lacanschen Subjekttheorie diese Hierarchie mit dem Fehlen des Phallus, also des Primärsignifikanten des „Gesetzes des Vaters“, bei der Frau und den sich daraus ergebenden kulturellen Wirkungen geschuldet: [W]oman does not s tand under the threat of this law (i.e. under threat of cas tration), even as she is subjec t to it as an all pervading cultural phenomenon. That is, even though she can’t be cas trated, the force of the law nevertheless gives her a place as a ,subjec t‘ and that place is outside, be it outside reason or outside representation. And it goes without saying that since she possesses no phallus, she necessarily takes up a lower place in the law of gender hierarchy.33

Aus diesem gesellschaftlichen Machtgefälle erklärt sich auch Ackers furioser Kulturkampf gegen das Patriarchat, der, wie sie selbst im Gespräch mit McCaffery gesagt hat, in erster Linie aus dem „anger against the centralization of the Phallus“34 gespeist war. Sie kritisiert in ihren Romanen mehrfach, dass geschlechtliche und sexuelle Identitäten im Ödipalismus immer in Beziehung zur Kategorie des Männlichen und dadurch nie auf Augenhöhe zu einander definiert werden. Airplane spricht in In Memoriam to Identity also durchaus im Sinne der Autorin, wenn sie sagt: „It’s not that I wanted a penis. I’ve never sympathized with Freud when he said that. Freud didn’t understand the relations between sex and power.“ (IM 143) In Don Quixote 33 | Ebbesen: a. a. O., S. 88. 34 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 90.

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wird in einer Sequenz unter der Überschrift „The Female Side of the Oedipal Myth“ beklagt, dass dieses Narrativ keine weiblichen Identifikationsmuster bietet, die ihre Identität nicht in irgendeiner Relation zum Phallus gewinnen: „What’re my reverse Oedipal relations to women? Nothing.“ (DQ 149) Ähnlich äußert sich Abhor in Empire of the Senseless: „A man’s power resides in his prick. That’s what they, whoever they is, say. […] If it’s true that a man’s prick is his strength, what and where is my power?“ (EoS 127) In ihrem Werk macht Acker immer wieder deutlich, dass sie die von der patriarchalen Macht geschriebene Fiktion von unterlegener weiblicher Subjektivität zwar für falsch, aber für äußerst wirkmächtig hält. Aus ihrer Sicht sind die nach dem Ödipusmuster geschriebenen operativen Funktionen gerade im Verhältnis zwischen den Geschlechtern auch nach der sexuellen Revolution der 1960er nach wie vor sehr dominant. In den 80er Jahren standen sie, befeuert von der reaktionären Gesellschaftspolitik Reagans, sogar vor einer politischen Renaissance. In ihren Romanen macht Acker auf verschiedene Weise, mal mit den Mitteln des Schocks, mal durch Parodie deutlich, dass der Mythos Ödipus in den identitären Narrativen der westlichen Gesellschaften als kulturelle Konstante allgegenwärtig ist. Sie bricht literarisch die Pseudonatur dieses Mythos auf und zeigt, wie diese ideologische Erzählung in der soziokulturellen Sphäre wirkt und ihr Struktur gibt. Um die normative Macht des „Gesetzes des Vaters“ im Familialismus zur Kenntlichkeit zu bringen, lässt Acker die ihm innewohnenden unsichtbaren ödipalen Machtstrukturen radikal an die Oberfläche treten. Angesichts der in ihrem Werk immer wieder auftauchenden Inzest begehenden oder vergewaltigenden, oftmals zudem gewalttätigen oder alkoholkranken Vaterfiguren und den abwesenden oder bösartigen Müttern ist man als Interpret versucht zu behaupten, Acker würde in erster Linie dysfunktionale Familien präsentieren. Doch eine solche Lesart würde implizit die familialistische Norm akzeptieren und in Komplizenschaft mit den von Acker kritisierten Strukturen stehen. Für sie ist nicht erst die „zerrüttete Familie“ das zentrale Trauma des Individuums. Der Familienverbund ist für Acker per se ein Ort der emotionalen Grausamkeit, des sozialen Konformitätsdrucks, der psychischen Gewalt und der körperlichen und geistigen Zurichtung. Als normatives Einschließungsmilieu macht er alle oben genannten Funktionen des lacanschen „Symbolischen“ wirksam: Die Familie implementiert das Gesetz (des Vaters) bzw. der patriarchalen Norm, zieht die Grenzen der Subjektivität, untersagt das Nicht-Normale und produziert – solange man sich normkonform verhält – die Illusion von Sicherheit. All dies dient der Subjektkonstitution und der sozialen Kontrolle im Sinne der hegemonialen Ideologie. Das Bild der guten amerikanischen (klein)bürgerlichen Kernfamilie wird von Acker kontinuierlich als Schimäre entlarvt. Mit einem Blick hinter diese Fassade lassen sich die um das „Gesetz des Vaters“ gruppierten sexuellen und ökonomischen Machtdiskurse der Gesellschaft ebenso wie die darum geführten Kulturkämpfe wie unter einem Mikroskop beobachten. So findet sich in Don Quixote eine Passage, in der Acker am Beispiel einer klischeehaften amerikanischen Kleinfamilie mit den Mit-

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teln der karikaturhaften Zuspitzung das Ringen zwischen dem jugendlichen Auf begehren seit den „Sixties“ mit den (neo)konservativen Kräften der amerikanischen Gesellschaft beschreibt, die für die Reimplementierung der „family values“ und dem dahinter stehenden, in der Figur Ronald Reagans personifizierten „Gesetzes des Vaters“ kämpft. Die Familie wird dort zum Mikromodell dieses gesamtgesellschaftlichen Kulturkampfes. Eine der streunenden Hundefiguren – einmal mehr kann der Anti-Ästhetik des Romans geschuldet keine klare Erzählinstanz verortet werden – beschreibt ihre Erfahrungen mit gegenkultureller Rebellion. Acker variiert hier einmal mehr eines ihrer Lieblingsmotive: Die hündische Protagonistin ist aus der kleinbürgerlichen Enge ihres Elternhauses ausgebrochen, um in der Bohème New Yorks ein authentisches Leben jenseits der Norm zu führen: „I ran away to the city because I didn’t feel normal in a normal household and, wanting to be me, wanting to express me.“ (DQ 115) Doch die Erfahrung im „hellish capitalism“ der Großstadt, mit dem schon andere Protagonisten wie Janey und R zu kämpfen hatten, und der Konfrontation mit der harten sozialen Realitätet der „Politik der Straße“ („In the city, in order to stay alive, I sucked cocks while their owners held guns to my head.“, DQ 115) lässt sie in die klar strukturierte, aber einschränkende Sicherheit der Familie zurückkehren. Sie unterwirft sich nach ihrem Ausbruchsversuch buchstäblich wieder dem Gesetz des Vaters: „I ran away from New York back to my family. I ran into my father’s arms.“ (DQ 115) Auch die Mutter – gleichzeitig Produkt und Agentin familialistischer Sozialisation – begrüßt die erneute Unterwerfung ihrer Tochter unter das „Joch von Papa-Mama“: „,You were perfectly right to come back here.‘ Mommy was cooking corn muffins. ,This is where you belong; you’ve never belonged anywhere else. The family is the only refuge any of us has. Daddy and I’ve been discussing this.‘‘‘ (DQ 116) Die Betonung der elterlichen Diskussion (wer die Meinungsführerschaft in ihr hat, ist klar) erinnert an die „Togetherness“-Ideologie der 1950er Jahre. Der Ton, den die Mutter hier anschlägt, wirkt wie eine Persiflage auf einen Seifenoperndialog. Dass sich die Autorität des Vaters aus der psychosexuellen ödipalen Codierung des Familienverbandes speist, expliziert Acker, als die heimgekehrte Tochter am heimischen Küchentisch die das Klischee der familiären Geborgenheit symbolisierenden Mais-Muffins vrzehrt und dabei doppeldeutig nach ihrem inzestuösen Verlangen bzw. ihrer Bereitschaft, sich der väterlichen Autorität zu beugen gefragt wird: „I ate part of my corn muffin. My father hugged me and got part of my corn muffin all over me. ,Do you really want me?‘“ (DQ 116) Die Selbstunterwerfung unter das Diktat des Familie ist ambivalent: Einerseits erzwingt sie Unterordnung unter die Norm, andererseits bietet sie auch die Illusion von Sicherheit vor den von Acker immer wieder beschriebenen existentiellen Identitätskrisen, die mit Transgressionen verbunden sind: ,You’ve come back to prison of your own free accord,‘ my mother barked when I returned from the bathroom. ,You’re my property,‘ daddy amended. ,From now on, you will do whatever I woof you to do and, more important, be whoever I order you. This is a safe unit.‘ (DQ 116)

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Neben der grundsätzlichen Kritik am Zwangscharakter der Kleinfamilie findet in dieser Szene implizit auch Zeitkritik der gesellschaftspolitischen Prozesse in den USA der 1980er Jahre statt. Um diese freizulegen bietet es sich an, folgende Aussage der Mutter einer Detaillektüre zu unterziehen: You ran away from this. It’s normal for children to break from their parents. You wanted to wallow in the outside world. You wallowed in all the hatred and filth that is outside. Nowadays, only the family s tands agains t hatred and filth. On a political level, hatred is revolution. On a social level, it’s chaos. On a personal level, selfdes truc tion. You exis ted in revolution, chaos, and self-des truc tion. That is your and your kind’s banner. (DQ 116)

Hier wird die Abrechnung des neokonservativen Diskurses der Reaganjahre – die Mutter fungiert hier als „symbolischer Vater“ im Sinne Lacans – mit der Gegenkultur der Jugend in den beiden Vorgängerjahrzehnten wiedergegeben. Die kulturell vorgedachte Rebellion in der Passagenphase der Pubertät wird der Jugend zwar zugestanden („It’s normal for children to break from their parents.“), jedoch nicht das als Exzess empfundene Heraustreten dieser Rebellion in das „outside“ jenseits der familialistisch strukturierten Gesellschaft, in dem sich nur „hatred and filth“ finden. (Ungeachtet der Tatsache, dass – wie die Erfahrungen der Tochter in New York zeigen – die Gegenkulturen auch voller „funktionaler Väter“ sind.) Die Jugendrebellion der „Sixties“ hat aus konservativer Perspektive mit der „Zerstörung“ der Kleinfamilie durch die sexuelle Revolution und die Emanzipationsbewegungen der Frauen und Homosexuellen maßgeblich zur Degeneration der Gesellschaft in einen Zustand von „revolution, chaos and self-destruction“ beigetragen. Ihr ist nur eine Stärkung der traditionellen „wahren“ Familienwerte als Bollwerk entgegenzusetzen, wie die Mutter postuliert: „Our love can save you from the graveyard of the poor of the city. Being part of a family is safe.“ (DQ 116) Der identitäre Imperativ des familiaristischen Diskurses an das Individuum ist klar: Sei, wie die Norm Dich will, dann passiert Dir nichts! Sicherheit wird zum Lohn für Konformität. Oder wie Acker es in In Memoriam to Identity formuliert hat: „Identity must be a house into which you can enter, lock the door, shut the windows forever against all storms.“ (IM 118) Doch die geschlossenen Fenster verhindern auch den Blick auf Alternativen außerhalb des Hauses. Um den psychosexuellen Kern der ödipalen Subjektproduktion deutlich zu machen, expliziert Acker in ihren Werken das der westlichen Familie ansonsten nur latent strukturgebende ödipale Begehren. Besonders in Blood and Guts in High School lässt sie das von der traditionellen Psychoanalyse auf der Ebene des Unbewussten verortete Inzestverlangen zwischen Vater und Tochter ins Reale – zumindest ins fiktive Reale des Romans – treten und damit ihre Protagonisten eine der wirkmächtigsten und konstantesten kulturellen Grenzen übertreten: das Inzestabu. Eine von Ackers generellen Strategien des Anschreibens gegen das Patriarchat besteht ihrer eigenen Aussage nach im „finding out what was taboo and rende-

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ring it in words.“35 Mit der literarischen Übertretung des Inzesttabus gelingt es ihr selbst in der an transgressiven Potentialen verarmt erscheinenden Postmoderne auf zumindest für manche Leser skandalöse Weise eine Grenze zu überschreiten, wie Bomberger richtig feststellt: „[O]ver twenty years after the publication of Blood and Guts incest remains one of the strongest cultural taboos and thus offers one the few remaining resources for those who want to shock.“36 Gerade sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen (Eltern) und Kindern sind selbst vor dem Hintergrund der postmodernen Permissivität mit einem Verbot belegt, dessen Gültigkeit sogar immer weiter verabsolutiert wurde: We are all fully aware, both implicitly and explicitly, of the variety of permissible combinations of relationship that are available to us – the purity resides in adult, heterosexual, monogamous union, preferably further qualified by ethnicity, religion and even social class. […] Paedophilia is surely the hyperbole of pollution, an ac t or lifes tyle that induces not jus t displeasure but flesh-creeping loathing in a society that simultaneously feeds on a diet of fas t-food entertainment sexuality, and one that is not even two centuries away from such manifes tations of behaviour being accepted as routine.37

Acker geht hier offensichtlich an eine sicherlich auch noch bei vielen heutigen Lesern vorhandene Schmerzgrenze eines großen Teils ihres Publikums, indem sie eine der am konsequentesten moralisch geächteten Formen von sexueller Praxis in den Mittelpunkt ihres parodistischen Familienromans stellt. Der Vorwurf, den Inzest zu „propagieren“ war nicht zufällig einer der Gründe für die Indizierung des Romans in Deutschland. Dabei sind die Zensoren der Bundesprüfstelle in eine interpretatorische Sackgasse geraten, weil sie Ackers literarische Verletzung des Inzesttabus allzu wörtlich genommen und ihren allegorischen Gehalt übersehen haben. Es geht hier nicht allein um die oberflächliche Schockwirkung der beschriebenen Szenen und schon gar nicht um Inzestverherrlichung, sondern darum, aufzuzeigen, wie eng die tabuisierte sexuelle Praxis des Eltern-Kind-Inzests mit jenen subkutanen Machtdiskursen verbunden ist, die nach wie vor die sexuelle Norm für die Gesellschaft definieren: The child moles ter is viewed as being so outside of the norm that he could not possibly be the local pries t or the concerned father, as he often is. Acker attempts to shock audiences into connec ting the perverse – in this case, child moles tation – with the dominant norm, that is, heterosexual adult relationships. Our revulsion with the former, she hopes, will help us see the power dynamics of the latter.38

Der Überschreitung des Verbots kommt hier die Rolle zu, verborgene Machtwirkungen zu thematisieren, die dem ödipalen Diskurs bei der Konstitution des „normalen“ heterosexuellen Subjekts in einer phallozentrischen Gesellschaft zukommen. Dabei 35 | 36 | 37 | 38 |

Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 17. Bomberger: a. a. O., S. 191. Jenks: a. a. O., S. 35f. Bomberger: a. a. O., S. 191.

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negiert Acker die operative Wirksamkeit des Inzesttabus in der Kultur in keiner Weise. Vielmehr entlarvt sie mit ihrer literarischen Überschreitung seine Allgegenwart und macht so deutlich, dass die sexuellen Identitäten jedes in einer ödipalen Gesellschaft sozialisierten Individuums um dieses Verbot herum strukturiert sind – auch wenn diese, wie noch zu zeigen sein wird, veränderbar sind. Bataille hat über die Funktion von Tabubrüchen folgendes geschrieben: If we observe the taboo, if we submit to it, we are no longer conscious of it. But in the ac t of violating it we feel the anguish of mind without which the taboo could not exis t: that is the experience of sin. That experience leads to the completed transgression, the successful transgression which, in maintaining the prohibition, maintains it in order to benefit by it.39

Durch Ackers Tabubruch soll dem Leser mit aller Macht bewusst gemacht werden, dass der ödipale Inzest eben gerade nicht das unaussprechliche „Andere“ des bürgerlichen Familialismus ist, sondern Teil des strukturgebenden Grundnarrativs seiner Normsexualität. Mehr noch: Der Inzest kann, folgt man Deleuze und Guattari, nur im Rahmen der familialistischen symbolischen Ordnung stattfinden und verboten werden: [D]ie Möglichkeit des Inzes ts erforderte sowohl die Personen wie ihre Namen [Hervorhebung im Original – d. Verf.], Sohn, Tochter, Mutter, Bruder, Vater. Nun mögen wir im Akt des Inzes ts über Personen verfügen, doch verlieren sich ihre Namen um so mehr, als sie nicht von dem Verbot zu trennen sind, die [sic!] sie als Partner untersagt[.] 40

Erst die interpellative Zuschreibung der Vater-, Mutter-, Tochter-, Sohn-, oder Geschwisteridentität im familialistischen Subjektproduktionsprozess – als Sprechakt im Rahmen der symbolischen Ordnung ohne Rücksicht auf biologische Beziehungen – macht das Inzestverbot zu einem kulturkonstituierenden Faktor. Es ist nichts „natürliches“ und nicht ohne die kulturelle Rollenverteilung im Familienverband zu denken. Das „Nein des Vaters“ und das Tabu affirmieren sich wechselseitig selbst. Wenn man den Inzest von seiner biologischen Realität und vom tatsächlichen sexuellen Akt abstrahiert und als Baustein eines kulturellen Systems versteht, wird evident, dass die literarische Übertretung seines Verbots (die natürlich vom tatsächlichen Akt unterschieden werden muss) auf die Subversion der symbolischen Ordnung des ödipalen Familialismus und der aus ihr resultierenden Machtregime zielt. Da Acker sich nicht des Realismus, sondern der abstrahierenden Karikatur als Modus der Erzählens bedient, geht es am Kern des hier dargestellten Tabubruchs vorbei, die Vaterfigur als tatsächlichen „child molester“ zu bezeichnen. Johnny Smith missbraucht Janey nicht gegen ihren Willen. Acker porträtiert hier nicht den Vater (als Repräsentanten einer repressiven und gewalttätigen Macht), der sich an der Tochter (als Repräsentantin aller Unterdrückten) vergeht – auch wenn dieses Verhältnis durch39 | Bataille: a. a. O., S. 38 40 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O. S. 206.

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aus die Hierarchie der Geschlechter reproduziert, wenn man die ökonomische und zu Recht als masochistisch zu bezeichnende emotionale Abhängigkeit Janeys von ihrem Vater bedenkt. Im praktizierten Inzest der beiden Figuren wird vielmehr Foucaults theoretische Grundannahme personalisiert, wonach die Macht seit der Auf klärung „Herrscher“ wie „Beherrschte“ auch im Bezug auf das Grundmuster einer ideologisierten sexuellen Norm durchzieht. Janey und Johnny sind beide durch eine ödipale Produktivmacht konstituiert, was Acker dadurch deutlich macht, dass sie das Verhältnis der beiden Figuren als hybride Form beschreibt, in der Elemente aus einer „normalen“ Beziehung unter Erwachsenen und einer Vater-Tochter-Inzestbeziehung ineinander fließen. Johnny and Janeys emotionale und sexuelle Beziehung ist somit weniger ein außerhalb der Norm als vielmehr ein plakatives Nachaussenkehren eines soziokulturell funktionalen, aber auf der individuellen und kollektiven Ebene verdrängten normativen Modells. Dies verleiht Ackers Transgression des Inzesttabus neben ihrer zweifellos vorhandenen oberflächlichen, aber auch flüchtigen schockpolitischen Wirkung auch eine tiefer gehende, identitätspolitische Dimension. Die Kindheit ist in ihrem literarischen Kosmos dabei nicht der neutrale Schutzraum, zu dem ihn die bürgerliche Ideologie stilisiert hat. Auch aus diesem Grund stellt Acker das Inzestverhältnis von Vater und Tochter in Blood and Guts in High School so plakativ in den Vordergrund. Hierzu Bomberger: „Throughout the novel, childhood is demystified as a ,pure‘ time; even children, represented by the street-wise Janey, have internalized societal concepts of gender and sexuality.“41 Die Familie fungiert als Ort der Produktion und Naturalisierung dieser dualistischen Identitätskonzepte und etabliert „innerhalb der Differenzierungsfunktion des Inzestverbotes die Herrschaft des Entweder…oder [Hervorhabung im Original – d. Verf.]: das da ist Mama, die anfängt, das ist Papa und das bist Du. Bleib ja auf deinem Platz.“42 Janey und Johnny handeln gegen diesen Imperativ und bleiben nicht auf ihrem zugewiesenen Platz. Sie überschreiten die ihnen zugedachten Rollenbilder von Vater und Tochter, indem sie für einander auch Geliebte und Geliebter werden und so zwischen Norm und „Perversion“ wandeln. Dieser Grenzgang parodiert die normative Funktion, die dem Inzesttabu bei der Subjektproduktion zukommt: By literalizing the inces t taboo and inextricably linking it with the power of capital, Acker demys tifies one of the mos t pervasive and influential s truc tures within Wes tern culture – the oedipal formation of desire – and reveals the process of subjec tification as transparent and literal; there is no classic unconscious here. 43

Die konstatierte Ausblendung einer freudschen Auffassung des Unbewussten hat für Ackers antiödipales Transgressionsprojekt eine grundsätzliche Funktion, auf die ich noch ausführlich eingehen werde. Sie ist zudem nicht die einzige Abkehr 41 | Bomberger: a. a. O., S. 192. 42 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O., S. 96. 43 | Hawkins: a. a. O., S. 646.

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vom konventionellen ödipalen Narrativ, die Acker in Blood and Guts in High School vornimmt: Acker’s indic tment of classic psychoanalytic discourse, its reproduc tion and reinforcement of phallic power, is complicated by the apparent absence of the maternal space. Classic Freud presumes the cultural position, hence psychic reality, of the maternal, whether or not an ac tual subjec t occupies that place. 44

Nun geht es Acker nicht darum, das psychoanalytische Modell als theoretische Blaupause für ihre Narration zu verwenden und es eins zu eins in Fiktion zu übersetzen. Ihr plagiaristischer Collagestil hebt die Distinktion von Theorie und Fiktion ohnehin auf, was ihre Kritik am ödipalen Modell aber in keiner Weise schmälert. Zudem übersieht Hawkins im oben stehenden Zitat, dass der Roman durchaus das Element der Mutter (als Funktion des rivalisierenden Gegenüber im ödipalen Dreieck) aufweist. Es tritt nur später in Erscheinung, weil Acker das klassische Narrativ des Ödipuskonfliktes von hinten aufrollt. Dort versucht das Kind – unbewusst – das gegengeschlechtliche Elternteil in Besitz zu nehmen, um sein inzestuöses Begehren ausleben zu können. Diese Zielfantasie ist in Blood and Guts in High School aber die Ausgangssituation. Zwischen Janey und Johnny besteht eine Inzestbeziehung, die von beiden Seiten ausgeht, auch wenn sich Vater und Tochter sexuell nicht treu sind. So versichert Janey ihrem Vater „I don’t care who you fuck.“ (B&G 9) und entschuldigt sich für ihre eigenen sexuellen Affären: „I know I’ve been shitty to you: I’ve fucked around too much.“ (B&G 9) Zu einer Karikatur des ödipalen Dreiecks wird das Verhältnis erst ausgeweitet, als Johnny seine Libidobindung von Janey abzieht und auf eine andere Frau projiziert. Die Rolle der mit der Tochter um die Liebe des Vaters konkurrierenden Mutter nimmt in diesem ödipalen Dreieck Sally ein, für die der Vater das inzestuöse Verhältnis mit Janey aufgeben möchte: „Actually Mr Smith was trying to get rid of Janey so he could spend all his time with Sally, a twenty-one-year-old starlet who was still refusing to fuck him.“ (B&G 7) Das Auftreten dieser Konkurrentin lässt das inzestuöse Begehren von Seiten des Vaters abflauen, wie die folgenden beiden Stellen belegen: Janey (a half-hour later): I can’t sleep by myself, Johnny. Can I crawl into bed with you? Father (grumbling): I’m not going to get any sleep. Get in. (Janey gives him a blow job. Johnny isn’t really into having sex with Janey, but he gets off on the physical part.) (B&G 16) We went to the movies. Johnny paid for everything. As soon as the movie s tarted, I wanted to lay my head on Johnny’s shoulder, but I was scared he didn’t want to feel my flesh agains t his. ,Are you s till interes ted in me sexually?‘ I asked him. ,Yes,‘ and his hand took my hand. But all through the movie his touch was dead. (B&G 18) 44 | Ebd.

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Somit wird das Auftreten Sallys als Konkurrentin um die Liebe des Vaters für Janey zum Anlass, den Versuch zu unternehmen, ihren Ödipuskomplex zu überwinden und die Libidobindung vom Vater abzuziehen, was in der traditionellen Psychoanalyse einen wesentlichen Schritt im Reifungsprozess des Kindes hin zu einer „normalen“ Sexualität darstellen würde: Janey: I have nightmares in my head. Either I fantasize you take me in your arms again and again, telling me you love me. I don’t know whether I can let myself fantasize that because if it isn’t true…Or I have to wipe you out of my mind. There is no more Johnny. Father: Why do you have to do that? Janey: To make a new life for myself. I have to live. I can’t spend all my time thinking about someone who doesn’t love me. (B & G 26)

Dieser Ablösungsversuch scheitert, für Janey gibt es keine „emergence from the classic oedipal phase; she is perpetually trapped within it.“45 Sie hat die ödipale Begehrensstruktur so sehr in ihre sexuelle Matrix internalisiert, dass sie ihr trotz aller Versuche der Entgrenzung und Erweiterung nicht entkommen kann. Die Struktur ihres Begehrens ist ausschließlich auf den Vater zentriert: „I love you. I adore you. When I first met you, it’s as if a light turned on for me.“ (B&G 9) Diese Prägung ist nachhaltig, alle ihre weiteren tieferen Beziehung im Verlauf des Romans – Tommy, Mr. Linker, Genet – werden Varianten der selben Figur sein: [T]he father/stepfather/ lover appears in slightly different guises – as rapist, abuser, bully, sexual predator, object of desire – but these are all avatars of the incestuous father.“46 Acker verwendet in ihren Romanen ständig Motive aus der psychoanalytischen Variante des Ödipusmythos: Das normativ wirkende familiäre Dreieck, das Inzesttabu und seine Überschreitung, der Elternmord und vor allem immer wieder der inzestuöse Vater, sei er nun real oder symbolisch. Sie spielt mit diesen Versatzstücken, ohne dabei den Anspruch zu erheben, das Ödipusnarrativ mit akademischer Gründlichkeit „begriff lich“ zu dekonstruieren oder gar ein kohärentes theoretisches Gegenmodell auf bauen zu wollen. Dennoch ist dieses Spiel mit ödipalen Referenzen in keiner Weise beliebig, sondern im Zusammenhang mit Ackers transgressivem identitätspolitischen Projekt zu betrachten. Wie bereits mehrfach deutlich wurde, vertritt sie als Poststrukturalistin die Position, dass Realität im Wesentlichen durch Zeichensysteme konstituiert wird, die in der Sphäre der Kultur einen Wirklichkeitseffekt entfalten. Das ödipale Narrativ stellt für sie ein solches System dar, es ist ein Effekt der bürgerlichen Ideologie, der in jedem Individuum, das in der westlichen Kultur sozialisiert wurde, Spuren in der Identität hinterlassen hat. Damit vertritt Acker eine ähnliche Position wie Deleuze und Guattari: „Er [gemeint ist der Ödipus – d. Verf.] stellt unser intimes Kolonialgebilde dar, das der gesellschaftlichen Herrschaftsform ent45 | Ebd., S. 646. 46 | Ebd., S. 645.

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spricht. Wir sind alles kleine Kolonien, und Ödipus ist unser Kolonisator.“47 Um diese Ubiquität aufzuzeigen, „zertrümmert“ Acker die Ödipuserzählung, holt die unter dem Deckmantel des „Normalen“ liegenden Versatzstücke an die Oberfläche, kontextualisiert sie neu und versucht so, ihren ideologischen Charakter zu entlarven. Es ist der Versuch einer Konfrontationstherapie, an deren Beginn die Diagnose steht, dass dem Individuum durch seine ödipale Codierung eine Vielzahl von Erfahrungsoptionen vorenthalten wird. Gleichzeitig zeigt der Pastichecharakter von Ackers Texten auf, wie sehr die westliche Literatur von der ödipalen Norm durchdrungen ist und sie permanent affirmiert. Bomberger hat in Bezug auf Blood and Guts in High School bereits festgestellt, dass sich Acker der politischen Funktionen der literarischen Kanonbildung sehr bewusst ist: „Academia’s establishment of a literary canon, Acker maintains, has numerous political ramifications and serves as an enforcer of patriarchy, capitalism and colonialism through its shaping of culture.“48 Diese Wirkung kritisiert Acker durch das für ihr Werk typische Verschränken von Bezugnahmen auf das ödipale „Joch von Papa-Mama“ und den Texten anderer Schriftsteller. Exemplarisch hat sie diese Methode in ihren „Few Notes“ am Beispiel der Entstehung von Empire of the Senseless beschrieben: „To learn how the oedipal society looks, I turned to several texts, mainly to those by the Marquis de Sade and by Freud.“49 Besonders Sade war für Acker, wie sie an anderer Stelle sagte, „the greatest writer of the Oedipal Myth. Freud and de Sade are the great modern purveyors of that myth, but Sade blasted it wide open.“50 In den anderen Romanen hat sie sich andere klassische Texte als Material angeeignet. In ihrer Summe fügen sich diese Stellen zu einer eklektischen, mosaikartigen Lektüre der Macht des Ödipus im literarischen Kanon zusammen. Auf dem Inzest, der, wie Deleuze und Guattari schreiben, „reine Grenze“51 ist, wandert Acker durch die Literaturgeschichte und stülpt so den ödipalen Subtext vieler Klassiker geradezu gewaltsam nach außen. Angesichts der Vielzahl dieser Bezugnehmen kann im Folgenden nur eine exemplarische Auswahl dieser modifizierten Textappropriationen gegeben werden. So liest sie im Pasolini-Roman das Verhältnis von Polonius und Ophelia in Hamlet als inzestuöses Verhältnis und macht aus diesem durch bürgerlichen Hochkultur zum abendländischen Klassiker erhobenen Renaissancetext eine parodistische Seifenoper, in der Polonius die Rolle des besitzergreifenden, überprotektiven Vaters einnimmt: „Pheelie, all men except me are evil. When you go outside, they’re going to rape and murder you.“ (PPP 257) Doch hinter dieser vermeintlichen Fürsorge steht nur der inzestuöse Anspruch auf die Sexualität seiner Tochter, über die der Patriarch exklusiv verfügen will, wie folgende Passagen belegen: 47 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O., S. 342. 48 | Bomberger: a. a. O., S. 195. 49 | Acker: „A Few Notes on Two of my Books“, a. a. O., S. 35. 50 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 18. 51 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O., S. 206.

S EXUALITÄT , K ÖRPERLICHKEIT UND I DENTITÄTSPOLITIK Polonius (swinging out of his Scotch bottle): You’re running out to see that Hamlet, aren’t you? You two have something going on with you. I’m not going to let you go! I’m going to protec t you! He doesn’t respec t you, Pheelie: no man respec ts you except for me; I give you a home and everything you want. He’s going to leave you. Ophelia: Why don’t you fuck your wife, Polly, ins tead of me? (PPP 257) Polonius: You’re not twenty-one yet, yong lady. I s till own you. You cannot leave this house, Ophelia. From now on, these doors are locked. Moreover, no man’s going to enter this house. (PPP258)

Im selben Roman ist es später die Pasolinifigur selbst, die in einer kurzen autobiographischen Rückschau die Wurzeln der eigenen Rebellion aus seiner familiaristischödipalen Herkunft erklärt: My father was a fascis t. My mother, Susan, intensely repeated the matriarchal pattern of her side of the family. She never considered fucking a man other than my father once they were married, though he probably fucked whores to keep up his (male) business relations; but her fantasizing betrayed her daily with me. I willingly served her as much as I could until I began to revolt. (PPP 277)

In In Memoriam to Identity finden sich gleich mehrere Referenzen auf das Ödipusnarrativ. Dort entwickelt R eine ganz eigene Variante des ödipalen Wunsches, das gegengeschlechtliche Elternteil zu töten. Der Tod der verhassten, dämonischen Mutter soll die Tür zu einer von homosozialen und vom Ödipusmythos befreiten Welt öffnen: R had his myth: The mother is evil. She wants to kill her child. The child because it’s good can’t be angry at and kill the mother. Or, because the child can’t be angry at and kill its mother, the child’s good. This is the child’s taboo. In order to s tay alive and to break through complete isolation, the child, R, mus t break the taboo. The child’s father is absent. The child’s looking for a father. Through the death of its mother, as if through a gate into another world, there’s only the world of men. (IM 17)

Die Suche nach eine Vaterfigur führt R zunächst in die Hölle sexueller Gewalt durch seinen Onkel „Africain Pain“, der zeitweilig die Funktion des abwesenden Vaters einnimmt: „As soon as R in amazement realized that this man, who was his father’s brother, didn’t think he was a monster, he began to love him.“ (IM 5) Gleichzeitig verübt diese symbolische Vaterfigur aber quasi-inzestuöse sexuelle Gewalt an R, die in aller Drastik geschildert wird: „The man stuck his hand up the kid’s ass, repeatedly making and unclosing a fist, until unfiled fingernails ripped the membranes.“ (IM 5). Sicherlich kann man auch die Beziehung zu V, die im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde, als „pervertierte“ Variante des ödipalen Dreiecks lesen, konkurriert hier doch der junge R mit der Ehefrau Mathilde auch sexuell um V, der die Rolle einer Vaterfigur einnimmt: „R clung to V as if V were a father.“ (IM 60) Wie schon bei Janey und Johnny wird hier die Grenze zwischen Liebhaber und funktionellam Vater verwischt. An einer Stelle, während einer der zahlreichen temporären Trennungen

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zwischen den beiden Dichtern, nimmt V sogar beide Elternfunktionen ein: „V as father was now absent; V as mother might or might not love R.“ (IM 34) Expliziter und theoretisch reflektierter greift Acker die Inzestthematik in dem an Faulkners The Sound and the Fury angelehnten Handlungsstrang in In Memoriam to Identity auf, der sich um die Protagonistin Capitol rankt. Die aus Faulkners Werken plagiierten Handlungselemente verarbeitet Acker auf ihre ganz eigene Art zu einem Hybridtext aus theoretischer Abhandlung und Fiktion. Mit einem Metakommentar macht sie innerhalb des Romans deutlich, was sie damit zeigen will: „In Faulkner’s novels, men who are patriarchs either kill or maim by subverting their daughters. Every daughter has a father; every daughter might need a father.“ (IM 220) Dieser Satz spitzt Ackers Analyse von Faulkners Romanen als literarische Affirmationen der ödipalen Norm zu. Acker persifliert Capitols ödipale Suche nach einem funktionalen Vater und lässt sie zunächst in einem inzestuösen Beziehungsgeflecht mit ihrem Bruder Quentin fündig werden, das an die Stelle der klassischen familiaristischen Triangulation tritt, da die Eltern – wie in der Vorlage – gewissermaßen „ausfallen“: „Daddy was a drunk, and mom had decided to be a crip, but I didn’t mind them very much.“ (IM 153). Quentin ist, wie im Originalroman, vom inzestuösen Begehren nach seiner Schwester Capitol (bei Faulkner Caddy) besessen – mit dem Unterschied, dass dieses in Ackers Version von ihr eindeutig erwidert wird: „I had never known Quentin. Or anyone. It’s impossible to know a person who’s always fantasizing about you and about whom you’re obsessing.“ (IM 153) Zunächst steht dieses beiderseitige Begehren unerfüllt im Raum. Quentin quält sich damit herum, während Capitol versucht, sich durch ein exzessives Sexualleben ihr „Selbst“ jenseits ihrer familiaristischen Sozialisation zu erschließen: „I fuck every man in sight. Men open me up or sex with them opens me up, so I learn something about myself.“ (IM 154) Doch wie meist in Ackers Romanen führt Promiskuität nicht per se aus dem Ödipus heraus, vor allem dann nicht, wenn sie, wie hier im Falle Capitols, immer noch dem Mythos vom inzestuösen Begehren nach dem Vater verhaftet bleibt und als Ersatzhandlung für den Inzest fungiert: „Will you be my daddy? [meine Hervorhebung – d. Verf.] I wanted to say. No one can tell me what to do. Sometimes I’m in ecstasy and I want to fuck every man in town and I don’t care what the face is on the body I’m fucking.“ (IM 160) Dem „symbolischen Vater“ in seiner verneinenden Funktion (das „Nein des Vaters“ bezeichnet nicht nur das Inzesttabu, sondern steht für jede Art von kulturellem Verbot) begegnet Capitol schließlich wieder in Quentin, der versucht, ihre letztendlich vergeblichen (weil ödipal kodierten) sexuellen Selbstfindungsversuche im Namen der Familie (der Moral) zu verurteilen: „You’re a slut, aren’t you, Capitol? You do it with every boy and you don’t care. Father said women are diseased and have no respect for anything living their own flesh and blood curses them [Hervorhebung im Original – d. Verf.] and Father said nothing matters.“ (IM 156) Der Bannstrahl, der Capitol im Namen „Fathers“ trifft, ist der des symbolischen Vaters, der versucht, ihre auf Selbstfindung ausgerichtete weibliche Sexualität durch Pathologisierung („women are diseased“) unter die Macht des Phallus zu zwingen. Der Verweis auf die Verdammung

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von Capitols Verhalten durch das „eigene Fleisch und Blut“ belegt, dass diese Macht über den subalternen Pol im binären Geschlechterverhältnis durch das Inzestverbot begründet wurde. An einer späteren Stelle expliziert Capitol, die durch den Harvardstudenten Quentin mit psychoanalytischen Theorien in Berührung gekommen ist, diesen normativen Mechanismus: „Freud said, you told me, girls always want their fathers, sexually. You think that’s why women are sluts, don’t you? That’s just why I fuck everyone.“ (IM 164) Anders als bei Faulkner, wo der Vollzug des Inzests zwischen Quentin und Caddy im Unklaren bleibt, expliziert Acker an mehrern Stellen, dass das Geschwisterpaar in ihrem Roman sein Begehren tatsächlich „fleischlich“ auslebt: Maybe cause we had done it, though both of us weren’t sure if it meant anything, or maybe cause of no reason at all (no reason humans can know), Quentin s tarted revealing fac ts about himself. (IM 164) I say every dirty word loudly, but I can’t say aloud what he does to me sexually when he’s doing it. He was touching his own cock. ,Are you going to…?‘ ,Do you want me to touch myself, Capitol?‘ ,Yes.‘ Then, ,Don’t cry‘, I said as I touched, a rubber, and then his hand took away my hand while, s till crying, he watched his cock and my face which was watching upwards to the sky, under him, and I almos t asked , What?‘ while liquid came out onto my face. (IM 165)

Die ödipal geprägte Sexualität und die Überschreitung des sie verursachenden Tabus kann für Acker kein tiefgehendes Modell sein, indem sich irgendeine Form von wirklicher Befreiung einstellen kann, weswegen Capitols Eskapaden immer wieder auf dieses Narrativ zurückverweisen, ohne ihre Entfremdnung zu überwinden: „Capitol didn’t hate men. Though she loved to fuck, she refused to be touched deeply. In all senses but physical, she was a virgin. (Incest.)“ (IM 228) Zu den weiteren Klassikeren des modernen literarischen Kanons, deren ödipalen Charakter Acker offenlegt, gehören Frank Wedekinds Lulu-Dramen. In Don Quixote lässt Acker den unterschwelligen Ödipalismus im Verhältnis zwischen dem Freier Professor Schön und der Prostituierten Lulu offen zu Tage treten. Schön wird dabei als symbolischer Vater entlarvt, der seinem „Kind“ Lulu durch eine inzestuöse Beziehung verbunden ist: Lulu enters. Lulu: Do you love me? Schön: Parents always love their children. Lulu: That’s not why I’m asking you: Do you love me? The Maid, who’s always in the background: You have to respec t your father, Lulu. Lulu: You don’t [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] love me. The Maid: Lulu. Do what your father tells you to do. Go to your room. (DQ 82)

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Mit dem „Aufs-Zimmer-Schicken“ – einer klassischen Strafe für Kinder – ruft Acker auf ironische Weise den unterschwellig ödipalen Charakter des Machtverhältnisses zwischen Schön und Lulu auf: Er als „Vater“ hat die sexuelle und ökonomische Macht über Lulu, den subalternen weiblichen Pol. Ihr Auf begehren – als Verlangen nach „authentischer“ Liebe formuliert – verstößt gegen das „Gesetz des Vaters“ und damit gegen die bürgerliche Hierarchie zwischen den Geschlechtern. Schön, als Inkarnation dieses patriarchalen Über-Ichs ruft sie zur Ordnung: Schön, finally speaking: I see a disobedient child. I see a child who has no respec t for her elders, for the culture into which she was born, thus for society, I see someone who will become amoral, if not worse. I see. I can’t even say ,a person‘, of whom I am deeply, Lulu, deeply ashamed. Lulu. From now on, you will be confined to your room. I have nothing more to say to you because you will not be worth speaking to until you learn to be a person and to ac t in manners acceptable to this society. (DQ 83)

Empire of the Senseless nimmt eine besondere Rolle in Ackers Kritik am psychoanalytischen Ödipalismus ein, weil sie dort, wie sie im Gespräch mit Friedman erläutert, die Ursprungstexte dieses Diskurses appropriiert hat: „The first part [der bezeichnender Weise den Titel „Elegy for the World of the Fathers“ trägt – d. Verf.] is based on the oedipal complex and of course, there’s a lot of Freud in it. At first, I was going to name everyone after Freud’s patients, but I didn’t do that for all the characters.“52 Letztendlich hat sie dieses Vorhaben nicht konsequent umgesetzt. Es taucht lediglich eine Figur namens „Schreber“ sporadisch im Roman auf, deren realhistorisches Vorbild durch Freuds Aufsatz „Psyochoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch Beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides)“ aus dem Jahr 1911 große Bekanntheit erlangte. Er tritt erstmals als „Boss“ von Abhor in der aus Gibsons Neuromancer übernommenen Passage auf (EoS 31) und nimmt dort die Stelle der Figur Armitage aus dem Original ein. Doch an dieser Stelle ist Schreber nur ein Name, der noch auf nichts verweist. Dies ändert sich erst in den Passagen, die von Freuds Beschreibung des „Falles Schreber“ beeinflusst sind, der in besonderer Weise zeigt, welche körperliche und seelische Zurichtungssystematik im familiären Verbund am Werke sind. Acker musste in diesem Fall nicht einmal drastische Schockbilder finden, weil die gewaltsame Anpassung des jungen Schreber an die vom Vater verkörperte Norm offensichtlich war. Die Geschichte des historischen Schreber wird von Abhor rekapituliert, die zunächst die von Freud pathologisierte Differenz Schrebers aufgreift – nicht ohne eine sarkastischen Kommentar zum politischen Kontext der 1980er Jahre zu machen: „Dr Schreber was paranoid, schizophrenic, hallucinated, deluded, disassociated, autistic, and ambivalent. In these qualities he resembled the current United States President, Ronald Reagan.“ (EoS 45) Die „pathologischen“ Symptome sind das Resultat der Zurichtung des jungen Schreber im Familienverband gemäß des „Gesetzes des Vaters“, als dessen Blaupause der realhistorische ältere Schreber gelten kann. Der Psychloge Morton Schatzman, der 52 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 16.

