Welt als Gabe: Hermeneutische Grenzgänge zwischen Theologie und Phänomenologie 3402110172, 9783402110171

129 97 2MB

German Pages [806] Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Welt als Gabe: Hermeneutische Grenzgänge zwischen Theologie und Phänomenologie
 3402110172, 9783402110171

Table of contents :
Title
INHALT
ZUEIGNUNG
VORSPRÜCHE
I. ANSTELLE EINER EINFÜHRUNG
II. KULT UND KULTUR
III. WELT IM MODUS DES DATIVS
IV. WELT TRANSZENDIEREN? WELT TRANSFORMIEREN?
V. »ALS OB ICH GEGEN EINE WAND REDETE …«
VI. »IN EEN HOECKSKEN MET EEN BOECKSKEN«
VII. ZWEITE NAIVITÄT
VIII. CHRISTLICHER ERLÖSUNGSGLAUBE UND JÜDISCHE MESSIASERWARTUNG
IX. »… QUOD UBIQUE, QUOD SEMPER, QUOD AB OMNIBUS CREDITUM EST.«
X. »GOTT – INEXISTENT, ABER UNABWEISBAR«?
XI. THEOLOGIE UND BIOGRAPHIE
XII. MARTYRIUM
XIII. SPRACHLOSIGKEIT, ERLAUSCHEN, ERLAUTEN
XIV. ERBSÜNDE? ERBGNADE?
XV. WAS WÜRDE FEHLEN, WENN DIE OSTERHOFFNUNG FEHLTE?
ANHANG
NAMENREGISTER
SACHREGISTER
NACHWEISE DER ERSTVERÖFFENTLICHUNG
VORLESUNGSPROGRAMME

Citation preview

26

Jerusalem ist durch das Bekenntnis zur Menschwerdung des Logos in einzigartiger Weise Ursprungsort der wohl umfassendsten Zentralperspektive auf Welt, Mensch und Gott. Zugleich ist diese Stadt durch die Geschichte hindurch immer aber auch Inbegriff einer Zersplitterung dieser Zentralperspektive gewesen. So prekär diese Einsicht ist, so bedeutsam ist sie für die Theologie. Denn sie nötigt den Theologen, das Heterogene und Fremde, seinem eigenen Bekenntnis Nicht-Synthetisierbare zu respektieren, ohne doch von der Hoffnung zu lassen, im Anderen könne das Eigenste aufleuchten: Christus, und im Eigenen das Fremde, Verfemte des in Christus offenbar gewordenen Gottes. Um diesen Zusammenhängen näher auf den Grund zu gehen, legt sich eine Form des Denkens nahe, die sich der Phänomenologie verpflichtet weiß und sich deshalb um die Kunst hermeneutischer Vermittlung zwischen den verschiedenen Kulturen und Traditionen, philosophischen wie theologischen Denkstilen bemüht. In drei großen Angängen (Gebet – Offenbarung – Biographie) soll hier eine solche Art existentieller Grenzgängerschaft erprobt werden. Joachim Negel, Dr. theol. habil., war von 2004 bis 2009 Studiendekan des Theologischen Studienjahres Jerusalem. Die hier vorgelegten Aufsätze und Vorlesungen dokumentieren die theologische Arbeit seiner fünf Jerusalemer Jahre.

ISBN 978-3-402-11017-1

26

Joachim Negel Welt als Gabe – Hermeneutische Grenzgänge

26

Joachim Negel

WELT ALS GABE

Joachim Negel

WELT ALS GABE Hermeneutische Grenzgänge zwischen Theologie und Phänomenologie Ökumenische Beiträge aus dem Theologischen Studienjahr Jerusalem 2

Jerusalemer Theologisches Forum (JThF) in Verbindung mit dem Forum ehemaliger Studierender im Theologischen Studienjahr Jerusalem e.V. herausgegeben von Laurentius Klein (†), Michael Bongardt, Heinzgerd Brakmann, Achim Budde, Christoph Markschies, Joachim Negel, Hermann Michael Niemann und Oliver Schuegraf Schriftleitung Nikodemus Claudius Schnabel und Christian Schramm Band 26

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD)

© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbeson­dere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funk­sendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Satz: Corrigenda, Daniela Kranemann, Erfurt Umschlaggestaltung: Gunnar Floss, Köln ­ ruck: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Druckhaus Münster D Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISSN 1439-4634 ISBN 978-3-402-11017-1

INHALT

ZUEIGNUNG ..................................................................................... 17 VORSPRÜCHE .................................................................................. 23 I. ANSTELLE EINER EINFÜHRUNG Erfahrenes Denken – Denken der Erfahrung; Erfahrung der Grenze – Grenzen der Erfahrung; Religiöse Erfahrung – Erfahrung der Religionen: Grundlinien liminaler Theologie ........................................................... 27 1. Theologie als aporetisches Unterfangen ..................................... 31 2. Theologie als hermeneutische Grenzgängerschaft ..................... 39 2.1. Hermeneutik der Offenbarung (Hermeneutik vor der Hermeneutik): Zum Problem religiöser Erschließungserfahrungen .......... 45 (1) »Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit«: Zur transzendentalphilosophischen Begründung religiöser Erschließungserfahrungen (Kant und Hegel in der Relecture Richard Schaefflers) ......... 48 (2) »… laßt euch befreien zur Neuheit des Denkens« (Röm 12,2): Biblische Konkretion religiöser Erschließungserfahrungen ... 54 (3) »Originäre Gegebenheit«: Zur phänomenologischen Begründung religiöser Erschließungserfahrungen (Husserl in der Relecture Richard Schaefflers) .................... 56

2.2. Theologie transversal ........................................................... 58 (1) Transversale Vernunft als hermeneutisches Vermögen der Theologie ..................................................................... 61 (2) Zur Frage nach dem Zusammenhang von transversaler Vernunft und der Einheit des Logos ................................... 63 (3) Das »quo maius cogitari nequit« (Anselm) als formales (tranzendental-ontologisches) Rahmengefüge transversaler Vernunft ........................................................ 65 (4) Transversales Denken als Rettung des Verfemten und Verdrängten ................................................................. 68

6

Inhalt

3. Theologie als phänomenologische Fragekunst ........................... 3.1. Geschichtlich-existentielle Verflüssigung des Dogmas: Noch einmal Hegel ............................................................... 3.2. Paradoxe Wirkungsgeschichte: Husserl, Heidegger, Vattimo ............................................... 3.3. Zur theologischen Valenz phänomenologischer Fragekunst .............................................................................

69 70 74 76

(1) Geist als »Gespräch«: Aufgang von Welt als Einbruch von Evidenz (H. Rombach) ................................................. 76 (2) Stärken und Schwächen hermeneutischer Phänomenologie: Imaginative Prägnanz vs. analytische Präzision ..................... 79

4. »Welt als Gabe« – Präliminarer Gang durch die Texte ............. 83

AUFGANG VON WELT IM GEBET II. KULT UND KULTUR Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst in Judentum, Christentum und Islam ......................................................................... 95 1. Die Fragestellung: Zum Verhältnis von Theologie und Liturgie .............................. 95 2. Der Frageort: »Jerusalem, du hochgebaute Stadt! / Wollt’ Gott, ich wär’ in dir« ......................................................... 98 3. Die Fragerichtungen: Systematisch – biblisch – religionsgeschichtlich ....................... 103 3.1. Fundamentaltheologische Reflexion auf das Verhältnis von Theologie und Liturgie ............................................... 103 3.2. Biblisch-hermeneutische Reflexionen auf das Verhältnis von Kult und Kultur ........................................................... 105 (1) alttestamentlich-frühjüdisch .............................................. 105 (2) neutestamentlich-frühchristlich ......................................... 106 (3) katholisch/evangelisch ...................................................... 109 (4) jüdisch-rabbinisch ............................................................. 110 (5) muslimisch ....................................................................... 112 4. Abschlußprojekt: Triduum Paschale ......................................... 114

Inhalt

7

III. WELT IM MODUS DES DATIVS Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe bei Jean-Luc Marion und Kenneth L. Schmitz. (Auch ein Beitrag zur Frage nach der Möglichkeit eucharistischer Gastfreundschaft zwischen den Konfessionen) ............................................................................... 115 1. Umblick: Phänomenologie des Unscheinbaren – Gabecharakter des Seins – Eucharistischer Lobpreis ............... 2. Einblick: »Welt im Modus des Dativs«: Versuch über eine Phänomenologie der eucharistischen Gabe ..................... 2.1. Gott: Schöpfer des Seins (Kenneth L. Schmitz) ............... 2.2. Gott: jenseits des Seins (Jean-Luc Marion) ....................... (1) Aporetik der Gabe ............................................................

115 121 121 124 125

(2) Theologie im Spannungsfeld von Phänomenologie und Metaphysik ................................................................ 128 (3) Offenbarung: Nähe durch Abstand ................................... 131 (4) Eucharistische Hermeneutik ............................................. 135 (5) Gegenwart als Gabe: Liturgie als »erfüllte Zeit« ................. 138

2.3. Gott als Gabe denken ......................................................... 140 (1) »Gott ist Liebe« (1Joh 4,8.16b), Liebe ist ihrem Wesen nach Mitteilung, weshalb gilt: Gottes Sein ist nicht – es geschieht. ..................................................................... 140 (2) Im Geben empfängt man, im Empfangen gibt man: Kirche als eucharistische Fortsetzung der Selbstentäußerung Christi ................................................. 142 (3) Eucharistischer Lobpreis als Erfahrung der je größeren Nähe Gottes in je größerer Distanz ................................... 145

3. Ausblick: »… denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt« (Hebr 13,2). – Zur Frage nach einer allfälligen Kultur eucharistischer Gastfreundschaft ................. 148 IV. WELT TRANSZENDIEREN? WELT TRANSFORMIEREN? Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie ........ 163 1. Einleitung und Problemstellung ................................................ 163 2. Welt transzendieren: Liturgie als Mysterientheologie (Odo Casel) ............................ 166 3. Welt transformieren: Liturgie als gesellschaftskritische Praxis der Hoffnung (Franz Schupp) ........................................ 172

8

Inhalt

4. Welt im Fokus der Metapher Jesu: Liturgie als metaphorischer Erschließungsvorgang einer die Welt verwandelnden, weil die Welt überschreitenden Wahrheit (Paul Ricœur) .............................................................................. 183 V. »ALS OB ICH GEGEN EINE WAND REDETE …« Von der Vergeblichkeit des Betens und dem Wunder der Erhörung. Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets .................................. 193 1. Exposition ..................................................................................... 2. Biblische Phänomenologie: Drei Arten von Vergeblichkeitserfahrung und Gebetserhörung ....................... 2.1. Abraham .............................................................................. 2.2. Mose .................................................................................... 2.3. Jona ...................................................................................... 3. Religionsphilosophische Kategorien: Gebet als Monologion, als Proslogion, als Dialogos ................ 4. Theologische Zentrierungen: Beten jesuanisch – christologisch – trinitarisch ........................ 4.1. Christliches Beten als Nachahmung der Gebetspraxis Jesu ................................................................ 4.2. Christliches Beten als Gebet »per Dominum nostrum Jesum Christum« ................................................. 4.3. Christliches Beten als Leben im Raum des trinitarischen Gottes ........................................................... 5. Was das Beten dem Theologen zu denken gibt: Geistlich – politisch-ethisch – theologisch ................................

193 195 195 198 199 201 206 206 209 210 211

HERMENEUTIK DER OFFENBARUNG VI. »IN EEN HOECKSKEN MET EEN BOECKSKEN« Theologie als Lesekunst ....................................................................... 223 1. Theologie als Lesekunst – mythologisch ................................... 2. Theologie als Lesekunst – phänomenologisch ......................... 2.1. Phänomenologie – von der Erfahrung der »lebendigen Dinge« her betrieben .................................... 2.2. Phänomenologie – von der Erfahrung der »lebendigen Sprache« her betrieben ................................. 3. Theologie als Lesekunst – metaphorologisch ...........................

225 231 233 237 242

Inhalt

9

VII. ZWEITE NAIVITÄT Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu einem vielbemühten, aber selten verstandenen Konzept .................... 259 1. Einleitung und Problemstellung ................................................. 259 2. »Zweite Naivität«: Religionsphilosophische Herkünfte, begriffliche Genese, untergründige Wirkungsgeschichte ............................ 262 2.1. Weisheitlicher Glaube als »sekundäre Naivität«: Peter Wust ........................................................................... 262 2.2. Sehnsucht nach Erlösung als Ursprung einer neuen, zweiten Naivität: Ernst Simon ............................... 269 2.3. Offene Fragen: Übergang von Wust und Simon zu Paul Ricœur ............. 276 3. »Zweite Naivität« als Fluchtpunkt der Symbolhermeneutik Paul Ricœurs ................................................................................ 280 3.1. »Das Symbol gibt zu denken«: Symbolhermeneutik als performativer Entdeckungsvorgang »poietischer Wahrheit« ................... 280 3.2. Praktizierte »Zweite Naivität«: Ein Beispiel (Mt 2,1–23) ...................................................... 282 4. »Zweite Naivität« bei Wust, Simon, Ricœur: Problemüberhänge und Blick auf eine mögliche Synthese ..... 285 VIII. CHRISTLICHER ERLÖSUNGSGLAUBE UND JÜDISCHE MESSIASERWARTUNG Reflexionen über ihr Verhältnis aus Anlaß der revidierten Karfreitagsfürbitte ................................................................................ 289 1. Problemstellung .......................................................................... 2. Vorüberlegung: »Der Neue Bund im Alten« – »Der Alte Bund im Neuen«. Grundsätzliche Bemerkungen zu einer christlichen Israeltheologie ................. 3. Hermeneutische und religionsgeschichtliche Weichenstellung: Christlicher Erlösungsglaube und jüdische Messiaserwartung im Kontext ihrer Entstehungs- und Entfremdungsgeschichte .............................. 4. Systematische Reflexion: Ermöglichung einer Versöhnung zwischen Opfern und Tätern als Prüfstein der Messianität Jesu ....................................................

289

293

298

307

10

Inhalt

5. Einspruch: »Diese Welt ist unerlöst!« – Jüdische Messiaserwartung als Prüfstein für den neutestamentlichen Erlösungsglauben ...................................... 319 6. Ausblick: Und die Karfreitagsfürbitte …? .................................. 325 IX. »… QUOD UBIQUE, QUOD SEMPER, QUOD AB OMNIBUS CREDITUM EST.« Die Fraglichkeit des Traditionsarguments. Erwägungen zu möglichen lehramtlichen Entwicklungen am Beispiel der Konzilserklärung »Nostra aetate« ................................ 331 1. Einstieg und Fragestellung: Jerusalem, 5. November 2005 ...... 331 2. Was ist Tradition? Relecture eines schillernden Begriffs ......................................... 334 2.1. Neutestamentliche παράδοσις als Ineinsfall von Rezeption und Produktion: Annäherung an den katholischen Traditionsbegriff ............................................ 334 2.2. Kirchliches Traditionsgeschehen als geschichtliche Entfaltung dessen, was die neutestamentliche traditio (regula fidei) bezeugt: Vinzenz von Lérins, Comm. 2 und 23................................ 337 3. Zur Frage nach der vom Zweiten Vatikanischen Konzil angewendeten Traditionshermeneutik ..................................... 341 3.1. Eingespannt zwischen der Endgültigkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und ihrer noch ausständigen Vollendung: »Nostra aetate«, gelesen im Spiegel eines dynamischen Traditionsverständnisses .............................. 342 3.2. Reformorientierte Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre im Geist kirchlicher Tradition oder aber ein zu beklagender oder zu begrüßender Traditionsbruch? .......... 345 4. Ausblick: Zur Frage nach etwaigen Neupositionierungen des Lehramts in Geschichte, Gegenwart und Zukunft ................... 346 X. »GOTT – INEXISTENT, ABER UNABWEISBAR«? Die Religionstheorie Christoph Türckes als Anfrage an die Theologie .. 353 1. Einstieg: Christoph Türcke – enfant terrible oder terrible simplificateur der Theologie? ....................................... 353 2. Die These .................................................................................... 355

Inhalt

2.1. Entstehung der Religion aus archaischer Schreckensbewältigung. Das Trauma als Schlüssel menschlicher Kulturentwicklung ....................... 2.2. Religionskritische Folgerungen: Zur Notwendigkeit einer Überwindung atheistischer Religionskritik als einer Kritik »ersten Grades« durch eine über sich selbst aufgeklärte Kritik als einer solchen »zweiten Grades« ......................................... 3. Würdigung und Kritik ................................................................. 3.1. Zur Aporetik totalisierender Ursprungstheorien ............. 3.2. Theologische Folgerungen: Zur Notwendigkeit einer Fortentwicklung affirmativer Theologie als einer Theologie »ersten Grades« hin zu einer zu sich selbst weisheitlich in Distanz stehenden Theologie als einer solchen »zweiten Grades«

11

355

366 368 368

373

BIOGRAPHISCHE BEWÄHRUNG XI. THEOLOGIE UND BIOGRAPHIE Trinitätstheologische Spurenlese eines prekären Verhältnisses .............. 393 1. Theologie und Biographie: Entfaltung der Fragestellung ........ 1.1. Theologie biographisch ...................................................... 1.2. Biographie theologisch ....................................................... 1.3. Zerspaltung von Theologie und Biographie: Gegenprobe ........................................................................ 2. Theologie als Biographie: Konkretisierung der Fragestellung ............................................ 2.1. Der Vater: Fridolin Stier (1902–1981) .............................. 2.2. Der Student: Pier Giorgio Frassati (1901–1925) .............. 2.3. Der Mönch: Christian de Chergé (1937–1996) ................ 3. Theologie ist Biographie: Systematisierung der Fragestellung ........................................... 3.1. Hermeneutische Vorüberlegungen .................................... Kleine Phänomenologie religiöser Erfahrung (Exkurs) ........... 3.2. Biographische Gottesbeschreibungen als Matrix existential-pragmatischer Theologie am Beispiel Fridolin Stiers .................................................

393 396 398 400 410 413 420 427 440 443 447

458

12

Inhalt (1) Welt als Erfahrungsraum Gottes: Monistische vs. personale Formen der Gotteserfahrung ..... 458 (2) Vielperspektivischer Blick auf die Welt: Kosmologischer Außengrund vs. noologischer Ingrund als Fundament einer trinitarischen Relecture des Verhältnisses von Welt, Mensch und Gott ......................... 462 (3) Die Frage nach der »Endgültigkeit« des Todes als Frage nach dem Verhältnis von »Objektivität« und »Subjektivität« menschlicher Welt- und Selbsterfahrung ..... 467

3.3. Biographische Gottesbeschreibungen als Zugang zur dreifaltigen Wirklichkeit Gottes .................... 477 (1) Zur begrifflich notwendigen, existentiell aber nicht hinreichenden Ausbuchstabierung des neutestamentlichen Offenbarungsgeschehens seitens der zeitgenössischen Trinitätstheologie ............................................................. 477 (2) Biographietheologische Eintiefung des neutestamentlichen Offenbarungsgeschehens: Fridolin Stier, Pier Giorgio Frassati, Christian de Chergé ......................... 482 (3) Phänomenologische Annäherung an das Geheimnis Gottes als des Dreifaltig-Einen: Zur Frage nach der existenzerhellenden Kraft des Trinitätsdogmas ................................................................ 488 (a) Geist in Welt – Welt in Geist: Zum Zusammenhang von Kosmologie und Metaphysik, biblischem Schöpfungsglauben und trinitarischem Theismus ....................................... 488 (b) »Alles in Gott« – »Gott in/über/gegenüber allem«: Trinitarisches Gottdenken als Ineinsfall von Theismus und Pan-en-theismus ................................................... 497 (c) »Seit ein Gespräch wir sind…« (Hölderlin): Phänomenologische Annäherungen an das Ineffabile Mysterium SS. Trinitatis ............................... 508

3.4. Biographische Gottesbeschreibungen als theologisches Glaubwürdigkeitsargument ........................ 548 XII. MARTYRIUM Zur theologischen Valenz eines verstörenden Phänomens ..................... 557 1. Einführung: Warnung vor dem Martyrium – Ruf nach dem Martyrium. Zur aktuellen Verzwiespältigung eines religiösen Phänomens ...................................................... 557 2. Systematische Entfaltung ........................................................... 562

Inhalt

2.1. Aporetik des Zeugnisses: Der Untergang des Zeugen als Aufgang seiner Sache (Sokrates im Spiegel von Nietzsche) ....................... 2.2. Hermeneutik des Zeugnisses: Der Aufgang der Sache als Gericht, unter welchem das Zeugnis des Zeugen steht (Paul Ricœur) .................... 2.3. Ästhetik des Zeugnisses: Das absolute Zeugnis als ein solches, in welchem die Sache, von welcher der Zeuge Zeugnis ablegt, sich selbst bezeugt .............................................................. (1) Karl Rahner ..................................................................... (2) Hans Urs von Balthasar .................................................... (3) Roman A. Siebenrock/Raymund Schwager ....................... (4) Noch einmal Hans Urs von Balthasar ................................ 3. Einsammlung einer Theologie des Martyriums im Begriff der Zeugenschaft: Drei Ausblicke .............................................. 3.1. »Nur im Echo unserer Antwort wird uns vernehmbar der Gott« – Zur unhintergehbaren Zwiespältigkeit menschlichen Zeugnisses und ihrer möglichen Produktivität ....................................................................... 3.2. »Es gibt Dinge, von denen wüßten wir nichts, wenn es nicht Menschen gäbe, die für sie einstehen!« – Zur Frage nach dem Zusammenhang von Zeugnis und Argument ...................................................... 3.3. »Krone des Martyriums« als Lohn des Zeugen? – Die Auferstehung des Märtyrers als absichtslose Gewißheit ............................................................................

13

562

569

573 573 578 580 584 587

587

595

600

XIII. SPRACHLOSIGKEIT, ERLAUSCHEN, ERLAUTEN Zum Zeugnischarakter der Dichtung Paul Celans ............................... 605 XIV. ERBSÜNDE? ERBGNADE? Grundlegung einer Höhenpsychologie als Beitrag zu einer existentiellen Theologie der Gnade ....................................................... 617 1. Exposition ................................................................................... 617 2. Metapsychologische Beschreibung ............................................ 621 2.1. Freuds Tiefenpsychologie als säkularisierte Erbsündenlehre .................................................................. 621

14

Inhalt

2.2. Noologische Höhenpsychologie nach Viktor E. Frankl als therapeutische Gnadenlehre ........................................ 625 3. Phänomenologische Verortung: Menschliche Existenz im Bild der Doppelparabel .................... 629 3.1. Der geschichtliche Lebensbogen: Herkunft und Hinkunft ..................................................... 629 3.2. Der pneumatische Lebensbogen: Höhenparabel ............. 631 3.3. Der somatische Lebensbogen: Tiefenparabel ................... 632 3.4. »homo apertus ad spiritum« vs. »homo incurvatus in seipso«: Menschliche Existenz als begnadete und gefährdete im Bild der geöffneten bzw. verschlossenen Doppelparabel .................................. 635 4. Christologische Fundierung ....................................................... 639 4.1. Der geerdete Himmel: Karl Rahner .................................. 639 4.2. Erkämpfte Freiheit: Hans Urs von Balthasar .................... 640 5. Existentielle Bewährung: Erlösung aus ererbter Prägung? Erlösung durch gewährte Prägung? Zur Frage nach den Bedingungen existentieller Gnadenerfahrung ......................... 642 5.1. In theologischer Perspektive .............................................. 642 5.2. In psychagogischer Perspektive ......................................... 644 5.3. In mystagogischer Perspektive ........................................... 645 6. Rückblick ..................................................................................... 646 XV. WAS WÜRDE FEHLEN, WENN DIE OSTERHOFFNUNG FEHLTE? Eine philosophisch-theologische Erkundung ................................. 649 1. Was, wenn nicht? ......................................................................... 650 1.1. »Sehnsucht, daß der Mörder nicht über das Opfer triumphiere« (M. Horkheimer): Ohne Auferweckung vom Tod keine Gerechtigkeit ........ 650 1.2. »Ausbrechen aus dem Kerker der Sinne« (Fr. Stier): Ohne das Osterlicht keine Wahrheitserkenntnis ............. 656 1.3. »Einen Menschen lieben, heißt sagen: ›Du wirst nicht sterben‹« (G. Marcel): Ohne Auferstehung keine Vollendung der Liebe ............ 665 2. Was, wenn doch? ......................................................................... 678

Inhalt

2.1. »Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind …« (1Joh 3,14): Auferstehung als Aufgang österlicher Lebenspraxis ........ 2.2. »Dann werde ich erkennen, so wie auch ich durch und durch erkannt sein werde …« (1Kor 13,12): Auferweckung vom Tod als erschreckende, reinigende, beseligende Gewahrwerdung der göttlichen Innenseite der Welt ............................................................ (1) Neutestamentliche Kontexte ............................................. (a) Naherwartung Jesu ...................................................... (b) Aufhebung des Äquivalenzprinzips .............................. (c) Soteriologische Proexistenz .........................................

15

678

685 688 688 689 696

(d) Zwischenüberlegung: Theologie und Theologiekritik unter dem Gericht des Bilderverbots ........................... 704 (e) Auferweckung vom Tod als utopischer Vorschein der Neuen Schöpfung unter den Bedingungen der alten, unerlösten Welt ........................................... 709 (2) Fundamentaltheologische Kontexte .................................. 715 (a) Der Ausgangspunkt biblischer Auferstehungshoffnung: Erfahrung der Endlichkeit allen Lebens ....................... 717 (b) Der Einschlagspunkt biblischer Auferstehungshoffnung: Erfahrung der das endliche Leben transzendierenden Tiefendimension der Welt ........................................... 721 (c) Der Zielpunkt biblischer Auferstehungshoffnung: »Der Tod verschlungen vom Leben« (1Kor 15,54f.)....... 730 (3) Eschatologische Kontexte ................................................. 732 (a) Himmel – Hölle – Fegefeuer: Purgatorium als Gericht .............................................. 732 (b) Himmel als Vollendung der Selbst-, Welt- und Gottesfähigkeit des Menschen: Seliges Leben vor/in/mit Gott .................................... 736

2.3. »Lebendige Ruhe« und »Ruhende Lebendigkeit« (1Joh 1,2/Hebr 4,9f.): Auferstehung und Ewiges Leben als erlöster Ineinsfall der Gegensätze ................................ 741 NACHSPRÜCHE ............................................................................. 749 ANHANG Namenregister .................................................................................. 753 Sachregister ...................................................................................... 773 Nachweise der Erstveröffentlichung ............................................... 791

16

Inhalt

VORLESUNGSPROGRAMME 31. Theologisches Studienjahr 2004/05: Theologie und Biographie. Religion, Glaube und Lebensgestaltung im Spannungsfeld zwischen Individualität und Sozialität ............................................. 793 32. Theologisches Studienjahr 2005/06: Figuren der Offenbarung. Gotteserfahrung in den drei abrahamitischen Religionen und ihre theologische Reflexion ..................................................... 794 33. Theologisches Studienjahr 2006/07: Kult und Kultur. Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst in Judentum, Christentum und Islam ................................................. 796 34. Theologisches Studienjahr 2007/08: Gedächtnis und Geschichte(n). Jüdische, christliche und muslimische Gedächtniskultur im religionspluralistischen Kontext ...................................................... 799 35. Theologisches Studienjahr 2008/09: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« (Joh 18,36) Herrschaft und Macht in den Religionen ...................................... 801 36. Theologisches Studienjahr 2009/10: »Verstehst du auch, was du liest?« (Apg 8,30) Schriftauslegung und Hermeneutik in den monotheistischen Religionen ......................................................................................... 803

ZUEIGNUNG

Das Letzte, was man findet, wenn man ein Werk schreibt, ist, daß man weiß, womit man beginnen soll. (Blaise Pascal1) Das Letzte, was man findet, ist das Naheliegende. (Micha Richtarsky2)

Ob es die Matzen waren, die mein Vater eines Tages aus dem Paderborner Feinkostgeschäft »Schmidt im Schildern« mitbrachte und die, mit frischer Butter bestrichen, von uns Kindern mit Behagen verzehrt wurden …? Oder seine Erzählungen »von früher«, von jenen festlichen Mahlzeiten, zu denen er als kleiner Junge bei der Familie Schirokauer eingeladen war, die im Hause meiner Großeltern wohnte (den Seder-Besuch erwiderten die jüdischen Mieter am Ersten Weihnachtsfeiertag, da saß man beisammen unterm geschmückten Christbaum und sang »Stille Nacht«) …? Ich weiß nicht mehr, was mir mehr Eindruck gemacht hat. In jedem Fall aber erinnere ich mich deutlich, daß der Name Siggi Schirokauer in den abendlichen Tischgesprächen meiner Kindheit präsent war. Siegfried Schirokauer, geb. am 30. November 1922, war sieben Wochen jünger als mein Vater. Die beiden gingen im oberschlesischen Mikultschütz drei Jahre gemeinsam in dieselbe Volksschulklasse; dann trennten sich die Wege. Mein Vater wechselte als Fahrschüler nach Beuthen in die Septima des dortigen Hindenburg-Gymnasiums; Siegfried blieb auf der heimatlichen Volksschule. Aber man verlor sich nicht aus den Augen, die Familien wohnten ja weiterhin im selben Haus in der Tarnowitzer Straße und besuchten sich gegenseitig: an Pessah und an Weihnachten. 1

2

Über die Religion und über einige andere Dinge (Pensées), übertragen und hg. von Ewald Wasmuth, Gerlingen: Lambert Schneider (91994) 27 (Frgm. 19). Der Tag so weit. Aphorismen aus dem Untergrund, Privatdruck. Berlin (o.J.) 5.

18

Zueignung

Aus den Augen verlor man sich erst – und zwar definitiv – als Nathan Schirokauer, Siegfrieds Vater, am Tag nach der »Reichskristallnacht« über die nahe polnische Grenze nach Kattowitz floh und Rosa Schirokauer wenig später mit den Kindern Siegfried und Elli sowie ihrem Bruder Walter und dessen Frau Lottie in Breslau untertauchte. Elli, zwei Jahre älter als ihr Bruder Siegfried, ergatterte noch rechtzeitig vor Kriegsausbruch ein Einreisevisum für England; in Hampstead bei London fand sie eine Anstellung als »domestic servant«. Ihr Onkel Walter und ihre Tante Lottie konnten nach Kalifornien/USA auswandern. Nathan Schirokauer rettete sich nach Shanghai und fristete dort unter abenteuerlichen Umständen sein Leben als Eisverkäufer. Soweit die Erzählungen meines Vaters am Abendbrottisch. Und Siggi, sein Spiel- und Klassenkamerad? Und Rosa, dessen Mutter? – Einmal noch haben sich die Wege meines Vaters mit den ihren gekreuzt. Es muß im zweiten Kriegsjahr gewesen sein, als mein Vater in Beuthen in der Straßenbahn plötzlich Rosa Schirokauer erblickt. Er geht auf sie zu, will sie begrüßen, doch sie wehrt nur erschrocken ab (»Karl, du sollst mich doch nicht ansprechen!«) und verläßt bei der nächsten Haltestelle die Straßenbahn. Was aus ihr und Siegfried geworden ist? Mein Vater hat es nie erfahren – oder er hat es uns nicht erzählt. Wer weiß … Vor drei Jahren, in Jerusalem in der Gedenkstätte Yad Vashem, stieß ich dann zufällig auf ihre Spur. Die Zusammenhänge lassen sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Im Frühsommer 1942, zu jener Zeit, da mein Vater – nach dem Notabitur im Eilverfahren zum Soldaten ausgebildet – seinen Dienst als Wehrmachtsgefreiter im besetzten Frankreich versah, verfrachtete man Siegfried und seine Mutter von Breslau »nach dem Osten«. Irgendwann zwischen 1942 und 1944, vermutlich aber schon im Sommer 1942 (das zumindest legt ein Abgleich der Daten von Yad Vashem nahe), fanden sie in den Gaskammern von Auschwitz, nur 70 Kilometer von ihrer Heimatstadt Mikultschütz entfernt, den Tod. Die Erinnerungsblätter von Yad Vashem geben nicht mehr als die dürftigen Jahreszahlen her, und auch diese nur ungenau. Immerhin konnte ich, elektrisiert durch den Fund in Yad Vashem, über das Internet die Todesanzeige von Nathan Schirokauer ausfindig machen. In der seinerzeit in London erscheinenden jüdischen Exilzeitung »Aufbau« findet sich in der Nummer vom 30. Januar 1948 folgende Meldung: »In Shanghai verschied am 1. Januar 1948 unser unvergesslicher, guter Vater, Schwiegervater, Grossvater, Schwager, Bruder und Onkel NATHAN SCHIROKAUER (fr. Hindenburg, O.-S.) im 62. Lebensjahr. In tiefer Trauer: Hans, Walter und Elli Lehmann, geb. Schirokauer – Hamp-

Zueignung

19

stead-London; Walter und Lottie Kallmann, geb. Robert – Napa/Calif.; Heinrich und Rosa Schirokauer, geb. Prager – Santiago de Chile«. Eine Todesanzeige für Rosa und Siegfried Schirokauer ist, soweit ich sehe, niemals erschienen. Wo und wie auch?! – Zum neunzigsten Geburtstag des Spiel- und Klassenkameraden meines Vaters am 30. November 2012 sei dieses Buch deshalb ihrem Andenken gewidmet. Marburg a.d. Lahn im September 2012

Joachim Negel

IN MEMORIAM

ROSA SCHIROKAUER GEB. KALLMANN

GEBOREN 9. DEZEMBER 1897 IN GLEIWITZ/OS IN AUSCHWITZ, VERMUTLICH SOMMER 1942, ERMORDET

SIEGFRIED SCHIROKAUER GEBOREN 30. NOVEMBER 1922 IN MIKULTSCHÜTZ/OS IN AUSCHWITZ, VERMUTLICH SOMMER 1942, ERMORDET

VORSPRÜCHE Wie der Nabel in der Mitte des Menschen ist, so befindet sich das Land Israel in der Mitte der Welt, wie es heißt: ›Ein Volk, das auf dem Nabel der Erde wohnt‹ [vgl. Ez 38,12]. Und von ihm geht aus der Grundstein der Welt […]. Das Land Israel befindet sich in der Mitte der Welt, und Jerusalem in der Mitte des Landes Israel, und der Tempel befindet sich in der Mitte Jerusalems, und das Allerheiligste in der Mitte des Tempels, und die Lade in der Mitte des Allerheiligsten, und der Grundstein ist vor der Lade, denn von ihm ging aus die Gründung der Welt. (Midrasch Tanhuma zu Lev 19,231) Wir leben in einer Zeit, da die Zentralperspektiven zerbrochen sind. Auch das Ende der großen ideologischen Erzählungen ist nicht mehr zu fordern, es hat längst stattgefunden. […] ›Postmoderne‹ bedeutet, daß man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt. (Jean-François Lyotard2) 1

2

Hans BIETENHARD: Midrasch Tanhuma B (d.i. Rabbi Tanhuma bar Abba über die Tora, genannt Midrasch Jelammedenu), Bd. 2, Bern: Peter Lang (1982) 113. – Die kosmologische Deutung des Midrasch wird von AUGUSTINUS in Auslegung von Joh 2,19– 21 (Ioan. Ev. tract. X, 12) auf die gematrische Deutung des Adam-Namens bezogen und dann christologisch interpretiert: Die vier Buchstaben des Adam-Namens bezeichnen die vier Himmelsrichtungen: ᾿Ανατολή (Osten), Δύσις (Westen), ῎Αρκτος (Norden), Μεσεμβρία (Süden). Ferner wurde 46 Jahre am Zweiten Tempel gebaut (Joh 2,20), worauf ebenfalls der Adam-Name verweist, denn: Α + Δ + Α + Μ = 1 + 4 + 1 + 40 = 46. Markiert auf der einen Seite der Jerusalemer Tempel als Kreuzpunkt der vier Himmelsrichtungen den Mittelpunkt des Makrokosmos, so markiert er zugleich den Mittelpunkt des Mikrokosmos in seiner Urgestalt Adam, des »Irdischen«, wie Adam wörtlich heißt: »von der Erde genommen« (hm=d-a& – Þadamah). Makrokosmos und Mikrokosmos aber koinzidieren heilsgeschichtlich in Christus, dem »Neuen Adam«, in welchem »alles geschaffen« ist (Joh 1,3; Kol 1,16–18), weshalb anstelle des alten Mittelpunktes der Welt, des zerstörten Tempels, der Leib Christi als der »Neue Tempel« (vgl. Hebr 4,14 – 10,18) nun auch neuer Mittelpunkt der Welt ist. Jean-François LYOTARD: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Editions de Minuit (1979). Dt.: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien: Edition Passagen (1986) – zitiert nach einer von Wolfgang WELSCH vorgeschlagenen Über-

24

Es gehört zu den Verkehrtheiten unserer Zeit, den Weg höher zu schätzen als das Ziel, und das Suchen höher als das Finden. Im Sinn des oberflächlich Interessanten mag diese Wertung richtig sein; im entscheidenden Sinn der Wahrheit ist sie falsch. (Hans Urs von Balthasar3)

Wir stehen in einer Epoche des Übergangs, die gezeichnet ist von einem tastenden Agnostizismus, einer müden, bisweilen auch hämischen Skepsis. […] In einer solchen kollektivanonymen Nacht des Geistes […] liegt der Akzent […] auf der Praxis, dem Wegcharakter, der Suche nach Gott, welches Suchen schon in sich ein Wert ist, auch ohne des Zieles gewiß zu sein. (Elmar Salmann4)

3

4

setzung: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH (31991) 32f. Vgl. auch ebd. 31–37, 169–184. Augustinus. Das Antlitz der Kirche, ausgewählt und übertragen von Hans Urs VON BALTHASAR, Einsiedeln/Köln: Benziger (1942) 15. Christologische Orthodoxie und monastische Orthopraxie [1984], in: Elmar SALMANN: Zwischenzeit. Postmoderne Gedanken zum Christsein heute, Warendorf: Schnell (2004) 71–96, hier 73.

Als sie an Land gingen, sahen sie am Boden ein Kohlenfeuer und darauf Fisch und Brot. (Joh 21,9)

I. ANSTELLE EINER EINFÜHRUNG Erfahrenes Denken – Denken der Erfahrung Erfahrung der Grenze – Grenzen der Erfahrung Religiöse Erfahrung – Erfahrung der Religionen Grundlinien liminaler Theologie Die in diesem Buch versammelten Aufsätze sind im Laufe der letzten Jahre im Umfeld des Theologischen Studienjahres Jerusalem entstanden. Sie nehmen seine Themenstellungen auf und entwickeln sie aus der Perspektive einer Theologie, die sich der Phänomenologie verpflichtet weiß und damit zugleich einer Haltung der hermeneutischen Grenzgängerschaft. Jerusalem fordert ja auf elementare Weise zu beidem heraus: sowohl zu einer phänomenologischen Herangehensweise an die Dinge wie auch zum Versuch hermeneutischer Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Denkstilen und Frömmigkeitstraditionen, Lebensformen und Rationalitätsmustern, ethischreligiösen wie politisch-ideologischen Geltungsansprüchen. Denn in welcher anderen Stadt der Welt stieße man auf eine solche Vielzahl geistlicher Traditionen quer durch die Konfessionen und Religionen wie in Jerusalem? Wo konzentrierten sich die Interessen und Herrschaftsansprüche so vieler nationaler und religiöser Bekenntnisse auf ein und dieselben Orte wie in Israel/Palästina? Und wo schließlich gäbe es eine Region, in welcher die Kultur- und Geschichtsräume, die mythologischen und die archäologischen Felder in solcher Dichte, aber auch in so heftigen Verwerfungen über-, neben- und ineinander gelagert sind wie in jenem Levantinischen Landstrich, der den einen als Verheißenes Land gilt, den anderen als Heiliges Land und den dritten schließlich als jenes Fleckchen Heimat, das man ihnen auf räuberische Weise vorenthält? Sowohl die Vielfalt der Sprachund Bevölkerungsgruppen als auch die damit einhergehende Verschiedenheit der Erzähl- und Erinnerungskulturen lassen Jerusalem zu einem Kaleidoskop unterschiedlichster, z.T. konfligierender Hermeneutiken werden, durch die hindurch immer wieder verblüffende und bereichernde, nicht selten aber auch verstörende Perspektiven auf die biblischen Schriften und die mit ihnen verbundenen Traditi-

28

I. Anstelle einer Einführung

onen möglich werden. Je länger man denn auch in Jerusalem lebt, um so unabweisbarer die Einsicht, daß PLURALITÄT – der Schlüsselbegriff der Postmoderne – vorerst wohl der einzige Nenner ist, auf welchen sich das Leben dieser Stadt bringen läßt. Denn neben den erwähnten kultur- und religionsgeschichtlichen Sedimentierungen, Verwerfungen, Überlagerungen ist das moderne Jerusalem von vielen weiteren Widersprüchlichkeiten beherrscht: von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen1, von der Nicht-Synthetisierbarkeit der heterogenen Lebensentwürfe2, von der Vielzahl der Meta-Erzählungen3, von der Dezentrierung des Sinns4, ja von der drohenden Dispersion des Subjekts.5 Fast möchte man von einer Ironie der Geschichte sprechen, daß jene Stadt, die durch das Bekenntnis zur Menschwerdung des Logos zum Ursprungsort der wohl umfassendsten Zentralperspektive auf Welt, Mensch und Gott hat werden können, von Anfang an immer auch Inbegriff einer Zersplitterung eben dieser Zentralperspektive gewesen ist. Ist das aber so verwunderlich? Immerhin liegt ja auf der Hand, daß selbst die imponierendste Zentralperspektive uns immer nur in vielfacher Facettierung bekömmlich ist, andernfalls das Totalisierende einer solchen Perspektive schnell ins Totalitäre umkippte.6 Mit gutem Grund findet sich deshalb schon im Neuen Testament 1

2

3

4

5

6

Man fahre nur einmal im Bus über die Jaffa-Straße in Richtung jüdische Neustadt und begegne dabei einer Gruppe ultra-orthodoxer Juden mit Schläfenlocken und Strejmel, die irritiert eine Gruppe von Punkern anstarrt; allein das Piepsen der Mobiltelefone schafft zwischen beiden Gruppen noch eine gewisse Gemeinsamkeit. Man treffe am Vormittag eine Gruppe amerikanisch-jüdischer Wissenschaftlerinnen an der Hebräischen Universität, die sich der Gender-Problematik widmen, und am Nachmittag des selben Tages in Me’ah She‘arim, nur drei Kilometer vom Skopusberg entfernt, eine Gruppe ultra-orthodoxer Jüdinnen, die auf dem Weg zur Mikwe sind. Man diskutiere in Ma‘ale Adummim mit einem jüdischen Siedlerführer, der die alttestamentlichen Landverheißungstexte im Sinne eines modernen Katasterauszugs liest, und danach auf dem Haram as-Sharif mit einem Vertreter des islamischen Waqf. Man denke an Yad vaShem und erinnere sich der Fassungslosigkeit, in die dieser Ort den deutschen Besucher stürzt: »Was hätte ich womöglich selber getan, wäre mir nicht die ›Gnade der späten Geburt‹ zuteil geworden?« Man besuche in der Hadassah-Klinik die psychiatrische Abteilung und lasse sich vom dortigen Oberarzt das Krankheitsbild des sog. »Jerusalem-Syndroms« erklären, von welchem insbesondere evangelikale Nordamerikaner befallen werden. Oder aber (im jüdisch-israelischen Kontext) erinnere man sich jener absurd-fatalen Geschichte, die vor einigen Jahren in der »Jerusalem Post« berichtet wurde: Am Purimfest fällt ein als arabischer Beduine verkleideter Israeli aus Spaß einen israelischen Soldaten an; er hält auch ihn für verkleidet. Der Soldat erschießt den Kostümierten; er hält ihn für echt. Vgl. hierzu den eindrücklichen, aber auch erschütternden Lebensbericht von Jacques POHIER: Dieu fractures, Paris: Seuil (1985).

Grundlinien liminaler Theologie

29

eine Vielzahl einander ergänzender Blickwinkel auf das Christusereignis: synoptische, paulinische, johanneische, »frühkatholische«7, die in Amalgamierung unterschiedlichster Denktraditionen (platonische Mystik, aristotelische Logik, ägyptische Weisheit, römische Rechtsgelehrsamkeit) wiederum eine Vielzahl christlicher Theologien, alexandrinische wie antiochenische, byzantinische wie afrikanisch-lateinische und lateinisch-fränkische, syrisch-chaldäische wie koptisch-äthiopische freigesetzt hat. Während aber in all diesen Theologien der Fokus auf das eine zentrale Heilsereignis »Jesus Christus« unbestritten bleibt (allein die konkreten theologischen Ausfaltungen differieren8), stellen sich in einer Zeit, die ein grundsätzliches Mißbehagen gegenüber universalisierenden Zentralperspektiven hegt, die Probleme um ein Vielfaches schärfer dar. Immer deutlicher steht jetzt die Frage im Raum, ob angesichts eines monotheistischen Gottesbegriffs, wie ihn die drei abrahamitischen Religionen teilen9, die Dialektiken von menschlicher (analoger) Gottrede einerseits und Gottes inkommensurabler Transzendenz andererseits, innerer Einheit Gottes hier und dem 7

8

9

Wilhelm THÜSING hat deshalb zu Recht sein dreibändiges Hauptwerk unter den Titel gestellt: Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus (Münster: Aschendorff [21996–98]). Man lese den Titel des Buches genau: Es ist da die Rede von neutestamentlichen Theologien (Plural), aber von dem einen Gottmenschen Jesus Christus (Singular). Deswegen kann der Untertitel von Thüsings Buch (s.o. Anm. 7) auch lauten: »Grundlegung e i n e r Theologie des Neuen Testaments« (Sperrung J.N.). Die großflächige Rede von den abrahamitischen Religionen, die im Bekenntnis des einen monotheistischen Gottes übereinkommen, ist natürlich schon für sich gesehen problematisch. Ist die Differenz zwischen einem intransingenten Monotheismus wie dem jüdischen und islamischen und einem sog. »konkreten Monotheismus« wie dem christlichen, der sich als begriffliche Ausbuchstabierung der in Jesus von Nazareth geschichtlich erschienenen Selbstoffenbarung Gottes trinitarisch versteht, nicht doch eine Differenz – ums Ganze?! Oder erweist sich die Trinitätstheologie womöglich als adäquate Ausbuchstabierung jenes Gottes, der sich in der Geschichte des Juden Jesus aus freien Stücken und auf unüberbietbare Weise extrinsice et intrinsice als »Liebe« (vgl. 1Joh 4,8.16) bestimmt hat, d.h. der, weil er Liebe ist, andere Freiheiten neben sich will und sie in diesem Wollen zugleich zu sich selbst ermöglicht und befreit – so daß ein trinitarisches Reden vom Gott Israels auch und gerade für Israel (und schließlich für alle Menschen) unhintergehbare Bedeutung hätte? Vgl. hierzu Karl RAHNER: Einzigkeit und Dreifaltigkeit Gottes im Gespräch mit dem Islam, in: Ders.: Schriften zur Theologie Bd. XIII, Zürich u.a.: Benziger (1978) 129–147; Magnus STRIET: Konkreter Monotheismus als trinitarische Fortbestimmung des Gottes Israels, in: Ders. (Hg.): Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube, QD 210, Freiburg i.Br.: Herder (2004) 155–198, hier insbes. 164ff., 168–171, 184f., 193–198. – Zur Problematik der Rede von den monotheistischen resp. abrahamitischen Religionen vgl. aus religionsgeschichtlicher Perspektive Tilman NAGEL: ›Der erste Muslim‹ – Abraham in Mekka, in: Reinhard G. Kratz/ Ders. (Hg.): »Abraham, unser Vater«. Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (2003) 133–149.

30

I. Anstelle einer Einführung

Verhältnis Gottes zu seinen Selbstentäußerungen in Bundesschluß (Tora), Menschwerdung (Christus) und Qur’an dort nicht jedes theologische Raisonnement immer schon prekär werden lassen. Der Grund für diese Befürchtung liegt in der prinzipiellen Doppelgleisigkeit menschlicher Gottrede beschlossen: Da gilt auf der einen Seite, daß der Glaube an den Schöpfer von Himmel und Erde das Bekenntnis zu einem Gott impliziert, der (als vorlaufender und tragender Grund menschlicher Erkenntnis) alle Erkenntnis übersteigt. Zugleich gilt aber auch, daß uns dieser Gott in den prismatischen Brechungen seiner Geschöpfe faßbar werde: in den Abläufen von Natur und Geschichte, im Gelingen und Mißlingen konkreter Lebensschicksale, im ethischen Handeln gegenüber dem notleidenden Nächsten, schließlich und vor allem in den vielen Formen von Gelübde und Ritual, Fasten und Wallfahrt, Gottesdienst und Gebet. Wie aber sind diese beiden einander recht eigentlich ausschließenden Aspekte: radikale Transzendenz Gottes einerseits, implizite (weil natürliche) bzw. explizite (weil geoffenbarte) Immanenz Gottes andererseits zusammenzubringen? Läuft nicht jeder Begriff göttlicher Gegenwart über kurz oder lang Gefahr, in die Nähe eines ontologisch konzipierten Partizipationsdenkens zu geraten und damit in letzter Konsequenz in die Nähe eines Monismus, in welchem die Unterschiede zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf unterlaufen werden? Läßt sich, anders formuliert, ein strenger Monotheismus überhaupt konsequent denken?10 Wenn dagegen der jüdisch-christliche Glaube an die Selbstbindung Gottes in Bundesschluß und Inkarnation eine konkrete Unterscheidung zwischen Gott und Mensch bekennt und diese Unterscheidung darin bewahrheitet sieht, daß Gott seine Treue zu Israel bzw. zu Jesus bis in die Unkenntlichkeit von Exil und Kreuz bewahrt habe – erhebt sich dann nicht mit Notwendigkeit die Gegenfrage, ob ein solcher Glaube nicht wider Willen riskiert, Gottes Selbstverflüchtigung in den Untiefen der menschlichen Geschichte zu propagieren (eine Selbstverflüchtigung, die auch durch keine noch so elaborierte Trinitätslehre 10

Dies ist ja der Anlaß für die von Klaus Müller eröffnete Monismusdebatte, die dann allerdings ihrerseits erhebliche Gegenfragen aufwirft. Vgl. Klaus MÜLLER: Der Monotheismus im philosophischen Diskurs der Gegenwart, in: Thomas Söding (Hg.): Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus, QD 196, Freiburg i.Br.: Herder (2003) 176–213; DERS.: Über den monistischen Tiefenstrom in der christlichen Gottrede, in: Ders./Magnus Striet (Hg.): Dogma und Denkform. Strittiges in der Grundlegung von Offenbarungsbegriff und Gottesgedanke, Regensburg: Pustet (2005) 47–84. Dazu in kritischer Sympathie Jürgen WERBICK: Gott verbindlich. Eine theologische Gotteslehre, Freiburg i.Br. u.a: Herder (2007) 632–638. Zum Ganzen auch Jan ASSMANN: Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München/Wien: Carl Hanser (2003) 59–64, 96–106.

Grundlinien liminaler Theologie

31

aufgehalten werden kann)?11 – Aus der Perspektive des Islam stellen sich diese Probleme noch einmal anders dar: Wenn das muslimische Bekenntnis zu dem Einen Gott zugleich mit dem Bekenntnis einhergeht, daß dieser Gott sich auf unübertreffbare, weil vollkommene Weise in einer menschlichen Sprache und Kultur, nämlich der arabischen vernehmbar gemacht habe12 – stellt sich dann nicht alsbald die kritische Gegenfrage, ob nicht wiederum ein solches Bekenntnis auf einen Gott hinausläuft, der, weil auf absolute Weise ans Partikulare sich bindend, riskiert, im Partikularen zu verbleiben?13 Solche Fragen, die sich problemlos vermehren ließen, wollen nicht vor allem einen theologiekritischen Ton anschlagen, sondern zunächst etwas von der Atmosphäre einfangen, in der die in diesem Buch versammelten Studien entstanden sind. Diese Atmosphäre wird zwar in Jerusalem auf besondere Weise spürbar, ist aber längst für die Situation der Theologie insgesamt bezeichnend. In wenigstens dreierlei Hinsichten läßt sich diese Atmosphäre beschreiben, und damit sei zugleich Einblick gegeben in die Grundlinien, die den hier versammelten Arbeiten und Aufsätzen gemeinsam sind. 1. THEOLOGIE ALS APORETISCHES UNTERFANGEN Da sind zunächst die prinzipiellen Schwierigkeiten, in die gerät, wer die durch das neutestamentliche Heilsereignis eröffnete Zentralperspektive denkerisch einholen will. Theodor W. Adorno hat diese Schwierigkeiten unnachahmlich auf den Punkt gebracht, indem er die berühmte Hegel’sche Formel »Das Wahre ist das Ganze«14 durch lakonische Umformung in ihr Gegenteil versetzte: »Das Ganze ist das Unwahre.«15 Die Dialektik beider Sätze markiert anschaulich die aporetische Situation, in welcher sich die christliche Theologie spätestens seit der Aufklärung befindet16: Auf der einen Seite das klare 11

12

13

14

15

16

So die Frage von Johann Baptist Metz angesichts allzu unbesorgt formulierender Inkarnationstheologien, allen voran derjenigen Hans Urs von Balthasars. Zur muslimischen Glaubensüberzeugung, die Wahrheit des Koran liege in seiner vollkommenen Sprachgestalt beschlossen, vgl. Navid KERMANI: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München: Beck (22003). So die kritische Frage von Tilman NAGEL: Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck (1994) 150; Nasr Hâmid ABÛ ZAYD: Spricht Gott nur Arabisch?, in: Die Zeit 04/2003 (23. Januar 2003). Phänomenologie des Geistes [Vorrede], in: Suhrkamp-Werkausgabe, Frankfurt a.M.: stw (41993) 24. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1987) 57. Vgl. Gregor Maria HOFF: Aporetische Theologie. Skizze eines Stils fundamentaler Theologie, Paderborn u.a.: Schöningh (1997). – In systematischer Hinsicht hat Heinz Robert SCHLETTE den Begriff der Aporie zum Ausgangs- und Zielpunkt eines religi-

32

I. Anstelle einer Einführung

Wissen, daß eine Theologie, mit der man leben und sterben können soll, entschieden mehr sein muß als ein weiteres religiöses Narrativ. Christliche Theologie geht aufs Ganze, auf einen göttlich gewährten Sinn, der schlechterdings alles umfaßt und deshalb selbst noch für das Sinn- und Hoffnungslose Rat, Hilfe und Rettung weiß.17 Eine christliche Theologie, die sich eine solche Emphase nicht mehr zutraute, die den Mut nicht mehr aufbrächte, affirmativ von Gottes Heil für die Menschen zu sprechen (vgl. 1Petr 3,15b), und zwar weil der Ewige Gott selbst in Jesus Christus affirmativ aufs Ganze gegangen ist – eine solche Theologie hätte sich selber aufgegeben. Nur eine Theologie, die den ganzen Einsatz wagt: von Vernunft und Leidenschaft, präzisem Argument (esprit de géométrie) und seelenvoller Urteilskraft (esprit de finesse), um durch einen solchen Einsatz nicht nur in theoretischer, sondern vor allem in praktischer Hinsicht »die Länge und die Breite, die Höhe und die Tiefe zu ermessen und [darin] die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt« (Eph 3,18f.) – nur eine solche Theologie ist im Wettstreit um die Wahrheit zugelassen und darf darauf hoffen, in ihm zu obsiegen. Alles andere ist bestenfalls tolerante Vielmeinerei oder spirituelle

17

onsphilosophischen Denkens gemacht, dem es um eine intellektuell redliche Verwindung jenes Dilemmas gehe, das durch die Metaphysik- und Religionskritik einer sich selbst fraglich gewordenen Aufklärung unabweisbar geworden sei: Ob man es nicht besser gleich ganz sein lasse, sich mit der unbeantwortbaren Frage nach dem »Wozu und Warum von ›allem‹« herumzuquälen? (Mit der Aporie leben. Zur Grundlegung einer Philosophie der Religion, Frankfurt a.M.: Knecht [1997] hier 24.) Einschlägige philosophie- und theologiegeschichtliche Vorarbeiten zum Projekt einer aporetischen Religionsphilosophie finden sich in den Aufsatzsammlungen Aporie und Glaube. Schriften zur Philosophie und Theologie, München: Kösel (1970), hier 15–22, 36–62, 330f.; Skeptische Religionsphilosophie. Zur Kritik der Pietät, Freiburg i.Br.: Rombach (1972), hier 23–42, 118–143; Glaube und Distanz. Theologische Bemühungen um die Frage, wie man im Christentum bleiben könne, Düsseldorf: Patmos (1981), hier 15–62, 148–156. Dagegen sind die Schlußbetrachtungen in der als Festschrift konzipierten Aufsatzsammlung Konkrete Humanität. Studien zur Praktischen Philosophie und Religionsphilosophie (Hg. Johannes Brosseder u.a., Frankfurt a.M.: Knecht [1991]) aus einer Perspektive melancholisch-resignativer Abschiedlichkeit verfaßt. (Ebd. 458–472.) – Zum Ganzen auch unten Anm. 29 und 32. Eben deshalb hält auch Adorno noch an der Totalitätsprämisse fest. Das Ganze ist für ihn »das Unwahre« (s.o. Anm. 15) nur insofern, als es die falsche Gesellschaft und deren Verblendungszusammenhang bezeichnet. Daß hingegen wirkliches Heil die Geschichte als ganze umfassen und die Form einer sogar noch die Natur einschließenden Versöhnung haben müsse, stand für Adorno unverrückbar fest. Erinnert sei hier nur an den berühmten Aphorismus, mit welchem die Minima Moralia schließen: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« (AaO. 333.)

Grundlinien liminaler Theologie

33

Anmutung, wahrscheinlicher noch reflexionslose Anbiederung an den Markt der Religionen, auf keinen Fall aber christliche Theologie. In Anlehnung an Johann Baptist Metz wäre deshalb folgender theologische Hauptsatz zu formulieren: »Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt kein Thema!«18 Aber kaum hat man diese vollmundigen Worte ausgesprochen, da drohen sie einem auch schon wie modrige Pilze im Mund zu zerfallen.19 Denn die hilflose Frage »Was ist Wahrheit?« (vgl. Joh 18,38) muß ja nicht notwendig nur auf religiöses oder philosophisches Desinteresse, gar auf achselzuckenden Zynismus zurückzuführen sein; nicht selten artikuliert sich in ihr ein bekümmerter Agnostizismus, dem die kraftvollen Sicherheiten abhanden gekommen sind.20 Und in Zeiten eines beängstigenden Wiedererstarkens fanatisierter (weil politisch mißbrauchter) Religion ist sie nicht zuletzt womöglich Ausweis der Sorge, daß man sich um der Wahrheit willen doch bitte nicht gegenseitig totschlagen möge.21 Tatsächlich stellt ja das »extra ecclesiam nulla salus« in seinen vielfältigen ideologischen Spielarten (»Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!«) die widerlichste 18

19

20

21

Johann Baptist METZ: »Gott ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt kein Thema.« (Gotteskrise als Signatur der Zeit, in: Ders.: Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Zeit, Freiburg i.Br. u.a.: Herder [2006] 69–78, hier 70.) Ähnlich Thomas PRÖPPER: »Meine Wahrheit wäre nicht Wahrheit, wenn sie nicht Wahrheit für alle sein könnte.« (Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott. Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben, in: Ders.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br.: Herder [2001] 72–92, hier 74.) Pröpper dürfte hier ein Wort von Wolfhart PANNENBERG variieren: »Ohne einen stichhaltigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit können der christliche Glaube und die christliche Verkündigung das Bewußtsein ihrer Wahrheit nicht bewahren; denn Wahrheit, die nur meine Wahrheit wäre und nicht zumindest dem Anspruch nach allgemein wäre, für alle Menschen gelten sollte, – eine solche ›Wahrheit‹ könnte auch für mich nicht wahr bleiben.« (Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1983] 15.) Vgl. Hugo VON HOFMANNSTHAL: Brief des Lord Chandos, in: Gesammelte Werke Bd. VII (Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen), Frankfurt a.M.: Fischer Tb (1979) 461–472, hier 465. Gründe für ein Abhandenkommen religiöser Gewißheit gibt es in der Tat genug. Vgl. dazu unten in der Studie XI den Abschnitt 1.3 (»Zerspaltung von Theologie und Biographie: Gegenprobe«). Wobei davon unberührt bleibt die Frage Sören KIERKEGAARDs, ob die Größe des Menschen nicht gerade darin bestehe, capax veritatis zu sein und man deswegen das Recht, ja womöglich die Pflicht habe, sich für eben diese Wahrheitsfähigkeit im Extremfall sogar totschlagen zu lassen: Hat ein Mensch das Recht, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen?, in: GW 21.–23. Abtlg., Kleine Schriften 1848/49, Düsseldorf/Köln: Eugen Diederichs (1960) 77–114. – Vgl. dazu unten die Studie XII: »Martyrium. Zur theologischen Valenz eines verstörenden Phänomens«.

34

I. Anstelle einer Einführung

Form des Insistierens auf Wahrheit dar. Daß in der skeptischen Atmosphäre unserer Spät- und Nachmoderne gegen den Wahrheitsbegriff immer sogleich der Verdacht der Wahrheitshuberei erhoben wird, »Wahrheit« bisweilen geradezu als fundamentalistischer Kampfbegriff denunziert wird22, hängt eben auch mit den bitteren Erfahrungen des zuende gegangenen 20. Jahrhunderts zusammen.23 Und in einer Stadt wie Jerusalem, wo das Insistieren auf dem Wahrheitsbegriff nur allzu leicht zu klerikaler Rechthaberei und theologischem Chauvinismus verkommt (die politischen Konsequenzen solcher Haltungen kann man dann der Tagespresse entnehmen), verbieten sich solche Ausschließlichkeiten sowieso gleich ganz. Die in den letzten Jahren allenthalben erhobene Forderung, man möge die exklusive Monomythie einer alleinseligmachenden Wahrheit zugunsten einer pluralen, weltoffen-toleranten Polymythie aufgeben24, wird vor diesem Hintergrund zumindest verständlich. Aber kommt man damit durch? Auch hier wird man noch einmal skeptisch sein müssen.25 Denn zwar hat die fortschreitende Differen22

23

24

25

So etwa in dem Pamphlet von Alain POSENER (Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikan auf die moderne Gesellschaft, Berlin: Ullstein [2009]), dessen an Nietzsche anknüpfende hermeneutische Prämisse impliziert, Aussagen, die mit einem metaphysischen Geltungsanspruch verknüpft seien, gehe es nicht vor allem um Wahrheitserkenntnis, sondern um die Durchsetzung uneingestandener Interessen. Vgl. hierzu die packende Analyse von Silvia STRAHM BERNET: Die größten Unmenschlichkeiten hat man im Namen eines schönen Heilskonzeptes begangen. Universale Erlösungsvorstellungen und ihr Hang zum Totalitären, in: Dies./Regula Strobel (Hg.): Vom Verlangen nach Heilwerden. Christologie in feministisch-theologischer Sicht, Fribourg-Luzern (1991) 81–99. Odo MARQUARD: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart: Reclam (1981) 90– 116; Jan ASSMANN: Die mosaische Unterscheidung oder: Der Preis des Monotheismus, aaO.; Hans BLUMENBERG: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (51990) 256f., 264–267. – Dazu insgesamt auch Arnold ANGENENDT: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster: Aschendorff (22007) 88–109. Die Frage, die sich uns stellt, ist ja, ob es gegenüber der affirmativen Affirmation Hegels (»Das Wahre ist das Ganze«) und der affirmativen Skepsis Adornos (»Das Ganze ist das Unwahre«) nicht auch eine Skepsis gibt, die noch einmal sich selbst gegenüber skeptisch ist: Können wir uns denn wirklich sicher sein, daß »das Ganze das Unwahre« ist? Eine solche den autoritären Gestus verweigernde Skepsis, die, insofern sie sich selbst gegenüber noch einmal skeptisch ist, sich beständig auf der Höhe ihres eigenen Nichtwissens zu halten versucht (eines Nichtwissens, das als solches natürlich auch noch ein Wissen ist), muß keineswegs intellektueller Velleität entspringen oder zur raffinierten Bemäntelung der eigenen Denkfaulheit herhalten. Vielmehr läßt sie sich von den großen Fragen in der Weise betreffen, daß sie ohne jede Apodiktik die Antworten der Tradition erwägt, aus welchem Erwägen dann womöglich eine Haltung der »docta ignorantia« entspringt, die eine solche des Glaubens sein kann. – Vgl. dazu Günter BADER: Assertio. Drei fortlaufende Lektüren zu Skepsis, Narrheit und Sünde bei Erasmus und Luther (HUTh 20), Tübingen: Mohr Siebeck (1985) 22–31 (Geschichte des spätantiken Skeptizismus), 31f.

Grundlinien liminaler Theologie

35

zierung der modernen westlichen Gesellschaften und die mit ihr einhergehende Auflösung der traditionalen Milieus und religiösen Lebenszusammenhänge zu einer ungeahnten Befreiung von weltanschaulichen Bevormundungen und ideologischen Geltungsansprüchen geführt – und dadurch bei Unzähligen »einen enormen Individualitäts- und Freiheitszuwachs« bewirkt; zugleich aber dämmert es den nachdenklicheren unter den Zeitgenossen, daß der im globalisierten Weltdorf längst definitiv gewordene Pluralismus der Kulturen und Lebensstile keineswegs einfach mit einem Zuwachs an selbstverantworteter Lebensgestaltung identisch ist. Die mittlerweile »ganz individuell zu leistende Aufgabe der Identitätsbildung« stellt für viele eine Überforderung dar, zumal gleichzeitig mit der zunehmenden Auflösung der überkommenen Sinn- und Handlungsmuster »in allen Bereichen (Arbeitswelt, Bildung, Konsum) neue Abhängigkeiten und strukturelle Anpassungszwänge« entstanden sind. Ein Blick auf die neuen Unübersichtlichkeiten in Politik und Ökonomie, Medien und Kultur gibt jedenfalls Anlaß zur Skepsis: Hat die Flut der auf uns einströmenden Informationen tatsächlich eine präzisere, entschiedenere Wahrnehmung unserer Verantwortung für die Welt und den Nächsten zur Folge? Bedeutet die Verabschiedung der universalen Visionen, die im Gefolge des jüdisch-christlichen Erbes einmal projektiert worden waren, wirklich nur eine Befreiung von totalitären Denkschablonen? Hat die Wirtschaft nicht längst alle Lebensbereiche derart rabiat kolonisiert, daß noch unsere vermeintlich selbstbestimmten, persönlichsten Gedanken und Stimmungen von ihren subtilen (oder auch grobschlächtigen) Vorgaben angetrieben und beeinflußt werden? – Die Fragen so zu stellen heißt, die Richtung ihrer Beantwortung anzudeuten. Denn wo im Gefolge des fröhlichen Pluralismus und der freundlichen Polymythie alle Sprachmuster möglich werden und alle Handlungsmuster gleichrangig, da verblassen immer mehr die Kriterien, anhand derer sich einmal entscheiden ließ, was Wahrheit sei und wie man – ihr entsprechend – sein Leben sinnvoll gestalten solle26: Daß Freiheit eine Vorgabe ist, zu der ich mich entscheiden muß, weil erst die Wahl der Freiheit eine Freiheit der Wahl ermöglicht, in deren Gefolge ich dann auch Verantwortung übernehmen kann für das, was ich will und tue;

26

(Cusanus). – Die folgenden Formulierungen in Anschluß an Thomas PRÖPPER: »Wenn alles gleich gültig ist …« Subjektwerdung und Gottesgedächtnis, in: Ders.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, aaO. 23–39, hier 33f. Das Folgende in Anlehnung an ebd. 27–32.

36

I. Anstelle einer Einführung daß wiederum das Bewußtsein, verantwortlich zu sein für diese Welt, sich keineswegs reduzieren läßt auf einen evolutionsbiologisch bedingten Altruismus oder ein gesellschaftlich anerzogenes Über-Ich, sondern einem ursprünglichen ethischen Instinkt entspringt; daß schließlich die biblische Rede von der unverrechenbaren Würde und Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht ein bloß weiteres Angebot im Sortiment der Waren und Weltanschauungen darstellt (im globalisierten Kapitalismus ist dies mittlerweile mehr oder weniger dasselbe), sondern zurückgeführt werden muß auf einen irreduziblen Anruf, der den Menschen zuweilen zwar überfordern mag, ihn immer aber auch herausfordert, endlich einzustehen für sich selbst – und zwar, weil ein Anderer längst schon eingestanden ist für ihn.

Die Berechtigung keiner einzigen dieser Überzeugungen läßt sich empirisch ausweisen; manche von ihnen haben sogar die naturwissenschaftliche oder historische Wahrscheinlichkeit gegen sich. Gleichwohl liegt auf der Hand, daß jede dieser Überzeugungen mich in ein Verhältnis zu mir selbst und zur Welt bringt, für das ich selber einzustehen habe – und daß die Welt eine andere ist je nach dem, ob ich diese Überzeugungen teile oder nicht. Verhält sich dies so, dann ist aber auch am Tag, daß eine Glaubenspraxis, die sich aus Überzeugungen wie den genannten speist, immer nur dort möglich ist, wo man auf die unverbrüchliche Wahrheit eben dieser Überzeugungen setzt, was zuguterletzt zu der Einsicht nötigt, daß »Wahrheiten, die zählen in einem Leben, […] niemals ohne die eigene Beteiligung zu haben« sind.27 Spätestens hier stellt sich natürlich die Frage, wie man zu solchen Wahrheiten gelangen soll. Und hier könnte nun eine Theologie, die zu betreiben bislang als »aporetisches Unterfangen« bezeichnet wurde, vielleicht doch weiterhelfen. Das griechische Wort »ἀπορία« bezeichnet ja ursprünglich die Lage dessen, dem auf einer Fahrt durch schwieriges Gelände unerwartete Hindernisse in den Weg geraten, so daß ihm ein Weiterkommen unmöglich wird. Das in dem Wort »Aporia« durch alpha privativum negierte Substantiv »πόρος« meint dabei genauerhin den Weg durch einen Fluß, also eine flache Stelle oder eine Furt.28 »Ἄ-πορος« bedeutet dann soviel wie: »Halt! Kein Durchkommen! Keine Furt!« Wie, wenn man nun diese Erfahrung des Nicht-Durchkommens durch den Fluß als Bild für das Unter-

27 28

Ebd. 24. Vgl. Wilhelm PAPE: Griechisch-Deutsches Handwörterbuch in drei Bänden, Braunschweig (31906) Bd. II, 684f. s.v. »πόρος«.

Grundlinien liminaler Theologie

37

nehmen des Theologen nähme?!29 Denn wer einen Fluß überqueren will, aber an der Stelle, wo er sich befindet, keine Furt entdeckt, ist genötigt, es andernorts zu versuchen, vielleicht ein paar hundert Meter unter- oder oberhalb der ersten Einstiegsstelle. Gut möglich, daß er auch hier wieder entdecken muß: »Halt! Kein Durchkommen! Keine Furt!« Also sucht er weiter, denn über den Fluß muß er hinüber. Denkbar, daß im Laufe der Zeit sein Suchen zielgerichteter wird, weil er bei seinen Versuchen, den Fluß zu queren, immer präziser dessen Strömungsverhältnisse kennenlernt. Denkbar auch, daß ihm im Laufe der Jahre die Untiefen und Sandbänke des Flusses, seine Uferläufe und Altarme, seine Strudel und Stromschnellen vertraut werden. Denkbar schließlich, daß es ihm das ein oder andere Mal erschien, als habe er die ersehnte Furt endlich gefunden, weil er vorgedrungen war bis in die Mitte des Flusses, vielleicht sogar darüber hinaus, und er erstmals die Bäume am anderen Ufer sah, die Konturen der dahinter liegenden Landschaften – und dann doch wieder umkehren mußte, weil er auch hier plötzlich entdeckte: »Halt! Kein Durchkommen! Keine Furt!« Nimmt man die Lebenserfahrung eines solchen Menschen als Bild für das Unternehmen der Theologie, so wird man zweierlei sagen dürfen: Wie immer ein solcher auch umgehen mag mit der Erfahrung, sich auf ein aporetisches Unterfangen eingelassen zu haben – eines steht in jedem Fall fest: Den Fluß hat er im Laufe seines Lebens bis in dessen letzte Einzelheiten kennengelernt, und er hat eine Ahnung von demjenigen gewonnen, was ihn am anderen Ufer erwartet. Auf die Theologie übertragen bedeutet dies, daß sie einerseits eine elementar lebenskundliche Wissenschaft ist; man lernt die Tiefen aber auch die Untiefen, die Unerlöstheit aber auch die Erlösungsbedürftigkeit, ja vielleicht sogar die mögliche Erlösbarkeit der menschlichen Existenz kennen – und dabei nicht zuletzt sich selbst. 29

Gregor Maria HOFF nennt den Aporiebegriff »schillernd«, weil er sich »zwischen den Extremen einer skeptischen erkenntnistheoretischen Position und eines methodischen Optimismus in aristotelischer Tradition« bewege. Hoff schlägt folgende Definition vor, der ich mich gut anschließen kann: »Von einer Aporie ist […] zu sprechen, wo ein Ausweg aus einer Situation nicht zu finden ist […], wo zugleich aber die Suche nach einem Ausweg […] weiterbetrieben wird und werden muß. Die Aporie bleibt Suchanlaß, weil sie, erkenntnistheoretisch radikalisiert, nie sicher sein kann, daß kein Weg mehr möglich sein wird. Insofern ist die Aporie ein offener Begriff, weil ein nie gesicherter, nie feststellbarer – jede aporetische Theorie ist unruhige Theorie. Noch im Angang des Unwegsamen, des Ausweglosen bewahrt sie einen skeptisch gebrochenen Optimismus der Möglichkeit, indem sie um ihre Möglichkeiten ›weiß‹; sie legt sich im Offenhalten des Problems und damit seiner unausdenkbaren Möglichkeit auf eine skeptische Einschätzung der Erkenntnis- und Lösungskräfte fest und wird so zum Ineinander von Hoffnung (auf einen Weg) und Kritik (jedes möglichen Weges).« (Aporetische Theologie, aaO. 50.)

38

I. Anstelle einer Einführung

Andererseits begibt sich derjenige, der sich ihr verschreibt, überhaupt nur deswegen auf den Weg, weil ihm die Theologie eine wie auch immer geartete schemenhafte Vorstellung von einem anderen, besseren Leben gibt, für welches sich der Einsatz von Arbeit, Mühe und Anstrengung lohnt.30 Mag auch, wie schon erwähnt, die Zentralperspektive, die durch das Christusereignis eröffnet worden ist, uns in die aporetische Situation führen, im letzten nur schwer ausweisen zu können, wie die historische Partikularität der christlichen Botschaft mit ihrem universalen Geltungsanspruch soll zusammengedacht werden können (von den schon genannten religionsphilosophischen Problemen, vor die der monotheistische Gottesbegriff uns führt, gleich ganz zu schweigen), so bleibt doch hiervon unberührt, daß der Blick auf die Welt, der durch sie eröffnet worden ist, die Welt verändert hat – eben weil an der Gestalt Jesu die Ahnung eines anderen, besseren, erfüllten, weil versöhnten Lebens aufgeleuchtet ist.31 Dieser Ahnung nachzugehen, auch wenn sie den Theologen immer wieder in unwegsames Gelände führt, mag dann zwar bis auf weiteres ein aporetisches Unterfangen bleiben – auf jeden Fall aber ein solches, das dazu beiträgt, das menschliche Leben in seinen Abgründigkeiten und Untiefen, in seinen Schönheiten und Glücksmomenten, in seinen elementaren Sehnsüchten und steilsten Hoffnungen kennen- und schätzen zu lernen. Und wäre damit nicht auch der erste Schritt getan, um hinzufinden zu jenem existentiellen Ernst, in welchem die christliche Wahrheit die ihr eigene Verbindlichkeit gewinnt und dadurch auch theologisch überhaupt erst glaubwürdig, ja liebenswert wird?!32 30

31

32

Damit ist auch deutlich, daß das Unternehmen der Theologie vielleicht zwar formal der Kafka’schen Parabel Vor dem Gesetz gleichen mag, inhaltlich sich von ihr aber um ein Ganzes unterscheidet. (Vgl. Werke in sieben Bänden, Bd. 6: Erzählungen, Frankfurt a.M.: Fischer [1986] 120f.) Ähnlich Thomas PRÖPPER, der diesen Befund im Kontext der neuzeitlichen Geistesgeschichte liest und dabei zu folgender Bewertung kommt: »Daß die alte Hoffnung und Frage nach unbedingtem Heil, die das Christentum geweckt und beantwortet hatte, schwerer zu vergessen waren als die verlorene Antwort auf sie […], darf man wohl als Bestätigung dafür nehmen, wie empfänglich der Mensch für den Zuspruch des Evangeliums ist. Nur: qua Vernunft läßt sich, wenn die Zumutung des Glaubens einmal abgetan ist, keine Antwort mehr geben.« (Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München: Kösel [31991] 119.) Mit diesem Ausblick schlage ich einen anderen Weg ein als Heinz Robert SCHLETTE, den die Versuche, die Aporie nicht abstrakt zu denken, sondern – sie reflektierend – mit ihr zu leben, bis unmittelbar vor das Verstummen führen: »Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles übrige ist Interpretation.« (Mit der Aporie leben, aaO. 55; ähnlich ebd. 81. Vgl. auch das gleichlautende Resumée in Kleine Metaphysik, Frankfurt a.M.: Knecht [1990] 127.) Abgesehen davon, daß mir nicht recht einsichtig ist, inwieweit ein so apodiktischer Satz nicht seinerseits als durch geschichtliche und insofern kontingente Erfahrungen vermit-

Grundlinien liminaler Theologie

39

2. THEOLOGIE ALS HERMENEUTISCHE GRENZGÄNGERSCHAFT Damit geraten wir zu einem zweiten Aspekt. In gewisser Hinsicht ist uns das Thema »Theologie als aporetisches Unterfangen« ja schon von der Heiligen Schrift vorgegeben. Denn das vielfache Scheitern der Versuche, auf »die andere Seite des Flusses« zu gelangen, ist ein durch und durch biblisches Motiv. Unter den alttestamentlichen Schriften hat sich vor allem das Buch Exodus dieses Motivs angenommen – und Mose, der Protagonist dieses Buches, spielt dabei die Rolle des Aporetikers par excellence. Worin besteht diese Rolle? Sie besteht darin, als Hermeneut, d.h. als Übersetzer, Pfadfinder, Fährmann33 – zu scheitern. Vierzig Jahre lang unterwegs zu sein, um

33

telt zu denken ist – und insofern als geschichtlich induzierte »Interpretation« von Wirklichkeit –, wäre zu überlegen, ob angesichts der bestürzenden Fraglosigkeit, mit der in unseren (post-)modernen Gesellschaften die herrschenden Weltzustände als selbstverständlich hingenommen werden, der qualitative Vorsprung des theologischen Denkens nicht gerade darin besteht, zwar vielleicht nicht (mehr) über definitive Antworten zu verfügen, auf jeden Fall aber über eine Frage mehr. Wo man aber an die »Rätselhaftigkeit« unseres Daseins Fragen richtet, da hat seine Rätselhaftigkeit auch schon begonnen, fraglich zu werden und ist insofern nicht mehr »fundamentale Wahrheit« – und schon gleich gar nicht »des Philosophierens letzter Schluß« (Mit der Aporie leben, aaO. 186) –, sondern stellt eher eine Art Grenze dar, welche das philosophische Denken aus eigenen Kräften zwar nicht überschreiten kann, die zu überschreiten es aber nichtsdestotrotz religiös induzierte Gründe geben kann, die auch philosophisch nachvollziehbar sind. (Vgl. Konkrete Humanität, aaO. 437f., 453ff.) Darauf macht Schlette im übrigen an anderer Stelle selber aufmerksam, wenn er schreibt, daß die Haltung religiöser Zustimmung zur Welt, wie sie das Schöpfungsdenken des christlichen Mittelalters ausgezeichnet habe, unter den Bedingungen der Neuzeit nicht mehr in Gestalt der Pietät daherkomme, sondern in der Gestalt der Empörung: »Man [muß] die Empörung, die sich weder beim Gegenwärtigen noch in der religiös-pietäthaften Zustimmung zu einer trotz allem ›heilen Welt‹ beruhigt, vielmehr das Jetzige transzendiert, ohne Ziel und Inhalt dieses Überschreitens positiv vor sich zu sehen, wegen des in ihr impliziten Vorgriffs auf das andere, das Gelungene, die Versöhnung als eine Form dessen ansehen […], was früher als Religion der Pietät für die Religion überhaupt gehalten wurde. Empörung erweist sich so als neuer Modus ›religiöser Zustimmung‹, der nach dem Durchgang durch die Pietätskritik der Aufklärung und nach der neueren hermeneutisch-dechiffrierenden Kritik der tradierten religiösen Sprache als Möglichkeit des Transzendierens von Gegenwart und Geschichte noch bleibt.« (Ebd. 400. Ähnlich und z.T. noch deutlicher ebd. 290–295, 412f., 418, 432–436; Skeptische Religionsphilosophie, aaO. 144–154. Zum Gedanken der »Grenze« und ihrer Überschreitung vgl. auch Konkrete Humanität, aaO. 450ff.) Hermeneut ist, wer sich in der Fähigkeit des ἑρμηνεύειν, d.h. des Dolmetschens, Erklärens, Auslegens übt. Ursprünglich eine Kunst der Dichter, Seher und Propheten (»Hermes« hieß der Götterbote, dessen Aufgabe es war, einen Sinnzusammenhang aus der göttlichen Welt in die menschliche zu übertragen), hat es die moderne Hermeneutik als profane Disziplin vorrangig mit der Auslegung von Texten zu tun. (Vgl. Hans-Georg GADAMER: Art. »Hermeneutik«, in: HWP Bd. III, 1061–1073,

40

I. Anstelle einer Einführung

schließlich das Land, das man unter Aufbietung aller Kräfte gesucht hat, nur von Ferne schauen zu dürfen (den Fluß zu überschreiten, bleibt Mose ausdrücklich untersagt [vgl. Dtn 34,1–5]), führt drastisch vor Augen, was es mit der aporetischen Erfahrung »Halt! Kein Durchkommen! Keine Furt!« grundsätzlich und über den konkreten Erzählzusammenhang des Buches Exodus hinaus auf sich hat: das Verheißene Land, solange die Verhältnisse sind, wie sie sind, immer nur von Ferne grüßen zu dürfen und doch der Sehnsucht nach diesem Land auf der Spur zu bleiben (vgl. Hebr 11,8–19.13–16; 2Kor 5,6f.). Daß Abraham, Isaak und Jakob, daß Josef und seine Brüder und schließlich Mose in jener Sehnsucht nicht den eigenen Ideen aufgesessen sind, sondern ein Ruf sie ereilte, der sie zwar in ihrem Innersten traf, aber gerade darin nicht identisch ist mit ihrem Innersten, wird paradigmatisch deutlich an der Geschichte der MoseBerufung (Ex 3): In dieser Geschichte wird »die Erfahrung eines zugleich Anziehenden und Befremdenden (›brennender Dornbusch‹)« zum Auslöser einer heteronomen Beauftragung, die zur autonomen Selbstfindung führt, zur Initiierung in eine Sendung, in der ein Mensch die Bestimmung seines Lebens findet, ohne daß er sich diese Bestimmung selber ausgesucht hätte.34 Das Buch Exodus beschreibt diesen eigenartigen Vorgang eines Ausgreifens nach Gott, in welchem ein Mensch sich als von Gott ergriffen erfährt, denn auch konsequent als ein dialektisches Geschehen von Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremdheit, Ergreifung und Ergriffenheit. Das Begehren des Mose »ich will hingehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen« wird unverzüglich konterkariert durch das Verdikt des

34

hier 1061.) Das hindert jedoch nicht, daß in einer weitergefaßten Bedeutung jede Vermittlung von Sinnzusammenhängen als hermeneutischer Vorgang verstanden werden darf. Und hier taucht nun auch die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes Ἑρμηνεία wieder auf: Übertragung eines Sinnzusammenhangs, der die gewohnten menschlichen Verhältnisse zu sprengen droht, in eben diese menschlichen Verhältnisse, so daß ein Mann wie Mose, dem die heikle Aufgabe zukommt, den Israeliten die Botschaft »Ani Adonaj Elohejchäm« (Ex 3,15) zu überbringen und dem ägyptischen Pharao die Botschaft »So spricht der Herr, der Gott Israels: ›Laß ziehen mein Volk‹« (Ex 5,1), als Hermeneut par excellence angesehen werden darf. – Zum ursprünglich religionsgeschichtlichen Kontext vgl. als anschauliche Erläuterung des hermeneutischen Geschäfts das Magnetgleichnis in Platons Dialog Ion (533c – 536d): Die Rhapsoden als Hermeneuten der Dichter, die Dichter als Hermeneuten der Götter. Zum Ganzen Helmuth FLASHAR: Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin: Akademie-Verlag (1958) 54–77. Hans-Joachim HÖHN: Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn u.a.: Schöningh (2007) 175f. – Vgl. zum Ganzen Jörg SPLETT: Gottergriffen. Grundkapitel einer Religionsanthropologie, Edition Cardo Bd. LXXV, Köln: Koinonia-Oriens (2001) 7–20; Friedo RICKEN (Hg.): Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch, Stuttgart: Kohlhammer (2004).

Grundlinien liminaler Theologie

41

Unnahbaren: »Halt! Nicht näherkommen! Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.« (Vgl. Ex 3,3ff.) Ähnlich verhält es sich mit der Erfahrung beseligender Vertrautheit, in welcher Gott mit Mose spricht »von Angesicht zu Angesicht wie mit einem Freund« (Ex 33,11 [vgl. Dtn 5,4; Gen 32,31; 1Kor 13,12]), und die doch schon wenige Verse später mit der Gegenerfahrung der ehrfurchtsgebietenden, schneidenden Distanz kontrastiert wird: »Mein Angesicht wirst du nicht schauen. Denn kein Mensch kann mich schauen und am Leben bleiben« (Ex 33,20). Diese fortwährende Dialektik eines »›aktiven Passivs‹«35, d.h. eines Greifens nach dem, was einen längst schon ergriffen hat, verleiht der Gotteserfahrung des Mose paradigmatische Bedeutung im Blick auf das biblische Gott-Mensch-Verhältnis insgesamt, weil die Paradoxie des zugleich Anziehenden und Befremdenden, Faszinierenden und Erschreckenden, Vertrauten und Hoheitsvollen hier zu keinem Zeitpunkt getilgt oder aufgehoben wird.36 Der biblische Gott ist immer zugleich sowohl der Nahe als auch der Ferne, der seinem Volk in Liebe und Gerechtigkeit Zugewandte und ihm gerade darin wesensmäßig Fremde – eine Dialektik, die erstmals an den großen Prophetengestalten Amos, Hosea und Jeremia aufscheint37 und an der Gestalt Jesu schließlich auf einen wohl kaum mehr zu überbietenden Höhepunkt kommt.38 Angesichts solcher Gotteserfahrungen (eigentlich dürfte man zunächst nur von Überschreitungserfahrungen39 sprechen), wie sie dem 35 36 37

38 39

Hans-Joachim HÖHN: Postsäkular, aaO. 175. Ebd. 176. Vgl. Gerhard VON RAD: Theologie des Alten Testaments, Bd. II, München: Kaiser (71980) 13–270; Abraham J. HESCHEL: The Prophets, 2 Vol., New York u.a.: Harper & Row (1962). Vgl. Gottfried BACHL: Der schwierige Jesus, Kevelaer: Topos (2005). Der Begriff der Überschreitungserfahrung (»expérience de transgression«) stammt von Georges Bataille und hat im Hintergrund das Erlebnis radikaler Selbsttransgression, wie es in Momenten völliger Selbstverausgabung im sportlichen Exzeß, in der erotischen Hingabe, im mystischen Gebet, im Rausch des Feierns, aber auch in der ekstatischen Selbstverschwendung und in Gewaltausbrüchen erlebt wird. Im Gegensatz zu Bataille gebrauche ich diesen Begriff hier unspezifisch im Sinne von Erfahrungen bestürzender Schönheit und fassungslosen Glücks, aber auch ethischer Betroffenheit und verstörten Überwältigtseins (vgl. Lk 5,8) – im Sinne von Erfahrungen also, die den Alltag durchbrechen, indem sie auf eine Wirklichkeit jenseits von Arbeit, Lebensfristung und Selbsterhalt verweisen. Vgl. Georges BATAILLE: Theorie der Religion (Théorie de la religion, Paris [1974]), aus dem Frz. übersetzt von Andreas Knop, hg. und mit einem Nachwort versehen von Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz (1997); Die Erotik (L’érotisme, Paris [1957]), aus dem Frz. neu übersetzt und mit einem Essay versehen von Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz (1994); Die innere Erfahrung (Atheologische Summe I) (L’Expérience intérieure [Somme Athéologique I], Paris [1954]), aus dem Frz.

42

I. Anstelle einer Einführung

Mose in der Begegnung mit dem »brennenden Dornbusch« zuteil werden und den Jesusjüngern mit ihrem Meister (vgl. bspw. Lk 5,8ff.; 8,25; Mt 8,34; 9,8; Lk 24,30f.), wäre nun zu überlegen, ob sich hieran nicht lernen ließe, wie man mit der aporetischen Situation »Halt! Kein Durchkommen! Keine Furt!« genauer umgehen soll. Ob uns hier womöglich der Versuch hermeneutischer Grenzgängerschaft weiterhelfen kann? Ein wenig davon klang ja schon an, als wir von Mose, dem Aporetiker, als einem »Hermeneuten par excellence« sprachen. Darunter verstanden wir zunächst ganz allgemein einen Grenzgänger bzw. Fährmann – einen Menschen also, dessen Aufgabe es ist, zwischen den Welten zu vermitteln, d.h. einen bestimmten Sinnzusammenhang nicht nur zu entdecken, sondern ihn zugleich so zur Sprache zu bringen, daß dieser Sinnzusammenhang einer größeren Gemeinschaft kommunizierbar wird.40 Wie also hätte man – dieses Verständnis einmal vorausgesetzt – das Anliegen, Theologie im Sinne von hermeneutischer Grenzgängerschaft zu betreiben, genauer zu fassen? In zweifacher bzw. dreifacher Hinsicht, wie mir scheint: Vordergründig betrachtet, sicherlich zunächst im Sinne einer Vermittlung der biblischen Botschaft in einen modernen bzw. nachneuzeitlichen Verstehenshorizont. Paradebeispiel für ein solches hermeneutisches Bemühen ist immer noch das Bultmann’sche Entmythologisierungsprogramm. Bultmann ging es ja nicht nur darum, einen biblischen Text so zu verstehen, wie er an seinem historischen Ort und in der Situation seiner erstmaligen Niederschrift verstanden wurde; ein solches historisches Bemühen, so wichtig es ist, beschränkt sich darauf, eine größtmögliche Approximation an das Historisch-Gewesene zu leisten. In Aufnahme einer Formulierung aus den »Institutiones hermeneuticae sacrae« des pietistischen Theologen Johann Jacob Rambach (1693–1735) ließe sich ein solches historisches Bemühen als »subtilitas intelligendi«41 bezeichnen, als behutsam verstehendes Mit- und Nachvollziehen dessen, was der Text sagt – und somit als eine grundlegende, d.h. »Erste« Form von Hermeneutik. Jedoch war Bultmann nicht so sehr von einem historischen Interesse umtrieben, sondern vor allem von dem Anliegen, das Vergangene in seiner Relevanz für die Gegenwart aufzuschlüsseln. Ein solches über-setzendes Verstehen bzw. Erklären des historisch Ver- bzw. Ergangenen ließe sich (als fortführende Ergänzung zur historischen Forschung und im

40 41

übersetzt von Gerd Bergfleth, mit einem Nachwort von Maurice Blanchot, München: Matthes & Seitz (1999). Vgl. oben Anm. 33. Vgl. Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr-Siebeck (1960) 290–295.

Grundlinien liminaler Theologie

43

Sinne einer Anwendung des Verstandenen auf die Gegenwart des heutigen Lesers) mit Hilfe eines weiteren Terminus aus den »Institutiones« als »subtilitas applicandi«42 bezeichnen und insofern als »Zweite Hermeneutik«. Man sieht auf Anhieb, daß »Erste Hermeneutik« (subtilitas intelligendi) und »Zweite Hermeneutik« (subtilitas applicandi) auf vielfache Weise miteinander verzahnt sind; das Bemühen um ein historisches Verstehen wird ja in der Regel nicht um seiner selbst willen betrieben, sondern mit dem Ziel der Übersetzung des historischen Erstsinns in einen möglichen, die Situation des heutigen Lesers erhellenden Zweitsinn, in welchem der Erstsinn eine neue, ihm zwar immer schon innewohnende, aber erst noch zu entdeckende Kraft entfaltet.43 Wie nun aber, so ist an dieser Stelle zu fragen, hat es 42 43

Ebd. Richard Schaeffler hat die klassische Lehre vom Vierfachen Schriftsinn in eine Theorie von der vierfachen Dimensionalität religiöser Erfahrung überführt. Wenn der »sensus historicus (sive scientiae)« eines Textes die Erinnerung an die Bedeutung einer einmal gemachten Erfahrung aufbewahrt, dann können der »sensus allegoricus (sive fidei)«, »anagogicus (sive spei)« und »tropologicus (sive caritatis)« weitere Bedeutungsschichten des Textes nur deshalb offenlegen, weil die Wahrheit, von welcher jene ursprüngliche Erfahrung zeugt, immer größer ist als der »sensus historicus« auszudrücken vermochte. Die vier Schriftsinne (historicus, allegoricus, anagogicus, tropologicus) sind dann als transzendentale Spiegelungen verschiedener Bedeutungsmomente von Erfahrung überhaupt zu verstehen – und damit auch jener Erfahrung, von welcher der Text kündet. Von hier fällt nun auch ein überraschendes Licht auf den Begriff der »allegorischen« Schriftexegese: Allegorese (ἄλλ̒ ἀγορεύουσιν) – d.i. im Lichte neuer Erfahrungen »Neues sagen«, weil die Wahrheit der einmal gemachten Erfahrung, von welcher der biblische Text kündet, immer größer ist und deshalb immer mehr zu entdecken gibt, als dem Verfasser des Textes bewußt war bzw. der aktuelle Leser aktuell im Text zu entdecken vermag. In ähnlicher Weise hat auch schon die mittelalterliche Schrifthermeneutik argumentiert: »Die Schrift wächst mit denen, die sie lesen« (»Verba sacrae eloquii […] iuxta sensum legentium per intellectum crescunt« [Gregor d. Gr.: In Ez. hom. I, 7 ‹PL 76, 844›]; »Dicta sacri eloquii cum legentium spiritu excrescunt« [ebd. 846]). Thomas von Aquin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß ein biblischer Text weitaus mehr als nur eine Literalbedeutung haben kann, denn Letztautor des biblischen Textes ist der Heilige Geist, der als einziger die Tiefen Gottes und der Welt ergründet (vgl. 1Kor 2,10) und deshalb nicht nur verschiedene Literalbedeutungen in ein und derselben Textpassage niederlegen, sondern darüber hinaus jeder Zeit den ihr angemessenen Sinn jener Textpassage erschließen kann. (STh I q. 1, art. 10 resp.: »Quia vero sensus litteralis est quem auctor intendit, auctor autem sacrae Scripturae Deus est, qui omnia simul suo intellectu comprehendit: Non est inconveniens, ut dicit Augustinus […], si etiam secundum litteralem sensum in una littera Scripturae plures sint sensus.« Ferner Quodl. VII q. 6, art. 1–3; Sent., lib. 4 d. 21 q. 1 a. 2 qc. 1 ad 3.) – Vgl. Richard SCHAEFFLER: Philosophische Einübung in die Theologie. Bd. I: Zur Methode und theologischen Erkenntnislehre, Freiburg i.Br./München: Alber (2004) 168–176, 360–396; Bd. II: Philosophische Einübung in die Gotteslehre, ebd. 43–59, 75–162; Bd. III: Philosophische Einübung in die Ekklesiologie und Christologie, ebd. 421–457. Zur mittelalterlichen Schrifthermeneu-

44

I. Anstelle einer Einführung

überhaupt zu einem Erstsinn kommen können? Diese Frage stellt sich die zeitgenössische Hermeneutik normalerweise nicht, obwohl gerade sie uns vor ein elementares Problem führt: wie nämlich überhaupt es denkbar sei, daß uns Welt als differenzierter Sinnzusammenhang aufgeht, Wirklichkeit sich als geordneter Kosmos zu erkennen gibt. Die hermeneutische Urfrage lautet ja: Wie eigentlich kommt es zur Erfahrung eines Vertrauten im Unvertrauten? Wie werden Namen für das Unnennbare gefunden? Wie erklärt sich einem Menschen das Unerklärliche, das ihn umgibt?44 Oder, im Zusammenhang unserer Frage nach der der Theologie eigenen Aporetik: Wie eigentlich kommt man auf die Idee, daß »drüben«, auf der »anderen Seite des Flusses«, etwas zu finden sei, was nicht von dieser Welt ist, obwohl es doch (im Modus der Bestreitung, im Modus der Sehnsucht, im Modus der Verheißung) nicht aufhört, diese Welt in Frage zu stellen und zu verwandeln: Wahrheit, Schönheit, Alterität, Vorschein von Versöhnung? Irgend etwas muß ja »von dort« »nach hier« »herüber«geschienen sein, so daß ganz von selbst die Frage sich stellt, ob es sich bei jenem »Herüber«scheinenden um den Vorschein eines Wirklichen handelt oder um bloßen Schein.45 Um solchen elementaren Fragen nachzugehen, ist es nötig, über die beiden beschriebenen Formen von Hermeneutik hinaus nach einer »Hermeneutik vor der Hermeneutik« zu fragen. Nach einer solchen Hermeneutik zu fragen, wird im Rahmen der uns hier interessierenden Thematik aber nicht zuletzt deswegen nötig, weil dadurch womöglich eine Antwort auf das Problem in Reichweite rückt, wie der Theologe mit der aporetischen Situation, in die ihn seine Bemühungen treiben, produktiv umgehen soll. – Wie also lautete die Grundfrage einer »Hermeneutik vor der Hermeneutik«? Aus Sicht des Theologen lautete diese Frage, wie es denkbar sei, daß das Unnennbare im Benannten sich vernehmbar mache, das Unbedingte im Bedingten aufleuchte, das Absolute im Kontingenten sich präsent setze, oder – grundsätzlich gesprochen – wie überhaupt es möglich sei, daß Transzendenz unter den Kategorien der Immanenz aufscheine. Im Rahmen einer Einführung in die hermeneutischen Grundlinien der in diesem Buch versammelten Grenzgänge zwischen Theologie und Phänomenologie sind es vor allem solche Fragen, die unser Interesse herausfordern. Wenden wir uns ihnen in der gebotenen Kürze ein wenig genauer zu.

44 45

tik vgl. Henri DE LUBAC: Typologie, Allegorese, Geistiger Sinn, Einsieden: Johannes (1999), bes. 291f. Vgl. Hans BLUMENBERG: Arbeit am Mythos, aaO. 11. Vgl. Ernst BLOCH: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.: stw (1985) Bd. I, 246–255.

Grundlinien liminaler Theologie

45

2.1. Hermeneutik der Offenbarung (Hermeneutik vor der Hermeneutik): Zum Problem religiöser Erschließungserfahrungen Mit dem hermeneutischen Problem, wie es denkbar sei, daß sich das Unbedingte im Bedingten präsent setze, ist die Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung überhaupt gestellt. Bekanntlich geht der diesbezügliche Haupteinwand der neuzeitlichen Religionskritik dahin, daß eine Präsenz des Unbedingten im Bedingten allein in den Kategorien des Bedingten möglich sei, weswegen das Unbedingte, wo es sich im Bedingten gegenwärtig setze, sofort und notwendig sein Unbedingtheitsmoment verliere. Ob es Unbedingtes gebe, sei deswegen auch eine unlösbare Frage, weil das vermeintlich Unbedingte unter den Kategorien des Bedingten als Unbedingtes niemals zu identifizieren sei.46 – So einleuchtend dieser Einwand zunächst auch wirkt, so mangelt es ihm doch an Unterscheidungsvermögen. Festzuhalten ist, daß es sich bei der Manifestation göttlicher Transzendenz unter den Bedingungen geschichtlicher Kontingenz niemals um eine unmittelbare, sondern um eine höchst mittelbare, nämlich »vermittelte Gegenwart des Unbedingten im Bedingten« handeln kann: »um eine Manifestation des Weltverhältnisses Gottes an und in den Lebensverhältnissen der Menschen.«47 Es ist ein grobes, wenn auch häufig anzutreffendes Mißverständnis, zu meinen, die christliche Theologie operiere im Sinne der theistischen Hypothese mit einem Gottesbegriff, der nach Art einer »Vorhandenheitsontologie«48 konzipiert sei. Eine solche Ontologie insinuiert einen Gott, der faktisch vorhanden ist (so wie der See Genesareth oder der Zionsberg faktisch vorhanden sind, auch wenn eine Gewitter- oder Nebelwand sie zeitweilig verbergen mögen); der Gegenwart eines solchen Gottes braucht man nur noch sekundär gewahr werden, da seine Vorhandenheit ja grundsätzlich garantiert ist. Nun riskiert jedoch eine Theologie, die Gott solcherart als »Gegenstand unter Gegenständen« auffaßt, das Unbedingte in etwas höchst Bedingtes zu verwandeln, nämlich in eine menschlichem Denken entsprungene Phantasmagorie.49 Dieser Verdacht erhebt 46

47 48

49

Hans-Joachim HÖHN: Postsäkular, aaO. 172ff., in Anschluß an Max SECKLER/Michael KESSLER: Die Kritik der Offenbarung, in: HFTh Bd. II, 29–59. – Unter den Bedingungen eines geschichtlichen Denkens ist diese Frage, soweit ich sehe, in theologischer Hinsicht erstmals von Ernst TROELTSCH explizit ausgearbeitet worden: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie [1898], in: GS II, 729–753. Hans-Joachim HÖHN: Postsäkular, aaO. 173. Heinrich ROMBACH: Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg i.Br.: Alber (21988) 279f. Fridolin STIER hat karikierend aufzeigt, wohin vorhandenheitsontologische Konzeptionen das theologische Denken führen: »Es gibt: Himmel, Erde, Betten, Autos, Milchkühe, Gott. Es gibt: Waschmaschinen, Politiker, Schokoladentafeln, Füllfe-

46

I. Anstelle einer Einführung

sich nicht nur deshalb, weil ein solcher Gott in der Welt der empirischen Erfahrungen nirgends anzutreffen ist, sondern auch und vor allem, weil hier der weltjenseitige Gott, der als die Bedingung der Möglichkeit allen Seins selbst noch die grundlegendste Differenz, nämlich die zwischen dem Sein als Ganzem und dem Sein der jeweils einzelnen Seienden übersteigt, nach Art eines höchsten Seienden unter die Gesetze menschlichen Denkens genötigt wird.50 Spätestens hier läuft der Vorschein des Ganz Anderen Gefahr, als bloßer Schein entlarvt zu werden: Welt nicht als Pro-jektion Gottes, sondern Gott als Projektion des Menschen. Gegen solche Mißgriffe vorkritischer Theologie, die unter Mißachtung der Denkvoraussetzungen ihrer eigenen Tradition vergißt, daß Gott nicht nur erfahrungs-, sondern auch erkenntnistranszendent ist51, ist entschieden festzuhalten: Gott ist kein Stück Welt! Das Absolute ist keine zusätzliche Information zum ohnehin Gewußten! Sein verfremdendgewährter Aufgang ereignet sich niemals direkt, sondern immer nur auf den verschlungenen Pfaden von Widerfahrnis und Deutung, Vorfall und interpretierender Auslegung. Aufschein des Absoluten geschieht im spannungsreichen Beziehungsfeld von Bedeutendem und Bedeutetem, zwischen den Lebensverhältnissen, wie sie als Interpretanda, und den Lebensverhältnissen, wie sie als Interpretamente sich darbieten und als solche in wechselseitiger Bezogen- und Verwiesenheit vom Menschen wahrgenommen und gelesen werden. Im Licht der biblischen Gottesbotschaft gibt sich die Welt dem Menschen zu lesen als ein komplexes Verweissystem, als ein nicht selten zwar befremdlicher, immer aber auch staunenswerter Symbolzusammenhang, in welchem die Urphänomene des Lebens (Mahl, Spiel, Liebe und Geschlechtlichkeit, Vater- und Sohnschaft, Geburt und Tod, Schuld, Trost, Vergebung, Humor, Gnade u.v.a.m.) im Horizont ihrer Möglichkeitsbedingungen als Wirklichkeiten gelesen werden, die niemals einfach nur in flacher Vorhandenheit auf sich selbst verweisen, sondern als vielfältig auszulegende und auszulebende Symbole auf verhangene Weise durchsichtig werden auf jenen Gott, der als Bedingung der Möglichkeit, Welt überhaupt als ein sinnvolles Ganzes erfahren zu können, in jeder Erfahrung unthema-

50

51

derhalter, Engel. Es gibt …« (Vielleicht ist irgendwo Tag, Freiburg i.Br.: Herder Spektrum [1993] 128ff.) Vgl. dazu in Studie III, Abschnitt 2. (2) (»Theologie im Spannungsfeld von Phänomenologie und Metaphysik«) die von Jean-Luc Marion aufgeworfene Frage, ob von Gott nicht angemessener unter Suspension des klassischen Seinsdenkens gesprochen werden könne und müsse. Vgl. dazu Klaus MÜLLER: Gottes Dasein denken. Eine philosophische Gotteslehre für heute, Regensburg: Pustet (2001) 142.

