Futuristen auf Europa-Tournee: Zur Vorgeschichte, Konzeption und Rezeption der Ausstellungen futuristischer Malerei (1911-1913) [1. Aufl.] 9783839412053

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gingen die Futuristen auf große Europa-Tournee, um ihre Bilder international bekannt z

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Futuristen auf Europa-Tournee: Zur Vorgeschichte, Konzeption und Rezeption der Ausstellungen futuristischer Malerei (1911-1913) [1. Aufl.]
 9783839412053

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Vorgeschichte
Biographische Ausgangssituation. Der Maler Umberto Boccioni, Gino Severini und Giacomo Balla
Das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Giacomo Balla zu Umberto Boccioni und Gino Severini
Das Gründungsmanifest des Futurismus
Die Gründungsereignisse futuristischer Malerei
Der Futurismus zum Zeitpunkt seiner Gründung
Die Ausgangslage im Jahr
›Mostra d’arte libera‹ (1911)
Das ästhetische Programm der Initialphase
Die futuristischen Bilder im Spiegel der Kritik Ardengo Sofficis
Die Malerei Gino Severinis
Die Malerei der Gemütszustände
Die Reise nach Paris im November 1911
Die Ausgangslage Anfang
Die Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912)
Die Ausstellung futuristischer Malerei in Paris
Die Ausstellung futuristischer Malerei in London
Die Ausstellung futuristischer Malerei in Berlin
Erster Deutscher Herbstsalon (1913)
Balla
Umberto Boccioni
Carlo Carrà
Luigi Russolo
Gino Severini
Ardengo Soffici
Schlußwort
Anhang
Literatur
Abbildungen

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Lilli Weissweiler Futuristen auf Europa-Tournee

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Lilli Weissweiler (Dr. phil.) arbeitet als Übersetzerin und freie Kulturwissenschaftlerin in Stuttgart. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Primo und Secondo Futurismo.

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Lilli Weissweiler Futuristen auf Europa-Tournee. Zur Vorgeschichte, Konzeption und Rezeption der Ausstellungen futuristischer Malerei (1911-1913)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: L. Russolo, C. Carrà, F.T. Marinetti, U. Boccioni, G. Severini in Paris im Februar 1912 anlässlich der Ausstellungseröffnung »Les peintres futuristes italiens«, Paris, Galerie Bernheim-Jeun & Cie vom 5. Bis zum 24. Februar 1912. Aus: Le futurisme à Paris. Une avant-garde explosive, Ausst.-Kat. 15. Oktober 2008 - 26. Januar 2009, Centre Pompidou, Paris: èditions du Centre pompidou 2008, S.84. Lektorat & Satz: Lilli Weissweiler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1205-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT Vorwort 7 Einleitung 9 Vorgeschichte 11 Biographische Ausgangssituation. Der Maler Umberto Boccioni, Gino Severini und Giacomo Balla 11 Das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Giacomo Balla zu Umberto Boccioni und Gino Severini 28 Das Gründungsmanifest des Futurismus 36 Die Gründungsereignisse futuristischer Malerei 38 Der Futurismus zum Zeitpunkt seiner Gründung 55 Die Ausgangslage im Jahr 1910 57 ›Mostra d’arte libera‹ (1911) 61 Das ästhetische Programm der Initialphase 63 Die futuristischen Bilder im Spiegel der Kritik Ardengo Sofficis 72 Die Malerei Gino Severinis 76 Die Malerei der Gemütszustände 82 Die Reise nach Paris im November 1911 85 Die Ausgangslage Anfang 1912 96

Die Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) 99 Die Ausstellung futuristischer Malerei in Paris 99 Die Ausstellung futuristischer Malerei in London 139 Die Ausstellung futuristischer Malerei in Berlin 152 Erster Deutscher Herbstsalon (1913) 173 Balla 175 Umberto Boccioni 182 Carlo Carrà 189 Luigi Russolo 191 Gino Severini 194 Ardengo Soffici 202 Schlußwort 207 Anhang 211 Literatur 223 Abbildungen 229

VORWORT Die vorliegende Untersuchung wurde mit der Disputation am 22. Dezember 2008 vom Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität als Inauguraldissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an all diejenigen aussprechen, die mich in der strapaziösen Zeit während der Ausarbeitung meiner Dissertation ermutigt und begleitet haben. An erster Stelle bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dr. Klaus Herding, der meine Arbeit ausgesprochen intensiv betreut hat und der mir in der letzten Phase meiner Ausbildung noch so viel beibringen konnte. Jedes Gespräch mit ihm war eine Quelle neuer Ideen und Motivationen. Er kümmerte sich aber nicht nur um die „großen“ Ideen, sondern auch um eine ganze Reihe von vermeintlichen Kleinigkeiten, die die Grundlage für alles weitere sind. Seine fürsorgliche Betreuung ermöglichte eine angenehme Zusammenarbeit. Es gibt keine passenden Worte für den unendlichen Dank, den ich ihm aussprechen möchte. An zweiter Stelle bedanke ich mich bei dem zweiten Betreuer und Gutachter Herrn Prof. Dr. Gottfried Boehm für seine angenehme Betreuung meiner Arbeit. Auch er hatte stets ein offenes Ohr für Schwierigkeiten, die sich im Laufe des Promotionsverfahrens stellten. Ich konnte jederzeit sein inspirierendes Doktorandenkolloquium in Basel besuchen, um den neuesten Stand meines Promotionsvorhabens darzustellen. Er hatte immer frische und überraschende Ideen, die ich in meiner Arbeit beherzigt habe. Dieser Dank gebührt nicht nur den Professoren, sondern auch dem kunsthistorischen Institut der Johann Wolfgang-Goethe-Universität. Drittens bedanke ich mich bei der Peter Fuld Stiftung, die mir finanzielle Mittel zur Verfügung stellte, um mein Promotionsvorhaben in die Realität umzusetzen. Viertens danke ich allen Mitarbeitern (besonders Francesca Velardità und Paola Pettenella) vom MART (Museo d’arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto), die mir bei der Recherche behilflich waren und an die ich mich jederzeit während der Promotion auch telefonisch und per email wenden konnte. Weiterhin bedanke ich mich bei allen Personen meines privaten Umfelds, die mich in dieser schwierigen Zeit unterstützt haben. Dazu zählt als erster Falk Büttner, der Vater meiner Kinder, der mir finanziell und ideell eine große Hilfe war. Er kümmerte sich um alle technischen Belange meiner mündlichen Prüfung, die mit einer aufwendigen Powerpoint-Präsentation verbunden war. Auch meine Kinder Anna und Anton ist zu danken, weil allein ihre Präsenz mich motivierte, mein Promotionsvorhaben zu Ende zu bringen. Außerdem danke ich meinen Eltern ganz herzlich, daß sie

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Futuristen auf Europa-Tournee mir auch in schlechten Zeiten so viel Trost gespendet haben, daß sie mir, immer wenn es nötig war, finanzielle Mittel zur Verfügung stellten und auch immer offen für Gespräche waren. Am Ende möchte ich mich noch bei meinem Au-pair-Mädchen Dalì Tsoloeva bedanken, die durch permanente Überstunden mir meine Arbeit ermöglichte. Vielleicht noch einige Worte darüber, wie ich auf das Thema der Dissertation, „Futuristen auf Europa-Tournee“, kam: Ursprünglich sollte sich diese Dissertation mit den Künstlergruppen im faschistischen Italien befassen, insbesondere mit dem ›Secondo Futurismo‹. Zum ersten Mal kam ich mit diesem Thema durch den Katalog zu der Ausstellung ›...auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!...‹1 über die zweite Phase des Futurismus in Berührung. Als ich im Dezember 2003 bei einem Urlaub in Italien in der Nähe von Neapel einen Kalender mit glorifizierenden Duce-Porträts, und im Museum für Moderne Kunst in Rom ï ohne erläuternde Tafeln an den Seiten – eine ebenfalls faschistoide Marinetti-Darstellung vorfand, wurde mein Interesse an der Kunst im faschistischen Italien geweckt: wie gestaltet sich die Koexistenz von ›Kunst‹ und ›Regime‹ im faschistischen Italien? Welche Strategien verwandten die Künstler, um ihre ästhetischen Ambitionen umzusetzen? Welche bildnerischen Formen der Assimilation oder des Protests kamen zur Geltung? Auch die Ausstellung Perfektion und Zerstörung. 1937 und der gleichnamige Katalog dazu,2 in dem der Kunst im faschistischen Italien ein eigenes Kapitel gewidmet ist, 3 ging es darum, den meistens vernichtenden Umgang der faschistischen Regime in Europa mit der modernen Kunst darzustellen. Um aber die Kunst, insbesondere den ›Secondo Futurismo‹, im faschistischen Italien zu verstehen zu können, ist eine intensive Beschäftigung mit der ersten Phase futuristischer Malerei unerläßlich, weil sich die Künstler im Faschismus sowohl in ihren Bildwerken als auch in ihren schriftlichen bußerungen immer wieder auf die erste Phase beziehen. Aber schon die Geschichte der ersten Phase futuristischer Malerei ist derartig diffizil und kleinteilig mit ihren zahlreichen Subgruppierungen und Sparten, mit ihren unzähligen Veranstaltungen und der stetig steigenden Mitgliederzahl, mit ihren kaum zu überblickenden Dokumenten, daß sie als Gegenstand einer Dissertation hinreichend schien. Aus diesem Grund ist diese Studie als Vorstufe zu einer weiteren Untersuchung über die zweite Phase futuristischer Malerei zu betrachten, die noch folgen wird.

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Vgl. Ingo Bartsch/Maurizio Scudiero 2002. Vgl. Thomas Kellein 2007. Vgl. Roman Grabner: Novecento und Aeropittura. Zwei Zeitalter in Italien, in: Kellein 2007, S. 118-151.

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EINLEITUNG Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Analyse der Wanderausstellung futuristischer Malerei aus dem Jahr 1912 in den Städten Paris, London, Berlin. Eine Vorstufe dieser Ausstellung war die ›mostra d’arte libera‹ in Mailand von 1911, an der die futuristischen Maler neben vielen anderen Künstlern teilnahmen und wo sie Gelegenheit hatten, erste Konzepte zu erproben. Die Ausstellungstätigkeit der Futuristen klingt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit ihrer Präsenz auf dem ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ im Jahr 1913 aus. Bei der Analyse der Ausstellungen werden zunächst die vorbereitenden Schritte, die zur Ausstellung führten, beschrieben, darauf folgt eine Analyse der ausgestellten Bildwerke, wodurch die gängigen Rezeptionsdiskurse ergänzt werden, und schließlich eine Betrachtung und Auswertung der zeitgenössischen Rezeption durch Kollegen und Kunstkritiker. Dazu gehört auch die Darstellung der Auswirkungen im soziokulturellen Umfeld der jeweiligen Ausstellungsstadt. Ziel der Arbeit war es, zu einer neuen Darstellung des Primo Futurismo zu finden. Es wurde der Versuch unternommen, die Geschichte der futuristischen Malerei über die Geschichte ihrer Ausstellungen nachzuzeichnen, anstatt, wie sonst üblich, über die Geschichte der Manifeste. Diese Vorgehensweise erwies sich in besonderer Weise als geeignet, weil die meisten der ausgestellten Kunstwerke heute noch zu den Inkunabeln des Futurismus gehören. Dies ist keineswegs bei allen Kunstrichtungen jener Zeit der Fall, wie etwa beim Kubismus, denn die damals ausgestellten Arbeiten der ›Salonkubisten‹ sind heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Da nun die Manifeste in dieser Arbeit stärker als gewohnt in den Hintergrund treten, wird der Analyse der futuristischen Bildwerke eine größere Bedeutung beigemessen. Es gibt zwar bereits andere bildanalytisch orientierte Arbeiten über diese Kunstrichtung,1 doch sind sie eher selten. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß die Futuristen eine kaum überblickbare Flut an Dokumenten hervorgebracht haben, deren Erschließung und Verarbeitung zunächst einmal bewältigt werden mußte ï ein Prozeß, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Aus diesem Grund ist die bildanalytische Tradition in den Studien über die futuristische Malerei noch sehr schwach ausgeprägt. Selbst in den wenigen Arbeiten, die über die futuristischen Ausstellungen geschrieben wurden,2 nehmen die Bildanalysen nur wenig Raum ein. Dabei sind sie bei der Besprechung der Ausstellungen ein unerläßlicher Bestandteil ï ohne ein Verständnis der Bildwerke sind die Reaktionen 1 2

Wie etwa Maly und Dietfried Gerhardus 1994. Vgl. Johanna Eltz 1986, hier das Kapitel ›Die Ausstellungen‹ , S. 39-61.

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Futuristen auf Europa-Tournee in der Presse und die soziokulturellen Auswirkungen der futuristischen Ausstellungen nicht zu erfassen. Weiterhin wird durch die Fokussierung auf die Ausstellungen die Auswahl des Bildmaterials mehr oder weniger durch den historischen Prozeß vorgegeben und somit die Gefahr einer willkürlichen Bildselektion, und auch die Gefahr anachronistischer Bildvergleiche minimiert. Mit der stärkeren Gewichtung auf die Bildanalysen treten auch die Produzenten der Bildwerke stärker in den Vordergrund, während die Figur Marinettis an Bedeutung verliert. Aus diesem Grund wird auch der Vorgeschichte der futuristischen Malerei, in der die Verknüpfungen unter den futuristischen Malern und die zahlreichen Parallelen ihrer Biographien dargelegt werden, größerer Raum beigemessen als man es aus anderen Arbeiten gewohnt ist. Ursprünglich sollte sich diese Dissertation mit den Künstlergruppen im faschistischen Italien befassen, insbesondere mit dem ›Secondo Futurismo‹. Zum ersten Mal kam ich mit diesem Thema durch den Katalog zu der Ausstellung ›...auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!...‹3 über die zweite Phase des Futurismus in Berührung. Als ich im Dezember 2003 bei einem Urlaub in Italien in der Nähe von Neapel einen Kalender mit glorifizierenden DucePorträts, und im Museum für Moderne Kunst in Rom ï ohne erläuternde Tafeln an den Seiten – eine ebenfalls faschistoide MarinettiDarstellung vorfand, wurde mein Interesse an der Kunst im faschistischen Italien geweckt. Daß dieses Interesse nicht nur ein rein persönliches ist, sondern auch ein gesellschaftliches, zeigte die Ausstellung Perfektion und Zerstörung. 1937 und der gleichnamige Katalog dazu,4 in der es darum ging, den meistens vernichtenden Umgang der faschistischen Regime in Europa mit der modernen Kunst darzustellen. Im Katalog ist der Kunst im faschistischen Italien ein eigenes Kapitel gewidmet.5 Um aber die Kunst, insbesondere den ›Secondo Futurismo‹, im faschistischen Italien zu verstehen zu können, ist eine intensive Beschäftigung mit der ersten Phase futuristischer Malerei unerläßlich, weil sich die Künstler im Faschismus sowohl in ihren Bildwerken als auch in ihren schriftlichen bußerungen immer wieder auf die erste Phase beziehen. Aber schon die Geschichte der ersten Phase futuristischer Malerei ist derartig diffizil und kleinteilig mit ihren zahlreichen Subgruppierungen und Sparten, mit ihren unzähligen Veranstaltungen und der stetig steigenden Mitgliederzahl, mit ihren kaum zu überblickenden Dokumenten, daß sie als Gegenstand einer Dissertation hinreichend schien. Aus diesem Grund ist diese Studie als Vorstufe zu einer weiteren Untersuchung über die zweite Phase futuristischer Malerei zu betrachten, die noch folgen wird.

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Vgl. Ingo Bartsch/Maurizio Scudiero 2002. Vgl. Thomas Kellein 2007. Vgl. Roman Grabner: Novecento und Aeropittura. Zwei Zeitalter in Italien, ebd., S. 118-151.

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VORGESCHICHTE

Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! î Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehen! (Goethe, Faust I)

Biographische Ausgangssituation. Der Maler Umberto Boccioni, Gino Severini und Giacomo Balla

»Die futuristische Malerei befindet sich in einer besonders ungünstigen Lage. Sie ist in Italien entstanden und hat sich hier entwickelt, in einem Land also, das blind ist und keinerlei Tradition bezüglich moderner künstlerischen Untersuchungen hat. In dieser Hinsicht gilt Italien im Ausland als das Böotien Europas. Wir sind der festen Überzeugung, daß es unsere Pflicht ist, laut den Vorrang unserer Anstrengungen zu verkünden. Wir haben ein Recht zu leben!«1

Das sagt Umberto Boccioni im Jahr 1913, drei Jahre nach der Formation der Gründergruppe futuristischer Malerei, über die künstlerische Situation Italiens, aus der die Futuristen hervorgegangen sind. Was sind das für Männer, die sich trotz ungünstiger Ausgangsbedingungen dem Projekt verschrieben haben, die moderne Kunst Italiens zu erneuern? Aus welchen gesellschaftlichen Verhältnissen stammen sie? Was motiviert sie, der 1909 durch Marinetti gegründeten futuristischen Bewegung beizutreten? Umberto Boccioni (Abb. 1), so genannt zu Ehren des regierenden italienischen Königs Umberto I. (1844-1900), wird 1882 in Kalabrien, schon damals die ärmste Gegend Italiens, geboren.2 Sein 1

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»La posizione della pittura futurista è particolarmente sfavorevole. È sorta e si sviluppa in Italia, paese cieco e dove non esiste affatto una tradizione di ricerca artistica moderna. Sotto questo aspetto, I’Italia, è considerata all’Esterno come la Beozia europea. Noi sentiamo violentemente il dovere di gridare alto la precedenza dei nostri sforzi. È un diritto alla vita!« (Boccioni 1913, S. 169-171, deutsche Übersetzung von Angelika Chott in: Boccioni 2002, S. 256-263, hier: S. 261). Eine zwar populistische, trotzdem aber fundierte und lesenswerte Biographie bietet Agnese 1996; Eine Kurzfassung von Boccionis Biographie bei

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Futuristen auf Europa-Tournee Vater, Raffaele Boccioni, ist Angestellter einer Präfektur, seine Mutter Cecilia, gebürtige Forlani, Hausfrau und Näherin. Aus beruflichen Gründen wechselt die Familie öfter den Wohnort. Den größten Teil seiner Kindheit verbringt Boccioni in Padua, bis sein Vater im Jahr 1897 nach Catania in Sizilien versetzt wird, wohin er ihn bis zu seinem Schulabschluß begleitet. Die Mutter bleibt mit der sechs Jahre älteren Schwester Amelia in Padua. In Catania arbeitet Umberto Boccioni bereits als Journalist. An der technischen Mittelschule ›Agatino Sammartino‹ erwirbt er seinen Schulabschluß, allerdings erst im zweiten Anlauf. Noch in Catania schreibt er mit etwa 16 Jahren seinen ersten, bis heute unveröffentlichten Roman, Pene dell’anima (Seelenleid), der, obwohl unvollendet, dem Titel nach aufschlußreich für die Analyse seines frühen futuristischen Oeuvres, besonders der Stati d’animo (Gemütszustände) sein könnte. Im Jahr 1899 folgt er seinem Vater nach Rom, wo beide zunächst bei der Schwester des Vaters, Colomba Boccioni, wohnen, bis sie gemeinsam ein Zimmer in einer Pension beziehen. In Rom erscheint es wegen der größeren Konkurrenz und diffuseren Presselandschaft weitaus schwieriger, in das Journalistengeschäft einzusteigen als in Catania. Zu dieser Zeit sind die Zeitungen voll von Illustrationen, was durch den Siegeszug der Lithographie möglich wurde. Daher versucht Boccioni sich Zugang zu diesem Metier zu verschaffen. Der Vater schickt ihn zu einem römischen Reklameund Plakatmaler, Giovanni Mario Mataloni, bei dem er ein Praktikum absolviert. In dieser Zeit verkehrt er in Kreisen kreativ schaffender junger Männer, die sich im Metier der Literatur oder Malerei verwirklichen wollen. Zu ihnen zählt Gino Severini, der mit Boccioni in den folgenden Jahren eine enge Freundschaft eingeht. Severini (Abb. 2) ist ein Jahr jünger als Boccioni. Bis zu seinem Umzug nach Rom wohnt er in verschiedenen toskanischen Städten. Im Jahr 1883 in Cortona geboren,3 hält er sich er vor seiner Übersiedlung nach Rom zuletzt in Radifocani auf. In Cortona aber ist er zur Schule gegangen und Cortona ist für ihn seine »italienische Heimat«: »Cortona ist eine kleine toskanische Stadt etruskischen Ursprungs, gebaut auf einem Berghang nahe der umbrischen Grenze. Es ist durch steile, enge, grob gepflasterte Gassen charakterisiert. Es gibt zwei schöne, geräumige Plätze und eine einzige weitläufige und ebene Hauptstraße, die, zu meiner Zeit, ›Rugapiana‹ oder ›flache Falte‹ genannt wurde. Und es gibt dort auch viele Klöster. Die Einwohner sind grob, stolz und unabhängig.«4

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Schneede 1994, S. 11ff.; Eine Biographie von hohem wissenschaftlichen Anspruch bei Maurizio Calvesi/Ester Coen 1983. Zur Biographie Severinis vgl. Severini 1965; englische Fassung Severini 1995; für eine Verifizierung der Äußerungen Severinis Fonti 1988. »Cortona è una piccolo città di origine etrusca, situate sopre una collina ai confine dell’Umbria. È una piccolo città dale viuzze strette, scoscese, mal lastricate; ci son due belle piazza e una sola via larga e piana, che, appunto I miei tempi, si chiamava »Ruga piana«; e ci sono molti severi conventi; la

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Vorgeschichte So beschreibt Severini seine Geburtsstadt, in der er eine Mittelschule besucht und zuletzt bei seinen Großeltern väterlicherseits wohnt.5 Er kommt aus finanziell ärmlichen Verhältnissen mit wenig »Kultur«. Sein Großvater ist Maurer, seine Großmutter Weberin. Sein Vater wohnt zusammen mit seiner Mutter und seiner etwas älteren Schwester aus beruflichen Gründen in Manciano. Dort ist er ein einfacher Angestellter beim Bezirksgericht. Seine Mutter ist – wie die Mutter Boccionis ï in der Textilindustrie tätig. Solange sie in Cortona lebt, ist sie die beste Schneiderin der Stadt. Sie verdient allein so viel Geld, daß sie der Familie sogar ein kleines Haus kaufen kann, das sie aber, wegen der Unfähigkeit des Vaters, mit Geld umzugehen, wieder verkaufen muß. Seine Mutter beschreibt Severini als gewissenhafte Frau, die sich für die Probleme der Familie zuständig fühlt, sich um eine Sicherung der finanziellen Verhältnisse bemüht, um die Zukunft ihres Sohnes besorgt ist. Sie kompensiert, was sein Vater nicht zu leisten vermag. Severini beschreibt ihn als »aufsässig« und »unzuverlässig« in der Erfüllung seiner Pflichten.6 Wie Boccioni hat auch Severini schulische Schwierigkeiten. Er entwendet zusammen mit Klassenkameraden die Themen der Abschlußprüfungen. Mit etwa 15 Jahren wird er durch richterlichen Beschluß vom öffentlichen Schulsystem ausgeschlossen. Einen Schulabschluß macht er also nie. Nach seiner Schulzeit folgt er seinen Eltern nach Manciano. Bei seiner Ankunft ist die Schwester bereits an Malaria gestorben. Um nicht untätig zu sein, unterstützt er den Vater bei seiner beruflichen Tätigkeit bis zu seiner Versetzung nach Radifocani, »eine Stadt, die möglicherweise noch trüber und freudloser als Manciano war.«7 Vielleicht hat der verfrühte Tod seiner Schwester die endgültige Trennung der Eltern forciert, zu der sich seine Mutter in Radifocani entscheidet ï obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wieder schwanger ist. Auch wegen der Zukunft ihres Sohnes entscheidet sie sich, zusammen mit Gino Severini im Jahr 1899 nach Rom umzusiedeln ï in Rom bieten sich einem jungen Mann wie Severini so viel mehr Möglichkeiten als in der toskanischen Provinz. Um die Trennung vollziehen zu können, überläßt sie das neugeborene Kind einem Kindermädchen in der Nähe von Radifocani. In Rom wohnen sie gemeinsam in einem kleinen, dunklen Zimmerchen.8 Zwar bereitet es der Mutter keine Schwierigkeiten, in Rom eine Anstellung zu finden, sie ist sogar recht erfolgreich, arbeitet als Näherin für das Haus Giovanni Giolittis (1842-1928), des Ministerpräsidenten Italiens. Doch reicht ihr Verdienst für zwei Personen nicht aus. Ohne Schulabschluß ist es für Severini nicht gerade einfach, eine Anstellung zu finden. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit einfachen Arbeiten, »Nebenjobs«, wie man heute sagen würde. Er arbeitet als Botenjunge, als Buchhalter einer Schif-

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gente è ruvida, superb, e independente. (Severini 1965, S. 9, Übersetzung LW). Zu seiner Zeit vor dem Umzug nach Rom, ebd., S.3-9; Fonti 1988, S. 15. Vgl. Severini 1965, S. 72. Ebd., S. 14. Zu seiner Zeit in Rom, ebd., S. 16-19; Fonti 1988, S. 17.

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Futuristen auf Europa-Tournee fahrtsgesellschaft und als kleiner Beamter. Am Ende verdient er 15 Lire monatlich und betrachtet diesen Betrag als ein für seine Verhältnisse hohes Einkommen ï was allerdings dadurch relativiert wird, daß Sigmund Freud um die gleiche Zeit für ein Hotelzimmer in Rom 8 Lire pro Nacht bezahlt.9 In die Kreise kreativ schaffender junger Männer, in denen Boccioni verkehrt, findet auch Severini Eingang. Neben einigen biographischen Parallelen teilen sie dieselbe politisch-ideologische Haltung, die vornehmlich durch anarchosozialistisches Gedankengut geprägt ist.10 Sie lesen Bücher und Pamphlete von Karl Marx, Michail A. Bakunin, Friedrich Engels und Antonio Labriola, ein Philosoph des 19. Jahrhhunderts, der sich als Mitbegründer der sozialistischen Partei (Partito Socialista Italiano) und eigenständiger Interpret des Marxismus internationales Ansehen erwarb.11 Daß diese Schriften prägenden Einfluß auf die politische Haltung der jungen Männer haben, macht sich sogar im Gründungsmanifest futuristischer Malerei bemerkbar, in dem die Leser als »Genossen«12 angeredet werden. ï Warum aber gibt es in der vorfuturistischen Phase noch nicht einmal den leisesten Anklang einer »sozialistischen Kunst«, weder bei Severini noch bei Boccioni? Diese Frage beantwortet Severini in seinen Lebenserinnerungen: »Was die Beziehung zwischen dem Künstler und der Gesellschaft angeht, muß ich zugeben, daß sie für jeden von uns von geringem Interesse war. Nichtdestotrotz zwang uns der generelle marxistische Grundsatz, daß der Mensch ein Produkt seiner Umgebung ist, den Einfluß der Politik wenigstens zu akzeptieren, auch wenn er uns nicht tatsächlich zur formalen Untersuchung anspornte. Es muß daran erinnert werden, daß wir zu Zeiten der sozialen Unruhe lebten, der kritischen Hinterfragungen des Gesetzes, der Klassenkämpfe und Streiks, die mit Gewalt unterdrückt wurden. Wir waren von solchen Dingen sehr betroffen, wir verbanden den für die Jugend typischen Enthusiasmus mit unserem Wunsch nach ›sozialer Gerechtigkeit‹, einer tiefen sentimentalen Bindung mit den Unterdrückten und jener Feindseligkeit gegenüber den Tyrannen, die normalerweise junge Leute charakterisiert. Trotz allem kam uns die Vorstellung einer ›sozialen Kunst‹ nie in den Sinn. Es ist offensichtlich, daß künstlerische Aktivität nur aus bestimmten kulturellen Gründen und bestimmten historischen

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Freud schreibt am 2. September 1901 aus Rom an seine Frau Martha, wo er sich zusammen mit seinem Bruder Alexander aufhält: »Nach 2h in Rom eingetroffen (...) und Römer geworden. Im Hotel Milano haben wir ein schönes Zimmer im 3 Stock für 8 Lire (4 L die Person), electrisches Licht.« (Freud 2002, S. 135). 10 Zur gemeinsamen Zeit in Rom vgl. Severini 1965, S. 19-33. 11 Zu Antonio Labriola vgl. Lill 2002, S. 338. 12 Im ersten Jahrzehnt ist in Italien die linke Terminologie von der rechten noch nicht so klar unterschieden wie heute. Trotzdem würde ich aufgrund der hier dargelegten ideologischen Ausgangssituationen die Anrede »Genossen« im Gründungsmanifest futuristischer Malerei einer linkssozialistischen Haltung zuordnen. U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: Manifesto dei pittori futuristi, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 63.

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Vorgeschichte Bedingungen zu einer ›sozialen Kunst‹ führen kann, nicht aber, weil jemand entscheidet, daß es so sein soll.«13

Severini und Boccioni vertreten also eine wesentlich durch den Marxismus geprägte Weltanschauung. Diese ist Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen sie hervorgegangen sind. Da sie aufgrund ihrer Biographien zu den sozial Benachteiligten der Bevölkerung Italiens gehören, identifizieren sie sich mit eben diesen und fühlen sich ihnen emotional verbunden. Beide trennen nach dem Prinzip des ›l’art pour l’art‹ den Kontext ihrer ideologischen Haltung von jenem ihrer Kunstproduktion ab. Das spiegelt sich auch in den Oeuvres der beiden Männer, eine politische Kunst ist bei beiden bis ins Jahr 1914 nämlich nicht zu finden. Die Lebensumstände von Gino Severini und Umberto Boccioni sind zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung ähnlich: die Eltern beider leben in Trennung, beide stammen aus ärmlichen Verhältnissen, die berufliche Situation der Eltern ist quasi identisch, beide pflegen eine intensivere Beziehung zur Mutter als zum Vater. Die äußeren Verhältnisse Boccionis mögen vielleicht täuschen. In der Alltagsrealität ist der Vater aufgrund der gemeinsamen Wohnverhältnisse dauernd präsent, emotional aber fühlt sich Boccioni seiner Mutter viel mehr verbunden. Nicht umsonst sind die meisten seiner Briefe an sie gerichtet, und nicht an den Vater, nicht umsonst ist sie in dem Großteil seines gesamten Oeuvres in allen erdenklichen Variationen abgebildet. Daß zumindest Boccioni einen großen Respekt vor der Arbeit seiner Mutter hat, zeigt sich auch in den Bildern, in denen zu sehen ist, wie sie durch viele kleine Nadelstiche die künstlerische Tätigkeit ihres Sohnes ermöglicht (Abb. 3) . Nachdem sich Boccioni und Severini in diesen Kreisen anarchosozialistischer Künstler begegnet sind, gehen sie ein quasi symbiotisches Verhältnis miteinander ein. Dieses fußt auf der ähnlichen Sozio-und Psychogenese der jungen Männer, die auf der Basis identifikatorischer Strukturen ihre Intimität ermöglicht. Wie intim diese Beziehung war, läßt sich aus einigen Details ihres Briefwechsels ablesen: Im Spätsommer 1902, vermutlich Ende August, schickt Severini seinem Freund Boccioni ein bislang unveröffentlichtes poeti13 »Quanto al rapporto fra l’artista e la società, confesso che poco ci interessava; tuttavia il principo generale marxista, secondo cui ›l’uomo è frutto dell’ambiente‹, ci spingeva, se non a interessarci formalmente alla politica, perlomeno ad accetarne l’influenza, nelle forme socialista e comunista che allora cominciavano ad affermarsi seriamente. Bisogna tener conto che si viveva in un’epoca di movimenti sociali, rivendicazioni le lotte di classi, scioperi repressi con la violenza; e tutto questo era da noi vissuto in pieno, con l’entusiasmo della gioventù, col desiderio di ›giustizia sociale‹, con quella profonda simpatia affettiva per gli oppressi e indignazione verso I tiranni, che caratterizzano appunto I giovani. Tuttavia l’ipotesi di un ›arte sociale‹ non ci passava nemmeno per la testa. È evidente che per un periodo d’arte può divenire ›arte sociale‹ soltanto per certe ragioni si civiltà e certe condizioni storiche, e non per partito prese.« (Severini 1965, S. 18, Übersetzung LW).