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wie Acker von der Psychiatriekritik R.D. Laings beeinflusst wurde, hat diesen Patriarchen als idealtypischen ödipal-familiaristischen Tyrannen charakterisiert: The views of family life of Dr Schreber, the father, mirror as if in caricature, ideologies widely held in the ,liberal‘ wes t today: adult males mus t be dominant; sexuality in children and adoles tents mus t be subdued; two adults (parents), however ignorant, bigoted or intolerant they might be, mus t oversee their offsprings’ morals until at leas t mid to late adolescence; and children mus t learn early to submit, often uncritically, their parents’ wills. 53

So kann der ältere Schreber als prototypischer „symbolischen Vater“ des bürgerlichen Disziplinardiskurses gelten, der durch die Zurichtung der „gelehrigen Körper“ im Sinne Foucaults die Normidentität zu etablieren sucht. In der Schilderung seiner brachialen Methoden orientierte sich Acker am historischen Fall: When Dr. Schreber was three years old, his mother bathed him only in ice-water according to her husband’s ins truc tions. Her husband made various toys for his son including a shoulder-band. The shoulder-band was a figure-eight of metal and leather whose two loops, after curving round the boy’s front, met in the middle of is back. […] Another toy, a ,s traigt-hold‘, an iron crossbar fas tened to the table, by pressing agains t the child’s collarbones and shoulders, prevented both bad pos ture and any movement. (EoS 45)

Auch wenn die Methoden des historischen Dr. Schreber sicher nicht einmal seiner konservativen Pädagogik seiner Zeit entsprachen, dienen sie Abhor als Sinnbild für die normativen, ja totalitären Machtmechanismen in der Familie : „I’m not hinting at any possible link between the micro-despotism inherent in the American nuclear familial structure and the macro-political despotism of Nazi Germany.“ (EoS 45) Diese Analogie mag zwar dennoch anklingen, aber Abhor geht es, ihrer eigenen Aussage nach bei der Beschreibung des Falles Schreber um „an accurate picture of God: A despot who needs a constant increase of His Power in order to survive.“ (EoS 45) Und Gott – der ultimative „symbolische Vater“ – wird mit dem dominierenden (und von der Figur Reagans verkörperten) Diskurs der westlichen Kultur seit der Auf klärung gleichgesetzt: „God equals capitalism. [Hervorhebungen im Original – d. Verf.]“ (EoS 45f.) Acker zeigt die Unmöglichkeit, sich dem ödipalen Phallozentrismus lebenspraktisch wie literarisch – allein schon wegen der phallozentristischen Codierung der Sprache – durch eine einfache Geste zu entziehen. Im Interview mit Ellen G. Friedman führt sie aus, dass eine simple Befreiung durch die Ablehnung des „Gesetzes des Vaters“ eine Illusion bleiben muss, solange die Gesellschaft selbst paternalistisch organisiert ist: „[Y]ou try to imagine or construct a society that wasn’t constructed according to the myth of the central phallus. It’s just not possible if you live in this world.“54 Als Alternative bleibt somit die Subversion der durch die Macht des Phallus gezogenen Grenzen innerhalb des Systems. 53 | Morton Schat zman: Soul Murder. Persecution in the Family, London 1976, S. xii. 54 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 17.

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Transgressive Sexualität und die Er weiterung der Grenzen des Selbs t Ackers kulturell radikale Sichtweise prägt auch ihre transgressive Sexualpolitik. Es gibt für sie kein sexuelles Utopia in einer Gesellschaft, deren sexuelle Kultur von der ödipalen Matrix strukturiert wird. In ihrer Skepsis gegenüber jeder Art von separatistischer Befreiungsutopie hält sie es nicht für möglich, die individuelle sexuelle Identität vollständig von ihrer patriarchal-phallozentristischen Umwelt abzuspalten. Als Beispiel für die Vergeblichkeit solcher separatistischer Taktiken führt Acker bestimmte Ausprägungen des lesbisch-feministischen Separatismus an: „I know there are some feminists who think you can choose your sexuality, and that you should be politically correct in your choice of sexuality. But I don’t agree at all. That’s one of the rare theoretical opinions I have.“55 Sie glaubt nicht, man könnte die „falsche“ – in diesem Fall die ödipale – Programmierung durch die Gesellschaft zu Gunsten eines authentischen und vor allem freien sexuellen Selbst abstreifen. In In Memoriam to Identity hat Acker diesen Gedanken in einer autobiographisch gefärbten Episode fiktionalisiert. Die Protagonistin Airplane ist auf ihrem Weg über die „Leitern der Transgression“ als Darstellerin in einer Sex Show namens „FUN CITY“ gelandet. Dort lernt sie, dass der patriarchale Sexismus im postmodernen Spätkapitalismus deviante Sexualität anders behandelt, als zu Zeiten der traditionellen Disziplinargesellschaften. Wo in der Moderne noch eine homogene Normsexualität in Abgrenzung zu den als „krank“ bezeichneten Lustformen definiert werden sollte, wird jetzt gerade deren Vielfalt zum Gegenstand kommerzieller Ausbeutung. Die in der in der Moderne zur sozialen Kontrolle geschaffenen Kategorisierungen sexueller Vorlieben und Praktiken als „Perversionen“ oder Fetischismen dienen nun der zielgruppenorientierten Gewinnmaximierung in einer sexuellen Variante des postmodernen „shopping mall pluralism“: „The magazines were arranged in categories of kinds of sexual activity. It’s possible to name everything and to destroy the world.“ (IM 123). Diese Heterogenität kann nur oberflächlich behaupten, Freiheit zu repräsentieren. Tatsächlich steht hinter der vordergründigen Liberalisierung immer noch ein Zwangssystem, das jedoch nicht mehr durch Moral oder Medizin, sondern durch den kapitalistischen Markt definiert ist. In diesem Kontext ist Sexualität kein Feld individuellen Ausdrucks oder kreativer Erfahrung, sondern Ware und Konsumgut in einer Welt, die für Acker nach wie vor von besitzenden männlichen Eliten dominiert wird. Denn FUN CITY bietet ausschließlich „[f]un for somebody, the man, or men, who earned the money.“ (IM 55 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 95. Auch wenn Acker die Vors tellung ablehnt, Sexualität „frei“ wählen zu können, heißt das nicht, dass sie an eine fixierte und essentielle sexuelle Identität glaubt, die keinen Spielraum für alternative Erfahrungen erlaubt. Vielmehr wird bei der Lektüre ihrer Romane deutlich, dass sie verschiedene Formen von deviantem Begehren als exis tent akzeptiert. Eine individualpsychologische Erklärung für den Ursprung dieser Phänomene in den einzelnen Individuuen interessiert sie kaum. Ihr Hauptaugemerk liegt vor allem auf den sokziokulturellen Mechanismus, durch die diese Differenzen bei der Subjektproduktion von vorne herein ausgeschlossen oder später in der sozialen Sphäre kontrolliert werden sollen.

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123) Hier bringt Acker ihre Kritik an der Misogynie der kommerziellen Pornographie, diesem Schmuddelkind der Populärkultur, zum Ausdruck, ohne daraus jedoch Sympathien für die kleinbürgerlich-konservative Haltung gegenüber der Sexualität zu entwickeln, die Rubin im Antipornographiefeminismus ausgemacht hat. Sie verdeutlicht das an Airplane, die über „politisch korrekte“ (s.o.) feministisch-lesbische Alternativen für ihre eigene Sexualität nachdenkt: If I was a lesbian, I would have control over my life, my vulnerability, the thing between my legs, my need to be touched though not my need to touch (I had that anyway), all of my childhood which remained, all should be allowed. If I had control over my vulnerability, I couldn’t be hurt as profoundly as I was being. Sexuality mus t be closely tied to reality because being a lesbian, I could make the reality I wanted. (IM 143)

Der Versuch, ein solches weiblich-homosoziales Utopia als wirksame Antithese zum Patriarchat zu entwerfen, muss für Acker scheitern, weil es nicht außerhalb der hegemonialen kulturellen Dialektik steht und das „Männliche“ lediglich als das auszuschließende „Andere“ versteht. Ein solcher Separatismus bleibt den ödipalen Denkmustern verhaftet und sucht vergeblich sein Heil im „Außen“, das es aber nicht geben kann. Eigene Sprach-, Ordnungs- und Bewusstseinsformen im Hinblick auf die Geschlechteridentität entwickelt er nicht. Acker billigt ihm deswegen – wie auch der „Free Love“-Ideologie der Hippiekultur – keine grundsätzliche Wirksamkeit zu: „The same sort of thing with the separatist feminists. You form your own group. In the end you pull things that way a little, but it can’t work successfully. Neither one is in any way a viable model of true separation. It’s impossible.“56 Hier wird wieder eine Verwandtschaft von Ackers Denken mit den Positionen Butlers deutlich, was jedoch nicht überrascht, sind beide doch massiv von Foucaults Lehre der Allgegenwart der produktiven Macht beeinflusst, in der Widerstand von vornherein mitgedacht wird. Butler macht am Beispiel der Bisexualität, als Form eines sexuellen „Zwischen“ deutlich, dass ein solches poststrukturalistisches Verständnis von Macht auch im Hinblick auf eine heteronormativ codierte Sexualität kein reines, durch separatistische Bestrebungen erreichbares „Außen“ kennt: The bisexuality that is said to be ,outside‘ the Symbolic and that serves as the locus of subversion is, in fac t, a cons truc tion within the terms of that cons titutive discourse, the cons truc tion of an ,outside‘ that is nevertheless fully ,inside‘, not a possibility that is refused and redescribed as impossible. […] The ,unthinkable‘ is thus fully within culture, but fully excluded from dominant [Hervorhebung im Original – d. Verf.] culture.57

Die Autorität des „Gesetzes des Vaters“ über die Sexualität kann daher nur von innen unterlaufen werden. Hierzu schreibt Butler: „If subversion is possible, it will be a subversion from within the terms of the law, through the possibilities that emerge when the law turns against itself and spawns unexpected permutations of 56 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 17. 57 | Butler: Gender Trouble: a. a. O., S. 105.

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itself.“58 Wie auf allen Feldern der Transgression, plädiert Acker auch auf dem Feld der Sexualität für Überschreitungen, die das Paradox wagen sollen, innerhalb eine ödipalen Kultur auf der Ebene der individuellen sexuellen Erfahrung den Ödipus immer wieder aufs Neue momentan aufzuheben. Die Leitfigur für dieses Unternehmen ist der sexuelle Abweichler, der „Perverse“, der zum Symbol der Subversion der normativen Grammatik des sexuellen Begehrens im Einzelnen und der Öffnung neuer Potentiale der sexuellen Erfahrung – und damit letztendlich der Subjektivität wird. So wird für Acker auch in der sexuellen Sphäre die Strategie des Uneindeutigmachens und der radikalen Infragestellung der durch den ödipalen Diskurs benannten Kategorien der Schlüssel einer wirklich transgressiven Sexualität: Denn bereits das Benennen von Vorlieben und Praktiken etabliert eine Hierarchie der sexuellen Erfahrungsoptionen und stellt somit einen Akt der sozialen Kontrolle dar, gegen den es sich aufzulehnen gilt: „[S]exuality“, lernt die Protagonistin Capitol, „has nothing to do with names. Words.“ (IM 239) Die Homogenisierungseffekte des ödipalen Diskurses, der im „Normalverlauf“ jedem eine klar definierte Rolle (Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Mann, Frau etc.) zuweist, können nur durch Heterogenisierungen gebrochen werden. In Great Expectations heißt es programmatisch: We shall define sexuality as that which can’t be satisfied and therefore as that which transforms the person. (Stylis tically: simultaneous contras ts, extravagances, incoherences, half-formed misshapen thoughts, lousy spelling, what signifies what? What is the secret of this chaos? (Since there’s no possibility, there’s play. Elegance and completely filthy sex fit together. Expec tations that aren’t satiated.) Ques tioning is our mode.59

Der Schlüssel zu dieser Infragestellung der sexuellen und damit der sozialen Normkategorien ist das Begehren. Dieser Begriff bezeichnet in der deleuzeschen Philosophie a creative emotion outside of binary desiring-forms in psychoanalytic reasoning, and can be employed to describe a certain quality of synthesis that has the power to transform. By describing desire as an ontology, it can be conceived outside and beyond psychoanalysis as an independent machine, detached from one primary repression. 60

Acker definiert Begehren für sich auf diese Weise als potentiell kreative Kraft, was es ihr ermöglicht, in ihren Romanen erkunden, „how sexual desire tears down the 58 | Ebd., S. 127. 59 | Kathy Acker: Great Expec tations, in: Blood and Guts in High School, plus two [Great Expec tations und My Death, My Life, By Pier Paolo Pasolini], a. a. O., S. 233. Im Folgenden zitiert als GE. 60 | Stevie Meriel Schmiedel: Contes ting the Oedipal Legacy. Deleuzean vs Psychoanalytic Feminis t Critical Theory, Müns ter 2004, S. 155.

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fabric of society.“ (DQ 137). In Blood and Guts in High School formuliert sie das entsprechende Programm: EVERY POSITION OF DESIRE, NO MATTER HOW SMALL, IS CAPABLE OF PUTTING TO QUES TION THE ESTABLISHED ORDER OF A SOCIETY; NOT THAT DESIRE IS ASOCIAL; ON THE CONTRARY. BUT IT IS EXPLOSIVE; THERE IS NO DESIRING-MACHINE [meine Hervorhebung – d. Verf.] CAPABLE OF BEING ASSEMBLED WITHOUT DEMOLISHING ENTIRE SOCIAL SEC TIONS. (B&G 125)

Mit ihrer Referenz auf die subversive Kraft der „desiring machines“ greift Acker direkt auf das Vokabular von Deleuzes und Guattaris Versuch zurück, im Anti-Ödipus eine Alternative zur traditionellen psychoanalytischen Theorie des Subjekts und seiner Begehrensstruktur zu entwickeln. Es kann hier nicht Aufgabe dieser Studie sein, diesen Theorieansatz in all seinen komplexen Windungen nachzuzeichnen. Auf einige ausgewählte Aspekte dieses Denkmodells ist aber hinzuweisen, weil sie helfen, Ackers Sexualpolitik zu verstehen. Die freudsche Psychoanalyse definiert „[a]ls normales Sexualziel […] die Vereinigung der Genitalien in dem als Begattung bezeichneten Akte[.]“61 Deleuze und Guattari lehnen dieses zutiefst bürgerliche Verständnis von Sexualität ab, weil es aus ideologischen Gründen ein potentiell grenzenloses Feld menschlicher Erfahrung auf wenige erlaubte Möglichkeiten verengt: „In Wirklichkeit sieht und versteht Freud nichts. Er hat keine Vorstellung davon, was ein libidinöses Gefüge ist, mit all den dazu gehörenden Maschinerien, mit all den vielfältigen Liebschaften.“62 Der von Acker im oben stehenden Zitat aufgegriffene Begriff der Wunschmaschine (so die im Deutschen übliche Übersetzung des französischen Originalbegriffs „machine désirante“) ist zentral für das philosophische Experiment der beiden Denker, bleibt aber, wie vieles in ihrer Theorie, unscharf definiert.63 Eines machen sie jedoch klar: „Die Wunschmaschinen bilden das nicht-ödipale Leben des Unbewußten.“64 Weder Deleuze und Guattari, noch in ihrer Folge Acker leugnen die Existenz einer unbewussten Sphäre der Persönlichkeit und ihre Bedeutung als sexueller Wunsch61 | Sigmund Freud: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main 1997, S. 37–145, hier: S. 60. 62 | Deleuze/Guattri: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 56. 63 | Dies is t auch dem komplexen Stil des Buches geschuldet, der vieles mit Ackers transgressiver Äs thetik gemeinsam hat: „Der Stil, in dem Anti-Œdipe geschrieben wurde, kann – in Analogie zum Titel des Buches – vielleicht am ehes ten als ,Anti-Stil‘ charakterisiert werden. Der Kontras t zur wissenschaftlichen Schreibweise könnte in der Tat kaum größer sein, und in dem bewuss t unsys tematischen Vorgehen, den rhetorischen Manövern, der Verwendung schockiender Ausdrücke usw. hat man nicht zu Unrecht einen Angriff auf das ,opus universitaire classique‘ und einen Reflex der 1968 unternommenen Säkularisierung des ,sacré‘ der Universität erkannt[.]“ (Henning Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, Berlin 1997, S. 18.) Auf die s tilis tischen Gemeinsamkeiten von Deleuzes und Guattaris Texten und Ackers Romanen werde ich noch ausführlich eingehen. 64 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O., S. 502.

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produzent. Die vielfältigen Formen von sexuellem Begehren werden von ihnen als anthropologische Konstanten angesehen, ihr ontologisches, kontingentes Sein wird akzeptiert, an einer Genealogie der Wünsche sind sie nicht interessiert. Sie lehnen aber die Interpretation dieser sexuellen Begierden und Wünsche durch die traditionelle bürgerliche Psychoanalyse ab, die diese Bereiche der Subjektivität als infantile, „polymorph perverse“ Anlagen65 abstempelt und im Zuge des „normalen“ Adoleszenzprozesses in die Koordinaten des Ödipusnarrativs presst, um sie ideologisch kontrollieren zu können: Die größte Entdeckung der Psychoanalyse war die Wunschproduktion, waren die Produktionen des Unbewußten. Mit Ödipus wurde diese Entdeckung schnell wieder ins Dunkel verbannt: an die Stelle des Unbewußten als Fabrik trat das antike Theater, an die Stelle der Produktionseinheiten des Unbewußten trat die Repräsentation, an die Stelle des produktiven Unbewußten trat ein solches, das sich nur mehr ausdrücken konnte[.] 66

Anstatt als Theater, in dem immer wieder das ödipale Drama aufgeführt wird, ziehen es Deleuze und Guattari vor, die unbewusste Begehrensstruktur als Ansammlung der besagten Wunschmaschinen zu beschreiben. Schmiedel verdeutlicht die Funktion dieser technischen Metaphorik in ihrer Philosophie: „Desire […] is a machine, an ontological machine that can be described according to material processes. It is a place of production, not expression, and hence stands outside of dialectical reasoning.“67 Gerade in ihrer nicht-dialektischen Struktur und ihrem produktiven Charakter bieten diese Maschinen für Deleuze und Guattari das Potential, die fixierten Kategorien der ödipalen Norm aufzubrechen und neue, kreative Hybridisierungen von (nicht nur sexuellen) identitären Merkmalen zu ermöglichen: „Was Wunschmaschinen gerade definiert, ist ihr Vermögen zu unendlichen, allseits in alle Richtungen sich erstreckenden Konnexionen.“68 Der Einfluss dieses theoretischen Modells ist in Ackers Romanen spürbar. Dort ist sexuelles Begehren immer dann positiv besetzt, wenn es „maschinell“, also antiödipal ist. Das gilt für alle Formen von Sexualität, die, weil sie keinen gesellschaftlich vorgedachten Mustern folgen, in der Lage sind, eindeutige Kategorisierungen verwirren. Denn für Acker ist „[t]he fight against the partriarchal sexist society […] the fight against the refusal to allow contradiction, difference, otherness.“69 Beispielhaft ist hier ihr Pasolini mit seiner Strategie, die Macht des Vaters durch eine affekthafte (ich habe bereits auf die Rolle des Affektes für Ackers Transgressions65 | Sigmund Freud: „Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen“, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 5, a. a. O., S. 147–159, hier: S. 155. 66 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O., S. 32f. 67 | Schmiedel: a. a. O., S. 157. 68 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, a. a. O., S. 503. 69 | Kathy Acker: „Red Wings: Concerning Richard Prince’s ,Spiritual America‘“, in: dies.: Bodies of Work, a. a. O., S. 53–60, hier: S. 53.

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verständnis hingewiesen) Sexualität, die direkt aus dem maschinellen Unbewussten kommt, zu unterlaufen: „My father is the power. He is a fascist. To be against my father is to be anti-authoritarian sexually perverse unstable insane.“ (PPP 277) Der Vater ist hier einerseits natürlich der tatsächliche Vater des historischen Pasolini, vielmehr aber der symbolische Vater der bürgerlichen Ordnung. Das gegen ihn gerichtete antiautoritäre, instabile und wahnsinnige „Perverse“ bezeichnet nicht nur das amoralische „Andere“ der bürgerlichen Moral, sondern dient vor allem als Chiffre für Formen von Begehren, die sich genau jenen ödipalen Koordinaten entziehen, deren Aufgabe es eigentlich wäre, diese Alternativen nicht entstehen zu lassen oder zu unterdrücken. Im polymorphen „Perversen“ vereinen sich für Acker Lust, Irrationalität und Sprache zu einer Gemengelage, die den hegemonialen Diskurs über Sexualität in kreativer Weise unterlaufen kann, ohne den Entwurf einer wahrhaftigen „Gegensexualität“ anbieten zu müssen, die ohnehin nur illusorisch wäre: „My language is my irrationality. Watch desire carefully. Desire burns up all the old dead language morality.“ (PPP 277) Die Macht des anti-ödipalen Begehrens, sprachliche und damit auch soziale Muster zu verwirren, verdeutlicht Acker an einer Stelle in Great Expectations. Für sie als Poststrukturalistin ist Sexualität auch Textualität und die ödipale Norm ein Zeichensystem, das in den Körper eingeschrieben worden ist (s.o.). Die rauschhafte Erfahrung von Sexualität, die davon abweicht, kann diesen Text „umschreiben“70: A second orgasm cools her shoulders, the young girl keeps her hands joined over the curly brownhaired’s ass, the wire grating gives way, the curly brownhaired slides the young girl under him his pants are s till around his knees his fingernails claw the soil this breath sucks in the young girl’s cheek blows s traw dus t around, the mute young girl’s s tomach muscles weld to the curly-headed’s abdominal muscles, the passing wind immediately modulates the leas t organic noise that’s why one text mus t subvert (the meaning of) another text [meine Hervorhebung – d. Verf.] until there’s only background music like reggae[.] (GE 177)

Der Körper ist in Ackers literarischem Universum nicht zufällig der Ort, an dem die subversive Kraft des Begehrens angreifen kann. Ihrer Ansicht nach kann er, aller kultureller Faktoren entkleidet, gerade wegen seiner Materialität zum Schauplatz transgressiver sexueller Erfahrungen werden: You can talk about sexuality as a social phenomenon, so it’s up for grabs; and you can talk about any intellec tual thought and it will be ,up for grabs‘ in the sense that anything can mean anything else and hence be completely perverted. You get to Baudrillard’s black hole. But when you get to something called the ac tual ac t of sexuality, or that ac tual ac t of disease, there is a kind of undeniable materiality which isn’t up for grabs [Hervorhebungen im Original – d. Verf.]. It’s in the body finally which we can’t be touched 70 | Reinhart hat darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Körper-, Sexual- und Textpolitik bei Acker eine Verwandtschaft zur „écriture féminine“ im Sinne von Hélène Cixous und Julia Kris teva aufweis t, auch wenn die Konzepte nicht völlig deckungsgleich sind. Vgl. dazu: Reinhart: a. a. O., S. 452–456.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN by all our scepticism and ambiguous sys tems of belief. The body is the only place where any basis for real values exis ts anymore. 71

Acker ist natürlich bewusst, dass auch der Körper in massiver Weise ideologisch besetzt ist (als arbeitender Körper, kämpfender Körper, begehrender Körper, gebärender Körper etc.). Aber weil seine materielle Existenz seiner kulturellen Überformung vorgängig ist, ist er – anders als die immateriellen „seelischen“ Dimensionen menschlicher Subjektivität – kein reiner Effekt der Normierung. Als „gelehriger Körper“ im Sinne Foucaults ist er Ort der Einschreibung der Norm und der ideologiegeleiteten Strukturierung von sexuellem Begehren. Mehrfach spielt Acker auf dieses reziproke Verhältnis von Körperlichkeit und Innerlichkeit an: „Mentality is the mirror of physicality. The body is a mirror of the mind.“ (EoS 65); „Whose sexuality am I and whose sexuality’re you? The soul is the body.“ (IM 6) Aber sie billigt ihm auch zu, als „ungelehriger“ und damit „ungehorsamer“ Körper Ort der Subversion sein. Anders als die immateriellen Aspekte der Sexualität (Emotionen, Vorlieben, Begehren), die stets im Spannungsfeld ideologischer Koordinaten stehen, kann der Körper für Acker ein unmittelbarer Schauplatz von Experimenten werden, die zumindest momentan die Gültigkeit dieser Parameter auf heben und so alternative Formen von Lusterfahrung möglich machen. Wenn Acker in obenstehendem Zitat von „real values“ in Bezug auf den Körper spricht, darf dies jedoch nicht als Plädoyer für jene authentische Sexualität jenseits der entfremdenden bürgerlichen Moral missverstanden werden, an die ihre modernen Vorbilder wie Pasolini oder Genet noch glaubten. Sie plädiert vielmehr für eine radikal subjektive Körperpolitik, die jedwede ideologische Vereinnahmung der Sexualität unterlaufen und kreative Potentiale für die Individuen eröffnen kann. Der Körper muss, um es mit Foucault zu sagen, zur „Quelle für eine Mannigfaltigkeit von Lüsten“72 werden, wobei der Lustrausch – wie jeder Rausch – die Gesetze der zweckrationalen Ordnung auf hebt. Acker hat diese Strategie am Beispiel von Abhor fiktionalisiert. Diese erkennt, dass der Körper Zugang zu einer sexuellen Erfahrungswelt sein kann, die nicht durch die kulturelle Überformung strukturiert ist: „It seemed to me that the body, the material, must matter. My body must matter to me. If my body mattered to me, and what else was any text: I could not choose to be celibate.“ (EoS 64) Seiner normativen Einschreibungen enthoben, ermöglicht der Körper potentiell grenzenlose sexuelle Erfahrungsoptionen: „My sexuality was ecstasy. It was my desire which, endless, was limited neither by a soley material nor by sole mental reality.“ (EoS 65) Diesen nicht-essentialistischen Befreiungseffekt hat Butler theoretisch so beschrieben: „The culturally constructed body will then be liberated, neither to its ,natural‘ past, nor to its original pleasure, but to an open future of cultural possibilities.“73 Anders als 71 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 93. 72 | Michel Foucault: „Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität“, in: ders.: Analytik der Macht, a. a. O., S. 301–315, hier: S. 304. 73 | Butler: Gender Trouble: a. a. O., S. 127.

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zum Beispiel die Hippiekultur versteht Acker den Körper somit nicht als Medium der Erschließung von transzendentalen Wahrheiten (etwa eines authentischen sexuellen Selbsts), sondern als Ort, an dem das Individuum durch normüberschreitende Erfahrungen verändert werden kann – und darüber langfristig die Gesellschaft. Ein wesentliches Element in Ackers Vorhaben, das Individuum durch den Körper von seinem ödipalen Programm zu befreien besteht darin, ihn als gebärenden (bzw. zeugenden) Körper zu entnaturalisieren. Die sichtbarste Metapher für die Entkoppelung von sexuellem Begehren und Reproduktionsnorm sind die Abtreibungen, die in Ackers Romanen immer wieder eine Rolle spielen. Wenn der (in diesem Fall weibliche) Körper Schauplatz transgressiver sexueller Wunschmaschinen werden soll, muss er – notfalls mit Gewalt – von seiner normgemäßen Rolle als Gebärmaschine entbunden werden, wie Acker am Beispiel Capitols postuliert: „When a woman’s body turns into a baby-wanting machine and if the woman doesn’t want a baby, she has to wage war against herself. Her best girlfriend the same. Both of them had three abortions in one year.“ (IM 248). Auch in Don Quixote wird die Abtreibung mit dem Moment des Ritterschlags gleichgesetzt, da sie die Protagonistin dort von den gesellschaftlich vorgedachten Rollenbildern befreit. Abtreibung ist für Ackers Protagonistinnen ein Entreißen der Verfügungsgewalt über den eigenen sexuellen Körper aus dem Griff des Patriarchats: „A man who controls other people steals their souls. Therefore, when the poor or soulless steal, they are acting unnaturally, they’re redressing through unnatural means the proper balance of human power. This is why women have to get abortions.“ (DQ 178) Prinzipiell sind für Acker alle sexuellen Praktiken interessant, die nicht auf biologische Reproduktion, sondern auf die Schaffung einer „Mannigfaltigkeit der Lüste“ ausgerichtet sind. Aus foucaultscher Perspektive betrachtet kann man hier von einer Entgenitalisierung der Sexualität sprechen, die rückgängig machen soll, dass der bürgerliche Ödipalismus alle „unfruchtbaren Lüste zugunsten einer genital zentrierten Sexualität“74 als „pervers“ untersagt hat. Die konkrete „Perversion“, die in Ackers sexualpolitischem Überschreitungsprojekt den größten Raum einnimmt, ist der Masochismus. Mehrfach finden sich in den Romanen Sätze wie: „Masochism is now rebellion.“ (DQ 158), „Masochism is only political rebellion“ (EoS 58) oder „I’m a masochist. This is a real revolution.“ (GE 199) Natürlich provoziert Acker mit diesen vermeintlich paradoxen Aussagen. Sie schaffen zum einen eine Distanz zu allen noch existierenden Konzepten einer Normsexualität und setzen sich zugleich vom feministischen Mainstream der 1980er Jahre ab, der den weiblichen Masochismus in erster Linie als Verinnerlichung patriarchaler Herrschaftsmuster interpretierte. Exemplarisch sei hier Dworkin zitiert: „The essence of oppression is that one is defined from the outside by those who define themselves as superior by criteria of their own choice. That is why women are defined – from the outside, by men – as masochistic.“75 Arthur F. Redding, der in einem lesenswer74 | Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O., S. 41. 75 | Dworkin: a. a. O., S. 149.

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ten Aufsatz dem Masochismus in Ackers Werk nachzuspüren versucht, schreibt zu diesem scheinbaren Widerspruch: „The patriarchal idea that women are ,masochistic‘ is culturally operative in the twentieth century, however, and Acker seems to champion and adapt it to her own purposes.“76 Diese Instrumentalisierung des Masochismus als Form der Rebellion in Ackers Romanen ist bereits von der Forschung diskutiert worden. Hier ist vor allem auf die Arbeiten von Clune, Redding und Reinhart zu verweisen, die, ebenso wie die Aufsätze von David Brande und Greg Lewis Peters77 bereits einige wichtige Aspekte dieser Thematik herausgearbeitet haben. Mir wird es im Folgenden darum gehen, die Thematik im konkreten Kontext von Ackers Transgressionsprojekt zu betrachten. Die höchst unterschiedlichen Bewertungen von Ackers Haltung zum Masochismus als revolutionäre Strategie zeigen, wie schwer das ihr innewohnende Paradox, durch Unterwerfung Befreiung zu suchen, einzuordnen ist. Sie erstrecken sich von einer optimistischen „celebration of masochism.“78, die Clune ausgemacht hat, bis hin zu Reinharts Vorschlag, die „vielfältigen Beispiele für sexuellen Masochismus […] vorrangig als Parabeln für emotional-politischen Masochismus“ zu lesen.79 Die Bandbreite dieser Interpretationen – von denen jede ein gewisses Maß an Plausibilität besitzt – zeigt, dass der Masochismus bei Acker sexualpolitisch eine hochgradig ambivalente Kategorie ist. Will man einen dieser Ambivalenz angemessenen Deutungsansatz finden und gleichzeitig verstehen, in welcher Hinsicht der Masochismus als Rebellion gedeutet werden kann, darf man meines Erachtens das biographische Faktum nicht außer Acht lassen, dass Acker selbst praktizierende Sadomasochistin war.80 Gerade das masochistische Begehren (es gibt weder in den Romanen noch in den Interviews eine Stelle, in der sie sich mit der Rolle des Sadisten identifiziert) ist für sie somit weder eine rein theoretische Option noch – in seiner weiblichen Ausprägung – eine kulturell operative Männerfantasie, sondern erfahrene und erfahrbare Realität. Sie schreibt dem Sadomasochismus, wie noch zu zeigen sein wird, als Praxis der Entödipalisierung von Sexualität durchaus transgressive Potentiale zu. Diese sind aber – begründet in 76 | Arthur F. Redding: „Bruises, Roses: Masochism and the Writing of Kathy Acker“, in: Contemporary Literature 35.2 (Summer 1994), S. 281–304, hier: S. 298, FN 9. 77 | David Brande: „Making Yourself a Body without Organs. The Cartography of Pain in Kathy Acker’s ,Don Quixote‘“, in: Genre. Forms of Discourse and Culture, 1991 Summer; 24 (2), S. 191–209; Greg Lewis Peters: „Dominance and Subversion: The Horizontal Sublime and Erotic Empowerment in the Works of Kathy Acker“, in: Nicolas Ruddick (Hg.): State of the Fantas tic: Studies in the Theory and Prac tice of Fantas tic Literature and Film. Selec ted Essays from the Eleventh International Conference on the Fantas tic in the Arts, 1990, Wes tport und London 1992, S. 149–157. 78 | Clune: a. a. O., S. 495. 79 | Reinhart: a. a. O., S. 443. 80 | Auch wenn Ackers Beziehungen überwiegend heterosexuell waren und sie dem lesbischen Separatismus skeptisch gegenübers tand, war sie zeitweilig in der von Gayle Rubin gegründeten lesbischfeminis tischen SM-Organisation SAMOIS aktiv (vgl. dazu Clune: a. a. O., S. 500f.).

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Ackers Biographie – höchst subjektiv und können daher nicht als allgemeingültige, für jedes Individuum gewinnbringende Strategien zur Erweiterung des „Ich“ angesehen werden. Zudem ist sich Acker, wie ich noch zeigen werde, durchaus bewusst, dass es nicht unproblematisch ist, diese Art von Lusterfahrung als emanzipatorische Kraft in die sexualpolitischen Machtzusammenhänge einer Gesellschaft einzuführen, in der das Normverhältnis der Geschlechter zu einander auf der Fiktion von weiblicher Unterlegenheit beruht. Dieses Dilemma, mit dem sich jeder Interpret von Ackers Romanen konfrontiert sieht, ist schwer aufzulösen. Reinhart warnt in seiner Analyse von Don Quixote mit einigem Recht vor der Gefahr eines „unauf lösbaren Widerspruch[s] […] wenn ausgerechnet sadomasochistische Rollen- und Beziehungsspiele, wenn ausgerechnet die Dialektik zwischen Herr- und Knecht, zwischen Peiniger und Sklave […] eine grundlegende individualbiographisch wie politisch relevante Befreiungserfahrung einlösen bzw. gewährleisten soll.“81 Dennoch gibt es bestimmte Momente in den Romanen, in denen die Lust an Schmerz und Unterwerfung für die jeweiligen Figuren einen eindeutig positiv besetzten Überschreitungseffekt haben können. Ich möchte behaupten, dass der Masochist, ungeachtet seines Geschlechts, als Figur der für Acker typischen postmodernen Transgression des „Zwischen“ verstanden werden kann. In bestimmten Kontexten – diese Einschränkung ist, wie die folgende Analyse zeigen wird, nicht genug zu betonen – kann er zu einer wirklich liminalen Figur werden, einem Wanderer auf der Grenze zwischen Affirmation und Subversion, zwischen Unterwerfung und Souveränität, zwischen allen interpellativen Identitätszuschreibungen. In der Tat ist die Linie, auf der sich Acker hier bewegt, eine sehr feine und schwer zu bestimmende. Die bisherige Forschung hatte bisweilen Schwierigkeiten, sie zu verorten. Beispielhaft hierfür ist Redding, für den der Masochismus bei Acker immer ein „slippery term“82 bleibt oder Reinhart, der in seiner Analyse die sadomasochistischen Szenen in Don Quixote auf listet83 und dabei im Hinblick auf ihre Befreiungspotentiale das Fehlen einer „argumentatorische[n] Konsistenz“84 beklagt. Er erkennt damit zwar, dass man in Ackers Universum nicht pauschal von „dem“ Masochismus und seiner generellen subversiven Wirkung sprechen kann, zieht aber folgenden, wie ich finde nicht zutreffenden, Schluss daraus: „Es muss als ein Mangel an einer differenzierten Sicht auf den Masochismus angesehen werden, dass im Roman keine kategoriale Unterscheidung getroffen wird zwischen freiwillig gesuchten und unfreiwilligen, erzwungenen masochistischen Erfahrungen.“85 Hier beklagt Reinhart das Fehlen jener Eindeutigkeit, die Ackers gesamtes Werk zu subvertieren sucht und vernachlässigt die dem Roman durchaus implizite Differenzierung von verschiedenen Formen des Masochismus. Nicht nur Don Quixote sondern auch die anderen hier 81 | 82 | 83 | 84 | 85 |

Reinhart: a. a. O., S. 446. Redding: a. a. O., S. 297. Reinahrt: a. a. O., S. 444ff. Ebd., S. 446. Ebd., S. 448, FN 80.

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erörterten Romane machen eine – zugegeben meist unausgesprochene und nicht in jedem Fall eindeutige – Distinktion zwischen einem affirmativen und einem subversiven Masochismus. Es würde dem Denksystem hinter Ackers transgressiver Identitätspolitik völlig widersprechen, wenn sie den Masochisten per se als essentielle „bessere“ Gegenidentität präsentieren würde. Vielmehr ist eine bestimmte Ausformung des Masochismus für sie eine transgressive Option und kein sexuelles Utopia. Sie folgt hier wieder den Pfaden Foucaults, der wie sie einen biographischen Bezug zum Sadomasochismus hatte:86 Ich denke nicht, dass diese Bewegung sexueller Praktiken irgendetwas mit der Auf- oder Entdeckung von tief in unserem Unbewuss ten vergrabenen sadomasochisitischen Strebungen zu tun hat. Ich denke, dass SM viel mehr is t als das; es is t die wirkliche Erschaffung neuer Möglichkeiten von Lus t, die man sich zuvor nicht hatte vors tellen können. 87

Deshalb muss jede masochistische Figur und jede sadomasochistische Szene in den Romanen in ihrem jeweiligen Kontext auf ihre anti-ödipalen Subversionspotentiale hin analysiert werden. Dabei ist es hilfreich, einen Blick auf Ackers theoretische Ausführungen im Gespräch mit Andrea Juno und V. Vale zu werfen, in dem sie zwischen einem negativen, emotionalen Masochismus als affirmativen Effekt der bestehenden sexuellen Machtverhältnisse und einem positiv konnotierten, sexuellen Masochismus als Strategie zur subversiven Entgrenzung des „Ich“ differenziert. Den negativ besetzten Masochismus definiert Acker als Erotisierung soziokultureller Unterdrückung: [W]hen you’re in a relationship (it doesn’t even have to be one in which you’re being hit) where the other person s tarts doing bad things to you, but you’re scared to leave the relationship, you can s tart to think that pain is pleasure [Hervorhebungen im Original – d. Verf.]. […] And one was to adapt is: to find pleasurable what is not, because you can’t live in total pain all the time, Even physically, if you undergo a lot of pain, your endorphins will switch around and s tart interpreting it as pleasure. 88

Diese die herrschenden Strukturen affirmierende Variante, die auch Reinhart als „emotional-politischen Masochismus“ bezeichnet hat (s.o.), ist in den Romanen eindeutig als Effekt des Patriarchats dargestellt und ist Dworkins Kritik am Masochismus nicht unverwandt (ohne jedoch deren undifferenzierte und grundsätzliche Ablehnung zu teilen). Er ist eng mit Ödipus und dem Gesetz des Vaters verbunden, unter deren Herrschaft jene oben zitierte operative Fiktion des essentiellen weiblichen Masochismus produziert wird, die eben diese Herrschaft und den daraus resultierenden Status als sexuelles Objekt für den subalternen Part erträglich macht. In Empire of the Senseless formuliert Abhor seinen Kern: „Daddy taught me to live in pain, to know 86 | Vgl. dazu: James Miller: The Passion of Michel Foucault, New York 1993. 87 | Foucault: „Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität“, a. a. O., S. 304. 88 | Juno/Vale: a. a. O., S. 180

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there’s nothing else.“ (EoS 10) Somit wohnt der familialistisch-ödipalen Normsexualität nach Ackers Gesellschaftsverhältnis ein sadomasochistisches Elemen innet, das auch die scheinbare Befreiung durch die sexuelle Revolution in Folge der „Sixties“ überdauert hat: Once upon a time there was a materialis tic society one of the results of this materialism was a ,sexual revolution‘. Since the materialis tic society had succeeded in separating sex from every possible feeling, all you girls can now go spread your legs as much as you want ’cause it’s sooo easy to fuck it’s sooo easy to be a robot it’s sooo easy not to feel. Sex in America is S&M. This is the glorification of S&M and slavery and prison. [meine Hervorhebung – d. Verf.] (B&G 99)

Masochistische Szenarien dieser Provenienz erfüllen in den Romanen eine ähnliche Funktion wie die Inzestpassagen: Sie sollen verborgene Machtstrukturen in der Gesellschaft sichtbar machen. Viele von Ackers Protagonistinnen sind emotionale Masochisten, was für Redding in der ödipalen Sozialisation begründet ist: „Masochism in Acker emerges from the familiar – and familial cultural processes whereby the despised image of the self is internalized. That self remains abject, ugly, but the disgust that characterizes one’s relationship to one’s body becomes erotically charged[.]89 In ihrem sadomasochistischen Charakter gewährt die bürgerlich geprägte Mainstreamgesellschaft Frauen nur Sichtbarkeit und Anerkennung, wenn sie sich nicht nur sexuell, sondern auch ökonomisch und politisch unterwerfen. Der von Acker positiv konnotierte sexuelle Masochismus ist hingegen nicht Ausdruck einer kulturell konstruierten Kollektividentität, sondern der Überschreitung der individuellen Grenzen des „Ich“. Bei ihm geht es um „another kind of pain, and that would be to physically shock you into another level of awareness [meine Hervorhebungen – d. Verf.].“90 Hier wird der eigene, persönliche Körper durch das „Erleiden“ von Schmerzen zum Medium der Bewusstseinserweiterung und zum Schauplatz von Erfahrungsexperimenten, die die Gültigkeit der ödipalen Koordinaten des sexuellen Begehrens suspendieren und neue Sphären der Lusterfahrungen eröffnen. Foucault hat den Charakter dieser Experimente in einem Interview beschrieben: S & M is not a relationship between he (or she) who suffers and he (or she) who inflic ts suffering, but between the mas ter and the one on whom he exercises his mas tery. What interes ts the prac titioners of S & M is that the relationship is at the same time regulated and open. […] This mixture of rules and openness has the effec t of intensifying sexual relations by introducing a perpetual novelty, a perpetual tension and a perpetual uncertainty which the simple consummation of the ac t lacks. The idea is also to make use of every part of the body as a sexual ins trument. 91 89 | Redding: a. a. O., S. 285. 90 | Juno: a. a. O., S. 180. 91 | Michel Foucault: „Sexual Choice, Sexual Ac t“, in: Sylvère Lotringer (Hg.): Foucault Live. Collec ted Interviews, 1961–1984, S. 322–334. hier: S. 331.

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Natürlich ist SM nicht die einzige sexuelle Spielart, durch die der Körper in seiner Gesamtheit zum Instrument der Lusterfahrung werden kann. Aber für Foucault wie für Acker spielt der Sadomasochismus als transgressive Praxis eine wichtige Rolle, die sich nicht allein durch private Vorlieben erklären lässt, sondern auch durch seinen anti-ödipalen Charakter: Zum einen, weil er als nicht auf Fortpflanzung ausgelegte Form gegen jede biopolitische Instrumentalisierung der Sexualität gerichtet ist. Zum anderen interpretieren beide SM als transgressive Strategie der permanenten Auf hebung sexueller Machtregime, die – man muss diese Ansicht nicht teilen – im erotischen Erleben die von Foucault angesprochene „perpetual novelty“, „perpetual tension“ und „perpetual uncertainty“ (s.o.) evozieren kann. Allerdings betont Acker, dass diese liminalen Lust- und extremen Grenzerfahrungen an bestimmte Bedingungen gebunden sind. Ein Masochismus mit transgressivem Potential kann nur auf Basis von Freiwilligkeit im Spiel stattfinden, in dem die sadomasochistische Situation zu einer gegen die ödipal codierte Sexualität gerichteten Performanz werden kann. Sie ermöglicht die nicht (ausschließlich) genitale, ganzkörperliche entgrenzende Lusterfahrung, die sich der biopolitisch-funktionalistischen Auffassung von Sexualität entzieht. Es gilt, „[to] play with what you most fear in order to learn how to deal with it – that’s one thing you do. Another thing is: you’re curious about your body – how will your body react to this? And it’s not only just pain, it’s also how you react in terms of being controlled [Hervorhebung im Original – d. Verf.].“92 Generell sind dabei die Aspekte Schmerz und Kontrolle als ineinander verzahnte, aber nicht identische Elemente des Masochismus zu begreifen: Kontrolliert zu werden, gleichgültig ob nun unfreiwillig oder selbst gewählt, ist immer ein sozialer Vorgang, der ein Verhältnis zum Gegenüber beschreibt. Er ist ein integrales, zwischenmenschliches Element der sadomasochistischen Inszenierung. Der Schmerz hingegen ist, auch wenn er von einem Gegenüber zugefügt wird, immer eine radikal individuelle Erfahrung, die nicht geteilt werden kann. „The pain inflicted,“ analysiert Redding richtig, „does not merely isolate the subject but opens the subject into a susuration of potentiality.“93 Das rauschhafte Moment des „Aussichherausfahrens“ durch den Lustschmerz kann nur der Masochist erfahren, dem Sadisten wird es verschlossen bleiben. Unzweifelhaft weist diese Form des körperzentrierten, sexuellen Masochismus ein gewisses Element der Souveränität auf, das aber nicht mit der cartesianischen Autonomie des Individuums verwechselt werden darf. Man kann sich, wie Acker am Beispiel des lesbischen Separatismus ausgeführt hat, seine Sexualität nicht autonom, nach politisch korrekten Maßstäben aussuchen und dabei über eigene Bedürfnisse hinweggehen. Der Einzelne kann jedoch das Experiment mit dem eigenen Körper gemäß dem eigenen Begehren zum identitätspolitischen Werkzeug machen. Das sadomasochistische Spiel ist hier nur eine Option unter vielen. Aber gerade der Spielcharakter des Sadomasochismus betont die performativen Elemente einer Sexualität, die sich allen funktionalen Normen entzieht. Das damit verbundene Austesten von 92 | Juno/Vale: a. a. O., S. 180. 93 | Redding: a. a. O., S. 283.