Grundlinien liminaler Theologie

47

tisch und vorreflexiv miterfahren wird.52 Damit ist aber auch klar, daß die Frage, ob das Unbedingte als es selbst im Bedingten erscheinen kann bzw. ob man im Bedingten und als Bedingter ein Verhältnis zum Unbedingten als ihm selbst aufnehmen kann, der spezifischen Logik des Gott-Welt-Mensch-Verhältnisses nicht gerecht wird. Eher wird man überlegen müssen, ob und inwieweit es denkbar sei, daß das Verhältnis des Unbedingten zum Bedingten (das Verhältnis Gottes zur Welt) in den Daseinsverhältnissen des Bedingten aufscheine.53 Es ist im Hinblick auf eine »Hermeneutik vor der Hermeneutik« also zu fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Beziehung des Unbedingten zum Bedingten, die nach Art einer »vermittelten Unmittelbarkeit«54 zu bestimmen wäre. Für eine solche Hermeneutik lassen sich bei Richard Schaeffler wichtige Hinweise finden.55 Im Blick auf die Frage, was eigentlich religiöse Erfahrung von sonstigen Erfahrungen unterscheide, hat Schaeffler darauf aufmerksam gemacht, daß religiöse Erfahrung sich zunächst nicht so sehr durch eine bestimmte Inhaltlichkeit auszeichne, sondern ihr Spezifikum eher darin bestehe, horizontverändernd 52

53

54

55

THOMAS VON AQUIN hat die transzendentale Erfahrung, daß in jeder Form von Welterfahrung sich implizit eine Gotteserfahrung vollziehe, auf die erkenntnistheoretische Formel gebracht: »Omnia cognoscentia cognoscunt implicite Deum in qualibet cognitione« – »Alles Erkennende erkennt in jedem beliebigen Erkenntnisakt implizit Gott.« (De Ver. q. 22 art. 2 ad 1.) – Vgl. dazu neben den folgenden Anmerkungen zu Karl Rahner und Richard Schaeffler auch unten Studie VI: »Theologie als Lesekunst« (Abschnitt 1: »Lesekunst mythologisch« sowie Abschnitt 3: »Lesekunst metaphorologisch«). Damit ist das Problem der Analogizität menschlicher Gottrede aufgerufen, deren herausforderndste Fragestellungen in der Christologie liegen. Vgl. dazu neben den einschlägigen Überlegungen von Karl RAHNER (Probleme der Christologie von heute, in: Schriften zur Theologie Bd. I, Zürich-Einsiedeln: Benziger [41960] 169–222; Zur Theologie der Menschwerdung, in: ebd. Bd. IV, Zürich-Einsiedeln: Benziger [1960] 137–155; Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i.Br. u.a.: Herder [1991] 211–251, 291–295) auch Richard SCHAEFFLER: Philosophische Einübung in die Theologie. Bd. III: Philosophische Einübung in die Ekklesiologie und Christologie, aaO. 389–480. Vgl. dazu näherhin unten Studie VII: Zweite Naivität. Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu einem vielbemühten, aber selten verstandenen Konzept. Das Folgende in Anschluß an Richard SCHAEFFLER: Fähigkeit zur Erfahrung Zur transzendentalen Hermeneutik des Sprechens von Gott (QD 94), Freiburg i.Br.: Herder (1981) – im laufenden Text zitiert unter der Sigle »FzE«; DERS.: Philosophische Einübung in die Theologie. Bd. I: Zur Methode und zur theologischen Erkenntnislehre. Bd. II: Philosophische Einübung in die Gotteslehre. Band III: Philosophische Einübung in die Ekklesiologie und Christologie, aaO. – im laufenden Text zitiert unter der Sigle »PhETh I/II/III«; DERS.: Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung, Freiburg i.Br./München: Alber (1995) 414–481 – im laufenden Text zitiert unter der Sigle »EDW«. Zitate aus weiteren Schriften Schaefflers werden in den Fußnoten unter Angabe des Volltitels ausgewiesen.

48

I. Anstelle einer Einführung

zu wirken: Für religiöse Erfahrung sei es charakteristisch, einen die vielen Einzelerfahrungen unterfangenden Grund offenzulegen, von dem her es dann möglich werde, die vielen heterogenen, nicht selten widersprüchlichen Einzelerfahrungen in einen neuen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Als prominentes biblisches Beispiel führt Schaeffler die Begegnung der Emmausjünger mit dem Auferstandenen an. Ihnen, die sich doch sicher waren, alles über Jesus zu wissen und die deswegen angesichts seines Todes die Welt nicht mehr verstehen (Lk 24,21), wird es durch diese Begegnung ermöglicht, ihre bisherigen Erfahrungen mit ihrem Herrn und Meister neu zu lesen und dadurch auch sich selbst und die Welt neu zu verstehen. (FzE 24f.) Folgt man Schaeffler, dann hat man religiöse Erfahrungen als »Erfahrung mit der Erfahrung« (FzE 51, Anm. 18a), d.h. als »transzendentale Erfahrung« (FzE 49ff., 67; EDW 25) zu begreifen. Als solche zeichnen sie sich durch eine eigentümliche Paradoxie aus: Denn obzwar der Grund bzw. Horizont, dem religiöse Erfahrungen sich verdanken, geschichtlich erfahren wird, ist er doch nicht einfach auf unsere geschichtlichen Erfahrungen rückführbar. Vielmehr handelt es sich bei jenem Grund bzw. Horizont um eine überempirische, weil unsere empirischen Erfahrungen ermöglichende und ihnen insofern vorausliegende Realität.56 Dennoch ist auch dieser transzendentale und insofern überempirische Ermöglichungsgrund, Erfahrungen neu lesen zu können, geschichtlich-kontingent vermittelt – und hierin liegt gegenüber den klassischen transzendentalphilosophischen wie -theologischen Ansätzen (Kant; Maréchal, Rahner, Lotz57) das eigentlich Originelle von Schaefflers Erfahrungstheorie: transzendentales und geschichtliches Denken so miteinander zu vermitteln, daß daraus eine neue Möglichkeit entspringt, Aufschein von Transzendenz in der Immanenz denken zu können, der Gegenwart des Unbedingten im Bedingten antizipatorisch ansichtig zu werden. Schauen wir uns diese Theorie ein wenig genauer an. (1) »Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit«: Zur transzendentalphilosophischen Begründung religiöser Erschließungserfahrung (Kant und Hegel in der Relecture Richard Schaefflers) Ausgangspunkt von Schaefflers Überlegungen ist die von ihm wiederholt beschriebene »Unfähigkeit zur Erfahrung«. Darunter ist ein Doppeltes zu 56

57

FzE 25: »Die Rede von Gott spricht gerade deshalb von einem überempirischen Gegenstand, weil sie die Bedingung benennt, durch die (in einem neuartigen Kontext eine neue Art von) Erfahrung möglich wird.« Zur Würdigung und Kritik der transzendentalen Theologie vgl. Richard SCHAEFFLER: Die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie, Darmstadt: WBG (1980) 187–228.

Grundlinien liminaler Theologie

49

verstehen: Einerseits lasse sich beobachten, daß die Pluralität der Lebenswelten und die Vielfalt der Sprachspiele es dem modernen Menschen immer seltener gestatte, diese in einen einheitlichen Erfahrungskontext einzuordnen. Wo man sich ihnen dennoch zu öffnen versuche, da sei nicht selten festzustellen, daß die Dinge unverstanden blieben und man sich ihnen ratlos unterwerfe. (Die aktuelle Wirtschaftskrise, die in ihrer globalen Vernetzung von kaum jemandem mehr durchschaut, geschweige denn beherrscht wird, selbst nicht von den als Experten sich gerierenden Nationalökonomen, bietet hierfür ein schlagendes Beispiel). Andererseits lasse sich nicht selten aber auch eine erfolgreiche Immunisierung gegen externe Infragestellungen beobachten. Paradebeispiel hierfür sei die szientistische Borniertheit des Wissenschaftlers, die ihn von anderen Arten der Erfahrung als der empirisch fundierten, etwa Erfahrungen religiöser, ethischer oder ästhetischer Art, abschirme. »Unfähigkeit zur Erfahrung« resultiert hier aus der Neigung, jegliches Widerfahrnis immer nur als Bestätigung dessen zu lesen, was man sowieso schon wußte. Hier ist man (mit Hermann Lübbe gesprochen) »verblüffungsresistent«58 geworden. Was immer einem begegnet, wird als Bestätigung des eigenen Wissenssystems begriffen. »Unsere Erfahrungsfähigkeit«, so Schaeffler, ist demnach »auf zweifache Weise bedroht: durch ›geschlossene Systeme‹, die uns gegen Erfahrung immunisieren, und durch bloße Paradoxien, die uns stumm und kommunikationslos machen.« (FzE 47) In beiden Fällen geht unser Anschauen und Denken ins Leere, garantiert nicht mehr die Möglichkeit, mit der Wirklichkeit in ein gelingendes Gespräch einzutreten, d.h. neue Erfahrungen mit ihr zu machen (vgl. FzE 11). Schaefflers These ist es nun, daß gerade »[d]iese doppelte Bedrohung unserer Erfahrungsfähigkeit […] einen neuen Kontext für sinnvolles Sprechen von Gott entstehen« lasse: »Die Vokabel ›Gott‹« (davon zeugen nicht zuletzt zentrale biblische Texte [vgl. FzE 88–107]) ziele nicht zunächst und vor allem auf eine extramundane Entität; vielmehr benenne »die Vokabel ›Gott‹ die Bedingung, durch welche wir die bedrohte Erfahrungsfähigkeit wiedergewinnen. Diese Bedingung ist in Erfahrungen besonderer Art am Werk«, nämlich in solchen, die »die Struktur des Horizonts für unsere Begegnung mit Gegenständen auf solche Weise [verändern], daß die Selbstgewißheit (und damit Selbstverfangenheit) unserer Subjektivität an ihnen zerbricht«, zugleich aber »aus ihnen eine neue Weise gesellschaftlich-geschichtlicher Kommunikation und Interaktion hervorgeht.« (FzE 47) Im Hintergrund dieser These stehen folgende Überlegungen: Unter Berufung auf Kant59 stellt Schaeffler fest, daß jeder Akt der Erfahrung zweierlei voraussetzt: die Konstanz des Ich und die Kohärenz der Welt. Wo keine Identität des Bewußtseins durch den Lauf der Zeit hindurch gegeben ist, da ist auch keine Apperzeption heterogener Bewußtseinsinhalte möglich. Denn um das Heterogene als Heterogenes identifizieren zu können (bspw. »Die Welt von heute ist eine andere Welt als die von gestern«), be58

59

Hermann LÜBBE: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin: Siedler (1987) 37. KrV A 96–114 (»Die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Zweiter Abschnitt: Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung«).

50

I. Anstelle einer Einführung

darf es der zeitübergreifenden Konstanz des Ich.60 Wiederum wo das jeweils Einzelne nicht seinen eindeutigen Platz in der Einheit des allumfassenden Erfahrungszusammenhangs zugewiesen erhalten kann, da geht die Objektivität der Erfahrung verloren. Wo keine Kohärenz der Welt gegeben ist, wo bspw. der Zusammenhang von Bedingung und Folge, von Dingen und ihren Eigenschaften gestört ist, da geht nicht nur die Möglichkeit verloren, das einzelne Widerfahrnis verstehend in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen; da ist nicht selten der Gesamtzusammenhang insgesamt bedroht.61 Es gibt Widerfahrnisse, die uns in einer Weise zustoßen, daß wir sagen »Ich verstehe die Welt nicht mehr«. Eine solche Redeweise darf durchaus wörtlich genommen werden. Wir verstehen nicht mehr bloß das Einzelne nicht, das uns hier begegnet; der gesamte Kontext unserer Erfahrung droht verloren zu gehen (man denke etwa an die radikale Infragestellung der Gottesvorstellung Israels, die mit dem Verlust des Tempels und dem Exil einherging [vgl. PhETh III, 176–180]). Schaeffler kommentiert: »Der Weltzusammenhang, der kohärent sein muß, wenn Erfahrung möglich sein soll, ist nicht mehr in solcher Kohärenz gegeben. Wir ›fordern‹ ihn zwar immer noch. Deshalb hat der Ausdruck ›Ich verstehe die Welt nicht mehr‹ […] einen Unterton von Protest. ›Das darf doch nicht wahr sein.‹ Aber was wir in solcher Weise fordern oder ›postulieren‹, können wir nun nicht mehr fraglos als gegeben ›voraussetzen‹. Weltkohärenz hat sich von einer ›Voraussetzung‹ in ein ›Postulat‹ verwandelt.« (FzE 62) Die beiden Voraussetzungen Welt-Kohärenz und Ich-Konstanz, die gegeben sein müssen, um erfahrungsfähig zu sein, nennt Kant denn auch »regulative«, d.h. erkenntnisleitende Ideen.62 Als Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrungsfähigkeit liegen sie jeder Erfahrung von Welt und Ich voraus, lassen sich deswegen auch nicht empirisch aufweisen, sondern sind als apriorische Prinzipien transzendentale Größen. Beide Voraussetzungen zusammen ergeben nach Kant nun aber den »obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile«63, der da lautet: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.«64 Mit andern Worten: »[D]ie Bedingung, von der die Konstanz des Ich abhängt, fällt zusammen mit der Bedingung, die die Kohärenz der Welt möglich macht.« (FzE 62) Wo ich die Welt nicht mehr verstehe, werde ich mir selber fragwürdig. Und umgekehrt, wo ich meinen Erfahrungen nicht mehr trauen kann, weil sie meine gewohnte Selbstwahrnehmung unterlaufen, wird auch die Welt mir fremd. Eben hier nun setzt das gegenüber den Ansätzen der klassischen Transzendentalphilosophie und -theologie Neue von Schaefflers Erfahrungstheorie ein: Obwohl transzendentale Grundvoraussetzungen von Erfahrung, sind Welt-Kohärenz und Ich-Konstanz geschichtlich vermittelt. Die Erfahrung lehrt ja, daß »[m]enschliche Transzendentalität, d.h. die Fähigkeit, durch 60 61 62 63 64

Vgl. KrV A 107. Vgl. KrV A 110f. Vgl. KrV A 381–396, 644f.; B 671ff., 691f. KrV A 154–158. KrV A 158.

Grundlinien liminaler Theologie

51

welche wir uns den strukturierten Horizont für die Begegnung mit Gegenständen öffnen, […] ein Faktum [darstellt], das auch ausbleiben könnte.« (FzE 50) Menschliche Transzendentalität als die Bedingung der Möglichkeit, Erfahrungen mit der Welt und mit sich selber zu machen, ist eine geschichtlich vermittelte und insofern kontingente Größe. Dies erhellt schon daraus, daß nicht jede Erfahrung sich zu jeder Zeit machen läßt. Erfahrungen, obgleich transzendental fundiert, sind an einen konkreten geschichtlichsoziokulturellen Rahmen gebunden, der ihre spezifischen Inhalte wie auch ihre transzendentalen Möglichkeitsformen sowohl begründet als auch begrenzt.65 Wie paßt das zusammen? Schaeffler versucht dieses Problem zu lösen, indem er die transzendentale Reflexion mit einer geschichtlichen verbindet – in Termini Kants gesprochen: indem er über die »Natur der reinen Vernunft« hinaus eine »Geschichte der reinen Vernunft« zu denken versucht.66 Ein solches Unternehmen ist in rein kantischen Begriffen aber nicht mehr möglich, sondern erfordert die Hinzuziehung von Kategorien, wie erstmals Hegel sie in die Diskussion eingebracht hat. Anders als Kant versteht Hegel nämlich »unter ›Erfahrung‹ primär nicht den Gesamtkontext all dessen, was uns als Fülle möglicher Gegenstände begegnen kann[67], sondern den je einzelnen Vorgang, aus dem sowohl das Subjekt als auch sein je konkreter Gegenstand verwandelt hervorgehen: Die ›dialektische Bewegung, die das Bewußtsein sowohl an ihm selbst als auch an seinem Gegenstand ausübt, insofern ihm der neue Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.‹[68] Dieser Vorgang beruht zwar auf einer Tätigkeit, die ›das Bewußtsein sowohl an ihm selbst als auch an seinem Gegenstand ausübt‹[69] – und insofern bleibt ähnlich wie bei Kant auch bei Hegel die Objektkonstitution eine Leistung des Subjekts. Aber insofern durch diese Tätigkeit auch das Subjekt verwandelt wird, gewinnt der Gegenstand, an dem das Bewußtsein sein Wissen als unangemessen beurteilen lernt, seinerseits 65

66 67 68

69

Vgl. FzE 119ff., 124f.; EDW 37–95; PhETh I, 130f. – Zum Ganzen auch Richard SCHAEFFLER: Zum Verhältnis von transzendentaler und historischer Reflexion, in: Helmuth Kohlenberger/Wilhelm Lütterfelds (Hg.): Von der Notwendigkeit der Philosophie in der Gegenwart (FS Karl Ulmer), Wien u.a.: Oldenbourg (1976) 42–76. – Als Beispiel für die geschichtlich vermittelte Transzendentalität menschlichen Denkens läßt sich Cassirers Philosophie der symbolischen Formen anführen. Es ist eben ein Unterschied ums Ganze, ob man in einem archaisch-mythischen oder einem neuzeitlich-wissenschaftlichen Weltkontext lebt, ob man die Welt unter dem Horizont eines ontologischen Ordo-Denkens oder einer geschichtskritischen Wissenssoziologie perzipiert, ob man Physik unter den Prämissen Newtons oder denen der Heisenberg’schen Unschärferelation betreibt. Jede Zeit schafft sich die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit ihres Denkens, weswegen die elementare Aufgabe einer Erkenntniskritik, die diesen Namen verdient, darin besteht, Transzendentalität und Geschichtlichkeit miteinander zu vermitteln. KrV A 852. Vgl. PhETh I, 85–112. S.o. Anm. 64. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Phänomenologie des Geistes, in: Suhrkamp-Werkausgabe, Bd. III, 78. Ebd.

52

I. Anstelle einer Einführung

eine vorantreibende Bedeutung in jenem dialektischen Prozeß, der ›Erfahrung‹ heißt.« (PhETh I, 100f.) Das aber bedeutet: »Die Formen des Anschauens und Denkens machen Erfahrung möglich und gehen insofern allen ihren wirklichen Inhalten ermöglichend voraus; aber gewisse Inhalte dieser Erfahrung können diese Formen verändern, und aus dieser Veränderung geht die Möglichkeit neuer Weisen des Erfahrens und ihrer Gegenstände hervor.« (PhETh I, 103) Es scheint sich also so zu verhalten, »daß zwischen den Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und wenigstens einigen ihrer Inhalte kein lineares, sondern ein zirkuläres Verhältnis besteht«: Es gibt »Inhalte der Erfahrung […], durch die die Formen und Anschauungen des Denkens so verändert werden, daß daraus neue Weisen der Erfahrung und folglich auch neue Weisen der Objektivität von Objekten hervorgehen.« (PhETh I, 103) Freilich bleibt festzuhalten, daß es sich dabei stets um einen Prozeß handelt, der geschichtlich kontingent ist. Er kann eintreten, aber sicher ist das nicht. Wenn überhaupt, dann stellt sich allein in der Rückschau die Erkenntnis ein, daß mein Denken sich gewandelt hat und daraus eine neue Gegenwartsweise der Welt hervorgegangen, hier also etwas Grundstürzendes geschehen ist. Ist nicht genau damit aber ein wesentliches Moment von Offenbarung beschrieben? Der Begriff Offenbarung im biblischen Sinn beinhaltet ja dreierlei: (i) Einerseits eine Gegenwartsweise der Gottheit, die, obgleich sie geschichtlich sich ereignet, in einem strengen Sinne unableitbar ist (Offenbarung läßt sich weder geschichtsphilosophisch noch transzendentalanalytisch extrapolieren); (ii) des weiteren ein Umkehrmoment seitens dessen, dem die Gegenwart der Gottheit widerfährt (um ihrer innezuwerden, muß ich mich in meinem Denken von dem, was mir da widerfährt, ergreifen lassen; das aber bedeutet immer auch einen Umsturz meiner bisherigen Apperzeption); (iii) und schließlich Verwandlung der Anschauungen meines Denkens hin zu einer neuen Weise, sowohl mich selbst als auch die Welt wahrzunehmen – m.a.W.: Es gehört zur religiösen Erfahrung, daß dem, der sie macht, sein bisheriges Anschauen und Denken zerbricht. Aber das bedeutet nicht, daß er deswegen eingehüllt bliebe im Dunkel seiner nutzlos gewordenen Weise, sich und die Welt wahrzunehmen. Vielmehr »sieht« er, daß das »Über-Licht« dessen, was ihm da widerfährt, ihn zum Sehen unfähig macht, und genau dies ist die Bedingung der Möglichkeit, daß ihm der Star gestochen, d.h. das Auge auf neue Weise geöffnet wird. »Ihm widerfährt, paulinisch gesprochen, die ›Umgestaltung zur Neuheit des Denkens‹ [Röm 12,1], die ihn alles bisherige Wissen als ›Torheit‹ beurteilen läßt. Dabei ist entscheidend: Die religiöse Erfahrung läßt den, der sie macht, nicht notwendig vor dem Unbegreiflichen verstummen, sondern befähigt ihn zu einer neuen Weise des Sehens und Begreifens.« (PhETh I, 104f. ) Mit diesen Beobachtungen geraten wir zurück an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Wie, so lautete unsere Frage, soll ein Aufschein des Unbedingten im Bedingten gedacht werden können? Wie eine Präsenz des Absoluten im Kontingenten? Wie eine Gegenwart des Göttlichen im Menschlichen? Die Dringlichkeit dieser Frage erweist sich daran, daß die traditionell anthropomorph gehaltenen Vorstellungen von der Personalität Gottes und seinem Eingreifen in Welt und Geschichte kaum noch plausibili-

Grundlinien liminaler Theologie

53

sierbar sind. Die Rede von einem solchen Gott ist für die überwältigende Mehrheit der Zeitgenossen nichtssagend geworden; man weiß nicht mehr, wovon da die Rede ist, weswegen ihr in der Regel nur noch achselzuckend begegnet wird. Wo hingegen die Fähigkeit des Menschen, sich durch die transzendentale Form seiner Akte des Anschauens und Denkens den Horizont für mögliche Erfahrung zu öffnen, in ihrer Kontingenz wahrgenommen wird; wo m.a.W. »die jeweils ›für uns‹ notwendige, ›an sich‹ jedoch kontingente Struktur unseres transzendentalen Horizontes« »als ›Erscheinung‹ [… verstanden wird], die einer Auslegung bedarf«, da gewinnt die Rede von Gott nicht nur inhaltliche Bedeutung (»meaning«), sondern auch und insbesondere einen realen Wirklichkeitsbezug (»reference«). Es stellt sich hier nämlich mit einem Mal die Frage, ob mit dieser Rede nicht »jene[r] reale[.] [Ermöglichungsg]rund« zur Sprache gebracht wird, »auf dem das kontingente Faktum menschlicher Transzendentalität beruht.« (FzE 68) Zugleich wäre aber auch zu fragen, ob jene Rede nicht auf vorzügliche Weise geeignet ist, die »›übergegenständliche Tiefe‹« (FzE 69f.) der Wirklichkeit Gottes gerade in ihrem geschichtlichen Wirken zu wahren. Ein wesentliches Charakteristikum biblischer Gotteserfahrung liegt ja darin beschlossen, daß in ihr das Heilige niemals als es selbst, sondern immer nur in seiner Vorbehaltenheit erfahren wird (vgl. etwa Ex 33,18–23; 1Kön 19,4–13a).70 Gerade das Gewahrwerden der Differenz zwischen dem Gegenstand, wie er sich dem Menschen zeigt, und seinem von ihm nicht mehr einholbaren »An-sich-Sein« stellt nun aber nicht nur einen Grundzug menschlicher Wirklichkeitserfahrung im allgemeinen dar (die Wirklichkeit der Dinge ist immer größer als der Ausschnitt, den ich von ihnen erfasse [vgl. PhETh I, 114ff.; 118]); sondern jene Differenz bezeichnet auch und gerade eine spezifische Eigenart religiöser Erfahrung: »Der je größere Anspruch des Wirklichen, in diesem Falle des Heiligen, kommt nicht abseits von unserem Anschauen, Wahrnehmen und Begreifen zur Sprache, sondern als deren inneres, vorantreibendes Moment. Und wenn soeben gesagt wurde, die religiöse Erfahrung führe den Menschen an die Grenze seiner Erfahrungsfähigkeit im Ganzen, dann kann das nicht bedeuten, daß er an dieser Grenze aufhöre, Erfahrungen zu machen, daß er also aufhören müßte, anzuschauen, wahrzunehmen und zu denken, sondern daß er die Fähigkeit zu einer veränderten Weise des Erfahrens nicht sich selber und seiner Erkenntniskraft zuschreiben kann. Denn auch die Weise, wie das Heilige sich dem Menschen zeigt und ihn unter seinen Anspruch stellt, kommt nur zur Sprache, wenn der Mensch diesen Anspruch durch sein Anschauen und Denken beantwortet. Und auch dieser Anspruch ist stets größer als die Weise, wie er in den Akten des menschlichen An70

Der Gegenstand religiöser Erfahrung, »oft ›das Numinose‹ genannt, zeigt sich so, daß er in der Weise seines Erscheinens zugleich seine Vorbehaltenheit wahrt, so daß in seinem ›Aufleuchten‹ gerade sein Verhülltbleiben mit-erscheint. Die ›Doxa‹ ist deswegen, religiös verstanden, der Lichtglanz des Heiligen und sein verhüllender Mantel zugleich. Deshalb gehört es zur religiösen Erfahrung, daß dem, der sie macht, sein bisheriges Anschauen und Denken zerbricht. Er ›sieht‹, daß das ÜberLicht des Heiligen ihn zunächst zum Sehen unfähig macht, ehe ihm das Auge auf neue Weise geöffnet wird.« (PhETh I, 104)

54

I. Anstelle einer Einführung

schauens und Denkens zur Sprache kommt, und wird so zum vorantreibenden Moment eines zukunftsoffenen Dialogs. Aber diese Differenz ist hier ins Unendliche gesteigert. Darum gehört es zur Eigenart religiöser Erfahrung, daß sie den Menschen an die Grenzen seiner Erfahrungsfähigkeit führt, ihn aber dort nicht verstummen läßt, sondern zu einer Antwort befähigt, die der Mensch nicht seiner eigenen Kraft zuschreiben kann. Das religiöse Verbum Mentis [sc. d.i. die neue Weise, sich die Welt begegnen zu lassen] wird deshalb als Gabe des Heiligen an den menschlichen Sprecher verstanden. Es ist ein Wort das dem, der die religiöse Erfahrung macht, vom Heiligen selbst ›ins Herz und auf die Lippen gelegt‹ worden ist« und ihn dann auch zu jenem expliziten Wort (Verbum Oris) befreit, das »als das im Menschenwort zur Sprache kommende Wort des Heiligen selbst verstanden [wird], ohne daß dazu besondere Auditions-Erfahrungen nötig wären. Es ist […] Gotteswort in der Gestalt des Menschenworts.« (PhETh I, 177ff.) (2) »… laßt euch befreien zur Neuheit des Denkens« (Röm 12,2): Biblische Konkretion religiöser Erschließungserfahrungen Worin aber könnte nun eine solche »Umgestaltung zur Neuheit des Denkens« (μεταμόρϕωσις τῇ ἀνακαινώσει τοῦ νοὸς) genauerhin bestehen? Mit dieser Frage rühren wir an ein grundsätzliches Problem religiöser Erschließungserfahrungen. Schrift und Tradition bezeugen ja einhellig, daß die Erfahrung des Heiligen Israels zwar formal im Überstiegscharakter kategorialer Erfahrung besteht – nur im Zerbrechen der »Denkschemata dieser Weltzeit« (σχῆματα τοῦ αἰῶνος) erleben wir uns als zur »Neuheit des Denkens« befreit (Röm 12,2); zugleich bezeugen sie aber auch, daß dieses formale Moment sich in der präzise benennbaren Inhaltlichkeit jenes Neuen Denkens bewahrheitet. Denn daß ein Gott spricht, heißt ja noch lange nicht, daß es sich hierbei auch um jenen Gott handelt, den die biblischen Schriften »ein Licht für die Welt« (Jes 26,9) nennen, und zwar weil dieser Gott gerade als der Gerechte sich in seinem richterlichen Handeln als »barmherzig und gnädig« erweist (Ex 34,6; Ps 86,15); daß es sich bei ihm um jenen handelt, der als »Beistand der Armen und Beschützer der Verachteten« (Jdt 9,11) insbesondere die Fremden liebt (Dtn 27,19); daß als »Retter der Hoffnungslosen« (Jdt 9,11) er das »Licht« derer ist, »die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes« – daß wir es bei ihm also mit jenem Gott zu tun bekommen, dessen Göttlichkeit sich in seiner Fähigkeit bewahrheitet, »unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens« (Lk 1,79). Man sieht unmittelbar, wie die dem biblischen Gott zugeschriebenen Attribute menschlicher Selbst- und Welterfahrung zuwiderlaufen: Gerecht und barmherzig wie dieser Gott ist kein Mensch! (Vgl. Hos 11,9) Die geläufigen Muster des Zu- und Gegeneinanders von Sühne und Versöhnung, Souveränität und Demut, Hoheitlichkeit und Liebe, Heimat und Weltläufigkeit werden hier unterlaufen, weswegen der Wirklichkeit dieses Gottes innezuwerden in der Tat eine radikale Veränderung der gewohnten Denk- und Handlungsschemata bedeutet. Nur wo der Mensch die geläufigen Schemata religiösen und politischen, sozialen und ökonomischen Denkens hinter sich läßt; nur wo er die eingespielten Muster von Selbsterhaltung und Selbstrechtfertigung

Grundlinien liminaler Theologie

55

überschreitet (was aber bedeutet: nur wo der Mensch sich als zu einer solchen Überschreitung befreit erfährt), wird er des biblischen Gottes gewahr. Mit diesen Überlegungen werden wir direkt in den Kontext zurückversetzt, in welchem die in vorliegendem Buch versammelten Studien entstanden sind. Als Beisasse, Bewohner oder Bürger des Verheißenen bzw. Heiligen Landes (Israel/Palästina) sich als zu einer solchen Neuheit des Denkens befreit zu erfahren, käme in der Tat einer »Revolution der Denkungsart« gleich, gegen die sich die Kopernikanische Wende Kants wie ein harmloser Purzelbaum ausnähme. Denn jene, die, angerührt von der Offenbarung des Gottes Israels, sich zur Neuheit seines Denkens befreit wissen und sich deswegen den »Denkschemata dieser Weltzeit« nicht mehr anpassen können oder wollen, sehen sich erheblichem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt: »Mit welchem Recht nimmst Du für Dich in Anspruch, von Gott als einem Freund derer zu sprechen, die in unserem Land als Fremde leben?! Dies ist das Land, das der HErr u n s gegeben hat, uns und unseren Kindern und Kindeskindern und niemandem sonst!«71 Dem unseligen Geist, aus welchem eine solche Lektüre etwa der biblischen Landverheißungstexte entspringt, kann man auf allen Seiten der involvierten Parteien begegnen.72 Man sieht: Kommunizieren läßt sich eine biblische Lesart der Bibel immer nur dann, wenn es gelingt, Erfahrungen, die zu Zeugnissen wie den oben genannten geführt haben, nicht nur sich selbst, sondern auch anderen zu erschließen. Genau damit schiebt sich in unsere transzendentale Reflexion auf das Wort »Gott« nun aber ein phänomenologisches Moment – und auch hier kann uns noch einmal ein Vorschlag Richard Schaefflers weiterhelfen. In Anschluß an Husserl macht Schaeffler darauf aufmerksam, daß, wie bei allen Formen von Erfahrung, auch die der religiösen Erfahrung eigentümlichen Inhalte sich nur innerhalb von Akten erschließen lassen, in welchen die Erfahrungsinhalte »originär gegeben« sind.73 Damit ist folgendes gemeint:

71

72

73

Vgl. zu dem hier angesprochenen Problem Tamar A. AVRAHAM: Ein neuer Exodus und eine neue Landnahme. Jüdisch-theologische Aspekte des israelisch-palästinensischen Konflikts, in: Joachim Negel/Margareta Gruber (Hg.): Figuren der Offenbarung. Biblisch – Religionstheologisch – Politisch (JThF 24), Münster: Aschendorff (2012) 315–347. Dies ist u.a. das Thema des aus israelisch-palästinensischer Perspektive verfaßten Lebensberichts des aus Südafrika stammenden jüdischen Jesuiten David M. NEUHAUS: Kritische Solidarität. Einige Überlegungen zur Rolle privilegierter Christinnen und Christen im Kampf der Enteigneten. Trier: AphorismA. Kleine Schriftenreihe Heft 17 (1995). – Vgl. zum Ganzen Alain MARCHADOUR/David NEUHAUS: La Terre, la Bible et l’Histoire. ›Vers le pays que je te ferai voir‹, Paris: Bayard (2006). Das Folgende in Anschluß an Richard SCHAEFFLER: Religionsphilosophie, Freiburg i.Br./München: Alber (1983) 105–142, 245–250. – Analog dazu auch und insbesondere die Bemerkungen von Heinrich Rombach (s.u. die Anm. 81).

56

I. Anstelle einer Einführung

(3) »Originäre Gegebenheit«: Zur phänomenologischen Begründung religiöser Erschließungserfahrungen (Husserl in der Relecture Richard Schaefflers) Husserl hat verschiedentlich darauf hingewiesen, daß das Ereignis des Erscheinens einer Sache (ϕαινόμενον/νόημα) und die Wahrnehmung dieses Erscheinens (αἴσϑησις/νόησις) korrelativ aufeinander bezogen sind; »weder Noësis noch Noëma [können] außerhalb der Wechselbeziehung, in der sie zueinander stehen, beschrieben werden«74, sondern nur innerhalb dieser Beziehung. Dieses sog. »Phänomenologische Grundgesetz« beinhaltet nun aber eine weitere, nicht minder wichtige Einsicht: »Kein noëtisches Moment ohne ein ihm spezifisch zugehöriges noëmatisches Moment«75 – m.a.W.: In einer »originären Erfahrung«76 sind der Bewußtseinsvollzug (die Noësis) und der Bewußtseinsinhalt (das Noëma) streng korrelativ aufeinander bezogen. Das bedeutet, daß außerhalb ihrer Wechselbeziehung weder das Noëma noch die Noësis adäquat beschrieben werden können. Ein Beispiel: Farben sieht man, sie sind nur dem Akt des Sehens »originär gegeben«.77 Wenn man von Farben hört, bspw. weil jemand über sie spricht, so ist dies nur möglich, weil sie zunächst in Akten des Sehens »originär gegeben« sind. Ähnliches gilt für die Wahrnehmungsakte des Hörens, Schmeckens, Riechens, Tastens usw. So kann man bspw. Töne nur nachträglich sichtbar machen, etwa in Gestalt der Wiedergabe ihrer Wellenlänge auf einem Spektrometer. »Originär gegeben« sind Töne allein dem Akt des Hörens. Hätte man niemals Farben gesehen, könnte man nicht über sie sprechen; hätte man niemals Töne gehört, so könnte man ihre Wellenlänge auch nicht nachträglich visualisieren. Von diesem Grundgesetz ist keine menschliche Erfahrungsregion ausgenommen, auch nicht die dimensionalen Regionen des Ethischen, Ästhetischen oder Religiösen. Auch hier gilt: Gegenstände, die einer besonderen »Region«, etwa der des Religiösen zugehören, sind nicht außerhalb ihrer Korrelation zur spezifisch religiösen »Grundart von originär gebendem Bewußtsein«78 anzutreffen. Die Evidenz, mit der religiöse Inhalte dem religiösen Akt gegeben sind, ist nicht aus anderen Evidenzen abzuleiten, bspw. aus solchen des ökonomischen, soziologischen oder psychologischen Erkennens. Die Forderung, die originäre Evidenz religiöser Erfahrungen sei zunächst mit empirischen Mitteln zu validieren, bevor man ihr Glauben schenke, wäre ebenso unsinnig, wie wenn man sich der Existenz von Tönen erst auf eine nicht-akustische Weise versichern wollte, ehe man bereit ist, sie zu hören. Insofern ist zur Erfahrung eines religiösen Phäno-

74 75

76

77 78

Ebd. 112. Edmund HUSSERL: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch – Zitatangabe bei Richard Schaeffler (ebd. 113), hier korrigiert wiedergegeben nach: Gesammelte Schriften (Hg. Elisabeth Ströker). Hamburg: Meiner (1992) Bd. 5, 215. 13f. (J.N.). Edmund HUSSERL: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, aaO. 11. 10. Ebd. 10. 19–11. 21. Ebd. 321. 13f.; vgl. ebd. 43. 1–26.

Grundlinien liminaler Theologie

57

mens tatsächlich nur fähig, wer in der Lage ist, ein diesem Phänomen adäquates Wahrnehmungsorgan zu entwickeln. Das aber bedeutet: Göttliches Wort und menschliches Ohr sind unhintergehbar aufeinander bezogen. Dieser Sachverhalt ist dem religiösen Denken wohlvertraut. Dessen Überzeugung ist es ja, »daß nur ein von Gott erleuchtetes Auge die Wirklichkeit Gottes erfassen, nur ein von Gott geöffnetes Ohr sein Wort vernehmen kann.«79 Die beschriebene Korrelation von Noësis (Erfahrung des Wortes Gottes) und Noëma (Wort Gottes selbst im Sinne des Verbum Mentis) erfordert denn auch eine zweite, umgekehrte Lesart des Phänomenologischen Grundgesetzes: »Es gibt kein rein hinnehmendes Hinsehen und Hinhören, das nicht schon ein Moment der Antwort enthielte, die der Weise, wie das Wirkliche sich zeigt, seine für das Subjekt perzipierbare Gestalt verleiht. Erfahrung beruht darauf, daß der Anspruch des Wirklichen nicht abseits von der Antwort, die wir auf ihn geben, vernommen wird, sondern in dieser Antwort seine Gegenwartsgestalt findet.« (PhETh II, 77) Das aber bedeutet: »Der Anspruch des Wirklichen wird uns stets nur im Widerhall unserer Antwort vernehmbar.« (PhETh I, 210) Wir haben es hier mit einem Grundgesetz menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung zu tun, von dem es auch in religiöser Hinsicht keine Ausnahme gibt. Insofern wäre nun auch auf die Frage, wie innerhalb dessen, was phänomenologisch als »Offenbarung« zu bezeichnen ist, menschliches und göttliches Tun ineinander greifen, folgende Antwort zu geben: Gottes Wort wird uns immer nur im Medium unserer eigenen Antwort vernehmbar, die Anrede des Schöpfers immer nur im Widerhall seiner ihm respondierenden Geschöpfe.80 Gibt es ein Kriterium, an welchem sich ermessen läßt, ob die Antwort, die da gegeben wurde, jenem eigentümlichen »Ruf«, der an uns erging, angemessen ist? Richard Schaeffler hat ein solches Kriterium benannt: »Der religiöse Akt«, so schreibt er, »unterscheidet sich von einer bloßen ›Externalisation‹ einer inneren Befindlichkeit des Subjekts, von einer bloßen ›Projektion‹ seiner frommen Innerlichkeit an einen imaginierten ›Himmel‹, von aller eigenen Hervorbringung subjektiver Vorstellungen oder 79 80

Richard SCHAEFFLER: Religionsphilosophie, aaO. 112. Hans Urs VON BALTHASAR hat diese Zusammenhänge auf die schöne Formel gebracht hat: »An der Antwort haben wir das Wort.« (Gott redet als Mensch, in: Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I, Einsiedeln: Johannes [1960] 73–99, hier 98. Ich danke Jürgen Werbick für den Hinweis auf diese Stelle.) – In ähnlicher Weise heißt es bei Emanuel LÉVINAS: »Offenbarung geschieht durch den, der sie empfängt, durch das inspirierte Subjekt.« (Jenseits des Seins, oder anders als Sein geschieht, Freiburg i.Br./München: Alber [1992] 341.) Vgl. auch ebd. 326: »[…] Möglichkeit der Inspiration: Urheber dessen sein, was mir, ohne daß ich es wußte, eingeflüstert worden ist – das empfangen haben, ohne zu wissen woher, dessen Urheber ich bin.« Ebd. 328: »Die Transzendenz der Offenbarung rührt daher, daß die ›Epiphanie‹ im Sagen desjenigen auftritt, der sie empfängt.« – Und schließlich bei Paul TILLICH heißt es: »Da es Offenbarung nur gibt, wenn jemand da ist, der sie als Offenbarung empfängt, so ist der Akt des Aufnehmens ein Teil des Offenbarungsgeschehens selbst.« (Systematische Theologie Bd. I, 2 [überarb. Aufl.], Stuttgart: EVW [1956] 45.)

58

I. Anstelle einer Einführung

Gedankenkonstruktionen nur dann, wenn der Erfahrende einem Anspruch begegnet, den er nicht aus eigener Kraft beantworten kann; statt dessen verdankt er die Kraft dazu eben jener Wirklichkeit, auf die er sich in einem veränderten Anschauen, Wahrnehmen und Denken bezieht. Die ›Gegenstandsfähigkeit‹ des religiösen Aktes beruht so verstanden auf einer ›Metamorphose‹, durch welche der Erfahrende durch das, was er erfährt, zu einer neuen Weise des Erfahrens befähigt wird.« (PhETh I, 183)

Damit schließt sich der Kreis. Unsere Frage, wie man sich eine »Hermeneutik vor aller Hermeneutik« zu denken habe, wie es überhaupt zu einer Präsenz des Unbedingten im Bedingten (habe) kommen könne(n), ist dahingehend zu beantworten, daß die Rede von Gott ihren Sachbezug und Bedeutungsgehalt darin hat, daß sie Denjenigen benennt, der uns aus der Prägekraft dieser Weltzeit befreit und unserem Bewußtsein eine neue Gestalt zu geben vermag, wenn wir uns in freier Zustimmung dieser seiner Wirksamkeit anvertrauen. Aber darin einstimmen zu können verdankt sich nicht mehr vor allem unserer eigenen Entschlußkraft. Zwar hängt die Veränderbarkeit unseres Denkens an unserer Fähigkeit, dem zuzustimmen, der uns auffordert gut zu sein (vgl. Mi 6,8; Dtn 30,19). Aber in diese Aufforderung einzustimmen ist uns nur möglich, wenn wir in der Lage sind, darin Gottes freie und lebensstiftende Zustimmung zu uns zu erkennen. Daß beides möglich werde: in der Veränderung der Schemata unseres Denkens sowohl ansprechbar zu werden für Gottes Heilswillen als auch im Ergreifen des göttlichen Heilswillens uns in unserem Denken, Handeln und Erleben als zu diesem Heilswillen befähigt und befreit zu erfahren – eben dies hätte uns an den systematischen Ort geführt, an dem allein es sinnvoll ist, unter neuzeitlichen Bedingungen von Gott zu sprechen. Wie aber gerät man an diesen Ort? Und wie hätte sich jenes transzendentale Korrelationsverhältnis, vermittels dessen wir an jenen Ort geraten, an welchem es sinnvoll, aber auch notwendig wird von Gott zu sprechen, im einzelnen nun auszugestalten und zu bewähren? 2.2. Theologie transversal Mit dieser letzten Frage gerät uns erneut jene Aufgabe der Theologie vor Augen, die wir als hermeneutische Grenzgängerschaft bezeichnet haben. Denn wie kann es gelingen, die von Husserl entdeckte Multiperspektivität der Phänomene, der ihrerseits eine Vielzahl regionaler Ontologien zugrunde liegt, miteinander ins Gespräch zu bringen? Wie sollen Erfahrungen kommunizierbar werden, wenn sie sich nur nachvollziehen lassen, insofern man an der entsprechenden Subjekt-

Grundlinien liminaler Theologie

59

struktur, die zu ihrer Genese führt, teilhat? Läuft ein solcher Argumentationszirkel nicht zuletzt Gefahr, in der wenig befriedigenden Aussage zu enden: »Wenn ihr’s nicht fühlt,/ ihr werdet’s nicht erjagen«?81 Will man sich damit nicht zufrieden geben, so ist auf Abhilfe zu sinnen. Mir scheint, daß das Konzept einer transversalen Vernunft (im Rahmen der Postmodernismus-Debatte vor etwa zwanzig Jahren

81

Genau dieses Problem ist Gegenstand der Strukturontologie von Heinrich ROMBACH: »Nur wer zum Aufbau der entsprechenden Subjektivität fähig ist, ist zur Entfaltung des betreffenden Weltphänomens fähig.« (Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, Freiburg i.Br./München: Alber [1980] 293. Vgl. auch DERS.: Die Welt als lebendige Struktur. Probleme und Lösungen der Strukturontologie, Freiburg i.Br.: Rombach [2003] 107.) – Rombach hat seine Position u.a. im sog. »Positivismusstreit«, der in den 1960er Jahren in der deutschen Pädagogik geführt wurde, entwickelt. Der Konstanzer Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka hatte damals für einen »erfahrungswissenschaftlichen«, »werturteilsfreien« Ansatz in der Pädagogik plädiert und in Anlehnung an Karl Popper, Hans Albert und Talcott Parsons eine empirisch-analytische Herangehensweise an die pädagogisch relevanten Probleme der Wirklichkeitsperzeption gefordert (Die Krise der wissenschaftlichen Pädagogik im Spiegel neuer Lehrbücher, in: ZP 12 [1966] 53–88). In seiner Replik auf Brezinka lehnte Rombach vehement einen sog. »Wissenschaftsmonismus« ab und favorisierte statt dessen im Blick auf die »Mehrdimensionalität der Phänomene« einen »Methodenpluralismus« gerade auch in der Pädagogik, weil nur so die Unverrechenbarkeit der vielen Wirklichkeitsdimensionen gewahrt bleibe. Jede wissenschaftliche Erfahrungsweise sei von der Konstitution ihres Objektbereichs abhängig, weshalb die Forderung nach einem einheitlichen Zugang die spezifische Eigenart der jeweiligen Gegenstandsfelder notwendig verkennen müsse. Darüber hinaus konstituiere sich das Wissenschaft treibende Subjekt erst innerhalb des jeweiligen wissenschaftlichen Objektzusammenhangs als Wissenschaftler, weswegen es überhaupt irreführend sei, von »der« Wissenschaft bzw. »dem« Wissenschaftler zu sprechen: »›Wissenschaft‹ ist ein analoger Begriff«, weshalb jede Wissenschaft mit ihren Methoden auch ihre eigenen Erkenntnisvoraussetzungen schaffe. (Der Kampf der Richtungen in der Wissenschaft. Eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung, in: ZP 13 [1967] 37–69, hier 41.) Als Beispiel verwies Rombach dabei u.a. auf die Theologie und bemerkte, es bedürfe »eines grundsätzlichen Einblicks in die Dimension des ›Objekts‹ dieser Wissenschaft, um die Maßstäbe ihrer Objektivität zu erkennen.« (Ebd. 47. Hervorhebung Rombach.) Brezinkas abschlägige Antwort an Rombach folgte prompt, und zwar unter dem bezeichnenden Titel: Über den Wissenschaftsbegriff in der Erziehungswissenschaft und die Einwände der weltanschaulichen Pädagogik. Eine Antwort an Heinrich Rombach, in: ZP 13 (1967) 135–168. – Am Rande sei vermerkt, daß Rombachs Argumentation der von Romano GUARDINI ähnelt: »Wenn der ernste Wissenschaftler aus dem Bereich der Physik in den des Lebendigen tritt, versucht er zunächst den neuen Gegenstand mit den bisherigen Kategorien zu erfassen; sieht dann, daß der Gegenstand sich als etwas Eigenes bezeugt und beweist seine Wissenschaftlichkeit gerade dadurch, daß er sich die zuständigen Kategorien von diesem Gegenstand selbst geben läßt.« (Das Christusbild der paulinischen und johanneischen Schriften, Mainz: Grünewald/Paderborn: Schöningh [31987] 28.)

60

I. Anstelle einer Einführung

von Wolfgang Welsch ins Spiel gebracht) hier weiterhelfen könnte.82 In Aufnahme der klassischen Unterscheidung von Vernunft (νοῦς, νόησις/intellectus) und Verstand (λόγος, διάνοια/ratio)83 arbeitet Welsch die unterschiedlichen Bezugsfelder beider Vermögen heraus: So spricht man etwa von technischer, ökonomischer oder politischer Rationalität, wenn es darum geht, die für die Lebensbereiche der Technik, der Wirtschaft oder der Politik einschlägigen Verstandesformen zu kennzeichnen: Ein technisch begabter Mensch ist in der Lage, komplexe Schaltkreise systemintern zu analysieren; der homo oeconomicus zeichnet sich durch analytische Fähigkeiten hinsichtlich schwer zu überschauender Entwicklungen auf dem Aktienmarkt aus; und ein in der Wolle gefärbter Politiker hat ein besonderes Gespür für wechselnde Machtkonstellationen. Fraglich hingegen ist, ob der Politiker auch die selbstläuferischen Dynamiken der Wirtschaft versteht, der Spezialist in Sachen Finanzentwicklung seine Abhängigkeit von computergesteuerten Aktienkursen überblickt, und der Techniker begreift, inwiefern die Entwicklung neuer Technologien vor allem von wirtschaftlichen Interessen gelenkt ist. Gegenüber solchen bereichsspezifischen Verstandesformen ist die Vernunft das überschreitende Vermögen. Dieses wird immer dort relevant, wo die einzelnen Verstandesformen sich mehr oder weniger strikt auf ihren Bereich restringiert finden. Aufgabe der Vernunft ist es demnach, Übergänge zwischen den verschiedenen Rationalitätsmustern zu schaffen, d.h. die verschiedenen Formen von ethischer, ästhetischer, politischer, technischer oder ökonomischer Rationalität miteinander zu vernetzen, denn die Einsichten der einen Weltsicht sind immer auch von Relevanz für die anderen. Freilich »Übergänge sind etwas anderes als Überblicke.«84 Vernunft (νοῦς/ intellectus) ist nicht eine Art Super-Verstand, der von einem archimedischen Beobachterposten aus die verschiedenen Rationalitätsfel82

83

84

Wolfgang WELSCH: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH Acta Humaniora (31991), bes. 295–318; DERS.: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1995) 613–949, hier bes. 748–765; DERS.: Vernunft und Übergang. Zum Begriff der transversalen Vernunft, in: Karl-Otto Apel/Manfred Kettner (Hg.): Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1996) 139–165. Vgl. etwa THOMAS VON AQUIN: STh I, q. 59 art. 1 ad 1: »intellectus cognoscit simplici intuitu, ratio vero discurrendo de uno ad aliud.« Gleichwohl vertritt Thomas in Anschluß an Aristoteles (De anima) die Meinung, daß es sich bei intellectus und ratio nicht um zwei verschiedene Vermögen handelt, sonder um zwei verschiedene Funktionen desselben Vermögens: »etsi intellectus et ratio non sint diversae potentiae, tamen denominantur ex diversis actibus; nomen enim intellectus sumitur ab intima penetratione veritatis; nomen autem rationis ab inquisitione et discursu.« (STh II, q. 2 art. 49, 5 ad 3.) Wolfgang WELSCH: Unsere postmoderne Moderne, aaO. 296.

Grundlinien liminaler Theologie

61

der gleichsam supervisorisch überblicken könnte; sondern Vernunft ist das Vermögen, Übergänge zwischen den verschiedenen Sichtweisen zu schaffen. Als solche wird sie von Welsch als »transversale Vernunft« bezeichnet. Schauen wir uns dieses Konzept im Blick auf die Theologie etwas genauer an. (1) Transversale Vernunft als hermeneutisches Vermögen der Theologie »Transversal« ist ein Begriff aus den Naturwissenschaften. Als Transversale definiert man bspw. Schwingungen, die querlaufend zur Ausbreitungsrichtung der Impulsquelle alle von ihr ausgehenden Schwingungen durchschneiden. Unter anderem mit Hilfe dieses Bildes beschreibt Welsch »transversale Vernunft« als das hermeneutische Vermögen, Übersetzungen zwischen den disparaten Rationalitätsmustern und den von ihnen generierten Welten in Gang zu setzen. Übersetzung bedeutet nicht Vergleichgültigung. Die Fähigkeit der Vernunft, Übergänge zwischen den verschiedenen Verstandesformen und den ihnen korrespondierenden Wirklichkeitsfeldern herzustellen, zielt denn auch nicht darauf ab, deren Pluralität zu beseitigen, sondern ihre Aporien zu verwinden.85 Ob die Befähigung zu einer transversalen Vernunft dann aber nicht zur hermeneutischen Tugend auch und gerade der Theologie werden müßte? Die Tatsache der Eigengesetzlichkeit jeder Erfahrungsweise von Welt, auch und gerade der religiösen, kann ja nicht bedeuten, daß diese sich selbst genug wären. Insbesondere die religiöse Erfahrung ist darauf angewiesen, sich im hermeneutischen Wechselbezug zu jeder Weise des Erfahrens zu bewähren. Theologische Hermeneutik im Sinne transversaler Vernunft hätte demnach zu zeigen, daß nicht nur ausgegrenzte Orte, Zeiten und Lebensvollzüge von Gott sprechen, es – biblisch gesprochen – ein »Heiliges Land« gibt, sondern daß »alle Lande« der göttlichen »Herrlichkeit voll« sind (PhETh I, 194). Dies kann ihr freilich nur gelingen, wenn sie imstande ist, zweierlei aufzuzeigen: Zum einen hätte sie (transzendentalanalytisch) darzutun, daß einzig die in Reflexion auf ihren Denkgegenstand »Gott« sich einstellende Erfahrungsfähigkeit in der Lage ist, jene »Forderungen (›Postulate‹) ein[zu]lös[en], die die Vernunft aus ihrer eigenen Notwendigkeit heraus, nämlich um ihrer bedrohten Erfahrungsfähigkeit willen, stellen muß. Die Notwendigkeit solcher Postulate [sc. Ich-Konstanz und Welt-Kohärenz] tritt dann hervor, wenn sich zeigt, daß die menschliche Vernunft angesichts der Vielgestaltigkeit der Erfahrungsweisen und der ihnen entsprechenden Erfahrungswelten in eine unvermeidliche Dialektik gerät, die nur durch Postulate der Hoffnung aufgelöst werden kann. Aber diese Vernunftpostulate machen die religiöse Erfahrung nicht überflüssig, sondern lassen im Gegenteil ihre allgemeine Bedeutung hervortreten. Denn diese Postulate ihrerseits gehen zwar aus einem ›reinen Vernunftbedürfnis‹ hervor, unterlägen aber gleichwohl dem Verdacht, bloße Wunschvorstellungen zu sein, wenn sie nicht durch […] Erfah85

Ebd. 296.

62

I. Anstelle einer Einführung

rungen ins Recht gesetzt würden«, die als »religiös« zu bezeichnen man deshalb das Recht hat, weil sie uns auf eine Wirklichkeit verweisen, von welcher allein her die Aporien, die sich aus den Antinomien des Denkens ergeben, als gelöst erscheinen (PhETh I, 194f.) Theologie hätte m.a.W. den Nachweis zu erbringen, daß religiöse Erfahrung – anders als ein weitverbreitetes Vorurteil meint – sich nicht einer irrationalen Gefühlsübermacht verdankt und insofern vernunftrestringierend wirkt, sondern daß vielmehr, genau umgekehrt, ihre Wahrheit sich gerade darin erweist, vernunfterhellend und dadurch erfahrungsbefähigend zu wirken – nicht zuletzt im Sinne des berühmten Wortes von Husserl, daß »Recht hat, wer mehr sieht«. Zum anderen hätte die Theologie darzulegen, daß die religiöse Erfahrung des Heiligen über eine spezifisch hermeneutische Kraft verfügt, mit Hilfe derer sie in der Lage ist, »auch alle anderen Erfahrungsweisen und die ihnen entsprechenden Erfahrungswelten auf ihren Möglichkeitsgrund hin auszulegen«. (PhETh I, 195) Der Eigenart religiöser Erfahrung entspricht es ja, daß in ihr Momente auftauchen, die anders strukturierte Weisen des Anschauens und Denkens, z.B. ästhetische oder ethische, auf den Plan rufen. Erfahrungen des Heiligen setzen deshalb immer sofort einen Konflikt der Interpretationen86 frei – was übrigens in analoger Weise für alle Formen von Erfahrung, ethische, ästhetische, soziale usf. samt den ihnen korrespondierenden Wirklichkeitsfeldern gilt. Auch diese sind und bleiben für Deutungsmuster anderer Provenienz (theologische, philosophische, politische, ökonomische, psychoanalytische, strukturalistische usf.) offen, weshalb nicht nur die religiöse Erfahrung des Heiligen in Hinsicht auf ein Verständnis der Wirklichkeitsfelder des Politischen, Ökonomischen, Ethischen und Ästhetischen relevant ist, sondern umgekehrt »die Vielfalt der Erfahrungsweisen sich […] innerhalb der religiösen Erfahrung selbst [wiederholt].« (PhETh I, 195) Verhält sich dies so, dann ist nun allerdings ein hermeneutisches Gespür der besonderen Art gefragt: Hermeneutik nämlich im Sinne transversaler Vernunft. Die sowohl diachrone, geschichtliche Variabilität der Formen unseres Anschauens und Denkens als auch die synchrone Pluralität sich überschneidender Weisen der Erfahrung von Wirklichkeit provozieren ja die Gefahr, den durch sie heraufbeschworenen Konflikt der Interpretationen dadurch zu entschärfen, daß man bestimmte Deutungsmuster ungebührlich präferiert und dadurch die vernunfterhellende, weil wirklichkeitsexplizierende Kraft anderer Erfahrungsweisen von Welt unzulässig beschneidet. Wo bspw. die Reflexion auf die religiöse Erfahrung des Heiligen durch ästhetische, moralische oder empirische Weisen des Anschauens und Denkens überformt wird, da gerät der spezifische Charakter des Anspruchs, den sie zur Sprache bringen will, aus dem Blick. Damit gerät zugleich aber auch der spezifische Beitrag, den die religiöse Erfahrung hinsichtlich einer Selbsterhellung der Vernunft zu leisten imstande wäre, aus dem Blick. Vernunft restringiert sich hier auf ihre szientistischen, ökonomistischen oder psychologisierenden Schrumpfformen. Wie kann man dieser Gefahr entgehen?

86

Vgl. Paul RICŒUR: Le conflit des interprétations. Essais d’herméneutique, Paris: Seuil (1969).

Grundlinien liminaler Theologie

63

(2) Zur Frage nach dem Zusammenhang von transversaler Vernunft und der Einheit des Logos Nun, entgehen wird man dieser gefährlichen Sackgasse nur, wenn es gelingt, die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen zu Gehör bringen. Dazu könnte jene hermeneutische Fähigkeit der Vernunft, die in Anlehnung an Wolfgang Welsch als »transversal« bezeichnet wurde, ihren spezifischen Beitrag leisten – allerdings mit dem wichtigen Zusatz, daß sie dazu einer Selbsterhellung bedürftig ist, die sie erfahrungsgemäß aus eigener Kraft zu leisten kaum imstande ist. Das Problem ist ja, daß keine der vielen Erfahrungsweisen und Erfahrungswelten sich selbst genug ist, daß vielmehr jede von ihnen immer auch Momente in sich trägt, die nur in einem anderen Erfahrungskontext angemessen expliziert werden können. »Es gibt ethische Implikate der wissenschaftlichen Empirie, ästhetische Implikate der religiösen Erfahrung, religiöse Momente in der Erfahrung des Schönen wie des Verpflichtenden; und diese Implikate nötigen uns, von je einem Erfahrungskontext zum anderen überzugehen. Die Wahrheit ist nicht nur in dem Sinne je größer als unsere Antwort, daß sie innerhalb je eines Erfahrungskontextes ein Weiterschreiten von einer Erfahrung zur nächsten verlangt, sondern auch in dem Sinne, daß sie uns immer wieder nötigt, die Grenzen zwischen den einzelnen Erfahrungsweisen und Erfahrungswelten zu überschreiten. Da aber diese Notwendigkeit aufgrund der erwähnten WechselImplikationen innerhalb jeder Erfahrungswelt auftritt, reproduziert sich der Konflikt der Weisen, wie die ›je größere Wahrheit der Dinge‹ uns in Anspruch nimmt, innerhalb jeder einzelnen Erfahrungswelt als deren je immanenter Konflikt.« (PhETh I, 141) Wie darauf antworten? Mir scheint, daß der Theologie hier erneut ein Umweg über die Phänomenologie weiterhelfen kann. Phänomenologie ist ja nichts anderes als der Versuch, den Menschen so präzise wie möglich in ein Verhältnis zur Welt und damit zu sich selbst zu setzen, getreu der sokratischen Einsicht, daß ein wahrer Philosoph »nichts zu sagen [hat], nur zu zeigen.«87 Aufgabe einer Theologie, die die Zeichen der Zeit ernst nähme, wäre es denn auch, dem polyphonen Chor der Ideologien und Weltanschauungen nicht eine weitere Stimme hinzuzufügen, sondern hinzumerken auf das, was ist, und zu sensibilisieren für jenes, das sich zeigen will. Denn überzeugen wird zuguterletzt nicht, wer auf dem Markt der Ideologien auch noch eine »Wahrheit« feilzubieten hat, sondern nur, wer imstande ist, mehr zu sehen. Stellt ein solcher Umweg der Theologie über die Phänomenologie dann aber überhaupt einen Umweg dar? Haben wir es hier nicht vielmehr erneut zu tun mit einer Art hermeneutischer Grenzgängerschaft zwischen konfligierenden, womöglich aber einander ergänzenden Denkstilen und Optiken? Zur Eigenart eines hermeneutischen Grenzganges gehört es ja, daß man auf ihm immer wieder die Perspektive wechselt, weshalb man auf ihm mehr zu sehen bekommt als auf den ausgetretenen Pfaden eines Denkens, 87

Walter BENJAMIN: Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien, in: GS Bd. V/2, 574. – Erinnert sei noch einmal an die Husserl zugeschriebene Formel: »Recht hat, wer mehr sieht.«

64

I. Anstelle einer Einführung

das von einem archimedischen Punkt her die Welt in den Blick zu nehmen versucht (noch einmal sei erinnert an jene Form von szientistischer, ideologischer oder religiöser Verblüffungsresistenz, die alles, was einem begegnet, sofort in die vertrauten Interpretationsparameter zwängt und deshalb zur Erfahrung von »Neuem unter Sonne« nicht mehr fähig ist). Eine solche Form grenzgängerischer Theologie verdiente das Prädikat »hermeneutisch« nicht zuletzt aber auch deshalb, weil sie sich in der Kunst des Hinüber- und Herübersetzens übt, in der Kunst des Vermittelns von Perspektiven und des Kreuzens der Blickwinkel. Eine solche Theologie wäre dann tatsächlich eine Art Einübung in die schwierige Kunst transversaler Vernunft, in welcher sich das Heterogene, einander Inkompatible hinsichtlich der »Veritas semper maior« füreinander aufschließt, und zwar, weil sie sich offen hält für den unnennbaren, alle Perspektiven zentrierenden Logos, der zwar nicht polyphon, aber auch nicht monophon ist, und zwar, weil er immer nur symphon vernehmbar wird.88 Die Rede von dem einen Logos, in welchem alle Perspektiven transversal übereinkommen, bedeutet deshalb auch nicht die klammheimliche Repristinierung einer onto-theologischen bzw. hierarchisch-vertikalen Meta-Ordnung; eine solche läßt sich ja immer nur autoritär verordnen. Vielmehr ist daran zu erinnern, daß der göttliche Logos als der unnennbare Fluchtpunkt der »veritas semper maior« zwar wahrheitserhellend wirkt, gerade darin aber vollständig diaphan ist; als transzendentaler »focus imaginarius« aller Wirklichkeit ist er zwar Vorgabe, Leitstern und Horizont allen Denkens, als solcher aber niemals in ein Objekt menschlichen Wissens konvertierbar. Vielmehr läßt der Logos »alles als Erscheinung erscheinen, bedeutet dem Verstand, daß er noch kein Sein hat oder gar ist, sondern in einer unendlichen Geschichte der Projektion sich erst langsam als Projekt der Freiheits- und Weltgestaltung zu definieren und erbilden hat.« Im Sinne einer »ernsten Konfiguration des Absoluten« erweist er sich »so als [transzendentaler] Vorschein und Spielraum jeder möglichen Erscheinung«, er »läßt die Dinge unendlich leicht und unabweisbar gegenwärtig sein, ist somit Index des freien Gelingens und der Unbedingtheit von Freiheit, des gelichtet-symbolischen Bezugs von Subjekt und Welt, Garant für das Seinsollen und Seinkönnen der Offenbarkeit eines je-den [sic!] und somit In-begriff [sic!], Soll und Überschuß der Vernunft selber, ihr id quo, ihr Raum und Medium.« Er garantiert »die befreiende Vorgabe, […] die Verpflichtung [auf] die unabgegoltene Offenheit und Unabschließbarkeit des Denkens, welches deshalb nicht anders kann als sich stets neu auf das Absolute hin zu entwerfen, wie immer es dieses konkret und lebensgeschichtlich [auch] bestimmen mag.«89

88

89

Vgl. unten in unserer Studie XI (»Theologie und Biographie. Trinitarische Spurenlese eines prekären Verhältnisses«) den Abschnitt 2. – Zum Ganzen auch Hans Urs VON BALTHASAR: Die Wahrheit ist symphonisch. Aspekte des christlichen Pluralismus, Einsiedeln: Johannes (1972). Alle Zitate Elmar SALMANN: Der geteilte Logos. Zum offenen Prozeß von neuzeitlichem Denken und Theologie (StAns 111), Rom: Benedictina Edizioni Abbazia S. Paolo (1992) 163f.

Grundlinien liminaler Theologie

65

(3) Das »quo maius cogitari nequit« (Anselm von Canterbury) als formales (transzendental-ontologisches) Rahmengefüge transversaler Vernunft Man sieht, wie eine Vernunft, die sich anheischig macht, zwischen den verschiedenen Rationalitätsmustern und den von ihnen generierten Welten zu vermitteln, sich überhebt, wo sie meint, dieses schwierige Geschäft aus eigener Kraft betreiben zu können. Denn dazu bedarf es subtilster Intuitionen, einer inspirierenden, weil inspirierten Geschmeidigkeit, die man sich nicht einfach antrainieren kann. Insofern ist zu fragen, wie das Rahmengefüge für ein solches Vermittlungsgeschehen zwischen einer zur Selbstverwirklichung im Selbstüberstieg berufenen Vernunft und ihrer Seinsnorm (eben der »veritas semper maior«) aussehen könnte? Und da dürfte nun an die anselmische Formel »id quo maius cogitari nequit« zu erinnern sein. Jene Formel ist ja »zugleich eine Bezeichnung der Vernunft wie des Absoluten«90, gehört es doch zum Vollzug jüdisch-christlichen Gott-Denkens, daß ihm sein Gegenstand als derjenige erschlossen ist, der »größer« ist als die Weise, wie er sich dem Denken zeigt und dieses Sich-Zeigen gedacht werden kann. Anselms Gottesbegriff bezieht deshalb das »maius« (größer als) sowohl auf den Inhalt des Denkens (»id«) als auch auf den Vollzug des Denkens (»cogitari«). Und wäre damit über Kant, Hegel und Husserl (sowie den ihre Einsichten synthetisierenden Schaeffler) hinaus nicht noch einmal neu das Maß für eine jede vernünftige Form von Gottrede gegeben? »Das Sich-ständigüberbieten-Müssen der Vernunft ist die sakramentale Gegenwart der Immanenz des Absoluten«91; in diesem Vorgang ist Gott Eröffnung eines Raumes von Übergängen, Projektionen und Verweisen, die nie bis zur völligen Erschöpfung des Gegenstandes oder der Vernunft führen, sondern diese immer wieder neu ins Ungemessene locken, um darin ihrer selbst und des Gottes, dem sie nachdenkt, je tiefer bewußt zu werden. Berufen zur Einsichtnahme in eine Wirklichkeit, die sich mit ihrer je größeren Nähe umso mehr entzieht, erweist sich Gott hier als der, von dem es scheint, daß er uns uns selber zugedacht hätte: Eine symbolische Dichte leuchtet hier auf, in der menschliche Freiheit als Vorgabe des Gelingens von Existenz erscheint, existentielle Berufung als Gebot an sich selbst dechiffriert wird, Geist als Befähigung zu jener »Neuheit des Denkens« (Röm 12,2) sich entdeckt, die als frei gewährte doch immer auch erarbeitet und errungen werden muß – man sieht, wie ein Konzept transversaler Vernunft ohne solche transzendentalontologische Rahmung geradezu in sich selber zusammensacken muß.92 Darüber hinaus erschiene jener Gott nun aber auch als Vorlauf auf eine unausdenkliche Versöhnung von Natur und Geschichte, Faktizität und Freiheit, einzelnem und allgemeinem Geschick, der der Mensch (vom biblischen 90 91 92

Ebd. 164. Ebd. 166. Deshalb kann man es auch nur auf einen anti-theologischen Affekt zurückführen, daß Welsch auf diese Zusammenhänge – wo überhaupt – immer nur abwehrend zu sprechen kommt. (S.u. Anm. 99.)

66

I. Anstelle einer Einführung

Offenbarungsgeschehen auf den Weg gewiesen) nachdenkt, ohne ihrer doch je aus eigener Vollmacht habhaft zu werden93 – bis schließlich jener Gott 93

Elmar SALMANN: Der geteilte Logos, aaO. 120. – Salmann hat in einer im 32. Theologischen Studienjahr (2005/06) gehaltenen Vorlesung auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht, wie ein theologisches Denken aussehen müßte, das sich auf der Höhe der anselmischen Reflexion zu halten sucht. Ausgehend von Anselms Formel in Prosl. II, 1: »Credimus te esse aliquid quo nihil maius cogitari possit« bzw. ihrer Fortformulierung in Prosl. III, 1: »id quo maius nequit cogitari« belastet Salmann alle acht Glieder dieser Formel mit dem ihnen jeweils eigenen Gewicht, um von dort aus darzulegen, daß einzig ein Denken, das alle Glieder in einem zugleich präzisen und ganz schwebenden Gleichgewicht zu halten weiß, sich auf der Höhe Anselms bewegt. Erst hier wird deutlich, daß Theologie im Sinne eines transversal voranschreitenden, zugleich aber transzendental-ontologisch gerahmten Denkens sein Maß an bzw. in dem findet, was es denkt – daß m.a.W. eine extreme, weil sich selber durchsichtige Rationalität mit einer ebenso extremen, weil hochpräzisen Denkmystik in eins fällt. Nur ein solches Denken ist auf der Höhe seiner Tiefe, nur ein solches Denken wird sich selbst und damit Gott gerecht. Damit wird schlagartig aber auch deutlich, was im Sinne einer solchen transversal operierenden Theologie Sünde wäre, nämlich eines oder mehrere Elemente der Formel »Credimus te esse id quo maius cogitari nequit« auf Kosten der anderen überzubetonen und damit alles aus dem Gleichgewicht zu bringen: (1) Ein überbetontes »Credimus« führt in den Fideismus – als wäre Gott einfach Glaubensgegenstand und nicht immer schon Richtmaß allen Denkens, an dem das Denken seiner selbst inne wird. (2) Ein überbetontes »te« führt in den reinen Personalismus – als wäre Gott einfachhin ein DU, das sich als sog. Freund oder gar »Partner« des Menschen kategorial vergegenwärtigte. (3) Ein überbetontes »esse« führt zu einem unangemessenen Essentialismus des Gottdenkens – als wäre Gott ein fixierbares Vorkommnis in der Welt. (4) Auf ähnliche Weise führt ein überbetontes »aliquid« zu einer falschen Objektivierung Gottes – als wäre Gott nicht zunächst eher Schwebe zwischen menschlicher Projektion und heteronomer Offenbarung, als fiele der Abstand, der zwischen dem Wissen von Gott und dem Wissen um dieses Wissen herrscht, nicht noch einmal in den Bereich menschlichen Wissens, als wäre »Gott« objektiver Gegenüberstand und nicht zunächst und vor allem Gegenstand menschlichen Wissens von Gott. (5) Wiederum ein überbetontes »quo« reduziert das Gottdenken auf einen sphärischen Strukturalismus und Relationalismus – als legte nicht der Imperativ des biblischen Gesetzes (»Du sollst den Herrn, deinen Gott ehren!« »Du sollst nicht töten!« »Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen!« »Du sollst gut sein, denn nur so wirst du leben!«) dem Menschen den Indikativ der Freiheit und damit die Nähe der Gottheit immer auch in bedrückender, weil darin aus den eigenen Selbstzwängen befreiender Weise auf. Und wäre damit nicht benannt, was die Schrift heilschaffendes »Gericht« nennt? (Vgl. Jes 26,9). (6) Ähnlich führt ein überbetontes »maius« das Gottdenken in einen Komparativismus des »je mehr«, der keinen Halt mehr findet, sich statt dessen in sich selbst verliert – als wäre der Gott, der sich dem Menschen in Gesetz und Gnade, Geschick und Geschichte mitteilt, nicht eben auch ein strenges (und gerade darin barmherziges) Gegenüber. (7) Ein überbetontes »cogitari« führt zu einer Selbstüberhebung des Denkens – als wäre menschliche Spekulation je in der Lage, das Geheimnis des »Deus semper maior« adäquat oder gar erschöpfend auszuloten. (8) Und schließlich, umgekehrt, ein überbetontes »nequit« führt zu einem Skeptizismus, der keiner der überlieferten Einsichten von Schrift und Tradition mehr Glauben zu schenken vermag – als wären die großen Vordenker der Tradition Denkzwerge gewesen, die um die Fragwürdigkeit ihres Denkens nicht immer schon gewußt hätten, ohne sich deswegen dem sich selbst aporetisierenden Zweifel anheimzugeben; als führte ein vollendeter Skeptizismus sich nicht selber ad absurdum, weil er vergäße, daß man auch seinem eigenen

Grundlinien liminaler Theologie

67

nicht mehr als Gegensatz zur Welt, d.h. als ihr »aliud« erscheint und auch nicht mehr im Gegensatz zur Welt (als dem Nicht-Identischen) als der sich selber stets immer Gleiche (»idem«): Vielmehr leuchtet jener Gott in der Koinzidenz der Gegensätze von »idem« und »aliud« als das »non aliud« auf, d.h. als jene Wirklichkeit, die auch noch die binären Differenzen von Ursache und Wirkung, Einheit und Vielheit, Identität und Differenz, Denken und Sein transzendiert.94 Erst einem solchen Gottdenken wäre Gott als der Unendlich Liebende erschwinglich, erst hier wäre jener Punkt erreicht, da das Heterotope christlichen Gottdenkens im Ideotopen menschlicher ErfahSkeptizismus gegenüber noch einmal skeptisch sein muß, weil er darüber hinaus auch und vor allem vergäße, daß das »ich denke« Grundlage allen Zweifelns ist, diese Grundlage ihren Halt aber nur in einem »quo maius« haben kann, das als Denk- und Seinshorizont alles menschliche Denken übersteigt und deswegen auf ein »esse«, womöglich gar auf ein »aliquid esse« verweist, dem man Glauben schenken muß (»credimus«), will man überhaupt denken (»cogitari«).

94

Nur einem Denken also, das die acht Glieder der anselmischen Formel in eine behutsam austarierte Schwebe zu bringen weiß, in welcher das eine Glied stabilisierende Korrektur des jeweils anderen ist, eröffnet sich jener Zwischenraum (μεταξύ) von Denken und Sein, in welchem sich uns dann auch jener Gott zudenken mag, der Vorgabe und Raum, Leitstern und Horizont allen Denkens ist – und darin Indikativ der Gnade, Imperativ lebensstiftenden Gebotes und Konjunktiv bzw. Optativ möglicher, unausdenklicher Erlösung, gilt doch von ihm, daß er nicht nur der »Deus semper maior« ist, sondern immer auch der »Deus semper minor«, von welchem gesagt werden darf, was Hölderlin auf folgende einzigartige Formel gebracht hat: »Non coerceri a maximo, sed tamen contineri a minimo divinum est« (»Vom Größten nicht bezwungen zu werden, und dennoch sich vom Kleinsten umschließen zu lassen: das ist göttlich.«) Vgl. dazu aus dem Dialog De Non-Aliud / Das Nicht-Andere des NIKOLAUS VON KUES (in: Philosophisch-Theologische Schriften. Studien- und Jubiläumsausgabe Lat.-Dt. [Hg. Leo Gabriel], Wien: Herder [1982], Bd. II 443–565) folgende Passage: »F[erdinand Mattei]: Wenn der Theologe [sc. Dionysos Areopagita] sagt: ›So jemand Gott schaut und glaubt erkannt zu haben was er sieht, dann hat er nicht ihn, sondern irgend etwas Anderes gesehen.‹ Wenn also David von Dynant gesehen hätte, daß Gott Hyle oder Nous oder Physis ist, dann hätte er irgend etwas Anderes, aber nicht Gott gesehen [utique aliquid et non Deum vidisset]. N[ikolaus Cusanus]: Du bist wunderbar, Ferdinand; noch wunderbarer aber, wenn du in den genannten Worten noch etwas Wichtigeres bedacht hast. F. Bitte, was soll das sein? N. Wenn er sagt: ›Da alles, was erkannt und verstanden wird, etwas ist [aliquid], ist es nicht Gott.‹ Etwas ist ein anderes Was. [Aliquid autem quid aliud est]. Könnte man also Gott erkennen, dann würde man einsehen, daß er kein Anderes sei [utique non esse aliud]. Wenn er daher nicht als das verstanden werden kann, was durch das Andere und Etwas [per aliud et aliquid] bezeichnet wird, und auch nichts erkannt werden kann, das nicht ein Etwas bezeichnet [quod per aliquid not significetur], so müßte Gott, wenn man ihn sähe, über und vor dem anderen Was und jenseits des Denkens gesehen werden. Vor dem Anderen jedoch kann nichts als das Nicht-Andere gesehen werden. Daraus folgt, daß das Nicht-Andere uns zum Ursprung führt, während es das Denken, das Andere, das Etwas und alles übertrifft und dem Denkbaren vorangeht.« (Ebd. 525).

68

I. Anstelle einer Einführung

rungswirklichkeit aufleuchtet – erst hier fände, mit andern Worten, das Konzept transversaler Vernunft zu seiner gelingenden Verwirklichung. (4) Transversale Vernunft als Rettung des Verfemten und Verdrängten Damit gerät uns ein letzter Aspekt transversalen Denkens vor Augen: Wenn Gott als das »Nicht-Andere« von Welt und Mensch beschrieben werden muß, dann kommt der Theologie im Sinne des Vermögens zu transversaler Vernunft gerade im Blick auf eine Annäherung an dieses Geheimnis entscheidende Bedeutung insofern zu, als jenes »Nicht-Andere« begriffen werden muß als der immer auch verdrängte, »Verfemte Teil« (G. Bataille; M. de Certeau) menschlichen Denkens. Auch hierzu findet sich noch einmal ein wichtiger Hinweis bei Welsch. In Fortformulierung seines Ansatzes95 macht Welsch nämlich darauf aufmerksam, daß transversale Vernunft nicht nur die Grenzen der verschiedenen Denkstile überschreitet, um die durch sie generierten Wirklichkeitsfelder und Ontologien miteinander zu vernetzen; darüber hinaus scheint Vernunft als Kunst transversalen Denkens die Grenzen des Denkens immer auch dergestalt auszuloten, daß darin das dem herrschenden Denken Inkompatible, ihm Andere, Fremde, Unbekannte gerettet wird – mehr noch, daß darin zuletzt auch eine wirklichkeitstranszendierende Dimension allen Denkens aufscheint. Welsch verdeutlicht dies am Beispiel der Dichtung Paul Celans.96 Da heißt es in einem Text, der dem Zyklus »Von Schwelle zu Schwelle« entnommen ist: Sprich – doch scheide das Nein nicht vom Ja. Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten. Gib ihm Schatten genug, gib ihm so viel, als du um dich verteilt weißt zwischen Mitternacht und Mittag und Mitternacht. Blicke umher: sieh, wie’s lebendig wird rings – Beim Tode! Lebendig! Wahr spricht, wer Schatten spricht. »›Wahr spricht, wer Schatten spricht‹, denn Sinn« (so kommentiert Welsch dieses Gedicht) »liegt nicht einfach in der Erscheinung als solcher, sondern Sinn ergibt sich aus deren Zusammensein mit dem Schatten, dem Umfeld, dem Kontext«97; mehr noch: er ergibt sich erst dort, wo auch das Nichtbe95

96

97

Wolfgang WELSCH: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, aaO. 933–949. Ebd. 940f. (Paul CELAN: Sprich auch du, in: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1983], Bd. I, 135.) Ebd. 940, Anm. 35.

Grundlinien liminaler Theologie

69

dachte und Unausgedachte, ja das Un(aus)denkbare, weil Verfemte, Verdrängte mitbedacht wird, wo man ihm zuletzt schweigend – nachsinnt, weil es hierfür (noch) keine rechte Sprache gibt. »Letztlich«, so Welsch weiter, »sind die Übergänge der Vernunft immer auch Übergänge zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Dinge zu denken, von denen man noch nicht weiß, was sie sind, gehört zu den Experimenten der Vernunft. ›Extrem‹ ist Vernunft« nicht nur »darin, daß sie ins Ganze ausgreift«, sondern auch »darin, daß sie sich dem Übersehenen und Unbekannten zuwendet«98, daß sie m.a.W. eine Schwäche hat für das, was ein selbstmächtiges Denken nur zu gern übersieht. Vernunft, die der Wirklichkeit die Treue hält, ist insofern »auf beides gerichtet, auf die Erscheinung sowohl wie auf die Aura ihres Schattens.«99 Worin bestünde nun aber die spezifische Stärke eines solchen imaginierenden, fragenden Denkens? Und worin seine ihm eigentümliche, immer auch zu kritisierende, weil ein präzises Denken womöglich verschattende Schwäche?

3. THEOLOGIE ALS PHÄNOMENOLOGISCHE FRAGEKUNST Mit dieser Frage geraten wir noch einmal vor jene Seite theologischen Denkens, die im Verlauf unserer Überlegungen mehrfach als »phänomenologisch« apostrophiert wurde. Hier gilt es dreierlei festzuhalten: zum einen, daß von Phänomenologie zu reden nicht möglich ist, ohne auf Hegel zurückzukommen; zum andern, daß das Hegel’sche Denken eine Wirkungsgeschichte freigesetzt hat, die auch dort am Werk ist, wo man sich ihrer kaum noch erinnert; und zum dritten, daß Theologie in der Situation nachneuzeitlichen Denkens ihre Leistungsstärke nur unter Beweis stellen wird, wo sie sich dieses Erbe samt seiner vielfältigen Wandlungen selbstbewußt und kritischselbstkritisch zu eigen macht.

98 99

Ebd. 940f. Ebd. 941, Anm. 35. – Deshalb muß es einigermaßen erstaunen, daß Welsch in seinem fast 1000 Seiten umfassenden Werk fast überhaupt nicht auf die mystische, religiöse, theologische Seite der Vernunft zu sprechen kommt und (wo ein Verweis auf diese Seite sich denkgeschichtlich nicht mehr vermeiden läßt) sich sofort gönnerhaft (ebd. 933) oder polemisch von ihr absetzt (ebd. 64, 194, 200f., 203). Um seinem Projekt transversaler Vernunft gerecht zu werden, wird man über Welsch hinaus denn auch auf die Werke theologischer Autoren zurückgreifen müssen – erinnert sei hier insbesondere an die Schriften von Michel DE CERTEAU: Die mystische Fabel [1982], Berlin: Suhrkamp (2010), bes. 184–325; GlaubensSchwachheit [1987], Stuttgart: Kohlhammer (2009), bes. 155–187. Vgl. zum Ganzen auch Daniel BOGNER: Gebrochene Gegenwart. Mystik und Politik bei Michel de Certeau, Mainz: Grünewald (2000), hier bes. 121–253.

70

I. Anstelle einer Einführung

3.1. Geschichtlich-existentielle Verflüssigung des Dogmas: Noch einmal Hegel Was den ersten Aspekt anlangt, so hat man sich den tiefgreifenden Wandel vor Augen zu halten, dem die Theologie durch Hegel ausgesetzt wurde. Phänomenologie des Geistes als dialektische Beschreibung der Denkfiguren des Christlichen (Schöpfung, Inkarnation und Trinität; Geistsendung, Gnade und Kirche) verflüssigt die Gegenstände des Glaubens, verwandelt deren objektive ewige Gehalte in geschichtlich gewordene bzw. geschichtlich allererst werdende, d.h. in solche, deren Wahrheit nur dort begriffen wird, wo man ihr »Ansich« geschichtlich gewordener Objektivität in ein »Für-mich« subjektiver Existentialität überführt, um sie von dort aus dann wieder in vermittelnde Beziehung zu anderen Menschen zu setzen. Vermittels des Durchgangs vom abstrakten »An-sich« zum subjektiven »Fürmich« gewinnen jene Denkfiguren auf neue Weise objektiven Gehalt und stellen solcherart eine weitere Durchgangsstufe des objektiven Geistes auf dem Weg zu seiner fortschreitenden Selbsterfassung dar. Es geht also nicht darum, die christliche Wahrheit in dem Sinne zu subjektivieren, daß Theologie auf Anthropologie reduziert würde (dies wäre jene Lesart, auf welche Feuerbach die Einsichten seines Lehrers verkürzt hat); sondern Wahrheit ist nach Hegel ein Vermittlungsgeschehen zwischen Subjekt und Objekt, eine dialektische Bewegung, in welcher dem Bewußtsein die Differenz zwischen dem »Ansich« seines Gegenstandes und dem Wissen um jenes »Ansich« als eines »für des Bewußtseins« aufleuchtet – ein Erkenntnisvorgang, in welchem der Gegenstand und das menschliche Wissen um den Gegenstand korrelativ aufeinander bezogen sind. Aus der Korrelation von »An-Sich« und »Für-mich« erhebt sich denn auch ein dialektischer Erkenntnisprozeß: »Entspricht sich [nämlich] in dieser Vergleichung beides nicht, so scheint das Bewußtsein sein Wissen ändern zu müssen, um es dem Gegenstande gemäß zu machen« (bis hier folgt die Hegel’sche Dialektik noch dem klassischen Adäquationstheorem). Jedoch »in der Veränderung des Wissens ändert sich ihm [sc. dem Bewußtsein] in der Tat auch der Gegenstand selbst, denn das vorhandene Wissen war wesentlich ein Wissen von dem Gegenstande; mit dem Wissen wird auch er ein anderer, denn er gehörte wesentlich diesem Wissen an.« Man sieht, wie das Adäquationstheorem sich hier zu verflüssigen beginnt, denn in jenem reflexiven Korrelationsprozeß von »Ansich« und »Fürmich« des Gegenstandes »wird […] dem Bewußtsein [klar], daß dasjenige, was ihm vorher das Ansich war, nicht an sich ist oder daß es nur für es an sich war. Indem es also an seinem Gegenstande sein Wissen diesem nicht entsprechend findet, hält auch der Gegenstand selbst nicht aus; oder der Maßstab

Grundlinien liminaler Theologie

71

der Prüfung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab er sein sollte, in der Prüfung nicht besteht«, weshalb »die Prüfung […] nicht nur eine Prüfung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabs [ist].« Eben »diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist [nun] eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.«100 Dieser Vorgang ist freilich nicht intentional produzierbar – darauf hatte schon Schaeffler eindringlich hingewiesen –, sondern es handelt sich hier um einen geschichtlich vermittelten Denk- bzw. Erfahrungsprozeß, in welchem entsteht bzw. sich gewinnt, was Hegel »objektiven Geist« nennt und den er mit jenem Geist identifiziert, von welchem es heißt, daß er »in die ganze Wahrheit einführt« (Joh 16,13). Denn Geist ist für Hegel nicht eine abstrakte Entität, sondern treibende Kraft; Geist ist die im Menschen zu sich kommende, weil in ihm sich selbst und dem Menschen anschaulich werdende und insofern sich verobjektivierende Wirklichkeit Gottes. Man sieht, wie Hegel sich darum bemüht, die durch das neuzeitliche Denken eingetretene Verobjektivierung und Isolierung Gottes, in welcher das Absolute dem Menschen ein feststehendes Gegenüber ist, zu verflüssigen.101 Das Absolute kann nicht einfach ein abstraktes Objekt menschlicher Betrachtung sein und darin willkürliches Subjekt, das seinerseits den Menschen verobjektiviert. Wo man Gott und Welt bzw. Gott und Mensch voneinander getrennt denkt, also in abstraktem Gegenüberstand beläßt wie in der deistischen Philosophie der Aufklärung oder in der lutherischen Orthodoxie (als ob Gott Außenverhältnisse eingehen und der Mensch sich ohne den Horizont des Absoluten denken könnte), bzw. wo man, wie in den verschiedenen Spielarten des neuzeitlichen Pantheismus (worunter Hegel in gewisser Weise wohl auch den Schleiermacher’schen Pietismus zählt), die Sphären einfach vermischt bzw. miteinander identifiziert (als ob der Mensch des Glaubens fähig wäre ohne ein identifizierbares Gegenüber, auf welches der Glaube sich bezieht bzw. an welchem er Kontur gewinnt), da wird entweder Gott zu einem moralischen Wesen entwirklicht und der Mensch zur Staffage abstrakter Ideale (die Welt wird gottlos und Gott weltlos); oder aber der Mensch wird in einem schlechten Sinne verunendlicht und vergöttlicht (die Welt ist Gott und Gott ist die Welt). Im einen Fall wird Gott in die Sphäre 100

101

Alle Zitate Phänomenologie des Geistes, aaO. 78. – Vgl. dazu Martin HEIDEGGER: Hegels Begriff der Erfahrung, in: Ders.: Holzwege, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann (61980) 111–204. Durchgeführt in Wissenschaft der Logik. Erstes Buch, Erster Abschnitt, Zweites Kapitel: Das Dasein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp-Werkausgabe 5, 125–173.

72

I. Anstelle einer Einführung

eines abstrakten Absolutum eingeschlossen, und die Welt bleibt unter dem selbstvermessenen Zugriff des Menschen; im andern Fall geht der Mensch seiner geschichtlichen Konkretheit verlustig, und die Welt verliert ihre spezifisch kontingente, unverrechenbare Kontur. Das eine ist so fatal wie das andere, mag in beiden Argumentationsrichtungen auch die fromme Absicht im Spiel sein, Welt und Gott gleichermaßen zu erheben und zu retten.102 Gegenüber diesen als zu leicht und deswegen als erfolglos befundenen Wegen besteht Hegel auf einem wesentlich schwierigeren, doch verheißungsvolleren Denkweg; nämlich Gott und Mensch als aneinander sich gewinnend bzw. als aneinander sich konkretisierend zu denken. »Zwischen beiden«, Gott und Mensch, »kann nicht das äußere, stets von neuem umkippende ›Verhältnis‹ von Nominativ und Akkusativ, des Zusprechens bzw. Absprechens von Eigenschaften (Prädikaten) walten. Gott kommt nicht (nachträglich) im menschlichen Erfahrungsbereich vor«, er ist keine zusätzliche Information zum ohnehin Gewußten; Gott ist vielmehr Aufgang, ja Vorgang der Selbstauslegung des (absoluten) Geistes im Durchgang durch die (Geistes-)Geschichte, er ist Selbstexplikation der Wahrheit »an/in/zu sich selbst«.103 Theologie im Sinne argumentativ einholbarer Gottrede bestünde für Hegel demnach darin, jenes Abstrakte, Allgemeine, was in der theologischen bzw. philosophischen Tradition als »Gott«, »Nous«, »Geist« oder als das »Absolute« bezeichnet wird, als in der reflexiven Selbsterfassung der Geschichte des Geistes, d.h. als »im Werden« des menschlichen Bewußtseins begriffen zu denken: Der Mensch wird sich im Durchgang durch die Geistesgeschichte des Absoluten (und darin seiner selbst) bewußt; und wiederum die Geistesgeschichte läßt sich als geschichtliche Selbstexplikation des absoluten Geistes verstehen, der im Denken des Menschen sein Selbstbewußtsein gewinnt, ohne doch deswegen auf das Selbstbewußtsein des Menschen reduziert werden zu können. Insofern können alle Gestaltweisen des Wirklichen spekulativ als Momente dieses einen dialektischen Geistprozesses verstanden werden. Selbst die genannten Vereinseitigungen von Deismus und Pantheismus, theistischer Orthodoxie und atheistischer Apostasie, selbst die paganen Mythen und Philosophien sind noch als Momente dieses Prozesses zu begreifen, die zu durchlaufen nötig ist, um jenes Gottes ansichtig zu werden, der als »der Geist«104 das ens realissimum ist. Denn obwohl 102

103 104

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp-Werkausgabe 8, 273. Alle Zitate Elmar SALMANN: Der geteilte Logos, aaO. 299. Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp-Werkausgabe 17, 221.

Grundlinien liminaler Theologie

73

Gott als »Geist«, d.h. als das zunächst Abstrakte, Allgemeine »an sich« ist, so sehr wird sein »An-sich-Sein« doch erst im Aufgang »für mich« offensichtlich. Nur im Aufgang des göttlichen Geistes in meinem (menschlichen) Geist wird Gott in seinem »An-sich-Sein« offenbar – wie auch sonst sollte man von ihm wissen?! Nun ist sich die Theologie dieser Dialektik zwar immer bewußt gewesen – man erinnere sich nur, wie menschliche Seele und göttlicher Geist bei Augustinus, Clemens von Alexandrien und Gregor von Nyssa, Offenbarung und Inspiration bei Thomas und Bonaventura, »Orthodoxie« und »Orthopraxie« bei Meister Eckhart, Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz bis ins Kleinste aufeinander verweisen; und doch setzt mit Hegel etwas entscheidend Neues ein: Die Glaubensgegenstände existieren nicht »an sich«, sondern sie (er)geben sich nur dem vernehmenden Subjekt, sofern dieses sie denkend ergreift und sich zu eigen macht und ihnen dadurch objektive, geschichtsmächtige Gestalt verleiht. Gott als das Absolute, Christus als erstandener Gottessohn, das Kreuz als Gang Gottes durch den Tod, Kirche als geistgewirkte Gemeinde sind (wie auch die Freiheit des Menschen, wie jedes Kunstwerk, jeder Mythos, jede philosophische Einsicht, jede Form sittlichen Lebens) nur wahr, wenn sie vom Subjekt anerkannt und darin als immer neu zu erringende Wahrheitsgestalten geschichtlichen Lebens konstituiert werden. Und eben hierin liegt nun die von Hegel formulierte Herausforderung, der sich das theologische Denken zu stellen hat. Wieviel an schlechter Theologie, an mythologischem Dogmatismus, der Gnade, Wahrheit, Seele, Gott gleichsam als empirische Entitäten auffaßt, als vor- und zuhandene Objekte, über welche das theologische Systemdenken dann selbstherrlich verfügt, wird durch Hegel nicht der abgesenkten Projektion und Illusion überführt! Und könnte man wirklich schon sagen, daß seine Einsichten konstitutiv geworden wären für Theologie und kirchliches Leben, Predigt und Katechese? Wird hier nicht immer noch (oder schon wieder) zu leichtfertig und selbstverständlich von Menschwerdung, Auferstehung und Erlösung als vorfindlichen Ereignissen gesprochen? Und wird hier nicht viel zu oft ein Gott bemüht, der vollmächtig in die Geschichte eingreift, Geschichte zur Heilsgeschichte nobilitiert, ohne daß man sich darüber Rechenschaft ablegt, daß der Mensch es ist, der dies alles in die Geschichte hineinliest, »Offenbarung« also ein Interpretationsgeschehen ist, in welchem Widerfahrnis und Deutung, Vorfall, Einfall und Projektion, Intuition und Inspiration, kreativer Geistesblitz und ausgestaltendes Denken des Menschen sich bis zur Unkenntlichkeit amalgamieren?105 105

Diese Zusammenhänge habe ich ausführlich in meiner Münsteraner Habilitationsschrift entfaltet: »Nur im Echo unserer Antwort wird uns vernehmbar der Gott« – Drei

74

I. Anstelle einer Einführung

Theologie im Sinne phänomenologischer Fragekunst hätte die ihr von Hegel zugemutete Lektion erst dann gelernt, wenn sie sich dieser Zusammenhänge nicht nur allgemein bewußt wäre, sondern sie zur Grundlage ihrer wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion machen würde, wenn sie also ein für allemal begriffe, daß es »keine Offenbarung von oben gibt (nicht einmal für einen Augenblick), die nicht sofort in das Erkenntnis- und Wertungsvermögen des Menschen fiele und es erfüllte, so sehr dieses in solchem Vorgang sich und seine Implikationen, Tiefen und Weiten dann auch allererst entdeckte.«106 3.2. Paradoxe Wirkungsgeschichte: Husserl, Heidegger, Vattimo Es liegt auf der Hand, daß ein Denken, wie Hegel es in der »Phänomenologie des Geistes« konzipiert, in der »Wissenschaft der Logik« und der »Enzyklopädie« begrifflich fundiert und in seinen Vorlesungen über die Philosophien des Rechts, der Geschichte, der Kunst und der Religion sowie in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie dann materialiter durchgeführt hat, zwar von seinem Anspruch her enzyklopädisch ist und insofern als maßlos erscheinen könnte; daß sich genau dieses Denken, bei Licht betrachtet, aber nicht nur durch ungeheure Geschmeidigkeit gegenüber seinem Gegenstand auszeichnet, sondern sich im Vollzug der Reflexion auf den Gegenstand überhaupt allererst selber gewinnt. Es handelt sich also keineswegs, wie Hegel oft vorgeworfen wird, bei seinem phänomenologischen Angang an die geschichtlichen Gestaltwerdungen des Geistes um den prometheischen Versuch, Gott und Mensch, Welt und Geschichte unter eine apriorisch konstruierte Zentralperspektive zu nötigen, sondern – gerade umgekehrt – um das Bestreben, in der Erhebung des Gegenstandes sowohl des Gegenstandes als auch darin der eigenen Reflexionsbewegung als einer Selbstpräsenz des Geistes gewiß zu werden. Angezielt ist in dieser Art des Denkens (wie schon Schaeffler und Rombach herausgestellt haben) eine Verwandlung des Subjekts, das sich gewinnt, indem es sich von seinem Gegenstand in Frage stellen läßt, um in der von ihm vorgegebenen Gedankenbewegung sich selber schrittweise herauszuarbeiten und seiner selbst reflexiv innezuwerden. Und hat Hegel damit nicht eine Einsicht freigesetzt, der man auch dort noch folgt, wo man sich längst von ihm verabschiedet zu haben glaubt? Erinnert sei nur an Husserl, der gegenüber einem steril gewordenen Neukantianismus nicht müde

106

fortlaufende Fragen über Projektion, Inspiration und Offenbarung. (Erscheint in zwei Teilen im Frühsommer und im Herbst 2014.) Elmar SALMANN: Der geteilte Logos, aaO. 182.

Grundlinien liminaler Theologie

75

wird, ein »Zurück zu den Dingen«107 zu fordern; denn die Dinge sind es, denen sich das Subjekt in einer fortgesetzten Urteilsenthaltung (epoché), d.h. in einer unabschließbaren Reduktion seiner die Dinge überblendenden Intentionalitäten anzuschmiegen hat.108 Erinnert sei an Heidegger, der die Unabschließbarkeit des Denkens deswegen so sehr betont, weil in der Reflexion auf die Dinge deren geschichtliches Sein, d.h. ihre Wirklichkeit als nicht-intentionale, performative Unverborgenheit (Wahrheit/Aletheia) sich von sich selbst her präsent setzen will.109 Erinnert sei schließlich an einen dezidiert postmodernen Denker wie Gianni Vattimo, dessen in Anlehnung an und in Überbietung von Nietzsche, Heidegger und Gadamer (und wohl auch Lévinas) formulierte Konzeption eines »schwachen Denkens« (»pensiero debole«110) eine unterschwellig christologische und insofern unmerklich von Hegel inspirierte Struktur zu erkennen gibt. Wenn nämlich in der Spur kenotischer Selbstentäußerung des Geistes jeder Gedanke, der mit Macht, Herrschaft, Gewalt zu tun hat, von seiner Wurzel her in Frage gestellt ist; wenn sogar das Mächtigste, das gedacht werden kann, der ewige Gott, wesensmäßig so ist, daß es seinem Mächtigsein um des anderen willen entsagt, dann gibt es nichts Mächtiges mehr in der Welt – keine Moral, kein Dogma, keine Herrschaft, keine Autorität –, das nicht an diesem Maßstab des Um-des-anderen-willen gemessen würde. Das Machtvolle eines solchen »schwachen Denkens« liegt denn auch in seiner Fähigkeit, anderes als es selbst gelten lassen zu können – und darin erweist es sich einer Haltung der Liebe benachbart, die in der Nachfolge

107

108

109

110

»Die Sachen selbst müssen wir befragen. Zurück zur Erfahrung, zur Anschauung, die unseren Worten allein Sinn und vernünftiges Recht geben kann.« (Edmund HUSSERL: Philosophie als strenge Wissenschaft [1910/11], in: Quellen der Philosophie. Texte und Probleme 1, hg. von Wilhelm Szilasi, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann [1965] 27 [Originalpaginierung 305].) Edmund HUSSERL: Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Erstes Buch (§§ 31 + 32), aaO. 61–66. Vgl. Martin HEIDEGGER: Brief über den Humanismus, in: Ders.: Wegmarken, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann (31996) 312–364. Gianni VATTIMO: Dialettica, differenza, pensiero debole, in: Ders./Pier Aldo Rovatti (Hg.): Il pensiero debole, Mailand: Feltrinelli (1983/101995) 12–28; René GIRARD/ DERS.: Christentum und Relativismus, Freiburg i.Br.: Herder (2008) 11, 15, 47, 50; DERS.: Das Zeitalter der Interpretation, in: Richard Rorty/Ders.: Die Zukunft der Religion, Frankfurt a.M./Leipzig: Verlag der Weltreligionen (2009) 52–66, hier 61, 62, 66; DERS.: Glauben – Philosophieren, Stuttgart: Reclam (1997) 27f.; DERS.: Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?, München/Wien: Hanser (2004) 38; DERS.: Christentum im Zeitalter der Interpretation, Wien: Passagen (2004). – Das Folgende in Anschluß an Klaus MÜLLER: Glauben Denken Fragen. Bd. II: Weisen der Weltbeziehung, Münster: Aschendorff (2008) 181–187.