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Futuristen auf Europa-Tournee sches Fragment über Francesca da Rimini, das er, um Briefpapier zu sparen, auf den Firmenbogen seines damaligen Arbeitgebers in Rom »Ad. Roesler Franz, Banco – Cambio – Spedizione« notiert. Mit dem Argument, seinerseits Briefpapier sparen zu müssen, schreibt Boccioni seine Antwort auf die Rückseite, worin man allerdings auch den Versuch sehen könnte, eine besondere Intimität zu Severini herzustellen. Die Anrede »Egregio Signor Severini« scheint dem zunächst zu widersprechen. Es scheint sich hier aber um reine Ironie zu handeln, da Boccioni schon auf der nächsten Seite zum »Du« übergeht. – Nach salbungsvollen Einleitungsworten, daß seine Zuneigung für eine »einfache Karte« zu groß sei, berichtet Boccioni larmoyant über eine fieberhafte Erkrankung, die ihn leider ans Bett fessle, so daß er physisch außerstande sei, mit Severini zusammen bei der Spedition Roesler zu arbeiten, eine Tätigkeit, die Bewegung an frischer Luft erfordere. »Du wirst dir vorstellen können, wie sehr mich diese Inaktivität austrocknet,« heißt es in dieser Passage. Er träume weder von großen Leinwänden noch von leuchtenden Landschaftsbildern, denn es fehle ihm das Material – Leinwände und Farben – sowie die Gesundheit. Er stehe wirklich unter einem ›guten Stern‹, bemerkt er gequält.14 Dieses symbiotische Verhältnis geht sogar so weit, daß Boccioni gerne mit Severini zusammen wohnen würde, zumal die Zweisamkeit mit seinem Vater eher einer Zwangsgenossenschaft gleiche. Am 7. September 1902 berichtet er von schwerwiegenden Zerwürfnissen mit ihm. Acht volle Tage hätten sie nicht miteinander geredet. Zwar sei jetzt der Frieden notdürftig wiederhergestellt, doch möchte er lieber mit Severini leben. Dieser solle seiner Mutter aber nicht erzählen, was zwischen ihm und seinem Vater vorgefallen sei. Severini solle »ohne Furcht« auf diesen Vorschlag antworten und seine Vorstellungen und Konditionen nennen.15 Quasi identisch ist nicht nur die biographische Ausgangslage beider Künstler zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung, sondern auch ihr Zukunftsentwurf. Bei Severini ist der Wunsch, Maler zu werden, allerdings schon ausgeprägter als bei Boccioni. Seiner Autobiographie zufolge beginnt Severini bereits in Radifocani, sich autodidaktisch der Malerei zu widmen,16 bis eine gewisse Signora Matilda Luchini, selber Amateurmalerin und verwandt mit der vornehmsten Familie der Stadt, sich seiner annimmt: »Diese freundliche junge Frau enthüllte mir die Bedeutung der Malerei. Sie erweckte meine Hoffnungen, eines Tages ein ernsthafter Maler zu werden. (...) Sie malte Farbflecken, die harmonierten, wenn sie aus der Distanz gesehen wurden. Ihre Arbeit zeigte einen feinen Sinn für Anmut und natürliche Eleganz. Aus dieser Erinnerung erkläre ich mir ihren Einfluß auf mich. Jedenfalls konnte ich keine bessere Informationsquelle haben. Sie ließ mich verschiedene ihrer eigenen Studien kopieren und viele Gipsabdrücke (...); so begann meine Ausbildung in Malerei (...). Unglücklicherweise neigten die Sommerferien sich dem

14 Boccioni an Severini, Rom, 2. 9. 1902 (MART), Übersetzung LW. 15 Boccioni an Severini, Rom, 7. 9. 1902 (MART). 16 Vgl. Severini 1965, S. 12f.

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Vorgeschichte Ende zu und meine Lehrerin war gezwungen, in ihr Zuhause in Florenz zurückzukehren. Aus der Distanz ermutigte sie mich, meine Beschäftigungen weiter zu verfolgen, sie schickte mir Modelle und wies mich an, in eine große Stadt zu gehen.«17

Aus den bußerungen Severinis geht hervor, daß die Malerei der Signora Luchini in der Tradition des Postimpressionismus zu sehen ist. Sie wird Severini die postimpressionistische Malweise als Quelle der »Information« und Anregung nahegelegt haben. Ihr Ratschlag, in eine große Stadt zu gehen, ist für Severini allein, der aus einer armen Familie stammt, der keinen Schulabschluß, keine Ausbildung vorzuweisen hat, keine Aussicht also hat, autonom sein Geld zu verdienen, kaum realisierbar. Aus diesem Grund kommt Severini die Trennung seiner Eltern und die Entscheidung der Mutter, nach Rom umzusiedeln, gerade gelegen. Während bei Severini der Wunsch, Maler zu werden, schon früh relativ ausgereift ist, betrachtet Boccioni sein Praktikum bei dem Plakatmaler Mattaloni zunächst eher als Mittel zum Zweck, in die Domäne des Journalismus einzudringen. Durch den Einfluß Severinis verlagert sich Boccionis Schwerpunkt vom Journalismus auf die Malerei. Beide entschließen sich, eine Kunstakademie zu besuchen. Da beide schon in ihrer Schulzeit Schwierigkeiten mit institutionaliserten Strukturen hatten, entscheiden sie sich für die frei organisierte Scuola Comunale delle Arti Ornamentali auf der Via di San Giacomo, deren Schüler aufgrund der oft in der Nacht stattfindenden Kurse unter freiem Himmel auch die Gl’incurabili (Die Unheilbaren) genannt werden.18 Dort besuchen sie zusammen mit ihren Freunden ab Oktober 1901 den Kurs Disegno Pittorico (malerische Zeichnung). Unter sehr freiheitlichen Bedingungen, jedoch in einem festen Klassenverband von etwa 20 Personen, erhalten sie Lektionen, die auch klassische Techniken vermitteln, darunter Malerei nach Abgüssen oder en plein air. Im Jahr 1902 begegnet Boccioni dem elf Jahre älteren Maler Giacomo Balla (Abb. 4), einem weiteren Mitglied der Gründergruppe 17 »Fu questa giovane e gentile signora che mi rivelo in che cosa consistesse la pittura; e accese in me la speranza di poter dipingere. Quando seppi che era una pittrice, fiu cosi incuriosito, da non aver più pace finché non trovai il modo di avvicinarla. Andai finalmente a trovarla e rimasi assolutamente meravigliato. Allieva di un tardo ottocentista, essa dipingeva a macchie che si armonizzavano a distanza, e metteva in tutto un segno di grande eleganza e distinzione. Tale me la rammento ora e me la spiego a me stesso; in ogni modo non potevo trovare una sorgente d'informazioni migliore. Questa signora mi fece copiare diversi suoi studi e dei gessi (come il S. Giovannino di Donatello), e così cominciò la mia educazione pittorica, animata da un'idea, ancora imprecisa, di essere un giorno pittore. Disgraziatamente il tempo della villeggiatura fini e la mia maestra dové tornare a Firenze dova abitava. Di là mi incoraggiava a continuare, mi mandava die modelli, mi consigliava di andare in una grande citta...« (Ebd., S. 15, Übersetzung LW). 18 Zu dieser Kunstschule, ebd., S. 10: G. Agnese 1996, S. 29ff.

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Futuristen auf Europa-Tournee futuristischer Malerei. Dessen Tochter, Elica Balla, wird später schreiben, daß Boccioni das Atelier ihres Vaters per Zufall entdeckt habe.19 Eigentlich habe er Freunde besuchen wollen, die wohlhabende Familie Capobianco auf der Via di Piemonte, auf der sich auch Ballas Atelier befand. ï Balla stellt seine soeben gemalten gemälde häufig vor die gläserne Eingangstüre, um die Farben an der frischen Luft trocknen zu lassen. Auf dem Weg zur Familie Capobianco wird Boccioni die Bilder Ballas gesehen haben, in denen sich Motive aus einer Parisreise und die Erfahrung des Impressionismus spiegeln. Ein Beispiel für die Arbeiten, die während Ballas Aufenthalt in Paris entstanden sind, ist die Darstellung Luna Park (Abb. 5) aus dem Jahr 1900. Zu sehen ist nicht, wie in der etablierten Darstellungskonvention Italiens üblich, eine symbolisch aufgeladene Historiendarstellung mit flachem Farbauftrag, sondern ein ganz alltägliches Motiv, eine Kirmes, deren Attraktionen sich hell leuchtend aus dem nächtlichen Dunkel erheben. Die Menschenmassen werden von der Dunkelheit absorbiert, sie sind als schattenhafte Figuren kaum wahrnehmbar. Ebenso verschwinden die Befestigungsapparaturen der künstlichen Leuchtquellen in der Dunkelheit, einige der Glühbirnen scheinen frei in der Luft zu schweben. Die Kirmesgeräte gebärden sich als Lichtmalereien, sie gleichen einer geisterhaften Fata Morgana. Wenn man bedenkt, daß Freud es im Jahr 1901 noch bemerkenswert findet, in Rom ein Hotelzimmer mit »electrischem Licht« zu beziehen,20 kann man sich vorstellen, daß eben dieses in Italien zu dieser Zeit noch keine Selbstverständlichkeit ist. Von daher ist nachzuvollziehen, welche Faszination diese exorbitante Fülle künstlicher Lichtquellen auf Balla ausübt, die sich in der nächtlichen Dunkelheit gespenstig gebärdet. Eine ähnliche visuelle Reizüberflutung erlebt der heutige Betrachter, wenn er auf dem Strip, der Hauptverkehrsstraße in Las Vegas, flaniert, und die glitzernden Lichter der zahlreichen Spielkasinos auf ihn einströmen. Ballas Gemälde stehen durch seine Pariserfahrung jenseits der in Italien üblichen Darstellungskonventionen, jenseits des in römischen Kunstakademien Propagierten. Es ist also leicht vorstellbar, daß seine Darstellungen auf Boccioni eine faszinierende Wirkung ausüben. Der gesellschaftlich etablierten Familie Capobianco, die in direkter Nachbarschaft wohnt, ist Balla natürlich bekannt. Sie stellt die beiden Künstler einander vor. Damit wird das Lehrer-SchülerVerhältnis von Balla zu Boccioni und Severini begründet. Beide sind in den folgenden Jahren häufig in seinem Atelier zu Gast.21 Für Boccioni und Severini liegt die Motivation, sich als Schüler mit dem Künstler Balla auseinanderzusetzen, auf der Hand. Sie wollen als Individualisten jenseits aller intitutionalisierter Strukturen wie Kunstschulen oder -akademien einen unkonventionellen Weg beschreiten, sich als Maler zu realisieren. Balla ist für die italienischen Verhältnisse der damaligen Zeit unkonventionell und experi19 Vgl. Balla 1984, S. 45; Agnese 1996, S. 32. 20 Vgl. Freud 2002, S. 135 21 Zu der Kooperation zwischen Boccioni, Severini und Balla vgl. G. Severini 1965, S. 16.ff.; Baumgarth 1966, S. 46; Agnese 1996, S. 31-45.

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Vorgeschichte mentierfreudig, hat mit einer Parisreise den lokalen Rahmen sogar schon sprengen können. Trotzdem weist seine frühe Kunstproduktion Linien und Prinzipien auf, die sich als Stil in seinen Bildern manifestieren. Über die Bedeutung Ballas schreibt Severini in seiner Autobiographie: »Balla verwendete die französische Maltechnik separierter und kontrastierender Farben. Seine bildnerische Fähigkeit war erstklassig und genuin, bezüglich der Materialien und der Quintessenz mit gewissen Ähnlichkeiten zu Pissarro. Wir waren extrem glücklich, einem solchem Mann zu begegnen, dessen Orientierung vielleicht entscheidend für unsere Karrieren war. Der Stand italienischer Malerei zu dieser Zeit war so schlammig und verdorben, wie man es sich nur vorstellen kann; unter diesen Bedingungen hätte auch Raphael Schwierigkeiten gehabt, ein gutes Bild zu malen. (...) In dieser vulgären, banalen und mittelmäßigen Atmosphäre stach die strenge Figur unseres Balla gegenüber dem Rest deutlich hervor.«22

Über die Einzelheiten des Paris-Aufenthaltes von Balla und die dort empfangenen künstlerischen Eindrücke ist wenig Biographisches bekannt, da der Nachlaß in Händen der Familie ist und die Lebensdarstellung seiner Tochter Elica Balla wenig zuverlässig erscheint. Interessant ist deshalb ein in Paris entstandener, bisher unveröffentlichter Brief an den Galeristen Vittore Grubicy aus dem Jahr 1900, in dem Balla ankündigt, die Stadt bald verlassen zu wollen, weil er auch hier von gefälligen Auftragsarbeiten leben müsse.23 Die »wahre Kunst« werde in Paris noch weniger verstanden als in Italien. Gemälde seines Landsmanns Segantini seien auf einer Pariser Ausstellung nur kritisiert und belächelt worden. Als er selbst bewundernd vor den Köpfen des Bildhauers Medardo Rosso gestanden habe, die mit viel »Gefühl« und »Poesie« modelliert gewesen seien, hätten französische Kunstliebhaber ihn verwundert angesehen und für verrückt erklärt. Trotz dieser leicht distanziert wirkenden Haltung, die Balla zur zeitgenössischen Kunst in Paris einnimmt, ist es gerade das impressionistische Element in seinen Werken, das Severini schon im Jahr 1902 stark beeindruckt, wenn er es auch erst Jahrzehnte später klar benennen wird. Aus »zweiter Hand« war es ihm bereits durch Signora Luchini vermittelt worden. Für Boccioni ist dieser Einfluß vielleicht eher als etwas Fremdes zu spüren, das sich von der gewöhnlichen italienischen bsthetik abhebt und sich seinem Horizont 22 »Balla dipingeva con colori separati e contrastanti, come i pittori francesi; la sua ›qualita pittorica‹ era di prim’ordine, genuina, con qualche analogia con la materia e la qualità di un Pissarro. Fun una grande fortuna per noi d'incontrare un tale uomo, la cui direzione decise forse di tutta la nostra carriera. L'atmosfera della pittura italiana era a quel momento la piu fangosa e deletaria che si potesse immaginare; in un simile ambiente anche Raffaello sarebbe arrivato appena al quadro di genere...In tale ambiente di volgarita, di banalita e di mediocrita, spiccava la severa figura del nostro Balla.« (Severini 1965, S. 24f., Übersetzung LW). 23 Balla an Vittore Grubicy, Paris, 1900 (MART).

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Futuristen auf Europa-Tournee in gewisser Weise entzieht. Dieses Unbekannte, das sich in Ballas Bildern manifestiert, wirkt auf die neugierigen jungen Männer besonders reizvoll. Sie werden an Balla geschätzt haben, mit welcher Entschlossenheit er seinen eigenwilligen Weg verfolgt. In dieser Eigenschaft wird er für die beiden jungen Männer zum Vorbild. Was aber motiviert Balla, sich der beiden anzunehmen? Als Künstler haben sie schließlich noch nichts Substanzielles vorzuweisen, während er selbst in manchen Kreisen als etablierter Künstler angesehen wird, einige seiner Gemälde in den Jahren 1900 und 1901 auf der jährlich stattfindenden Ausstellung der Società dei amatori e cultori delle belle arti zeigen konnte und auf eine etwa zehn Jahre währende Erfahrung im Metier der Malerei zurückblickt. Vermutlich kann sich Balla mit den beiden jungen Künstlern identifizieren. Den Weg, den sie noch beschreiten müssen, hat er schon hinter sich. Ebenso wie seine beiden Schüler kommt Balla, 1871 in Turin geboren, aus ärmlichen Verhältnissen.24 Sein Vater, Giovanni Balla, stirbt, als Balla acht Jahre alt ist ohne sich um die Zukunft der Familie gekümmert zu haben. Balla und seine Mutter sind auf sich allein gestellt und stark aufeinander angewiesen, stehen also in engem Verhältnis zueinander. Auch Ballas Mutter ist Näherin. Ihr Verdienst reicht für zwei nicht aus, Balla muß neben der Schule in einer Steindruckerei arbeiten. In der Schule wird er von seinen Klassenkameraden verspottet und verprügelt. In den wenigen Stunden seiner Freizeit widmet er sich zunächst autodidaktisch der Malerei. Weil er kein Geld für ein Atelier aufbringen kann, arbeitet er ausschließlich im Freien. »Studio dal Vero« (Übung am Naturvorbild) nennt er später dieses Prinzip, vorerst eine Not, später eine Tugend. Die Mutter verliert über seine künstlerischen Ambitionen kein Wort. Auf der einen Seite wäre es ihr lieber gewesen, wenn er etwas mehr Geld verdient hätte, auf der anderen möchte sie ihn aber auch nicht behindern. Schließlich schreibt er sich in der Accademia Albertina ein und belegt dort den Kurs Disegno. Doch bekommt er aufgrund der freien Interpretation, die in seinen Kopien von Gipsabgüssen zu Tage tritt, Schwierigkeiten mit dem Lehrpersonal. Im Jahr 1891 verläßt Balla diese Schule. Jedoch findet er eine Möglichkeit, sich mit seiner Kunst etwas dazuzuverdienen. Er stellt seine Gemälde im Schaufenster eines Stoffhändlers aus, Passanten können sie begutachten, einige Male kommt es sogar zum Verkauf. Das früheste heute erhaltene Gemälde ist ein Selbstporträt von fast wagnerianischer Anmutung (Abb. 6), das wahrscheinlich kurz vor dem Ende der Turiner Zeit entstanden ist und als einziges die erste Etappe seiner ästhetischen Entwicklung repräsentiert. Das Bild zeigt einen ausgesprochen skeptisch und bedrückt wirkenden jungen Mann mit blauen Augen und auffallend blasser Gesichtsfarbe, der sich hinter seinem großen schwarzen Kragen halb zu verstecken scheint und den Kopf mit gerunzelter Stirn leicht zurückwendet. Es ist keine optimistische oder gar selbstverliebte Darstellung, sondern eine fast schmerzhaft realistische Darstellung voller quälender Selbstzweifel. Ob er schon erkannt hat, daß die Möglichkeiten, die sich ihm in Turin als Künstler

24 Weiterhin zum Leben Ballas vgl. Lista 1984.

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Vorgeschichte bieten, ausgesprochen begrenzt sind? In Rom könnte er so viel besser die Werke großer Meister studieren, vielleicht würde er auch mehr Geld verdienen, um seine finanzielle Situation und die seiner Mutter zu verbessern. Also ziehen Mutter und Sohn gemeinsam im Jahr 1895 nach Rom. Auch wenn das Ende seiner Turiner Zeit in einem Erfolg gipfelt, der Ausstellung eines Ölgemäldes in der jährlich stattfindenden Permanente in der Società Promotrice delle Belle Arti, der größten Kunstausstellung Turins, entscheiden sich Balla und seine Mutter, im Jahr 1895 nach Rom zu ziehen. Dort wohnen sie zunächst für etwa ein Jahr bei einem Onkel, der Jagdaufseher des Königs ist. Balla hat den schmächtigen Mann mit dem knochigem Gesicht sogar in seiner Uniform porträtiert (Abb. 7). Er wirkt einerseits lächerlich in seiner steifen Montur und seinem überdimensionalen Hut. Andererseits auch traurig und resignativ und scheint sich hinter seinem großen, steil aufragendem Gewehr von leicht phallischer Anmutung zu verschanzen. Die Hoffnungen, die Balla mit diesem Umzug verbindet, werden enttäuscht. Seine finanzielle Situation verbessert sich nicht, er ist als Künstler unbekannter als in Turin, lebt in sozialer Isolation, die Mutter und der Onkel sind seine einzigen Kontaktpersonen. Trotzdem malt er weiter. Aufgrund familieninterner Dissonanzen sucht er für sich und seine Mutter etwa ein Jahr später eine eigene Wohnung. Sie wohnen in diversen möblierten Unterkünften, bis Balla eine Werkstatt mietet, in der er nicht nur zusammen mit seiner Mutter wohnen, sondern auch arbeiten kann. Bis zu seinem Parisaufenthalt im Jahr 1900 knüpft er Kontakte, er kann sogar von seiner Kunst leben, finanziert sich von Auftragsarbeiten, vornehmlich Porträts. Er greift auf die Strategie der Turiner Zeit zurück, seine Arbeiten in dem Schaufenster des Schneiders Foà auszustellen, dessen Geschäft sich auf dem Corso Umberto befindet, der Flaniermeile der römischen Schickeria. Dort kommt er allerdings auch mit Repräsentanten benachteiligter Gesellschaftsschichten in Kontakt, mit Bettlern, Hausierern und Straßenverkäufern, die gegen einen »buon prezzo« billige Waren anbieten. Auf dem Bild macchietta romana (Abb. 8; römische Karikatur) ist ein dunkel gekleideter Mann zu sehen, der auf einsamer Straße trotz des »buon prezzo« niemanden antrifft, dem er seine billigen Spazierstöcke verkaufen könnte. Nur ein einziger Passant bummelt gelangweilt über die Fahrbahn, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Die Darstellung zeigt die abgrundtiefe Einsamkeit und Hilflosigkeit eines Vertreters der sozialen Unterschicht. Aber es werden nicht nur anklagend-sozialkritische Arbeiten ausgestellt, sondern auch ausgesprochen ironische, die zum Lachen reizen. Das Bild studio ironico satirico (Abb. 9; ironisch-satirische Studie) ist eine bittere Persiflage auf Vertreter der katholischen Kirche. Acht fettwanstige Priester in schwarzer Kutte und Käppi hängen wie Sechzehntel-Noten an einem Doppelbalken in fünfzeiligen Notensystem mit Violinschlüssel. Die hinteren Vier haben bereits das Zeitliche gesegnet. Die vorderen Drei scheinen noch zu leben und grinsen selbstgerecht vor sich hin. Der insgesamt flächigen Anlage der Zeichnung steht die Tiefenwirkung durch die Schattendarstellung am Boden entgegen. In zweierlei Hinsicht ist diese Zeich21

Futuristen auf Europa-Tournee nung aufschlußreich für Ballas futuristische Kunstproduktion, da sie einerseits eine dezidiert antiklerikale Haltung spiegelt, die für den Futurismus wie partiell auch für den Faschismus typisch sein wird, und da sie andererseits das Prinzip der Phasendarstellung antizipiert, das er später noch weiter ausbauen wird. Anfang September des Jahres 1900 reist er nach Paris und wohnt dort bei seinem Freund Serafino Macchiato, mit dem er zusammen als Illustrator für den Verlag Lamère arbeitet. In Paris sammelt er zahlreiche Eindrücke. Wahrscheinlich studiert er die Werke des Impressionismus und besucht die Weltausstellung, die erst im November, zwei Monate nach Ballas Ankunft, wieder ihre Tore schließt.25 Dort sind auch die analytischen Bewegungsfotografien von Eadweard Muybridge zu sehen, mit denen er sich in seiner futuristischen Kunst auseinandersetzen wird. Als er im Jahr 1901 wieder nach Rom zurückkehrt, werden zwei seiner Bilder von der Jury des damals wichtigsten Vereins für etablierte Kunst in Rom, der Società Amatori e Cultori delle belle Arti, akzeptiert: eine Studie und die in Paris produzierte Landschaftsdarstellung Il sentiero. Zwar ist er auf der Ausstellung des Vorjahres schon mit einem Werk vertreten, doch ohne nennenswerte Resonanz. Auf dieser Ausstellung hingegen wird die Darstellung Il Sentiero ï das auf der nachfolgenden Ausstellungstour verloren gehen wird ï sogar mit einem Preis von 500 Lire ausgezeichnet. In einem Brief Ballas an seine Verlobte Elica ist eine kleine Vorstudie (Abb. 10) zu diesem Bild enthalten, aus der man sich eine ungefähre Vorstellung von der kompositorischen Anlage machen kann. Dargestellt wird in wenigen Strichen eine flache, trostlos wirkende Vorstadtlandschaft mit vereinzelten Häusern und einem Kirchturm am Horizont. Eine einsame, dunkle Gestalt, die in ein bodenlanges Gewand gehüllt ist, geht über den Pfad. Der große, breitkrempige Hut könnte darauf hindeuten, daß es sich um einen französischen Priester handelt. Der Wortlaut des Briefes ist leider nur fragmentarisch erhalten und schwer zu entziffern. Balla schreibt an seine Verlobte, daß er diese Figur draußen gesehen und ihre Wirkung auf seine »intimen Gefühle« durch die Liniengebung ausgedrückt habe. Das ausgeführte Werk wird in der Presse in den höchsten Tönen gelobt, da es »jene Horizonte« zeige, »die die neue Schule des Divisionismus eröffneten.« Auch wenn Laien diese neue Schule kaum verständen: Experten prophezeien Balla eine große Zukunft.26 Das Preisgeld ermöglicht es ihm, sich bis zur Ausstellung des nächsten Jahres ganz seiner Kunst zu widmen. Dazu porträtiert er das Ehepaar Pisani in zwei einzelnen Porträts (Abb. 11, Abb.12). Wahrscheinlich nicht ganz ohne strategische Hintergedanken, Signore Pisani ist nämlich als Sekretär für die Società degli amatori e cultori tätig. Nach seinem Parisaufenthalt stellt Balla nicht nur in diesem Kunstverein aus, sondern auch auf der Quadriennale in Turin im Jahr 1902. Daher ist er zum Zeitpunkt seiner Bekanntschaft mit Boccioni in der römischen Kunstlandschaft recht bekannt. Vielleicht kann sich Balla in Boccioni und Severini selbst wiedererken-

25 Zur Weltausstellung vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts, 1995, S. 13. 26 Vgl. Balla 1984, S. 92.

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Vorgeschichte nen. Für Severini und Boccioni wird er zu einer Art väterlichen Vorbildfigur, da sie sich umgekehrt ebenso mit seinem Lebensweg identifizieren können. Vielleicht haben sie Respekt, daß er es unter ähnlichen, möglicherweise noch viel härteren Bedingungen in der römischen Kunstlandschaft so weit bringen konnte. Auf der anderen Seite fühlt sich Balla, der schon immer hart um Akzeptanz nicht nur im Leben, sondern auch in der römischen Kunstlandschaft kämpfen mußte, durch die Bewunderung Boccionis und Severinis in seinem Ego geschmeichelt. Außerdem weiß er von sich selbst gut genug, wie beschwerlich es ist, sich unter ökonomisch ungünstigen Bedingungen als Maler zu verwirklichen. Daher hält er sich, sehr zur Verwunderung Boccionis und Severinis, mit der kritischen Beurteilung ihrer Bilder zurück, die in seinen Augen vielleicht kontraproduktiv gewesen wäre. Statt dessen ermutigt er sie nur, weiter zu produzieren. Boccioni hat sich selbst ausführlich zu dieser Zurückhaltung geäußert. Im bereits zitierten Brief vom 2. September 1902 schreibt er an Severini, er habe Balla eines seiner Landschaftsbilder gebracht, das Balla sehr gefallen habe. Er habe Balla gefragt, wie es denn komme, daß er zu ihren Arbeiten immer »va bene« sage, ob denn nichts daran zu kritisieren sei? Balla habe darauf vielsagend geantwortet, es gebe eben nicht nur eine »Wahrheit« und man könnte nicht alles, was sei, beobachten und darstellen. Sein »va bene, va bene, avanti, avanti« beziehe sich eher auf den künstlerischen Fortschritt in der Auswahl der Linien, im Kolorit und der Tonalität. Mit dieser Erklärung gab Boccioni sich zufrieden.27 Während Balla auf ein relativ reichhaltiges Oeuvre zurückblicken kann, ist von den jungen Künstlern zum Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft, von einer gemalten Postkarte Boccinis an seine Schwester Amelia abgesehen, noch kein Bild bekannt. Um den Enthusiasmus zu erklären, den Ballas Gemälde bei Boccioni und Severini auslösen, könnte die Darstellung Fallimento (Konkurs; Abb. 13) aufschlußreich sein, das zwar erst ein Jahr nach ihrer Bekanntschaft, im Jahr 1903 entsteht, in dem sich aber die Merkmale der vorhergegangenen und nachfolgenden Bildproduktion Ballas konzentrieren. Vielleicht wurde es aus diesem Grund als »Hauptwerk« dieser Schaffensphase bezeichnet.28 Das Bild stellt den unteren Abschnitt einer geschlossenen Holztür dar. Sie hebt sich deutlich von den leuchtend hellen, gepflegten Hauswänden der rechten und der linken Seite ab. Der Titel der Arbeit läßt darauf schließen, daß es sich um die Ladentür eines Geschäftes handeln muß, das Konkurs angemeldet hat. In Rom gibt es noch heute viele solcher Geschäfte, die sich im Erdgeschoß großer Palazzi befinden, mit Türen aus schwerem Holz, die von inkrustiertem Mauerwerk umrahmt sind, wie es auch in diesem Bild der Fall ist. Die Tür ist in einem verwahrlostem Zustand, sie ist übersät von Kreidekritzeleien, die von Kinderhänden stammen könnten. Viele Leute scheinen dieses Geschäft in früheren Zeiten schon betreten zu haben. So abgenutzt ist der Bürgersteig unterhalb des linken

27 Boccioni an Severini, Rom, 2. 9. 1902 (MART). 28 Fagiolo 1987, S.12.

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Futuristen auf Europa-Tournee Türflügels, daß sich zwischen der Eingangsstufe und dem Bürgersteig ein breiter Spalt bemerkbar macht und sich der Bürgersteig selbst leicht nach unten wölbt. Jetzt ist die Tür für immer verschlossen, niemand wird sie mehr passieren, das scheinen die leicht verschwommenen Linien unterhalb der Türflügel sagen zu wollen, die unter dem impressionistischen Farbschleier wie zugeschweißt wirken. Soeben scheint der Gerichtsvollzieher dagewesen zu sein, hinterlassen hat er einen versiegelten Brief, der noch zwischen den Türflügeln steckt. Ebenso eilig wie achtlos wird er den Brief beschriftet haben, davon zeugt zumindest der Fleck blauer Tinte, der auf dem Bürgersteig noch zu sehen ist.29 Symptomatisch für die frühe Bildproduktion Ballas ist zunächst ein subjektiver Realismus, die Fixierung des persönlichen flüchtigen Seheindrucks. Wie aber realisiert sich dessen Augenblicklichkeit? Zu sehen sind doch nur Substanzen wie Stein oder Holz, die in der außerbildlichen Realität träge sind, sich gegenüber zeitlicher Veränderung als relativ resistent erweisen. Sie realisiert sich durch die Darstellung des Lichts, dessen Quelle oder Schein aber gar nicht zu sehen ist. Dieses materialisiert sich in dem Nebeneinander heller und dunkler Flächen, in der Entgegensetzung von Flächen mit geringer und hoher Absorptionspotenzialität also, die sich nur dann manifestiert, wenn sie mit Licht beschienen werden. Gerade in dieser Entgegensetzung steigern die Absorptionsqualitäten sich gegenseitig, verhalten sich divergent zueinander: um so leuchtender die hellen Flächen, desto augenscheinlicher die hohe Absorptionspotenzialität der dunklen. Dieses Prinzip wird durch die kontrastierenden Darstellungsmodi heller und dunkler Flächen gesteigert: Die dunkle Fläche ist in einem flachen, homogenisierenden Pinselduktus gehalten, die hellen Partien in zahlreichen kleinen gelben, grünen, weißen und hellblauen Punkten. ›Divisionismus‹ nennt man in Italien dieses als ›modern‹ geltende Prinzip der Farbseparation, um durch begriffliche Distinktion seine Autonomie gegenüber dem Pointillismus in Frankreich zu wahren.30 In der rechten Hälfte der Darstellung autonomi29 Entgegen Severini, der behauptet, es würde sich um Spucke handeln: »In un angelo dello scalino di pietra c’era uno sputo magnificamente reso.« (Severini 1965, S. 24). 30 Dabei ist der Begriff ›Divisionismus‹ eigentlich eine französische Wortprägung, Georges Seurat bezeichnete mit ihm seine neo-impressionistische Malweise. Als sich später für diese der Begriff ›Pointillismus‹ durchsetzte, wurde von den italienischen Künstlern für ihre Version des Neo- Impressionismus der Begriff ›Divisionismus‹ übernommen. Während die Neo-Impressionisten Frankreichs auf wissenschaftlicher Basis eine Farbenlehre entwickelten, die von den Impressionisten intuitiv vorweggenommen worden war, bedeutet ›Divisionismus‹ in Italien einfach, die Farben voneinander separiert - ohne theoretischen Kanon - auf die Leinwand aufzutragen (zum Divisionismus vgl. Quinsac 1990, S. 18-26). Daß diese terminologischen Spitzfindigkeiten für reichlich Konfusion sorgten, zeigt sich noch in den Artikeln Apollinaires bis ins Jahr 1913, in denen die Begriffe ›Divisionismus‹, ›Neo-Impressionismus‹ und ›Pointillismus‹ beinahe gleichwertig nebeneinander bestehen (vgl. Apollinaire 1989, S. 117, 124, 199, 201).