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Erfahrungsgrenzen soll die Möglichkeit eröffnen, die anti-ödipalen Wunschmaschinen kreativ wirksam werden zu lassen: The masochis t desires because s/he affirms his own desiring-machine. Ins tead of using sexuality for reproduc tive purposes, ins tead of defining submission as negative, ins tead of defining violence as injus t, s/ he emphasises decision and responsibility. A slave defining his situation as desirable, a mas ter defining his situation as desired: both present a self-responsible inves tigation of limits and forms of desire [meine Hervorhebung – d. Verf.]. 94

David Brande hat einen sehr aufschlussreichen Aufsatz über die Beziehung des Schmerzmotivs bei Acker mit dem aus Tausend Plateaus entnommenen Konzept des „organlosen Körpers“ verfasst, in dem er darlegt, wie Acker in Don Quixote den Masochismus als Kampftechnik in ihrem anti-ödipalen Guerillakampf nutzt: „[M]asochism is used judo-fashion against the very phallocratic order of dominance and submission – and all the phallocentric order of signification informing it [Hervorhebung im Original – d. Verf.]– that may appear to be its sole origin and teleology[.]“95 Der organlose Körper ist in der Theorie Deleuzes und Guattaris eine Metapher für die Dekonstruktion des pseudonatürlichen Verhältnisses von Körper, Geist und Begehren, das durch die kulturelle Norm etabliert wurde: „Der organlose Körper ist kein toter Körper, sondern ein lebendiger Körper, der um so lebendiger ist und von Leben wimmelt, als er den Organismus und seine Organisation auffliegen lässt. […] Der organlose volle Körper ist ein Körper, der von Mannigfaltigkeiten bevölkert ist.“96 Als solcher kann er, wie Schmiedel in ihrer Interpretation schreibt, als Instrument der Entödipalisierung der Sexualität dienen: „[…]BwO [Body without Organs – d. Verf.] does not refer to a body that is literally without organs, but a body that is not determined by its organs, not structured or ruled by them as in psychoanalysis, where predetermined instincts, genitals, sensualities are the basis for Freud’s as well as Lacan’s theories of sexualities and drives.“97 Der transgressive Masochismus ist eine Form der Sexualität, die den Körper in diesem Sinn „organlos“ machen und so von seiner ödipal-genitalen Besetzung befreien kann, auch wenn Deleuze und Guattari betonen, „[d]ass es andere Mittel, andere Prozeduren als den Masochismus gibt, und zwar bessere […]. Es genügt, dass einigen diese Prozedur zu gefallen scheint.“98 Acker ist eine dieser „einigen“ und doch ist, es sei noch einmal betont, bei dem Begriff Masochismus in ihrem Werk zwischen einer affirmativen psychischen Disposition als Verinnerlichung gesellschaftlicher Herrschaftsmuster und einer transgressiven körperzentrierten sexuellen Praxis als Strategie der Subversion dieser Muster zu differenzieren. Für beide Ausprägungen des Masochismus finden 94 | 95 | 96 | 97 | 98 |

Schmiedel: a. a. O., S. 179. Brande: a. a. O., S. 192. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 48. Schmiedel: a. a. O., S. 164. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 213.

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sich in Ackers Romanen Beispiele, die – wohl ganz nach ihrer Absicht – nicht immer eindeutig zugeordnet werden können. Zunächst möchte ich mich dem emotional-politischen Masochismus zuwenden. In Don Quixote fiktionalisiert Acker, wie der patriarchale Diskurs das oben angesprochene Narrativ der weiblichen, per se masochistischen Sexualität in die Welt gebracht hat. Sie tut dies am Beispiel der Figur „Amadia of Gaul“99, die als „first woman recorded by human history“ eingeführt und deren Geschichte vom fiktiven Herausgeber von Cervantes’ Originalroman, „Cid Hamete Benengeli, a man [meine Hervorhebung – d. Verf.]“ (DQ 29), aufgeschrieben wurde. Amadia wird von einem Mann namens Arcalaus entführt und erlebt ein Martyrium, das sich motivisch am extremen Fantasienkosmos’ Sades orientiert: Arcalaus made her prisoner. Then he s tuck two knives into her thigh flesh. Then he bound her to a pillar in his court-yard, for he was a rich man so he could do whatever he wanted. It’s a well-known fac t that he lashed her body two hundred times with his horse’s reins solely for her own pleasure. A certain female chronicler, anonymous or dead as women in those days had to be, recorded how this woman, hair as white and red as the Bloody Body of Chris t, left in a room alone, a trapdoor opens beneath her feet, she drops into a deep underground pit of shit. The shit smells. She finds herself again bound hands and feet. Arcalaus liked this form of torture. Servants made her drink down a bowl of sand and ice-cold water. (DQ 29f.)

Amadia erwidert diese Quälereien mit masochistischer Hingabe: „Already she was in a trance in which every one of her moments was coming. She couldn’t live without this pleasure[.] (DQ 30) In die Reihe der so konstituierten masochistischen Frauen ordnet Acker auch die wohl berühmteste Masochistin der Literaturgeschichte ein: O, die Titelheldin von Pauline Réages sadomasochistischem Klassiker Histoire d‘O aus dem Jahr 1954. Sie hat nur einen kurzen Auftritt in Great Expectations und steht exemplarisch für eine sadomasochistische Praxis, die lediglich eine Art von Wiederaufführung patriarchaler sexueller Gewalt ist. Os sexueller Masochismus ist ein Effekt eines Vergewaltigungsversuchs durch ihren Vater: „Nightmare: her body mirrors/becomes her father’s desire. This is the nightmare. Then O had a number of S&M relationships with guys who dug their fingernails into her flesh slapped her face then jellyfish [einer ihrer Liebhaber – d. Verf.] wanted to become her whinedabouttheirproblems wanted to become her.“ (GE 201) Es gelingt ihr nicht, die symbolische Ordnung, die durch das „Gesetz des Vaters“ definiert ist, in Frage zu stellen, weswegen ihr der emotionale Masochismus als einziger Ausweg aus ihrer Situation bleibt: „O had either to deny her father’s sex and have no father or fuck her father and have her father. This event led O to believe that a man would love her only if she did something she didn’t want to do.“ (GE 201) 99 | Hier „verweiblicht“ Acker Amadis de Gaula, eine zentrale Firgur des traditionellen Ritterromans, auf den auch der Titelheld in Cervantes’ Don Quixote wiederholt als Vorbild rekurriert.

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Im Kapitel über die Außenseiter klang bereits an, dass auch Janey aus Blood and Guts in High School eine prototypische Masochistin dieser Ausprägung ist. Das Grundmuster ihrer masochistischen Persönlichkeitsstruktur wird in der verdrehten Version des ödipalen Konflikts gelegt, der sich auftut, als das inzestuöse Verhältnis zu ihrem Vater durch das Auftreten der Konkurrentin Sally zum Dreieck erweitert wird. Als Johnny sie abzulehnen beginnt, passt sie sich der Situation dadurch an, dass sie die negativen Gefühle, die sie durch die Zurückweisung empfindet, ins (sexuell) positive wendet und die Konfliktsituation letztendlich damit befeuert: „Now I knew that Johnny hated me. […] The thought flashed through my mind that I was getting off on all this. I was a masochist. So: was I making the situation worse?“ (B&G 20). Wie ich bereits gezeigt habe, wiederholt sich dieses Muster, als Janey dem Straßenrebellen Tommy in dem Moment verfällt, in dem er sie sexuell nötigt. Es setzt sich fort, als sie von dem „persian slave trader“ Mr. Linker versklavt wird und ihn letztendlich, um ihre Viktimisierung bewältigen zu können, zu begehren beginnt: „Day or month or years. At one point Janey fell in love with the Persian slave trader because she had nothing else to feel.“ (B&G 101) Janey ist die Verkörperung einer ödipal codierten weiblichen Identität, die nicht in der Lage ist, sich dem patriarchalen Komplex aus sexueller und ökonomischer Macht, die Linker als Zuhälter und Sklav(inn)enhändler verkörpert, zu entziehen. Was ihr bleibt, ist die Strategie der Anpassung, die sich darin äußert, Unangenehmes angenehm zu finden. Diese Art des Masochismus ist in der Tat affirmativ, sie erkennt die herrschende patriarchale Ordnung uneingeschränkt an. Ähnlich verhält es sich auch bei Janeys Affäre mit President Carter: „President Carter was just THERE, that’s the only way I can describe it. I didn’t want to fall in love with him because I didn’t want to put something in my life, but he was screwing me so GOOD and beating me up that I knew I was going to fall in love with him.“ (B&G 122) In der Figur Carters erweitert sich der phallozentristisch-kapitalistische Komplex noch um die Ebene der institutionaliserten Politik, was, wie Bomberger konstatiert, zu einer Intensivierung der von Janeys umfassendem Eingebundensein in die Herr-KnechtDialektik führt: „As a representative of the power of the state, patriarchy, and capitalism, President Carter can potentially abuse her as no other can.“100 Der affirmative Masochismus fungiert auch als zur Metapher für soziokulturelle Formen der Normierung, die nicht unmittelbar das Geschlechterverhältnis betreffen. Acker expliziert dies in Don Quixote, als Saint Simeon den sadomasochistischen Charakter seiner Schulerziehung – wieder steht die Schule synonym für die gesellschaftliche Normierung – unter kapitalistischen Vorzeichen beschreibt: The teacher entered the classroom, sniffing. His nose was in the air. ,One of you boys,‘ the teacher said to the twenty if us quietly sitting in his classroom, ,is from the working classes.‘ He sniffed again. ,Now, I’m going to sniff him out.‘ […] He picked out the boy he sexually desired. The boy’s blonde hair was floating around his head. ,You, boy. Your smell is from the working classes. I know.‘ Each of us knew what was going to happen. We could hear the sounds of caning. (DQ 13f.) 100 | Bomberger: a. a. O., S. 193.

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Der ausgewählte Schüler identifiziert sich mit der ihm zugewiesenen Rolle: „I want to be wanted. I want to be flogged. I’m bad.“ (DQ 14). Plakativ macht Acker hier deutlich, worauf die Normierung durch die hegemoniale Kultur abzielt: Unterwürfige Subjekte im etymologischen Ursinn des Wortes als „Unterworfene“, die ihre Unterdrückung auch noch genießen sollen. Dementsprechend sind die Romane von derartigen politisch-emotionalen Masochisten bevölkert: In In Memoriam to Identity ist der anfängliche Masochismus Rs als Reaktion auf den bereits erwähnten Missbrauch durch seinen Onkel und „Ziehvater“ African Pain entstanden: „Hurt me, baby. Show me what love is. […] Hurt me, unc, and find my soul.“ (IM 6) In Empire of the Senseless reagiert der junge Schreber auf die oben beschriebenen körperlichen Zurichtungsmethoden mit masochistischen Gefühlen: „Daddy, please beat me up again.“ (EoS 45). Im selben Roman ist es Abhor, die im ersten Kapitel, das den aussagekräftigen Titel „Rape by the Father“ trägt, auf den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater (der, anders als die Beziehung zwischen Janey und Johnny auch wirklich als Gewalttat geschildert wird) mit ambivalenten masochistischen Gefühlen reagiert: „Part of me wanted him and part of me wanted to kill him.“ (EoS 12) All diesen Figuren – es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele aus Ackers Romanuniversum anführen – ist gemeinsam, dass sie sich mit ihrer gesellschaftlich zugeschriebenen subalternen Rolle identifizieren. Ihr Masochismus ist somit reaktiv auf gegebene politische, ökonomische und sexuelle Machtverhältnisse und versucht letztendlich die eigene Unterdrückung durch die Übersetzung in Lust zu bewältigen. Dieser Masochismus ist eindeutig affirmativ: Er reproduziert das hegemoniale Narrativ der Ungleichheit entlang solcher Kategorien wie „race, class, gender“ und stellt für Acker eine der operativen Fiktionen dar, gegen die ihr kultureller Guerillakampf gerichtet ist. Wesentlich komplexer gestaltet sich die Bewertungen jener Szenen, in denen der Masochismus als transgressive Sexualpraktik das Zwangssystem der ödipalen Sexualität kreativ subvertieren soll und wirklich eine Option für Rebellion darstellt. Gerade weil diese Überschreitungsversuche in einer Gesellschaft stattfinden, deren Kultur Ackers Auffassung nach durch und durch vom politisch-emotionalen Masochismus durchzogen ist, sind die Erfolgsaussichten dieser Widerstandsstrategie wie kaum eine andere an Protagonist, Kontext, Situation und Moment gebunden. Diese positiv konnotierte, über Körpererfahrung funktionierende und bewusstseinserweiternde Variante des Masochismus, in dem „Herr“ und „Sklave“ sich auf der Suche nach neuen Erfahrungen wechselseitig zum Objekt ihrer Lust machen, ist dezidiert politisch und ist, wie Foucault konstatiert, „wirklich eine Subkultur“ bzw. „ein Erfindungsprozess“101. 101 | Foucault: „Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität“, a. a. O., S. 311. Was Foucault und auch Acker weitgehend ausblenden, is t die Gefahr jeder gegenkulturellen Praxis, selbs t wieder ein normatives Zwangssys tem, einen „Ismus“ auszubilden. Gerade wegen ihres hohen Grades an Ritualisierung und Codierung is t diese Gefahr in der sadomasochis tischen Subkultur besonders groß.

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In Don Quixote hat Acker die Heldin und den Schauplatz von Sades Histoire de Juliette, ou les Prospérités du Vice (1796) appropriiert. Die Juliette-Passagen sind, wie Sades Originaltext, eine Parodie auf die Erziehung des Individuums durch die Gesellschaft und beschreiben den Versuch eines anti-ödipalen Dekonditionierungsprozesses durch sadomasochistische Erfahrungen. Die Geschichte spielt in einem Frauenkloster, in dessen Krypta die Äbtissin Delbène ihre Schülerinnen, allen voran ihre Favoritin Julitette, im Rahmen einer Orgie von ihrer beschränkten identitären Programmierung durch die Gesellschaft befreien will: „All the accepted forms of education in this country, rather than teaching the child to know who she is or to know, dictate to the child who she is. Thus obfuscate any act of knowledge.“ (DQ 165f.) Da in Ackers Universum der Körper wegen seiner vordiskursiven Materialität ein erfolgversprechender Ort der Subversion ist, setzt Delbènes libertäre Pädagogik auch hier an: „Since these educators train the mind rather than the body, we can start with the physical body, the place of shitting, eating etc. to break through our opinions or false education [meine Hervorhebung – d. Verf.].“ (DQ 166) Juliettes „gelehriger“ Körper wird durch die Erfahrung sexueller „Perversionen“ zum Schauplatz für einen auf Entgrenzung abzielenden Lustrausch: Since the body is the firs t ground of knowledge, my teacher made me take off my clothes. A mouth touched and licked my ass. A finger s tuck into my asshole. A dildo thrus t into my asshole and a dildo thrus t into my cunt. Both dildoes squirted liquid into me which I saw was white. I was so over-the-top excited, I came. The main thing for me was my body’s uncontrolled reac tions. (DQ 168)

Intensiviert wird diese Erfahrung durch ein dezidiert sadomasochistisches Element: „[I] perceive that physical pain, if it doesn’t scare me because it’s happening without my expectation and consent helps out and enlarges sexual excitation.“ (DQ 171) Reinhart hat konstatiert, dass die sadomasochistische Grenzerfahrung für die Protagonisten „katalytische, kathartische und emanzipatorische Funktion“102 erfüllen soll. Doch Brande hat mit Blicke auf das Konzept vom „organlosen Körper“ ausgeführt, dass der Sadomasochismus hier zunächst nur begrenzte Befreiungspotentiale bietet, weil Delbène eine Form von lesbischem Separatismus propagiert:103 „Here, all of us who’re women, who no longer have men around us, in the death of Europe this crypt, must now speak.“ (DQ 172) Das Frauenkloster als homosoziale Kommune – Acker hat alle männlichen Protagonisten aus Sades Originaltext eliminiert – der Libertinage würde letztendlich aber in die Sackgasse einer authentizitätsorientierten Überschreitung hin zu einer positiv konnotierten Gegenidentität führen. Da es Acker aber darum geht, durch transgressive sexuelle Erfahrungen identitäre Kategorien an sich in Frage zu stellen, muss ihre Heldin Juliette einen Schritt weiter gehen als die Lehrerin Delbène. Brande hat dies in seinem Aufsatz auf den Punkt gebracht: „Identity is not now for Juliette that which needs finding but that which 102 | Reinhart: a. a. O., S. 445. 103 | Vgl. Brande: a. a. O., S. 206.

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needs destroying[.]“104 Um dies zu tun, werden in der Szene verschiedene Strategien verwoben. Einerseits unternimmt Juliette eine subversiv-karnevaleske Parodie auf die phallische Signifikationsstruktur von Geschlechtsidentitäten, indem sie sich einen Dildo umschnallt: „I was aghast: wearing a dildo is like wearing plastic. Is wearing plastic. I was no longer natural.“ (DQ 174) Die Symbolik dieser Szene ist offenkundig: Der Versuch der phallischen Emächtigung scheitert, weil der Phallus als zentraler kultureller Signifikant des Geschlechterbinarismus genau so artifiziell ist, wie der konkrete Kunststoffpenis in dieser Situation. Dies zu erkennen zerstört jede metaphysischer Illusion natürlicher Identität („I was no longer natural.“). An anderer Stelle dieser Passage hat Juliette ihrer Geliebten Laure105 bereits die von der Mehrheitsgesellschaft aufgrund der biologischen Differenz aufgedrängte Identität buchstäblich herausgepeitscht: „I’ll whip you by breaking you down by breaking through your virginity or identity. […] Let’s examine. What is this blood? It’s you, cunt, leaking or identity.“ (DQ 173f.) Brande hat diese Szene vor dem Hintergrund seiner Interpretation von Deleuze und Guattaris Thesen eher ambivalent interpretiert: „The leakage could be said to be a breach in a wall, a line of flight, or a deterritorialization, and the leakage is in fact produced, but it is done clumsily and without method.“106 Dem ist entgegenzuhalten, dass das explizite Bild der „leaking cunt“ hier durchaus bewusst gewählt zu sein scheint, zumal es auf einen weiteren zentralen Identitätsstiftungsmythos rekurriert. Angela Carter hat in ihrem Essay über The Sadeian Woman im Hinblick auf die Repräsentation der Verbindung von Sexualität und Gewalt festgestellt: The whippings, the beatings, the gougings, the s tabbings of erotic violence reawaken the memory of the social fic tion of the female wound, the bleeding scar left by her cas tration, which is a psychic fic tion as deeply at the heart of Wes tern culture as the myth of Oedipus, to which it is related in the complex dia104 | Ebd. 105 | Hier rekurriert Acker auf eine his torische Vorbildfigur, mit der sie wegen ihres Lebensweges über verschiedenen Leitern der Transgression beinahe zwingend sympathisieren muss te. Bei Svetlana Mincheva findet sich eine knappe biographische Skizze:„Laure (Colette Peignot) was the one woman in the BatailleKlossowski circle, mis tress of Boris Souvarine, lapsed catholic, member of the communis t party, writer, and sexual anarchis t. In a series of radical exis tential moves she went to pos trevolutionary Russia to live (and almos t die) as a worker on a cooperative farm, rejec ted political ac tivity as devoid of value after a period of intense involvement, and lived turbulently with Bataille for the las t four years of her life. In her desperate ques t and internal conflic t Laure is a point where the contradic tions of Modernis t avant-garde politics and gender inflec tion are s taged in all their complexity.“ (Svetlana Mintcheva: „To Speak with the Voices of Others: Kathy Acker and the Avant-Garde“, in: Mia Howe/Sarah Appleton Aguiar (Hg.): He Said, She Says: An RSVP to the Male Text, Madison und London 2001. S. 267–286, hier: S. 284 FN 5) Dieses Vorbild s teht mehrfach Pate für Figuren in Ackers Werken, etwa in ihrem vorlet zten, nicht in dieser Studie untersuchten Roman My Mother: Demonology (1993) oder dem Text „Translations of the Diaries of Laure the Schoolgirl“, (in: Acker: Hannibal Lec ter, My Father, a. a. O., S. 104–114.) 106 | Brande: a. a. O., S. 206.

S EXUALITÄT , K ÖRPERLICHKEIT UND I DENTITÄTSPOLITIK lec tic of imagination and reality that produces culture. Female cas tration is an imaginary fac t that pervades the whole of men’s attitude towards women and our attitude to ourselves, that transforms women from human beings into wounded creatures who were born to bleed. 107

Die oben geschilderte Szene zwischen Juliette und Laure kann so in gewisser Weise als Fiktionalisierung von Carters theoretischer Feststellung gelesen werden und hat somit durchaus Methode – wenn auch nicht in dem von Brande geforderten Sinn. Dennoch ist sie als anti-ödipal zu bezeichnen. Die Gleichsetzung identitärer Signifikation mit der „leaking cunt“ (Acker) bzw. der „bleeding scar left by her castration“ (Carter) ist ein bewusstmachender Angriff auf den Phallozentrismus der westlichen Kultur durch die sadomasochistische Praxis. Neben dieser Szene finden sich in Don Quixote weitere Passagen, die den Masochismus emanzipatorische Kraft präsentieren. Einmal schildert eine der weiblichen Hundefiguren – nicht zufällig nach einer kompliziert verlaufenen Abtreibung, also der „Entbindung“ des eigenen Körpers von der Reproduktionsnorm – eine masochistische Bewusstseinserweiterungsfantasie: I calmed myself down enough to fall asleep by fantasizing I had the courage to walk into an S&M club I’ve wanted to go to and about which I’d been informed. An older but handsome man, who’s with his wife, picks me. While I’m hanging suspended from the black leather bands I was at —’s house, he’s whipping me lightly enough so I can feel he likes me. (DQ 145)

Das Zufügen von Schmerzen ist hier, wie bei praktizierenden Sadomasochisten üblich, kein Akt der Gewalt, sondern wird als Ausdruck von zwischenmenschlicher Zuneigung verstanden, der in seiner Intensität zugleich einen Zugang zu alternativen Formen von sexuellem Erleben öffnet. So kann die Protagonistin hier für einen Moment aus ihrer soziokulturell definierten sexuellen Rolle heraustreten und durch die sadomasochistische Erfahrung zeitweilig die liminale Hybrididentität eines „rebel slave“ (DQ 146) erlangen. Der Schmerzrausch wird zum Lustrausch und kulminiert, ähnlich wie bei einer Drogenerfahrung, in einer Entgrenzung ihres subjektiven Bewusstseinshorizonts: „He whips my back until I’m/my consciousness’s in another state [meine Hervorhebung – d. Verf.].“ (DQ 146) Susan Sonntag hat ein solches sadomasochistisches Erleben als einen Moment der völligen Auf hebung der Grenzen des „Ich“ und der traditionell mit ihnen verbundenen Eigenschaften beschrieben: „Sadomasochism has always been the furthest reach of the sexual experience: when sex becomes most purely sexual, that is, severed from personhood, from relationships, from love.“108 Neben dieser individuellen Ebene des entgrenzenden Lustrausches verortet Acker im sadomasochistischen Szenario zudem Potentiale auf zwischenmenschlicher bzw. kommunikativer Ebene. Paradoxerweise kann das SM-Spiel die der ödipalen Sexua107 | Carter: a. a. O., S. 23. 108 | Susan Sontag: „Fascinating Fascism“, in: dies.: Under the Sign of Saturn, London 2001, S. 73–105, hier: S. 105.

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lität eigene Herr-Knecht-Dialektik unterlaufen, weil es eine Auseinandersetzung mit diesen Rollenbildern ermöglicht, ohne die Illusion einer völlig hierarchiefreien Sexualität vorzugaukeln. Anders als beim emotional-politischen Masochismus, bei dem klar ist, wer wen zum Objekt seines Begehrens macht, verwischen diese Rollenbilder im sadomasochistischen Spiel, weil der „Unterworfene“ die Definitionshoheit über die Machtverhältnisse behält. Im Interview mit Juno und Vale schildert Acker am Beispiel persönlicher Erfahrungen, wie mit Macht und Kontrolle jenseits traditioneller Sexualdialektik gespielt werden kann: „I’m trying to make them submissive to what I want [Hervorhebungen im Original – d. Verf.]. They always say the masochist is in control, and to some extent that has to be true. Because if the masochist isn’t controlling, then it’s rape or some horror story or it’s a crime.“109 In Don Quixote findet sich in der Episode über die Beziehung von De Franville und der Hundefigur Villebranche eine Fiktionalisierung dieses Spiels mit den eigenen Ängsten und der Macht über den anderen. Diese beiden Charaktere inszeniert Acker als sexuelle Nomaden, die der Umklammerung durch Ödipus zu entkommen versuchen und dabei verschiedene Stadien der sexuellen Selbst(er)findung durchwandern. Villebranche experimentiert nach negativen Erfahrungen in der von ihr als Unterdrückungssystem verstandenen patriarchalen Sexualmatrix zunächst mit dem lesbischen Separatismus, von dem sie sich eine herrschaftsfreie Sexualität erhofft: „Since women when they make love to each other’re both controlling, there’s no question of control or power between them.“ (DQ 127) Ernüchtert von dieser Strategie trifft Villebranche auf De Franville. Dieser wird als androgyne Gestalt beschrieben, die nicht den vom väterlichen Gesetz gebotenen Ansprüchen an seine gesellschaftlich vorgedachte Geschlechterrolle entspricht: „His father had repeatedly told him that he wasn’t acting like and capable of being a man. Since his father was a good man, De Franville couldn’t deny him.“ (DQ 129) De Franvilles Strategie, sich den interpellativen Anrufungen der Gesellschaft zu entziehen, besteht zunächst einem radikalen Experimentieren mit einem Konzept der Nicht-Identität, das alle Parameter der ödipalen Geschlechterrollenbilder in konsequenter Weise ablehnt: „He had to be more than androgynous: he had to erase loving, sexuality, and identity.“ (DQ 129) Doch dieser Versuch geht nicht auf. De Franville wird ironischerweise gerade dadurch zu einem hypersexuellen Objekt, „who, by his/her sexual void, like a magnet, attracted most those whose sexual desires were the fiercest.“ (DQ 129) Auch Villebranche, die immer noch auf der Suche nach einer für sie erfüllenden Sexualität ist, die sich nicht durch das ödipale Koordinatensystem definiert, projiziert ihre Sehnsüchte in diese Leerstelle. Gerade weil sich beide den gängigen geschlechtsidentitären Signifikationssystemen entziehen, sieht sie hier eine Seelenverwandtschaft: Like De Franville, her [gemeint is t Villebranche – d. Verf.] sexual exis tence was precarious. This appeared from her appearance: ,Her body normally appeared in male clothing and her muscles had been trained 109 | Juno/Vale: a. a. O., S. 181.

S EXUALITÄT , K ÖRPERLICHKEIT UND I DENTITÄTSPOLITIK into a tough muscularity. Her mind had been trained by wes tern philosophy and chess. In a country in which women appear to be related to the Virgin Mary because the men want them to appear that spectrally, Villebranche was an apparition. Even though she had to be a boy because there was nothing else she could be, she wasn’t a boy. De Franville felt that this identity was the masculine or feminine counterpart to his own. (DQ 130)

Die Weigerung der beiden Protagonisten, sich dem Bekenntnisdruck zu geschlechtlicher und sexueller Eindeutigkeit zu unterwerfen, ist bereits ein wesentlicher emanzipatorischer Schritt zur Überwindung der ödipalen Sozialisation. Acker trägt ihr durch die Verwendung der Pronomenkombination „she(he)“ für beide Figuren grammatikalisch Rechnung. Brande hat in seinem Aufsatz jedoch konstatiert, dass die beiden Figuren trotz dieser semantischen Verwirrung zunächst nicht zusammenkommen, weil beide, geprägt von ihren Erfahrungen als subalterne Sexualobjekte innerhalb der heterosexuellen Matrix, Angst vor Kontrollverlust haben: „The masquerade functions to deconstruct gender in the sense that it plays off of and destabilizes the binarism masculine/ feminine, but it does not open up their paranoid bodies; it leaves issues of control very much intact.“110 Diese Blockade löst sich erst, als Villebranche, „dressed as a Nazi captain“ (DQ 131)111, und De Franville ein sadomasochistisches Spiel beginnen. Darin sucht Villebranche genau jene Konfrontation mit den eigenen Ängsten – in ihrem Fall die Angst vor dem Kontrollverlust in einer sexuellen Beziehung– von der Acker im Interview mit Juno sprach: „Dressing up as a Nazi captain wasn’t enough. In order to open myself up, I had to eradicate fear totally. I asked myself: ,What do I fear most?‘ ,Having someone control me so that it’s possible I’ll be rejected.‘“ (DQ 134) Foucault hat beschrieben, wie gerade unter den besonderen Umständen der sadomasochistischen Speilsituation jene festgefügten Macht- und Kontrollstrukturen, die für die Zwischenmenschlichkeit der Normgesellschaft kennzeichnend sind, ins Fließen gebracht werden können: In dieser Hinsicht is t das SM-Spiel sehr interessant, weil es, auch wenn es eine s trategische Beziehung is t, s tets fließend is t. Es gibt Rollen, selbs tvers tändlich, aber jeder weiß sehr wohl, dass diese Rollen umgekehrt werden können. […] Dieses s trategische Spiel is t sehr interessant als Quelle physischer Lus t. Aber ich würde nicht sagen, dass es innerhalb der erotischen Beziehung eine Reproduktion der Struktur der Macht is t. Es is t eine Inszenierung der S trukturen der Macht durch ein s trategisches Spiel, das fähig is t, eine sexuelle oder physische Lus t zu verschaffen.112 110 | Brande: a. a. O., S. 202. 111 | Susan Sonntag hat auf die große Bedeutung des nationalsozialis tischen Zeichenfundus für einen sich als performativ und transgressiv vers tehenden Sadomasochismus hingewiesen: „Between sadomasochism and Fascism there is a natural link. ,Fascism is theater,‘ as Genet said. As is sadomasochis tic sexuality: to be involved in sadomasochism is to take part in a sexual theatre, a s taging of sexuality. Regulars of sadomasochis tic sex are expert cos tumers and choreograpers as well as performers, in a drama that is all the more exciting because it is forbidden to ordinary people. Sadomasochism is to sex what war is to civil life: the magnificent experience.“ (Sontag: a. a. O., S. 103) 112 | Foucault: „Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität“, a. a. O., S. 310.

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Dieses dauerhafte Wechselspiel macht aus dieser Perspektive den transgressiven Sadomasochismus zu einer Form der sexuellen Praxis, die ein permanentes Werden erlaubt, das aus fixierten, klar definierten Identitäten fließende und unscharfe macht. Acker hat die rauschhafte Ekstase, die dabei entsteht, aus ihrer eigenen Erfahrung beschrieben: „And it’s not like I’m controlling – he’s controlling, really. It just gets into this incredible mount of tension so you don’t know who’s controlling [meine Hervorhebung – d. Verf.]: you just keep pushing the situation so you can get the most tension out of it.“113 Genau dieser Effekt, das Wandeln auf der Grenze zwischen Herr und Knecht, das Diffundieren von Rollenbildern und den damit verbundenen Kontrollverhältnissen in der Lusterfahrung, wird durch die entfesselte Dynamik im Spiel von Villebranche und De Franville in Gang gesetzt. In gewisser Weise wirkt die Passage wie eine literarische Umsetzung der eben zitierten Aussagen Foucaults und Ackers. Villebranche beginnt De Franville buchstäblich in einen anderen Bewusstseinszustand zu peitschen und kommt dabei zu einer Erkenntnis über die scheinbar klar definierte Rollenverteilung zwischen den Beiden: Finally I calmed down enough to perceive what I was doing. Then, in a controlled manner, I increased the brutality of my s trokes until her(his) her body began to writhe. Due to my increasing feriocity, she(he) twis ts so much that for the firs t time jus t as my whip s trokes have become hard enough to make her(him) realize that the pain isn’t pretense that pain is only pain and eradicates all pretense and s tupid thinking, she (he) reveals a fault that is absolute. She(He) had ac tually tricked me. (DQ 139f.)

Die Täuschung De Franvilles besteht darin, dass das Moment der Souveränität, das dem SM-Spiel innewohnt, auf Seiten des Masochisten liegt, eben weil dieser sich unterwirft. Villebranche, die sich in der Herrenrolle wähnte, muss erkennen, dass sie zum Objekt des masochistischen Begehrens De Franvilles geworden ist. Doch Acker steigert die Verwirrung noch weiter und nimmt eine weitere Volte im Machtverhältnis der beiden Figuren vor. Sie tauschen ihre Rollen, sowohl innerhalb des sadomasochistischen Spiels, als auch in der Erzählinstanz – das bisher Geschehene, auch, wenn es De Franville betraf – wurde von Villebranche berichtet. Mit der Übergabe der Peitsche geht nicht nur die Übertragung der Kontrolle im strategischen Feld des sadomasochistischen Spiels sondern auch der narrativen Hoheit einher: The dog talked as the man [meine Hervorhabung – d. Verf.]: ,Because I loved her, I knew she needed what had jus t happened to me, because she had been as permanently frightened as I had. I told her to lie down on the mattress, on her s tomach. She complied like a child. She pulled her hideous olive pants down her legs without my having to say anything. Since I was her slave, I told her she would have to tell me exac tly how many whip s trokes I was going to give her. (DQ 140)

Nun ist es der zum Sklaven gewordene Herr, der die paradoxe Rolle des kontrollierenden Kontrollierten übernommen hat und über seine Bestrafung entscheiden darf. 113 | Juno/Vale: a. a. O., S. 181.

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Wie von Foucault konstatiert, mündet die „Praktik des SM in die Schöpfung der Lust“ und letztlich in eine „Identität, die mit dieser Schöpfung einhergeht“114 Diese Identität ist jedoch, anders als die sexuelle Normidentität, nicht fixiert, sondern eine liminale Sphäre, in der zeitweise alle interpellativen Zuschreibungen für den Moment aufgehoben sind: „Afterwards, she looked up at me in a way that I recognized, for I had looked up to her before in the same way. ,Being for a split second mirrors of each other, we had to be other than we were.“ (DQ 140) Hier wird alles in Frage gestellt, was die ödipale Sozialisation produzieren soll: fixierte Identität, Geschlechterbinarismus, klar definierte Herr-Knecht-Dialektik, fortpflanzungsorientierte Sexualität. Brande hat dargelegt, dass der Zustand völliger Entgrenzung, den die beiden Protagonisten erleben ein Effekt des „organlosen Körpers“ ist: „[W]hat occurs is a radical alienation from or even abolition of the self; they have traveled in hyperspace, and now they open their eyes to a different constellation of stars. What they mirror for each other is each’s ,other,‘ desire’s smooth spaces, its immanent potential for production and deterritorrialization.“115 Diesem Augenblick liminaler Lusterfahrung, der sich nicht in ein binäres Denkraster fassen lässt, billigt Acker die Möglichkeit zu, das Subjektbewußtsein nachhaltig zu verändern. Natürlich wohnt dem Masochismus bei diesem Unterfangen immer auch ein Moment der Selbstzerstörung inne. Aber genau um ihn geht es: Das soziokulturell konstituierte, in seinen Erfahrungsmöglichkeiten eingeengte sexuelle Selbst muss zerschlagen werden, um den Weg frei zu machen für Erfahrungen die die von Foucault postulierte „Mannigfaltigkeit der Lüste“ evozieren kann. Vor diesem konkreten Hintergrund kann die scheinbar widersprüchliche Parole „Masochism is now rebellion“ zumindest für bestimmte Menschen durchaus ihre Gültigkeit haben.

D ER MODIFIZIERTE K ÖRPER ALS TRANSGRESSIVER K ÖRPER Wie ich oben ausgeführt habe, verortet Acker in der Materialität des menschlichen Körpers eine Basis für erfolgreiche Transgressionen. Diese müssen nicht zwangsläufig sexuellen Charakters sein. Der Körper kann in vielerlei Hinsicht als Medium für identitätspolitische Überschreitungsperformanzen dienen, die seine kulturelle Aufladung als solche thematisieren und durch bewusste Inszenierungen eine Politik des Leibes betreiben, die dazu beiträgt, normabweichende Ausprägungen von Identität und Subjektivität zu leben und zu kommunizieren. Für Acker ist der Körper Text, und deswegen ist für ihre Körperpolitik die Frage entscheidend, wer die Deutungshoheit über ihn hat: „The body’s so rich, who’s controlling it? It’s like text. When you write, are you controlling a text?“116 In diesem zeichenpolitischen Kontext sind die in den hier untersuchten Romanen vorkommenden Referenzen auf verschiedene Techniken der performativen Kör114 | Foucault: „Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität“, a. a. O., S. 311. 115 | Brande: a. a. O., S. 205. 116 | Lotringer/Acker : a. a. O., S. 22.

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permodifizierung wie Tätowierungen, Piercings, Bodybuilding etc. zu betrachten, die als Versuch zu verstehen sind, die semiotische Hoheit über den eigenen Körper zu erlangen. Für Acker sind diese Praktiken das körperpolitische Äquivalent zu ihrer experimentellen und transgressiven literarischen Ästhetik. Zudem bewegt sie, deren Reputation als „Queen of Punk Literature“ in nicht geringem Maß in ihrer optischen Erscheinung als großflächig tätowierte und vielfach gepiercte Rebellin wurzelt, sich mit der Wahl dieser Motive durchaus analog zum Geist ihrer Zeit, in der „Body Modification“ breiten Eingang in die performative Praxis verschiedener Subkulturen fand. Die körperliche Inszenierung von Nonkonformismus war schon vorher ein elementarer Bestandteil der Gegenkultur. Man kann sie bis zur Exzentrik mancher Avantgardisten der Hochmoderne oder bis zum Dandytum des 19. Jahrhunderts und vielleicht noch weiter zurückverfolgen. In der Popkultur der 1950er und 60er Jahre waren diese Ausdrucksformen im Wesentlichen noch auf das fixiert, was man auf dem Körper trug (Kleidung, Schmuck etc.). Lediglich die Gestaltung der Haare – man denke an die „Mähnen“ der Hippies – konnten als tatsächlich „körpereigenes“ Ausdrucksmittel von selbst gewählter Opposition dienen. Seit den späten 1970er Jahren kam es zu einer Radikalisierung, als der Körper selbst in den Mittelpunkt transgressiver Inszenierungen rückte und kreativ gestaltet wurde. Diese Entwicklung hat Victoria L. Pitts in ihrer im Jahr 2003 erschienenen Studie In the Flesh: The Cultural Politics of Body Modification nachgezeichnet. Ihr zufolge haben diese subkulturellen Praktiken Wurzeln in der Avantgardekunst. Die Protagonisten der ebenso radikalen wie transgressiven „Body-Art“ machten in den 1960er und 70er Jahren in ihren Werken und Performances den Körper zum Objekt und Medium ihrer Kunst, die auf vielfache Art mit radikalen Körpererfahrungen – etwa durch performative Selbstverletzungen – die in ihrer Zeit vorherrschenden Kunst- und Körperkonventionen auf brach. Viele dieser Inszenierungsformen vermischten sich mit ursprünglich indigenen rituellen Kulturtechniken und gingen im Lauf der achtziger Jahre des vergangenen. Jahrhunderts in einem breiten Spektrum subkultureller Körpermodifikationen auf, die Interventionen am und im kulturell definierten „normalen Körper“ vornahmen und auf kreative Weise alternative Lesbarkeiten entwickelten. Neben den Praktiken des Tätowierens, des Piercens und des „female body buildings“ führt Victoria L. Pitts eine Reihe von weiteren, für manchen Betrachter sicherlich auch heute noch radikal anmutenden Techniken an, die in den entsprechenden Subkulturen verbreitet waren: [S]carification, a prac tice borrowed from Africa in which the skin is cut with a sharp implement to produce keloiding – the produc tion of scar tissue – in various shapes; branding, or burning the skin, usually with heated metal, to create carefully designed scarring; body piercing; subdermal implants, in which pieces of metal or other material are inserted through and placed under the skin, creating a 3-D image from the flesh[.] 117 117 | Vic toria L. Pitts: In the Flesh: The Cultural Politics of Body Modification, New York 2003, S. 3f.

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In ihrer Bandbreite hatten solche Praktiken gerade in den USA im Kontext des restaurativen Klimas der Reagan-Ära und der schillernden und buchstäblich glatten Oberflächlichkeit des Yuppie-Ideals eine nicht zu unterschätzende identitätsstiftende Bedeutung für die sich zunehmend auffächernde heterogene Sphäre der Gegenkultur, deren gemeinsamer Nenner die Forderung nach der Hoheit des Individuums über den eigenen Körper war: Around the late 1980s, body modification began to emerge as a cultural movement that brought together a range of interes ts and traditions related to the body, culminating in a network of overlapping subcultural groups with diverse interes ts, who eventually began identifying themselves and each other as ,marked persons‘ or as body modifiers. What they shared was that they all positioned the body as a site of exploration as well as a space needing to be reclaimed from culture [meine Hervorhebung – d. Verf.]. […] Ins tead of an objec t of social control by patriarchy, medicine, or religion, the body should be seen, they argued, as a space for exploring identity, experiencing pleasure, and es tablishing bonds to others.118

Der „Reclaiming the Body“-Diskurs, der in den 1980er Jahren besonders für den Feminismus, aber auch für viele andere identitätspolitische Bewegungen zentral war, lehnt sich dagegen auf, dass die Machtverhältnisse – um auf den Titel eines bereits zitierten Aufsatzes von Foucault zurückzukommen – in das Innere der Körper übergegangen sind. Die „Body Modifier“ streben an, wieder die Hoheit über ihre Körper zu erlangen. Ihre Techniken sind jedoch nicht allein wegen ihres subkulturellen Kontextes als transgressiv zu bezeichnen, sondern auch, weil sie gleich mehrfach physische und symbolische Grenzen überschreiten: Zunächst die materiellen Grenzen des Körpers, die durch Zeichen (Brandwunden, Narben, Tätowierungen) und das Einbringen körperfremder Materie (Piercings, Implantate) bewusst „aufgebrochen“ werden. Gleichzeitig dokumentieren sie einen kreativen, antiessentialistischen Umgang mit dem Körper und den kulturellen Bedeutungen, die ihm zugeschrieben werden. Mit voller Absicht werden die dominanten Vorstellungen vom „gesunden“ Körper dabei gesprengt. Anders als affirmative Formen der Körpermodifikation wie diverse kosmetische Prozeduren, Schönheitsoperationen, Diäten etc., die der Gestaltung des Körpers nach den gängigen gesellschaftlichen Gesundheits- oder Schönheitsidealen dienen, betrachtete die Mehrheitsgesellschaft ihre subkulturellen Varianten als Selbstverstümmelungen und ästhetische „Verschandelungen“ des „natürlichen“ und „gesunden“ Körpers, die zudem die Grenzen des „guten Geschmacks“ verletzen und die „geistige Gesundheit“ eines sich so inszenierenden Individuums in Frage stellen. Subkulturelle Körpermodifikationen feiern das, was die Hegemonialkultur als hässlich definiert und richten sich somit gegen die oftmals hochgradig sexistischen Schönheitsnormen der Gesellschaft. Sie betreiben die Inszenierung einer postmodern-avantgardistischen Anti-Ästhetik des Körpers und fordern entsprechende Reaktionen heraus. Noch in den 1990er Jahren konnten sie die für erfolgreiche Transgressionen kontitutiven Skandalwirkungen hervorrufen und zu hysterisch anmutenden Reaktionen in der ameri118 | Ebd., S. 7f.