76

I. Anstelle einer Einführung

Augustins allem, was ist, zusichern kann: »Ich will, daß Du bist!«111 Bis in die Wurzeln eines radikalen Denkens der Pluralität, der uneinholbaren Andersheit von anderem, wie sie heutiges Philosophieren bestimmt, ist da ein christologischer »Treibsatz«112 am Werk, der gerade in dieser Form noch von Hegel zehrt, ob es sich dessen nun bewußt ist oder nicht.113 Und würde die Theologie, in diesem Sinne als phänomenologische Denkform praktiziert, nicht gerade solcherart mit ihren ureigensten Inhalten kongruent? 3.3. Zur theologischen Valenz phänomenologischer Fragekunst Aber wie sähe ein solches phänomenologisches Denken nun konkret aus? Worin bestünden (neben der schon erwähnten kenotischen Grundhaltung) seine theologischen Stärken und worin seine allfälligen denkerischen Schwächen? (1) Geist als »Gespräch«: Aufgang von Welt als Einbruch von Evidenz (H. Rombach) Die Stärke eines solchen Denkens besteht zweifellos in seinem dialogischen Charakter. Deshalb haben Richard Rorty und Robert Brandom vorgeschlagen, Geist in dem Sinn, wie Hegel dieses Wort benutzt, mit »Gespräch« zu übersetzen.114 Der sokratische Klang dieses Übersetzungsvorschlags ist nicht zu überhören. Geist gibt es ja nicht so, wie es Autos, Kugelschreiber, Bettmatratzen gibt – vielmehr Geist er-gibt sich, und zwar vorzüglich im Gespräch. So hat etwa Heinrich Rombach auf den eigentümlichen Sachverhalt verwiesen, daß ein gelingendes Gespräch sich durch eine konkreative bzw. kon-naszive Konstellierung der jeweiligen Positionen auszeichnet; die denkerischen Eigenbedeutungen der vertretenen Positionen treiben einander hervor, und in dieser Dynamik wird eine geistige Energie freigesetzt, die nicht aus der Summe der dialogischen Einsätze der 111

112 113

114

Augustinus: Ioan. Ev. tr. VIII, 10 – hier zitiert nach Klaus MÜLLER: Glauben Denken Fragen. Bd. II: Weisen der Weltbeziehung, aaO. 185. Ebd. 181ff. Vgl. Richard RORTY: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1989) 139; Robert BRANDOM: Tales of the Mighty Dead: Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge/Mass.: Harvard University Press (2002) 178– 234. Verwiesen sei auch auf Brandoms bislang in Buchform nicht veröffentliche Hegel-Lektüre A Spirit of Trust. A Semantic Reading of Hegel’s Phenomenology, die als »work in progress« im Sommersemester 2008 Gegenstand seiner Leibniz-Professur an der Universität Leipzig war. Richard RORTY/Gianni VATTIMO: Die Zukunft der Religion, aaO. 82f. Näher entfaltet in Richard RORTY: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«, in: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (2001) 30–49.

Grundlinien liminaler Theologie

77

Gesprächsteilnehmer resultiert und insofern auf diese auch nicht zurückgeführt werden kann, sondern noch einmal von eigener Qualität ist. Nicht eigentlich die Teilnehmer betreiben den Gang des Gespräches; sondern in ihrem Treiben werden sie betrieben, »der Gang [des Gespräches] ›reißt‹ sie mit.«115 Erweis solch kraftvollen Geistes (vgl. 1Kor 2,4) ist der Aufschein bzw. der Einbruch von Evidenz: »›Wie richtig‹, scheint die Seele zu sich selbst zu sagen, ›und doch bin ich nicht darauf gekommen.‹«116 Hier ist, wie Rombach vermerkt, die Rede vom »Geist der Sache«, der im Vollzug des gelingenden Gesprächs sich freisetzt, überaus angebracht, denn das Mitreißende wird von alters her »Geist« genannt, und zwar zu Recht117, auch wenn es sofort zwei mögliche Mißverständnisse abzuwehren gilt: die Idee einer hypostasierten Kraft, die »über« bzw. »jenseits« der Gesprächssituation steht (Geist als substantiales τόδε τι ist phänomenologisch nur schwer vorstellbar), sowie die Idee eines besonders charismatischen, über Geist verfügenden Individuums (eine solche Vorstellung läuft Gefahr, Geist zu einer manipulierbaren Größe zu machen). Vielmehr kommt es in gelingenden Konstellationen wie der des inspirierten Gesprächs zur Erfahrung »idemischer Verhältnisse«118: Die Kräfte der Gesprächsteilnehmer und die Kräfte der Gesprächssituation verbinden sich auf eine so glückliche Weise, daß die Gesprächsteilnehmer nicht nur »über sich hinauswachsen«119, sondern die aus einem solchen Gesprächsgang resultierende Stimmigkeit zwischen (μεταξύ) ihnen »als überlegene Potenz aus dem Eigensten der Glieder der Struktur herausschlägt« und solcherart 115 116

117

118

119

Heinrich ROMBACH: Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, aaO. 98. ARISTOTELES: Rhet. 1412a. 21f.: καὶ ἔοικεν λέγειν ἡ ψυχὴ ›ὡς ἀληϑῶς, ἐγὼ δὲ ἥμαρτον‹. (Übersetzung Olof Gigon.) – Die Eröffnung solcher Erschließungssituationen (»disclosure situations«) kongruiert denn auch mit der phänomenologischen Maxime »Recht hat, wer mehr sieht.« Hingewiesen sei nur auf die sprachlichen Zusammenhänge: Bekanntlich wird in den fränkisch-karolinigischen bzw. althochdeutschen resp. altsächsischen Bibelübersetzungen das lat. spiritus bzw. das griech. πνεῦμα neben »giastu« und »gâst« häufig auch mit den Verbalumschreibungen »atum uuihan« und »uuiho atum« bzw. mit »uuînt«, »uuinda« und »blasden« wiedergegeben: Wehender Atem, Winden, Stürmen, Brausen, Blasen. Vgl. dazu Ernst LUTZE SJ: Die germanischen Übersetzungen von spiritus und πνεῦμα. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Wortes ›Geist‹, Diss. phil., Univ. Bonn (1950), Bonn: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität (1960) 107ff., 112–119; Werner BETZ: Die frühdeutschen Spiritus-Übersetzungen und die Anfänge des Wortes ›Geist‹, in: Theodor Bogler (Hg.): Schöpfergeist und Neuschöpfung, LM 20, Maria Laach: Verlag Ars Sacra (1957) 48–55. Vgl. Heinrich ROMBACH: Der kommende Gott. Hermetik – eine neue Weltsicht, Freiburg i.Br.: Rombach (1991) 46, 63. Des weiteren auch DERS.: Strukturanthropologie. ›Der menschliche Mensch‹, Freiburg i.Br./München: Alber (1987), 379f.; DERS.: Der Ursprung. Philosophie der Konkreativität von Mensch und Natur, Freiburg i.Br.: Rombach (1994) 57f., 93ff. Heinrich ROMBACH: Strukturontologie, aaO. 99.

78

I. Anstelle einer Einführung

»›Objektivität‹ […] in der ›Subjektivität‹ selbst [entsteht].«120 Und sind wir damit nicht wieder ganz nahe bei Hegel angelangt? In der Tat geht es ja der Hegel’schen Phänomenologie um ein Hervordenken von Wirklichkeit – freilich einer solchen, die nicht einlinig auf die sie denkenden Subjekte rückzuführen wäre, sondern im Sinne eines Selbstprofilierungsgeschehens von Wirklichkeit zu fassen ist. Deshalb überrascht es auch nicht, wenn Rombach (ähnlich wie Hegel) in diesem Zusammenhang wiederholt auf das neutestamentliche Pfingstereignis zu sprechen kommt, wie es im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte überliefert ist. Hier haben wir es ja mit einem Paradebeispiel idemischer, sich selbst profilierender Erfahrung von Welt zu tun: In einer Situation äußerster Verständnisnot wird ein »Sinn« freigesetzt, der »die Gestalt eines Von-Selbst« hat, alle erfaßt und ihnen »als eine höhere Egoität entgegen[tritt], die alle anderen in sich auf[nimmt] und überhöht […], der ›Geist‹ eben.«121 Und wäre nun mit einer Phänomenologie, die solcherart nicht nur die kenotische Grundhaltung des sich inkarnierenden Logos verinnerlicht hätte (erinnert sei noch einmal an das Konzept eines »pensiero debole« im Sinne Vattimos), sondern auch die pfingstliche Initialzündung neutestamentlicher Offenbarung im Sinne eines Aufgangs neuer Verstehenshorizonte einsichtig zu machen wüßte, nicht auch ihre spezifische Leistungsfähigkeit im Blick auf die Theologie am Tag? Eines Denkens, das die ureigenen Figuren des Christlichen (Inkarnation und Trinität; Geistsendung, Gnade und Kirche) als sich von selbst ergebende zu deuten vermöchte, ohne sie (religionskritisch) von außen zu normieren oder (autoritätshörig) den Orthodoxiezwängen dogmatischer Tradition zu beugen? Eines Denkens, das Offenbarung in ihrem Werdecharakter beschriebe, ohne einen Seinshorizont, ein substantielles Gegebensein oder ein autoritär-dialektisches bzw. fideistisches Schriftverständnis vorauszusetzen? Eines Denkens schließlich, das, stigmatisiert von den Reflexionsbewegungen der Neuzeit, sich bewußt an ihrem Ende, besser noch: als Übergang ins Neue anzusiedeln wüßte? Eine Theologie, die es unternähme, die Grundfiguren des Christlichen solcherart phänomenologisch zu befragen, stellte denn auch nicht vor allem eine normierende Lehre dar, sondern eher eine Weise, Dinge zu versichtbaren, Welt aufgehen und Phänomene in ihrer je eigenen Besonderheit erscheinen zu lassen. Verbündete für eine solche Theologie gibt es manche, und zwar weit über Hegel hinaus. 120

121

Ebd. 98. – Vgl. auch ebd. 356: Der Geist der jeweiligen Struktur »[ist] das Ereignis selbst, insofern […] darin das ›Es‹ [der Situation] als die Identität dieser Struktur in ihr selbst ›erscheint‹.« Heinrich ROMBACH: Strukturanthropologie, aaO. 382. – Vgl. DERS.: Der Ursprung, aaO. 175f.; Der kommende Gott, aaO. 31; DERS.: Die Welt als lebendige Struktur, aaO. 11f.

Grundlinien liminaler Theologie

79

Zu denken wäre da neben den schon zitierten Rombach und Schaeffler an Philosophen wie Jean-Luc Marion122, M. Merleau-Ponty und Hermann Schmitz123, aber auch an Bernhard Waldenfels, Michel Henri und Jean-Yves Lacoste124 sowie an P. Ricœur125, H.-G. Gadamer126 und Georg Picht127; des weiteren an phänomenologisch bzw. ästhetisch (aisthesiologisch) interessierte Theologen wie R. Guardini, Maurice Nédoncelle128 und Louis-Marie Chauvet129, ferner an Kenneth L. Schmitz130 und H.U. v. Balthasar131; schließlich an Dichter wie Paul Celan132 und Fridolin Stier.133 Haben letztere sich auch nicht so sehr die Themen der Husserl’schen Phänomenologie bzw. des Existenz- und Seinsdenkens Heideggers zu eigen gemacht (deren Namen tauchen in ihren Bücher nur selten auf, einzig Chauvet bildet hier eine Ausnahme), so doch in jedem Fall ihren tastend fragenden, bisweilen hartnäckig bohrenden Denkstil.134 Und konvergierte eine solche phänomenologisch und insofern immer auch transversal-hermeneutisch operierende, weil im »Dialog mit der Wirklichkeit« (Schaeffler) stehende Theologie nicht mit ihrer ureigenen Tradition, die das innerste Wesen Gottes als unvordenklich-liebendes, innertrinitarisch-unausschöpfliches Gespräch versteht?!135 (2) Stärken und Schwächen hermeneutischer Phänomenologie: Imaginative Prägnanz vs. analytische Präzision Nun sind allerdings auch die spezifischen Schwächen eines phänomenologisch operierenden, die verschiedenen Optiken transversal ineinander übersetzenden Denkens zu benennen. Denn wegen seiner 122 123 124 125

126 127 128 129 130 131

132 133 134

135

Vgl. in Studie III (Welt im Modus des Dativs) die Abschnitte 2.2 und 2.3. Vgl. in Studie XIV (Erbsünde? Erbgnade?) den Abschnitt 3.3. Vgl. in Studie II (Kult und Kultur) den Abschnitt 3.1. Vgl. in Studie VII (Zweite Naiviät) die Abschnitte 3 und 4. Ferner Studie IV (Welt transzendieren? Welt transformieren?) den Abschnitt 4, sowie Studie XII (Martyrium) den Abschnitt 2.2. Vgl. in Studie VI (»In een Hoecksken met een Boecksken«) den Abschnitt 2.2. Vgl. ebd. den Abschnitt 2.1. Vgl. in Studie III (Welt im Modus des Dativs) den Abschnitt 1. Vgl. in Studie II (Kult und Kultur) die Abschnitte 1 und 3.1. Vgl. in Studie III (Welt im Modus des Dativs) den Abschnitt 2.1. Vgl. ebd. den Abschnitt 1; ferner in Studie XII (Martyrium) die Abschnitte 2.3. (2) und 2.3. (4) sowie in Studie XIV (Erbsünde? Erbgnade?) den Abschnitt 4.2. Vgl. Studie XIII (Sprachlosigkeit, Erlauschen, Erlauten). Vgl. in Studie XI (Theologie und Biographie) die Abschnitte 2.1 und 3.2. Vgl. dazu mit besonderem Bezug auf Balthasar Jean GREISCH: Eine phänomenologische Wende der Theologie?, in: Walter Kasper (Hg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes. Hans Urs von Balthasar im Gespräch (FS Karl Lehmann), Mainz: Grünewald (2006) 371–385. Im Sinne einer Illustration solch zarten Gesprächs sei hier an die berühmte Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rubeljev erinnert.

80

I. Anstelle einer Einführung

imaginativen Prägnanz, seiner schweifend ins Andere, Unausdenkliche ausgreifenden Spuren- und Fährtenlese riskiert ein solches Denken ein Defizit an analytischer Präzision.136 In der Tat läuft die 136

Thomas PRÖPPER beklagt deshalb zu Recht den »boomende[n] hermeneutische[n] Relativismus« (Evangelium und freie Vernunft, aaO. 76; vgl. auch ebd. IX), weist zugleich aber darauf hin, daß Hermeneutik als »Theorie oder Lehre vom Verstehen und Auslegen« und Hermeneutik »in einem weiteren, abgeleiteten Sinn« als »die Arbeit des Verstehens und Auslegens selbst« im Vollzug einer systematischen Reflexion auf die Wahrheit des christlichen Glaubens stets ineinandergreifen. Fundamentaltheologie und Dogmatik seien deshalb im letzten nicht zu trennen. (Ebd. VIIf.) Ein solches Ineinandergreifen von theologischer Grundlagenreflexion und materialer Dogmatik entgehe der Falle des »hermeneutischen Relativismus« allerdings nur dann, wo man die Kriterien einer solchen Hermeneutik präzise benenne. Für Pröpper ist dies bekanntlich das neuzeitliche Freiheitsparadigma, das ihm auf vorzügliche Weise als »philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik« gilt. (Ebd. 5–22.) Hingegen Hans ALBERT, Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus in der Nachfolge Karl Poppers, bezeichnet die Indienstnahme der von Schleiermacher begründeten und von Gadamer (in Rückgriff auf Heidegger) popularisierten Hermeneutik als einer philosophischen »Methode« zur Eruierung geschichtlich sich vernehmbar machender »Wahrheit« als »eine Fortführung der Theologie mit anderen Mitteln«. Da die Theologie eine Wissenschaft ohne Gegenstand sei (die Existenz eines geschichtsmächtigen Gottes sei im höchsten Maße unwahrscheinlich), habe man es bei einer Philosophie wie der Gadamer’schen (für Schleiermacher gilt ähnliches) mit einem Denken zu tun, »das nicht nur das Objektivitätsideal der Wissenschaft, sondern auch den kritischen Impuls, der in der wissenschaftlichen Methode und im philosophischen Rationalismus zum Ausdruck kommt, ohne Bedenken einer dogmatischen Denkweisen dienstbaren vernehmenden Vernunft zu opfern bereit ist.« (Traktat über kritische Vernunft, Tübingen: Mohr Siebeck [51991] 170; kritische Bezüge auf Schleiermacher und seine theologischen Nachfolger in DERS.: Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen: Mohr Siebeck [1994] 198–203, 208–229.) Daß die Theologie als eine präzisen Regeln gehorchende Auslegung der biblischen Heilsbotschaft keineswegs einem »Antirealismus« huldigen muß, ist für Albert aufgrund des Ausgangspunktes seiner Kritik denn auch unvorstellbar. (Vgl. neben Kritik der reinen Hermeneutik, aaO. bes. 36–77, 198–229, auch DERS.: Theologische Holzwege. Gerhard Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft, Tübingen: Mohr Siebeck [1973], bes. 95–107; ferner DERS.: Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng, Erw. Neuauflage Aschaffenburg: Alibri Verlag [2005] 153–164.) Zumindest am Rande sei vermerkt, daß Alberts Kenntnisse sowohl der Hermeneutik als auch der Phänomenologie als zweier dezidiert philosophischer Disziplinen ziemlich eingeschränkt sind. Insbesondere das Werk Paul Ricœurs scheint ihm mehr oder weniger unbekannt zu sein, sonst ließen sich eine Reihe von Fehlurteilen insbesondere hinsichtlich der im wesentlichen auf Dilthey zurückgehenden Dichotomie von »Erklären« und »Verstehen« als der angeblich erkenntnistheoretischen Grundlage Philosophischer Hermeneutik nicht nachvollziehen. (Vgl. Traktat über kritische Vernunft, aaO. 161, 166f., 170.) Daß gerade Ricœur diese Dichotomie permanent unterläuft, daß ein jeder Versuch, geschichtliche, soziale, kulturelle und religiöse Zusammenhänge zu »verstehen« zu einem Mehr an »Erklären« führen muß, weshalb die Hermeneutik sich ständig in einem »Konflikt der Interpretationen« bewegt, hat Albert leider nie bemerkt. (Vgl. zu Ricœurs Leitsatz »Expliquer

Grundlinien liminaler Theologie

81

oftmals beklagte Schwäche der philosophischen Hermeneutik nicht nur in ethischen Fragen (»Tout comprendre, c’est tout pardonner«) nicht selten auf ein Schwächeln insgesamt hinaus, weil das hermeneutische Denken eine grundsätzliche Schwäche nicht so sehr für die bestimmende Urteilskraft hat, sondern vor allem für die reflektierende, ästhetische Vernunft. Weil »alles […] nur im Zwischen von Noësis und Noëma [ersteht], im Netz von Selbst-, Welt-, Fremd- und Horizonterfahrung und -konstitution«, ist Phänomenologie in der Nachfolge Husserls nicht so sehr theoretische Lehre, sondern vor allem Kunst des »Aufspür[ens] der genauen Entsprechungen von jeweiliger Einstellung (Vermutung, Feststellung, Glaube […], religiösem, rechtlichem, wissenschaftlichem Habitus) und den sich darin ergebenden Welten.« Phänomenologie im Sinne philosophischer Theorie »erbildet sich je neu im Einander von Subjekt und Objekt, Ich und Welt, weshalb Husserls Unternehmen, darin der neueren Malerei wie Psychotherapie verwandt, endlose, unerschöpfliche, unabsehbare Erhellung möglicher Konstellationen ist, unendlich, weil mikrologisch-präzis«137, gerade darin bisweilen aber auch quälend unergiebig, weil in der Vielfalt der Welten und Perspektiven sich verlierend.138 Der Verzicht auf jede Zentralperspektive und die damit verbundene Einsicht, daß »es keine Thatsachen giebt, nur Interpretationen« (aber auch diese Einsicht »ist schon Auslegung«, nicht Tatsache)139, führt ein der Phänomenologie verpflichtetes Denken nicht selten zu einem entschlossenen Verzicht auf die Autorität der Tradition und insofern zur Verabschiedung der Möglichkeit einer Wahrheitsfindung, die über den Augenblick hinaus Bestand hätte. »Was alle klassische Philosophie verabscheute, den unendlichen Diskurs ohne Abschluß, die unabsehbare Reihe der Verwirklichungen […], das wird hier zur Mitte des Denkens und Lebensgefühls.«140 Man wird dieses Problem im Auge behalten müssen; die Theologie kann sich damit wohl kaum zufrieden geben (in unserer Kritik an Welsch wurde dies ja schon deutlich). Gleichwohl ist zu fragen, ob es nicht auch berechtigt ist, sich zunächst der Möglichkeiten zu erfreuen,

137 138

139

140

plus, c'est comprendre mieux« in seiner zweiten Aufsatzsammlung Du texte à l'action. Essais d’herméneutique II, Paris: Seuil [1986], die Seiten 34f., 75–100, 110, 142–145, 151–159, 161–182, 197–211, 367f.) Alle Zitate Elmar SALMANN: Der geteilte Logos, aaO. 435. Eine höchst eindrucksvolle Beschreibung dieser quälend-unergiebigen Seite der Phänomenologie bietet Rüdiger SAFRANSKI, indem er die Unabschließbarkeit phänomenologischer Reduktion anhand einer Passage aus dem Zukunftsroman »Solaris« von Stanislaw Lem illustriert. (Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München/Wien: Hanser [1994] 101; vgl. insgesamt auch ebd. 93–112.) Friedrich NIETZSCHE: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang 1887, in: KSA (Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari) Bd. 12, 315. Elmar SALMANN: Der geteilte Logos, aaO. 438.

82

I. Anstelle einer Einführung

die eine solche Art des Denkens bereithält. Denn so evident es ist, daß die theologische Reflexion der bestimmenden Urteilskraft bedarf, andernfalls das religiöse Erfahrungsgut in begrifflicher Unschärfe und damit zuletzt in analyseresistenter Anmutung zu versinken droht, so sehr bleibt festzuhalten, daß eine Theologie, die sich der reflektierenden, d.h. vernehmenden und beschreibenden Urteilskraft entschlüge, alsbald Gefahr liefe, nicht nur theologisch zu verholzen, sondern auch geistlich und menschlich zu erstarren. Einem ästhetisch, phänomenologisch, hermeneutisch imprägnierten Denktypus, wie er den meisten der hier versammelten Aufsätze und Arbeiten zugrunde liegt, geht es deshalb vor allem um die wechselseitige, konkreativ sich vollziehende Erhebung von Text und Vernunft141, geht es darum, des Aufscheins der Wirklichkeit Gottes in Gebet142 und Liturgie143, Seelsorge144 und Predigt145, menschlichem Zeugnis146 und theologischer Reflexion147 unter den Bedingungen eines Denkens gewahr zu werden, das man gemeinhin als postmodern bezeichnet. Eine Theologie, die sich den Bedingungen eines solchen Denkens aussetzt, ist insofern immer auch gezeichnet vom Katastrophischen der Menschheitsgeschichte, weiß sich deshalb deren Opfern verpflichtet. Und wird sie darin nicht an ihr jüdisches Erbe erinnert, an das eschatologisch Ausständige der neutestamentlichen Christologie?148 Legt sich ihr von dort aus nicht auch ein neuer Gerechtigkeitssinn nahe, hat sie nicht standzuhalten der Einzigartigkeit und unverrechenbaren Fremdheit einer jeden Biographie (dieser Heils- und Unheilsgeschichten im Kleinen)149, leuchtet ihr von dort her nicht die Unmöglichkeit einer Errettung der Erschlagenen in der Geschichte, gar die Gefährdung der Gottesidee insgesamt auf, ohne deshalb von dieser Idee lassen zu wollen, geschweige denn zu kön-

141 142

143

144

145

146 147

148

149

Vgl. Studie VI (Theologie als Lesekunst). Vgl. Studie V (»Als ob ich gegen eine Wand redete« […] Systematische Erwägungen zu einer Theologie des Gebets). Vgl. Studie IV (Welt transzendieren? Welt transformieren? Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie). Vgl. Studie XIV (Erbsünde? Erbgnade? Grundlegung einer Höhenpsychologie als Beitrag zu einer existentiellen Theologie der Gnade). Vgl. Studie VII (Zweite Naivität. Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu einem vielbemühten, aber selten verstandenen Konzept). Vgl. Studie XII (Martyrium. Zur theologischen Valenz eines verstörenden Phänomens). Vgl. Studie X (»Gott – inexistent aber unabweisbar«? – Die Religionstheorie Christoph Türckes als Anfrage an die Theologie). Vgl. Studie VIII (Christlicher Erlösungsglaube und jüdische Messiaserwartung. Reflexionen über ihr Verhältnis aus Anlaß der revidierten Karfreitagsfürbitte). Vgl. Studie XI (Theologie und Biographie).

Grundlinien liminaler Theologie

83

nen?150 Bevor man also die allfälligen Mängel jenes Denkens, dem wir uns hier verpflichtet wissen, beklagt, sollte man seines Ethos, seines humanen wie auch theologischen Ernstes gewahr werden. Keineswegs handelt es sich um ein Denken, das ins Beliebige führt; im Gegenteil, das Wissen um den prekären Zeugnischarakter menschlicher Gottrede und die damit zusammenhängende Furcht, Gott könnte nicht existieren, die Sehnsucht nach Erlösung eine ins Leere laufende Projektion sein151, ist das Stigma, welches einer solchen Art von Theologie eingebrannt ist, ohne daß sie deshalb (noch einmal sei’s gesagt) von Gott und den mit ihm verbundenen Hoffnungen lassen wollte, geschweige denn könnte, denn damit verriete sie nicht nur Gott, sondern auch und vor allem den Menschen. Und ist es nicht gerade diese Verlockung zum defätistischen Verrat, die uns in unserer überaufgeklärten Welt mehr denn je bedroht?! 4. »WELT ALS GABE« – PRÄLIMINARER GANG DURCH DIE TEXTE Hat man sich der Chancen und Grenzen jenes Denkens, dem wir verpflichtet sind, vergewissert, so steht eine Letztes offen: Die Frage nämlich, worin der gemeinsame Fokus der in diesem Buch versammelten Themen besteht? – Im Versuch einer Antwort ist an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu erinnern und damit an den Entstehungsort der meisten der hier vorgelegten Arbeiten und Aufsätze. Denn gerade Jerusalem ist, was das Zusammenspiel transversal-hermeneutischer bzw. ästhetisch-phänomenologisch operierender Vernunft anbetrifft, von höchst inspirierender Kraft: Farben, Gerüche und Klänge, die Vielzahl an Liturgien und Gebetstraditionen quer durch die Konfessionen und Religionen hindurch, die bisweilen geradezu anachronistisch anmutende (Un-)Gleichzeitigkeit von Frömmigkeits- und Lebensstilen, schließlich die unerhört faszinierende, wenn auch nicht selten verwirrende, gleichwohl an keinem zweiten Ort der Welt so reiche Unterschiedlichkeit der Landschaften und Bevölkerungsgruppen, Lebenswelten und Denkweisen, Narrative, Optiken und geschichtlichen Erinnerungen lassen sowohl die Heilige Stadt als auch das Heilige Land zu einem Kaleidoskop unterschiedlichster Hermeneutiken werden, durch die hindurch (wie zu Beginn schon erwähnt) immer wieder verblüffende, nicht selten aber auch verstörende Perspektiven auf die biblischen Schriften und die ihnen korrespondierenden religiösen Traditionen möglich werden – 150

151

Vgl. Studien XIII (Sprachlosigkeit, Erlauschen, Erlauten. Zum Zeugnischarakter der Dichtung Paul Celans). Vgl. Studie XV (Was würde fehlen, wenn die Osterhoffnung fehlte?).

84

I. Anstelle einer Einführung

und insofern fordert Jerusalem den Theologen immer auch zu einem »Verstehen an der Grenze«152 heraus, fordert nicht nur eine Einübung in transversaler, sondern auch und insbesondere in »liminaler« Vernunft. Erfragt ist, mit andern Worten, eine die vielfältigen kulturellen Grenzen abschreitende Theologie. Denn nur so eröffnen sich Perspektiven auch über die Grenzen des eigenen Verstehens hinaus. Freilich neue Perspektiven eröffnen sich nur dem, der aufmerksam ist auf das, was sich zeigen will. Und damit wären wir angelangt bei einer den Phänomenologen auszeichnenden Haltung, die sowohl in philosophischer wie theologischer Hinsicht von höchster Bedeutung ist und der sich die hier versammelten Texte, so unterschiedlich sie in ihrer jeweiligen Themenstellung sein mögen, gleichermaßen verpflichtet wissen (ganz gleich, ob sie deswegen auch schon für sich in Anspruch nehmen dürfen, dieser Verpflichtung gerecht geworden zu sein): Aufmerksamkeit! Aufmerksamkeit für was? Doch wohl für das, was es gibt – besser: für das, was sich gibt oder geben will! Die bloße Tatsache daß es die Welt gibt, daß es mich gibt, dich gibt, daß wir uns immer schon (auf)gegeben sind, daß wir uns vorfinden, uns und einander zumuten und zugemutet sind, uns mit der Auf-Gabe konfrontiert sehen, mit diesem merkwürdigen Leben zu Rande kommen zu müssen – all das fordert uns heraus, hinzumerken auf das uns Erscheinende: auf Raum und Zeit, in die wir eingelassen sind; auf unseren Leib samt seinen Dimensionen des Zwischenleiblichen (Gebärde und Gestus, Aura, Takt und Humor, schüchternes, verlegenes, freundliches Lächeln, Lachen und Weinen, aber auch Glotzen, Grinsen und Feixen), in denen sich alle Kommunikation bzw. Nicht-Kommunikation mit der Welt und dem Anderen abspielt; hinzumerken ferner auf unsere Sprache in ihren vielfältigen Formen von Schweigen und Gespräch, Rede und Gegenrede, Beteuerung und Ver-sprechen (in der ganzen Doppeldeutigkeit von Gelöbnis und Lüge), Erklärung (»ich erkläre etwas« – bspw. meine Liebe, den Frieden oder den Krieg; »ich erkläre mich dir«), Bekenntnis (confessio laudis, peccati et veritatis coram Deo et hominibus), Lob, Rühmung, Dank, Bitte, Flehen und Klagen, gegebenem, eingelöstem oder gebrochenem Wort. In all dem, was es da zu sehen und zu hören gibt, kommt uns Welt entgegen, leuchtet etwas auf von ihr selbst, ohne daß dies doch je die ganze Wirklichkeit wäre. Aber was ist es, das uns da entgegenkommt? Ist es nicht schlicht die Faktizität der Welt? Hierauf ist kategorisch zu antworten, daß es 152

Vgl. Michael BONGARDT/Rainer KAMPLING/Markus WÖRNER (Hg.): Verstehen an der Grenze. Beiträge zur Hermeneutik interkultureller und interreligiöser Kommunikation (JThF 4), Münster: Aschendorff (2003).

Grundlinien liminaler Theologie

85

Faktizität nicht gibt! Das Faktische ist zuletzt immer nur das handhabbar Gemachte. Wer einzig an Fakten glaubt (»verum quod factum est«), glaubt der flachen Vorhandenheit und Vorfindlichkeit der Dinge und damit zuletzt nur sich selbst, schenkt allein dem begrenzten (bornierten) Horizont seines eigenen Denkens Vertrauen.153 Dagegen gilt: »Alles ist weniger, als / es ist, / alles ist mehr.«154 So sehr wir es sind, denen die Welt als Zeichen erscheint, so sehr unsere Intentionalitäten immer mit im Spiel sind, wenn sich uns Welt zu sehen und zu »lesen« gibt, so wenig haben wir das Recht, alles, was sich uns zu »lesen« gibt bzw. sich uns zeigen will, auf unsere eigenen Projektionen, Interpretationen oder Intentionalitäten zurückzuführen.155 Die Wahrheit der Dinge (wenn man diesen klassischen Ausdruck einmal wagen will), die Wahrheit einer Lebensgeschichte, einer Klaviersonate von Schubert, eines Gedichtes von Celan, eines Bildes von Paul Klee, einer kindlichen Bitte oder einer mühevollen Arbeit wird von uns niemals gemacht, sie (er)gibt sich, sie zeigt sich, sie leuchtet uns auf oder ein, weshalb nicht gilt »verum quod/quia factum est«, sondern »quod/quia datum«. Und die einzig interessante Frage in diesem Zusammenhang lautet, ob wir über ein hinreichend aufmerksames Sensorium verfügen, wahrzunehmen, was sich uns da zeigen, d.h. sich zu sehen (oder zu hören) geben will.156 Damit ist der Fokus, in welchem die hier versammelten Aufsätze und Arbeiten übereinkommen, benannt, und zugleich erklärt sich 153

154

155

156

Insofern ist, wer die Welt allein aus dem Blickwinkel der vermeintlich autarken Selbstmächtigkeit empirischer (d.h. instrumenteller) bzw. aufgeklärter (d.h. nuraufgeklärter) Vernunft wahrnehmen zu müssen glaubt, mit Platon als ein βάναυσος zu bezeichnen (Symp. 203a). Paul CELAN: Cello-Einsatz, in: Atemwende (Gesammelte Werke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1986] Bd. II, 7–107, hier 76). Dies als Einwand gegen die Reduktionismen von Heinz Robert SCHLETTE: Skeptische Religionsphilosophie, aaO. 118–143. Vgl. dazu Simone WEIL, die in Anschluß an das große Wort von Nicolas de Malebranche, Aufmerksamkeit sei »das natürliche Gebet der Seele«, schreibt: »Die Aufmerksamkeit ist eine Anstrengung, vielleicht die größte von allen […]. Von sich aus ermüdet sie nicht. Wenn sich Müdigkeit einstellt, wird die Aufmerksamkeit beinahe unmöglich, außer im Falle besonderer Geübtheit; dann ist es besser nachzugeben, eine Entspannung zu suchen und ein wenig später von neuem zu beginnen, sich loszulassen und wieder in die Gewalt zu nehmen, wie man ein- und ausatmet. Zwanzig Minuten einer beharrlichen Aufmerksamkeit ohne Ermüdung sind unendlich viel größer als drei Stunden jenes verbissenen Fleißes mit gerunzelten Brauen, der uns hinterher mit dem befriedigten Gefühl der Pflichterfüllung sagen läßt: ›Ich habe tüchtig gearbeitet.‹ … Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, es verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten…« (Réflexions sur le bon usage des études scolaires en vue de l’Amour de Dieu [1942], in: Attente de Dieu, Paris: Fayard [31966] 92 – hier zitiert nach Heinz Robert Schlette: Kleine Metaphysik, aaO. 32f.)

86

I. Anstelle einer Einführung

damit auch der Titel, der über ihnen steht: »Welt als Gabe«. Denn als in diese Welt und dieses Leben Hineinverfügte erleben wir die Welt als uns vor-gegeben, wir erleben uns als mit ihr bedacht, mag bisweilen auch offen bleiben, ob wir es hier mit einer frei gewährten Gunst zu tun haben, die von der Urverbundenheit allen Lebens kündet, von seiner (so möchte man sagen) mütterlich bergenden Zartheit, Nähe, Zuwendung und Liebenswürdigkeit im Sinne eines unvordenklichen »bonum diffusivum sui«, oder nicht doch eher mit einer »schönen Bescherung«, auf die man gerne verzichtet hätte.157 Wie immer die Antwort hierauf auch lauten mag, deutlich ist jedenfalls, daß die Welt als das uns Vor-gegebene bedacht werden will, weil wir unsererseits uns als mit ihr be-dacht erleben, und damit ist nun auch der Argumentationsgang, in den sich die hier versammelten Texte einfügen, am Tag: Aufgang von Welt im Gebet; Hermeneutik der Offenbarung; Biographische Bewährung. (I) Da ist zunächst an die schlichte Tatsache zu erinnern, daß Religion Rückbindung des Menschen an das ihm Vor-Gegebene bedeutet, Einfügung in die regulären und verläßlichen Zyklen von Raum und Zeit, Alltag und Fest, Tradition und Landschaft, Geburt und Tod, Trauer und Freude, Aussaat und Ernte, Hochzeit und Scheidung, Kindersegen und Unfruchtbarkeit, Krankheit und Heilung, Feindschaft und Versöhnung, Frieden und Krieg. In der Ungesichertheit des Lebens bedarf es eines Haltes und Zuspruchs, einer unverbrüchlichen Zuflucht und eines Horizontes – und so sind es Weisung und Ritus, wie sie sich im more maiorum geübten Kult verdichten, in denen Welt aufgeht als ein geordnetes Ganzes, in denen die Gesetze des Kosmos und die Ereignisse von Familie, Sippe und Volk erinnert, gedeutet und begangen werden. Und ist die Gottheit nicht zunächst jene Wirklichkeit, die in der Anrufung gegenwärtig wird, in Opfer und Gebet sich verdichtet? Religion beginnt mit dem Kult, ohne ihn wüßte man nichts von der strengen Unnahbarkeit und gnädigen Geneigtheit des Gottes. Nicht nur der Aufgang von Welt, sondern auch der Aufgang des Ich als einer unverrechenbaren Sphäre hebt an mit dem Kult, dieser Urform aller Kultur, vereindeutigt sich in Liturgie und Gebet. Und haben nicht auch die biblischen Religionen, haben nicht auch das nachexilische Frühjudentum und die frühe Christenheit Anteil an jener Dynamik, fügen nicht auch sie sich ein in jene unvordenklichen Zusammenhänge, die bis in die vorgeschichtlichen Anfänge der Spezies Mensch zurückreichen? In vier Abhandlungen, die – von aktuellen theologischen Fragestellun157

Vgl. dazu Elmar SALMANN: Vom unfaßbaren Charme alles Natürlichen. Was ist Gnade?, in: Stephan Pauly (Hg.): Glaubensfragen unserer Zeit, Stuttgart u.a.: Kohlhammer (1997) 51–63, hier 51f., 57f.

Grundlinien liminaler Theologie

87

gen geleitet – auf verschiedenen Reflexionsebenen jene Traditionsstränge in den Blick nehmen, sollen diese Bewandtnisse in einem ersten Angang er-wogen, soll ihnen erwägend nach-gedacht werden. (II) Nun zeichnet sich das Spezifische jüdisch-christlicher Religion freilich dadurch aus, daß der Kult als Interpretationsmedium von Welt mit einer Verheißung korreliert, die im Kult nicht aufgeht. So sehr der Kult auch Ort der Gegenwart und Offenbarung der Gottheit ist, so sehr wird er durch den Einspruch der alttestamentlichen Prophetie immer auch schon in Frage gestellt, denn der Gott Israels, wie er offenbar geworden ist in der nomadischen Exils- und Wüstenerfahrung, bindet sich an kein Bild und an keinen Kult; er überschreitet jedes institutionelle Priestertum und sprengt jeden Tempel. Von jenen Zusammenhängen wissen wir freilich nur vermittels der biblischen Zeugnisse: jenes merkwürdigen Konglomerats von Mythen und Legenden, heilsgeschichtlicher Reflexion und skeptischer Weisheit, prophetischem Einspruch, apokalyptischer Drohung und eschatologischer Verheißung. Solche Texte fordern, daß man sie auslegt, aber Auslegung geschieht nicht erst nachbiblisch, sondern jenes vielstimmige und vielschichtige Konglomerat heterogener Texte von höchst unterschiedlicher Qualität und Bedeutung, das wir »die Bibel« nennen, ist in seiner kanonischen Gestalt selbst schon das Ergebnis eines jahrhundertelangen Auslegungsprozesses.158 Theologie im Sinne jüdisch-christlicher Gottrede (sei diese nun im Kontext von kirchlicher oder synagogaler Predigt und Katechese, wissenschaftlicher Reflexion oder dichterischer Meditation situiert) ist denn ihrerseits auch immer ein Auslegungsgeschehen, das sich der Auslegung von Auslegungen widmet, ist ein durch und durch hermeneutischer Prozeß, dessen geschichtliche Unabschließbarkeit in der Unerschöpflichkeit ihres Gegenstandes »Gott« seinen Grund findet. In einem zweiten Angang soll diesen Zusammenhängen in fünf weiteren Abhandlungen nachgedacht werden, wobei deren Ausgangssituation die einer religions- bzw. christentumskritischen Öffentlichkeit ist, d.h. einer Kultur, die durch die verschiedenen Formen und Stadien historisch-kritischer, psychoanalytischer, wissenssoziologischer, strukturalistischer und genealogischer Entmythologisierung hindurchgegangen ist. Wie soll man da von Gott reden, und zwar so, daß man weniger über ihn als einem Gegenstand menschlichen Wissens spricht, sondern daß Er, von dem man da spricht, in seinem befreienden, bisweilen aber auch verstörenden Zuspruch vernehmbar wird? Theologie in ihrer Aufgabe, eine sowohl 158

Vgl. Vf.: »Verstehst du auch, was du liest?« (Apg 8,30) Schriftauslegung und Hermeneutik in den drei monotheistischen Religionen, in: Joachim Negel/Margareta Gruber (Hg.): Figuren der Offenbarung. Biblisch – Religionstheologisch – Politisch, aaO. 267–304.

88

I. Anstelle einer Einführung

ihrer jeweiligen Zeit als auch ihrem Gegenstand angemessene Hermeneutik der Offenbarung zu betreiben, hat sich dieser Herausforderung zu stellen – und genau das wollen wir hier versuchen. (III) Jedoch der wäre kein Theologe, der meinte, dieses schwierige, immer aber auch aufregende Geschäft ausschließlich vom Schreibtisch her leisten zu können. In einem dritten Angang gilt es deshalb, sich den existentiellen Herausforderungen zu stellen, vor die eine Hermeneutik der Offenbarung führt. Existentielle Herausforderungen artikulieren sich lebensgeschichtlich. Hier gilt, was der Wiener Psychotherapeut Viktor E. Frankl einmal wie folgt formuliert hat: Theologie ist »nicht ein Denken, vermindert um die Realität des Gedachten, sondern ein Denken, vermehrt um die Existentialität des Denkenden.«159 In fünf aus unterschiedlichen Anlässen entstandenen Texten soll deshalb den biographischen bzw. existentiellen Zusammenhängen theologischer Reflexion nachgegangen werden, und hier ist es wesentlich das lebensgeschichtliche Zeugnis, das uns interessiert. Ein Zeugnis kann nur gegeben werden; als gemachtes wäre es ein fingiertes und als solches immer schon Lüge. Insofern geraten wir erneut vor jenes Axiom, das allen hier versammelten Überlegungen zugrunde liegt: Nicht »verum quod/quia factum«, sondern »verum quod/quia datum est«. Wie alle Offenbarung ist auch das Lebenszeugnis eines Menschen zunächst und vor allem – Gabe! Mag im zwischenmenschlichen Umgang auch gelten, daß man »einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen« soll, so kann sich die Theologie dieser Höflichkeit nicht anbequemen. Sie hat dem Zeugnischarakter, der zuguterletzt aller menschlichen Gottrede eignet, auf den Grund zu gehen – allerdings nicht in der Haltung naßforscher Besserwisserei, die das existentielle Zeugnis aus der Haltung einer Hermeneutik des Verdachts auf seine nicht selten menschlichallzumenschlichen Hintergründe reduziert; vielmehr hat sie sich ihm respektvoll zu nähern. »Respekt« ist ein wunderbares Wort. Respekt (re-spicere) gegenüber dem, was sich mir da zeigen und geben will, beschreibt nicht nur eine spezielle Haltung der Vornehmheit, sondern könnte, ja müßte zum Habitus eines jeden Menschen werden, der es wagt, den Ehrentitel eines »Theologen«, eines »Gott-Sagers« für sich in Anspruch zu nehmen. Denn alle Theologie nährt sich von einem ihr unverfügbar Gegebenen, dem sie respektvoll nach-denkt – aber nicht, um sich von ihm in Abgrenzung zum vernünftig Gewußten übermächtigen zu lassen, sondern (im Gegenteil) sich selber an ihm neu und reicher zu entdecken. Solche zu theologischem Denkstil geronnene Haltung des Respekts konvergierte mit jener Hal159

Viktor E. FRANKL: Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie, in: Ders.: Logotherapie und Existenzanalyse, Weinheim/Basel: Beltz (2002) 57–184, hier 140.

Grundlinien liminaler Theologie

89

tung, die Paul Ricœur als die des Hermeneutikers beschrieben hat: »Wille zur Kritik, Wille zum Gehorsam.«160 Beiden Imperativen möchten sich die hier versammelten Arbeiten verpflichtet wissen. Zum Schluß eine persönliche Bemerkung. Ein Buch, dessen Titel lautet »Welt als Gabe«, verdankt sich seinem Gegenstand. Der Apostel Paulus hat dies präzise auf den Punkt gebracht, als er seinen lieben Korinthern ins Stammbuch schrieb: »Was hast du, das du nicht empfangen hättest?« (1Kor 4,7) Und in der Tat: »Wie das Leben selbst, so ist auch dessen Sinn gratis, d.h. als Gabe oder gar nicht zu erhalten – und zwar ohne Vor- und Gegenleistungen. Das Beglückende des Glücks besteht darin, sich nicht erklären zu können, womit man es letztlich ›verdient‹ hat.«161 In diesem Sinne ist im Rückblick auf eine dreißigjährige Lern- und Studienzeit Dank auszusprechen: an meine Lehrer in Paderborn (Leo Langemeyer, Josef Schwermer, Eugen Drewermann), Paris (Louis-Marie Chauvet, Xavier Thévenot SDB, Maurice Bellet), Bonn (Josef Wohlmuth, Günter Bader) und Münster (Thomas Pröpper, Jürgen Werbick); ferner an Elmar Salmann OSB (Rom/Gerleve), Lehrer auch er, und was für einer! – dessen Denken in fast jedem der hier versammelten Aufsätze präsent ist; schließlich an Gotthard Fuchs (Wiesbaden) und Christoph Theobald SJ (Paris). Erinnern möchte ich auch an Yves Thépot SJ (Clamart) und Léo Scherer SJ (Francheville bei Lyon), zwei Meister der ignatianischen Exerzitien, sowie an Sebastian Painadath SJ (Kalady/Kerala-Südindien), vermittelnder Grenzgänger zwischen den Welten des Johannesevangeliums, der Mystik Meister Eckharts und der Bhagavad Gita. Ihnen allen verdanke ich, was in den folgenden Aufsätzen und Studien an Substantiellem zu lesen ist. Das Übrige habe ich selbst zu verantworten: »Wenn ich bedenke, wie man wenig ist,/ Und was man ist, das blieb man andern schuldig.«162

160 161

162

Paul RICŒUR: Die Interpretation. Versuch über Freud, Frankfurt a.M.: stw (41992) 41–49. Hans-Joachim HÖHN: Postsäkular, aaO. 107. – Vgl. auch die schönen Beobachtungen bei Walter F. OTTO: Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann (31993) 71f. – Zum Ganzen das hinreißende Buch von Martin SCHLESKE: Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens, München: Kösel (42011). Schließlich aus einer weisheitlich-skeptischen Perspektive das große Werk von Wladyslaw TATARKIEWICZ: Über das Glück (aus dem Polnischen übertragen von Zbigniew Wilkiewicz), Stuttgart: Klett-Cotta (1984). Johann Wolfgang VON GOETHE: Torquato Tasso, I/1. 105f. – Hier zitiert nach Odo MARQUARD: Apologie des Zufälligen, Stuttgart: Reclam jun. (1986) 5.

AUFGANG VON WELT IM GEBET

Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn […]. (Rainer Maria Rilke1)

Ihr gebets-, ihr lästerungs-, ihr gebetsscharfen Messer meines Schweigens. (Paul Celan2)

Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah. (Paul Celan3)

[…] es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen. (Paul Celan4)

1

2

3 4

Aus: Sonette an Orpheus, in: Sämtliche Werke (hg. vom Rilke-Archiv), Frankfurt a.M.: Insel Tb (1987) Bd. I, 727–771, hier 735. Aus: … Rauscht der Brunnen, in: Die Niemandsrose. Gesammelte Werke Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1986) 205–291, hier 237. Aus Tenebrae, In: Sprachgitter, ebd. 143–204, hier 163. Aus Fadensonnen, in: Atemwende. Gesammelte Werke, aaO. Bd. 2, 7–107, hier 26.

II. KULT UND KULTUR Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst in Judentum, Christentum und Islam »Comme tout rituel religieux, les sacrements ne sont pas d’abord d’ordre cognitif, celui de la ›-logie‹, mais d’ordre pratique, celui de l’›-urgie‹. […] Le point de départ obligé de toute théologie des sacrements est [donc] la pratique concrète de l’Église, l’acte même de la célébration, et non pas quelque principe abstrait.« (Louis-Marie Chauvet1)

1. DIE FRAGESTELLUNG: ZUM VERHÄLTNIS VON THEOLOGIE UND LITURGIE »Man kann eine Religion und ihre besondere Welt von vielen Gesichtspunkten aus ansehen. Man kann ihre Theologie und ihr Dogma […] analysieren, das heißt ihre Lehre von Gott und der Schöpfung und von der Stellung des Menschen in diesem System. Man kann [aber] auch ihr Ritual und ihre Lebensordnung beschreiben: besonders von der Liturgie und dem Leben, das sich in ihr reflektiert, ließe sich sagen, daß sie oft einen getreuen Spiegel des geisti

1

Der folgende Essay wurde im Frühsommer 2006 in Vorbereitung auf das 33. Theologische Studienjahr verfaßt und war dessen Vorlesungsverzeichnis als Einführung in das Jahresthema vorangestellt. – Mag auch Jerusalem mit seiner Vielzahl an liturgischen Ortstraditionen auf das Thema »Kult und Kultur« geradezu geeicht sein, so ist das Interesse an der hier diskutierten Thematik doch wesentlich früher geweckt worden, nämlich im Wintersemester 1984/85 am Institut Catholique de Paris in einer Vorlesung von Louis-Marie Chauvet, die den Titel trug: »Relecture fondamentale de l’existence chretienne comme existence sacramentelle«. Anläßlich seiner Emeritierung im Juli 2007 seien Herrn Prof. Chauvet die folgenden Überlegungen »d’outre Rhin« dankbar zugedacht. Louis-Marie CHAUVET: Du symbolique au symbole. Essais sur les sacrements, Paris: Cerf (1979) 127f.

96

II. Kult und Kultur

gen Lebens einer Religion bildet.«2 – Was Gershom Scholem, wissenschaftlicher Erforscher der Kabbala hier in knappen Worten zusammenfaßt, kann uns als Einstieg in das Rahmenthema des 33. Theologischen Studienjahres dienen. Gebet und Gottesdienst sind ja keineswegs, wie eine rein akademisch sich verstehende Theologie lange Zeit gemeint hat, private Frömmigkeitsübungen, die der wissenschaftliche Theologe getrost übergehen darf. Im Gegenteil, wenn sich irgendwo das spezifische Gesicht einer Religion zu erkennen gibt, so in ihren Gebets- und Gottesdienstformen; in ihren Weisen, den Fluß der Zeit durch den Rhythmus von Alltag und Fest zu strukturieren; in ihren rituell geformten Erzählungen und Mythen, in denen sich die Wechselfälle des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens verdichten; schließlich in den jahreszeitlich gestimmten und bedingten Wallfahrten und Prozessionen, Sakramenten und Sakramentalien, Fasttagen und Festzeiten. Ein phänomenologischer Ansatz, wie Scholem ihn vorschlägt, versteht Religion nicht vorrangig doktrinär, sondern faßt sie zunächst und vor allem als ein symbolisch-kulturelles Gesamtgebilde, das unendlich größer ist als das gesellschaftlich bedingte Bewußtsein, das ihre Gläubigen in den je unterschiedlichen Epochen von ihr haben. Denn Religion in ihren elementaren Ausdrucksformen »Ritus und Mythos«, »Kult und Erzählung«, »Glaube und Gebet« stellt immer auch eine Art kulturelles Tiefengedächtnis der Menschheit dar. Führt man sich diese Zusammenhänge vor Augen, so erstaunt es nicht, wenn in den letzten Jahren (nach dem Abflauen einer eher religionskritischen Haltung in den Geisteswissenschaften) die kulturbildende Kraft von Gebet und Gottesdienst wieder stärker in den Gesichtskreis allgemeiner Kulturtheorie gerückt ist. (Es sei nur erinnert an die wichtigen Arbeiten von Ernst Cassirer, Maurice Halbwachs und Jan Assmann, die sich derzeit eines erhöhten Interesses erfreuen.) Die Theologie nun, so wenig es ihr verstattet ist, die hier skizzierten phänomenologischen bzw. wissenssoziologischen Argumentationsmuster einfach zu übernehmen, darf bei dieser Diskussion nicht abseits stehen. Vielmehr hat sie sich in Erinnerung zu rufen, daß in ihrem Fächerkanon mindestens ein Fach, nämlich die Liturgik, berufen wäre, die genannten Elementarzusammenhänge zu reflektieren. Das Problem ist freilich, daß die Liturgik sich meist als »Liturgiewissenschaft« versteht und als solche entweder Pastoralliturgik oder Liturgiegeschichte betreibt – sich insgesamt also eher darauf beschränkt, theologische Spezialdisziplin unter Spezialdisziplinen zu sein. Dagegen ist in Erinnerung zu rufen, was der jüdische Religi2

Gershom SCHOLEM: Drei Typen jüdischer Frömmigkeit. In Ders.: Judaica 4, Frankfurt a.M.: Bibliothek Suhrkamp (1984) 262–286, hier 262f.

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

97

onsphilosoph Jacob Taubes sowohl der Theologie als ganzer als auch der Liturgiewissenschaft als theologischer Einzeldisziplin ins Stammbuch geschrieben hat: »Ich weiß, wie verachtet das Fach der Liturgik in theologischen Fakultäten ist. […] Meine und die allgemeinen Vorstellungen gehen hier profunde auseinander. Ich wäre geneigt, Theologie aus Liturgik zu entwickeln.«3 Theologie aus Liturgik entwickeln – ein solches Vorhaben bedeutet nichts geringeres, als den religiösen Grundvollzügen »Gebet und Gottesdienst« fundamentaltheologische Valenz zuzuerkennen.4 Schon in der alten Kirche galt der Kult ja nicht nur als Ausdrucksform des kirchlichen und persönlichen Frömmigkeitslebens; vielmehr deutet die Formel »lex orandi – lex credendi« darauf hin, daß das gottesdienstliche Leben als Ganzes immer auch als Norm der theologischen Bekenntnisbildung fungierte. Darüber hinaus kam der frühbzw. altkirchlichen Liturgie eine wesentlich mystagogische Funktion zu: Die griechischen Kirchenväter (Cyrill von Jerusalem, Johannes Chrysostomus, Clemens von Alexandrien) nicht anders als die lateinischen (Ambrosius und Augustinus) verstanden Taufe und Eucharistie nicht als nachträgliche Bebilderung eines wie auch immer zu verstehenden Wortgeschehens, das auch ohne Kult zu haben sei; Taufe und Eucharistie galten ihnen vielmehr als dramatische Initiation in die höhere, den Sinnen entzogene Offenbarung Gottes, in die eingeführt zu werden den Katechumenen buchstäblich zu einem neuen Menschen macht. (Im 20. Jahrhundert haben auf katholischer Seite Odo Casel, Romano Guardini und Hugo Rahner diese Zusammenhänge wieder entdeckt; evangelischerseits ist an Theologen wie Friedrich Heiler, Wilhelm Stählin und Peter Brunner zu erinnern.) Man sieht an diesen knappen Beispielen, daß der christliche Kult sich nicht nur ästhetischer Wertschätzung erfreute, sondern (den Vätern zumal) auch und vor allem als locus theologicus galt – als ein Ort, der der theologischen Reflexion nicht nur würdig ist, sondern zu ihr nachgerade herausfordert. Günter Bader, systematischer Theologe an der Evangelischen Fakultät der Universität Bonn, hat diese Zusammenhänge auf folgende Formel gebracht: »Die Tatsache, daß 3

4

Jacob TAUBES: Die politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23. – 27. Februar 1987. München: Wilhelm Fink (1993) 55. Vgl. hierzu die wichtigen Arbeiten von Andrea GRILLO: Teologia fondamentale e liturgia. Il rapporto tra immediatezza e mediazione nella riflessione teologica (Caro Salutis Cardo Studi 10). Padova: Messagero (1995); L’esperienza rituale come ›dato‹ della teologia fondamentale: ermeneutica di una rimozione e prospettive teoriche di reintegrazione, in: Aldo Natale Terrin (Hg.): Liturgia e incarnazione, Padova: Messagero (1997) 167–224; Einführung in die liturgische Theologie. Zur Theorie des Gottesdienstes und der christlichen Sakramente, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (2006).

98

II. Kult und Kultur

religiöse Gemeinschaften zwar bestanden haben und bestehen können ohne ausgebildete Theologie, nicht aber ohne praktizierten Ritus, mahnt die Theologie dazu, sich selbst in ihrem Tun die relative Priorität des Ritus vorauszusetzen. Aber das heißt, daß die fortwährende Herkunft aus dem Ritus nicht folgenlos bleiben kann für eine Theorie der Theologie.«5 Das 33. Theologische Studienjahr nimmt sich diese Mahnung zu Herzen, indem es – ausgehend vom Konnex »Theologie und Liturgie« – der Frage nachgeht, wie sowohl im Juden- und Christentum als auch im Islam Gebet und Gottesdienst zur kulturellen Identitätsbildung bei(ge)tragen (haben) – und zwar in der Geschichte sowohl als auch in der Gegenwart. Daß diese Fragestellung weniger aus einem kulturtheoretischen, sondern zunächst und vor allem aus einem genuin theologischen Interesse erhoben wird, versteht sich von selbst. 2. DER FRAGEORT: »JERUSALEM, DU HOCHGEBAUTE STADT! / WOLLT’ GOTT, ICH WÄR’ IN DIR« Überlegungen wie die genannten lassen sich nun an keinem anderen Ort der Welt besser anstellen als in Jerusalem. Überhaupt wird jeder, der einen Teil seines Theologiestudiums in Jerusalem absolviert, über kurz oder lang die Erfahrung machen, wie sehr diese Stadt die Art des theologischen Fragens verändert: 1.) Da ist zunächst das äußere Erscheinungsbild der jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaften sowie der vielen christlichen Kirchen und Konfessionen, die einem in Jerusalem auf Schritt und Tritt begegnen. Greifbarstes Symbol dieses spannungsvollen Mitund bisweilen auch Gegeneinanders ist der Heilige Berg im Ostteil der heutigen Altstadt, wo einst der salomonische, später der herodianische Tempel stand. Dieser Berg, an dessen jüdische Ursprünge als letztes Relikt die »Klagemauer« erinnert, ist seit dem späten siebten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung mit muslimischen Heiligtümern bebaut, allen voran mit dem Felsendom, der mit seiner weithin sichtbaren goldenen Kuppel nach dem Vorbild der nur wenige hundert Meter entfernten christlichen Grabeskirche errichtet ist. Aber auch sonst ist die Präsenz der Religionen in Jerusalem unüberseh- bzw. -hörbar, weshalb sich in diesem urbanen Kontext ganz von selbst die Frage aufdrängt, inwiefern nicht die höchst unterschiedlichen Profan- und Sakralarchitekturen in Judentum, Christentum und Islam Ausdruck spezifischer Gotteserfahrungen sind, 5

Günter BADER: Art. »Ritus III. Kirchengeschichtlich und systematisch-theologisch«, in: TRE XXIX, 270–279, hier 276.

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

99

inwieweit sich diese in spezifischen Kultpraktiken und Gebetstraditionen verdichten und inwieweit diese dann wieder verstärkend rückwirken auf das jeweilige Glaubensbekenntnis. Auch religionsphänomenologisch gesehen kommt dem Axiom »lex orandi – lex credendi« ja eine nur schwer zu leugnende Gültigkeit zu. 2.) Des weiteren gibt es wohl keine zweite Stadt, in der sich, wie in Jerusalem, Topographie und Liturgie zu einer einzigen religiösen Erinnerungslandschaft verbinden.6 Auch hier fällt zunächst wieder der Tempelberg bzw. der Haram as-Scharif (wie die Muslime diesen Ort nennen) ins Auge. Einer frühjüdischen Legende zufolge befindet sich dort der Felsen Moriah, auf welchem der zum Opfer gebundene Isaak durch einen Widder ausgelöst wurde – der Bund Gottes mit Abraham findet hier seinen Anhalt. In frühbyzantinischer Zeit wandert diese Legende dann einige hundert Meter weiter westlich: Moriah ist Golgotha, und das Blut Christi, das dort floß und durch einen Felsenspalt ins Innere der Erde sickerte, erlöst den dort begrabenen Adam – der Neue bzw. Zweite Bund Gottes gewinnt hier seine mythologische Verortung. Schließlich wandert die Legende in frühislamischer Zeit wieder zurück auf den Tempelberg: Moriah ist El-Aqsa, »die Entfernte«, von wo der Prophet Mohammed seine Himmelsreise antrat. Angesichts solcher religionsgeschichtlicher Beerbungen verwundert es nicht, wenn Jerusalem auf mittelalterlichen Karten als »Nabel der Welt« dargestellt wird7; wenn man im Hinnomtal, das den Südwesten der Altstadt umspannt, die Gehenna, den alttestamentlichen Ort des Todes lokalisiert; wenn man schließlich das goldene, zwölftorig ummauerte Jerusalem der Johannesapokalypse mit dem Himmlischen Jerusalem identifiziert, das sich am Ende der Zeiten vom Osten, dem Ölberg herkommend über dem irdischen Jerusalem niedersenken wird.8 All diese mythologischen Topographien hätten sich dem kulturellen Gedächtnis nun aber 6

7

8

Vgl. Maurice HALBWACHS: La topographie légendaire des évangiles en Terre Sainte, Paris 1941. In Anschluß daran Klaus BIEBERSTEIN: Was es heißt, Jerusalems Geschichte(n) zu schreiben. Arbeit an der kollektiven Identität. In Michael Konkel/Oliver Schuegraf (Hg.): Provokation Jerusalem. Eine Stadt im Schnittpunkt von Religion und Politik (JThF 1), Münster: Aschendorff (2000) 16–69. Vgl. das einschlägige Bild- und Kartenmaterial in dem reichbestückten Sammelband Jerusalem – The Saga of the Holy City (with Contributions by Michael AVIYONAH, David H.K. AMIRAN, Julius Jotham ROTHSCHILD, H.M.Z. MEYER and an Introduction by Benjamin MAZAR [MAILSER]). Jerusalem: The UniversitasPublishers (1954). Klaus BIEBERSTEIN: Die Pforte der Gehenna. Die Entstehung der eschatologischen Erinnerungslandschaft Jerusalems. In Bernd Janowski/Beate Ego (Hg.): Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen: Mohr Siebeck (2001) 503–539.

100

II. Kult und Kultur

nicht einschreiben können, wenn sie nicht seit alters immer schon im wahrsten Sinne des Wortes begangen worden wären: Seit dem vierten christlichen Jahrhundert sind es die alljährlichen Prozessionen der Karwoche, die die Gläubigen vom Coenaculum nach Gethsemani führen, und von dort durch das Kidrontal zurück zum »Haus des Kaiphas«, um dann schließlich in der Grabeskirche (bzw. der Anastasis, wie die Griechen sagen) zu enden. Hier, so der Glaube der orthodoxen Christen, findet an jedem Ostersonnabend das »Wunder des heiligen Feuers« statt, wenn aus dem Grab Christi die Flamme der Auferstehung schlägt und Ostern nicht mehr ein vergangenes, sondern höchst gegenwärtiges Ereignis ist. – Religion, so wird man angesichts dieser Liturgien schlußfolgern müssen, ist zunächst nicht ein Denken, sondern ein Tun. Religion findet nicht als sitzende Reflexion statt, sondern als dramatische Begehung – eine Einsicht, die sich den Teilnehmern am Studienjahr nicht nur im christlichen Kontext aufdrängt, sondern auch bei der Teilnahme an den verschiedenen jüdischen und muslimischen Festen nahelegt. 3.) Mit dem zuletzt Gesagten sind neben aller Faszination nun aber auch die Probleme, ja die elementaren Verstörungen benannt, die Jerusalem auszulösen vermag. Denn wiederum ist diese Stadt, wie vermutlich keine zweite, der Ort, wo vorkritische Religionsauffassungen auf gänzlich säkulare Lebensentwürfe stoßen, ungebrochene Glaubenspraxis und humanistisch-abständiger Agnostizismus einander auf Schritt und Tritt begegnen. Angesichts betender Pilger in der Via Dolorosa, ultra-orthodoxer Juden vor der Klagemauer und fastender Muslime auf dem Haram wird man als Student der katholischen oder der evangelischen Theologie vor die Frage gestellt, ob diese Ungleichzeitigkeit nicht immer schon Teil der eigenen Glaubensbiographie ist. Denn Theologie zu studieren bedeutet ja nicht nur, das christliche Glaubensgut in seinen biblischen, systematischen und historischen Inhalten kennenzulernen, sondern auch und vor allem, im sympathetisch-kritischen Befragen sich dieses Glaubensgut intellektuell und existentiell, geistig und geistlich anzueignen. Wenn denn gilt, daß Glaube und Bekenntnis, Gebet und Gottesdienst nicht nur eine objektive, sondern immer auch eine stark subjektive Seite haben, so bedeutet dies für jeden der Teilnehmer am Studienjahr, neben der intellektuellen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gebets- und Gottesdiensttraditionen sich auch und gerade der eigenen Glaubensbiographie zu stellen, diese vor dem Hintergrund der biblischen Offenbarung immer wieder neu zu befragen, um

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

101

schließlich das Erlernte und Erfahrene, das Erlittene und Erahnte einer eigenen authentischen Lebensform anzuverwandeln.9 4.) Mit der Frage nach Authentizität in der eigenen Glaubensbiographie kommt nun ein weiterer Aspekt unseres Jahresthemas ins Spiel, der gar nicht ernst genug genommen werden kann: »Religion ist nie ganz harmlos und entspannt«10 – im Gegenteil, neben ihren schöpferischen Seiten kann sie durchaus auch zerstörerische Momente entfalten. Die menschliche Kulturgeschichte, die ja immer auch Religionsgeschichte ist, liefert hierfür zahllose Beispiele. Gerade die Emotionen, die Kult und Gebet freisetzen können, haben zu allen Zeiten für unerleuchteten Glaubenseifer, ja für politischen Fanatismus gesorgt. (Nicht zufällig brach die sog. »Zweite Intifada«, auch »Al-Aqsa-Intifada« genannt, Anfang Oktober 2000 auf dem Haram as-Scharif nach einem Freitagsgottesdienst los.) Angesichts dieser Gefahren ist deutlich daran zu erinnern, daß die biblischen Reflexionen zu Gebet und Gottesdienst sich immer in der Dialektik von priesterlicher Kultbejahung und prophetischer Kultkritik bewegen. Mag die Kultkritik der alttestamentlichen Prophetie dabei zunächst auch eher die Unverfügbarkeit Gottes im Blick haben, der sich an kein Bild bindet, an keinen Kult und kein institutionelles Priestertum (vgl. 2Sam 7,1–7; 1Kön 8,27), sondern als freier und doch universal gegenwärtiger Gott einen ebenso frei geschuldeten Gehorsam von seiten der Menschen einfordert, als Gott der Befreiung auf die Einhaltung von Gerechtigkeit und Recht pocht (vgl. Jer 7; Mi 6,8), so stellt sich angesichts der gegenwärtigen Fundamentalismusdebatte die Frage, ob das Verhältnis von Kultverpflichtung und Kultrelativierung nicht womöglich neu zu reflektieren ist. Jedenfalls muß es jeder theologischen Option für Liturgie und Kult zu denken geben, daß Jesus, dessen elementare Gottesgewißheit den jüdischen Tempelkult und die damit verbundenen Reinheitsgebote relativierte, als politischreligiöser Apostat (und das heißt ausgeschlossen von allen heiligen Bezirken) vor den Toren der Stadt gekreuzigt wurde (vgl. Hebr 13,13f.). 5.) Schließlich verdichtet sich in Jerusalem aber nicht nur das über drei Jahrtausende gewachsene Kulturgedächtnis der drei abrahamitischen Religionen; vielmehr fungiert diese Stadt für Palästinenser wie

9

10

Vgl. dazu unten in unserer Studie XI, »Theologie und Biographie. Trinitätstheologische Spurenlese eines prekären Verhältnisses«, den Abschnitt 1.3: »Zerspaltung von Theologie und Biographie. Gegenprobe.« Walter BURKERT: Glaube und Verhalten. Zeichengehalt und Wirkungsmacht von Opferkulten, in: Jean Rudhardt/Olivier Reverdin (Hg.): Le sacrifice dans l’antiquité. Entretiens sur l’antiquité classique Bd. 27. Vandœuvres-Genève: Fondation Hardt (1981) 91–133, hier 127.

102

II. Kult und Kultur

für Israelis immer auch als politische Erinnerungslandschaft.11 So liegt im Westen der Jerusalemer Neustadt, nicht allzu weit von der Knesseth und dem Israelmuseum entfernt, der Herzlberg, auf dessen Gipfel sich das Grab des Gründers des politischen Zionismus befindet. Nur wenig weiter liegt die in den letzten Jahren stark umgestaltete und vor wenigen Monaten neueröffnete Gedenkstätte Yad va-Shem – ein säkular-religiöses Monument von bestürzender Eindringlichkeit. Aber nicht nur diese beiden Zentralorte israelischer Identitätsfindung sind Ziel ungezählter Besucher; darüber hinaus sieht man überall in der Stadt, wo es wichtige Ereignisse der jüngeren israelischen Geschichte zu bedenken gibt, Schulklassen und Soldatengruppen: am Zionstor (in unmittelbarer Reichweite zur Dormitio), wo im Juni 1967 israelische Truppen in die unter jordanischer Hoheit stehende Altstadt eindrangen; an der Klagemauer, die nicht nur von religiösen Juden besucht wird, sondern als Staatsmonument auch für säkulare Israelis von höchster Bedeutung ist; an der Ausfallstraße nach Tel Aviv, die gesäumt ist von sorgsam konservierten Militärwracks, die an den sog. »Unabhängigkeitskrieg« von 1948 erinnern. Israel, das sich bis heute keine Verfassung gegeben hat, weil über wichtige Inhalte (vor allem die Stellung der Religion) immer noch keine Einigung erzielt werden kann, ist auch ein Staat, der den politischen Kult pflegt. Spätestens hier wird deutlich, daß der Mensch wenn vielleicht auch nicht mehr homo religiosus so doch immer noch ein homo ritualis ist. Und die Überlegung steht im Raum, ob elementare Fragen wie die nach Schuld und Vergebung sowie nach Hoffnung für die Erschlagenen der Geschichte sich durch säkular-politische Paraliturgien bearbeiten lassen – oder ob man nicht doch wieder zurückgreifen muß auf den mythischen und rituellen Fundus biblischer Tradition, wenn man Fragen wie die genannten nicht der allgemeinen Amnesie anheimfallen lassen will. Jerusalem als Ort des Eingedenkens biblischer Heilsgeschichte (ein Eingedenken, das immer auch die Erinnerung an die menschliche Unheilsgeschichte einschließt – und für deren Tiefpunkt steht exemplarisch die Shoah) führt uns erneut, wie keine andere Stadt, vor solche elementaren Fragen.

11

Für das Folgende vgl. Tamar AVRAHAM: Ein neuer Exodus und eine neue Landnahme. Jüdisch-theologische Aspekte des israelisch-palästinensischen Konflikts, in: Joachim Negel/ Margareta Gruber (Hg.): Figuren der Offenbarung. Biblisch Religionstheologisch Politisch (JThF 24 = Ökumenische Beiträge aus dem Theologischen Studienjahr Jerusalem 1), Münster: Aschendorff (2012) 319–351.

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

103

3. DIE FRAGERICHTUNGEN: SYSTEMATISCH – BIBLISCH – RELIGIONSTHEOLOGISCH Was bedeuten nun diese vielfältigen, gleichwohl noch recht allgemein gehaltenen Überlegungen für die thematische Konzentrierung des 33. Theologischen Studienjahres? Einige wichtige Aspekte seien genannt: 3.1. Fundamentaltheologische Reflexion auf das Verhältnis von Theologie und Liturgie Was angesichts der Zusammenhänge, die das 33. Theologische Studienjahr zu reflektieren sich anschickt, not tut, ist eine grundsätzliche Besinnung auf den Zusammenhang von Glaube und Gebet, theologischer Erkenntnis und Liturgie. Denn nicht nur sind Gebet und Gottesdienst expressives Ausdrucksgeschehen des Glaubens; bei nicht wenigen der großen Theologen sind sie darüber hinaus auch Medium, innerhalb dessen theologische Erkenntnis überhaupt erst möglich wird. Oder wie sonst hat man es zu bewerten, daß bei so scharfsinnigen Geistern wie Augustinus und Anselm philosophische Reflexion über Gott immer auch betende Reflexion vor Gott ist? (Man denke nur an die »Confessiones« oder an das »Proslogion«.) Und wie sonst soll man mit der Tatsache umgehen, daß nicht nur die apophatischen (negativen) Theologien eines Dionysios Areopagita und Gregorios Palamas, sondern auch die systematischen Entwürfe eines Maximus Confessor und Johannes von Damaskus ohne liturgischen Erfahrungshintergrund kaum zu verstehen sind? Man merkt an solchen Beispielen schnell: Theologie, die mehr sein will als abstrakte Reflexion über metaphysische Prinzipien oder exegetische Literarfragen, vollzieht sich nicht zufällig je länger, je mehr als ein existentielles Argumentieren vor, über und in dem je größeren Geheimnis (Deus semper maior). Denn das Formalobjekt theologischen Forschens: der lebendige Gott ist kein wissenschaftliches Erkenntnisobjekt im herkömmlichen Sinn. Im Gegenteil, gerade die Unbegreiflichkeit Gottes muß Thema der Theologie selbst sein, will sich die Theologie nicht an sich selbst überheben. Insofern gerät eine Theologie, die ihren Formalgegenstand ernst nimmt, immer wieder an jenen Punkt, da ihre Denkanstrengungen sich unterderhand in eine reductio in mysterium verwandeln, in eine Selbstaufhebung des Denkens ins Gebet. Im 20. Jahrhundert haben auf katholischer Seite Erich Przywara und Karl Rahner hierzu Entscheidendes

104

II. Kult und Kultur

gesagt12, und auf orthodoxer Seite Vladimir Lossky13, Paul Evdokimov14 und Jean Corbon15; aber auch bei Franz Rosenzweig auf jüdischer und bei Paul Tillich auf evangelischer Seite lassen sich hierzu wichtige Einsichten finden. Insofern wäre die Frage, ob man es bei Gebet und Liturgie mit »vergessenen Themen der Theologie«16 zu tun habe, eigentlich schon beantwortet: Selbst wenn sie in der Reflexion der letzten Jahrzehnte eine untergeordnete Rolle gespielt haben mögen17, hindert dies nicht, daß sie Kernstücke der Theologie darstellen. Mehr noch: Gebet und Liturgie (in ihrer Eigenschaft sowohl als Ort der Gottesbegegnung wie auch als Medium, in welchem die Kirche ihrem Glauben Ausdruck verleiht) sind nicht nur Themen unter theologischen Themen; sie sind darüber hinaus in jedem theologischen Thema strukturell präsent – und insofern immer auch Integral theologischer Reflexion.18 Wie sehr diese Behauptung zutrifft, wird deutlich, sobald man sich die Lehrveranstaltungen des 33. Theologischen Studienjahres näher anschaut.

12

13

14

15 16

17

18

Vgl. Vf.: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, Paderborn u.a.: Schöningh (2005) 126–148, 151–155, 170–181. Vladimir LOSSKY: The Mystical Theology of the Eastern Church, New York: SVS Press (1997); The Meaning of Icons, New York: SVS Press (1999). Paul EVDOKIMOV: La Prière de l’Église d’Orient. La Liturgie de Saint Jean Chysostome, Paris: Salvator (1966). Jean CORBON: Liturgie aus dem Urquell. Einsiedeln: Johannes (1981). Arnold ANGENENDT/Klemens RICHTER (Hg.): Liturgie – ein vergessenes Thema der Theologie? (QD 107), Freiburg i.Br.: Herder (1986). Daran dürfte nicht zuletzt die im Gefolge der sog. »Entmythologisierungsdebatte« angestoßene »Entsakralisierungsdebatte« der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts einen erheblichen Anteil haben. Vgl. Heribert MÜHLEN: Entsakralisierung – Ein epochales Schlagwort in seiner Bedeutung für die Zukunft der christlichen Kirchen. Paderborn: Schöningh (1971). Josef PIEPER: Sakralität und ›Entsakralisierung‹ der Welt [1969], in: Ders.: Werke (Hg. Berthold Wald), Hamburg: Felix Meiner (1995– 2002), Bd. VII, 394–419. Heinz SCHÜRMANN: Neutestamentliche Marginalien zur Frage der Entsakralisierung. Recht und Grenzen des theologischen Säkularismus [1968], in: Ders.: Ursprung und Gestalt. Erörterungen und Besinnungen zum Neuen Testament. Düsseldorf: Patmos (1970) 299–325. – Im Hintergrund dieser Arbeiten steht u.a. der weitwirkende Aufsatz von Ernst KÄSEMANN: Gottesdienst im Alltag der Welt. Zu Röm 12,1 [1960], in: Ders.: Exegetische Besinnungen und Versuche II. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1964) 198–204. – Zur »Neuentdeckung« der Liturgie als einem genuin theologischen Thema vgl. aber auch die wichtigen Arbeiten von Josef WOHLMUTH: Jesu Weg – unser Weg. Kleine mystagogische Christologie, Würzburg: Echter (1992); DERS.: Mysterium der Verwandlung. Eine Eschatologie aus katholischer Perspektive im Gespräch mit jüdischem Denken der Gegenwart, Paderborn: Schöningh (2005), bes. 75–103. Vgl. dazu die oben (Anm. 4) erwähnten Arbeiten von Andrea Grillo.

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

105

3.2. Biblisch-hermeneutische Reflexionen auf das Verhältnis von Kult und Kultur (1) alttestamentlich-frühjüdisch Was zunächst den israelitischen Kult anbetrifft, so bewegt er sich in weiten Teilen auf den vorgezeichneten Linien seiner religiösen Umwelt. Die in den frühbiblischen Textschichten beschriebenen Kulthandlungen, -orte, -anlässe und -zeiten, aber auch der (bzw. die) göttliche(n) Adressat(en) der jeweiligen Kultvollzüge unterscheiden sich phänotypisch gesehen zunächst wenig vom Kultwesen der religiösen Umwelt. (Die vielen Studienjahrs-Exkursionen zu den einschlägigen Ausgrabungsstätten neolithischer und bronzezeitlicher Kultur werden uns dies eindringlich vor Augen führen.) »Israel« bzw. die verschiedenen präisraelitischen Stämme stehen hier in einer unvordenklichen Tradition, die – in den unterschiedlichsten Ausprägungen und auf den verschiedensten Reflexionsebenen – den antiken Menschen tief prägt und bis zu den vorgeschichtlichen Anfängen der Spezies Mensch zurückreicht. Geburt und Tod, Vergehen und rituelle Entsühnung, Dank für Nachkommenschaft und Ernte sowie Schutz in kriegerischen Auseinandersetzungen, das Widerfahrnis der Nähe der Gottheit sowie Kontingenzerfahrungen überhaupt werden in den kultischen Lebensstrom gestellt, um so in der Einheit mit dem Numinosum geheilt zu werden. Auch die Jerusalemer Priesterschule vor und zur Zeit der josianischen Kultreform sowie das exilischnachexilische Frühjudentum haben sich dieser menschlichen Grunderfahrung nicht entzogen, sie vielmehr von innen her mit den jeweiligen geschichtlichen Erfahrungen von Sklaverei, Befreiung und Landnahme (Gen – Jos), Exil und Heimkehr (DtrG; Jer, DtJes, Ez; Ps) sowie der Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempelkultes (1/2 Chr; Esra-Neh) verbunden und dadurch einerseits zur nationalreligiösen Konsolidierung beigetragen (Est, Jdt; 1/2 Makk), andererseits dem Kult eine spezifisch universale, ja eschatologische Ausrichtung verliehen (Trit-Jes; Sach, Zef, Mal). Hier setzen die jeweiligen Vorlesungen und Seminare des Studienjahres an: Einerseits wollen wir uns anhand ausgewählter Texte exemplarische Zugänge zum Konnex »Kult und Kultur« innerhalb der wichtigsten alttestamentlichen Schriftcorpora (deuteronomistisches Geschichtswerk, Propheten, Psalter und Weisheitsliteratur) erarbeiten; andererseits ist der Frage nachzugehen, welche Rezeption diese Texte sowohl in der hellenistisch-jüdischen Diaspora vor der Zeitenwende als auch an der Grenzscheide zwischen frühem Christentum auf der einen und rabbinischem Judentum auf der anderen Seite erfahren haben. Denn gegenüber einem eher anachronistischen Verständnis, welchem zufolge das junge, im Entstehen

106

II. Kult und Kultur

begriffene Christentum als Abkömmling eines »alttestamentlichen« Judentums zu gelten habe, geht die heutige Forschung größerenteils davon aus, daß nach der Katastrophe der Tempelzerstörung (70 n.Chr.) zwei neue Formen von »Judentümern« überlebt haben, da sie unter den verschiedenen jüdischen Gruppen als einzige in der Lage gewesen seien, die Katastrophe theologisch zu bewältigen: ein stark rabbinisch geprägtes Judentum, das in der Kodifizierung der mündlichen Tora (in der Mischna und später im Talmud) seine religiöse Identität trotz widrigster Umstände fortschreiben konnte; und eine andere, zunächst eher sektiererische Gruppe, die durch ihre stark messianische Ausprägung die nationalen und kulturellen Grenzen des Judentums innerhalb von nur zwei Generationen hinter sich ließ und dadurch zu einer eigenen, auch für die pagane Umwelt präzise wahrnehmbaren Religion heranwuchs: eben das junge Christentum.19 Welche Prozesse rabbinisches Judentum und frühes Christentum im Stadium ihrer Konstituierung, Konsolidierung und gegenseitigen Differenzierung liturgietheologisch durchlaufen haben – auch dies wird Thema des kommenden Studienjahres sein. (2) neutestamentlich-frühchristlich Daß Gebet und Gottesdienst nicht nur religionssoziologisch wahrnehmbare Differenzierungen hervorbringen, sondern zuallernächst binnentheologisch strukturierend wirken, wird auf hervorragende Weise deutlich an der Rolle, die im Neuen Testament der levitische Kult für die Herausbildung eines spezifisch christlichen Gottesdienstverständnisses spielt.20 – Was zunächst die synoptischen Evangelien anlangt, so ist deutlich, daß Jesus die jüdische Kultpraxis zwar voraussetzt, das von ihm proklamierte und vorweggenommene eschatologische Heil jedoch ganz an die heilende und richtende Nähe zum himmlischen Vater bindet. Maßgabe für diese Nähe ist die Erfüllung des doppelten Liebesgebotes (Dtn 6,4f. mit Lev 19,18/Mk 12,28–34); an ihm findet jede Form kultischer Gottesverehrung ihre kritische Instanz (vgl. Lk 10,25–37). Die palästinische Gemeinde scheint bis zur Tempelzerstörung (70 n.Chr.) die Verbindung zur jüdischen Kulttradition gewahrt, sie zugleich aber auf eine »Anbetung im Geist und in der Wahrheit« (vgl. Joh 4,20–24) hin relativiert zu haben. Im hellenistischen Urchristentum wird die Konzeption des 19

20

Vgl. Daniel BOYARIN: Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia: University of Pennsylvania Press (2007); Israel J. YUVAL: Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (2007). Vgl. für das Folgende Knut BACKHAUS: Kult und Kreuz. Zur frühchristlichen Dynamik ihrer theologischen Beziehung, in: ThGl 86 (1996) 512–533.

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

107

Tempels als Heilsweg dagegen kritischer gesehen (vgl. Apg 7,47–50). Wiederum die Abgrenzung der frühen Gemeinden zum paganen Kult ist schlechterdings strikt (vgl. 1Kor 10,19–22; 2Kor 6,16f.). All dies hindert jedoch nicht, daß der levitische Tempelkult inspirierendes Modell theologischer Interpretation für den Kreuzestod Jesu bleibt. In kultmetaphorischen, -typologischen, -analogen und -transformatorischen Bezügen werden bei Paulus, beim Auctor ad Hebraios sowie in der Johannesapokalypse Motive des alttestamentlichen Opferkultes aufgegriffen und auf Jesus bezogen, um vor dem Hintergrund der Auferstehungserfahrung seinen Kreuzestod soteriologisch zu bewältigen. Die Motive vom Passahlamm und vom levitischen Sühn- und Bundesopfer durchziehen dabei große Teile der Deutung des proexistenten Sterbens Jesu. Diese Bezüge tragen darüber hinaus aber auch ekklesiologische Früchte: Denn die frühen Christengemeinden beanspruchen nun selber, die durch »Wasser und Wort« (Eph 5,26) geheiligte Kultgemeinde (Eph 5,25ff.; Hebr 10,19–22; Offb 1,5f.) zu sein. Gereinigt durch das »kostbare Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel« (1Petr 1,19), wissen sie sich berufen in die unmittelbare Nähe des heiligen Gottes (vgl. Eph 2,13); gerade dadurch aber empfinden sie sich auch als geschieden von der profanen Sphäre der nicht-christlichen Welt. Man sieht an diesen Beispielen, daß die frühen Christengemeinden den Anspruch erheben, den alttestamentlichen Kult nicht einfach spiritualisierend zu überwinden, sondern ihn »positive et supereminenter« zu sich selbst zu führen. In all dem gilt: »Grund und Norm der theologischen Deutung des Kultes im Urchristentum ist der gekreuzigte, erhöhte und pneumatisch gegenwärtige Herr; als ›Ort‹ der Gottesgegenwart tritt er an die Stelle des Tempels.«21 Mit dieser christologischen Konzentration gewinnt das frühchristliche Verständnis des Kultes nun aber eine wesentlich personale Dimension: »Kult ist die im Christusereignis von Gott ermöglichte und getragene Selbsthingabe«22, deren vielleicht knappste Zusammenfassung im Appell Röm 12,1 an den Tag kommt: Die Christen sollen sich und ihr Leben »Gott als lebendiges und wohlgefälliges Opfer darbringen«.23 Spätestens hier wird deutlich, daß in den frühchristlichen Gemeinden Gebet und tägliche Existenz, Gottesdienst und ethische Lebensgestaltung in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen. Deshalb 21

22

23

Alle Zitate Knut BACKHAUS: Art. »Kult IV. Neues Testament«, in: LThK3, Bd. VI, 507–509, hier 508. Knut BACKHAUS: Kult und Kreuz. Zur frühchristlichen Dynamik ihrer theologischen Beziehung, aaO. 531. Vgl. dazu neuerdings Arnold ANGENENDT: Die Revolution des geistigen Opfers. Blut – Sündenbock – Eucharistie, Freiburg i.Br.: Herder (2011), bes. 48–59, 119–124.

108

II. Kult und Kultur

können nicht nur die spezifischen Akte der Gottesverehrung, sondern auch Formen der täglichen Lebensbewährung (Phil 4,18; Hebr 13,16; Jak 1,27) kultterminologisch beschrieben werden. Überhaupt steht der Gottesdienst – und hier in vorzüglicher Weise das eucharistische »Brechen des Brotes« – immer auch in einem ethischen Kontext, wie besonders in 1Kor 11,17–34 deutlich wird. Des weiteren ist deutlich, daß das liturgische Leben der frühchristlichen Gemeinden keineswegs auf die Eucharistie beschränkt bleibt. Vielmehr erlangen Bekenntnis- und Gebetsformeln schnell theologischen Reflexionsstatus. (Einmal mehr kommt einem dabei die altkirchliche Formel »lex orandi – lex credendi« in den Sinn.) So spricht bspw. Kol 3,16 von »Psalmen, Hymnen und Liedern«, mit denen die Christen in ihren gottesdienstlichen Zusammenkünften (vgl. 1Kor 14,26) einander »belehren und zurechtweisen« sollen. Damit wird über ihre eigentliche Bedeutung als Lobpreis Gottes hinaus auch der verkündigende Charakter dieser Gebetslieder unterstrichen. Blickt man auf die hier nur knapp in Erinnerung gerufene Fülle neutestamentlicher und frühchristlicher Ausfaltungen sowohl in der konkreten Gottesdienstpraxis als auch in deren theologischen Interpretationsbezügen für ein christologisches Glaubensbekenntnis, so fallen zwei Themen ins Auge, die für das 33. Studienjahr von besonderem Interesse sind: Da ist zum einen die Frage nach dem Verhältnis von (früh-)jüdischem und frühchristlichem Gottesdienst zu stellen, die Frage also, inwieweit sich die Spannung von levitischem Tempelkult und jüdischem Synagogalgebet auf der einen Seite im Rahmen der Genese frühchristlicher Gottesdienstpraxis auf der anderen wiederholt. Haben wir es hier mit einer christlichen Beerbung jüdischer Gottesdienstpraxis zu tun? Womöglich gar mit einer »Enterbung«? – Da ist zum anderen aber auch die fundamental eschatologische Ausrichtung in den Blick zu nehmen, durch die sich das neutestamentlich-frühchristliche Gottesdienstverständnis auszeichnet. Denn zwar erfährt die Gemeinde im Vollzug des »Brotbrechens« die Offenbarung des Geistes und die Mitteilung der eschatologischen Güter als Teilhabe an der von Jesus verkündeten Basileia; und damit teilt sich das verheißene Gottesreich als nahegekommenes (vgl. Mk 1,15) in wirksamen Zeichen den Glaubenden schon hier und jetzt mit. Zugleich aber orientiert das urchristliche Gedächtnis die Gemeinde auf die noch ausstehende Erfüllung des Gottesreiches in der Wiederkunft des auferstandenen und erhöhten Herrn. Der gottesdienstliche Ruf »Maranatha« (1Kor 16,22; vgl. Offb 22,20; ähnlich auch Did 10,6) ist das deutlichste Kennzeichen dieser fundamentalen Ausrichtung. Allen gegenseitigen Abstoßungen und Differenzierungen zum Trotz sind sich die christlichen und die jüdischen Gemeinden in dieser eschatologischen Relativierung ihrer Gebets- und Got-

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

109

tesdienstpraxis einig. Wie weit aber trägt diese Einigkeit? Über unsere regulären Vorlesungen und Seminare hinaus wird im Verlauf des Studienjahres hierüber mit jüdischen Gastdozenten der Bar-IlanUniversität Tel Aviv und der Hebräischen Universität Jerusalem zu diskutieren sein. (3) katholisch/evangelisch Wie eng Glaube, Theologie und Liturgie miteinander verflochten sind, ist wohl selten so deutlich geworden wie in den 60er und 70er Jahren des zuende gegangenen Jahrhunderts, als die sogenannte Entmythologisierungsdebatte im Bereich der Exegese (Rudolf Bultmann) mit einer massiven »Entsakralisierungsdebatte« im Bereich der Liturgie einherging.24 Mit der Infragestellung der Geschichtlichkeit der in zentralen biblischen Erzählungen überlieferten Geschehnisse geriet für viele Christen das historische Fundament ihres Glaubens ins Wanken – und in eins damit die Plausibilität der überkommenen Gottesdienstformen. Mögen dabei zweifellos auch noch andere Gründe eine wichtige Rolle gespielt haben (zu nennen wäre u.a. das dramatische Abschmelzen der konfessionellen Milieus sowie die damit einhergehende Pluralisierung und Relativierung des theologischen Wahrheitsbegriffs), so läßt sich an diesen Entwicklungen gleichwohl deutlich ablesen, wie sehr mit den Legitimitätsverlusten der Heiligen Schrift als »Wort Gottes« auch das persönliche Gebet und der kirchliche Gottesdienst an Selbstverständlichkeit verloren. Zwar waren die Katholiken – seit je »notorische[.] Legastheniker in der Schule der Aufklärung«25 – von dieser Entwicklung ungleich härter betroffen als viele evangelische Christen. Das hindert jedoch nicht, daß der in Westeuropa massiv um sich greifende Zusammenbruch der kirchlichen Gottesdienst- und Frömmigkeitspraxis für beide Konfessionen eine Herausforderung darstellt, auf die sie bislang kaum tragfähige Antworten gefunden haben. Vor diesem Hintergrund stellt nun die Tatsache, daß im Theologischen Studienjahr evangelische und katholische Studierende gemeinsam leben und lernen, beten und arbeiten, eine kaum zu überschätzende Chance dar. Denn viele der Absolventen des Studienjahres werden ja über kurz oder lang in Positionen mit Multiplikatorenfunktion tätig sein (sei es als Priester oder Pfarrerin, Pastoralassistentin oder Lehrer) – und da kann es nur einen großen Gewinn bedeuten, sich gemeinsam an Fragen abgearbeitet zu haben, die für 24 25

S.o. Anm. 17. Johann Baptist METZ: Der unpassende Gott, in: Herderverlag (Hg.): »Wir sind Kirche«. Das Kirchenvolksbegehren in der Diskussion. Freiburg i.Br.: Herder (1995) 200–203, hier 203.

110

II. Kult und Kultur

beide Konfessionen von erheblicher Tragweite sind. Mag die ökumenische Großwetterlage vor allem in Deutschland derzeit auch eher unterkühlt wirken, so muß dies die Teilnehmer am Studienjahr nicht daran hindern, mit Neugier und Entdeckerfreude aufeinander zuzugehen. In diesem Zusammenhang kann es nun besonders hilfreich sein, daß das Studienjahr einer Benediktinerabtei angeschlossen ist. Denn wo wenn nicht im benediktinischen Stundengebet ist uns ein gemeinsames vorreformatorisches Frömmigkeitserbe überliefert?! Und die Erfahrung lehrt, daß man freundlicher und aufgeschlossener miteinander theologisch arbeitet, wo man zuvor gemeinsam gebetet hat. Wenn auch kaum davon auszugehen ist, daß in den entscheidenden Fragen des jeweiligen Kirchen-, Sakramenten- und Amtsverständnisses unter den Teilnehmern am Studienjahr ohne weiteres Übereinstimmung erzielt werden wird, so ist es doch bereichernd, sich in seinen unterschiedlichen theologischen und geistlichen Mentalitäten nicht nur kennen-, sondern auch schätzen zu lernen. So trifft es sich gut, daß das 33. Theologische Studienjahr zu einem Zeitpunkt beginnt, da seine Gastgeberin, die Benediktinerabtei Dormitio B.M.V., ihr Hochfest begeht: (15. August) Sollemnitas in Dormitione Beatae Mariae Virginis – im Sprachgebrauch katholischer Volksfrömmigkeit auch als »Mariä Himmelfahrt« bekannt. Ob und inwieweit theologisch eher randständige, für das persönliche Glaubensleben unter Umständen aber wichtige Gebiete wie bspw. die Marienfrömmigkeit Hindernis oder Hilfestellung für eine gelebte Ökumene sind, bleibt der Diskussion unter den Studierenden überlassen. (4) jüdisch-rabbinisch Im heimatlichen Kontext ist vorrangiger Gegenstand des ökumenischen Gespräches das Verhältnis zwischen evangelischen und katholischen Christen. Darüber darf aber nicht vergessen werden, daß es letztlich »nur eine tatsächlich große ökumenische Frage gibt: unsere Beziehung zum Judentum«.26 Daß trotz aller gegenseitigen, oft auch polemisch geprägten Differenzierungsprozesse zwischen Juden- und Christentum die Juden als »die älteren Brüder der Christen«27 zu 26

27

Dem Bericht eines Augen- und Ohrenzeugen zufolge soll Karl Barth bei einem Rombesuch anläßlich des Zweiten Vatikanischen Konzils die damals positive Entwicklung der innerkirchlichen Ökumene gewürdigt und daran die zitierte Bemerkung angefügt haben. Hier zitiert nach Hans Hermann HENRIX: Gottes Ja zu Israel. Ökumenische Studien christlicher Theologie (Studien zu Kirche und Israel 23). Berlin/ Aachen: Institut Kirche und Judentum (2005) 7. JOHANNES PAUL II.: Ansprache beim Besuch der Großen Synagoge Roms am 13. April 1986, in: Rolf Rendtorff/Hans Hermann Henrix (Hg.): Die Kirchen und das Ju-

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

111

gelten haben, ist eine Einsicht, die (nach den Traumatisierungen des zuende gegangenen Jahrhunderts) erst langsam ins allgemeine Bewußtsein rückt.28 Insofern ist es kein Zufall, wenn sich das Theologische Studienjahr seit seiner Gründung mit besonderer Sensibilität auch und gerade diesen Zusammenhängen widmet. Im kommenden 33. Studienjahr sind es die Bezüge zwischen jüdischer und christlicher Liturgie, an denen das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Geschwisterreligionen durchbuchstabiert werden soll. Franz Rosenzweig hat im »Stern der ErlöErlösung« [1921] hierzu einen ersten Versuch unternommen – mehr als vierzig Jahre mußten vergehen, bis eine größere Öffentlichkeit die Genialität dieses seltsam monolithischen, einzigartigen Werkes entdeckte. Seitdem sind eine ganze Reihe respektabler Anläufe gestartet worden, um die gegenseitigen Beeinflussungen genauer in den Blick zu bekommen. Erwähnt seien hier nur die Anleihen, welche die Osterliturgie auf seiten der jüdischen Pessachtheologie getätigt hat29, sowie die Rezeption theologischer Elemente des Yom Kippur in der Praxis frühchristlichen Fastens.30 So sehr nun die Abhängigkeit vor allem der frühen christlichen Liturgien vom jüdischen Gottesdienst- und Festtagsleben auch offensichtlich ist, so wenig darf dies bedeuten, daß die christliche Theologie allein um eines besseren Verständnisses ihrer eigenen Tradition willen ihre Aufmerksamkeit auf die jüdischen Gottesdienstformen richtet. Im Gegenteil, die jüdischen Gesprächspartner und Dozenten des Studienjahres haben den erklärten Anspruch, daß ihre Themen zunächst in ihrer unverrechenbaren Originalität wahrgenommen werden. Schon deshalb kommt neben den Vorlesungen und Gastvorträgen auch unseren Besuchen sowohl des Diaspora-Museums Tel Aviv als auch der Judaica-Abteilung des Israelmuseums große Bedeutung zu. Aber auch die Möglichkeit zur Teilnahme an den jüdischen Festen (allen voran Rosh ha-Schanah, Yom Kippur und Simchat Tora) sowie zum Besuch der diversen Jerusalemer Synagogengemeinden stellt eine

28

29

30

dentum. Dokumente von 1945–1985, Paderborn: Bonifatius/München: Kaiser (21989) 106–111, hier 109. Vgl. dazu in diesem Band die Studie VIII: »Christlicher Erlösungsglaube und jüdische Messiaserwartung. Reflexionen über ihr Verhältnis aus Anlaß der revidierten Karfreitagsfürbitte«. Vgl. Clemens LEONHARD: The Jewish Pessach and the Origins of the Christian Easter: Open Questions in Current Research (Studia Judaica XXXV). Berlin u.a.: de Gruyter (2006). Vgl. Rudolf ARBESMANN: Art. »Fasttage«, in: RAC 7, 500–524, hier bes. 508f., 514f. Karl HOLL: Die Entstehung der vier Fastenzeiten in der griechischen Kirche, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II: Der Osten [1928], Darmstadt: WBG (1964) 155–203. Herold S. STEIN: The Dietary Laws in Rabbinic and Patristic Literature (StPatr 2 = TU 64), Berlin: Akademie Verlag (1957) 141–154.

112

II. Kult und Kultur

einzigartige Möglichkeit dar, die unterschiedlichen Gebets- und Gottesdiensttraditionen im heutigen Judentum auf eine höchst lebendige Weise kennenzulernen. (5) muslimisch Ob unsere Beziehung zum Judentum wirklich »die eine große ökumenische Frage« (Karl Barth) darstellt, oder ob es um der je größeren Wahrheit willen nicht eine noch größere Ökumene geben muß: nämlich die der drei monotheistischen resp. abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, ist eine Frage, die zur Zeit heftig debattiert wird. Auf der einen Seite ist immer wieder der Satz zu hören, wenigstens im Bekenntnis zu dem Einen Gott seien sich die drei Religionen einig. Auf der anderen Seite wird die Warnung laut, das Insistieren auf dieser Gemeinsamkeit sei eher Ausweis theologischer Denkfaulheit, denn der islamische Monotheismus sei mit der christlichen Trinitätstheologie nur schwer übereinzubringen.31 Daß uns darüber hinaus in vielen Spielarten des Islam (wie übrigens auch im ultra-orthodoxen Judentum) eine ungebrochene, scheinbar von keinerlei kritischem Selbstzweifel angekränkelte Religiosität entgegen kommt, steigert nur einmal mehr die Verstörung, die viele Westeuropäer angesichts des derzeitigen »renouveau islamique« befällt. (Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die zum Teil unsäglichen »Kopftuchdebatten« der letzten Jahre.) Man sieht, daß die Versuchung groß ist, sich die fremde Religion eigenmächtig (und nicht selten selbstgefällig) zurechtzulegen. Hier kann womöglich der Weg über das konkrete Frömmigkeitsleben gläubiger Muslime einen hilfreicheren Zugang eröffnen. Denn wie bei Juden und Christen generiert sich auch bei muslimischen Gläubigen ihre religiös-kulturelle Identität zunächst und vor allem über die konkrete Frömmigkeitspraxis, unter die hier wenigstens drei Elemente zu zählen sind: das tägliche Gebet (salat), das jährliche Fasten (saum) und die Praxis des immerwährenden, mystischen Gottgedenkens (dhikr). Darüber hinaus haben das gemeinschaftliche Beten am Freitagmittag (du‘a’), die Feier des jährlichen Fastenbrechens am Ende des Monats Ramadan (‘Id al-fitr) und das in der gesamten islamischen Umma begangene Opferfest zum Abschluß der alljährlichen Wallfahrt nach Mekka (‘Id al-adha) eine kaum zu überschätzende gemeinschafts- und identitätsfördernde Wirkung.

31

Vgl. Angelika NEUWIRTH: Offenbarung, Inlibration, Eingebung oder Herabsendung? Überlegungen zu den Medialitäten der koranischen Verkündigung, in: Joachim Negel/ Margareta Gruber (Hg.): Figuren der Offenbarung. Biblisch Religionstheologisch Politisch, aaO. 203–242.

Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst

113

Hier setzen die Veranstaltungen des Theologischen Studienjahres an. Neben ersten Einführungen in den muslimischen Gottesdienstund Festtagskreis, die von Gastdozenten der Al-Quds-Universität gehalten werden, versuchen die diesjährigen islamwissenschaftlichen Vorlesungen, einen Zugang zu den mystischen und ästhetischen Dimensionen des Islam zu erschließen. Denn auch der gegenwärtige Islam, der in weiten Teilen von ägyptischer und persischer Rechtsgelehrsamkeit dominiert wird (man denke nur an die Diskussionen zur Anwendung der Scharia), stellt keineswegs eine ausschließlich kanonistische Religion dar. Im Gegenteil: Nicht so sehr die Logik der Argumente ist es, die einen muslimischen Gläubigen von der Überlegenheit des Koran überzeugt sein läßt, sondern vielmehr seine Ästhetik, die sich im Rahmen seiner Rezitation entfaltet. Der Kölner Islamwissenschaftler Navid Kermani hat vor einigen Jahren eine brillante Studie vorgelegt, in welcher diese Zusammenhänge eindrücklich auf den Punkt gebracht werden: Berichte über die Verzückung, das Staunen, die Ekstase, die Mohammeds Rezitationen bei ihren ersten Hörern hervorgerufen haben sollen, zieren noch heute jede gut orthodoxe Abhandlung über den Koran und werden von muslimischen Autoren als der überzeugendste Beweis für seinen göttlichen Ursprung vorgebracht.32 Das Erleben der kunstfertigen Koranrezitation einer in der Jerusalemer Altstadt ansässigen Sufi-Gruppe kann den Teilnehmern am Studienjahr einen ersten Eindruck davon vermitteln, was gläubige Muslime meinen, wenn sie sagen, daß die Wahrheit des Islam weniger doktrinärer, sondern vielmehr ästhetischer, sprachpoetischer Art sei und sie zum Beweis dafür auf die geradezu magische Wirkung verweisen, die kunstvoll vorgetragene Koranverse auf Körper und Seele der Zuhörer ausübten. In diesem Zusammenhang sei auf eine vielleicht etwas abseitige Diskussion verwiesen, die gleichwohl für unsere Frage hinsichtlich der identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst höchst aufschlußreich ist: Es wird behauptet, die im andalusischen Kalifat von Córdoba gepflegte Kunst melismatischer Koranrezitation habe nicht nur auf die Liturgie der mozarabischen Christen, sondern auch auf die Entwicklung des Gregorianischen Psalmgesangs insgesamt einen nicht zu unterschätzenden Einfluß ausgeübt.33 Ob diese These zutrifft, müssen die Musikwissenschaftler unter sich ausmachen. Jedoch deutet die bloße Möglichkeit dieser These nicht nur an, daß die liturgischen Beeinflussungen zwischen Christentum und Islam 32

33

Navid KERMANI: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München: Beck (1999). Vgl. Stefan ENGELS: Abendländische Musik und Islam (19 Seiten): www.uni-salzburg.at/pls/portal/docs/1/544386.PDF (aufgerufen am 2. Juni 2012).