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Vorgeschichte siert sich sogar die divisionistische Malweise als malerisches Mittel gegenüber dem Bildgegenstand, sie legt sich wie ein Schleier über jene Linie, die die Trennung zwischen Hauswand und Bürgersteig markiert. Der Eindruck von Augenblicklichkeit entsteht also durch die bildliche Entgegensetzung geringer und hoher Absorptionspotenzialitäten, die nur dann zu Tage treten, wenn die Flächen, an denen sie erscheinen, mit Sonne beschienen sind. Durch die divisionistische Darstellung heller Flächen erfährt dieser Effekt eine Verstärkung: eine so vor Helligkeit vibirierende Hauswand kann nur von der Sonne beleuchtet sein. Es kann sich daher nur um einen bestimmten Moment eines bestimmten Tages mit bestimmten Lichtverhältnissen handeln. Die Suggestion dieses bestimmten Momentes unter Ausschluß aller anderen verstärken die unscharf dargestellten Partien, die auf der rechten Bildhälfte am stärksten ausgeprägt sind. Denn auch bei flüchtigen Seheindrücken steht den verschwommenen Flächen die Schärfe des fokussierten Blickpunktes entgegen. So vermittelt Die Darstellung den Eindruck, als würde man ï wie Balla persönlich an dieser Hauswand vorbeigehen, als würde man persönlich flüchtignebenbei den Konkurs dieses Geschäftes registrieren. Damit impliziert das Bild neben der Darstellung bestimmter Lichtverhältnisse eine weitere immaterielle Realität, Bewegung nämlich, die sich, ebenso wie das Licht, in inszenierter Absenz realisiert, es ist die im Bild suggerierte Bewegung des Betrachters. Diese liegt in der Identifikation der ephemeren Natur eigener Seheindrücke mit jenem, der im Bild repräsentiert ist. Ein zunächst unauffälliges Detail verstärkt diesen Effekt: die Tinte auf dem Bürgersteig. Da sie noch sichtbar ist, kann es nicht allzu lange her sein, daß der Gerichtsvollzieher sie auf dem Bürgersteig hinterlassen hat, gleichzeitig wird es nicht mehr lange dauern, bis dieser Fleck verschwunden ist. Die Darstellung definiert nicht nur seine bestimmte Gegenwart, sondern auch sein kurzzeitiges Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft. Ein weiteres Merkmal eines großen Teil der frühen Bildproduktion Ballas ist ihre Anlehnung an die ästhetischen Kriterien der frühen Kunst-und Dokumentarfotografie. Auch Eugène Atget interessierte sich in seinen Fotos der vom Abriß bedrohten Pariser Stadtviertel für Details, die in der alltäglichen Wahrnehmung zwar kaum beachtet werden können, trotzdem aber repräsentativ für die alltägliche Lebenswelt in Paris sind. Ebenso stellt Balla in einem exzentrisch angelegten Bildausschnitt mit eigenwilliger Perspektive ein Detail dar, dem in der alltäglichen Lebenswelt Roms kaum Beachtung geschenkt wird: den unteren Teil eines bankrotten Ladens. Ein Bildausschnitt dieser Art gilt in der Fotografie vielleicht als bildwürdig, nicht aber in der Darstellungskonvention der Malerei. Und schon gar nicht in Italien, wo im Vergleich zu anderen Ländern Europas ein konservatives Verständnis von bsthetik vorherrscht. In der scheinbar willkürlichen Auswahl dieses Segments erinnert dieser zum einen an die Fotografie des Augenblicks, so wie sie Jahr-

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Futuristen auf Europa-Tournee zehnte später Henri Cartier Bresson ausrufen wird.31 Zum anderen wird die sezierende Qualität der Fotografie aufgegriffen, nur diesen Ausschnitt und sonst nichts darzustellen. Hinzu kommt die detaillierte Darstellung des Bildgegenstandes, die den dokumentarischen und protokollarischen Charakter des Bildes verstärkt. Die Anlehnung an das Medium der Fotografie geht sogar so weit, daß man bei dem Foto (Abb. 14), auf dem Balla zusammen mit seinem Gemälde zu sehen ist, vorerst den Eindruck gewinnt, daß es sich um eine wirkliche Tür handele und nicht um eine gemalte. Durch diese Assimilation der Bildproduktion Ballas an das Medium der Fotografie wird dem symbolischen Charakter des gemalten Bildes der indexikalische des Fotos übergestülpt. Dadurch nimmt diese malerische Darstellung den Beweischarakter der Fotografie an. »Es ist so gewesen,« wie Roland Barthes dieses Phänomen nennen würde.32 Trotz aller Assimilation bleibt dieses Bild jedoch ein Gemälde, es ist eine symbolische Konstruktion mit autoreferentieller Wirklichkeit. Auf politisch-ideologischer Ebene ist ein weiteres Merkmal das soziale Engagement, das in so vielen frühen Gemälden Ballas deutlich wird. Der untere Teil der achtlos mit Kritzeleien bedeckten Tür, die Tinte auf dem Bürgersteig stehen für die Respektlosigkeit, mit der die Gesellschaft dem Konkurs dieses Laden begegnet, stehen für die Ignoranz gegenüber den traurigen Einzelschicksalen, die in ihrer Summierung zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen werden. Im weitesten Sinne referiert die Darstellung dieses einzelnen Ladens auf die schlechte wirtschaftliche Lage Italiens gegenüber jener anderer Länder wie England, Deutschland oder Frankreich in dieser Zeit.33 Auf diese inhaltliche Bedeutung könnte auch ein weiteres Detail des Bildes verweisen: die in kindlicher Krakelschrift geschriebenen Lettern »Mariamari« auf dem linken Türflügel. Hier könnte es sich um eine Duplizierung des Namens Maria handeln, wobei der letzte Buchstabe, das A, aufgrund kindlicher Unbeholfenheit vergessen wurde. In diesem Falle könnte es sich um ein verzweifeltes 31 Vgl. Bresson 1983, S. 78-82. 32 Vgl. Barthes 1989, S. 87. 33 Seit 1896 erlebte die Industrie Frankreichs bis 1930 einen nahezu ungebrochenen wirtschaftlichen Aufschwung, der sich in allen Bereichen, auch für Touristen, bis etwa 1930 bemerkbar machte. Dazu gehörte beispielsweise der Bau der Metro, der Ausbau des Eisenbahn-und Straßennetzes, die expandierende Stromversorgung. Deutschland wurde wegen seiner demographischen Stärke, seiner industriellen Kraft und seiner aufstrebenden Wissenschaft von den Franzosen als harte Konkurrenz begriffen, was auch zahlreiche Buchpublikationen um die Jahrhundertwende zeigen, wie Le Danger allemand (1896) von Marcel Schwob, oder Allemagne au travail von Victor Cambau (Vgl. dazu Caron 1991). Im Jahr 1900 steht Deutschland in der Industrieproduktion und im Außenhandel weltweit hinter den USA und Großbritannien an dritter Stelle (Vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts, S. 10). England war unter der Regierung der Königen Victoria zur Weltmacht aufgestiegen und hatte einen Herrschaftsanspruch auf ein Viertel der Erde (vgl. dazu ebd. S. 23).

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Vorgeschichte Bittgesuch handeln, daß Maria doch helfen möge. Oder um »Maria amari«, die Bitte, von Maria geliebt zu werden, was die italienischen Soldaten auch im Krieg ausgerufen haben sollen. Oder der Schriftzug könnte »Mari amari« bedeuten, bittere Meere. Ohne diesem Schriftzug seine Polyvalenz zu nehmen: er ist Ausdruck bitterer Verzweiflung. In der Darstellungsweise und Aufgeschlossenheit gegenüber der Fotografie knüpft Balla an den französischen Impressionismus an. Auf der anderen Seite bricht er mit dieser Tradition. Die Verwendung dieser Malweise ist bei Balla kein Selbstzweck, er setzt sie gezielt ein. Die untere Türspalte wird mit einem impressionistischen Schleier überlagert, um ihre Verschlossenheit zu symbolisieren, die um so deutlicher wird, als andere Stellen der Darstellung, wie die Kanten der Hauswand zur rechten und linken Seite der Tür, sehr scharf dargestellt sind. Zwar erzählt das Bild eine Geschichte von Menschen, von den Menschen, die dieses Geschäft betreten haben, von den Besitzern des Ladens, von einem Gerichtsvollzieher. Keiner dieser Menschen aber ist zu sehen. Erzählt wird diese Geschichte von inerten Materialien, von Stein und Holz, die im Alltagsverständnis als ausgesprochen tot gelten. Diese bilden die Folie für die Abwesenheit der Menschen, von denen das Bild handelt. Bei den Impressionisten dagegen ist die Narratio der Darstellung mit dem positiv dargestellten Bildgegenstand meistens identisch: die Menschen, von denen ihre Bilder handeln, sind in meist vergnügt wirkenden Park-und Cafészenen tatsächlich auch zu sehen, wenn es auch ›menschenleere‹ impressionistische Darstellungen gibt, die jedoch Landschaft und Architektur eher verklären als Geschichten gesellschaftlichen Verfalls zu erzählen. Dieses Gemälde hat auf Boccioni und Severini vielleicht die Wirkung eines ›Virtuosenstücks‹, da es die Lösung malerischer Probleme vor Augen führt, die in dieser Zeit virulent sind. Dazu gehören Fragen, wie Licht darzustellen ist, ohne dessen Quelle, ohne dessen Schein abzubilden. Eine Geschichte von Menschen zu erzählen, ohne die Menschen selbst zeigen. Kurzzeitigkeit zu suggerieren trotz der Darstellung träger Substanzen. Das Bild sein eigenes ›Hier und Jetzt‹ im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Vergangenheit definieren zu lassen. Den ›Divisionismus‹ zu realisieren, der, als ›neue Schule‹ gefeiert,34 für viele Künstler eine Herausforderung darstellt. Alles Probleme, die Boccioni und Severini vielleicht erst anhand der Werke Ballas erkennen, wenn sie sich ihnen nicht schon selbst im Rahmen ihrer eigenen Bildproduktion gestellt haben. Und nicht zuletzt der soziale Impetus des Bildes wird auf die Sympathie der jungen Künstler gestoßen sein.

34 Vgl. Balla 1984, S. 92.

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Das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Giacomo Balla zu Umberto Boccioni und Gino Severini Die intensive Auseinandersetzung der drei Künstler miteinander dauert vier Jahre, bis in das Jahr 1906, bis sie sich räumlich voneinander trennen. Alle Biographen und auch Severini und Boccioni selbst stimmen überein, daß Balla die jungen Künstler in die Malweise des Divisionismus einführte.35 Boccioni schreibt dazu an Severini, daß er, eins seiner Landschaftsbilder unter dem Arm, einem Studenten der Kunstschule ›Gli Incurabili‹ begegnet sei, den er ein »grandissimo animale« nennt. Dieser Student habe sein Bild kritisiert und belächelt und produktionsästhetische Fragen mit ihm diskutiert. Der Student habe für die perspektivische Darstellung und gegen den Divisionismus plädiert, weil man sich von einem divisionistischen Bild »distanzieren« müsse, um es erkennen zu können. Dies veranlasst Boccioni, ihn eine »Bestie« zu nennen.36 Zumindest bei Boccioni stehen bis ins Jahr 1906 den zahlreichen Studien von Stadtlandschaften, Statuen, Tieren, Bäumen, meistens in Umrissen realisiert, relativ wenige Ölgemälde gegenüber. Diese gleichen in der Tat Illustrationen der divisionistischen Malweise, Übungsstücken also, wie der Ritratto femminile (Abb. 15) aus dem Jahr 1903. Das Kleid der Frau, dargestellt in voneinander separierten Pinselstrichen in Blau-und Weißtönen mit roten Einstichen, kontrastiert mit dem in Grün-und Gelbtönen gehaltenen Hintergrund. Nicht nur in der Farbigkeit sind Figur und Grund voneinander differenziert, auch in der Dynamik des Pinselduktus: die Pinselstriche des Kleides ziehen von links oben nach rechts unten, jene des Grundes in die entgegengesetzte Richtung. In diesem Porträt zeigt sich die Schwierigkeit, Gesichter in dieser Malweise darzustellen, denn das Gesicht der Frau ist in homogenisierendem Pinselduktus plastisch herauspräpariert und nicht analog zum Kleid in der Fläche aufgelöst. In den bisher wenig beachteten Studien zeigt sich darüber hinaus, daß sich Boccioni ebenso wie Balla mit der Frage beschäftigt, Licht darzustellen, ohne dessen Schein oder Quelle zu zeigen. In der nicht datierten frühen Studie Donna (Abb. 16) wird durch die dicke Konturierung der Eindruck erweckt, die Frau werde von hinten angeleuchtet, während vor ihrem Körper eher dunkle Lichtverhältnisse suggeriert werden. Bei Balla ist dieses Prinzip erstmalig in dem Ganzkörperporträt La signora Pisani al balcone - ritratto della Signora Pisani (Abb. 13) aus dem Jahr 1901 realisiert, in dem die Umrißlinie der fein gekleideten Dame auf dem Balkon durch das von hinten einfallende Licht um so stärker an Kontur gewinnt. Nur in einer Darstellung Ballas ist dieses Prinzip beim Namen benannt, in Nudo Controluce (Abb. 17) aus dem Jahr 1906, in dem die Rückenansicht des knapp durch ein Tuch bedeckten Frauenkörpers durch das von vorne einfallende Licht ebenso konturiert ist. Ganz im Gegensatz zum frühen Oeuvre Boccionis stehen bei Severini den zahlreichen Ölgemälden ausgesprochen wenige Studien

35 Vgl. Severini 1965, S. 23; Agnese 1996, S. 43. 36 Boccioni an Severini, Rom, 2. 9. 1902 (MART).

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Vorgeschichte gegenüber. Die Ölgemälde zeugen einerseits von einer Übernahme der divisionistischen Instruktionen Ballas, andererseits von einer dezidierten Abspaltung von ihnen. In dem Bild Campo di Grano (Abb. 18) aus dem Jahr 1903 steht der divisionistischen Malweise des Feldes die postimpressionistische des Himmels in Taches entgegen. Dies könnte durch Seurat beeinflußt sein, dessen Werke ihm vielleicht vermittelt durch seine Lehrerin Signora Luchini durch Reproduktionen bekannt waren. In der Zusammenziehung einer französischen und einer italienischen Version des Postimpressionismus antizipiert dieses frühe Bild das Dilemma Severinis, zwischen den Fronten zu stehen, zwischen Italien und Frankreich, den Versuch, zwischen diesen Fronten seine eigenen Interessen zu artikulieren. Denn er ist der einzige unter den futuristischen Künstlern, der seit dem Jahr 1906 dauerhaft in Paris wohnt und Frankreich als seine »intellektuelle Heimat« begreifen wird. Dieses Dilemma ist gleichzeitig seine Kompetenz. Er steht nämlich nicht nur zwischen den Fronten, sondern vermittelt auch zwischen ihnen, versucht sie in Einklang zu bringen, ebenso in seinen Arbeiten, wie auch als Mensch. Nicht nur in der Übernahme der divisionistischen Malweise, sondern auch in zahlreichen Motivzusammenhängen äußert sich die Kollaboration der drei Maler. Aus dem Jahr 1903 stammt Ballas Bild La Giornata dell’operaio (Abb. 19; Tag des Arbeiters), das einen starken Einfluß auf Severini und Boccioni ausübte. Dargestellt ist ein großes, vierstöckiges, für italienische Verhältnisse nüchtern und modern wirkendes Haus, an dem gerade gebaut wird. Haus und Arbeitsprozeß sind in zwei verschiedenen Zeitabschnitten zu sehen, die formal durch geometrische Unterteilung der Darstellung in ein ›vorher‹ und ein ›nachher‹ voneinander abgetrennt sind: Links am frühen Morgen. Die Baustelle mit dem umfangreichen Gerüst links oben ist leer. Der in kaltem Blau gehaltene Himmel deutet auf kühle Außentemperatur hin. Darunter sieht man die Arbeiter beim Pausieren. Die Sonne scheint grell auf den Vorplatz vor dem Haus. Vor einer Mauer, die die Baustelle gegen den Vorplatz abgrenzt, haben sich die Arbeiter niedergelassen, um zu essen. Die gesamte rechte Bildhälfte wird ausgefüllt von der Darstellung desselben Hauses in der Abenddämmerung. Die Arbeiter, nur als schattenhafte Silhouetten erkennbar, verlassen die Baustelle und gehen nach Hause. Natürliches Abendlicht mischt sich mit dem elektrischen, künstlichen einer vor dem Haus stehenden hohen Stablaterne. Genau dieselbe Laterne findet sich auf dem Bild Via di porta Pinciana al Tramonto (Abb. 20; Via di porta Pinciana im Sonnenuntergang) von Severini aus demselben Jahr. Doch das ist nicht die einzige Übereinstimmung. Unmittelbar hinter der Laterne befindet sich ein hohes Gerüst vor der Fassade eines Hauses, das wahrscheinlich mit dem von Balla daragestellten identisch ist. Severinis Bild ist sozusagen eine Detailstudie über eine Ausschnittsvergrößerung des Bildes von Balla. Von besonderem Interesse ist für Severini die ›akrobatische‹ Darstellung des Baugerüsts, das mit seinen vielen Verstrebungen viel genauer zu erkennen ist als bei Balla, sowie die Interferenz zwischen Abendlicht und elektrischem Licht. Sieben Jahre später – die futuristische Kunstproduktion ist schon in vollem Gange – tauchen Haus und Gerüst auch bei Boccioni auf, und zwar in dem Bild Città che sale (Abb. 21; Die Stadt erhebt sich), das heute zu den bekann29

Futuristen auf Europa-Tournee testen Werken des Futurismus gehört. Im Hintergrund der sich revolutionär erhebenden Stadt, einem wüsten Gemenge von Pferden und Menschen, wird dieser Bezug nur subtil angedeutet. Deutlicher wird er in den Studien zu diesem Bild. In einer Version (Abb. 22), in der die kompositorische Gesamtanlage schon klar zu erkennen ist, nimmt das Haus im Hintergrund viel mehr Raum ein. Unverkennbar wird dieser Motivzusammenhang in einer wahrscheinlich früheren Variante (Abb. 23), auf der nur der von einem Gerüst umgebene Rohbau zu sehen ist und vor ihm ein Pferd, das einen Karren zieht. Interpersonell basiert das Lehrer-Schüler Verhältnis zwischen Balla, Boccioni und Severini zunächst auf identifikatorischen Strukturen. Es gipfelt in der gemeinsamen Ausstellungstätigkeit in der Società degli amatori e cultori im Jahr 1903, auf der von Boccioni eine Studie, von Severini eine Landschaft und von Balla fünf Gemälde zu sehen sind.37 1904 nimmt nur Balla an dieser Ausstellung teil, Boccioni und Severini bereiten in weitaus größerem Ausmaße Gemälde für die Ausstellung des Folgejahres vor, um ihren Weg in die etablierte Kunstlandschaft zu finden. Die Chancen stehen gut, denn Balla ist dieses Mal Mitglied der Jury. Trotzdem wird die gesamte Produktion von Severini zurückgewiesen, von Boccioni unter sechs eingereichten Arbeiten nur ein Selbstporträt akzeptiert. Zusammen mit zahlreichen anderen abgewiesenen Künstlern organisieren Boccioni und Severini in polemischer Abgrenzung eine mostra dei rifiutati im Foyer des renommierten Nationaltheaters, ganz in der Nähe des Palazzo delle Esposizioni, in dem die Ausstellung der Società di amatori e cultori delle belle Arti stattfindet.38 Die ›Abgewiesenen‹ protestieren nicht nur gegen die Ablehnung ihrer Werke, sondern auch gegen den gesellschaftlichen Kontext der offiziellen Ausstellung, zu deren Besuchern im Folgejahr das im italienischen Faschismus noch regierende Königspaar, zahlreiche offizielle Beamte und politische Funktionäre gehören. Protestiert wird also gegen eine generelle Haltung, die unter jungen Künstlern als konservativ, engstirnig und ›passatistisch‹ gilt. Die Gegenausstellung ist außerdem eine Maßnahme, den eigenen Bekanntheitsgrad als Künstler zu steigern. Die Ablehnung ihrer Werke zwingt Severini und Boccioni, sich von der etablierten Kunstszene zu distanzieren. Die so eingeleitete Reflexion und mangelnde Identifikation mit dem Lager etablierter Kunst fungiert als Handlungsfolie für die Organisation der Mostra dei rifiutati, die als Abspaltung, als Sezession zu sehen ist. Zwar wurde Balla zunächst durch ›höhere Gewalt‹, durch Fremdklassifi37 Zu dieser Ausstellung vgl. Agnese 1996, S. 43f.; Severini 1965, S. 28. Severini, der es mit Jahresangaben nicht immer besonders genau nimmt, gibt für diese Ausstellung das Jahr 1904 an. Dem steht entgegen, daß beispielsweise sein Bild Dintorni a Roma aus dem Jahr 1903 in demselben Jahr auf der Ausstellung in Rom zu sehen war (vgl. dazu Fonti 1988, S. 74). 38 Baumgarth erwähnt zwar die mostra dei rifiutati, stellt sie aber nicht mit der Ausstellung in er Società degli amatori e cultori delle belle arti in Zusammenhang (vgl. Baumgarth 1966, S. 46). Zu dieser Ausstellung vgl. weiterhin Agnese 1996, S. 67ff.; Severini 1965, S.30 ff.

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Vorgeschichte kation also, dem Lager der etablierten Kunst zugeordnet. Doch unterlag es seiner freien Entscheidung, weiterhin in diesem Verein auszustellen und sich nicht seinen Schülern anzuschließen. Es kommt also zu einer geistigen Spaltung zwischen den drei Künstlern, an der sich in den folgenden Jahren nichts ändern wird. Vorerst trennen sich die Wege Severinis, Boccionis und Ballas auch geographisch. Balla bleibt in Rom, Severini zieht nach Paris,39 wohin auch Boccioni für einige Monate reist, um sich dann vorübergehend in der russischen Stadt Tzaritzin niederzulassen.40 In Paris verkehrt Boccioni vor allem mit Polen und Russen, die als Gegner der zaristischen Diktatur emigriert sind. Für Emigranten ist es schwierig, in die hermetisch geschlossenen Kreise der Pariser Gesellschaft Eingang zu finden. Daher bilden sie eigene Zirkel, meist nur aus Landsleuten bestehend. Auch Severini knüpft in Paris enge Kontakte zu italienischen Künstlern wie dem Maler Amadeo Modigliani und dem Karikaturisten Anselmo Bucci. Severini und Boccioni emigrieren allerdings nicht aus politischen Gründen, sondern aus künstlerischen. Paris erscheint ihnen als Zentrum der Innovation und Tradition. Während sich Severini in Paris permanent mit Fragen der Erneuerung der modernen Malerei beschäftigt, gehört Boccioni zu jenen, die in dieser Stadt der aufblühenden Moderne weniger die Impressionisten studieren als die alten Meister wie Rembrandt oder die italienischen Renaissance-Künstler, was er ebensogut, wenn nicht sogar noch viel besser, in Rom hätte tun können. Nach Severini reicht es eben nicht aus, nur als ›Tourist‹ die Kunstszene am Montmartre zu besuchen. Man müsse ein wirklicher Teil von ihr sein, um das künstlerische Potential dieses Milieus richtig einschätzen zu können. Denn in Italien sei ein so hohes kreatives Potential wie am Montmartre seit der Renaissance nicht mehr vorhanden gewesen.41 Daher seien viele seiner italienischen Bekannten nach Kurzaufenthalten wieder abgereist, ohne die Probleme der modernen bsthetik, so wie sie am Montmartre diskutiert wurden, auch nur annähernd tangiert zu haben.42 Zu diesen ›Touristen‹ gehörte Boccioni eben auch. Daß Boccioni nach Paris fährt, um tatsächlich die alten Meister wie Rembrandt zu studieren, bezeugt am stärksten sein Bild Ritratto femminile (Abb. 24) aus dem Jahr 1909. Die psychologisierende Darstellung des Frauenantlitzes, die goldbraune Tönung, der expressive Auftrag breiter Pinselstriche, deren Konnex nicht aus der Nähe, sondern erst aus der Distanz evident wird, läßt eine Rezeption von Rembrandts Spätwerk offensichtlich erscheinen. Ist aber der Impressionismus wirklich so sang-und klanglos an Boccioni vorbeigezogen, wie ihm später sein Freund Severini und andere Zeitgenossen vorwerfen werden? Dagegen sprechen ganz deutlich Bilder wie Padiglione al sole (Heuschober in der Sonne; Abb. 25) aus dem Jahr 1908, deren Motivik von einer Rezeption der 39 Zu Severinis Zeit in Paris bis zur Gründung des Futurismus, ebd., S. 35-97; Fonti 1988, S. 19. 40 Zu den Auslandsaufenthalten Boccionis vgl. Agnese 1996, S. 75-121. 41 Severini 1965, S. 96. 42 Ebd., S. 55.

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Futuristen auf Europa-Tournee Werke Monets zeugt. Schon der Titel der Arbeit Heuschober in der Sonne verweist ostentativ auf eine impressionistische Intentionalität, die momenthafte Konfiguration des Heuschobers unter bestimmten Wetterverhältnissen als situative Phänomenalität darzustellen. Gleichzeitig zeugt dieses Bild im rot-grünen Kolorit und in der symbolisch aufgeladenen Liniengebung von einer Hinwendung zu einer expressiv-symbolistischen Bildkonzeption, die sich in seinen späteren Werken noch stärker ausprägen wird. Eine Kombination der psychologisierenden Darstellung Van Goghs oder Rembrandts mit symbolistischen Aspirationen findet sich in dem Porträt Testa di Vecchio (Abb. 26) aus dem Jahr 1909. Daß es sich aber nicht um ein systematisches Studium moderner Malerei in Paris gehandelt haben kann, zeigt folgende bußerung Boccionis, in der er die ästhetische Realität Italiens und die malerischen Möglichkeiten ihrer Reformierung reflektiert, ohne zu wissen, wie sie zu vollziehen wäre. Wieder nach Padua zurückgekehrt, schreibt er am 14. März 1907 in sein Tagebuch: »Die moderne Kunst erscheint mir vor allem veraltet. (...) Die gesamte Vergangenheit (...) erdrückt mich. Ich will das Neue. Doch mir fehlen die Elemente, um zu begreifen, an welchem Punkt man sich befindet und was man benötigt. Wie ist dieses zu machen? Mit der Farbe? Oder mit der Zeichnung? Oder mit der Malerei?... Mit veristischen Tendenzen, die mich nicht mehr zufrieden stellen? mit symbolistischen Tendenzen, die mir wenig gefallen und die ich noch niemals versucht habe? Mit einem Idealismus, der mich zwar anzieht, den ich aber nicht zu konkretisieren weiß? (...) Ich fühle mich derzeit als Frucht meiner Zeit und mir scheint es, daß hier in Padua alles veraltet ist.«43

In diesem Zuge vollzieht sich auch Boccionis ästhetische Abspaltung von Balla. An seinem Ritratto della pittrice Adriana Bisi Fabbri aus dem Jahr 1906 (Abb. 27) werden die Unterschiede zu Ballas Darstellungsweise – wie in dem Genrebild La fidanzata alla villa Borghese (Abb. 28) aus dem Jahr 1902 ï deutlich.44 Zwar stehen beide Darstellungen in der Tradition des Divisionismus, doch in welch unterschiedlicher Weise: die Farben der zahlreichen, fein gesetzten Taches überführt Balla in eine wohlklingende Farbharmo-

43 »Anzitutto l'arte moderna mi pare vecchia. (...) Tutto il passato (...) mi opprime, io voglio del nuovo. E mi mancano gli elementi per concepire a che punto si è, e di che cosa si ha bisogno. Con che cosa fare questo? Col colore? O col disegno? Con la Pittura? ... Con tendenze veriste che non soddisfano più; con tendenze simbolistiche che mi piacciono in pochi e che non ho mai tentato? Con un idealismo che mi attrae e che non so concretare? Ora mi sento frutto del mio tempo e mi sembra che qui in Padova tutto sia vecchio.« (Umberto Boccioni, Tagebuchfragment vom 14. März 1907, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 225, Übersetzung LW). 44 Bei diesem Vergleich darf man nicht vergessen, daß die Bilder unterschiedlichen Gattungen angehören: Boccinis Darstellung ist ein Porträt und Ballas ein Genrebild, weil er seine Verlobte in ihrer alltäglichen Umgebung wiedergibt. Somit ist sein Bild meh als nur ein Bildnis.