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kanischen Mehrheitsgesellschaft führen: „Youthful, gay, and female body modifications raise fears of social delinquency; sensationalized media accounts raise moral panic, associating children’s tattoos and body piercings with drugs, homelessness, and other social problems.“119 In seiner tatsächlichen transgressiven Wirkung ist das „Body Art Movement“ – ein wegen der Heterogenität dieser „Bewegung“ ohnehin schwieriger Begriff – differenziert zu bewerten. Seine Schocks wirken nur auf Zeit und wie jede subkulturelle Bewegung wird seine Subversivität einerseits durch die jeder gegenkulturellen Bewegung innewohnenden Gefahr der Normativität bedroht. Wenn beispielsweise bestimmte Körpermodifikationen in einer Subkultur als obligatorische Zugehörigkeitsmerkmale dienen und gewissermaßen zur „Uniform“ werden, wird auch die subversiv gemeinte Selbstinszenierung zum autoritären Gefängnis. Andererseits bewirken die Inkorporationskräfte des Mainstreams, dass bestimmte Formen der Körpermodifikationen, die wenige Jahre zuvor noch die oben beschriebenen Anfeindungen hervorrufen konnten, ihrer politischen Auf ladung entkleidet Eingang in einen postmodernen „radical chic“ finden: „[B]y the late 1990s some of the least offensive practices, such as neotribal tattoos and facial and body piercings, had become highly popular youth fashions.“120 Diese postmoderne Appropriation hat die Grenze zwischen modischen – und damit auch kulturindustriell verwertbaren – und tatsächlich transgressiven Körpermodifikationen diffus, aber keineswegs obsolet gemach, wie Pitts zu Recht feststellt: The pos tmodernization and globalization of Wes tern cultures has not freed individuals from the imposition of norms of gender, ethnicity, and sexuality, and bodies continue to be marked by them. […] Thus, the flexible self-invention of contemporary body projec ts is complicated by the many ways isn’t which the identities and meanings of bodies are cons tituted by and within social forces.121

Radikale Modifikationen wie beispielsweise Tätowierungen an Köperstellen wie Händen oder Gesicht, die im Alltag nicht durch Kleidung verborgen werden können, können trotz des modischen Trends zum Körperschmuck in vielen Milieus durchaus noch als radikal und subversiv verstanden werden. Folglich kann auch hier nur die konkrete Betrachtung des individuellen Falles in seinem Kontext darüber entscheiden, ob es sich bei einer Körpermodifikation um ein letztendlich affirmatives postmodernes „self-fashioning“ im expressiven Individualismus oder um eine Selbstinszenierung und Selbsttransformation mit politscher Haltung handelt. Die öffentliche Skandalwirkung kann hier nur ein bedingter, weil historisch begrenzter Gradmesser sein. Weitaus wichtiger ist die subjektive Attitüde zur und Erfahrung der Körpermodifikation, die weit mehr als ihre Zeichenhaftigkeit für das Individuum die maßgebliche Größe im Hinblick auf die Entgrenzung des eigenen „Ich“ ist. 119 | Ebd., S. 24. 120 | Ebd., S. 11. 121 | Ebd., S. 35.

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Ungeachtet der Tatsache, dass Acker in den 1980er Jahren, also auf dem Höhepunkt der oben beschriebenen „moral panic“ und damit vor der Inkorporation durch die Mainstreamkultur, damit begann, ihren Körper zu modifizieren und in ihren Romanen und Interviews darüber zu reflektieren, steht bei ihr auch das persönliche Empfinden über der subkulturellen Zeichenpolitik. Im Gespräch mit Juno und Vale betont sie, welche Bedeutung der Erfahrung als Wesensmerkmal der Überschreitung zukommt, indem sie ihre Sicht der Unterschiede zwischen affirmativen und subversiven Körpermodifikationen bei Frauen ausführt: The difference between the liposuc tions/anorexic behavior of certain women, and women who get tatooed or do every extreme body modification, is: the firs t class of women are jus t looking to come as close as possible to certain norms that they’ve internalized. […] Whereas the second class of women are ac tively searching for who to be, and it has to do with their own pleasure, their own feeling of identity – they’re not obeying – they’re not obeying the normal society [Hervorhebungen im Original – d. Verf.]. They’re looking – it’s very different. […] It’s interes ting when there’s suffering there, and people are full of feeling, and they’re full of life, and they’re cons tantly making choices.122

Aus dieser Perspektive betrachtet wird klar, warum Acker Körpermodifikationen, auch wenn sie bleibende Zeichen hinterlassen, als Praxis einer postmodern-flexiblen Identitätspolitik einordnen kann.

Die Haut als Grenze des Subjekts Der Großteil aller subversiven Modifikationen des Körpers findet auf oder unter seiner Oberfläche – der Haut – statt. Claudia Benthien hat in ihrer ausgezeichneten Kulturgeschichte dieses den gesamten Körper – und mit ihm das gesamte „Ich“ – umschließenden Organs ausgeführt, dass die Haut als „rigide Grenzfläche“ zu verstehen ist, ein Ort des Austauschs und der Kommunikation einerseits, weil sich an ihm „Subjekte begegnen“ können, der aber andererseits Angriffsfläche von Diskursen der „Identitätsbildung und -zuschreibung“ ist.123 Kurz gesagt: Die Haut markiert die physische Grenze des Subjekts. Gleichzeitig fasst sie aber auch das psychische Innenleben des Individuums. Der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu hat für diese Ebenen der Subjektivität den Begriff des „Haut-Ichs“ geprägt, dessen Entstehung er auf drei Funktionen zurückführt: Als ers tes hat die Haut die Funktion einer Tasche, welche in ihrem Inneren das Gute und die Fülle […] enthält und fes thält. Die zweite Funktion is t die der Grenzfläche […]; die bildet die Grenze zur Außenwelt und sorgt dafür, dass diese draußen bleibt; das is t wie eine Barriere, die vor der Penetration als Ausdruck von Gier und Aggression anderer Menschen und Objekte schüt zt. In ihrer dritten Funktion schließlich is t 122 | Juno/Vale: a. a. O., S.183. 123 | Claudia Benthin: Haut. Literaturgeschichte, Körpberbilder, Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 7.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN die Haut […] Ort und primäres Werkzeug der Kommunikation mit dem Anderen und der Ents tehung bedeutungsvoller Beziehungen; darüber hinaus bildet sie eine reizaufnehmende Oberfläche, auf der die Zeichen dieser Beziehungen eingetragen werden.124

Ungeachtet der Tatsache, dass Anzieus in Teilen essentialistisches psychoanalytisches Modell aus postmoderner bzw. kulturell radikaler Perspektive durchaus kritisch zu betrachten ist, beschreibt er an dieser Stelle treffend, wie die Haut exakt jene Rollen der Grenze erfüllt, die ich im Theorieteil beschrieben habe: sie schafft die Unterscheidung von „Innen“ und „Außen“, produziert die Illusion von Sicherheit vor Bedrohungen von außen und dient als Ort verschiedenartiger Begegnung und Kommunikation zwischen beiden Sphären. Als Teil und Hülle des „gelehrigen Körpers“ ist sie allen normativen Zwängen der Sozialisation ausgesetzt und wird mit einer Reihe von identitären Signifikanten aufgeladen: Aus der unüberschaubaren Menge dieser Merkmale seien hier nur zwei genannt: Die Hautfarbe definiert im Rassismus die „Rasse“ und mit ihr eine bestimmte Rolle im (globalen) sozialen Gefüge. Auf einer anderen, aber strukturell ähnlichen Ebene signalisieren Falten-, Makellosigkeit und Teint der Haut Jugend und Gesundheit und gewähren so Teilhabe und Anerkennung in der dem Juvenilitätskult ergebenen Konsumgesellschaft. Diese Beispiele zeigen, dass die Haut, wie Benthien treffend zusammenfasst, natürlich immer im Kontext der gültigen Normen der jeweiligen historisch-kulturellen Situation „permanent gedeutet, ,gelesen‘, semantisiert, desemantisiert, umkodiert, neutralisiert und stilisiert [wird].“125 Als les- und beschreibbare Oberfläche kann die Haut auch zur Leinwand für subversive Einschreibungen werden. Für Acker spielen in diesem Zusammenhang Tätowierungen eine wesentliche Rolle. Das manifeiert sich nicht allein in ihrer persönliche Vorliebe für diese Form der Körperkunst und in der Tatsache, dass sie den Roman Empire of the Senseless ihrem Tätowierer gewidmet hat. Im Gespräch mit Friedmann hat sie ausgeführt, dass sie das Tätowieren als eine Kulturtechnik der subversiven Signifikation, eine Form der Autopoiesis ansieht, die die Materialität des Körpers und seiner Hülle nutzt, um nach innen ein alternatives Verständnis des eigenen Selbst zu evozieren und dieses auch nach außen zu kommunizieren: „For me tattooing is very profound. The meeting of body and, well, spirit – it’s a real [Hervorhebung im Original – d. Verf.] kind of art, it’s on the skin. It’s both material and not material and it’s also a sign of the outcast.“126 In Empire of the Senseless wird diese Kunst sogar als „primal parent to the visual arts“ (EoS 140) bezeichnet. Tätowierte sind in Ackers Kosmos „people who are beginning to take their own sign-making into their own hands. They’re conscious of their sign-making, signifying values really.“127 Die von außen im wahrsten Sinne des Wortes „eingeschrie124 | 125 | 126 | 127 |

Didier Anzieu: Das Haut-Ich, Frankfurt am Main 1991, S. 60f. Bentiehn: S. 17. Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 18. Ebd.

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benen“ identitätsstiftenden Merkmale der Haut werden mit selbst gewählten und mit Bedeutung aufgeladenen Zeichen „überschrieben“. Nicht von ungefähr ist das Tätowieren integraler Bestandteil zahlreicher Subkulturen, dem, wie Berressem schreibt, die Fähigkeit zugeschrieben wird, „[to] disrupt culture through its relation to cultural taboos, which is why it is related especially to the pirates’ world as a symbol of the world of the taboo; a world of criminality which is, at the same time, a world of freedom[.]“128 Vor allem in Empire of the Senseless spielen Tätowierungen eine zentrale Rolle. Mehrfach finden sich im Text Illustrationen, die jenen Vorlagen ähneln, die Tätowierer als Muster für ihre Kunden bereithalten. Motivisch erinnern sie an stereotype Matrosen- und Rockertätowierungen: Ein von Rosen umkränzter Schädel, der einmal mit der Bildunterschrift „My Family Fortune“ (EoS 2) und einmal ohne sie (EoS 222) abgebildet ist, ein mit verschiedenen Attributen versehenes Segelschiff (EoS 88, mehr dazu unten), zwei ineinander verschlungene Koi-Karpfen mit der Unterschrift „Dead Fish Fuck“ (EoS 174), sowie eine von einem Dolch durchstoßene Rose, die von einem mit den Worten „Discipline and Anarchy“ beschriebenen Spruchband umweht wird (EoS 221). Auch Abhor und Thivai, die beiden Hauptprotagonisten des Romans, besiegeln ihre Zusammengehörigkeit im Außenseitertum durch eine Tätowierung: „There was nothing left to do. So Thivai and I went and got tattooed. Carved into roses.“ (EoS 86). Zentral ist die Praxis des Tätowierens aber vor allem in der Episode um die Figur Agone, einem kubanischstämmigen „sailor“ und zeitweiligen Begleiter Abhors auf ihren Wanderungen durch das postapokalyptische Paris des Romans. Dieses Handlungsfragment wird in einem Kapitel geschildert, dessen Titel „The Beginning of Criminality/The Beginning of Morning“ in seiner Verknüpfung von Kriminalität und dem optimistisch stimmenden Bild vom heranbrechenden Morgen bereits auf den Beginn von Agones transgressiver Reise verweist. In diesen Textabschnitt hat Acker eine kleine Kulturgeschichte der Tätowierung in fiktionalisierter Form eingewoben. Dabei zeigt sie auf, wie diese Form der Körpermodifikation einen historischen Wandel durchlaufen hat. Ursprünglich waren Tätowierungen demnach Zeichen einer gewaltsamen Zuschreibung und Stigmatisierung von existentiellen Außenseitern durch die Macht, ehe sie als Signifikanten einer gegen diese Macht gerichteten Rebellion appropriiert wurden: Cruel Romans had used tattoos to mark and identify mercenaries, slaves, criminals, and heretics. […] Among the early Chris tians, tattoos, s tigmata indicating exile, which at firs t had been forced on their flesh, finally ac tually served to enforce their group solidarity. The Chris tians began voluntarily to acquire these indications of tribal identity. Tattooing continued to have ambiguous social value; today a tattoo is considered both a defamatory brand and a symbol of a tribe or of a dream. In 1769, when Captain James Cook ,discovered‘ Tahiti, he thought he had sailed to paradise. In Tahitian, writing is ,ta-tau‘; the Tahitians write direc tly on human flesh. (EoS 130) 128 | Berressem: a. a. O., S. 409.

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Acker bezieht sich hier nicht zufällig auf Cook. Denn mit ihm begann, so Pitts in ihrer Studie, die „modern wave of Western tattooing“ und mit ihr die Assoziation dieser Form der Körperkunst mit „working-class identity and, eventually, deviance and marginality.“129 So wurde die tätowierte Haut in der Moderne zunächst als Symbol für existentielles Außenseitertum gelesen, ehe sie analog mit der langsam beginnenden postmodernen Wende auch zur Leinwand für die kreativen Inszenierungen eines intentionellen, gegenkulturellen Außenseitertums wurde. Acker beschreibt diesen Prozess der Aneignung einer ursprünglich indigenen mythischen Kulturtechnik durch westliche Subkulturen folgendermaßen: Beginning as abs trac t maps of spiritual visions, records of the ,other‘ world, tattoos were originally icons of power and mys tery designating realms beyond normal land-dwellers’ experience. The extra-ordinary qualities of the tattoo’s magic-religious origin remain cons tant even today, transferring to the bearer some sense of exis ting outside the conventions of normal society. In decadent phases, the tattoo became associated with the criminal – literally the outlaw – and the power of the tattoo became interwined with the power of those who chose to live beyond the norms of society. (EoS 140)

Auch in seinem modernen Kontext steht das Tattoo somit in einer Tradition, die auf Transzendenz verweist: Einst die Repräsentation auf das mythische Außen der „spiritual visions“ und „the ,other‘ world“, ist es zu einem Zeichen eines (vermeintlich) authentischen Außen jenseits der Grenzen der sozialen Ordnung geworden. Das Tätowieren spielt eine zentrale Rolle für die identitäre Transformation Agones, wobeit zwischen einer Symbol- und einer Erfahrungsebene des Tattoos zu differenzieren. Die Symbolebene der Tätowierung erfüllt eher eine kommunikative Funktion nach außen, durch die das Individuum sich in bestimmter Weise in der Gesellschaft positionieren will, während der Roman der subjektiven Erfahrung des Tätowieraktes eine entgrenzende Wirkung im Hinblick auf die Persönlichkeitsstruktur des Protagonisten zuschreibt. Der symbolische Überschreitungswert erklärt sich aus den oben beschriebenen sozialen Funktionen dieser Form der Körperkunst. Agone will durch die Neubeschreibung der sein „Haut-Ich“ definierenden Hülle ein anderes „Ich“ erlangen und kommunizieren: Aus seinen Einsamkeits- und Entfremdungsgefühlen gegenüber seinem Umfeld will er in die Haut des „sailors“ und „criminals“ (EoS 119) – letztendlich also des Piraten – schlüpfen. Die Tätowierung soll seinen Status als „Outcast“ versinnbildlichen, weil der Mainstream mit ihr sein ausgegrenztes „Anderes“ – Kriminalität, Gewalt, Pathologie – assoziiert. Acker zitiert hier Argumente, die in der Mehrheitsgesellschaft in der vom „Body Art Movement“ ausgelösten „moral panic“ in den 1980er Jahren vorgebracht wurden (s.o.): Between one-third and two-thirds of all prison inmates wear tattoos. Being tattood shows a tendency for violence, property crime, and self-des truc tion or self-mutilation. There is a ,s trong relationship between 129 | Pitts: a. a. O., S. 5.

S EXUALITÄT , K ÖRPERLICHKEIT UND I DENTITÄTSPOLITIK tattooing and the commission of violent, assaultive ac ts. This propensity toward violence in general may well be signalled by the violence these men have done to themselves in the form of tattooing.‘ – some doc tor. (EoS 148)

Die Tätowierung, schreibt Redding, ist ein Zeichen der „membership in the pariah tribe of the perverse, and […] etches a dreamworld in miniature onto the flesh.“130 Da Agones Tätowierung seinen Traum vom freien, nomadischen Piratentum verkörpern soll – Berressem spricht deswegen auch von „Tattootopia“131 –, weist sie die entsprechende Ikonographie auf: The tattooer was drawing the outlines of a sailing ship. Reminicence of that dreamtime when humans were free. His torically, criminality is the only freedom humans have had. […] The tattoo outline was huge roses surrounding a larger old-fashioned sailing ship. Below the ocean was a water dragon, a carp who had made it through the gate, who rose in folds and loomed over the ship. (EoS 139; das Motiv is t im Roman auch als Illus tration abgebildet: vgl. EoS 88)

Nach postmodernen Verändnis von Transgression ist eine solche Strategie der dauerhaften Markierung als Außenseiter nicht unproblematisch. Einerseits wohnt ihr mit dem Wahrnehmen der Zeichenhoheit auch über den eigenen Körper natürlich ein postmodernes Element inne. Aber anders als andere Formen des Körperschmucks ist eine Tätowierung ein endgültig fixiertes Zeichen auf der Haut. Zwar können Tätowierungen unter bestimmten Voraussetzungen „überstochen“ oder medizinisch entfernt werden, doch in ihrem Wesen und in ihrer Intention scheinen sie im Konflikt mit dem Prinzip der permanenten Auf hebung zu stehen. Das Einschreiben der Außenseiterexistenz ist vielmehr eine klassische, einmalige Überschreitungsgeste in eine vermeintliche bessere identitäre Sphäre, während der Schmerz, der damit verbunden ist, auf den Schmerz tribaler Initiationsrituale verweist. Es stellt sich also die Frage, ob und wie sich das Tätowieren in Ackers postmodernes Transgressionskonzept einfügt. Im Interview mit Lotringer betont Acker das Prozesshafte am Tätowieren als Akt der körperlichen Autopoiesis: Lotringer: You don’t even have to transfer anything to the writing anymore. The body is it. Acker: Tattoo means writing. It’s how they used to write in Tahiti Lotringer: So you got written. Acker: Yeah. Someone wrote on me, which is pretty incredible. It’s all the process of making. I invented someone to help me make my body. [meine Hervorhebungen – d. Verf.] 132

Entsprechend schildert sie Agones Körpererfahrung beim Tätowierakt als den eigentlich bedeutenden Teil dieser transgressiven Praxis, weil sie die Transformation des 130 | Redding: a. a. O., S. 290. 131 | Berressem: a. a. O., S. 408. 132 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 21.

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Subjekts durch den Vorgang der Neu(be)schreibung des Haut- bzw. Körpertextes ist. Acker wendet mehrere Seiten auf, um den Tätowierprozess detailliert zu schildern. Der dort beschriebene „tattoo artist“ verhilft Agone zu einem „neuen“ Körper und damit zu einer neuen Identität. Er hat eine eigene Technik des Tätowierens entwickelt, die die Haut – die Grenze des Subjekts – buchstäblich auf bricht und die damit verbundenen identitären Einschreibungen neu codiert: „This new way of tatooing consisted of raising defined parts of the flesh up with a knife. The tattooer then draws a string through the raised points of flesh. Various coloration methods can be used on the living points.“ (EoS 134) Man kann hier von einer Anwendung der Cut-up-Methode auf den Körper/Text als identitäres Experiment sprechen, das das Subjekt nicht nur für alternative Körper-, sondern auch Sexualitätskonzepte öffnet. Denn Acker analogisiert bei ihrer Schilderung den Akt des Tätowierens (der als sinnlich erfahrbarer Prozess von fertigen Tätowierung als Zeichen zu unterscheiden ist) mit der möglichen transgressiven Wirkung von Sexualität. Als Agone, der seine Sexualität als „victim of incest“ (EoS 120) (was nach Ackers Logik auch heißen kann: Opfer der sexuellen Normierung in den Koordinaten der ödipalen Gesellschaft) bis dato abgelehnt hat, das Studio des Tätowierers betritt, kommt das seinem sexuellen Erwachen gleich: „As he entered the shop, he felt himself to be in a ,mysterious region‘, a place more precious than any he had ever visited. Here must be his sexual desire.“ (EoS 129) Nach einer surrealen Prügelei mit dem Tätowierer erkennt Agone, getrieben von seinem „need to go beyond his identity“ sein Gegenüber als „his mirror: his friend: the tatooer“ (EoS 135). Die beiden Protagonisten beginnen einen homosexuellen Geschlechtsakt, der übergangslos in die Prozedur des Tätowierens übergeht. Maureen F. Curtin und Nicola Pitchford haben die sexualpolitischen Aspekte dieser Verschränkung, besonders im Hinblick auf den Aspekt der „Queerness“ bereits detailliert analysiert, weswegen ich diesbezüglich auf ihre Arbeiten verweisen möchte.133 Was für meine Untersuchung im Kontext mit Ackers Transgressionsverständnis aber interessant ist, ist die implizite Analogisierung des Schmerzes beim Tätowiervorgang mit dem entgrenzenden Schmerzrausch im Sadomasochismus. Redding hat, nicht zu Unrecht, das Tattoo als Zeichen der „subordination of the masochist subject via a ritual scarification“134 interpretiert. Doch ist es weniger die Zeichenhaftigkeit der Tätowierung, die eine Brücke zum SM schlägt, als viel mehr die sinnliche Erfahrung ihres Entstehungsprozesses, die eine Verwandtschaft zum transgressiven Masochismus aufweist. Das Verhältnis von Tätowierer und Tätowiertem ähnelt dem der Beteiligten im sadomasochistischem Spiel, in welchem eine Partei sich dem durch die andere Partei zugefügten Schmerz unterwirft und einen Gewinn erfährt – gleichgültig ob sexuell, emotional oder im Hinblick auf das Verständnis von sich selb. Peters hat darauf hingewiesen, dass bei beiden Praktiken die Interaktion zwischen den In133 | Maureen F. Curtin: Out of Touch. Skin Tropes and Identities in Woolf, Ellison, Pynchon, and Acker, New York und London 2003, S.110ff.; Pichford: a. a. O., S. 100f. 134 | Redding: a. a. O., S. 290.

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dividuen sogar zwingend notwendig ist: „[…] Agone cannot achive self-knowledge without the aid of an Other, the tattooist, a dominant master to whom Agone entrusts the ultimate violation of physical boundaries – the cutting of his own flesh.“135 Der Schmerz beim Tätowieren ist, wie im Sadomasochismus, kein Effekt von Gewalt, sondern Teil eines rauschhaften zwischenmenschlichen Rituals, das eine temporäre Gemeinschaft erzeugt: „The expectation of the pain this other man would be giving him, a gift, made Agone able to rely on the other man. The complicity of friendship is pain.“ (EoS 136) Aber nur Agone taucht durch den Schmerz in einen anderen, liminalen Bewußtseinszustand zwischen Traum und Ratio ab: „Like the edges of a dream during the waking state, tattooing showed the sailor that dreams are made actual through pain. Humans make themselves and ’re made through pain plus dreams.“ (EoS 138) Dieser Zustand steigert sich – analog zum sexuellen Rausch – zur Ekstase: „Agone sang with the pain.“ (EoS 139) So wie der Schmerz des Masochisten die kulturell zugewiesenen Identitätskoordinaten temporär auf löst, zertrümmert das körperliche Empfinden des Tätowiervorgangs die von außen zugeschriebene Zeichenhaftigkeit von Agones Haut. Sein fremdbestimmtes „Haut-Ich“ wird perforiert („The sailor was surprised as soon as the needle touched his back. There was pain; the pain was sharp and particular; the pain was so particular that he was able to isolate it.“, EoS 138) und letztendlich aufgelöst („As the skin that had been torn up and the nearby skin became sore, for the tattooer was now honing in on the details of his drawing, Agone for the first time found himself forced to pay attention to the pain. His pain. He was feeling himself wrecked. [meine Hervorhebungen – d. Verf.]“, EoS 138). Nun ist diese Ich-Grenze durchlässig geworden und wird zur Membran, über die Agone seine selbstgewählte Traumidentität des Piraten osmotisch aufnehmen kann: „The inscription of this dream on to flesh was painful.“ (EoS 140) Der Prozess des Tätowierens wird durch die rauschhafte Schmerzerfahrung zum Prozess des Werdens – aber eben nicht des permanenten Werdens. Bedenkt man, welches feine Gespür Acker für die emanzipatorischen Grenzen anderer subkultureller Kulturtechniken hat, kommt man nicht umhin, sich zu wundern, warum sie nicht thematisiert, dass die Tätowierung als einmaliger Überschreitungsakt eher zum Repertoire der modernen Subkulturen gehört. Ihre Permanenz als Zeichen auf und in der Haut macht das sonst von Acker propagierte permanente Auf heben unmöglich. Ein Tattoo markiert dauerhaft, es scheint ein arretierendes Zeichen der Außenseiteridentität zu sein, selb wenn das gestochene Motiv – in Agones Fall ein Piratenschiff – auf die nomadische Identität des Freibeuters verweist. Acker scheint sich dieses Dilemmas durchaus bewusst zu sein. Sie versucht, es durch eine Postmodernisierung des Außenseiterbegriffs aufzulösen. In der Passage über Agones Tätowierung heißt es, dass „[t]he realm of the outlaw has become redefined: today, the wild places which excite the most profound thinkers are conceptual.“ (EoS 140) Wenn Außenseitertum konzeptionell, also vor allem von der Idee her 135 | Peters: a. a. O., S. 153.

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gedacht wird, kann man argumentieren, Dauerhaftigkeit und Inhalt der Zeichen können in den Hintergrund treten. Völlig auf lösen lässt sich der Widerspruch von Ackers Modell der permanenten Transgression und der Beständigkeit der Tätowierung jedoch nicht. Was diese Form der Körpermodifikation angeht, muss man konstatieren, dass Acker hier eine ansonsten für ihr Werk untypische Romantisierung vornimmt, die sich wahrscheinlich nur mit der herausragenden Bedeutung erklären lässt, die das Tätowieren für sie persönlich hatte. Ihr kritisch reflektierender Blick auf die Befreiungspotentiale subkultureller Praktiken weist hier vielleicht nicht volländig blinden, in jedem Fall aber aber einen trüben Fleck auf.

Der hybride Körper Angesichts der Bedeutung der Kategorie des Zwischen für Ackers Transgressionskonzept kann der hybride Körper als biologisch-materielles Äquivalent zu der grammatikalischen Mischform „she(he)“ etc. nicht unerwähnt bleiben, obwohl er, durchaus überraschend, in den Romanen verhältnismäßig wenig Raum einnimmt. Als hybrider Körper ist ein Körper zu verstehen, der nicht als in sich geschlossene, abgegrenzte Entität gedacht wird, sondern als offener Körper, in dem sich verschiedene kulturelle und/oder biologische Identitätssignifikanten vermischen. Ich möchte dies an zwei Figuren belegen, die in den Romanen zwar nur Kurzauftritte haben, die aber doch typisch für Ackers literarischen bzw. gedanklichen Kosmos sind: Der Cyborg und die Bodybuilderin. Der Cyborg, dieses Zwischenwesen aus Mensch und Maschine, tritt in Ackers eklektischem Literaturkosmos in Gestalt Abhors auf, deren Identiät, wie bereits zitiert, als „part robot, and part black“ (EoS 3) beschrieben wird. An einer Stelle des Romans führt Acker dem Leser Abhors nackten Körper vor Augen: A transparent cas t ran from her knee to a few millimeters below her crotch, the skin mottled by blue purple and green patches which looked like bruises but weren’t. Black spots on the nails, finger and toe, shaded into gold. Eight derms, each a different colour size and form, ran in a neat line down her right wris t and down the vain of the right upper thigh. A transdermal unit, separated from her body, connec ted to the input trodes under the cas t by means of thin red leads. A cons truc t. (EoS 33f.)

In dieser hybriden Körperlichkeit manifestiert sich die völlige Entgrenzung des scheinnatürlichen Leibes und seine Erweiterung durch die Technik. Acker schlägt hier, wie schon in ihrer Aneignung von Gibsons Neuromancer, den Bogen zur Cyberpunkliterat ur,136 in der dem Cyborg, dessen Figuration in ganz elementarer Weise die traditionellen Koordinaten der Materialität des Menschseins hinterfragt, eine wichtige kulturkritische Funktion zukommt. Unter dem Einfluss seiner Körperästhetik und ihrer 136 | Acker wird gelegentlich selbs t dem Cyberpunk zugerechnet: vgl. dazu Hughey: a. a. O., S.121ff.; Joseph Tabbi: Pos tmodern Sublime: Technology and Amirican Writing from Mailer to Cyberpunk, Ithaca und London 1995, S. 220–226.

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Ikonisierung in der Populärkultur137 entwickelte sich eine sehr spezielle und radikale Spielart innerhalb der Subkultur der ‚„Body Modifier“: Cyberpunk, probably the smalles t and mos t marginal segment of the movement, dis tinguishes itself in its relentless enthusiasm for technology and for framing the body as a limitless frontier for technological innovations. Cyberpunk often engages a mechanical, rather than a neotribal aes thetic, and cyberpunk body artis ts have accomplished modifications previously imagined only in science fic tion and high-tech medicine.138

Der Cyborg ist dabei nicht nur Figur sub- oder populärkutureller Narrative. Gerade in den 1980er Jahren wurde er auch von der Kulturtheorie entdeckt, weil sich an ihm das Verhältnis von Macht, Technik, Identität und Körper in der veränderten postmodernen Welt analysieren bzw. kritisch verhandeln ließen. Besonders im postmodernfeministischen Diskurs hat er im sogenannten Cyberfeminismus seine Spuren hinterlassen. Diese Strömung, die sich vom politisch radikalen Feminismus mit ähnlichen Argumenten wie Acker absetzt, „emphazises the presence of power relations in embodiment and is concerned with deconsructing them. Cyberfeminist enthusiasm for technology centers around the possibilities of reworking embodied roles such as gender and sexuality, although it does not assume these outcomes as inevitable.“139 Ein Kerntext des Cyberfeminismus ist Donna Haraways im Jahr 1985 erstmals erschienener und sehr einflussreicher Essay „A Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s“. Darin wird der Cyborg als liminale Existenz definiert: „A cyborg is a cybernetic organism, a hybrid of machine and organism, a creature of social reality as well as a creature of fiction.“140 Der transgressive Charakter dieser Form der Identität stellt die Gültigkeit einer ganzen Reihe von Grenzen in Frage: zwischen Natur und Technik, zwischen lebendiger und lebloser Materie, zwischen den biologischen und sozialen Geschlechtern: Die Auf lösung vormals gültiger Grenzziehungen bietet für Haraway nun auch die Chance für eine offenere Form von Identität, die aus vielfältigen Überlagerungen von Differenzen, Brechungen und Grenzverwischungen bes teht. Damit werden Cyborgs ingesamt als Hybride [Hervorhebung im Original – d. Verf.] bes timmt: als materiell-semiotische Wesen, deren Identität sich aus überlagernden und widersprüchlichen Relationen zusammenset zen.141 137 | Gerade das Science-Fic tion-Kino Hollywoods erlebte in den 1980er Jahren eine Hochkonjunktur des Cyberpunk- und Cyborgfilms. Prominente Beispiele sind Ridley Scotts Blade Runner (1982), James Camerons Terminator (1984) oder Paul Verhoevens Robocop (1987). 138 | Pitts: a. a. O., S. 13. 139 | Ebd., S. 158. 140 | Donna Haraway: „A Manifes to for Caborgs: Science, Technology, and Socialis t Feminism in the 1980s“, in: Linda J. Nicholson (Hg.): Feminism/Pos tmodernism, New York und London 1990, S. 190–233, hier: S. 191. 141 | Sylvia Pritsch: Rheorik des Subjekts. Zur textuellen Kons truktion des Subjekts in feminis tischen anderen pos tmodernen Diskursen, Bielefeld 2008, S. 405.

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Acker greift also einen zeitgenössischen Trend auf, der ein logischer identitätsphilosophischer Bezugspunkt für sie ist, da er einem der grundlegenden Prinzipien ihres postmodernen Transgressionsverständnises folgt: die Denaturierung von Pseudonatur. Ackers identitätspolitisches Projekt weist eine enge Verwandtschaft mit Haraways Konzept ders „Cyborg Politics“ auf: Cyborg politics is the s truggle for language and the s truggle agains t perfec t communication, agains t the one code that translates all meanings perfec tly, the central dogma of phallogocentrism. That is why cyborg politics insis ts on noise and advocate pollution, rejoicing in the illegitimate fusions of animal and machine. These are couplings which make Man and Woman so problematic, subverting the s truc ture of desire, the force imagined to generate language and gender, and so subverting the s truc ture and modes of reproduc tion of Wes tern identity, of nature and culture, of mirror and eye, slave and mas ter, body and mind.142

In Empire of the Senseless interessiert Acker weniger die Figur des Cyborgs selbst. Aber sie benutzt Motive der Cyborgikonographie für ihr eigenes transgressives Projekt, das mit dem Cyberpunk die thematische Affinität zu „transgressed boundaries, potent fusions, and dangerous possibilities which progressive people might explore as one part of needed political work“143 gemeinsam hat. Ähnlich wie der Körper des Cyborgs den von Dualismus Natur und Technik neu verhandelt, kann auch der Körper der Bodybuilderin als hybrider Körper mit einer transgressiven identitätspolitischen Auf ladung gelesen werden. Pitts zählt das „Female Bodybuilding“, das in den 1980er Jahren gerade in den Vereinigten Staaten eine gewisse Popularität erlangt hatte, zu den Praktiken transgressiver Körpermodifikationen, weil, „[t]he development of female strength and muscularity can be seen as subversive in that it challenges ideals of heteronormative feminity.“144 Dies ist im Kontext des feministischen „Reclaiming the Body“-Diskurses zu sehen. Hier appropriieren Frauen eine männliche Form der Kultivierung des Körpers, die ursprünglich auf die Affirmation von Maskulinität gerichtet war, und wenden sie dadurch ins Subversive. Die Praxis des „Female Bodybuilding“ dekonstruiert die scheinnatürliche Vorstellung der essentiellen Anmut des weiblichen (und ob dieser Anmut vom männlichen Blick sexualisierten) Körpers und setzt ihr mit ihrer Betonung der nach einem hypermaskulinen Ideal geformten Muskelpartien eine Physis des Zwischen entgegen, die gleichermaßen biologische Signifikanten von Weiblichkeit und Männlichkeit aufweist. Hier wird ein Körper inszeniert bzw. buchstäblich konstruiert, der sich den gängigen Eindeutigkeiten und geschlechterpolitischen Lesbarkeiten des traditionellen patriarchischen Blicks entziehen kann. Leslie Heywood hat die identitätspolitische Funktion dieses Prozesses in ihrer Kulturgeschichte des weiblichen Bodybuildings folgendermaßen beschrieben: „Female bodybuilders create bodies in which so many contradictiory cultural meanings are gathered that it is 142 | Haraway: a. a. O., S. 218. 143 | Ebd. S. 196. 144 | Pitts: a. a. O., S. 44.

S EXUALITÄT , K ÖRPERLICHKEIT UND I DENTITÄTSPOLITIK

impossible to reduce the female body and the femininity associated with it to one particular, natural, unchangeable thing.“145 Wieder zeigt sich hier die Verwandtschaft zu Ackers Identitätspolitik, auch wenn sie den hybriden Bodybuilderinnenkörper nur am Beispiel einer Nebenfigur in Empire of the Senseless thematisiert. Es handelt sich dabei um eine Bordellbetreiberin, für die Agone zeitweise als Drogenkurier tätig ist. Nicht ohne ironischen Unterton beschreibt Acker, wie bei dieser Bodybuilderin die gängigen Identitätsmerkmale für Weiblichkeit nicht mehr zutreffen: She was about forty years old and in better shape than mos t twenty-year-olds, being a body-builder. In the las t five years she had placed in seven amateur contes ts. Her brown and red hair curled around her jugular. She no longer got periods. She was thinking about that. It mus t be due either to weight-lifting or to middle age. (EoS 121f.)

Wie bei der Thematisierung der entgrenzenden Körpererfahrung durch SM und die Tätowierung arbeitet Acker auch mit dem Bodybuilding eine von ihr selbst praktizierte Form der Körpermodifizierung in einen ihrer literarischen Texte ein, der sich nahtlos in ihre Körper/Text-Politik der Dekonstruktion und Umcodierung einfügt. Dies wird an einigen Gemeinsamkeiten deutlich. So wird, wie schon bei den beiden anderen genannten Praktiken die Schmerzerfahrung wesentlich für die Bewusstseinserweiterung. Die extreme Belastung des Körpers im Training evoziert auch eine psychisch-emotionale Grenzerfahrung: When you work legs there’s a certain curl that’s very painful to do and as a body-builder you have to learn to get through pain, or rather learn to live through it. […] so where your mind goes when your body feels these various things and how the mind works with the body, is really interes ting, at leas t to me.146

Zudem beschreibt Ackers Essay mit dem Titel „Against Ordinary Language: The Language of the Body“ die Entwicklung weiblicher Muskelkraft als einen Prozess von Zerstörung und Wiederauf bau und bleibt dabei in der Metaphorik, die sie auch für andere kreative Transformationsprozesse gebraucht: „But muscles will grow only if they are not exercised or moved, but actually broken down. The general law behind bodybuilding is that muscle, if broken down in a controlled fashion and then provided with the proper growth factory such as nutrients and rest, will grow back larger than before.“147 Einmal mehr muss ein identitäres Symbolsystem – hier die Idee vom gesellschaftlich überformten Körper – zerschmettert werden, damit ein neue Form von Körperlichkeit „collagiert“ werden kann. 145 | Leslie Heywood: Bodymakers: A Cultural Anatomy of Women’s Body Building, New Brunswick et al. 1998, S. 11. 146 | Lotringer/Acker : a. a. O., S. 22. 147 | Kathy Acker: „Agains t Ordinary Language: The Language of the Body“, in: dies.: Bodies of Work, a. a. O., S. 143–151, hier: S. 145.

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Ackers transgressive Äs thetik und ihre Funktion

D AS ÄS THETISCHE E RBE DER A VANTGARDE Ackers Ästhetik der Aneignung weist sie als Flaneurin aus, die auf der Grenze zwischen der Autoren- und Rezipientensphäre durch die Literaturgeschichte spaziert. „The more that I write my own novels,“, sagt sie über ihren bevorzugten Modus der literarischen Produktion, „the more it seems to me that to write is to read.“1 Man kann sich natürlich die philologische Fleißarbeit machen und versuchen, allen intertextuellen Referenzen in ihren Romanen nachzuspüren und sämtliche Quellen ihrer appropriativen Lektüren herauszufiltern. Das bei einem solchen Unternehmen entstehende Konvolut an Material würde allerdings für sich genommen weder einen besseren Einstieg in Ackers schwieriges Werk ermöglichen noch viel über den transgressiven Gehalt von Ackers „plagiarism“ aussagen. Ihre Praxis der Aneignung und Neukontextualisierung von fremden Texten und der dadurch entstandene einzigartige Collagestil ist mehr als ein intertextuell-postmodernes Spiel mit Zitaten. Beides lässt sich eindeutig auf das Vorbild Avantgarden der Moderne und ihrem transgressiven Projekt zurückführen. Dennoch ist Ackers literarische Ästhetik von der bisherigen Forschung überwiegend im Kontext postmoderner Intertextualitätstheorien untersucht worden, selten jedoch explizit im Hinblick auf dieses avantgardistisches Erbe2 und dessen experimentelle Tradition. Generell ist postmoderne Intertextualität nicht zwangsläufig mit postmodernem Experimentalismus gleichzusetzen, weil das Spiel mit Referenzen auch im Rahmen weitgehend linearer Narrative stattfinden kann. Im Gespräch mit Friedman hat sich Acker dagegen verwahrt, ihr Werk als „experimentell“ zu bezeichnen, allerdings aus politischen Gründen. Wie jede identitäre Zuschreibung versteht sie auch ein solches Gattungsetikett als theoretisches Werkzeug, um bestimmte Formen von widerständiger Literatur in einen Kontrolldiskurs zu integrieren: „I think that sometimes the word ,experimental‘ has been used to hide the political radicalness of some writers. 1 | Kathy Acker: „The Words to Say It“, in: dies., Bodies of Work, a. a. O., S. 66–80, S. 66. 2 | Als Ausnahmen sind hier die bereits zitierten Aufsät ze Svatlana Mintchevas und Peter Wollens zu nennen, die diesen Bezug explizit hers tellen.

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Oh, they’re ,experimental,‘ that means they’re not really important. […] It’s another form of sticking people into the corner.“3 Als „experimentell“ abgestempelte Autoren, so Acker hier implizit, werden nur am Rand wahrgenommen und bestenfalls im akademischen Umfeld umfassend rezipiert, was zur Zähmung ihrer subversiven Potentiale führt. Foucault hat in einem Interview das Schicksal beschrieben, das Acker in jedem Fall für sich und ihre Literatur vermeiden wollte: „Man weiß ja, dass heute die als Avantgarde bezeichnete Literatur ausschließlich von Akademikern gelesen wird. Man weiß ja, dass heute ein Schriftsteller, der gerade dreißig geworden ist, Studenten um sich hat, die ihre Magisterarbeit über sein Werk schreiben.“4 Acker will hingegen mit ihrem Experimentalismus in Guerillamanier in die gesellschaftlichen Konflikte ihrer Zeit eingreifen, wobei nicht nur die formellen Experimente ihrer literarischen Produktion, sondern auch ihre Versuche verschiedener alternativer Formen der Lebensgestaltung, der sinnlichen Erfahrungen und der Selbstinszenierung eine wichtige Rolle spielen. Diese Sphären sind nicht von einander zu trennen, weil das Experimentelle bei ihr zur Existenzform und die Literatur zum Laboratorium alternativer Lebensformen wurde. In ihrem Pasoliniroman heißt es: „I’ll say again that writing isn’t just writing, it’s a meeting of writing and living the way that existence is the meeting of mental and material or language of idea and sign.“ (PPP 299) Ackers transgressives Engagement liegt folgerichtig auch in der literarischen Form, die man daher auch als engagierten Experimentalismus bezeichnen kann. Die klassischen Avantgarden, mit ihrem Anspruch, Kunst und Leben zu vereinigen, sind das kulturelle Fundament, auf dem sie auf baut, auch, wenn dieser Anspruch in der Postmoderne anders formuliert werden muss. Die zahlreichen schon besprochenen Bezugnahmen auf moderne avantgardistische Vorbilder sind durchaus auch als Hommage zu sehen. Wie diese Studie bereits gezeigt hat, verhindert Ackers kritischer Blick auf diese Tradition jedoch, dass sie auf die aus ihrer Sicht optimistischen bzw. naiven Heilsversprechen dieses Erbes hereinfällt. Daraus ergibt sich eine reflexive Distanz zu bestimmten ästhetischen Darstellungmitteln dieser Tradition, die sich als unzureichend oder überholt erwiesen haben. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass Acker keinen radikalen Bruch mit ihren historischen Vorläufern herbeiführt, sondern eine kritische Aktualisierung bzw. Nachjustierung ihrer Haltungen und Methoden, um darin enthaltene Schwächen und Widersprüche zu thematisieren (und zu tilgen) und um dem veränderten kulturellen und theoretischen Kontext gerecht zu werden. Im Theorieteil dieser Studie habe ich bereits erörtert, dass Avantgardekunst angesichts des postmodernen Spiels der Signifikanten nur mit kreativer Appropriaton und Neucodierung kultureller Zeichen in Verbindung mit einer Renaissance des Politischen reagieren kann, wenn sie mittels wirksamer subversiver Interventionen Sand ins Getriebe der ubiquitären Kontrollmaschinerie der postmodernen Gesellschaft streuen will. Ackers Werk ist ein idealtypisches Beispiel für diese Strategie der Ak3 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 21. 4 | Michel Foucault: „Funktionen der Literatur. Ein Interview mit Michel Foucault“, in: Erdmann et al.: a. a. O., S. 229–234, hier: S. 230f.