114

II. Kult und Kultur

vielleicht größer gewesen sind als man sich gemeinhin vorstellt; sie muß darüber hinaus als Hinweis ernst genommen werden, daß die ästhetische Überzeugungskraft eines gut gefeierten Gottesdienstes im Wettstreit der Religionen und Konfessionen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. 4. ABSCHLUSSPROJEKT: TRIDUUM PASCHALE Ein Studienjahr ist ein Großprojekt, das nicht nur im Laufe der Monate von einem Höhepunkt zum nächsten eilt, sondern auch zu einem guten, eindrücklichen Ende gebracht werden will. Im Rahmen unseres Jahresthemas bietet es sich deshalb an, die drei letzten Wochen (12. – 29. März 2007) zu einer intensiven theologischen Vorbereitung auf den Höhepunkt des Kirchenjahres zu nutzen: auf die Feier der »Heiligen Drei Tage«. Die diesem Projekt zugrunde liegende Idee lautet, die römischen Liturgien von Gründonnerstag (Fußwaschung und Einsetzung des Herrenmahles), Karfreitag (Leiden und Sterben unseres Herrn), Karsamstag (Kommemoration des Höllenabstiegs Christi und Grabesruhe) und der Osternacht (Lichtfeier mit Exsultet sowie Tauferneuerung) als Leitfaden zu nutzen, um aus exegetischer, liturgiewissenschaftlicher und systematischer Perspektive den »nexus mysteriorum« des christlichen Glaubensbekenntnisses konzentriert in den Blick zu nehmen. Mit dem Angebot, in der anschließenden Karwoche (1. – 8. April 2007) gemeinsam mit den Mönchen der Benediktinerabtei Dormitio B.M.V. dann auch liturgisch zu begehen, was in der dreiwöchigen Ringvorlesung zuvor gedanklich erarbeitet wurde, will das 33. Theologische Studienjahr seinen Teilnehmern erneut die Möglichkeit eröffnen, Theologie nicht nur zu studieren, sondern sie (ganz im Sinne der Alten Kirche) buchstäblich zu begehen. Daß eine solche Form von erfahrungsgesättigter, lebenskluger und im besten Sinne des Wortes frommer Theologie heute mehr denn je not tut, braucht wohl nicht weiter begründet zu werden. In genau diesem Sinn will das Studienjahr mit all seinen Aktivitäten und Begegnungen nicht für ein Leben im Elfenbeinturm, sondern für eine verantwortete, sich in vielfachen Lebens- und Berufsfeldern bewährende, menschlich authentische, geistlich erfahrene und intellektuell überzeugende christliche Lebenspraxis vorbereiten.

III. WELT IM MODUS DES DATIVS Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe bei Jean-Luc Marion und Kenneth L. Schmitz (Auch ein Beitrag zur Frage nach der Möglichkeit eucharistischer Gastfreundschaft zwischen den Konfessionen) Elmar Salmann OSB anläßlich seiner Emeritierung am 3. März 2012 dankbar zugeeignet

1. UMBLICK PHÄNOMENOLOGIE DES UNSCHEINBAREN – GABECHARAKTER DES SEINS – EUCHARISTISCHER LOBPREIS Das zentrale Sakrament des Christentums, die Handlung, in der es sich selbst am tiefsten ausspricht, ist zweifellos das Sakrament der Eucharistie. Wenn irgendwo, so müßte sich von hier aus ein Einstieg finden lassen in das Ganze dieser merkwürdigen Religion. Denn so unscheinbar wie das eucharistische Sakrament sind ja die theologischen Grundfiguren des christlichen Glaubens insgesamt: »Er hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich, wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.« (Phil 2,6f.) Da ist nichts Heroisches, sondern der schweigende Gehorsam eines Menschen, der bis ins Äußerste geht, um die Liebe Gottes in dieser Welt zu versichtbaren – und gerade darin wird er zur Ikone des unsichtbaren Gottes (vgl. Kol 1,15). Oder jene andere, schöpfungstheologische Grundfigur, in der nach christlichem Verständnis alles seinen Ursprung nimmt: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.« (Joh 1,1.3) Auch hier kein titanisches Schöpfungsdrama, kein Engelsturz, der den diabolischen Mächten Einhalt gebietet, sondern eine schlichte Verheißung: Nicht in der »Kraft«, nicht in der »Tat«, auch nicht im demiurgischen »Willen«, sondern in einer liebenden Zusage gründet alles, was ist. Schließlich der schon erwähnte

116

III. Welt im Modus des Dativs

sakramentale Urgestus christlichen Selbstvollzugs: »Sie brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens.« (Apg 2,46) Hier im Zentrum christlicher Existenz erst recht kein triumphaler Kultdienst, keine Ekstase, aber auch kein dunkelbrütendes Geheimnis samt Ahnungen und Schauern, sakraler Vor-, Über- und Hinterwelt, sondern ein schlichter Gestus der Liebe zu Gott und dem Nächsten, ausgedrückt in den unscheinbaren Vollzügen des Alltags: ein Bissen Brot, ein Becher Wein, gedeutet durch ein paar Gebetsworte. Könnte es nicht tatsächlich sein, daß die theologischen Grundfiguren des Christlichen (Schöpfung, Trinität und Inkarnation, Sakrament und Kirche) sich einschreiben lassen in diese offenen Gebärden des Gebens und Empfangens, des Vertrauens und Überlassens? Noch einmal anders und konkreter formuliert: Ist es denkbar, daß sowohl das Ereignis der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes in Jesus von Nazareth als auch die im Licht dieser Offenbarung sich fortschreibende Selbsteinholung des Menschen reformulierbar sind in den Kategorien der Gabe? – Für solche Vermutungen lassen sich im 20. Jahrhundert auf katholischer Seite eine Reihe namhafter Zeugen anführen: In behutsamer Distanznahme zur traditionellen Metaphysik, die Gott als das (oder den) »Eine(n)«, als »Substanz«, »Logos«, »Nous« oder als »höchstes Seiendes« denkt, hat Elmar Salmann in der Tradition einer phänomenologischen Ontologie (Rosenzweig, Lévinas, Rombach) wiederholt darauf hingewiesen, daß von Gott auch in den Kategorien der Relation bzw. der Intersubjektivität geredet werden könne: »Nicht als Sein, das sich imperativ behauptet«1, sondern als »Differenz«2, »als unvordenklicher Urbeginn in Gestalt einer Gegenwart, eines Horizontes, eines Trostes, Raumes und Anspruchs«3 offenbart sich Gott. Vom biblischen Gott sei nicht so sehr »im Nominativ« oder »Akkusativ« zu sprechen, sondern eher »in der Form des Dativs«; als dreifaltigdreieiner offenbare er sein Wesen nicht so sehr im Imperativ, sondern »im Oblativ«: in der »Einheit von Geber, Gabe und Geschehen des Gebens, [in der] reine[n] Weg-gabe seiner selbst.«4

1

2 3

4

Elmar SALMANN.: Der geteilte Logos. Zum offenen Prozeß von Neuzeit und Theologie, StAns 111, Rom: Benedictina Edizioni Abbatia S. Paolo (1992) 252. Ebd. 253. DERS.: Der Gott des freien Geleits. Christentum als Phänomen und Leitmotiv, in: Stephan Pauly (Hg.): Der ferne Gott in unserer Zeit, Stuttgart: Kohlhammer (21999) 73–83, hier 82. DERS.: Der geteilte Logos, aaO. 252f. – Vgl. auch die ähnlichen Formulierungen in Neuzeit und Offenbarung. Studien zur trinitarischen Analogik des Christentums, StAns 94, Rom: Benedictina Edizioni Abbatia S. Paolo (1986) 68, 84, 140, 168f., 171, 218 u.ö. – Salmann bezieht sich hier auf Formulierungen von Heinrich ROMBACH: Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg i.Br.: Alber (21988) 112, 156f., sowie auf Franz ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1988) 143, 260, 280, 437. Wie wir weiter unten sehen werden, verwendet

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

117

Aber nicht nur auf den dreifaltigen Gott wirft das Phänomen der Gabe ein erhellendes Licht; auch der je einzelne Mensch wird in ihm erkennbar, und zwar als jemand, der sich selbst gegeben ist, weshalb die lebenslange Aufgabe eines jeden Menschen darin besteht, sich selber entdecken und darin sich hinnehmen zu lernen als der, welcher er ist.5 Für Romano Guardini – auch er Vertreter einer eher phänomenologisch argumentierenden Theologie – ist »das Faktum der Person selbst […] zuinnerst Gabe«6, weshalb ein jeder Mensch zuallernächst fähig werden muß, »sich zu empfangen«, ohne durch solchen Empfang doch einfach schon in der eigenen Autonomie beschnitten oder gar fremdbestimmt zu werden. Im Gegenteil: daß ich mich einer unvordenklichen Freigiebigkeit verdanke, ermöglicht es mir ja überhaupt erst, zu sein, der ich bin, zu werden, der ich sein kann.7 Schließlich und vor allem Hans-Urs von Balthasar, dessen gesamte Anthropologie (und in eins damit seine Schöpfungstheologie, denn Schöpfung ist Gabe8) auf dem Wechselspiel von Liebe und Gegenliebe aufbaut: Das Lächeln der Mutter über dem Bett des Kindes lockt irgendwann im Kind ein erstes Lächeln zur Antwort hervor: Die Mutter »hat im Herzen des Kindes die Liebe geweckt, und indem das Kind zur Liebe erwacht, erwacht es zur Erkenntnis: die leeren Sinneseindrücke sammeln sich sinnvoll um den Kern des Du. Erkenntnis (mit ihrem ganzen Apparat von Anschauung und Begriff) beginnt zu spielen, weil das Spiel der Liebe, von der Mutter her […] vorgängig begonnen hat.«9 In der Tradition eines personalistischen Seinsdenkens (Gustav Siewerth, Ferdinand Ulrich), eines jüdisch-christlichen Personalismus (Buber, Guardini) sowie einer eher romanisch gefärbten Existentialontologie (Gabriel Marcel, Maurice Nédoncelle) beschreibt Balthasar das Spiel der Liebe als erfahrungsinitiierende und insofern erkenntnisinaugurierende Kraft. Wenn aber gilt, daß »Liebe ihrem Wesen nach zuinnerst

5

6

7 8

9

Jean-Luc Marion an entsprechender Stelle ganz ähnliche Formulierungen. Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch Karl RAHNER, der an vielen Stellen seines Werkes davon spricht, der heilige Gott sei in seiner freien Selbstmitteilung »Geber und Gabe und Grund der Annahme in einem«. (Grundkurs des Glaubens, Freiburg i.Br. u.a.: Herder [1991] 131, 134 u.ö.) Vgl. Romano GUARDINI: Gläubiges Dasein / Die Annahme seiner selbst, in: Werke (Hg. Franz Henrich), Mainz: Grünewald – Paderborn: Schöningh (61993) passim, bes. 12ff.; DERS.: Freiheit Gnade Schicksal. Drei Kapitel zur Deutung des Daseins, in: Werke (Hg. Franz Henrich), Mainz: Grünewald – Paderborn: Schöningh (71994) 200f. Romano GUARDINI: Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen, in: Werke (Hg. Franz Henrich), Mainz: Grünewald – Paderborn: Schöningh (61988) 161. Vgl. ebd. 121. Vgl. Martin BIELER: Freiheit als Gabe. Ein schöpfungstheologischer Entwurf, FthSt 145, Freiburg i.Br. u.a.: Herder (1991) 261–276. Ferner die entsprechenden Ausführungen zu Hans Urs von Balthasar bei Stefan OSTER: Mit – Mensch – Sein. Phänomenologie und Ontologie der Gabe bei Ferdinand Ulrich, Freiburg i.Br./München: Alber (2004) 28, Anm. 39; 38f.; 201f., Anm. 41; 211, Anm. 6. Hans-Urs VON BALTHASAR: Glaubhaft ist nur Liebe, Einsiedeln: Johannes (51985) 49. Vgl. auch Der Zugang zur Wirklichkeit Gottes, in: MySal Bd. II, Einsiedeln/Zürich/ Köln: Benzinger (1967) 15–45, hier 15ff., 25ff., 36f.

118

III. Welt im Modus des Dativs

Gabe« ist, ohne die Intuition, in Liebe gemeint zu sein, aber weder Selbstnoch Welterkenntnis möglich ist, dann ließe sich die hermeneutische Grundsituation des Menschen in Abwandlung eines berühmten Wortes von Hans-Georg Gadamer folgendermaßen umschreiben: »Wir sind als Empfangende immer schon in ein Gabegeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen, wofür wir danken sollen.«10

Man sieht: Die Zusammenhänge, die uns hier von verschiedener Seite her vor Augen geraten, beschreiben zunächst eine Art Ontologie des Gabecharakters allen Seins: Nichts ist selbstverständlich! Die Dinge, wie ich sie vorfinde, sind gegeben! Das Leben gehört mir nicht einfach, es ist mir zugemutet, zugedacht – ich bin mit ihm bedacht worden, um es nun meinerseits (dankend) zu bedenken.11 Ohne uns recht zu versehen, rühren wir mit solchen Formulierungen an Zusammenhänge, die über eine allgemeine Ontologie der Gabe hinaus unmittelbar das Herzstück des christlichen Glaubensvollzugs betreffen: den eucharistischen Lobpreis. Denn wechselseitige Empfänglichkeit und Preisgabe, die Dynamik des Einander-Sich-Gebens und -Verdankens, die Offenbarkeit von Welt, Mensch und Gott in ihrem Für-, Gegen- und Miteinander komprimieren und konkretisieren sich auf das Bedrängendste in jenem Gabegestus, mit welchem Jesus sich selbst zugleich seinem Gott und Vater wie auch seinen Jüngern überantwortet (vgl. Joh 10,14b–15; 10,17f.; 19,30). Hält man sich dies vor Augen, dann ist zu vermuten, daß eine Phänomenologie der Gabe hilfreich vermitteln kann, um das liturgische Geschehen des eucharistischen Lobpreises tiefer in das Leben, Leiden und Sterben Jesu einzuschreiben. Denn der Gabecharakter allen Seins, das Wechselspiel von Lebensgewähr und -entzug, Selbstannahme und -übergabe, wie es die neutestamentlichen Schriften an der Gestalt Jesu durchbuchstabieren, stellt ja überhaupt erst die ontische Grundlage für die Eucharistie bereit, in welcher uns die Gegenwart Christi zugesagt wird: des Logos, der die Welt erhält; des Sohnes, der vom ewigen Vater allen Menschen Kunde gibt, indem er sich – und darin Ihn – bis ins Äußerste mit-teilt. Es steht zu erwarten, daß eine Phänomenologie, die den Gabecharakter allen Seins zum Gegenstand hat, auch Erhel10

11

Vgl. Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr-Siebeck (21965) 465. »Denken«, »Dünken« und »Danken« liegen sprachgeschichtlich nahe beieinander. Das deutsche Wort »Denken« ist Faktitiv der indogermanischen Verbalwurzel *teng (= ziehen, spannen, wiegen): »Denken« meint ursprünglich ein »Erwägen«. Ähnlich das Verbum »dünken«, das zunächst soviel bedeutet wie: »›mir wiegt etwas, mir ist etwas gewichtig‹«. Das deutsche Wort »Dank« schließlich ist Verbalnomen zu »Denken«; sein Sinn ist »›in Gedanken halten‹ = ›danken‹ […].« – Friedrich KLUGE: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin/New York: De Gruyter (231995) 162. Siehe insgesamt ebd. s.v. 162, 170f., 200.

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

119

lendes über die eucharistische Gabe zu sagen weiß. Und erwartet werden darf auch, daß eine solche Phänomenologie sich zuguterletzt als Matrix auch unseres eigenen uns immer nur auf Zeit gestundeten Lebens erweist. Im folgenden soll versucht werden, den hier nur knapp evozierten Zusammenhängen tiefer auf den Grund zu gehen. Und dabei sollen zwei im deutschsprachigen Raum eher wenig bekannte Autoren das Wort haben: der Kanadier Kenneth L. Schmitz (* 1927) und der Franzose Jean-Luc Marion (* 1946). Meine Ausführungen verfolgen dabei ein doppeltes Ziel: Zum einen soll die vor allem im französischen Sprachraum gegenwärtig heiß diskutierte Frage erörtert werden, ob und inwieweit eine phänomenologische Analyse dessen, was wir »Gabe« nennen, dazu beitragen kann, die schon genannten theologischen Grundfiguren des christlichen Glaubens (Schöpfung, Trinität und Inkarnation, Sakrament und Kirche) begrifflich genauer zu fassen. Zum andern soll ein Einblick vor allem in das theologisch hoch interessante Werk von Jean-Luc Marion gegeben werden – ein Werk, das in der deutschsprachigen Theologie (sowohl auf evangelischer wie katholischer Seite) immer noch weitgehend unbekannt ist12, was um so mehr erstaunt, als dieses Werk gerade von seinem phänomenologischen Ansatz her äußerst fruchtbar werden könnte für das interkonfessionelle Gespräch zur Eucharistietheologie. Denn die zwischen den beiden Konfessionen bis heute immer wieder neu diskutierten Fragen nach eucharistischer Realpräsenz (»Transsubstantiation« resp. »Konsubstantiation«, Verehrung des Altarsakramentes »extra usum«13) sowie nach dem spezifisch »eucharistischen« Charakter des Herrenmahles (Eucharistie als »Opfer der Kirche«14) gewin12

13

14

Nicht mehr auswerten konnte ich für diesen Aufsatz den Dokumentationsband eines Symposions, das am 10.–12. Dezember 2004 unter dem Titel »Ursprünglichkeit der Gabe. Zur soziologischen, phänomenologischen und theologischen Bedeutung des Gabe-Diskurses« vom Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt veranstaltet wurde: Michael GABEL/Hans JOAS (Hg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg i.Br./München: Alber (2007). Ebenfalls nicht mehr ausgewertet werden konnte die Freiburger Dissertation von Thomas ALFERI: »Worüber hinaus Größeres nicht ›gegeben‹ werden kann …« Phänomenologie und Offenbarung nach Jean-Luc Marion, Freiburg.Br./München: Alber (2007) sowie ein von Veronika HOFFMANN herausgegebener Sammelband, der eine im April 2008 in Münster abgehaltene Tagung dokumentiert: Die Gabe. Ein »Urwort« der Theologie?, Frankfurt a.M.: Otto Lembeck (2009). Vgl. Gemeinsame römisch-katholische und evangelisch-lutherische Kommission: Das Herrenmahl, Paderborn: Bonifatius – Frankfurt a.M.: Otto Lembeck (31979). Vgl. hierzu den »Abschließenden Bericht« des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, in: Karl Lehmann/Edmund Schlink (Hg.): Das Opfer Jesu Christi und seine Gegenwart in der Kirche. Klärungen zum Opfercharakter des Herrenmahles, Freiburg i.Br.: Herder – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

120

III. Welt im Modus des Dativs

nen womöglich konfessionsübergreifend an theologischer Tiefenschärfe, wo man sich einer anderen, m.E. viel grundsätzlicheren Problematik überläßt: Könnte es nicht sein, daß gerade der eucharistische Lobpreis d i e genuine Ausdrucksgestalt des christlichen Glaubens darstellt? Und zwar, weil im Vollzug dieses Lobpreises an den Tag kommt, wie sehr menschliches Sein verdanktes Sein ist? Und bestünde, wenn dem so ist, dann nicht auch Hoffnung, daß von hier aus das eucharistietheologische Gespräch zwischen den Konfessionen, das sich gegenwärtig an der (kontroverstheologisch umstrittenen) Amtsfrage festzubeißen scheint15, wieder auf das Eigentliche gelenkt werden kann? – Was ist »das Eigentliche«? Das Eigentliche ist »die Gratuität der sich ›verschenkenden‹ Liebe, die […] Gott in Jesus von Nazareth hat greifbar werden lassen«16 – und zwar so sehr, daß von dieser Liebe her nicht nur Mensch und Natur, die ganze Schöpfung, sondern in besonderer Weise auch die Kirche als Gemeinschaft der an Christus Glaubenden konstituiert wird. Das eucharistische Sakrament wäre demnach also »Zeichen einer bereits vorhandenen Einheit«, immer aber auch »Mittel einer noch zu erringenden Einheit.«17 Die schroffe »Alternative: Abendmahl als Zeichen und Ausdruck schon bestehender Einheit oder als Einheit bewirkendes Zeichen«18 erwiese sich aus dem Blickwinkel einer von einer Phänomenologie der Gabe her argumentierenden Theologie als zu kurz greifend. Mögliche Antworten auf diese Fragen, wie sie vor zwei Generationen in der die Konfessionen übergreifenden »Liturgischen Bewegung« intensiv diskutiert wurden19 und angesichts von Ökumenischen Kirchentagen bzw. römischen Positionspapieren z.Zt. wieder

15

16

17

18

19

(1983) 215–238. – Dazu vom Vf.: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, Paderborn u.a.: Schöningh (2005) 320–328. Vgl. Walter KASPER: Die apostolische Sukzession als ökumenisches Problem, in: Wolfhart Pannenberg (Hg.): Lehrverurteilungen – kirchentrennend? III. Materialien zur Lehre von den Sakramenten und vom kirchliche Amt, Freiburg i.Br.: Herder – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1990) 329–349. Margit ECKHOLT: ›Der Gast bringt Gott herein‹ (Romano Guardini). Kulturphilosophische und hermeneutisch-theologische Überlegungen zur eucharistischen Gastfreundschaft, in: Joachim Hake (Hg.): ›Der Gast bringt Gott herein‹. Eucharistische Gastfreundschaft als Weg zur vollen Abendmahlsgemeinschaft, Stuttgart: Kohlhammer (2003) 11–30, hier 28f. Theodor SCHNEIDER: Zeichen der Nähe Gottes. Grundriß der Sakramententheologie, Mainz: Grünewald (41984) 179. Ganz in diesem Sinne wäre ja das berühmte Wort Augustins zu verstehen: »Empfangt was ihr seht, damit ihr immer mehr werdet, was ihr seid: Leib Christi!« (Sermo 272 [PL 38, 1247f.]; Sermo 227 [PL 38, 1099].) Heinrich FRIES/Karl RAHNER: Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit, Freiburg i.Br.: Herder (1983) 149f. Vgl. Vf.: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, aaO. 310–320.

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

121

die Gemüter bewegen20, sollen am Ende der hier vorgelegten Ausführungen in einer Art erinnerndem Ausblick auf ihre theologische Tragfähigkeit befragt werden.21 2. EINBLICK »WELT IM MODUS DES DATIVS«: VERSUCH ÜBER EINE PHÄNOMENOLOGIE DER EUCHARISTISCHEN GABE 2.1. Gott: Schöpfer des Seins (Kenneth L. Schmitz) In einem schmalen, aber äußerst gewichtigen Büchlein, das den Titel trägt: Das Geschenk des Seins: die Schöpfung [1982/1995]22, entwirft Kenneth L. Schmitz im Ausgang von Thomas von Aquin eine Ontologie der Gabe, die ihre eigentliche und tiefste Begründung in der radikalen Geschaffenheit alles Seienden, in der creatio ex nihilo findet. Ausgehend von der alltäglichen Beobachtung, daß »ohne Freigiebigkeit […] das Leben [stirbt]«23, und geleitet von der Einsicht, »daß wir uns selbst eigentlich nichts [selber] schenken können«24, weil zu einem wahren Geschenk immer das Moment des Passiven, des 20

21

22

23 24

Vgl. Johannes BROSSEDER/Hans Georg LINK (Hg.): Eucharistische Gastfreundschaft, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag (2003); Joachim HAKE (Hg.): ›Der Gast bringt Gott herein‹. Eucharistische Gastfreundschaft als Weg zur vollen Abendmahlsgemeinschaft, aaO.; Silvia HELL/Lothar LIES (Hg.): Amt und Eucharistiegemeinschaft, Innsbruck: Tyrolia (2004) – drei Textsammlungen, die im zeitlichen Umfeld der ersten Ökumenischen Kirchentages 2002 in Berlin entstanden sind. Zur Thematik vgl. auch Otto HILTBRUNNER: Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, Darmstadt: WBG (2005); ferner das Themenheft Theologie der Gastfreundschaft (4/2004) der Zeitschrift »Bibel heute« sowie Hans HABERER: Gastfreundschaft – ein Menschheitsproblem. Überlegungen zu einer Theologie der Gastfreundschaft, Aachen: Shaker Verlag (1997). Soweit ich sehe, kommt Rolf ZERFASS das Verdienst zu, als erster die theologische Bedeutung des Topos »Gastfreundschaft« für unsere Zeit wiederentdeckt zu haben: Seelsorge als Gastfreundschaft, in: Ders.: Menschliche Seelsorge. Für eine Spiritualität von Priestern und Laien im Gemeindedienst, Freiburg i.Br.: Herder (1985) 11–32. Damit ist auch das treibende Motiv der hier zu verhandelnden Überlegungen benannt. Ihr Vf. sieht sich aufgrund seiner Aufgabe als Dekan des Theologischen Studienjahres immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie es denkbar sei, in unmittelbarer Reichweite zum historischen Abendmahlssaal auf dem Jerusalemer Zionsberg die in den unterschiedlichen Eucharistieauffassungen am sichtbarsten zum Ausdruck kommende Spaltung zwischen den christlichen Konfessionen zu mildern. Amerikanische Erstausgabe: The Gift: Creation, The Aquinas Lecture 1982, National Honour Society of Philosophy, Milwaukee: Marquette University Press (1982). – Dt. Übersetzung: Sebastian Greiner, Einsiedeln – Freiburg i.Br.: Johannes (1995). Kenneth L. SCHMITZ: Das Geschenk des Seins: die Schöpfung, aaO. 62. Ebd. 58. – »Wenn das, was wir erhalten, völlig in unserer Macht steht, ist es nicht im eigentlichen Sinne Geschenk.« (ebd. 58f.)

122

III. Welt im Modus des Dativs

Unvorhergesehenen, des Bedingungslosen und Unverdienten gehört, stellt Schmitz die Frage, ob sich hieran nicht Grundlegendes in Bezug auf das Sein des Menschen insgesamt ablesen lasse. Denn wo immer ein Mensch einem anderen gibt, kann er dies nur tun, weil er zuvor empfangen hat, und zwar nicht nur materielle oder geistige Güter, sondern zuallernächst das Leben selbst. Bedingung der Möglichkeit allen Geben-Könnens ist immer ein vorgängiges und grundsätzliches Empfangen-Haben: m.a.W. unsere Geschöpflichkeit.25 Was bedeutet »Geschöpflichkeit«? Sie bedeutet, daß ich den Grund meiner selbst niemals in mir selber finde. Schon die Tatsache meines bloßen Gezeugt- und Geborenseins stellt mir vor Augen, wie sehr meine Existenz verdanktes Sein ist. Die Frage des Apostels Paulus: »Was hast du, das du nicht empfangen hättest?« (1Kor 4,7) betrifft im letzten jeden Lebensbereich des Menschen.26 Der Mensch erschafft sich nicht selbst, er ist sich von (einem) anderen her gegeben – ein ontologisches Datum, hinter das zurückgehen zu wollen unmöglich ist. Wenn menschliches Leben ohne dieses unvordenkliche Sich-Gegebensein unmöglich ist, dann gibt sich darin zugleich eine Freigiebigkeit zu erkennen, die aller geschichtlichen Existenz, im letzten aber allem Seienden zugrunde liegt. Wir stoßen hier auf ein transzendentales Moment, das der Selbsterfahrung des Menschen nicht nur vorausliegt, sondern für ihn und seine Welt nachgerade konstitutiv ist. Dieses transzendentale Moment unvordenklicher Freigiebigkeit nennt Thomas von Aquin mit Bezug auf den Lehrsatz des Dionysius Areopagita das »bonum diffusivum sui«: Es ist die Natur des Guten, sich selbst zu verströmen.27 Dieses transzendentale »bonum diffusivum sui«, das allem Leben vorausliegt28, verlangt nach einer

25 26

27

28

Vgl. ebd. 91, 98. Ebd. 72: »Viele Tausende von Geschenken wurden schon über mein Leben verstreut, um die ich nicht gebeten hatte, und wahrscheinlich noch viele mehr, die ich gar nicht bemerkt habe. Nicht die kleinste technische Errungenschaft kann ich benutzen, die nicht von Unbekannten erfunden und entwickelt worden wäre; die meisten meiner Wohltäter bleiben mir unbekannt.« Ebd. 73. – STh I, q. 73 art. 3 obj. 2: »benedictio a ›bonitate‹ dicitur. Sed bonum est diffusivum et communicativum sui […].« (Vgl. Dionysios Areopagita: De div. nom. IV, 20 [PTS Bd. 33, 166. 5ff.]; vgl. IV, 4 [ebd. 147. 4–15] und IV, 1 [ebd. 143. 12 – 144. 5]). Vgl. ebd. 95f.: »Die ontologische Differenz zwischen Gebenden und Empfangenden, die ›Distanz‹, welche die Unumkehrbarkeit von Geben und Erhalten impliziert, […] kann man akzeptieren (und das ist wirklich Teil des angemessenen Empfangs), aber niemals umkehren. Der Empfänger ist für alle Zukunft davon geprägt, etwas empfangen zu haben, das er nicht zurückgeben kann. Das gilt für alle Güter: Kraft, Leben, Gesundheit, Freiheit und Wissen. Jedes dieser fundamentalen Güter kann höchstens weitergegeben, aber nicht zurückerstattet werden. Dieses Gesetz prägt die ganze Fülle des Lebens zutiefst. Es ist die unverzichtbare transzendentale

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

123

transzendentalen Empfänglichkeit und Offenheit, die ihm entspricht. Damit ist deutlich, daß der Mensch in seinem Sich-Gegebensein sich zugleich aufgegeben ist als jemand, der seine Möglichkeiten nur in Rückbindung an jenen Grund entfalten kann, dem er sich verdankt. Denn im Geben und Empfangen finden wir einerseits »ein Moment absoluter Verdanktheit«, das uns auf einen in seiner Reinheit unvordenklichen »Akt« verweist: den der Schöpfung; andererseits finden wir darin »ein Moment absoluter Rezeptivität, die – auf nichts hinweist.«29 Der Grund sowohl für das eine (unvordenkliche Transzendentalität jeglichen Gebens) als auch für das andere (absolute Rezeptivität, der nichts vorausliegt) ist offensichtlich: Ein wirkliches, reines Schenken ist immer ein zutiefst schöpferischer Vorgang; hier wird ins Sein gerufen, was vorher nicht war.30 – Spätestens an dieser Stelle wird unhintergehbar, wie sehr ein wahres Geschenk »etwas Absolutes an sich [hat].«31 Zugleich stellt sich die Frage, wie dieses Absolute unter den kategorialen Bedingungen des Menschlichen bzw. Geschichtlichen je in Erscheinung treten kann. Schmitz’ens Antwort ist eindeutig: Das Absolute, das jedem wahren Geschenk eignet, tritt immer dort in Erscheinung, wo ein Mensch jenseits aller Reziprozität32 aus einer Haltung der reinen Empfänglichkeit lebt. Eine solche Haltung verschafft sich Ausdruck im selbstvergessenen, liebenden Dank. Mehr noch: Im Vollzug des Dankens gibt sich dem Menschen sein Gegebensein überhaupt erst zu erkennen; hier wird er sich seines Sich-immer-schon-Empfangen-Habens recht eigentlich erst bewußt. Im liebenden Dank rührt der Mensch denn auch an den unvordenklichen Grund seiner Existenz33; hier leuchtet ihm auf, was die Welt im Innersten zusammenhält.

29

30

31 32 33

Güte, die zur Begründung und Aufrechterhaltung einer dynamischen Vielfalt notwendig ist, die Verschwendung des Lebens selbst.« Ebd. 150 (Kursivierung J.N.). – Vgl. zum Ganzen den Durchgang ebd. 115–149. Die einschlägigen Stellen bei Thomas, auf welche Schmitz sich in diesem Zusammenhang bezieht, finden sich im wesentlichen in der secunda pars der Summa contra gentiles, dort vor allem die Artikel 6–19, 52–54. Ebd. 48: »Schöpfung impliziert Empfang eines Gutes, das in keiner Weise geschuldet ist; es existiert kein Empfänger, sondern nichts als reiner Empfang. Vor der Gabe war nichts.« Vgl. ebd. 148: »In der Freisetzung des Aktes schafft der Schöpfer zugleich die Bedingungen für den Empfang des Aktes; er schafft, was immer zum Empfang seiner eigenen Mitteilung erforderlich ist. [›Deus simul dans esse, producit id quod esse recipit: et sic non oportet quod agat ex aliquo praeexistenti.‹ ‹Thomas von Aquin: De pot. dei q. 3, art. 1, ad 17m›.]« Ebd. 60. Vgl. ebd. 69–73. 150. Vgl. ebd. 77–80.

124

III. Welt im Modus des Dativs

2.2. Gott: jenseits des Seins (Jean-Luc Marion) Wo eine scholastisch argumentierende Ontologie der Gabe endet (nämlich bei der auf die Schöpfung als creatio ex nihilo verweisenden Transzendentalität menschlichen Gebens und Empfangens), setzen die kritischen Überlegungen der neueren Phänomenologie ein. Auch Jean-Luc Marion34 unterstreicht, ähnlich wie Kenneth L. Schmitz, daß einem absichtslosen Geben und Empfangen etwas Absolutes innewohnt. Gerade aber weil dies so ist, stellt er noch einmal radikaler die Frage, wie unter den kategorialen Bedingungen des Menschlichen (Intentionalität des Bewußtseins, Selbstbehauptung des Willens) ein solches nicht-intentionales Geben und Empfangen möglich sein kann. In zwei wichtigen Aufsätzen, die im Umfeld seiner Arbeiten zur Phänomenologie der Gegebenheit (Phénoménologie de la 34

Marions Werke werden mit folgenden Siglen zitiert: IED (L'Idole et la distance. Cinq études, Paris: Grasset [21989]); DSE (Dieu sans l'être, Paris: Quadrige/P.U.F. [21991]); PC (Prolégomènes à la charité, Paris: E.L.A./La Différence [22000]); RED (Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris: Épiméthée/ P.U.F. [1989]); CV (La croisée du visible, Paris: P.U.F. [31996]); ED (Étant donné. Essai d'une phénoménologie de la donation, Paris: Épiméthée/P.U.F. [1997]); DS (De surcroît. Études sur les phénomènes saturés, Paris: P.U.F. [2001]); INTIMITÄT (Intimität durch Abstand: Grundgesetz christlichen Betens, in: IKaZ 4 [1975] 218–227); STRENGE (Die Strenge der Liebe, in: Bernhard Casper [Hg.]: Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg i.Br./München: Fink [1981] 165–187 [= DsE, Kap. VII, aaO. 259–277: La dernière rigueur, übersetzt von Ludwig Wenzler]); PROTOTYP (Der Prototyp des Bildes, in: Alex Stock [Hg.]: Wozu Bilder im Christentum? Beiträge zur theologischen Kunststheorie, St. Ottilien: EOS [1990] 117–135. [Übersetzt von Sabine Ullrich, Reinhard Hoeps, Alex Stock.] Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel: Le prototype de l'image, communication donné au colloque international Nicée II, tenu au Collège de France, les 2–4 octobre 1986, éd. par François Boespflug et Nicolas Lossky, sous le titre: Nicée II, 787–1987. Douze siècles d'images religieuses, Paris [1987], wiederveröffentlicht unter dem Titel Le prototype et l'image als Kap. IV in CV 117–154); IDOL UND BILD (Idol und Bild, in: Bernhard Casper [Hg.]: Phänomenologie des Idols, Freiburg i.Br.: Fink [1981] 197–132. [= DsE, Kap. I, aaO. 17– 37: L'idole et l'icône, übersetzt von Ludwig Wenzler); LA CONSCIENCE DU DON (La conscience du don, in: Jean-Noël Dumont/Jean-Luc Marion [Hg.]: Le don. Colloque interdisciplinaire. Théologie, Philosophie, Psychologie, Sociologie [Lyon 24–25 novembre 2001], Lyon: Éditions de l’Emmanuel/Le Collège Supérieur [2001] 59–73); LA RAISON DU DON (La raison du don, in: Philosophie. Revue trimestrielle, Numéro 78: Jean-Luc Marion, Paris: Les éditions du minuit [3/2003] 3–32); PARISER GESPRÄCH (Auf der Suche nach einer neuen Phänomenologie. Erstes Gespräch des Bonner Oberseminars mit Jean-Luc Marion am 13. Juni 1997, in: Ders./Josef Wohlmuth: Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn: Bohrengässer [2000] 35–52). – Die Übertragungen ins Deutsche sind vom Vf. in der Regel selbst angefertigt. In den Fußnoten erscheint dann jeweils der französische Originaltext. Eine Gesamtbibliographie der Werke Marions (datierend bis Januar 2004) findet sich als Anhang zur deutschen Übersetzung von La croisée du visible: Die Öffnung des Sichtbaren, eingeleitet und aus dem Französischen übersetzt von Géraldine Bertrand und Dominik Bertrand-Pfaff, Paderborn u.a.: Schöningh (2005) 113–119.

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

125

donation35) entstanden sind, skizziert Marion die Aporien, in die man gerät, sobald man den Versuch unternimmt, jenes UnverrechenbarAbsoluten, das dem Phänomen der Gabe eignet, ansichtig zu werden.36 (1) Aporetik der Gabe In der Tat erscheint die Gabe bei genauerem Hinsehen als ein widersprüchliches Phänomen. Denn was eine Gabe im Wortsinn auszeichnet: (i) absichtslos von jemandem gegeben zu sein, (ii) umsonst von jemand anderem empfangen zu werden, (iii) in sich selbst reines Geschenk und nichts sonst – all diese Eigentümlichkeiten scheinen zu verschwinden, sobald man beginnt, auf sie zu achten. Denn kaum, daß die Gabe vom Geber gegeben und vom Empfänger empfangen ist, ist sie vom Geber auch schon als Gegebenes und vom Empfänger als Empfangenes identifiziert. Im selben Moment riskiert die Gabe, sich wider sich selbst zu kehren; denn nun hebt jener Zirkel an, der auf seiten des Gebers Genugtuung über die eigene Großzügigkeit hervorruft bzw. Dank von seiten des Empfängers erwarten läßt; auf seiten des Empfängers wiederum macht sich das Gefühl einer Verpflichtung gegenüber dem Geber breit; oder er überschlägt unwillkürlich den Wert der Gabe und entkleidet sie dadurch ihres Geschenkcharakters; oder er distanziert sich stillschweigend von ihr, indem er sie als ein im Grunde geschuldetes, nur scheinbar freiwillig gegebenes Gut betrachtet – so daß in genau dem Maße, in welchem die Gabe von Geber und Empfänger als Gabe sistiert wird, jenes Unverrechenbare verschwindet, was sie zur Gabe macht. Am Ende scheint die Gabe alles mögliche zu sein, nur nicht mehr Gabe. Kaum gegeben, kaum angenommen, ist ihr Tausch- bzw. Warencharakter am Tag, den zu taxieren sowohl der Geber als auch der Empfänger nur schwer umhin kommen. Man sieht an diesen Beobachtungen, daß

35

36

Zur Thematik »Phänomenologie der Gegebenheit« sind in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu zählen: Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie [1989], ein erster, im wesentlichen noch philosophiegeschichtlich orientierter Angang; Étant donné. Essai d'une phénoménologie de la donation [1997], Marions phänomenologisches Hauptwerk; De surcroît. Études sur les phénomènes saturés [2001], einige mehr skizzenhaft formulierte Angänge zu Fragen, die in Étant donné offengeblieben waren. Das Folgende in Anlehnung an La conscience du don, passim; La raison du don, passim. Beide Aufsätze nehmen die Thematik des zweiten Buches von Étant donné (§§ 7–12) auf, in welchem Marion eine radikale Reduktion der Gabe durchführt (ED 103–168).

126

III. Welt im Modus des Dativs

das Moment des Intentionalen bzw. des Objektivierenden aus unserem Geben und Empfangen kaum zu verbannen ist.37 Bei all diesen Überlegungen geht es Marion natürlich nicht um irgendwelche moralischen Probleme. Am Beispiel einer Aporetik der Gabe wird vielmehr die fundamentale Frage durchgespielt, ob (und wenn ja, wie) ein Nicht-Objektivierbares unter den Bedingungen der objektivierenden Vernunft unserem Bewußtsein erscheinen kann.38 37

38

Vgl. La conscience du don, aaO. 60; La raison du don, aaO. 4ff., 10ff. – Daß der Gabe immer etwas Zwiespältiges anhaftet, erhellt schon aus dem Sprachbefund des ahdt. und mhdt. Wortes »gift«: einerseits Gabe, Geschenk, Mitgift; andererseits tödliche Phiole. Ähnlich das gr.-lat. »dos«/dèj (dîron), dem das »antidotum«, das Gegengift, gegenübersteht. Ein euphemistischer Begriff im Frz. ist »le poison«, eigentlich der Willkommenstrunk. (DER DUDEN in 10 Bdn., Bd. 7: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim-Wien-Zürich: Bibliographisches Institut [1963] 223, s.v. »Gift«.) Im Deutschen findet sich die Ambivalenz der Gabe in dem Ausdruck »Schöne Bescherung« wieder. Daß die mythische Pandora, mit aller Götter Gaben begabt, ein verderbenbringendes Geschöpf ist, weiß Hesiod zu berichten: »[…] ÑnÒmhne de tˇnde guna√ka,/Pandèrhn Óti p£ntej 'OlÚmpia dèmat' ⁄contej,/ dîron œdèrhsan […].« (Erga 57–105, hier 80ff.) Vgl. zum Ganzen neben den Klassikern Marcel MAUSS (Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [1923/24]) und Jean STAROBINSKI (Gute Gaben, schlimme Gaben. Zur Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt a.M.: Fischer [1994]) auch die lehrreiche Studie von Martin M. LINTNER: Eine Ethik des Schenkens. Von einer anthropologischen zu einer theologisch-ethischen Deutung der Gabe und ihrer Aporien, Münster: Lit (2006). Theodor W. ADORNO konstatiert lakonisch: »Die Menschen verlernen das Schenken«. Die Industrie rechne von vorneherein mit dem Verfall des Schenkens. Dieser spiegele sich »in der peinlichen Erfindung der Geschenkartikel, die bereits darauf angelegt sind, daß man nicht weiß, was man schenken soll, weil man es eigentlich gar nicht will«. Der Tatbestand, daß Geschenke zu Waren degeneriert seien, weise darauf hin, daß die Betreffenden das Schenken nicht einfach nur verlernt, sondern nie gewollt haben. Denn wirkliches Schenken habe »sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten«, eine Ansicht, die in einer kapitalistischen Gesellschaft hoffnungslos nostalgisch wirken müsse. Daß die kapitalistische Gesellschaft nicht etwa nur als mit Mängeln behaftet, sondern in ihrem Innersten als pervers erscheine, werde auf exemplarische Weise deutlich in den medial als Schauspiel inszenierten Wohltätigkeitsveranstaltungen: Pervertierung der Gabe als eines Unverrechenbaren durch ihren strategischen Mißbrauch als ökonomische Vereinnahmung. Dagegen gelte: »Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken.« In ihm leuchte etwas auf vom unvereinnahmbaren Grund allen Lebens: Gnade! (Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1987] 46f.) In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen zu verstehen: »Suivant les exigences proprement métaphysique de la rationalité [sc. les exigences de la Mathesis Universalis], le don ne peut se penser qu'en se transposant en l'échange« (La raison du don, aaO. 8). »L'échange suffit […] à rendre raison – à rendre son dû au don (dans l'économie), à rendre sa cause à l'effet (dans l'expérience). La raison toujours suffit et sa sufficance rétablit l'égalité, l'intelligibilité et la justice« (ebd. 9f.). »Leibniz souligne fermement cette universalité du principe de raison suffisante s'étendant jusqu'à la contingence de l'événement: [‹…› ›Nos raisonnements sont fondés sur le Grand Principe qu'] aucun fait saurait se trouver vrai, ou existant, aucune

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

127

Denn wenn es der Gabe eigentümlich ist, radikal absichtslos zu sein, jenseits der Objektivationen unseres kalkulierenden Denkens reines »Ereignis«39, dann entwindet sie sich von vorneherein unserem intentionalen Zugriff. Nicht zufällig stellt daher für Marion das Phänomen der Gabe (le phénomène du don) die Probe aufs Exempel dar, ob sich unserem Bewußtsein ein Phänomen in seiner reinen Phänomenalität jemals zu erkennen geben kann. Wo immer nämlich ein Gegebenes (le donné) sich dem objektivierenden Zugriff entzieht; wo immer es immun bleibt gegenüber den Operationen des Taxierens, Kalkulierens und Bewertens; wo immer also das Gegebene (le donné) Gabe (le don) im echten Sinn des Wortes ist, reine Gabe und nichts als Gabe – da ist zu fragen, ob es unter den Bedingungen unserer systematisierenden Vernunft nicht unsichtbar bleibt und bleiben muß, unauffällig, unbemerkt, den Blicken verborgen, gerade aufgrund seiner Nicht-Intentionalität dem Bewußtsein, das immer Bewußtsein von etwas ist, verhüllt und verschleiert, in seinem schlichten Gegebensein (la donnée) verkannt.40 Anders als Jacques Derrida, der diese Frage unbedingt bejaht41, glaubt nun Marion, daß im Moment des Gebens selbst (»durant le fragile moment de la donation«) sich ein Horizont aufspannt, in welchem die Gabe noch nicht intentional depraviert ist, sondern (nach Art einer Urimpression) in der ihr eigenen Phänomenalität unserem Bewußtsein erscheint. Im Moment des Gebens erscheint die Gabe als das, was sie ist: ein rein Gegebenes (»un pur donné«) und weiter nichts. Wo man die Gabe auf ihr Gegebensein zurückführt (»réduire le don à lui-même, donc à la donation – son horizon propre«) – also weder in ihr einen Tauschgegenstand erblickt noch sie zur stillschweigenden Ablöse uneingestandener Verbindlichkeiten depraviert noch sie als klammheimliche Bestechung beargwöhnt –, da gibt man ihr Gelegenheit, sich als sie selbst zu zeigen (»laissant le don apparaître sans lui imposer de se dissoudre dans l'échange«): nämlich als ein vollkommen

39

40

41

énonciation véritable, sans qu'il y ait une raison suffisante pourquoi il en soit ainsi et non pas autrement‹ (Monadologie § 32)« (ebd. 10, Anm. 12). »Ereignis« freilich nicht im Sinne Heideggers, sondern im Sinne eines Geschehens, das sich, statt den Strukturen des Seins verhaftet zu sein, von vorneherein einer Logik des Glaubens und der Liebe einschreibt. Vgl. dazu den letzten Aufsatz in Prolégomènes à la charité: »Le don d'une présence« (PC 147–178). La conscience du don 69; La raison du don 5: »Ou bien le don reste conforme à la donation, mais n'apparaît jamais.« Jacques DERRIDA: Donner le temps, I. La fausse monnaie, Paris: Galilée (1991) 17: »Je ne dis pas qu'il n'y a de don. Je dis que, s'il y a du don, il reste invisible, inaperçu.« Marions Antwort auf Derrida findet sich in ED 108–114. – Vgl. dazu auch John D. CAPUTO: Apôtres de l'impossible: sur Dieu et le don chez Derrida et Marion, in: Philosophie. Revue trimestrielle, Numéro 78, Paris: Les éditions du minuit (3/2003) 33– 51.

128

III. Welt im Modus des Dativs

als es selbst erscheinendes, von jeder intentionalen Transzendenz unseres Bewußtseins ungetrübtes Phänomen (»pour apparaître, le don réduit à la donation ne devrait que se donner, sans plus et sans reste«).42 Wie schon gesagt, geht es Marion bei all diesen Überlegungen nicht um ein moralisches Problem, sondern um die heikle Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines sich selbst gebenden und insofern nicht-objektivierbaren, weil jenseits unserer Intentionen angesiedelten Geschehens. Damit sind wir nun aber auch wieder bei dem Problem angelangt, mit dem uns eine transzendental argumentierende Ontologie der Gabe, wie Kenneth L. Schmitz sie vorgelegt hat, behaftet: Wie soll es denkbar sein, daß im liebenden Dank der Mensch an den unvordenklichen Grund seiner Existenz rührt? Inwieweit ist es statthaft, zu behaupten, hier zeige bzw. gebe sich, w as imme r mich in meinem Dasein erhält, wem imme r ich mich in meinem Dasein verdanke? (2) Theologie im Spannungsfeld von Phänomenologie und Metaphysik Es ist hier selbstverständlich nicht möglich, die einschlägigen Fragen, die in diesem Zusammenhang von seiten der klassischen Phänomenologie aufgeworfen werden, auch nur ansatzweise zu diskutieren.43 Auf jeden Fall aber ist offensichtlich, daß Marion sich anheischig macht, die Möglichkeiten der Phänomenologie (über Husserl und Heidegger hinaus) bis ins Äußerste auszureizen – bis hin zum Versuch, das schlechterdings Uneinholbare durch eine Reihe fortschreitender phänomenologischer Reduktionen doch noch einzuholen: nämlich das Aufblitzen dessen, was als das Unmittelbare das über den Augenblick hinaus Unmitteilbare ist44 und was Marion deswegen mit einer glücklichen Formulierung als »absolutes« bzw. »gesättigtes« 42 43

44

Alle Zitate: La raison du don 13f. Vgl. dazu als einen ersten möglichen Einstieg das Husserl-Kapitel im zweiten Band der Religionsphilosophie von Jean GREISCH: Le Buisson ardent et les lumières de la raison. L'invention de la philosophie de la religion, Bd. II: Les approches phénoménologiques et analytiques, Paris: Les Éditions du Seuil (2002) 17–70, auf das sich dann ebd. 291–334 die kritische Darstellung des Offenbarungsbegriffs bei Marion bezieht. Hinsichtlich der Auseinandersetzung Marions mit Husserl und Heidegger, wie er sie in Réduction et donation [1989] vorgelegt hat, vgl. in der ausgezeichneten Studie von Robyn HORNER: Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the Limits of Phenomenology, New York: Fordham University Press (2001) die Seiten 19–44. Hier ist auch das Leitwort der Marion’schen Phänomenologie einzuordnen, das in den drei Bänden seines phänomenologischen Triptychons refrainartig wiederkehrt: »Autant de réduction, autant de donation.« (Vgl. ReD 303ff.; ED 23–29; DS 16–31.) Dazu insgesamt auch Josef WOHLMUTH: Zur Phänomenologie Jean-Luc Marions – Eine Einführung, in: Jean-Luc Marion/Ders.: Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, aaO. 2–12, bes. 4–10.

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

129

oder »erfülltes Phänomen« (»phénomène saturé«) bezeichnet.45 Unter die Vielzahl von möglichen gesättigten, d.h. phänomenologisch nicht mehr weiter reduzierbaren Phänomenen zählt Marion auch das eucharistische Gabegeschehen – ein zunächst, wie es scheint, intentional sich vollziehender Gedächtnisakt, der darüber hinaus religionsphänomenologisch als kultische Ausdruckshandlung beschrieben werden kann. Was sind die Gründe, die Marion veranlassen, einem intentionalen Gedächtnisakt bzw. einer kultischen Ausdruckshandlung eine Phänomenalität zuzusprechen, die nicht mehr reduzierbar ist auf die Intentionalitäten menschlichen Denkens und Handelns und dem (bzw. der) deswegen neben aller unbezweifelbar ästhetischen auch und vor allem eine theologische Dignität im eigentlichen Sinn des Wortes zukommt? Ein ganz wesentlicher Grund findet sich in der metaphysikkritischen Haltung der Phänomenologie; eine solche Kritik liege im ureigenen Interesse der Theologie.46 Folgt man in diesem Punkt Marions Darlegungen, dann steht eine Theologie der Eucharistie, die die Gegenwart der Hingabe Christi im Vollzug der liturgischen Memoria zu bedenken versucht, vor folgendem Problem: Wie soll in bezug auf Gott noch gedacht und gesprochen werden, wenn klar ist, daß zunächst jeder Bezug, den der Mensch zu Gott aufnimmt, von einem vorausgesetzten Standpunkt erfolgt? Liegt dann nicht der grundsätzliche Verdacht nahe, nicht nur jede Form menschlicher Gottrede, sondern auch jeglicher Gottesdienst (und insofern auch das eucharistische Gabegeschehen) sei mehr oder weniger intentional depraviert? Wenn der Mensch von bzw. zu Gott rede, rede er zunächst und

45

46

Was Marion im einzelnen unter einem »gesättigten Phänomen« versteht, kann hier nicht näher dargelegt werden. Darunter fallen u.a. idolische Wahrnehmungsvorgänge, so wenn bspw. von einem Kunstwerk eine unstillbare Faszination bzw. eine überwältigende Blendung ausgeht, weil sich in ihm der Blick des Betrachters wie in einem Spiegel gleichsam verdoppelt. Darunter fallen aber auch sensitive Affektionen, welche die jeweiligen Intentionalitäten unseres Bewußtseins überschreiten: bspw. eine ekstatische Freude, ein zerreißender Schmerz, eine plötzlich aufbrechende Erinnerung, existentiale Angst, eine Gewissensnot, ein schockartiges Sich-Verlieben o.ä. – Eine knappe Charakterisierung vier verschiedener Grundtypen gesättigter Phänomene findet sich in ED 314–325; vgl. dazu genauerhin auch die ausführlichen Studien II–V in DS 35–63; 65–98; 99–124; 125–153. Hier wird, nebenbei bemerkt, deutlich, daß Marions phänomenologische Studien immer schon ein gewisses theologisches Interesse verraten. Ich halte es deswegen auch für schwierig, gerade im Rahmen seiner phänomenologischen Arbeiten eine eindeutige Unterscheidung zwischen dem Philosophen Marion und dem Theologen Marion vorzunehmen. Im folgenden berücksichtige ich deshalb solche Differenzierungen nicht, auch auf die Gefahr hin, allfällige Grenzziehungen bei Marion zu verwischen.

130

III. Welt im Modus des Dativs

vor allem von bzw. zu sich selbst?47 Marion sieht für dieses schwierige Problem nur eine mögliche Lösung: Wenn Gott der lebendige Schöpfergott sein soll, wie ihn die Heilige Schrift bekennt, und nicht ein Begriffsgötze, den wir uns in unserem Denken und Beten zurechtlegen, dann muß selbst noch die für das abendländische Denken grundlegende Differenz zwischen dem Sein als Ganzem und dem Sein des je einzelnen Seienden von Ihm überstiegen bzw. unterfangen werden – dann muß Gott sein »jenseits des Seins« (œp◊keina tÁj oÙs∂aj).48 Ist Gott jenseits des Seins, so kann Er dem Menschen niemals begegnen als ein Seiendes unter Seienden; ein solcher Gott wäre nicht der transzendente Gott, sondern ein Götze. Sondern eine Gegenwart (besser noch: Entgegenkunft) Gottes als Gott scheint plausibel nur phänomenologisch beschreibbar, und zwar in der Form, daß die liebende personale Tiefe, als die Gott sich verströmt (bonum diffusivum sui), das Schöpfungsgeheimnis – nämlich die Differenz zwischen Gott als dem Schöpfer des Seins und dem Sein des Seienden – überhaupt erst offenbar macht.49 Von Gott wäre dann nicht zu reden als einem höchsten Seienden, einem monolithischeinpersonalen Herrscher, sondern eher als einem dreifaltig-dreieinen Gabegeschehen, das selbst noch die extremste Differenz in sich einbeschließt: die Differenz von Ich und Nicht-Ich bzw. von Ich und Du. Zu reden wäre von Gott als einer unbeschränkten, freigiebig-lassenden potentia, welche durch die Eröffnung eines Spielraumes von unvordenklicher Herkunft, unausdenklicher Hinkunft und je gegenwärti47

48

49

Vgl. Der Prototyp des Bildes 117f. – Ähnlich auch die Frage von Robyn HORNER in der Einleitung zu ihrer glänzenden Marion-Interpretation: »If God is utterly greater than that which human experience can contain, how is God to enter into that experience at all?« (Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the Limits of Phenomenology, aaO. X.) Das theologische Anliegen, Gott als Gott zu denken und nicht als ein Seiendes unter anderen, ist denn auch der Grund für Marions zunächst befremdlichen Buchtitel »Dieu sans l'être«. Marion will damit nicht insinuieren, daß es Gott nicht gebe; vielmehr soll im Überstieg allen Seinsdenkens die Größe Gottes gewahrt bleiben. Gott ist so groß, daß Er selbst die grundlegendste aller Differenzen, nämlich die ontologische zwischen dem Sein als Ganzem und den vielen konkreten Einzel-Seienden noch übersteigt. Gott ist buchstäblich »jenseits des Seins« (œp◊keina tÁj oÙs∂aj), wie Platon mit Bezug auf das Gute (tÕ ¥gaqon) einmal sagte. (Vgl. Resp. 509b.) Marion weist wiederholt darauf hin, daß er diese Sichtweise vor allem Hans Urs von Balthasar verdanke. Neben Henri de Lubac habe ihm vor allem Balthasar geholfen, »einen anderen Zugang zu Gott [zu] finden als [den] durch das Sein.« (Pariser Gespräch, 39.) Daß Gott außerhalb des Seins gedacht werden könne, sei nur möglich unter Zugrundelegung einer Logik der Liebe: »Seul l'amour n'a pas à être. Et Dieu aime sans l'être« (DsE 195). Deshalb gelte: »digne de foi est seule la charité« (PC 144 unter Hinweis auf Balthasars programmatischen Buchtitel Glaubhaft ist nur Liebe).

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

131

ger Ankunft Entsprechungsverhältnisse zwischen »Ihm«, dem in der Form des Dativ bzw. Ablativ erscheinenden Quell alles Guten (quo, in quo), und dem »Nicht-Ihm«, dem Menschen als dem Adressaten jener freigebenden Güte (cui) allererst erschafft50 und dadurch »das, was nicht ist, ins Dasein ruft« (Röm 4,17b: [qeoà] kaloàntoj t¦ m¾ Ônta æj Ônta)51. Marion nimmt hier Überlegungen auf, wie Hans Urs von Balthasar sie im Schlußkapitel des dritten Bandes seiner theologischen Ästhetik folgendermaßen formuliert hat: »Gott ist der GanzAndere nur als Non-Aliud, das Nicht-andere […]: als der, welcher alle endlichen Wesen in den einen Mantel seines unteilbaren Seins hineinnimmt, soweit sie – als ›Wesen‹, die nicht er sind, aber ihre Möglichkeit seiner Macht, und ihre Vermöglichkeit (ihn als den Wirklichen zu fassen und bei sich zu bergen) seiner erfinderischen Freiheit verdanken – in unendlichem Abstand an seiner Wirklichkeit teilzunehmen vermögen.«52 (3) Offenbarung: Nähe durch Abstand »In unendlichem Abstand an Gottes Wirklichkeit teilnehmen« – was hat man sich darunter vorzustellen? Marion gibt Antwort, indem er den Begriff der Distanz zum Grundbegriff nicht nur der Phänomenologie, sondern auch und vor allem der Theologie erhebt53: Die unüberschreitbare Distanz zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann gelesen werden als eine notwendige (wenn auch nicht schon hinreichende) Bedingung, daß beide miteinander kommunizieren können. Denn nur voneinander Unterschiedenes vermag in Beziehung zueinander zu treten; Identität ist der Tod jeglicher Kommunikation.54 Wie aber soll das Geschaffene, Endliche, Sterbliche jemals 50

51

52

53 54

Zur theologischen Valenz des Ablativischen als Urform korreflexiven Gottdenkens vgl. Elmar SALMANN: Neuzeit und Offenbarung, aaO. 271–315; DERS.: Presenza di spirito. Il cristianesimo come gesto e pensiero, Padua: Messaggero (2000) 312–323. So ist es denn auch nur konsequent, daß für Marion die Frage, »how God is to enter into human experience«, unter dem Titel verhandelt werden muß: »Rethinking God as Gift«. (Robyn HORNER, Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the Limits of Phenomenology, aaO. X. Vgl. ebd. 244–247.) Hans Urs VON BALTHASAR: Herrlichkeit III/1 – Teil II (Im Raum der Metaphysik. Neuzeit), Einsiedeln: Johannes (21965) 956. Ähnlich Elmar SALMANN: Neuzeit und Offenbarung, aaO. 88f. – Marion weist in L'idole et la distance ausdrücklich auf diese und weitere Stellen im Schlußkapitel von H III/1 – Teil II (aaO. 941–983) hin und bezeichnet sie in kritischer Zustimmung als die seiner Philosophie am ehesten kongruente Art theologischer Rede. (Vgl. IeD 307–315, und dort bes. Anm. 50.) Für das Folgende IeD passim; DsE 15–37. Dies ist auch der Grund, weshalb Marion allen mystischen Verschmelzungsphantasien eine Absage erteilt: »Gebet im christlichen Sinn erhebt sich über jede Art von Verschmelzung mit dem Göttlichen und jede Identifikation mit dem Absoluten. Es schreibt sich in die Distanz ein, die zunächst als Abwesenheit, dann als Entäußerung, schließlich als trinitarische Sohnesdistanz erfahren wird.« (Intimität, 226.)

132

III. Welt im Modus des Dativs

am Unendlichen, Unsterblichen, Nicht-Geschaffenen teilhaben? Worin besteht neben der notwendigen nun auch die hinreichende Bedingung für eine solche Kommunikation? Auch hier schließt sich Marion (und zwar über dessen Maximus-Interpretation) an Balthasar an: »Nur durch die Liebe [ist] die geschaffene Natur […] der ungeschaffenen geeint.«55 Denn die Liebe setzt Distanz voraus und überwindet sie zugleich, ohne doch je die Distanz in Identität zu überführen56 – im Gegenteil: Wirkliche Liebe obliegt dem Gesetz der inversen Relation. Die Erfahrung der Alterität wächst im gleichen Maße wie die Erfahrung der Intimität und umgekehrt: Je näher ich dem anderen komme, umso tiefgründiger lerne ich ihn in seiner Unterschiedenheit kennen; je mehr ich ihm geeint bin, umso mehr werde ich inne, wie sehr er im Vergleich zu mir ein Anderer ist.57 Was schon unter Menschen gilt, gilt erst recht im Verhältnis des Menschen zu Gott: »Statt ihn zu verringern, wächst mit der Nähe des Menschen zum Göttlichen der Abstand, der ihn vom Göttlichen unterscheidet.«58 Und umgekehrt: Je radikaler sich Gott offenbart, umso spürbarer wird dem Menschen die Grenze, die Gott im Vergleich zu ihm den Ganz-Anderen sein läßt.59 Woraus folgt: »Der Rückzug des Göttlichen stellt [nicht nur phänomenologisch, sondern auch theo-

55

56

57

58

59

Ähnlich auch Remi BRAGUE: Was heißt christliche Erfahrung?, in: IkaZ [Communio] 5 (1976) 481–496. Maximus Confessor: Ambigua, MPG Bd. 91, 1038b – zitiert nach Intimität durch Abstand 223. Marion bezieht sich mehrfach auf Balthasars Maximus-Interpretation (Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners, Einsiedeln/Trier: Johannes [31988]): IeD 162, Anm. 53; 197, Anm. 24; 249, Anm. 65. – Vgl. auch die folgende Anm. 56. »Car l'union, en écartant la séparation, n'a point porté atteinte à la différence«, ein Wort aus den Ambigua des Maximus Confessor (MPG Bd. 91, 1056c, zitiert nach IeD 8), das Marion seinem theologischen Erstlingswerk als Votum voranstellt. »L'amour […] requiert la distance […], pour que la participation se fortifie dans le mystère de l'altérité, et la renforce. La distance ménage l'écart pour que l'amour reçoive d'autant plus intimement le mystère de l'amour. L'altérité croît autant que l'union – dans l'unique distance, antérieure et pérenne, permanente et primordiale. […] La participation ne franchit […] jamais la distance en prétendant l'abolir, mais la parcourt comme l'unique champ pour l'union. La participation s'accroît à participer de l'imparticipable comme tel, et en accroît l'imparticipabilité d'autant plus qu'elle y participe plus intimement. Le paradoxe fondamental de la participation ressortit ici à la distance.« (IeD 201f.). Ähnlich DsE 36: »[…] l'union croît à la mesure de la distinction, et réciproquement.« »L'intimité de l'homme au divin croît avec l'écart qui l'en contre-distingue, loin de le diminuer« (IeD 114). »La révélation communique l'intime même de Dieu – [c'est-à-dire] la distance ellemême« (IeD 202).

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

133

logisch gesehen] vielleicht die äußerste Figur seiner Offenbarung dar.«60 Es liegt auf der Hand, wie sehr Marion hier von der KenosisTheologie seines theologischen Mentors Hans Urs von Balthasar beeinflußt ist.61 Daß »Gott, der unüberschreitbare Horizont und grundlose Grund« allen Seins, überhaupt sichtbar werden kann als dieser Horizont und als dieser Grund, liegt in seiner unfaßbaren Möglichkeit beschlossen, sich selber radikal zurücknehmen zu können. Wo Gott sich selbst zurücknimmt, eröffnet er einen Raum, in welchem sein kann, was nicht Er ist. Gott ist (mit andern Worten) »der, der im Sich-Zurückziehen erschafft«. Man sieht auf Anhieb, daß ein Denken der Distanz, wie Marion es hier versucht, für die drei großen Themen der Theologie: Schöpfung, Trinität, Christologie von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Eine Gott frei gegenüberstehende Schöpfung ist nur denkbar, wenn Gott sich selbst zurücknimmt und in Bezug auf das von ihm Geschaffene auf Abstand geht. Das schöpferische Eröffnen eines Abstandes »hüllt [dabei] Gott [durchaus] nicht in die Maske des Abgewendeten«; vielmehr ist es gerade »der Rückzug[, der] seine Gegenwart ausstrahlt.«62 Wiederum was das innertrinitarische Leben der Gottheit anbetrifft, so ist es ein Denken der Distanz, das es allererst erlaubt, sich der Beziehung von Vater und Sohn, die im Geist der Liebe sich vollzieht, zu nähern: »Gabe und Hingabe sind die zwei Bewegungen, die in ein und demselben Abstandsverhältnis spielen. Sich dem Vater hingeben bedeutet, im Vollzug der Hingabe selbst (und d.h. in Anerkennung des Abstandes) eine unhintergehbare Alterität zu empfangen. […] Allein der Sohn ist arm genug, um der Andere des Vaters zu sein. Allein der Sohn kann in jener Alterität, die ihm der Abstand [sc. von seinem Vater] eröffnet, alles vom Vater empfangen.«63 Damit sind auch schon die wesentlichen christologischen Linien bei Marion benannt. Unter Berufung auf Kol 1,15 (¹ e≥kën toà qeoà ¢or£tou) bezeichnet Marion 60

61 62 63

»Le retrait du divin constituerait peut-être sa figure ultime de révélation.« Marion nennt dies »un paradoxe impensable«. (IeD 114.) Vgl. dazu näherhin auch IeD 122–125, 128, 137f. Wenig später wird dieses Paradox von Marion dann christologisch gedeutet: »[…] Dieu n'advient jamais plus intimement que par la médiation d'un envoyé, au point que, dans le Christ, la misère de l'envoyé et la splendeur de l'envoyeur prennent corps dans la même figure« (IeD 138). Zur christologischen Ausdeutung der inversen Relation vgl. in L'idole et la distance den Durchgang § 10: La distance filiale (IeD 139–149). Vgl. das Schlußkapitel in Herrlichkeit III/1 – Teil II, aaO. 943–983. Alle Zitate: Intimität, 222. »[…] l'abandon et le don [jouent] comme les deux mouvements de l'unique distance. S'abandonner au Père, c'est, Le désignant dans la distance, recevoir, dans le geste même du renvoi, une altérité irréductible. […] Seul le Fils est assez pauvre pour être l'autre du Père. Donc seul le Fils peut, dans l'altérité que la distance lui assure, tout recevoir de Dieu« (IeD 148).

134

III. Welt im Modus des Dativs

Christus als die Ikone Gottes in dieser Welt – d.h. als die einzig denkbare Gestalt, in welcher Gott als Gott in dieser Welt sichtbar wird64: »Die Herrlichkeit Gottes kommt uns einzig auf Umwegen entgegen, nämlich in der entäußerten Gestalt des Sohnes. Nichts Göttlicheres gibt es als die sich verbergende Herrlichkeit und die Abwesenheit einer unmittelbaren Erscheinung.«65 Man sieht hier deutlich, wie Göttlichkeit und Menschlichkeit Christi sich in einer im wörtlichen Sinne »para-doxen« Einheit in Differenz miteinander verbinden: Gerade die Knechtsgestalt Jesu, die sich aller göttlichen »Doxa« entäußert hat, wird zum Wider-Schein der göttlichen Herrlichkeit und zum unhintergehbaren Maßstab des Verhältnisses von Göttlichem und Menschlichem.66 Marion bezeichnet das Verhältnis von Vater und Sohn deshalb auch als ein »ikonisches«. Nicht eine Sichtbarkeit Gottes gibt Christus zu sehen – es ist vielmehr die Unsichtbarkeit Gottes, die auf dem Antlitz Christi erscheint. Anders formuliert: Zu sehen bekommt der Mensch an der Gestalt Christi niemals die strahlende, alles verzehrende Herrlichkeit Gottes, sondern immer nur die radikale Verborgenheit Gottes. Marion verdeutlicht dieses Paradox einer sichtbaren Unsichtbarkeit eindrucksvoll anhand der unterschiedlichen Wahrnehmung des gekreuzigten Herrn (Mk 15,39): Während die Soldaten die gaffenden Passanten mit dem Ruf zerstreuen »Geht weiter, Leute! Hier gibt’s nichts zu sehen!«, erkennt der römische Hauptmann gerade dort, wo es nichts zu sehen gibt, eine bestürzende Evidenz: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.« Alle sehen das gleiche: einen zerschundenen, entstellten Leichnam! Aber nicht alle erkennen dasselbe: die sich versichtbarende Präsenz des unsichtbaren Vaters auf dem Antlitz des Gekreuzigten.67 Im Gekreuzigten die Unsichtbarkeit des Vaters sehen: Ein solches Sehen nennt Marion »ikonische Wahrnehmung« (percéption icônique).68 Im Gegensatz zum idolischen Blick (regard appropriateur), der versucht, Gott oder das Göttliche in einem spezifischen Zeichenkontext zu erfassen, zu begreifen oder zu fixieren69 (und gerade darin erweist 64 65

66

67 68

69

Vgl. IeD 22; Idol und Bild, 121 (= DsE 28); CV 102, 135, 148; ED 334f. »La gloire du divin ne nous advient que de biais, dans la figure dépouillé du Fils. Rien de plus proprement divin, que la gloire masquée et l'absence d'immédiate apparition« (IeD 148). »L'apparition d'un Dieu ne succède plus à l'anéantissement: elle coïncide avec lui.« (IeD 148.) Der Prototyp des Bildes, 120f. (= CV 128f.). Zum Begriff der ikonischen Wahrnehmung vgl. neben Idol und Bild (= DsE 17– 37), bes. 120–123; Der Prototyp des Bildes (= CV 117–154) bes. 120–123, 133; ED 323ff.; DS, 125–153, vor allem die in CV versammelten Aufsätze. Ich kann auf die erkenntnistheoretisch prekären Zusammenhänge, in die der IdolBegriff verweist, hier nicht weiter eingehen. Tobias SPECKER, der mit einer mustergültigen Dissertation Pionierarbeit hinsichtlich der Marion-Rezeption im deutsch-

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

135

der idolische Blick seine implizite Gewalttätigkeit), zeichnet sich die ikonische Wahrnehmung durch einen Respekt vor der Alterität des Wahrgenommenen aus. Es gibt nichts zu sehen, solange sich nicht etwas zeigt! »Sehen ist ein Empfangen.«70 Und doch fordert jedes Sehen, daß man empfänglich sei für das, was sich da zeigen will.71 In dem Menschen Jesus von Nazareth den Logos zu erkennen, der Kunde gibt vom ewigen Vater, wird deshalb auch nicht dadurch möglich, daß man seine vordergründige Gestalt überspringt, sie hintergeht, womöglich gar zerbricht, um »hinter« sein Geheimnis zu kommen; es gilt vielmehr wahrzunehmen (und das erfordert immer auch, sich einzuüben in solche Wahrnehmung), daß hier ein Mensch auftritt, der radikal aus der Distanz zum Anderen hin und vom Anderen her lebt, nämlich »vom Vater her« (vgl. Joh 5,19.30) »auf den Vater hin« (vgl. Joh 8,55c; 17,4f.)72 – so sehr, daß er zum »Ort« wird, an welchem für seine Jünger die Alterität des Anderen, des Vaters sichtbar wird (vgl. Joh 14,8f.). (4) Eucharistische Hermeneutik Wo aber wäre nun für uns (post Christum natum) der Ort, an welchem die Alterität des Anderen offenbar wird – jene Unsichtbarkeit Gottes, die durch die Beziehung Jesu zu seinem Gott und Vater sichtbar wurde? Marion verweist an dieser Stelle auf das, was er »le site eucharistique de la théologie«73 nennt: »Da die Theologie eine Erfahrungswissenschaft ist, ist der Ort, wo diese Erfahrung [sc. der Distanz/der Beziehung des Sohnes zum Vater] möglich ist, […] das

70

71

72 73

sprachigen Raum geleistet hat, unterscheidet überblickshaft folgende drei Merkmale: »Erstens: Im idolischen Bezug zu Gott will der Wahrnehmende Gott sehen. Er sucht ihn in vielerlei Gestalten (Gegenständen, Naturschauspielen, Personen), bis er eine Gestalt findet, an der die Suche endet, weil sich ihre Erwartung erfüllt und Gott sichtbar wird. Zweitens begründet die Gestalt, die die Erwartung erfüllt, umgekehrt die Sinnhaftigkeit der Suche des Wahrnehmenden. So entsteht drittens zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen, zwischen dem Blick, der Gott sehen will, und dem Idol, das Gott zu sehen gibt, ein wechselseitiges Verhältnis von Erwartung und Erfüllung, von Gestaltgebung und Begründung.« (Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, Diss. theol. Univ. Bochum [2001], FTS 64, Frankfurt a.M.: Knecht [2002] 78.) Im idolischen Gottdenken spannt sich demnach ein theologischer circulus vitiosus auf: Meine Erwartung formt ein Bild von Gott, und dieses Bild bestätigt dann wieder meine Erwartung. »Voir, c'est recevoir, puisqu'apparaître c'est (se) donner à voir« (CV 80). Vgl. ED 299–302, 325–340. »[…] pour voir […] il convient de se rendre capable de la donation. […] Or toute donation demande qu'on la reçoive« (CV 80f.). Vgl. IeD 150: »Le Christ incarne la distance.« DsE 197.

136

III. Welt im Modus des Dativs

Leben in der Gemeinschaft und ihr liturgisches Leben.«74 Marion spricht von einer »eucharistischen Hermeneutik«75, die der Ausgangspunkt aller christlichen Theologie sei: Die hier und jetzt gefeierte Liturgie der Kirche sei der erste und vorzügliche Ort, wo es zum Ereignis ikonischer Wahrnehmung kommen könne. Marion verdeutlicht dies am Beispiel der Emmausjünger (Lk 24,13–35)76: Die Auslegung der Schriften, d.h. die Theologie, die der Fremde unterwegs für die beiden Jünger und mit ihnen betreibt, kommt erst im eucharistischen Lobpreis (eÙlÒghsen) und im Gestus des Brotbrechens (kaπ kl£saj [tÕn ¥rton]) an ihr Ziel: »Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn. Dann sahen sie ihn nicht mehr« (Lk 24,30f.). In Anlehnung an die Tradition der Kirchenväter, für welche die Liturgie (und hier vorzüglich der eucharistische Lobpreis) »Sitz im Leben« aller Theologie ist77, spricht Marion der Liturgie eine hermeneutische Vorrangstellung gegenüber der Theologie zu; die Theologie entspricht dem Wort Gottes immer dann, wenn sie den biblischen Text auf das eucharistische Geschehen hin aufbricht und von ihm her in den Blick kommen läßt. Der Grund für diese nicht ganz selbstverständliche Gewichtsverlagerung von der Theologie hin zur Liturgie ist die Unterscheidung von Text und Ereignis78: Das Ostergeschehen ist kein Text! Umgekehrt der Text (die Berichte der Zeugen, die von den biblischen Schriften überliefert werden) ist nicht das Ereignis selbst! So sind Ostergeschehen und Schrift gegeneinander abgeschlossen. Marion spricht deshalb vom Ostergeschehen als einem »événement forclos«, einem abgeschlossenen Ereignis.79 Eine Hermeneutik des Textes kann zwar den Text mehr oder weniger angemessen erschließen; sie führt aber immer nur auf den textuellen Sinn zurück – eine Gegenwart des Ereignisses schafft sie nicht. Genau um eine solche Gegenwart aber ist es Marion zu tun80 – ähnlich übrigens wie auch den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, für die die Ereignisse des Lebens und Sterbens Jesu ebenfalls der Vergangenheit angehören; geblieben sind ihnen (analog zum biblischen Text, der uns Heutigen post Christum natum überliefert ist) 74 75 76 77 78

79 80

Pariser Gespräch, 50. DsE 210. Für das Folgende vgl. IeD 153ff.; DsE 207–214. Vgl. Pariser Gespräch, 49f. Das Folgende in Anlehnung an Tobias SPECKER: Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, aaO. 330–334. DsE 203. »Nous ne pouvons reconduire le texte biblique jusqu'à ce qu' […] il vise, précisement parce qu'aucune herméneutique ne pourra jamais mettre au jour autre chose qu'un sens, tandis que nous désirons le référent dans son avènement même.« (DsE 207.)

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

137

nur ihre Erinnerungen und die Berichte der Frauen, die am Grab waren. Es bedarf deshalb einer Umkehrung der Perspektive, in welcher nicht mehr der Text zum Ereignis zurückführen und dessen Sinn erschließen soll, sondern umgekehrt das Ereignis vor den Text tritt und diesen allererst erschließt. Umkehrung der Perspektive bedeutet dann zugleich aber auch: Nicht mehr der Interpretierende interpretiert den Text, nicht mehr der Wahrnehmende dominiert das Wahrzunehmende, sondern der Wahrnehmende wird vom Wahrgenommenen, der Interpretierende wird vom Interpretandum her in Frage gestellt. Der Text führt nicht zum Ereignis zurück, sondern wird erst von diesem her einsichtig. Ein solches Einsichtigwerden ereignet sich im Vollzug der Eucharistie. Erst hier »verschränken sich die Gegensätze von Text und Ereignis in der Weise, daß der Text aus der Perspektive des Ereignisses gelesen wird und das Ereignis sich im Text auslegt. Obwohl der Auferstandene in der Emmausgeschichte selbst vor die Schrift trat und sie deutete, führt die Deutung erst zur Erkenntnis, als er mit den Jüngern das Brot bricht. Erst im Zeichen des Brotbrechens erkennen die Jünger, daß Er es war, der ihnen die Schrift gedeutet hat. Jetzt erschließt sich ihnen der Sinn der Schrift (Lk 24,32). Das Brotbrechen ist mithin nicht die Alternative zur Schrift. Die Erkenntnis der Gegenwart Jesu im Brotbrechen und in der Deutung der Schrift treten vielmehr zusammen, ohne sich ineinander aufzulösen: Im Zeichen des gebrochenen Brotes wird die Deutung der Schrift als die eine Gegenwart Christi erkennbar, die die Schrift aus sich selbst heraus nicht vermitteln konnte.«81 – Man sieht hier deutlich: Marions vorsichtige Gewichtsverschiebung hin zur Liturgie als dem hermeneutischen Ort aller Theologie hat nichts mit einem hermetischen bzw. neokonservativen Liturgismus, aber viel mit einem patristischen Verständnis von Mystagogie zu tun. Weil nicht primär in der Reflexion auf den biblischen Text, sondern umgekehrt vom eucharistischen Geschehen her es zur ikonischen Wahrnehmung des Auferstandenen kommt (und damit auch zu einer Umkehr des theologischen Denkens: »Wir aber hatten gehofft, daß er es sei, der Israel erlösen werde« [Lk 24,21]) – eben deshalb erscheint die Liturgie als relativer Ursprungsort aller Theologie. Sie erst ermöglicht jene Umkehr, von der ausgehend alles Bisherige in einem neuen Licht erscheint: »Brannte uns nicht das Herz …?«82 81

82

Tobias SPECKER: Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, aaO. 332. Nur am Rande sei vermerkt, daß eine ganz ähnliche Deutung der Emmausgeschichte, wie Marion sie hier vorlegt, sich bei Louis-Marie CHAUVET findet: Du symbolique au symbole. Essai sur les sacrements, Paris: Cerf (1979) 87–94.

138

III. Welt im Modus des Dativs

(5) Gegenwart als Gabe: Liturgie als »erfüllte Zeit« Von der Emmausgeschichte her läßt sich die von Kenneth L. Schmitz aufgeworfene Problemstellung nun noch einmal präziser befragen: Was genau gibt sich den Gläubigen (post Christum natum) im Vollzug eucharistischen Lobpreises zu erkennen? Und wiederum was geschieht an ihnen, so sie sehen, was sich ihnen da zeigt? Zur Debatte steht hier die spezifische Qualität jener eucharistischen »Berührung« von Gott und Mensch, die Schmitz von der Erfahrung einer radikalen Transzendentalität menschlichen Gebens und Empfangens her zu thematisieren versuchte. Folgt man Marion, so ist es zunächst ein neues Verständnis der Gegenwart (und damit der Zeit insgesamt), die durch die Feier der Eucharistie möglich wird.83 In Absetzung von einem metaphysischen Zeitverständnis, das Vergangenheit und Zukunft gegenüber dem »Jetzt« der Gegenwart als defiziente Zeitformen begreift (die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht, nur das Hier und Jetzt der Gegenwart ist wirklich84), schlägt Marion ein Zeitverständnis vor, das sich ganz vom Christusereignis bestimmen läßt.85 Den Ausgangs- und Mittelpunkt für ein solches Zeitverständnis bildet die Interpretation der eucharistischen Gegenwart als Gabe: Die von Christus bestimmte Zeit, wie sie uns in der Feier der Eucharistie gegenwärtig wird, ist Gabe, »don de la présence«.86 Marion sieht den Gabecharakter der eucharistischen Gegenwart, das ihr eigentümlich rezeptive, geschenkhafte Moment in folgenden Überlegungen begründet: In christlicher Perspektive ist die Vergangenheit niemals einfach Vergangenheit, sondern Herkunft. Die Herkunft des Menschen ist ganz durch Tod und Auferstehung Christi bestimmt, durch ein Ereignis also, dessen Realität unabhängig ist vom Bezug, den mein intentionales Bewußtsein hier und jetzt auf es nimmt.87 Wiederum die Zukunft ist in christlicher Perspektive durch die Wiederkunft Christi bestimmt, durch ein Ereignis also, dessen Eintreffen durch keinerlei 83 84

85 86

87

Für das Folgende DsE 225–258. »Mais, penser le temps à partir du présent, constitue l'office, l'enjeu et la charactéristique non de telle ou telle métaphysique, mais de la métaphysique dans son ensemble, d'Aristote à Hegel (et Nietzsche) […]« (DsE 239). »Temporalité métaphysique ou [temporalité] christique [?]« (DsE 239). DsE 250. Marion spielt bei seinen Überlegungen mit den beiden Bedeutungen des französischen Wortes »présent« – Gegenwart und Geschenk: »De quelle présence s'agit-il? Non d'abord d'une temporalisation privilegiée du temps (l'ici et maintenant du présent), mais du présent, c'est-à-dire du don« (DsE 241). Marion wehrt sich entschieden dagegen, die Eucharistie auf eine intentionale Gedächtnisfeier zu reduzieren, die das Christusereignis vor dem Vergessen bewahren soll: »Il ne s'agit point de commémorer un mort, pour lui éviter la seconde mort de l'oubli« (DsE 243).

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

139

Ausgriff meines intentionalen Bewußtseins auf die Zukunft herbeigeführt werden kann.88 Nach christlichem Verständnis besitzen Herkunft und Zukunft in Tod und Auferstehung Christi einerseits wie in seiner Wiederkunft andererseits »originäre Ursprünge«89, die weder aus der Retention noch aus der Protention des inneren Zeitbewußtseins des Menschen abgeleitet werden können. Deswegen steht eine vom Christusereignis bestimmte Deutung der Zeit auch im Gegensatz zu einem Zeitverständnis, wie es die traditionelle Metaphysik bietet. Denn nach christlichem Verständnis bestimmt nicht das die Zeitmodi »Vergangenheit« – »Zukunft« synchronisierende Bewußtsein des Ich die Gegenwart; vielmehr entdeckt sich das Bewußtsein des Ich seinerseits als durch das Christusereignis bestimmt. Die in die Vergangenheit weisende Herkunft des Menschen ist Angeld (»gage«) auf eine noch ausständige Zukunft; insofern bestimmt die Herkunft des Menschen mehr über seine Gegenwart als die Gegenwart selbst.90 Aber auch die Zukunft bestimmt mehr über die Gegenwart des Menschen als diese über sich selbst, denn die Gegenwart wird von der noch ausstehenden Wiederkunft Christi (»advenue«) her verstanden, auf die hin sie sich sehnsuchtsvoll ausstreckt.91 »Gegenwart« im christlichen Verstand ist denn auch in fundamentaler Weise durch etwas bestimmt, was das intentionale Bewußtsein nicht selbstmächtig herbeizitieren kann, was unverfügbar ist und was es sich deshalb immer wieder aufs neue schenken lassen muß. Wo ist der Ort, da sich die Gabe einer solchen durch das Christusereignis bestimmten Gegenwart ereignet? In vorzüglicher Weise ereignet sie sich in der Feier der Eucharistie. Hier ist der Ort, wo der paradoxe Ineinsfall einer Nähe Gottes in Distanz erfahrbar wird92, eine Einheit mit Christus in Differenz aufscheint93 – eine Ge88

89

90

91

92

»La présence à venir ne délimite pas l'horizon d'une simple possibilité, utopie tangentielle ou terme historique, comme il s'agissait d'une simple non-présence qu'il resterait à mener, finalement, à la présence.« (DsE 245). Tobias SPECKER: Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, aaO. 342. »[…] l'événement reste moins un fait passé, qu'un gage donné dans le passé pour, aujourd'hui encore, en appeler à un avenir – une advenue, celle du Messie – qui ne cesse de régir de fond en comble cet aujourd'hui. […] Loin donc que le passé se définisse comme un non-présent, ou comme une effectivité révolue, il commande de sa ›donne‹ irréductiblement antérieure et définitvement accomplie un aujourd'hui qui, sans lui, resterait insignifiant, indifférent, en un mot nul et non avenu – iréel.« (DsE 244). Oder kurz und knapp: »Le passé détermine la réalité du présent« (DsE 245). »[…] le futur détermine la réalité du présent sur le mode même de l'advenue« (DsE 245). In Anschluß an Hölderlin (»nah ist und schwer zu fassen der Gott«) spricht Marion von einem »Dieu discret« »[qui] ne se donne qu'à l'intérieur de la distance qu'il garde, et où il nous garde.« (IeD 138.) »Au plus intime de la proximité, voir se dé-

140

III. Welt im Modus des Dativs

genwart sich präsent setzt, die das Zeitkontinuum menschlichen Bewußtseins aufsprengt. Denn in den eucharistischen Lobpreis einzustimmen bedeutet, sich ganz vom trinitarischen Hingabegeschehen her zu definieren – bedeutet, sowohl unter dem Stern einer unvordenklichen Herkunft als auch unter dem Gericht einer unausdenklichen Zukunft zu stehen – bedeutet zuguterletzt, Eintritt zu nehmen in eine Gegenwart94, die es gestattet, das zerstreute Vielerlei des Lebens einzusammeln in den Zuspruch eines »vorgängigen Geschenktseins […] aller Dinge durch Gott.«95 2.3. Gott als Gabe denken Mit Hilfe der letzten Formulierungen ist nun noch einmal abschließend und über Marion hinaus zu überlegen, weshalb von jener »Berührung«, wie sie dem Menschen im eucharistischen Lobpreis widerfährt, auf vorzügliche Weise als einem Gabegeschehen zu sprechen ist: (1) Von Gott her: Inwieweit gibt Er, der Heilige, in der Eucharistie sich selber als ein dreifaltiges Gabegeschehen zu erkennen? (2) Von der Kirche her: Weshalb vollzieht sich ihre auf das göttliche Gabegeschehen antwortende Eucharistie ihrerseits als ein paradoxes Gabegeschehen? (3) Vom je einzelnen Gläubigen her: Wie läßt sich aus seinem Erleben die eucharistische Erfahrung der in Distanz sich schenkenden je größeren Nähe Gottes beschreiben? – Alle drei Fragen sind freilich so sehr aufeinander bezogen, daß sie kaum voneinander getrennt zu verhandeln sind. (1) »Gott ist Liebe« (1Joh 4,8.16b), Liebe ist ihrem Wesen nach Mitteilung, weshalb gilt: Gottes Sein ist nicht – es geschieht. Ruft man sich noch einmal in Erinnerung, daß der lebendige Gott, der als Schöpfer des Seins die Differenz zwischen dem Sein als Gan-

93

94

95

ployer la distance, et s'evanouir toute promiscuité, éprouver donc la distance, ne serait-ce précisement pas le salvifique?« (IeD 139.) »Reconnaître le Christ suppose […] qu'on admette le retrait qui, entre lui et nous, révèle cet autre et même retrait, où se reconnaissent et s'unissent le Père et le Fils.« (IeD 151.) »Le présent du don eucharistique ne se temporalise point à partir de l'ici et maintenant, mais comme mémorial (temporalisation à partir du passé), puis comme annonce eschatologique (temporalisation à partir du futur), enfin, et enfin seulement, comme quotidienneté et viatique (temporalisation à partir du présent).« (DsE 242.) Strenge, 187. – Für die hier vorgelegte Deutung der liturgischen Zeit post Christum natum als einer vom eucharistischen Gabegeschehen her theologisch qualifizierten Zeit vgl. auch die luziden Analysen von Josef WOHLMUTH: Jesu Weg – unser Weg. Kleine mystagogische Christologie, Würzburg: Echter (1992) 69–89.

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

141

zem und dem Sein des je einzelnen Seienden übersteigt, dem Menschen als Gott nur erfahrbar werden kann in Gestalt von Grenze und Distanz, so ist es nur konsequent, wenn der eucharistische Lobpreis uns hineinführt in eine Gegenwart, in welcher Gott auf paradoxe Weise erscheint als »Fülle und Armut zugleich: Fülle als Sein ohne Grenze, Armut in Gott selbst urbildlich, weil Er kein An-sich-halten kennt, Armut im hingeschenkten Seinsakt, der als Geschenkter wehrlos […] den endlichen Wesen sich ausliefert.«96 Denn erst in der Selbstrücknahme der Gottheit entsteht ein Raum, in dem anderes sein kann als Gott; nur wo Gott sich selbst begrenzt, kann werden, was nicht Er ist.97 Wenn nun zugleich aber gilt, daß alles, was nicht Gott ist, ohne Gott nicht bestehen kann, vielmehr alles, was nicht Er ist, trotz aller Unterschiedenheit von ihm immer schon »in ihm lebt, in ihm sich bewegt und ist« (vgl. Apg 17,28a), dann ist auch deutlich, daß die Selbstrücknahme Gottes im Schöpfungsakt nicht einfach einen nackten, leeren Raum hinterläßt. Vielmehr ist dieser immer schon von einer stillen Präsenz Gottes durchstrahlt, in welcher Er (der Vater) gegenwärtig ist als das unendlich Andere seiner selbst: als der Logos.98 Damit wird nun aber ein weiteres Mal deutlich, daß Gott sich einzig in seiner Selbstrücknahme als Gott zu erkennen gibt: nämlich als derjenige, der dadurch ist, daß er sich an das Andere seiner selbst verschenkt. Es ist die Differenz, die der Vater – an den Sohn sich verschenkend – eröffnet, welche das innerste Wesen der Gottheit offenbart. Was ist das innerste Wesen der dreifaltigen Gottheit? Es besteht darin, reine Weggabe ihrer selbst99, d.h. heiliger, nach innen wie nach außen sich verströmender Geist zu sein. Von hier aus wird nun auch verständlich, weshalb die Kirche ihrerseits sich vorzüglich im Bild des eucharistisch sich auferbauenden »Leibes Christi« versteht. Denn erst im Einbezug der hier und jetzt zur Feier der Eucharistie versammelten Kirche in das Hingabegeschehen von Vater und Sohn im Heiligen Geist rundet sich, was Marion unter eucharistischer Gegenwart (présent eucharistique) versteht100: Wie sich das Verhältnis von Vater und Sohn als ein Verhältnis von Selbstpreisgabe (abandon de soi) und Selbstrückgabe (redondance de soi) beschreiben läßt (»le Christ incarne la distance«101, 96 97 98

99 100 101

Hans Urs VON BALTHASAR: Herrlichkeit III/1 – Teil II, aaO. 956. Vgl. oben S. 133: »Gott ist derjenige, ›der im Sich-Zurückziehen erschafft.‹« Hans Urs VON BALTHASAR hat (in Anschluß an Serge Bulgakow) hierzu das Wesentliche gesagt: Theodramatik Bd. III: Die Handlung, Einsiedeln: Johannes (1980) 300–304. Zu Marions Abhängigkeit in dieser Frage von Balthasar vgl. oben Anm. 61. Vgl. Elmar SALMANN (vgl. oben Anm. 4). Für das Folgende DsE 250–258; IeD 211ff. IeD 150.

142

III. Welt im Modus des Dativs

»la distance interne du divin«102), so muß auch die Feier des eucharistischen Lobpreises als ein lebendiges Gabegeschehen aufgefaßt werden – und zwar als ein solches, das statthat zwischen dem dreifaltigdreieinen Gott als der »Einheit von Geber, Gabe und Geschehen des Gebens«103 und der Kirche als dem aus der Partizipation an diesem Geschehen sich auferbauenden Leib Christi.104 Wie aber läßt sich das spezifische Verhältnis von Gott als trinitarischem Gabegeschehen, in welchem Armut und Fülle in eins fallen, und der Kirche als dem eucharistisch sich auferbauenden Leib Christi genauerhin bestimmen? (2) Im Geben empfängt man, im Empfangen gibt man: Kirche als eucharistische Fortsetzung der Selbstentäußerung Christi Marions Rückgriff auf das paulinisch-patristische Bild von der Kirche als dem »Leib Christi« ist alles andere als fromme Metaphorik, sondern entfaltet vermittels eines trinitarisch zugespitzten Gabebegriffs alsbald bestürzende Dringlichkeit: Wie der Sohn reine Empfänglichkeit gegenüber dem Willen des Vaters ist (er empfängt sich ganz vom Vater her) und dadurch seine ihm eigene Göttlichkeit nicht als Besitz, sondern als Gabe verwirklicht105 (und zwar als Gabe sowohl an 102

103 104

105

IeD 149. – Noch vor aller Schöpfung gibt der Vater dem Logos-Sohn seine ganze Fülle und kann daher alles von ihm erhalten. Der Logos-Sohn wiederum schöpft sich von Ewigkeit her ganz aus dem Vater und kann deswegen alle Ehre allein Ihm geben. Sowohl ist der Vater dem Sohn als auch der Sohn dem Vater Geber und Gabe zugleich; beide sind auf je ihre Weise Reichtum und Armut, Fülle und Mangel, Identität und Differenz in eins. Deshalb auch ist das Spiel wechselseitiger Hingabe das innerste Wesen der Gottheit: Heiliger Geist, vinculum unitatis et differentiae der Liebe von Vater und Sohn in unverwechselbarer, überpersonaler Personalität. Elmar SALMANN (vgl. oben Anm. 4). »Le corps sacramentel achève l'oblation du corps, oblation qui incarne l'oblation trinitaire« (DsE 252). »[…] le présent eucharistique […] ne se donne que pour nourrir; il ne se fait présent que pour permettre sa consommation. […] En consommant cette nourriture, […] nous devenons assimilés par le corps sacramentel du Christ à son corps ecclésial. Celui qui communie dignement ›ne transforme pas en lui le Christ, mais bien plutôt, se trouve transformé dans son corps mystique‹ [sc. qu'est l'Église].« (DsE 253 [Zitat Bonaventura: Breviloquium VI, 9, 6.] Marion verweist an dieser Stelle weiter auf das berühmte Wort Augustins: »Cibus sum grandium: cresce et manducabis me, nec tu me in te mutabis sicut cibus carnis tuae, sed tu mutaberis in me.« [Conf. VIII, 10, 16]. Unter Bezugnahme auf Phil 2,5–11: »Le Christ éprouve sa divinité moins comme investissement ou une dé-possession que comme la liberté d'un don reçu du Père et rendu.« (IeD 144.) Und dazu noch einmal die schon (Anm. 63) zitierte Formulierung: »Ce renvoi [du Fils au Père] fait jouer, sans la moindre contradiction, l'abandon et le don, comme les deux mouvements de l'unique distance. S'abandonner au Père, c'est, Le désignant dans la distance, recevoir, dans le geste même du renvoi, une altérité irréductible.« (IeD 148.)

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

143

den Vater als auch an die Kirche), so empfängt auch die Kirche ihre Identität als »corpus Christi mysticum« allein dadurch, daß sie das Empfangene nicht für sich behält, sondern es weitergibt.106 Die Selbstvergegenwärtigung des sich hinschenkenden Christus als eucharistische Gabe kommt immer nur dort an den Tag, wo Er, Christus, als solche empfangen wird. Als eucharistische Gabe aber wird Christus nur empfangen, wo man ihn weitergibt.107 Die Vollendung der Selbst-Gabe Christi in der Weitergabe durch die Kirche bezeichnet Marion deshalb unter Rückgriff auf das dionysische »Øp◊r« als »ÜberGabe« (»redondance du don«), »Überfluß« (»surabondance«), überströmenden Reichtum, der darauf wartet, verteilt zu werden108: Allein in der Weitergabe wird die Gabe empfangen; wo man sie für sich behält, bleibt sie unfruchtbar. Den eucharistischen Christus empfangen bedeutet demnach nichts anderes, als den Akt des Gebens zu empfangen (»recevoir l'acte donateur«) – jene trinitarische »Bewegung einer unendlichen Entäußerung der Liebe«, in welcher Gott alles gibt: sich selbst. »Der Mensch nimmt die Gabe als Gabe dadurch entgegen, daß er […] den Akt des Gebens selbst fortsetzt. […] Wer nicht weitergibt, hat auch nicht empfangen […]. Empfangen und Geben vollenden sich in ein und demselben Akt.«109 Man erkennt deutlich das 106

107

108

109

»Le don ne se reçoit que pour être, à nouveau, donné. […] Le don ne peut se recevoir que s'il [le bénéficiaire du don: l'Église] se donne.« (IeD 211f.) Aus genau dieser Haltung hat nicht zuletzt Pier Giorgio Frassati gelebt. Vgl. unten Studie XI (Theologie und Biographie), S. 439, Anm. 99. IeD 211 (vgl. De div. nom. IV, 1f.). Und weiter: »La Charité, comme origine exstatique [sc. de la sainteté divine], ne déchoit pas quand elle sort de soi, puisqu'elle se définit précisement par cette exstase. Ou encore, la charité ne sort d'elle même, puisqu'elle se donne comme ce qui se donne. […] D'autant plus la charité divine [se] donne, d'autant plus elle se manifeste authentiquement. Chaque redondance du don, où elle s'abandonne sans retour, atteste son unique et permanente cohésion. Aussi Denys peut-il définir la hiérachie par une ›remontée‹, aussi bien que par une ›émanation‹. Non que les deux mouvements se succèdent, ou se compensent, mais ils se superposent, voire s'identifient l'un et l'autre. Le don qui provient de l'origine n'atteint les termes hiérarchisés, qu'en se donnant eux-mêmes à ce qu'ils accueillent ainsi. L'essentiel se tient peut-être ici; chaque membre ne reçoit le don que pour le donner, en sorte que ce don, du même geste, redonne en redondance le don (›émanation‹) et, donnant, rejette le don original dans son fondement (›remontée‹) […].« (IeD 210f.) – Man fühlt sich hier unwillkürlich an den Römischen Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer erinnert: »Le don ne peut se recevoir que s'il se donne, sinon il cesserait de mériter son nom. La vasque ne s'emplit de la cascade supérieure que si elle se vide sans cesse dans la vasque inférieure. L'abandon de ce qui la remplit, seul lui permet que sans cesse la comble le flot à venir.« (IeD 212.) – Vgl. dazu auch Vf.: Nur als Gabe spricht das Ding. Zur theologischen Valenz der Opfertheorie von Gerardus van der Leeuw, in: ThGl 86 (1996) 458– 487, bes. 486f. Alle Zitate IeD 212: »Recevoir le don revient à recevoir l'acte donateur, car Dieu ne donne rien que le mouvement d'infinie kénose de la charité, c'est-à-dire tout.

144

III. Welt im Modus des Dativs

gerüttelte Maß an Verantwortung, das dem einzelnen Christen in der hier skizzierten Eucharistietheologie zugemutet wird. Von seiner Hingabe, d.h. von seiner Haltung, die eucharistische Gabe zu empfangen und weiterzuverteilen, hängt ab, ob und inwieweit andere in das göttliche Gabegeschehen einbezogen werden oder nicht.110 Die sozialen und politischen Konsequenzen, die sich aus einer solchen eucharistisch inspirierten Ethik ergeben, sind kaum auszudenken.111 Die Haltung, aus der heraus eine solche Weitergabe möglich wird, speist sich aus der Partizipation am trinitarischen Hingabegeschehen: »Die kenotischen Übergänge [sc. zwischen Vater und Sohn] bezeugen nichts als die Liebe; sie können folglich nur dem erscheinen, der sich ihnen übergibt in demselben kenotischen Übergang, in dem die Liebe sich als Paradox zeigt«112: nämlich als eine Intimität, die, weil ganz vom Anderen her auf ihn hin lebend, eine solche des Abstandes ist. Marion versteht die Eucharistie deshalb auch als eine Fortdauer bzw. Fortsetzung der Selbstentäußerung Christi: »Leib und Blut [Christi] verbleiben in einer Alterität, die sich bis in die materiale Spezies […] von Brot und Wein erstreckt – nicht um eine Permanenz sicherzustellen, die dann doch nur eine idolatrische […] wäre […], sondern um fortdauernd sich zu verschenken, ohne dabei auf eine Gegengabe zu spekulieren.«113 Die (inner-)trinitarische Selbstverschenkung des Sohnes, die

110

111

112

113

L'homme donc ne reçoit comme tel le don qu'en accueillant l'acte de donner, c'està-dire par répétition en donnant lui-même. Recevoir le don et le donner se confondent en une seule et même opération, la redondance. Seul le don du don peut recevoir le don, sans se l'approprier et le détruire, en une simple possession. Celui qui ne donnerait pas ne recevrait rien, qu'il ne fige aussitôt en sa possession. Recevoir et donner s'achèvent donc dans le même acte.« Marion spricht in Anschluß an Dionysius Areopagita von einer »double solidarité, dans la charité, comme dans son refus. Ici, chacun devient rigoureusement tributaire de l'autre, puisque le don de grâce ne lui parvient que par redondance. L'autre redevient mon prochain, puisque la grâce ne lui provient qu'autant qu'elle peut, par moi et, pour ainsi dire, comme moi, l'atteindre ou le manquer. Chaque homme devient, pour l'autre, sacrement du Christ, ou de son absence. Chacun devient responsable inéluctablement de son prochain, et offre sur son visage l'unique vision de Dieu que son prochain, peut-être, percevra jamais. ›Qu'as-tu fait à ton frère?‹ (Gen 4,9).« (IeD 215.) – Die gleiche Argumentationsfigur wird – in Anschluß an Emmanuel Lévinas – von Christian de Chergé vorgetragen. (S.u. Studie XI, S. 435, Anm. 88, S. 436, Anm. 91. Vgl. auch ebd. S. 484ff., Anm. 229–232.) Verwiesen sei dazu noch einmal auf Pier Giorgio Frassati (s.u. in Studie XI den ganzen Abschnitt 2.2). Der Prototyp des Bildes, 133. – Im frz. Original: »Ces transitions kénotiques [sc. du Fils au Père et du Père au Fils] n'attestent jamais que la charité; elles ne peuvent donc apparaître que pour celui qui s'en remet à elles, selon la même transition kénotiques où la charité s'offre en paradoxe.« (CV 150.) »[…] le Corps et le Sang persistent dans une altérité qui va jusqu'aux espèces et à l'aspect du pain et du vin, non point certes pour assurer une permanence (idolâtrique et impérialiste) – Dieu n' ›assure pas la permanence‹, même celle de l'His-

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

145

in der Menschwerdung ihren unüberbietbar geschichtlichen Ausdruck gefunden hat, findet denn auch nicht zufällig in der antwortenden Hingabe der Gläubigen ihre aktualpräsentische Gegenwärtigsetzung114: »Denn wenn das Wesen der göttlichen Gabe sich nur in der Weitergabe verwirklicht, so ist die empfangende und weitergebende Vermittlung gleichzeitig die unmittelbarste Nähe zu Gott.«115 (3) Eucharistischer Lobpreis als Erfahrung der je größeren Nähe Gottes in je größerer Distanz Wenn nun aber der dreifaltige Gott als Gott zunächst und vor allem erfahrbar wird im Moment des Gebens (eines Gebens, das wiederum nur begriffen werden kann als Antwort auf eine vorgängige Gabe), so stellt sich abschließend die Frage, auf welche Weise sich ein solches Geben artikuliert. Die Antwort kann nur lauten: es artikuliert sich per eucharistiam, im lobpreisenden Dank.116 Der Grund liegt auf der Hand: In der Sprachform des Lobes kommt der Anlaß des Lobes von sich selbst her in den Blick. Im Lobpreis bezieht sich der Beter ganz allgemein »in der Weise auf Gott, daß er anerkennt, daß

114

115

116

toire –, mais pour continuer à se donner sans retour.« (DsE 251.) Vgl. auch PC 158f. – Das Bestreben, die Alterität Gottes so präzise wie möglich zu wahren, ist übrigens auch der Grund, weshalb Marion die traditionelle Transsubstantiationslehre vor einer allzu forschen Kritik in Schutz nimmt. Gerade die Objektivität des transsubstantiierten Leibes und Blutes verhindere, die eucharistische Gegenwart Christi vom intentionalen Bewußtsein der hier und jetzt zur Feier der Liturgie versammelten Gemeinde abhängig zu machen: »Or la théologie de la transsubstantiation offre seule la possibilité de la distance, puisqu'elle sépare strictement ma conscience de Celui qui la convoque.« (DsE 250; vgl. dazu insgesamt auch DsE 228–235.) Zumindest am Rande sei erwähnt, daß in diesen Zusammenhängen auch der von Matthias Joseph SCHEEBEN (1835 – 1888) stark gemachte Gedanke gründet, die Kirche in ihrer Eigenschaft als »Leib Christi« sei nach Art einer eucharistischen Fortsetzung der Selbstentäußerung Jesu Christi zu denken (Die Mysterien des Christentums. Wesen, Bedeutung und Zusammenhang derselben nach der in ihrem übernatürlichen Charakter gegebenen Perspektive dargestellt. Ausgabe letzter Hand, in: GS Bd. II [Hg. Josef Höfer], Freiburg i.Br.: Herder [21951]) – ein Gedanke, der Eingang gefunden hat in die Kirchenkonstitution des Vaticanum II: »Ideo ob non mediocrem analogiam [sc. Ecclesia] incarnati Verbi mysterio assimilatur« (LG 8). Vgl. auch unten Anm. 137. Tobias SPECKER: Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, aaO. 338. – Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an den bei Martin BUBER überlieferten Mythos von Pradšapati: »Im Wettstreit, so erzählt das Brahmana der hundert Pfade, lagen einst Götter und Dämonen. Da sprachen die Dämonen: ›Wem mögen wir wohl unsere Opfergaben bringen?‹ Sie legten alle Gaben in den eigenen Mund. Die Götter aber legten die Gaben einander in den Mund. Und da gab Pradschapati, der Urgeist, sich den Göttern.« (Ich und Du [1923], Darmstadt: WBG [111983] 74f.) Zur Frage des Lobpreises bei Marion vgl. IeD 227–250.