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Vorgeschichte nie. Boccioni hingegen wendet das Prinzip des Divisionismus im überwiegenden Teil der Bildoberfläche an, nur nicht im Gesicht der Dargestellten. Für das Gesicht wählt er Komplementärkontraste in Grün- und Rottönen, so daß keine Farbharmonie, sondern im Gegenteil eine Farbdissonanz entsteht. Dieses Prinzip, eine postimpressionistische Malweise, die im Rest des Gemäldes angewandt ist, mit einem expressiven Kolorit zu kombinieren, wird er im Gründungsmanifest futuristischer Malerei den »angeborenen Komplementarismus« nennen. Dieser ist als Gegenentwurf zu Ballas »Studio dal Vero« zu sehen. Die aggressiv kontrastierenden Komplemetärkontraste im Gesicht der Frau verweisen eventuell auf die innere Krise, die sich in ihrem Antlitz spiegelt. So wird Boccioni die Malerin und Dichterin Adriana Fabbri Bisi aus Padua gesehen haben, die nicht nur seine Verwandte, sondern auch seine Geliebte war. Geheiratet hat sie aber nach klassischem Rollendiktat einen anderen, den sie nicht liebte und den ihr Vater für sie ausgesucht hatte.45 In einem Brief an Severini aus dem Jahr 1907 faßt Boccioni, der inzwischen in Mailand wohnt, die Ergebnisse dieses vorerst rein ästhetischen Dialogs mit Balla in Worte. Zwar sei er ein »großer Verehrer Ballas«, doch sehe er ihn weit entfernt von der neuen künstlerischen und intellektuellen Bewegung: »Balla, ausgebildet, als das Genrebild zu Neige ging, hat seine gesamte malerische Potenz und sein künstlerisches Wissen in den Dienst eben jenes gestellt. (...) Balla fehlt es absolut an dekorativem Vorstellungsvermögen, das unerläßlich für die Schaffung eines großen Kunstwerkes ist. Balla (...) hat viel geforscht und studiert, aber in einem Kreis von Menschen, die sich schon seit ihrer Jugend selbst bekreuzigten. Er hat seine Energie mit einem unerschütterlichen Glauben vervielfacht, aber taub gegen alle Tränen, gegen alle Freuden. Ihm fehlt jener Sinn des Maßes, den alle großen Künstler besitzen. Er wollte um jeden Preis voranschreiten, ohne wahrzunehmen, daß er von einer geschlossenen Mauer umgeben ist.«46

In diesem Brief läßt Boccioni nicht nur künstlerische, sondern auch persönliche Kritik an Balla erkennen. Diese zielt so stark ins Zentrum seiner Glaubwürdigkeit und Integrität, daß man fast von einem imaginierten ›Vatermord‹ sprechen könnte, auf jeden Fall aber von vehementer Abgrenzung gegen die ›Vater-Imago‹ des einst verehrten Balla, die Boccioni zu seiner künstlerischen und persönlichen Selbst45 Zu diesem Verhältnis vgl. Agnese, 1996, S. 125. 46 »Balla, educato quando il quadretto di genere declinava ha messa tutta la sua potenza pittorica e coscienza artistica a servizio di quello. (…) A Balla manca assolutamente la visione decorativa la sola che possa fare grande un’opera d’arte. Balla (…) ha cercato e studiato molto ma in un circolo già segnatosi da giovane. Ha moltiplicato la sua energia con una fede incrollabile ma sordo a tutti I pianti a tutte le gioie. Gli è mancato quel senso della misura che tutti i grandi artisti posseggono. Ha voluto camminare ad ogni costo senza accorgersi che era circondato da un muro chiuso.« (Umberto Boccioni in einen Brief an Gino Severini im Oktober oder November 1907, Gambillo/Fiori 1958, S. 228f., Übersetzung LW).

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Futuristen auf Europa-Tournee findung offenbar nötig hat. Wie wenig diese Kritik inhaltlich zu bedeuten hat, zeigen bislang unveröffentlichte Passagen des Briefes, in denen Boccioni Severini erläutert, welche der in Mailand befindlichen Kunstwerke er persönlich für meisterhaft und sehenswert hält, Das Abendmahl von Leonardo da Vinci und eine Pietà von Bellini: »Ich glaube, daß es ein Bild von einer Perfektion ist, die man selten sieht.« Einerseits wirft er Balla also vor, eine rückschrittliche bsthetik zu vertreten. Andererseits gilt sein eigenes Hauptinteresse hier ausschließlich Werken der Renaissance, die biblische Themen darstellen. Von der zeitgenössischen Kunstszene Mailands erwähnt er zwar Segantini und Previati, kann aber Severinis Bewunderung für den ersten nicht teilen, weil er ihn für einen reinen Imitator hält. Previati gesteht er lediglich eine »Ernsthaftigkeit« zu, die seiner Meinung nach den französischen Künstlern fehle.47 Biographisch ist interessant, daß Boccioni weit über sein Adoleszenten-Alter hinaus eine besonders enge Bindung an seine Mutter hat und von daher prädisponiert ist, sich in ödipaler Konkurrenz zu Vater-Figuren zu entwerfen. Die erotische Qualität der Beziehung zu seiner Mutter spiegelt sich auch in dem Rückenakt Controluce aus dem Jahr 1909 (Abb. 29). Denn Boccioni stellt nicht nur seine Mutter dar, sondern auch den eigenen Blick auf sie, der eher jenem eines Geliebten als dem eines Sohnes entspricht. Würde Boccioni sich als Sohn zu seiner Mutter entwerfen, hätte er dann ein Auge für ihre weichen und wohligen Formen, die normalerweise nur ein Geliebter sieht? Könnte er dann ihre Formen so verheißungsvoll im Gegenlicht modellieren, daß ihr Anblick den Wunsch nach mehr erzeugt, etwa nach der Ansicht ihrer Vorderseite? Die Darstellung spricht nicht für einen vulgär-sexistischen Blick Boccionis, sondern eher für ausgesprochene Zärtlichkeit. Die Pinselstriche sind so fein gesetzt, als ob er in dem Malprozeß die physische Berührung seiner Mutter imaginieren würde. Neben seinen persönlichen Vorbehalten gegen Balla und seine Positionierung als Künstler spielt Boccioni an anderer Stelle des Briefes an Severini ästhetisch auf Ballas Prinzip des ›Studio dal Vero‹ an, das seiner Ansicht nach zu einer zum Kitsch und Oberflächlichkeit tendierenden Malerei verleiten kann: »Das zu starke Verharren auf Beobachtung eines Blattes hat ihn vergessen lassen, daß in seinem Kopf die Vögel zwitschern. Die Wolken fließen weit, weit, die Schmetterlinge haschen und lieben sich...Er gibt Dir wunderbar jenen zufälligen Tonus eines Blattes, Deine Empfindung aber bleibt dort beschränkt, kalt und isoliert ... Das Universum zuckt nicht! Die Sehnsucht nach dem, was ist, was vielleicht noch niemals da war, was vielleicht niemals sein wird, ist nicht zufriedengestellt. Du fährst fort, zu leiden und zu wünschen, während du noch in der Versenkung seines Werkes verweilst: das ist der Grund, warum es nicht groß ist, warum meiner Meinung nach sein Weg ein Irrweg ist!«48

47 Boccioni an Severini, Mailand, Oktober oder November 1907 (MART). 48 »Il fermarsi troppo all'osservazione di una foglia gli ha fatto dimenticare che sulla sua testa cantano gli uccelli. Le nuvole corrono lontano, lontano, le farfalle si rincorrono e si amano... Egli ti dà quel tono accidentale della

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Vorgeschichte Dieser Einschätzung Ballas kann Severini sich nicht anschließen. Jahrzehnte später schreibt er in seiner Autobiographie über seinen ehemaligen Lehrer, ohne sich aber auf den Brief Boccionis zu beziehen, daß Balla ein »absolut seriöser Mann« gewesen sei, »profund und reflexiv«, »ein Maler im weitestem Sinne des Wortes.«49 Während Boccioni den Verismus Ballas als oberflächlich, kalt und mit Tendenz zum Kitsch beschreibt, schätzt Severini Ballas Kunst als Lichtblick in der damals »vulgären, banalen und mittelmäßigen«50 Kunstlandschaft Italiens, nicht ganz ohne seinen Verismus zu poetisieren: »Nach dem Vorbild französischer Maler liebte er nur die Natur, in der er seine Inspiration suchte. Wenn er einen alten Schuh in einer Landschaft sah, dann malte er ihn zweifelsohne auch.«51 Außerdem segne er Balla dafür, ihm die Impressionisten nahegebracht zu haben, da damals ohne Kenntnis des Impressionismus ein modernes Kunstwerk nicht zu konzipieren gewesen sei.52 An anderer Stelle fügt er jedoch einschränkend hinzu, daß Balla sie zwar in die Technik des ›Divisionismus‹ eingeführt habe, jedoch ohne die »grundlegenden und wissenschaftlichen Regeln zu lehren«.53 Die im Jahr 1905 initiierte Spaltung zwischen Boccioni und Balla wird also durch Boccioni nach seinen Auslandsaufenthalten ästhetisch wie sprachlich reflektiert und verstärkt. Severini hingegen betrachtet Balla nach wie vor als übergeordnete Lehrerfigur, zu der er in keinerlei Konkurrenz steht, die er im Gegenteil sogar außerordentlich schätzt. Statt dessen scheint er eher mit Boccioni zu konkurrieren: während sie beide noch Schüler Ballas waren, sei ihre Freundchaft zwar enger geworden, doch nicht ohne einen Beigeschmack von »gesunder Rivalität«,54 die für den außenstehenden Betrachter viel von klassischer Geschwisterrivalität hat. Der interpersonelle und ästhetische Antagonismus besteht am stärksten zwischen Boccioni und Balla, wobei er durch Boccioni initiiert wird, der ï als ehemaliger Schüler Ballas und späterer Initiator des Futurismus ï seinen Lehrer vielleicht überwinden möchte. Ein ähnliches Verhaltensmuster findet man bei Revolutionären, die den Monarchen stürzen möchten – um später selbst zum Monarchen zu werden. Von Balla sind keine bußerungen zu den Aspirationen Boccionis bekannt. Severini hingegen konzipiert sich in »gesunder Rivalität« zu Boccioni. Diese wird von Boccioni weder in Bildern noch in

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foglia meravigliosamente ma la tua sensazione resta, lì circoscritta, fredda, isolata... L'universo non palpita! La nostalgia di ciò che non è, che non è mai stato forse. Che non sarà mai non è appagata! Tu continui a soffrire e a desiderare nella stessa contemplazione della sua opera: ecco perché non è grande perché, secondo me, la sua è una via sbagliata!« (Umberto Boccioni in einen Brief an Gino Severini im Oktober oder November 1907, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 228f., hier S. 229, Übersetzung LW). Severini 1965, S. 23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 24. Ebd., S. 50. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25.

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Futuristen auf Europa-Tournee schriftlichen bußerungen erwidert. Da er selbst mit Balla konkurriert, steht er der Rivalität Severinis wahrscheinlich indifferent gegenüber, vielleicht hat er sie noch nicht einmal registriert. Sein Antagonist ist eben nicht der ›Bruder‹, sondern der ›Vater‹ oder jedenfalls die ›Vater-Imago‹.

Das Gründungsmanifest des Futurismus Nach seinen Auslandsaufenthalten zieht Boccioni zuerst nach Venedig und dann nach Mailand – der modernsten Stadt Italiens, die auch die Gründungstadt des Futurismus ist. Dessen Zentrale befindet sich in der Wohnung von Emilio Filippo Tommaso Marinetti, des Begründers des Futurismus. Nach einer futuristischen Veranstaltung, die Boccioni besuchte, schließt er mit Marinetti Bekanntschaft.55 Der Futurismus wird offiziell am am 11. Februar 1909 mit der Publikation des von Marinetti verfaßten Gründungsmanifestes Fondazione e Manifesto del Futurismo gegründet.56 Kurz vorher und nachher wird eine gekürzte Fassung in einigen italienischen Zeitungen gedruckt, bis es einige Tage später, am 20. Februar 1909, unter der Überschrift Le Futurisme auf der Titelseite des Pariser Le Figaro erscheint. Aus dem Literatenkreis um Marinettis Poesia-Verlag in Mailand hervorgegangen, ist der Futurismus zunächst als literarische Bewegung konzipiert. Dies spielt für das Gründungsmanifest eine sekundäre Rolle, da es mehr eine ideologische Haltung beschreibt als eine literarische bsthetik. In einem narrativen Vorspann zum elf Punkte umfassenden Manifest beschreibt Marinetti in pathetischer Gebärde seine persönliche Konversion zum Futurismus, die ihn zur Proklamation des Manifestes geführt habe. Das Manifest ruft zur Gewalt auf, zum Bruch mit allen Traditionen, propagiert Fortschritts-und Geschwindigkeitskult, Kriegsverherrlichung und eine aggressive Haltung gegenüber kulturellen Institutionen wie Akademien und Bibliotheken; es ist frauenfeindlich und spricht sich gegen alle Formen von Moral aus, außer gegen die ›Tugend‹ des Patriotismus. Der Futurismus ist also seit seiner Gründung mehr eine Ideologie oder Religion als eine auf die Literatur spezifizierte Bewegung und von daher für alle Sparten ästhetischer Produktion offen. Für bildende Künstler dürften folgende zwei Punkte des Manifestes bedeutsam gewesen sein: In Punkt vier erklärt Marinetti, »daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: Die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ..., ein

55 Die Umstände, wie es zu dieser Bekanntschaft kam, sind sehr ausführlich bei Baumgarth 1966, S. 45 ff. dargestellt. 56 Genaue Quellenangaben zu diesem Manifest in: Boccioni 2002, S.415; ungekürzte Fassung in italienischer Sprache, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 1520; deutsche Übersetzung, in: Baumgarth 1966, S. 23-29.

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Vorgeschichte aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.« Boccioni, der in verachtender Haltung der etablierten Kunstlandschaft Italiens gegenübersteht, der selbst das Neue sucht, könnte Gefallen daran gefunden haben, wie Marinetti in einem Satz dem Fortschrittskult huldigt und mit den antiken Kunstschätzen Italiens abrechnet. Aufschlußreich ist weiterhin Punkt sieben, daß es »Schönheit nur noch im Kampf« gebe und ein »Werk ohne aggressiven Charakter kein Meisterwerk« sein könne. Hier legt Marinetti den jungen kreativ Schaffenden eine Haltung nahe, die für die Durchsetzung von Modernität in ihrer Sparte elementar ist: Aggressivität, die nicht zuletzt den Werken immanent sein muß. Der Nationalismus Marinettis spiegelt sich in der Huldigung an Militarismus und Patriotismus. Deutlicher äußert sich Marinetti bei den futuristischen Veranstaltungen, auf denen »nieder mit Österreich« zu den gängigen Parolen gehört. Marinetti ist Sympathisant der Irredenta, einer Bewegung, die sich seit ihrer Entstehung in den 1870ern für die Wiedereingliederung der italienischsprachigen Gebiete Österreich-Ungarns einsetzte.57 Diese Gebietsansprüche dehnen sich seit der Jahrhhundertwende auf die sogenannten »natürlichen Grenzen« Italiens aus, bis in die österreichischen und schweizerischen Alpen, bis auf Gebiete, die ehemals unter italienischer Herrschaft standen wie Nizza oder Korsika. Nachdem Boccioni noch vor seinem Mitwirken der ersten futuristischen Veranstaltung beiwohnt, trifft er den Dichter Libero Altomare, einen langjährigen Bekannten, der bereits der futuristischen Bewegung beigetreten ist. Ihm berichtet Boccioni von seinen ersten Eindrücken, die Altomare in seinen Lebenserinnerungen so schildert: »Er fügte hinzu, daß er den Führer des Futurismus bewundere und in der Kunst mit seinem Programm sympathisiere, aber inpolitischer Hinsicht seine marxistischen Überzeugungen nicht aufgeben wolle.«58 Wie kommt es nun dazu, daß sich Boccioni dieser rechtsnationalistischen Bewegung anschließt? Wie kann er eine Bewegung vertreten, die die »Verachtung des Weibes« preist, obwohl er doch ein sehr respektvolles Verhältnis zu seiner Mutter und anderen Frauen hegt, die zum Teil selbst kreativ tätig sind, die er würdevoll in seinem präfuturistischen Oeuvre porträtiert hat? Wie kann sich ein Mann, der sich so sensibel und differenziert in seinen Briefen und Tagebüchern äußert, einer Bewegung anschließen, die dem »Laufschritt, dem Salto mortale, der Ohrfeige und dem Faustschlag« huldigt? Die im Krieg »die einzige Hygiene der Welt« sieht? Für Boccioni, der schon in den Jahren zuvor keine Mühen scheut, seinen Bekanntheitsgrad als Künstler zu steigern, bietet sich der Futurismus als ideale Chance dar, seine ästhetischen Vor57 Die Italia irridenta wurde im Jahr 1877 als Reaktion auf die linke Regierung, die ein Jahr zuvor ins Amt getreten ist, gegründet. Zu den Entstehungsbedingungen dieser Vereinigung und ihrer Entwicklung bis ins Jahr 1918 vgl. Lill 2002; S. 325-369. 58 Zit. nach Baumgarth 1966, S. 48.

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Futuristen auf Europa-Tournee stellungen mit großer Öffentlichkeitswirkung zu realisieren. Aufgrund dieser karrieristischen Haltung sind ihm die ideologischen Aspekte vielleicht nebensächlich erschienen. Kriegsbegeisterung ist auch in anderen Künstlergruppen, wie bei den deutschen Expressionisten, nicht unüblich. Sogar Apollinaire ist mit wehenden Fahnen in den Ersten Weltkrieg gezogen. Wie viele von diesen kreativ Schaffenden war auch Boccioni nie in einer Armee, hat nie einen Krieg leibhaftig erlebt, also kann er die Konsequenzen der futuristischen Kriegsbegeisterung gar nicht realistisch einschätzen. Und schon gar nicht bezogen auf den Ersten Weltkrieg, in dem neue Waffen von ungeahnter Vernichtungskraft zum Einsatz kommen würden, wie das von Deutschland gegen Italien eingesetzte Giftgas. Aufgrund seiner ästhetischen Visionen also treten Boccioni und in der Folge auch die übrigen jungen Künstler dem Futurismus bei, ungeachtet aller Bedenken, ungeachtet aller Vorbehalte - ein Verhaltensmuster, das ich ›faustisch‹ nennen würde. Nach ihrem Mitwirken etablieren sich auch andere Sparten in der futuristischen Bewegung, wie die Skulptur, die Architektur, die Musik, um nur einige zu nennen.

Die Gründungsereignisse futuristischer Malerei Zwar zählen Severini und Balla bis heute zu den Mitgliedern der ›Gründergruppe‹. Gegründet wird die Organisation des Futurismus in der Malerei jedoch zunächst durch Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Aroldo Bonzagni und Romolo Romani.59 Die beiden letzten werden heute nicht mehr zur Gründergruppe gezählt, da Romani wenige Tage und Bonzagni einige Wochen nach dem 8. März 1910, als das Gründungsmanifest futuristischer Malerei erstmalig bei einer Serata, wie die futuristischen Abendveranstaltungen genannt werden, im Turiner Teatro Chiarella der Öffentlichkeit vorgetragen wurde, ihre Unterschriften zurückziehen. Romani ist von den Umständen der ersten Serata wahrscheinlich erschreckt worden, Bonzagni mit dem Divisionismus als malerischem Mittel nicht einverstanden, das wird zumindest Boccioni später an Severini schreiben. Im Umkreis der mailändischen Kunstakademie lernt Boccioni Carlo Carrà, Arnoldo Bonzagni und Romolo Romani kennen. Sie gehören zusammen mit einigen anderen zu dem Kreis junger Maler und Bildhauer um die Famiglia artistica, einem Künstlerbund in Mailand. Bei der Ausstellung Bianco e Nero, die in diesem Verein im Jahr 1909 stattfindet, ist neben den schon genannten Künstlern auch Luigi Russolo (Abb. 30) mit einigen Exponaten vertreten. Im Jahr 1885 in Portogruaro (Veneto) geboren, ist er das jüngste Mitglied des Futurismus.60 Im Jahr 1901 folgt er seinen beiden

59 Zu den Gründungsereignissen, ebd., S.22-64; Tisdall/Bozzolla 2000, S. 3136. 60 Vgl. Tagliapietra/Gasparotto 2006. Eine relativ ausführliche tabellarische Biographie findet sich in Bartsch 1985, S. 18-27. Auch Baumgarth widmet Russolos Biographie einen kurzen Passus. Vgl. Baumgarth 1966, S.46.

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Vorgeschichte Brüdern nach Mailand, die an einem Konservatorium Musik studieren. Russolo hingegen absolviert ein Praktikum als Restaurator, er ist sogar an der Restaurierung des Letzten Abendmahls von Leonardo im Kloster Santa Maria delle Grazie beteiligt. Im Gegensatz zu seinen Mailänder Freunden besucht er keine Kunstakademie. Als er Boccioni zum ersten Mal begegnet, hat er erst seit kurzer Zeit begonnen, sich als Künstler zu verstehen. Auf der einen Seite ist er der künstlerisch unerfahrenste unter den Futuristen, andererseits sind seine ästhetischen Vorstellungen noch formbar. Zu Boccioni steht er in einem ähnlichen Verhältnis, in dem Boccioni einige Jahre zuvor zu Balla stand – dieses Mal aber ist Boccioni der Lehrer. Quasi alle frühen Gemälde Russolos gleichen leicht variierten Repliken der Gemälde Boccionis. Daß Russolo sich mit den ästhetischen Vorstellungen Boccionis identifizieren kann, davon zeugt am deutlichsten sein Bild Il Profumo (Der Duft; Abb. 31) aus dem Jahr 1909, das motivisch eng an das aus demselben Jahr stammende Werk Boccionis Testa femminile (Frauenkopf; Abb. 32) angelehnt ist. In beiden Fällen ist der Kopf einer Frau zu sehen, die sich mental in der Geruchsempfindung aufzulösen scheint, so daß sie mit dem Duft eine imaginäre Einheit bildet. Russolos Darstellung scheint gegenüber jener Boccionis weitaus unbeholfener und schematischer. Die Übernahme des Motivs von Russolo indiziert seine Assimilation an die zwischen esoterischem Jugendstil und Symbolismus changierende bsthetik Boccionis. Nicht zu ästhetischer, aber zu ideologischer Identifikation kommt es zwischen Boccioni und Carlo Carrà (Abb. 33).611881 in Quargnento (Alessandria) geboren, widmet sich »der kleine Raffael«, wie ihn sein Lehrer im Zeichenunterricht immer nennt,62 auch in seiner Freizeit der Malerei. Sein Vater ist Inhaber eines kleinen Schuhgeschäfts. Trotzdem sind die Verhältnisse ärmlich. Nach dem Tod zweier seiner insgesamt sieben Brüder stirbt auch seine Mutter. Schon als kleiner Junge muß er selbst Haushaltspflichten übernehmen. Mit etwa 12 Jahren beginnt er seine Laufbahn als Dekorateur. Er arbeitet in einer Villa bei Valenza als Gehilfe von Dekorateuren, denen er im Jahr 1895 nach Mailand folgt. Dort lebt er in ärmlichen, trostlosen Unterkünften, nutzt aber seine wenige freie Zeit, um Museen, wie die Pinakothek der Brera, zu besuchen oder die Galerie Grubicy, in der Werke von Segantini und Previati, den damals bekanntesten Divisionisten Italiens, zu sehen sind. »Es verging kaum ein Sonntag, an dem ich nicht in die Pinacoteca Brera oder das Museo Poldi Pezzolo besuchte«, schreibt er in seiner Autobiographie. »Ich ergötzte mich an den dort aufbewahrten Werken, und sehr bald wurden mir so die Gemälde der alten Meister vertraut. Ich ging auch oft in die Galerie für Moderne Kunst im Castello Sforzesco und schaute mir die Ausstellungen an, die hin und wieder in der Permanente veranstaltet wurden. (...) Aber über beide Ohren verliebt war ich in die Galerie Grubicy am Largo Cairoli, wo Arbeiten von

61 Zu Carràs Biographie vgl. Carrà 2002; Baumgarth 1966, S. 46f. 62 Vgl. Carrà 2002, S. 16.

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Futuristen auf Europa-Tournee Segantini und Previati ausgestellt waren. Besonders diejenigen von Segantini hinterließen einen großen Eindruck.«63

Im Jahr 1899 ist er in Paris, wo er auf dem Gelände der Weltausstellung arbeitet.64 Balla ist, ohne daß Carrà es weiß, zur gleichen Zeit ebenfalls in Paris. Es ist anzunehmen, daß beide auf der Weltausstellung die seriellen Foto-Arbeiten von Eadweard Muybridge sehen, die sie beide in ihren Arbeiten inspirieren werden. Politisch ist die Atmosphäre in Paris ziemlich aufgewühlt. Die Gesellschaft spaltet sich in ›Dreuyfusianer‹ und ›Anti-Dreyfusianer‹. Carrà ekelt sich vor den Anti-Dreyfusianern, deren konservativ-antisemitische Haltung er ablehnt. Am eigenen Leib bekommt er Vorurteile gegen italienische Arbeiter zu spüren, die für weniger Lohn arbeiten als die französischen. Dadurch fühlen die französischen sich bedroht. Auch in Paris nutzt Carrà seine knappe Freizeit, um Museen zu besuchen. Im Louvre beeindruckt ihn besonders Courbet, ein Maler, den er nie vergessen wird. Das macht sich auch in seinem malerischen Schaffen bemerkbar: in dem Bild Paesaggio (Abb. 34) ist eine realistische Wiedergabe eines schlichten Naturausschnitts zu sehen, so wie man ihn bei den Vertretern der ›Schule von Barbizon‹ finden kann, zu denen auch Courbet gehörte. Gerade in der Schlichtheit des Landschaftsausschnitts von Carrà vermag man eine Abkehr von der Landschaftsdarstellung als Träger des Erhabenen sehen, die für die Vertreter der ›Schule von Barbizon‹ charakteristisch ist. Nicht nur in der Wahl des Motivs lassen lassen sich Parallelen aufweisen, sondern auch in der Art, wie es dargestellt ist: dazu gehört zum Beispiel die Gegenüberstellung vom Himmel als heller Fläche und der Landschaft, die in ihrem Dunkel durch das im Himmel materialisierte Licht an Gestalt gewinnt. Selbst in der dunklen Fläche setzt sich das Licht fort, weil Carrà das Gewässer in der Mitte der Landschaft so darstellt, daß sich der Himmel in ihm spiegelt. Ein weiteres Museum, das Carrà besuchte, war das Musée du Luxembourg Die dort ausgestellte neue französische Kunst im scheint ihn zunächst wenig zu interessieren. »Abgesehen von einer Landschaftsdarstellung Millets, der mich sehr interessierte, ließ mich der Besuch der Räume fast kühl und gleichgültig«, schreibt er in seiner Autobiographie. »Plötzlich betrat ich einen Saal mit Gemälden, deren Künstler mir namentlich unbekannt waren, und vor ihnen empfand ich das erste Mal eine wirklich intensive Erregung. Renoir, Cézanne, Pissarro, Sisley, Monet und Gauguin hießen die

63 »Non passava quasi domenica senza che andassi alla Pinacoteca di Brera o al Museo Poldi Pezzoli a deliziarmi davanti ai capolavori ivi raccolti, sì che presto mi divennero familiari i quadri dei famosi pittori delle antiche scuole. Frequentavo pure la Galleria d'Arte Moderna al Castello Sforzesco e le esposizioni che di quando in quando si allestivano alla Permanente. (...) Ma una vera cotta l'ebbi per la Galleria Grubicy del largo Cairoli, dove venivano esposte opere di Segantini e Previati. Particolarmente quelle del primo mi fecero una grande impressione.« (Carrà 2002, S. 19.) 64 Ebd., A Parigi e a Londra, S. 23-40.