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tualisierung des avantgardistischen Projekts und sie hat dies auch direkt thematisiert: „[T]he writer who chooses to write in ways that do not support the status quo can no longer rest in elitism but […] must make clear the reasons for writing as she or he does, must make those reasons which are also and always political positions present [meine Hervorhebung – d. Verf.].“5 Auf der inhaltlichen Ebene hat Acker, das haben die vorangegangenen Kapitel gezeigt, ihre politischen Standpunkte klar bezogen: im Konkreten gegen den Kapitalismus, gegen den Sexismus, gegen die reaktionären Tendenzen in der amerikanischen Kultur, aber auch gegen die aus ihrer Sicht falschen und naiven Versprechen diverser Gegenkulturen und -bewegungen. Der philosophische Hintergrund dieser Kritik ist ihre Ablehnung jedweder Form von absolutem Denken und essentieller Identität und ihr Kampf gegen den Realitätseffekt von Sprache und anderen kulturellen Zeichensystemen. Stilistisch bekämpft sie diese kulturellen Feindbilder dadurch, dass sie aus den Ruinen der zertrümmerten Narrative, die die dekonstruierenden Methoden der modernistischen Avantgarden hinterlassen haben, neue, politisch aufgeladene Textgebäude baut, in denen Gegenstand, Ästhetik und antiessentialistisches Denken korrespondieren. Zwangsläufig führt dies zu einer Aufwertung des Inhaltlichen innerhalb der experimentellen Form, die für ihr Unternehmen aber trotzdem unerlässlich bleibt – auch weil sie eine rein eskapistische (und damit in transgressionspolitscher Hinsicht folgenlose) Lektüre ihrer Bücher unmöglich macht. Als Literatin kämpft sie wie ihre Vorläufer mit den Mitteln der Sprache, an deren grundsätzlicher Funktion als kulturkonstituierendes System auch die postmoderne Wende nichts geändert hat. In ihrem Essay über den „Postmodernism“ betont Acker, dass die Sprache nach wie vor ein hochpolitisches Feld ist und damit gleichermaßen Instrument der Herrschaft (der Grenzziehung) wie des Widerstandes (der Grenzüberschreitung) sein kann: Political, economic and moral forces are major determiners of meanings and values in a society. Thus, when I use words, any words, I am always taking part in the cons truc ting of the political, economic, and moral community in which my discourse is taking place. All aspec ts of language – denotation, sound, s tyle, syntax, grammar, etc. – are politically, economically and morally coded. 6

Eine subversive Ästhetik im Rahmen der Postmoderne zu entwickeln, heißt also, mit der Sprache anders umzugehen, als dies die hegemonialen Diskurse des politischen und gesellschaftlichen Status Quo tun: Thus, an attack on the ins titutions of prison via language would demand the use of language or languages which aren’t acceptable, which are forbidden. Language, on one level, cons titutes a set of codes and social and his torical agreements. Nonsense doesn’t per se break down the codes; speaking precisely that which the codes forbid breaks the codes. (EoS 134) 5 | Acker zitiert in: Chris tina Milletti: „Violent Ac ts, Volatile Words: Kathy Acker’s Terroris t Aes thetic“, in: Studies in the Novel, 36.3 (Fall 2004), S. 352–373, hier: S. 360. 6 | Acker: „Pos tmodernism“, a. a. O., S. 4.

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Mit dem konkreten Rekurs auf das „Verbotene“, also auf die Kategorie des gesellschaftlich Tabuisierten repolitisiert Acker die ästhetisch-subversive Dimension der traditionellen Avantgarden. Zwar haben auch diese sich inhaltlich mit dem ausgegrenzten „Anderen“ ihrer Gesellschaften befasst, doch ihr Fokus lag auf einer Ästhetik der Brüche, Zersplitterung Verstörung, die durch die Versagung des Sinns im Rezipienten einen bewusstmachenden Schock evozieren sollte. Acker bestreitet nicht, in dieser Tradition zu stehen. Auf McCafferys Frage, ob sie in ihrem Werk ähnliche Absichten hege, antwortete sie zwar: „Shock is definitely always there in my books in the sense of trying to break through the reader’s habits and perceptual blinders.“7 Aber sie tut dies nur halbherzig. Angesichts der minimierten Schockpotentiale der Postmoderne billigt sie dieser Strategie nur noch in einem sehr begrenzten Maß die Wirkung zu, die Horizonte des Rezipienten zu erweitern. Vielmehr ist das Skandalöse und Schockierende in einer von reißerischen Massenmedien geprägten Kultur zur Ware und damit zum Teil einer kapitalistischen Verwertungslogik geworden, in der der Schock nur noch ein Konsumgut ohne bewusstmachende Wirkung ist: „After all, the people in our culture positively live [Hervorhebung im Original – d. Verf.] off shock in our media, we feed on it, but this doesn’t seem to have any positive effects in the sense of helping people to break perceptual habits.“8 Acker reagiert darauf mit der Etablierung einer Verbindung zwischen experimenteller Ästhetik und Tabubrüchen von einem individuellen – ihre Ablehnung von kollektiven „Ismen“ bleibt ungebrochen – politischen Standpunkt aus. Sie hält dies im Hinblick auf eine Erweiterung der Erfahrungsmatrix des Rezipienten für effektiver als das Insistieren auf plakative Schockeffekte: „[Y]ou can do that better by the breaking of taboos, or through transgressions – which both in form and in content run through my work endlessly. I don’t think that’s the same thing as shock (though shock might accompany this when you break taboos.)“9 Acker zielt dabei angesichts der Ausdifferenzierung der postmodernen Gesellschaften weniger auf hegemoniale kulturelle Tabus ab, von denen es immer weniger gibt. Eine der wenigen Ausnahmen bietet sicherlich das Inzestverbot, das sie, wie wir gesehen haben, begleitet von einer entsprechenden Schockwirkung in ihren Romanen umfassend thematisiert hat. Hauptsächlich geht es Acker darum, zu zeigen, dass eine postmoderne Pluralität zwar vielfältig erscheint, aber nicht tabulos ist. Die wirklichen Verbote verschieben sich von der großen Klammer einer gesamtgesellschaftlichen Ideologie in die kleineren Submilieus des „Mainstreams der Minderheiten“. Es sind diese kleinen Grenzziehungsmaschinen, die Acker herausfordert, gerade auch jene, die sich als subversiv verstehen, um deren autoritären Züge aufzuzeigen. Sie bricht zeit- und milieuspezifische Tabus wenn sie sagt, dass beispielsweise die Ideologie der „freien Liebe“ der Hippiekultur das Patriarchat nicht überwindet, sondern unter neuen Vorzeichen reproduziert oder dass der feministische Mainstream der 1980er Jahre in seiner ideo7 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 92. 8 | Ebd. 9 | Ebd.

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logisch fixierten Haltung zu bestimmten Formen von weiblicher Sexualität geradezu reaktionäre Züge hat. Vor allem aber bricht sie auch ein Tabu des Avantgardediskurses der Moderne, der vorgab, alle Grenzen zu sprengen und dabei doch die Grenze zwischen den Geschlechtern aufrecht erhält. Mincheva hat recht, wenn sie darauf hinweist, dass „Acker’s intellectual sources come from an avant-garde tradition which is exclusively male.“10 Ackers Literatur interpretiert Mincheva folgerichtig als Kampf „[for] a place for herself as woman within a line of thought for which woman is the imagined other and material women are better ignored.“11 Die Ästhetik, in der Acker solche Tabubrüche ausdrückt, basiert trotz eines sich zunehmend pluraler gebenden Mainstreams vor allem auf der radikalen Ablehnung des „realistischen“ und „organischen“ bürgerlichen Kunstwerks und seiner ideologischen Funktionen, die schon für die modernen Avantgarden charakteristisch war. Natürlich war der Realismus – verstanden als „organischer“, kohärenter und linearer Modus des Erzählens mit mimetischem Anspruch – zur Entstehungszeit ihrer Romane längst nicht mehr das einzige akzeptierte Paradigma künstlerischer Äußerung. Aber Acker vertritt die Auffassung, dass der Realismus auch in der Pluralität der postmodernen Kultur, bei aller damit verbundenen Anerkennung und Sichtbarkeit alternativer künstlerischer und medialer Ausdrucksformen, nach wie vor die kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft inne hat. Die ideologische Funktion, die Widersprüche und Komplexitäten der Welt auf eine verengte Erfahrungs- und Wahrnehmungsmatrix zu reduzieren, hat sich Ackers Analyse nach von der Kunst nun vor allem in die Massenmedien verlagert: „The language of our media who dictate our political and social actualities is that of (false) continuity and (always partially false) fact: simple declarative sentences, as little use of ambiguity as possible, no dwelling within verbal sensuousness.“12 Sie mag auch an die rhetorischen Muster Reagans gedacht haben, der alle politischen, ökonomischen und kulturellen Problematiken in klar strukturierte und fernsehtaugliche Informationseinheiten mit eindeutig binärer Codierung gepresst hat. Um solchen Sprachmustern entgegenzuwirken besteht Acker auf dem „use of language that is not social realist, that is very involved with areas of the mind which are not rational“13 als paradigmatischem Modus ihrer Literaturproduktion und bleibt damit – trotz aller Weiterentwicklungen – der gegen die Zweckrationalität gerichteten Grundhaltung ihrer avantgardistischen Vorläufer treu. So lassen sich die zahlreichen Referenzen auf verschiedene Bewegungen in den Romanen als sympathisierende, gleichzeitig aber auch kritische Genealogie der Avantgarde lesen, auf deren Tradition schließlich ihr eigenes Projekt auf baut. In Empire of the Senseless findet sich beispielsweise eine Eloge auf die deutsche Romantik, die in ihrer Betonung von Emotionalität und Subjektivität und ihrem Kult um das Fragment in radikaler Opposition zur zweckrationalen Bürgerlichkeit fungierte: 10 | Mincheva: a. a. O., S. 268. 11 | Ebd. 269. 12 | Kathy Acker: „William Burroughs’s Realism“, in: dies.: Bodies of Work, a. a, O., S. 1–3, hier: S. 3. 13 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 93.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN The German Romantics had to des troy the same bas tions as we do. Logocentrism and idealism, theology, all supports of the repressive society. Property’s pillars. Reason which always homogenizes and reduces, represses and unifies phenomena or ac tuality into what can be perceived and so controlled. The subjec ts, us, are now s table and socializable. Reason is always in the service of the political and economic mas ters. (EoS 12)

Dieser Produktion „stabiler und sozialisierbarer“ Subjekte, die von den soziokulturellen Mechanismen des bürgerlich-kapitalistischen Marktes geformt sind, setzten die Romantiker die bewusst machenden Schocks ihrer Antiästhetik entgegen: It is here that literature s trikes, at this base, where the concepts and ac tings of order impose themselves. Literature is that which denounces and slashes apart the repressing machine at the level of the signified. Well before Bataille, Kleis t, Hoffmann etc., made trail of Hegelian idealism, of the cloturing dialec tic of recognition: the German Romantics sung brazenly brassily in brass of spending and was te. They cut through conservative narcissism with bloody razor blades. They tore the subjec t away from her subjugation of her self, the proper; dislocated you the puppet, cut the threads of meaning, spit at all mirrors which control. (EoS 12)

Eine ähnliche transgressive Kraft billigt Acker einer anderen deutschen Avantgardebewegung, dem Expressionismus, zu: Purpose: To Get Rid of Meaning For the German Expressionis ts who believed nothing and the primacy of language over form cause society suicide (PPP 304)

In Great Expectations wird die Fragmentierung des organischen, realistischen Kunstwerks durch die impressionistische und kubistische Malerei gelobt: Cezanne allowed the ques tion of there being simultaneous viewpoints, and thereby des troyed for ever in art the possibility of a s tatic representation or portrait. The Cubis ts went further. They found the means of making the forms of all objec ts similar. If everything was rendered in the same terms, it became possible to paint the interac tions between them. These interac tions became so much more interes ting than that which was being portrayed that the concepts of portraiture and therefore of reality were undermined or transformed. (GE 218)

Diese Bezugnahme auf die Malerei darf nicht verwundern. Zum einen haben die diskursiv gezogenen Grenzen zwischen den Künsten für Acker ohnehin nie eine Rolle gespielt. Zum anderen hatten in Ackers Biographie, wie ich bereits ausgeführt habe, eine Reihe von Künstlern anderer Disziplinen, beispielsweise die Maler, Musiker, Filmemacher und Performancekünstler des New Yorker „Undergrounds“ einen größeren Einfluss auf ihre literarische Ästhetik als manches schriftstellerische Idol.

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Dass Acker sich immer wieder auf William Burroughs als zentrales literarisches Vorbild beruft ist daher nur konsequent, da dieser mit seiner zusammen mit Brion Gysin – einem Maler – entwickelten Cut-up-Technik eine Brücke zwischen der Literatur und den Bildenden Künsten geschlagen hat: „The cut-up method brings to writers the collage, which has been used by painters for fifty years.“14 Burroughs selbst weist allerdings darauf hin, dass es auch in den literarischen Avantgarden der Moderne bereits Anwendungen dieser Technik gab: Of course, when you think of it, ,The Was te Land‘ was the firs t great cut-up collage, and Tris tan Tzara had done a bit along the same lines. Dos Passos used the same idea in ,The Camera Eye‘ sequences in U.S.A. I felt I had been working toward the same goal; thus it was a major revelation to me when I ac tually saw it being done.15

Mit dem Cut-up erfindet Burroughs also nichts radikal neues, aber es ist sein unbestreitbares Verdienst, diese Technik für die experimentelle Literatur weiterentwickelt und sie auch in den gegenkulturellen „Underground“ eingeführt zu haben. Bei Burroughs und Gysin ist das Cut-up kein „Zusammenschreiben“ von Texten, sondern eine tatsächliche materielle Montage: „Take a page. Like this page. Now cut down the middle and across the middle. You have four sections: 1 2 3 4…one two three four. Now rearrange the sections placing section four with section one and section two with section three. And you have a new page.“16 Burroughs verfolgt dabei im Grunde eine Variante des klassisch avantgardistischen Projekts: Die Herrschaft der linearen zweckrationalistischen Sprache soll durch das Verstörungselement des Zufalls unterminiert und die gewohnten Modi der ästhetischen Erfahrung beim Rezipienten gesprengt werden. Er selbst hat das als Intention seiner Methode formuliert: „Plot has always had the definite function of stage direction, of getting the characters from here to there, and that will continue, but the new techniques, such as a cut-up, will involve much more of the total capacity of the observer. It enriches the whole aesthetic experience, extends it.“17 In den frühen 1960er Jahren hat Burroughs intensiv mit dieser Methode experimentiert und besonders in seiner „Cutup Trilogie“ seine eigenen fiktionalen Texte mit Fragmenten aus den Klassikern der Weltliteratur verschnitten. Die Cut-up Methode hat vor allem Ackers Frühwerk in den 1970er Jahren geprägt und blieb auch nach der Postmodernisierung ihres Schreibens und ihrer Hinwendung zur offensiven Plagiatsästhetik der hier untersuchten Romane immer noch stilbildend. Von Burroughs’ Technik erhoffte sie sich am Beginn ihrer Schriftstellerkarriere einen Ausweg aus den formalästhetischen Sackgassen der authentizitätsgläubigen Gegenkulturen der 1950er und 60er Jahre, in denen das avantgardistische Projekt zu 14 | 15 | 16 | 17 |

William S. Burroughs/Brion Gysin: The Third Mind, New York 1978, S. 29. Ebd., S. 3. Ebd., S. 29f. Ebd. S. 6.

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dieser Zeit aufgegangen war. Deren Literatur war überwiegend von der humanistischen Form der transgressiven Idee geprägt, mittels der Kunst die Entfremdung des Individuums in der Gesellschaft zu überwinden und in den Werken einen Ausdruck des authentischen unnormierten Selbst zu sehen. Die Autoren der „Beat Generation“ (augenommen Burroughs, der in dieser literarischen Strömung ohnehin in vielerlei Hinsicht einen solitären Status hatte) sind exemplarisch hierfür. Ihre metaphysischromantischen Texte versuchten dem scheinorganischen Mimesisanspruch der „bourgeois story“ mit der Assoziativität und Emotionalität poetischer Sprachbilder beizukommen, die eine unnormierte Innerlichkeit des Individuums als Gegenmodell zur Fremdbestimmung durch die zweckrationale Ordnung präsentierten sollen. Acker hatte bereits früh in ihrer Künstlerkarriere Schwierigkeiten mit dieser idealisierenden Auffassung vom poetischen Genius als authentischem Subjekt: When I was in my teens I grew up with some of the Black Mountain poets who were always giving lectures to writers to the effec t that, ,when you find your own voice, then you’re a poet.‘ The problem was, I couldn’t find my own voice. I didn’t have a voice as far as I could tell. So I began to do what I had to do [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] if I wanted to write, and that was appropriate, imitate, and find whatever ways I could to work with and improvise off of other texts. 18

Von Burroughs’ Methode erhoffte sich Acker eine ästhetische Option, die ihr erlaubte, sich kritisch mit normativen kulturellen Mustern, der Kontrollfunktion der Sprache und hermetischen Denksystemen auseinanderzusetzen, ohne dafür ihre „eigene“ Stimme finden zu müssen: The only model I found in my world was William Burroughs. I like Kerouac but he worked too much from intuition for me and I wasn’t interes ted in that kind of autobiographical work. Whereas Burroughs really was doing the major work because he was dealing with how politics and language came together, the kind of language, what the image is, all that early Burroughs work. Burroughs was the only prose writer I could find who was a conceptualis t.19

Unter konzeptualistischem Schreiben versteht Acker Techniken der Literaturproduktion, die ihre Form nicht aus diskursiv produzierten ästhetischen Imperativen heraus entwickeln, sondern aus einer kritischen Haltung zur Kunst und ihrer Funktion in der Gesellschaft: Form is determined not by arbitrary rules but by intention. And intentionality is all. [meine Hervorgebung – d. Verf.] That’s what I meant by this emphasis on conceptualism, on intentionality. So I had really been trained in the idea that you jus t don’t sit down and write, you have to know why you write and why you use certain methodologies. 20 18 | McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 90f. 19 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 4 20 | Ebd., S. 3.

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Die wesentliche Intention hinter der Cut-up Methode ist es, die traditionelle Auffassung vom Text als Selbstausdruck seines Autors und mit ihr das Konzept vom Autor selbst zu unterlaufen. Schon in den Avantgarden der Moderne haben eine lange Tradition von Versuchen, mit dem Geniekult um den Autor zu brechen, der untrennbar mit der bürgerlichen Konzeption von Kunst verbunden sind. Die schon angesprochenen Readymade-Collagen verschiedenster Künstler (z.B. Duchamp oder Heartfield) oder die Experimente der Surrealisten mit dem „automatischen Schreiben“ sind hier beispielhaft zu nennen. Auch Burroughs’ und Gysins Experimente sind in dieser Traditionslinie zu sehen. Sein eigentliches Todesurteil wurde dem Autor jedoch erst durch die poststrukturalistische Literaturtheorie Ende der 1960er Jahre gesprochen.21 Acker setzt das Theorem vom „Tod des Autors“ durch ihre Textpolitik des Plagiats in radikaler Konsequenz ästhetisch um und bindet es in ihr eigenes identitätspolitisches Überschreitungsprojekt ein. Denn wenn jede Form von fixierter Identität ein Zwangssystem ist, gilt dies natürlich auch für die Identität des Autors. Acker nutzt das formale, stilistische Experiment, um dieses System aufzubrechen. Mit ihrer textuellen Appropriationsstrategie steht sie in der gegen die Ideologie der Originalität gerichteten Tradition der Avantgarde und macht dezidiert deutlich, dass sie das Konzept des „Autors“ im etymologischen Sinn als schöpferischen Urhebers eines Textes strikt ablehnt. Ihre Texte werden dabei selbst Überschreitungen der Grenzen des „Autoren-Ich“. Diese sind aus ihrer Perspektive wie alle Ich-Grenzen diskursiv konstituiert und haben eine ideologische Funktion in der Gesellschaft. Analysiert man Ackers Kritik dieser Funktion, wird einmal mehr eine Kongruenz zwischen den ihren Romanen impliziten philosophischen Positionen und den Theorien Foucaults deutlich. Dieser hat sich in seinem bekannten Aufsatz „Was ist ein Autor?“ (der eine Reaktion auf Barthes „Der Tod des Autors“ ist) mit dieser Funktion auseinandergesetzt und gezeigt, dass dem Konstrukt des Autors seit der bürgerlichen Moderne elementare Bedeutung zukommt: „Die Autor-Funktion ist […] charakteristisch für die Existenz-, Zirkulations- und Funktionsweise bestimmter Diskurse innerhalb einer Gesellschaft.“22 Mit dieser Aussage will Foucault den Autor nicht etwa vor seinem Todesurteil durch andere poststrukturalistische Denker, allen voran Barthes, bewahren, sondern zeigen, welche Bedeutung es für den Diskurs des Schreibens – gleichgültig, ob im literarischen oder wissenschaftlichen Kontext – hat, einen Text einem Autor zuweisen zu können. Denn ohne Autor, so Foucaults Argument, kann seit der Auf klärung ein 21 | Eine Vielzahl von Literaturtheoretikern hat sich mit der Dekons truktion des Autorensubjekts beschäftigt, doch das vielzitierte Schlagwort vom „Tod des Autors“ geht auf den gleichnamigen Aufsat z von Roland Barthes zurück: „Der Tod des Autors“, in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), a. a. O., S. 57–63. Die Verwandtschaft zwischen diesem Konzept und Ackers Äs thetik springt ins Auge, so dass gelegentlich auf sie hingewiesen worden is t (vgl. Pitchford: a. a. O., S. 73; Gersdorf: a. a. O., S. 149), ohne dort jedoch detailliert analysiert worden zu sein. 22 | Michel Foucault : „Was is t ein Autor ?“, in: ders.: Schriften zur Literatur, a. a. O., S. 234–270, hier: S. 245.

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Text in den westlichen Gesellschaften nicht funktionieren, er kann weder besprochen noch verkauft, zensiert oder zitiert werden.23 Im Besonderen gilt dies für literarische Texte: „Bei jedem Text der Poesie oder der Fiktion fragt man danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder in welcher Absicht. Die Bedeutung, die man ihm zugesteht, der Status oder der Wert, den man ihm beimisst, hängen davon ab, wie man diese Fragen beantwortet.“24 So wird der Autor zum Bedeutungsstifter in doppelter Hinsicht, denn „Bedeutung“ bezeichnet einerseits, wie Foucault ja auch ausführt, den „Wert“ eines Textes. Damit ist nicht nur seine ökonomische Verwertbarkeit als Ware gemeint (ich werde noch ausführlich darauf zurückkommen), sondern auch seine Wirkmächtigkeit im Diskurs. Anderseits bezeichnet der Begriff den Sinn bzw. die Aussage und damit eine metaphysische Ebene des Textes, wenn man den Begriff der „Bedeutung“ mit dem Selbstausdruck des Künstlers gleichsetzt. Damit diese Maschinerie funktionieren kann, musste der Autor als Individuum mit einer fixierten Autoridentität erfunden werden. Für Foucault erfüllt eine solche, auf dem cartesianischen Subjektverständnis auf bauende Autorenidentität eine ideologische Funktion im Dienste der modernen Zweckrationalität: Sie is t das Resultat einer komplexen Operation, die ein bes timmtes vernünftiges Wesen kons truiert, das man als Autor bezeichnet. Zwar versucht man diesem vernünftigen Wesen einen Realitätss tatus zu verleihen: Im Individuum gibt es ein ,tiefes‘ Drängen, eine ,schöpferische‘ Kraft, ein ,Projekt‘, der Ursprungsort des Schreibens. Tatsächlich jedoch is t das, was man bei einem Individuum als Autor bezeichnet (oder was ein Individuum zum Autoren macht), nur die mehr oder weniger psychologisierende Projektion der Behandlung, die man den Texten angedeihen läss t, der Annäherungen, die man vornimmt, der Merkmale, die man für wichtig hält, der Kontinuitäten, die man zuläss t, oder der Ausschlüsse, die man vornimmt. 25

Wenn aber die philosophische Grundlage dieser Fiktion, das Konzept des autonom handelnden, souveränen Individuums in Frage gestellt wird, zeigt sich, dass nicht der Text unter dem unumschränkten Regime des Autors steht, sondern der Autor unter dem verschiedener Texte und Diskurse. Im Gespräch mit Lotringer hat Acker beschrieben, dass sich ihre Hinwendung zur Approriationsästhetik genau an dieser Frage entzündet hat: „What became more interesting to me wasn’t the I, it was text because it’s texts that create the identity. That’s how I got interested in plagiarism.“26 Denn wie sollte ein Künstler-Ich authentische, 23 | Die pos ts trukturalis tischen Intertextualitäts theorien haben uns im Übrigen keinesfalls von dieser speziellen Funktion des Autors befreit. Auch die vorliegende Studie könnte im wissenschaftlichen Diskurs nicht funktionieren, wenn sie ihrem Koprus an Primärtexten – allesamt viels timmige Texthybride par excellence – nicht der Autorenfunktion „Kathy Acker“ zuschreiben könnte. 24 | Foucault: „Was is t ein Autor?“, a. a. O., S. 247. 25 | Ebd., S. 247f. 26 | Lotrringer/Acker: a. a. O., S. 7.

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unnormierte Innerlichkeit ausdrücken können, wenn es selbst ein Produkt intertextueller Prozesse ist? Kunst – zumindest jene, die am cartesianischen Autorenbegriff festhält – „proposes an interiority which no longer exists for all of us are moulded [meine Hervorhebung – d. Verf.].“ (PPP 299) Wenn Acker betont, nie „ihre“ Stimme gefunden und stattdessen die Appropriation zu ihrem ästhetischen Paradigma gemacht zu haben, ist das philosophisch also nur folgerichtig. Man darf deshalb aber nicht den falschen Schluss zielen, sie würde durch ihre Auf lösung des Autorensubjekts allein „den Text“ sprechen lassen. Für Acker gibt es natürlich eine Ebene der Souveränität des, um es neutral zu formulieren, „literaturproduzierenden Individuums“. Um dieses souveräne Element zu beschreiben möchte ich auf die Gedanken von Deleuze und Parnet zurückgreifen, die in ihren Dialogen vorschlagen, der etablierten Vorstellung vom „Autor“ den Begriff des „Schriftstellers“ entgegenzusetzen. Der traditionelle Autor wird demnach in cartesianischer Tradition als „Subjekt der Äußerung“27, als eigenständiger Schöpfer seiner Geschichten, als Herr über seine Texte, als Vermittler seiner Authentizität und seines Innersten verstanden. Acker ist hingegen als das zu bezeichnen, was Deleuze und Parnet als „Schriftsteller(in)“ definieren: „Der Schriftsteller erfindet, auf bauend auf Verkettungen, die ihn erfunden haben [er ist ein Produkt seiner Kultur! – Anm. d. Verf.], andere Verkettungen, er lässt eine Vielheit in eine andere übergehen.“28 Genau dies tut Acker. Souveränität des Schreibens kann für sie nur bedeuten, in diesem Sinne nicht Autorin, sondern Schriftstellerin zu sein und sich der verketteten Narrative, durch die sie als „literarisches Individuum“ konstituiert wurde, zu bemächtigen und sie neu und subversiv zu recodieren: „What a writer does, in 19th century terms, is that he takes a certain amount of experience and he ,represents‘ that material. What I do is simply taking text to be the same as the world, to be equal to nontext, in fact to be more real than non-text, and start representing text [Hervorhebung im Original – d. Verf.].“29 Als Schriftstellerin im oben beschriebenen Sinn versteht sie sich – trotz der den Romanen impliziten autobiographischen Elemente, die im Umkehrschluss Textcharakter gewinnen – nicht in erster Linie als Subjekt der Äußerung authentischer Erfahrung, sondern reflektiert ihre eigene Konstitution durch den literarischen Diskurs. Hier greifen Text- und Identitätspolitik ineinander. Acker hat, wie ich bereits dargelegt habe, an ihrer Figur Capitol und deren Performances mit Puppen auf der fiktionalen Ebene gezeigt, dass identitäre Autopoiesis nicht bedeutet, dass das Subjekt vollständig „Autor“ seiner selbst sein und seine kulturelle Sozialisation hinter sich lassen könnte. Vielmehr bleibt ihm nur das „Zerschmettern“ von zugewiesenen Identitätsbildern und das Neukontextualisieren der dabei entstandenen Fragmente, um die diskursive Hoheit über sich selbst zu gewinnen. Gleiches gilt für die Literatur. Hier setzt Acker eine Form von tatsächlich postmodernem transgressivem, hybridem Schreiben um, das nicht mehr nur einen, sondern 27 | Deleuze/Parnet: a. a. O., S. 59. 28 | Ebd. 29 | Lotringer/Acker: a. a. O., S.13.

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viele „Autoren“ kennt. Foucault hat die öffnende Funktion eines solchen Unternehmens beschrieben: Dies bedeutet, dass Schreiben (,écriture‘) ein Spiel von Zeichen is t, das sich weniger am bedeuteten Inhalt (,signifié‘) als an der Natur des Bedeutenden (,signifiant‘) ausrichtet. Dies besagt aber ebenso, dass diese Regelhaftigkeit des Schreibens immer wieder von ihren Grenzen her auf die Probe ges tellt wird; es überschneidet immer wieder diese Regeln, die es akzeptiert und mit denen es spielt, und kehrt sie um. Das Schreiben entwickelt sich wie ein Spiel, das zwangsläufig seine Regeln überschreitet und so über sie hinaus tritt. Im Schreiben geht es nicht um den Ausdruck oder um die Verherrlichung der Ges te des Schreibens, es geht nicht darum, ein Sujet einer Sprache anzuheften, es geht um die Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt unablässig verschwindet.30

Um zu zeigen, wie komplex Acker durch die Verschachtelung appropriierter Texte mit verschiedenen Erzählinstanzen den cartesianischen Autor völlig auf löst, möchte ich ein kurzes Zitat aus ihrem Pasolinibuch betrachten, an dem sich der „Tod“ des Autorensubjektes ästhetisch und (kon)textuell vor Augen führen lässt: Assumption of this ques tion: I am the subjec t of the making and doing. I make (my) values or meanings. I do means I mean. Given the syntax and grammar, func tionality is the only possible value: I’m a Puritan; I write, I don’t love; I. But what if I isn’t the subjec t, but the objec t? If the subjec t-objec t dichotomy is here an inappropriate model? [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] (PPP 341)

Das „I“, das hier spricht, ist ein „Autoren-Ich“, das sich seiner eigenen diskursiven Konstruiertheit und seiner Funktion für die Bedeutungsstiftung des Textes bewusst ist. Ackers Collagestil lässt bewusst im Unklaren, welche der vielen textimmanenten Stimmen des Romans sich hier äußert und wandelt gezielt auf den von der Narratologie gezogenen Grenzen zwischen Autor, Erzähler und Stimme, die für die Analyse realistischer Erzählliteratur zweifellos große Bedeutung haben, und macht sie mit ihrem experimentellen Stil obsolet. Auch der detaillierte Blick auf den textimmanenten Kontext des Zitates macht nicht klar, wer dieses „I“ ist. Das Unterkapitel, in dem es sich findet, beginnt drei Seiten vorher und trägt den Titel „The Penetration in the School in Poland“ (PPP 338ff.) Es beginnt mit der Schilderung von Szenen des Posener Arbeiteraufstandes von 1956, die in typische Acker-Manier mit einer Kritik am Reaganamerika verbunden wird (PPP 338 oben). Das „I“ taucht unvermittelt im drittletzten Absatz der Seite auf: „I am in school because I haven’t learned anything.“ (PPP 338). Danach folgt eine kurze theoretische Abhandlung über die Rolle der Literatur in der Gesellschaft, in der zwei verschiedene Positionen miteinander konfrontiert werden: Einmal eine humanistische, für die Adorno als Anwalt angeführt wird und die in der Kunst eine Verkörperung der individuellen Äußerung eines Subjekts sieht, die, wenn auch sie nicht völlig au30 | Foucault: „Was is t ein Autor?”, a. a. O., S. 238.

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tonom von der Lebenspraxis erscheint, doch eine Sphäre darstellt, die der kapitalistischen Verwertungslogik entzogen ist: „What is writing about; what is writing? If it is anyting [sic!]: Adorno ,Art expresses the individual, the unique, the utopian, the critical, the new, the innovative vision‘ and it is the opposite of opposes media advertising commerciality or the market.“ (PPP 338) Dagegen steht ein Standpunkt, der das Gewicht von Literatur von ihrer Gegenständlichkeit abhängig macht: „If writing’s nothing: it isn’t presenting a story, it isn’t presenting an expression of what’s real, since it’s present it isn’t even this (time past); it is; going back to beginnings. childhood beginnings.“ (PPP 338) An dieser Stelle übernimmt das „I“ wieder, um darüber zu berichten, wie schwer es seine Kindheit in Worte fassen kann, aber den Druck einer linearen narrativen Norm spürt: „Begin childhood from the very beginning. I have a great deal of difficulty beginning to write my portion of these pages, for I know I am not clever.“ (PPP 338) Aber in diesem Absatz macht das „I“, das hier solche Schwierigkeiten hat, über sich zu schreiben eine erste Andeutung, wer es sein könnte: Der Ich-Erzähler von Great Expectations – sowohl von Dickens’ als von Ackers Version (soweit man bei ihr von einem identifizierbaren Erzähler sprechen kann) –, der hier einen intertextuellen Ausflug in My Death, My Life by Pier Paolo Pasolini unternimmt, dessen (pseudo)autobiographische Autorschaft laut dem Buchtitel Pasolini zukommt, hinter dem in diesem Fall, wie der Leser weiß, wiederum die Collagekünstlerin Acker steht: „My father’s family name being Pirrip, and my Christian name Philip, my infant tongue could make of both names nothing.“ (PPP 339). Hier variiert Acker den ersten Satz von Dickens’ Great Expectations, der dort die stabile Erzählinstanz etabliert die vorgibt, wenn vielleicht nicht Autor, so doch das „Subjekt der Äußerung“ in diesem Text zu sein.31 Durch die Tilgung des Namens der Hauptfigur Pip verbannt Acker diese Instanz buchstäblich ins Nichts („could make of both names nothing“ – danach setzt Acker bewusst einen Punkt). So bleibt das „I“ des obenstehenden Zitates völlig diffus. Da aber der Inhalt seiner Aussagen mit den Einlassungen Ackers, wonach es Texte sind, die Identitäten produzieren, übereinstimmen, kann man sich fragen, ob sie sich selbst hinter diesem „I“ verbirgt. Eine Antwort jedoch wird man nicht erhalten. Dieses schwer zu beschreibende Verwirrspiel hat einen gleichsam textpolitischen wie identitätspolitischen Hintergrund, weil hier idealtypisch versucht wird, „jenen Punkt [zu] erreichen, an dem nicht ,ich‘, sondern die Sprache allein agiert, ,performiert‘[.]“32 Die Vorstellung vom Autor als „Subjekt der Äußerung“ (gegebenenfalls mit einem Erzähler als textimmanentem Statthalter) wird an dieser Stelle 31 | Zum Vergleich hier Dickens’ Original: „My father’s family name being Pirrip, and my chris tian name Philip, my infant tongue could make of both names nothing longer and more explicit than Pip.“ (Charles Dickens: Great Expec tations, Oxford 1999, S. 3). Acker hat ihn bereits für ihre eigenen Great Expec tations plagiiert und dort die Autorität der Erzählins tanz durch eine andere Modifikation (wahrscheinlich eine Referenz auf ihren zweiten Ehemann Peter Gordon) des zweiten Halbsat zes im Frage ges tellt: „My father’s name being Pirrip, and my Chris tian name Philip, my infant tongue could make of both names nothing longer or more explicit than Peter [meine Hervorhabung – d. Verf.].“ (GE 171) 32 | Barthes: „Der Tod des Autors“, a. a. O., S. 58.

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völlig aufgelöst, wobei die Ästhetik der intertexutellen Verknüpfung zur Illustration der Aussage wird. Der Autor ist somit Objekt der kulturellen Prozesse, die ihn als Subjekt formen. Aber er kann diesem Verständnis nach nicht „Subjekt der Äußerung“ im cartesianischen Sinne sein, er kann keine Wahrheiten zum Ausdruck bringen oder ein „Seher“ sein, wie ihre Rimbaudfigur R es sich erhofft hatte, weil dies auf die Kategorie der absoluten Bedeutung verweisen würde. Ein Autor, der vorgibt oder selbst glaubt, im Besitz einer Bedeutung oder Wahrheit zu sein, trägt für Acker den Keim des Arretierenden, Begrenzten, Begrenzenden und letztendlich Totalitären in sich. Daher lehnt sie jede Form von fixierter Bedeutung als naturalisiertes diskursives etabliertes Zwangssystem ab, was sie in einem in seiner Form selbst experimentellen Aufsatz mit dem Titel „Models of our Present“ zuspitzt: „[M]eaning dominates or controls existence. But desire – or art – is.“33 Kritische Kunst muss also fragen, wer Bedeutung produziert und wem diese nützt: „I don’t mean. I am meant. That’s ridiculous. There’s no meaning. Is meaning a post-capitalist invention?“ (PPP 341) Wenn Bedeutung lediglich ein arretiertes kulturelles Konstrukt – ein Mythos – ist, kann auch ein transgressiver Künstler nicht für sich beanspruchen, eine authentische „Gegenbedeutung“ äußern zu wollen. Die Frage, wie ein „Autoren-Ich“ „seine“ Stimme findet, erscheint für Acker damit obsolet, wie sie ihre Protagonistin Abhor in Empire of the Senseless sagen lässt: „The demand for an adequate mode of expression is senseless. Then why is there this searching for an adequate mode of expression? Was I searching for a social and political paradise? Since all acts, including expressive acts, are inter-dependent, paradise cannot be an absolute. Theory doesn’t work.“ (EoS 113) Wie bei den autopoeitischen Experimenten bezüglich der Identität, der Sexualität und des Körpers geht es Acker nicht um einen in sich geschlossenen Gegenentwurf, sondern um die Deutungs- und Zeichenhoheit über den behandelten Gegenstand – diesmal über die Kunst und ihre Stellung in der Gesellschaft, die auf dem Feld der Ästhetik ständig neu erkämpft werden muss. Verkompliziert wird diese Auseinandersetzung mittels eines experimentellen Stils durch die Tatsache, dass sich die hegemonialen Diskursformationen der postmodernen Macht selbst oft fragmentarisch ausdrücken. In der Moderne waren die Fronten klar: die „organische“ Sprache gehörte der herrschenden Ordnung und die experimentelle den transgressiven Avantgardisten. Doch mit der postmodernen Wende ist die Anti-Ästhetik Teil des diskursiven Arsenals der Hegemonialkultur geworden. Der Polyphonie der interpellativen Anrufungen des postindustriellen und multinationalen Kapitalismus kann transgressive Kunst mit einer Aktualisierung der ästhetischen Mittel von kubistischer Zersplitterung oder dadaistischer Sinnverwirrung allein nicht mehr wirksam begegnen. Die diversen ästhetischen Manifeste der avantgardistischen „Ismen“ der Moderne sind im postmodernen Umfeld obsolet. Für Acker bedeutet das 33 | Kathy Acker: „Models of our Present“, in: Artforum 22 (February 1984), S. 62–65, hier: S. 64. Kuns t und Begehren „sind“ für Acker in dem Sinn, dass sie – wie auch der Körper – Schauplat z und Werkzeug bedeutungssprengender Experimente sein können.

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jedoch nicht das Scheitern des avantgardistischen Projekts (so wie andere es gesehen haben), sondern ein Andauern dieses Kampfes – in veränderter Situation, mit veränderten Mitteln und unter der Abkehr von Aktionsformen in statischen Kollektiven. In der postmodernen Situation muss der Blick auf den individuellen Künstler und die individuelle Ästhetik seines Werkes in seinem individuellen Kontext maßgeblich für die Bewertung des transgressiven Potentials eines Kunstwerkes sein. Auch muss die avantgardistische Anti-Ästhetik, die in der Moderne den Rezipienten aus seiner affirmativen Lethargie schocken konnte, weiterentwickelt werden, wenn experimentelle Texte nicht folgenlos im ästhetischen Immergleichen zirkulieren wollen. In der Forschung ist gelegentlich übersehen worden, dass Acker sich dieser Notwendigkeit bewusst war und an einer ästhetischen Alternative gearbeitet hat. Stattdessen wurden ihre Romane manchmal als einfache Widergänger von Burroughs’ Cut-up-Texten interpretiert. Exemplarisch möchte ich hier Robert A. Latham anführen, der beinahe ausschließlich die unbestreitbaren Gemeinsamkeiten zwischen Acker und Burroughs heraushebt, ohne auf die Unterschiede einzugehen: In their writings, collage operates both critically and creatively – as a critique of normative representation and the social order it supports, and as a mechanism of invention generating alternative orders. The critical impulse of collage is expressed in its decons truc tion of the linear and totalizing procedures of mimetic realism.34

Einer solchen Lesart ist natürlich nicht grundsätzlich zu widersprechen, doch sie blendet aus, dass die literarischen Projekte der beiden Autoren bei aller Verwandtschaft in unterschiedlichen kulturellen und historischen Umfeldern entstanden sind. Der Vollständigkeit halber muss darauf hingewiesen werden, dass bezüglich Ackers Äußerungen zu Burroughs und seiner Methode eine gewisse Widersprüchlichkeit nicht geleugnet werden kann. Einerseits sah sie in ihm zumindest zeitweise einen Propheten der postmodernen Situation, wie sie in ihrem Essay über „William Burroughs’s Realism“ schreibt: In terms of content and formally, William Burroughs’s writings are those of discontinuity and dissolution. Both represented time and the books’ temporal s truc tures are frac tured; time juts into and becomes space; humans melt into cartoonlike charac teris tics and parts of bodies gone haywire; the quality of humanity seems to be green mush of resolves into unheard-of mutations. Due to these psychotic realities, Burroughs, in his writing, was able to portray futures which are now our present.35

Andererseits gibt es durchaus Unterschiede zwischen Burroughs und Acker. Zwar wollen beide mit ihrer Ästhetik einen „dritten Raum“ öffnen, in dem Kategorien wie 34 | Robert A. Latham: „Collage as Critique and Invention in the Fic tion of William S. Burroughs und Kathy Acker“, in: Robert A. Latham/Robert A. Collings (Hg.): Modes of the Fantas tic. Selec ted Essays from the Twelfth International Conference on the Fantas tic in the Arts, Wes tport und London 1995, S.29–37, hier: S. 29. 35 | Kathy Acker: „William Burroughs’s Realism“, a. a, O., S. 2.