146

III. Welt im Modus des Dativs

Gott zuvor einen Bezug zu ihm aufgenommen hat. […] Die Perspektive läuft also nicht mehr vom Sprechenden auf Gott zu, sondern zuerst von Gott zum Sprechenden hin.«117 Deshalb ist der Lobpreis am ehesten geeignet, den Gabecharakter allen Seins zu artikulieren. »Im […] Vollzug des Lobes erkennt der Lobende seine eigene Wirklichkeit […] neu als Geschenk, als Gabe. In mir, in der Anerkennung meiner Wirklichkeit als Geschenk, verwirklicht sich das Lob.«118 Loben ist insofern performative, d.h. wirklichkeitssetzende (besser noch: wirklichkeitsanerkennende) Rede. Im Vollzug des Lobpreises wird der Lobende durchsichtig auf den Grund, den er lobt. Denn das Recht, zu loben, maßt der Lobende (»le requérant«) sich nicht selber zu, sondern es wird ihm zugemessen von jenem Grund seines Lebens (»le Réquisit«), den zu preisen er sich veranlaßt sieht.119

117

118

119

Tobias SPECKER: Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, aaO. 242f. Ebd. 244f. – Eine Reihe schöner phänomenologischer Beschreibungen des Lobpreises (»jubilus cordis«) und der Huldigung (»confessio laudis«) als einer Primordialgestalt menschlichen Betens finden sich bei Elmar SALMANN: Denken und Beten. Zwei Urgebärden des Geistes, in: Joachim Hake/Ders. (Hg.): Die Vernunft ins Gebet nehmen. Philosophisch-theologische Betrachtungen, Stuttgart u.a.: Kohlhammer (2000) 9–30, hier 24; Neuzeit und Offenbarung, aaO. 218f., 225f., 229f., 265f. Vgl. zum Ganzen auch Richard SCHAEFFLER: Das Gebet und das Argument. Zwei Weisens des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf.: Patmos (1989) 163–211. »[…] loin que le requérant, de sa propre qualification, puisse, d'autorité, performer son énoncé, il la reçoit antérieurement de ce que vise, sans rien en prédiquer son énoncé. Cette extase, où celui qui énonce se trouve d'avance repris par ce que vise, sans prédication, l'énoncé, confirme que nulle subjectivité ne grève le langage de louange […]« (IeD 237f.). – Zur Bedeutung der Neologismen »le requérant« und »le Réquisit«, die Marion in Anlehnung an das griechische Verbum bzw. Substantiv »a≥t◊w«/»A≥t∂a« bildet, ohne mit ihnen ein neues Seinsdenken durch die Hintertüre einführen zu wollen, folgende Bemerkung: »A≥t∂a« (griech.: Grund, Ursache, Veranlassung) findet bei Dionysios Areopagita Verwendung als höchster Gottesname (vgl. im Register zum CORPUS DIONYSIACUM [PTS Bd. 36] s.v. a≥t∂a). »A≥t∂a« im dionysischen Verstand meint jedoch wesentlich mehr als »Ursache aller Dinge« oder »Grund allen Seins« im Sinne eines aristotelisch-scholastischen Kausaldenkens. »A≥t∂a«, vom Verbalstamm »a≥t◊w« (griech.: bitten, fragen, suchen) abgeleitet, bedeutet einerseits das transzendente Ziel aller Suche (a∏thsij) nach den Gründen dieser Welt (t¦ a≥tiat£); andererseits enthält es die Konnotationen des Unverfügbaren, aber auch des Relationalen und Personalen. Sowohl das Moment des Übermaßes (Øperbolˇ) als auch das der Teilhabe (m◊qexij) ist im Wort präsent. Schließlich wird bei Dionysios/Marion »A≥t∂a« mit jenem Guten (bonum) identisch gesetzt, das ein jeder Mensch für sich und sein Leben erbittet und ersucht: »Que demande [a≥t◊w] la demande priante? Elle demande […] le seule terme possible d'une requête absolue, l' A≥t∂a même.« (IeD 205f.) Der von Marion gebildete Neologismus »le Réquisit« (von frz. requérir) versucht, die griechische Bedeutungsvielfalt ins Französische zu übertragen (vgl. dazu insgesamt IeD 196–207).

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

147

Hat man dies einmal nachvollzogen, dann ist auch am Tag, wie sehr Lob (louange) und Hingabe (don de soi) miteinander verquickt sind. Denn der Lobpreis, der das Leben als Gabe anerkennt und dafür dankt, reißt den Lobenden über sich hinaus.120 Mehr noch: Wo der Lobende (»le requérant«) im Lobpreis an den gesuchten Grund seines Lebens (»le Réquisit«) rührt, da hat er auch schon unmerklich begonnen, »das Ungenügen des Ich zu übersteigen«, da ist er im Begriff, »sich loszulassen und sich dem Herrn und Grund seines Lebens anheimzugeben.«121 Wie ein solcher Selbstüberstieg bzw. eine solche Selbstgabe sich im einzelnen vollzieht, dafür mag es unterschiedliche Wege geben.122 Allen Wegen gemeinsam aber ist, daß auf ihnen der Mensch (»l'adonné«) von sich selber wegverwiesen wird hin auf jenen Grund, dem er sich verdankt. Eben dieses vorgängige Verdanktsein ermöglicht es mir, »in allen Dingen und zuerst in mir selbst […] den angerufenen Grund als interior intimo meo zu erfahren.«123 Mit andern Worten: In der dankenden Hingabe an Gott als den Grund meines Lebens mache ich die Erfahrung, daß er mir immer schon näher ist als ich mir selber je sein kann. Denn Gott ist es, der mich mir gibt, weswegen ich ohne ihn nicht wäre; gerade aber weil er mich mir gibt, ermöglicht er es mir auch, mich in ihn, den Grund meines Lebens, fallen zu lassen – ohne daß durch ein solches mich-Fallenlassen die Distanz zu ihm aufgehoben würde. Im Gegenteil: Wie schon deutlich wurde, insistiert Marion heftig darauf, daß mit zunehmender Nähe zum Grund meines Lebens auch das Wissen um den Abstand (»la distance«) wächst, der mich trennt von ihm.124 Die Erfahrung des interior intimo meo steigert sich gleichursprünglich mit der Erfahrung des superior summo meo.125 Eine solche paradoxe Erfahrung je größerer Nähe in je größerem Abstand wird mir überall dort zuteil, wo meine Hingabe mich befähigt, ein Lob von der Art zu 120

121 122

123 124 125

»[…] qu'à la limite, le discours de louange ne résorbe pas l'énoncé dans sa performance par le locuteur, mais absorbe le locuteur dans la performance du don par l'énoncé.« (IeD 239.) Strenge, 187. Marion nennt neben dem theologischen Bekenntnis und dem liturgischen Lobpreis das Martyrium. (Ebd. 182–186.) Ebd. 187. Vgl. oben Anm. 54–63. Nur am Rande sei vermerkt, daß genau dieselbe Erfahrungsfigur (»Deus interior intimo meo et superior summo meo«) die Grundformel des Analogiedenkens bei Erich Przywara darstellt. (Vgl. dazu Vf.: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, aaO. 126–148, bes. 132.) Man sieht daran: Klassisches Seinsdenken im Sinne der analogia entis und ikonoklastische Phänomenologie, wie vor allem der frühe Marion sie betreibt, müssen einander nicht nur nicht ausschließen, sondern können sich auf das Vortrefflichste ergänzen.

148

III. Welt im Modus des Dativs

vollziehen, daß in seinem Vollzug ich mich dem Grund meines Lebens überantworte. Eine solche Hingabe (»don de soi«) ist wiederum aber nur möglich, weil der Grund selbst (»le Réquisit«) nie aufgehört hat, mich mir zu geben.126 Gerade in dieser mich freilassenden Nähe kommt an den Tag, wie sehr Er, der mich gründende und insofern mich immer schon unterfassende und umfangende Grund jenseits ist von mir. 3. AUSBLICK »… DENN DURCH SIE HABEN EINIGE, OHNE ES ZU AHNEN, ENGEL BEHERBERGT« (HEBR 13,2). – ZUR FRAGE NACH EINER ALLFÄLLIGEN KULTUR EUCHARISTISCHER GASTFREUNDSCHAFT Ein letztes steht aus. Neben allem gelehrten Interesse an einer eucharistisch fundierten Phänomenologie war als treibendes Motiv der hier vorgestellten Überlegungen folgendes heikle Problem benannt worden127: Wie kann der Empfang der sakramentalen Gegenwart Christi, der in der Weitergabe des Empfangenen zu seinem Höhepunkt kommt (ja hier allererst sich vollendet), jemals Wirklichkeit werden, wenn der zwischen den Konfessionen weithin geltende Sakramentenausschluß das letzte Wort behält? Wird hierdurch nicht deutlich mehr beschädigt als nur die sichtbare Einheit der Christen? Wird durch die systematische Restringierung jener, die den Empfang der eucharistischen Gabe begehren, ohne sich in die jeweils konkrete Kirchengestalt der gastgebenden Konfession hineinverfügen zu wollen (oder zu können), nicht dem Sakrament als ganzem Schaden zugefügt? Ja schädigen die Ausschließenden mit den Ausgeschlossenen nicht zuguterletzt sich selbst? – Es soll mittels dieser Fragen keineswegs ein freihändig-laxer Umgang mit dem eucharistischen Sakrament insinuiert werden. Auch sollen nicht die von Zeit zu Zeit sich meldenden »ökumenischen« Bedürfnisse einer postchristlichen Gesellschaft befriedigt werden, die es nicht erträgt, daß theologische Differenzen zu kirchenrechtlichen Grenzziehungen führen. (Wenn einer postmodernen Gesellschaft ein Gedanke unerträglich ist, dann ja der der Grenze. Daß konfessionelle Grenzen auch Identitäten schaffen und nur durch Identitätsbildung auf Dauer auch religiöse Beheimatung möglich ist, wird dabei naiv oder geflissentlich übersehen.) Gleichwohl – die Frage steht im Raum, wie umzugehen ist sowohl mit den eng gefaßten Zulassungsmöglichkeiten 126 127

Vgl. Strenge, 187. Vgl. oben Anm. 21.

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

149

evangelischer Christen zur katholischen Eucharistie128 als auch mit dem (von römischer Seite ausgesprochenen) Generalverbot des Empfangs der evangelischen Abendmahlsgestalt durch katholische Christen129 – von den Schwierigkeiten, die eine communicatio in sacris zwischen lateinischen und griechischen, resp. katholischen und orthodoxen Christen aufwirft, einmal ganz zu schweigen. Zu überlegen ist, welche praktischen Umgangsformen man angesichts dieser kir128

129

Vgl. in der letzten Enzyklika von Papst Johannes Paul II. »Ecclesia de Eucharistia« vom 4. Juli 2003 (AAS 95 [2003] 433–475) die Art. 45 und 46, wo die Rede ist von der Möglichkeit einer »Spendung der Eucharistie unter besonderen Umständen und an einzelne Personen, die zu Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften gehören, die nicht in der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen«. Vier Bedingungen sind für die kanonische Erlaubtheit einer solchen Sakramentenspendung zu beachten: (1.) Es muß »ein schwerwiegendes geistliches Bedürfnis [gravis necessitas spiritualis] einzelner Gläubiger im Hinblick auf das ewige Heil« gegeben sein. Hier ist zunächst wohl an eine Sakramentenspendung in physischer Gefahr (Todesgefahr, Verfolgung, Gefangenschaft) gedacht; nach CIC [1983] can. 844, § 4 ist aber auch »eine andere schwere Notlage« (»alia gravis necessitas«) denkbar, die vom Gesetzgeber freilich nicht näher definiert wird; ob eine solche Notlage vorliegt, haben deshalb von Fall zu Fall der Ortsordinarius bzw. die zuständige Bischofskonferenz zu entscheiden. (2.) Es darf nicht der Eindruck entstehen, man habe es hier mit der generellen »Praxis einer Interkommunion« zu tun; der ausnahmsweise Charakter der Sakramentenspendung an einen nicht-katholischen Christen muß für alle Beteiligten offensichtlich bleiben. (3.) Der nicht-katholische Christ muß »von sich aus« den Empfang des Sakramentes erbitten; es darf keinerlei Werbung oder Nötigung von katholischer Seite vorliegen. (4.) Der nicht-katholische Christ muß »den Glauben bezeugen, den die katholische Kirche in diesen Sakramenten bekennt.« CIC [1983] can. 844 § 4 fügt als weitere Bedingungen hinzu, daß (5.) auf seiten des nicht-katholischen Sakramentenempfängers die rechte innere Disponierung gegeben sein muß und (6.) ein Sakramentenspender der eigenen Konfession nicht aufgesucht werden kann. – Vgl. neben den schon zitierten Bestimmungen in CIC [1983] can. 844 §§ 3–4 auch die Art. 26–28 des Konzilsdekrets über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, ferner die Art. 8 und 22 des Ökumenismusdekrets Unitatis redintegratio sowie die Art. 55–63, 129– 132 und 159f. des zweiten »Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus« vom 25. März 1993 (AAS 85 [1993] 1039–1119). – Zum Ganzen Georg HINTZEN: Art »Eucharistiegemeinschaft«, in: LThK3 Bd. III, 968f.; Karl LEHMANN: Einheit der Kirche und Gemeinschaft im Herrenmahl. Zur neueren ökumenischen Diskussion um Eucharistie- und Kirchengemeinschaft (Referat zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, 25. 9. 2000). Enzyklika Ecclesia de Eucharistia, Art. 30, Abs. 2: »Deshalb müssen die katholischen Gläubigen bei allem Respekt vor den religiösen Überzeugungen ihrer getrennten Brüder und Schwestern der Kommunion fernbleiben, die bei deren Feiern ausgeteilt wird, damit sie nicht einer zweideutigen Auffassung über das Wesen der Eucharistie Vorschub leisten und so die Pflicht versäumen, für die Wahrheit klar Zeugnis abzulegen. Dies würde zu einer Verzögerung auf dem Weg zur vollen sichtbaren Einheit führen.« Die Begründung wird ebd. in Art. 45, Abs. 2 nachgeliefert: »[…] ein katholischer Christ [kann] nicht die Kommunion in einer Gemeinschaft empfangen, der das gültige Sakrament der Weihe fehlt.« (Vgl. auch Vat. II, UR 22; dagegen aber auch UR 8, 3.)

150

III. Welt im Modus des Dativs

chenrechtlichen Regelung entwickelt und kultiviert – Umgangsformen, die einerseits den trotz aller ökumenischen Annäherung weiter bestehenden Differenzen gerecht werden, andererseits aber doch Hilfestellung leisten, das Prekäre, ja Skandalöse der Trennung zu mildern. Der Begriff »eucharistische Gastfreundschaft« könnte hier womöglich hilfreich vermitteln; Leo Arthur Elchinger (1908–1998), der ehemalige Straßburger Diözesanbischof hat ihn geprägt.130 Geleitet von der Sorge, wie es denkbar sei, daß die vielen in konfessionsverschiedener Ehe miteinander verbundenen Christen seiner Diözese kirchliche Gemeinschaft nicht nur im persönlichen und familiären Gebet erfahren, sondern auch in Gottesdienst und Liturgie, hat Bischof Elchinger konzentriert und behutsam zugleich die etwaigen Möglichkeiten und Grenzen eucharistischer Gastfreundschaft ausgelotet – und zwar nicht nur in Hinsicht auf Gastfreundschaft von katholischer Seite zur evangelischen, sondern auf wechselseitige Gastbereitschaft zwischen den Konfessionen insgesamt.131 Dabei ist es vor allem ein Element, das mir für unsere Überlegungen interessant zu sein scheint, denn es greift einen wichtigen Gedanken eucharistischer Phänomenologie auf, wie wir sie anhand des Werkes von Jean-Luc Marion entfaltet haben. Die Grundlage eucharistischer Gastfreundschaft, so Bischof Elchinger, besteht zunächst und vor allem darin, an der Eucharistie der je anderen Konfession betend teilzunehmen. Damit ist (von katholischer Seite aus gesehen) vorderhand nicht mehr gemeint, als daß »der nicht-katholische Christ den Glauben bezeugt, den die katholische Kirche in diesen Sakramenten bekennt.«132 Ein solches

130

131

132

L’hospitalité eucharistique pour les foyers mixtes. Directives de Mgr. Elchinger aux fidèles du diocèse de Strasbourg, in: ÉglAl 6 (12/1972) 11–22; danach in: DC 1626 (1973) 161–169. Im franz. Original wieder abgedruckt und mit einer nicht-autorisierten dt. Übersetzung versehen in: Reinhard MUMM/Marc LIENHARD (Hg.): Eucharistische Gastfreundschaft. Ökumenische Dokumente, Kassel: Stauda (1974) 109–130. – Vgl. ferner Réflexions complémentaires sur les directives données pour les foyers mixtes concernant l’hospitalité eucharistique dans le diocèse de Strasbourg, in: ÉglAl 7 (2/1973) 3–8; danach in: DC 1626 (1973) 347 (gekürzt). Eine weitere kurze Präzisierung zu den »Réflexions complémentaires« findet sich in: ÉglAl 7 (3/1973) 23; danach in: DC 1629 (1973) 347. Vgl. Marc LIENHARD: Eucharistische Gastbereitschaft in Frankreich. Einführung in den Abendmahlskonsens der Gruppe von Dombes und in die Richtlinien von Bischof Elchinger, in: Reinhard Mumm/Ders. (Hg.): Eucharistische Gastfreundschaft. Ökumenische Dokumente, aaO. 17–27, hier 22. Enzyklika Ecclesia de Eucharistia Art. 46 (vgl. CIC [1983] can. 844, § 4). In den Handreichungen Bischof Elchingers sind als »Voraussetzungen, unter denen ein Christ als Glied einer Kirche reformatorischen Ursprungs ausnahmsweise zur Eucharistie in einer katholischen Gemeinde zugelassen werden kann« folgende vier Punkte aufgeführt: »Ce chrétien, connaissant suffisament la foi eucharistique de l’Église catholique, exprime son accord fondamental avec celle-ci. En particulier, qu’il confesse la présence réelle du Christ se donnant, à cette communauté et à lui dans le pain et le vin eucharistique; qu’il reconnaisse le lien existant entre l’Eucharistie et l’Unité de l’Église et témoigne du souci de cette unité; qu’il recon-

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

151

Bezeugen vollzieht sich nun freilich nicht gleichsam privatissime im stillen Kämmerlein, sondern offen vor den Augen und Ohren der zur Liturgie versammelten Kirche. Ein solcher öffentlicher Bekenntnisakt will darum gut überlegt sein, denn er bleibt nicht ohne Konsequenzen: Wo ein in einer anderen als der katholischen Kirche getaufter Christ der katholischen Eucharistie nicht nur beiwohnt, sondern einstimmt in ihre Gebete – von der responsorischen Begrüßungsformel (»Dominus vobiscum«) über das Kyrie, Gloria, Sanctus, Pater Noster und »Ecce Agnus Dei« bis hin zum wechselseitigen Friedensgruß; wo er darüber hinaus das (»in Gemeinschaft mit Papst und Bischof«) gesprochene eucharistische Hochgebet innerlich mitvollzieht; wo er schließlich durch das große »Amen«, mit welchem die priesterlichen Orationen (Collecta, Secreta, Postcommunio) enden, deren Inhalte gläubigen Herzens bekräftigt: da ist es eigentlich nicht mehr möglich, ihm die communio in sacris (d.h. den Sakramentenempfang) zu verweigern, denn ein solcher Christ hat auf eine höchst reale, wenn auch noch näher zu bestimmende Weise Anteil gewonnen an jener »una, sancta, catholica et apostolica ecclesia«, wie sie dem katholischen Selbstverständnis nach in der römischen Kirche »verwirklicht«133 ist.134

133

134

naisse dans ceux qui président l’Eucharistie authentiques ministres de l’Évangile et de la mission apostolique au sein de cette communauté.« (aaO. 114f.) Vat. II, Konst. De Ecclesia: »Haec Ecclesia [quam in Symbolo unam, sanctam, catholicam et apostolicam profitemur], in hoc mundo ut societas constituta et ordinata, subsistit in Ecclesia catholica, a successore Petri et Episcopis in eius communione gubernata […].« (LG 8.) Damit ist nicht gesagt, daß der Vollzug der communicatio in sacris notwendig gleichbedeutend ist mit einem formellen Übertritt zur gastgebenden Kirche. Zwar stellt nach altkirchlichem Verständnis Gottesdienstgemeinschaft Kirchengemeinschaft her – und noch bis vor wenigen Jahrzehnten hatte im Selbstverständnis vieler Christen der Vollzug sakramentaler Gottesdienstgemeinschaft diese unmittelbar performative (und insofern dann auch kirchenrechtlich relevante) Wirkung. (Berühmtes Beispiel hierfür ist der durch die Begegnung mit Nathan Söderblom initiierte Übertritt Friedrich Heilers aus der Katholischen Kirche in die Evangelische Kirche Schwedens durch Abendmahlsempfang in der Pfarrkirche von Vadstena/Schweden am 7. August 1919.) Gleichwohl bleibt offen, ob diese strenge, bis ins letzte konsequente Haltung die einzig mögliche ist hinsichtlich der Frage, wie die Spaltung zwischen den Kirchen und Konfessionen gelindert und eine »Einheit in Verschiedenheit«, die die communicatio in sacris einschließt, denkbar werden kann. (Erinnert sei nur an den Sachverhalt, daß auch Friedrich Heiler trotz seines liturgisch vollzogenen Übertritts in die Evangelische Kirche Schwedens niemals offiziell aus der Katholischen Kirche ausgetreten ist, noch daß er je seinen offiziellen Eintritt in eine der Evangelischen Landeskirchen Deutschlands erklärt hätte, daß er sich vielmehr als Vorsitzender der Hochkirchlichen Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses und als Begründer der Hochkirchlichen St.-Johannes-Bruderschaft um die Neu-Etablierung einer apostolischen Sukkzession in den Kirchen des Augsburgischen Bekenntnisses und in diesem Sinne zeitlebens um eine »Evangelische Katholizität« bemühte, die womöglich für beide kirchlichen Großgestalten der westlichen Christenheit, die römisch-katholische und die evangelisch-lutherische bzw. -reformierte gleichermaßen hätte förderlich sein können.)

152

III. Welt im Modus des Dativs

Umgekehrt scheint (von katholischer Seite aus gesehen) eine solche Schlußfolgerung nicht ganz so leicht möglich, und zwar nicht nur wegen der bestehenden Differenzen im Amtsverständnis135, sondern wohl auch deswegen, weil auf evangelischer Seite das Abendmahlssakrament sowohl im durchschnittlichen Frömmigkeitsbewußtsein136 als auch im theologischen Gefüge von Rechtfertigungslehre, Sakramentenlehre und Ekklesiologie137 135

136

137

Über die angeblich mangelnde Apostolizität evangelisch ordinierter Amtsträger und den daraus sich ergebenden »defectus ordinis« ist mittlerweile so viel geschrieben worden, daß ein Hinweis auf die entsprechenden Diskussionen genügen muß (vgl. oben Anm. 15). Während die sonntägliche Feier des Heiligen Abendmahles in der altlutherischen Orthodoxie zunächst noch üblich war, mußte schon Calvin sich damit zufriedengeben, daß das sakramentale Gedächtnis Christi nur mehr viermal im Jahr stattfand. Aber auch in den lutherischen Kirchen nahm seit dem 18. Jahrhundert die Häufigkeit der Abendmahlsfeier rapide ab, u.a. bedingt durch die zunehmende Praxis einer an den Predigtgottesdienst angehängten Abendmahlsfeier, an der dann nur noch ein kleiner Teil der Gottesdienstgemeinde teilnahm. Einen radikalen Einschnitt im evangelischen Frömmigkeitsleben brachte »die Aufklärung, dieses genuine Kind des deutschen Protestantismus« (Ernst Troeltsch). Sie veränderte nicht nur das Lebensgefühl vieler Menschen, sondern stürzte mit dem Christenglauben auch die Gottesdienstkultur in eine tiefe Krise. Die Verschüttung der sakramentalen Idee führte nun evangelischerseits zu einer stark subjektiven Interpretation der eucharistischen Gegenwart Christi – und damit zu einer weiteren Erosion der inneren Selbstverpflichtung, am sonntäglichen Abendmahl (so es denn noch gefeiert wurde) teilzunehmen. Erst im 20. Jahrhundert, und zwar im Zuge der »Liturgischen Bewegung«, wurde das Abendmahl in den evangelischen Kirchen wieder neu entdeckt, wobei diese Wertschätzung zunächst auf bruderschaftliche Gruppen und hochkirchliche Erneuerungskreise beschränkt blieb, um von dort aus langsam in breitere Kirchenkreise einzusickern. (Zur ungeheuer vielfältigen Entwicklung im Protestantismus vgl. Albrecht PETERS: Art. »Abendmahl III/4«, in: TRE Bd. I [1977] 131–145; Alfred NIEBERGALL: Art. »Abendmahlsfeier III/IV«, in: ebd. 287–328.) In der katholischen Dogmatik fragt man im Rahmen der Zahl der Sakramente nach einer spezifischen Wirkung der einzelnen sakramentalen Zeichen. Soweit ich sehe, spielt diese Frage in der evangelischen Sakramententheologie eine relativ geringe Rolle. Im Zentrum steht vielmehr immer wieder das eine Rechtfertigungsgeschehen. Die Reformatoren sahen in der »Vergebung der Sünden« den Hauptartikel der Glaubensbekenntnisse, von dem her alles interpretiert werden müsse. Dieses Element findet selbstverständlich zunächst einmal in der Taufe seinen dichtesten und angemessensten Ausdruck. Was aber ist dann das spezifische Proprium (scholastisch gesprochen: res et sacramentum) der Eucharistie? Zeichnet sie sich überhaupt durch ein solches aus, oder sind die beiden Hauptsakramente Taufe und Abendmahl nicht letztendlich verschiedene Spielarten (diversi modi) des einen Rechtfertigungsgeschehens? Wenn dies so ist – und vieles spricht dafür –, dann wird verständlich, weshalb für die evangelische Theologie aus der Anerkennung der Taufe ein ziemlich gerader Weg auch zur Entfaltung dieser Anerkennung in der Eucharistie führt. Ganz anders dagegen die katholische Tradition; hier ist der Kirchenbegriff (im Ausgang von den Kirchenvätern) selber stark eucharistisch geprägt. Eine strikte Trennung zwischen Jesus Christus als dem einladenden Mahlherrn und der Kirche als eucharistisch sich auferbauendem »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (Vat. II, LG 1) ist daher nur schwer möglich. – Um das Ganze zu

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

153

eine andere Stellung einnimmt als auf der katholischen.138 Dennoch ist mit Bischof Elchinger zu fragen, ob ein katholischer Christ »aus gewichtigen

138

konkretisieren, sei hier erinnert an die großen Vertreter der katholischen Romantik, der Tübinger Schule (J.B. Hirscher, J.S. Drey, J.A. Möhler, F.A. Staudenmaier) sowie an Matthias Joseph Scheeben (1835–1888). Vor allem letzterer hat unter Rückgriff auf Augustinus und die griechischen Kirchenväter (insbesondere Cyrill von Alexandrien) den Zusammenhang von Kirche und Eucharistie in jener »eucharistischen Selbstverschwendung« Christi begründet, die er in Inkarnation und Trinität am Werk sah. Das Sakrament der Eucharistie stellt für Scheeben das geistleibliche Organon bereit, durch das der dreifaltig-eine Gott die entfremdete Kreatur in seine innere dreifaltige Liebeseintracht hineinzieht. Eucharistie – und damit Kirche (denn Kirche ist als »Leib Christi« nicht irgendeine religiöse Vereinigung, sondern auf elementare Weise selbst eucharistisch gegründetes Sakrament) – ist demnach folgerichtig zu begreifen als eine Art »Fortsetzung der Inkarnation« (vgl. oben Anm. 114). Mag Scheebens organologisch argumentierende Ekklesiologie uns heute auch fremd anmuten, so muß man doch ihre weitreichende Wirkungsgeschichte zur Kenntnis nehmen. Über die Enzyklika Mystici Corporis Papst Pius’ XII. (29.6.1943) hat diese Ekklesiologie Eingang gefunden in die Kirchenkonstitution des Vaticanum II und übt von dort Einfluß aus bis in die ökumenischen Diskussionen unserer Tage – gerade auch in die Diskussion um die Frage nach einer etwaigen Altargemeinschaft zwischen den Konfessionen. Auf signifikante Weise deutlich geworden ist dies seinerzeit anläßlich der Auseinandersetzungen um die feierliche Unterzeichnung der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« am 31. Oktober 1999 in Augsburg durch Vertreter des Lutherischen Weltbundes und des Vatikanischen Einheitssekretariates. In einer aufsehenerregenden Aktion traten damals (am 29. Januar 1998) 160 evangelische Theologen und Kirchenrechtler, immerhin knapp die Hälfte der evangelischen Hochschullehrerschaft in Deutschland, an die Öffentlichkeit und warnten vor einer Unterzeichung der »Gemeinsamen Erklärung«, da diese in entscheidenden Fragen der Gnadenlehre einen anderen als den streng reformatorischen Standpunkt vertrete und insofern theologisch inakzeptabel sei. Für unsere Zusammenhänge interessant ist dabei, daß trotz Feststellung massiver Differenzen in Fragen der Rechtfertigung (immerhin handelt es sich nach evangelischer Tradition hierbei um den »articulus stantis et cadentis ecclesiae«) die Erklärung der Theologen mit einer ausdrücklichen Einladung an die katholische Seite endete, »schon heute« am evangelischen Abendmahl teilzunehmen. (Vgl. FAZ Nr. 24 [29. Januar 1998], S. 4; Votum der Hochschullehrer zur »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, in: epdDokumentation 7/1998.) Den Katholiken muß eine solche Einladung irritieren. Wenn im Herzstück des evangelischen Glaubens: der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein (»iustificatio peccatoris sola gratia«) Dissens herrscht und folglich Kirchengemeinschaft im echten Sinne des Wortes nicht möglich ist: Welche Stellung mißt man dann dem eucharistischen Sakrament zu, wenn man meint, an diesem könnten die dissentierenden Glaubensbrüder nichtsdestotrotz teilnehmen? Manchmal gewinnt man den Eindruck, protestantischer Tradition zufolge sei nicht so sehr die sakramentale Gottesdienstgemeinschaft kirchenkonstituierend, sondern der (von ihr zwar nicht abtrennbare, wohl aber unterscheidbare) Glaube. (Nicht zufällig unterschied der Volksmund noch bis vor wenigen Jahrzehnten zwischen »gläubigen Protestanten« und »praktizierenden Katholiken«.) Daß die evangelische Seite sich von ihrer Tradition her wesentlich leichter tut, allgemeine Einladungen zum Abendmahl auszusprechen als die katholische, ist angesichts dieses mentalitätsgeschichtlichen Befundes so erstaunlich nicht.

154

III. Welt im Modus des Dativs

Gründen und ausnahmsweise«139 nicht doch »die eucharistische Gastfreundschaft einer protestantischen Gemeinde annehmen« könne.140 Als Gründe für einen solchen »außerordentlichen«141 Schritt trägt der Bischof folgende Überlegungen vor: Einerseits führe »die der Gastfreundschaft innewohnende Logik zur Gegeneinladung«142, ja man müsse fragen, ob »die Ablehnung der Gegenseitigkeit [nicht] als demütigend, verwirrend und untragbar empfunden«143 werde, als eine Verschärfung der sowieso schon nur schwer erträglichen Spaltung der Christenheit. Des weiteren erlange »die gelegentliche Zulassung eines Protestanten zur katholischen Tischgemeinschaft der Eucharistie ihre volle Wahrhaftigkeit nur dann, wenn sie eine Stufe auf dem Weg zu einer fortschreitenden Versöhnung der Kirchen« bedeute.144 Versöhnung aber sei von ihrem Wesen her ein wechselseitiges Geschehen. Deshalb könne es sein, daß man um der Wahrhaftigkeit der Versöhnungsgeste willen das Risiko »einer gewissen Doppeldeutigkeit«145 eingehen müsse. Die Gegenprobe könne hier von übermäßigen Skrupeln befreien: »Die Trennungen, die wir im Schoß der einen Kirche Christi aufrecht erhalten, und die Gegensätze, die innerhalb der eigenen Kirche bestehen: sind sie nicht ebenso ein Ärgernis wie die vielleicht doppeldeutigen, aber doch klaren Gesten eucharistischer Gastfreundschaft«?146 Was nun die innere Disposition jenes katholischen Christen anlange, der zum evangelischen Abendmahl hinzutreten wolle, so müßten hier die selben Bedingungen gelten wie für den umgekehrten Fall, daß ein evangelischer Christ an der katholischen Eucharistiefeier teilzunehmen wünsche: Der Katholik müsse mit der einladenden evangelischen Gemeinde zunächst und vor allem »den Willen gemeinsam haben, das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung des Herrn feierlich zu begehen.«147 Wer von einem solchen Wunsch beseelt sei, werde aber auch glauben, daß, wenn die gastgebende evangelische Gemeinde »von Gott eine eucharistische Gnade erflehe, dieser Ruf nicht ohne Antwort bleiben« könne.148 In Treue zur theologischen Tradition seiner eigenen Kirche müsse ein solcher Katholik ferner gewärtig sein, daß trotz aller praktizierten Gastfreundschaft weiterhin »gewisse« Differenzen zwischen dem Sakramenten- und Kirchenverständnis seiner eigenen Kirche und dem der gastgebenden evangelischen Gemeinde bestehen – Differenzen, die nicht nur in unterschiedlichen theologischen Sprachspielen begründet seien, sondern auf seiten der gastgebenden evangelischen Ge139

140 141 142 143 144 145 146 147 148

Léon Arthur ELCHINGER: Weisungen für die Gläubigen der Diözese Straßburg über die eucharistische Gastfreundschaft für die konfessionsverschiedenen Ehen, in: Reinhard Mumm/Marc Lienhard (Hg.): Eucharistische Gastfreundschaft. Ökumenische Dokumente, aaO. 128. Ebd. 126. Ebd. 129. Ebd. 126. Ebd. 127. Ebd. 126. Ebd. 130. Ähnlich ebd. 127. Ebd. 130. Ebd. 128. Ebd. 128.

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

155

meinde auch in »bestimmten«, »mehr oder minder bedeutsamen Mängeln im Bereich des Sakramentalen, durch das sich die Kirche sichtbar als Leib Christi« auferbaue.149 Gleichwohl dürfe ein solcher Katholik sicher sein, daß »trotz dieser Mängel« jene Christen, die »die Eucharistie im Glauben und in der Treue gegenüber dem Testament des Herrn feiern« und dabei ihm (dem Katholiken) Gastfreundschaft gewähren, »wirklichen Anteil am Leben Christi […] gewinnen […], der sich den Seinen zur Nahrung und zur Auferbauung seines eigenen Leibes gibt.«150 Bischof Elchingers Ausführungen enden in der Überlegung, daß ein katholischer Christ »am Heiligen Abendmahl [also zwar] nicht in dem Bewußtsein teilnehmen [könne], daß alle Eucharistien denselben Wert haben, welche Gemeinschaft sie auch feiert«; daß er aber »in dem Wissen teilnehmen« werde, »daß diese Feier – auf eine geheimnisvolle und wirkliche, wenngleich schwer zu bestimmende Weise – ihm Anteil geben« werde »an der einen eucharistischen Wirklichkeit, von der er gemäß seinem Glauben mit Sicherheit« wisse, »daß er sie in ihrer ganzen Fülle im Schoß seiner eigenen Kirche« erlange.151

Mag auch der Sprachduktus dieses zur Zeit seines Erscheinens vor bald vierzig Jahren Aufsehen erregenden Dokumentes152 nicht mehr der unsrige sein; mag das hier vorgetragene ekklesiologische Selbstverständnis, allein in der katholischen Kirche sei die Fülle der Sakramentalität unangefochten bewahrt, im ökumenischen Diskurs kaum noch zu vermitteln sein, so gilt es doch, aufmerksam zu sein für den Argumentationsduktus, den dieses Schreiben durchweg be149 150 151 152

Ebd. 128 mit Verweis auf das Ökumenismusdekret UR 3 und 22. Ebd. 128. Ebd. 128. Man vgl. die pastoralen Weisungen Bischof Elchingers mit den im Vergleich dazu recht abweisenden Bestimmungen, wie sie im Beschluß »Gottesdienst« der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind. Nachdem in der dortigen Nr. 5.5 (unter Hinweis auf Vat. II, UR 22) zunächst festgestellt wird, daß in den Kirchen der Reformation »wegen des abweichenden Glaubensverständnisses, vornehmlich in bezug auf das Amt und das Weihesakrament, die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht gewahrt« sei, schließt sich folgender konzedierende Passus an: »Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß ein katholischer Christ – seinem persönlichen Gewissensspruch folgend – in einer besonderen Lage Gründe zu erkennen glaubt, die ihm seine Teilnahme am evangelischen Abendmahl innerlich notwendig erscheinen lassen. Dabei sollte er bedenken, daß eine solche Teilnahme dem inneren Zusammenhang von Eucharistie und Kirchengemeinschaft, besonders im Hinblick auf das Amtsverständnis, nicht entspricht. Bei der Entscheidung, vor die er sich gestellt sieht, darf er weder das Beheimatetsein in der eigenen Kirche gefährden, noch darf seine Entscheidung der Verleugnung des eigenen Glaubens und der eigene Kirche gleichkommen oder anderen eine solche Deutung nahelegen.« (Offizielle Gesamtausgabe I, zweite durchgesehene und verbesserte Aufl., Freiburg i.Br. u.a.: Herder [1976] 216.) Es verdient einen Hinweis, daß sich die Synode selbst zu dieser schwachen Konzedierung persönlicher Gewissensentscheidung nur unter großen Schwierigkeiten durchringen konnte.

156

III. Welt im Modus des Dativs

achtet: Die liturgische Feiergestalt der je konkreten Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier ist unbedingt ernst zu nehmen! Die Begründung, weshalb gerade die liturgische Feiergestalt für das hier zur Verhandlung stehende Problem eucharistischer Gastfreundschaft etwas austrägt, fanden wir in Marions Analysen zur Phänomenologie der Gabe. Dort war die Rede von »le site eucharistique de la théologie«153, von einer vorgängigen Einwurzelung reflexiver Theologie in der eucharistischen Liturgie. Die Gründe, weshalb dies so ist, liegen nun offen zu Tage: Wenn uns überhaupt etwas berechtigt, eucharistische Gastfreundschaft zu üben, so ist es die performative Kraft der liturgischen Vollzüge. Denn der relative Ursprungsort kirchlicher Bekenntnistexte ist eben nicht der theologische Diskurs als solcher, sondern die konkret vollzogene Liturgie154, und hier noch einmal speziell der eucharistische Lobpreis, in welchem sich unter dem Gestus des Brotbrechens der erhöhte Herr real gegenwärtig setzt. Zunächst scheint diese Einsicht nur das altkirchliche Axiom »lex orandi – lex credendi« zu bestätigen: Die Liturgie als Ort gelebten Glaubens ist aus eben den genannten Gründen als Norm christlicher Wahrheit und als Quelle theologischer Erkenntnis zu würdigen. Aber diese Einsicht scheint die Liturgie gegen eine normative Verzweckung im Sinne der »lex credendi« noch nicht hinreichend abzusichern.155 Einem Vorschlag Andrea Grillos folgend, bietet es sich deshalb an, das altkirchliche Axiom »lex orandi – lex credendi« um die Formel »lex ritus – lex fidei«156 zu erweitern. Diese Formel hat den Vorteil, gegenüber einem rein transitiven und begrifflichen, d.h. zeichenhaft-semanti153 154

155

156

S.o. Anm. 73. Vgl. Günter BADER: Art. »Ritus III. Kirchengeschichtlich und systematisch-theologisch«, in: TRE Bd. 29 (1998) 270–279, hier 276: »[…] Die Tatsache, daß religiöse Gemeinschaften zwar bestanden haben und bestehen können ohne ausgebildete Theologie, nicht aber ohne praktizierten Ritus, [mahnt] die Theologie dazu, sich selbst in ihrem Tun die relative Priorität des Ritus vorauszusetzen. Aber das heißt, daß die fortwährende Herkunft aus dem Ritus nicht folgenlos bleiben kann für eine Theorie der Theologie.« Ähnlich auch Andrea GRILLO: ›Intellectus fidei‹ und ›intellectus ritus‹. Die überraschende Konvergenz von Liturgietheologie, Sakramententheologie und Fundamentaltheologie, in: LJ 50 (2000) 143–165, hier 146f. Vgl. Arno SCHILSON: Art. »lex orandi – lex credendi«, in: LThK3 Bd. 6, 871f. Schilson macht aufmerksam auf die völlige Umkehrung dieses Axioms zugunsten einer lehramtlich garantierten und definierten »lex credendi«, wie Pius XII. sie in seiner Enzyklika »Mediator Dei« (1947) in Abwehr einer romantischen Verabsolutierung der »lex orandi« als alleiniger Quelle und Norm des Glaubens vorgenommen hat. Vgl. Andrea GRILLO: ›Intellectus fidei‹ und ›intellectus ritus‹. Die überraschende Konvergenz von Liturgietheologie, Sakramententheologie und Fundamentaltheologie, aaO. (s.o. Anm. 154). Es handelt sich bei diesem Aufsatz um die ins Deutsche übersetzte Zusammenfassung einer im Jahre 1995 am Istituto di Liturgia Pastorale in Padua eingereichten Dissertation: Teologia fondamentale e liturgia. Il rapporto tra immediatezza e mediazione nella riflessione teologica, CCS Bd. 10, Padova: Messaggero (1995).

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

157

schen Verständnis der Liturgie deren intransitive, symbolische und vorbegriffliche, d.h. ihre rituelle und pragmatische Dichte stärker ins Licht zu rücken.157 Sobald man nun das Gewicht auf diese Zusammenhänge legt, kommt hinsichtlich unserer Thematik folgendes an den Tag: Wo Christen einander eucharistische Gastfreundschaft gewähren, da tun sie dies weniger aufgrund einer intellektuell-kognitiven Übereinstimmung in der Doktrin, sondern eher aufgrund einer rituell-pragmatischen Übereinstimmung in der Liturgie.158 Mit andern Worten: Es sind die im Gottesdienst miteinander gesprochenen und vollzogenen Gebete und Gebärden, die Übereinstimmung herstellen – Übereinstimmung nicht zunächst und vor allem hinsichtlich des kognitiven Gehaltes der Glaubenswahrheit, sondern hinsichtlich ihres existentiellen Lebensvollzugs.159 Denn die Existentialität der vollzogenen Hingabe bringt an den Tag, wie sehr wir bei aller unterschiedlichen Konfessionalität in gleichen Lebenszusammenhängen gründen. Was nämlich vollzieht der eucharistische Lobpreis anderes als – dankende Hingabe an Gott?! Und was beinhaltet dankende Hingabe an Gott anderes als – Einwilligung in jene Bewegung unvordenklicher Freigiebigkeit, aus der dem Menschen das Leben immer schon gewährt ist?! Im Kontext eucharistischer Phänomenologie kam ja an den Tag, daß liturgisch Dank zu sagen soviel bedeutet wie, einzustimmen in jene trinitarische Hingabegebärde, in welcher der dreifaltig-eine Gott sich dem Menschen offenbart als 157

158

159

Andrea GRILLO: ›Intellectus fidei‹ und ›intellectus ritus‹. Die überraschende Konvergenz von Liturgietheologie, Sakramententheologie und Fundamentaltheologie, aaO. 146. – Vgl. dazu auch Elmar SALMANN: Was ist Kult? Zum Verhältnis von Liturgie und Leiblichkeit, in: EO 12 (1995) 245–251. Vgl. ebd. 160. – Dazu auch Richard SCHAEFFLER: Kultisches Handeln. Die Frage nach Proben seiner Bewährung und nach Kriterien seiner Legitimation, in: Peter Hünermann/ Ders. (Hg.): Ankunft Gottes und Handeln des Menschen, Freiburg i.Br.: Herder (1977) 9–50. Mit einer solchen Gegenüberstellung soll nicht einem kurzatmigen Alternativismus das Wort geredet werden. Natürlich wäre es töricht, zu meinen, man könne die kognitiven Gehalte christlicher Dogmatik überspringen, weil ja das konkrete Leben gegenüber der satzhaften Lehre einen Vorsprung in der Sache habe, die ästhetischen Symbole der Liturgie den Canones im »Denzinger« vorzuziehen seien, überhaupt die lebendige Erfahrung gegen den tönernen Begriff stehe. Solche Alternativen sind fatal, weil sie übersehen, daß alle Anstrengung des Begriffs nur der Bewährung und Bewahrung der Glaubenserfahrung dienen will, daß umgekehrt »Erfahrung« eine höchst diffuse Kategorie der Glaubensvermittlung und -aneignung sein kann, daß schließlich jedes geglückte theologische System ein offenes System ist: offen auf lebendige Überlieferung, auf Erfahrung und Praxis hier und jetzt. Gleichwohl kann es bisweilen hilfreich sein, versuchsweise das Pferd auch einmal von hinten aufzuzäumen. Dann käme nämlich vielleicht an den Tag, daß die kognitiven Gehalte der Glaubenswahrheit ihren Ursprung tatsächlich in existentiellen Lebensvollzügen haben und sich von diesen nur um den Preis der eigenen Irrelevanz entfernen.

158

III. Welt im Modus des Dativs

»Einheit von Geber, Gabe und Geschehen des Gebens, als reine Weg-Gabe seiner selbst.«160 Schaut man nun genauer her, so zeigt sich, daß eine solche Einwilligung alles andere als ein harmloser Vorgang ist (eucharistische Gastfreundschaft anzubieten, ist immer auch Einladung zu etwas sehr Ernstem). Denn meine Einwilligung in die trinitarische Hingabegebärde vollzieht sich ja als radikale Akzeptanz der Gefährdung, der Sterblichkeit und Grundlosigkeit meiner Existenz. Nur in dieser Akzeptanz, die nichts anderes darstellt als eine völlige Preisgabe aller wirklichen oder vermeintlichen Selbstbehauptung, leuchtet der göttliche Grund aller Grundlosigkeit auf: eine durch nichts zu rechtfertigende und gerade darin unvordenkliche göttliche Freigiebigkeit, die mein Leben immer schon wollte und in der ich gerechtfertigt bin bis auf den Grund meiner Seele. Einwilligung in das unvordenkliche Gegebensein vollzieht sich insofern als ein gleichursprüngliches SichVerlieren und Sich-Gewinnen, es wird zu einer Gestalt des Opfers, die den betenden Menschen in jene Freiheit führt, zu der er von Anfang an bestimmt war: in die Freiheit absichtsloser Güte (¢g£ph), aus der sein Leben entspringt und in der die vitale Angst, zu kurz zu kommen, keinen Ort mehr hat. Vom Vollzug des eucharistischen Gebetes her, wie eine Phänomenologie der eucharistischen Gabe sie beschreibt, wird damit nun auch deutlich, welcher theologische Stellenwert der Rede vom »Opfer der Kirche« (diesem ewigen Streitpunkt zwischen den Konfessionen) zukommt161: Eucharistie als Danksagung für das Empfangene versetzt den Menschen in eine un vo rden kl ic he Pa ss i vitä t insofern, als er hier rückgebunden wird an jene trinitarische Freigiebigkeit, der er sein Leben verdankt. Eucharistie als Danksagung für das Empfangene ist immer aber zugleich auch ein Vorgang hö ch ster A k ti vi tä t, denn der Mensch wendet hier das im Raum des dreifaltigen Gottes Empfangene zurück auf jenen Ursprung, aus dem er es empfangen hat. Die Haltung, in der diese eucharistische Aktivität sich vollzieht, läßt sich im Sinne einer »demütigen Souveränität« beschreiben: Der Mensch möchte auch etwas wirken, er will nicht nur empfangen. Und doch ist auch dieses Wirken immer schon gnadenhaft ermöglicht; es verdankt sich einem unvordenklichen, dem inner160 161

Vgl. oben Anm. 4. Die Irritationen, welche die Rede von der Eucharistie als einem »Opfer der Kirche« bis heute interkonfessionell erregt, könnten längst aus dem Weg geräumt sein, würde man nur einmal die Übereinkünfte zur Kenntnis nehmen, die hierzu in den langjährigen Gesprächen des »Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen« erzielt worden sind. (Vgl. dazu oben Anm. 14 sowie Vf.: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, aaO. 308–320.)

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

159

trinitarischen Gespräch entsprungenen Gewirktsein, das leugnen oder hinter das zurückgehen zu wollen einer unmöglichen Selbstüberhebung gleichkäme. In diesem gnadenhaft ermöglichten, gerade darin aber wirklichen Selbststand des Menschen verortete nun Marion, wie wir sahen, die Bedingung der Möglichkeit sowohl des persönlichen als auch des gemeinschaftlichen Gebets der Kirche: Die im eucharistischen Lobpreis sich ereignende Berührung ist Zueignung von Gegenwart (»don de la présence«162); sie ist ein in der Gleichursprünglichkeit von Intimität und Abstand sich vollziehendes Hingabegeschehen zwischen Gott und Mensch, in welchem der Mensch seiner doppelten Verwiesenheit inne wird: ganz von Gott herkommend ganz auf ihn hingeordnet zu sein. In diese doppelte Verwiesenheit einzustimmen (und nichts anderes tut das liturgische »Amen«, mit welchem der Gläubige seine Zustimmung zum eucharistischen Hochgebet bekräftigt), ist nun aber alles andere als ein leichtes Unterfangen. Denn wer »Amen« sagt zu seiner Herkünftigkeit aus Gott und zu seiner Hinkünftigkeit auf Gott, wird weit über sich und das in seinen Kräften Stehende hinausgerissen. In gewisser Weise, so wird man wohl sagen müssen, nehmen die zur Eucharistie versammelten Christen immer den Mund zu voll, wenn sie ihr »Amen« sprechen.163 Denn dieses Einverständnis nicht nur verbal zu bekunden, sondern in der Haltung absichtsloser Güte (¢g£ph) existentiell darzuleben, scheint menschliche Kräfte zu übersteigen. Zugleich aber gilt, daß ihrem Einverständnis immer schon Christi Hingabe zugrunde liegt, ihr zustimmendes »Amen« immer schon getragen und eingeborgen ist im christologischen fiat voluntas tua. Erneut stößt die menschliche Aktivität (in diesem Fall das eucharistische offerre der Kirche) auf eine ihr zugrundeliegende unvordenkliche Passivität – ein Zusammenhang, den Augustinus (der Kirchenvater der noch ungeteilten lateinischen Christenheit) auf die lakonische Formel brachte, die Christen würden »in dem, was sie darbringen, selbst dargebracht.«164 Hält man sich diese Zusammenhänge vor Augen, dann vollzieht sich das »Opfer der Kirche« dort, wo die zur Feier der Eucharistie versammelten Christen einstimmen in dieses Dargebracht-Werden. Das liturgische Passiv erscheint dann als eine weitere, nun aber existentiell verdichtete und insofern zu ethischer Tat drängende Ausfaltung jener transzendentalen Vorgängigkeit, in welcher der Mensch seine Exis162 163 164

S.o. Anm. 86. Vgl. DsE 276. De civ. Dei X, 6: »Hoc est sacrificium Christianorum: multi unum corpus in Christo. Quod etiam sacramento altaris fidelibus noto frequentat ecclesia, ubi ei demonstratur, quod in ea re, quam offert, ipsa offeratur.«

160

III. Welt im Modus des Dativs

tenz im Modus des Dativs erfährt: Ich bin mir gegeben als ein mich absichtsloser Güte verdankendes Wesen. Aus der betenden Verinnerlichung dieses Wissens gebiert die Haltung selbstvergessener ¢g£ph. Sie bewahrheit sich vielleicht nirgendwo deutlicher als in jener Freude, die der Erfahrung entspringt, daß Geben seliger ist als Nehmen (vgl. Apg 20,35).165 Blickt man von hier aus zurück auf die verschiedenen Aspekte einer Phänomenologie der eucharistischen Gabe, so sind es drei Fluchtlinien, in denen sich jene abgründige, selig-beseligende Erfahrung bündelt – Fluchtlinien, die auch und vor allem im Kontext der Frage nach einer allfälligen Kultur eucharistischer Gastfreundschaft von nicht zu unterschätzendem Interesse sind: (i) Da ist zum einen die Haltung selbstvergessener Freigiebigkeit: »Mit seiner Verschwendung durchbricht der Liebende die Grenzen von Autonomie und Heteronomie. Wohlwollen enthält […] ein Moment der Verschwendung; der kleinliche Mensch ist unfähig dazu.«166 (ii) Da ist zum anderen die Haltung selbstvergessener Hingabe: Liebe muß geben, denn nur im Akt des Gebens besitzt sie wirklich und ist sie selig. (iii) Da ist schließlich die Haltung selbstvergessener Empfänglichkeit: »Nur die Annahme wird verlangt. Die Gabe ruft nach keiner anderen Gegengabe. […] Sind wir aber […] fähig, in unserem Gebet diese Hingabe zu leisten: die Gabe zu empfangen?«167 An der Beantwortung vor allem der letzten Frage entscheidet sich, ob die Gewähr eucharistischer Gastfreundschaft menschliche Selbstüberhebung darstellt oder ob sie sich zu einem Gestus der Wahrhaftigkeit verdichtet: zu der sakramentalen Erfahrung, als (scheinbarer) Gastgeber zusammen mit den Gästen selbst zu einem Bewillkommneten geworden zu sein.168 Die liturgische Gestalt eucharistischer Hingabe an Gott, wie die verschiedenen christlichen Konfessionen und Kirchen sie praktizieren, nicht nur theoretisch kennenzulernen, sondern sie womöglich mit ihnen gemeinsam betend einzuüben und darin jenem dreifaltigeinen Gott zu begegnen, der als »Einheit von Gabe, Geber und Geschehen des Gebens« »reine Weg-gabe seiner selbst« ist, wäre inso165

166 167

168

Vgl. Josef WOHLMUTH: »Geben ist seliger als nehmen.« (Apg 20,35). Vorüberlegungen zu einer Theologie der Gabe, in: Erwin Dirscherl/Susanne Sandherr/Markus Thomé/ Bernhard Wunder (Hg.): Einander zugewandt. Die Rezeption des christlich-jüdischen Dialogs in der Dogmatik, Paderborn u.a.: Schöningh (2005) 137–159. Kenneth L. SCHMITZ: Das Geschenk des Seins: Die Schöpfung, aaO. 102. Jean-Luc MARION: Intimität, 223. Ähnlich auch Joseph RATZINGER: »Christliches Opfern besteht nicht in einem Geben dessen, was Gott ohne uns nicht hätte, sondern darin, daß wir ganz Empfangende werden und uns ganz nehmen lassen von ihm. Das Handelnlassen Gottes an uns – das ist das christliche Opfer.« (Einführung in das Christentum, München: Kösel [1985] 233.) In diesem Sinn ist auch das schöne Wort von Romano Guardini zu verstehen: »Der Gast bringt Gott herein«. (Vgl. dazu oben Anm. 16.)

Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe

161

fern nicht das geringste unter den Anliegen, denen sich das Theologische Studienjahr auf dem Jerusalemer Zionsberg gewidmet weiß.169 Denn Jerusalem ist nicht nur der Ort, wo die zahllosen liturgischen Traditionen der einen Christenheit ihren geistigen Ursprung haben; Jerusalem könnte auch der Ort sein, wo gilt: »Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen« (Joh 14,2).170 Wo aber viele Wohnungen, da gilt nicht nur die Einladung: »Kommt, und seht!« (Joh 1,39); da könnte womöglich auch die eucharistische Konkretisierung jener Einladung gelten, die da lautet: »Schmecket und sehet wie gütig der HErr« (Gustate, et videte quoniam suavis est Dominus [Ps 33,9 ‹Vg›/1Petr 2,3).

169 170

S.o. Anm. 21. So lautet auch der Titel der eindrucksvollen, mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichneten Kinodokumentation von Hajo SCHOMERUS aus dem Jahre 2010, der das prekäre Zusammenleben der sechs in der Jerusalemer Grabeskirche beheimateten Konfessionen behutsam nachzeichnet.

IV. WELT TRANSZENDIEREN? WELT TRANSFORMIEREN? Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie Leo Langemeyer zur Goldenen Priesterweihe

1. EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG Wie soll man die Existenz eines Christenmenschen am Beginn des 21. Jahrhunderts beschreiben? Gilt für sie jenes erschreckende Wort Karl Rahners, der die sog. »christliche Weltbejahung« pervertiert sah in eine Bürgerlichkeit, die ihren Frieden gemacht hat mit dem lieben Gott und den bestehenden Verhältnissen?1 Müßte demgegenüber auch für einen heutigen Christenmenschen nicht gelten, was den Christen der Spätantike eine Selbstverständlichkeit war: Fremdlinge zu sein in der Welt, Beisassen, Paröken, immer zum Auszug bereit, weil ihnen diese vergängliche Welt »keine bleibende Stadt« (Hebr 13,14) bietet?2 Oder hat man in einer solchen Haltung des Auszugs 

1

2

Der vorliegende Text wurde am 16. Januar 2008 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien als Gastvorlesung gehalten; für die Drucklegung wurde er leicht überarbeitet und an einzelnen Stellen ergänzt. Die in ihm verhandelte Thematik war im 33. Theologischen Studienjahr (2006/07) Gegenstand eines liturgietheologischen Hauptseminars. Karl RAHNER: Die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit, in: Ders.: Schriften zur Theologie Bd. III, Einsiedeln: Benziger (71967) 329–348, hier 336f. – Vgl. auch Johann Baptist METZ: Jenseits bürgerlicher Religion. Rede über die Zukunft des Christentums, Forum Politische Theologie 1, München/Mainz: Kaiser/Grünewald (1980). Zur Frage nach der frühchristlichen Weltentsagung vgl. Christoph MARKSCHIES: Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen, München: Beck (2006) 161–166; Gerd THEISSEN: Die Religion der frühen Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (42008) 123–146; DERS.: Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (2007) 448–455. Hingewiesen sei aber auch auf die steileren Thesen von Peter BROWN: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München: Beck (1991).

164

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

aus der Polis3 (Hebr 13,13) nur einen typischen Ausdruck christlicher Weltverachtung zu sehen? Ist statt dessen nicht vielmehr dem Jesuitenmärtyrer Alfred Delp (1903–1945) unbedingt beizupflichten, als er die Weltverantwortung der Christen in die prophetischen Worte kleidete: »Kein Mensch wird an die Botschaft vom Heil […] glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienst des vielfältig kranken Menschen«?4 Schwierige Fragen! Unter der Gefahr grober Vereinfachung will ich sie auf folgenden Nenner bringen: Christsein bedeutet radikal sein: radikal weltfremd ebenso wie radikal weltzugewandt – beides zugleich.5 Dies ist nun freilich eine griffige, womöglich allzu griffige Formel. Um sie aus ihrem reinen Formeldasein zu befreien, müßte man die in ihr angedeutete Dialektik von Weltfremdheit und Weltzugewandt3

4

5

Vgl. Christoph SCHMIDT: Auszug aus der Polis. Anmerkungen zu Erik Petersons ›Buch von den Engeln: Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus‹ von 1935, in: Nikodemus C. Schnabel (Hg.): Laetare Jerusalem. Festschrift zum 100jährigen Ankommen der Benediktinermönche auf dem Jerusalemer Zionsberg, JThF 10, Münster: Aschendorff (2006) 368–388. Alfred DELP: Das Schicksal der Kirchen [1944/45], in: Ders.: Gesammelte Schriften (Hg. Roman Bleistein), Bd. IV: Aus dem Gefängnis, Frankfurt a.M.: Knecht (21985) 318–323, hier 319ff.: »›Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen‹ (Mk 10,45). Man muß nur die verschiedenen Realitäten kirchlicher Existenz einmal unter dieses Gesetz rufen und an dieser Aussage messen und man weiß eigentlich genug. Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen. […] Rückkehr in die ›Diakonie‹ [… ‹ – ›] damit meine ich das SichGesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte oder Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. ›Geht hinaus‹ hat der Meister gesagt, und nicht: ›Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt.‹ […] Es hat keinen Sinn, mit einer Predigt- und Religionserlaubnis, mit einer Pfarrer- und Prälatenbesoldung zufrieden die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. […] Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts. Immer noch liegt der ausgeplünderte Mensch am Wege. Soll der Fremdling ihn noch einmal aufheben? Man muß, glaube ich, den Satz sehr ernst nehmen: was gegenwärtig die Kirche beunruhigt und bedrängt, ist der Mensch. Der Mensch außen, zu dem wir keinen Weg mehr haben und der uns nicht mehr glaubt. Und der Mensch innen, der sich selbst nicht glaubt, weil er zu wenig Liebe erlebt und gelebt hat. Man soll deshalb keine großen Reformreden halten und keine großen Reformprogramme entwerfen, sondern sich an die Bildung der christlichen Personalität begeben und sich zugleich rüsten, der ungeheuren Not des Menschen helfend und heilend zu begegnen.« Vgl. Christian WIRZ: Der gekreuzigte Odysseus. ›Umbesetzung‹ als Form christlichen Verhältnisses zur Welt als dem Anderen (ratio fidei 28), Regenburg: Pustet (2005) 12.

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 165

heit, Weltüberschreitung und Weltverwandlung an einem konkreten Beispiel erproben. Ich wähle zu diesem Zweck die Sakramententheologie, und zwar in ihrem konkreten, d.h. liturgischen Vollzug. Denn wo wenn nicht in der Liturgie erfahren sich die Christen als hineinversetzt in die Dialektik von Transzendenz und Immanenz, Weltüberschreitung und Weltverwandlung?!6 – Wie aber stellt sich diese Dialektik dar? Man kann sie sich vielleicht folgendermaßen verdeutlichen: Die Liturgie, so die eine Position, will diese dem Tod verfallene Welt hinter sich lassen; sie will sie überschreiten auf das ganz Andere hin, auf den weltjenseitigen Gott, von dem allein Rettung und Heil zu erwarten ist. Aber diese Sicht, so sehr sie zweifelsohne ein wesentliches Merkmal der Liturgie trifft, ist einseitig. Denn der weltjenseitige Gott hat in dem Menschen Jesus von Nazareth die Welt zum Medium seiner liebenden Selbstmitteilung gemacht – und damit gerät sofort eine andere Seite ins Blickfeld. Sie läßt sich wie folgt beschreiben: Liturgie will die Welt, wie wir sie kennen, nicht nur transzendieren; sie will sie immer auch transformieren; sie will vorweggreifen auf das Reich Gottes, das mit Jesus angebrochen ist; sie will in ihren sakramentalen Zeichen und Figuren das Unausdenkliche, die eschatologische Versöhnung wenn schon nicht herbeizwingen, so doch wenigstens heilsam antizipieren. Am Beispiel zweier theologischer Entwürfe möchte ich die Spannung, die in diesem Gegensatzpaar an den Tag kommt, exemplarisch darstellen: Es handelt sich zum einen um die Mysterientheologie des Benediktiners Odo Casel, zum anderen um die kritische Sakramententheorie des vormaligen Jesuiten Franz Schupp. Der Grund für diese Wahl entspringt dabei weniger einem theologiegeschichtlichen als einem dezidiert systematischen Interesse. Das Problem, um das es mir geht, lautet nämlich, ob die Gegensätze von Weltüberschreitung und Weltverwandlung beziehungslos nebeneinander stehen bleiben müssen, oder ob nicht vielmehr die spezifisch hermeneutische Leistung der Liturgie gerade darin besteht, diese Gegensätze miteinander zu vermitteln? Hermeneutische Vermittlung kann nun aber keineswegs spannungslose Versöhnung meinen. Vielmehr ist zu überlegen, ob jene hermeneutische Vermittlung, wie die Feier der Sakramente sie intendiert, nicht gerade umgekehrt be6

Damit ist zugleich deutlich, daß es mir bei den folgenden Überlegungen nicht um einen Ausflug in fremde Gefilde geht. Nicht im Gebiet des Liturgiewissenschaftlers will hier der Dogmatiker wildern, sondern die liturgische Praxis der Sakramente soll mir als eine Art Prüfstein für die dogmatische Reflexion über die Sakramente dienen. Wenn dabei zugleich an den Tag käme, daß die theologischen Disziplinen trotz aller unbestrittenen methodischen und inhaltlichen Unterschiede das selbe Feld beackern und deswegen zusammenarbeiten müssen, so wäre dies ein erfreulicher Nebengewinn der folgenden Überlegungen.

166

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

deutet, die genannten Gegensätze in eine kreative, d.h. metaphorische Spannung zu versetzen, in der sich etwas Neues, Unabgegoltenes zu sehen gibt. Was ist dieses Neue? Es ist die in der Feier der Sakramente (hoffentlich) sich einstellende Erfahrung, daß hier eine Wirklichkeit an den Tag kommt, die als weltüberschreitende eine die Welt verwandelnde ist: nämlich die Wirklichkeit der von Jesus verkündeten und durch seine Errettung aus dem Tod definitiv angebrochenen Gottesherrschaft. Versuchen wir, jene kreative Spannung anhand der Überlegungen von Casel (2.) und Schupp (3.) sowohl von der einen wie von der anderen Seite her zu entfalten, um dann in einem dritten Schritt zu überlegen, wie eine solche hermeneutische Vermittlung der scheinbar unvereinbaren Gegensätze von Weltverwandlung und Weltüberschreitung, in der das schlechterdings Neue des Reiches Gottes unter den Bedingungen der alten, unerlösten Welt zum Vorschein kommt, gedacht werden kann (4.). 2. WELT TRANSZENDIEREN: LITURGIE ALS MYSTERIENTHEOLOGIE (ODO CASEL) Odo Casel (1886–1948), Mönch der Benediktinerabtei Maria Laach in der Eifel, gilt als einer der großen Erneuerer sakramentalen Denkens in der katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts. In bewußter Opposition zum Formalismus der neuthomistischen Schule seiner Zeit versteht Casel die Feier der Sakramente als Mysterienfeier, als heiliges Spiel, als eine im Pneuma des dreifaltigen Gottes sich ereignende kultisch-dramatische Vergegenwärtigung des transitus Christi7, nämlich seines Durchgangs durch den Tod zum Ewigen Vater. An diesem dramatischen Geschehen erhalten alle, die (als Eingeweihte) an der Feier der christlichen Mysterien teilnehmen, wirklichen Anteil. Am Beispiel der Taufperikope Röm 68 lassen sich die Zusammenhänge, die Casel vor Augen stehen, auf eindrückliche Weise veran7

8

Am eindrücklichsten durchgeführt in Odo CASEL: Die Messe als heilige Mysterienhandlung [1923], in: Mysterium. Gesammelte Arbeiten Laacher Mönche, Münster (1926) 29–52, wiederveröffentlicht in: Odo Casel: Mysterientheologie. Ansatz und Gestalt, hg. vom Abt-Herwegen-Institut der Abtei Maria Laach. Ausgewählt und eingeleitet von Arno Schilson, Regensburg: Pustet (1986) 87–109. Röm 6,3–11: »Wißt ihr nicht, daß wir alle, die wir auf Jesus Christus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 167

schaulichen. Wenn Paulus davon spricht, daß der Katechumene im Moment der Taufe Anteil erhalte am Todesgeschick Christi, dann ist damit nicht eine gedankliche, sondern eine existentiell-ontische Schicksalsgemeinschaft mit Christus gemeint. Einmal in eine solche Schicksalsgemeinschaft eingetreten, kann das Leben des Christen fürderhin nur noch von Christus her sinnhafte Gestalt gewinnen. Sein Leben von Christus durchformen lassen kann der Getaufte aber nur, wenn er regelmäßig teilhat an der Feier der Mysterien. In ihr wird die in der Taufe grundgelegte Schicksalsgemeinschaft mit Christus sakramental erneuert. Man sieht hier auf Anhieb, daß Casel in Aufnahme neutestamentlicher und patristischer Denkweisen die Identität des Christen als ein »Sein in Christus« (εἶναι ἐν Χριστῷ)9 bestimmt. Ein solches sakramental gegründetes, in der Feier der Liturgie immer wieder erneuertes »Sein in Christus« erfordert aber, »daß die eine Heilstat [Christi] durch das kultische Mysterium der Kirche dem einzelnen Gläubigen zugänglich« werde. Denn nur wenn der Gläubige »durch das Symbol der Sakramente hindurch jene Heilstat berühren und sich zu eigen machen kann«10, bestehe die Möglichkeit, immer tiefer hineinzuwachsen in das Leben des dreifaltigen Gottes. Die Grundidee der Mysterientheologie, die Casel nicht zuletzt im Rückgriff auf die antiken Mysterienkulte entwickelt hat11, ist damit deutlich am Tag: Das liturgische Gedächtnis der Heilstat Christi vollzieht sich nicht in subjektiver oder intellektueller Erinnerung, die stets rückwärtsgerichtet bleiben; vielmehr versetzt die liturgische Feier in ihrer symbolischen Handlungsgestalt den Gläubigen in eine »Gleichzeitigkeit«12 mit dem gekreuzigten, auferweckten und

9

10

11

12

von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, daß Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für allemal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus.« Die Formel »ἐν Χριστῷ« begegnet in den paulinischen Briefen 164 mal; sie kommt vor Paulus gar nicht, außerhalb des Corpus Paulinum nur selten vor und bezeichnet eine Form des existentiellen Einsseins mit Christus, die für eine vom Erlösungsgeschehen abgetrennte Schau des Lebens keinerlei Platz läßt. Vgl. Albrecht OEPKE: Art. »ἐν. B. 3: ἐν Χριστῷ, ἐν Κυρίῳund verwandte Formeln«, in: ThWNT II, 537. 20 – 538. 39. Alle Zitate Odo CASEL: Glaube, Gnosis und Mysterium, in: JLW 15 (1935) 155–305, hier 257. Vgl. dazu bei CASEL insbesondere das religionsgeschichtliche Einleitungskapitel in seinem Werk: Die Liturgie als Mysterienfeier. Maria Laach: Ecclesia Orans 9 [1922], 3.–5. verbesserte Aufl., Freiburg i.Br.: Herder (1923) 1–44. Vgl. Romano GUARDINI: Vom liturgischen Mysterium [1925], wiederabgedruckt in: Werke (Hg. Franz Henrich): Liturgie und liturgische Bildung, Mainz – Paderborn: Grünewald/Schöningh (21992) 111–155, hier 126. Ähnlich auch Cyprian KRAUSE:

168

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

erhöhten Herrn – eine Gleichzeitigkeit, die sich in mysterio bzw. ἐν πνεύματι ereignet. Es ist hier nicht zu diskutieren, ob und inwieweit die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen, auf denen Casel seine Mysterientheologie aufbaut, haltbar sind.13 Was uns im Rahmen unserer Fragestellung besonders interessieren muß, ist vielmehr, daß Casel seiner Mysterientheologie ein platonisierendes Urbild-Abbildtheorem zugrunde legt: »Tod und Auferstehung [Christi]«, so Casel wörtlich, »sind Urbilder (im Sinne der idea exemplaris der platonischen Ideenlehre), die ihre Abbilder hervorrufen. Abbilder dieser Urbilder aber sind die Mysterien, die uns dem Urbilde [insofern] ebenbildlich machen«14, als sie uns in die unmittelbare Gegenwart der Heilstat Christi stellen.15 Diese Konzeption hat zwar den Vorteil, in gewisser Weise zu plausibilisieren, wie die Gegenwart Christi (hic et nunc) in der Liturgie gedacht werden kann: nämlich im Sinne einer , einer Anteilhabe des Menschen an der ewigen Selbsthingabe Christi, deren Urbild im Himmel sich in den sakramentalen Abbildern der kirchlichen Sakramente gegenwärtig setzt.16 Jedoch wird dieser Gewinn um einen hohen Preis bezahlt. Denn Casel muß, um seine Konzeption durchhalten zu können, das Heilsgeschehen Christi auf einen »aevitern-substantialen« »Wesenskern«17 eingrenzen. Was ist dieser ewig-substantiale Wesenskern? Er besteht im Paschamysterium, d.h. in Kreuz und Auferstehung Christi und in seinem Hinübergang zum Vater. Hier, so Casel wörtlich, finden wir »das Entscheidende für unsere Erlösung. Alles andere, sein Dasein und seine Lehre, ist an sich Nebensache.«18 Man höre und staune: Jesu Naherwartung des Gottesreiches »an sich Nebensache«! Jesu Umgang mit den Sündern, sein Gebot der Feindesliebe »an sich Nebensache«! Seine Konflikte mit den religiö-

13

14

15

16

17 18

Mysterium und Metapher. Metamorphosen der Sakraments- und Worttheologie bei Odo Casel und Günter Bader (LQF 96), Münster: Aschendorff (2007) 170. Vgl. dazu Theodor FILTHAUT: Die Kontroverse über die Mysterientheologie, Warendorf: Schnell (1947). Odo CASEL: Das christliche Kultmysterium [1932], 4. durchgesehene und erweiterte Aufl., hg. von Burkhard Neunheuser, Regensburg: Pustet (1960) 135. Die Feier der Eucharistie macht »uns der Heilstat [Christi] gleichzeitig […].« (Arno SCHILSON: Theologie als Sakramententheologie. Die Mysterientheologie Odo Casels, Mainz: Grünewald [1982] 294.) Vgl. dazu auch die ganz aus dem Geist der Chrysostomusliturgie entworfene Eucharistietheologie des maronitischen Theologen Jean CORBON: Theologie aus dem Urquell, Einsiedeln: Johannes (1981). Vgl. dazu Cyprian KRAUSE: Mysterium und Metapher, aaO. 164, 182, 183. Odo CASEL: Die Mysterien Christi II, unveröffentlichte Katechesen, zitiert nach Alexander NAWAR: Opfer als Dialog der Liebe. Sondierungen zum Opferbegriff Odo Casels, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang (1999) 291, Anm. 1006.

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 169

sen und politischen Autoritäten seiner Zeit »an sich Nebensache«! – Man braucht diese fatale Bemerkung, die Casel da wohl mehr nebenbei aus der Feder geflossen ist, nur einmal in dieser Form durchzudeklinieren und man spürt das eminent Problematische seines ansonsten respektablen Neuansatzes. Die hermeneutische Spannung, die wir suchen, ist hier von vorneherein zum Erliegen gebracht, und zwar auf gleich dreifache Weise: (1) Wenn, wie Casel an vielen Stellen schreibt, die in der Feier der Liturgie sich ereignende Mysteriengegenwart eine »Gleichzeitigkeit« zwischen uns und der Ewigkeit Gottes herstellt, so daß der Pneumatiker »eintreten« kann »in den Christus aeternus«, ja ihm dadurch »gewissermaßen gleichewig« wird19 – nun, dann ist alles Wesentliche eigentlich längst passiert und für unsere Gegenwart bleibt nichts mehr zu wünschen übrig, es sei denn der subjektive Mitvollzug der Mysterien in der Gemeinschaft der Kirche. Es ist insofern nur konsequent, wenn eine im echten Sinn des Wortes auf Zukunft ausgerichtete Eschatologie bei Casel fehlt. Der Grund hierfür liegt wesentlich darin, daß Casel eine sakramentale Realpräsenz des österlichen Heilsgeschehens immer nur gegen die Zeit denken kann, nie aber unter positiver Einbeziehung menschlicher Vergänglichkeit und Ausständigkeit auf das Heil, die doch immerhin ein Existential des Menschen bezeichnen und folglich aus seiner Transzendentalität nicht einfach ausgeblendet werden dürfen.20 (2) Daraus folgt ein Zweites. Es fällt auf, daß »bei einem völligen Zusammenfall von Vergangenheit und Zukunft in der Mysterien›Gleichzeitigkeit‹ auch die Kategorie der Anamnesis, so sehr sie von Casel herausgestellt wird, eigentlich entleert und ganz in eine ästhetische Kategorie der unmittelbaren Schau hinein versetzt [wird].«21 Heil und Erlösung sind in dem selbstreferentiellen Vollzug des Kultmysteriums immer schon zugegen, sie bedeuten nichts anderes als ein mystisches Einswerden mit Gott in Christus hier und jetzt. Deswegen auch kann die Mysterientheologie einen »Exodus aus der Geschichte« betreiben, bei dem, wie Casel gerne sagt, Christus uns 19 20

21

Odo CASEL: Das christliche Kultmysterium, aaO. 178. Cyprian KRAUSE: Mysterium und Metapher, aaO. 185. – Vgl. auch THOMAS VON AQUIN: STh III q. 60, art. 3 resp.: »Unde sacramentum est et signum rememorativum eius quod praecessit scilicet passionis Christi, et demonstrativum eius quod in nobis efficitur per Christi passionem, scilicet gratiae, et prognosticum, id est praenuntiativum futurae gloriae.« »Ein Sakrament ist ein e r i n n e r n d e s Z e i c h e n dessen, was geschehen ist: nämlich des Leidens Christi; es ist ein h i n w e i s e n d e s Z e i c h e n auf das, was uns durch das Leiden Christi erwirkt wird: die Gnade; es ist schließlich ein v o r a u s s c h a u e n d e s Z e i c h e n: nämlich eine Vorverkündigung der zukünftigen Herrlichkeit.« (Übersetzung J.N.) Cyprian KRAUSE: Mysterium und Metapher, aaO. 185

170

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

»mitnimmt«22, und nicht einen Introitus in die Geschichte, wie es heutige Theologie fordern würde.23 (3) Aus all dem folgt schließlich ein Drittes: Es mutet auf den ersten Blick zwar widersinnig an, aber »allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz schätzt Casel die konkreten sakramentalen Symbole in ihrer Bedeutung relativ gering ein.« Die vermittelnde Kraft der sakramentalen Symbole, die recht eigentlich doch darin bestünde, die menschliche Lebensgestalt in einem metaphorischen Prozeß auf Gott hin allererst zu öffnen, wird immer wieder »geradezu ›übersprungen‹ auf die dahinter sich aussprechende Wirklichkeit […].«24 Der Pneumatiker hat den sakramentalen Vermittlungsprozeß immer schon hinter sich gebracht und weiß deshalb unmittelbar, was das sakramentale Zeichen bedeuten soll; er durch-schaut es gewissermaßen auf die göttliche Ewigkeit hin.25 Daher auch Casels ständige Rede vom »Schleier der Sakramente«26, hinter dem sich die Gottheit verbirgt. Durch diesen »Schleier« hindurch erschließt sich dem pneumatischen Blick des christlichen Gnostikers »unmittelbar, objektiv und sichtbar« die göttliche Bedeutung. Aus all dem erklärt sich nun auch das dezidierte Desinteresse Casels an ethischen oder sozialen Fragestellungen.27 Denn in solchen 22 23

24

25

26

27

Zitiert nach ebd. 182 (ohne Stellenangabe). Hier hat auch die scharfe Kritik ihren Ort, die Thomas RUSTER an Casel übt: »sein Ansatz im Ganzen [ist] nur geeignet, einer gefährlichen Remythisierung von Religion Vorschub zu leisten.« (Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, Paderborn: Schöningh [21997] 263, Anm. 345.) Alle Zitate Arno SCHILSON: Theologie als Sakramententheologie. Die Mysterientheologie Odo Casels, aaO. 292. Ferner ebd.: »Dieser Platonismus läuft […] auf einen Dualismus hinaus.« – Casel vernachlässigt die konkrete Gestalt des sakramentalen Symbols übrigens in ähnlicher Weise, wie er das irdische Leben Jesu auf die großen, bei Johannes überlieferten Heilstaten reduziert, ohne dem geschichtlichen Jesus der Synoptiker auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken. Casel steht hier ganz im Gefolge eines platonisch eingefärbten Origenismus, der, Hans Urs von Balthasar folgend, die Tendenz hatte, »à survoler les symboles, à déchirer les derniers voiles.« (Zit. nach Cyprian Krause, Mysterium und Metapher, aaO. 212.) Odo CASEL, Das christliche Kultmysterium aaO. 88; DERS.: Mysterium des Kommenden, Paderborn: Schöningh (1952) 60. Zumindest am Rande sei erwähnt, daß die sich dezidiert apolitisch gebende, weil ganz auf ein »Jenseits« des Weltgetümmels gerichtete Mysterientheologie der Laacher Benediktiner durchaus zu politisch fragwürdigen Optionen führen konnte. So ist zu erinnern an die von Casel als völlig selbstverständlich vorausgesetzte Option für die Monarchie als der dem christlichen Glauben recht eigentlich angemessenen Staatsform – nicht zufällig unterhielt Kaiser Wilhelm II. beste Beziehungen zu Maria Laach. Auf seine Intervention hin wurde 1892 die Hauptapsis der Abteikirche im Rahmen der Neubesiedlung von Maria Laach statt, wie geplant, mit dem Mosaik einer Sedes Sapientiae mit dem eines neo-byzantinischen ChristusPantokrator geschmückt. Hier zeitigte das für die Mysterientheologie maßgebliche

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 171

Fragestellungen artikulieren sich ja immer auch Probleme im Blick auf die geschichtliche Vermittlung des christlichen Heilsgeschehens. Daß sich in den Sakramenten nicht irgendeine Heilswirklichkeit anplatonische Hierarchiedenken (erinnert sei an die theologischen Hierarchienlehren des Dionysios Areopagita) politische Konsequenzen, die durchaus kritisch zu befragen sind (im wesentlichen handelte es sich um den Versuch, das überkommene staatliche wie kirchliche Ständewesen in exklusiver Weise als die dem göttlichen ordo angemessene politische Lebensform zu verteidigen, und zwar weil diese Lebensform dem neuplatonischen Schema einer gestuften Emanation aller Seinsbereiche aus dem Einen recht eigentlich angemessen sei). Zu erinnern ist des weiteren an die hieraus sich ergebenden Reserven gegenüber der jungen, noch ungefestigten Demokratie der Weimarer Republik als einer mit dem göttlichen ordo unvereinbaren Staatsform. Vor dem Hintergrund der an die mittelalterliche Idee des sacrum imperium angelehnten katholischen »Reichstheologie« der Romantik witterten die Laacher »Reichstheologen« Ildefons Herwegen OSB und Damasus Winzen OSB in der Morgendämmerung des Hitler-Faschismus Ende der Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre denn auch ihrerseits Morgenluft – berühmt-berüchtigt ist in diesem Zusammenhang das auf der dritten soziologischen Sondertagung des Kath. Akademikerverbandes im Juli 1933 in Maria Laach abgelegte »rückhaltlose« Bekenntnis des Laacher Abtes Herwegen »zu dem neuen Gebilde des totalen Staates«, sei dieser doch »durchaus analog gedacht […] dem Aufbau der Kirche«: »Was auf religiösem Gebiet die Liturgische Bewegung ist, ist auf dem politischen Gebiet der Faschismus.« (Zitiert nach Klaus BREUNING: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929– 1934), München: Hueber [1969] 209. Vgl. zum Ganzen auch Thomas RUSTER: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, aaO. 99–108; 252–257; Arno KLÖNNE: Die Liturgische Bewegung – erblich belastet?, in: Hansjakob Becker/Bernd Jochen Hilberath/ Ulrich Willers [Hg.]: Gottesdienst – Kirche – Gesellschaft. Inderdisziplinäre und ökumenische Standortbestimmungen nach 25 Jahren Liturgiereform [Pietas Liturgica Bd. 5], St. Ottilien: Eos [1991] 13–21; Barbara NICHTWEISS: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg i.Br. u.a.: Herder [1992] 764–775, 779. Nichtweiß belegt, daß auf der erwähnten Sondertagung des Kath. Akademikerverbandes in Maria Laach zusammen mit Franz von Papen sowie »einigen anderen ›preußischen nationalsozialistischen Staatsräten‹« auch Carl Schmitt anwesend war, dem bekanntlich die zweifelhafte Ehre zukommt, als »Kronjurist« des Dritten Reiches zu gelten [ebd. 811; vgl. auch ebd. 425].) All diese theo-politischen Optionen der Laacher Mysterientheologie konvergieren in einem autoritären Kirchenbild, das seine Anfangsgründe in einem theophanen Liturgieverständnis hat und deshalb für eine theologische Selbstrelativierung der Kirche im Sinne des »eschatologischen Vorbehalts« nur schwer zugänglich war. (Der Begriff des »eschatologischen Vorbehalts« stammt bekanntlich von Erik Peterson. Weniger bekannt ist, daß er von Peterson in kritischer Auseinandersetzung mit der Sakramententheologie Odo Casels gebildet wurde. Vgl. Barbara NICHTWEISS: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, aaO. 490.) Es sind denn wohl auch nicht zufällig Jesuitentheologen gewesen (allen voran Erich Przywara), aus deren Kreisen der Laacher Mysterientheologie die schärfste Kritik erwuchs. – Zur Ehrenrettung Herwegens sei immerhin notiert, daß er im Sommer 1934 gegenüber dem Zentrumspolitiker Joseph Joos einbekannte: »Wie habe ich mich geirrt.« (Zitiert nach Wilhelm VERNEKOHL: Peter Wust. Biographische Notizen, in: Peter Wust. Gesammelte Werke Bd. VIII, Münster: Regensberg [1967] 94.)

172

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

zeigt, sondern die von Jesus verkündete Basileia – daß also die in den Sakramenten an den Tag kommende Heilswirklichkeit die vergängliche Welt nicht nur e k st a t i sc h t ra n sze n d i e re n, sondern auch heils a m t ra n s fo r m i e ren will, genau dies übersieht Casel. Deshalb bleiben seine Einsichten bis zuletzt ambivalent: Auf der einen Seite haben wir es in der Mysterientheologie mit einer Konzeption zu tun, die die Sakramente im originären Spiel der Liturgie neuverortet und gelehrte Theologie und gelebte Frömmigkeit in ein lebendiges Verhältnis zu setzen weiß – darin liegt zweifelsohne Casels großes Verdienst gegenüber dem trockenen Formalismus der neuthomistischen Schule seiner Zeit. Auf der anderen Seite wird jedoch immer schon vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre: wie eine geschichtliche Vermittlung des in den Sakramenten gegenwärtig behaupteten Heils denkbar sei. Genau hieran hat sich denn auch der entscheidende Protest entzündet; in exemplarischer Weise ist er von Franz Schupp formuliert worden. In Schupps aufsehenerregendem Entwurf einer »Kritischen Theorie sakramentaler Praxis« werden die Sakramente im Vergleich zu Casel geradezu vom anderen Ende her bedacht: nicht sub specie mysterii et aeternitatis, sondern sub specie societatis et historiae. Schupps Sakramententheologie versteht sich als dezidiert religions- und gesellschaftskritisch; anders als die welttranszendierende Mysterientheologie ist sie ganz auf Welttransformation angelegt. Schauen wir uns seinen Entwurf ein wenig genauer an.28 3. WELT TRANSFORMIEREN: LITURGIE ALS GESELLSCHAFTSKRITISCHE PRAXIS DER HOFFNUNG (FRANZ SCHUPP) Ähnlich wie Casel bezeichnet auch Schupp (* 1936) das liturgische Handeln der Kirche als ein »symbolisches Handeln«. Jedoch geht es der kritischen Sakramententheorie nicht um die Vermittlung eines im Christusereignis »metaphysisch« verwirklichten und im Glauben »pneumatisch« bereits gegenwärtigen Heils, sondern um die Zukunft 28

Für das Folgende Franz SCHUPP: Glaube – Kultur – Symbol. Versuch einer kritischen Theorie sakramentaler Praxis, Düsseldorf: Patmos (1974). Die Zitationsstellen werden im laufenden Text in runden Klammern wiedergegeben. – Zumindest am Rande sei auf das keineswegs abseitige Detail hingewiesen, daß Franz Schupp (* 1936) sein Abitur an dem von Benediktinern geleiteten Wiener Schottengymnasium abgelegt hat – dann aber nicht bei den Benediktinern sein Theologiestudium aufnahm, sondern in Innsbruck bei den gegenüber der Mysterientheologie höchst kritisch eingestellten Jesuiten. (Vgl. Walter RADBERGER/Hanjo SAUER (Hg.): Vermittlung im Fragment. Franz Schupp als Lehrer der Theologie, Regensburg: Pustet [2003] 271–313.)

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 173

einer gesellschaftlich möglichen, im sakramentalen Symbol antizipierten versöhnten Wirklichkeit. Als Grundsymbol aller liturgischen Praxis gilt deshalb das Kreuz Jesu. Es legt unmißverständlich Protest ein gegen alles entfremdete Leben, ja ist selber dessen schärfster Ausdruck – und behauptet doch zugleich, »daß der Mut zum fragmentarischen Leben dort sinnvoll ist, wo dieses Fragment-Sein in den Dienst der Aufhebung von Leiden der anderen gestellt ist.« (8) Insofern begreift sich die kritische Sakramententheorie als elementar praxisorientiert. Statt nach einer »Versöhnung in mysterio«, die ihrem Verständnis nach immer nur abstrakte Versöhnung ist (vgl. 213)29, strebt die kritische Sakramententheorie nach einer konkreten Versöhnung der unerlösten gesellschaftlichen Verhältnisse – um sich gleichwohl auch damit nicht zufrieden zu geben. Denn die Idee umfassender Versöhnung strebt über die gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus; sie will mehr als das Machbare, sie will eine Versöhnung der menschlichen Geschichte schlechthin – will also noch die utopische Rettung der Toten (vgl. 217)30, ja sie strebt nach Heilung aller nur denkbaren Zerrissenheiten: Heilung der Antagonismen von Geist und Natur, Sinnlichkeit und Vernunft, Freiheit und Notwendigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit (vgl. 265). Man spürt hier ein Versöhnungspathos, das nicht zuletzt an den jungen Karl Marx erinnert31 und sich wesentlich aus den prophetischen Quellen des Alten Testamentes speist. Als Chiffre für den kultur- und ideengeschichtlichen Kontext der kritischen Sakramententheorie steht denn auch nicht zufällig die Epochenschwelle von 1968; die Umbrüche, die sich in jener Zeit auch und gerade in Theologie und Kirche vollzogen haben, kann ich hier nur eben in Erinnerung rufen. – Um einen ersten knappen Eindruck von der Geisteshaltung der Schupp’schen Sakramententheorie zu vermitteln, sei folgende längere Passage zitiert: »Eine Eigenständigkeit des Kults, der Sakramente und der dort gebrauchten Sprache darf nicht anerkannt werden, […] der Kult als ›heilige Handlung‹ hat innerhalb des christlichen Glaubens keine eigene Sprachkompetenz. Die Sprache des Glaubens ist primär nur die geschichtliche Praxis, jede andere 29

30

31

Hier wirkt die Marx’sche Unterscheidung von »abstrakter« und »konkreter« Ideologie nach. Zum Marx’schen Ideologiebegriff, der vor allem in Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus Kontur gewinnt, s. Karl MARX: Frühschriften (Hg. Siegfried Landshut), Stuttgart: Kröner (1958) 341–378. Schupp lehnt sich hier an die theologischen Intentionen der Kritischen Theorie, insbesondere Theodor W. Adornos an. Vgl. Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: stw (51988) 205. Vgl. Christoph TÜRCKE: Über die theologischen Wurzeln der Marxschen Kritik, in: Gerhard Schweppenhäuser/Dietrich zu Klampen/Rolf Johannes (Hg.): Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Lüneburg: zu Klampen (21987) 22–36.

174

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren? Form muß ihre Legitimität an dieser erweisen, nicht aber muß umgekehrt die Sprache geschichtlicher Praxis sich durch ›Brauchbarkeit‹ für kultische Handlungen ausweisen. Dieses Subordinationsverhältnis muß auf jeden Fall aufrechterhalten werden, da nur von der Unterordnung des Kults unter die vom Glauben geforderte ethisch-gesellschaftlich-kulturelle Praxis die Unterscheidung von jener Sprache und Form möglich ist, die dem religiösen [Innerlichkeits-]Bedürfnis entspricht. Diese Unterscheidung kann jedoch nur von einer Sprache […] geleistet werden, die vom Glauben als eschatologisch-antizipierender Praxis her entworfen ist.« (244)

Weiter kann man von Casels Mysterientheologie wohl kaum entfernt sein – und ist ihr doch zugleich seltsam nahe. Denn während bei Casel die symbolischen Ausdrucksformen der Sakramente immer schon auf eine dahinter liegende Heilswirklichkeit »durch-schaut« werden, bleibt Schupp gewissermaßen diesseits der Symbole stehen. Zwar hat die kritische Sakramententheorie (anders als die Mysterientheologie) ein präzises Gespür für die hermeneutische Spannung, in welche die Sakramente uns versetzen. Gleichwohl gelingt es Schupp nicht, diese Spannung aufrechtzuerhalten. Sobald nämlich der Gedanke auch nur in Reichweite rückt, daß in den Sakramenten tatsächlich die in Jesus »unbedingt für den Menschen entschiedene Liebe Gottes«32, d.h. das Ankommen (nicht das Angekommensein) der Basileia sich gegenwärtig setzen könnte, schreckt er zurück. Der Grund für dieses Zurückschrecken ist, daß es das im sakramentalen Symbol präsumierte Heil nicht gibt, sonst sähe die Welt anders aus. Jenes in den Sakramenten präsumierte Heil ist durch gesellschaftliche Praxis allererst heraufzuführen, auch wenn Schupp weiß, daß Erlösung im emphatischen Sinn über das gesellschaftlich Produzierbare hinausschießt. Man spürt deutlich das Mißtrauen, das Schupp gegenüber der autopoietischen Kraft der liturgischen Symbole hegt: Ihnen wohne »die Tendenz« inne, »mit ›Eigenmacht‹ aufzutreten« (256) und dadurch die Christen in einem frommen Suggestionszusammenhang einzuspinnen. Gerade der sakramentale Suggestionszusammenhang aber verhindere, daß wir uns über die herrschenden Verhältnisse wirksam empören.33 Deswegen habe als Regel für eine kritische 32

33

Vgl. Thomas PRÖPPER: ›Daß uns nicht scheiden kann von Gottes Liebe …‹ Ein Beitrag zum Verständnis der ›Endgültigkeit‹ der Erlösung, in: Ders.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br.: Herder (2001) 40–56. »In Religion und religiöse Symbole unreflektiert zu flüchten, müßte sich bald als Illusion herausstellen. Wird eine ›heile Welt‹ gegenüber der Desintegration der Kultur angeboten, so kann dies trotz partikulärer Erfolge im Rahmen einer an vie-

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 175

Sakramentenpraxis folgendes zu gelten: »Die Relevanz historisch übermittelter Sprache und geschichtlich gewordener Symbole muß sich daran erweisen, ob und wie sie zur gegenwärtigen Aufklärung und damit zur Befreiung beitragen.« (257) Damit ist das elementare Interesse kritischer Sakramententheorie angesprochen: das Problem der Übersetzbarkeit. Was mögen, ja was können »Gnade« und »Erlösung« in unseren gegenwärtigen gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeuten? (Vgl. 187, 205, 206, 207f., 217, 251) Eine sinnvolle Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn man die materiellen Rahmenbedingungen zur Kenntnis nimmt, unter denen sich gesellschaftliches Leben vollzieht. Unter den derzeitigen Verhältnissen herrscht nun aber zunächst und vor allem die Erfahrung vor, daß dieses Leben »das nicht wahre«, »das noch nicht geglückte« ist (258). Gleichwohl kontrastieren unseren Entfremdungserfahrungen fragile Erfahrungen des Glücks oder zumindest sehnsuchtsvolle Antizipationen gelungenen Lebens. Aufgabe einer kritischen Theorie sakramentaler Praxis wäre es nun, diese widersprüchlichen Erfahrungen in den Kontext der liturgisch begangenen memoria passionis et resurrectionis Jesu Christi einzutragen. Wo dies geschieht, wird deutlich: Die Sakramente sind einerseits zu lesen als »wirksame Symbole der Sehnsucht nach Aufhebung von Leiden«; andererseits sind sie zu lesen »als Zeichen der Verheißung einer solchen endgültigen Versöhnung« (176). Auf zentrale Weise ist diese Dialektik »im gesellschaftsbildenden Symbolhandeln der Eucharistie« ausgesprochen. Denn in der Eucharistie kommt »die Sprache so auf Jesus […], daß die beiden regulativen Symbole des Glaubens […] – das ›Kreuz‹ als Symbol des Protests gegen entfremdetes Leben, die ›Auferstehung‹ als Symbol, daß dies nicht das letzte Wort über die Bedingungen des Lebens sein darf – wirksam und d.h. transformierend eingebracht werden.« (258) Auf die Frage, wie eine solche dialektisch-materialistische Sakramentspraxis denn nun konkret aussehe, antwortet Schupp: »Der wahre ›Gottesdienst‹ besteht in der Übernahme der Praxis Jesu.« (239) Als leitendes sakramentales Handlungsmodell gilt deshalb die Symbolik der Fußwaschung, wie sie im Johannesevangelium an die Stelle der Einsetzung des Abendmahls tritt. An der Symbolik der Fußwaschung wird ablesbar, »daß der gesellschaftlich geformte Erlebnisraum, in dem christliche Symbolik zur Wirkung kommt, ein Raum ›herrschaftsfreier Kommunikation‹ sein sollte, die Wirkung dessellen Stellen beobachtbaren Regression kulturellen Bewußtseins nur zu einer Potenzierung destruktiver Kräfte führen, insofern solche ›heile‹ (sakrale) Welt unvermittelt und unvermittelbar der ›unheilen‹ Welt gegenübersteht, unübersetzbar in kritische Theorie und Praxis.« (Glaube – Kultur – Symbol, aaO. 25.)

176

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

ben also gerade in solcher Transformation des Erfahrungsraums und so im ›Erleben‹ der Neukonstitution der gesellschaftlich vermittelten Sinntotalität besteht.« (240) Im Raum der Liturgie müßte konkretes Leid demnach so zur Sprache kommen können, daß es sich in seiner Unverrechenbarkeit ernstgenommen weiß; andererseits dürfte ihm aber nicht das letzte Wort zuerkannt werden, sondern es müßte über es hinausgegriffen werden auf die »weithin ausständige[.] Versöhnung« (287), wie sie – »selbst symbolisch vermittelt« – »im Symbol der Auferstehung« (8, 251, 258) aufleuchtet. Damit kommt für Schupp nun aber auch die Grenze aller Sakramentssymbolik in Sicht. Denn in der Ausständigkeit der Versöhnung besteht das spezifisch »[Prekäre] des christlichen Symbolraums und der Symbolsprache« darin: immer noch gebraucht zu werden, immer noch nicht überflüssig geworden zu sein. Erst eine erlöste Welt brauchte den Kultraum nicht mehr, denn in ihr wäre Wirklichkeit geworden, »was er kontrafaktisch verspricht.« »Im christlichen Kultraum wäre es deshalb die Aufgabe, dagegen Protest einzulegen, daß es ihn noch gibt.« (265) Eine solche Protesthaltung verhindert, daß der Kult Selbstzweck wird; zugleich schärft sie den Blick für die Welt, wie sie ist: unerlöst! und führte dahin, statt auf mystische »Verinnerlichung« alle Kraft in die »Entäußerung« für den Nächsten zu legen. (Ebd.) Denn »die einzige ursprüngliche Symbolik des Christentums ist die sich dem Leiden des anderen stellende Praxis, der darin die Kraft der Negation aufgeht« (270) – eine Kraft, die (mit Adorno zu sprechen) aus dem Unverfügbaren stammt, »aus dem, was hinab mußte oder verurteilt ist«, weil es sich dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang nicht fügte.34 Wo immer es der Liturgie gelingt, in der Bestreitung des bloß Faktischen, Unerlösten etwas von dieser Kraft aufleuchten zu lassen, da betreiben ihre symbolischen Handlungsvollzüge nicht nur eine »wirksame […] Aufarbeitung der durch die materiellen Bedingungen faktisch hergestellten Leiden« (211); da setzen sie zugleich eine »therapeutische und transformierende Wirkung« frei (276): Sie vermitteln »fragmentarisch, aber antizipierend wirksam« jenen »Transitus«, der auf nichts geringeres abzielt als »die Umwandlung des Menschen«, wie sie »im Symbol der Auferstehung«, in welchem der christliche Glaube das Schicksal Jesu überwunden sieht, erstmals greifbar geworden ist. (8)35 Seit »Glaube – Kultur – Symbol« (d.h. seit mehr als dreißig Jahren) ist wohl kein theologischer Traktat mehr geschrieben worden, der, 34 35

Theodor W. ADORNO: Negative Dialektik, aaO. 370. Vgl. hierzu auch Franz SCHUPP: Vermittlung im Fragment – Überlegungen zur Christologie, in: Walter Radberger/Hanjo Sauer (Hg.): Vermittlung im Fragment. Franz Schupp als Lehrer der Theologie, aaO. 118–159.