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Vorgeschichte Autoren dieser Gemälde. Ich blieb lange in diesem Saal, in tiefer Bewunderung; in die verborgenste Bedeutung eines jeden Bildes wollte ich eindringen, seinen ästhetischen Wert erfassen, die malerischen und stilistischen Auffassungen begreifen. Von einem gewissen Augenblick an fühlte ich mich aus der Fassung gebracht, und ich begann, über folgendes nachzudenken: hier waren doch die Maler ausgestellt, über die man weder in den Zeitungen noch in den Zeitschriften sprach.«65

Als er seine Arbeit auf der Weltausstellung beendet, bricht die Sommerhitze über Paris aus. Die Stadt wird menschenleer. Carrà entscheidet sich, Ende Juni nach London zu gehen. Vorher hat er sich noch mit der französischen Literatur vertraut gemacht, hat Baudelaire, de Musset und Racine gelesen. Bei seiner Ankunft in London steht das viktorianische Zeitalter kurz vor seinem Ende. Die Stadt kommt ihm laut, fremd und schmutzig vor. Mit Interesse bemerkt er, daß die englische Arbeiterschaft zufriedener als die französische wirkt, sich weniger ausgebeutet und sozial zurückgesetzt fühlt. Das dürfte daran gelegen haben, daß seit den Zeiten von Marx und Engels, die ihr halbes Leben in England verbrachten, das Gewerkschafts-und Mitbestimmungssystem wesentlich besser ausgebaut war als in Frankreich. Mit der reservierten Art der Engländer kann Carrà sich lange nicht anfreunden. Erst nach einem Besuch der National Gallery fühlt er sich etwas wohler. Er erwähnt in seiner Autobiographie nicht, welche Werke er dort gesehen hat. Es ist jedoch anzunehmen, daß sich italienische Meister der Renaissance und des Barock darunter befanden, wie Piero della Francesca mit seiner Christustaufe, Botticelli mit Venus und Mars oder Caravaggio mit dem Abendmahl bei Emmaus. Wenig interessieren ihn die Präraffaeliten, denen er »mangelnde Einfühlsamkeit, Natürlichkeit und Spontaneität« vorwirft.66 Ich nehme an, daß die Bilder Turners, die seit 1820 von der Landschaft Italiens inspiriert waren, in Carrà eine erste Vertrautheit gestiftet haben, die ihn auch für die folgenden Arbeiten dieses Malers empfänglich stimmt, in denen der zuvor dominierende mimetische Realismus zu Gunsten der Darstellung von Lichteffekten und der abstrakt-visionären Evokation von Stimmungskontexten mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Das Bild Rain, steam and speed (Abb. 35) enthält im Titel schon einen der wichtigsten Aspekte futuristischer bsthetik, nämlich die malerische Darstellung von Geschwindigkeit. Dabei wählt Turner einen Gegenstand, der zum Träger der Geschwindigkeit wird, den fahrenden Zug nämlich, 65 »Ad un tratto mi trovai in una sala con quadri di nomi per me nuovi; davanti ad essi provai per la prima volta una veramente intensa emozione. Renoir, Cézanne, Pissarro, Sisley, Monet, Gauguin, erano gli autori di quell dipinti. Mi fermai nella sala in lunga ammirazione, volendo penetrare il significato più recondite di ogni quadro, coglierne il valore estetico e la concezione pittorica e stilistica. Ma ad un certo momento riflettei sconcertato: erano quelli pittori di cui mai si parlava né sui giornali sulle riviste (…).« (Carrà 2002, S. 27, Übersetzung LW). 66 Ebd., S. 71.

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Futuristen auf Europa-Tournee der später zu den bevorzugten Darstellungsgegenständen der futuristischen Gemälde gehören wird, wobei es, präziser gesagt, darum geht, den Prozeß des ›Dahinbrausens‹ darzustellen als den Zug selbst. Zwar befinden sich im Jahr 1900 schon einige Bilder von Constable in der National Gallery, doch ist es wahrscheinlicher, daß Carrà die zentralen Eindrücke der Werke dieses Malers in der Tate Gallery erhält, in der viel repäsentativere Gemälde von ihm zu sehen sind. Sein eigenes 1906 entstandenes Gemälde Paesaggio (Abb. 36) könnte in Erinnerung an die kompositorische Anlage und pastose Pinselführung der Bilder entstanden sein. Wenn Carrà nicht gerade die Museen besucht, verkehrt er in Kreisen sozialistischer Italiener, die in London im Exil leben. Sie treffen sich in der Pension Tedeschi, die den Nachnamen ihres Besitzers, Mario Tedeschi trägt. Sie befindet sich im Soho, einem alten Arbeiterviertel am Rande der Innenstadt Londons. Mit ihnen spielt er Karten oder diskutiert über Platons Staat, die Schriften von Saint Simon und die Ideen einiger englischer Sozialisten. Auch die Schriften des russischen Anarchisten Bakunin spielen eine wichtige Rolle in diesem Zirkel. Manchmal werden auch anarchistische italienische Lieder gesungen. Nach seinen Aulandsaufenthalten ist Carrà viel kosmopolitischer disponiert als seine späteren Kollegen Boccioni und Severini. bsthetisch werden ihm seine Auslandserfahrungen in der Phase des Futurismus allerdings nicht viel weiterhelfen. Zwar entwickelt er instinktiv die Vorlieben für Maler, die später als die ›Väter der Moderne‹ gehandelt werden, doch bleibt es eher bei einer diffusen Erfahrung. Zu einem konzentrierten Studium ihrer Arbeiten ist es nie gekommen. Nach seiner Rückkehr nach Mailand wird er sich in Kreise der italienischen Sozialisten integrieren und sich auch theoretisch mit der italienischen Variante des Sozialismus, dessen Hauptvertreter Antonio Labriola ist, auseinandersetzen. 1904 wird er sogar als künstlerischer Leiter von der Genossenschaft der Maler und Anstreicher angestellt. Ebenso wie bei Balla, aber ganz im Gegensatz zu Boccioni und Severini sind in Carràs frühem Oeuvre einige Gemälde zu finden, in denen sich auch seine sozialistische Haltung spiegelt. Darunter beispielsweise ein sehr würdevolles Porträt von Friedrich Engels (Abb. 37), der in seinen besten Jahren mit gewaltigem, noch nicht ergrauten Bart und gesetzter Kleidung dargestellt wird. Trotz der zahlreichen bußerungen über seine sozialistische Vergangenheit dementiert er in seiner Autobiographie die ideologische Dimension dieser Bilder: es habe sich nur um Auftragsarbeiten gehandelt. Sein insgesamt stilistisch heterogenes Oeuvre läßt darauf schließen, daß Carrà als Maler ästhetisch weitaus weniger gefestigt ist als Boccioni, Severini und Balla. Am stärksten läßt sich im Oeuvre Carràs eine Linie in den Landschaftsbildern ausmachen, die in der Tradition des italienischen Divisionismus stehen, von dem sich Boccioni durch seine Abgrenzung gegenüber Balla bereits distanziert hat. Carrà sieht im Divisionismus die »Kriterien für die Veränderung der provinziellen Malerei.« In seiner Autobiographie gibt er vor, in erster Linie von den »melancholischen Alpenlandschaften« Giovanni Segantinis beeinflußt zu sein, die im Jahr 1906 in der Mailänder Galerie Grubicy zu sehen gewesen sind. Ebenso in der Linie Segantinis 42

Vorgeschichte stehen aber auch die Werke von Cesare Tallone,67 Lehrer an der mailändischen Kunstakademie, der Brera, an der Carrà sich im Jahr 1906 als Student einschreibt. Er freundet sich mit jüngeren Künstlerkollegen an und beginnt, sich in die Kunstszene Mailands zu integrieren. »Längst liegen«, schreibt Carràs Sohn Massimo über diese Zeit, »in Mailand die Fermente der Revolte gegen das stagnierende und provinzielle Klima in der Luft, welches seit vielen Jahren, nach dem Untergang des lombardischen Bohèmienismus (...), auf der darstellenden Kulturwelt Italiens lastete. Diese Gärstoffe der Erneuerung führen die jungen Künstler zu einem spezifischen, mit einer sozialen Komponente versehenen Divisionismus eines Segantini, eines Pelizza da Volpedo und eines Previati. Carrà (…) schließt sich ihnen an und seine Malerei erlebt eine kurze divisionistische Phase. Es entstehen Bilder wie Sagliano Micca, Die apokalyptischen Reiter, Landschaft um Biella, Herbst, Verlassen des Theaters, Bahnhof von Mailand.«68

In dieser Zeit besucht er Previati in seinem Atelier im Palazzo Meridionale. Previati begrüßt Carrà mit großer Liebenswürdigkeit und zeigt ihm seine weitläufigen Räume. Gleichzeitig erzählt er ihm weinend von seiner Frau, die in eine Irrenanstalt eingewiesen worden sei, da sie ihn und seine Söhne tätlich angegriffen habe. Carrà fühlt sich berührt und versucht, zu trösten. Doch schon bald kommt man auf kunsttheoretische Probleme zurück: »Daraufhin machte er (Previati) mich darauf aufmerksam, daß es in der Kunst technische und ästhetische Probleme gebe, derer sich man bewußt sein muß, die das Ergebnis der Entwicklungen der modernen Spiritualität sind. Dann ging er zum Divisionismus über, der seiner Meinung nach nur eine neue Weise sei, aber die geeignetste, um die Gedanken und die Gefühle moderner Menschen auszudrücken.«69

67 Zu Tallones Malerei vgl. Chastel 1987, S. 427f. 68 »Ormai, a Milano, sono nell’aria I fermenti della rivolta al clima stagnante e provinciale che, tramontata la scapigliatura lombarda (…) pesava sulla cultura figurative italiani tanti anni.Quei fermenti innovatori o giovani li scorgevano allora nel divisionismo, a forte componente sociale, di un Segantini, di un Pellizza da Volpedo e di un Previati. Carrà (…) si accosta a loro e ha un suo breve üeriodo divisionista durante il quale dipinge Sagliano Micca, I cavalieri dell’Apocalisse, Paesaggio nella campagna biellese, Autunno, Uscità da teatro, Stazione a Milano.« (Carrà 1987, S. 48f.) 69 »Al che egli mi fece notare che vi sono in arte dei problemi estetici e tecnici di cui bisogna tener conto, che sono il portato degli sviluppi della moderna spiritalità. Passó quindi a parlarmi del divisionismo, che secondo lui era non soltanto un modo nuovo, ma il più indicato ad esprimere i nostri pensieri e sentimenti di uomini moderni.« (Carrà 2002, S. 51, Übersetzung LW).

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Futuristen auf Europa-Tournee Insgesamt ist Carrà mit seinem Studium unzufrieden. Er fühlt sich in seiner Kreativität behindert und unterdrückt und glaubt, daß es das Ziel der Akademie sei, »den Instinkt der Jugend zu lähmen.«70 Immer öfter bleibt er den Lehrveranstaltungen fern und liest Werke von Edgar Allen Poe und Giacomo Leopardi, einem schwermütigen Lyriker, der als bedeutendster italienischer Dichter nach Petrarca gilt. Zusammen mit einem Kollegen, Ambrogio Valentini, mietet er ein eigenes Atelier. Trotz seiner Abneigung gegen die Akademie ist er verwirrt und schockiert, als sie ihn eines Tages exmatrikuliert. In seinen Hoffnungen enttäuscht, wird er melancholisch. Mühsam schlägt er sich mit Auftragsarbeiten durch, besucht Veranstaltungen des Künstlervereins famiglia artistica, der nicht nur Kunstausstellungen, sondern auch Karnevalsfeiern, Theatervorführungen und große Abendessen organisiert. Auch Boccioni gehört dieser Vereinigung an. Im Sommer 1908 fährt er nach Sagliano Micca, um Landschaften zu malen. Einige Bilder stellt er mit Erfolg auf Ausstellungen der famiglia artistica aus. Carrà ist der einzige unter den Futuristen, der in der ersten Ausgabe seiner Autobiographie die Geschichte der futuristischen Malerei so darstellt, als sei sie bereits im Jahr 1909, und nicht erst im Jahr 1910 entstanden: »Es war im Februar des Jahres 1909, daß Boccioni, Russolo und ich uns mit Marinetti trafen, der damals in der Via Senato wohnte. Wer hätte jemals annehmen können, daß aus jenem Treffen so viele Dinge entstehen könnten? Keiner von uns hatte auch nur die leiseste Vorstellung von dem, was passieren könnte.«71 In der zweiten Ausgabe seiner Autobiographie ist die Zahl 1909 durch die Zahl 1910 stillschweigend ersetzt worden,72 vielleicht dachte man, hier liege ein Fehler vor. Nehmen wir einmal an, die futuristische Malerei sei doch im Jahr 1909 begründet worden. Welche Bildwerke könnten diese These untermauern? In dem Oeuvre Carràs finden sich bereits im Jahr 1909 Darstellungen von Großstadtszenerien, in denen das Bemühen sichtbar wird, Bewegung auszudrücken. In dem Gemälde Piazza del Duomo (Abb. 38) zum Beispiel stehen fünf Straßenbahnen in sternförmiger Anordnung zur Abfahrt bereit, zwischen ihnen stürmende Menschenmassen, deren Einzelindividuen in pastosem Pinselduktus homogenisiert und in ihrer Individualität gelöscht werden. Von der stürmenden Menschenmasse in dunklem Blau heben sich die Straßenbahnen in leuchtendem Gelb ab. Die gesamte Szene ist von

70 Ebd., S. 53. 71 »Fu nel febbraio del 1909 che Boccioni, Russolo ed io ci incontrammo con Marinetti, che allora abitava in via Senato. Chi avrebbe mai potuto supporre che da quell'incontro sarebbero poi nate tente cose? Nessuno di noi aveva la più lontana percezione di quello che sarebbe accaduto.« (Carrà 1943, S. 93); in der zweiten Edition, die von seinem Sohn Massimo überarbeitet und herausgegeben worden ist, wurde das von Carrà angegebene Gründungsdatum ins Jahr 1910 verschoben, vgl. Carrà 1943, S. 81. 72 Vgl.Carrà 2002, S. 93.

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Vorgeschichte Elektrokabeln umzogen, die zwischen Strommasten gespannt sind. Nicht nur die Darstellung der stürmenden Menschenmasse manifestiert das Bemühen, Bewegung darzustellen, sondern auch die Kurzzeitigkeit der dargestellten Szene: man kann sich vorstellen, daß sich die Anordnung der Straßenbahnen auflösen wird, sobald die Fahrgäste eingestiegen sind. Aber es gibt noch weitere Arbeiten im Oeuvre Carràs, über deren Entstehungsdaten die Meinungen auseinandergehen, wie zum Beispiel das Bild Uscità da Teatro, das manchmal, meiner Meinung nach richtig, auf das Jahr 1909 datiert wird, manchmal aber auch auf das Jahr 1910. Es war später auf der ›mostra d’arte libera‹ zu sehen, auf der die Futuristen erstmals als Gruppe ihre Werke der Öffentlichkeit zeigten. Auch von Russolo und Boccioni gibt es einige ›präfuturistische Bilder‹, anhand derer man die Frage stellen könnte, ob sie nicht schon oder noch nicht futuristisch sind. Dazu gehören Boccionis Il mattino aus dem Jahr 1909 und Russolos Lampi aus dem Jahr 1910. Das Gemälde, bei dem die Frage der Datierung am kritischsten erscheint, ist Lampada ad arco (Abb. 38) von Giacomo Balla. Giovanni Lista schreibt darüber, daß es die erste futuristische Darstellung Ballas sei, die, obwohl im Bild selbst auf das Jahr 1909 datiert, erst nach dem Mitwirken Ballas im April 1910 entstanden sein könne.73 Das Datum 1909 habe reinen ›Feierlichkeitssinn‹. Warum aber sollte Balla bewußt ein falsches Datum eintragen? Balla hat in viele seiner Arbeiten die Datierung eingetragen, und keine davon läßt vermuten, daß er absichtlich eine falsche Zahl eingetragen hat. Hinzu kommt, daß Boccioni eine Ausstellung dieses Bildes auf der großen futuristischen Wanderausstellung von 1912 verhinderte. Warum? Nur aufgrund von persönlichen Animositäten? Oder vielleicht wegen der im Bild enthaltenen Datierung, die beim Publikum die Frage hätte aufwerfen können, ob die futuristische Malerei nicht schon im Jahr 1909 begründet worden ist, statt im Jahr 1910. Jedenfalls entscheiden sich Carrà zufolge die drei Künstler an diesem Tag im Februar 1909 dafür, ein Manifest »an die jungen italienischen Künstler« zu schreiben, das am folgenden Tag ausgearbeitet und mit Hilfe Marinettis und seines Sekretärs, Decio Cinti, vollendet wird.74 Der Vorspann des dreigliedrigen Textes erklärt ausführlich, was in dem acht Punkte umfassenden Manifest in knapper Form zusammengefaßt wird: darin bekunden die Futuristen, den Kult der Vergangenheit zerstören zu wollen, jede Form der Nachahmung zu verachten, jede Form der Originalität dagegen zu preisen, den Mut aus jenem »billigen Vorwurf der Verrücktheit zu schöpfen, mit dem man die Neuerer geißelt und knebelt.« Sie richten sich gegen die selbstgefällige Kunstkritik, die sich solch unzulänglicher Begriffe wie ›Harmonie‹ oder ›guter Geschmack‹ bediene. Den abgenützten Themen und Motiven halten die Futuristen eine Kunst entgegen, die ihre Themen dem zeitgenössischen Lebenskontext ent73 Vgl. Lista 1984, S. 29ff. 74 Vgl. U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: Manifesto dei pittori futuristi, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 63-64; deutsche Übersetzung in: Baumgarth 1966, S. 49-52; eine theoretische Abhandlung des Manifestes in Malsch 1997, S. 138-145.

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Futuristen auf Europa-Tournee nimmt. Das Manifest endet mit der kurzen Schlußsentenz, daß »die Toten in den tiefsten Tiefen der Erde ruhen« mögen, die Schwelle der Zukunft frei von Mumien sein soll, um der Jugend, den Gewalttätigen und den Verwegenen Platz zu machen. Kriterien für eine futuristische bsthetik enthält dieses Manifest nicht. Vielmehr geht es um die Demarkation eines Möglichkeitsraums futuristischer Kunst, die eine reformistische Kunst sein soll. Jenseits dieses Raums liegt die ästhetische Konvention. Dabei spezifizieren die Futuristen weder die Kriterien ihrer eigenen Kunst noch jene der ästhetischen Konvention. Die ästhetische Reform kann nur von Jungen, Gewalttätigen und Verwegenen vollzogen werden, als welche sich die Futuristen selbst verstehen. Den bußerungen Carràs zufolge unterschreiben kurze Zeit nach Abfassung des Textes auch Bonzagni und Romani das Manifest. Nach seiner Vervielfältigung in einer Buchdruckerei verteilen die futuristischen Künstler den Text in Tausenden von Kopien. Marinetti ist noch heute dafür bekannt, daß er Datierungen aller Art einfach gefälscht hat.75 Zahlreiche Manifeste tragen beispielsweise die Zahl Elf in ihrer Datierung, die aber nichts mit der Entstehung dieser Dokumente zu tun hat, sondern nur mit Marinettis persönlicher Vorliebe für diese Zahl, die seine Glückszahl war. Das Gründungsmanifest der futuristischen Malerei beispielsweise entsteht nach Christa Baumgarth in der letzten Februarwoche des Jahres 1910 und wird von Marinetti persönlich auf den 11. dieses Monats zurückdatiert. Boccioni, Russolo und Carrà begründen die erste Phase futuristischer Malerei im Jahr 1909. In der Zwischenzeit wird dieses Triumvirat durch Romani und Bonzagni als weitere Mitglieder ergänzt. Als das Projekt ›Futurismus der Malerei‹ im Jahr 1910 vollständig ausgegoren erscheint, soll nun der Anschein erweckt werden, als sei die Gründung in eben diesem Jahr erfolgt ï und zwar aus dem Nichts heraus. Russolo, der als Künstler kaum Erfahrungen hat sammeln können, und Carrà, der noch nach einer ästhetischen Identität sucht, fungieren als Erfüllungsgehilfen der ästhetischen und aktionistischen Ideologie Boccionis. Gleichzeitig erscheint es Russolo vielleicht günstig, seine Anfänge als Maler mit den Anfängen des Futurismus koinzidieren zu lassen. Auch Carràs Ziel, die »provinzielle Malerei Italiens« zu erneuern, stimmt mit den Zielsetzungen des Futurismus überein. Außerdem ist er schon seit Jahren aufgeschlossen für die Ideen einer gesamtgesellschaftlichen Erneuerung Italiens, die zu den Zielsetzungen des Futurismus gehören. Bonzagni und Romani, die den bußerungen Carràs zufolge an der initialen Projektierung des Futurismus gar nicht beteiligt gewesen sind, fungieren als reine Füllsel der Gruppe futuristischer Maler, die aus drei Personen bestehend keine Gruppe gebildet hätten, sondern eben nur ein Triumvirat. Aufgrund dieser Funktion ist auch ihre leichte Austauschbarkeit zu erklären, da sie noch keine gefestigte soziale und ästhetische Position im Gruppengefüge beziehen, ihnen noch kein klar definierter Aufgabenbereich zugeteilt ist.

75 Zu Marinettis Verfälschung historischer Datierungen vgl. Baumgarth1966, S. 23.

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Vorgeschichte Es ist bezeichnend, daß Romani gerade nach der ersten Serata,76 wie die futuristischen Abendveranstaltungen genannt werden, jenem historisch bedeutsamen Abend, auf dem Boccioni, Carrà und Russolo die Subgruppierung futuristischer Maler öffentlich vorstellen,77 seine Unterschrift zurückzieht. Die Serate orientieren sich zwar am französischen Vorbild der frei gestalteten Soirées, die oft im öffentlichen und im privaten Rahmen stattfinden,78 unterscheiden sich aber von ihnen durch ihren schematiserten und ritualisierten Ablauf. Sie finden in Galerien, Theatern, oder privaten Clubs statt, sind für jedermann, meistens kostenlos, zugänglich und werden durch Flugblätter und Plakate vorher angekündigt. Marinetti ist auf quasi allen der 120 Serate zwischen den Jahren 1909 und 1915 anwesend. Von allen Subgruppierungen des Futurismus ist die Gruppe futuristischer Maler am häufigsten bei den Serate präsent, vor allem Boccioni, Russolo und Carrà. Zwar ist der Verlauf jeder Serata situationsgebunden, trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten in Ablauf und Zielsetzung. Meistens hält Marinetti zunächst eine Ansprache, dann tragen die Futuristen in verteilten Sprecherrrollen ihre Manifeste oder sonstige Erläuterungen zur futuristischen bsthetik vor. Häufig enden die Serate im Tumult des Publikums, das entweder direkt von Marinetti attackiert wird oder sich durch die 76 Eine chronologische Katalogisierung der futuristischen Serate bei de Ponte: 1999, S. 23-90; eine kursorische Darstellung bietet Malsch 1997, S. 177182. Eine kurze Darstellung bei Schneede, 1994, S. 51-52. 77 Wie bei vielen der futuristischen Serate ist die personelle Besetzung auch dieser ersten Serata bis heute nicht geklärt. De Ponte bezieht sich auf einige Stimmen der Presse, wenn sie in einer Anmerkung lediglich Boccioni und Romani als teilnehmende Maler anführt (z.B. La serata futurista a Torino, in: Corriere della sera, 9.3.1910). In derselben Anmerkung zitiert sie einen weiteren Zeitungsartikel, nach dem neben Boccioni auch Carrà, Bonzagni und Russolo als teilnehmende Maler genannt werden (La vittoria dei futuristi a Torino, in: La Tavola Rotonda [Napoli], 10.4.1910). Zwar erwähnt sie auch die Illustration dieser Serata, die aus Boccionis Feder stammt, doch scheint sie die dargestellten Personen mit Fotografien und den genannten Namen des letztgenannten Zeitungsartikels nicht abgeglichen zu haben. Da auf der Illustration neben Marinetti und Boccioni auch Russolo und Carrà zu sehen sind, gehe ich davon aus, daß die Angaben des zweiten Zeitungsartikels zutreffend sind, die de Ponte verwirft (Vgl. dazu Ponte 1999, S. 27). Außerdem schreibt auch Apollinaire am 9. Februar 1912 in Le petit Bleu über die personelle Besetzung dieser Serata: »Nur die Herren Boccioni, Carrà und Russolo waren von Anfang an Futuristen. Sie allein erschienen am 8. März 1910 (...) auf der Bühne des Theaters Chiarella in Turin« (Apollinaire 1989, S. 154). 78 Fernand Olivier, die dem Personenkreis um Picasso angehörte, beschreibt verschiedene Typen von Soirées. In offiziellem Rahmen finden jeden Dienstag in dem Café Closerie de Lilas Abendveranstaltungen statt, die von dem Dichter Paul Fort begründet wurden (Olivier 1982, S. 36-42). Im privaten Rahmen traf man sich mittwochs in der Wohnung Apollinaires (ebd., S. 5355).

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Futuristen auf Europa-Tournee nationalistischen bußerungen der Futuristen provoziert fühlt. Diese richten sich gegen die Kirche, gegen die Monarchie oder gegen Österreich. Einen lebendigen Eindruck von dem Tumult, mit dem die von Marinetti organisierte Serata in Turin endet,79 die erste, an der die futuristischen Maler teilnahmen, vermittelt eine Zeichnung Boccionis (Abb. 40).80 Der fein gekleidete Herr von korpulenter Statur mitten auf der Bühne ist der Schauspieler Armando Mazza, ein Vertreter der futuristischen Dramaturgie. Mit erhobener Hand ï nicht ohne schauspielerisches Pathos ï hält er eine Ansprache. Als physisches Gegenbild steht dicht neben ihm der hagere Marinetti. Seinen Arm unter jenen Mazzas geschoben, leistet er ihm geistigen Beistand, seine Rede fortzusetzen trotz des protestierenden Publikums. Die Zuschauer sind teilweise in amüsierter, teilweise in aggressiver Stimmung. Sie schmeißen Gegenstände aller Art auf die Bühne, vor allem Birnen, Tomaten und Karotten. Carrà zerstampft einen dieser Gegenstände, Boccioni kniet auf dem Boden, er möchte einen von ihnen greifen, Russolo sitzt hinter dem Schreibtisch, er guckt verdattert auf die Gegenstände, die wild durch die Luft fliegen. Hinter dem Vorhang schaut schon der Kopf eines Polizisten heraus, gleich wird die Veranstaltung durch Polizeigewalt beendet werden. Von der zunehmenden Ritualisierung dieser Abende zeugt Boccionis Zeichnung einer weiteren Serata des folgenden Jahres (Abb.41).81 Abgesehen von Mazza, der durch den ähnlich korpulenten Francesco B. Pratella, Hauptvertreter futuristischer Musik, ersetzt ist, sind dieselben Personen zu sehen wie in der Zeichnung des Vorjahres. Bei dieser Serata fungiert die Bühne als Präsentationsplattform futuristischer Kunst. Zu sehen sind von links nach rechts die Gemälde La Risata (1911) von Boccioni, Nuotatrici (1911) von Carrà und La Musica (1911) von Russolo. Pratella dirigiert das Orchester. Malsch verweist darauf, daß der von den futuristischen Malern aufgeführte Tanz »an die rituellen Tänzer primitiver Kulturen« erinnert, »etwa die von Indianern um ein Totem.«82 Das Ziel aller Serate ist die Verbindung von künstlerischem und gesellschaftspolitischem Engagement in einer Inszenierung, die als solche selbst eine ästhetische Praxis ist. Wird auf künstlerischer

79 Zu dieser ersten Serata in Turin vgl. Ponte 1999, S. 27-29; Baumgarth1966, S. 52. 80 Zu dieser Zeichnung vgl. Malsch 1997, S. 179f. 81 Zu dieser Zeichnung ebd., S.180. Nach de Ponte ist für das Jahr 1911 keine Serata belegt, auf der die Futuristen vor einem Orchester ihre Kunstwerke zeigen, somit weist sie den Illustrationen Boccioni einen rein imaginativen Charakter zu (vgl. Ponte 1999, S.44). Auch wenn aufgrund mangelnder historischer Quellen eine eindeutige Zuordnung heute nicht mehr möglich ist würde ich diese Illustration nicht ganz losgelöst von den Serate sehen. Die im Bild dargestellte personelle Besetzung entspricht nur einer Serata des Jahres 1911, jener am 16. Mai in Pesaro, die in dem Teatro Rossini stattfindet. Auf ihr ist neben Boccioni, Russolo und Carrà auch der Musiker Pratella anwesend (zu dieser Serata ebd., S. 42). 82 F. W. Malsch: Künstlermanifeste, S. 180.

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Vorgeschichte Ebene in den Manifesten schon ein Kollektivwille offenkundig, so steigert sich dieser bei deren Vortrag, der in verschiedenen Rollen von allen futuristischen Malern gehalten wird. Bei den ersten Serate dient der Vortrag der Manifeste einer aktiv erfahrbaren Initiation der futuristischen Maler in den Kollektivwillen. Da aber die Futuristen auch in den folgenden Jahren immer wieder die gleichen Texte gemeinsam vortragen, gleicht die permanente, fast wöchentliche Wiederholung derselben Texte einer Litanei, durch die der Kollektivwille verleiblicht wird. Gleichzeitig wird durch den gemeinsamen Sprechakt das Individuum in der Erfahrung des Kollektivs überwunden. Auf gesellschaftspolitischer Ebene ist zu sagen, daß die futuristischen Maler nach ihrem Anschluß an die Bewegung des Futurismus ihre ursprünglich links-marxistische Ausrichtung aufgeben werden. Ihre Vorträge zur futuristischen bsthetik werfen sie in eine ekstatische Verfassung, die sie politisch blind und damit offen für die rechtspopulistischen Aktionen und Demonstrationen macht, die den ›Höhepunkt‹ der serate bilden. Sie identifizieren sich so immer mehr mit den rechtspopulistischen Ideen Marinettis. Marinetti provoziert bewußt das Publikum, sich gegen die Vortragenden zu äußern, vielleicht, um den Gruppenzusammenhalt auch in Situationen extremer Belastung zu testen. Um nur einen Fall zu schildern: bei der ersten Serata erhalten die futuristischen Maler Flugblätter, auf denen zu lesen ist, daß die Insassen des Turiner Irrenhauses den futuristischen Kollegen ihre Hochachtung aussprechen, da sie selbst leider nicht anwesend sein können. Die futuristischen Maler denken, daß dieser Scherz eine Initiative des Publikums sei. De Ponte aber spekuliert darüber, ob es nicht Marinetti selbt war, der den futuristischen Malern diese Nachricht zukommen ließ.83 Romani ist von dieser ersten Serata so geschockt, daß er seine Unterschrift zurückzieht, ihm folgt einige Wochen später Bonzagni. Die den Serate zugrundeliegende Absicht, den Zusammenhalt und Kollektivgeist der Gruppe zu stärken, bewirkt bei diesen beiden Künstlern das Gegenteil. Boccioni, als Intitiator und Protagonist der Gruppe futuristischer Maler sich verstehend, bemüht sich sofort um Ersatz. Anfang April 1910 schreibt er an Severini folgenden Brief: »Lieber Gino, ich muß Dich in Verschwiegenheit um Dein Urteil bitten, wer unser Manifest noch unterschreiben kann (...). Wir vertrauen vollkommen auf Dein Urteil, aber ich muß Dich darauf hinweisen, daß die Unterschriften von jungen Männern sein müssen, die von den Erklärungen des Manifestes absolut überzeugt sind. Der Beitritt muß sich gänzlich und ohne gedankliche Vorbehalte vollziehen. Es ist notwendig, daß sich rund um den absoluten Glauben an den ›angeborenen Komplementarismus‹ jene intellektuelle Qualitäten fügen, die den vollständigen Futuristen ausmachen. Wir brauchen junge Männer von Treue und Selbstaufopferung, Bildung und Tatkraft, die in ihren Werken, soweit sie noch unausgegoren sind, jene Vollkommenheit an Perfektion anstreben, die

83 Ponte 1999, S. 27ff.

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Futuristen auf Europa-Tournee den leuchtenden Weg des Idealen anzeigt. (...) Ich verlasse mich aber auf Deine Meinung, wenn nur die Fortschritte in der Kunst und der intellektuelle Weg (dieser jungen Männer, LW) zu unseren Bestrebungen passen. Marinetti hat an alle Literaten, Journale und Zeitungen usw. der Welt das hier beigelegte Manifest geschickt, von dem er aber einen Nachdruck anfertigen wird, in den man die Unterschriften hinzufügen wird können, die Du für geeignet hältst. Ich rate noch einmal zu höchster Ernsthaftigkeit bei der Auswahl der Namen von allen. Du siehst, daß schon einer (Bonzagni) das Manifest nicht weiter unterstützt, weil er vom Divisionismus nicht überzeugt ist....Dieses Faktum ist sehr lästig, weil es den Trotteln glauben macht, daß die Intelligenten uns im Stich lassen!!!! Uns haben etwa zehn abgelehnt, unter ihnen Doudreville, den du kennst. Deswegen keine Furcht: schreibe aber ohne Zurückhaltung, die Sache bleibt zwischen uns. (...) In Rom ist der verzweifelte Balla mit einigen schwächelnden Bildern, aber immer stark. Sie unterdrücken ihn! Seit drei Jahren verkauft er nicht, er ist gezwungen zu unterrichten und leidet schon fast Hunger! ... (...) Ciao. Verteile an alle das Manifest. (...) Sei umarmt, Dein Umberto Boccioni.« 84

Boccioni beginnt den Brief mit seiner Bitte um Verschwiegenheit so, als würde es sich um einen Staatsakt von höchster Wichtigkeit handeln. In diesem Zusammenhang behandelt er Severini als Eingeweihten, den er mit einer geheimen Mission beauftragt. Er fragt Severini nicht, ob er vielleicht selbst der Gruppe der Futuristen beitreten möchte, sondern bittet ihn um Hilfe bei der Gewinnung neuer 84 »Caro Gino, ti sono chiedere segretamente (!) il tuo giudizio su chi può ancora firmare il manifesto nostro (...). Noi ci fidiamo completamente del tuo giudizio ma ti debbo avvertire che le firme devono essere di giovani assolutamente convinti di ciò che il manifesto afferma. L'adesione deve essere completa e senza restrizioni mentali. È necessario che attorno alla fede assoluta nel complementarismo congenito si leghino quelle qualità intelettuali che fanno il completa futurista. Ci vogliono giovani (e ce ne sono pochi) di fede e abnegazione sicura; di coltura e di azione e che nelle opere per quanto incerte aspirino a quella completezza di perfezioni che segnano la via luminosa dell'ideale. (...) Però mi fido del tuo parere e i suoi progressi in arte, e la sua vita d'inteletto combaciano con le nostre aspirazioni. Marinetti ha mandato a tutti i letterati, giornali, riviste ecc. del mondo il manifesto qui unito del quale sarà fatta però una ristampa in cui si potranno aggiungere le firme che credi opportune. Mi raccomando di nuovo a nome di massima severità nella scelta. Tu vedi che già uno (Il Bonzagni) non firma più il manifesto perché non è convinto del divisionismo... Questo fatto è noiosissimo perché dà a credere agli imbecilli che...gl'intelligenti ci abbandonino!!! Noi ne abbiamo rifiutati a diecine tra i quali Doudreville che tu conosci. Per ciò non temere: scrivi pure senza ritegno ché la cosa resta tra noi. (...) A Roma, Balla scoraggiato qualche quadro zoppicante ma sempre forte. Lo soffocano! Da tre anni non vende è costretto a dar lezione e soffre quasi la fame!!... (...) Ciao. Spargi da per tutto il manifesto (...) Un abbraccio tuo Umberto Boccioni.« (Brief von Umberto Boccioni an Gino Severni, nach dem 1. August 1910, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 231f., Übersetzung LW).