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Subjektivität und Wahrheit neu verhandelt werden können. Aber anders als Acker hoffte Burroughs, dass eine solche Sphäre durch die Cut-up Methode automatisch evozierbar sei und billigt ihr quasimetaphysische Qualitäten zu. Seine eigenen Definitionen dieses auf Transzendenz abzielenden Raumes – „The Third Mind“ – bleiben vage, aber im gleichnamigen Band findet sich der Versuch einer Bestimmung durch den Kunstkritiker Gérard-Georges Lemaire: The Third Mind […] represents the experimental s tage of this technology. It is not the his tory of a literary collaboration but rather the complete fusion in a praxis of two subjec tivities, two subjec tivities that metamorphose into a third; it is from this collusion that a new author emerges, an absent third person, invisible and beyond grasp, decoding the silence.36

Es überrascht nicht, dass Acker diesem metaphysischen Erlösungsversprechen des Cut-ups mit der wachsenden postmodernen Selbstreflektion ihrer Arbeit zunehmend skeptisch gegenübersteht. In Empire of the Senseless konstatiert sie – auch mit kritischem Blick auf ihre eigene Genese als Künstlerin –, dass die antirationalistische Verweigerung homogener Bedeutungsstrukturen für sich genommen nicht mehr erfolgversprechend ist, weil sie auf eine Befreiungsutopie im semiotischen Chaos verweist, die nicht mehr behauptet werden kann: Ten years ago it seemed possible to des troy language through language: to des troy language which normalizes and controls by cutting that language. Nonsense would attack the empire-making (empirical) empire of language, the prisons of meaning. But this nonsense, since it depended on sense, simply pointed back to the normalizing ins titutions. (EoS 134)

Rein dekonstruktivistische Experimente als Transgressionen sind also auch in die Krise geraten, weil sich aus Perspektive des kulturellen Radikalismus die avantgardistische Auf hebung scheinorganischer Zeichensysteme in ihrer Definition ex negativo immer wieder auf die Norm bezieht, die sie zu überwinden sucht. „Deconstruction“, äußert Acker konsequenterweise auch im Gespräch mit Lotringer, „is always a reactive thing and as long as you’re dwelling in the reactive you’re really reinforcing the society that you hate [meine Hervorhebung – d. Verf].“37 Ackers Strategie, das experimentelle Schreiben aus dieser Sackgasse herauszumanövrieren, besteht darin, die „herrschenden“ Narrative nicht nur zu zertrümmern, sondern einen Schritt weiter zu gehen, sich ihrer zu bemächtigen, sie aktiv zu modifizieren, umzuschreiben und sie – anders als Burroughs nicht nur nach dem Zufallsprinzip – auf Basis persönlicher politischer Standpunkte zu rekontextualisieren. Anders als in ihrem Frühwerk wandte sich Acker in ihrem Werk der 1980er Jahre Experimenten mit Erzählmustern zu, anstatt sich auf die reine Dekonstruktion zu verlegen, wie sie in einem Interview mit Laurence A. Rickels ausgeführt hat: „I tur36 | Burroughs/Gysin: a. a. O., S. 17f. 37 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 17.

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ned to narrative when there was nothing else to turn to; there had to be something more than taking apart constructions. I was coming out of a funny kind of nihilism. There had to be some kind of narrative, but one that wasn’t only a means of control.“38 So geht es Acker, wie Pitchford korrekt feststellt, nicht um „the loss of all [Hervorhebung im Original – d. Verf.] narrative but the rejection of one, privileged narrative.“39 Ihre Freibeuterästhetik ist daher nicht allein als „rebellious response to her poetic ,fathers‘“40 zu verstehen, sondern auch eine Erweiterung von deren ästhetischen Strategien. Dies zeigt sich gerade am Beispiel Burroughs’: Ein „Rewriting“ eines appropriierten Textes ist mehr als ein Cut-up. Auch Burroughs dekonstruiert in seinen Texten den literarischen Kanon des Westens, aber wenn er sich bei Klassikern bedient, zertrümmert er sie bis zu Unkenntlichkeit und montiert diese „Atome“ mit anderen Zeichen in einem Ausmaß, dass ihr Ursprung beinahe vollständig verschleiert wird. Diese Enthierarchisierung der Textfragmente hat ohne Zweifel eine politische Ebene, aber Ackers Collagen funktionieren anders: Zwar sind ihre Romane weit davon entfernt, eine Rückkehr zur Repräsentation im Sinne des bürgerlichen Realismus zu propagieren (für Acker ist es grundsätzlich unmöglich, dass ein im traditionellen Sinn „realistisch“ geschriebenes Narrativ subversiv sein kann), doch erschöpft sich ihre Variante des Cut-up nicht allein in der Aufsprengung sprachlich konstruierter Wahrnehmungs- und Identitätsmuster, sondern zeigt durch die bewusste und gezielte Verknüpfung ihres Materials, welchen Machtdiskursen die ursprünglichen Narrative dienen. Dafür ist es unabdingbar, dass Ackers textliche Fundstücke manchmal auch aus größeren Sinneinheiten bestehen und ihre Herkunft in vielen, wenn auch nicht allen Fällen sichtbar bleibt. Durch diesen Stil versieht Acker ihre Texte mit eine selbstreflexiven Dimension und inszeniert ihren Charakter als intertextuelles Produkt weitaus plakativer, als Burroughs dies tut. Von kanonischen Klassikern wie Don Quixote und Great Expectations werden nicht nur Fragmente, sondern ganz offensiv die Titel übernommen. Indem sie Kapitel mit Überschriften wie „Plagiarism“ (GE 171), „Insert“ (DQ 21) oder, „Another Insert“ (DQ 25) versieht, weist sie den Leser gezielt darauf hin, dass er es mit einer Collage gekaperter Textfragmente zu tun hat. Diese Funktion erfüllen auch die in die Fiktion eingearbeiteten Quellenangaben, etwa, wenn sie Genets Drama Les Paravants verarbeitet: „Now the specific details can begin in the terrible plagiarism of The Screens. The writing is terrible plagiarism because all culture stinks and there’s no reason to make new culture-stink.“ (B&G 137). Auch die „Japanese Interlude“ in In Memoriam to Identity leitet sie mit einem Verweis auf die Herkunft ihrer Vorlage ein: „The following is a story written by a woman, Murasaki Shikibu, in A. D. 1008[.]“ (IM 43) 38 | Kathy Acker/Laurence A. Rickels: „Body Building. Laurence A. Rickels talks with Kathy Acker“ in: Artforum 32 (Feb. 1994), S. 60–63 sowie 103–104. 39 | Pitchford: a. a. O., S. 49. 40 | Mintcheva : a. a. O., S. 267.

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Acker gelingt es mit dieser Praxis, das bürgerlich ideologische Konzept vom Autor als „Subjekt der Äußerung“ genauso sichtbar zu unterlaufen wie die „authority of writer over text, meaning, and reader“41. Denn der traditionelle Leser erwartet vom Autor – buchstäblich – autoritär zu sein, das Regime über die Aussage des Textes, die Hoheit über das Geschriebene zu haben. Acker lehnt dies ab und nutzt die Plagiatsästhetik, um sich dieser Forderung auch durch in die Romane eingearbeitete Metakommentare zu entziehen.: „The unknowns (you the readers) are questioning me the writer so you can judge me. This writing is the way it is so I can escape you[.]“ (PPP 289) Durch den direkten Verweis auf den Ursprung der Übernahme macht sie klar, dass sie sich dagegen wehrt, selbst in der Identität des Autors fixiert und damit für den Leser fassbar zu werden: „I don’t remember any writing ’cause I don’t know what I write so you can’t pin me down.“ (PPP 289). Zudem bricht sie offensiv mit den Gewohnheiten des Lesers, für den es wichtig ist, einen Autor zu haben, der den Text begrenzt und abschließt, um ihn „verstehbar“ zu machen, wie Barthes ausführt: „Einem Text einen ,Autor‘ beigeben heißt, diesen Text einrasten lassen, ihn mit einem letzten Signifikat zu versehen, das Schreiben abriegeln.“42 Acker überschreitet diese Grenzen, indem sie ihren Lesern den Gefallen verweigert, die ausufernden (Be)deutungsoptionen, die die Ästhetik ihrer Texte evoziert, durch die Abgrenzung eines für die Rezeption gültigen Realitätsrahmens zu „organisieren“: I might haphazardly take away parts of the writing. Even if I don’t these are jus t the words I copied from a book by Robbe-Grillet. I don’t even know French and I don’t care. I don’t want to control you by telling you what reality is jus t as you try to control me. (PPP 289)

Dass Acker sich hier explizit auf Robbe-Grillet bezieht, dessen Werk sich im wesentlichen damit auseinandersetzte, wie das Verhältnis des Individuums zur vermeintlich objektiven Realität durch subjektive Wahrnehmung konstituiert wird, spricht für sich. Im zweiten Abschnitt des Don Quixote wird das Appropriieren von Texten explizit zur Kritik am Phallogozentrismus des westlichen Literaturkanons genutzt, den Ackers Ritterin – eine Figur, die selbst ein Produkt der Praxis ist, die sie anwendet – dadurch bekämpft, dass sie sich diese „männlichen“ Texte in Piratenmanier aneignet und umschreibt: „BEING BORN INTO AND PART OF A MALE WORLD; SHE HAD NO SPEECH OF HER OWN. ALL SHE COULD DO WAS READ MALE TEXTS WHICH WEREN’T HERS.“ (DQ 39) In den Kapitelüberschriften gibt Acker Quellenangaben für einige der Originale: Im Abschnitt „Text 1: Russian Constructivism“ (DQ 41) verarbeitet sie einen ihrer eigenen Essays43, in „Text 2: The Leopard: Memory“ (DQ 59) verwendet sie Ausschnitte aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo, später im Roman eignet sie sich noch „Wedekind’s Words“ (DQ 77) an. Diese Beispiele zeigen, wie Acker die Plagiate politisch umcodiert und in neuen Kombinationen im Rahmen ihrer Romane, wieder 41 | Pitchford: a. a. O., S. 73. 42 | Barthes: „Der Tod des Autors“, a. a. O., S. 62. 43 | Vgl. dazu: Kathy Acker: „Russian Contruc tivism“, in: dies.: Bodies of Work, a. a. O., S. 106–125.

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in den umkämpften kulturellen Raum einspeist: „Whenever I engage in discourse, I am using given meanings and values, changing them and giving them back.“44 Allein schon aus diesem Grund ist der ihrer Ästhetik immer wieder gemachte Nihilismusvorwurf absurd. Ihre Pastichetexte unterlaufen nicht nur die normative Funktion der Sprache bei der Konstitution von kulturellen Strukturen und Subjekten (auch Autorensubjekten), sondern thematisieren auch auf inhaltlicher Ebene Machtstrukturen, kritisieren sie oder codieren sie kreativ um. So „zerschneidet“ Acker die Geschichte Don Quixotes nicht nur, sondern macht aus ihm einen weiblichen Ritter, der als Nomade die Weltliteratur durchstreift und dabei das reaktionäre Klima in Ronald Reagans Amerika bekämpft. Es ist die produktive Kombination verschiedenster literarischer , historischer und medialer Bruchstücke, die aus der destruktiven binären „Anti-Ästhetik“ der Moderne eine Ästhetik des heterogenen Zwischen macht. Anders als bei Burroughs’ Cut-ups lassen sich bei Acker die Textfragmente selbst hypothetisch nicht mehr zu den Originaltexten zusammensetzen, weil innerhalb der Bruchstücke Interventionen vorgenommen wurden. Hier offenbart sich eine weitere bemerkenswerte Analogie zwischen Ackers literarischem Programm und dem Denken Deleuzes. Denn dieser hat in seinen Dialogen ausgeführt, dass ein Modell des Pick-up – als solche sind Ackers Textübernahmen zu verstehen – einem Cut-up vorzuziehen ist. Denn das Cut-up nach Burroughs’ Methode geht immer noch davon aus, durch die angewandten Verfahren der Spontaneität einen, wenn auch obskur definierten metaphysischen Ort der Authentizität – „The Third Mind“ – zu erschließen. Deleuze plädiert dagegen für ein ergebnisoffenes Experimentieren, das nicht auf das Erreichen einer wie auch immer gearteten Utopie abzielt, sondern darauf, in den verschiedenen Bereichen das eine oder andere versucht zu haben. Das is t besser als das ,cut-up‘. Es is t eher ein Verfahren des ,pick-me-up‘, des ,pick-up‘ – das Wort genommen in all seiner Bedeutung, einschließlich der sexuellen. Burroughs ,cut-up‘ bleibt eine Methode von – zumindes t linguis tischen – Wahrscheinlichkeiten, is t kein Verfahren des Auslosens oder der jeweils einzigartigen Chance, die die heterogenen Elemente kombiniert. 45

Für Deleuze liegt in dem Moment der heterogenen Kombination die transgressive Überlegenheit des Pick-up gegenüber dem Cut-up, weil es in seiner Offenheit für neue Konnexionen etablierte Denk-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsmuster weit wirksamer entgrenzen bzw. deterritorialisieren kann: Geltung besit zt es [das „pick-up“ – d. Verf.] nur in Abgrenzung von Burroughs ,cut-up‘: weder Abschneiden noch Falten und Kappen, sondern Vermehrung anhand wachsender Dimensionen. Das ,pick-up‘ oder der zweiseitige Diebs tahl, die aparallele Entwicklung, vollzieht sich nicht zwischen Personen, wohl aber zwischen Ideen, deren jede sich in der anderen deterritorialisiert, einer oder mehreren Linien folgend, die in keiner der Ideen für sich, isoliert verlaufen und einen ,Block‘ mit sich davontragen. 46 44 | Acker : „Pos tmodernism“, a. a. O., S. 4. 45 | Deleuze/Parnet: a. a. O., S. 17. 46 | Ebd., S. 26.

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Ackers Haltung zu Burroughs’ Methode ist der von Deleuze ganz ähnlich. Während Burroughs versucht, der gesellschaftlichen Hegemonialmacht die Herrschaft über die Sprache durch die Zerstörung ihrer semantischen Struktur zu entreißen, versucht Acker diese enthierarchisierte Sprache offensiv gegen die Macht einzusetzen. Das Cut-up produziert eine Ästhetik der Trümmer. Acker entwickelt dieses Verfahren zum Pick-up weiter, das diese Trümmer aufnimmt und mittels kreativer Appropriation neue, hybride Textgebäude baut. Wo das Cut-up-Verfahren die Form völlig auflöst, produziert das Pick-up eine Mannigfaltigkeit der Formen. In ihrer Heterogenität müssen die dabei entstehenden Texte nicht unbedingt einen kohärenten Sinn ergeben – in ihrer Ablehnung von „organischen“ Narrativen als hermetische Zwangssysteme sind Acker und Burroughs einer Meinung –, wohl aber auf der Grundlage des individuellen politischen Standpunktes des „Schriftstellers“ basieren, der anders als der cartesianische Autor keine alternative, überdiskursive Wahrheit oder Utopie formuliert, sondern die Texte, die ihn und seine Kultur geschrieben haben, für radikal neue Konnexionen nach den eigenen, individuellen Maßstäben und ohne die Berufung auf Autoritätem öffnet: „Each of you must use writing to do exactly what you want. Myself or any occurrence is a city through which I can wander if I stop judging.“ (PPP 299)

E XPERIMENTELLE Ä S THETIK UND DIE „I NS TITUTION K UNS T “ Ackers Methode des Plagiierens hat nicht nur eine subjekt- und literaturtheoretische Dimension, sondern setzt auch ein weiteres zentrales Projekt der klassischen Avantgarden fort: den Kampf gegen die „Institution Kunst“. Ich habe im Theorieteil bereits darauf hingewiesen, dass keine avantgardistische Bewegung je darin erfolgreich war, diese Institution zu zerschlagen, der es immer wieder gelungen ist, transgressive Kunstformen ihrer Subversivität zu berauben, in ihre jeweiligen historischen Verwertungszusammenhänge zu integrieren bzw. sogar, wie Holert und Terkessidis es in ihrer These vom postmodernen „Mainstream der Minderheiten“ ausführen, die Dissidenz selbst vermarktbar zu machen. Acker ist in ihrem postmodernen Verständnis von Überschreitung klar, dass auch ihre eigene Literatur kein utopisches „Außerhalb“ der „Institution Kunst“ darstellen kann. Separatismus funktioniert auch auf diesem Feld nicht. Zwar war sie in den 1970er Jahren im subkulturellen New Yorker Underground aktiv und hat ihre Werke zunächst in die in dieser Szene üblichen alternativen Distributions- und Repräsentationsformen eingespeist (etwa in den bereits erwähnten Mailart-Netzwerken). Doch vom Standpunkt des kulturellen Radikalismus aus war auch diese Alternativkultur kein „Außen“, sondern eine Nische in den marginalen Fransen des Systems. Seit den frühen 1980er Jahren erschienen alle ihre Romane bei etablierten Verlagshäusern, so dass Acker, selbst wenn ihre persönliche Philosophie es ihr gestatten würde, gar nicht hätte behaupten können, außerhalb der „Institution Kunst“ zu stehen. Ihr ist klar, dass sie die Maschinerie dieses Diskurses nur von innen heraus sabotieren und

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ihr reibungsloses Funktionieren stören kann. Der Illusion, sie zerstören zu können, gibt sie sich nicht hin. So nutzt sie ihre Romane auf inhaltlicher und ästhetischer Ebene vor allem als Medium der Kritik an der zu ihrer Zeit aktuellsten Ausprägung der „Institution Kunst“ in den Vereinigten Staaten: der Verbindung von Kunst und Kapitalismus in Gestalt der „Art World“. Amy Newman hat in ihrem Buch über die Gründungsphase des Magazins Artforum (in dem auch Acker publiziert hat), des wichtigsten publizistischen Organs der „Art World“, diesen Begriff zwar nicht erfunden, aber eine gute Definition gegeben. Sie beschreibt dort, wie Kunst und Markt sich im Spätkapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend vermengten, ohne ihre immer schon vorhandenen Verbindungen länger unter dem Deckmantel der Autonomie der Kunst zu verbergen. Für Newman ist dies zunächst ein genuin amerikanisches Phänomen (das, wie wir heute wissen, schnell eine internationale Dimension angenommen hat): „The institutionalization in America of what has come to be known as ,the art world‘ – an entity encompassing production, distribution, promotion, display and consumption of art as well as its intellectual, topical, legal and social dimensions – took place in the 1960s and early 1970s.“47 Die Folge dieses Institutionalisierungsprozesses war, dass Kunst zunehmend zur Ware wurde und der Kunstbetrieb immer mehr den Regeln und Strukturen der Kulturindustrie anpasste: Artis ts – and collec tors [Hervorhebung im Original – d. Verf.] – became celebrities and some exhibitions became ,hot tickets‘. Large numbers of new museums and ,alternative spaces‘ were founded […], es tablished museums began mounting ,blockbus ters‘, hiring chief executive officers whose main func tion was fundraising ins tead of curating, and employees began to unionize. 48

Diese Tendenzen der Ökonomisierung der künstlerischen Sphäre setzten sich seit diesen Anfängen immer weiter fort und haben in der von der neoliberalen Ideologie geprägten Reaganära einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die „Art World“ hatte sich sich zu einem durch und durch vom Markt druchdrungenen Gebilde entwicklet, das als große Inkorporationsmaschine funktioniert. Ackers Verhältnis zu diesem spezifischen Segment der „Institution Kunst“ ist ambivalent und ihre Fokussierung darauf auch durch ihre Biographie begründet. Angesichts ihrer frühen Einflüsse, besonders aus der Konzeptkunst, bezeichnet sie sich zu recht als „child of the art world“49, was ihren Bezugnahmen besonders auf die New Yorker Szene in gewisser Weise auch den Charakter einer historischen Fallstudie gibt. Gleichzeitig dient diese Institution in ihren Aufsätzen und Romanen wiederholt als Folie für eine generelle Kritik am Nexus von Kunst und Markt im Spätkapitalismus. Auch wenn sie sich auf Konkretes bezieht, kritisiert Acker Allgemeines, weswegen sie, wenn sie von der „Art World“ spricht, nicht nur die Bildenden Künste, sondern 47 | Amy Newman: Challenging Art: Artforum 1962–1974, New York 2000, S. 7. 48 | Ebd., S. 8. 49 | Lotiringer/Acker: a. a. O., S. 16.

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die Kunst an sich, also auch ihre eigene Disziplin – die Literatur – meint. Um verstehen zu können, wie sie gerade ihre Ästhetik in Stellung gegen dieses System bringt, gilt es zuerst noch einen Blick auf die Inhaltsebene der Romane zu richten, weil Acker dort eine ausführliche Analyse der Mechanismen betreibt, die sie mit ihrem Appropriationsstil angreift. In ihren Romanen thematisiert Acker immer wieder eine grundsätzliche Aporie radikaler Kunst: Ein Künstler befindet sich in der kapitalistischen Gesellschaft – besonders, wenn er sich als deren Kritiker begreift –, in einem permanenten Dilemma zwischen der ökonomischen Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und dem Ethos, seine kritische Haltung zum ihn umgebenden Materialismus in seinem Werk inhaltlich und ästhetisch zum Ausdruck bringen zu wollen. Was die spätkapitalistische „Art World“ für Acker – abgesehen davon, dass sie sich selbst, wenn auch am Rand, in dieser Szene bewegt hat – als Objekt der Kritik so interessant macht, ist die Tatsache, dass diese Aporie dort in einem vorher noch nicht dagewesenen Maße zu Tage trat. Dabei ist dieser Zwiespalt kein spezifisches Problem des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er bestand seit der individuelle kritische Künstler als „Nebenprodukt“ der Konzeption des modernen Individuums im Zuge Auf klärung zum ersten Mal die gesellchaftliche Bühne betrat. Denn auch wenn die bürgerliche Fiktion von der Kunst als interessenloser Sphäre und dem Künstler als schöngeistigem Schöpfer seiner Werke etwas anderes vorgegaukelt haben mag, stand gesellschaftskritische Kunst immer wieder im Konflikt zwischen ihrem eigenen idealistischen Anspruch und ihren Funktions- und Verwertungszusammenhängen. Schon in der Moderne wurde bekanntlich oftmals der Warencharakter der Kunst beklagt und die sperrigen Ästhetiken der modernistischen Avantgarden waren zweifellos ein (aus historischer Perspektive vergeblicher) Versuch, dem entgegenzutreten. Der Markt hat auch diese Kunstwerke und ihre Ausdrucksformen in seine Kreisläufe inkorporiert. Acker reflektiert diese Vereinnahmungsprozesse sam Beispiel der Avantgardeszene in New York, in der sie selbst künstlerisch sozialisiert wurde und aktiv war. Die Distanz, die sie durch ihren mehrjährigen Aufenthalt in London gewonnen hat, hat ihren kritischen Blick noch geschärft. In ihrem Aufsatz „Critical Languages“, der sich nicht nur mit der Kulturkritik durch Sprache, sondern auch mit der Sprache der institutionalisierten Kunstkritik auseinandersetzt, beschreibt sie ihre Eindrücke, als sie nach ihren Jahren in England Ende der 1980er wieder nach New York zurückkehrt: Returning to New York City in January, hungry for New York’s art community, or rather for my memory’s vision of New York’s art community [meine Hervorhebung – d. Verf.], I ran from gallery to gallery. Sherri Levine, Richard Prince, Jenny Holzer, etc. Artis ts from whom I had learned much. I now saw that these works equalled money. Art was simply s tock in a certain s tock market; according to gallery dealers such as Richard Flood at Barbara Glads tone, the art s tock market at its top levels was booming more than ever. Despite the general economic decline of the Wall Street market. The rich, as Richard put it, are s till becoming richer.50 50 | Acker: „Critical Languages“, a. a. O., S. 85f.

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Die Erinnerungen, die Acker hier aufruft, sind jene an die Zeit vor der „Yuppiesierung“ der New Yorker Kunstszene in den 1970er Jahren, als sich etwa im East Village noch Freiräume fanden, in denen sich eine radikale Szene des „Underground“ entfalten konnte. Die Kultur des Punk, die Acker zeitweise als Alternative zu der sich schon damals immer mehr institutionalisierten „Art World“ gesehen hat, ist ein Beispiel dafür. Obwohl ihr konzeptionalistischer Schreibstil seine Wurzeln dort hatte, fühlte sie sich ihrer eigenen Aussage nach „very isolated as part of the art world; I could never talk about my work until the punk movement came along and then I don’t know for what reason or what magic thing happened, but suddenly everyone started working together along the same lines.“51 In der Tat hat die Punkkultur Ackers Werk in mancher Hinsicht nachhaltig geprägt. Nicht umsonst wird sie als „Queen of Punk Literature“ angesehen, ein Titel, der immer wieder zitiert wird, dessen Ursprung sich aber nicht mehr rekonstruieren lässt. McCaffery hat in einem Aufsatz eine Reihe dieser Gemeinsamkeiten zwischen Punk und Ackers persönlicher Politik und Ästhetik beschrieben, die sich beide als Absetzbewegung zu den ästhetischen und politischen Utopien der „Sixties“ verstanden: „Emerging in part as an angry reaction against the elation of so much 1960s art (with intoxicated dreams of social change, peace, aesthetic renewals, new possibilities), punk projected a parodic and deeply disturbing image of victimization, alienation, and hopelessness.“52 Ackers transgressives Projekt und die Punkbewegung stellten teils die selben Fragen und unternahmen ähnliche Experimente in allen Aspekte von Kunst und Leben: Punk art explores the s tatus and meaning of revolution, the elevation of crime and perversity into art, the reworking of familiar public archetypes and icons into unsettling new forms, the undermining of all accepted forms of discourse, the recuperation of the trivial and ugly elements of our daily exis tence into forms that would baffle and anger sys tems producing this exis tence.53

Aber auch der Punk konnte für Acker, bei allen ästhetischen Gemeinsamkeiten, nur eine temporäre Station auf ihrem Weg über die „Leitern der Transgression“ sein. Denn er war, wie ich im Theorieteil diese Studie bereits angedeutet habe, die vielleicht letzte kulturell-avantgardistische Bewegung vor der postmodernen Wende – gesamtgesellschaftlich und in Ackers Werk – die eine authentische Sphäre des Außen suchte. McCaffery analogisiert hier die Erfahrung einer Punk-Performance mit der Lektüreerfahrung der Romane von Kathy Acker: „It is in such moments where we are transported to a sacred place beyond dull rationality and blind adherence [meine Hervor-

51 | Freidman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S 15f. 52 | Larry McCaffery: „The Artis ts of Hell: Kathy Acker and ,Punk Aes thetics‘“ in: Ellen G. Friedman und Miriam Fuchs (Hg.): Breaking the Sequence: Women’s Experimental Fic tion, New York 1994, S. 215–230, hier S. 219. 53 | Ebd., S. 220.

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hebung – d. Verf.]. In a sense, Kathy Acker’s fiction can be seen most simply as an extended effort to produce such moments of liberation.“54 In seiner optimistischen Interpretation übersieht er, dass Ackers philosophisches Modell der Transgression keinen „sacred place beyond“ mehr kennt, sondern nur noch Zwischenräume. Dementsprechend hatte die Punkbewegung für sie auch nur temporäre Befreiungspotentiale, ehe sie selbst normative Strukturen (etwa, weil der angeblich regellose Punk die Zugehörigkeit seiner Mitglieder durch modische Codes regelte) ausgebildet hat. Die anarchische, transgressive Energie der frühen Jahre hat sich schnell verbraucht, wie auch Acker konstatiert. In Empire of the Senseless, im Jahr 1988 erschienen, bilanziert sie: „Punk died eleven years ago.“ (EoS 115). Während es in den 1970er Jahren durchaus kreative und fruchtbare Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen Underground, Punk und „Art World“ gab und Künstler(innen) wie Acker auf den Grenzen zwischen diesen Subkulturen wandeln konnten, ist es eine Dekade später, nach dem (aus avantgardetheoretischer Perspektive zwangsläufigen) „Tod des Punk“ geradezu zu einem „Backlash“ gekommen. Das Kunstestablishment, das mittlerweile vollständig von der materialistischen „Ethik“ der Yuppies durchdrungen ist, hat sich von allen kreativen Innovationen an seinen Rändern abgekapselt: I searched for younger or more radical work or jus t something other than s tock. But the New York art world seemed to have closed its ranks: the old community in which an underground gradually became commercial has disintegrated into a market whose share-holders, frightened, are determined to take no more chances. For New York City is a very expensive urban area. If one wants to s tay alive. Not everyone does.55

Auf diese aus ihrer Perspektive vollständige kommerzielle Vereinnahmung gerade der ehemals experimentellen New Yorker Undergroundbohème durch die etablierte Kunstwelt nimmt Acker auch in ihren Romanen wiederholt Bezug und kritisiert sie scharf. Das Primat der Ökonomie, dass ihrer Ansicht nach schon immer eine grundlegende Konstante der westlichen Kultur war und das in den USA in den 1980er Jahren, befördert durch die Politik Reagans, zum ideologischen „Master Narrative“ für alle Gesellschaftsbereiche wurde, hatte die Kunst übernommen. In Great Expectations wird beklagt, dass sich Künstler in dieser Situation einem extremen Konformitätsdruck durch den herrschenden Konsumismus in der amerikanischen Gesellschaft ausgesetzt sehen: „Since the American culture allows only the material to be real (actually, only money), those who want to do art unless they transfer their art into non-art i. e. the making of commodities, can’t earn money and stay alive.“ (GE 215) Die vollständige Ökonomisierung „Art World“ ist für Acker der zentrale kunstpolitische Konflikt ihrer Zeit. In einem kurzen Kapitel mit dem für sich selbst sprechenden Titel „The Art-World Or The World of Non-Materialism Is Becoming Materialistic Therefore Society’s Dead“ (PPP 278) formuliert sie ihn in ihrem Pasoliniroman noch einmal ausführlich: 54 | Ebd., S. 221. 55 | Acker: „Critical Languages“, a. a. O., S. 86.

A CKERS TRANSGRESSIVE Ä STHETIK UND IHRE F UNKTION The main controversy in the art world these days is money. You can call this controversy artis tic and social. […] The ques tion is: Are art and monetary profit compatible? The ques tion is: Does capitalism which mus t be based on materialism or the absence of values s tink? The ques tion is: what is art? Is art worth anything in the prac tice of art making (of values) or is it craft? Can the making of values and non-value (money) occur simultaneously? In the Renaissance, the artis t did what his patron told him to do[.] (PPP 280)

Aus Ackers Perspektive hat sich seit der Renaissance nur vordergründig etwas geändert. An die Stelle des Mäzens als individueller Person ist lediglich das unpersönliche System des Kunstmarktes getreten, das dem Künstler normative Grenzen setzt. Im Gespräch mit Friedman stellt sie resigniert fest: „[I]t’s just more of the same: the culture is there to uphold the postcapitalist society, and the idea that art has nothing to do with politics is a wonderful construction in order to mask the deep political significance that art has – to uphold the empire in term of its representation as well as its actual structure.“56 Auch die spätkapitalistischen Eliten bedienen sich der Kunst als repräsentatives Medium, Statussymbol und Distinktionsmittel und so polemisiert Acker in Don Quixote gegen die „Art World“, indem sie eine strukturelle Verbindung zu den Institutionen der Politik konstruiert: „The New York City art world for obvious economic reasons modelled itself politically on the White House realm.“ (DQ 103) Natürlich kann man die Inkorporierung avantgardistischer Kunst durch die „Art World“ als einen zwangsläufigen Vorgang betrachten, wenn man, wie Acker es tut, der Avantgarde nur temporäre transgressive Wirkung zuspricht. Doch was die Situation in den 1980er Jahren aus ihrer Sicht so problematisch macht, ist die Tatsache, dass der alles durchdringende Materialismus der neoliberalen Ideologie einen nie vorher dagewesenen ökonomischen Druck erzeugt, der es dem avantgardistischen Nachwuchs beinahe unmöglich macht, als Künstler zu überleben. Die soziale Spaltung der amerikanischen Gesellschaft während der Reaganära spiegelt sich auch in der Sphäre der Kunst. Wer es nicht in die wenig durchlässig gewordenen Vermarktungskreisläufe der „Art World“ schafft, ist mehr oder wenig zum Hungertod verurteilt. Acker selbst beklagt dieses Schicksal in ihrem ironischerweise in Artforum, dem „Zentralorgan“ der „Art World“ erschienen Aufsatz über die „Models of our Present“ aus dem Jahr 1984: „I have no use in the world; the world has no use for me. I can barely earn money; 36 years old I live on street between bums and hookers.“57 Auch in ihren Romanen diese Problematik immer wieder thematisiert. In Great Expectations heißt es polemisch: „Almost every living artist who keeps on doing his art has family money or at least one helpful sex partner.“ (GE 215) Eine Fiktionalisierung dieser bitteren Feststellung findet sich in Ackers Pasoliniroman. Dort gibt es unter der Überschrift „The art world of New York City“ eine karikaturhafte Passage über dieses Milieu, das mit Hamlet verschnitten wird. Shakespeares Held wird hier zum Schriftsteller im Dunstkreis besagter „Art World“ und findet sich 56 | Friedman: „A Conversation with Kathy Acker“, a. a. O., S. 21. 57 | Acker: „Models of our Present“, a. a. O., S. 64.

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mit dem bereits skizzierten Dilemma konfrontiert, zwischen ökonomischem Zwang und künstlerischer Integrität wählen zu müssen: Hamlet’s Maid: Then an artis t can’t live these days by his art? Hamlet: That’s a very important point. I’m going to conquer the world. Whatever I have to do to myself to achieve this. Hamlet’s Maid: But, sir, you don’t have any money. Hamlet: So what. Are you a materialis t? Am I a materialis t?... Hamlet’s Maid: Yes. Hamlet: …If it’s not money that matters, it’s the idea. Oh, the world! Anyway, money is the main thing those who are really in power are using – the ac tually make [Hervorhebung im Original – d. Verf.] it – to control us. Rich men don’t have money, they have power. I hate the rich. Hamlet’s Maid: But not their money. (PPP 261)

Als Ausweg aus seiner Situation bleibt Hamlet nur die Hoffnung auf Nachruhm und vor allem auf den „helpful sex partner“ (s.o.): „No more dumb jokes. No one reads me now so I’d better write for posterity though the world’s ending. Like a good artist, I’m going to marry Ophelia for her money!“ (PPP 261) Diese Geldspritze hat er nötig, weil sein letzter Versuch, als Künstler sichtbar zu werden letztendlich am Kapitalismus in seiner vielfältigen Ausprägung gescheitert ist: Hamlet’s Maid: The las t time you wrote a play, the printer s tole all the money you gave him to print the play, the lawyer you hired turned around and sued you for three thousand dollar court fees though no one ever went to court, three famous people sued you for libel, and now all the women refuse to fuck with you cause you might write about them. You don’t have any friends left. And your parents hate your guts. (PPP 262)

Doch Hamlet will sich in seinem Idealismus den Gegebenheiten nicht beugen. Er will mit seiner Kunst gegen die wirtschaftlichen Eliten von Ronald Reagans Amerika ankämpfen und ihre intellektuelle und moralische Verwahrlosung offenlegen. Dafür will er sogar – ganz im Sinne der avantgardistischen Entgrenzung der Künste – vom Dramatiker zum Maler werden: „I’ll be a representational painter. What’s in a name these days? I will represent the poverty of spirit that the powers behind Reagan endorse. Economic poverty. Social poverty. Political poverty. Emotional poverty. Ideational poverty.“ (PPP 262) Für Acker stellt dieses Unternehmen sicherlich ein hehres Ziel dar, doch sie schreibt ihm angesichts der rein ökonomischen Gesetze, nach denen der Kunstmarkt mittlerweile funktioniert, eine gewisse Naivität zu. Es ist daher eine bitter ironische, aber folgerichtige Entscheidung, Hamlets Projekt an den harten wirtschaftlichen Realitäten scheitern zu lassen: Seine „Maid“ betritt die Szenerie in Begleitung zweier Männer: „Hamlet. They’re here to arrest you because you haven’t paid your bills.“ (PPP 263) Die Konsequenz dieses Auftritts der Agenten des Marktes ist der in knappen Worten formulierte Abgang Hamlets – aus dem Roman wie aus der Kunstszene: „(Hamlet flees.)“ (PPP 263)

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Diese Karikatur verdeutlicht Ackers Perspektive auf die „Art World“ im Kontext der ihr so verhassten ökonomischen Realität der neoliberalen Reagonomics, in der jeder gegen jeden kämpft. In gewisser Weise hat das sozialdarwinistische „Ethos“ der Yuppies auch die Kunst ergriffen: „The art market is becoming more glutted and artists help each other out less and stab each other in the back and do everything else necessary to survive.“ (GE 215) Wie schon im Falle Rimbauds wird der Mythos vom „Poète maudit“ von der „Politik der Straße“ entzaubert: „For art, as you well see, there has never been a favourable time; it has always been said that it must go a-begging; but now it will die of hunger.“ (PPP 179) Die Chancen, diesem Schicksal zu entgehen, stuft Acker eher als gering ein: So an American artis t has about one chance in 100,000 to earn a living making art. Nevertheless all the artis ts expec t to have this one in 100,000 success. After five to thirty years of either slow s tarvation or, if there’s family or sexual money, lack of feedback recognition and dis tribution (for only the few artis ts who are famous [meine Hervorhebung – d. Verf.] get their work amply recognized and dis tributed), at leas t three-quarters of the artis ts who haven’ died off yet are willing to do anything to succeed and turn to more commercial or technical work or become bums. (GE 215)

Wie Acker im Gespräch mit Friedman erläutert, war ihre Übersiedlung nach England auch der Versuch einer Flucht vor den kommerziellen Zwängen des amerikanischen Kulturbetriebes mit seinen neoliberal-darwinistischen Gesetzen: It’s better for a writer over there, for me. There I’m an accepted writer. Here it was very difficult; I was sort of an adjunc t to the art world. […] I was thirty-seven when I got out of New York. I was feeling that my life was never going to change. To survive in New York is to be a little like those hams ters on a wheel, the wheel turns fas ter and fas ter. I felt that either I had to get very famous [meine Hervorhebung – d. Verf.], jus t as a calling card for survival – I had to write movie scripts, I had to do whatever writers do here, write for popular magazines – or else become like a lot of poets I know who are very bitter about their poverty. And I don’t want either alternative. What I like is the middle ground.58

Die für die Vermarktung so wichtige Kategorie des Ruhms („fame“) wird von den diskursbestimmenden Eliten der „Art World“ – den Agenten von Kritik und Markt – definiert, die den Status und den (materiellen wie ideellen) Wert von Kunst bestimmen. Deren Mechanismen beschreibt Acker am Beispiel der Galerien, die aus ihrer Perspektive zu Marketingmaschinen geworden sind, die Künstler mit den Strategien des Starkults der Unterhaltungsindustrie zu einer „Marke“ machen und das Image des Poète maudit als schick verkaufen. Verdichtet fiktionalisiert Acker diese Prozesse in ihrem Pasolinibuch. Auch wenn sie hier über „Pasolini’s City“ (PPP 278) schreibt, bezieht sie sich hier natürlich allegorisch auch auf den New Yorker Kunstmarkt, der 58 | Friedman: a. a. O., S. 18. In der Rückschau mutet es geradezu ironisch an, dass Acker ausgerechntet in London –durch ihre modische Vereinnahmung als „enfant terrible“ des Literaturbetriebes das größte Ausmaß an Ruhm in ihrer Karriere zukam.

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eine Vorbildfunktion für die restliche westliche Welt hat. Sie konstatiert dabei auch den Paradigmenwechsel, nach dem experimentelle Ästhetik für sich genommen, anders als in der bürgerlichen Moderne, längst kein Hindernis mehr für die Vermarktbarkeit darstellt, sondern im Gegenteil eher als verkaufsförderndes Distinktionsmerkmal innerhalb des ökonomischen Feldes dienen kann: The two mos t powerful Roman galleries for relatively experimental art when they collaboratively present an artis t’s work make that artis t’s career [meine Hervorhebungen – d. Verf.] (insofar as any one event can make an artis t’s career). One rich woman tells these gallery dealers who to show. Recently the two galleries presented the work of a young painter who had had an affair with the woman and whom she fell in love with. The show sold out before it opened. The paintings are good. (Bitchy gossip. No art magazines or biographies mention these nexes.) The wealthy woman s till says this painter is the fines t of the young painters. (PPP 279)

Die Verwandlung vom Kunstwerk zur Ware wird Ackers Ansicht nach flankiert von der intellektuellen Seite der „Art World“, der Kunstkritik, die jedes Kunstwerk seiner potentiellen Ambiguitäten beraubt und durch marktkonforme Interpretation in die Grenzen der eindeutigen Bedeutung zwängt: „The homogenity of the criticism dissimulates the heterognity of the art. Often for the purposes of the art market: By means of the act of presenting which authority, art criticism transforms a complex of meanings that do not have closure (the artwork) into a structure of closed or centralized meaning and defined position in culture and history.“59 Da Acker in den Ästhetiken des Mehrdeutigmachens das transgressive Potential von Kunst sieht, muss diese Form der professionellen Kritik zwangsläufig zu ihrem Feindbild werden. Die Macht dieser Kritikereliten persifliert Acker am Beispiel Susan Sontags, die durch ihren Status als „Starintellektuelle“ in einer Position ist, einen Künstler „adeln“ zu können und ihm damit jenen Ruhm zuteil werden zu lassen, den es für die Vermarktbarkeit braucht. In den ästhetisch am klassischen Briefroman orientieren Passagen von Great Expectations findet sich folgender Brief der Protagonistin Rosa an Sontag: Dear Susan Sontag, Would you please read my books and make me famous? Ac tually I don’t want to be famous because then all these people who are very boring will s top me on the s treet and bother me already I hate the people who call me on the phone because I’m always having delusions. I now see my delusions are more interes ting that anything that can happen to me in New York. Despite everyone saying New York is jus t the mos t fascinating city in the world. Except when Sylvère fucks me. I wish I knew how to speak English. Dear Susan Sontag, will you teach me how to speak English? For free, because, you unders tand, I’m an artis t and artis ts by definition are people who never pay for anything even though they sell their shows out at $10,000 a painting before the show opens. All my artis t friends were s tarving to death before they landed on their middle-class mothers’ wombs; they especially tell people how they’re s tarving to death when they order 59 | Acker: „Critical Languages“, a. a. O., S. 88.