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 177

wie die Sakramententheorie von Franz Schupp, auf solch kraftvolle Weise die gesellschaftliche Relevanz sakramentaler Frömmigkeit an den Tag gebracht hätte. Über die unmittelbar praxeologische Stoßrichtung hinaus besteht die eigentlich denkerische Leistung dieses Traktats vor allem darin, vermittels einer logisch-begrifflichen Analyse des Sakramentenbegriffs gleichermaßen sowohl die ästhetische als auch die ethische Grunddimension sakramentalen Handelns herausgestellt zu haben. Sakramente haben die elementare Aufgabe, zur Wahrnehmung (αἴσϑησις) zu befähigen: zur Wahrnehmung sowohl des Leidens der Anderen als auch der möglichen Verwindung, ja Verwandlung von Leiden im Blick auf Auferstehung. Insofern setzt die ästhetische Dimension der Sakramente immer sofort einen spezifisch ethischen Impuls frei – und genau hierauf zielt Schupp in seiner ganzen Argumentation ab.36 Allerdings erheben sich von hier aus nun auch eine Reihe kritischer Fragen. Denn die mögliche Gefahr einer ethischen Überfrachtung sakramentaler Praxis scheint Schupp eher gering zu schätzen. Zwar ist auch ihm klar, daß alles sakramentale Handeln, sofern es antizipierendes Handeln ist, seine Rechtfertigung allein in der Auferstehung Jesu findet, die gegenüber der faktischen Unerlöstheit der Welt die kontrafaktische Möglichkeit von Rettung und gelingendem Leben behauptet. Und insofern kann dem Auferstehungsereignis nicht nur ein logisches, es muß ihm auch ein ontisches »Prius« zukommen, andernfalls der antizipierende Vorgriff auf Auferstehung einem Spekulieren mit ungedecktem Scheck gleichkäme. Inwieweit dieser ontische Vorrang im Kontext sakramentalen Handelns nun aber zur Geltung kommt, bleibt unklar. Was meint Schupp, wenn er darauf insistiert, daß in der Liturgie »nicht ›Tatsachen‹ zur Diskussion stehen, sondern Geltungsansprüche und Wertungen«? (250) Natürlich wird mit dem Hinweis auf die alles verwandelnde Kraft der Auferstehung Jesu ein Geltungsanspruch erhoben, aber ein solcher Geltungsanspruch muß, wenn er nicht einfach nur vollmundige Behauptung sein soll, über ein fundamentum in re verfügen, dessen Autor nicht mehr die zur Feier der Eucharistie versammelte Gemeinde sein kann.37 Ist »›Auferstehung‹« »Symbol einer bestimmten Sprachpraxis«? 36

37

Was Schupp für das Verhältnis »Theologie – Ästhetische Theorie« ansetzt, sieht er gleichermaßen für das Verhältnis »Ästhetik – Ethik« in Geltung: Es handelt sich hierbei »nicht um zwei ›Bereiche‹, die dann nachträglich in Beziehung gesetzt werden könnten oder müßten. Es besteht […] vielmehr ein wechselseitiges Interpretationsverhältnis dieser beiden Reflexionsfiguren.« (Glaube – Kultur – Symbol, aaO. 26) Wo die Theologie Geltungsansprüche erhebt, müssen sie Spuren pneumatischer Vermittlung an sich tragen, andernfalls der theologische Geltungsanspruch nur Geltung erheischende Ansprüchlichkeit des Theologen ist. Man beachte, wie Paulus in 1Kor 15 einen Geltungsanspruch erhebt, den er nicht aus eigener Vollmacht

178

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

Erschöpft sich ihre Geschichtlichkeit (d.h. ihre soteriologische Valenz) in der »praktische[n] Bedeutung« einer bestimmten Art und Weise, über das Kreuz zu sprechen? (251) Man wird diese Frage noch strenger formulieren müssen: Wird, was »Auferstehung« (ontisch) ist und nicht nur (nominalistisch) für mich bedeutet, von den zur Feier der Eucharistie Versammelten überhaupt erst produziert? So sehr der kritischen Sakramententheorie zuzustimmen ist, daß zwischen »signum« und »res«, vorgestellter und realer Versöhnung eine immer erst noch zu entwickelnde geschichtliche Dialektik besteht (Versöhnung wird im Blick auf die Auferstehung Jesu sakramental antizipiert, sie ist nicht schon einfach da [vgl. 257]), so sehr läuft ihr ethischer Appell, sollte er dahingehend verstanden werden müssen, Versöhnung sei aus eigener Kraft zu produzieren, Gefahr, ins Totalitäre umzukippen.38 Nun sei freimütig zugegeben, daß dies ein strenger, vielleicht allzu strenger Blick auf die kritische Sakramententheorie ist. Man kann Schupps theologische Intentionen nämlich auch ganz von den antitotalitären Intentionen der Ästhetischen Theorie Adornos her lesen. Dann gilt: Ob die im »Symbol der ›Auferstehung‹« aufscheinende Verheißung Vorschein einer ganz anderen, eschatologischen Versöhnung ist, oder bloßer Schein, ist angesichts unserer täglichen Welterfahrung zwar bis auf weiteres unausgemacht; indem aber die zur Feier der memoria passionis et ressurrectionis Jesu Christi versammelte Gemeinde in den sakramentalen Gestalten von Brot und Wein auf »Splitter«39 gelungenen Lebens vorausgreift und (in ihnen ein An-

38

39

behauptet, sondern aus jenem Geist, von dem er sich befugt weiß, zu sprechen: »Jesus Christus ist der Herr!« und »Gott hat ihn von den Toten auferweckt!« (1Kor 12,3 mit Röm 10,9.) Vgl. hierzu Christoph TÜRCKE, der, wie Franz Schupp, ganz von der Kritischen Theorie her argumentiert, jedoch für die prekäre Dialektik, die zwischen der Notwendigkeit herrscht, mit aller Kraft auf gesellschaftliche Versöhnung hinzuarbeiten, und der Unmöglichkeit, Versöhnung selbstmächtig zu produzieren, einen wesentlich präziseren Blick hat: »Menschenwürde ist eine leere Floskel, solange sie nicht als der realisierbare Abglanz der Seligkeit begriffen wird. Sie ist das Höchste, was Menschen praktizieren können, aber sie mißt sich an Höherem. Der Versuch, Erlösung eigens herzustellen, produziert regelmäßig Terror. Aber der Verzicht auf ihren Gedanken ist der Verzicht, menschenwürdige Zustände zu schaffen.« (Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Frankfurt a.M.: Fischer Tb [1992] 96.) Die Kluft, in welche sich der kritische Theologe durch diese prekäre Alternative hineingestellt sieht, produziert dann ein Lebensgefühl, das mit Adorno als »metaphysische Trauer« zu bezeichnen wäre; sie gründet in dem schmerzlichen Wissen, daß Versöhnung in dieser Welt eine Utopie bleibt. (Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1995] 267.) Vgl. Glaube – Kultur – Symbol, aaO. 285, wo Schupp auf die von Walter Benjamin entworfene Konzeption messianischer »Jetztzeit« anspielt. Dazu auch Walter BEN-

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 179

geld auf das Ganze, Eigentliche behauptend) diese mit den realen Bedingungen des Lebens zu vermitteln sucht, ist der unerlöste Verblendungszusammenhang zumindest anfangshaft durchbrochen. Insofern muß der Melancholie des kritischen Theologen, die nicht weiß, ob die Sakramente halten, was sie versprechen40, der emphatische Wahrheitsbegriff, der keinerlei Konstruktion duldet, keineswegs abhanden kommen. Vielmehr kann auch für jene Melancholie gelten, was Adorno in anderem Zusammenhang einmal so formulierte: »[…] im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden. Dergestalt enthält das Bewußtsein der Nichtidentität Identität.«41 Wo die zum Gottesdienst Versammelten von solcher Sehnsucht angetrieben sind, »könnte langsam verstanden werden, daß die [sc. sakramentalen] Symbole, ähnlich wie gelungene Kunstwerke, ihre Wirkung aufgrund der Negation besitzen, die ihnen zugleich innewohnt und ihnen [doch] nicht immanent ist. Dies bedeutet nicht Destruktion, sondern ästhetische Transzendenz.« (286) Damit wären wir nun vielleicht doch bei einem Sakramentenbegriff angelangt, der sowohl den praxeologischen Intentionen kritischer Sakramententheorie gerecht wird als auch der radikalen Gratuität göttlicher Gnade, die von keinem gesellschaftlichen Engagement, auch dem engagiertesten nicht, produziert wird. Denn wie die religiöse ist auch die ästhetische Transzendenz nicht fabrizierbar. (Die ästhetischen Peinlichkeiten engagierter Kunst sprechen hier eine deutliche Sprache.) Vielmehr gilt: So wenig ästhetische Transzendenz, durch die ein gelungenes Kunstwerk sich auszeichnet, eine Referentialisierung erlaubt, die auf die unmittelbare Präsenz absoluter Vermittlung hinausläuft42, so wenig darf der ästhetische Schein sakramentaler Symbole identisch gesetzt werden mit einer unmittelbaren Präsenz Gottes. Vielmehr haben sakramentale Symbole (wie gelungene Kunstwerke überhaupt) »nur zur Aufgabe […], – aber das wäre eben entscheidend – über sich hinauszuweisen.

40

41 42

JAMIN: Über den Begriff der Geschichte, in: GS I/2, Frankfurt a.M.: stw (1991) 691– 704, hier 703. »Splitter der messianischen [Gegenwart]« (ebd. 704). Vgl. Glaube – Kultur – Symbol, aaO. 26: »Ist es nicht vom Theologen, der über das semantische und symbolische Potential des Christentums reflektiert, erfordert, von Jesus und den symbolischen Zeichen, in denen sein Tun und Leiden repräsentiert werden sollen, in ähnlicher Weise zu sprechen, wie Ionesco dies tut, wenn er von Mozart spricht?: ›Ich war eben zu pessimistisch, da wir doch Mozart haben, der zu uns von einer anderen Freude spricht, einer um so unerklärlicheren Freude, je tiefer sie ist, und da er selbst in Elend und Trauer gestorben ist. Aber können wir seine Sprache, seine geistige Botschaft wirklich noch verstehen?‹« (Zitat im Zitat aus: Eugène Ionesco: Die bedrohte Kultur, München [1972] 13.) Theodor W. ADORNO: Negative Dialektik, aaO. 152. Dies ist ja die wesentliche These der Ästhetischen Theorie Adornos (siehe dazu die folgende Fußnote).

180

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

›Ihre obersten Produkte sind zum Fragmentarischen verurteilt als zum Geständnis, daß auch sie nicht haben, was die Immanenz ihrer Gestalt zu haben prätendiert.‹ [43] Im aufklärenden Wissen um solche bleibende Fragmentarität des Symbols wäre dieses Signum des notwendigen transitus, der transitus selbst würde damit zum eigentlichen Symbol. Symbolhaft jedoch ist er prägnant nur in der Praxis veränderten Bewußtseins und verändernden Tuns, das ausgreift nach der weithin ausständigen Versöhnung.« (286f.) Nun kann aber nach der ausständigen Versöhnung nur ausgreifen, wer von den Symbolen ergriffen ist. Und damit stoßen wir auf einen zweiten, nicht minder gravierenden Kritikpunkt. Denn sowohl die christologische als auch die pneumatologische Vermittlung der in den Sakramenten antizipierten Erlösungswirklichkeit bleibt in Schupps Entwurf unterbestimmt. Die liturgische Vergegenwärtigung des transitus Christi, d.h. die in der Feier der Sakramente sich ereignende Präsenz der die Tödlichkeit unseres Lebens unterfangenden und dadurch sie rettenden Auferstehung Jesu scheint vornehmlich auf die Leistung des menschlichen Selbstbewußtseins, d.h. auf dessen retentionale und protentionale Aktivitäten zurückgeführt zu werden.44 Damit aber laufen die Sakramente Gefahr, sich zur »nuda commemoratio«45 zu entleeren. Hier rächt sich, daß Schupp eine Eigenwirklichkeit der Sakramente und der sie feiernden Liturgie ablehnt, um sie statt dessen ganz der »vom Glauben geforderte[n] ethisch-gesellschaftlich-kulturelle[n] Praxis« unterzuordnen. (244)46 Dagegen ist, wie Thomas Freyer ganz richtig angemerkt hat, »der Liturgie, vor allem in Bezug auf ihre ästhetische Dimension, eine relative Eigenständigkeit zuzuerkennen. Zwar ist und bleibt sie [die Liturgie] auf den im Sakrament eröffneten Wahrnehmungs- und Lebensraum einer unerlösten, von den Leiden und der Sehnsucht nach deren eschatologischer Überwindung geprägten Welt angewiesen, andernfalls sie sich selbst ad absurdum führt.[47] Wird der Liturgie jedoch [43]

44

45 46

[47]

Zitat im Zitat: Theodor W. ADORNO: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: stw (111992) 139. Vgl. Thomas FREYER: Sakrament – Instrument der Gesellschaftsveränderung? Eine Auseinandersetzung mit Franz Schupp, in: ThG 37 (1994) 2–21, hier 20f. Vgl. DH 1753. Josef WOHLMUTH weist in diesem Zusammenhang sehr richtig darauf hin, daß Schupp, indem er die Sakramente »einseitig ethisiert«, »sie […] – ästhetisch gesprochen – in die Richtung der engagierten Kunst abdrängt.« (Jesu Weg – unser Weg. Kleine mystagogische Christologie, Würzburg: Echter [1992] 16, Anm. 8. Ähnlich auch ebd. 31, Anm. 25.) Vgl. ebd. 52: »Der Liturgie geht es […] nicht nur um die Überwindung des garstigen Grabens zum historischen Jesus, sondern ebenso und noch viel mehr um die Überwindung des noch garstigeren Grabens zwischen den Idealen der ›Basileia‹ und den faktischen Leiden der Menschen, ja der ganzen Schöpfung, die in Hoff-

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 181

eine spezifische Sprachkompetenz abgesprochen, so gerät sie in Gefahr, auf ein Moment geschichtlicher Praxis reduziert zu werden.« Dies, und darin trifft Freyer eine wesentliche Schwachstelle der kritischen Sakramententheorie, »führt bei Schupp dazu, daß die gnadentheologische Dimension des Sakramentalen in ihrem christologischen und trinitätstheologischen Fundierungszusammenhang ausgeblendet wird und der Mensch zum (primären) Subjekt einer am Paradigma der Arbeit maßnehmenden Praxis avanciert.«48 Mit dem zuletzt Genannten gerät nun aber der vielleicht heikelste Punkt in den Blick, denn hier läuft die kritische Sakramententheorie Gefahr, ihre eigenen Intentionen zu konterkarieren. Wo man die Arbeit zur einzig legitimen Grundkategorie sakramentaler Praxis erhebt (vgl. 208–217), da riskiert man, den Menschen an genau dasjenige zu ketten, wovon erlöst zu werden einzig den Namen »Erlösung« verdient. Wohl ist unstrittig, daß der Mensch zum Menschen wird, indem er – an der Materie sich abarbeitend und dadurch den bloßen Naturprozeß durchbrechend – seine eigenen Lebensbedingungen produziert.49 Aber dadurch wird er nur zum Menschen, wie wir ihn kennen: ein Wesen, das, um leben zu können, sich an die materiale Natur als an das andere seiner selbst verausgaben muß und sich darin seiner selbst entfremdet. Gerade durch die Arbeit, in welcher er gegenüber der Natur sich seiner selbst als einer eigenen Sphäre bewußt wird, reproduziert ja der Mensch den Zwiespalt, den zu überwinden er als Arbeitender angetreten ist. Denn bei all seinen Versuchen, der ungeschlachten Natur einen Lebensraum abzuringen, bleibt der Mensch den Bedingungen der Natur unterworfen; er kann jene Bedingungen wohl in Grenzen verändern, abschaffen kann er sie nicht. Je planvoller der Mensch die Naturbeherrschung betreibt, um so mehr verstrickt er sich in die von ihm selbst produ-

48

49

nung auf die Offenbarung der Herrlichkeit der Kinder Gottes wartet (vgl. Röm 8,18f.).« Alle Zitate Thomas FREYER: Sakrament – Instrument der Gesellschaftsveränderung? Eine Auseinandersetzung mit Franz Schupp, aaO. 19. Vgl. auch DERS.: Sakrament – Transitus – Zeit – Transzendenz. Überlegungen im Vorfeld einer liturgisch-ästhetischen Erschließung und Grundlegung der Sakramente (BDS 20), Würzburg: Echter (1995) 37ff., 250ff. Vgl. Karl MARX/Friedrich ENGELS: Feuerbach. Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung (Einleitung), in: Karl Marx – Friedrich Engels Studienausgabe (hg. v. Iring Fetcher), Frankfurt a.M. (1990) Bd. I, 83–137, hier 87: »Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren […]. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.«

182

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

zierten Naturbedingungen.50 Aus diesen fatalen Zusammenhängen, in denen die heillose Zwiespältigkeit des Menschen an den Tag kommt (nämlich sowohl Geist- als auch Naturwesen zu sein), könnte ihn nur ein Gott befreien, der gerade deswegen aber jenseits der fatalen ontologischen Diskrepanzen von Materie und Geist, Freiheit und Notwendigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit zu denken wäre.51 Hält man sich diese Einwände, die ja auf eine unzureichende Anthropologie verweisen, vor Augen, und erinnert man sich in diesem Zusammenhang zugleich der Ausgangsthese Schupps, daß sich im Symbolverständnis »ein gesamtes Kulturbewußtsein konkretisiert« (8), so entpuppt sich die kritische Sakramententheorie zuguterletzt als stark zeitgeistverhaftet. In ihr spiegelt sich das Kulturbewußtsein der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wieder, einer Zeit, da die Philosophie dezidiert »nach-« bzw. »antimetaphysisch« sein wollte und die Theologie ihre Daseinsberechtigung meinte dadurch unter Beweis stellen zu können, daß sie noch anti- bzw. nachmetaphysischer dachte als die Philosophie.52 Der dafür zu zahlende Preis ist freilich hoch. Denn ob sie will oder nicht – eine solche Theologie läuft Gefahr, sich in einen konsequenten Humanismus aufzulösen und ihre Liturgie zu einem Vehikel gesellschaftskritischer Praxis zu degradieren. Damit sind neben den unverzichtbaren Einsichten der Schupp’schen Sakramententheorie nun auch ihre Probleme deutlich am Tag; sie lassen sich folgendermaßen pointieren: Ähnlich wie Casel unterschätzt auch Schupp die unverrechenbare Symbolsprache der Sakramente. Im Unterschied zu Casel überspringt er sie jedoch nicht auf eine dahinterliegende Wirklichkeit, sondern er versteht sie als Medium für eine Botschaft, die sich zur Not auch ohne die liturgischen Symbole formulieren ließe. Denn daß die Welt unversöhnt ist, weiß man auch ohne den Rekurs auf das Kreuz Jesu. Und daß es selbst im schlimmsten Unglück zu50

51

52

Gerade dies hätte Schupp bei den Theoretikern der Frankfurter Schule, Horkheimer und Adorno, lernen können: Vgl. Dialektik der Aufklärung. Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung, in: Max Horkheimer: GS Bd. 5 (Hg. Gunzelin Schmid Noerr), Frankfurt a.M.: Fischer (1987) 78. Womöglich ließen sich im Rückgriff auf Nikolaus Cusanus die notwendigen Begriffe finden, um den hier ins Auge gefaßten Ineinsfall der Gegensätze denken zu können, ohne dabei dem Satz vom Widerspruch Eintrag zu tun. Da Gott als der alles Bestimmende jenseits der Gegensätze steht, ist er als das »Non-Aliud«, das »NichtAndere« von Geist und Natur, Freiheit und Notwendigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit zu denken. Vgl. dazu Gerhard SCHNEIDER: Gott – das Nichtandere. Untersuchung zum metaphysischen Grunde bei Nikolaus von Kues (BCG Bd. 4), Münster: Aschendorff (1970). Michael SCHMAUS spricht zu Recht von der »metaphysikunfreundliche[n] Grundrichtung« der Schupp’schen Sakramententheorie. (Rezension in: ThRv 73 [1977] 124–131, hier 135.)

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 183

weilen fragmentarische Erfahrungen des Glücks gibt – auch dies kann man wissen, ohne deswegen gleich die Auferstehung Jesu zu bemühen. Daß hingegen nach der ausständigen Versöhnung nur ausgreifen kann, wer sich von dem in den Sakramenten aufscheinenden Heil ergreifen läßt, in der Feier der Sakramente also nicht nur »fragmentarische Vermittlung« des Heils geschieht, sondern sich im gelingenden Fall in ihr zugleich immer auch »das Ganze im Fragment«53 zu erkennen gibt – gerade dies gerät Schupp aus dem Blick. Dadurch verkennt die kritische Sakramententheorie nun aber auch jene spezifisch metaphorische Spannung, in welche die Sprache der Liturgie die Gläubigen versetzt und welche recht eigentlich das Medium bereitstellt, in welchem sich die Liturgie überhaupt erst als ein laboratorium possibilis salutis zu erkennen gibt. Im Rückblick auf Casel und Schupp sind deshalb nun einige Überlegungen zu eben jener heilstiftenden metaphorischen Spannung anzustellen, in welche uns die memoria passionis et resurrectionis Jesu Christi versetzen müßte, wenn sie denn mehr und anderes sein soll als religiöser Überschwang oder aktionistische Moral. 4. WELT IM FOKUS DER METAPHER JESU: LITURGIE ALS METAPHORISCHER ERSCHLIESSUNGSVORGANG EINER DIE WELT VERWANDELNDEN, WEIL DIE WELT ÜBERSCHREITENDEN WAHRHEIT (PAUL RICŒUR) Zunächst ein knappes Wort zum Begriff der »metaphorischen Spannung«, der nun schon mehrfach genannt wurde. Der Begriff stammt von Paul Ricœur und steht im Zentrum seiner Studien zur narrativen Konstituierung menschlichen Welt- und Selbsterlebens. Ricœur hat verschiedentlich darauf hingewiesen, daß es ihm in seinen Werken um folgende elementare Frage zu tun sei: Wie kommt es inmitten unserer alten Welt zur N e u h e i t s e r f a h r u n g von Welt? – und er gibt sich selber Antwort unter Hinweis auf die wirklichkeitsentdeckende Kraft metaphorischer Rede.54 Das Innovative einer lebendigen 53

54

So müßte man wohl – im Rückgriff auf eine Formulierung Hans Urs von Balthasars – die Heilswirklichkeit der Sakramente beschreiben. Vgl. dazu oben Anm. 32. Paul RICŒUR: Die lebendige Metapher, München: Fink (1986) I [Vorwort zur deutschen Ausgabe]: »Ich würde heute sagen, daß das Phänomen, um das letztlich meine Gedanken kreisen, der Zusammenhang zwischen dem Schöpferischen und der Regel ist. Die Spur dieses Zusammenhangs ist in der Sprache zu erkennen; seine Dynamik beruht auf der Einbildungskraft. Ich möchte auf alle Glieder dieser Behauptung besonderen Nachdruck legen. Daß das Schaffen, zu dem der Mensch befähigt ist, ein geregeltes, kein Schaffen ex nihilo, keine absolute Spontaneität ist, dafür zeugen die Hervorbringungen, von denen ich in allen Büchern spreche,

184

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

Metapher besteht ja darin, im Moment ihrer gelingenden Rezeption eine neue Sicht auf die Dinge freizusetzen. So geben – um gleich die prominentesten Beispiele zu nennen – die Bildworte vom Schatz im Acker (Mt 13,44ff.), vom Sauerteig (Mt 13,33) oder vom Senfkorn (Mk 4,30ff.) im Horizont der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu wie in einem Fokus Zusammenhänge zu sehen, auf die man ohne diese Bildworte nie gekommen wäre.55 Die Gleichnisworte Jesu, deren Eigentümlichkeit darin besteht, eine metaphorische Spannung zwischen unserer altgewohnten Weltwirklichkeit und einer impertinenten Neubeschreibung eben dieser Weltwirklichkeit aufzubauen, erzeugen Evidenz. Wo sie beim Zuhörer ankommen, erscheinen die Dinge mit einem Mal in neuem Licht: »›Wie richtig!‹, scheint die Seele zu sich selbst zu sagen. ›Und doch bin ich nicht darauf gekommen.‹«56 Eine weitere wichtige Einsicht Ricœurs lautet, daß sich eine gelungene Metapher niemals vollständig in Begriffe übersetzen läßt. Ihr Reiz besteht vielmehr darin, den Hörer in ein Setting von Ahnungen, Stimmungen, Bildern zu versetzen57, in welchem seine bisherige Wirklichkeitswahrnehmung grundlegend verändert wird.58 Eben diese Fähigkeit der Metapher, ein »Sehen der Dinge ›als‹«59 zu etablieren,

55

56

57

58

59

nämlich der Mythos, der Traum und die Dichtung in ihrer epischen, lyrischen oder dramatischen Form.« DERS.: Réflexion faite. Autobiographie intellectuelle, Paris: Éditions Esprit (1995) 44: »[…] le phénomène de l’innovation sémantique, autrement dit la production d’un sens nouveau par des procédures langagières [est le thème majeure de mes travaux].« Zur Spannung zwischen Rahmen (»frame«) und Brennpunkt (»focus«), die die Metapher aufbaut (Terminologie nach Max Black), vgl. Paul RICŒUR: Die lebendige Metapher, aaO. 144–153. ARISTOTELES: Rhet. III, 1412a. 21f.: καὶ ἔοικεν λέγειν ἡ ψυχὴ ›ὡς ἀληϑῶς δε ἥμαρτον.‹ (Übersetzung Olof Gigon.) Gerhard KURZ: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1992) 23f.: »Die Metapher ›stellt vor Augen‹, sagt Aristoteles. Bei der Metapher assoziieren wir jedoch nicht notwendig ein visuelles ›Bild‹, oft besteht ihre Wirkung einzig darin, eine affektive Einstellung zu erzeugen. […] Die Metapher redet nicht über Gefühle, Eindrücke oder Gedanken, sie verkörpert sie, sie will sie erleben lassen.« Die lebendige Metapher ermöglicht ein »Sehen der Dinge ›als‹« und vermeidet damit zwei gleichermaßen fatale Lesarten: einerseits das naive »es ist« des vorkritischen Ontologismus, anderseits das bloß kritische »als ob« des demythifizierenden Szientismus. Paul RICŒUR: Die lebendige Metapher, aaO. 203–207. Im »Sehen ›als‹« verbinden sich Aktivität und Passivität der Erkenntnis in einer Weise, daß diese »halb Denken, halb Erfahrung« ist (ebd. 204). Paul RICŒUR: Die lebendige Metapher, aaO. 203–207 (in Anschluß an Marcus B. Hester: The Meaning of Poetic Metaphor [1967]). Im »Sehen ›als‹« verbinden sich Aktivität und Passivität der Erkenntnis in einer Weise, daß diese »halb Denken, halb Erfahrung« ist (ebd. 204). Insofern bewirkt das »Sehen ›als‹« den nicht-sprachlichen ontischen Ursprung eines sprachlich vermittelten ontologischen Seinszuwachses.

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 185

zielt auf eine Erfahrung, die als ästhetische zu bezeichnen ist.60 Inwieweit eine solche durch metaphorische Rede inaugurierte ästhetische Erfahrung (die, nebenbei bemerkt, nichts mit Ästhetizismus zu tun hat) nun gerade auch zu einem Verständnis der sakramentalen Zeichenhandlungen der Liturgie beitragen kann, möchte ich am Beispiel des eucharistischen Brotbrechens erläutern. An diesem Höchstfall der Liturgie läßt sich nämlich die Dialektik von Weltüberschreitung und Weltverwandlung auf bezwingende Weise veranschaulichen. Im Zentrum der Eucharistie steht – wie in einem Fokus – eine eindrückliche Geste: Wir hören die Worte »Nehmt, mein Leib, gegeben für euch« und sehen, wie dabei ein Stück Brot zerbrochen wird. Um diese metaphorische Zeichenhandlung wirklich zu verstehen, darf sie um keinen Preis getrennt werden von dem Rahmen bzw. Horizont, in welchem sie steht. Dieser Horizont – das im Auge zu behalten, bleibt außerordentlich wichtig – ist die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. In Anlehnung an das Logion Mt 12,28 (Lk 11,20) ist man deshalb versucht, zu paraphrasieren: »Wenn ich in einer Welt voller Dämonen beginne, euch durch jene Liebe, die mich mit dem Vater verbindet, so zu nähren, wie Brot euch ernährt, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen.« Was meint hier »Dämonen«? Und was meint »Ankunft des Reiches Gottes« in einer Welt, die weithin als dämonisch erfahren wird? Und was schließlich meint »nähren, wie Brot euch ernährt«? – Nun, eine Antwort ergibt sich, sobald wir den Ahnungen, Stimmungen, Bildern nachgehen, welche Jesu Brotwort in uns wachruft. Denn im Zentrum der Eucharistie steht unsere ursprünglichste Form der Kontaktaufnahme zur Welt: Essen und Trinken. Im Empfinden von Hunger und Durst realisieren wir, daß die Quelle unseres Lebens nicht in uns liegt, daß vielmehr das Entgegennehmen und Empfangen, das Verkosten, Einverleiben und Verzehren unhintergehbare Grundbedingungen unseres Daseins sind. Wir geraten hier in Zusammenhänge, die nicht nur älter sind als alles menschliche Leben, sondern darüber hinaus sowohl in naturaler als auch in geschichtlicher Hinsicht voller Ambivalenzen sind. In einem Gedicht von Berthold Brecht sind diese Ambivalenzen präzise auf den Punkt gebracht: Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast! Aber wie kann ich essen und trinken, wenn Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und

60

»Ästhetisch« nämlich im Sinne des griechischen : Wahrnehmen nicht als bestimmende, sondern als reflektierende Urteilskraft!

186

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren? Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt? Und doch esse und trinke ich.61

In diesen knappen Worten ist die ganze Unerlöstheit unseres Lebens wie in einem Brennglas zusammengefaßt: Leben kann sich nur dadurch erhalten, daß es anderes Leben verzehrt – ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Was uns das Leben erhält, wird uns irgendwann auch das Leben kosten, und so ist Essen-und-Trinken-Müssen nur ein hinausgeschobenes, auf Dauer aber unerbittlich uns einholendes Sterben. Das Wort Jesu »Nehmt, mein Leib, gegeben für euch« läßt hier auf geradezu unheimliche Weise in die archaischen Abgründe unserer Existenz blicken.62 Zugleich gilt aber auch: Essen-und-Trinken-Können ist das Schönste ist, was es gibt. Vor allem, wo es in Gemeinschaft geschieht, kann es zum Medium einer gegenseitig gewährten Nähe werden, die beglückt. Das gemeinschaftliche Mahl wird zum antizipierenden Realsymbol eines Lebens in Fülle63 – wie auch sonst hätte die biblische und frömmigkeitsgeschichtliche Metaphorik vom Himmlischen Hochzeitsmahl, vom ϕάρμακον ἀϑανασίας64 oder von der süßen Seelenspeise65 je entstehen können?! Novalis, der große Dichter der Romantik, hat die Zusammenhänge, die hier mit einem Mal aufscheinen, in folgende Worte gebracht: »Alles Genießen, Zueignen und Assimilieren ist Essen, oder Essen ist vielmehr nichts als eine Zueignung. Alles geistige Genießen kann daher durch Essen ausgedrückt werden. In

61

62

63 64

65

Berthold BRECHT: An die Nachgeborenen, in: Gesammelte Gedichte Bd. 2, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 836 (1976) 722–725, hier 723. Vgl. Vf.: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, Paderborn u.a.: Schöningh (2005) 560–564. Vgl. ebd. 565–575. IGNATIUS VON ANTIOCHIEN, Eph 20,2: ἕνα ἄρτον κλῶντες, ὅς ἐστιν ϕάρμακον ἀϑανασίας, ἀντίδοτος τοῦ μὴ ἀποϑανεῖν, ἀλλὰ ζῆν ἐν ᾽Ιησοῦ Χτιστῷ διὰ παντός. – »frangentes panem unum, qui pharmacum immortalitatis est, antidotum, ne moriamur, sed vivamus semper in Jesu Christo.« (Joseph A. Fischer [Hg.]: Die Apostolischen Väter, Darmstadt: WBG [1986] 160; PG 5, 661f.) – Vgl. Theodor SCHERMANN: Zur Erklärung der Stelle epist. ad Ephes. 20,2 des Ignatius von Antiochien: ϕάρμακον ἀϑανασίας κ.τ.λ., in: ThQ 92 (1910) 6–19; Karl Theodor SCHÄFER: Art. »Antidotum. C. Christlich. II. Übertragener Sinn«, in: RAC Bd. I, 460f., hier 461; Lothar WEHR: Arznei der Unsterblichkeit. Die Eucharistie bei Ignatius von Antiochien und im Johannesevangelium, NTA.NF 18, Münster/Westf.: Aschendorff (1987). Vgl. Friedrich OHLY: Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik (Saecula Spiritalia Bd. XXI [hg. von Dieter Wuttke]), Baden-Baden: Spiritualia (1989), bes. 477–481: »Die Süße der Eucharistie«.

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 187 der Freundschaft ißt man in der Tat von seinem Freunde oder lebt von ihm.«66

Hier avanciert eine naturale Wirklichkeit zum metaphorischen Medium einer sinnlich-geistigen Fülle, wie sie überschwenglicher nicht gedacht werden kann. – Genau hier aber geraten wir vor folgende kritische Frage: Bleibt angesichts der unerlösten Wirklichkeit unserer vergänglichen Existenz dieser Überschwang nicht eine geschichtslose Illusion? (Es sei noch einmal erinnert an Casels Mysterientheologie, die uns dieses intrikate Problem als Stachel im Fleisch aller Liturgie hinterließ.) Auf diesen Einwand wird man antworten müssen: Wo der Horizont, innerhalb dessen das Brotwort erklingt, nämlich die 66

[Teplitzer Fragmente, Ergänzungen ‹Juli/August 1798›], in NOVALIS: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Dritte, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband, Stuttgart u.a.: Kohlhammer (1981). Zweiter Band: Das philosophische Werk I, 596–622, hier 620f.: »Das gemeinschaftliche Essen ist eine sinnbildliche Handlung der Vereinigung. Alle Vereinigungen außer der Ehe sind bestimmt gerichtete, durch ein Object bestimmte, und gegenseitig dasselbe bestimmende Handlungen. Die Ehe hingegen ist eine unabhängige, Totalvereinigung. Alles Genießen, zueignen, und assimiliren ist Essen, oder Essen ist vielmehr nichts, als eine Zueignung. Alles Geistige Genießen kann daher durch Essen ausgedrückt werden –. In der Freundschaft ißt man in der That von seinem Freunde, oder lebt von ihm. Es ist ein ächter Trope den Körper für den Geist zu substituieren – und bey einem Gedächtnißmahle eines Freundes in jedem Bissen mit kühner, übersinnlicher Einbildungskraft, sein Fleisch, und in jedem Trunke sein Blut zu genießen. Dem weichlichen Geschmack unserer Zeiten kommt dis freylich ganz barbarisch vor – aber wer heißt sie gleich an rohes, verwesliches Blut und Fleisch zu denken. Die körperliche Aneignung ist geheimnißvoll genug, um ein schönes Bild der Geistigen Meinung zu seyn – und sind denn Blut und Fleisch in der That etwas so widriges und unedles? Warlich hier ist mehr, als Gold und Diamant und die Zeit ist nicht mehr fern, wo man höhere Begriffe vom organischen Körper haben wird. [/] Wer weiß welches erhabene Symbol das Blut ist? Gerade das Widrige der organischen Bestandtheile läßt auf etwas Erhabenes in ihnen schließen. Wir schaudern vor ihnen, wie vor Gespenstern, und ahnden mit kindlichen Graußen in diesem sonderbaren Gemisch eine geheimnißvolle Welt, die eine alte Bekanntin seyn dürfte. [/] Um aber auf das Gedächtnißmal zurück zu kommen – ließe sich nicht denken, daß unser Freund jetzt ein Wesen wäre, dessen Fleisch Brodt, und dessen Blut Wein seyn könnte? [/] So genießen wir den Genius der Natur alle Tage und so wird jedes Mahl zum Gedächtnißmahl – zum Seelennährenden, wie zum Körpererhaltenden Mahl – zum geheimnißvollen Mittel einer Verklärung und Vergötterung auf Erden – eines belebenden Umgangs mit dem Absolut Lebendigen. Den Namenlosen genießen wir im Schlummer – Wir erwachen, wie das Kind am mütterlichen Busen und erkennen, wie jede Erquickung und Stärckung uns aus Gunst und Liebe zukam, und Luft, Trank, und Speise Bestandtheile einer unaussprechlichen lieben Person sind.« – Derselbe Text ist, leicht glossiert, aufgenommen unter die Paralipomena zu den Geistlichen Liedern, in: Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Erster Band: Das dichterische Werk, ebd. (1977) 178f., hier 179.

188

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, außer Acht gelassen wird, da ist zu antworten: »Jawohl, Illusion! Vielleicht eine schöne, aber Illusion gleichwohl!« (Franz Schupp hatte diesen Verdacht ja in aller Deutlichkeit geäußert, und an diesem Verdacht hat sich jede Option für eine Theologie der Liturgie abzuarbeiten.) – Was aber, wenn jener »Freund«, von welchem Novalis spricht und der uns dieses Wort zumutet, der Ewige Sohn ist?67 Kann das Wort »Nehmt, mein Leib« 67

Das Gedächtnismahl für den Freund und das Abendmahl Christi stehen für Novalis in engster Beziehung. So heißt es bezeichnenderweise in Nr. 5 der Teplitzer Fragmente: »Thetische Bearbeitung des neuen T[estaments] oder der kristlichen Reli[gion]. [/] Ist die Umarmung nicht etwas dem Abendmahl Ähnliches. Mehr über das Abendmahl.« (NOVALIS: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Zweiter Band: Das philosophische Werk I, aaO. 596.) – Dazu das VII. der Geistlichen Lieder, entstanden wahrscheinlich im Sommer 1798, das unter Rückgriff auf das 5. Teplitzer Fragment eine in Erinnerung an die am 19. März 1797 verstorbene Braut Sophie von Kühn erotisch hoch verdichtete Paraphrase auf Joh 6,53–56 darstellt: Wenige wissen, / Das Geheimniß der Liebe, Fühlen Unersättlichkeit / Und ewigen Durst. Des Abendmahls / Göttliche Bedeutung Ist den irdischen Sinnen Räthsel; / Aber wer jemals Von heißen, geliebten Lippen / Athem des Lebens sog, Wem heilige Gluth / In zitternde Wellen das Herz schmolz, Wem das Auge aufging, / Daß er des Himmels Unergründliche Tiefe maß, / Wird essen von seinem Leibe Und trinken von seinem Blute / Ewiglich. Wer hat des irdischen Leibes / Hohen Sinn errathen? Wer kann sagen, / Daß er das Blut versteht? Einst ist alles Leib, / Ein Leib, In himmlischem Blute / Schwimmt das selige Paar. – O! daß das Weltmeer / Schon erröthete, Und in duftiges Fleisch / Aufquölle der Fels! Nie endet das süße Mahl, / Nie sättigt die Liebe sich. Nicht innig, nicht eigen genug / Kann sie haben den Geliebten. Von immer zärteren Lippen / Verwandelt wird das Genossene Inniglicher und näher. / Heißere Wollust Durchbebt die Seele. / Durstiger und hungriger Wird das Herz: / Und so währet der Liebe Genuß Von Ewigkeit zu Ewigkeit. / Hätten die Nüchternen Einmal gekostet, / Alles verließen sie, Und setzten sich zu uns / An den Tisch der Sehnsucht, Der nie leer wird. / Sie erkennten der Liebe Unendliche Fülle, / Und priesen die Nahrung Von Leib und Blut. (NOVALIS: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Erster Band: Das dichterische Werk, aaO. 166ff. Dazu auch Walter BERGER: Novalis’ ›Abendmahlshymne‹, in: The Germanic Review 35 [1960] 28–38; Margot SEIDEL: Die ›geistlichen Lieder‹ des Novalis und ihre Stellung zum Kirchenlied, Diss. phil. masch. Univ. Bonn [1973], veröffentlicht unter dem Titel Novalis’ ›Geistliche Lieder‹, Frankfurt a.M.: Peter Lang [1983] 197–231.) – Den überschwenglichen Worten Novalis’ korrespondiert (sprachlich zwar nüchterner, in der Sache aber ähnlich) AUGUSTINUS, der die visio beatifica des Himmlischen Hochzeitsmahls als den Ineinsfall von Hunger und Sätti-

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 189

dann nicht zur Metapher werden, die unsere alte, unerlöste Wirklichkeit in ein neues, ungeahntes Licht stellt?68

68

gung imaginiert: »Wohlgerüche, die kein Wind verweht. Speisen, deren keine Sattheit satt wird. Ein Glück vereinter Liebe, dem ein Überdruß nicht folgt.« (Conf. X, 6, 8.) Daß die Abendmahlsworte hier im Sinne von Metaphern verstanden werden, ist zugegebenermaßen ein eher ungewöhnlicher Sprachgebrauch – und doch liegt er nahe: »Es handelt sich evidentermaßen um Brot, von dem gesagt wird, es sei Leib, und um Kelch oder Wein, von dem gesagt wird, es sei Blut.« (Günter BADER: Die Abendmahlsfeier, Tübingen: Mohr-Siebeck [1993] 30.) »Jesus macht den zerrissenen Brotfladen zum Sinnbild für das Schicksal seines Leibes«: τοῡτό ἐστιν τὸ σῶμὰ μου. Ebenso macht er »das Traubenblut zum Sinnbild für sein vergossenes Blut«: τοῡτό τὸ ποτέριον ἡ καινὴ διαϑήκη ἐν τῷ αἵματί μου (Lk 22,19f. parr). (Joachim JEREMIAS: Die Abendmahlsworte Jesu [1935], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [41964] 215.) Nach Jeremias gehen die Deutesprüche beim Abendmahl gerade aufgrund ihrer Eigenschaft als Gleichnisworte mit höchster Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurück; denn »Kennzeichen der ipsissima vox« ist »Jesu Vorliebe für Gleichnisse«. (Ebd. 194f. – N.B. Inwieweit die Abendmahlsworte auf Jesus selbst zurückzuführen sind, ist in der neutestamentlichen Exegese bis heute umstritten. Ich kann diese Problematik hier nicht weiter diskutieren und verweise deshalb auf die Arbeiten von Heinz SCHÜRMANN, vor allem Jesu ureigener Tod. Exegetische Besinnungen und Ausblick, Freiburg i.Br.: Herder [1975] 7–96, und Helmut MERKLEIN: Wie hat Jesus seinen Tod verstanden?, in: Ders.: Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105. Tübingen: Mohr-Siebeck [1998] 174–189, die in der exegetischen Diskussion, soweit ich sehe, auf weitreichende Zustimmung gestoßen sind.) Die Abendmahlsworte Jesu, so Günter Bader weiter, sind gerade »als behauptete Gleichnisse metaphorisch« (Die Abendmahlsfeier, aaO. 30; Kursivierung J.N.); sie haben für die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde welterbildende Kraft. Zugleich aber gilt ebenso: »Die Abendmahlsworte Jesu sind an sich selbst liturgisch« (ebd. 30), denn als performative Worte haben sie Handlungscharakter: sie bewirken, was sie sagen, so daß man an dieser Stelle wird festhalten müssen: Brot und Wein werden symbolisch; ihre sinnliche Materialität tritt zugunsten einer ihnen möglichen Bedeutsamkeit in den Hintergrund bzw. lädt sich mit einer solchen auf. Die Einführung des Metaphernbegriffs im Rahmen der Eucharistiefeier wirft nun jedoch die Frage auf, ob die verwirrende Konkurrenz, die von den beiden Termini »Symbol« und »Metapher« ausgeht, nicht reduziert werden könnte. Ließe sich nicht auf einen der beiden Begriffe verzichten, um mit dem anderen um so bequemer zu arbeiten? In diesem Fall würde man zweifelsohne dem Symbolbegriff den Vorzug geben, da er sich im Kontext von Liturgie und Sakrament ganz von selbst empfiehlt: Die Materialität von Brot und Wein legt es nahe, sie eher unter der Rubrik »Symbol« denn unter der Rubrik »Metapher« einzuordnen. Festzuhalten ist, daß es Metaphern streng genommen nur im Medium der Sprache gibt, Symbole dagegen streng genommen nur im Medium der Dinge. Allerdings wird in Anbetracht der Fähigkeit des Menschen, präsentative Symbolsysteme auszubilden, schnell deutlich, daß sich die Differenzierungen in dieser Form nicht halten lassen; zumindest an ihren Rändern tendieren Symbol und Metapher dahin, einander zu berühren. Denn sobald im Rahmen der liturgischen Begehung des Herrenmahls von Brot und Wein »als« Leib und Blut Christi gesprochen wird, sind eben nicht nur symbolische Dinge zugegen, sondern auch metaphorische Redeweisen. Anscheinend ist das Symbolische ohne das Metaphorische nicht denkbar und umgekehrt. Vor dem Hintergrund sowohl einer Theorie diskursiver Metaphern (Paul

190

IV. Welt transzendieren? Welt transformieren?

Die Antwort auf diese Frage kann immer nur vom je einzelnen Christen gegeben werden. Ricœur wies ja darauf hin, daß das Eigentümliche einer lebendigen Metapher darin besteht, ein Setting von Ahnungen, Stimmungen, Bildern wachzurufen – und ein solcher Vorgang ist immer ein subjektives Geschehen. Jedoch dem Aufschein von Ahnungen, Stimmungen, Bildern darf man sich nicht passiv überlassen; er verlangt vielmehr nach aktiver Rezeption und die wiederum hat höchst objektive Konsequenzen. Denn aktive RezeptiRicœur) als auch einer Theorie präsentativer Symbole (Ernst Cassirer, Susanne K. Langer) läßt sich die wechselseitige Abhängigkeit von Symbol und Metapher mit Hilfe einer Formulierung Günter Baders folgendermaßen beschreiben: »Die einfachen Sachverhalte, daß Dinge eine Art Sprache sein können (und damit Symbol überhaupt erst entsteht) und Sprache immer nur in einer mehr oder weniger dichten dinglichen Reminiszenz möglich ist (wodurch Metaphern allererst entstehen)« (ebd. 125), deuten darauf hin, daß in der Abendmahlshandlung mehr geschieht als ein bloß intentionales Sich-Erinnern an die Lebenshingabe Christi; vielmehr vollzieht sich im Vorgang der intentionalen Memoria eine zweite nicht-intentionale Memoria, die bewirkt, daß Worte und Dinge – nämlich die liturgisch kommemorierten Deutesprüche Jesu und die zu diesem Anlaß dargereichten Gaben von Brot und Wein – sich ineinander schieben. Eine Übergänglichkeit von Welt in Sprache und von Sprache in Welt hebt an, über die sich der zum Herrenmahl versammelten Kultgemeinde eine lebensstiftende Gemeinschaft mit Christus im Geist vermittelt, so daß Paulus formulieren kann: »Ist der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe am Blut Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot.« (1Kor 10,16f.). Wo die in diesen Sätzen behauptete Wirklichkeit das Leben der zur memoria Jesu Christi versammelten Gläubigen existentiell zu prägen beginnt, da gilt dem neutestamentlichen Kultverständnis entsprechend, daß die Nominalismen gesprengt sind. Durch die Willkürlichkeit menschlicher Sprache (und auch der Sprache der Liturgie wohnt bei aller Gegebenheit ein deutlich willkürliches Moment inne) scheint eine Unwillkürlichkeit und Natürlichkeit hindurch, die von einem Jenseits des Assertorischen kündet. Diese unwillkürliche und natürliche Sprache ist aber keine andere als die der Metapher und des Symbols. In ihr vernimmt die betende Gemeinde Gottes Sprache in der Sprache der Menschen. Allein diese Sprache verleiht der zur Eucharistie versammelten Kultgemeinde die ihr eigentümliche Identität – eine Identität, die darin besteht, schon zu sein, was man empfängt, um immer mehr werden zu können, was man ist (vgl. AUGUSTINUS: Sermo 272 [PL Bd. 38, 1247f.]; Sermo 227 [ebd. 1099]): eine schon hier und jetzt ἐν Χριστῷ lebende Gemeinschaft, die, wie Paulus in 1Kor 12,12–27 (in Verbindung mit 10,16f. und 11,29) formuliert, sich nur im organischen Bild des Leibes adäquat beschreiben läßt, da sie – vermittelt durch den sakramental gegenwärtigen Kreuzesleib und die darin aufscheinende Proexistenz Christi – selbst den Tod noch unterfaßt. Wo aber der eigene Tod durch das proexistente Sterben Jesu unterfaßt ist, da ist er auf das eschatologische εἶναι ἐν Χριστῷ auch überstiegen (vgl. 1Kor 11,26). Seinen endgültigen Stachel hat der Tod für die zum Herrenmahl versammelte Gemeinde insofern verloren. Der Beweis dafür ist, daß die Transzendierung dieser todverfallen Welt im Vorgang der liturgischen Memoria im Falle gelingender Rezeption der Abendmahlsparadosis zum Aufschein bzw. Vorgeschmack der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes in dieser Welt führt und damit zu ihrer wirksamen (wenn auch erst im Reich Gottes sich vollendenden) – Transformation.

Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie 191

on ist immer auch gleichbedeutend mit ethischer Bewährung. Verhält sich dies so, und daran zu zweifeln besteht nicht der geringste Anlaß, dann können wir im Rahmen unserer Frage nach dem Zusammenhang von sakramentaler Weltüberschreitung und sakramentaler Weltverwandlung das Ergebnis unserer Überlegungen abschließend nun so formulieren: Die Wahrheit des Wortes »Nehm t , m ei n L eib « ist in eine Welt hineingesprochen, in der Essen-und-Trinken-Müssen performativer Selbstvollzug unserer tödlich endenden Kontingenz ist. (Auch die vom Menschen produzierten Unheilszusammenhänge gründen nicht zuletzt in dieser Kontingenz.69) Zugleich ist dieses Wort in eine Welt gesprochen, in der Essen-und-Trinken-Dürfen auf eine selige Fülle verweist, die sich nur noch in überschwenglichen Bildern antizipieren läßt. Im Schnittpunkt dieser beiden gegenläufigen Erfahrungen steht das Brotwort Jesu. Es bewährt seine wirklichkeitsverändernde Wahrheit, wo es ihm gelingt, den Blick auf unser Leben dergestalt zu verändern, daß wir dessen tödliche Kontingenz im Spiegel der uns nährenden Liebe Jesu wahrnehmen. Aus all diesen Überlegungen aber folgt nun: Die Wahrheit des Wortes »Ne hm t , m e in L e ib« ist weder empirisch noch unempirisch, sondern sie ist kommunikativ. Das Versprechen, das sich in diesem Wort ausspricht, begründet Wirklichkeit anstelle von Wirklichkeit, diese aber wirklich.70 Wo diese Wirklichkeit im täglichen Leben der Christen ihre Bewährung findet bis zu jenem Tag, da kommt, der die Kraft hatte, dieses Wort vollmächtig zu sprechen, da hat die Wahrheit dieses Wortes nicht nur begonnen, unsere unheile Welt zu transzendieren, sondern in der Transzendierung zugleich auch zu transformieren.71

69

70

71

Vgl. Eugen DREWERMANN: Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums, 2. korr. Aufl., Regensburg: Pustet (1981); DERS.: Der Krieg und das Christentum. Von der Ohnmacht und Notwendigkeit des Religiösen, Regensburg: Pustet (21984), hier bes. 282–310, 322f., 334–337. Formulierung in Anschluß an Günter BADER: Die Ambiguität des Opferbegriffs, in: NZSTh 36 (1994) 59–74, hier 74. Vgl. oben Anm. 4.

V. »ALS OB ICH GEGEN EINE WAND REDETE …« Von der Vergeblichkeit des Betens und dem Wunder der Erhörung. Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets Gotthard Fuchs zum 75. Geburtstag

1. EXPOSITION Eine Nahostkorrespondentin in Jerusalem hört von einem alten Juden, der seit sehr langer Zeit offenbar zwei Mal täglich zur Klagemauer geht, um zu beten. Eines Tages folgt sie ihm, beobachtet ihn bei seinem Gebet, und nach etwa einer Stunde, als er sich zum Gehen anschickt, tritt sie auf ihn zu, um ihn zu interviewen: ›Rebecca Smith, CNN News. – Sir, wie lange kommen Sie schon regelmäßig an die Klagemauer zum Gebet?‹ ›Seit etwa 50 Jahren.‹ ›Und wofür beten sie meistens?‹ ›Vor allem für Frieden zwischen Juden und Arabern. Für die Beendigung all des Hasses, aller Ungerechtigkeit und Gewalt. Damit unsere Kinder endlich in Frieden, Freundschaft und Sicherheit aufwachsen können.‹ ›Und wie fühlen Sie sich nach 50 Jahren solchen Betens?‹ ›Als ob ich gegen eine Wand redete!‹1

Diese Geschichte reizt zum Lachen. Zugleich aber bleibt einem das Lachen im Halse stecken, offenbart es doch eine Wahrheit, die schmerzt: Unsere Gebete werden offensichtlich nicht erhört! Wer betet, hat nicht selten das Gefühl, gegen eine Wand zu reden, d.h. allein zu bleiben in seinem Gebet, wie ein Autist auf absurde Weise 

1

Habilitationsvortrag vor dem Professorium der Kath.-Theol. Fakultät der Westf. Wilhelms-Universität Münster, gehalten am 12. Juli 2011. Othmar KEEL/Ernst Axel KNAUF/Thomas STAUBLI: Salomons Tempel, Fribourg: Bibel + Orient Museum (2004) 48.

194

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

vor sich hin und zu sich selbst zu sprechen. Beten – allem Anschein nach ein durch und durch sinnloses Unterfangen. So neu ist diese Erfahrung freilich nicht. Schon das Alte Testament kennt die Erfahrung der Vergeblichkeit des Gebets: Erinnert sei an den Psalm 88, an die Klagelieder des Jeremias (Klg 3,8.44) und die ihnen entsprechenden Passagen im Buch Hiob (7,13–16; 10,2–22; 13,24; 16,6–14; 19,7; 23,3.8f.; 24,12; 30,20.26; 31,35ab); erinnert sei an Hanna im Tempel, deren verzweifeltes Gebet vom Priester Eli als das Verhalten einer Betrunkenen gedeutet wird (1Sam 1,9b–16).2 Dagegen stehen nun aber die vielen anderen Zeugnisse: Beten als ein hochgemutes Eintreten in die Gegenwart Gottes, die, gerade weil sie alles übersteigt, alles auch tröstlich umfängt – der Psalm 139 ist hierfür das vielleicht schönste Beispiel. Oder die Psalmen 19 und 104: Beten als eine Art kreatürliche Anrufung, als eine lautere Rühmung, die spontan sich erhebt, weil der Beter, eingeborgen in den Lebenskreislauf Gottes, sich immer schon als gesegnet und insofern als erhört erfährt: »Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge, du kennst es bereits« (Ps 139,4) – ein Vertrauen, das in den Worten Jesu auf seinen eindrucksvollen Höhepunkt kommt: »Betet, und ihr werdet erhört« (Mk 11,23f.; Mt 7,7–11 par Lk 11,9–13), »um was immer ihr den Vater in meinem Namen bittet, er wird es euch geben« (Joh 14,13f.; 15,7; 16,23f.) – Verheißungen, die, wenn sie nicht vollmundige Behauptungen bleiben sollen, doch irgendeinen Anhalt in der Erfahrungswelt haben müssen. Damit bin ich beim Thema meiner Erwägungen angelangt. Die skizzierte Spannung, die herrscht zwischen der Vergeblichkeitserfahrung des Gebetes und dem Wunder der Erhörung: inwieweit ist sie geeignet, den Umriß für eine Theologie des Gebets abzugeben? Und was läßt sich hieraus für die Theologie insgesamt lernen? – Ich möchte im folgenden so vorgehen, daß ich in einem ersten Gedankengang die angedeutete Spannung an drei biblischen Beispielen knapp entfalte. (2.) Sodann werden wir das biblische Material sowohl in religionsphilosophischer (3.) als auch theologischer Hinsicht (4.) systematisieren müssen. Inwieweit schließlich die beglückenden wie die enttäuschenden Erfahrungen mit dem Gebet eine Art existentiellen Prüfstein für die systematische Theologie abgeben; inwiefern die Theologie ihren Ausgangspunkt bei der konkreten Gebetspraxis des 2

Etwas vom Urteil des Priesters Eli klingt noch nach in der abschätzigen Bemerkung, mit sich der Kant in seiner Religionsschrift über das expressive Gebet verbreitet: »Daß ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, daß er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe […].« (Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Werke (Ed. Weischedel), Darmstadt: WBG [1983] Bd. VII, 871f., Anm.)

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

195

Menschen nicht insgesamt wird nehmen müssen – dies soll abschließend in einem vierten und letzten Schritt bedacht werden. (5.) 2. BIBLISCHE PHÄNOMENOLOGIE: DREI ARTEN VON VERGEBLICHKEITSERFAHRUNG UND GEBETSERHÖRUNG Beginnen wir unseren ersten Gedankengang. So vermessen es erscheinen mag, eine Phänomenologie des Gebets von den beiden Polen Vergeblichkeits- und Erhörungserfahrung her zu skizzieren (viele weitere Phänomene menschlichen Betens werden hierbei ja ausgeblendet), so hilfreich kann eine solche Grobskizze für unsere Fragestellung sein, findet sie ihren Anhalt doch vor allem in biblischen Texten. Nicht zuletzt die Gebetszeugnisse des Alten Testaments haben ja die theologische wie die philosophische Reflexion über das Gebet maßgeblich geprägt. Ich möchte dies an drei markanten Gestalten der biblischen Überlieferung verdeutlichen: an Abraham, Mose und Jona. 2.1. Abraham Abraham bietet sich als Einstieg in unsere Fragestellung insofern an, als sein Gebet Erhörung findet und gerade dadurch – scheitert. Sechsmal wendet sich Abraham an Gott, handelt, um Sodom und Gomorra vor dem göttlichen Zorngericht zu retten, die Zahl der in ihnen vorzufindenden Gerechten erfolgreich herunter (Gen 18,22b– 33), aber eben dieser Handel wird dem Ansinnen Abrahams zum Verhängnis. Nicht einmal zehn Gerechte sind in den Städten zu finden, und ob Abrahams Neffe Lot, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern dem Verderben entrinnt, ein Gerechter war, bleibt dahingestellt (vgl. Gen 13,10f.). Gottes Gnade, dies hat nicht zuletzt Immanuel Kant notiert, erscheint hier als willkürlich3, denn wer wäre schon gerecht vor Gott – abgesehen davon, daß nicht einsichtig zu machen ist, wie sich mit Gott handeln ließe.4 Wo die Götterlieblinge 3

4

Immanuel KANT: Metaphysik der Sitten, in: Werke (Ed. Weischedel), aaO., Bd. VII, 459f.: »Das Begnadigungsrecht […] für den Verbrecher […] ist wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch in hohem Grade Unrecht zu tun.« Immanuel KANT: Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Werke (Ed. Weischedel), aaO., Bd. VII, 870: »Das B e t e n, als ein i n n e r e r f ö r m l i c h e r Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen); denn es ist ein bloß e r k l ä r t e s W ü n s c h e n gegen ein Wesen, das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf, wodurch also nichts getan und also keine von den Pflichten, die uns als Gebote Gottes obliegen, ausgeübt, mithin Gott wirklich nicht gedient wird.« »Auch ist es ein unge-

196

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

gerettet werden und die Sünder vernichtet, da muß an der Gerechtigkeit Gottes gezweifelt werden. Um dieser Aporie zu entkommen, legt es sich nahe, die Gerechtigkeit Gottes in einen dunklen Mantel zu hüllen. Eben dies geschieht in Gen 22. In dieser vielleicht rätselhaftesten aller biblischen Geschichten wird dem Abraham das Liebste abverlangt, sein Sohn Isaak – und indem er sich dem göttlichen Verlangen fügt, gerät ihm der verzweifelt-zuversichtliche Glaube, den er darin bewährt, zum Segen. (Gen 22,17f.; 24,35; vgl. 15,6) Abraham wird für die jüdische wie für die christliche Tradition zum Urbild der Glaubenden (vgl. Jes 41,8; 2Chr 20,7; Röm 4,1–22; Hebr 11,8–19; Jak 2,21–23) und insofern zum Urbild aller Beter. Aber schon die Rabbinen hatten trotz aller Wertschätzung, die sie dieser Geschichte entgegenbrachten, ihre lieben Schwierigkeiten mit ihr5, und erst recht

5

reimter und zugleich vermessener Wahn, durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit (zum gegenwärtigen Vorteil für uns) abgebracht werden könne.« (Ebd. 871f. Anm.) Obgleich Gen 22 in den rabbinischen Auslegungen als Erweis der außerordentlichen Würdestellung Abrahams gedeutet wird (zehn Prüfungen wurden Abraham von Gott auferlegt, von denen die Opferung Isaaks die letzte und schwerste war [vgl. Pirqe Aboth 5,3 ‹MNes›, Ed. Hoffmann, 352]) und man in Isaak eine Präfiguration der wunderbaren, wenn auch prekären, weil vor allem im Leiden sich bewährenden Auserwählung Israels erblickt (LevR 2, 1.5 [Ed. Wünsche, 17]; LevR 36, 26.42 [Ed. Wünsche, 257]; Mekh Ex 12,13 [Ed. Winter-Wünsche, 24] ‹StrackBillerbeck III, 366›; 4Makk 16,20–25; 17,2–6; 18,1–4.20–23; vgl. aber auch bSchab 89b [Ed. Goldschmidt I, 526] ‹Strack-Billerbeck I, 120f.›), kommen die Ausleger dieser Geschichte insgesamt doch nur schwer bei. So sei es – analog zur Hiobserzählung – Satan gewesen, der Gott zur Versuchung Abrahams angestiftet habe (bSanh 89b.145–154 [Ed. Goldschmidt VII, 375f.] ‹Strack-Billerbeck I, 141›; umgekehrt im frühjüdischen Jubiläenbuch Kap. 17–18 ist es der Satansfürst Mastema, der als eine Art agent provocateur dem Abraham souffliert, Gott verlange das Isaakopfer von ihm [vgl. 4Q225 in DJD XIII, 141–155 ‹Pseudojubiläen, Fragment aus herodianischer Zeit›]). Oder in eindringlichen Worten wird geschildert, wie Abraham und Isaak auf dem Weg zum Berg Moria stumm nebeneinander hergehen und dabei den Einflüsterungen des Teufels ausgesetzt sind (GenR 56, 22.6–8 [Ed. Wünsche, 266f.]). Oder im Moment, da Abraham die Hand gegen den Knaben ausstreckt, schreien die Engel im Himmel auf (GenR 56, 22.9/12 [Ed. Wünsche, 267f.]). Wiederum, vom Schlag getroffen, stirbt Sara auf der Stelle, als sie bei der Rückkehr von Isaak erfährt, was sich am Berg Morija zugetragen hat (GenR 58, 23.2 [Ed. Wünsche, 275]; LevR 20, 16.1 [Ed. Wünsche, 132f.] ‹Strack-Billerbeck IV, 181f.›). Und auch nach erfolgreich bestandener Probe und dadurch gewonnenem Segen bleibt Abraham – ähnlich wie Jakob nach dem nächtlichen Kampf am Jabbok – ein vom Ringen mit Gott zeitlebens Gezeichneter (LevR 29, 23.24 [Ed. Wünsche 204] ‹Strack-Billerbeck II, 111f.›). Aber auch an Isaak ist die Abrahamsprüfung nicht spurlos vorbeigegangen; seine im Alter zunehmende Erblindung (vgl. Gen 27,1) wird zurückgeführt auf die Tränen der Engel, die ihm vom Himmel her in die Augen fielen als er, gebunden auf dem Altar liegend und mit angstvoll aufgerissenen Augen gen Himmel schauend, geschlachtet werden sollte (GenR 65, 27.1 [Ed. Wünsche, 311]). Ähnliche Schwierigkeiten wie die Rabbinen scheint auch Josephus Flavius empfunden zu haben – warum sonst legte er Abraham gegenüber

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

197

die modernen Ausleger – von Kierkegaard6 über Thomas Mann7 bis zu Elie Wiesel8 – tun sich schwer, zu begreifen, was hier geschieht. Ist es denn überhaupt zu begreifen? Wo die Unbegreiflichkeit Gottes

6

7

8

Isaak einen solchen Schwall an entschuldigenden Worten für das jetzt zu vollziehende Opfer in den Mund?! (Ant. I, 13) – Auch das orthodoxe Judentum der Gegenwart ist nicht nur glücklich mit der Geschichte. Emil L. FACKENHEIM erzählt folgende Begebenheit: »Einst wurde ich in Jerusalem von einem jungen Mann besucht, dessen Frömmigkeit ich keinen Grund hatte zu bezweifeln: Er trug die schwarze Kleidung der Ultra-Orthodoxen. ›Haben Sie je darüber nachgedacht‹, fragte er mich, ›warum Gott selbst zu Abraham spricht, wenn Er ihm den Befehl gibt, Isaak zu opfern, aber einen Engel sendet, um die Entlassung mitzuteilen?‹ Ich gab zu, darüber nicht nachgedacht zu haben. ›Gott hat sich über Abraham geärgert‹, fuhr er fort. ›Abraham hat die Prüfung nicht bestanden. Er ist durchgefallen. Als Er Abraham befahl, Isaak zu opfern, wollte Er Abrahams Weigerung. Er wollte nicht ›Ja‹, sondern ›Nein‹.‹« (Geleitwort von Emil L. Fackenheim zu: Michael KRUPP: Den Sohn opfern? Die Isaak-Überlieferung bei Juden, Christen und Muslimen, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus [1995] 7ff., hier 8f.) Die hier von Fackenheim vorgebrachte moderne orthodoxe Auslegung gerät damit in erstaunliche Nähe zu jener bibelkritischen Invektive, die schon Immanuel Kant gegen »die Mythe von dem Opfer« vorgetragen hat, »das Abraham auf göttlichen Befehl durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes – (das arme Kind trug unwissend noch das Holz dazu) – bringen wollte«. Abraham hätte nämlich, ausgehend vom Axiom der Unmöglichkeit eines Selbstwiderspruchs in Gott, von vorneherein Widerstand leisten müssen gegen jenes göttliche Ansinnen und »auf diese vermeintliche Stimme antworten sollen: ›Daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott seiest, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden‹, wenn sie [sc. deine göttliche Stimme] auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallet.« (Streit der Fakultäten [1798], A 103 Anm., in: Werke [Ed. Weischedel], aaO. Bd. IX, 333.) Sören KIERKEGAARD: Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio, in: GW IV. Abtlg. (Hg. Emanuel Hirsch), Düsseldorf: Eugen Diederichs (o.J.). – Vgl. auch die eindringliche Neuinterpretation der Kierkegaard’schen Deutung durch Jacques DERRIDA: Den Tod geben [Donner la mort], in: Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp (1994) 331–445, hier 380–408. Dazu Tilman BEYRICH: Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard, Kierkegaard Studies. Monograph Series 6, Berlin u.a.: De Gruyter (2001) 163–183. Vgl. das Kapitel »Urgeblök«, in Joseph und seine Brüder. Die Geschichten Jaakobs (GW IV, 185–188). Thomas Mann greift im Blick auf eine Interpretation von Gen 22 vor allem auf Freuds ethnopsychologische Studie Totem und Tabu zurück. Aber auch Bachofens Mutterrecht, Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung (vgl. GW IX, 552ff.) und Nietzsches Dionysos-Phantasien in Geburt der Tragödie und Wille zur Macht (GW IV, 185f. und VII, 516) stehen im Hintergrund von Manns Mythopoietik. Dazu Christian HÜLSHÖRSTER: Thomas Mann und Oskar Goldbergs ›Wirklichkeit der Hebräer‹, in: Thomas-Mann-Studien XXI, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann (1999) 156–182. – Manns Deutung von Gen 22 findet sich aufs knappste zusammengefaßt in seinem Vortrag Joseph und seine Brüder von 1942 (GW XI, 668ff.). Elie WIESEL: Ani maamin. Ein verlorener und wiederaufgefundener Gesang, in: Ders.: Jude heute. Erzählungen, Essays, Dialoge, Wien: Hannibal (1987) 217ff.

198

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

ihre Lösung darin findet, daß man sich dem göttlichen Willen widerspruchslos fügt, ist der hochgemute Glaube dem Fatalismus zum Verwechseln ähnlich geworden. »Gott selbst wird sich das Opfertier auswählen, mein Sohn« (Gen 22,8): Dieser Satz läßt den Gott, der Abraham auf die Probe stellt, als dunkles Fatum erscheinen, auch wenn im vorliegenden Fall die Probe glücklich ausgeht. Auf dem Höhepunkt der biblischen Abrahamserzählung ist die Möglichkeit, mit Gott zu verhandeln, erschöpft; die Bitten, die der Vater aller Glaubenden im Blick auf die unglücklichen Sünder von Sodom und Gomorra so wortreich noch vorzubringen wußte, sind verstummt, denn ein Gott, der dem Menschen ohne jede Erklärung das Teuerste abverlangt, läßt sich nicht bitten; man kann sich ihm nur noch – zagend oder hoffend – unterwerfen. 2.2. Mose Ganz anders dagegen eine zweite Form biblischer Gebetserfahrung: die des Mose. Verglichen mit Abraham, besteht das Eigentümliche der mosaischen Gottesbegegnung darin, zwischen Ergreifung und Ergriffenheit zu oszillieren. Exemplarisch wird dies deutlich in der Geschichte vom brennenden Dornbusch (Ex 3): Hier wird »die Erfahrung eines zugleich Anziehenden und Befremdenden« zur Initiierung in eine Sendung, in welcher ein Mensch die Bestimmung seines Lebens findet, ohne daß er sich diese Bestimmung selber ausgesucht hätte.9 Das Buch Exodus beschreibt diesen eigenartigen Vorgang eines Ausgreifens nach Gott, in welchem Mose sich als von Gott ergriffen erfährt, denn auch konsequent als ein dialektisches Geschehen von Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremdheit, Erhörungsgewähr und Erhörungsverweigerung. Das Begehren des Mose »ich will hingehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen« wird unverzüglich konterkariert durch das Verdikt des Unnahbaren: »Halt! Nicht näherkommen! Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.« (Ex 3,3ff.) Ähnlich verhält es sich mit der Erfahrung beseligender Vertrautheit, in welcher Gott mit Mose spricht »von Angesicht zu Angesicht wie mit einem Freund« (Ex 33,11 [vgl. Dtn 5,4; Gen 32,31; 1Kor 13,12]), und die doch schon wenige Verse später mit der Gegenerfahrung der ehrfurchtsgebietenden, schneidenden Distanz kontrastiert wird: »Mein Angesicht wirst du nicht schauen. Denn kein Mensch kann mich schauen und am Leben bleiben« (Ex 33,20).

9

Hans-Joachim HÖHN: Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn u.a.: Schöningh (2007) 175f. – Vgl. zum Ganzen Jörg SPLETT: Gottergriffen. Grundkapitel einer Religionsanthropologie, Edition Cardo Bd. LXXV, Köln: Koinonia-Oriens (2001) 7–20.

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

199

Diese fortwährende Dialektik eines »›aktiven Passivs‹«10, d.h. eines Greifens nach dem, was einen längst schon ergriffen hat, verleiht der Gotteserfahrung des Mose paradigmatische Bedeutung im Blick auf das biblische Gott-Mensch-Verhältnis insgesamt, denn die Paradoxie des zugleich Anziehenden und Befremdenden, des Faszinierenden und Erschreckenden wird hier zu keinem Zeitpunkt getilgt oder aufgehoben.11 Fast meint man, in der eigentümlichen Dialektik der mosaischen Gebetserfahrung die berühmte Regel des Vierten Laterankonzils wiederzuentdecken: Jede behauptete Ähnlichkeit zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf ist begleitet und unterfangen von einer noch größeren Unähnlichkeit.12 »Die Unsichtbarkeit und Unverfügbarkeit Gottes bricht [denn auch] die Vorstellung eines Gesprächs, wie es zwischen weltlichen Personen möglich ist.«13 Auch die Summe seiner vielen Erhörungsgewißheiten erlaubt Mose nicht mehr als die Wahrnehmung von Spuren der Zuwendung Gottes. So ist es wohl auch kein Zufall, daß die letzte, alles erfüllende Zuwendung, die darin bestünde, selber in das ersehnte Land der Verheißung einziehen zu dürfen, dem Mose versagt bleibt – wenngleich er jenes Land mit eigenen Augen immerhin hat sehen dürfen. (Vgl. Dtn 34,1–5) 2.3. Jona Auch das dritte Beispiel biblischer Gebetserfahrung oszilliert auf eigentümliche Weise zwischen Erhörungsgewähr bei gleichzeitiger Fraglichkeit jeder Erhörung, aber gerade darin erweist es sich auf paradoxe Weise als Gewähr eines noch einmal Größeren: die Rede ist vom Gebet des Jona. Die Geschichte ist bekannt: Jona, dieser Prophet wider Willen, ist in die tiefsten Abgründe der Verzweiflung gestürzt. Im Bauch des Untiers, das ihn verschluckt hat – mythisches Bild der Sche‘ol, in welcher man lebendig-tot ist –, erhebt er seine Stimme zu Gott, und zwar mit jenen Worten, die als »De profundis« im lateinischen Psalter ihren prominenten Ort gefunden haben. (Jona 2,3–10/Ps 130,1–8)14 Das Eigentümliche an diesem Gebet ist nun, 10 11 12

13

14

Hans-Joachim HÖHN: Postsäkular, aaO. 175. Ebd. 176. DH 806: »quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.« (»Zwischen Schöpfer und Geschöpf kann keine noch so große Ähnlichkeit festgestellt werden, daß zwischen ihnen nicht eine immer noch größere Unähnlichkeit festgestellt werden müßte.«) Gottfried BACHL: Thesen zum Bittgebet, in: Theodor Schneider/Lothar Ullrich (Hg.): Vorsehung und Handeln Gottes (QD 115), Freiburg i.Br.: Herder (1987) 192–207, hier 194f. Das Folgende in Anlehnung an Günter BADER: Das Gebet Jonas. Eine Meditation, in: ZThK 70 (1973) 162–205.

200

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

daß es als Klage- und Hilfeschrei immer schon vom Dank über die (anscheinend) noch gar nicht erfolgte Rettung durchdrungen ist. Wie läßt sich das erklären? Nun, die Erklärung liegt wohl darin, daß in der Situation, in der Jona sich befindet, alles zu einem Gebet zwar hindrängt (»als mir der Atem schwand, dachte ich an den Herrn« [Jona 2,8a]), daß zur Durchführung dieses Gebetes es aber einer Kraft bedarf, die Jona gar nicht aufbringen kann. Denn wo man den Chaosund Todesmächten ausgeliefert ist, da ist zwar stummer, qualvoller Drang nach Atem, Licht und Rettung (2,4.6–7a); aber das entscheidende Wort »in meiner Not rief ich zum Herrn« (2,3), das retrospektiv auf diese Situation zurückschaut – eben dieses Wort ist nur sagbar, wo ich mich als zu diesem Wort befreit erfahre, d.h. wo die Situation drangvollen Beten-Müssens aber nicht -Könnens und die Erfahrung heilsamen Beten-Könnens und -Dürfens auf wunderbare Weise ineinsfallen.15 »Der der Situation des Beten-Müssens und Nicht-BetenKönnens Ausgelieferte bedarf der hilfreichen secunda manus, die ihm in der Enge der Welt den weiten Raum des geglückten Wortes schafft […].«16 Dieses Ereignis des schlechterdings von außen kommenden und doch aus dem Innersten der Verzweiflung hervorbrechenden Wortes, das dem Jona »Raum schafft in seiner Not« (Ps 4,2), wird auf mittelalterlichen Psalter-Illuminationen in der Weise veranschaulicht, daß der Bauch des Ungetüms sich regelrecht weiten muß unter der Wirkung des raumschaffenden Gebets.17 Eben hierin scheint das Eigentümliche der Gebetserfahrung des Jona zu liegen: Ermöglichung des Hilfeschreis und Erhörung des Hilfeschreis sind identisch, denn um Hilfe geschrieen haben zu können, bedeutet, ins Leben zurückgekehrt, d.h. erhört worden zu sein. Das Gebet des Jona trägt seine Erfüllung in sich selbst. In seinem Beten entdeckt sich Jona als ent-deckt, d.h. als zugehörig zu einem Wort, das hervorzubringen er selber ganz und gar unfähig ist und das doch, wie von einer hilfreichen divina vox ihm souffliert, aus seinem Innersten aufsteigt. Neben der abrahamischen Erfahrung des Scheiterns hoffnungsfroher Gebetserhörung und neben der eigentümlichen Dialektik der mosaischen Gebetserfahrung scheint eine weitere Erfahrung biblischen Betens dahinzugehen, daß das Gebet seine eigene Erhörung antizipiert und in der Antizipierung ins Werk setzt. – Was geben uns diese biblischen Einsichten in systematischer Hinsicht zu denken?

15 16 17

Vgl. ebd. 167. Ebd. 170. Entsprechende Hinweise ebd. 170, Anm. 14.

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

201

3. RELIGIONSPHILOSOPHISCHE KATEGORIEN: GEBET ALS MONOLOGION, ALS PROSLOGION, ALS DIALOGOS Blickt man auf die hier vorgestellten Beispiele biblischen Betens, so fällt auf, daß drei Dimensionen in ihnen eine elementare Rolle spielen.18 (1.) Zunächst scheint sich das Gebet darin zu erschöpfen, ein einsamer Monolog der Seele mit sich selbst zu sein. Gebet ist auf dieser ersten Ebene noch ganz ein nachsinnendes Alleingespräch und darin der einsamste Akt des Menschen, der sich denken läßt – von dieser Grunderfahrung zeugt nicht nur das Gebet des Jona, dem das glückende Wort nicht auf die Lippen kommen will; auch die Worte Hannas, die ich anfangs erwähnte, sind hierfür ein eindringliches Beispiel. Aber auch die gelösteren, hoffnungsvolleren Erfahrungen der Psalmisten gehören hier hin: »Meine Seele ließ ich still werden in mir.« (Ps 131,2) »Seele, warum bist du betrübt und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue.« (Ps 42,6; vgl. Ps 39) Nicht zuletzt die Rabbinen haben den Gang Abrahams zum Berg Morija als ein solches monologisches Nachsinnen Abrahams über das ihm von Gott Abverlangte imaginiert.19 Mir erscheint es als durchaus statthaft, in der Art, wie der jüdische Psychoanalytiker Viktor E. Frankl diese monologische Dimension des Gebets beschreibt, einen Nachklang jener rabbinischen Deutung zu vernehmen: »Gott«, so Frankl, läßt sich »vielleicht am treffendsten definieren […] als der Partner unserer intimsten Selbstgespräche. Das heißt praktisch: was einer in seiner äußersten Einsamkeit – damit aber auch in letzter Ehrlichkeit sich selbst gegenüber – bedenkt und in ›innerer Sprache‹ bespricht – das alles spricht er eigentlich zu Gott (›tibi cor meum loquitur‹); mag er nun Theist oder Atheist sein – irgendwie wird es unwesentlich, da sich Gott nunmehr – ›operational‹ – definieren ließe als derjenige, mit dem er, so oder so, spricht. Der Theist unterscheidet sich dann vom Atheisten nur noch dadurch, daß er die Hypothese, der Partner sei er selbst, nicht mitmacht, sondern diesen Partner für jemanden hält, 18

19

Für das Folgende vgl. Elmar SALMANN: Das Gebet: Monolog und Dia-log als Weg invor-zu Gott, in: Ders.: Neuzeit und Offenbarung. Studien zur trinitarischen Analogik des Christentums (StAns 94), Rom (1986) 215–268; DERS.: Gnadenerfahrung im Gebet. Zur Theorie der Mystik bei Anselm Stolz und Alois Mager, masch. Diss. theol., Univ. Münster (1978) 149–293; DERS.: Denken und Beten. Zwei Urgebärden des Geistes, in: Joachim Hake/Ders. (Hg.): Die Vernunft ins Gebet nehmen. Philosophisch-theologische Betrachtungen, Stuttgart u.a.: Kohlhammer (2000) 9–30; DERS.: Andacht. Philosophen vor dem Phänomen der Liturgie, in: ebd. 75–101. Vgl. oben Anm. 5.

202

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …« der mit ihm selbst eben nicht identisch ist. Für eine operationale Definition spielt das aber keine Rolle […]. Denn im Sinne einer solchen Definition haben wir auf jeden Fall das Recht, einfach übereinzukommen, daß wir diesen Jemand Gott nennen.«20

(2.) Ob es wirklich gleichgültig ist, den Adressaten meiner intimsten Selbstgespräche »Gott« zu nennen oder nicht, werden wir noch sehen. In jedem Fall aber gerät uns, ausgehend von Frankls Beobachtung, eine zweite Ebene des Gebets vor Augen. Auf ihr weitet sich die monologische Ausgangssituation ins Proslogische, ins ansprechende Angesprochensein. Das Wort, das die ihrer eigenen Tiefe nachsinnende Seele sich selber zu sagen vermeint, erscheint hier als ein solches, das ihr von anderswoher ein- bzw. zugefallen ist. Gebet als einsamer, suchender Monolog verschiebt sich auf dieser zweiten Ebene unmerklich in Richtung eines lauschenden Hörens auf ein mir Vor- bzw. Zugesprochenes, auf ein Proslogion – auch diesen Vorgang bemerkten wir nicht zuletzt im Gebet des Jona: Der betenwollende, aber nicht eigentlich beten-könnende Mensch entdeckt sich hier als einen Angesprochenen, als »Hörer des Wortes«. Bekanntlich hat Karl Rahner über diese Zusammenhänge intensiv nachgedacht21, aber schon bei Nicolas de Malebranche22, Blaise Pas20

21

22

Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, München: Piper (1990) 350; ähnlich ebd. 369ff. – Ähnlich auch Elmar SALMANN in Anschluß an Michael THEUNISSEN (Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin: de Gruyter [1965] 326): »Andacht ist […] jene Form der Selbstreflexion des Menschen, in der dieser im vertieften Monolog mit sich selbst jenen trans-immanenten Grund in sich entdeckt, der diesen Monolog noch einmal gründet. ›Als mein Grund ist er das mir Eigenste, das Innerste meiner Innerlichkeit. Als mein eigener Grund ist er mir selbst wieder nicht zu eigen. Es ist … jene Transzendenz, auf die ich inmitten meiner Immanenz stoße.‹« (Neuzeit und Offenbarung, aaO. 246.) – Vgl. hierzu auch die treffenden Beobachtungen von Henning LUTHER: Der fiktive Andere. Mutmaßungen über das Religiöse an Biographie, in: Albrecht Grözinger/Ders. (Hg.): Religion und Biographie. Perspektiven zur gelebten Religion (FS Gert Otto), München: Kaiser (1987) 67–78, hier 71–77. Neben Rahners einschlägiger These gleichen Titels aus dem Jahre 1941 (vgl. dazu neben Klaus P. FISCHER: Der Mensch als Geheimnis. Die Anthropologie Karl Rahners, Freiburg i.Br. u.a.: Herder [1974] 170–193, 210ff., auch Vf.: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, Paderborn u.a.: Schöningh [2005] 155–160) sei hier verwiesen auf folgende Texte: Worte ins Schweigen. Gebete der Einkehr [1934], Innsbruck: Tyrolia (111972); Gebet – Zwiegespräch mit Gott?, in: Schriften zur Theologie Bd. XIII, Zürich/Einsiedeln/ Köln: Benziger (1978) 148–158; Über die Möglichkeit und die Notwendigkeit des Gebetes, in: Wagnis des Christen. Geistliche Texte, Freiburg i.Br.: Herder (1974) 63–84. Zu Malebranches Konzeption einer »vision en Dieu«, konzipiert als Zusammenschau von cartesischer Rationalität und augustinischer Illumination, der zufolge ein Mensch sein Ich, je aufmerksamer er bei sich einkehrt, als umso bodenloser und geweiteter erfährt, bis schließlich er jeden seiner Reflexionsakte evidentermaßen

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

203

cal23 und Ignatius von Loyola24 finden sich Überlegungen dieser Art, die im 20. Jahrhundert dann von Simone Weil25 sowie von Martin

23

24

25

als vor und in Gott vollzogen erlebt, siehe Fernando GIL: Traité de l’évidence, Millon: Édition Krisis (1992) 108f.: »L’intuition évidente signifie pour Descartes ›la conception d’un ésprit pur et attentif‹, l’attention est la métaphore malebranchienne de l’évidence. […] Malebranche fait de l’attention la seule méthode d’une pensée de l’évidence où il n’y a pas lieu de séparer philosophie et théologie: ›Toute ma méthode se réduit à une attention sérieuse à ce qui m’éclaire et à ce qui me conduit.‹ Il est besoin d’une attention qui est désir et effort pour que la lumière m’éclaire et ne s’échappe pas. ›Je sens que la lumière se répand dans mon esprit à proportion que je la désire, et que je fais pour cela un certain effort que j’appelle attention.‹ Malebranche a forgé des dénominations spécifiques pour les caractères de l’orientation et de l’attention. L’homme intérieur est l’espace aménagé par la conversion du regard: ›La Sagesse éternelle s’est présentée hors de nous d’une manière sensible, non pour nous faire arrêter hors de nous, mais afin de nous faire rentrer dans nous-mêmes, et que selon l’homme intérieur nous la puissions considérer d’une manière intelligible.‹ Prière naturelle de l’âme, l’attention déborde vers une connaissance qu’elle constitue par une saisie méthodique. Elle implique recherche et volonté: ›L’attention est la prière naturelle que nous faisons à la vérité intérieure, afin qu’elle se découvre à nous. Mais cette souveraine vérité ne répond pas toujours à nos désirs, parce que nous ne savons pas trop bien comment il faut prier.‹« (Zitate nach Nicolas DE MALEBRANCHE: Conversations chrétiennes I, Œuvres t. I, Paris: Galimard, Éditions de la Pléiade No 277 [1979] 1132.) – Ähnlich auch Elmar SALMANN: »Jeder reine Akt der Aufmerksamkeit, in der ein Mensch gesammelt und doch selbstvergessen ein Anderes sein und sich begegnen läßt, ist ein Akt des Gebetes, einer demütig-empfänglichen Huldigung an die Wirklichkeit, in der Gott sich geben, als Gnade und Gewähr des Seins aufscheinen kann.« (Denken und Beten. Zwei Urgebärden des Geistes, aaO. 20.) Während MALEBRANCHE (1638–1715) seine Aufmerksamkeit auf die »attention« richtet, »la prière naturelle de l’âme«, meditiert PASCAL (1623–1662), auch er Mitglied des Pariser Oratoriums, umgekehrt über die »distractions«. Das Gegenteil der konzentrierten, liebenden Aufmerksamkeit auf das eine und einzige, was not tut, sind die »Zerstreuungen«; in ihnen erblickt Pascal das Elend des von Gott getrennten Menschen, denn ihre unheilvolle Macht üben die »distractions« dadurch aus, daß sie den Menschen nicht einmal mehr sein Elend wahrnehmen lassen. Vgl. dazu in den Pensées die Frg. 139, 142, 143, 170f. In den Gebeten um eine hilfreiche »Unterscheidung der Geister« sowie in der allabendlichen Gewissenserforschung (»examen conscientiae« = »Gebet um liebende Aufmerksamkeit«) resümieren sich nicht zuletzt die Exerzitien des Ignatius von Loyola. (Exercices Spirituels No 24–43; 328–336.) Die dabei erbetene Haltung der Indifferenz (ebd. No 23, 157, 179) zielt darauf ab, die Seele gegenüber ihren vom Ich bewegten Regungen so gleichmütig werden zu lassen, daß der Wille Gottes in ihr lautwerden kann (ebd. No 313–327). Vgl. dazu Albert GÖRRES: Über die Gewissenserforschung nach der Weise des hl. Ignatius von Loyola, in: GuL 29 (1956) 283–289, hier 287: »Die Reflexion auf das eigene Erleben, die Ignatius lehrt, ist kein Kreisen um das Ich. Sie ist ganz theozentrische Ausrichtung auf Gott, wie er in den seelischen Regungen wirkt, sich mitteilt und in den inneren wie in allen Dingen gefunden werden will.« »Das Wesen des Gebets besteht in der Aufmerksamkeit [attention]. […] Im Gebet richtet die Seele alle Aufmerksamkeit, deren sie fähig ist, auf Gott, und die Beschaffenheit des Gebets hängt zu einem großen Teil von der Beschaffenheit der

204

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

Buber26 und Franz Rosenzweig27 aufgenommen und fortgeführt wurden. Die Intuition dieser betenden Denker besteht darin, den

26

27

Aufmerksamkeit ab. Wenn es hieran mangelt, kann auch die Wärme des Gefühls keine Abhilfe schaffen.« »Die Aufmerksamkeit [attention] ist eine Anstrengung, vielleicht die größte von allen. […] Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten. […] Und vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.« (Simone WEIL: Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, München: dtv 11289 [1990] 49f., 45.) Vgl. aus den dialogischen Schriften insbesondere Zwiesprache. Traktat vom dialogischen Leben [1929], wo Buber der Überlegung nachgeht, daß ein Gedanke, obgleich im stummen Gespräch der Seele mit sich selbst entstehend und insofern im Moment seiner Geburt zutiefst monologisch verfaßt, doch immer schon in einen Raum des Dialogischen hineingespannt ist: »Die Entstehung des Gedankens vollzieht sich nicht im Selbstgespräch«; vielmehr das monologische Selbst, das den Gedanken gebiert und ausspinnt, ist von sich selbst unterschieden in Hinsicht auf einen »Genius, de[n] mit mir intendierte[n] Geist, [dem] Bild-Selbst, dem der neue Gedanke vorgetragen wird, ob er von ihm gebilligt, das heißt: in sein eigenes Vollendungsdenken aufgenommen werden möchte.« Dieser »Genius« ist nun aber nicht ein quasi-göttliches Daimonion, sondern der vermittels meines Selbst tonlos in mich hineinragende Andere, das Du, auf das hin das Wort immer schon entworfen ist: »[B]ereits im Urstadium des rechtmäßigen Denkakts [möchte] die innere Haltung auf ein echtes, nicht bloß ›innerliches‹ […] Du hin geschehen […].« (In: Martin BUBER: Das dialogische Prinzip, Darmstadt: WBG [71994] 137–196, hier 177ff.) Gleichwohl ist dieses imaginierte Du, obzwar ein menschliches, auf das der innere Gedanke, weil auf Kommunikabilität angelegt, konzipiert ist, doch immer zugleich Rückstrahl eines ganz anderen, nämlich des göttlichen Du, das in jeder glückenden menschlichen Kommunikation implizit aufscheint. Denn wo man mit einem Menschen wirklich zu tun bekommt, wo also Begegnung im echten Sinn des Wortes geschieht, da strahlt in mir wie auch in ihm eine »wortlose Tiefe« (ebd. 173) auf, eine »ursprüngliche«, »vorbiographische« »Einheit« (ebd. 174), und diese bezeichnet Buber als die »geschöpfliche Grundeinheit eines Geschöpfs«, »Gott verbunden wie im Nu vor der Loslassung die Kreatur dem creator spiritus, Gott urverbunden wie die Kreatur dem creator spiritus im Augenblick der Loslassung.« (Ebd. 175) Was hier im geschichtlichen Konsonanzraum dialogischer Begegnung mit dem mitmenschlichen Du aufscheint, hat sich aber vorbereitet in jenem Moment, da das einem zukünftigen mitmenschlichen Du mitzuteilende Wort in meinem Innersten zum erstenmal sich hervordachte, weswegen gilt: Der im innersten Raum der Seele sich erhebende Gedanke ersteht immer schon in einem dreidimensionalen Resonanzraum von Ich – Du – Gott. (Vgl. Ich und Du. Dritter Teil, in: ebd. 5–136, hier 76–121; ferner ebd. 133–136.) Rosenzweigs berühmter Satz: »Das Gebet stiftet die menschliche Weltordnung« meint doch wohl: Die Art, wie ich auf meinen Nächsten und die Welt blicke, hängt ab von der Qualität meines Betens. Denn neben jenem Gebet, das im Erflehen der Ankunft des Gottesreiches nichts als reine Aufmerksamkeit auf die Spuren seines leisesten Nahens ist, in welchem »die Seele zur Freiheit der Liebestat« heranwächst, gibt es auch ein anderes Beten, welches das Gottesreich herbeizwingen will. Ein solches Gebet, das Gott nötigt, läßt den Beter »gewalttätig« und »tyrannisch« werden; es überspringt immerzu das Naheliegende, weil es das Fernere will. Gerade dadurch aber »verzögert«, ja verhindert es, was zu realisieren sein höchstes

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

205

Berührungspunkt des monologischen Denkens mit einem proslogischen Denken freizulegen, einem Denken, welches sich für das Unsagbare, weil Unausdenkbare offenhält, um ihm (bisweilen fassungslos-bestürzt, bisweilen dankbar-betroffen, immer aber auch versonnen-erwägend) nachzusinnen. Im Grunde weiß ja jeder nachdenkliche Mensch um diese Erfahrung, wenn auch der Beter in besonderer Weise: Meine besten Ideen stammen gar nicht von mir; sie sind mir »eingefallen«, sie sind mir »gekommen«, sie sind so etwas wie ein intuitiver »Zu-« oder »Einfall«, und alles monologische Reden mit der eigenen Seele war zuletzt nur ein aufmerkendes, demütig-empfängliches Lauschen auf jenes Wort, das ich mir selber nicht sagen kann und das doch nur darauf wartet, sich mir zusprechen zu dürfen. (3.) Damit gerät nun auch eine dritte Ebene in Reichweite: Hier ist das Gebet nicht mehr einsamer Monolog mit mir bzw. mich ansprechendes Wort in mir, sondern das Gebet weitet sich auf dieser dritten Ebene zum Dialog mit, in und vor einem Anderen, Größeren, den als göttliches »Du« zu erfahren der Fortgang des Betens dem Beter erlaubt. Wieder ist es Viktor Frankl, dem wir hier einen wichtigen Hinweis verdanken (einen Hinweis, der, nebenbei bemerkt, seine zuerst zitierte Bemerkung hinsichtlich der Irrelevanz des Glaubens an den personalen Gegenüberstand dessen, mit dem ich betend im Gespräch bin, einigermaßen relativiert, wenn nicht gar dementiert): »Was ist allein imstande, Gott in seiner Duhaftigkeit […] aufleuchten zu lassen?« – so Frankls Frage. Und er antwortet: »[nichts anderes als] das Gebet: es ist der einzige Akt menschlichen Geistes, der Gott als Du präsent zu machen vermag. Das Gebet präsentiert, konkretisiert und personifiziert Gott zu einem Du. Dies ist die Leistung des Gebetes […]. Das Gebet macht Gott gegenwärtig. […] Was das Gebet leistet, das ist die Intimität der Transzendenz.«28

Seltsam – dem Gebet, vollzogen als Anrede eines göttlichen Gegenübers, scheint die performative Kraft innezuwohnen, das Gegenüber

28

Ziel ist: die Herankunft des Gottesreiches. (Zitate in Reihenfolge aus: Der Stern der Erlösung II [270–275], Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1988] 298, 297, 299, 302.) – Vgl. dazu Bernhard CASPER: »Das Gebet stiftet die menschliche Weltordnung«. Zum Verständnis der Erlösung im Werk Franz Rosenzweigs, in: Gotthard Fuchs/Hans Hermann Henrix (Hg.): Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig, Frankfurt a.M.: Knecht (1987) 127–150. Zum Ganzen auch DERS.: Das Ereignis des Betens. Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens, Freiburg i.Br./München: Alber (1998). Viktor E. FRANKL: Von der Autonomie zur Transzendenz: Krise des Humanismus, in: Ders.: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, München/Zürich: Serie Piper 1223 (1990) 349–386, hier 379f.

206

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

als ein »Du« allererst präsent zu setzen. Eben dadurch wird das Gebet nun aber auch erstmals als ein dezidiertes Gespräch mit dem göttlichen Gegenüber erfahren, das zugleich aber in und vor ihm geschieht, umfangen und getragen von Ihm, jenem Grund aller Wahrheit und Freiheit, zu welchem der Beter zu sprechen sich untersteht (weswegen ein solches performatives Gebet auch nicht einfach identisch gesetzt werden kann mit einer illusionären Selbstbespiegelung oder Projektion) – vielmehr erscheint es hier mit einem Mal als ein Vorgang, der so etwas wie »Erhörung« allererst zu denken verheißt. »Erhörung« – ein schwieriges Wort. Vielleicht ist Erhörung zunächst gar nicht viel mehr als die Erfahrung, sich etwas gesagt sein zu lassen. Aber gerade, indem ich mir etwas gesagt sein lasse, ist mir auch etwas gesagt worden! – Wäre in diesem Sinne nicht womöglich auch das Gebet Jesu im Johannesevangelium zu verstehen, jenes glückselige Einbekenntnis des menschgewordenen Logos, der Erhörung jeglichen Gebetes gewiß sein zu dürfen (»Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. Ich wußte, daß du mich immer erhörst« [Joh 11,41f.]), und zwar weil das Geheimnis Jesu darin besteht, sich einzig von demjenigen etwas gesagt sein zu lassen, der größer ist als er (4,34; 5,19; 6,38) und den er deshalb seinen – »Vater« nennt? 4. THEOLOGISCHE ZENTRIERUNGEN: BETEN JESUANISCH – CHRISTOLOGISCH – TRINITARISCH Damit sind wir angelangt bei unserem dritten Denkschritt. Hier geht es darum, die bisherigen Überlegungen in den Lebensweg Jesu hineinzuspiegeln, um von dort aus die entsprechenden christologischen und trinitätstheologischen Linien auszuziehen. 4.1. Christliches Beten als Nachahmung der Gebetspraxis Jesu Gebetspraxis Jesu – dazu ließe sich viel sagen.29 Ich will hier nur auf die Unauffälligkeit des Gebetes Jesu aufmerksam machen, auf seine 29

Statt dessen sei verwiesen auf die einschlägigen Studien von Joachim GNILKA: Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte, HthKNT Suppl.Bd. III, Freiburg i.Br.: Herder (1990) 205f., 239f.; Heinz SCHÜRMANN: Das Gebet des Herrn als Schlüssel zum Verstehen Jesu, Freiburg i.Br.: Herder (41981); Gerhard LOHFINK: Die Grundstruktur des biblischen Bittgebets, in: Gisbert Greshake/Ders. (Hg.): Bittgebet – Testfall des Glaubens, Mainz: Grünewald (1978) 19–31, hier 22–29; Joachim JEREMIAS: Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1966). – Die folgenden Formulierungen in Anschluß an Elmar SALMANN: Gottesverlust und Spurensuche. Religiöse Archetypen und die neue Laienreligion, in: Stephan Pauly (Hg.): Spiritualität in unserer Zeit, Stuttgart u.a.: Kohlhammer (2002), 81–92, hier 88f.

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

207

»Liebe zur Einsamkeit des Vor-und-in-Gott-Verweilens, des hingebenden Vertrauens.« Jesu Leben ist begleitet und gerahmt vom täglichen Beten (vgl. Mk 1,35; 6,46), vom »offenbar problemlos akzeptierten Rahmen der jüdischen Liturgie« (vgl. Mk 1,21), »die er freilich auf den Kern hin relativiert und neu verabgründet: auf das Sein vor Gott – mit dem Nächsten (vgl. Lk 10,30–35), in der Verborgenheit des Herzens« (vgl. Mt 6,6). Davon spricht nicht zuletzt das Vaterunser, »ein Gebet, wie es schlichter nicht sein könnte.«30 Jenseits aller spekulativen Theologie, jenseits auch aller erlebnisstarken Mystik beschränkt es sich auf »eine Anrufung der allen Menschen gemeinsamen Transzendenz«, auf »die Bitte, daß der Name Gottes, seine Gegenwart geheiligt werde«, daß diese Gegenwart »Raum finde im Leben der Menschen«; schließlich auf die Bitte um das tägliche Brot und die nicht minder nötige Vergebung, »sowie darum, daß wir nicht über unser Maß hinaus versucht werden.«31 In dieser schlichten Art des Hintretens vor Gott resümiert sich, was Jesus über das Gebet zu sagen weiß; in diese Art des Betens einzustimmen, lädt er seine Jünger ein. Und wer dieser Einladung folgt – so die Verheißung –, dessen Gebet darf auf Erhörung hoffen. Was ist der Grund für diese Hoffnung? Nun, im betenden Vollzug des Vaterunsers stellt sich der Mensch in einen Raum der benedictio, der Gutheißung. Das heißt, er »versucht, wahr von Gott und von sich selbst zu reden«; er weiß um seine bedürftige Kontingenz; nicht zuletzt weiß er darum, wie sehr er hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, wie sehr er sich immer wieder an sich selbst und seinen Mitmenschen vergeht. Und so richtet die durch das Vaterunser eröffnete Gutheißung den Blick auf zwei elementare Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit: auf das Verzeihen, d.h. auf die »Erlösung der scheinbar zementierten Vergangenheit«, sowie auf die Verheißung, d.h. auf eine »Verläßlichkeit in-

30

31

Alle Zitate ebd. 88f. – Davon zeigt sich selbst ein so galliger Religionskritiker wie Paul Valéry beeindruckt: »Jesus – diese Einzelfigur, diese Persönlichkeit – stiftet das Vaterunser – einen absolut vollkommenen, einzigartigen Text.« Das Vaterunser gilt Valéry, dessen Bestreben (darin Wittgenstein und dem Wiener Kreis ähnlich) dahin ging, sich einer so präzisen Sprache als möglich zu bedienen, als »klare Zusammenfassung dessen, was der Mensch ist«. »In seiner schlichten, äußerst dichten Form« ist es ist ihm ein »maßvolle[s], klassische[s], fast rigoros exakte[s] ›Gebet‹«, ein »fast rationale[s] Programm der Bedürfnisse, Wünsche und Mängel – bei dem kein Satz ein Wort zuviel enthält – alles so sparsam formuliert, daß es aus einer ganz bewußten Überlegung und Kondensierung hervorgegangen sein muß, mit genügend Zeit zum Auslichten, Neuordnen und zur endgültigen Verdichtung«, eine »Leistung der Bewußtheit« sondergleichen. (Paul VALÉRY: Cahiers/Hefte 2, Frankfurt a.M.: S. Fischer [1988] 485f.) Alle Zitate ebd. 89.

208

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

mitten der sonst so dunklen Zukunft«.32 Wer sich in diesen durch das Vaterunser eröffneten Raum der benedictio hineinbegibt, dessen Leben wird nicht scheitern – so die Verheißung jesuanischer Gebetspraxis. Im Unterschied zu den drei aufgezählten Dimensionen menschlichen Betens scheint sich das Vaterunser nun allerdings dadurch auszuzeichnen, daß es ausschließlich die dritte Dimension, nämlich die des Dialogischen favorisiert. Dieser Eindruck täuscht. Das Vaterunser stellt ja eine Art Zusammenfassung jesuanischen Betens dar; es hat seinen Ursprung in jener schweigend-diskreten (vgl. Joh 8,6f.; 19,9), einsam-konzentrierten Lebenshaltung, die bei aller Bereitschaft, sich vom Bedürfen der Leute stören zu lassen, immer wieder das stille Verweilen vor Gott sucht. Schon die Anonymität der ersten dreißig Lebensjahre in Nazareth deutet auf eine Inkubationszeit hin, die nötig war, um dem heranwachsenden Jesus den tiefsten Grund seiner Existenz, den »Logos« zu Bewußtsein kommen zu lassen.33 Um wieviel mehr schöpft sich der erwachsene Jesus, der trotz aller Vorzeichnung seines Weges diesen immer erst noch finden und beschreiten muß, aus dem monologischen Gebet, aus dem schweigenden Verharren vor jenem Gott Israels, den er seinen »Vater« nennt. Und wie sehr bleibt er gerade als »der Sohn« angewiesen auf jenes Wort der Vergewisserung (Mk 1,11 parr), der Tröstung (Lk 22,43), der Erhörung (Joh 11,41b.42), das er sich selber eben nicht sagen kann, sondern sich vom Anderen, Größeren seiner selbst – eben dem »Vater« – sagen lassen muß. Ist Jesus nicht auch und gerade hierin noch einmal Vorbild, ja Urbild für jene, die ihm nachfolgen? Muß jedes christliche Beten nicht zunächst an ihm Maß und Orientierung nehmen? 32 33

Alle Zitate ebd. 89. Vgl. Elmar SALMANN: Die Saat der Stille. Vom Schweigen als Lebensgrund, in: Ders.: Zwischenzeit. Postmoderne Gedanken zum Christsein heute, Warendorf: Schnell (2002) 193–198, hier 193: »Aus den ersten 30 Jahren des Lebens Jesu ist uns nur ein Wort (aus seiner Pubertätszeit) überliefert: ›Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist (Lk 2,49)?‹ Dreißig Jahre – und nur ein Wort des inkarnierten Wortes. Mehr war im Grunde nicht zu offenbaren. Und tatsächlich: Das Leben Jesu […] ist von einem Schweigen durchzittert. Das ewige Wort ist kein Schwätzer. Es drückt sein Wesen aus.« – Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an Mörikes Gedicht »Göttliche Reminiszenz [πάντα δι ̉ αὐτοῦ ἐγένετο ‹Ev. Joh. 1,3›]«, in: Sämtliche Werke in zwei Bänden, München (1967) Bd. I, 808. Dazu Eleonore FREY: Poetik des Übergangs. Zu Mörikes Gedicht »Göttliche Reminiszenz« (Reihe: Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 17), Tübingen: Niemeyer (1977); Romano GUARDINI: Gegenwart und Geheimnis. Eine Auslegung von fünf Gedichten Eduard Mörikes, in: Romano Guardini. Werke, hg. von Franz Henrich, Mainz: Grünewald/Paderborn: Schöningh (1992) [ohne Bandangabe] 151–244, hier 188–199.