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Vorgeschichte Mitglieder. Dieses Vorgehen ist aufschlußreich für Boccionis Einschätzung Severinis, er scheint dessen diplomatische Kompetenzen, die sich schon in dem oben diskutierten Bild Campo di Grano ästhetisch manifestieren, von vornherein einzukalkulieren. Gleichzeitig könnte es ebenso die primäre Intention des Briefes sein, Severini direkt als Mitglied zu gewinnen. Denn, warum sollte Boccioni auf potenzielle Mitglieder ausgerechnet in der Pariser Bohème spekulieren? In Paris dominieren zu dieser Zeit der Kubismus und der Fauvismus, deren Vertreter gegenüber einer ›Konversion‹ zum Futurismus bestimmt nicht aufgeschlossen sein werden. Der Brief ist also wahrscheinlich als strategisches Manöver zu sehen, das auf die Mitgliedschaft Severinis zielt, der sich auf der einen Seite durch den Auftrag Boccionis sehr geschmeichelt fühlen muß, auf der anderen Seite beleidigt sein könnte, als Mitglied der Gruppe scheinbar nicht in Erwägung gezogen zu werden. Der Brief zeugt davon, daß der Futurismus nicht, wie Carrà in seiner Autobiographie vorgibt, eine freiheitlich organisierte Bewegung ist, in der es kein Statut, kein Regelwerk gibt.85 Ganz im Gegenteil, Boccioni hat sehr konkrete Vorstellungen davon, welche Eigenschaften eine ›futuristische Persönlichkeit‹ aufweisen muß, die nur aufgrund dieser für den Futurismus geeignet erscheint. Zu diesen Eigenschaften zählen absolute Selbstaufopferung, also Auflösung der Einzelindividualität in der Gruppenindividualität, Glaube an den ›angeborenen Komplementarismus‹ als zentralen Punkt des ästhetischen Programms, Bildung und Tatkraft. Der Futurismus wird quasi als Religion behandelt, die gläubige Anhänger braucht, keine individualistischen Kämpfer. Nur das Streben nach künstlerischer Perfektion ist gefragt, nicht aber die Perfektion selbst, vielleicht, weil Boccioni sich sonst in seiner Rolle als Protagonist der Bewegung bedroht fühlen würde. Der futuristischen Elite stellt Boccioni das Lager der »Trottel« entgegen, ebenso strategisch, da Severini verführt wird, lieber der Elite angehören zu wollen ï ein »Trottel« möchte schließlich niemand sein. Boccioni scheint Balla als potenzielles Mitglied noch nicht in Erwägung zu ziehen, nicht nur aufgrund seines fortgeschrittenen Alters. Boccioni beschreibt ihn als ambivalente Persönlichkeit, auf der einen Seite stark, weil seine Armut ihn nicht daran hindere, seine ästhetischen Ziele weiter zu verfolgen. Auf der anderen Seite schwach, weil es möglich sei, ihn zu unterdrücken.86 Balla scheint in Hinblick auf die Realisation seines Selbstentwurfs sehr beständig zu sein, nicht aber darin, diesen Selbstentwurf gegenüber anderen zu vertreten. Jedenfalls empfindet Boccioni seinen ehemaligen Lehrer nicht mehr als Konkurrenz, sondern klassifiziert seine Werke als »schwächelnd«. Severini, der vor diesem Brief »nichts von dem Futurismus als kollektiver Bewegung wußte,«87 fragt zunächst seinen Freund und 85 Vgl. Carrà 2002, S. 82. 86 Boccioni spielt hier wahrscheinlich auf die Personen an, die das ästhetische Geschehen in Rom dieser Zeit dominieren und Balla von den wichtigen Ausstellungen ausschließen. 87 »Ma del Futurismo come movimenti collettivo non sapevo niente.« (Severini 1965, S. 80).

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Futuristen auf Europa-Tournee im Kreis der Futuristen wohl bekannten Amadeo Modigliani,88 ob er nicht Interesse hätte, der Bewegung des Futurismus beizutreten. Dieser aber ist gegen solche »Bekundungen« und findet den »angeborenen Komplementarismus« lachhaft. – »Er hatte recht. Er riet mir, anstatt beizutreten, mich nicht weiter in diese Sache verwickeln zu lassen,«89 erinnert sich Severini. Severini aber unterschreibt das Manifest trotz dieser Ratschläge, wegen seiner »tiefen und brüderlichen Verbundenheit« mit Boccioni, wie er Jahrzehnte später vorgibt.90 Eine weitere Motivation für sein Mitwirken könnte seine schlechte Stellung als Künstler am Montmartre im Jahr 1910 sein. Beispielsweise werden Severini und seine italienischen Kollegen an dem Cabaret Le Lapin Agile, wohin sie sich häufig begeben, von einigen mit »Gleichgültigkeit, Vorbehalt oder stiller Feindseligkeit« behandelt.91 Außerdem ist seine finanzielle und gesundheitliche Lage kurz vor seinem Anschluß an die Gruppe futuristischer Maler desaströs.92 Es ist also anzunehmen, daß Severini durch den Anschluß an die futuristischen Bewegung seine Position gegenüber den eingesessenen Künstlern am Montmartre zu verbessern hofft, die ihn erst im Jahr 1913 durch seine Liäson und kurz darauf folgende Heirat mit Jeanne Fort (Abb. 42), Tochter des französischen Schriftstellers Paul Fort, integrieren werden. Er lernt Jeanne Fort im Literaturcafé Closerie des Lilas kennen, in dem sich die Vertreter des literarischen Symbolismus treffen. Deren kommunikatives Organ ist die Zeitschrift Vers et prose, gegründet und geleitet von Paul Fort, dem Vater von Jeanne. Dieses Café ist in Europa von großer Bedeutung, in ihm treffen sich »Dichter und Schriftsteller der ganzen Welt,«93 übrigens auch Marinetti, der Severini dort einführt94 Auf einer der Parties, die in diesem Café stattfinden, lernt Severini auch die »sehr kluge Tochter« Paul Forts kennen. Bis ins Jahr 1913 intensiviert er seine Kontakte zu den Stammgästen, besonders zu der »kleinen Jeanne Fort«. »Jeanne (...) war eine hartnäckige, unmanierliche junge Dame, mit welcher es unmöglich war, länger als fünf Minuten ohne Streit zu diskutieren,« erinnert sich Severini. »Sie konnte mit allen in der Closerie streiten, dennoch verehrte sie jeder. Sie hielten sie für die Prinzessin der Closerie, nicht nur wegen ihres Vaters, (...) sondern auch wegen ihres eigenen Charmes, (...) welcher eine starke Persönlichkeit enthüllte, der sie von allen anderen unterschied. Unnötig zu sagen, daß wir unzählige Male stritten (...). Aber unsere Auseinandersetzungen

88 Severini erwähnt in seinen Lebenserinnerungen nicht, daß sich Modigliani und Boccioni aus ihrer gemeinsamen Zeit in Venedig kennen (Vgl. Mann 1980, S. 26). 89 Severini 1965, S. 100. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 45. 92 Ebd., S. 70. 93 Ebd., S. 83. 94 Ebd.

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Vorgeschichte waren offensichtlich Teil der Strategie aller Verliebten. So entschieden wir uns eines schönen Tages, zu heiraten.«95

Am 8. August 1913 wird die Trauung mit Apollinaire und Marinetti als Trauzeugen vollzogen und damit auch die vollständige Integration Severinis in die Pariser Bohème. Schenkt man der Darstellung Boccionis Glauben, ist Ballas Weg in die etablierte Kunstlandschaft gescheitert: Er verkaufe keine Bilder, werde von den zentralen Figuren der römischen Kunstszene unterdrückt und könne von seiner Malerei nicht leben. Mit dem Mitwirken an der futuristischen Bewegung bedient er sich einer Strategie, die er von seinen ehemaligen Schülern schon kannte, einfach zum Futurismus als Sezession zu wechseln, um seine Position als Künstler zu verbessern. Denn »der Futurismus,« schreibt seine Tochter Elica Balla, »stellte für ihn den einzigen offenen Weg dar. (...) Balla unterstützt (...) mit all seinen Qualitäten eines großen Künstlers und natürlich mit Enthusiasmus diese Bewegung.«96 Von den genannten Kriterien einer futuristischen Persönlichkeit besitzt er aus der Sicht Boccionis immerhin zwei: Er ist ein Mann von Tatkraft und seine »schwächelnden« Werke stehen jenseits der Perfektion bei gleichzeitigem Streben nach ihr, so daß sich Boccioni zumindest ästhetisch nicht bedroht sieht. Gleichzeitig ist Balla aus der Sicht Boccionis eine Persönlichkeit, die manipuliert werden kann. Den gruppendynamischen Zielsetzungen des Futurismus wird er sich also nicht widersetzen. Vielleicht intendiert Boccioni eine Umkehrung der ehemaligen als hierarchisch empfundenen Lehrer-Schüler- oder Vater-Sohn-Strukturen. Jetzt muß Balla sich den Instruktionen seines Schülers unterwerfen, der sich als Initiator und Protagonist der Bewegung versteht. Daß Balla die Gruppenbildung der futuristischen Maler schon vor 1910 bekannt ist, dafür spricht sein Bild Lampada ad arco aus dem Jahr 1909. Dieses widerspricht nämlich der bis ins Jahr 1910 verfolgten veristischen bsthetik, wie sie sich in der Darstellung mit dem Titel Affetti aus demselben Jahr manifestiert. Die nächtliche Dunkelheit wird in Lampada ad arco wie eine dicke, schwere Masse durch den Schein der Bogenlampe zurückgedrängt. Das Licht entfaltet sich ausgehend von der künstlichen Lichtquelle zum einem in konzentrischen Kreisen, zum anderen in längs ausgerichteten Strahlen, die sich aus abgerundeten Zackenformen zusammensetzen. Diese beiden Formen, Licht darzustellen, durchdringen sich gegenseitig und bilden ornamentale Muster. Daß Balla vom Divisionismus ausgegangen ist, sieht man auch diesem Bild noch an, weil das Licht in zahlreichen voneinander separierten Formelementen 95 »Jeanne (…) era una giovinetta scontrosa, sgarbata con la quale era impossible ragionare cinque minuti senza litigre. Litigare con tutti alla ›Closerie‹ eppure tutti l'adoravano la principessa della ›Closerie‹, non solo perche suo padre, (…) ma perche la sua grazia, (…) era quella di una personalita, che si distingueva da tutte. Inutile dire che ci siamo bisticciati innumerevolte (…); ma i nostri litigi, ognuno lo capisce, entrano nella strategia di tutti gli amori.« (Ebd., S. 93, Übersetzung LW). 96 Balla 1984, S. 197.

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Futuristen auf Europa-Tournee dargestellt ist. Es entfaltet sich als ornamentale Struktur und autonomisiert sich von der Darstellung der Lichtstrahlen als seinem Gegenstand. Zwar ist der Mond genauso hell wie die künstliche Lichtquelle, aufgrund seiner Eigenschaft aber, nicht wie die Sonne selbstleuchtend zu sein, vermag er nicht so wie die Glühbirne das nächtliche Umfeld zu erhellen. Das von der künstlichen Lichtquelle ausgehende Licht projiziert deren Form nach außen, eine Form, die der Kontur einer umgedrehten Glühbirne ähnelt. Bedenkt man, daß die erste wirtschaftlich erfolgreiche Glühbirne erst zehn Jahre nach Ballas Geburt durch Thomas A. Edison im Jahr 1879 entwickelt wurde, Balla also persönlich die Revolution alltäglichen Lebens durch elektrisches Licht miterlebt hat, wird sein Enthusiasmus für die Darstellung von Licht verständlich, die sich bereits in dem Bild Luna-Park manifestiert hatte. Seine Begeisterung für den Wissenschaftler Edison bestätigt auch Elica Balla in der Biographie ihres Vaters: kurz vor seinem Umzug nach Rom habe er viel über Edison gesprochen, in dem Schaufenster eines Geschäftes sei ein Foto von ihm ausgestellt worden, Balla habe es sich häufig angesehen.97 In der Darstellung spiegelt sich aber nicht nur die persönliche Begeisterung Ballas für elektrisches Licht. Es entspricht auch der Forderung des Gründungsmanifestes futuristischer Malerei, daß »das heutige Leben, das die siegreiche Naturwissenschaft unaufhörlich und stürmisch verwandelt, wiedergegeben und verherrlicht werden soll.]98 Vielleicht weiß Balla schon von der Gruppenbildung der futuristischen Maler, vielleicht weiß er, daß sein ehemaliger Schüler Boccioni Protagonist dieser Gruppierung ist, vielleicht fungiert dieses Bild als stillschweigende Bewerbung, auch Teil der Gruppierung zu werden. Wegen der oben ausgeführten Einwände Boccionis gegenüber Balla ist Balla vielleicht nur die ›zweite Wahl‹. Am 11. April 1910, wenige Tage nachdem Severini den oben angeführten Brief Boccionis erhalten hat, unterschreiben Boccioni, Carrà, Russolo, Severini und Balla das Technische Manifest der futuristischen Maler, die beiden letzten fügen dem Gründungsmanifest der futuristischen Malerei ihre Unterschriften noch hinzu.99 In dem Technischen Manifest betonen sie die Eigengesetzlichkeit bildlicher Wirklichkeit. Die Bildkonfiguration entnimmt der Maler nicht der außerbildlichen Wirklichkeit, sondern sich selbst. Deswegen müsse er seine Sichtweise einer Katharsis unterziehen, um sie von allen traditionellen Kriterien zu befreien. Nicht nur die Empfindungen eines Menschen seien bildwürdig, sondern auch jene von leblosen Gegenständen, die von Künstlern als lebendig empfunden werden könnten. So wird der emotionale Bezug des Malers zum dargestellten Gegenstand Teil der Darstellung. Die neuen Ergebnisse der Naturwissenschaften sollen der Bildkonzeption implizit sein. Von daher müsse auch die Darstellung von Geschwindigkeit Thema 97 Ebd., S.29. 98 Baumgarth 1966, S. 51. 99 Vgl. U.Boccioni , C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: La Pittura Futurista. Manifesto Tecnico, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 65-67; deutsche Übersetzung in Baumgarth 1966, S. 181-183; zu diesem Manifest, ebd., S. 54f.; Malsch 1997, S. 145f.

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Vorgeschichte der Malerei werden, durch die die Opazität der Körper obsolet geworden sei. Als technisches Mittel zur Realisation all dieser Ziele nennen die Futuristen den Divisionismus, der als ›angeborener Komplementarismus‹ nicht erlernt werden könne. Die bußerungen des Vortextes werden in jeweils vier Punkte umfassenden Proklamationen und Deklamationen zusammengefaßt. In den Deklamationen sprechen die Futuristen sich gegen die Patina aus, mit der neuen Bildern ein altertümlicher Anstrich gegeben wird, gegen den flachen Farbauftrag, gegen die Aktmalerei und gegen die falsche Zukunftsgläubigkeit der Sezessionisten und Indépendants, die selbst zu Akademievertretern geworden seien. Wie schon das vorhergegangene Manifest endet auch dieses mit einer kurzen Schlußsentenz: »Ihr haltet uns für verrückt. Wir sind die Primitiven einer neuen, völlig verwandelten Sensibilität. Außerhalb der Atmosphäre, in der wir leben, ist nur Finsternis. Wir Futuristen steigen zu den höchsten, leuchtendsten Gipfeln auf, und wir rufen uns als die Herren des Lichts aus, denn wir trinken schon aus den Quellwassern der Sonne.« Vergleicht man die im Manifest proklamierte bsthetik mit jener anderer Avantgarden Europas, kann dann auch nur einer der genannten Punkte dem Wettbewerb um Innovation Stand halten? Gilt der Topos der Eigengesetzlichkeit bildlicher Wirklichkeit nicht spätestens seit Cézanne als etabliert? Hat die Befreiung von den traditionellen Kriterien erstarrter Bildkonzepte nicht schon längst in Paris ihren Ausgang genommen? Haben nicht die Symbolisten den inneren Bezug des Künstlers zur äußeren Wirklichkeit zum Thema gemacht? Der Divisionismus als malerisches Mittel stellt selbst im italienischen Kontext keine Innovation mehr dar, da seine Hauptvertreter Giovanni Segantini und Gaetano Previati diese Technik etabliert und benutzt haben. Die Manifeste ignorieren also ästhetische Innovationen wichtiger Strömungen bildender Kunst in Europa und verhalten sich nur resümierend zur Kunstproduktion der vorfuturistischen Phase. Können sie, die kurz nach der Gründung des Futurismus entstanden sind, eine futuristische bsthetik wirklich antizipieren? Sie enthalten lediglich einen Punkt, den die Futuristen im letzten Viertel des Jahres 1911 konsequent weiterverfolgen werden: das Bemühen, auf der Leinwand Bewegung zu visualisieren. Innerhalb dieses Rahmens beanspruchen die Futuristen für sich, »Primitive einer neuen, völlig verwandelten Sensibilität« zu sein, die wie Neugeborene am Anfang einer neuen bra stehen.

Der Futurismus zum Zeitpunkt seiner Gründung Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, an dieser Stelle die bereits häufig analysierten Manifeste zu diskutieren, zumal sie, wie gezeigt, für die futuristische bsthetik wenig konkrete Anhaltspunkte bieten. Diese entwickelt sich sukzessive erst nach ihrem Erscheinen. Den zahlreichen geisteswissenschaftlichen Analysen der Manifeste ist vor allem folgendes hinzuzufügen: Der Futurismus ist in der Folge des ›Risorgimento‹ zu sehen, der gesamtgesellschaftlichen Erneuerung Italiens nach dessen Grün55

Futuristen auf Europa-Tournee dung als Nationalstaat im Jahr 1861.100 Unter der linksliberalen Reformpolitik Giovanni Giolittis, zunächst Innenminister, später Ministerpräsident Italiens, erlebt die Wirtschaft einen ungeheuren Aufschwung, die Industrialisierung macht vor allem im Norden rapide Fortschritte ï also auch in Mailand, der Gründungsstadt des Futurismus. Während dieser wirtschaftliche und industrielle Aufschwung Teil der empirisch erfahrbaren Realität ist, sind Fortschritte in der modernen Kunst kaum bemerkbar. Daher ist es die zentrale Gründungsintention des Futurismus, auch wenn sie von dessen Vertretern in dieser Weise nie klar geäußert wurde, die moderne Kunst im Rahmen eines ›ästhetischen Risorgimento‹ einer Erneuerung zu unterziehen. Dabei impliziert der Begriff ›Futurismus‹,101 dem derzeitigen Status Quo von Modernität stets um einen Schritt voraus zu sein. Denn bedenkt man, daß »modern‹ ist, was eben jetzt – weder vorher noch später – erreichbar ist, was soeben erst anerkannt wird und schon im Begriff steht, wieder außer Kurs zu geraten,« wie Klaus Herding zum Begriff ›Moderne‹ im 19. Jahrhundert schreibt,102 dann ist der Titel der Bewegung ein Garant für eine niemals veraltende ästhetische Produktion. Die etablierte moderne Kunst wird von einer breiten gesellschaftlichen Schicht, von Adligen, reichen Bürgern und hohen Beamten, mit einem konservativem Verständnis von bsthetik getragen. Deren Ansicht ist bestimmend, auch für jene Institutionen, die als Präsentationsplattform dieser modernen Kunst fungieren. Die Futuristen ï mit Ausnahme von Russolo alle aus der untersten Arbeiterschicht mit geringem finanziellem und kulturellem Kapital stammend ï kollidieren nicht nur mit der als modern geltenden bsthetik, sondern noch viel mehr mit der gesellschaftlichen Schicht, von der diese bsthetik getragen wird. Daß die Ablehnung alles Vergangenen auch vor der Zusammenkunft der futuristischen Maler der Stimmungsträger des Futurismus ist, das verdeutlicht auch Marinettis Definition dieses Wortes, die er bei seiner ersten serata der Öffentlichkeit vorträgt: »Vor allem, was ist mit Futurismus gemeint? Ganz einfach ausgedrückt bedeutet Futurismus: Haß auf die Vergangenheit. Unser Anliegen ist es, den Kult der Vergangenheit energisch zu bekämpfen und zu zerstören.«103 Dieser durch Marinetti erläuterte Gründungsgedanke des Futurismus setzt sich auch in den Künstlermanifesten fort. Daher stehen sie jenseits ästhetischer Erwägungen, sie sind zunächst ein teils hilfloser, teils rebellischer Schrei gegen die etablierten Schichten und ihre Institutionen, die durch ihre Dominanz den Fortschritt in der modernen Kunst behindern. Vor diesem Hintergrund ist auch der Titel der Bewegung, ›Futurismus‹, zu verstehen, der zunächst nur eine Seinsmodalität beschreibt, einen Stile di vita, um sich der futuristischen Terminologie 100 101

102 103

Zur Geschichte Italiens der Jahrhundertwende vgl. Lill 2002, S. 325-369. Eine chronologische Katalogisierung der futuristischen Serate bei Ponte 1999, S. 23-90; eine kursorische Darstellung bietet Malsch 1999, S. 177182. Eine kurze Darstellung bei Schneede 1994, S. 51-52. Herding 1989, S. 2. Baumgarth 1966, S. 37.

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Vorgeschichte zu bedienen, sich an der Zukunft zu orientieren ï und nicht an der Vergangenheit, eine Haltung, die unter dem Begriff ›Passatismus‹ geläufig ist. Der Begriff ›Futurismus‹ entsteht in kontradiktorischer Negation zu dem, was die Futuristen als passatistisch setzen. Gerade die dezidierte Negation dieses Begriffs macht ihn zum Teil des futuristischen Universums, da er die ›negative‹ Folie bildet, von der die Futuristen sich ›positiv‹ abgrenzen. Durch die Zusammenziehung dieser konträren Positionen ist schon im gedanklichen Konstrukt der ersten Phase des Futurismus ihre selbstvernichtende Komponente inbegriffen. Dieser Sachverhalt spiegelt sich in der personellen Besetzung der Gruppe futuristischer Maler. Balla als ehemaliger Repräsentant etablierter Kunst wird von der futuristischen Sezession äußerlich zwar absorbiert, innerhalb der Gruppe aber behält er diese Position bei. Damit integriert die erste Phase futuristischer Malerei eine in ihren Ursprüngen passatistische Komponente, die sie gleichzeitig zu bekämpfen vorgibt. Boccioni dagegen spaltet sich ï wie in den Jahren zuvor ï von Balla ab, repräsentiert also weiterhin die sezessionistische Komponente im personellen Gefüge des Futurismus. Diese Zusammenziehung der beiden konträren Positionen innerhalb einer Bewegung konstituiert das selbstzerfleischende Moment der ersten Phase futuristischer Malerei, so daß ihr die Grundlagen ihrer Auflösung schon seit der Gründung implizit sind. Die übrigen Futuristen, ganz zerrissen zwischen Boccioni und Balla, versuchen sich ästhetisch zwischen diesen beiden dominanten Positionen zu lokalisieren. Weitgehend unberührt von dieser Dynamik bleibt Severini. Die große geographische Distanz zum italienischen Kontext ermöglicht ihm diese relativ autonome Position.

Die Ausgangslage im Jahr 1910 Da zumindest Boccioni, Balla und Severini sich seit 1902 kennen, sind die interpersonellen Gruppenstrukturen der ersten Phase futuristischer Malerei festgelegt. Nach 1910 erfahren sie durch die enge Kollaboration eine Verstärkung. Marinetti, den Boccioni wahrscheinlich erst seit 1909 kennt, spielt für die Gruppe der futuristischen Maler ästhetisch und interpersonell eine eher subordinierte Rolle. Er fungiert als Finanzier, Organisator und Redakteur der Manifeste. Dafür sprechen zumindest die Briefe. Unter den futuristischen Malern scheint eine sehr intime und emotional hoch aufgeladene Atmosphäre vorzuherrschen, ihre Briefe sind voll von Symathiebekundungen, Intimitäten, aber auch Gehässigkeiten ï ›HaßLiebe‹, wie man ein zwischenmenschliches Verhältnis dieser Art im Alltagsjargon bezeichnen würde. Die Briefe zwischen den futuristischen Malern und Marinetti dagegen wirken unterkühlt und sachlich. Meistens geht es um organisatorische Fragen, wie der Vorbereitung einer Ausstellung. Wie kommt es dann aber zu der zentralen Position Marinettis (Abb.43), die ihm zahlreiche Autoren für die Gruppe bildender Künstler einräumen? Häufig wird die Bedeutung Marinettis, die er für den Futurismus als Dachorganisation spielt, auf jene, die er im 57

Futuristen auf Europa-Tournee Kreis der bildenden Künstler einnimmt, projiziert. Gleichzeitig wird die Prädisposition der interpersonellen Strukturbildung unter den bildenden Künstlern, die zum Zeitpunkt ihres Mitwirkens an dem Futurismus schon seit Jahren verfestigt ist, aufgrund von unzulänglicher Untersuchung unterschätzt. Die Rolle, die Marinetti für den Futurismus und für die italienische Kultur spielt, beschreibt am besten sein Kollege Guillaume Apollinaire im Jahr 1912: »Marinetti möchte die gleiche Rolle in Italien spielen, die früher der heilige Fransiskus von Assisi gespielt hat. Er möchte ein Reformer der Künste sein. (...) Die italienische Kunst ist nun schon seit langem von einem Akademismus gelähmt, der manchmal nur ein Schlummer der Kunst, oft aber auch ihr Tod ist. Nachdem Italien für lange Zeit die Künste der Welt angeführt hatte, mit Recht stolz auf seine glorreiche Vergangenheit, fiel es in der künstlerischen Qualität immer mehr hinter Frankreich, Holland, England, Spanien und Belgien zurück. Es ist schon lange her, daß ein Michelangelo sagen konnte, ein großer Maler könne nur in Italien geboren sein! Hier kommt nun aber ein junger Poet, der die Künste und die Literatur in Italien wiederaufrichten möchte. (...) F.-T.Marinetti, ein gallisierter Italiener, möchte diesen Zustand ändern. Er möchte Italien aus seinem Schlaf reißen. Als Vorbild hat er Frankreich ausgesucht, weil Frankreich sowohl in den Künsten als auch in der Literatur führend ist. Ohne seine Mitstreiter informiert zu haben, präsentiert er ihnen doch sozusagen stillschweigend Frankreich als Beispiel moderner Kunstauffassung.«104

Apollinaire (Abb. 44) beurteilt die Rolle Marinettis nicht ganz ohne ironischen Beigeschmack, weil, das verschweigt er in sämtlichen Artikeln über den Futurismus und über seine eigene Rolle in der Pariser Bohème, er für die Pariser Kultur eine ähnliche Funktion einnimmt wie Marinetti für die italienische. Apollinaire ist nämlich nicht nur Dichter, sondern auch Kunstkritiker und übt durch seine unzähligen Artikel über bildende Kunst als Vermittler großen Einfluß auf die Ausprägung und Verbreitung zahlreicher Kunstströmungen aus. Marinetti ist in Alexandria (bgypten) geboren, in Frankreich zur Schule gegangen und hatte einen Wohnsitz in Paris, 104

»M. Marinetti veut jouer de notre temps en Italie le rôle de restaurateur des arts que saint François d’Assise y joua autrefois. (…) Depuis longtemps déjà, la peinture italienne s’est figée dans cet académisme qui parfois est le sommeil de l’art et souvent est sa mort. Après avoir été si longtemps à la tête du mouvement artistique universel, l’Italie orgueilleuse à juste titre de son passé glorieux était tombée pour les arts derrière la France, la Hollande, l’Angleterre, l’Espagne et la Belgique. Qu’il est loin le temps où un Michel-Ange affirmait qu’il ne pouvait naître de grands peintres qu’en Italie!... Mais, voici qu’un jeune poète tente d’y restaurer les arts et les lettres. F.-T. Marinetti, Italien gallicisant, veut changer cet état de choses. Il veut secouer l’Italie de sa torpeur. Il a pris la France comme modèle parce qu’elle est à la tête des arts et des lettres et sans le dire à ses compatriotes c’est elle qu’il leur présente comme exemple.« (Apollinaire 1966, S. 228f. Deutsche Übersetzung in: Apollinaire 1989, S. 153f.)