A CKERS TRANSGRESSIVE Ä STHETIK UND IHRE F UNKTION $ 2.50 each beers at the Mudd Club. Poverty is one of the mos t repulsive aspec ts of human reality: more disgus ting than all the artis ts who’re claiming they’re total scum are the half-artis ts the hypocrites the ACADEMICS who think it’s in to be poor, WHO WANT TO BE POOR, who despise the white silk napkins I got off my dead grandmother – she finally did something for me for once in her life (death) – because those CRITICS don’t know what it’s like to tell men they’re wonderful for money, ‘cause you’ve got to have money, for ten years. I hope this society goes to hell. I unders tand you’re very literate, Susan Sontag, Yours, Rosa (GE 184)

Rosa ist unschwer als Alter Ego Ackers auszumachen. Die Bezüge auf die Beziehung zu „Sylvère“ (Lotringer) die Ablehnung intellektueller Eliten wie Akademikern und Kritikern als Agenten der Macht, die aus einer Situation materieller Sicherheit heraus zur Romantisierung des Mythos vom „armen Poeten“ beitragen, der für Acker und andere Künstler existentieller Überlebenskampf ist oder der Hinweis auf die Tätigkeit im Rotlichtmilieu („to have to tell men they’re wonderful for money“) sind eindeutigige Referenzen auf die eigene Biographie der Autorin. Auch die Rolle von Artforum als wichtigstem publizistisches Organ der „Art World“ wird in My Death, My Life, By Pier Paolo Pasolini in einer Passage mit dem Titel „Artcriticism and art“ (PPP 315) karikiert. Darin findet sich in den Redaktionsräumen der Zeitschrift ein skurriles Figurenensemble zusammen, das aus einem „Situationalist With Italian Accent“, dessen „Girlfriend“, „Tom (who’s an Irish artist turned American“), einer marxistischen Feministin, einer nicht näher spezifizierten Gruppe von Mördern („all dark, black. The skin. Murderer.“) und einer „Grandmother“ besteht (Vgl. PPP 316). Zwischen ihnen entspinnt sich ein grotesker Dialog über die Erfolgsaussichten der ästhetischen und aktionistischen Strategien verschiedener politischer und avantgardistischer Bewegungen, der hier nicht in Gänze wiedergegeben werden muss. Es wird jedoch offenkundig, dass Acker die politische Positionslosigkeit der Kunstkritik beklagt: Tom: (who’s an Irish artis t turned American): No, this woman’s correc t. There’s definitely a problem with Situationalism as it now s tands. I therefore propose we get rid of all judgements. No more you v. me v. Reagan or rich v. poor. We don’t mean anymore. We Americans and our allies the British (in thick Irish accent) will give the world a fine example! Marxis t Feminis t: (not unders tanding anything): Of what? Tom: Of the new politics: no politics. Everything. We can and do everything. We are theatre. (PPP 316)

Acker beendet diese Passage mit den trockenem Sarkasmus: „End of my version of art-criticism.“ (PPP 316). Unerwünschte und kritische Kunst wird, so Ackers Analyse, nun nicht mehr mit den für die disziplinarische Moderne typischen, rein repressiven juristischen Methoden von Verbot und Zensur (die Zensur ihrer eigenen Bücher muss durchaus als Anachronismus angesehen werden) mundtot gemacht, sondern durch die Mechanismen eines sich als „frei“ maskierenden Marktes kontrolliert: „The art work’s no longer

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the one object that’s true; sellability and control rather than truth, are the considerations that give the art object its value. Art’s substructure has moved from ritual and truth to politics“ (PPP 303). Politik heißt in diesem Fall die Ideologie des Marktliberalismus, der jene Künstler, die ihr Werk nicht zu „commodities“ (s.o.) machen wollen, an die Peripherie drängt. Die neue Norm der Kunst ist also weder die politische Linientreue noch die ästhetische Konvention, sondern ihre Vermarktbarkeit, wie Acker in ihrem Aufsatz über die „Models of Our Present“ feststellt: „[A]rt has to sell to mean; artwork to sell should be a description, an image, rather than a cry.“60 Den Unterschied zwischen „cry“ und „description“ definiert sie folgendermaßen: „Examine the two statements , ,Help!‘ and ,I need help.‘ The first language is a cry, the second, a description. Only the cry, art, rather than the description or criticism, is primary.“61 Acker positioniert hier einmal mehr den Affekt als Gegenstrategie zur Zweckrationalität, hier jener des Kunstmarktes. Mit den Begriff lichkeiten „description“ und „image“ will sie also nicht behaupten, es habe eine unumschränkte Rückkehr zum Realismus gegeben, sondern den Funktionswandel des Experimentalismus in der Postmoderne beschreiben. Denn das Publikum der „Art World“ hat längst keine Probleme mit avantgardistischen Ästhetiken mehr, die mittlerweile beinahe ornamentalen Charakter gewonnen haben – zumal wenn sie kanonisiert (wie es die modernistischen Avantgarden in den 1980er Jahren längst waren) oder „en vogue“ (als bekanntestes Beispiel wäre hier Warhol zu nennen, der ja früh mit dem Thema „art as commodity“ gespielt hat) sind. Ein kubistisches Gemälde von Picasso an der Wand zu haben, mag in der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts noch ein politisches Statement zugunsten eines sich auch als sozial progressiv verstehenden Modernismus gewesen sein. In den 1980er Jahren dient es rein dem Prestige und der Zurschaustellung der finanziellen Potenz des Besitzers. Es erscheint wie eine Ironie der Geschichte, dass es gerade die einst experimentellen Ausdrucksformen und die alten avantgardistischen „Ismen“ sind, die, längst kanonisiert, hier eine Funktion erfüllen, die sie eigentlich abschaffen wollten: „There’re a few artists whose work this society desires, for the country needs some international propaganda (and there’s nothing as harmless to a materialist as formalist experimentation) [meine Hervorhebung – d. Verf.].“ (GE 215) Acker kritisiert hier vor allem eine ganz bestimmte Art von formalistischem Experiment als harmlos. Um dies zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass sie eine Ästhetik der reinen Dekonstruktion gerade in der Postmoderne als potentiell affirmativ versteht. Der in der Moderne noch gültige Nexus von Experimentalität und Subversion ist nun aufgehoben, auch diese Ästhetiken sind jetzt als „commodities“ vermarktbar geworden. Ich habe bereits ausgeführt, dass Acker Baudrillards Theorien problematisch findet, weil dieser es ihrer Ansicht nach versäumt hat, die von ihm dekonstruierten Signifikanten politisch gegen die Macht zu wenden. In ihrem Aufsatz „Critical Languages“ schreibt sie, dass ihn gerade dieser Umstand zum Lieb60 | Acker: „Models of our Present“, a. a. O., S. 64. 61 | Ebd.

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lingstheoretiker der immer kommerzieller werdenden Kunstszene dieser Ära machte: „Jean Baudrillard, out of all those French theorists, became the theoretical idol of the New York art world, Baudrillard whose politics, unlike Deleuze’s and Guattari’s, are, at best, dubious[.]“62 Bezüglich dieser Aussage Ackers sei auf Ebbesens zutreffende Analyse verwiesen: As regards Baudrillard’s complicity in depoliticizing theory, we need only remember the nineteen eighties, when the New York art scene conduc ted a brief fetishis tic love affair with his concept of ,simulation.‘ Here, I speak of the short lived Neo Geo movement, which included artis ts auch as Peter Halley, Meyer Vaissman, Heim Steinbach, and Jeff Koons. Their works supposedly represented perfec t examples of what the new ,pos tmodern‘ art of the eighties had to be, namely, pure ,simulations‘[.] 63

Was dieser Art von experimenteller Kunst aus Ackers Perspektive fehlt, ist ein Standpunkt, der nicht nur formalistische, sondern soziokulturell-politische Grenzüberschreitungen ermöglicht. Wie ich oben gezeigt habe, versucht Acker, den subversiven Charakter avantgardistischer Ästhetik durch Repolitisierung zu retten. Wo das einst subversive Cut-up-Kunstwerk ebenfalls Warencharakter angenommen hat, hofft Acker auf das Pick-up als Ausdrucksform der postmodernen Avantgarde. Nur diese Art von politisch positionierter experimenteller Ästhetik ist, so Acker implizit, ein „cry“ (s.o.), der auch den Materialismus und seine Marktlogik schmerzt, weil sie sich damit der gefälligen Konsumierbarkeit entzieht. Ackers Ästhetik des Plagiats ist ein Versuch, genau diese Strategie umzusetzen, weil sie die Basis untergräbt, die Kunst überhaupt erst als Ware auf dem ökonomischen Feld positionieren kann: das Urheberrecht, das die in Gesetzesform gegossene Seite des Mythos vom Autor als Genius, als Subjekt der Äußerung, als Produzent von Originalität ist. Es ist nicht zufällig parallel zu den Konzepten des bürgerlichen Individuums und des kapitalistischen Marktes entstanden und somit ein dezidiert modernes Phänomen: I now wonder where the idea or the ideology of creativity s tarted. Shakespeare and company certainly s tole from, copied each other’s writings. Before them, the Greeks didn’t bother making up any new s tories. I suspec t that the ideology of creativity s tarted when the bourgeoisie – when they rose up in all their splendor, as the his tory books put it – made a capitalis tic marketplace for books. Today a writer earns money or a living by selling copyright, ownership to words [meine Hervorhebung – d. Verf.]. 64

Acker argumentiert hier analog zu Foucault, der ausgeführt hat, dass die Idee des „Eigentums am Text“ nicht ohne die operative Fiktion des Autorensubjekts zu denken ist und das Plagiat erst durch die konkrete Kopplung von Werk und Person zur Überschreitung werden konnte: 62 | Acker: „Chritical Languages“, a. a. O., S. 85. 63 | Ebbesen: a. a. O., S. 188f. 64 | Acker: „A Few Notes on Two of My Books“, a. a. O., S. 33.

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D AS Z WISCHEN SCHREIBEN Man muss darauf hinweisen, dass dieses Eigentum [des Autors am Text – d. Verf.] his torisch ers t nach dem auf trat, was man als s trafrechtliche Aneignung bezeichnen könnte. Die Texte, die Bücher, die Diskurse bekamen in dem Maße wirkliche Autoren (im Unterschied zu mythischen Personen, großen geheiligten und heiligen Figuren), in dem der Autor bes traft werden konnte, das heißt in dem Maße, in dem Diskurse Übertretungen werden konnten. 65

Als „Urheber“ und „Besitzer“ der Texte konnte der Autor auch für sie haftbar gemacht werden, über ihn konnten sie, so sie in den Augen der herrschenden politischen Organe oder der Eliten der „Institution Kunst“ unliebsam waren, kontrolliert, zensiert, verboten werden. Gleichzeitig machte die Erfindung des Autors dessen Texte zu einem Gut im Kreislauf des Eigentums […]. Und als man eine Eigentumsordnung für Texte schuf, als man s trenge Geset ze erließ über die Urheberrechte, über Beziehungen zwischen Autoren und Verlegern, über Reproduktionsrechte etc. – das heißt Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts –, in diesem Augenblick nahm die Möglichkeit der Übertretung, die dem Akt des Schreibens innewohnte, mehr und mehr den Charakter eines der Literatur inhärenten Gebots an.66

Der avantgardistische Schriftsteller in der Tradition der Dekonstruktion befindet sich also in einer paradoxen Situation. Kunstphilosophisch strebt er danach, durch sein künstlerisches Tun, den Autor und den Mythos der Originalität des Werkes zu dekonstruieren, ist aber, wenn er im kapitalistischen System seinen Lebensunterhalt bestreiten will, auf das Urheberrecht angewiesen, das auf genau diesen beiden Kategorien – Autorschaft und Originalität – basiert. Acker gibt sich hier keinen romantisierenden Illusionen vom armen, aber freien Künstler hin. In der Frühzeit ihrer Karriere, als sie sich an Mail Art und anderen alternativen Distributionsformen versuchte, hat sie sich vielleicht noch der separatistischen Fantasie von der Kunst als Sphäre eines reinen „Außen“ (die interessanterweise ein avantgardistisches Spiegelbild der bürgerlichen Kunstautonomie ist) verschrieben. Doch in den postmodernen „Eighties“ hat sie das unauf lösliche Dilemma des Künstlers im Kapitalismus selbst zur Kollaboration und zum „Ausverkauf“ ihrer frühen (naiven) Ideale gewungen: „We’re always playing a game. We earn our money out of the stupid law but we hate it because we know that’s a jive. What else can we do? That’s one of the basic contradictions of living in capitalism [Hervorhebung im Original – d. Verf.]. I sell copyright, that’s how I make my money.“67 In der bewussten und plakativ inszenierten Nichtanerkennung dieser „Besitzverhältnisse“ ist daher ein wichtiger Aspekt der Subversivität von Ackers Plagiatsästhetik zu verorten. Denn sie geht damit über die bis zur Unkenntlichkeit verschnittenen Aneignungen von Burroughs’ Cut-ups und die für die Postmoderne kennzeichnen65 | Foucault: „Was is t ein Autor?“, a. a. O., S. 245f. 66 | Ebd., S. 246. 67 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 12.

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den intertextuellen Verweise hinaus und greift die „Institution Kunst“ an ihrer ökonomischen Flanke an. Wie so oft bei Überschreitungen ist die Reaktion der grenzziehenden Eliten ein Gradmesser für ihre subversive Wirkung. Acker hat die Reaktion des kapitalistischen Arms der „Institution Kunst“ vor allem durch den bereits angesprochenen Urheberrechtskonflikt mit dem Bestsellerautor Harold Robbins kennengelernt. Sie hatte in einem frühen Werk, The Adult Life of Toulouse Lautrec einige Textstellen aus Robbins kommerziell sehr erfolgreichem Roman The Pirate (1974) appropriiert und, im Rahmen ihres politischen Projekts, modifiziert in ihren Text eingearbeitet, um den sexistischen Subtext von Robbins’ Bestseller herauszustreichen: „Robbins is really soft core porn, so I wanted to see what would happen if you changed contexts and just upped the sexuality of the language. It’s a simplistic example of deconstruction.“68 Anlässlich einer Neuauflage von The Adult Life of Toulouse Lautrec Ende der 1980er Jahre in England wurde sie deswegen massiv juristisch unter Druck gesetzt. Nach Ackers Aussagen nahm diese Affäre durch einen – letztendlich erfolgreichen – Skandalisierungsversuch durch einen Journalisten ihren Ausgang: What had happened was that a journalis t was gunning for me, well that’s my opinion. […] [T]he journalis t called my publisher and then she called Harold Robbins’ publisher, and their response was that, my God, we’re got a plagiaris t in our mids t. So they made a deal that my book would be immediately withdrawn from publication and that I would sign a public apology to Harold Robbins for what I had done. This is not s tandard literary prac tice by any means. This is in fac t banning. 69

Acker empfand dieses Vorgehen als Zensur ihrer spezifischen Ästhetik des Pick-up, aber es war nicht der Staat, der eine moralische oder politische Grenzüberschreitung mit repressiven Mitteln sanktioniert, sondern es sind die Kontrollmechanismen eines bestimmten Segments der „Art World“, nämlich des Literaturmarktes, der ein (vermutetes) ökonomisches Vergehen sanktioniert. In Barbara Caspars Dokumentarfilm bemerkt Ackers ehemaliger Agent Ira Silverberg, dass der Skandal um Robbins ursächlich für ihre Verbannung aus dem britischen Literaturestablishment war, das sie zuvor als Popstar gefeiert hatte. Interessant ist, dass sich Acker, obwohl sie, wie ich bereits gezeigt habe, in verschiedenen Interviews und sogar in den Romanen selbst, ihre Methode als „Plagiarsim“ bezeichnet hat, im Gespräch mit Lotringer von diesem Begriff in seiner juristischen Bedeutung distanziert: „To be guilty of plagiarism, according to the law, is to represent somebody else’s material as your material. I haven’t done that. I have been very clear that I use other people’s material. […] I’ve always talked about it as literary theory and as a literary method.“70 Auch wenn es Acker sehr wichtig ist, zu betonen, dass sie sich Material nicht im strafrechtlichen Sinne aneignet, um selbst 68 | Ebd., S. 13. 69 | Ebd., S. 12. Vgl. dazu auch: McCaffery: „An Interview with Kathy Acker“, a. a. O., S. 84f. 70 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 12f.

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Profit daraus zu schlagen, basiert ihre Aneignungsästhetik doch auf einem bewussten Nichtanerkennen des diskursiv konstituieren „Eigentums“ des Autors am Text. Auch wenn es dank der vom Robbins-Lager geforderten Abbitte – die nicht Acker selbst, sondern ihr Verlag leistete – letztendlich nicht zu einer Anklage kam, findet sich in In Memoriam to Identity eine kaum verfremdete Fiktionalisierung dieser Affäre. Capitol, die Künstlerinnenfigur, kann hier eindeutig als Alter Ego Ackers gelesen werden. Auch sie hat bei der Herstellung der Puppen, die sie für ihre Performances baut, eine analog zu Ackers literarischer Ästhetik verlaufende Entwicklung – weg von rein dekontruktivistischen Methoden hin zum kreativen Pick-up – durchgemacht: Worked alone here, no longer smashing dolls, older, calmer, or so she thought, at leas t older, now dolls bigger than any possible human being always the dolls under a growing surface of artis try, now aware of every other New York artis t’s work. Sometimes even putting their work crudely into hers as if all the world (making) were now freedom. (IM 261)

Genau diese Praxis bringt sie jedoch in Konflikt mit dem kapitalistischen Kunstmarkt: Whatever, and she found out one day, was the legality of plagiarism. The law. The judge. Another artis t, a big fat pig Capitol later thought who is old and rich and doesn’t even make his own work because he’s so old, but she didn’t think this when she used his work, who made a sort of soft-core pornography which had had a left-wing bias when he had s till been young and made his own work (but many artis ts don’t make their own work), sued Capitol for, he said, replicating not using [Hervorhebungen im Original – d. Verf.] a tiny one of his pieces. (IM 261)

Und da die „Institution Kunst“ als kapitalistisches Dispositiv den Autor bzw. Künstler als Eigentümer seiner Werke erfunden hat, um diese in die materialistische Verwertungslogik zu integrieren, hat Capitol mit ihrer Enteignung eine der größtmöglichen Überschreitungen dieser Systemlogik begangen: Ownership is money. Capitol learned. The lawmakers of this world (lawyers, judges, dealers) who were the rich sculptor demanded that Capitol not only des troy this doll, but also publicly apologize for using a rich famous person’s work, for hating ownership, for finding pos tcapitalis t and Newtonian identity a fraud, for all her years of not only publicly hating an ignorant therefore unjus t society but also of trying to make someone of herself. (,I am an other.‘ [Hervorhebung im Original - d. Verf.]) (IM 261)

Mittels der Ästhetik des Plagiats haben Acker und ihr Alter Ego Capitol ein Tabu mit einer Wirkung gebrochen, die sie über die reine Inhaltsebene längst nicht mehr hätten erzielen können.71 71 | Dass das Plagiat als äs thetische Methode immer noch Sprengkraft besit zt, zeigt der Fall der Berliner Autorin Helene Hegemann. Deren im Jahr 2010 erschienener Adoleszenzroman Axolotl Roadkill wurde von der Kritik zunächs t hoch gelobt und die damals gerade 17-jährige Autorin als literarisches Wunderkind gefeiert. Dass Hegemann in der Dankssagung ausdrücklich Kathy Acker erwähnt hat, kann in der Rückschau

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VON DER Ä S THETIK ZUR E THIK : D AS R HIZOM Wie diese Studie bereits gezeigt hat, ist das Experimentelle bei Acker eine Existenzform, bei der das Prozesshafte im Mittelpunkt steht. Anders als bei den klassischen Avantgarden geht es in ihrer Überschreitungsphilosophie nicht um ein „AndersSein“, sondern um ein Suchen, ein Eintauchen in ein permanentes „Anders-Werden“. Wenn es ein literarisch-ästhetisches Prinzip gibt, das diesem Denken entspricht, ist dies Deleuzes und Guattaris Konzept vom rhizomatischen Schreiben. Mit diesem Begriff lassen sich, wie ich im Folgenden ausführen werde, auch Ackers Texte charakterisieren. Denn ihre Weiterentwicklung etablierter avantgardistisch-experimenteller Ausdrucksmittel versucht, Textrhizome zu produzieren, die jede Art von arretierender Ästhetik durch dynamische Verknüpfungen unterlaufen. Sie richten sich sowohl gegen die das ideologisch konstruierte soziale Imaginäre affirmierenden Formen des Realismus als auch gegen die genau dieses Imaginäre in einem einmaligen Zertrümmerungsakt verneinenden Ästhetiken der modernen Avantgarden. Man darf sicherlich nicht den Fehler machen, Ackers Art zu Denken und die daraus entwickelte Ästhetik mit jener Deleuzes und Guattaris als absolut kongruent zu lesen. Aber wie in anderen Bereichen, etwa bei ihrer Vorliebe für das Nomadentum oder der Kritik am psychoanalytischen Subjektverständnis, besteht auch im Hinblick auf die Art, wie sie ihre eigene avantgardistische Haltung stilistisch in Bücher übersetzt, eine zum Teil sehr enge Verwandtschaft zu den beiden französischen Poststrukals Omen für den folgenden Skandal gesehen werden: Es s tellte sich bald heraus, dass Hegemann weite Teile ihres Romanes aus den Werken anderer Autoren, darunter auch Ackers Great Expec tations, plagiiert hatte. Dies führte zu einer heftigen, auch mit persönlichen Anfeindungen gegen die Autorin verbundenen Feuilletondebatte über das begriff liche Dreieck Autorschaft, Originalität und Plagiat, in der in mancherlei Hinsicht ein Echo der entsprechenden Kontroversen um Ackers Methode über zwei Jahrzehnte davor mitklang. Trot z der explizit auf sie bezogenen Danksagung Hegemanns spielte Acker – wohl weil ihre im deutschen Sprachraum ohnehin überschaubare Bekanntheit seit den 1980er Jahren mittlerweile verblass t is t – in dieser Diskussion kaum eine Rolle. Lediglich Jürgen Kaube s tellte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den konkreten Bezug zu diesem Vorbild her: „Als Kathy Acker s tarb, 1997, war die Autorin, die sich da bei ihr bedankt, fünf Jahre alt. Es is t also nicht nur ein pos thumer, sondern auf Lektüre beruhender Dank, den Helene Hegemann am Ende ihres Buches Axolotl Roadkill abges tattet hat. Er gilt einer Schrifts tellerin, die nicht nur durch die Dras tik ihrer sexuellen Dars tellungen bekannt wurde, sondern auch durch ihr Plädoyer für ein ganz hemmungsloses Plagiieren als eigene Kuns tform, eine Praxis, von der sie auch selbs t Gebrauch machte und dafür vor Gericht gezogen wurde.“ (Jürgen Kaube, „Germany’s Next AutorenTopmodel“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 2. 2010, S. 27). Die Nichtanerkennung des „Eigentums am Text“ – die Hegemann im Gegensat z zu Acker allerdings nicht offensiv zur Schau ges tellt hat – scheint angesichts der Vehemenz, mit der diese Debatte geführt wurde, immer noch transgressives Potential zu bieten. Man kann den Skandal durchaus als Hinweis darauf sehen, dass ein Großteil der feuilletonis tischen Literaturkritik immer noch tief in den Denkmus tern des 19. Jahrhunderts mit ihren Kategorien von Autorschaft und Originalität verwurzelt is t und sich indigniert zeigte, als der von ihm selbs t geschaffene Mythos vom „genialen Wunderkind“ durch das Bekanntwerden der Plagiate in sich zusammenbrach.

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turalisten. Vor allem die beiden Bände über Kapitalismus und Schizophrenie, auf die in dieser Studie bereits mehrfach rekurriert wurde, stellen mit ihrer durchaus experimentell zu nennenden Art des Philosophierens transgressive Texte im postmodernen Sinn dar, weil sie nicht nur gängige akademische Konventionen überschreiten, sondern sich sowohl auf wie auch zwischen den Grenzen der Sphären vom wissenschaftlichem und avantgardistisch-literarischem Schreiben bewegen und sich der klaren Zuordnung zu einem der Bereiche permanent entziehen. Überdies haben Deleuze und Guattari schon im ersten Abschnitt von Tausend Plateaus versucht, die Grenzen des Autorensubjekts in einer Art und Weise aufzulösen, die Ackers Überschreitung eines fixierten „I“ sehr nahe kommt: Ein Buch hat weder ein Objekt noch ein Subjekt, es bes teht aus verschieden geformten Materien, aus unterschiedlichs ten Daten und Geschwindigkeiten. Wenn man das Buch einem Subjekt zuschreibt, läss t man diese Arbeit der Materien und die Äußerlichkeiten ihrer Beziehungen außer acht. Man bas telt sich einen lieben Gott zurecht, um geologische Vorgänge zu erklären. 72

Stefan Heyer betont in seinem Buch über Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept die Absicht der beiden Denker „keine Theoretiker […] sondern Experimentatoren [Hervorhebung im Original – d. Verf.]“ sein wollen, denen es nicht darum geht, eine „perfekte Theorie [zu] entwerfen, die als unumgänglich zu gelten hat[.]“73 So wie das wissenschaftliche Schreiben der beiden Franzosen viele literarische Elemente und Referenzen aufweist, sind Ackers Romane zu einem nicht kleinen Teil Philosophie. Alle drei Autoren wandeln in ihrer jeweils eigenen Art auf der Grenze von Theorie und Fiktion, indem sie hybride, nicht kategorisierbare Texte verfassen, um, wie Deleuze es formuliert, „Philosophie als Romancier zu treiben, Romancier in der Philosophie zu sein.“74 Die Denkfigur des Rhizoms ist, wie Deleuze und Guattari sie entwickeln, die Metapher für diese Art des Schreibens zwischen und auf allen Genregrenzen. Ihren Ursprung hat sie in der Botanik, wo der Begriff ein Wurzelgeflecht bezeichnet, dass ohne große Stammwurzeln auskommt. Das rhizomatische Buch stellt also das Gegenmodell zum „Wurzelbuch“ dar, das für die klassische bürgerliche Art des Schreibens in allen Disziplinen steht. Auf dem Feld der Philosophie würde dem Wurzelbuch die lineare, systematische Abhandlung der auf klärerischen Philosophen entsprechen, in der Literatur die des bürgerlichen realistischen Romans: „Es ist das klassische Buch als schöne Innerlichkeit, organisch, signifikant und subjektiv […]. Das Buch ahmt die Welt nach wie Kunst die Natur: mit seinen guten Verfahrensweisen, die das zu einem guten Ende führen, was die Natur nicht oder nicht mehr vollenden kann.“75 Einem solchen „Wurzeltext“ in seinem mimetischen Anspruch liegen die Dualismen 72 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 12. 73 | Stefan Heyer: Deleuzes & Guattaris Kuns tkonzept. Ein Wegweiser durch Tausend Plateaus, Wien 2001, S. 31. 74 | Deleuze/Parnet: a. a. O., S. 61. 75 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 14.

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der bürgerlichen Moderne zugrunde denn „[d]ie binäre Logik ist die geistige Realität des Wurzel-Baumes.“76 Gegen diese Logik wendet sich zunächst „[d]as Nebenwurzel-System oder das Wurzelbüschel [als] die zweite Gestalt des Buches, auf die unsere Moderne sich gern beruft.“77 Wenn Deleuze und Guattari an dieser Stelle von Moderne sprechen, meinen sie die avantgardistische Hochmoderne, die von einer Hauptwurzel – dem „organischen“ Kunstwerk bzw. Buch – ausgehend durch „Nebenwurzeln“ neue Sphären (der Ästhetik, des Bewusstseins etc.) zugänglich machen will. Dabei sehen die beiden Philosophen jedoch das Problem, dass diese avantgardistischen Nebenwurzeln ihre Existenz der Hauptwurzel (der bürgerlichen Ordnung) verdanken. Wie jeder sich ex negativo definierende Diskurs bleiben die Nebenwurzel-Systeme oder Wurzelbüschel in einer binären Struktur verhaftet, die sich als das „Andere“ der Hauptwurzel definiert. Somit bieten sie, trotz ihrer durchaus öffnenden Funktion, keine Alternative zu einem dialektisch strukturierten kulturellen Ganzen: In diesem Fall is t die Hauptwurzel verkümmert, ihr Ende is t abges torben; und schon beginnt das wilde Wuchern einer Mannigfaltigkeit von Nebenwurzeln. Hier kommt die natürliche Realität in der Verkümmerung der Hauptwurzel zum Vorschein, aber dennoch bleibt ihre Einheit als vergangene, künftige oder zumindes t mögliche bes tehen.78

Als Beispiel hierfür führen Deleuze und Guattari unter anderem Burroughs’ Werk an: Man könnte an die Methode des cut-up [Hervorhebung im Original – d. Verf.]bei Burroughs denken: wenn ein Text mit einem anderen zusammengeschnitten wird, ents tehen zahlreiche Wurzeln, sogar wild wachsende (man könnte von Ablegern sprechen), wodurch den jeweiligen Texten eine Dimension hinzugefügt wird. In dieser zusät zlichen Dimension des Zusammenschnitts set zt die Einheit ihre geis tige Arbeit fort. So gesehen kann auch ein äußers t zers tückeltes Werk noch als Gesamtwerk oder Opus Magnum angesehen werden.79

Denn zumindest hypothetisch ließen sich Cut-up-Texte selbst wieder zerschneiden und die ursprünglichen Werke – die Hauptwurzeln – wieder zusammensetzen (s.o.). Im netzwerkartigen Rhizom, das „als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln“80 zu verstehen ist, finden Deleuze und Guattari schließlich ein Beschreibungsmodell für ein Denken und Schreiben, das eine Alternative zur binären Codierung der westlichen Kultur darstellt. Gleichzeitig ist es auch ein Sinnbild für einen dynamischen und permanenten Widerstand gegen 76 | Ebd. 77 | Ebd., S. 15. 78 | Ebd. Diese Erkenntnis deckt sich mit Peter Bürgers Fes ts tellung, dass auch die Avantgarden die Idee der Einheit nicht per se abgelehnt haben. 79 | Ebd. 80 | Ebd., S. 16.

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die multiplen normativen Anrufungen in der postmodernen Welt. Im Rhizom lässt sich der Widerstand im hybriden Zwischen darstellen: „Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo [Hervorhebung im Original – d. Verf.].“81 Es ist eine Form – wenn man diesen Begriff in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden kann – radikaler Entgrenzung und Öffnung und somit für Deleuze und Guattari eine kognitive und ästhetische Strategie gegen die beschränkende Wirkung kohärenter, linearer Narrative. In seiner Offenheit verhindert es die Produktion eines geschlossenen Denkund Wahrnehmungssystems mit all seinen Folgen für Individuum und Gesellschaft und wendet sich daher vehement gegen jenen Hermetikeffekt, den auch Acker am bürgerlichen Erzählen verabscheut: „What I have always hated about the bourgeois story is that it closes down.“82 Als Struktur des Zwischen kann sich das rhizomatische Denken und Schreiben jedweder metaphysischer, ästhetischer, ideologischer oder identitärer Fixierung entziehen: „Es geht um ein Modell, das unauf hörlich entsteht und einstürzt, und um den Prozess, der unauf hörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. Nein, kein anderer oder neuer Dualismus.“83 Als Figur des nomadischen Denkens ist es dem permanenten antiessentialistischen Werden verschrieben: „Der Baum braucht das Verb ,sein‘, doch das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion ,und…und…und‘. In dieser Konjunktion liegt genug Kraft, um das Verb ,sein‘ zu erschüttern und zu entwurzeln.“84 Ein Schriftsteller (im Sinne der Definition von Deleuze und Parnet), der sich dem Rhizombuch „verschreibt“, kann wirklich transgressive Bücher produzieren, weil er nicht an Grenzen (Genre, Gattung etc.) gebunden ist, die für den traditionellen Autor gelten: Schreiben is t entweder eine Form, sich zu re-territorialisieren, sich einem Code herrschender Aussagen, einem Bereich etablierter Sachverhalte einzupassen, worunter nicht nur die ,Schulen‘ und Autoren, sondern alle Professionellen einer Schreibweise, nicht bloß der literarischen, fallen, oder es is t im Gegenteil Werden, etwas anderes als Schrifts teller werden, da das, was man wird, zur gleichen Zeit etwas anderes als Schreiben wird. Nicht jedes Werden führt über das Schreiben und über die Schrift; doch is t alles, was wird, Objekt des Schreibens, Malens, Komponierens. Alles was wird is t eine Linie, die Schluß macht mit jedweder Repräsentation. 85

Um zu zeigen, dass Ackers Romane eine „rhizomatische Ästhetik“ aufweisen, ist es hilfreich den von Deleuze und Guattari in der Einleitung zu Tausend Plateaus gelieferten Kriterienkatalog heranzuziehen, in dem sie den Begriff skizzieren. Als erstes Charakteristikum nennen sie das 81 | 82 | 83 | 84 | 85 |

Ebd., S. 41. Lotringer/Acker : a. a. O., S. 23. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 35. Ebd., S. 41. Deleuze/Parnet: a. a. O., S. 81.

A CKERS TRANSGRESSIVE Ä STHETIK UND IHRE F UNKTION Prinzip der Konnexion und der Heterogenität. Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem anderen verbunden werden. […] [S]emiotische Kettenglieder aller Art sind hier in unterschiedlicher Codierungsweise mit biologischen, politischen, ökonomischen etc. Kettengliedern verknüpft, wodurch nicht nur unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel gebracht werden, sondern auch unterschiedliche Sachverhalte. 86

Diese Art der netzwerkartigen Verweise von allem auf alles prägt Ackers Romane, wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist. Sie ermöglichen ihr, aufzuzeigen, dass bestimmte Machtstrukturen kulturelle Konstanten sind, die sich nur um den Vektor des Historischen und des Stilistischen verschoben haben. Hier nur einige beispielhaft ausgewählte Verknüpfungen, von denen sich viele weitere herstellen ließen: In In Memoriam to Identity wird die historische Geschichte von Rimbaud und Verlaine mit der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg genauso verbunden wie mit einer beißenden Kritik an der Reaganära, einer feministischen Replik auf den Sexismus des traditionellen Avantgardediskurses, einer Dekonstruktion des Ideals vom Künstler als authentischem Außenseiter und dem Motiv der familiaristischen Zurichtung personifiziert durch die dämonische Mutter. Das Rhizom von Empire of the Senseless vereinigt Cyberpunk, antikoloniale Geschichte, subkulturelle Körperpolitik, sexuellen Missbrauch in der Familie mit Pornographie und politischer Revolutionstheorie. Solche nicht-hierarchischen und anti-kausalen Verkettungen könnte man innerhalb der Romane wie auch romanübergreifend beinahe unendlich weiterknüpfen. Sie sind charakteristisch für das Rhizom, das „seinen Zusammenhalt in der Konjunktion ,und…und…und‘ [findet].“ (s.o.) Gleiches gilt auch für die Vielstimmigkeit der Romane, denn diese verbinden in typisch rhizomatischer Manier unauf hörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kuns t, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches Kettenglied gleicht einer Wurzelknolle, in der ganz unterschiedliche sprachliche, aber auch perzeptivische, mimische, ges tische und kognitive Akte zusammengeschlossen sind: es gibt weder eine Sprache an sich noch eine Universalität der Sprache, sondern einen Wetts treit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen. Es gibt keinen idealen Sprecher-Hörer, ebenso wenig wie eine homogene Sprachgemeinschaft.87

Entsprechend spinnt Acker im babylonischen Eklektizismus ihrer Romane ein dichtes Netz aus Prosaerzählung, Poesie, Theaterdialogen, subkulturellem Slang, pornographischer Direktheit, Briefen, der Bricolageästhetik des Punk, Wort-Bild-Collagen (B&G 141–164), persischen (B&G 71–93), arabischen (EoS 148ff.), lateinischen (DQ 47f.) oder französischen Textsegmenten (PPP 268–272), präpubertär anmutendem Kindergekritzel (B&G 105ff.), experimenteller Typographie (B&G 109ff.) und auch klassischen Cut-up-Experimenten nach Burroughs’ Methode (GE 173). Sie erzählt von und durch Protagonisten, deren Identitäten flexibel und instabil sind, die mitten im Roman ihre Gestalten und ihre Geschlechter wechseln und sich dabei durch „Wirklichkeiten“ be86 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 16. 87 | Ebd., S. 17.

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wegen, in denen die gängigen Vorstellungen von Raum, Zeit und Geschichte nicht mehr gelten, ihre Bruchstücke sich aber unauf hörlich auf einander beziehen. Damit kombiniert Acker Diskurse und Ausdrucksformen, die vorher nicht kombinierbar schienen. Zwar gehört Intertextualität zum Wesen postmoderner Literatur, aber die Art und Weise, wie Acker sich fremde Texte aneignet, bearbeitet und montiert, stellt in ihrer Radikalität und Offensivität eine ästhetische Innovation dar, die ihresgleichen wahrscheinlich vergeblich sucht. Ackers Romane folgen in dieser Hinsicht dem für Rhizome typischen „Prinzip der Mannigfaltigkeit: nur wenn die Vielheit tatsächlich als Substantiv, als Mannigfaltigkeit, behandelt wird, hat es zum Einen als Subjekt oder Objekt, als natürliche oder geistige Realität, als Bild und Welt keine Beziehung mehr.“88 Nichts in dieser Ästhetik hat noch mit der Idee der Organik des „Einen“ – also der ideologischen Definition dessen, was als Realität zu verstehen sei – zu tun und ist doch, anders als die Ästhetik der rein dekonstruktivistischen Avantgarde, wegen seiner Inhalte konkret politisch. Ein in dieser Art „mannigfaltig“ geschriebenes Buch steht nämlich immer in Beziehung zum Außen, wobei zu betonen ist, dass Deleuze und Guattari hier nicht das authentische Außen des humanistischen Transgressionsbegriffs meinen, sondern ein Außerhalb des Buches, also seinen kulturellen Kontext, mit dem es durch seine Form bzw. Ästhetik interagiert: „Ideal für ein Buch wäre, alles auf einer solchen Ebene der Äußerlichkeit, auf einer einzigen Seite, auf ein und derselben Fläche auszubreiten: wahre Ereignisse, historische Bedingungen, Ideentwürfe, Individuen, gesellschaftliche Gruppen und Konstellationen.“89 Eine solche Ästhetik hat Vorläufer: Deleuze und Guattari führen hier Kleist an, dessen Literatur für ein „von Affekten durchbrochenes Gefüge mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Überstürzungen und Transformationen […] im Gegensatz zum klassischen und romantischen Buch, das auf der Innerlichkeit einer Substanz oder eines Subjekts beruht“ steht.90 Mit einer solchen offenen Form, so die beiden Philosophen, kann die rhizomatische Literatur zur Waffe in den Kulturkämpfen gegen fixierte Narrative aller Art in Stellung gebracht werden: „Das Buch als Kriegsmaschine gegen das Buch als Staatsapparat.“91 Auch in dieser Hinsicht besteht die Übereinstimmung mit Acker: „[T]he war is now, further than the body or sensible fact, on the language level.“ (PPP 341) Ein weiteres Kriterium, das Ackers Romane erfüllen, ist das des „asignifikanten Bruchs“: „Ein Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen werden, es setzt sich an seinen eigenen oder an anderen Linien fort.“92 Es gehört zum Wesen des Rhizombuches mit den Gesetzen der Kausalität, Linearität und verortbarer Sprecheroder Erzählinstanz zu brechen. Jedem Leser werden die asignif kanten Brüche schon bei einem oberflächlichen Blick auf Ackers Romane auffallen: die zahlreichen Meta88 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 17. 89 | Ebd., S. 19. 90 | Ebd. 91 | Ebd. 92 | Ebd.

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morphosen der Protagonisten, die eine Identifikation im traditionellen Sinn unmöglich machen; die völlige Auf lösung traditioneller Erzählinstanzen; die unvermittelten Sprünge zwischen vielfach ohnehin im Nichts versandenden Handlungssträngen; das sich stets wiederholende Verschachteln von theoretischem Diskurs und fiktionaler Erzählung – alles Brüche, die dem Text seine fixierte und fixierende Bedeutung nehmen. Diese radikale Offenheit bedeutet keineswegs, dass ein rhizomatischer Text eine völlig willkürliche Ansammlung von Zeichen und Sinnfragmenten ist. Ein Rhizom enthält sehr wohl „Segmentierungslinien, die es stratifizieren, territorialisieren, organisieren, bezeichnen, zuordnen etc[.]“93 Als solche sind Ackers politische Standpunkte aufzufassen. Gleichzeitig hat der rhizomatische Text „aber auch Deterritorialisierungslinien, die jederzeit eine Flucht ermöglichen.“94 Darin unterscheidet sich ein Rhizombuch eklatant von der Bruchlosigkeit des bürgerlichen Erzählens und von dem auf Transzendenz fixierten traditionellen transgressiven Text, die beide im binären Denken gefangen bleiben. In seiner Nichtarretierbarkeit – die sich auch in der ästhetischen Erfahrung des Lesers transportiert – kann das Rhizom „niemals einen Dualismus oder eine Dichotomie konstruieren, auch nicht in der rudimentären Form von Gut und Böse.“95 Daher ist es die ideale Form für Ackers Überschreitungsprojekt, dem es ja darum geht, binäre Denkmodelle zu überwinden. Mit seinen „asignifikanten Brüchen“ hat der rhizomatische Text „viele Anfänge und Eingänge“, die den Rezipienten automatisch zu dem von Deleuze und Guattari gewünschten „nichtlinearen Leser“ machen.96 Acker stellt ähnliche Ansprüche an ihre Leser: „[O]n the whole they can read wherever they want, at least up through DON QUIXOTE. Even in EMPIRE OF THE SENSELESS, which is the most narrative book, you could read pretty much anywhere. […] GREAT EXPECtATIONS has no beginning nor end, but there’s a cumulative effect.“97 Kathleen Hulley hat, ohne sie als solche zu bezeichnen, gezeigt, dass eine derartige Ästhetik der asignifikanten Brüche zwangsläufig den Leser aktivieren soll: It is not, exac tly, that the reader is violated by Acker’s anti-s tory, but rather that there are too many gaps for the narrative to fill. Plots, narrators, genres, subjec t, and themes proliferate randomly, spreading throughout the eroticized body of the text, inviting entry everywhere yet opening elsewhere as the reader’s desire for closure multiplies.98

Jeder Rezipient ihrer Romane wird unweigerlich feststellen müssen, dass es ihm unmöglich ist, alle Verbindungen und Verweise zu erfassen bzw. zu verstehen und er deshalb gezwungen ist, selbst zum Nomaden durch die Texte zu werden und sich selbst, sein Leben, seine Identität, sein Denken dazu in Beziehung zu setzen. 93 | 94 | 95 | 96 | 97 | 98 |

Ebd. Ebd. Ebd., S. 19. Heyer: a. a. O., S. 56 und 47. Lotringer/Acker : a. a. O, S. 15. Hulley: a. a. O, S. 179.

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Zu guter Letzt sind Ackers Romane, um Deleuzes und Guattaris Diktion zu verwenden, Karten und keine Kopien jener kulturellen Felder, mit denen sie sich auseinandersetzen, und weisen damit eine weitere wesentliche Eigenschaft des Rhizoms auf.99 Eine Karte gibt, anders als die Kopie, nicht vor, identisch mit dem Gebiet zu sein, sondern ist eine abstrakte Form, eine Verfremdung, die sich bestimmter nichtrealistischer Codes bedient, um die Struktur der Landschaft, die sie vermisst, sichtbar zu machen und – anders als die Landschaft selbst – zu zeigen wo Grenzen verlaufen. So können sie auch zu Wegweisern für Grenzüberschreitungen und zu Chroniken von Grenzverschiebungen werden. „Der Kartograph“, so Heyer, „bewegt sich innerhalb des Systems, welches er beobachtet.“100 In einer Gesellschaft, in der ein Blick von „außen“ ohnehin nicht mehr denkbar ist, durchmisst Acker als Autorin genauso wie ihre nomadischen Figuren auf der textimmanenten Ebene die soziokulturelle Landschaft ihrer Zeit. Dabei entstehen Karten, die die Machtstrukturen und Grenzverläufe einer Gesellschaft aufzeigen, unter deren glitzernder Konsumoberfläche und Scheinpluralität aus Ackers Perspektive ein Netz von kapitalistischen und sexistischen Diskursformationen am Werke ist, das nichts als Ungleichheit und Ungerechtigkeit produziert. Die Texte, die dabei entstehen, kritisieren diese Zustände nicht in der realistischen Ästhetik der ideologisch fixierten Kopie (der beispielsweise die „alte“ politisch radikale Literatur entsprechen würde), sondern mittels des dem kulturellen Radikalismus angemessenen Experimentalismus der rhizomatischen Karte: „Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen.“101 Anders als das Wurzelbuch, das sowohl in seiner theoretischen wie in seiner literarischen-narrativen Variante den Anspruch hat, Repräsentation des „Realen“ zu sein, wird ein Rhizombuch als Kartographie und Intervention in die Machtverhältnisse der Gesellschaft begriffen: „Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist.“102 Dabei erfolgt dieser Eingriff performativ: „Bei der Karte geht es um Performanz, während die Kopie immer auf eine angebliche ,Kompetenz‘ verweist.“103 Das Rhizombuch greift performativ in das kulturelle Narrativ von Wirklichkeit, wie Deleuze und Guattari konsequenterweise hätten schreiben müssen, über seinen Effekt beim Rezipienten ein und schließt damit an das moderne avantgardistische Projekt an. Nur geht es nicht mehr einfach nur darum, die Fiktion eines homogenen sozialen Imaginären zu sprengen, sondern den Leser zu einem „permanenten Werden“ anzuhalten – das aber auch ein Scheitern mit einkalkuliert. Das Rhizom-Buch verspricht keine Heilsideologien, formuliert keinen „locus amoenus“ als Ziel, sondern ist, wie Heyer schreibt, „wie eine 99 | Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus,a. a. O., S. 23. 100 | Heyer: a. a. O., S. 16. 101 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 24. 102 | Ebd., S. 23f. 103 | Ebd., S. 24.