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

209

4.2. Christliches Beten als Gebet »per Dominum nostrum Jesum Christum« Man wird diese Frage mit einem unbedingten »Ja« beantworten. Und doch kann eine christliche Theologie des Gebets hierbei nicht stehen bleiben. So sehr sich der einzelne Christ den Gestus jesuanischer Gebetspraxis zu eigen machen wird, so sehr wird er darüber hinaus einstimmen müssen in die allein Jesus vorbehaltene, weil allererst durch ihn eröffnete Hinwendung zum Vater (vgl. Joh 15,7). Denn daß wir zum letzten Einheitsgrund aller Wirklichkeit »Du« sagen können, daß jener letzte absolute Urgrund uns offenbar geworden ist als ein Geheimnis liebender Andersheit, das als unzugänglichentzogenes zugleich ein uns gnädig-umfangendes, ein uns liebendaufgeschlossenes ist – das ist uns in seiner ganzen Fülle erst durch Jesus aufgegangen (vgl. Joh 1,16f.)34, mag dieses Wissen in wichtigen Partien des Alten Testamentes auch vorbereitet gewesen sein (vgl. etwa Hos 11,1–11; Jes 11; 40; 42,1–9; Ps 139). So sollen wir nicht nur mit ihm, sondern können recht eigentlich erst durch ihn sprechen: »Vater unser im Himmel«. Christliches Beten ist eben nicht nur ein jesuanisches Beten; es hat immer auch eine christologische Dimension – ganz im Sinne jenes Wortes aus dem Hebräerbrief, demzufolge Jesus als unser »Anführer im Glauben« (12,2) uns vorausgegangen ist in »das Innere des Heiligtums« (6,19f.). Jenes »Innere des Heiligtums« steht nun aber – metonymisch gesprochen – für das innerste 34

So Karl Rahner in einem Gespräch, das er im März 1984, wenige Wochen vor seinem Tod, der Budapester Zeitschrift Vigilia gewährte: »Lassen Sie mich zunächst eines festhalten: Daß es einen letzten Einheitsgrund der Wirklichkeit gibt, das ist für mich eine absolute Selbstverständlichkeit. Jetzt allerdings fängt für mich das Problem erst an. Wie kann ich zu diesem letzten Urgrund, obwohl ich nur ein kleines Stückchen der Welt bin, eine ernsthafte, eine sogenannte ›religiöse‹ Beziehung haben, eine Beziehung der Liebe, des Vertrauens und der Anbetung? Mit anderen Worten: Daß mein Verhältnis zu diesem absoluten und letzten, natürlich auch personalen Urgrund der Welt im eigentlichen Sinn religiös sein kann, das ist für mich der eigentliche Punkt. Oder noch einmal anders formuliert: Das für mich eigentlich Unbegreifliche liegt weniger darin, daß es hinter mir, unter mir, über mir und alle Dimensionen der Wirklichkeit durchdringend so etwas gibt wie eine ungeheure und ursprüngliche Wirklichkeit, sondern eher darin, daß ich zu ihr sagen kann: ›Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name.‹ Und daß dies möglich ist, so möchte ich gleich hinzufügen, kann ich nur glauben, wenn ich darauf vertraue, daß Gott selber diese Initiative ergriffen hat als jenes Absolutum, das es fertig bringt, so klein zu werden, daß es sogar Mensch geworden ist. Warum aber traue ich Gott ein solches Wunder zu? Weil ich darauf baue, daß er größer ist, aber kleiner werden kann als alle meine metaphysischen Begriffe von ihm, und weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß eine solche Anmaßung der kleinen Kreatur gegenüber dem Absoluten ›glückt‹: Ich bete nämlich und habe den Eindruck, wenn Sie so wollen, daß es ankommt.« (Glaube in winterlicher Zeit. Gespräche mit Karl Rahner aus den letzten Lebensjahren, hg. von Paul Imhof und Hubert Biallowons, Düsseldorf: Patmos [1986] 162.)

210

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

Herz Gottes35, für jene dreifaltig-eine Liebesglut, an der teilzuhaben das letzte, eigentliche Ziel christlichen Betens ist. 4.3. Christliches Beten als Leben im Raum des trinitarischen Gottes Damit sind wir nun auch bei der tiefsten, nämlich trinitarischen Dimension christlichen Betens angelangt: Der, um den wir bitten, ist zugleich der, durch welchen und in welchem wir bitten – im Raum des trinitarischen Gebetes, so könnte man scholastisch formulieren, fallen die causa finalis und die causa formalis (bzw. efficiens) ineins. Hierzu gibt es so viel zu sagen, daß ich mich auf das Allernötigste beschränken muß. Offensichtlich ist, daß die genannten drei Aspekte des Gebets (Monolog, Proslog, Dialog) uns helfen können, die trinitarischen Zusammenhänge christlichen Betens auszubuchstabieren: (1.) Gebet als Monolog der Seele mit sich selbst verweist den Menschen von sich fort auf jenen trans-immanenten pneumatischen Grund, der auch den einsamsten Monolog noch gründet und unterfängt. Mit anderen Worten: Selbst in den einsamsten Schichten meiner Seele bin ich nicht einfach identisch mit mir, sondern entdecke mich als eingewurzelt in eine Tiefe, die »als mein Grund« zwar »das mir Eigenste, Innerlichste meiner Innerlichkeit« ist; hingegen »als mein eigener G rund […] mir selber nicht wieder zu eigen [ist].«36 Ich stoße hier auf eine Transzendenz inmitten meiner Immanenz, die mich einer größeren Wirklichkeit zugehörig sein läßt. Mit Paulus können wir diese Wirklichkeit den »Geist« nennen, das heilige Pneuma, das nicht nur die »Tiefe« der Welt (Eph 3,18), son35

36

»Der Ruheort [Hebr 3,18; 4,1–11]«, an welchen die durch das Opfer Christi Geheiligten gelangen sollen, und der mit Hebr 6,19f. im »Innersten des Heiligtums« verortet wird, »ist im Hebr[äerbrief] personal verstanden: er bedeutet die vollendete Gemeinschaft mit dem Gott, der mit den Seinen feiern wird.« (Mathias RISSI: Die Theologie des Hebräerbriefs (WUNT 41), Tübingen: Mohr-Siebeck [1987] 128.) Dagegen betont Franz LAUB unter Bezugnahme auf Hebr 11,8–10.14–16; 12,22; 13,14 und die ihnen entsprechenden frühjüdisch-rabbinischen Makom-Vorstellungen, daß jener himmlische »Ruheort« (κατάπαυσις) zunächst von Gen 2,2 und Ps 94,11 zu verstehen sei, obgleich auch er ihn wenig später dann als »Ort der Gottesgemeinschaft und damit der vollen Heilswirklichkeit« bezeichnet. (Bekenntnis und Auslegung. Die paränetische Funktion der Christologie im Hebräerbrief (BU 15), Regensburg: Pustet [1980] 250.) Christlich gesehen ist die »volle Heilswirklichkeit« – zumal als »Gottesgemeinschaft« verstanden – aber nicht anders zu fassen denn als ein personales Hineingenommensein der Christen in die Liebesbeziehung des Sohnes zum Vater im Heiligen Geist. Dies ist die ihnen zugesagte Form jenes »Landes der Ruhe«: wechselseitige, weil liebend-erkennende Schau »von Angesicht zu Angesicht« (vgl. 1Kor 13,12). Michael THEUNISSEN: Der Andere. Studien zur Sozialanthropologie der Gegenwart, Berlin: de Gruyter (1965) 326 – zitiert nach Elmar Salmann (s.o. Anm. 20).

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

211

dern selbst noch die die Tiefe der Welt umfangende Tiefe der Gottheit durchforscht (1Kor 2,10). (2.) Wie aber kann man dieser die Weltwirklichkeit transzendental umfangenden Wirklichkeit des Geistes innewerden? Nun, ich werde ihr inne, wo sich meine Seele im Fortgang des Betens gleichsam als Resonanzkörper jenes Wortes erfährt, das sie sich selber nicht sagen kann und in welchem ich mich als mir zugedacht, als mir zugemutet, aber auch als mir zugetraut entdecke. Ein solches mich in der Tiefe meiner Seele ansprechendes Proslogion ist Abglanz jenes Wortes, »in welchem« und »durch welches« »alles erschaffen ist« (Kol 1,15f.; Joh 1,1–3); es ist Abglanz des ewigen Logos, der uns in Jesus aufgeschienen ist. Als solches kann es ein Wort des Trostes und der Ermutigung sein, aber auch eines, das mir kritisch von mir selber zu denken gibt, das mich in die Schranken weist, mir womöglich zum Gericht wird und mich gerade darin auf paradoxe Weise (auf)richtet und heilt. (3.) Damit sind wir unversehens nun aber auch der dritten Dimension trinitarischen Betens nahegekommen: Je mehr nämlich der Beter im Vollzug des Betens sich auf seine innere Differenziertheit einläßt, je mehr er sich im Verlauf des Betens als ein komplexes Spannungsgefüge von Urverbundenheit und Einsamkeit, unendlichem Horizont und endlicher Perspektive erfährt, als spannungsvolle Einheit von autonomer Selbstverantwortung und unvordenklicher Passivität, »desto mehr wird er sich als sich verdankendes und darin sich als ein sich schuldendes Wesen, als Du eines Du, erkennen.«37 Hier rühren wir deutlich an jenen Punkt, da die monologische Selbsterforschung im Gebet und die proslogische Selbstentdeckung im Gebet in der elliptischen Figur des Dia-Logischen zusammentreffen, in welcher der Beter lernt, im Heiligen Geist, vermittelt durch das göttliche Wort zum tiefsten Geheimnis seines Lebens zu sagen: »Vater unser im Himmel …« – Wer in diesem Sinne, d.h. im Geist Jesu »Vater unser« sagt, dessen Gebet wird unweigerlich erhört, denn sein Beten ist ja nichts anderes als eine Re-sonanz des ganz aus dem Vater sich schöpfenden Logos. Wie aber könnte eine solche Erhörung nun aussehen? 5. WAS DAS BETEN DEM THEOLOGEN ZU DENKEN GIBT: GEISTLICH – POLITISCH-ETHISCH – THEOLOGISCH Mit dieser Frage kehren wir von den Höhen trinitätstheologischer Spekulation zurück auf den Boden der Lebenswirklichkeit dessen, der betet. Erinnern wir uns noch einmal unserer kleinen Eingangs37

Elmar SALMANN: Neuzeit und Offenbarung (s.o. Anm. 18) 221.

212

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

geschichte: Da bittet ein frommer Jude ein Leben lang um Frieden und Versöhnung zwischen Israelis und Arabern und hat den Eindruck, daß von seinem Gebet so gar nichts ankommen will bei Gott. Müßte man hierauf nicht zunächst antworten, eben dies sei eine nicht unwesentliche Erfahrung menschlichen Betens? Unsere Gebete würden in der Regel eben nicht erhört, jedenfalls nicht so, wie wir es uns erhofften? Und deswegen erscheine uns der göttliche Adressat unserer Gebete bisweilen als jener sprichwörtlichen Wand vergleichbar, an welcher jegliches Beten und Klagen abpralle? – Will man angesichts einer solchen enttäuschenden Antwort die Praxis des Betens nicht gleich ganz aufgeben, so bestünde eine mögliche Reaktion darin, die undurchdringliche Wand der Klagemauer für jenen Vorhang zu nehmen, der einstmals im Tempel das Allerheiligste den Blicken der Sterblichen entzog. (Ex 26,31ff.; 36,35–38; Lev 16,2. Vgl. Mt 27,51; Hebr 6,19)38 Ähnlich wie damals die Tempel-Leviten vor einem Vorhang, stehen heute vor der Klagemauer fromme Juden und bringen Gott ihre Gebete dar. Es ist ja so: Im Gebet verneigen wir uns immer auch vor etwas Undurchdringlichem, vor dem Geheimnis unseres Lebens, ohne im einzelnen zu wissen, was dieses Geheimnis im letzten (d.h. in seinem innersten Wesen) sei. Allerdings haftet dieser Haltung, so wenig ihre menschliche Größe bezweifelt werden soll, zuletzt etwas Zweideutiges an; denn der Gott, vor dem man sich da neigt, ist von einem blinden Fatum nicht immer zu unterscheiden (die Abrahamsgeschichte lehrte uns dies ja in eindringlicher Weise39). Deshalb ist es nötig, jenes Gebet vor der Klagemauer (ähnlich wie auch die christlichen Gebete vor der Ikonostase oder dem Lettner) in seine größeren biblischen Kontexte einzuordnen. Dann freilich stellen wir fest: Das enttäuschte Gebet um »die Beendigung allen 38

39

Zur weiterreichenden frühjüdisch-rabbinischen Pargod-Spekulation, der zufolge der himmlische Thron Gottes von einem Dunkelgewölk umhüllt ist, weshalb Gott in seiner Herrlichkeit, d.h. als er selbst, von niemandem zu schauen ist, weder von den im Himmel versammelten Frommen noch selbst von den Engeln, vgl. Otfried HOFIUS: Der Vorhang vor dem Thron Gottes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu Hebräer 6,19f. und 10,19f. (WUNT 14), Tübingen: Mohr-Siebeck (1972) 4–16. Der Abrahamserzählung kommt hier in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht nachgerade paradigmatische Bedeutung zu: »Es ist in Gottes Rat gestellt, daß man vom Liebsten, das man hat, muß scheiden« – dieser Satz, den man in manchen Todesanzeigen lesen kann, bringt in poetisch verdichteter Weise auf den Punkt, was uns die Geschichte vom Isaaksopfer lehrt: Nach unseren Wünschen werden wir nicht gefragt! Wohl aber liegt in unserer Hand, wie wir mit dem, was uns schmerzlich abverlangt wird, umgehen. Sich dem unbegreiflichen Gott anzuvertrauen, hoffend, daß unser Leben zuguterletzt nicht in die Leere fällt, wäre eine elementare Form religiöser (und das heißt immer auch betender) Lebensbewältigung im Angesicht der unnahbaren, weil so unerbittlichen Nähe des unverfügbaren Gottes.

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

213

Unrechts« ist nicht nur Frage an Gott und in diesem Sinne Frage nach einer möglichen Theodizee40; es ist mindestens ebenso eine Frage an den Menschen, der nicht tut, was als gut ihm geheißen ist und was deswegen seitens Gottes zu Recht von ihm erwartet wird: »Nichts anderes [nämlich] als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott« (Mich 6,8).41 Bestünde das Wunder der Erhörung dann aber nicht vor allem darin, sich im Vollzug des Gebetes als zu einem solchen Gut- und Rechttun befreit zu entdecken – allen Kräften des Hasses und der Angst zum Trotz, die nicht zuletzt immer auch im Beter selbst auf unselige Weise am Werk sind? Die Frage so zu stellen, heißt, die Richtung ihrer Beantwortung anzudeuten. Der Zustand dieser Welt (um nichts anderes geht es ja in jenem Gebet vor der Klagemauer) liegt gleichermaßen in den Händen Gottes wie in denen des Menschen – davon sind die biblischen Texte, insbesondere die der Propheten überzeugt. Verhält sich dies nun aber so, dann hätte man unter dem Wunder der Erhörung jenen staunenswürdigen Vorgang zu verstehen, da die im Gebet wachgerufenen Kräfte des Menschen (die ja mehr sind als seine eigenen Kräfte) und die im Gebet angerufenen Kräfte Gottes (die als dem Menschen unverfügbarer, weil trans-immanenter Grund zwar das ganz andere seiner selbst sind, aber gerade als solche in ihm wirkmächtig werden wollen) konkreativ in einen wechselseitigen Steigerungsprozeß geraten.42 Beide Formen von Kräften, die Gottes und die des Menschen, erhöben sich im Gebet kon-nasziv aneinan-

40

41

42

Vgl. dazu neuerdings das aufregende Buch von Navid KERMANI: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München: Beck (2005). – Festzuhalten bleibt in jedem Fall: Wenn christlicher Glaube davon überzeugt ist, daß Gott die alles umfangende Liebe ist (vgl. 1Joh 4,16), dann kann Gott nicht anders gedacht werden denn als das freie – und als solches immer auch schöpferisch-machtvolle – Gegenüber seiner Geschöpfe, das die Freiheit des Menschen auch dort noch respektiert, wo diese sich in Schuld verstrickt. (Vgl. dazu Thomas PRÖPPER: Art. »Allmacht Gottes«, in: Ders.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br.: Herder [2001] 288–293, hier 292.) Zum Zusammenhang dieses Satzes mit Röm 2,14–16 sowie dem Kategorischen Imperativ als Hinweis auf das allgemeine (und deswegen auf einen Schöpfergott verweisende, da von Ihm allen Menschen ins Herz gelegte) Sittengesetz vgl. unter den vielen einschlägigen Stellen bei Immanuel KANT bspw. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], BA 15f., in: Werke (Ed. Weischedel), aaO. Bd. VI, 27. Der hier verwendete Begriff der »Kon-kreativität« ist ein Schlüsselbegriff der Strukturontologie von Heinrich ROMBACH: Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg i.Br./München: Alber (1971/21988) 89–93, 94f., 239–245, 249f. Der Begriff wird in einer für unsere Zusammenhänge phänomenologisch interessanten Weise ausbuchstabiert in DERS.: Strukturanthropologie. ›Der menschliche Mensch‹, Freiburg i.Br./München: Alber (1987) 127–131, 392–397, 431.

214

V. »Als ob ich gegen eine Wand redete …«

der43 und eben dadurch entstünde eine Atmosphäre des friedstiftenden Geistes44, in welcher sich selbst in scheinbar ausweglosen zwischenmenschlichen oder politischen Situationen neue Auswege eröffnen.45 Solche strukturontologische Überlegungen, die das nur schwer auszudenkende, weil konkreative Zusammenspiel von göttlichem Handeln und menschlichem Handeln46, Freiheit und Gnade47, Natur und Wunder48 in den Blick nehmen, werden in der Theologie 43

44

45

46

47

48

Vgl. Heinrich ROMBACH: Die Gegenwart der Philosophie, 3. grundlegend neu bearbeitete Aufl., Freiburg i.Br./München: Alber (1988) 163f.; DERS.: Welt und Gegenwelt. Umdenken über die Wirklichkeit: Die philosophische Hermetik, Basel: Verlag Herder (1983) 124–129, 176f.; DERS.: Der kommende Gott. Hermetik – eine neue Weltsicht, Freiburg i.Br.: Rombach (1991) 63–66. Vgl. Heinrich ROMBACH: Strukturanthropologie. ›Der menschliche Mensch‹, aaO. 382f.; DERS.: Der kommende Gott. Hermetik – eine neue Weltsicht, aaO. 31; DERS.: Die Welt als lebendige Struktur. Probleme und Lösungen der Strukturontologie, Freiburg i.Br.: Rombach (2003) 11f. Vgl. Heinrich ROMBACH: Strukturanthropologie. ›Der menschliche Mensch‹, aaO. 402f.; DERS.: Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer Phänomenologischen Soziologie, Freiburg i.Br./München: Alber (1994) 153–169. – Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die im Spätsommer und Herbst 1989 über Wochen und Monate lautgewordenen Gebete der sog. »Montagsgottesdienste« in Leipzig, Berlin und vielen anderen Städten der damaligen DDR, die in den sich jeweils daran anschließenden Demonstrationen ihren unüberhörbaren und in aller Empörung doch durch und durch friedlichen Schrei entfalteten. Vgl. dazu die Dokumentation von Günter HANISCH/Gottfried HÄNISCH/Friedrich MAGIRIUS/Johannes RICHTER: Dona nobis pacem. Fürbitten und Friedengebete Herbst ‘89 in Leipzig, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt (1990). Dazu auch die eindrückliche Fotodokumentation von Wolfgang SCHNEIDER: Leipziger DeMo(n)tagebuch, Leipzig u.a.: Kiepenheuer (31991). Eine theologische Kontextualisierung von Friedensgebet und politischer Aktion bietet Hermann GEYER: Nikolaikirche, montags um fünf. Die politischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig, Diss. theol. habil. Univ. Leipzig [2006], Darmstadt: WBG (2007) – dort auch die eindrucksvollen Passagen zu den Friedengebeten in der Leipziger Nikolaikirche als einem »Ort von Wandlung, Neu-Werden, Neu-Sehen und Wiederaneignen der Wirklichkeit«, gerade auch und insbesondere derer, deren Aufgabe es war, die Friedensgebete massiv zu stören: Vertreter der SED und der Staatssicherheit (ebd. 245–250, Zitat 250). Vgl. Edward SCHILLEBEECKX: Jesus – die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg i.Br.: Herder (1975) 555–564; Wilfried HÄRLE: Gottes Wirken, in: Ders.: Dogmatik, Berlin/New York: de Gruyter (1995) 282–302; Reiner PREUL: Problemskizze zur Rede vom Handeln Gottes, in: Ders./Wilfried Härle (Hg.): Vom Handeln Gottes (MJTh I), Marburg: Elwert (1987) 3–11. Vgl. Gisbert GRESHAKE: Grundlagen einer Theologie des Bittgebets, in: Ders./Gerhard Lohfink (Hg.): Bittgebet – Testfall des Glaubens, aaO. 32–53; Elmar SALMANN: Vom unfaßbaren Charme alles Natürlichen: Was ist Gnade?, in: Stephan Pauly (Hg.): Glaubensfragen unserer Zeit, Stuttgart u.a.: Kohlhammer (1997) 51–63. Vgl. Hans SCHALLER: Das Bittgebet und der Lauf der Welt, in: Gisbert Greshake/Gerhard Lohfink (Hg.): Bittgebet – Testfall des Glaubens, aaO. 54–70; Thomas PRÖPPER: Thesen zum Wunderverständnis, in: ebd. 71–91, wiederveröffentlicht in: DERS.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, aaO. 225–244; Béla WEISSMAHR: Gottes Wirken in der Welt. Ein Diskussionsbeitrag

Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets

215

zwar nur selten angestellt49 – aber wo man sich ihnen überläßt, da gerät man über kurz oder lang auch vor die Frage nach der weltverwandelnden Kraft des Gebets, diesem letzten bzw. ersten Ursprung aller theologischen Reflexion.50 Denn das gelingende Gebet, in welchem der Mensch sein ganzes Wollen und Können Gott zur Verfügung stellt, ist ein Geschehen, in welchem umgekehrt Gott sein ganzes Wollen und Können dem Menschen zur Verfügung stellt (vgl. Sach 1,3; Mal 3,7). Daß aus diesem wechselseitigen Sich-einander-zurVerfügung-Stellen, in welchem Gott Gott sein darf und der Mensch Mensch, weil der Mensch ganz auf Gott vertraut und Gott ganz auf den Menschen51, die Umrisse einer Welt sichtbar würden, in welcher Haß, Ungerechtigkeit und Gewalt an ein Ende kommen – eben dies nun wäre trotz aller Vergeblichkeitserfahrung des Gebets bzw. – genauer noch – quer durch sie hindurch52 tatsächlich Einbruch jenes Wunders, das zu Recht den Namen trüge: Erhörung.

49

50

51

52

zur Frage der Evolution und des Wunders (FthS 15), Frankfurt a.M.: Knecht (1973) – zu Weissmahrs vielbeachtetem Entwurf kritisch Raphael SCHULTE: Wie ist Gottes Wirken in Welt und Geschichte theologisch zu verstehen?, in: Theodor Schneider/Lothar Ullrich (Hg.): Vorsehung und Handeln Gottes (QD 115), aaO. 116–167. In der in den Fußnoten 46–48 aufgeführten Literatur wird denn auch in der Regel transzendentaltheologisch bzw. geschichtlich-hermeneutisch argumentiert und nicht vor allem strukturontologisch. Hingegen bei Jürgen WERBICK scheint mir eine solche strukturontologische Lesart immerhin angedeutet zu sein: In Gottes Ohr? Notizen zu Bittgebet, Theodizee und zum Dialogcharakter des Betens, in: Magnus Striet (Hg.): Hilft Beten? Schwierigkeiten mit dem Bittgebet, Freiburg i.Br.: Herder (2010) 31– 57, hier 48ff. Zum Ursprung der Theologie in der Namensanrufung (des) Gottes vgl. Günter BADER: Gott nennen. Von Götternamen zu göttlichen Namen, in: ZThK 86 (1989) 306– 354; DERS.: Die Emergenz des Namens (HUTh 51), Tübingen: Mohr-Siebeck (2006). – Ferner Gerhard EBELING: Das Gebet als Schlüssel der Gotteslehre, in: Ders.: Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. I, Tübingen: Siebeck-Mohr (31987) 193–210; Gerhard SAUTER: Gebet als Wurzel des Redens von Gott, in: GlLrn 1 (1986) 21–38; Richard SCHAEFFLER: Das Gebet und das Argument. Zwei Weisen des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf: Patmos (1989), vgl. Register s.v. »Akklamation«. Vgl. Gotthard FUCHS: Der bittende Gott – der betende Mensch. Eine vergessene Dimension christlicher Spiritualität, in: Joachim Hake/Elmar Salmann (Hg.): Die Vernunft ins Gebet nehmen. Philosophisch-theologische Betrachtungen, aaO. 61–74; Thomas PRÖPPER: Gott hat auf uns gehofft … Theologische Folgen des Freiheitsparadigmas, in: Ders.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, aaO. 300–321. Vgl. Günter BADER: Das Gebet Jonas, aaO. 169.

HERMENEUTIK DER OFFENBARUNG

DER LESER Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, das nur das schnelle Wenden voller Seiten manchmal gewaltsam unterbricht? Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß, ob er es ist, der da mit seinem Schatten Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten, was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis er mühsam aufsah: alles auf sich hebend, was unten in dem Buche sich verhielt, mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend anstießen an die fertig-volle Welt: wie stille Kinder, die allein gespielt, auf einmal das Vorhandene erfahren; doch seine Züge, die geordnet waren, blieben für immer umgestellt. (Rainer Maria Rilke1)

1

In: Werke I (Gedichte. Erster Teil), hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a.M.: Insel (1987) 636f.

Einmal stand der Weidenbusch Der gewöhnliche bei den Hühnerhäusern Auch für mich in Flammen […] (Marie Luise Kaschnitz1)

Wieso ich noch lebe? Unsicherer Gott Dich dir zu beweisen. (Yvan Goll2)

Das Letzte ist unerkennbar und bleibt es […] Die voranschreitende Erkenntnis ändert nichts daran. Sie nimmt von der Unerkennbarkeit nur die Bilder weg und macht sie nackt. (Romano Guardini3)

Wenn wir auch Geschäfte haben Die weit fort führen Von Seinem Licht […] Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr. (Nelly Sachs4)

1

2

3

4

Aus: Das Andere. Gesammelte Werke (hg. von Christian Büttrich/Norbert Miller), Frankfurt a.M.: Insel (1985) Bd. 5: Gedichte, 476. Aus: Hiob, in: 100 Gedichte (Auswahl und Nachwort von Barbara Glauert-Hesse), Göttingen: Wallstein-Verlag (2003) 123. Aus: Wahrheit des Denkens und Wahrheit des Tuns. Notizen und Texte 1942–1962. Aus nachgelassenen Aufzeichnungen (hg. von Felix Messerschmid), Paderborn u.a.: Schöningh (41985) 11. Aus: Lange haben wir das Lauschen verlernt! In: Fahrt ins Staublose. Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1988) 18.

Nicht ungedacht lassen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann. (Friedrich Nietzsche1)

Le débat religieux n’est plus entre religions, mais entre ceux qui croient que croire a une valeur quelconque, et les autres. (Paul Valéry2)

Vielleicht ist es im kirchlichen Milieu nicht überflüssig, darum zu bitten, es möge das Lineal der Rechtgläubigkeit nicht allzu schnell aus dem Futteral geholt werden, nicht früher jedenfalls, als bis sich herausgestellt hat, daß man ein befugter Richter ist, halbwegs besitzt, was zum Urteilen nötig ist; dafür ist immer zuwenig, auch für den Theologen, was man im Augenblick hat. Die kirchliche Gemeinschaft hat unsäglich darunter gelitten, daß immer wieder endgültige Urteile aus dem Ärmel geschüttelt wurden, daß es Personen aller Grade und Zuständigkeit erlaubt war, die zufälligen Grenzen ihres Glaubenswissens mit den Grenzen der Wahrheit und der Orthodoxie gleichzusetzen. Rechthaberei ist bisher nie eine Form gewesen, in der das Evangelium in menschenwürdiger Weise unter die Leute gekommen ist, wohl aber die gelassene – nicht gleichgültige – Bereitschaft, sich allen Gedanken und allen Argumenten auszusetzen und sich im friedlichen Streitgespräch mitzuteilen. Man kann sich erst dann mit dieser Gemeinschaft voll identifizieren, wenn man furchtlos bereit ist, um der Wahrheit willen jede Form der Distanzierung von ihr auf sich zu nehmen. (Gottfried Bachl3)

1

2

3

Zitiert nach Robert SPAEMANN: Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen, Stuttgart: Klett-Cotta (2012) 177. Ebenfalls ohne Stellenangabe mit einer leichten Veränderung zitiert bei DEMS.: Der Streit der Philosophen, in: Ders.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, Stuttgart: Klett-Cotta (2010) 36–55, hier 52. Tel quel II, Paris: Gallimard (1971) 71 – zitiert nach Jean GREISCH: L’age herméneutique de la raison, Paris: Les Éditions du Cerf (1985) 24. Aus: Über den Tod und das Leben danach, Graz-Wien-Köln: Styria (1980) 199.

VI. »IN EEN HOECKSKEN MET EEN BOECKSKEN« Theologie als Lesekunst Günter Bader zum 65. Geburtstag

Auf allegorischen Darstellungen frommen Lebens findet sich bis in unsere Tage immer wieder das Motiv des Menschen, der lesend die Welt begreift. So etwa auf dem berühmten Gemälde von Jan Vermeer: eine junge Frau vor geöffnetem Fenster, einen Brief in den Händen, dem sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt.1 Oder auf einem in den letzten Jahren nicht minder bekannt gewordenen Bild von Gustav Adolph Hennig: ein junges Mädchen sitzend vor einer Fensterlucht, versunken in einem vor der Brust geöffneten Buch.2 Oder in den einschlägigen Werken sowohl des Früh- und Spätimpressionismus3 als auch der realistischen Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts – man denke nur an Wilhelm Leibls Darstellung der drei Frauen in der Kirche4, wiederaufgenommen von Ernst Barlach in seiner expressionistischen Holzplastik »Lesender Klosterbruder«.5 Selbst Spitzwegs verschrobener Bibliothekar6, der, auf einer Leiter stehend und Bücher unter den Arm und zwischen die Beine geklemmt, seine bebrillte Nase in ein Buch steckt – selbst diese pittoreske und sich selber leise ironisierende Szene zeugt noch von einer tief ins europäische Bildgedächtnis eingesenkten Tradition, der zufolge lesen zu können bedeutet, in Welten zu leben, die  1

2

3

4 5

6

Merkspruch des Thomas von Kempen (1380–1471). S.u. Anm. 100. Die Briefleserin (Dresden, Staatliche Kunstsammlungen), um 1662–63, Öl auf Leinwand, 83 x 65 cm. Lesendes Mädchen (Leipzig, Museum der Bildenden Künste), 1828, Öl auf Leinwand, 42,5 x 36,5 cm. Erinnert sei an die gleichbetitelten Bilder von Renoir, Corinth, Fragonard und Corot, Fritz von Uhde, Franz Leybl und Pietro Magni. Die drei Frauen in der Kirche (Hamburg, Kunsthalle), 1881, Öl auf Holz, 113 x 77 cm. Lesender Klosterschüler (Güstrow, Gertrudenkapelle), 1930, Holz, 115 cm. – Vgl. dazu die hinreißende Beschreibung jener Figur bei Alfred ANDERSCH: Sansibar oder der letzte Grund, Zürich: Diogenes Tb 20055 (1970) 42ff. Der Bücherwurm (Schweinfurt, Museum Georg Schäfer), 1850, Öl auf Leinwand, 49,5 x 26,8 cm.

224

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

anders und größer sind als die beschränkte Enge meiner jeweiligen Umgebung hier und jetzt.7 Damit ist auch schon das Stichwort für die folgenden Ausführungen gefallen: Lesen können – Welt, Natur, Geschichte, schließlich das eigene Leben lesen können: Ließe sich hierunter nicht fassen, was ein elementarer Grundzug theologischer Frömmigkeit wäre: eine Haltung der Andacht und Aufmerksamkeit, der konzentrierten Rezeptivität, in der sich Welt, Natur, Geschichte und schließlich das eigene Leben als ein sinnvoller, d.h. durch und durch lesbarer Text zu erkennen geben?8 In drei Durchläufen soll dieser Vermutung nachgegangen werden, und zwar unter einer »mythologischen«, einer »phänomenologischen« und einer »metaphorologischen« Perspektive. Was mit diesen drei Epitheta gemeint ist, muß sich im Laufe der Erprobung von 7

8

Vgl. zum Ganzen in kulturgeschichtlicher Perspektive Alberto MANGUEL: Eine Geschichte des Lesens, Reinbek bei Hamburg: rororo (2000); Hans-Joachim GRIEP: Geschichte des Lesens. Von den Anfängen bis Gutenberg, Darmstadt: WBG (2005). Es liegt auf der Hand, daß mit dieser Frage sowohl der Begriff des »Lesens« als auch der Begriff des »Textes« eine außerordentliche Weitung erfähren: »Lesen« bedeutet für einen neuzeitlichen Menschen in der Regel, ein Buch oder sonst einen Text lesen. Dagegen las der römische Haruspex in den Eingeweiden des geopferten Tieres; der Schamane liest den Vogelflug; der Nomade liest die Spuren des vorübergezogenen Wildes, und die babylonischen Astronomen lasen den Sternenhimmel. Es gibt anscheinend nichts, was sich nicht »lesen« ließe: die ganze Welt ein »Buch«, in dem lesen zu können Charakteristikum eines lebenserfahrenen Menschen ist. Damit hat aber auch der Begriff des »Textes« eine erhebliche Ausweitung erfahren. Auch hier denkt der abendländische Gutenbergianer gewöhnlich an Bücher und sonstige geschriebene oder gedruckte Texte. Dagegen konnte sowohl dem spätantiken Wüstenmönch alles ein Buch sein (man denke an die berühmte Metapher vom »liber naturae« als der Schöpfung Gottes) als auch kann dem modernen Hermeneutiker alles zum »Text« werden. Friedrich NIETZSCHE bspw. spricht vom »schreckliche[n] Grundtext homo natura« (Jenseits von Gut und Böse, in: KSA Bd. V, 169. 18 [Nr. 230]; vgl. ebd. 169. 22); es gelte, »aus den großen Schriftzügen der Natur unsere kleine Schrift zu verstehen suchen.« (Nachgelassene Fragmente 1880–1882, in: KSA Bd. IX, 463. 26f.) Sigmund FREUD wiederum gebraucht den Textbegriff, wenn es um das Problem der Übersetzung eines erzählten Trauminhalts in die Sprache der Deutung geht. Bei der Traumanalyse steht eine manifeste Textgestalt zur Debatte, deren verschlüsselte Bedeutung zu entziffern ist. (Die Traumdeutung [1900], in: StA Bd. II, Frankfurt a.Main [1982].) Überall, wo wir es mit einer Wirklichkeit zu tun haben, die in Analogie zu einem Text verstanden werden kann, stehen wir vor der hermeneutischen Aufgabe, jene Wirklichkeit in ihrer Kohärenz zu »lesen«, d.h. ihren Sinn zu verstehen. Hierher rührt ja wohl auch der Begriff des Textes: lat. »textus« – das in Kette und Schuß durchgängig haltbare und kohärente Gewebe. Man sieht: Lesbarkeit der Welt, der Natur, der Geschichte, Lesbarkeit schließlich des eigenen Lebens wird zu einer »Metapher für Erfahrung«, zu einer »Figur der Vertrautheit mit einem Sinn, der sich verweigern mag, [aber selbst noch] als verweigerter zu empfinden bleibt.« (Hans BLUMENBERG: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: stw 592 [31993] unpag. Vorwort.)

Theologie als Lesekunst

225

selbst erweisen; wir können hier keine Bestimmung vorweg leisten. Zu vermuten aber ist, daß die Theologie keiner der drei hier in den Blick zu nehmenden Formen der Lesekunst entraten kann. Ihr Blick auf die Welt wird ein »mythischer« sein, mag sie sich durch ihre Rationalisierungsbestrebungen auch noch so sehr von der Welt des Mythos geschieden wähnen; ihr Blick auf die Welt wird »phänomenologisch« zu beschreiben sein, scheint sie doch eine bestimmte konzentrierte Aufmerksamkeit für die Eigenart der Phänomene an den Tag zu legen (nicht zufällig hat man die Phänomenologie als eine andächtige, fromme Form von Philosophie bezeichnet9); schließlich wird ihr Blick auf die Welt, wo sich ihm etwas erschließt vom unverfügbaren Weltsinn, ein »metaphorischer« sein, wenn unter »Metaphorologie« denn mehr und anderes zu verstehen ist als ein willkürliches Bebildern und Etikettieren der Dinge. – Drei Durchläufe. An ihrem Ende steht zu hoffen, daß wir nicht nur etwas gelernt haben über Mythologie, Phänomenologie und Metaphorologie, sondern vor allem ein wenig besser begreifen, weshalb das Bild des konzentrierten, selbstvergessenen Lesers zum Inbild von Theologie – auch und gerade der christlichen Theologie hat werden können.10 1. THEOLOGIE ALS LESEKUNST – MYTHOLOGISCH Auf der Suche nach einem Einstieg in das Thema »Theologie als Lesekunst« stößt man über kurz oder lang auf die berühmte Anekdote, die vom Wüstenvater Antonius überliefert ist: »Zu ihm, dem Gerechten, kommt einer der Weisen von damals und sprach: ›Wie, Vater, kannst du es aushalten, des 9

10

Vgl. Rüdiger SAFRANSKI: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München/Wien: Hanser (1994) 95: Phänomenologie als »demütige«, »fromme« Philosophie; 105: »phänomenologische Achtsamkeit«. Die nachfolgenden Überlegungen schreiten so voran, daß zunächst diesem überaus weitgefaßten Text- und Lesebegriff nachgegangen wird: Welt als Text, Lesen als Weltinterpretation. Grundlage hierfür ist die aus anachoretischen Zusammenhängen stammende »mythische« Auffassung der Welt als göttliches Buch der Natur. In einem zweiten »phänomenologischen« Angang erfährt dieser überaus weite Textund Lesebegriff eine erste Eingrenzung: Das jeweilige Phänomen als Text, seine Rezeption als mediales Lesen. Erst dann wird in einem dritten »metaphorologischen« Angang der Text- und Lesebegriff explizit auf literale Texte angewandt. Zugleich meldet sich mit dieser äußersten Eingrenzung aber auch der ursprüngliche, ins Unendliche, ja Göttliche ausgeweitete Text- und Lesebegriff wieder, so daß sich zum Schluß unserer Überlegungen ganz von selbst die Frage einstellt, ob wir in literalen Büchern und Texten vielleicht überhaupt nur deshalb zu lesen wissen, weil Welt, Natur und Geschichte immer schon ihrerseits nach Art von Texten – lesbar sind.

226

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken« Trostes aus Büchern beraubt?‹ Der aber antwortete: ›Mein Buch, o Philosoph, ist die Natur der geschaffenen Dinge, und dies ist mir zur Hand, sobald ich das Wort Gottes lesen will.‹«11

Die ganze Welt ein Buch, in dem lesen zu können Zeichen eines gottergebenen Menschen ist: Dieser Topos vom liber naturae12 läßt sich – im Kontext der verwandten, wenn auch viel weitergreifenden Vorstellung von der »Sprachartigkeit der Dinge« (significatio rerum) – verfolgen über den frühchristlichen Platonismus13, die auf ihn auf-

11

12

13

Überliefert bei Evagrius Ponticus, Pr. 92 (SC 171, 695): Tù dika∂J 'Antwn∂J prosÁlq◊ tij tîn tÒte sofîn kaπ pîj diakartere√j, eˇpen, ð p£ter, tÁj œk tîn bibl∂wn paramuq∂aj œsterhm◊noj; `O d◊ fhsi: tÕ œmÕn b∂blion, filÒsofe, ¹ fÚsij tîn gegonÒtwn œst∂, kaπ p£restin Óte boÚlomai toÝj lÒgouj ¢naginèskein toÝj toÝ Qeoà. (Dt. Übersetzung zitiert nach Günter BADER: Melancholie und Metapher, Tübingen: MohrSiebeck [1990] 14.) Zur Metapher vom Buch der Natur vgl. neben Hans Martin NOBIS: Art. »Buch der Natur«, in: HWP Bd. I (1971) 957ff., die reichen Quellensammlungen von Erich ROTHACKER: Das ›Buch der Natur‹. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte (Hg. Wilhelm Perpeet), Bonn: Bouvier (1979) bes. 12–19 samt den dort angegebenen Belegstellen, sowie Friedrich OHLY: Zum Buch der Natur, in: Ders.: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung (Hg. Uwe Ruberg/Dietmar Peil), Leipzig – Stuttgart: Hirzel (1995) 727–844. Neben der origenistisch-augustinischen Lehre vom drei- bzw. vierfachen Schriftsinn, demzufolge der Heiligen Schrift eine hermeneutische Schlüsselfunktion bei der Entzifferung des Weltsinns zukommt, insbesondere DIONYSIOS AREOPAGITA: Die Welt als mundus symbolicus, in dem es nichts gibt, was nicht eine auf Gott als der Letztursache allen Seins verweisende Bedeutung hätte. Walter HAUG bringt den bei Dionysios theologisch ausgearbeiteten Symbolismus auf die emphatische Formel: »Alles, was nicht Gott ist, ist Theophanie.« (Transzendenz und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Literarästhetik des Mittelalters, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [FS Richard Brinkmann], Tübingen: Niemann [1981] 1–22, hier 6.) Ähnlich Hans Urs VON BALTHASAR: »Dionysius […] schaut Gott nicht anläßlich der Dinge, sondern in den Dingen; Farben, Formen, Wesen, Eigenschaften sind ihm unmittelbare Theophanie, und wenn er die Schleier um des Verschleierten willen preisgibt, so gibt er ein Umfangenes, Geliebtes preis.« (Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik II/1, Einsiedeln: Johannes [1962] 181.) – Im Hintergrund des dionysischen Symbolismus dürfte Platons Dialog Phaidros stehen: Die Dinge wollen etwas sagen, so daß die entscheidende Frage ist, ob der Mensch über ein Gehör verfügt, das der geheimen Sprache der Dinge zu lauschen versteht (230d; 275b). »Theologie« – das ist: im Affiziertsein von den Dingen den ihnen innewohnenden Gott vernehmen. Deswegen sind die ursprünglichen qeolÒgoi auch nicht philosophisch geschulte Dialektiker, sondern Sänger, Dichter, muqolÒgoi: Orpheus, Homer und Hesiod als die ersten und eigentlichen Gott-Sager (244a–245a; vgl. auch Apol. 22c; Men. 99cd; Ion 533c–536d; Krat. 391d. 392b.de. 393a. 396c. 397e–398a. 402a–c. 406c). – Zum Ganzen die begriffsgeschichtlichen Analysen von Günter BADER: Ästhetik als symbolische Theologie. Zur Ästhetik vor der Ästhetik, in: Konrad Stock/Michael Roth (Hg.): Glaube und Schönheit. Beiträge zur theologischen Ästhetik, Aachen (2000) 69–109, hier 90–109.

Theologie als Lesekunst

227

bauende allegorische Schriftexegese des Mittelalters14 samt der ihr zugehörigen Mystik15 bis hin zu prominenten Vertretern der Renais-

14

15

Als Grundsatz dieser Exegese gilt die erstmals wohl von Augustinus formulierte Einsicht, daß Gott der Autor zweier aufeinander verweisender Bücher sei: des Buches der Schöpfung (liber naturae) und des Buches der Offenbarung (liber scripturae). (De Gen. ad litt. [PL 32, 219ff.].) Weil das Buch der Schöpfung durch den Sündenfall unleserlich geworden ist, bedarf der Mensch des Buches der Offenbarung, um das in den Dingen verwahrte Schöpfungswort neu entziffern zu können. Um genau diesen hermeneutischen Vorgang ist es der mittelalterlichen Schriftallegorese zu tun, die deswegen immer zugleich Weltallegorese ist. Der Grundsatz dieser Allegorese, wie sie in Anschluß an Augustinus durch die Pariser Viktorinerschule zur Hochform gebracht wurde, lautet: Jeder Text hat einen sensus literalis, aber der Text der Heiligen Schrift hat darüber hinaus noch einen sensus spiritualis. Dieser besteht jedoch nicht in irgendeinem höheren oder tieferen Wortsinn (Allegorese also nicht im Sinne einer adaequatio intellectus ad significationem textus alteram); vielmehr gilt, daß im Spiegel der Heiligen Schrift die Dinge selber sich als bedeutungshaltig erweisen (Allegorese im Sinne einer adaequatio intellectus ad significationem rerum per textum significatam). Die schöpfungstheologische Wahrheit des Satzes »omnis creatura significans« (Alanus ab Insulis [PL 210, 53A]) kommt demnach dort an den Tag, wo der aufmerksame Leser der Heiligen Schrift (»diligens scrutator sacri eloquii«) folgende Regel beherzigt: »[…] rerum significationes nequaquam negligere debet, quia sicut per voces primarum rerum notitia acquiritur, ita per significationem rerum earumdem intelligentia, quae spirituali notificatione percipiuntur, et manifestatio perficitur. Philosophus in aliis scripturis solam vocum novit significationem; sed in sacra pagina excellentior valde est rerum significatio quam vocum: quia hanc usus instituit, illam natura dictavit. Haec hominum vox est, illa Dei ad homines. Significatio vocum est ex placito hominum: significatio rerum naturalis est, et ex operatione Creatoris volentis quasdam res per alias significari.« (Hugo von St. Victor, De scripturis et scriptoribus sacris [PL 175, 20f.].) Wenn also schöpfungstheologisch gilt: »Duplex est liber unus scilicet scriptus intus qui est Dei aeterna ars et sapientia et alius scriptus foris scilicet mundus sensibilis« (Bonaventura, Brevil. II, 11), so gilt zugleich schrifthermeneutisch: »Hic autem liber est Scripturae, qui ponit similitudines proprietates et metaphoras rerum in libro mundi scriptarum« (Bonaventura, Coll. in Hex. XIII, 12). Woraus folgt: mittelalterliche Schrifthermeneutik ist Hermeneutik der Welt, die ihren ontologischen Ermöglichungsgrund im Wissen um die Herkünftigkeit allen Seins aus Gott hat. – Vgl. zum Ganzen Friedrich OHLY: Von der geistigen Bedeutung des Wortes im Mittelalter, in Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt: WBG (1977) 1–31. Bernhard von Clairvaux: »Experto crede: aliquid amplius invenies in silvis quam in libris. Ligna et lapides docebunt te, quod a magistris audire non possis. An non putas posse te sugere mel de petra oleumque de saxo durissimo? An non montes stillant dulcedinem et colles fluunt lac et mel et valles abundant frumento?« (Ep. 106, 2 [PL 182, 242B].) Meister Eckhart: »Jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch«, und »wer dieses Buch recht studiert und zu echter Erkenntnis der Kreatur vordringt, der braucht keine Predigt.« (In: Deutsche Predigten und Werke [Hg. Josef Quint], Darmstadt: WBG [61985] 200. 46). Thomas von Kempen: »Si rectum cor tuum esset, tunc omnis creatura speculum vitae et liber sanctae doctrinae esset.« (Imitatio Christi II, 4).

228

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

sancephilosophie16, der Barockdichtung17, der Romantik18 und des poetischen Symbolismus19; und noch in der Gegenwart findet er seine Liebhaber.20 Ausgangspunkt dieses Topos ist die Vorstellung von der Welt als Schöpfung: Wenn alles Seiende geschaffen ist, wenn es den ewigen Gott zu seinem Ursprung hat, dann stehen die Dinge niemals zusammenhanglos in sich, sondern spiegeln als geschaffene etwas vom Urgrund des Seins, d.h. von der Herrlichkeit ihres Schöpfers wider. Deshalb ist es nicht nur möglich, von der »Wahrheit der Dinge«21 zu reden (diese liegt in ihrer elementaren Geschöpflichkeit beschlossen); vielmehr ist die Wahrheit der Dinge dem menschlichen Geist zugänglich (wenn auch in statu lapsus nicht mehr unmittelbar, sondern nur vermittels der Heiligen Schrift), denn der Mensch teilt mit den Dingen die fundamentale Eigenschaft des Geschaffenseins. Weil sich die Seinswahrheit des Menschen von der Seinswahrheit der Dinge nicht abtrennen läßt, vielmehr beiden, insofern sie von Gott geschaffen sind, eine geheime connaturalitas zukommt, deshalb gilt, daß dem Menschen in jeder erkennenden Begegnung mit den Dingen etwas von dem aufleuchtet, was die Welt im Innersten zusammenhält: »Omnia cognoscentia cognoscunt implicite Deum in qualibet cognitione.«22 In diesem Satz findet sich erkenntnismetaphysisch rationalisiert, was jenes enigmatische Wort der Väterexegese meint, das von der geheimen Sprachartigkeit der Dinge spricht: »res loquitur!« Baum, Stein und Quelle, Himmel und Erde: sie alle »rühmen die 16

17

18

19 20

21

22

Raimund von Sabunde: Liber creaturarum sive de homine (Theologia naturalis) [1434– 36], von Montaigne 1569 ins Französische übersetzt. (Vgl. Friedrich OHLY: Zum Buch der Natur, [Anm. 12] 785–91.) Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann [1657/1674] V, 86; Jakob Böhme: De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttlichen Wesens [1619] Cap. VIII, § 12. Zu Böhme vgl. Erich ROTHACKER: Das ›Buch der Natur‹. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, (Anm. 12) 17, 49. Neben Eichendorff, Hamann, Wackenroder und Novalis ist hier zu erinnern an Barthold Heinrich Brockes als prominenten Vertreter der Physikotheologie, die das neuzeitliche Interesse an einer naturwissenschaftlichen Erforschung der Welt in den Dienst einer modernen Naturfrömmigkeit stellte. (Vgl. auch unten Anm. 30.) Charles Baudelaire, Hugo von Hofmannsthal und Saint John Perse. (S.u. Anm. 32.) Romano Guardini, Francis Jammes, Fridolin Stier und Erhart Kästner. (S.u. Anm. 29) Josef PIEPER: Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters, in: Werke (Hg. Berthold Wald), Hamburg: Meiner, Bd. V (1997) 99–179. THOMAS VON AQUIN: De Ver. q. 22 art. 2 ad 1. – Dazu Josef PIEPER: Kreatürlichkeit. Bemerkungen über die Elemente eines Grundbegriffs, in: Werke (Hg. Berthold Wald), Hamburg: Meiner, Bd. II (2001) 441–464, hier insbes. die Abschnitte III–VI (443– 454); DERS.: Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters, (Anm. 21) 116–134; Hans Urs VON BALTHASAR: Theologik I. Wahrheit der Welt, Einsiedeln: Johannes (1985) 266f.

Theologie als Lesekunst

229

Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament« (Ps 19). Wo der Mensch mit Hilfe des Buches der Schrift »aus der stummen Welt der Dinge die Sprache göttlicher Verkündigung vernimmt«23, da schließt sich ihm der Weltzusammenhang auf, da wird ihm »die Natur der geschaffenen Dinge«24 lesbar als ein an ihn gerichtetes lebendiges Wort. Nun ist es jedoch Gemeinplatz, daß solch ein theologischer (im Grunde möchte man sagen: mythischer25) Blick auf die Welt spätestens mit dem Beginn der Neuzeit obsolet geworden ist. Wo sich die erkennende Vernunft im Prozeß sowohl der theoretischen wie der praktischen Weltaneignung immer weniger als passiv-aufnehmende, sondern als aktiv-hervorbringende begreift; wo darüber hinaus der Mensch entdeckt, daß er den Gegenstand seiner Erkenntnis nicht so sehr rekonstruiert, sondern ihn in seinen Erkenntnisakten immer auch konstituiert – da findet sich die menschliche Wahrheitserkenntnis ihrer impliziten Theologizität entkleidet, da vollzieht sie sich nicht mehr als sympathetische Angleichung des Denkens an das Sein, als ein Vernehmen des in den Dingen versiegelten Schöpfungswortes, sondern zunächst und vor allem als Kenntnis des den Dingen eigenen Chemismus, der ihnen inhärenten physikalischen Funktionszusammenhänge, der sie den Wirtschaftsabläufen unterwerfenden statistischen Prognostizierbarkeit. Aber damit nicht genug – im Prozeß der neuzeitlichen Weltaneignung wächst auch das Wissen um die unermeßliche Größe des Kosmos und die abgrundtiefe Zufälligkeit des Menschen in ihm26 und damit der Verdacht, die Vorstellung eines gottgestifteten ordo universi entspringe einem grandiosen Anthropomorphismus. Von einer »Wahrheit der Dinge« zu sprechen, die lesen zu können Zeichen eines gottergebenen Menschen ist, erscheint da mehr und mehr als Anachronismus. Wenn 23 24 25

26

Friedrich OHLY: Von der geistigen Bedeutung des Wortes im Mittelalter, (Anm. 14) 13. S.o. Anm. 11: ¹ fÚsij tîn gegonÒtwn.  »Mythisch« insofern, als die Rede vom »Buch der Natur« nur möglich ist, wenn die Dinge mehr sind als nackte Tatsachen. So problematisch es für den protestantischen Bibelleser auch sein mag, die mythische Welt der Götter mit der biblischen Welt des einen Schöpfergottes in Analogie zu bringen, so sehr gilt doch, daß der Welt, wenn man sie religiös deuten will, Numinosität zukommen muß – sei es, daß die Dinge in ihrer Eigenschaft als geschaffene die Spur des transzendenten Schöpfers widerspiegeln; sei es, daß der Gott selbst in ihnen präsent ist. Zur Übergänglichkeit von Mythologie in Theologie bzw. zum mythischen Hintergrund von biblischer Theologie überhaupt vgl. in meiner Habilitationsschrift (»Nur im Echo unserer Antwort wird uns vernehmbar der Gott.« Drei fortlaufende Fragen über Projektion, Inspiration und Offenbarung, erscheint in zwei Teilen im Frühsommer und im Herbst 2014) im zweiten Hauptteil die Kapitel A und B. Vgl. Jacques MONOD: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München: dtv (91991).

230

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

überhaupt noch Wahrheit, dann gilt: »Wahrheit gibt es nur in der Sprache, nicht in den Dingen, von denen gesprochen wird […] ›Wahr‹ muß sich stets auf die Wahrheit eines Urteils beziehen: Wahrheit ist nicht die Eigenschaft eines Dinges, sondern des Urteils, das darüber gefällt wird.«27 Wo hingegen von einer »Wahrheit der Dinge« gesprochen wird, da (so der neuzeitliche Argwohn) habe man es nicht mit Wissenschaft zu tun, sondern mit einem para- bzw. kryptomythischen Blick auf die Natur. So ist es wohl auch kein Zufall, daß die fromme Rede vom »Buch der Natur« in der zeitgenössischen Theologie weitgehend verstummt ist, und zwar weil für den modernen Menschen das Buch der Natur selber verstummt ist.28 Ist aber das Buch der Natur verstummt, so sagen einem auch die Dinge nichts mehr – und schließlich erstirbt auch der Blick, der in ihnen einmal die Spuren Gottes zu lesen wußte.29 Nun hilft es nicht weiter, nostalgisch das Verstummen der Welt als eines großen Symbolzusammenhangs zu beklagen. Was passiert ist, ist passiert – und vermutlich zu Recht, hat doch die hier beschriebene Theologie immer auch den Mund zu voll genommen. 27

28

29

Thomas Hobbes (zitiert nach Conrad BONIFAZI: Eine Theologie der Dinge. Der Mensch in seiner natürlichen Welt, Stuttgart: Klett-Cotta [1977] 56). Erinnert sei als Beispiel für viele an Karl RAHNER, der meinte, »jene Entmythologisierung und Entnuminisierung der Welt«, die »für ein modernes Daseinsgefühl […] bestimmend ist«, sei auf das biblische Gott-Welt-Verhältnis zurückzuführen, nach welchem »die Welt [, als] von Gott in Freiheit gesetzt,« »mit Recht nicht als die ›heilige Natur‹« zu betrachten sei, »sondern als der Stoff für die schöpferische Macht des Menschen«. (Grundkurs des Glaubens, Freiburg i.Br. u.a.: Herder [1991] 88.) Dagegen ist zu sagen: Die Reduzierung der Welt auf eine Arena menschlichen Machens hat die Verabschiedung von Natur und Geschichte als Theatrum Divini zur Folge – und damit notwendigerweise auch die Verabschiedung der Erfahrbarkeit Gottes, so sehr man sich auch um deren transzendentaltheologische Rehabilitierung bemühen mag! – Zur Unlesbarwerdung des Buches der Natur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert (wohl in enger Verbindung mit der Heraufkunft des Nominalismus als intellektueller Tiefenströmung) vgl. Friedrich OHLY: Zum Buch der Natur, (Anm. 12) 764–784. Zu Rahners Naturverständnis vgl. Günther BOSS: Verlust der Natur. Studien zum theologischen Naturverständnis bei Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg, IThS 74, Innsbruck: Tyrolia (2006). Elementar dazu nach wie vor Romano GUARDINI: Der Mensch und die Technik. Briefe vom Comer See [1923–25], hg. von Walter Dirks, Mainz: Topos (21990); DERS.: In Spiegel und Gleichnis, Mainz: Grünewald (1948) 64–73 (= dt. Übersetzung Francis JAMMES: Von den Dingen [1928]). Des weiteren Erhart KÄSTNER: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt a.M.: Bibliothek Suhrkamp (1976) 157–166, 213f., 216ff.; Fridolin STIER: Vielleicht ist irgendwo Tag [1981], Freiburg i.Br.: Herder Spektrum (1993) passim; Conrad BONIFAZI: Eine Theologie der Dinge. Der Mensch in seiner natürlichen Welt, (Anm. 27); Max PICARD: Zerstörte und unzerstörbare Welt, Erlenbach-Zürich: Rentsch (1951). Interessant auch Martin MOSEBACH: Ewige Steinzeit, in: Ders.: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, Wien/Leipzig: Karolinger (2002) 7–18, hier 11ff., 16f.

Theologie als Lesekunst

231

Denn die tiefgreifenden Ambivalenzen von Natur und Geschichte wurden von ihr entweder ausgeblendet oder (wenn zum Gegenstand der Reflexion erhoben) hamartiologisch überbestimmt; gerade darin aber blieben sie phänomenologisch unterbestimmt. Stellvertretend für viele sei hier an Reinhold Schneider erinnert. Auf einen Vers wie den des Mediziners und Physikotheologen Albrecht von Haller (1708–1777) »›Genug, es ist ein Gott, es ruft es die Natur, / der ganze Bau der Welt zeigt seiner Hände Spur‹« wußte er, der ein seismographisches Gespür für die Ambivalenzen von Natur und Geschichte hatte, nur zu antworten: »Wie schwer ist es geworden, diesen ehrwürdigen Naivitäten beizupflichten!«30 Ist es schwer geworden, der Vorstellung von der Welt als einem umfassenden Symbolzusammenhang beizupflichten, so bleibt zu fragen, ob das Recht einer solchen Theologie31 nicht andernorts bewahrt und gepflegt wird. Wo findet nach dem Untergang aller mytho-theologischen Lesbarkeit von Welt, Natur und Geschichte das Anliegen, Welt, Natur und Geschichte als einen kohärenten Sinnzusammenhang lesen zu können, Gehör? 2. THEOLOGIE ALS LESEKUNST – PHÄNOMENOLOGISCH Lesbarkeit der Welt nach dem Untergang aller Lesbarkeit – dieses Themas nimmt sich die Phänomenologie an. Phänomenologie ist der Versuch, unter den Denkvoraussetzungen von Neuzeit und Moderne (und durch sie hindurch) »zu den Sachen selbst« vorzustoßen. Ihr Anliegen ist es, der stummen, unerschöpflichen, bedrückenden aber auch berückenden Evidenz der Dinge gewahr zu werden, die sich dem fragenden, vernehmenden Blick des Phänomenologen darbieten. Wie aber soll man die Dinge an sich herankommen lassen? Wie kann es möglich werden, ihrer unsichtbaren Schriftzüge nicht nur ansichtig zu werden, sondern in ihnen einen Sinnzusammenhang zu lesen? Die Antwort der Phänomenologen lautet: Man muß unter Absehung aller vorgefaßten Meinungen und scheinbaren Wirklichkeitsbezüge (»epoché«) den Dingen Gelegenheit geben, sich zu zeigen. Was sich dem menschlichen Bewußtsein in der Begegnung mit den Dingen zeigt und wie es sich zeigt (und zwar von sich aus!), das 30 31

Reinhold SCHNEIDER: Winter in Wien, Freiburg i.Br.: Herder (1963) 128. Hans BLUMENBERG hat dieses Anliegen folgendermaßen beschrieben: »Auf die Beherrschung der Natur zu verzichten, um ihre Vertraulichkeit zu gewinnen, die wahren Namen der Dinge zu kennen, statt nur die exakten Formeln für ihre Herstellung […], den Sinn statt der Faktoren zu kennen – das alles sind Wünsche, die auch dadurch nicht sinnlos werden, daß sie nicht als Verheißungen für Erfüllungen genommen werden dürfen.« (Die Lesbarkeit der Welt, [Anm. 8] unpag. Vorwort).

232

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

nennen die Phänomenologen »das Phänomen«. Phänomen: das ist das Ding, wie es mich affiziert und anspricht, wie es mir erscheint und sich mir zu erkennen gibt – und alle Anstrengung der Phänomenologie geht dahin, diesem freigebenden Sehenlassen, das nicht mehr einfach selbstherrlich ich betreibe, sondern das in meinem Betreiben sich betreibt, die Bahn zu bereiten. Damit rückt (zumindest anfangshaft) in Reichweite, wie es denkbar sei, daß nach dem Verstummen der Welt als umfassenden Symbolzusammenhang die Dinge neu zu sprechen anheben. Und es ist sicher kein Zufall, daß die diesbezüglich interessantesten Ansätze in der zeitgenössischen Ästhetik diskutiert werden, finden sich hier doch die Fragen traktiert, die einmal vornehmster Gegenstand der Theologie waren: Wie es möglich sei, einen den Dingen innewohnenden Sinn (Wahrheit, Schönheit, Alterität) zu erfahren, ohne ihn selber, omnipotent, erschaffen zu müssen. Im Versuch einer »Rettung der Phänomene«, wie ihn die Phänomenologie unternimmt, leuchtet denn auch von ferne jener Horizont auf, auf den die klassische Metaphysik immer schon unterwegs war: nämlich einer allen Dualismen vorgängigen Entsprechung von Sprache und Welt, Denken und Sein innezuwerden – Welt als lesbaren »Text« zu erfahren. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die Phänomenologie dabei als schillerndes Übergangsfeld zwischen Mythologie (»Die Dinge sprechen mich an«) und Metaphorologie (»Sprache entsteht allein im Spiegel der Dinge«). Den ersten Aspekt hat auf eindrückliche Weise Georg Picht bearbeitet; dem zweiten Aspekt hat Hans-Georg Gadamer seine Aufmerksamkeit geschenkt. Erst im Durchlaufen des phänomenologischen Feldes von beiden Seiten her geraten wir vor die eminent theologische Frage, ob und (wenn ja) wie die Phänomenologie in der Lage ist, eine den Dingen innewohnende Lesbarkeit nicht nur zu behaupten, sondern – an den Tag zu bringen. Wenden wir uns ihren Analysen ein wenig genauer zu.

Theologie als Lesekunst

233

2.1. Phänomenologie – von der Erfahrung der »lebendigen Dinge«32 her betrieben Georg Picht33 versteht Phänomenologie im strengen Sinn des Wortes als »Aisthesiologie«, als Lehre von der menschlichen Wahrnehmung. Erklärtes Anliegen seiner Untersuchungen zum menschlichen Wahrnehmungsvermögen ist es, die cartesische Zerspaltung der Wirklichkeit in eine subjektive Weltwahrnehmung hier und eine objektive Wirklichkeit der Dinge dort zu überwinden: »Wenn wir ›Ästhetik‹ als Wahrnehmungslehre interpretieren, heben wir die Trennung von objektiver Wahrnehmung und subjektiver Empfindung auf. Das hat zur Folge, daß der ganze Reichtum jener Phänomene, die das neuzeitliche Denken in die Gefühlswelt der subjektiven Innerlichkeit transportiert hat, uns jetzt als etwas Wahrgenommenes, das heißt als eine Region von wirklichen Phänomenen der wirklichen Welt entgegentritt.« (399) Wenn bspw. das Auge beim Betrachten eines Bildes die Linienführung verfolgt, so sieht es nicht einfach nur einen schwarzen Strich auf Papier, sondern reagiert auf Spannung und Lösung der Kurve, auf die Widerstände, an denen die Linie sich bricht; es wird der Klarheit oder Unsicherheit der Pinselführung gewahr und setzt sie in Beziehung zum Linienspiel der Zeichnung insgesamt. Ähnliches gilt von der Farbwahrnehmung: Das Auge sieht nicht nur die einzelnen Farben, sondern reagiert auf die Interaktion zwischen ihnen; es nimmt wahr, wie die Auf- und Abschattungen miteinander korrespondieren oder ge32

Die Rede von den »lebendigen Dingen« findet sich, soweit ich sehe, erstmals bei SAINT-JOHN PERSE [1887–1975], der in seinem Gedichtzyklus Anabasis [1921] von »les choses vivantes parmi nous« spricht. (Oeuvres Complètes, Paris: Gallimard [1972] 108.) Dagegen ruft Hugo VON HOFMANNSTHAL im Chandosbrief jene »Sprache« in Erinnerung, »in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen« und welche an einen göttlichen Ursprung jener Sprache denken lasse. (Ein Brief, in: GW VII: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, Frankfurt a.M.: Fischer Tb [1979] 461–472, hier 472.) Erinnert sei auch an Charles BAUDELAIRE, der den wechselseitigen Vorgang sinnlicher Wahrnehmung (seitens des Rezipienten) und sinnhafter Wahrgebung (seitens des Rezipiendum) unter das Thema der »Correspondances« gesetzt hat: »La Nature est un temple où des vivants piliers Laissent parfois sortir des confuses paroles; L’homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l’observent avec des regards familiers. […]«

33

In: Les Fleurs du Mal, suivies de Petits Poèmes en Prose etc. (Hg. Claude Lémie/Robert Sctrick), Paris: Livres de Poche (1981) 33. Walter BENJAMIN übersetzt »regards familiers« mit »Augenaufschlag der Dinge« (GS I/2, 646ff.). Vgl. zum Ganzen auch Benjamins Studien über die Lehre vom Ähnlichen (GS II/1, 204–219) sowie Über das mimetische Vermögen (ebd. 210–213). Georg PICHT: Kunst und Mythos, Stuttgart: Klett-Cotta (41993). Zitationen im laufenden Text in Klammern.

234

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

geneinander agieren, so daß aus der Fülle des Wahrgenommenen das Bild als Bild überhaupt erst entsteht. Das Auge »liest«, »was zwischen den Farben geschieht« (338). Diese sinnliche Leistung des Auges ist vorbegrifflich; der objektivierende Begriff kann lediglich versuchen einzuholen, was das Auge längst schon entdeckt hat. Picht hält fest, daß das, was das Auge in diesem Spiel der Korrespondenzen von Linie und Farbe entdeckt, nicht auf objektivierbare Reize rückführbar ist, die von physikalisch objektivierbaren Farben ausgehen. Vielmehr verhält es sich so, daß das Auge »[sieht], was die Physik als etwas Unsichtbares auffassen muß«, so daß Picht den paradoxen Satz wagt: »Das Auge denkt« (339). Ähnlich verhält es sich im Bereich der Töne. Das Ohr verzeichnet nicht nur akustische Informationen, die auch eine physikalische Apparatur zu registrieren vermag; das Wahrnehmen von Tönen als Musik hängt vielmehr vom Vermögen ab, die einzelnen Töne zu einem zusammenhängenden Ganzen synthetisieren und darüber hinaus die spannungsvolle Gemengelage des »Zwischen-den-Tönen« wahrnehmen zu können, so daß dieserart überhaupt erst ein Klangkompendium entsteht, das den Namen »Musik« verdient. Analog wird man hier sagen müssen: »Das Ohr denkt«. Es nimmt ein reales Phänomen wahr, welches zwar nicht schlechthin begrifflich objektivierbar ist, aber auch nicht einfach auf einen innerpsychischen und damit subjektiven Vorgang rückgeführt werden kann. Die Fähigkeit der Sinne, die Phänomene als Phänomene sowie den Modus ihres Erscheinens (401) wahrnehmen zu können, zwingt uns, die scheinbar selbstverständliche Aufspaltung von Rationalität, Wahrnehmung und Affekt, d.h. die neuzeitliche Dichotomie von Subjektivität und Objektivität als voneinander getrennte Bereiche aufzugeben (396). Vielmehr werden wir zu dem Eingeständnis genötigt, daß den Sinnen eine ihnen eigentümliche Rationalität zukommt, die jenes Paradox rechtfertigt, das da lautet: »Die Sinne denken« (336, 395). Das Ohr denkt, das Auge denkt: Solche Aussagen betreiben Kategorienfehler, die gewollt sind. Sie intendieren eine ähnliche Paradoxie, wie jene, die da lautet: »es« denkt. Denkt »es«, dann ist das Denken kein Denken mehr im strengen Sinn des Ego cogito; vielmehr kommt an den Tag, daß das vermeintlich fest in sich gegründete Subjekt »ein offenes System« (426) ist, das in seiner unbeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit hinausragt in das weite, unabschließbare Feld der sinnlichen Affektionen. Um dieses Feldes in seiner Gänze ansichtig zu werden, vollzieht Picht einen weiteren, an Bedeutung kaum zu überschätzenden Schritt: Nicht primär unsere Sinne (Seh-, Hör-, Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn), vielmehr die Affekte in ihrem spezifisch synästhetischen Vermögen sind »die eigentlichen Träger unserer Wahrnehmung« (439; vgl. 415, 433, 437). – Was sind Affek-

Theologie als Lesekunst

235

te? Der lateinische Begriff »affectus« ist Übersetzung des griechischen p£qoj. Nun bezeichnet p£qoj jedoch primär nicht einen Zustand des Gemüts, sondern das, was einem Menschen widerfährt. In diesem Sinn bezeichnen die paqˇmatadas ganze Feld der Mächte und Gewalten, der Widerfahrnisse, Leidenschaften, Strebungen und Impulse, die uns von außen treffen bzw. in unserm Innern aufbrechen. Aber was heißt hier »von außen«? Was heißt »in unserm Innern«? Welches Kriterium legen wir an, wenn wir scheiden wollen zwischen dem, was von außen auf uns einstürmt und dem, wovon wir uns innerlich betreffen lassen? Je länger wir auf das weite Feld unserer Affektionen blicken, um so weniger ist es möglich, fein säuberlich zu unterscheiden zwischen dem, was uns objektiv affiziert, und dem, was uns subjektiv Eindruck macht. Hat man diese Einsicht einmal zugelassen, dann löst sich »die Trennung der subjektiven Innensphäre von einer objektiven Außenwelt […] auf. Wir sind […] dadurch, daß die Sphäre unserer Sinnlichkeit eine Sphäre der synästhetischen Wahrnehmung ist, gerade in dem, was wir als subjektiv ausgeben, hinaus in die Welt versetzt.« (412) Diese phänomenologische Beobachtung zieht nun freilich eine kaum zu überschätzende ontologische Schlußfolgerung nach sich: Im gleichen Moment nämlich, da man zugibt, daß unsere sinnlichen Affekte Einfallstore objektiver Wirklichkeit sind, mithin »Wahrnehmung und Wahrgenommenes ein und derselben Welt angehören«, hat man den Affekten eine gnoseologische Valenz im echten Sinn des Wortes zuerkannt. In ihnen meldet sich eine Wirklichkeit zu Wort, der nicht zu begegnen dem Menschen unmöglich ist, die vielmehr deswegen ungebremst auf ihn einstürmt, weil der vermeintlich subjektive Innenraum der Seele in Wahrheit ein nach allen Seiten offenes Terrain darstellt, d.h. der Mensch gerade dann »außer sich« ist, wenn er vermeintlich ganz »in sich« ruht – und umgekehrt. (440; vgl. 412, 416 u.ö.)34 Die cartesische Zerspaltung der Wirklich34

Picht steht mit diesen Überlegungen ganz in der Nachfolge von Hermann FRÄNKEL [1888–1977], der den sinnlichen Menschen des griechischen Mythos als ein »offenes Kraftfeld« beschrieben hat und mit dieser These die Homer-Philologie bis heute im angelsächsischen, z.T. auch im deutschsprachigen Raum nachhaltig prägt. »Wenn der Mensch wie ein Kraftfeld ist, dessen Linien in Raum und Zeit hinausziehn ohne Grenze und Schranke, so können ebenso ungehindert auch andre Kräfte in ihn hineinwirken, ohne daß es Sinn hätte zu fragen, wo das Eigne anfängt und wo das Fremde aufhört. [… Der homerische Mensch ist] bedingungslos der Welt geöffnet – so weit geöffnet, daß die für unser Bewußtsein grundlegende Antithese zwischen dem Ich und dem Nichtich für das homerische Bewußtsein noch nicht besteht. Auch das, was uns als eine höchst persönliche Leistung erscheint, ein Gedanke oder ein Impuls, wird in der Ilias als eine empfangene Gabe aufgefaßt.« (Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Literatur von Homer bis Pindar, München: C. H. Beck [1992/41993] 88f.;

236

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

keit in eine subjektive Weltwahrnehmung hier und eine objektive Wirklichkeit der Dinge dort ist spätestens hier aufgelöst zugunsten einer ganzheitlichen Weltsicht (wie problematisch eine solche Redeweise im übrigen auch sein mag). Mit einem Mal ist es statthaft, den Eindrücken der geweckten Sinne35 Wahrheitsfähigkeit zuzutrauen: Der Eindruck, den die Dinge auf mich machen, sagt nicht nur etwas über mich aus, sondern womöglich genauso viel über sie. Sagen die Eindrücke, die die Dinge auf mich machen, etwas über unsere Welt aus, so stellt sich ganz von selbst die Frage, wie eine Sprache beschaffen sein müßte, die diesen Zusammenhängen angemessen Ausdruck verleiht? Mit dieser Frage geraten wir vom einen Ende des phänomenologischen Feldes (»Phänomenologie, von der Erfahrung der Dinge her betrieben«) an dessen anderes Ende (»Phänomenologie, von der Erfahrung der Sprache her betrieben«). Zu vermuten ist, daß der sinnliche Eindruck, den die Dinge mir machen, sich nur in einer sinnlichen Sprache adäquaten Ausdruck verschafft. Was ist »sinnliche Sprache«? Die klassische Antwort lautet: Sinnliche Sprache ist metaphorische Sprache.36 Mit ihr geraten wir in das Zentrum un-

35

36

amerik. Originalausgabe New York: Eden Publishing House [1951]; zur HomerThese insgesamt ebd. 83–94.) – Zumindest erwähnt sei, daß gegen die Fränkel’sche These, die in Eric Robertson Dodds, Julian Jaynes, Bruno Snell, Walter Burkert und Kurt Hübner bedeutende Fürsprecher gefunden hat, die Marburger Gräzistenschule um Arbogast Schmitt scharfen Einspruch erhebt. Vgl. Arbogast SCHMITT: Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers, AAWM 5/1990, Stuttgart: Franz Steiner (1990); Athenes Umgang mit den Menschen bei Homer. Zu einem Aspekt homerischer Theologie, in: Die alten Sprachen im Unterricht 29 (1982) 6–23. Die Betonung liegt für Picht auf den »geweckten Sinnen«: »Es ist ein Irrtum zu meinen, daß wir Sinne ›haben‹, und daß sie automatisch funktionieren. Wir ›haben‹ Sinne so wenig wie Verstand. Was der Mensch in seinen Sinnesorganen mitbringt, sind unausgebildete Möglichkeiten, die in der heutigen Gesellschaft verkümmern. Man kann sie aber auch ausbilden und entfalten. Dann stellt sich heraus, daß die Sinne nicht nur registrieren, sondern entdecken. Nur die Entdeckung durch die Sinne kann in der eigentlichen Bedeutung des Wortes ›Wahrnehmung‹ heißen.« (386) Alfred BIESE: Das Metaphorische in der dichterischen Phantasie. Ein Beitrag zur vergleichenden Poetik, Berlin: A. Haack (1889) 14: »Die Metapher als eine Grundform unseres Denkens führt uns an die Quellen der Sprachschöpfung. Alle Wurzeln einer Sprache haben ursprünglich sinnliche Bedeutung, sind lautliche Zeichen für Sinneseindrücke, und alle Bezeichnungen für geistige Erscheinungen sind nichts anderes als Übertragungen jener sinnlichen Lautzeichen auf das Intellektuelle. Nur verhüllt schimmert noch bei unendlich vielen Wörtern die sinnliche Farbe des ursprünglichen Bildes hindurch, wie ein übermaltes Gemälde noch die Konturen des Originals durchscheinen und erraten läßt.« Danach DERS.: Die Philosophie des Metaphorischen, Hamburg/Leipzig: Voß (1893). – Biese paraphrasiert und exemplifiziert mit seinen Untersuchungen das berühmte Diktum von JEAN PAUL: Die Sprache insgesamt sei »ein Wörterbuch erblasseter Metaphern«. (Vorschule der Ästhetik [21812], in: Werke [Hg. Norbert Miller], München [1963] Bd. V, 7–514, hier 184.)

Theologie als Lesekunst

237

serer Überlegungen, denn hier schließen sich die beiden bislang getrennt verhandelten Dimensionen theologischer Lesekunst (Mythologie und Phänomenologie) aufs engste zusammen. 2.2. Phänomenologie – von der Erfahrung der »lebendigen Sprache«37 her betrieben Metaphorische Sprache als sinnliche Sprache, als Sprache, die den Denk- und Anschauungsformen unseres unmittelbaren Welt- und Selbsterlebens durch und durch angemessen ist –: unter den zeitgenössischen Phänomenologen hat sich vor allem Hans-Georg Gadamer diesen Zusammenhängen gewidmet. Gegenüber einer instrumentellen Auffassung der Sprache, wie die frühe Sprachanalytik des Wiener Kreises (Carnap, Wittgenstein) sie postulierte, versteht Gadamer in Anschluß an den späten Heidegger das In-der-Sprache-Sein des Menschen als ein ontologisches Existential, das jeglichem Welt- und Selbstverstehen des Menschen vorausgeht. Nur aufgrund dieser vorgängigen Verwurzelung des Menschen in der Sprache ist die »lebendige Metaphorik der Sprache« in der Lage, ihre spezifisch welterschließende Kraft für den Menschen zu entfalten, denn es gilt: »In der Sprache stellt sich die Welt selbst dar.«38 Gadamer hält an der grundsätzlichen Sprachlichkeit menschlicher Welt- und Selbsterfahrung fest: »Die Erfahrung ist nicht zunächst wortlos und wird dann durch die Benennung zum Reflexionsgegenstand gemacht […]. Vielmehr gehört es zur Erfahrung selbst, daß sie die Worte sucht und findet, die sie ausdrücken. Man sucht das rechte Wort, d.h. das Wort, das wirklich zur Sache gehört, so daß sie selbst darin zu Worte kommt. Auch wenn […] damit kein einfaches Abbildungsverhältnis impliziert ist – soweit gehört das Wort doch zur Sache selbst, daß es nicht als Zeichen der Sache nach37

38

Die Vorstellung von der Sprache als einer Quelle autopoietischer Welterbildung findet sich erstmals bei Giambattista VICO (Principi di una scienza nuova [1725/30]; dt. Übers. von Erich Auerbach: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, München: Allgemeine Verlagsanstalt [1924] 96–101, 143–312). Von dort wirkt sie weiter über Hegel, Herder und Hamann, bis sie schließlich in Paul Ricœurs Theorie der »lebendigen Metapher« eine fundamentalontologisch konsistente Neuformulierung findet. Ricœurs Rede von der »lebendigen Metapher« zielt auf das fundamental poetische Moment der Sprache; über seine gnoseologische Funktion kommt ihm zugleich eine ontologische Referenzfunktion zu: »L’énigme du discours métaphorique c’est, semble-t-il, qu’il ›invente‹ au double sens du mot: ce qu'il crée, il le découvre; et ce qu'il trouve, il l'invente.« »Das Rätsel des metaphorischen Diskurses besteht, so scheint es, darin, daß er im doppelten Wortsinn (er)findet: was er erschafft, entdeckt er; und was er findet, erfindet er.« (La métaphore vive, Paris: Seuil [1973] 301; dt. Übersetzung: J.N.) Alle Zitate Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr-Siebeck (21965) 426.

238

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

träglich zugeordnet wird.«39 Gadamers sprachphilosophischer Spitzensatz lautet denn auch folgendermaßen: »Man muß sich […], wie ich meine, die Frage stellen, ob Sprache, wenn man sie wahrhaft denken will, nicht am Ende ›Sprache der Dinge‹ heißen muß« – und man muß sich des weiteren fragen, ob nicht »von vorneherein« zwischen der »›Sprache der Dinge‹«, d.h. ihrem kreatürlichen Sein, und der »Sprache des Menschen«, d.h. seiner kreatürlichen Geistbegabtheit, »eine vorgängige Entsprechung« gedacht werden muß. Nur so lassen sich die Aporien, in die der neuzeitliche »Dualismus von Subjektivität und Wille auf der einen Seite, Objekt und Ansichsein auf der anderen Seite« hineinführt, vermeiden.40 Im Grunde wiederholt Gadamer mit diesem Satz zunächst nur das aristotelische Axiom »anima quodammodo omnia«41 – wenn auch in phänomenologischem Gewande. Im Unterschied zur metaphysischen Tradition einer mehr platonisch oder mehr aristotelisch geprägten Scholastik legt Gadamer großen Wert auf die Feststellung, daß sein Ansatz rein hermeneutisch orientiert sei. Weder gehe es ihm um eine Repristinierung scholastischer Erkenntnismetaphysik noch um eine Neuauflage ihrer säkularisierten Gestalt, wie sie in der dialektischen Vermittlung von Endlichkeit und Unendlichkeit im spekulativen Idealismus Hegels ihre höchste Ausformung gefunden habe. Ziel seines Philosophierens sei es vielmehr, »in aller Welterkenntnis und Weltorientierung […] das Moment des Verstehens herauszuarbeiten.«42 Nun ist aber gerade das in der Begegnung mit den Dingen sich ereignende Verstehen ein durch und durch sprachlicher Vorgang. Denn den Dingen verstehend gegenübertreten kann der Mensch nur, wo sie sich in eine sprachliche Physiognomie hüllen – wie ja auch umgekehrt gilt: Wo man den Dingen verstehend begegnet, da kommt eine ihnen eigentümliche Sprachartigkeit an den Tag, die nicht als vom Menschen hervorgebrachte, sondern als den Dingen innewohnende erscheint.43 Es ist diese natürliche Sprachartigkeit der Dinge, 39 40

41

42

43

Ebd. 394. Alle Zitate Hans-Georg GADAMER: Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge [1969], in: GW II, Tübingen: Mohr-Siebeck (1986) 66–76, hier 71, 72. Aristoteles: De anima III, 431b. 21 [Ed. W.D. Ross]: e∏pwmen p£lin Óti ¹ yuc¾ t¦ Ônta pèj œsti p£nta. Der Satz wird von Thomas kommentiert (In De Anima III, lib. 13) und im folgenden immer wieder angeführt: STh I, q. 14 art. 1 resp.; q. 80 art. 1 resp.; q. 84 art. 2 ad 2; ScG I, 44; II, 47 u.ö. Hans-Georg GADAMER: Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer [1975], in: GW II, (Anm. 40) 479–508, hier 496. Eine solche den Dingen innewohnende Sprachartigkeit wird man sich folgendermaßen vorzustellen haben: Ein Gegenstand läßt sich immer nur dann bedenken, wenn er seinerseits zu denken gibt, d.h. wenn er sich durch eine der menschlichen Besonnenheit korrespondierende Sprachartigkeit auszeichnet, die ihn in den Stand einer wie auch immer gearteten Sphäre des Bedeutens versetzt. Wenn auch eine

Theologie als Lesekunst

239

die mit der sprachlichen Weltwahrnehmung des Menschen aufs engste korrespondiert. Deshalb kann Gadamer an anderer Stelle auch sagen, daß die »›Selbstgebung‹« der Dinge »dem metaphorischen Charakter der Sprache entspringt.« Im geglückten, treffenden Wort liege »eine ästhetische Qualität«, die dem Menschen die Welt erschließe. Das Ästhetische sei freilich wesentlich mehr als eine bloße Dreingabe zur Philosophie; es habe einen spezifisch rationalen bzw. »logisch[en]« Charakter, weswegen gilt: Im Zusammenspiel, das sich zwischen der »›Sprache der Dinge‹« und dem »metaphorischen Charakter« menschlicher Sprache immer schon ereignet, liegt ein wesentliches, d.h. philosophisches »Erkenntnismoment« beschlossen.44 Nach Gadamer liegt die »innere Zusammengehörigkeit von Wort und Ding«45 darin begründet, daß die Sprache »überhaupt kein Instrument, kein Werkzeug« ist, dessen wir uns zum Zweck dieser oder jener Aussage bedienen und das wir aus der Hand legen, wenn es seinen Dienst getan hat.46 Der Vergleich des Gebrauchs der Sprache mit dem eines Werkzeugs »ist deshalb falsch, weil wir […] niemals […] in einem gleichsam sprachlosen Zustand nach dem Werkzeug der Verständigung greifen. Wir sind vielmehr in allem Wissen von uns selbst und allem Wissen von der Welt immer schon von der Sprache umgriffen«. »Sprechen lernen heißt [deshalb] nicht: zur Bezeichnung der uns vertrauten und bekannten Welt in den Gebrauch eines schon vorhandenen Werkzeuges eingeführt werden, sondern […:] die Vertrautheit und Erkenntnis der Welt selbst, und wie sie

44

45

46

solche Sphäre weder etwas eindeutig Objektives ist (etwa eine zum jeweiligen Ding gehörige Eigenschaft) noch etwas eindeutig Subjektives (etwa eine bloße Projektion seitens des Betrachters), so ist sie gleichwohl nichts Unwirkliches – im Gegenteil: Die sprachliche Physiognomie der Dinge zielt auf einen »Zwischenbereich«, den man als Wechselwirkung zwischen dem Rezipienten und dem Rezipiendum bezeichnen könnte. Als Bedingung der Möglichkeit, sich den Dingen nach-sinnend nähern zu können, muß man diese Wechselwirkung dann als eine Art auratischen Aufschein eines Sinns im Sinnlichen begreifen: Die Dinge erwidern den Blick und umhüllen sich mit der Aura einer sprachlichen Vertrautheit, die sich als Annäherung, vielleicht gar als Korrespondenz von Sich-Zeigen und Wahrnehmen, Vernehmen und Deuten, Entdecken und Auffinden zu erkennen gibt. – Zum Begriff der »Korrespondenz« bei Baudelaire s.o. Anm. 32; zu den ästhesiologischen Begriffen »Sphäre« und »Aura« s. Gernot BÖHME: Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik, in: Ders.: Atmosphäre, Frankfurt a.M.: Fischer (1995) 21–48, bes. 31–34; Marleen STOESSEL: Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München/Wien: Hanser (1983). Alle Zitate Hans-Georg GADAMER: Nachwort zur 3. Auflage [1972], in: GW II, (Anm. 40) 449–478, hier 462. Hans-Georg GADAMER: Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: GW II, (Anm. 40) 73. Hans-Georg GADAMER: Mensch und Sprache [1966], in: GW II, (Anm. 40) 146–154, hier 148f.

240

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

uns begegnet, erwerben.«47 Heideggers berühmtes Diktum: »die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch«48, ist für Gadamer denn auch der einzig angemessene Ausdruck, um die hier ins Auge gefaßten Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen.49 Was für die Sprache gilt, gilt in analoger Weise für die Welt der Dinge. Wie die Sprache kein Werkzeug ist, das man aus der Hand legen könnte, wenn es seinen Dienst getan hat, so sind auch die Dinge nicht tote Materie – abstraktes, stumpfes Material, das herumliegt und dessen einziger Nutzen es ist, dem Menschen dienlich zu sein als Baustoff für sein fabrizierendes Handeln. Vielmehr gilt auch hier: Wir sind in der Welt der Dinge immer schon ebenso zu Hause wie in der Welt der Sprache50 – wobei Welt der Dinge und Welt der Sprache nicht voneinander zu trennen sind. Es ist diese unhintergehbare Korrelation von Sprache und Welt, Wort und Ding, die verhindert, die Erfahrung der Dinge einzuschränken auf die Erfahrung der sogenannten Erfahrungswissenschaften. Denn im geglückten, treffenden Wort erschließt sich uns das Ding gerade nicht als ein »objektiv« reduzierbares Faktum, sondern als ein Seiendes, dessen vorgegebener »›Eigenrhythmus‹« dem »›Eigenrhythmus‹« der Sprache korrespondiert. Umgekehrt erweist sich im geglückten, treffenden Wort auch der menschliche Geist nicht als ein »subjektiv« arbeitendes Instrument, sondern wiederum als ein Seiendes, dessen vorgegebener »›Eigenrhythmus‹« dem »›Eigenrhythmus‹« der Dinge korrespondiert.51 Unsere Sprache wird allein dadurch »sprechend«, daß in ihr die Bedeutsamkeit der Dinge, die »wie eine Sprache«52 ist, vernehmbar wird – weshalb Gadamer sich zu folgendem Resumée berechtigt sieht: »Das Verständigtsein über die Dinge, das sich in der Sprache vollzieht, besagt als solches weder einen Vorrang der Dinge noch einen Vorrang des menschlichen Geistes, der sich des sprachlichen Verständigungsmittels bedient. Vielmehr ist die Entsprechung, die in der sprachlichen Welterfahrung ihre Konkretion findet, als solche das schlechthin Vor47 48

49

50 51

52

Ebd. 149 (Markierung J.N.). Martin HEIDEGGER: Brief über den ›Humanismus‹ [1946], in: GA I/9: Wegmarken [1919–1961], Frankfurt a.M.: Klostermann (1976) 313. Vgl. auch DERS.: Das Wesen der Sprache [1957/58], in: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart: Neske (101993) 157– 216, hier 166: »Das Sein von jeglichem, was ist, wohnt im Wort. Daher gilt der Satz: Die Sprache ist das Haus des Seins.« Vgl. Hans-Georg GADAMER: Heidegger und die Sprache [1990], in: GW X, Tübingen: Mohr-Siebeck (1995) 14–30, bes. 25–29. Vgl. Hans-Georg GADAMER: Mensch und Sprache, in: GW II, (Anm. 40) 149. Hans-Georg GADAMER: Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: GW II, (Anm. 40) 74f. Gadamer übernimmt die Rede vom »Eigenrhythmus der Phänomene« von Richard Hönigswald: Vom Problem des Rhythmus, Leipzig [1926]. Ebd. 68.

Theologie als Lesekunst

241

gängige.«53 Die Würde der Dinge ist denn auch vom Präjudiz eines absolut gesetzten Objektivitätsideals (das streng genommen ja nichts anderes ist als die »Monomanie der absolut gesetzten Subjektivität«54) freizuhalten. Vielmehr gilt: Gerade aufgrund der allem subjektiven Meinen »vorgängigen Eingespieltheit des Seienden in spracherschlossene Welt«55 wird der Mensch im geglückten, treffenden Wort einer den Dingen eigenen Würde gewahr – einer Würde, die »sich geltend macht«56 als etwas, das »gehört werden will«57 und das man deswegen »zu respektieren hat.«58 Hält man sich dies alles vor Augen, dann ist mit Händen zu greifen, wie sehr Gadamer sich darum bemüht, die Einsichten der theologischen Tradition nach dem Ende der theologischen Tradition von der Sprachphilosophie her einzuholen – und sie dadurch zu retten. Wo der Eigenrhythmus der Dinge dem Eigenrhythmus der Sprache entspricht, herrscht Analogie. Aristoteles hat die Analogie unter die vier Arten der Metapher eingereiht59 und ihr einen Vorzug gegenüber allen anderen zugesprochen.60 Ist die Analogie die gelungenste Form der Metapher, dann ergibt sich als Schlußfolgerung zweierlei: Nicht nur gilt für die Sprache insgesamt, daß ihr innerster Kern im geglückten, treffenden Wort, d.h. in der Analogie von Wort und Welt liegt61; vielmehr scheint es sich so zu verhalten, daß im geglückten, treffenden Wort mehr zur Sprache kommt, als intentionale Sprache zu sagen vermag. Was vermag intentionale Sprache aus eigenen Kräften niemals ins Werk zu setzen? Niemals ins Werk zu setzen vermag sie aus eigenen Kräften jenes primäre Phänomen, welches man gemeinhin als »Offenbarung« bezeichnet: daß Sprache und 53 54

55

56 57 58 59

60

61

Ebd. 74. Fridolin STIER: Vielleicht ist irgendwo Tag, (Anm. 29) 126: »Die Vergötzung der absoluten Objektivität ist in Wirklichkeit nichts anderes als die Monomanie der absolut gesetzten Subjektivität.« Hans-Georg GADAMER: Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: GW II, (Anm. 40) 76. Ebd. 68 (Kursivierung J.N.). Ebd. 76. Ebd. 68. Poet. (21. Buch) 1457b. 6ff.: Metafor¦ d◊ œstin ÑnÒmatoj ¢llotr∂ou œpifor¦ À ¢pÕ toà g◊nouj œpπ eἶdoj, À ¢pÕ toà e∏douj œpπ tÕ g◊noj, À ¢pÕ toà e∏douj œpπ eἶdoj, À kat¦ tÕ ¢n£logon. Rhet. G 1411a. 1f.: tîn de metaforîn tett£rwn oÙsîn eÙdokimoàsi m£lista a≤ kat' ¢nalog∂an […]. Vgl. auch Platon, Tim 31c: Die Analogie des Seins ist das schönste aller Bänder zwischen dem jeweils immer wieder anders Seienden: Desmîn dὲ k£llistoj Öj ¨n aØtÕn kaπ t¦ sundoÚmena Óti m£lista Ÿn toiÍ, toàto dὲ p◊fuken ¢nalog∂a k£llista ¢potele√n. Vgl. Hans-Georg GADAMER: Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, in: GW VIII, Tübingen (1993) 70–79, hier 75ff.; DERS.: Von der Wahrheit des Wortes, in: ebd. 37–57, hier 38f., 40, 50, 54f.

242

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

Dinge, Wort und Sein sich auf glückliche Weise ineinander fügen und dadurch sowohl an den Tag kommt, was die Welt im Innersten zusammenhält (¢rcˇ), als auch erahnbar wird, worauf die Welt als Ganze angelegt sein könnte (t◊loj). »Offenbarung« als wirklichkeitserhellendes Sprachereignis ist demnach immer zugleich möglichkeitsweckendes Sprachereignis.62 Wie aber hat man sich den Weg zu solch einem Sprachereignis vorzustellen? Folgt man Gadamer, dann ist die via regia hin zum Epiphanen der Sprache dort beschritten, wo man einmal begonnen hat, in der lebendigen Metaphorizität menschlicher Sprache die »›Sprache der Dinge‹« zu hören – eine »›Sprache‹«, die sowohl der »Subjektivität« des Meinens als auch der »Objektivität« der Fakten vorausliegt und immer dort vernehmbar wird, wo Seele und Welt einander aufgetan sind und sich »einschwingen« in den Rhythmus ihrer »vorgängigen Eingespieltheit«.63 Nichts geringeres wird hier behauptet, als daß in der Sprachlichkeit menschlicher Welterfahrung ein Potential verborgen liegt, das auf die Möglichkeit einer »Vermittlung von Endlichem und Unendlichem« verweist – einer Vermittlung, »die uns als endlichen Wesen angemessen ist.«64 Für Gadamer besteht denn auch die primäre Aufgabe des Theologen (wie eines jeden Menschen, der sich um die Erfahrung kohärenter Sinnzusammenhänge bemüht) darin, hinzumerken auf jenes unabschließbare Potential metaphorischer Welterfahrung, wie es uns nicht nur in der Begegnung mit den Dingen, sondern überhaupt in den vielfältigen Ausdrucksgestalten von Kunst und Musik, Dichtung und Mythos, Gesang und Gebet entgegenkommt. Denn wo anders als hier wäre es denkbar, daß die faktische Welt der Dinge sich uns aufschließt als ein durch und durch lesbarer, d.h. kohärenter – Erfahrungszusammenhang?! 3. THEOLOGIE ALS LESEKUNST – METAPHOROLOGISCH Mit Hilfe der Überlegungen sowohl der ästhetischen Phänomenologie (von der Erfahrung der lebendigen Dinge her betrieben) als auch der hermeneutischen Ontologie (von der Erfahrung der lebendigen Sprache her betrieben) ist das Terrain bereitet, um uns in einem dritten und letzten Schritt nun endlich auch der Leseerfahrung explizit literaler Textwelten zuzuwenden – und damit dem Phänomen der dichterischen Metapher. Denn diese besitzt ontologische Dignität ja einzig unter der Voraussetzung, daß die Wirklichkeit nicht ein 62

63

64

Vgl. Paul RICŒUR: Herméneutique de l’idée de la Révélation, in: Ders. u.a.: La Révélation (Publications des Facultés universitaires Saint-Louis 7), Brüssel (1977) 15–54. Hans-Georg GADAMER: Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, (Anm. 40) 75, 76. Ebd. 76.

Theologie als Lesekunst

243

restlos abgedichtetes Seinskontinuum darstellt65, sondern Worte und Dinge sich in Korrelation aufeinander zu bewegen. (Nur so wird ja auch »Offenbarung« als Phänomen überhaupt erst denkbar.) Wenn die Phänomenologie Recht hat mit der Behauptung, daß der geglückte Einklang von Sprache und Ding, Wort und Sein den Urfall menschlicher Welt- und Selbsterfahrung darstellt, so ist nun abschließend zu prüfen, unter welchen Bedingungen sich ein solcher Urfall im Vollzug des Lesens konkreter Texte einstellen kann – inwiefern also die Lektüre von Gedicht und Novelle, Roman und Tragödie, Mythos und Parabel (und damit auch die Lektüre biblischer Texte) aufgrund der ihnen innewohnenden metaphorischen Referenz möglichkeitserschließende und insofern wirklichkeitsverändernde Kräfte freisetzt – inwiefern sich im Vollzug der Lektüre das, was wir »Wirklichkeit« nennen, auf neue, ungeahnte Weise zu lesen gibt. Zur Beantwortung dieser überaus komplexen Frage ist zunächst zu klären, worin genau der Wirklichkeitsbezug von Texten besteht, die als dichterisch zu bezeichnen sind. Einige Bemerkungen von Paul Ricœur können uns hier weiterhelfen. Gegenüber einem weitverbreiteten Vorurteil, daß dichterische Texte aufgrund ihrer Fiktionalität im Grunde nur subjektiven Wert haben und deshalb (anders als naturwissenschaftliche oder soziologische Texte) für eine objektive Kenntnis der Welt irrelevant sind, weist Ricœur entschieden darauf hin, daß auch der poetischen Sprache eine Referentialität zukomme, und zwar eine solche »zweiten Grades«66; diese bestehe darin, »Weisen unseres Weltbezugs«67 zu formulieren. Ricœur hält es für ein grobes Mißverständnis, die Welt der Dichtung auf die Welt der Gefühle und Leidenschaften, d.h. auf den sozusagen »subjektiven« Aspekt der Wirklichkeit beschränken zu wollen. Ähnlich wie Georg Picht und die phänomenologische Anthropologie ist Ricœur der Überzeugung, daß »schon die Basisemotionen Angst, Zorn, Freude, Trauer […] ebensosehr Erscheinungsweisen der Dinge [aus]drücken wie Weisen unseres Verhaltens zu ihnen. Mit wieviel stärkerem Recht werfen uns dann Empfindungen und Stimmungen, die durch die dichterische Sprache ausgedrückt, geformt und gebildet 65

66 67

Vgl. Eberhard JÜNGEL: Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, in: Ders.: Unterwegs zur Sache. Theologische Erörterungen I, München: Kaiser (1972) 206–233. Paul RICŒUR: Die lebendige Metapher, München: Fink (1985) 215f., 224ff. Paul RICŒUR: Nommer Dieu [1977], in: Ders.: Lectures III. Aux frontières de la philosophie (Hg. Olivier Mongin), Paris: Seuil (1994) 281–305. Ich zitiere diesen überaus wichtigen Text in der Regel nach der Übersetzung von Ludwig Wenzler: Gott nennen, in: Bernhard Casper (Hg.): Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, München: Alber (1981) 45–79, schlage jedoch bisweilen eine eigene Übersetzung vor. Hier: ebd. (frz.) 288 / (dt.) 55.

244

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

werden, mitten in die Dinge.«68 In Absetzung von den Prätentionen idealistischer Selbstsetzung wird Ricœur denn auch nicht müde, darauf hinzuweisen, daß der Mensch einzig über die vielgestaltigen Ausdrucksformen von Sprache und Kultur in die Lage versetzt werde, sich als Subjekt wahrzunehmen. Wo aber finden die Selbstentwürfe menschlicher Kultur eindringlichere Gestalt als in der Literatur?! »Was wüßten wir von der Liebe, vom Haß, von den ethischen Gefühlen, von dem, was wir ein Selbst nennen, wenn es uns nicht über die Sprache vermittelt und durch die Literatur vorformuliert worden wäre?!«69 Am Beispiel der großen Menschheitsmythen werden diese Zusammenhänge evident: Indem die griechische Tragödie die Geschichte von König Ödipus erfindet und die biblische Urgeschichte die Erzählung von Kain und Abel, entdeckt sich der Mensch als ein ödipales Wesen und sein Dasein als ein kainitisches. »Die Fiktion wird zu einem Detektor der Wirklichkeit.«70 »Wir alle sind, was wir gelesen!« – mit diesem sprichwörtlich gewordenen Buchtitel71 ist die Referentialität poetischer Texte präzise umrissen. Gerade Dich68

69

70

71

Alle Zitate ebd. (frz.) 288 / (dt.) 55. Vgl. Paul RICŒUR: Die lebendige Metapher, (Anm. 66) 224. Paul RICŒUR: La fonction herméneutique de la distanciation, in: Ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris: Seuil (1986) 101–117, hier 116: »Contrairement à la tradition du Cogito et à la prétention du sujet de se connaître lui-même par intuition immédiate, il faut dire que nous ne nous comprenons que par le grand détour des signes d’humanité déposés dans les œuvres de culture. Que saurions-nous de l’amour et de la haine, des sentiments éthiques et, en général, de tout ce que nous appelons le soi, si cela n’avait été porté au langage et articulé par la littérature?« (Dt. Übersetzung: J.N.) – Zur Theorie narrativer Konstitution dessen, was wir ein »Selbst« nennen, vgl. Paul RICŒUR: Das Selbst als ein Anderer, München: Fink (1996) 141–206. »Dans le cas de la tragédie, c’est en créant la fable d’Œdipe que l’homme se connaît œdipien. La fiction est le détecteur du réel.« (Paul RICŒUR: Herméneutique, Cours professé à l’Institut Supérieur de Philosophie 1970–71 [von Ricœur autorisiertes Typoskript der Éditions du SIC], Louvain-la-Neuve [o.J.] 165. Dt. Übersetzung: J.N.) Golo MANN: Wir alle sind, was wir gelesen. Aufsätze und Reden zur Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer (1989). – Der Titel ist dem Freiherrn von Eichendorff entlehnt, der in seinem Bilderbuch aus meiner Jugend [1843–1854] schreibt: Wer wär nicht einst auch Robinson gewesen In uns’rer gedruckten Bücher-Zeit, Wir alle sind, was wir gelesen, Und das ist unser größtes Leid.

Zitiert nach Sämtliche Werke (Historisch-Kritische Ausgabe), begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, Tübingen: Max Niemeyer, Bd. V/4: Erzählungen dritter Teil. Autobiographische Fragmente Text und Kommentar, hg. von Dietmar Kunisch (1998) 66. – Offen bleibt, ob die Tatsache, daß unsere Lektüren entscheidenden Einfluß auf unser Welt- und Selbstempfinden ausüben, Anlaß zu »größtem Leid« sein muß oder nicht auch Anlaß zu größter Freude sein kann.