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Vorgeschichte trotzdem versteht er sich als Italiener.105 Apollinaire ist als Sohn einer Exil-Polin und eines Italieners in Rom geboren und versteht sich als Franzose. Apollinaire ist also das französische Pendant zu Marinetti. Trotz aller persönlichen Vorbehalte Apollinaires, die sich in seinen bußerungen über Marinetti und dem Futurismus spiegeln, sind seine Ansichten über den Rückstand der bildenden Künste in Italien nicht von der Hand zu weisen. Die Anfänge der literarischen Entwicklung Marinettis nehmen in Frankreich ihren Ausgang, daher orientiert dieser sich auch in Italien noch an der französischen Tradition. Vor diesem Hintergrund erscheint es konsequent, auch den anderen Sparten des Futurismus Frankreich als Vorbild entgegenzuhalten. Wie die ästhetische Entwicklung der futuristischen Kunst der Jahre 1910 und 1911 zeigen wird, hat Marinetti die Künstler allerdings nicht darüber informiert, daß sie sich an den ästhetischen Maßstäben der neuen französischen Kunst zu messen haben, ohne diese zu imitieren. In diesem Punkt ist Marinetti gegenüber den futuristischen Künstlern eben unsolidarisch. Dies zeigt aber auch, daß Marinetti auf den ästhetischen Selbstentwurf der Futuristen einen weitaus geringeren Einfluß ausübt, als oftmals angenommen wird. Konkrete oder gar restriktive Vorgaben zur futuristischen bsthetik sind in seinen Briefen und sonstigen Publikationen bis ins Jahr 1914 nämlich nicht zu finden. Die bußerung Apollinaires zeigt, daß er mit der ästhetischen Situation Italiens ziemlich vertraut ist. Er wird also wissen, daß Marinettis Rolle in Italien weitaus diffiziler ist als seine eigene in Frankreich. Marinetti vermittelt nämlich nicht nur zwischen den Kunstrichtungen, sondern hat sich dem gigantischen Projekt verschrieben, die gesamte rückständige bsthetik Italiens quasi aller Sparten zu reformieren, um sie auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zu heben. Wenn einem der sektenähnliche Grundtenor der futuristischen Bewegung bekannt ist, dann mag Apollinaires Vergleich Marinettis mit dem Begründer des Franziskanerordens – weil er eben so treffend ist – vielleicht amüsant anmuten. Beachtet man aber die ungünstige Ausgangslage der Vermittlertätigkeit Marinettis, über die Apollinaire voll im Bilde ist, dann ist eine leichte Geste eleganter Überheblichkeit in der Haltung Apollinaires nicht von der Hand zu weisen. Für einen Repräsentanten der französischen Bohème ist es eben sehr einfach, sich in dieser Weise über Marinetti zu erheben. Für die futuristischen Maler bietet Marinetti zunächst nur die finanzielle und kulturelle Möglichkeit, sich als Reformisten der bildenden Kunst zu organisieren. Wie diese Organisation sich konkret konfiguriert, das scheint ihn kaum zu interessieren. Viel bedeutender ist seine Rolle für die futuristische Literatur, zumal er selbst Literat ist ï und nicht Künstler. Bis ins Jahr 1913 bleibt die futuristische Malerei von der politischen Haltung der Futuristen unberührt, auf den Leinwänden macht sie sich also kaum bemerkbar. bsthetisches und politisches Programm konvergieren nur auf den Serate, auf denen eben beides der Öffentlichkeit vorgetragen wird. Daher geht es bis 1913 erst einmal darum, eine futuristische bsthetik zu entwickeln, die sich

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Zur Biographie Marinettis vgl. Agnese 1990; Baumgarth 1966, S. 9-22.

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Futuristen auf Europa-Tournee gegenüber jener anderer Kunstströmungen, vor allem des Kubismus, über ästhetische Innovation abzugrenzen sucht. Bis in dieses Jahr bleiben die Konzeption des Futurismus als Dachorganisation und die interpersonellen Gruppenstrukturen des Primo Futurismo der Malerei stabil. Daher bildet die Zeit nach Formierung der Gründergruppe bis 1913 einen relativ homogenen Raum, in der sich die futuristische bsthetik ausbildet. Positiv verstärkend auf ihre Entwicklung wirken sich die zahlreichen Ausstellungen der Futuristen aus, die in ganz Europa stattfinden.

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›MOSTRA D’ARTE LIBERA‹ (1911) Ein repräsentatives Bild futuristischer Kunstproduktion der Initialphase seit Formation der Gründergruppe gibt die Mostra d’arte libera in der Casa di Lavoro in Mailand, die am 30. April 1911 eröffnet wird.1 Auf ihr sind auch die Futuristen mit insgesamt 50 Werken in eigenen Sälen vertreten, auch mit Arbeiten, die vor ihrem Mitwirkenan der Bewegung des Futurismus entstanden sind. An der Organisation dieser ersten juryfreien, für alle Kunstschaffenden offenen Ausstellung Italiens sind auch Boccioni und Carrà beteiligt. Alle wichtigen Personen des öffentlichen Lebens erhalten eine Einladung, in der die Konzeption der Ausstellung dargelegt wird: »Die Leitung der Casa di Lavoro (…) ist zu der Entscheidung gekommen, die Vorbereitungen für eine freie Ausstellung zu beginnen (...). Unser Ziel ist nicht, einer gewöhnlichen Kunstausstellung zum Leben zu verhelfen, als vielmehr zu zeigen, daß der Sinn für die Kunst, der als Privileg einiger weniger angesehen wird, der menschlichen Natur angeboren ist, und die Formen, in welchen er sich manifestiert, einfache Repräsentanten einer größeren oder geringeren Sensibilität sind (...). Damit ist nicht beabsichtigt, jemanden auszuschließen, der seine natürlichen Gaben ausbildet und perfektioniert, da er die Kunst zum Beruf erhoben hat. Wir laden aber, wohlverstanden, alle ein, die vorhaben, einige neue Dinge darzulegen, weit entfernt also von Nachahmungen, Ableitungen und Verfälschungen, und diejenigen, die versuchen, sich im Unterschied zu dem, was verbreitet und konventionell ist, auszudrücken. In dieser Suche nach einer instinktiveren, naiveren und ehrlicheren Kunst, zu ihren unversehrten Ursprüngen zurückgekehrt (...), sind wir sicher, eine Ausstellung präsentieren zu können, die für die Öffentlichkeit wie für den Künstler von besonderem Interesse ist. Es ist eine für alle freie Ausstellung: für die jungen Männer (...), für die Arbeiter (...), also für viele, die bereit sind, das Wahre zu definieren, wie auch für jene, die aus der eigenen Sensibilität und der Natur eine Welt der Formen ziehen, zwar in Kontrast zur Realität, aber in Harmonie mit dem Geist.«2

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Zu dieser Ausstellung vgl. Baumgarth 1966, S. 72f.; Tisdall/A. Bozzolla 2000, S. 36f. »La Direzione della Casa di Lavoro (…) venne nella determinazione di iniziare le pratiche per una libera Esposizione (…). È nei nostri propositi di non dar vita ad una delle solite esposizioni d’arte, ma di mostrare invece che il senso artistico, ritenuto privilegio di pochi, è innato nella natura umana, e che le forme con le quali esso si manifesta sono semplice esponenti della maggiore o minore sensibilità (…). Con ciò, non si intende di esclude-

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Futuristen auf Europa-Tournee Was sagt diese Einladung über die Konzeption der mostra d’arte libera? Die Ausstellung ist in Abgrenzung zu jenen etablierter Kunst zu sehen, bei denen eine Jury über die Auswahl der auszustellenden Kunstwerke entscheidet. Da in diesen Kreisen aufgrund eines elitären Kunstbegriffs nicht alle Kuntschaffenden als »Künstler« anerkannt sind, gilt es als Privileg, ein Künstler zu sein. Diese Trennung aller Kunstschaffenden zwischen »Künstlern« und »NichtKünstlern« wird von den Organsiatoren der mostra d’arte libera aufgehoben, da in ihren Augen der »künstlerische Sinn« keineswegs eine besondere Eigenschaft ist, sondern eine angeborene Qualität des menschlichens Seins. Als Qualitätskriterium bildender Kunst nennen die Organisatoren nicht etwa handwerkliche Fertigkeiten, sondern eine mehr oder minder ausgeprägte Sensibilität, die sich in der bildnerischen Form niederschlägt. Gemeinsames Ziel der Aussteller ist es, eine Kunst jenseits herkömmlicher Bildkonzepte zu zeigen. Diese realisiert sich in der Suche nach dem »Wahren«, das, in seiner Eigenschaft, »augenblicklich« zu erscheinen, als eine Essenz der empirisch erfahrbaren Realität begriffen wird. Als Referenzpunkt der Bildproduktion soll nicht die äußere Realität dienen, sondern die innere des Künstlers, die das Bild kommuniziert. Im italienischen Kontext ist die Organisation dieser Ausstellung in Anschluß an die mostra dei rifiutati zu sehen. 1905 noch gegen eine bestimmte Ausstellung etablierter Kunst gerichtet, jene der società degli amatori e cultori delle belle arti, indiziert diese Ausstellung in ihrer weitaus stärker ausgeprägten Professionalität eine polemische Abgrenzung gegen alle Ausstellungen etablierter Kunst in Italien. Die zahlreichen einzelnen Künstler, die im offiziellen Rahmen nicht tätig sein können oder wollen, organisieren sich in dieser Ausstellung, auch wenn dieses Wort an keiner Stelle des Einladungstextes verwendet wird, als Sezession. Denkt man an den Salon des refusés und die Indépendants in Frankreich oder die Sezession in Österreich und Deutschland, sind diese Entwicklungen in Italien schon längst überfällig. Da an der Ausstellung des Jahres 1905 sowie an dieser aus dem Jahr 1911 drei der fünf Futuristen maßgeblich beteiligt sind, ist es unter ande-

re chi, facendo dell’arte una professione, educa e perfeziona le qualità naturali. Invitiamo però, sia ben inteso, quanti intendono affermare qualche cosa di nuovo, lungi cioè da imitazioni, derivazioni e contraffazioni, e coloro che tentato esprimersi diversamente da ciò che è commune e convenzionale. Per quetsa ricerca di un’arte più ingénua, più istintiva, più sincera, riportata alle sue sane origini (…) siamo certi, di riuscire ad una mostra di particolare interesse per il pubblico e di positiva osservazione e studio per gli artisti. È un’esposizione libera a tutti: così ai ragazzi (…) come agli operai (…), così ai molti che sono portati a definire il vero, quale lavoro apparve in un istante, come a quelli che traggono dalla sensibilità propria e dalla natura, un mondo di forme e di colore, in contrasto con la realtà, ma in armonia con la mente.« (U. Boccioni, C. Carrà, A. Mazzocotelli, G. Mazzocchi, U. Nebbia, G. Rocco: »Lettera – invito per l'esposizione d'arte libera«, Mailand, 30. Januar 1910, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 102f., Übersetzung LW).

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) rem ihr Verdienst, die sezessionistisch disponierten Künstler in Italien mobilisiert zu haben. Und weil in diesem Rahmen auch die Futuristen ihre Kunstproduktion präsentieren, würde ich so weit gehen, den »Futurismus der Gründergruppe« auch als »futuristische Sezession« zu bezeichnen. Obwohl sich die Futuristen als geschlossene Gruppierung präsentieren, sind nur Boccioni, Carrà und Russolo mit Werken vertreten. Wie kommt es dazu? Balla und Severini gehören doch ebenso der Gruppierung an? Balla lebt in Rom, von den Geschehnissen in Mailand ist er weitgehend abgeschnitten. Severini, der sich noch in Paris aufhält, mangelt es an finanziellen Mitteln, die übrigen Futuristen in Italien aufzusuchen. Erst anläßlich dieser Ausstellung sammelt er so viel Geld, daß er sich eine Reise nach Mailand leisten kann. Er hat zum ersten Mal Gelegenheit, mit Carrà und Russolo Bekanntschaft zu schließen, die er nur dem Namen nach kennt, und sich mit der futuristischen Kunstproduktion auseinanderzusetzen.3

Das ästhetische Programm der Initialphase Mit den ausgestellten Exponaten erheben die drei Futuristen den Anspruch, eine progressive Bildästhetik zu vertreten. In welchen Bildprinzipen aber spiegelt sich dieser Anspruch? Zunächst wollen die Futuristen die Innovation aus dem Sujet beziehen, das sie der empirisch erfahrbaren Alltagsrealität Italiens extrahieren. Carrà wählt für das Gemälde Uscità dal teatro (Theaterausgang) aus dem Jahr 1909 (Abb. 45) einen scheinbar unbedeutenden Moment, das hektische Treiben nach einer Theateraufführung, nach der die Zuschauer eingehüllt in langen Mänteln ï es ist tiefer Winter ï den Vorplatz in alle Richtungen verlassen. Rechts und links neben den hell erleuchteten Bogenfenstern des Theaters stehen zwei Kutschen, die vordere hat sich gerade in Bewegung gesetzt. Es schneit heftig. Die Füße der Frauen scheinen im Schnee zu versinken. Man weiß gar nicht, wie der Schneeschaufler am linken Bildrand die Mengen von Schnee allein bewältigen soll. Carrà wählt dieses Sujet, um zu zeigen, was sich hinter der Bühne abspielt. Das Sujet ordnet sich einer zentrifugalen Dynamik unter, da alle Personen gleich Vektoren den Mittelpunkt der Darstellung fliehen. Diese Dynamik wird durch jene der Pinselführung verstärkt, die strichartig ebenso den Mittelpunkt des Bildes flieht, wie die dargestellten Personen. »Gewalt« als Teil der italienischen Alltagsrealität stellen nur Boccioni und Carrà dar. Zu dem Gemälde Rissa in galleria4 (Schlägerei in der Passage) aus dem Jahr 1910 (Abb. 46) gibt es nur eine schriftliche bußerung Boccionis:

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Zu der ersten Begegnung Severinis mit der futuristischen Kunst seiner Kollgen vgl. Severini 1965, S. 103ff. Zu diesem Bild vgl. Schneede 1994, S. 54-58.

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Futuristen auf Europa-Tournee »Die Polizei-Razzia. Die Empörung angesichts einer Polizei-Razzia in einem mailändischen Nacht-Café.«5 Dieser Satz wird häufig zitiert, wenn dieses Bild besprochen wird. Aber was sagt er schon, außer, daß Boccioni seiner eigenen Sehempfindung zum Ausdruck verhelfen will? Die folgenden Besprechungen sind meistens allgemeiner Natur. »Weniger als Körper und als Individuen erscheinen die Figuren denn als körpersprachliche Zeichen: für neugieriges Herbeieilen, heftigen Hilfeschrei, desinteressierte Zurückhaltung, aggressive Kampflust,« erfährt man etwa bei Schneede.6 Aber sehen wir uns die Arbeit genauer an, versuchen wir die Ereignisse aus ihm selbst heraus zu rekonstruieren: Auf einem weitläufigen Platz erhebt sich eine gigantische Architektur. Es könnte sich um einen der für Norditalien und auch Neapel typischen Arkaden- oder Loggien-Komplexe handeln, die auch bei schlechtem Wetter Raum für Geselligkeit bieten. Solche Komplexe prägen seit Palladio das Erscheinungsbild vieler norditalienischer Städte. Die Reihung hoher bogenförmiger Durchgänge auf Boccionis Bild erinnert an eine Abbildung aus der französischen Zeitschrift »La Caricature« von Mai 1834: Festin de Balthazar von Traviès (Abb. 47). Die Gesamtkomposition soll hier von Tintorettos Abendmahl in San Giorgio Maggiore (Venedig) beeinflußt worden sein,7 was die architektonischen bhnlichkeiten in beiden Darstellungen erklären würde. Unmittelbar vor der gläsernen Eingangstür eines hell erleuchteten Cafés ist eine wilde Schlägerei ausgebrochen. Zu sehen ist ein unüberschaubares Geflecht menschlicher Figuren, die sich so schnell bewegen, daß sie nicht voneinander zu unterscheiden sind. Weiter hinten stehen Passanten, teilnahmslos, als hätten sie nichts mit dem Geschehen zu tun. Andere mischen sich ein, wie die zwei Männer, die sich, eine Frau in orangenem Gewand in ihrer Mitte, der Schlägerei nähern. Sie tragen Anzüge und sog. »Kreissägen«, steife Strohhüte, die bis zum Ersten Weltkrieg bei Männern jeden Alters und jeder Schicht hochmodern sind. Ein Mann mit erhobenen Armen flieht schreiend vor der Schlägerei. Er ist anders gekleidet als die übrigen Herren. Zu dem schwarzen Anzug trägt er einen schwarzen Hut, vielleicht einen »Borsalino«, der heute noch als Gangster- und Mafiahut legendär ist. Also hat er möglicherweise Grund, die Flucht zu ergreifen. Denn auch Polizei, Herren in gänzlich schwarzer Uniform und helmartiger Kopfbedeckung, ist präsent. Im Zentrum der Schlägerei kämpfen zwei kräftige Frauen miteinander. Eine Frau packt den Kopf ihrer Kontrahentin und will sie zu Boden reißen. Um sie herum hat sich ein Halbkreis von Männern gebildet, teils Zivilisten, teils Polizei, die die Frauen teilweise anfeuern oder in eigene Schlägereien verwickelt sind. Alle Damen sind elegant und zugleich auffällig gekleidet. Sie tragen grellfarbige Gewänder und üppig drapierte Hüte, die wie Statussymbole wirken. Sie sind auch größer und von kräftigerer Statur 5 6 7

U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Severini: »Presentazione alle opere esposte alla Sackville Gallery«, März 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 110. U. Schneede 1994, S. 54. Vgl. Unverfehrt 1980, S. 211.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) als die Männer, die neben ihnen wie kleine Männchen erscheinen. Sie gehören der finanziell besser situierten Schicht an, sonst könnten sie sich diesen Kleidungsstil nicht leisten. In der Regel klassifizieren sich Damen dieser Schichten nicht nur durch den Stil ihrer Kleidung als ihrer Schicht zugehörig, sondern auch durch ihr Verhalten, zu dem heftige Affektausbrüche nicht gehören dürften. Warum aber verlieren die drei Damen, die sich in geschlossener Front der Schlägerei nähern, derartig die Contenance? Weil sie möglicherweise, worauf ihre auffällige Kleidung hinzuweisen scheint, der Schicht der »Nicht-Anständigen«, der »Halbweltdamen« angehören? Sie eilen mit ausgestreckten Armen ihren Männern zu Hilfe, um deren Leben und Gesundheit sie fürchten. Die Ursache der Schlägerei bleibt ï trotz des hell erleuchteten Ortes, an dem sie stattfindet ï im Dunkeln. So wirkt das Bild seltsam mystisch und rätselhaft, wie eine nicht zu Ende erzählte Geschichte. Die Stimmung der Darstellung ist aggressiv und aufgepeitscht. Nicht nur durch den Bildinhalt selbst, die Schlägerei, sondern auch durch die Stilmittel der zahlreichen kleinen Punkte, die es in einen Zustand flirrender Vibration versetzen. Nur die obere Partie der Häuserfront, die, fernab der Schlägerei, von zwei Straßenlaternen in regelmäßigen Abständen beleuchtet ist, strahlt Ruhe aus, sie ist der Ort, zu dem das Auge sich flüchten kann. Während der Betrachter bei Boccioni die Schlägerei aus der Vogelperspektive beobachtet, sich also in sicherer Entfernung wägt, ist man in Carràs Werk I funerali dell’Anarchico Galli (Das Begräbnis des Anarchisten Galli) aus dem Jahr 1910 (Abb. 48) mitten ins Geschehen gesetzt, so, als ob man selbst Teil von ihm wäre. Bei Boccioni bleibt die Ursache der Schlägerei eine semantische Leerstelle, bei Carrà bringt man das Bildgeschehen aufgrund der roten Flächen, die grell aus dem dunklen Umfeld hervorstechen, auf den ersten Blick mit einer sozialistischen Thematik in Verbindung. Bedrohlich wirkende Farben bilden den Hintergrund des dargestellten Ereignisses. Eine tiefstehende Sonne wirft grelles Licht auf die dunkel gekleideten Gestalten, die ihrerseits Schatten auf den Boden werfen. Die Körper der sich wild gebärdenden Pferde, auf denen Soldaten sitzen, sind nur in Spuren sichtbar, sind Bruchstücke. Die rote Fläche in der Bildmitte nimmt die Farbe der Sonne auf, so als würde eine innere Verbindung zwischen diesen beiden Bildelementen bestehen. Sie scheint einen Gegenstand zu bedecken, der gerade fortgetragen wird. So als ob man ein Vexierbild vor sich hätte, wird erst auf den zweiten Blick ist im Hintergrund eine schemenhafte Figur zu sehen. Sie trägt eine Arbeiterkappe, die tief ins Gesicht gezogen ist. Aus ihrem wie aufgeschlitzt wirkenden Oberkörper scheint der in Rot gehüllte Gegenstand herausgetragen zu werden. Doch wird der Weg durch eine lang ausgezogene Front von Soldaten blockiert. Dies scheint der Stein des Anstoßes, der im Bild dargestellte Konflikt zu sein: die einen wollen den roten Gegenstand forttragen, die Soldaten wollen dies verhindern. Welchen Gegenstand kann die rote Fläche wohl verhüllen, die der kompositorische und semantische Angelpunkt des Geschehens ist? Es ist die Bahre, so läßt es der Titel vermuten, auf der der ermordete Anarchist Galli liegt. Ihm, der mit roten Nelken bedeckt ist, ist der Trauerzug gewidmet, dem die 65

Futuristen auf Europa-Tournee Polizei hoch zu Roß, mit befahnten Lanzen bewaffnet, brutal begegnet. Die Sozialisten geben sich aber nicht geschlagen, sie nehmen den Kampf auf, sie wollen Galli würdevoll bestatten. Der Kampf ist für beide Seiten nicht aussichtslos, keine ist als die schwächere charakterisiert. In diesen Zeiten gibt es aber durchaus noch Hoffnung, das will die Sonne als Zeichen des Aufbruchs sagen. In der sozialistischen Philosophie manifestiert sich dieser in der Revolution der Arbeiterklasse zur Überwindung des Kapitalismus. Somit präsentiert sich der Kampf als unverzichtbare und damit begrüßenswerte Maßnahme. Und eben diese Auffassung wird in dieser Arbeit vertreten. Sie spiegelt sich in der Darstellung der Schlagstöcke, die, in verschiedenen Phasen ihrer Bewegung festgehalten, ornamentale Kreissegmente ausbilden, die das gesamte Bild überziehen. In dieser Ornamentalisierung realisiert sich die Verherrlichung der Wehrhaftigkeit der Arbeiterklasse. Daß Carrà selbst ï vor allem in seiner präfuturistischen Phase ï mit der sozialistischen Arbeiterbewegung sympathisiert, daraus macht er in seiner Autobiographie kein Geheimnis. Gerade in Mailand, wo Carrà ansässig ist, sind die Arbeiterunruhen als Reaktion auf die sich rapide vollziehende Industrialisierung besonders stark ausgeprägt. In diesem Rahmen kam es auch zum Generalkstreik der proletarischen Massen in Mailand im Jahr 1906. Sie verlangten eine Revision jenes Systems, das die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und -nehmern regelt. Carrà spricht von einem »tragischen Abschluß«, den das Ende des Generalstreiks in der Ermordung des Anarchisten Galli gefunden habe.8 Noch im selben Jahr entsteht eine Zeichnung von diesem Ereignis (Abb. 49),9 die den Ausgangspunkt dieses Gemäldes markiert. Carrà schreibt dazu in seiner Autobiographie: »Nachdem der Leichnam Gallis auf den Friedhof von Musocco transportiert worden war, mußte das Begräbnis auf Befehl der Polizei im Bereich des dem Friedhof gegenüberliegenden Platzes stattfinden, und, damit diese Anordnung respektiert wurde, blockierten die Reitertruppen die Straßen, die zur Stadt führten. Aber die Anarchisten entschieden, sich zu widersetzen und...an der Mündung zur breiten Allee del Sempione stürmten sie plötzlich gegen die Soldaten, die mit unerhörter Gewalt angriffen. Ich, der ich mich, ohne es zu wollen, im Zentrum des Gedränges befand, sah vor mir die Bahre, gänzlich bedeckt von roten Nelken, die drohend auf den Schultern der Träger schwankte; ich sah die scheuenden Pferde, die Schlagstöcke und die aufeinanderstoßenden Lanzen, so daß es mir erschien, als würde der Leichnam in diesem oder nächsten Augenblick auf den Boden fallen und von den Pferden zertreten werden. Kurz danach zu Hause eingekehrt, machte ich stark beeindruckt eine Zeichnung davon, bei der ich selbst der Betrachter war. Dieser Zeichnung entnahm ich später die An-

8 9

Vgl. Unverfehrt 1980, S. 211. Oftmals wird die unter Abb. 54 zu findende Zeichnung auf das Jahr 1910 oder 1911 datiert, wobei es sich wahrscheinlich um die Zeichnung handelt, die bereits im Jahr 1906 entstand, so wie es Carrà in seiner Autobiografie schildert.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) regung für das Bild I funerali dell’anarchico Galli, das auf den FuturistenAusstellungen in Paris, London und Berlin im Frühling 1912 gezeigt wurde.«10

Die Zeichnung verhält sich zu dem Ereignis weitaus illustrativer als das Gemälde. Wesentlich klarer sind die Bildelemente, die Bahre, die proletarischen Massen und die Polizeigewalt voneinander differenziert. Während die Zeichnung auch ohne die bußerungen Carràs ihren illustrativen Charakter beibehält und aus sich heraus die historischen Ereignisse erläutert, ist das Gemälde von 1910 aufgrund der eigenständigen Symbolwirkung der Bildelemente und Farben auch unabhängig von ihnen zu sehen. Deswegen bezieht sich Carrà in einem Kommentar zu dem Gemälde gar nicht mehr auf die Ereignisse des Jahres 1906, sondern beschränkt sich darauf, daß es sich um eine »dramatische Interpretation der Rauferei zwischen der Kavallerie und dem revolutionären Proletariat« handele.11 Im Gegensatz zu der Zeichnung, noch ganz der illusionistischen Darstellung verpflichtet, manifestiert sich in dem Gemälde eine Anpassung des Darstellungsmodus an eine polysensual disponierte Wahrnehmungsweise. Ebenso abgehackt und disparat wie diese Schlägerei auf einen mitten im Geschehen sich befindenden Betrachter wirken muß, ist sie auch hier repräsentiert. Dieses Gemälde ist das einzige in der gesamten ersten Phase futuristischer Kunstproduktion, das eine sozialistische Thematik behandelt. Es ist davon auszugehen, daß es sich in dieser konkreten sozialistischen Bezug- und Parteinahme um eine Ausnahmeerscheinung handelt, die nicht unbedingt den politischen Vorstellungen entspricht. Das ist vielleicht der Grund dafür, daß es nicht mehr Bilder mit einer solchen Thematik gibt.12 Im italienischen Kontext ist dieses Gemälde das erste, das der Forderung des Gründungsmanifestes futuristischer Malerei gerecht wird, den Betrachter mitten ins Bild zu setzen.13 Das wird auch Boccioni gesehen haben. Etwas später übernahm er diese Darstel10 »Trasportato al cimitero di Musocco il cadavere del Galli, i funerali dovevano svolgersi, per ordine della polizia, nell’ambito del piazzale antistante al cimitero, e perché la disposizione fosse ripettata, dei cordoni di truppa a cavallo bloccavano le strade che portavano alla città. Ma gli anarchici decisero di opporsi e quindi in corteo, allo sbocco del vialone del Sempione, improvvisamente irruppero contro i soldati, i quali caricano con una inaudita violenza. Io che mi trovai senza volerlo al centro della mischia, vedevo innanzi a me la bara tutta coperta di garofani rossi ondeggiare minacciosamente sulle spalle die portatori; vedevo i cavalli imbizarrirsi, i bastoni e le lance urtarsi, sì che a me parve che la salma cadesse da un momento all’altro in terra e che i cavalli la calpestassero. Fortemente impressionato, appena tornato a casa feci un disegno di ciò a cui ero stato spettatore. Da questo disegno presi più tardi lo spunto per il quadro. Il funerale dell’anarchico che venne in seguito esposto alle mostre futuriste di Parigi, Londra e Berlino nella primavera di 1912.« (Carrà 2002, S. 46 Übersetzung LW). 11 Ebd., S. 110. 12 Entgegen Tisdall/Bozzolla 2000, S. 48. 13 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: Manifesto dei pittori futuristi, in: Baumgarth 1966, S. 49-52.