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Landkarte oder ein Stadtplan zu benutzen.“104 In exakt diesem Sinn will Acker ihre Romane verstanden und rezipiert wissen: „I want the reader to come right into the text because that’s the only way you can take the journey.“105 Christina Milletti ist daher zuzustimmen, wenn sie schreibt, Acker produziere „a ,performative‘ prose that […] is uniquely designed to arouse readers (to action), as well as highlight itself as a discourse imbricated within and by power.“106 Orientieren muss sich der Leser der Rhizom-Buch-Karte jedoch selbst, diese Aufgabe nimmt ihm keine geschlossene und lineare Erzählung ab: „Der Benutzer wählt seinen Eingang selber und er hat noch alle Möglichkeiten, Wege, Kapitel vor sich. […] Die Karte selber ist immer nur eine Möglichkeit.“107 Gleiches gilt für Ackers Romane in ihrer Funktion als Karten: Sie (re)produzieren keine Bedeutungen, sondern erschließen Bedeutungsoptionen, die dem Leser zwangsläufig viele Deutungsmöglichkeiten offenlassen. Heyer betont aber, dass eine solche Offenheit nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf, „[d]enn der Kartograph hat sich für einen bestimmten Standort entschieden, jede Karte hat einen individuellen Anfang.“108 Ackers Standort, von dem aus sie ihre höchst individuelle Kartographie der westlichen Gesellschaften beginnt, sind ihre Überzeugungen, was ihren rhizomatischen Romanen eine konkret politische Ebene verleiht, die über die Sphäre des rein Ästhetischen hinausreicht. Diese bereits beschriebene Intention, mit ihren Büchern ins Leben aus- und einzugreifen teilt sie mit Deleuze und Guattari. Da deren Rhizomatik, wie Heyer schreibt, „eine populäre Philosophie sein, sich ein Volk suchen, nicht in der Wissenschaft verweilen, sondern außerhalb des Ghettos [Hervorhebung im Original – d. Verf.] des Wissenschaftsbetriebes Luft holen“109 will, lässt sich aus ihr nicht nur eine Ästhetik, sondern auch eine Ethik entwickeln, auf deren Basis sich der individuelle und sich nicht auf die Fiktion der absoluten Autorität eines Wahrheitskonstrukts berufende Guerillakampf des „postmodernism of resistance“ führen lässt. Martialisch weisen Deleuze und Guattari darauf hin, dass man „[v]om Standpunkt eines Kriegsrhizoms oder einer Guerillalogik aus […] die Lösung ohne General für eine nicht zentrierte Mannigfaltigkeit finden [kann].“110 Ziviler formuliert und auf Acker übertragen, muss man konstatieren, dass sie ihre Lebenspraktik nach einer „rhizomatischen Ethik“ gestaltet und diese auch durch ihre literarischen Figuren propagiert hat. Ihre Nomaden, Piraten, polymorph Perversen, ihre postmodernen Künstler und Anarchisten folgen auf ihrem Weg über die Leitern der Transgressionen Deleuzes und Guattaris Imperativ eines permanenten identitären Werdens: „Bildet Rhizome und keine Wurzeln, 104 | 105 | 106 | 107 | 108 | 109 | 110 |

Heyer: a. a. O., S. 58. Lotringer/Acker: a. a. O., S. 15. Milletti: a. a. O., S. 358f. Heyer: a. a. O., S. 58f. Ebd. S. 59. Ebd., S. 48. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 30.

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pflanzt nichts an! Sät nichts aus, sondern nehmt Ableger! Seid weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten! Zieht Linien, setzt nie einen Punkt.“111 Dabei geht dieser rhizomatische Imperativ stillschweigend über einige ihm innewohnende philosophische Probleme und Widersprüche hinweg. So bleiben Deleuze und Guattari ebenso wie Acker eine Erklärung schuldig, wie der rhizomatische Text (egal ob philosophisch oder literarisch) den gewünschten Effekt im Denken des Lesers hervorrufen und ihn dazu bringen soll, sich bei seinem nomadischen Denken und Handeln in der Sphäre der ethisch „richtigen“ Standpunkte zu orintieren. Hier wird die Gefahr ausgeblendet, dass das rhizomatische permanente „Werden“ das Individuum auch in Richtungen führen kann, die der positiv besetzten Entgrenzungsphilosophie entgegenlaufen. Acker versucht zwar, dieser Problematik in ihrer Literatur durch die oben beschriebene Pick-up-Ästhetik entgegenzuwirken und geht dabei implizit davon aus, dass diese, eben gerade weil sie dem rein destruktiven Cut-up ein politisch positioniertes kreatives Element hinzufügt, weder zu einer Identifizierung mit den Gegnern im Kulturkampf, noch zu jener Form von nihilistischer Dekonstruktion und Konfusion führen kann, die sie etwa bei Baudrillard verortet hat. Ihre Romane zielen darauf ab, der ästhetischen Erfahrung des Lesers als „rhizomatische Karten“ durch die „Segmentierungslinien“ (s.o.) der eigenen politischen Auffassungen eine Richtung zu weisen – jedoch ohne dabei ideologisch vereinnahmend zu sein. Eine Garantie für den Erfolg dieses wirkungsästhetischen Drahtseilaktes bietet ihr literarischer Stil jedoch nicht. Zudem tut sich die Frage auf, wie die Standpunkte, von denen Ackers Protagonisten zu ihren nomadischen Wanderungen auf brechen, philosophisch zu legitimieren sind. Auch Ebbesen hat auf diese Problematik in ihrem Werk hingewiesen: „Acker’s morally committed textual activism is directly at odds with the very theories she idiosyncratically employs.“112 Dass Acker ihre eigene Politisierung gegen Kapitalismus und Patriarchat mit persönlichen Erfahrungen begründet löst das philosophische 111 | Ebd., S. 41. Der Begriff der Multiplizität is t hier analog zum normativen „shopping mall pluralism“ des pos tmodernen Spätkapitalismus zu vers tehen, wie ich ihn im theoretischen Teil dieser Arbeit definiert habe. Er kann daher nicht die Befreiungseffekte erzielen, die sich Deleuze und Guattari von den subversiven Mannigfaltigkeiten versprechen. Als „multipel“ bezeichnen sie die pos tmoderne Heterogenität der Kontrollgesellschaften, die im Diens t der Macht s teht. In den Dialogen mit Deleuze verortet Parnet das Widers tandspotential der Mannigfaltigkeiten oder, wie es dort heißt, „Vielheiten“, in ihrer Eigenschaft, nicht durch die multiplizierten normativen Binarismen der pos tmodernen Pluralität arretierbar zu sein: „[E]ine Vielheit [is t] wahrscheinlich nicht durch die Anzahl ihrer Elemente und Glieder definiert. Einem zweiten Glied kann wahrscheinlich unschwer ein drittes, einem dritten ein viertes hinzugefügt werden, ohne dass damit den Dualismen entkommen [sic!] wäre: Die Elemente einer beliebigen Menge können auf die Aufeinanderfolge ihrerseits binärer Wahlentscheidungen zurückgeführt werden. Weder die Elemente noch die Mengen definieren die Vielheit. Definiert wird diese vielmehr durch das UND, gleichsam als etwas, das zwischen [Hervorhebung im Original – d. Verf.] den Elementen oder den Mengen s tattfindet.“ (Deleuze/Parnet: a. a. O., S. 41.) 112 | Ebbesen: a. a. O., S. 191.

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Problem nicht, durch welche moralische Basis ihre politischen Standpunkte begründet werden können, wenn ihr transgressives Denken doch implizit alle universellen Prinzipien – also auch die Kategorien von Ethik und Moral – als kulturell-ideologische Konstrukte im Dienste der Macht versteht. Acker löst diesen Widerspruch nicht auf. Sie setzt stillschweigend einen Automatismus voraus, wonach jede rhizomatischoffene Ästhetik auch zu einer Öffnung abgeschlossener Narrative, Identitäten oder Denkstrukturen zu Gunsten der rhizomatischen Mannigfaltigkeit zum Nomadentum im politisch „richtigen“, dabei aber ideologisch nicht arretierbaren Feld der Kulturkämpfe führt. Dass dies auch anders sein könnte, thematisiert sie nicht.

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Schlussbemerkung: „A humanis t in some weird way“

Nach der vorangegangenen Untersuchung von Ackers literarischem Überschreitungsprojekt ist es nun an der Zeit, eine Bilanz dieses Unternehmens zu ziehen und die Frage zu stellen, welche Bedeutung ihm kultur- bzw. literaturhistorisch zukommt, welche Wirkungen es hinterlassen hat und welche Aspekte eine nachhaltige Aktualität besitzen. In ihrem Vorwort zur Essaysammlung Lust for Life schreibt Amy Scholder, dass mit Ackers Tod auch das für die Wirkung ihres Werkes so bedeutende performative Element des „Gesamtkunstwerks Kathy Acker“ verschwunden ist: „Kathy Acker got attention for her arresting image, relentless outsider status, and provocative reading style, which often directed new readers to her published works. Once she died, she lost that entrée into new audiences.“1 Was also von Acker bleibt, ist zunächst die textliche Materialität ihrer Romane, die dieses multimediale Gesamtkunstwerk zwangsläufig auf ihr „Literatur-Sein“ zurückwirft. Bei allen Anknüpfungspunkten zu anderen Formen künstlerischen Ausdrucks hat sich Acker zunächst immer als Schriftstellerin verstanden. Ihr früher Tod hat ihr Schaffen zu einem abgeschlossenen Werk gemacht, dem, so Scholder, potentiell zwei Schicksale drohen: „When a writer is no longer around to produce new works, the oeuvre either takes a life of its own, or it fades away.“2 Bis dato lebt Ackers Werk zumindest in einigen Nischen der literarischen Öffentlichkeit weiter. Alle ihre Romane werden im englischen Sprachraum nach wie vor aufgelegt, was Scholder als „promising“ bezeichnet, auch wenn dies ihrer Meinung nach keine Garantie für eine dauerhafte Sichtbarkeit bietet.3 Der Wiener Milena Verlag hat mit Meine Mutter. Eine Dämonologie Ende 2010 zudem zum ersten Mal seit vielen Jahren eine deutschsprachige Neuübersetzung eines Ackerromanes publiziert. Es scheint also immer noch eine Nachfrage nach Ackers Werk zu geben, auch wenn das Interesse daran – und dies sicherlich auch im Sinne der Autorin – kein Massenphänomen ist. Aber auch im weiten Feld der subkulturellen Literatur hat Acker, trotz ihres temporären Ruhmes, nie den nachhaltigen Status einer gegenkulturellen Ikone oder „Kultfigur“ erlangt, der beispielsweise ihren Vorbildern Genet, Pasolini 1 | Amy Scholder: „Preface“, in: Scholder/Harryman/Ronell: a. a. O., S. vii-viii., hier: S. vii. 2 | Ebd., S. viii. 3 | Vgl. ebd.

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oder Burroughs zugesprochen wird. Dies sagt jedoch nichts über die „Qualität“ ihrer transgressiven Literatur aus. Vielmehr sind die Gründe hierfür in der ausdifferenzierten Leserlandschaft der Postmoderne zu suchen, die sich nicht mehr einfach in ein mehrheits- und ein subkulturelles Publikum aufteilen lässt, sondern es mit ihren vielen Submilieus für Acker und andere radikale Autoren – in Ermangelung eines einheitlichen Feindbildes – ungleich schwieriger macht, eine ähnlich erschütternde Wirkung zu haben, wie ihre oben genannten Vorbilder. Wer Ackers heutige Leser letztendlich sind, ist eine Frage, der sich die Literatursoziologie mit empirischen Methoden annehmen müsste. Sicher ist jedoch, dass sie an den Universitäten gelesen wird. Die akademische Vereinnahmung ihres Werkes geht in großen Schritten voran, wie die von mir im Forschungsüberblick in der Einleitung erwähnten und für meine Untersuchung herangezogenen wissenschaftlichen Arbeiten belegen. Meine eigene Studie kann sich natürlich nicht davon freisprechen, Teil dieser Tendenz zu sein, die Acker, wie man getrost annehmen darf, sicherlich nicht gut geheißen und als institutionelle Ghettoisierung ihrer transgressiven Potentiale interpretiert hätte. Sollte es wirklich so sein, dass Acker „nur“ noch an den Universitäten gelesen wird, wäre dies zu bedauern. Denn sie war eine bedeutende und unverwechselbare literarische Stimme, die vor allem in der Frage des diskursiven Nexus von Transgression und Avantgarde eine beeindruckende und intellektuell anspruchsvolle Bestandsaufnahme der Wirkungs- und Funktionszusammenhänge grenzüberschreitender Kunst in der spätkapitalistischen Postmoderne unternommen und mit ihrem eigenen Werk darauf reagiert hat. Meiner Meinung nach überzeugt Acker vor allem in ihren Analysen, sowohl der Machtstrukturen als auch der Aporien und Sackgassen aller gegenkulturellen Strömungen, die der modernen, auf essentiell-absolute Befreiung ausgerichteten Transgressionskonzeption anhängen. Ihre Romane sind bei all ihrer zuweilen plakativen Radikalität weder Ausdruck pseudorebellischer Posen noch Akte der Selbstvergewisserung einer besseren gegenkulturellen Identität. Acker hat sich nie damit begnügt, alte Gesten der Überschreitung einfach zu wiederholen, sondern klopft sie in bester nietzscheanischer Tradition mit dem philosophischen Hammer auf ihre Substanz ab und fasst sie gegebenenfalls – mit unterschiedlichem Erfolg – ästhetisch neu. Es ist sicher ein Effekt ihrer Strategie des Uneindeutigmachens und der theoretischen und thematischen Komplexität ihrer Texte, dass eine Bilanz dieses Unternehmens nicht eindeutig ausfallen kann. Dies liegt nicht zuletzt an der poststrukturalistischen Prägung ihres Denkens. Ackers literarische und lebenspraktische Transgressionen fanden nicht in einem intellektuellen Vakuum statt, sondern, wie an der Bedeutung der „French Theory“ für ihre künstlerischen und lebenspraktischen Überschreitungen deutlich wurde, im Einklang mit dem radikalen Denken ihrer Zeit. Die emanzipatorischen Erfolgsaussichten des Poststrukturalismus sind bis heute umstritten, weswegen es Acker wohl auch immer bleiben wird. Daraus ist jedoch nicht zu folgern, dass sie kulturgeschichtlich überhaupt nicht einzuordnen wäre. Es ist lediglich unmöglich, pauschal zu behaupten, Ackers Konzept der postmodernen, auf die Zwischenräume ausgerichteten Transgression und seine Umsetzung in Kunst- und

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Lebenspraxis sei als Ganzes gescheitert oder als Ganzes geglückt. Ein derartiges Fazit würde genau jenen binären Mustern der Eindeutigkeit das Wort reden, die Acker immer bekämpft hat. Ihr Werk kann in dieser Hinsicht einen klaren Erfolg verbuchen: Es ist zu referenzreich, zu eklektisch, zu komplex und, um einen Begriff ihrer theoretischen Inspirationsfiguren zu verwenden, zu rhizomatisch, als dass es sich klar einordnen ließe. In seiner Vielschichtigkeit hat es in manchen Aspekten eine unveränderte Aktualität, während man im Hinblick auf andere nicht umhin kommt, gewisse Widersprüche und Sackgassen festzustellen. Es erscheint mir daher sinnvoll, zwischen einer (gesellschafts)politisch-historischen, einer literaturgeschichtlich-ästhetischen und einer philosophischen Bilanz ihres Werkes zu differenzieren. Zunächst möchte ich feststellen, dass Ackers Projekt, den politischen Anspruch von transgressiver Literatur zu „postmodernisieren“ in ihrem konkreten historischen Kontext absolut notwendig war, sofern man dieser Art des künstlerischen Ausdrucks eine gewisse gesellschaftspolitische Relevanz zubilligt. Gerade mit Blick auf die Vereinigten Staaten beleuchten die von mir untersuchten Romane in vielerlei Hinsicht die in den 1980er geführten gesellschaftlichen Debatten, die im Spannungsfeld zwischen gegenkulturellem Auf bruch (in Gestalt des Erbes der „Sixties“ und der daran anschließenden graduellen Ausdifferenzierung des kulturellen Raumes) und konservativer Reaktion (personifiziert durch Ronald Reagan) stattgefunden haben, kommentieren sie und nehmen an ihnen teil. Was Ackers Texte dabei so wertvoll macht, ist, dass sie als kritisches Kind der 1960er, also auch in vollem Bewusstsein der Irrtümer und Widersprüche der Befreiungsutopien dieser Dekade, gegen den konservativen Zeitgeist der 1980er anschreibt und so ihre Kritik aus einer doppelten Distanz äußern kann. In dieser speziellen historischen Phase der amerikanischen Geschichte waren die emanzipatorischen Effekte der „Sixties“ noch jung und durch die neokonservative Bewegung ernsthaft bedroht. Der „postmodernism of resistance“ der 80er Jahre, dem die hier untersuchten Romane zuzurechnen sind, war daher ein wichtiges Phänomen – auch, um die binären kulturellen Muster, von denen die gegenkulturellen Formen des Widerstandes in den 1960er Jahren noch geprägt waren, in Frage zu stellen und dabei trotzdem die durch ihn entstandenen Freiräume zu erweitern. Dabei schuldet Acker bei aller kritischen Distanz den „Sixties“ ihre politischen Koordinaten. Auch wenn sie die transgressiven Versprechen dieser kulturellen Revolution in vielerlei Hinsicht als nicht eingelöst ansieht, ist das moralische Fundament ihres Werkes – die Ablehnung des materialistischen und patriarchalen Charakters der amerikanischen bzw. ganz allgemein der westlichen Kultur – in diesen historischen Zusammenhängen gelegt worden. Über das Problem der theoretischen Fundierung dieser Standpunkte wird weiter unten noch zu sprechen sein, doch sie haben Acker davor bewahrt, anders als andere dem Konsumfetischismus der Yuppieära kritisch gegenüberstehende Literaten dieser Zeit – man denke an Bret Easton Ellis – zynisch zu werden. In politischer Hinsicht war Acker trotz der Individualität ihres literarischen Projektes keineswegs solitär, sondern vielmehr Teil des radikal-künstlerischenen Flügels einer soziokulturellen „Bewegung“ ohne feste Strukturen, ohne Organisation, ohne

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Manifest – jener diffusen, von Robert M. Collins als „progressiv“ bezeichneten Kraft im Kulturkampf der 1980er, die jede Ausprägung von orthodoxem Glauben an eine transzendentale Ordnung und die dahinter stehenden binären Denkmuster bekämpft. Die hier untersuchten Romane sind damit einerseits ein Symptom ihrer Zeit und waren daher zunächst vor allem für eine politisch interessierte Leserschaft interessant. Doch jenseits ihres aus heutiger Sicht zwangsläufig museal wirkenden Figurenrepertoires (Ronald Reagan, Andrea Dworkin etc.) möchte ich behaupten, dass gerade Ackers politische Kommentare bzw. die dahinter stehenden Kritikmuster durchaus noch Stichwortgeber für heutige politisch bewusste transgressive Kunst sein können – gerade weil der Kulturkampf zwischen „Progressiven“ und „Orthodoxen“ in der amerikanischen Gesellschaft (natürlich in seiner zeittypischen Form) immer noch andauert. Zwar hat die Ausdifferenzierung der soziokulturellen Sphäre seit den 1980er Jahren weiter zugenommen und zu vielen teilemanzipatorischen Effekten geführt. Wer hier jedoch von einem endgültigen Sieg der von Acker eingeforderten Mannigfaltigkeit (im Sinne Deleuzes) über die kapitalistische Pluralität (im Sinne Paul Manns) spricht, ist meiner Ansicht nach zu optimistisch. Denn bei aller Vielgestaltigkeit lassen sich die polymorphen sozialen Gruppen der amerikanischen Gesellschaft nach wie vor in ein orthodoxes und ein progressives Feld einteilen, die um die kulturelle Vorherrschaft ringen. Diese Felder sind nicht in den binären politischen Lagerkategorien der Moderne zu finden, sondern verteilen sich überall in den netzwerkartigen Strukturen und überlappenden Dispositiven der postmodernen Kontrollgesellschaften. Die Sphäre der institutionalisierten Politik ist dabei ein Indikator dieses auf der kulturellen Ebene immer noch fortschreitenden Konflikts. So hat die Orthodoxie mit ihren binär codierten ideologischen und rhetorischen Mustern mit George W. Bush den prägenden Präsidenten der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts gestellt, der in seiner Wirtschaftspolitik, seinem christlichen Sendungsbewusstsein und in seinem klar strukturierten Freund-Feind-Denken als Wiedergänger Ronald Reagans gelten kann. Wie Reagan hat Bush die Gesellschaft der USA sozial, ökonomisch und ideologisch tief gespalten. Der Kampf gegen die „religious white men“, den Acker in Don Quixote beschworen hat, dauert auch im neuen Jahrtausend an. Die heftigen und teils absurd anmutenden Reaktionen des konservativen Amerika auf die Präsidentschaft Obamas – der in den binären Denkmustern dieser kulturell orthodoxen Gruppen (die derzeit prominenteste ist die Tea-Party-Bewegung) das Phantasma des „Anderen“ verkörpert – ist ein weiterer politischer Indikator für die tief liegende kulturelle Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft. Das Andauern dieses Konflikts ist ein Beleg für die in Ackers Romanen vertretene These des kulturellen Radikalismus, wonach die Kategorie des institutionellen Politischen keine wirkliche Veränderung hervorbringen kann, weil es die kulturellen Koordinaten sind, die eine Gesellschaft strukturieren. Und diese hält sie, wie sie in ihren Romanen deutlich gemacht hat, trotz der Revolutions-, Emanzipations- und Liberalisierungsrhetorik progressiver Bewegungen für zähe Gegner. Auch wenn Acker in einer konkreten historischen Situation geschrieben hat, bietet ihre transgressive Haltung strukturell Anknüpfungspunkte und Denkmodelle, die über die Kategorie

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des Zeittypischen in den Romanen hinausgehen. Ihre Kommentare zu Politik und Gesellschaft haben vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragt und versteckte strukturelle Parallelitäten zwischen Herrschafts- und Gegendiskurs aufgezeigt, die viele andere Ausdrucksformen radikaler Kunst nicht erkannt oder nicht thematisiert haben. Dieser Grundgestus des stetigen Hinterfragens macht Acker auch in der Gegenwart zur Inspirationsfigur für radikale Künstler, auch wenn diese sich heute mittels anderer Ästhetiken äußern müssen. Denn die Bilanz von Ackers Versuchen einer Erneuerung der dekonstruktivistischen Avantgardeästhetik ist bestenfalls ambivalent. Zweifellos ist die in ihren Romanen vorgenommene kritische Bestandsaufnahme verschiedenster avantgardistischer, sub- und gegenkultureller Transgressionsstrategien vor dem Hintergrund des Zeichenspiels der Postmoderne notwendig und ihr ist zugutezuhalten, die ästhetischen Sackgassen der dekonstruktivistischen-experimentellen Form, gerade in sprach- und sinnpolitischer Hinsicht richtig analysiert zu haben. Ihre eigenen Innovationsversuche, den in die Krise geratenen avantgardistischen Sturm auf die Symbolsysteme weiter zu entwickeln und diese Verfahren so aus ihrer Sackgasse zu führen, haben eine innere Logik, doch als ästhetisches Programm erfolgreicher literarischer Transgression sind sie weitgehend folgenlos geblieben. Dies liegt zum einen daran, dass Acker auf einem ganz bestimmten Stil innerhalb des literarischen Experimentalismus beharrt, der sich auch in historischer Hinsicht schnell verbraucht hatte: Die Collage aus fragmentierten und neu kontextualisierten Texten anderer Autoren als Form der literarischen Produktion ist ein zeitlich begrenztes Phänomen geblieben. In der Rückschau muss man konstatieren, dass das Cut-up, als Fortsetzung der Dekonstruktionsexperimente der modernen Avantgarden, vor allem eine Technik der 1960er und 70er Jahre gewesen ist und im Zuge der postmodernen Wende aus den beschriebenen Gründen an einem toten Punkt angelangt war. Ackers Repolitisierung der Enthierarchisierungsästhetik war bereits eine Reaktion auf deren Erschöpfung in der Postmoderne, die sie schafsinnig erkannt hat. Dennoch wird Acker ihre Sozialisation als Schriftstellerin nicht los, die in die besagte Phase fiel, als das Cut-up noch als vielversprechendes Verfahren des avantgardistischen Experiments gelten konnte. Die Prägung durch diese Methode und vor allem durch die Person Burroughs’, zu dem sie persönliche Kontakte unterhielt, war für ihre Literatur auch dann noch stilbildend, als sie die wirkungsästhetischen Grenzen des rein destruktiven Cut-up erkannt hat. Dabei war ihr Versuch, auf diesen Grenzen zu wandeln und das Verfahren durch eine Weiterentwicklung zum Pick-up in die Postmoderne mit ihren veränderten zeichenpolitischen Paradigmen hinüberzuretten bestenfalls kurzfristig erfolgreich. Letztendlich hat sie vergeblich versucht, einem im Sterben liegenden avantgardistischen Verfahren neues Leben einzuhauchen, obwohl seine subversiven Wirkungspotentiale in der postmodernen Kultur, in der in allen Kunstrichtungen die Methoden von Appropriation, „Sampling“ und „Remix“ integraler Bestandteil der Mainstreamästhetik geworden sind, im Grunde erschöpft waren. Es ist die Aufwertung des Inhaltlichen gegenüber dem Stilistischen im Pick-up, das Ackers Form der Textcollage ein neues Maß an gesellschaftskritischem Potential

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erschlossen hat, die sie als rein formales Verfahren der Enthierarchisierung von Zeichen nicht mehr hätte gewinnen können. Gleiches gilt für ihren Versuch, die Macht- und Marktlogik der spätkapitalistischen Ordnung zumindest symbolisch durch die radikale und plakativ sichtbare Inszenierung einer literarischen Plagiatästhetik zu unterlaufen. Theoretisch stellt Acker damit wichtige Fragen, die – die Debatte um Helene Hegemann zeigt es – von ungebrochener Aktualität sind. Formal hingegen ist das Plagiieren in dieser speziellen Form ein solitärer Versuch Ackers geblieben. Man kann dies sicherlich als innovatives Experiment betrachten, doch seine Wirkung blieb beschränkt und wurde nicht auf breiter Front von anderen Schriftstellern aufgegriffen. Letztendlich ist diese persönliche Spielart des literarischen Konzeptualismus, der sich zum Teil auch aus ihren biographischen Anknüpfungspunkten zur „Art World“ erklärt, mit Ackers Tod versandet. In der amerikanischen Literatur hat sich eine andere Traditionslinie des experimentellen postmodernen Schreibens durchgesetzt, die intertextuelle Bezugnahmen dem offensiven Plagiat vorzieht, diese, mit narrativen Experimenten und subversiver Ironie verbindet und von Thomas Pynchon zu David Foster Wallace reicht. Somit hat Acker letztendlich die literarische Collageästhetik aus einer Sackgasse in eine andere geführt, die in den begrenzten wirkungsästhetischen Potentialen des Verfahrens selbst begründet ist. Ihre Form des Plagiats bzw. des Pick-up als Weiterentwicklung des Cut-up stellte keinen radikalen Bruch mit einer gesamtkulturellen Erzählkonventionen mehr dar, sondern lediglich einen Innovationsversuch innerhalb eines bestimmten literarischen Stils. Die Dominanz des Realismus hatten schon modernistischen Avantgarden angegriffen und damit einen bedeutenden kulturellen Schock ausgelöst. Selbst Burroughs’ Ästhetik war in seinem Kern schon eine Radikalisierung dieses Projektes, das bei Ackers Innovationsversuchen bereits als Tradition etabliert war, deren Teil sie selbst zwangsläufig auch werden musste. In avantgardetheoretischer Hinsicht muss man konstatieren, dass die zunehmende Kanonisierung und Historisierung von Ackers Werk der von ihr vertretenen Theorie der „permanenten Auf hebung“ recht gibt. Anders gesagt: Je mehr ihre Werke, ihre Überschreitungsmuster, ihre Ästhetiken, ihre Schockstrategien zur Tradition werden, desto nötiger ist es, dass neue Formen der postmodernen Avantgarde auftreten, die die Formen und Haltungen von Ackers Art des Kunstschaffens selbst zum Gegenstand der permanenten Revolution des Gegebenen machen. Acker selbst kann das nicht mehr tun, ihr nomadisches, permanentes Werden ist durch ihren Tod zwangsläufig zum Stillstand gekommen. Ihr Werk hat nicht zuletzt dadurch wirklich Werkcharakter angenommen, ist statisch geworden und nun zu dem für jede Avantgarde unausweichlichen Schicksal verurteilt, Geschichte zu werden. Was jedoch, gerade in den postmodernen Kontrollgesellschaften, absolut aktuell bleibt, ist ihre avantgardistische Haltung, die die permanente Entgrenzung gesellschaftlich produzierter Subjektivität durch verschiedene Formen der Kunst- und Lebenspraxis auch zur politischen Haltung macht. Man muss konstatieren, dass auch Ackers Werk der wirkungsästhetischen Aporie aller Avantgardekunst nicht entkommt. Es gehört zum Wesen der Avantgarde – auch

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in ihrer postmodernen Ausprägung – in Inhalt, Stil und Haltung eine marginale Position einzunehmen. Diese Verortung erzeugt jedoch ein Dilemma: Avantgardekunst will zwar immer Avantgarde für die gesamte Gesellschaft sein, findet ihre Rezipienten aber meist in einem begrenzten Segment der Öffentlichkeit, das ihren Haltungen ohnehin zugetan ist und läuft Gefahr, dort offene Türen einzurennen. Die Tatsache, dass Acker sich auf der Grenze zwischen Popkultur (Underground- und Punkszene), „Art World“ und Literaturestablishment bewegte, hat ihr sicherlich potentiell eine größere Reichweite beschert, als manch anderem Künstler, doch ich möchte behaupten, dass auch für sie gilt: Diejenigen, die ihre Bücher lesen, gehör(t)en dem subkulturellen, kunstinteressierten, akademischen oder politisch kritischen Spektrum an den äußeren Fransen des Literaturpublikums an, das Pitchford mit dem Begriff „postmodernist ,hip‘“4 wohl treffend charakterisiert hat. Diese Kreise dürften ohnehin schon eine große Affinität zu Ackers transgressivem Projekt und ihren avantgardistischen Positionen haben und müssen daher nicht mehr aus ihrer Lethargie „geschockt“, aufgerüttelt bzw. aktiviert werden. Der Gefahr des sprichwörtlichen „preaching to the converted“ kann ihr Werk nur schwer entrinnen. Hinzu kommt ein in der Ästhetik begründetes Wirkungsproblem. Zum einen gibt es keine Garantie, dass die rhizomatische Ästhetik ihrer Texte im Rezipienten jenes nicht arretierte und arretierbare rhizomatische Denken evoziert, dass für ihre Überschreitungsphilosophie des „Zwischen“ von zentraler Bedeutung ist. Zum anderen nimmt Ackers Werk selbst innerhalb der experimentellen Postmoderne durch seinen schwer zugänglichen und auch für Leser, die den literarischen Avantgarden in ihren verschiedenen Varianten zugetan sind, manchmal sehr fordernden Stil eine (durchaus gewollte) Randposition ein. Doch diese Marginalität kann auch den Effekt haben, dass genau jene sperrige Experimentalästhetik, die einen aktivierenden Effekt im Rezipienten auslösen soll, verhindert, dass jene Teile des Publikums erreicht werden, deren Denken Ackers transgressive Imperative eigentlich gelten. Zu Ackers Lebzeiten konnte die bewusste und gekonnte Inszenierung ihrer Künstlerpersona, ihre „marketability as an outré [Hervorhebung im Original – d. Verf.] media figure – publishing’s ,bad girl‘“5 noch eine Brücke zu einer breiten Öffentlichkeit schlagen, die ihre Romane für sich genommen heute wohl nicht mehr erreichen wird. Das ist zu bedauern, weil die den untersuchten Romanen implizite Konzeption der postmodernen Überschreitungsphilosophie als Modell der Kulturkritik in ihrem Grundsatz eine ungebrochene philosophische Aktualität besitzt. Angesichts der immer weiter fortschreitenden Verfeinerung der Mechanismen und Wirkungsweisen der spätkapitalistischen Kontrollgesellschaften hat das Ackers Denken und ihren Romanen zu Grunde liegende Prinzip der „permanenten Auf hebung“, des „permanenten Werdens“, des immerwährenden Gehens auf den Grenzen, die das soziokulturelle Feld durchziehen, meiner Meinung nach – trotz der ihm innewohnenden problematischen Aspekte – eher noch an Bedeutung gewonnen. Die vervielfältigten Zwänge 4 | Pitchford: a. a. O., S. 66. 5 | Ebd. S. 65.

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der Kontrollgesellschaften sind in den Jahren seit der Entstehung der von mir untersuchten Romane eher zahlreicher geworden. Acker hat bereits vor dem Ende des Kalten Krieges erkannt, dass dem Kapitalismus in seiner globalisierten, postindustriellen Form und der stetig wachsenden Macht der „multinationals“ nicht mit ideologischen Kämpfen beizukommen ist, sondern nur durch eine Sabotage von innen heraus durch das Streuen von Sand in das Getriebe seiner vielfältigen Vereinnahmungs- und Normierungsmaschinerien. Dadurch ist das permanente Nomadentum, das temporäre Freiräume im hybriden, nicht arretierbaren Zwischen evozieren kann, als transgressiver Grundgestus für alle Bereiche des menschlichen Lebens mehr denn je eine der wenigen Optionen für alternative Formen von Erfahrung, Subjektivität und Identität. Ackers konkrete Anstrengungen, das nicht fassbare Hybride in Textform zu fassen, können natürlich, was in der Natur der Sache liegt, nur Versuche und Momentaufnahmen sein, die aus heutiger Perspektive als historisch zu betrachten sind. Aber gerade ihre Ablehnung eines besseren „Außen“ macht die Haltung, aus der ihre Romane entstanden sind zu einem immer noch aktuellen Denkmuster für Subversion. Zeitgenössische Künstler müssen jedoch, wie ich bereits ausgeführt habe, immer wieder neue, ihrer Zeit angemessene Formen finden, um ihre Dissidenz auszudrücken und um neue transgressive rhizomatische Intermezzi zu schaffen. Dass Acker den Anspruch erhebt, diese Zwischenräume mittels ihrer Kunst zu evozieren, ist in meiner Untersuchung deutlich geworden. Doch wie ist dieses Unterfangen zu bewerten? Ebbesen hat in seiner Arbeit bereits die Gretchenfrage gestellt, „whether or not formally radical art can transform reality and change the political status quo“6 und Ackers Literatur in dieser Hinsicht für gescheitert erklärt: „[A]rt cannot substitute for political activism as it is more traditionally understood (e.g. grass roots organizing, demonstrating, etc.)“7 Dieser Interpretation möchte ich widersprechen. Zum einen, weil ihr Begriff von Politik sehr konservativ und verengt ist, zum anderen, weil es Acker nie um eine unmittelbare Transformation des Status Quo ging. Sie glaubt nicht an die direkte Veränderung der Gesellschaft durch die Kunst, sondern an die indirekte Veränderung durch Individuen oder bestenfalls durch temporäre Allianzen von Individuen. Die Frage kann daher nicht lauten, ob experimentelle Kunst die Gesellschaft verändern kann, sondern ob sie entgrenzende Transformationen im Einzelnen bewirken kann. Ackers gesamtes avantgardistisches Projekt ist ein Beleg, dass sie diese Frage bejaht hat. Ihr literarisches Projekt in den hier untersuchten Romanen ist analog zu Deleuzes und Guattaris Programm zu verstehen, durch eine rhizomatische Ästhetik einen ethischen Imperativ auszusenden und ihre Leser dadurch auf eine nomadische Reise durch verschiedene Sphären des Denkens und der Erfahrung zu schicken. Wenn, wie Acker analysiert, eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit unmöglich ist, bleibt nur ein Plädoyer für die Revolution des einzelnen Indi6 | Ebbesen: S. 191. 7 | Ebd., S. 192.

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viduums, das durch permanente Transgressionen, durch den permanenten kulturellen Guerillakampf, durch permanente Mobilität in Hinblick auf seine Denk-, Lebens- und Ausdrucksweise der Maschinerie der spätkapitalistischen Kontrollgesellschaften Momente der temporären Selbstbestimmung abringen kann. Allerdings bleibt die im vorangegangenen Kapitel aufgeworfene Frage nach der philosophischen Legitimierung der politisch-ethischen Positionen bestehen, von denen aus sie zum Kampf gegen die Kontrollgesellschaften aufruft. Hier reproduziert ihr Werk die Aporie ihrer philosophischen Vorbilder Deleuze, Guattari und Foucault, bei denen sich ein Restwiderspruch zwischen ihren dekonstruktivistischen Theorien und ihrem politischen Engagement nicht völlig auf lösen lässt. Wie ihre Vordenker entkommt Acker dem Dilemma nicht, das Subjekt einerseits als Produkt kultureller Systeme ohne ontologische Vorgängigkeit zu begreifen, es andererseits aber „befreien“ zu wollen. Ihr scheint diese Inkonsequenz in ihrem Werk nicht völlig verborgen geblieben zu sein. Sie hat sie zwar nicht direkt thematisiert, doch im Interview mit Lotringer findet sich ein aufschlussreicher Satz: „If you scratch hard, you find that I’m a humanist in some weird way [meine Hervorhebung – d. Verf.]. Well, humanist, you know what I mean.“8 Selbst wenn man annehmen kann, dass Acker diesen Satz in ironischem oder polemischen Tonfall geäußert hat, offenbart er doch eine auf den ersten Blick versteckte Wahrheit ihres transgressiven Projekts: es hat ein unbesstreitbar ein resthumanistisches Element, weil es den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Auch wenn Acker die Idee der cartesianischen Autonomie des Individuums genauso ablehnt wie die Idee eines authentischen, „wahren“, unnormierten Subjektes, zielt sie letztendlich doch auf eine unbestimmte Form der Souveränität des Einzelnen ab. Alle in ihren Romanen beschriebenen Versuche, die Grenzen des „Ich“, des Wissens, der Erfahrung, der Kunst, des Körpers, der Sexualität und der Sprache zu sprengen, haben zum Ziel, der als Zwangssystem verstandenen Hegemonialkultur die Hoheit über das Individuum zu entreißen, es zu einer permanenten Infragestellung und Neuerfindung seiner selbst anzuhalten, um letztendlich ein humaneres Leben zu erlangen. In Ackers Plädoyer für Autopoiesis, das sich auf textueller Ebene im souveränen Element des „Schriftstellers“, der neue Verkettungen aus vorhandenen Narrativen baut, oder inhaltlich beispielsweise im Masochisten, der durch ein Moment souveräner Unterwerfung die Kontrolle über die Situation behält, oder in Gestalt des „Body Modifiers“, der seinen Körper selbst „schreiben“ will manifestiert, klingen die Reste einer humanistischen Vorstellung vom Subjekt mit, die auf eine Autonomie verweisen, die Acker eigentlich theoretisch ablehnt. In einer latenten, diffusen und nicht fassbaren Form geistert das Subjekt auch nach seinem Tod noch immer durch ihre Bücher. Einmal mehr zeigt sich hier eine Variante des Ackerschen Doublebind: Ihre Literatur ist durchzogen von einer Sehnsucht nach dem freien selbstbestimmten Subjekt, das für sie von ihrer poststrukturalistischen Perspektive aus jedoch eine – wenn auch schöne – Illusion ist. Doch wo es dem traditionellen Humanismus um die Befreiung der Iden8 | Lotringer/Acker: a. a. O., S. 17.

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tität des Individuums aus ihrer Entfremdung geht, geht es in Ackers Variante um die Befreiung des Individuums von Identität als Zwangsstruktur an sich. Somit werden alle Diskurse, die darauf abzielen, fixierte Identität und systemkonforme Subjektivität zu produzieren, zur Zielscheibe von Ackers Kulturkritik, die darum bemüht ist, den Menschen aus dem Gefängnis der Eindeutigkeit zu befreien. Letztendlich kann man Ackers dekonstruierten Humanitätsbegriff und die daraus resultierenden ethischen Koordinaten anhand ihrer Ablehnung des im Grunde aristotelischen Entweder-OderDenkens festmachen: Alle binären Differenzen in der westlichen Kultur sind für sie inhuman, weil sie den Menschen in bestimmten Identitäts-, Denk-, Handlungs-, Wissens- und Erfahrungsmustern arretieren, während alle hybriden Differenzierungen zumindest die Möglichkeit einer Humanität beinhalten, weil sie dies eben nicht tun. Da das Hybride sich seinem Wesen nach einer eindeutigen Zuschreibung entzieht, kann es auch keine Utopie im traditionellen Sinn darstellen, die ihrem Wesen nach nur die Vorstellung eines „guten Anderen“ ist. Somit ist es das Verdienst Ackers, dass sie den modernen Vorstellungen von Transgression, Avantgarde, Sub- und Gegenkultur die „große Erzählung“ des „Außen“ ausgetrieben hat. Auch hierin sehe ich eine nachhaltige Ebene der Relevanz ihres Werkes jenseits der zeitgebundenen Aspekte. Sie versucht, ihren Humanismus nicht als absoluten „Ismus“ zu denken, ohne den Glauben an die Möglichkeit eines authentischen und autonomen Subjekts oder die Option eines besseren utopischen Ortes bzw. Systems. Ihre transgressiven Gesten kennen keine metaphysische oder absolute Begründung und können sich nicht auf universelle Narrative wie die Religion, die Vernunft, die Ideologie, den Weltgeist oder die Natur berufen. In ihrer Analyse der postmodernen Welt bleibt das Individuum im transgressiven Kampf gegen die Macht radikal auf sich selbst zurückgeworfen und kann nur im Experiment und in der permanenten Suchbewegung auf der Grenze Freiräume finden. Dies als Geschenk oder Fluch zu interpretieren, bleibt Sache jedes einzelnen Lesers ihrer Romane. Dirk Hohnsträter hat in seinem „Lob des Grenzgängers“ beschrieben, wie flüchtig und fragil diese liminalen Momente sind: Grenzzus tände bleiben immer labil, können ,umkippen‘. Nur in der Bewegung lassen sie sich aufrecht erhalten. Ihr Gelingen is t unauf löslich mit Veränderung verknüpft. Die Synthesen des Grenzgängers sind nicht selten Provisorien; er muß präsent bleiben, bereit, umsichtig, gewandt. Querverbindungen faszinieren ihn, erspürt er doch die verborgenen Gleichheiten und gegenseitigen Bedingtheiten der unterschiedlichen Seiten, erkennt ihre Partikularität, genießt ihren Glanz. Den Launen des Zufalls und den ers taunlichs ten Koinzidenzen gegenüber aufgeschlossen, bleibt er in allen Wechselfällen des Lebens doch am selben Ort: auf der Grenze. Auf merkwürdige Weise is t dieser Ort zugleich ein Nicht-Ort, denn indem der Grenzgänger der einen wie der anderen Seite suspekt is t, is t er ein einsamer Mensch.9

Für den Menschen in der postmodernen Situation gibt es keine endgültige und kollektive Erlösung, sondern nur dauerhaftes Nomadentum als Solitär. Es ist diese Er9 | Hohns träter: a. a. O., S. 244.

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kenntnis – und nicht die plakative Drastik ihrer inhaltlichen Tabubrüche und die Sperrigkeit ihrer Ästhetik – die Acker zu einer wirklich radikalen und unbequemen Autorin macht. Man mag versucht sein, in ihr eine Kulturpessimistin zu sehen, weil sie keine Lösung, keine „loci amoeni“, keine bessere andere Seite, noch nicht einmal ein besseres und stabiles subkulturelles Gemeinwesen anbietet. Doch das würde das „Zwischen“, in denen sie ein großes Potential für die Veränderung von Individuum und Gesellschaft verortet, völlig entwerten. So erscheint es mir treffender, sie nicht als Kultur-, sondern als Utopiepessimistin zu charakterisieren, deren ganz eigene Spielart des Humanismus darin besteht, dem Menschen in der postmodernen Situation den Weg des kulturellen Grenzgangs aufzuzeigen und dabei gleichzeitig eine unangenehme Wahrheit in Bezug auf seine Sehnsüchte zu verkünden: „These are the times when we no longer have the myth of escape.“ (IM 189)

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Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Juni 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) »Schloss«-Topographien Lektüren zu Kafkas Romanfragment Juni 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts Juni 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Natalia Borisova Mit Herz und Auge Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur Februar 2013, 264 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2295-9

Jan Gerstner Das andere Gedächtnis Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts 2012, 442 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2280-5

Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre März 2013, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0

Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« Juni 2013, ca. 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3

Stefan Schukowski Gender im Gedicht Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik April 2013, 262 Seiten, kart.,zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2231-7

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 322 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters

Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

2012, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

2012, 318 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur

Februar 2013, 324 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Mai 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2

2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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