Theologie als Lesekunst

245

tung und Literatur, aber auch bildende Kunst, Theater und Musik, die einem weitverbreiteten Vorurteil zufolge für eine objektive Kenntnis der Welt von keinerlei Nutzen sein sollen, sind »das Medium, innerhalb dessen wir uns als Subjekte begreifen können.«72 Die Einsicht, daß wir nicht in idealistischer Autonomie über unser Selbst verfügen, sondern immer nur auf dem Wege sind, uns über die Vermittlungsinstanzen von Sprache und Kultur als Subjekte zu erbilden, verdeutlicht Ricœur an der Art und Weise, wie sich dem Leser durch die Lektüre eines Textes eine Welt eröffnet: »Was es letzten Endes an einem Text zu interpretieren gibt, ist ein An ge bot von W el t, einer Welt, wie ich sie bewohnen kann, um in ihr eine meiner mir eigensten Möglichkeiten zu entwerfen.«73 Indem der Leser Eintritt nimmt in die Welt, die ein Text ihm eröffnet, verwandelt diese die seine: »Als Leser vermag ich mich nur zu finden, indem ich mich am Text verliere. Die Lektüre führt mich hinein in imaginative Spielarten des Ich. Die Metamorphose der Welt, wie der Text sie vollzieht, vollzieht zugleich eine spielerische Metamorphose meiner selbst.«74 Was hier in spröder Begrifflichkeit verhandelt wird, läßt sich am Beispiel konkreter Leseerfahrungen unmittelbar einsichtig machen: Augustinus liest im entscheidenden Augenblick seines Lebens Paulus75; Petrarca76, Luther und Theresa von Avila77 lesen Augustinus; Edith Stein liest Theresa von Avila.78 Abaelard und Heloïse versetzen 72

73

74

75 76

77

78

Paul RICŒUR: La fonction herméneutique de la distanciation, (Anm. 69) 116: »Ce qui paraît ainsi le plus contraire à la subjectivité, et que l’analyse structurale fait apparaître comme la texture même du texte, est le medium même dans lequel seul nous pouvons nous comprendre.« (Dt. Übersetzung: J.N.) Ebd. 115: »Ce qui est en effet à interpréter dans un texte, c’est une proposition de monde, d’un monde tel que je puisse l’habiter pour y projeter un de mes possibles les plus propres.« (Dt. Übersetzung: J.N.) Ebd. 117: »Lecteur, je ne me trouve qu’en me perdant. La lecture m’introduit dans les variations imaginatives de l’ego. La métamorphose du monde, selon le jeu, est aussi la métamorphose ludique de l’ego.« (Dt. Übersetzung: J.N.) Conf. VII, 21, 27 zusammen mit VIII, 12, 29f. Brief an Diogini da Borgo San Sepolcro, in: Familiarum Rerum Libri IV, 1 (Ed. Naz. d. op. di Fr. Petrarca X), Florenz (1933) 153–161; in dt. Übersetzung leicht zugänglich in Francesco PETRARCA: Die Besteigung des Mont Ventoux, lat./dt., hg. und übers. von Kurt Steinmann, Stuttgart: Philipp Reclam Universal-Bibliothek 887 (1995) 23f. »Als ich nun die Bekenntnisse des heil. Augustin zu lesen anfieng, kam es mir nicht anders vor, als sähe ich mich selbst darin geschildert […].« (Das Leben der heiligen Theresia von Jesu. Von der Heiligen selbst auf Befehl ihres Beichtvaters beschrieben [IX, 7], in: Die sämmtlichen Werke der heiligen Theresia von Jesu, hg. von Gallus Schwab, Bd. I, Sulzbach: J.E.v.Seidel’sche Verlagsbuchhandlung [1831] 72–75, hier 73.) »Edith liest in Theresias Biographie atemlos ihr eigenes Schicksal.« (Sr. Teresia a Matre Dei et Ss. Vultu: Edith Stein. Auf der Suche nach Gott, Kevelaer: Butzon & Bercker [1963] 59.) Edith Steins Selbstbeschreibung im Blick auf ihre Theresia-

246

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

sich durch das gemeinsame Lesen von philosophischen Büchern, Don Quichotte durch die Lektüre von Ritterromanen in Glut. Werther liest Klopstock, Wittgenstein liest Tolstoj, Canetti liest Büchner79 – und jedes Mal verändern sich nicht nur Art und Weise, Leben und Welt zu sehen; sondern die Substanz, die Bedeutung und Sinnrichtung einer ganzen Existenz scheinen mit einem Mal von innen her berührt, verändert, ja geradezu umgestülpt.80 Was für die Magie des Lesens im allgemeinen gilt, gilt im besonderen Maße für den konkreten Fall der Rezeption der Gleichnisreden Jesu, ja für die Rezeption der neutestamentlichen Bildworte insgesamt.81 Denn es ist ein Irrtum, zu glauben, in diesen kunstvollen Miniaturen werde ein Gedanke nur farbiger ausgeschmückt, im Grunde aber sei der Zusammenhang auch ohne die Metaphern zu haben. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wo der Leser einmal begonnen hat, sich in die Welt der jesuanischen Gleichnisse hineinzulesen, ja sich in sie einzukörpern, da widerfährt ihm mehr als bildliche Belehrung – da verwandelt sich ihm die Welt in ein unerschöpfliches Kaleidoskop aufeinander verweisender Heilsbezüge. Die Gleichnisse vom Schatz im Acker, vom Senfkorn und vom Sauerteig, die Bildworte von Bräutigam, Hochzeitsmahl und Osterlamm werden zu sprachlichen Ikonen, in welchen die opake Wirklichkeit durchsichtig wird – aber nicht auf eine vermeintlich »dahinter« liegende Wirklichkeit, sondern auf eine Unzahl unabgegoltener Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und zu deuten. Genau hierin liegt ja sowohl das theologisch Bedeutsame als auch das hermeneutisch Faszinierende der neutestamentlichen Heilsmetaphorik: Im

79

80

81

Lektüre findet sich in: Edith Stein. Aus meinem Leben (mit einem Nachtrag ›Die zweite Lebenshälfte‹ von M. Amata Neyer), Freiburg i.Br.: Herder (1987) 76 (= PaperbackSonderausgabe von Bd. VIII der Werke Edith Steins: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Das Leben Edith Steins: Kindheit und Jugend, hg. von Lucie Gelber und Romaeus Leuven). Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937, München/Wien: Hanser (1985) 9–25. Vgl. auch Rede zur Verleihung des Büchner-Preises, in: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt a.M.: Fischer (1982) 229–240. Vgl. Elmar SALMANN: Tradition als Nachlese. Eine theologische Phänomenologie der Lektüre, in: Patrimonium Fidei. Traditionsgeschichtliches Verstehen am Ende? (FS Magnus Löhrer und Pius-Ramon Tragan), hg. von Marinella Perroni und Elmar Salmann, StAns 124, Rom: Benedictina Edizioni Abbatia S. Paolo (1997) 159– 184. – Ein eindringliches Beispiel lebensverändernder Lektüre findet sich bei Peter HANDKE: Wunschloses Unglück, Salzburg: Residenz-Verlag (1972), wo der Autor das Leben seiner illiteraten Mutter beschreibt, die durch die Entdeckung der Welt der Bücher in ein neues Leben gestoßen wird – um dann zu entdecken, daß sie ihr eigenes Leben längst verpaßt hat. Für das Folgende vgl. Hans WEDER: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditionsund redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (41990).

Theologie als Lesekunst

247

unabschließbaren Wechselspiel von reflektierender Produktion und imaginierender Rezeption wird die Wirklichkeit durchsichtig auf jenen Gott, von welchem die neutestamentlichen Texte erzählen.82 Ohne daß wir uns dessen versehen hätten, ist hier die mythische Rede vom liber mundi wieder in ihr Recht gesetzt – nun aber vom neutestamentlichen Offenbarungsgeschehen her purgiert, validiert und konkretisiert, denn mit der Aneignung der neutestamentlichen Texte wird ein Prozeß in Gang gesetzt, aus dem die Welt verändert hervorgeht.83 In der Tat scheint es ja so zu sein, daß nicht nur wir die Texte lesen; die Texte lesen auch uns, stellen uns in Frage, verändern unseren Blick auf die Welt und damit auf uns selber84, und erst in diesem wechselseitigen Spiel von imaginierender Rezeption der neutestamentlichen Bildworte und der in ihr sich vollziehenden schöpferischen Refiguration von Wirklichkeit kommt der »eigentliche«, d.h. der dem Text eignende Sinn85 an den Tag. Man sieht hieran 82

83

84

85

Günter BADER hat diesen Lesevorgang in aufregender Weise an jenen neutestamentlichen Metaphern durchgeführt, die die Heilsbedeutung des Todes Jesu ins Wort bringen: Symbolik des Todes Jesu, HUTh 25, Tübingen: Mohr-Siebeck (1988). Vgl. hierzu neben Hans ZIRKER: Die Freiheit des Lesers, in: Hans-Günter Heimbrock (Hg.): Spiel-Räume. Kreativität im Horizont des christlichen Glaubens, NeukirchenVluyn: Neukirchner Verlag (1983) 34–45, vor allem die grundlegende Arbeit von Mirja KUTZER: In Wahrheit erfunden. Dichtung als Ort theologischer Erkenntnis, ratio fidei 30, Regensburg: Pustet (2006). Vgl. Odo MARQUARD: Schwacher Trost, in: Manfred Fuhrmann (Hg.): Text und Applikation [Poetik und Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe IX], München: Fink (1981) 117–123, hier 122: »Das – meine ich – geschieht in der literarischen Hermeneutik häufig: ich – als Subjekt, als Norm – interpretiere einen Text – als Objekt, als Fall […]; als Subjekt der Interpretation suche ich interpretierend sozusagen einen Kram, in den dieser Text – als Objekt dieser Interpretation – paßt; aber indem ich interpretiere, wird peu à peu der interpretierte Text – das scheinbare Objekt und der scheinbare Fall – zum Kram, in den ich – das scheinbare Subjekt und die scheinbare Norm – passe: ich interpretiere den Text, aber in Wirklichkeit interpretiert der Text mich.« Vgl. die ähnliche Formulierung von Everett FERGUSON im Blick auf die Entstehung der christologischen Heilsmetaphorik in der Zeit des ersten und zweiten Jahrhunderts nach Christus: »A blending and transformation of conceptions – pagan, philosophical, Jewish, and Christian – created a new complex of ideas. We not only use words, but words use us.« (Spiritual Sacrifice in Early Christianity and its Environment, in: ANRW II/23.2 [1980] 1151–1189, hier 1189.) Die Rede von einem »eigentlichen«, gar »dem« eigentlichen Sinn eines biblischen Textes ist natürlich heikel. Wenn ich mich ihrer dennoch bediene, so um auf folgendes Phänomen hinzuweisen: Der dem Text eignende Sinn zielt nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich auf »die Welt hinter dem Text«, d.h. auf eine vom Autor so und nicht anders gemeinte Intention. Vielmehr beginnt der dem Text eignende Sinn erst dort zu sprechen, wo er im Vollzug der Rezeption Eingang nimmt in »die Welt vor dem Text«, d.h. in die Welt des Lesers. Es geht mithin um ein Verstehen des Textes, aus welchem der Leser verändert hervorgeht, und dafür sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer ein Text rezipiert wird, mindestens

248

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

deutlich, daß poetische Texte eben nicht in sich abgeschlossene fiktionale Welten darstellen, sondern als Weltentwürfe in die reale ebenso wichtig wie die Rahmenbedingungen, unter denen er entstanden ist. Die Lebenszusammenhänge des Lesers (»Welt vor dem Text«) werden vom Text freilich erst dort tangiert, wo der Leser Eintritt genommen hat in die »Welt des Textes« selbst (»monde du texte«), um in sie hinein »eine meiner mir eigensten Möglichkeiten zu entwerfen« (Ricœur, s.o. Anm. 73). Die patristische und mittelalterliche Tradition des vierfachen Schriftsinns hatte für diese Art von Textrezeption ein sensibles Gespür – der sog. »canonical approach« in der zeitgenössischen Exegese macht sich deren Einsichten zunutze. So heißt es bei Gregor dem Großen: »Die Schrift wächst mit denen, die sie lesen« (»Verba sacrae eloquii […] iuxta sensum legentium per intellectum crescunt« [In Ez. hom. I, 7 ‹PL 76, 844›]; »Dicta sacri eloquii cum legentium spiritu excrescunt« ‹ebd. 846›), und Thomas von Aquin weist darauf hin, daß ein biblischer Text weitaus mehr als nur eine Literalbedeutung haben kann, denn Letztautor des biblischen Textes ist der Hl. Geist, der als einziger die Tiefen Gottes und der Welt ergründet und deshalb nicht nur verschiedene Literalbedeutungen in ein und derselben Textpassage niederlegen, sondern darüber hinaus jeder Zeit den ihr angemessenen Sinn jener Textpassage erschließen kann. (Vgl. STh I q. 1, art. 10 resp.: »Quia vero sensus litteralis est quem auctor intendit, auctor autem sacrae Scripturae Deus est, qui omnia simul suo intellectu comprehendit: Non est inconveniens, ut dicit Augustinus […], si etiam secundum litteralem sensum in una littera Scripturae plures sint sensus.« Ferner Quodl. VII q. 6, art. 1–3; Sent., lib. 4 d. 21 q. 1 a. 2 qc. 1 ad 3.) Henri DE LUBAC nimmt diese Maximen auf, indem er (ähnlich übrigens wie Ricœur) die Metapher von der Schrift als Welt verwendet und damit eine Brücke schlägt von der Hermeneutik der Väter und des Mittelalters zur modernen biblisch-theologischen Hermeneutik: »Man darf sich den heiligen Text nicht so vorstellen, als trüge er einfach ganze Serien von schon geprägten Bedeutungen in sich, die man dann mehr oder weniger bloß aufdecken müßte. Vielmehr teilt ihm der Geist eine grenzenlose innere Kraft mit: und so birgt er unbegrenzt mögliche Grade an Tiefe. Ebenso wenig wie die Welt ist auch die Schrift, diese andere Welt, ein für alle mal geschaffen: der Geist ›erschafft‹ sie noch immer, sozusagen täglich, und zwar in dem Maße, als er sie ›erschließt‹.« (Typologie, Allegorese, Geistiger Sinn, Einsiedeln: Johannes [1999] 251f.) Wenn nach dem Wort Gregors »die Worte der heiligen Schrift zusammen mit dem Geist des Lesenden wachsen«, so bedeutet dies nichts Geringeres, als daß in der aktiven Lektüre der Sinn des Textes immer wieder neu erschaffen wird. Verhält sich dies so, dann ist der Sinn des Textes nicht eine ein für alle Mal feststehende Größe, sondern nach Art eines Horizontes zu begreifen, auf dessen Wahrheit sich der Leser im Vollzug der Lektüre zubewegt. Zu einer sinn(er)schaffenden Erschließung des Textes (»disclosure situation« [I.T. Ramsey]) kommt es dann immer dort, wo sich bei mir, dem Leser, die Erfahrung einstellt, daß der Sinnhorizont des Textes seinerseits sich im Vollzug der Lektüre auf mich zubewegt, der Text also selber es ist, der mich, den interpretierenden Leser, interpretiert. (Vgl. oben Anm. 84.) – Vgl. zum Ganzen Margareta GRUBER: ›Die Schrift wächst mit denen, die sie lesen.‹ Hermeneutisch-reflektierte Biographie einer Exegetin, in: Margit Eckholt/Marianne Heimbach-Steins (Hg.): Im Aufbruch. Frauen erforschen die Zukunft der Theologie, Ostfildern: Schwabenverlag (2003) 51–57; DIES.: Wandern und Wohnen in den Welten des Textes. Das Neue Testament als Heilige Schrift interpretieren, in: SNTU (2004) 41–65; Stephen E. FOWL: The Importance of a Multivoiced Literal Sense of Scripture. The Example of Thomas Aquinas, in: Reading Scripture with the Church. Toward a Hermeneutic for Theological Interpretation, Grand Rapids (Michigan): Baker Academic (2006) 35–50.

Theologie als Lesekunst

249

Welt hineinragen und sie dadurch verändern – im Falle ihrer erfolgreichen Rezeption bisweilen von Grund auf.86 Es gibt einen Text, in welchem die Zusammenhänge, die uns hier vor Augen geraten, meisterhaft ins Wort gebracht sind. Der Text stammt aus der Feder Erhart Kästners, des langjährigen Direktors der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek und Nachfolgers Lessings auf diesem Posten, und die Stringenz, mit der hier sowohl das soteriologische Potential der neutestamentlichen Bildworte als auch das hermeneutische Potential theologischer Lesekunst (samt der ihr zugrunde liegenden ontologischen Referentialität) beschrieben wird, macht es wert, ihn im Wortlaut wiederzugeben: »[…] Bilder sind Fenster, Begriffe aber sind Linsen: man muß sie mit großer Vorsicht anwenden. Wer wird Gott mit Linsen zudringlich anschauen wollen? Warum, warum sonst hätte Christus die Dinge der Welt mit solcher Bildfracht beladen? Jedem Ding zugerufen: auch du bist dabei? Warum sonst wäre dieses Stellvertreten aller geschaffenen Wesen, dieses Sichausleihen, dieses Erhöhen? Das Vergängliche durfte ein Gleichnis des Unvergänglichen sein. Welches Ereignis. Sieht man ein, daß die Erde ein anderes Gesicht hat, je nachdem ob man dies glaubt oder nicht? In den Bildern liegt der Anruf aller Dinge von oben. Am Bild, am Gleichnis hängt alles mit goldenen Strahlenketten zusammen. Die Metapher, das ist die Liebe unter den Dingen, durchs Bildnis ist alles vereint. In der grenzenlosen Bereitschaft, sich stellzuvertreten, liegt die Liebeskraft dieser Welt. Welch ein Ereignis, daß das Lamm den Heiland darstellen darf und der Hirt den Erlöser. Welche Würde, welche Rettbarkeit kommt damit in die Welt. Wenn Gleichnis und Bildwort aus der Mitte der Verkündigung kommt, und es ist so, Säemann, Vater, Königsherrschaft und Himmel: wenn also die Dinge der Welt, und immer andere Dinge, aufgerufen werden, für eine Weile die süße Last der Metapher, die Last eines Heilsvergleiches zu tragen: können sie, wieder entlassen, dann die vorigen sein, die sie waren? Kann der Säemann hinterdrein nichts anderes sein als ein Landwirt und Züchter von Saaten? Stratosphäre der Himmel und der Sauerteig ein Verfahren? Der Vater, jeder einzelne Vater nichts weiter als der Erzeuger von Jungen, das Senfkorn nichts weiter als Semen sinapis, auf Apothekerbüchsen zu lesen? Wenn ein Mal, wie es im Gleichnis von den törich86

Paul RICŒUR hat in seinem dreibändigen Werk Temps et récit [1983–85] die hier in äußerster Verknappung angedeuteten Zusammenhänge im Rahmen einer Theorie der dreifachen Mimesis systematisch entfaltet: pränarrativ strukturierte Erfahrung von Wirklichkeit – mimetische Konfiguration von Wirklichkeit in der Erzählung – refigurierende Weltaneignung im Vollzug der Rezeption der Erzählung. (Dt. Ausgabe: Zeit und Erzählung. Bd. I–III, München: Fink [1988–91].)

250

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken« ten und klugen Jungfrauen ist, der Bräutigam stellvertretend für das Kommen der Kraft stand, für den großen Tag und den katastrophalen Einbruch der Fülle -: kann dann jemals ein Bräutigam weiter nichts sein als ein junger Mann, der im Begriff ist, zum Standesamt und auf die Hochzeitsreise zu gehen? Das ist nicht möglich. Wenn von der Königsherrschaft Gottes die Rede sein kann, sollte auf den König davon kein Licht zurückfallen? Es fällt. Wenn sich die Hand der Metapher auf Haushalter, Bettler, Schuldner und Nachbar gelegt hat, wenn der Brunnen im Gleichnis ein Mal gedient hat, das Wasser des Lebens zu spenden: so sind alle diese Dinge bezogen und es kann nur durch einen Akt der Verleugnung sein, daß sie wieder abfallen. Freilich, man kann auch die Fenster verhängen, sie auch trüb und blind werden lassen, und Viele benutzen sie lang schon als Spiegel und spiegeln sinnlos immer wieder das eine im andern und vor allem sich selber darin. Aber kann dafür das Fenster? Wenn Ernte einmal für Erfüllung dastand und Heilung ein Mal für Heil, wenn die Dinge dieser Welt es denn wirklich aushielten, die Metaphern des Heils zu ertragen und nicht zu zerspringen dabei -: so kann das nicht ohne Folge, so kann das nicht bedeutungslos sein. Durchs Gleichnis muß eine sakramentale Erhöhung auf die gerufenen Dinge ausgehen, auf Weinstock und Rebe, reifende Felder, Hochzeit, Brot, Eckstein, Groschen und Knecht: eine Verwandlung, die in der Verwandlung von Brot und Wein wohl ihren höchsten, aber nicht einsamen Ausdruck besitzt. Denn das Lamm ist die Ikone aller Ikonen.«87

Wenigstens vier Aspekte neutestamentlicher Lesekunst gibt dieser überreiche Text zu bedenken: (1.) Da ist zum einen die Parallelisierung von Metapher und Ikone. Wie die Ikone den Blick des Betrachters sammelt und weiterlenkt auf eine von ihr zwar definitiv unterschiedene, wohl aber in ihr sich meldende Wirklichkeit (Himmel, Christus, Gott), so verweist auch die Metapher auf eine von ihr evozierte Realität, die die Metapher zwar definitiv übersteigt, an der sie aber insofern partizipiert, als sie zu ihr hinleitet.88 87

88

Erhart KÄSTNER: Stundentrommel vom heiligen Berg Athos, Frankfurt a.M.: insel tb (111991) 138ff. Vgl. zum Zusammenhang von Metapher und Ikone auch die wichtigen, theologisch bislang kaum eingeholten Ausführungen von Erhart KÄSTNER: Aufstand der Dinge, (Anm. 29) 289–293; DERS.: Ölberge, Weinberge. Ein Griechenlandbuch, Frankfurt a.M.: insel tb (131991) 229ff. – Kästners platonisierender Ansatz entfaltet seine eigentliche Durchschlagskraft freilich erst dann, wenn man ihn kritisch gegenliest durch

Theologie als Lesekunst

251

(2.) Eine solche Hinleitung wäre aber nicht möglich, wenn die von der Metapher evozierte Realität sich in ihr nicht präsent setzte. Anders formuliert: Die semantische Pertinenz der Metapher würde wirkungslos verpuffen, wenn sie nicht eine ontologische Referenz in sich trüge. Die bildliche Übertragung, welche die Metapher vollzieht (Osterlamm für Christus, Schatz im Acker für das Himmelreich), beschränkt sich denn auch nicht darauf, ein rein innersprachlicher Vorgang zu sein; vielmehr setzen die neutestamentlichen Bildworte eine wirklichkeitsverändernde Kraft immer dort frei, wo es ihnen gelingt, »ein Sehen der Dinge ›als‹«89 zu etablieren. Wo man einmal begonnen hat, im Hirten den Erlöser und im Osterlamm Christus zu sehen – wo man also in den vergänglichen Dingen Bilder des Unvergänglichen erkennt, da ist der Blick auf die Dinge gleichsam umgekippt, da erscheint die Welt in einem anderen, neuen Licht.90

89

90

einen dezidiert antiplatonischen, phänomenologischen Ansatz, wie ihn Jean-Luc MARION vorgelegt hat: Idol und Bild, in: Bernhard Casper (Hg.): Phänomenologie des Idols, Freiburg i.Br.: Alber (1981) 197–132. (Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel L’idole et l’icône als Eingangskapitel von Dieu sans l’Être, Paris: Quadrige/ P.U.F. [21991] 17–37); DERS.: Der Prototyp des Bildes, in: Alex Stock (Hg.): Wozu Bilder im Christentum? Beiträge zur theologischen Kunststheorie, St. Ottilien: EOS (1990) 117–135. (Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel: Le prototype de l’image, communication donné au colloque international Nicée II, tenu au Collège de France, 2–4 octobre 1986, éd. par François Boespflug et Nicolas Lossky, sous le titre: Nicée II, 787–1987. Douze siècles d’images religieuses, Paris [1987], wiederveröffentlicht unter dem Titel Le prototype et l’image als Kap. IV in: La croisée du visible, Paris: P.U.F., [31996] 117–154, jetzt auch in dt. Übersetzung zugänglich in: Die Öffnung des Sichtbaren, Paderborn u.a.: Schöningh [2005] 85–104.) Die lebendige Metapher ermöglicht ein »Sehen-der-Dinge-als« und vermeidet damit zwei gleichermaßen fatale Lesarten: einerseits das naive »es ist« des vorkritischen Ontologismus, anderseits das bloß kritische »als ob« des demythifizierenden Szientismus. Vgl. dazu Paul RICŒUR: Die lebendige Metapher, (Anm. 66) 203–207. Im »Sehen als« verbinden sich Aktivität und Passivität der Erkenntnis in einer Weise, daß diese »halb Denken, halb Erfahrung« ist (ebd. 204). Paul RICŒUR hat die ontologischen Zusammenhänge, die durch die Metapher aufgedeckt werden, folgendermaßen zu beschreiben versucht: Indem die Metapher durch Verletzung der sprachlichen Spielregeln »eine vor-objektive Welt« ins Wort bringt und dadurch dem »Vorprädikativen und Vorkategorialen« einen Raum eröffnet, wird »die Herrschaft des Objekts erschüttert«. Wo im dichterischen Wort »unsere ursprüngliche Zugehörigkeit zur Welt« neu entdeckt wird, da hat dies zur Folge, daß die Wirklichkeit nicht mehr unbesehen mit dem identifiziert werden kann, was der wissenschaftliche Diskurs beschreibt. Damit wird zugleich ein Wahrheitsbegriff fraglich, der mit den Präsumptionen von Verifikation, Falsifikation und Adäquation arbeitet. In einer Kettenreaktion kommt die gesamte Begrifflichkeit ins Schwanken, auf der unsere herkömmliche, auf der Subjekt-Objekt-Spaltung aufbauende Erkenntnistheorie beruht, bspw. die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Entdecken und Erfinden, Subjektivem und Objektivem. (Die lebendige Metapher, [Anm. 66] 288f. Vgl. neben ebd. 224f. auch die folgende Anm. 91.)

252

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

(3.) Diese Beobachtung zieht erhebliche Konsequenzen nach sich, denn sie mutet der Metapher eine nachgerade sakramentale, weltverwandelnde Valenz zu. Ist nämlich das Vergängliche einmal zum Gleichnis des Unvergänglichen geworden, so hat sich unterderhand sein Seinsstatus verändert. Daß im gebrochenen Brot die Hingabe Christi anschaulich wird und im Lamm der Erlöser, läßt das tägliche Brot auf dem Tisch und das Lamm im Stall nicht unberührt. In welcher Form auch immer, partizipieren sie nun am Sein jener Wirklichkeit, die durch sie evoziert wird. Lamm und Brot, Groschen und Knecht, Quelle und Brunnen, Weinstock und Hochzeit: sie alle werden im Kontext der neutestamentlichen Basileia-Verkündigung transparent auf die Wirklichkeit Gottes; sie werden, um eine Formulierung Kästners aufzugreifen, zu »Ikonen« bzw. zu »Fenstern«, durch die das Licht des Ewigen ins Irdische fällt.91 (4.) Damit ist nun aber schließlich auch die soteriologische Valenz der Metapher am Tag. Wo nämlich die Weltdinge transparent werden auf die Wirklichkeit Gottes, da ist eine Bresche geschlagen in die Trübnis des Positivismus, der ein jegliches immer nur in seiner flachen Vorhandenheit zu nehmen weiß. Daß die Dinge auf Gott hin 91

Während den Formulierungen Kästners, Metaphern seien nach Art von »Ikonen« oder »Fenstern« zu verstehen, eher platonisierende Urbild-Abbild-Vorstellungen zugrunde liegen, argumentiert Ricœur ganz aristotelisch. Die ontologische Rechtfertigung für die Behauptung eines die Wirklichkeit verändernden Blicks, den die Metapher freisetzt, findet er denn auch nicht bei Platon, sondern in Anlehnung an die von Aristoteles beschriebene »Polysemie des Seins«: tÕ ×n l◊getai pollacîj. Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt: als Substanz (oÙs∂a), als Akzidens (p£qh oÙs∂aj), als Werdendes (ÐdÕj e≥j oÙs∂an), Vergehendes, Schaffendes oder Erzeugendes (À fqorπ […] À poihtik¦ À gennetik¦ oÙs∂aj), als eines, das in Beziehung zu anderem steht (À tîn prÕj t¾n oÙs∂an legom◊nwn) und als vieles anderes mehr (Met. IV, 2 [1003b. 5–10].) Das aristotelische Postulat einer Polysemie des Seins inauguriert einen dynamischen Blick auf die Wirklichkeit; ein solcher Blick vermag die Dinge anders und reicher, nämlich in der ihnen eigenen Potentialität (dÚnamij) wahrzunehmen, während der objektivierende Diskurs der Naturwissenschaften sich auf die Metakategorie der œn◊rgeia (Akt, Verwirklichung) stützen und den Dingen deshalb eher einlinige Bedeutungen zu- oder absprechen muß. Deshalb ist eine Ontologie, die die dun£meij des Seienden in den Blick nimmt, einer Metapherntheorie, die das Neue, Unabgegoltene der Dinge an den Tag zu bringen sich müht, angemessener als eine platonische Ontologie, die von bestimmten Seinshierarchien ausgeht: »Die Dichtung lehrt uns, das, was wir Realität nennen, keineswegs als ein in sich Geschlossenes zu betrachten, das fix und fertig wäre. Vielmehr gestattet sie uns, die Realität in ihrer Potentialität, d.h. in ihrer dynamischen Dimension zu sehen, die in der Kreativität der sie vermittelnden Sprache ihre Entsprechung hat.« Vgl. Die lebendige Metapher, (Anm. 66) 291 mit Bezug auf Met. V, 7 (1017a.35 – b.9) sowie das in die deutsche Fassung von La métaphore vive nicht aufgenommene Schlußkapitel »Métaphore et discours philosophique«, (Anm. 37) 325–399, wo Ricœur anläßlich der ontologischen Referenzfunktion der Metapher über den Zusammenhang von metaphorischer Rede und analogia entis handelt.

Theologie als Lesekunst

253

lesbar werden, bedeutet, daß ihr lastendes Gewicht sich verflüssigt – bedeutet eine Lösung und Leichterung jenes »Gewichtes«92 bzw. jenes »pondus«93, der seit dem Sündenfall auf der Welt lastet: Daß die Dinge nichts anderes seien als was sie gerade sind.94 92

93

94

Vgl. Paul GERHARDT, Lied O Haupt voll Blut und Wunden, Strophe 2: »Du edles Angesichte, / davor sonst schrickt und scheut / das große Weltgewichte: / wie bis du so bespeit […].« (EKG, Ausgabe für die Landeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe, Gütersloh: Gerd Mohn u.a., o.J., Nr. 63.) Vgl. ANSELM VON CANTERBURY: Cur deus homo / Warum Gott Mensch geworden I, 21 (Hg. Franciscus Salesius Schmitt), Darmstadt: WBG (51993) 74/75: »Nondum considerasti, quanti ponderis sit peccatum.« Zwar zieht Ricœur diese letzte explizit theologische Linie der lebendigen Metapher nicht mehr aus, denn er ist streng darauf bedacht, die Grenzscheide zwischen Theologie und Philosophie nicht zu verwischen. Dennoch ist auch Ricœur der Gedanke der Erfahrung morgendlicher Neuheit, die die lebendige Metapher inauguriert, überaus vertraut. Und so folgt er nicht nur Aristoteles, indem er mit ihm die Metapher als einen Vorgang expliziert, dessen Eigentümlichkeit es ist, »die Dinge in actu, d.h. in der ihnen eigenen Wirksamkeit zu bezeichnen« (Ósa œnergoànta shma∂nei [Rhet. II, 11 ‹1411b. 23ff.›]); er ist darüber hinaus der Überzeugung, daß die dieser Explizierung zugrunde liegende ontologische Fundamentalunterscheidung zwischen dem Sein als dÚnamij (Potenz, Vermögen) und dem Sein als œn◊rgeia (Akt, Verwirklichung) ihrem Sinn nach auf dasjenige abzielt, was Heidegger in seinem Spätwerk unter dem Terminus »Ereignis« bedacht hat (vgl. Die lebendige Metapher, [Anm. 66] 296–304, hier bes. 296). Denn »Ereignis« ist seinem Umfang nach ja nicht auf das Geschehnis oder das Vorkommnis zu reduzieren; »Ereignis« bezeichnet vielmehr jenen Ort, da dem suchenden Menschen unter dem Aspekt der Gabe etwas »sich« gibt, etwas ihm aufscheint, die Dinge sich ihm zu erkennen geben in der ihnen eigenen Lebendigkeit. »Ereignis« – das ist ein »Er-äugen« der Dinge »als natürliches Aufblühen«. (Vgl. Martin HEIDEGGER: Der Weg zur Sprache [1959], in: Ders.: Unterwegs zur Sprache, (Anm. 48) 239–268, hier: 260.) Genau hier wird nun auch der Rekurs auf das Phänomen der Dichtung unverzichtbar, und zwar deshalb, weil große Dichtung sich durch die Fähigkeit auszeichnet, ein solches »natürliches Aufblühen« der den Dingen eigenen Potentialität zu inaugurieren. Im gelungenen dichterischen Wort ist »das, was wir die alltägliche Wirklichkeit nennen«, auf ihre Potentialitäten hin immer schon durchbrochen. Vermittels der Dichtung wird »die Wirklichkeit […] tatsächlich Wirklichkeit, also etwas, das einen zukünftigen Horizont unentschiedener Möglichkeiten birgt«. (Paul RICŒUR: Apropriation, in: Mario J. Valdès [Hg.]: Reflection and Imagination. A Ricœur Reader, New York [1991] 91 [dt. Übers. J.N.].) Diesen unabschließbaren Horizont der Wirklichkeit offenzulegen, ist vornehmste Aufgabe der dichterischen Sprache – und sie erfüllt diese Aufgabe, wo sie dem Menschen »die Dinge als ungehindert werdende […], als aufblühende zu sehen« gibt. Der Dichter wäre demnach derjenige, der die Wirklichkeit der Dinge in ihrer Potentialität wahrnimmt – und ihre Potentialität als etwas Wirkliches. Er wäre fernerhin derjenige, »der das sich Andeutende und Werdende als vollendet und vollständig, jede erreichte Form [aber] als eine Verheißung des Neuen sieht«. (Die lebendige Metapher, [Anm. 66] 294f.) Man fühlt sich unwillkürlich an den Freiherrn von Eichendorff erinnert: »Schläft ein Lied in allen Dingen, / die da träumen fort und fort. / Und die Welt hebt an zu singen, / triffst du nur das Zauberwort.« Wo die geglückte Metapher denjenigen, der sie vernimmt, in eine unmittelbare Präsenz zu den Dingen versetzt, da kommt

254

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

Wie schon erwähnt, setzt die Entdeckung der weltverwandelnden Valenz der Metapher die mythische Rede vom liber mundi wieder in ihr Recht – nun aber vom neutestamentlichen Offenbarungsgeschehen her purgiert, validiert und konkretisiert. Und von hier aus ist uns nun auch der entscheidende Hinweis gegeben, wie nach dem Untergang aller mythischen Vertrautheit mit der Welt eine neue Weltvertrautheit zu gewinnen wäre: Womöglich entsteht sie nämlich dadurch, daß man sich auf konzentrierte Weise der »bekehrende[n] Kraft«95 jener Bilder aussetzt, die uns von den neutestamentlichen Schriften angeboten bzw. zugemutet werden. Denn im Spiegel dieser Bilder bewegen sich Sprache und Dinge korrelativ aufeinander zu, schwingen sich ein in den vorgängigen Rhythmus ihres urständlichen Einander-Aufgetanseins, und so wird eine neue Bedeutsamkeit der Dinge vernehmbar – aber nicht im Sinne einer mythischen Unmittelbarkeit, sondern im Sinne einer »Zweiten Naivität«, in welcher die Unmittelbarkeit des vorkritischen Welt- und Selbsterlebens in eine nachkritische, d.h. gelehrte, auch über sich selbst belehrte Unmittelbarkeit verwandelt ist.96 Freilich hebt genau hier eine neue (bzw. sehr alte) Schwierigkeit an: »Ein Teil unserer Gottverlassenheit«, so Erhart Kästner, rührt wohl daher, »daß wir uns den alten Metaphern verweigern.«97 Gegen eine solche Verweigerungshaltung, zu der man sich meist gar nicht

95 96

97

mit dieser Sprachleistung zugleich ihre eigentümliche Wahrheit an den Tag, die da lautet: als möglichkeitsweckende Sprache jenes unableitbare »Moment unserer Erfahrung« präsent zu setzen, wo »Erscheinen ›Entstehung der wachsenden Dinge‹ heißt« und »der lebendige [sprachliche] Ausdruck die[se] lebendige [unableitbare] Erfahrung ausdrückt«. (Ebd. 295. Vgl. auch ebd. 231f. in Verbindung mit Eberhard JÜNGEL: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen: Mohr-Siebeck [61992] 398. 401.) Erhart KÄSTNER: Ölberge, Weinberge. Ein Griechenlandbuch, (Anm. 88) 228. Vgl. Paul RICŒUR: Symbolik des Bösen, München: Alber (21988) 399; DERS.: Die Interpretation: Versuch über Freud, Frankfurt a.M.: stw (41992) 41, 506f. – Damit dürfte auch offensichtlich sein, daß Ricœurs Verständnis der Metapher als eines Sprachereignisses, das den Menschen in eine neue Unmittelbarkeit zu den Dingen versetzt, nicht auf irgendwelche irrationalen Seherkünste abzielt, sondern auf ein unableitbares »Moment unserer Erfahrung«, da »der lebendige Ausdruck die lebendige Erfahrung ausdrückt«. (Die lebendige Metapher, [Anm. 66] 295.) »Lebendige Erfahrung« ist nicht irgendeine vage Anmutung, sondern läßt sich vermittels der aristotelischen Kategorien von Akt und Potenz, Wirklichkeit und Möglichkeit annäherungsweise beschreiben. Zwar entwickelt die Dichtung selbst keine Ontologie; indem sie aber unsere lebendige Erfahrung des Seins, die jeder expliziten Ontologie vorausliegt, zur Sprache bringt, bietet sie der Philosophie die Möglichkeit, dasjenige zu denken, was die Griechen »Physis« nannten: nicht einen Bereich von Gegenständen wie den der physikalischen Körper oder der lebendigen Organismen, sondern jenen »Ort […], wo Erscheinen ›Entstehung der wachsenden Dinge‹ heißt.« (Ebd. 295.) Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch einmal an die Einsichten sowohl Georg Pichts (s.o. 2.1) als auch Hans-Georg Gadamers (s.o. 2.2). Erhard KÄSTNER: Stundentrommel vom heiligen Berg Athos, (Anm. 87) 87.

Theologie als Lesekunst

255

entschlossen hat, die vielmehr selbstverständlich scheint angesichts einer Kultur, die einerseits von Bildern überschwemmt ist, in der anderseits die Bilder völlig beliebig, austauschbar und deswegen auch unlesbar geworden sind, gibt es nur ein Remedium: Unter Aufrechterhaltung beharrlicher Bildaskese lesen, lesen und nochmals lesen! Wer nur beharrlich genug sowohl gegen die Unlesbarkeit der Welt als auch gegen ihre penetrante Überbebilderung das Remedium der lectio divina zur Anwendung bringt, dem wird sich auf Dauer die Wirkung dieses Gegenmittels nicht verschließen. Prominenter Zeuge hierfür ist neben vielen anderen98 Thomas von Kempen (1380– 1471). Auf den fünf Portraits, die von ihm überliefert sind99, ist er stets mit einem Buch dargestellt: der Heiligen Schrift, deren konzentrierte Lektüre ihm zur existentiellen Imitatio Christi wurde – und darunter steht in je unterschiedlichen Variationen der halb lateinische, halb niederdeutsche Satz: »In omnibus requiem quaesivi et nusquam inveni nisi in een Hoecksken met een Boecksken.« (»In allen Dingen suchte ich Ruhe und nirgends habe ich sie gefunden, außer in einem mir lieben Eck mit einem mir lieben Buch.«)100 Was zu An98

99

100

Bspw. Albertus Magnus, der das Ergebnis beharrlicher lectio divina auf die Formel bringt: »Wer sich nur lange genug mit göttlichen Dingen [res divina] beschäftigt, dessen Inneres [homo interior] wird nach deren Wesen gewandelt.« Des weiteren Ignatius von Loyola, dessen Leitmaxime, Gott in allen Dingen zu finden, sich einer intensiven, in den Exerzitien eingeübten Bildimagination verdankt: Selbstvergessene, kontemplierende Einkörperung in jene Szenen, die die biblischen Schriften (insbesondere die synoptischen Evangelien) uns vor Augen stellen. – Zur monastischen Übung in kontemplierender Einbildungskraft vgl. näherhin Jean LECLERCQ: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf: Patmos (1963) 85–89. Vgl. Joseph Hubert MOOREN: Nachrichten über Thomas a Kempis. Nebst einem Anhange von meistens noch ungedruckten Urkunden, Krefeld: Gehrich (1855) 182–185. Vgl. ebd. – Ein nicht weiter identifiziertes Bild des Thomas von Kempen mit eben demselben (leider nur schwer entzifferbaren) Merkspruch findet sich bei Kurt RUH: Geschichte der abendländischen Mystik Bd. IV: Die niederländische Mystik des 14. bis 16. Jahrhunderts, München: Beck (1999) 188. Vgl. ferner Josef POHL: Art. »Thomas von Kempen«, in: WWKL Bd. 11 (1899) Sp. 1673–1689, hier Sp. 1676: Bei seiner Begräbnisstätte in der Klosterkirche Agnetenberg bei Zwolle war »in dem östlichen Umgange […] an der Wand sein Bild angebracht, auf dem u.A. die Worte standen: Nusquam tuta quies nisi cella, codice, Christo und: In omnibus requiem quaesivi et non inveni nisi in een huechsken met een buexken.« – Der Merkspruch, der in seinem ersten Teil auf Sir 24,7 anspielt, kursiert daneben auch in folgender lateinischer Fassung, die ebenfalls Thomas von Kempen zugeschrieben wird, sich in seinem schriftlichen Werk jedoch nicht nachweisen läßt: »In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro [resp. libello].« Zuschreibungen finden sich bei Charles Augustin SAINTE-BEUVE: Port Royal, Paris: Hachette (1878) Bd. 5, 257; George GISSING: The Private Papers of Henry Ryecroft, New York: E.P. Dutton (1903) 51; Umberto ECO: Le nom de la rose, Paris: Grasset (1982) 14. Bei meiner ersten Begegnung im März 1995 mit Günter Bader, die für mich zum Auftakt einer intensiven Studienzeit bei diesem unerhört belesenen Lehrer

256

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

fang unserer Ausführungen nur gemutmaßt werden konnte: daß die Fähigkeit, selbstvergessen sich der Lektüre eines Buches, eines Briefes, eines Textes hingeben zu können Ausweis einer viel weitergehenden Fähigkeit sei: nämlich Welt, Natur, Geschichte und schließlich das eigene Leben insgesamt lesen zu können – das bewahrheitet sich am Schluß unserer Überlegungen von der anachoretischen Lektüreerfahrung101 dieses weltbelesenen, lebenserfahrenen Menschen her. In aller Ruhe in seinem Eck sitzen und ein Buch lesen zu können, entpuppt sich als Schlüssel zum Verständnis von Leben, Welt und – Gott.102 (Nicht zufällig, dies sei als frömmigkeitsgeschichtliches Aperçu am Rande vermerkt, war es katholischerseits ja der Praxis der die Meßliturgie begleitenden Gebetslektüre im sog. »Schott« bzw. »Bomm« geschuldet, daß sich etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein intensiver persönlicher Frömmigkeitsstil durch breite Be-

101

102

wurde, erzählte ich ihm u.a. von meiner Kaplanszeit in dem ostwestfälischen Städtchen Höxter. Auf seine Frage, was der Name »Höxter« bedeute – das Wort ist dem niederdeutschen »Huke« entlehnt und meint soviel wie »Ecke«, »Bogen«, »Krümme« (die Stadt ist in einen Flußbogen der Weser hineingebaut) –, zitierte ich ihm den Merkspruch »in een Hoecksken met een Boecksken«, der ihm damals sehr gefiel und nach dessen Herkunft er mich wiederholt fragte, ohne daß ich ihm hätte Auskunft geben können. So bot sich mir sein bevorstehender 65. Geburtstag sowie sein damit verbundener Abschied von der Universität Bonn als willkommener Anlaß, mich auf die Suche nach der Herkunft jener Formel zu machen. Fündig geworden bin ich erstmals bei Hans ZIRKER: Fußnoten und Anmerkungen. Vorlesung zum Abschluß der theologischen Dienstzeit, jetzt in: Werner SIMON (Hg.): Meditatio. Beiträge zur Theologie und Religionspädagogik der Spiritualität (Günter Stachel zum 80. Geburtstag), Münster: Lit (2002) 385–392 – und dann, einmal aufmerksam geworden, verschiedenenorts immer wieder. Herrn Prof. Zirker, Essen, der mich u.a. darauf hinwies, daß die niederdeutsche Diminutivform »Hoecksken«/ »Boecksken« ein Anhänglichkeitsverhältnis zum Ausdruck bringe, bin ich für weitergehende Literaturhinweise zu Thomas von Kempen (s.o., sowie Anm. 83, 84 und 99) zu herzlichem Dank verpflichtet. Anachoretische Lektüreerfahrung – erworben im Kreis der Brüder vom Gemeinsamen Leben. Günter BADER weist darauf hin, daß Lesen im Sinne der kontinuierlichen lectio divina »vorwiegend eine Institution des koinobitischen Mönchtums« ist, »im Westen stärker [gepflegt] als im Osten.« (»Selig ist, der da liest …« Zu Melancholie, Acedie und Nichtlesenkönnen, in: ZAAK 44 [1999] 91–101, hier 93. Vgl. auch ebd. 95, Anm. 20.) Zur Praxis der lectio divina in der Devotio moderna (ihre intensivste Ausformung fand die Devotio moderna in der Lebensform der Brüder und Schwestern vom Gemeinsamen Leben) vgl. Hermann Josef SIEBEN: Art. »Lectio divina et lecture spirituelle. II: De la lectio divina à la lecture spirituelle«, in: DSp Bd. IX, 487–496, hier 492ff., sowie Pierre DEBONGNIE: Art. »Dévotion moderne«, in: DSp Bd. III, 727–747, hier 733ff. und 743f. THOMAS VON KEMPEN: »Si rectum cor tuum esset, tunc omnis creatura speculum vitae et liber sanctae doctrinae esset.« (Imitatio Christi II, 4). S.o. Anm. 15. Woraus im Umkehrschluß zu folgern ist: Rechte Lektüre der Heiligen Schrift gelingt immer dann, wenn gilt: »cor tuum rectum«. Wo dies aber der Fall ist, gilt zugleich: »omnis creatura speculum vitae et liber sanctae doctrinae«.

Theologie als Lesekunst

257

völkerungsschichten hatte ausbilden können: eine Kultur konzentrierter lectio divina – bis diese Art von Frömmigkeit im Gefolge der Liturgiereform dann mehr und mehr verschwand.103 Auf evangelischer Seite wäre an die verschiedenen Formen geistlicher Bibellektüre zu erinnern104, die von Anfang an sekundiert wurde durch eine reiche Erbauungsliteratur.105) Was Thomas von Kempen in seiner Lektüreerfahrung der Heiligen Schrift zur Erfahrung der Imitatio Christi wurde, hat zwei Jahrhunderte nach ihm ein anderer deutscher Mystiker, Angelus Silesius (1624–1677), auf folgende wunderbare Formel gebracht: »Freund, es ist auch genug. Jm fall du mehr wilt lesen / So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen.«106 Die im Laufe eines Lebens kontinuierlich geübte Versenkung in die biblische Heilsmetaphorik, so wird man diesen Merksatz über den konkreten Ort im Cherubinischen Wandersmann hinaus wohl deuten dürfen, führt zu einer unmerklichen Metamorphose des eigenen Lebens und damit zu einer Verwandlung der Welt als ganzer – ins Werk gesetzt durch die dÚnamij 103

104

105

106

Dem Vf. sei an dieser Stelle eine persönliche Reminiszenz gestattet: Er erinnert sich aus Kindertagen, daß sein Vater, der in Frömmigkeitsdingen äußerste Diskretion walten ließ, bei der Vorbereitung zum gemeinsamen sonntäglichen Kirchgang mit Eifersucht darüber wachte, daß nur ja niemand aus der Familie sein Gesangbuch an sich nehme. Ein verstohlener Blick in der Kirchenbank erklärte dem Kind den Grund dieser Sorge: Wenn dem Vater die Predigt zu lang wurde (und sie wurde ihm eigentlich immer zu lang), begann er langsam sein Gesangbuch von vorne aufzublättern, um bei jedem der eingelegten Totenzettel ein kurzes oder auch längeres Memento für den jeweiligen Verstorbenen zu halten. Auch dies eine Form von lectio divina – einer vielleicht zwar unorthodoxen, aber außerordentlich intensiven, weil in ihr das stille, betende Lesen von Schriftworten aufs Innigste verflochten war mit dem stummen Memorieren von Lebensgeschichten. – Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf das sprechende Bild von Wilhelm Leibl: »Die drei Frauen in der Kirche« (s.o. Anm. 4). Zur folgenschweren Verschiebung der aus der mittelalterlich-monastischen lectio divina stammenden Reihenfolge »lectio – meditatio [resp. ruminatio] – oratio [resp. contemplatio]« hin zu der bei der Schriftlektüre nun zu beachtenden Abfolge »oratio – meditatio – tentatio« bei Martin Luther vgl. Martin NICOL: Art. »Meditation II. Historisch/Praktisch-theologisch«, in: TRE Bd. XXII, 337–353, hier 345ff. – Erinnert sei an den bekannten Zusammenhang der Reformation: Einerseits Konzentration auf die Heilige Schrift als dem allein gültigen Kriterium gottgefälligen Lebens, andererseits Erfindung des Buchdrucks. Das Ergebnis: Innerhalb von nur drei Generationen eine sprunghafte Verbreitung der Bibel als Volks- und Hausbuch, dadurch eine ebenso sprunghafte Erhöhung der Alphabetisierungsrate in weiten Bevölkerungskreisen, daraus resultierend eine vertiefte Konzentration auf die Heilige Schrift als dem allein gültigen Kriterium gottgefälligen Lebens. Vgl. den Art. »Erbauungsliteratur III, Reformations- und Neuzeit« von Rudolf MOHR, TRE Bd. X, 51–80, der frömmigkeits- und literaturgeschichtlich gesehen eine wahre Fundgrube darstellt. ANGELUS SILESIUS: Cherubinischer Wandersmann VI, 263 [Beschluß]. Kritische Ausgabe (Hg. Louise Gnädinger), Stuttgart: Philipp Reclam Jun. (1985) 285.

258

VI. »In een Hoecksken met een Boecksken«

eben jener Metaphern, in denen die Dinge dieser Welt transparent werden auf die Wirklichkeit Gottes.107 Nach allem, was wir in Kenntnis bringen konnten über den Zusammenhang von mythischer Weltbegegnung, phänomenologischer Weltbetrachtung und metaphorischer Welterfahrung darf unsere zu Beginn ausgesprochene Vermutung nun wohl als bestätigt gelten: Nicht erst durch die Lektüreerfahrungen eines Thomas von Kempen108 oder Johann Scheffler109, sondern durch die selbsterprobte Praxis lebenslanger lectio divina wird ersichtlich, daß zum Zweck einer Lesbarwerdung des eigenen Lebens es der Schriftwerdung desselben bedarf und daß hierzu die konzentrierte Lektüre der Schrift das wohl beste Medium darstellt.110 Verhält sich dies nun aber so, dann kann aus den durch diese Frömmigkeitspraxis freigesetzten Erfahrungen geradezu eine Anleitung zum seligen Leben extrahiert werden. Sie lautet im Lateinischen kurz und bündig: »Tolle lege«111, oder aber auf deutsch: »Komm und lies!«112

107 108

109

110

111 112

Vgl. oben Anm. 91 und 94. Zum Umgang mit der Heiligen Schrift speziell bei Thomas von Kempen, der sein Leben im wesentlichen als Kopist von biblischen Texten dahinbrachte (allein vier Vollbibeln entstammen seiner Feder), vgl. Rudolf Th. M. VAN DIJK: Art. »Thomas Hemerken a Kempis«, in: DSp Bd. XV, 817–826, bes. 821f. Der intensive Umgang mit der Heiligen Schrift tritt bei Angelus Silesius gegenüber dem intensiven Studium der deutschen Mystiker (allen voran Eckhart, Tauler und Ruesbroeck, Theologia Deutsch und Jacob Böhme) zunächst zurück. In den in den beiden Jahren nach seiner Konversion [12. Juni 1653] verfaßten Büchern III–V des Cherubinischen Wandersmann finden sich dann jedoch zahlreiche Aphorismen über die Kindheit Jesu (III, 1–33) und über seine Passion (III, 36–44; IV, 44–54 u.ö.). Vgl. dazu Roland PIETSCH: Art. »Scheffler (Jean, Angelus Silesius)«, in: DSp Bd. XIV, 408–413, hier 409f., 412. Vgl. dazu den ersten Vers des Psalters (Ps 1,1), der gleichsam als hermeneutische Generalanweisung über der Praxis der lectio divina steht: »Mak£rioj ¢nˇr/beatus vir; Wohl dem […] der [beim Lesen] sinnt über die Tora Tag und Nacht.« (Günter BADER: »Selig ist, der da liest …« Zu Melancholie, Acedie und Nichtlesenkönnen, [Anm. 101] 99, Anm. 37 [Literatur].) AUGUSTINUS, Conf. VIII, 12, 29f. Dazu die klugen Ausführungen von Hubertus HALBFAS: Religionsunterricht in der Grundschule. Lehrerhandbuch 3, Düsseldorf: Patmos (21988) 40–45, 49–67. Zum Ganzen auch die feinen Beobachtungen von Gottfried BACHL: LESEN – ein Weg in die Freiheit, Innsbruck-Wien: Tyrolia (1989), sowie die Beiträge von Hermann LICHTENBERGER, Anastasios KALLIS, Herbert VORGRIMLER, Paul DESELAERS und Ludwig MUTH in dem instruktiven Sammelband Glauben durch Lesen? Für eine christliche Lesekultur (QD 128), Freiburg i.Br.: Herder (1990).

VII. ZWEITE NAIVITÄT Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu einem vielbemühten, aber selten verstandenen Konzept Eugen Drewermann in Erinnerung an die atemberaubende Lektüre seiner »Strukturen des Bösen« im Sommersemester 1982 freundlich zugedacht

1. EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG »Man kann nicht elektrisches Licht und Radio benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. […]« Krankheit und Gesundheit sind physiologische Vorgänge und nicht Folgen der adamitischen Erbsünde oder der Heilsgnade Christi. Verhält sich dies so, dann sind »die Wunder des Neuen Testamentes […] als Wunder erledigt, und wer ihre Historizität durch Rekurs auf Nervenstörungen, auf hypnotische Einflüsse, auf Suggestion und dergleichen retten will, der bestätigt das nur.«1

Mit diesen nicht nur damals provozierenden Sätzen eröffnete im Jahre 1941 der Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann den vielleicht bedeutsamsten Streit in der Theologie des 20. Jahrhunderts: die sogenannte Entmythologisierungsdebatte. Historisches und naturwissenschaftliches Denken hatten den Bruch zwischen der 

1

Der vorliegende Text wurde am 5. Juni 2009 als Probevorlesung am KatholischTheologischen Seminar an der Philipps-Universität Marburg gehalten. Er nimmt eine Problemstellung auf, die im Theologischen Studienjahr Jerusalem naturgemäß immer wieder Gegenstand der Diskussion unter den Studierenden ist. – Um den Argumentationsverlauf des Textes nicht zu sehr mit Detailfragen zu belasten, wurden die wesentlichen begriffsgeschichtlichen Überlegungen in den Anmerkungsteil verbannt. Rudolf BULTMANN: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung [1941], in: KuM I, 15–48, hier 18.

260

VII. Zweite Naivität

Welt- und Selbsterfahrung des modernen Menschen und dem in weiten Teilen mythisch bestimmten Weltbild des Neuen Testaments seit langem unüberbrückbar gemacht – Bultmann sprach nur aus, was auch unter Theologen viele längst dachten. Man versteht, daß Bultmann angesichts dieses Befundes zu einer »Entmythologisierung« der biblischen Texte aufrief, zu einer Überwindung ihres unglaubwürdig gewordenen »wörtlichen Sinns«, um den Blick freizubekommen für das, was die Texte im Vollzug einer sog. »existentialen Interpretation« auch dem heutigen Menschen noch – oder besser: wieder sagen können. Ich kann die vielfältigen Probleme, vor die ein solches hermeneutisches Unternehmen führt, hier nicht entfalten.2 Statt auf die Probleme des Bultmann’schen Entmythologisierungsprogramms näher einzugehen, möchte ich direkt auf jenes Stichwort zu sprechen kommen, das im Zusammenhang der bis heute unerledigten Entmythologisierungsfrage immer wieder zu hören ist: »Zweite Naivität« – dieser Begriff, der von dem französischen Philosophen Paul Ricœur in die von Bultmann angestoßene Debatte eingeführt wurde (auch wenn der Begriff nicht von ihm selber stammt), geistert ja wie ein Zauberwort durch die theologischen3 und religionspädagogischen4 2

3

4

Eine reiche Dokumentation der Debatte findet sich in der bis Bd. VI/3 von HansWerner BARTSCH, ab Bd. VI/4 von Franz THEUNIS herausgegebenen Reihe Kerygma und Mythos [= KuM] I–VI/5, Hamburg-Bergstedt: Evangelischer Verlag (1948– 1974). Dazu auch Bernd JASPERT (Hg.): Bibel und Mythos. Fünfzig Jahre nach Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1991). – Zumindest erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an Eugen Drewermanns Bemühungen um eine tiefenpsychologische Deutung der Heiligen Schrift, die ja im Grunde nichts anderes darstellen als eine Fortführung des Bultmann’schen Programms, wobei hier nicht die Kategorien einer Heidegger’schen Existentialontologie zugrundegelegt werden, sondern solche der Freud’schen und Jung’schen Psychoanalyse Vgl. etwa Edward SCHILLEBECKX: Jesus – Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg i.Br.: Herder (1975) 67ff.; Mark I. WALLACE: The Second Naiveté. Barth, Ricœur and the New Yale Theology, SABH 6, Macon/Georgia: Mercer University Press (21995); Johannes HARTL: Metaphorische Theologie: Grammatik, Pragmatik und Wahrheitsgehalt religiöser Sprache, Studien zur systematischen Theologie und Ethik 51, Berlin/Münster: Lit (2008) 485–488; Andreas KUBIK: Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen: Mohr-Siebeck (2006) 310f., 405–408. Vgl. etwa John SHEA: Die zweite Naivität. Bemerkungen zu einem Pastoralproblem, in: Conc 9 (1973) 56–62; Rudolf ENGLERT: Glaubensgeschichte und Bildungsprozeß. Versuch einer religionspädagogischen Kairologie, München: Kösel (1985) 600–692, bes. 629f.; DERS.: Religionspädagogik für Erwachsene. Formen religiösen Lernens, in: ErwB 38 (1992) 125–130; Hubertus HALBFAS: Religionsunterricht in der Grundschule. Lehrerhandbuch 3, Düsseldorf: Patmos (21988) 516f.; DERS.: Das dritte Auge. Religionsdidaktische Anstöße, Düsseldorf: Patmos (71997) 98f.; Ludwig PONGRATZ: Unterwerfung und Widerstand. Heinz-Joachim Heydorns kritische Bildungstheorie in religionspädagogi-

Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen

261

Diskurse, als könne er uns die genannten Probleme ohne weiteres vom Halse schaffen. Nur: Was hat man sich unter einer »Zweiten Naivität« vorzustellen? Ist damit gemeint, man könne das peinlich Konkrete, Anstößige der biblischen Erzählungen eliminieren, den Bewußtseinszustand einer »Ersten Naivität«, welche die biblischen Texte wortwörtlich nimmt, hinter sich lassen, um dann – durch irgendeinen hermeneutischen Kniff – den kindlichen Glauben an Adam und Eva im Paradies, an die Jungfrau im Kämmerlein und die Hirten auf dem Felde doch noch zu retten? Etwa in dem Sinn, daß natürlich Gott die Welt nicht in sechs Tagen erschaffen habe, sondern in sechs Milliarden Jahren? Der brennende Dornbusch des Mose eine optische Täuschung gewesen sei und der Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer sich einer Verlagerung der örtlichen Strömungsverhältnisse durch ein Erdbeben verdanke? (In etwa diese Richtung laufen ja gewisse Formen aufklärerischer Bibelexegese, die im Grunde fundamentalistisch sind.5) Ich meine, so geht es nicht! Wenn es so nicht geht, dann ist zu fragen, worauf eine Haltung der »Zweiten Naivität« eigentlich abzielt. In der Regel wird sie ja beschrieben als die einem erwachsenen Menschen angemessene Glaubenshaltung, die durch alle Zweifel und Fragen der Moderne hindurchgegangen ist, um am Ende vorzustoßen zu einer neuen, über sich selbst belehrten, d.h. nachkritischen, nicht vorkritischen Unmittelbarkeit des Glaubens. Wie aber gelangt man zu einer solchen Glaubenshaltung? Und welchen Preis hat die Theologie zu bezahlen, sobald sie einmal begonnen hat, sich um den Gewinn einer solchen »Zweiten Naivität« zu bemühen? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich Sie bitten, folgende vier Gedankengänge mitzuvollziehen: Zunächst (2.) soll in zwei begriffsgeschichtlichen Rückblenden die Genese des Begriffs »Zweite Naivität« rekonstruiert werden. Ich sagte schon, daß er von Ricœur in die Entmythologisierungsdebatte eingeführt wurde, obwohl selten gefragt wird, aus welchen Kontexten der Begriff eigentlich stammt. – Gerade aus der undurchsichtigen Herkunft dieses überaus schillernden Begriffs dürfte sich nun aber auch seine suggestive Wirkkraft erklären. Um die Verheißung, die er in sich trägt, genauer in den Blick zu bekommen, ist deshalb in einem zweiten Schritt (3.1) der

5

scher Perspektive, in: JRPäd 6 (1989) 59–78, hier 76; Friedrich SCHWEITZER: Entwicklung und Identität, in: NHRPG (2002) 188–193, hier 190; Günter LANGE/Paul SCHLADOTH: Springen oder Tüfteln? Welchen Wert hat die methodisch korrekte Rückfrage nach dem historischen Jesus, wenn letztlich nur ein ›Sprung‹ zum Christusglauben führt?, in: KatBl 126 (2001) 345–351. Erinnert sei nur an den in mehr als zwanzig Sprachen übersetzten, in Millionenauflage unter die Leute gebrachten Bestseller von Werner KELLER: Und die Bibel hat doch recht. Forscher beweisen die historische Wahrheit, Gütersloh: Bertelsmann (1955).

262

VII. Zweite Naivität

Ort, welchen Ricœur ihm in der Entmythologisierungsdebatte zuweist, in knappen Strichen zu umreißen. – In einem weiteren Schritt (3.2) möchte ich dann an einem konkreten biblischen Beispiel erläutern, was »praktizierte« Zweite Naivität sein könnte und welche Konsequenzen sie für denjenigen nach sich zieht, der sich um sie bemüht. – Mit einigen Bemerkungen zu den Problemüberhängen, mit denen uns das Konzept einer »Zweiten Naivität« beläßt, sollen meine Überlegungen (4.) dann schließen. 2. »ZWEITE NAIVITÄT«: RELIGIONSPHILOSOPHISCHE HERKÜNFTE, BEGRIFFLICHE GENESE, UNTERGRÜNDIGE WIRKUNGSGESCHICHTE 2.1. Weisheitlicher Glaube als »sekundäre Naivität«: Peter Wust Soweit ich sehe, findet sich der Begriff »zweite« bzw. »sekundäre Naivität« expressis verbis erstmals im Jahre 1925 bei dem Religionsphilosophen Peter Wust (1884–1940)6 – man darf ihm wohl getrost das Privileg der geistigen Autorschaft zuerkennen.7 In Auseinandersetzung mit Kants Erkenntniskritik auf der einen Seite8 und Husserls 6

7

8

Peter WUST: Naivität und Pietät [1925], in: Gesammelte Werke Bd. II, Münster: Regensberg (1964). Wusts Schriften werden, soweit nichts weiteres angegeben ist, nach der von Wilhelm Vernekohl herausgegebenen zehnbändigen Gesamtausgabe [GW], Münster: Regensberg (1963–1968), zitiert. So auch das Urteil von Ernst SIMON: »Die Namensgebung ist für die Konzeption einer Idee kein zufälliger Akt. Er wird erst in einer glücklichen Stunde möglich, und wenn es sich um eine religiöse Idee handelt, erfordert er einen begnadeten Menschen. Das gilt sowohl für Augustinus, der zum ersten Male von der docta ignorantia sprach, wie von Peter Wust, der den Terminus ›sekundäre Naivität‹ prägte. Sie haben [beide] eine religiöse Umkehr erlebt. Die scharfe persönliche Wendung, die sich in ihrem Leben ereignet hat, öffnete ihnen die Augen für die Erkenntnis jenes Zentralpunktes beider Erscheinungen, und so konnten sie sie mit derart zutreffenden Namen bezeichnen, daß sie zu festen Sprachmünzen wurden.« (Die Zweite Naivität [1964], in: Ders.: Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg: Lambert Schneider [1965] 246–279, hier 273.) – Es erstaunt, daß nur ein Jahr nach Naivität und Pietät in den »Beiträgen für Erziehung und Unterricht« (2. Jg./Heft 3 [1926] 1–47), hg. von der Bayerischen Lehrerzeitung (Verlag Süddeutsche Lehrerbücherei München), als »Beilage« ein umfänglicher Aufsatz aus der Feder des Pädagogen Hermann TAMBORNINO erscheint, der den Titel trägt: »Die zweite Naivität als Bildungsziel«. Auf Wust wird in jenem Aufsatz kein einziges Mal Bezug genommen, und auch die Namen Gerhard Nebel und Romano Guardini, auf deren Bücher »Weltangst und Götterzorn« [1922] bzw. »Briefe zur Selbstbildung« [1922] Tambornino mehrfach anspielt, werden an keiner Stelle genannt. Insbesondere in Wusts Erstlingswerk Auferstehung der Metaphysik [1920], in: GW I, 43–79. Wustens wiederholte Polemiken gegen die »Kantische Hybris« (ebd. 346), der zufolge die menschlichen Erkenntnisschemata den Dingen vorschrieben, wie sie uns zu erscheinen hätten, treffen allerdings wohl nicht Kant selbst, sondern eher einen abgesenkten Neu-Kantianismus.

Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen

263

Phänomenologie auf der anderen9 stehen im Hintergrund der Rede von der »Zweiten Naivität«, wie Wust sie entwickelt, Überlegungen 9

Vgl. ebd. 38, 191–211, 344–347. Husserls Aufruf zu einer Überwindung des neukantianischen Formalismus durch einen neuen Realismus in der Philosophie (»Zurück zu den Dingen!«) findet bei Wust freudigen Widerhall: »Diese Demut vor dem Objekt bringt […] auch die Ehrfurcht vor uns selbst mit sich und den Glauben an uns selbst, indem wir immer deutlicher erkennen, wie die Wunder des Seins auch in unserem eigenen Wesen enthalten sind und zwar als Gegebenheiten, die nur zu einem kleinen Teile dem Machtbereich unseres eigenen Könnens unterstehen, die wir also, ebenso wie die Objektivität um uns her, als ein Geschenk und zugleich auch als eine Aufgabe gläubig und demütig hinnehmen müssen. [… Diese Rückkehr in die Ebene des Objekts …] zwingt uns von vorneherein zu bescheidener Entsagung, zur Ehrfurcht vor den Dingen selbst, die uns schweigend das Geheimnis ihres Wesens und damit der ganzen Seinsgesetzlichkeit vor die Füße legen und auf die unergründliche Weisheit hinzeigen, die ihnen von Anbeginn mit unsichtbaren Händen die Fäden einer universalen Geistigkeit eingewebt hat.« (Ebd. 346f.) – Es verdient Erwähnung, daß der Begriff »zweite Naivität« terminologisch auch bei Husserl auftaucht (wenngleich er nur mittelbar auf das von Wust anvisierte Problem zielt), und zwar im Rahmen der Vorüberlegungen zu der letzten zu Husserls Lebzeiten erschienen Abhandlung Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [1936]: ‹Die Naivität der Wissenschaft› (wohl Herbst 1934), in: Husserliana Bd. XXIX, Erg.Bd.: Texte aus dem Nachlaß 1934– 1937 (Hg. Reinhold N. Smid), Dordrecht u.a.: Kluwer Academic Publishers (1993) 27–36. Husserl unterscheidet dort zunächst zwei Formen der Naivität des Wissenschaftlers: zum einen »die vorwissenschaftliche Welthabe (während ich doch erst durch Wissenschaft das Sein der Welt erkennen soll)« (ebd. 30), eine vorreflexive, lebensweltliche Form von Naivität, die die »letzte[n] Vernunftfragen, die Fragen nach der Vernunft als der ständigen Voraussetzung der Wissenschaftler unterläßt«, denn »Wissenschaft ist eben eine Praxis«, in der als Wissenschaftler »dahin[zu]leben heißt, in der aktuellen Gewißheit seines Vermögens, seines Könnens […] seine Ziele […] zu verwirklichen« (ebd. 31); sowie eine »andersartige Naivität«, die »in der geschichtlich gewordenen, also traditionalen Gestalt [gründet], in welcher die Wissenschaft jeweils aktuell ist als Wissenschaft der jeweiligen Gegenwart« (ebd. 32). Nun ist aber auch diese ihre Geschichtlichkeit reflektierende Wissenschaft eine solche, die auf die vorwissenschaftliche Lebenswelt des Menschen zielt, d.h. die ihre der vorwissenschaftlichen Lebenswelt als »unverständliche Prätention« erscheinenden Erkenntnisleistungen (ebd. 35) rückübersetzen muß ins Alltagswissen des Menschen. Rückübersetzung bedeutet nun aber immer auch Simplifizierung, und daraus resultiert die Gefahr einer weiteren, eben »zweiten«, u.U. außerordentlich unheilvoll sich auswirkenden Naivität des »terrible simplificateur«: Die zum Zweck einer Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnis in die lebensmäßige Alltagswelt vorgenommene Komplexitätsreduktion riskiert, die vielen Vorannahmen vergessen zu machen, auf denen jene wissenschaftliche Erkenntnis aufruht und dadurch das Gefühl für die unreduzierbare Vieldimensionalität der Lebenswelt zum Verschwinden zu bringen. Denn da die Zunahme an Spezialisierung innerhalb der Wissenschaftsgebiete »Hand in Hand [geht mit] ein[em] Sich-nicht-mehr-Einlassen auf die Sinnesfragen, die den Gebietssinn als einen doch nicht vom Weltsinn abgestückten betreffen« (ebd. 36), läuft jene »zweite« Form wissenschaftlicher Naivität Gefahr, die Wahrnehmung menschlicher Lebenswelt mittels reduktionistischer »nichts-als«Behauptungen auf unangemessene Weise zu simplifizieren. Am Ende stünde, wie die Kritische Theorie dies in den 1940er Jahren formulierte und wie Wust in vie-

264

VII. Zweite Naivität

sowohl von Augustinus10 und Nikolaus Cusanus11 als auch von Rousseau12, Schiller13 und Kleist14, die bei Wust auf höchst originelle

10

11

12

len kulturkritischen Passagen seiner Schriften zu unterstreichen nicht müde wird, »der eindimensionale Mensch«. – Die Zusammenhänge, um die es Wust geht, lassen sich anhand einer literarischen Polemik von Martin MOSEBACH folgendermaßen illustrieren: »Das Glaubenbekenntnis, das ich häufig auf lateinisch vor mich hinmurmele […], enthält keineswegs alle Sätze, die ich glaube; es gehen diesem Credo […] bei mir eine ganze Reihe wichtiger Glaubenssätze voraus, die für mich womöglich sogar ein noch höheres Gewicht besitzen; das Credo ist eigentlich nur der Schlußstein meiner Glaubensüberzeugungen. So glaube ich etwa, daß ich ein Mensch bin. Ich glaube, daß es die Welt gibt. Ich glaube, daß mir die Eindrücke meiner Augen und Ohren zutreffende Nachrichten über die Wirklichkeit geben. Ich glaube, daß ein Gedanke ebensoviel Wirklichkeit besitzt wie ein Berg. Wie jeder weiß, gibt es für keinen dieser Glaubenssätze einen auch nur halbwegs zwingenden Beweis. Manche haben sogar die naturwissenschaftliche Wahrscheinlichkeit gegen sich. […] Obwohl ich längst wissen müßte, daß ich in einem Chaos lebe, daß es in mir eine Instanz, die ›Ich‹ sagen könnte, überhaupt nur als neuronalen Reflex gibt, daß jeder Sinneseindruck dieses nicht vorhandenen Ich auf Täuschung und Wahn beruht, höre ich doch das Lied der Amsel am Abend, das bekanntlich gar kein Lied, sondern eine die Evolution begünstigende Geräuschentfaltung ist […], als eine mir bestimmte, wenn auch unentschlüsselbare Nachricht. Ich höre und müßte längst verstanden haben, daß die Gegenstände, die mich umgeben, ohne die mindeste Bedeutung sind, daß nichts in ihnen steckt, daß alles, was ich in ihnen sehe, nur vor mir – aber wer bin ich? – in sie hinein gesehen wird. Ich höre das, aber ich glaube es nicht. Ich stehe auf der tiefsten Stufe der Menschheitsgeschichte. Ich bin ein Animist.« (Ewige Steinzeit, in: Kursbuch 149: »Gott ist tot und lebt« [September 2002] 9–16, hier 12f.) – Ähnlich wie Mosebachs Plädoyer des »Animismus« zielt die von Wust emphatisch verteidigte »Naivität« auf eine Haltung der Aufmerksamkeit der Welt und den Dingen gegenüber, die in der »Pietät«, d.h. in der staunenden Entgegennahme der ihnen eigenen Würde ihr religiöses Gegenstück hat. Ähnlich betont ja auch Husserl in der Krisis-Abhandlung, daß »das Problem der Lebenswelt anstatt als Teilproblem vielmehr als philosophisches Universalproblem« anzusehen sei. (Husserliana Bd. VI, 135) Eben daraus aber ergebe sich die Notwendigkeit einer »Überwindung« (ebd. 215) der »dogmatischen Naivität objektiver Wissenschaft« (Husserliana Bd. VII, 72) zugunsten einer neuen, reflektierten, eben phänomenologischen Naivität. Wust hat sich zeitlebens an Augustinus (wie im übrigen auch an Kierkegaard) abgearbeitet. Die Bedeutung, die der Kirchenvater für ihn hatte, erhellt nicht zuletzt daraus, daß er seine Die Dialektik des Geistes [1926–28] betitelte Anthropologie, die er als sein Hauptwerk betrachtete, mit je einem markanten Augustinuswort eröffnete (GW III/1, 9f. [Conf. X, 6]) und beschloß (GW III/2, 398f. [De civ. Dei XI, 18]). NIKOLAUS VON KUES: De docta ignorantia lib. I–III / Die wissende Unwissenheit Buch I–III, in: Philosophisch-Theologische Schriften (Hg. Leo Gabriel), Wien: Herder (1982) Bd. I, 191–297, 311–517; Apologia doctae ignorantiae / Verteidigung der wissenden Unwissenheit, in: ebd. 519–591; De venantione sapientiae cap. XII / Die Jagd nach der Weisheit Kap. XII, in: ebd. 50–57. – Vgl. Peter WUST: Naivität und Pietät, GW II, 201. (Siehe dazu näher auch unten Anm. 23.) Jean-Jacques ROUSSEAU: Abhandlung, die im Jahre 1750 von der Akademie in Dijon preisgekrönt wurde, über die von dieser Akademie gestellte Frage: »Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?«, in: Ders.: Schriften zur Kulturkritik, Hamburg: Meiner (21964) 1–59. – Vgl. dazu näherhin Robert SPAEMANN: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon [1963], Stuttgart:

Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen

265

Weise zu einem neuen Konzept religiöser Weltbegegnung verarbeitet werden. Anders als für Rousseau, der die Urtümlichkeit kindlicher Naivität von der Sphäre erwachsener Reflexivität scharf unterscheidet und in letzterer gewissermaßen den Sündenfall des Menschengeschlechts erblickt, um sich zurückzuträumen in einen Zustand ursprünglicher Naturverbundenheit, stellt für Wust das kindliche Stadium unvoreingenommener Naivität eine durch und durch geistige, wenn auch präreflexive Haltung dar. Naivität in diesem ersten, ursprünglichen Sinn ist der seinsbejahende, unbefangen arglose, vertrauensvolle Blick auf die Welt, der noch nicht von Skepsis und Zweifel getrübt ist.15 Man könnte die Haltung, auf die Wust hier abzielt und die er

13

14

15

Klett-Cotta (21990) 148–169: »Der ›Geist der Kindheit‹ und die Entdeckung des Kindes«. Friedrich SCHILLER: Über naive und sentimentalische Dichtung [1795/96], in: Ders.: Sämtliche Werke (Hg. Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert), Darmstadt: Lizenzausgabe WBG (91993) Bd. V, 694–780. Heinrich VON KLEIST: Über das Marionettentheater [1810], in: Werke und Briefe in vier Bänden (Hg. Siegfried Streller), Frankfurt a.M.: Insel 983, Bd. III, 473–480. Darauf anspielend Peter WUST: Naivität und Pietät, GW II, 44, 46f., 56–62, sowie ausführlich DERS.: Vom Wesen der historischen Entwicklung, in: Hochland 20 (2/1923) 19–39, 179–202. Die grundstürzende Bedeutung, die die Lektüre von Kleists »Marionettentheater«, diesem »Glanzstück ästhetischer Metaphysik« (Thomas Mann), auf die Entwicklung des philosophischen Denkens von Peter Wust hatte, beschreibt dieser in einem Brief vom 12. Juni 1924 an Hermann Graf Keyserling. (Abgedruckt in Wilhelm VERNEKOHL: Peter Wust. Biographische Notizen, in: GW VIII, 5–148, hier 33f.) Wust analogisiert jene Haltung primärer Naivität mit der Haltung der »simplicitas« (Einfalt) und beschreibt als Epiphänomene bzw. als Früchte einer solchen Haltung folgende Einstellungen zur Welt: »kindliche Unbefangenheit, kindliche Unberührtheit, natürliche Schlichtheit und Geradheit, […] Geradherzigkeit, Aufrichtigkeit, Unverstelltheit, Ungekünsteltheit, Selbstlosigkeit, kindliche Unschuld, Reinheit, Lauterkeit, Harmlosigkeit, Arglosigkeit, kindliche Sorglosigkeit, natürliche Frische, Heiterkeit, Gesundheit, Lebendigkeit, natürliche Sicherheit, Selbstverständlichkeit, natürliche Biederkeit, Treuherzigkeit, Vertrauensseligkeit, Zutraulichkeit, Mitteilsamkeit, Aufgeschlossenheit; ferner wieder natürliche Ungebrochenheit, Ursprünglichkeit, Urwüchsigkeit, Originalität, Primitivität.« Adjektivische Umschreibungen von »simplicitas«/»Naivität« lauten: »kindlich wohlwollend, unschuldig, offen, gerade heraus, vertraulich, aufrichtig, unverstellt, unbesorgt, unverwundet, unverdorben usw.« Alle diese Beschreibungen finden sich wieder in verschiedenen theologischen und philosophischen Wortbildungen: »amor benevolentiae« als Umschreibung der höchsten Form der Liebe; »anima candida, rectitudo animi, animus semper sibi constans, ἅπλωσις τῆς ψυχῆς.« Letzterer Begriff entstammt der Philosophie Plotins (Enn. IX, 1–12.15–18; 39.82–178; 49.102–162) und meint die klare, einfältige Seele, die aufgrund ihrer Ein-Falt aufgeschlossen ist für das schlechterdings Einfache als dem Urgrund aller Dinge, das zugleich die höchste Gottheit ist; ferner die Harmonie der Seele, sofern sie in Kon-sonanz steht mit dem Einen. Erkenntnismetaphysisch zielt die Haltung der »einfältigen Seele« auf den Zusammenhang von Sein und Erkennen, amare und intelligere. In diesem Sinne ist nicht

266

VII. Zweite Naivität

als »primäre Naivität« bezeichnet, auch im Sinne jenes kindlichen Urvertrauens beschreiben, in welchem die moderne Entwicklungspsychologie die Grundlage einer stabilen Persönlichkeitsentwicklung sieht.16 Ausdrucksmedium jener »primären Naivität« ist eine mit den Weltzusammenhängen auf selbstverständliche Weise einverstandene Lebenshaltung, die da lautet: »Die Welt ist gut, wie sie ist!« »Im letzten kann dir nichts passieren!«17 Die Zusammenhänge, die Wust hier vor Augen hat, sind nun freilich nicht solche, die sich auf entwicklungspsychologische Vorgänge reduzieren ließen; Wust ist vielmehr überzeugt, daß die subjektive Haltung »primärer Naivität« (er nennt sie auch die »primäre Tugend der Seele«18) einem objektiven metaphysischen Fundament aufruht: einer uranfänglichen, göttlichen Affirmation, die allem, was ist, das Siegel geschöpflichen Gutseins aufprägt.19 Die Haltung »primärer Naivität« zur Welt ist für ihn deshalb auch keine Illusion. In ihr leuchtet vielmehr ein Abglanz jenes para-

16

17

18 19

zuletzt wohl auch der Wunsch des Claudius’schen Abendliedes zu verstehen: »Laß uns einfältig werden …« (Vgl. Naivität und Pietät, GW II, 154ff. Zum Ganzen auch Gerd HEINZ-MOHR: Art. »Einfalt«, in: HWP II, 394f.) Der Ausdruck »Urvertrauen« stammt bekanntlich von Erik H. ERIKSON. In seinem Buch Childhood and Society [1950] spricht Erikson von »basic trust«, in der dt. Übersetzung wiedergegeben mit dem sprichwörtlich gewordenen Begriff »Urvertrauen« (Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart: Klett [51974]). Erikson wählt das Wort »trust«, weil es seiner Meinung nach gegenüber dem bestimmteren »confidence« »mehr an Naivität und Wechselseitigkeit« enthalte und daher geeigneter sei, das umfassend Intuitive der Mutter-Kind-Beziehung wiederzugeben (ebd. 241). Vgl. zum Ganzen auch das faktenreiche Buch von Franz RENGGLI: Angst und Geborgenheit. Soziokulturelle Folgen der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr. Ergebnisse aus Verhaltensforschung, Psychoanalyse und Ethnologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (1974). Vgl. Peter L. BERGER: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Freiburg i.Br.: Herder Spektrum (21990) 84–89. Peter WUST: Naivität und Pietät, GW II, 133. Vgl. Peter WUST: Naivität und Pietät, GW II, 133: »[…] in den untersten Tiefen unserer geistigen Existenz thront stets der heimliche König des ewigen Ja; das Nein aber ist nur eine abgeleitete Form dieses Ja und bleibt daher diesem Urprinzip stets zu strengem Dienst verbunden. Weil wir ein Sein sind mitten im Sein, leben wir notwendigerweise von diesem universalen Selbstand des Seins, ruhen wir auf diesem ewigen Ja, das die Basis und den invariablen Grund aller Dinge bildet.« – In einem Naivität und Pietät vorangehenden Aufsatz zitiert Wust folgenden Satz Goethes: »Es ist offenbar ein Zeichen von Wahrheitsliebe, die Welt schön zu finden«, um ihn dann folgendermaßen zu kommentieren: »Und nun kann man ohne Verwegenheit das Wort sagen: Ohne diesen naiven Glauben, der nichts anderes ist als das ursprüngliche intellektuell praktische Harmonieverhältnis zwischen Ich und Welt, zwischen der objektiven Ordnungstendenz des gesamten Seins und der subjektiven Zustimmung zu ihr in der Seele, gibt es überhaupt kein eidetisch reines Wissen.« (Der Doppelaffekt von Staunen und Ehrfurcht als Faktor der Kulturentwicklung [1924], in: GW VI, 421–462, hier 457f. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen Nr. 292.])

Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen

267

diesischen Schöpfungswortes auf, das da lautet: »Und siehe: Es war sehr gut.« (Gen 1,31)20 Freilich, was als verheißungsvolle Affirmation in jenem Wort aufleuchtet und allen in die Kindheit scheint, ist eine Fühlwissen, das mit zunehmendem Alter verloren geht. Je stärker das ursprüngliche, kindliche Seinsvertrauen durch die Erfahrung erschüttert wird, daß die Welt eben »nicht einfach gut ist, wie sie ist«, umso mehr verblaßt auch die Haltung primärer Naivität. An sich ist ein solcher Vorgang für eine Reifung hinein ins Erwachsenenalter wichtig und nötig; nicht zuletzt die menschliche Reflexionsfähigkeit wird ja durch Phasen der Skepsis, des Zweifels und der Ungewißheit erprobt und gestärkt. Je länger und schärfer freilich die Erfahrung der existentiellen Fragwürdigkeit des Lebens21 dem naiven Glauben an eine ursprüngliche Güte der Welt entgegensteht; je weniger die Erfahrung trägt, daß »es im letzten eben doch gut ist, wie es ist«, umso größer wird die Gefahr, jener naiv-primordialen Evidenzerfahrung als einer kindlichen Illusion den Abschied zu geben. An ihre Stelle tritt dann entweder ein bekümmerter Agnostizismus oder aber die Haltung desillusionierter, womöglich zynischer Ernüchterung: »Ich glaub’ an nichts, und an einen lieben Gott schon gar nicht!« »Sieh’ zu, wie du mit dem Leben fertig wirst!« Hier nun führt Wust die Rede von der »zweiten« bzw. »sekundären Naivität« ein. Zweite Naivität – das wäre die dem Leben abgerungene und insofern erlittene, zugleich aber in ein leises Vertrauen hineinverwandelte Haltung des erwachsenen Menschen gegenüber dem Leben und seinen unlösbaren Rätseln, ein frommes Äquilibrium von Skepsis und wiedergewonnener Seinsbejahung, in welchem die großen Fragen zwar nicht einfach gelöst sind, aber doch zur Ruhe gefunden haben. Zweite Naivität – das wäre die Haltung dessen, der in gewisser Weise »trotzdem« glaubt, aber nicht aus verkrampftem Trotz, sondern aus einer weisheitlichen Haltung fragend-staunender, mitunter schüchtern-humorvoller, immer aber auch dankbarer Verwunderung über diese seltsame, uns unbefragt auferlegte Existenz. In einer solchen elaborierten Gestalt seinsbejahender Naivität schlüge das schmerzlich-enttäuschte Wissen um die Grenzen des 20

21

Eine eindringliche Beschreibung jenes naiv-vorreflexiven Gefühls selbstverständlicher Beheimatung in der Welt im Sinne einer natürlichen Religiosität findet sich bei Vaclav HAVEL: Politik und Gewissen [1984], in: Ders.: Am Anfang war das Wort, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (1990) 81–113, hier 83ff. Die grundstürzenden Erfahrung der »insecuritas humana« ist Gegenstand der letzten größeren Schrift, die Wust vor seinem frühen Tod hat abschließen können und die ihm (ob zu Recht, sei dahingestellt) bis heute den Ruf eines christlichen Existenzphilosophen eingetragen hat: Ungewißheit und Wagnis [1937], in: GW IV, 25–293.

268

VII. Zweite Naivität

Wißbaren um in eine Haltung der »frommen Verehrung des Unerforschlichen«22 – in eine Haltung, die ihre reinste und wohl auch schönste Form in der »docta ignorantia« des Nikolaus Cusanus findet, in einer (auch über sich selbst) »belehrten Unwissenheit«.23 Eine solche »Zweite Naivität« trüge gleichsam ein mystisches Moment an sich; sie wüßte um ihre Vorläufigkeit (weshalb man sich immer wieder neu um sie bemühen muß24); sie wüßte aber auch um ihren Gnadencharakter, denn ihr Signum wäre es, nicht nur das eigene Leben, sondern auch den Gott, der sich in ihm zugleich offenbart und verbirgt, staunend zu bedenken. Ein solches staunendes und gerade darin immer auch dankendes Bedenken des eigenen Lebens in seiner unergründlichen Tiefe wäre aber nicht zuletzt eine elaborierte Gestalt des – Gebets.25 22

23

24

25

Peter WUST: Naivität und Pietät, GW II, 200. – Wusts Formulierung dürfte auf Goethes berühmte Sentenz anspielen: »Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.« (Maximen und Reflexionen Nr. 718, in: Hamburger Ausgabe Bd. XII, 467.) Ähnlich GW VI (s.u. Anm. 25) 451. Vgl. zum Ganzen auch Hans-Georg GADAMER: Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens [1985], in: Plato im Dialog (Gesammelte Werke Bd. VII), Tübingen: Mohr-Siebeck (1991) 83–117. Peter WUST: Naivität und Pietät, GW II, 201. Während Wust das Stichwort »docta ignorantia« nur erwähnt, jedoch nicht weiter entfaltet, finden sich bei Ernst SIMON ausführlichere Einlassungen zum Cusaner: Die zweite Naivität, aaO. 252–260. – Vgl. auch Joachim RITTER: Docta ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei Nikolaus Cusanus, Leipzig: Teubner (1927); Rudolf HAUBST: Streifzüge in die cusanische Theologie, (Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft) Münster: Aschendorff (1991). Zur Geschichte des Begriffs, in dessen Hintergrund das augustinische Diktum aus Ep. 130, 15, 28 steht (»Es ist in uns ein sozusagen belehrtes Nichtwissen, das jedoch belehrt ist vom Geiste Gottes«), vgl. Gerda VON BREDOW: Art. »docta ignorantia«, in: HWP Bd. II, 273f. »[…] im Bereich des endlichen Geistes gibt es, solange sich der Wille im Zustande der Bewegung befindet, keine endgültigen Siege und keine endgültigen Sicherheiten gegen den erneuten Fall.« (Peter WUST: Naivität und Pietät, GW II, 199.) »Von einem Wagnis der Weisheit aber muß in der spezifischen Daseinssituation des Menschen deshalb gesprochen werden, weil es sich bei ihm nicht um die Weisheit an sich handeln kann, sondern nur um jene endliche Gestalt der Weisheit, die noch auf dem Wege ist zur Weisheit selbst.« (Peter WUST: Ungewißheit und Wagnis, GW IV, 277.) Darauf weist Wust auch schon in seinem 1924 in der Zeitschrift Hochland veröffentlichten Aufsatz Der Doppelaffekt von Staunen und Ehrfurcht als Faktor der Kulturentwicklung (GW VI, 421–462) hin, der die Studien über »Naivität und Pietät« gewissermaßen präludiert: Nur das Kind und das Genie kennen das Wesen des wirklichen Staunens. (Ebd. 443.) Deshalb endet das höchste Wissen oft im Schweigen des Gebets. (Ebd. 447, vgl. 445.) – In diesem Sinne ist wohl auch das ergreifende »Abschiedswort« zu lesen, das Peter Wust im Dezember 1939, da er längst begonnen hatte, sein Krankenbett »mein Sterbelager« zu nennen, seinen Studenten ins Philosophische Seminar der Universität Münster sandte: »Und wenn Sie mich nun noch fragen sollten, bevor ich jetzt gehe und endgültig gehe, ob ich nicht einen Zauberschlüssel kenne, der einem das letzte Tor zur Weisheit des Le-

Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen

269

2.2. Sehnsucht nach Erlösung als Ursprung einer neuen, zweiten Naivität: Ernst Simon Nun gibt es Gedanken, die liegen, wie man sagt, gleichsam in der Luft. Denn etwa zeitgleich und doch ganz unabhängig von Wust (später allerdings auch in direkter Auseinandersetzung mit ihm) hat auch der jüdische Reformpädagoge Ernst Simon (1899–1988) den Versuch unternommen, über die Haltung einer »Zweiten Naivität« zu reflektieren. Das Stichwort, von dem Simon meinte, daß es ihm ganz von alleine zugefallen sei26, findet sich bei ihm erstmals in einem 1931 veröffentlichten Aufsatz zur Idee eines »Freien Jüdischen Lehrhauses«, wie sie von Franz Rosenzweig propagiert wurde.27 Im Rahmen des pädagogischen Reformansatzes des Frankfurter

26

27

bens erschließen könne, dann würde ich Ihnen antworten: ›Jawohl!‹ – Und zwar ist dieser Zauberschlüssel nicht die Reflexion, wie Sie es von einem Philosophen vielleicht erwarten möchten, sondern das Gebet. Das Gebet, als letzte Hingabe gefaßt, macht still, macht kindlich, macht objektiv. Ein Mensch wächst für mich in dem Maße immer tiefer hinein in den Raum der Humanität – nicht des Humanismus –, wie er zu beten imstande ist.« (Ein Abschiedswort, in: GW VII, 336–340, hier 339f.) »Vor vielen Jahren, in einer Sitzung der Jerusalemer ›Philosophischen Gesellschaft‹, die unter dem Vorsitz Hugo Bergmans stattfand, machte ich eine Bemerkung über die Möglichkeit, zu den Grundfragen der Existenz eine bestimmte Haltung einzunehmen, welche ich mit dem mir damals neu erschienenen Namen der ›zweiten Naivität‹ zu charakterisieren suchte. Eine solche Haltung würde nicht identisch mit der ursprünglichen Einfalt sein, die man bei Gemeinschaften ›primitiv‹ und bei Individuen ›kindlich‹ nennt. Vielmehr würden die Bruchstellen erkennbar werden, die sich auf dem langen Weg zwischen der ersten und der zweiten Naivität ergeben müßten, als Zeugen erschütternder Glaubenszweifel und bleibender Ergebnisse philosophischer und wissenschaftlicher Kritik. Es sei sehr möglich, daß in einer Zeit wie der unseren die meisten in diesem antithetischen Übergangsstadium steckenblieben, aber einige wenige mögen sich aus ihm hervorarbeiten, und die würden dann die Menschen der zweiten Naivität sein. [/] Hugo Bergman reagierte, soweit ich mich erinnere, auf diese Darlegungen mit einem einzigen Satz. Er sagte etwa: Wenn du die Schriften von Peter Wust nicht kennst, solltest du sie lesen; er befaßt sich mit deinem Gegenstand. [/] Das war das erste Mal, daß ich Wusts Namen hörte […].« (Ernst SIMON: Die Zweite Naivität, aaO. 246.) – Für das Folgende vgl. auch Jan WOPPODA: Widerstand und Toleranz. Grundlinien jüdischer Erwachsenenbildung bei Ernst Akiba Simon (1899–1988), Stuttgart u.a.: Kohlhammer (2005) 93ff., 200–216, 232, 287–292; DERS.: Zweite Naivität. Eine jüdische Stimme zum Verhältnis von Glauben und Bildung, in: TThZ 115 (2006) 332–343. Rosenzweigs »Freies Jüdisches Lehrhaus« verbindet schon im Namen sonst getrennte Gegensätze: Ein jüdisches Lehrhaus kann recht eigentlich nicht frei sein von orthodoxen Einschränkungen; hingegen eine freie Lehrstätte, auch wenn von und für Juden gegründet, wäre recht eigentlich arm an jüdischem Gehalt. Rosenzweigs Genialität wußte beider Reichtum, den der Orthodoxie und den des freien Lernens, unter Umgehung beider Mängel miteinander zu verbinden. »Das Denken gab mir die Möglichkeit, zu glauben« – dieser zentrale Satz aus Simons autobiographischen Aufzeichnungen (Mein Judentum, in: Ders.: Entscheidung zum Judentum. Essays und Vorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1980] 11–25, hier 14) könn-

270

VII. Zweite Naivität

»Lehrhauses« das Thema »Zweite Naivität« anzuschlagen, bot sich für Simon insofern an, als es Rosenzweigs erklärtes Anliegen war, dem in weiten Teilen assimilierten deutschen Judentum einen »neuen Zugang zur Welt der Tradition« zu eröffnen, eine »neue Unmittelbarkeit« zum überkommenen Glauben Israels – eine Unmittelbarkeit, bei der es sich jedoch nicht mehr um die »des Kindes oder des Orthodoxen« handelt, sondern um eine solche, die »von der kritischen Wissenschaft« alles das »gelernt [hat], was nur von ihr zu lernen ist« und die sich insofern als kritisch-reflektierte, d.h. als vermittelte Unmittelbarkeit zur ererbten Religion darstellt – eben als »zweite« und nicht mehr als »erste Naivität«.28 Das Thema »Durchbruch zu einer ›Zweiten Naivität‹« hat Simon zeitlebens umgetrieben; der Grund hierfür war nicht zuletzt ein biographischer. Während der Katholik Peter Wust sich in jungen Jahren

28

te denn auch über dem Eingang von Rosenzweigs Lehrhaus gestanden sein. – Ausführlicher dazu folgende Aufsätze bzw. Reden in Franz ROSENZWEIG: Kleinere Schriften, Berlin: Schocken Verlag/Jüdischer Buchverlag (1937): Zeit ists … (Ps 119,126) Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks [1917] (ebd. 56–78); Bildung und kein Ende (Pred. 12,12). Wünsche zum jüdischen Bildungsproblem des Augenblicks insbesondere zur Hochschulfrage [1920] (ebd. 79–93); Neues Lernen. Entwurf der Rede zur Eröffnung des Freien Jüdischen Lehrhauses [1920] (ebd. 94–99); Das Freie Jüdische Lehrhaus. Einleitung für ein Mitteilungsblatt [1925] (ebd. 100ff.); Eine Lücke im Bildungswesen der Gemeinde [1923] (ebd. 102ff.); Die Bauleute. Über das Gesetz [Offener Brief an Martin Buber] [1923] (ebd. 106–121). Ernst SIMON: Franz Rosenzweig und das jüdische Bildungsproblem [1931], in: Ders.: Brücken. Gesammelte Aufsätze, aaO. 393–406, hier 404: »In der Haltung einer ›zweiten Naivität‹ gleichsam vollzog sich und vollzieht sich noch heute bei den vielen, die, in Frankfurt und anderen Orten, auf Rosenzweigs Wegen weitergegangen sind, die neue Begegnung mit dem alten Judentum. Es ist jeweils spürbar, daß es sich nicht um die erste Naivität des Kindes oder des Orthodoxen handelt, die vor dem wissenschaftlichen Sündenfall steht. Diese neue Unmittelbarkeit ist durch das Mittelbare und zu Vermittelnde hindurchgegangen: sie hat von der kritischen Wissenschaft gelernt, was nur von ihr zu lernen ist, und will keines ihrer (wirklich) ›sicheren Ergebnisse‹ romantisch oder homiletisch preisgeben. Sie ist frei, und ist auch befreit; nie wieder wird ein kirchlicher Bann ihre Gedanken in Haft nehmen können, aber – um ein Wort zu verwenden, das Bialik, nicht ganz zu Recht, einmal zum Lob der jüngsten hebräischen Dichtergeneration fand – sie ist auch ›frei vom Rausche der Freiheit‹.« – Wenige Jahre später, 1935, greift Simon ein weiteres Mal auf den Begriff der »zweiten Naivität« zurück, und zwar im Zusammenhang seiner Würdigung des Lebenswerkes von Chaijm Bialik (1873–1934), des Vaters der modernen hebräischen Dichtung: Chajim Nachman Bialik. Eine Einführung in sein Leben und Werk. Mit einigen Übersetzungsproben und Gedichtanalysen (Bücherei des Schockenverlags 37/38), hg. von Ernst Simon, Berlin: Schocken (1935), hier 149f.: »[Bialik] gewann in diesen letzten Jahren seines Lebens und Dichtens eine neue seelische Haltung, die der zweiten Naivität. Nachdem er alles Lernbare gelernt, alles Wißbare erfahren und alles Fragbare gefragt hatte, stieg die Glaubenswelt, im Innersten unzerstört, wieder in ihm auf, und er ergriff sie mit wiedergewonnener Kindlichkeit.«

Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen

271

auf schmerzhafte Weise dem christlichen Glauben entfremdet hatte und erst über den Umweg der Philosophie zur Tradition zurückfand29, war Ernst Simon von vorneherein in einem säkularen Elternhaus aufgewachsen; anders als Wust mußte sich Simon einen Zugang zur Religion allererst erarbeiten.30 Eben deshalb aber wußte er, ähnlich wie Wust, daß der gegen alle Widerstände errungene Glaube kein fester Besitz ist, daß er vielmehr die »Bruchstellen« »erschütternder Glaubenszweifel«31 bleibend an sich trägt. Es nutzt nichts, diese Bruchstellen zu verleugnen oder in der Haltung des selbstbewußten Konvertiten zu überspielen. »Zweite Naivität« im Sinne Simons bedeutet vielmehr, jene Bruchstellen im Vollzug einer reflektierten Lebenspraxis immer wieder neu zu verwinden.32 Daß diese Lebenspraxis eine solche nicht nur in der säkularen Welt ist, sondern auch eine solche für sie sein muß, stand Simon dabei immer vor Augen. Damit ist nun auch ein gegenüber Wust anders gelagertes Interesse am Tag: Simon geht es vorrangig um »die Problematik der Vermittlung einer religiösen […] Identität mit den Bedingungen und Herausforderungen einer spätmodernen Lebenshaltung«.33 Die ent-

29

30 31 32

33

Simons Bekenntnis: »Das Denken gab mir die Möglichkeit, zu glauben« (s.o. Anm. 27) gilt also in genau derselben Weise auch für Wust. – Vgl. Peter WUST: Gestalten und Gedanken [autobiographische Aufzeichnungen], in: GW V, 26, 232f., 239f., 249f., 252f.; Wilhelm VERNEKOHL: Peter Wust. Biographische Notizen, in: GW VIII, 5–148, hier 53, 62, 107. Das letzte Buch von Wust, Ungewißheit und Wagnis [1936], ist, wie der Titel schon andeutet, insbesondere von den Erfahrungen des Autors mit dem christlichen Glauben geprägt. Von hier her begründet sich auch seine philosophiegeschichtliche Einordnung als eines »christlichen Existenzphilosophen«. Auf seinem Sterbebett hat Wust bestimmt, daß das berühmte Augustinuswort aus Conf. I seinen Totenzettel schmücken solle: »Ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in Dir.« (Wilhelm VERNEKOHL: Peter Wust. Biographische Notizen, GW VIII, 104.) Ernst SIMON: Mein Judentum, aaO. 13ff. Ernst SIMON: Die zweite Naivität, aaO. 246. Vgl. Ernst SIMON: Selbstdarstellung, in: Ludwig J. Pongratz (Hg.): Pädagogik in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Hamburg: Felix Meiner (1975) 272–333, hier 298–307. »Die Begegnung, welche mich allmählich zum Glauben führte, war keine direkte, sondern eine vermittelte, und dabei ist es geblieben. Das läßt sich in einer Strophe ungehemmter sagen als in nackter Prosa: ›Ich habe Gottes Stimme nie gehört, / Vielleicht ist sie’s, die aus dem Schlaf mich stört. / Wach ich, verstummt sie; kaum ein Echo blieb. / Dem zog ich nach, wohin’s mich immer trieb.‹ Es ist gewiß kein orthodoxes Dogma und als Grundlage so schwankend wie unsere erschütterte Gewißheit, doch immerhin so tragfähig wie unsere unerschütterliche Hoffnung im Glauben des Vielleicht [sc. vgl. Am 5,15b]. Jenes Echo genügte, mich beten zu lehren, singen zu machen und einzustehen für das, was mir jeweils als Gottes Recht erscheint, soweit Mut und Kraft eben reichen.« (Ebd. 300) Jan WOPPODA: Widerstand und Toleranz, aaO. 201.

272

VII. Zweite Naivität

scheidende Frage: »What can modern man believe?«34, die ja nicht zuletzt die Frage auch von Paul Tillich35 und Dietrich Bonhoeffer36 gewesen ist (mit letzterem hat sich Simon intensiv auseinandergesetzt37), läßt sich auf befriedigende Weise nur beantworten, wenn man wirklich bereit ist, sich auf die Situation einer säkular gewordenen Welt radikal einzulassen. Die leitende Frage ist dabei nicht, was der seiner Aufgeklärtheit bewußt gewordene Mensch »noch« glauben kann, was ihm von der traditionellen Religion als »noch« vereinbar erscheint mit einem modernen Bewußtsein, was von der biblischen Botschaft zu akzeptieren er »noch« bereit ist. Vielmehr »der Brennpunkt, um den sich die meisten Symptome der zweiten Naivität sammeln«, ist für Simon nichts geringeres als die »religiöse Umkehr.«38 Eine solche Umkehr (hb=VDt4