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Futuristen auf Europa-Tournee lungsweise in dem Bild Retata aus dem Jahr 1911, in dem sich der Betrachter, ebenso wie bei Carrà, frontal dem Geschehen gegenübergestellt sieht. In dem Gemälde Rissa in galleria gibt es noch keine Elemente, die, analog zu den Schlagstockgesten bei Carrà, als autonome Formen in einer dem Sujet übergeordneten Bildebene erscheinen. Erst in dem Bild Retata rhythmisieren die Strahlen des Lichtes das dargestellte Ereignis. Während Carràs Autonomisierung der Form das Bildgeschehen ornamentalisiert, erreicht Boccioni eher eine Dramatisierung, denn die Lichtstrahlen interferieren gleich Blitzen mit dem Menschengemenge der Schlägerei. Damit wird er schon 1911 seiner erst zwei Jahre später formulierten Forderung gerecht, daß die Kunst des Dramas bedürfe.14 In der Futurismusgeschichte bis 1916 ist Carràs Gemälde das erste, das einen Lösungsansatz jener Frage bietet, die erst nach der Initialphase für die Futuristen zum zentralen Anliegen wird, wie nämlich Bewegung im Bild visualisierbar sei. In der Wiederholung der Schlagstockgesten bezieht sich Carrà auf die sequenzielle Bewegungsfotografie Eadweard Muybridges. Dabei beschränkt er sich aber nicht auf eine reine Illustration des Verfahrens, die Ergebnisse der sequenziellen Fotografie auf die Leinwand zu übertragen. Schon in der Ornamentalisierung geht er über das rein Illustrative hinaus. Sie manifestiert sich in der Darstellung nicht als reiner Selbstzweck, sie steht im inhaltlichen Bezug zu dem dargestellten Ereignis selbst. Trotzdem muß man einschränkend sagen, daß das Bestreben, Bewegung ins Bild zu bannen, nicht das ästhetische Hauptanliegen in diesem Werk ist, wie es in späteren Werken Carràs der Fall sein wird. Außerdem wird der Innovationswert dieser Darstellung dadurch herabgesetzt, daß es sich an die kompositorische Anlage der Schlachtenbilder Paolo Uccellos aus dem 15. Jahrhundert (Abb.50) anlehnt und sich insgeheim also doch konservativer Bildkonzeptionen bedient. Hier wie dort stoßen zwei Fronten bewaffneter Reiter aufeinander, die mit ihren erhobenen Lanzen das Bildgeschehen an den äußeren Rändern rhythmisieren, während im Zentrum sich aufbäumende Pferde die Szenerie beherrschen. Daß Carrà dennoch in der Initialphase futuristischer Kunstproduktion seinen Kollegen um einen Schritt voraus ist, zeigt auch das Werk Il Nuoto (nuotatrici) (Das Bad oder Die Schwimmerinnen; Abb. 51), das bereits ein Jahr vor I funerali dell’anarchico Galli entstanden ist. Auch wenn eine Phasendarstellung noch nicht zur Anwendung kommt, sind schon erste Lösungsansätze zu erkennen, wie Bewegung auf der Leinwand dargestellt werden kann, durch welche Verfahren die gesamte Oberflächentextur eine Dynamisierung erfährt. Inspirationsquelle ist wahrscheinlich das technische Manifest der futuristischen Malerei, in dem zu lesen ist, daß sich alles bewegt, alles fließt, sich alles mit größter Geschwindigkeit vollzieht.15

14 Vgl. Boccioni: Gegen die Feigheit der Künstler, in: ders. 2002, S. 39. 15 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: La pittura Futurista. Manifesto Tecnico, in: Baumgarth 1966, S. 181-183.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) Auch wenn die Darstellung einem mimetischen Konzept folgt, die Schwimmerinnen als solche klar zu erkennen sind, werden sie nicht durch einen klaren Umriß vom Wasser differenziert. Die schnell plantschenden Beine und Arme werden vielfältig gebrochen und mehrfach wiederholt. Dieses bildnerische Verfahren der Auffächerung und Segmentierung dient hier nur der Darstellung eines bestimmten Momentes, doch wird es auch in Carràs späteren Gemälden zum Tragen kommen, wenn er die Prozeßhaftigkeit eines ganzen Handlungsablaufes ausdrücken will. Deswegen ist auf den ersten Blick nicht genau zu sagen, ob nur ein bestimmter Moment dargestellt ist, oder nicht doch die Prozeßhaftigkeit einer ganzen Handlungsabfolge. Die Kunstproduktion Russolos für das Jahr 1911 einzuschätzen, erscheint schwierig. Drei der sechs ausgestellten Gemälde Russolos, ein Porträt von Nietzsche, das Bild L'uome che muore (Sterbender Mann) und die erste Fassung des Bildes La musica, sind heute verschollen.16 Von den verbleibenden dreien ist das Gemälde La chioma eine Variation der ebenfalls ausgestellten Arbeit Il Profumo (Der Duft), das oben schon besprochen wurde. Aufschlußreich für die aktuelle Kunstproduktion Russolos um 1911 ist daher nur die Darstellung Treno in corsa (Fahrender Zug; Abb. 52). Der Betrachter blickt schräg auf die Vorderseite des Zuges, der in rasantem Tempo gleich an ihm vorbeirasen wird. Der Zug ist in drei übereinander gelagerte Abschnitte unterteilt, die sich nach hinten verjüngen, so hoch ist seine Geschwindigkeit. Den ersten beiden Abschnitten sind Kreisformen eingeschrieben, die im unteren die Räder darstellen, im mittleren die runde Vorderseite des Zuges. Im obersten Streifen ist der Schornstein als rechteckige Form visualisiert, der sich, analog zu den Kreisformen der unteren Streifen, wiederholt. Die Wiederholungen sowohl der Kreis- als auch der Rechtecksformen indizieren die Bewegungsphasen des Zuges. Die Längsstreifen des Grundes, zu denen sich der Zug orthogonal verhält, spezifizieren die Bewegungsrichtung des Zuges und verstärken seine Dynamik. Über dem Zug erhebt sich der Himmel in übereinander gestaffelten Bogenformen, die, ausgehend vom Zug, durch aufstrebende Längsstreifen durchbrochen werden. Einige der so entstandenen Segmente sind in orangener Farbigkeit gehalten, in denen in gleichmäßigen Abständen kleine Rechtecksformen zu sehen sind. Vielleicht wird eine Häuserfront angedeutet, an der der Zug vorbeirast. Ihre fragmentarische Darstellung entspricht der ebenso fragmentarischen Wahrnehmung derjenigen, die im Zug sitzen. Somit vereint diese Darstellung zwei verschiedene Wahrnehmungspositionen, diejenige des außenstehenden Betrachters, an dem der Zug vorbeirast, und jene der Passagiere. Auch dieses Bild ist dem Oeuvre Boccionis entlehnt, der sich in einer ganzen Bilderreihe mit dem Gegenstand »fahrender Zug« auseinandersetzte. In der divisionistischen Darstellung Treno che passa (vorbeifahrender Zug; Abb. 53) aus dem Jahr 1909 zum Beispiel durchkreuzt ein Zug kraftvoll die plane Wiesenlandschaft, so als ob die Technik über die Natur gesiegt hätte. Aus der Gegenüberstel-

16 Ebd., S. 73.

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Futuristen auf Europa-Tournee lung beider Darstellungen des fahrenden Zuges wird deutlich, daß Russolo sich entschiedener als in den Jahren zuvor von den ästhetischen Vorgaben Boccionis zu distanzieren vermag. Trotzdem erscheint das Bild Russolos problematisch und nicht überzeugend. Der Versuch, auch die Geschwindigkeit darzustellen, in der sich der Zug fortbewegt, scheitert zunächst daran, daß der Zug flach nach hinten wegzuklappen scheint. Die Flächigkeit des Zuges zu betonen, wirkt in diesem Falle ganz und gar nicht avantgardistisch, sondern eher dilettantisch, da er so seiner Bewegungskraft beraubt wird. Zudem bewegt er sich nach links, entgegengesetzt zur europäischen Leserichtung. Die Darstellung des Zuges in umgekehrter Fahrtrichtung hätte eine Verstärkung der Evokation seiner Geschwindigkeit zur Folge gehabt. Pippo Rizzo, ein Maler des Secondo Futurismo, wird diese ästhetischen Unstimmigkeiten gesehen haben. Daher wirkt sein Gemälde Treno notturno in corsa (Abb. 54) aus dem Jahr 1926 wie eine Korrektur der Darstellung Russolos. Der Zug fungiert im Rahmen der ersten Phase futuristischer Malerei als Symbol für industriellen Fortschritt und eine herbeigesehnte technisierte Realität. Trotzdem könnte man nicht sagen, daß er »spezifisch futuristisch« ist. Denn schon das Werk Rain, Steam and Speed ï The Great Western Railway von Turner aus dem Jahr 1843, auf das an anderer Stelle schon hingewiesen wurde, machte die »Idee von Geschwindigkeit« schon vor dem Futurismus bildwürdig. Doch gab es auch nach Turners Bild und vor dem Futurismus ein weiteres Beispiel, das die »Suggestion von Bewegung« veranschaulicht: in dem Gemälde Neußer Hütte (Abb. 55) von 1860 stellt sich der Düsseldorfer Maler Andreas Achenbach der Herausforderung, die Vorstellung von Leben als Industrie, als eine Idee von Geschwindigkeit und Produktivität nicht anhand eines beweglichen Verkehrsgegenstands darzustellen, sondern anhand einer industriellen Fabrikanlage. »In seinem Gemälde schließt sich zum ersten Mal ein Produktionskomplex so zusammen, daß das Ganze als Ausdruck industrieller Dynamik erscheint«, schreibt Klaus Herding in seiner Abhandlung über ›Industriebild und Moderne‹. »Baukörper und Rauch bilden eine Einheit in der Bewegung. Dies wird noch dadurch verstärkt, daß Achenbach im Umriß des Gebäudes auf einen Stier anspielt (was damals eine geläufige Metapher darstellte î es sei nur an die Vorstellung vom »Mastodonten« erinnert.) Es ist ein Ergebnis der Form, der atmosphärischen Ballung, wenn das Bild die Vision des Marxschen >Gesamtarbeiters< eröffnet. Zwar erfahren wie (...) nichts über die Art der Produktion, aber industrielle Produktivität als solche hat ihre Bildform gefunden.«17

Severini hält Russolo für den unbegabtesten unter den drei Futuristen.18 Von den ausgestellten Gemälden findet in seinen Lebenserinnerungen nur die Darstellung von La musica besondere Erwäh-

17 Herding 1987, S. 424-168, hier S. 457 18 Severini 1965, S. 106.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) nung. »Eine große Leinwand mit sieben verschieden farbigen Masken vor einem blauen Hintergrund (...), Symbole der sieben musikalischen Noten.«19 Eine Vorstellung von der ersten Fassung des Bildes vermag noch die zweite zu vermitteln (Abb. 56). Bis in die Mitte der Darstellung bewegen sich die von Severini beschriebenen Masken, deren Bewegung als Spur, die sie hinterlassen haben, sichtbar ist. Dieses Verfahren ist aus der Fotografie bekannt, wenn bei langer Belichtungszeit die Bewegung des fotografierten Gegenstandes festgehalten ist. Auch in Comics ist diese Art, Bewegung darzustellen, noch heute üblich, wenn gezeigt werden soll, wie schnell eine Figur sich bewegt. Die Masken bewegen sich vor einem blauen Hintergrund, dessen konzentrische Kreise auch hinter ihnen noch sichtbar sind. Ebenso transparent wie die Masken ist auch die blaue Welle, die sich von rechts oben durch das Bild schwingt. Im Zentrum des Dargestellten spielt ein Pianist auf der Tastatur eines Klaviers. Er gleicht einem dunklen, mysteriösen Wesen, denn nur er ist in der Lage, dieses hier visuell dargestellte Tonuniversum zu erzeugen. Dieses besteht aus Rhythmus, wie er durch den Hintergrund indiziert wird, aus situativ erscheinenden Tönen, die wie die Masken schrill aus dem Tongefüge hervorstechen und aus Raumklang, der gleich einer Welle die verschiedenen Segmente einem Tonganzen unterwirft. Für dieses Bild läßt sich bei Boccioni kein Vorbild finden. Motivisch hat sich Russolo also vollständig von den Vorgaben Boccionis entfernt. Es ist das einzige Bild der Initialphase, dessen Motivik nicht der Alltagsrealität extrahiert ist. Zwar lassen sich die drei Futuristen in der Wahl ihrer Sujets von der Alltagsrealität inspirieren, doch sind in meinen Augen alle diese Arbeiten in Ateliers entstanden. Im Vergleich zu den symbolisch aufgeladenen Historiendarstellungen etablierter Kunst ist der Bezug zur Alltagsrealität zwar nicht zu leugnen, doch ist dieser angereichert durch persönliche Haltungen, die politisch sein können, wie bei Carrà, theoretisch-ambitioniert wie bei Boccioni oder durch persönliche Visionen geprägt wie bei Russolo. Diese Haltungen stehen einander nicht beziehungslos gegenüber, gemeinsam sind sie Träger der futuristischen Gruppenästhetik während der Initialphase. Ein zweites Kriterium für Modernität ist die Anwendung des Divisionismus. Bei Carrà, zumindest in dem Bild Uscità dal teatro, ist er in einer lang ausgezogenen Strichführung manifestiert, bei Boccioni in expressiven oder zahlreichen, weitaus feineren Punkten, die sich in Komplementärkontrasten entgegenstehen: »Komplementarismus,« wie er im Gründungsmanifest diese Kombination aus impressionistischer Malweise und expressionistischen Kolorit nennt. Russolo wendet den Divisionismus entweder gar nicht an oder orientiert sich an der Malweise Boccionis.

19 Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee

Die futuristischen Bilder im Spiegel der Kritik Ardengo Sofficis Vergleicht man die Arbeiten der drei Futuristen mit der etablierten modernen Kunst Italiens, die auf konservativen Bildkonzepten basiert, auf der illusionistischen Darstellung symbolisch aufgeladener Sujets in homogenisierendem Pinselduktus, fernab der Alltagsrealität ï dann ist der Anspruch der Futuristen, die Avantgarde Italiens zu vertreten, einleuchtend. Das werden auch die Kunstkritiker gesehen haben, die nur mit dem ästhetischen Geschehen des italienischen Kontextes vertraut sind, und sich in Lobeshymnen über diese Ausstellung äußern. Auch Ardengo Soffici, prominentester Kunstkritiker der florentinischen Zeitschrift La Voce,20 besucht sie in einer ausgesprochen aufgeschlossenen Haltung, wobei er trotz seiner Enttäuschung über die etablierte italienische Kunst hofft, daß sie mit der bsthetik der französischen Indépendants vergleichbar sein könnte: »(...) Ich muß nicht erwähnen, daß mir ein solches Projekt gefallen hätte. Für jemanden wie mich, der die gesamte sogenannte moderne Kunst Italiens als widerwärtiges Produkt der faulsten und abscheulichsten und verblendetsten Dummheit erachtet und glaubt, daß, wenn ein Funken von Schönheit existieren kann und noch existiert, man ihn vielleicht in den abseits stehenden Versuchen der Groben, der Einfachen, der Bedürftigen und der komplett Ignorierten suchen muß. Der jungen Männer, der Anstreicher, der Fischer, (...) die ich kenne: Ich fand die Idee einer solchen Ausstellung durchaus begrüßenswert, und die Tatsache, daß sie in italienischen Köpfen entstanden wäre, so daß wir uns, mir nichts dir nichts, uns plötzlich auf das Niveau des ästhetisch fortgeschrittenen Landes Frankreich begeben, das gerade seit einigen Jahren seine Indépendants verdaut, erfüllt mich mit Bewunderung und Hoffnung. So entschied ich mich, eigens nach Mailand zu gehen, um zu sehen, ob es wirklich ein Unrecht wäre, immer wie komische Käuze über die Schande und den Tod der italienischen Kunst zu stöhnen.«21

20 La Voce ist eine zweimal monatlich erscheinende Zeitschrift, die sich mit allen erdenklichen Themen der europäischen Kultur beschäftigt. Ein Großteil der Artikel behandelt die aktuelle italienische Kultur, wie die Philosophie Croces oder die Politik Giolittis. Neben ihnen finden sich aber auch Artikel über Freud, Debussy und Cézanne. 21 » (…) non ho bisogno di dire se un tale progetto fosse fatto per piacermi. Per chi, come me, considera tutta la cosidetta arte italiana moderna come il prodotto iniquo della più fradicia e turpe e cieca imbecillità, e crede che se una favilla di bellezza può esistere ed esiste ancora, bisogna forse andare a scovarla nei solitari tentative dei rozzi, dei semplici, degli umili, dei perfettamente ignoranti; dei ragazzi, appunto, degli imbianchini; dei pescatori (…), che so io; per me, dico, l’idea di una simile esposizione assumeva un aspetto quasi provvidenziale, e il fatto che fosse nata in teste italiane (…) mettendoci cosi di schianto al livello del paese esteticamente più avanzato del mondo, La Francia, che appena da qualche anno digerisce I suoi Indé-

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) Wie kommt es aber zu der folgenden fatalen Einschätzung der Ausstellung im Allgemeinen und der futuristischen Kunst im Besonderen, obwohl Soffici und die Futuristen doch in ihrem Kampf gegen den Provinzialismus die gleichen Ziele verfolgen? »(...) nichts widert und ekelt mehr an als die vier oder fünf futuristischen Maler, deren dumme Possenspielerei sich in den letzten Sälen breit (…) macht. Oh! Hier handelt es sich nicht mehr um den naiven Blödsinn des alten Schülers oder des jungen Professors, das brave Spießertum der Seele, das ohne Bosheit in den Rahmen gehängt worden ist. Hier sind es dieselben Phänomene, aber mit Masken verhüllt, mit falschem Schmuck verbrämt, die sich laut schreiend Neuigkeiten nennen. Machen wir uns nichts vor! Es sind vielmehr die albernen und häßlichen Prahlereien einiger ziemlich skrupelloser Herrschaften, die die Welt trübe sehen, ohne poetisches Gefühl, mit den Augen des dickhäutigen Schweinehändlers von Amerika, und die glauben machen wollen, die Wirklichkeit blühend und leuchtend zu sehen, und die meinen, wenn sie auf ein Bild, das Akademiepedelle gemalt haben könnten, wie verrückt Farben auftragen oder den Faden-Divisionismus, diesen totgeborenen Irrtum Segantinis, wieder hervorkramen, könnten sie ihrem Spiel vor der tölpelhaften Menge zum Erfolg verhelfen.22

Soffici wirft den Futuristen auf der einen Seite Arglist vor, da sie genau jene akademische Tradition verhehlten, in der sie verharrten, auf der anderen Seite Naivität, weil sie behaupteten, etwas Neues zu bieten, was gar nicht neu sei. Das vermeintlich Neue wollten sie zum einen durch Verwendung greller Farben erzeugen, zum anderen durch die Anwendung des segantinischen Divisionismus, der, obwohl in der nicht-etablierten Kunstszene Italiens als avantgardistisch geltend, ein »totgeborener Irrtum« sei. Soffici wirft den Futuristen vor, nicht wirklich innovativ zu sein, weil er – was er dem Leser allerdings nicht verrät – stillschweigend voraussetzt, daß sie sich dem Kubismus entgegensetzen oder ihn pendants m’empi d’ammirazione e di speranza. Così decisi di passasr quasi apposta da Milano per veder se davvero fosse un’ingiustizia deprecare e gemer sempre come gufi sull’ignominia e la morte dell’arte italiana.« (Soffici 1911, S. 597, Übersetzung LW). 22 »(…) nessuna disgusta e nausea più di quattro o cinque pittori futuristi la cui balorda istrioneria si spampana (…) nelle ultime sale. Uh! Qui non è più la candida bestialità del vecchio scolaro o del giovane professore, il filisteismo prosaic dell’anima sciorinato senza malizie nelle cornice. Qui sono le stesse cose vestite in maschera, dissimulate co’ falsi gioielli e proclamantesi, sbraitando, novità! Ma che nessuno la beva. (…) Sono anzi sciocche e laide smargiassate di poco scrupolosi messeri, I quail vedendo il mondo torbidamente, senza senso di poesia, con gli occhi del più pachidermico maialaio d’America, voglion far credere di verderlo fiorito e fiammeggiante, e credono che lo stiaffar colori da forsennati sur un quadro da bidelli d’accademia, o il ritirare in piazza il filaccicume del divisionismo, questo morte errore segantiniano, possa far riuscire il loro gioco al cospetto delle folle babbee.« (Ebd.; Übersetzung LW).

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Futuristen auf Europa-Tournee überwinden müßten. Soffici wird noch heute als versierter Kritiker des Kubismus geschätzt ï und natürlich setzt er die Futuristen in Relation zur kubistischen Kunst sowie anderen Strömungen in Frankreich, die sich schon längst von der gegenständlichen Darstellung entfernt haben und sich mittlerweile mit ganz anderen Fragen beschäftigen, die den Futuristen aber gänzlich unbekannt sind. Russolo war noch nie im Ausland, Boccioni und Carrà haben sich trotz ihrer Parisaufenthalte nicht systematisch mit der dort ansässigen modernen Kunst auseinandergesetzt. Daher können sie nicht wissen, welche ästhetischen Kriterien eine moderne Kunstrichtung aufweisen muß, um mit den anderen Avantgarden Europas in Wettbewerb zu treten. Aufgrund nicht vorhandener Begründung werden die Futuristen Sofficis Kritik nicht verstanden haben, der umgekehrt auch nicht ihren Wissenshorizont einzuschätzen weiß. Damit ist zu erklären, warum die Kritik ï nicht nur wegen ihrer unflätigen Sprache ï bei den Futuristen auf gänzliches Unverständnis gestoßen ist. Carrà spricht von einem »heftigen Verriß,« der ihn so sehr beleidigte, daß er eine Fahrt der mailänder Künstler nach Florenz anregte, wo sie sich bei der Redaktion von »La Voce« vorstellen sollten.23 Damit spielt er auf die sogenannte »Strafexpedition« nach Florenz an, wohin die mailänder Künstler reisen, um den florentinischen Journalisten eine Abreibung zu verpassen, die am Ende zu einer friedlichen Einigung führte.24 Die mailänder Futuristen müssen einen so überzeugenden Eindruck hinterlassen haben, daß einige der florentiner Journalisten im Herbst 1911 sogar dem Futurismus beitreten. Soffici ist entgegenzuhalten, daß ihm vor lauter Empörung Boccionis Bild Il lutto (Die Trauer; Abb. 57) aus dem Jahr 1909 entgangen zu sein scheint,25 dessen düstere Thematik eben nicht durch einen grellen Farbauftrag verdeckt wird. Gerade der trübe, melancholische Blick, den zu verbergen Soffici den Futuristen vorwirft, wird unverhohlen zum Ausdruck. Grell sind nur die Gesichter, die Hände der Frauen und die Blumensträuße, die das finstere Bildgeschehen einrahmen. Man muß genau hinsehen, um zu bemerken, daß sich die rothaarige Frau mit den ausgestreckten Armen in der Mitte der Darstellung in den Schößen der beiden älteren befindet, so finster ist das Bild. Nur sie scheint Trauer für den Verstorbenen zu empfinden, während die anderen eher Mitleid mit der Trauernden haben und sie trösten wollen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß es nicht fünf verschiedene Frauen sind, sondern nur zwei, die in den verschiedenen Phasen ihrer Trauer oder ihres Mitleids zu sehen sind. Im Hintergrund, mitten in der Finsternis, geben schlangenförmige Linien wie abwärts laufende Tränen atmosphärisch die Stimmung der Trauer wieder. Wahrscheinlich betrachtet Soffici auch diese als reine Anwendung des segantinischen »Faden-Divisionismus«, in Wirklichkeit aber haben sie eine stimmungsbildende, symbolische Funktion. Vielleicht sind die futuristischen Bilder in Un-

23 Vgl. Carrà 2002, S. 92f. 24 Ebd. S. 93f. und Baumgarth 1966, S. 94 f. 25 Zu diesem Bild vgl. Schneede 1994, S. 29-44.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) kenntnis des Kubismus entstanden, aber, das wird Soffici übersehen haben, nicht in Unkenntnis anderer Avantgarden, des Jugendstils oder Symbolismus beispielsweise. Auf den Einfluß von Edvard Munch wurde durch Calvesi und Schneede schon hingewiesen.26 Severini hat zwar ebenso wie Soffici eine sehr auf die französische Kunst zentrierte Sicht, vermag aber im Gegensatz zu diesem die Einflüsse anderer Avantgarden auf die futuristische Kunstproduktion seiner Kollegen zu erkennen, die er allerdings nicht besonders schätzt: »Ich war neugierig, die Werke zu sehen, die sie für unsere erste futuristische Ausstellung vorbereiteten und von denen ich keine Ahnung haben konnte. Doch ich war von ihnen sehr enttäuscht. Nicht wegen ihrer Begabung, die sie reichlich und auf verschiedene Weise besaßen, sondern weil sie alle entlang von Richtungen arbeiteten, die näher am Jugendstil als an Cézanne oder Seurat waren. Von meinen drei Freunden hatte, was die Malerei betrifft, jeder eine eigene Physiognomie. Besonders von Carrà und Boccioni konnte man nicht sagen, daß es ihnen an wahren künstlerischen Fähigkeiten fehlte. Aber keiner der drei war auf dem laufenden der Bewegung moderner Malerei. Es war offensichtlich, und das geht auch aus den im Manifest dargelegten Ideen hervor, daß sie von dem Sujet den Hauptteil der künstlerischen Innovation erwarteten, während man in Paris seit Cézanne von der Malerei verlangte, neu und originell zu sein.«27

Severini besucht die Ausstellung ebenso neugierig wie Soffici und ist nachher gleichermaßen von ihr enttäuscht. Trotzdem fällt seine Beurteilung viel wohlwollender aus als die von Soffici, zumal er als erklärter Futurist seine Kritik so äußern muß, daß sie sich nicht auch gegen ihn selbst richtet. Er gesteht den Bildern Carrás und Boccionis immerhin charakteristische Eigenheiten zu und erkennt in ihnen die kreative Begabung der beiden Künstler. Dabei übersieht er nicht das Kernproblem, daß es seinen italienischen Kollegen mehr um das Was als um das Wie geht; daß sie die als progressiv geltende aktuelle Malerei anderer Länder nicht kennen und deshalb der irrigen Ansicht sind, es sei innovativ, unerwartete Sujets wie eine Schlägerei auf dem Friedhof oder in einer Passage darzu-

26 Ebd., S. 42; Calvesi/Coen 1983, S. 265 27 »Ero molto curioso di vedere le opere che stavano preparando per la nostra futura esposizione, delle quali non potevo avere nessuna idea, ma ne rimasi deluso non per i doni naturali che erano invece in loro abbondanti e vari, ma per la direzione nella quale lavoravano, che era più vicina allo Jugendstil che a Cézanne, Seurat, ecc. I miei tre amici avevano, pittoricamente parlando, ognuno una diversa fisionomia, e, soprattutto Carrà e Boccioni, non si può dire che mancassero di qualità pittoriche serie, ma non erano affatto, nessuno dei tre, al corrente del movimento pittorico moderno. Era evidente, e del resto ciò risulta dalle idee esposte nei manifesti, ch'essi domandavano al ›soggetto‹ la maggiore parte di novità artistica, mentre da Cézanne in poi, a Parigi, si domandava alla pittura di esser nuova e originale.« (Severini 1965, S. 105, Übersetzung LW).

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Futuristen auf Europa-Tournee stellen, ohne gleichzeitig deren Darstellungsform grundlegend zu erneuern. Nachdem Severini in seiner Autobiographie die mangelnde Innovation der Futuristen gegenüber der französischen Kunstszene kritisiert hat, ist es aufschlußreich zu sehen, welche Lösungsvorschläge er in seinen eigenen Werken bietet, die kurz vor und nach seinem Mitwirken an der futuristischen Bewegung entstanden sind:

Die Malerei Gino Severinis Die in dem Bild Campo di grano aus dem Jahr 1903 eingeleitete Hinwendung zum Postimpressionismus gipfelt in Printemps à Montmartre aus dem Jahr 1909 (Abb.58).28 Eine Freitreppe führt in zwei Aufgängen zum Hügel Montmartre. Horizontale Zwischenflächen differenzieren die Treppenläufe in Abschnitte. Die vertikale Mitte der Treppenläufe markieren handhohe Geländer. Rechts und links von den Geländern sind die horizontalen Zwischenflächen mittig mit Bäumen bepflanzt. Jenseits der Treppenläufe schließt sich eine steile, vermutlich nicht begehbare Parkanlage an. Ganz hinten, aus der Ferne, nähert sich eine kleine Männergestalt, die einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut trägt. Der Betrachter blickt auf die Treppe hinab, so als würde er sich persönlich auf einem dieser Zwischenstücke befinden, als würde er persönlich das bunte und lebendige Treiben der Blätter auf den Treppenabsätzen beobachten. Im nächsten Moment aber löst sich die Suggestion räumlicher Tiefe in den zahlreichen Punkten auf, die mosaikartig-dissoziativ eben diese konstituieren. Das Spiel der Blätter inszeniert den Eindruck von Momenthaftigkeit, sie sind die Akteure des Bildgeschehens. Die Vergänglichkeit des Moments bespielt die unvergängliche Bausubstanz der Treppe. Ihrer Unvergänglichkeit wird die momentgebundene Stimmung als eine des Alltags entgegengesetzt. Warum ist auf dieser breit angelegten Treppe so wenig Betrieb? Die Treppe gehört doch zu den gesellschaftlichen »Bühnen« des Menschen. Aber nur die kleine Gestalt mit schwarzem Hut und Mantel ist ganz hinten in der Ferne zu sehen. Die Darstellung enthält zunächst keine malerische Manifestation, die sich als Bedeutungszentrum auswiese, und schon gar keine, die an eine personengebundene Handlung gebunden wäre. Trotzdem gibt es ein Bedeutungszentrum, sogar eines, das mit

28 Dieses Bild ist an keiner Stelle in Severinis Lebenserinnerungen erwähnt. Es ist nach wie vor ein Rätsel, warum dieses Bild zum ersten Mal im Jahr 1950 ausgestellt wird, obwohl ihm die Autoren der Sekundärliteratur eine Schlüsselrolle zuweisen, da es auf der Schwelle zwischen postimpressionistischer und futuristischer Ausrichtung entstanden ist (Vgl. Marianne W. Martin: Futurist Art and Theory 1909-1915, Oxford: Clarendon Press 1968, S. 78; D. Fonti: Gino Severini, S. 95). Severinis Bild ist kein Einzelfall, bei dem Bild Les Demoiselles d'Avignon von Picasso aus dem Jahr 1907 stellt sich ebenso die Frage, warum es Jahrzehnte zurückgehalten wurde (Herding 1992, S. 5f.)

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) menschlichen Handlungen in Verbindung steht. In Verbindung mit dem Titel, Printemps à Montmartre, ist die Treppe als pathetischer Auftakt zu dem bekanntesten Künstlerviertel in Paris zu sehen, dessen Symbolik durch die frühlingshafte Stimmung als eine Stimmung des Aufbruchs verstärkt wird. Für diese Deutung sprechen auch Severinis zahlreichen begeisterten bußerungen zum kreativen Potential am Montmartre:29 Zunächst habe er nicht verstanden, was es bedeute, an diesem historisch wichtigen Ort zu leben. Spürbar sei nur die etwas andere Atmosphäre im Gegensatz zu jener der »grands boulevards« gewesen. Im 19. Jahrhundert wurde diese Gegend schon von jungen Künstlern aufgesucht, die Frieden und Abgeschiedenheit suchten, ein Platz, an dem sie oft mit ihren »grisettes« spazieren gingen. Später wurde realisiert, wie pittoresk dieser Platz war, wie ursprünglich und leuchtend seine Schönheit, durch die sich die Maler in ihrer Sensibilität besonders berührt fühlen mußten. Der Impressionismus schien geradezu in der Luft zu liegen. Der Montmartre war für Severini ein Ort, dessen kreatives Potential er mit jenem der italienischen Renaissance vergleicht, wenn es sich auch auf einer viel kleineren Fläche konzentriert. Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man aus der Sicht Severinis vielleicht sagen: Zu dieser Geburtsstätte der modernen Malerei, des Impressionismus, des Pointillismus, des Fauvismus und des Kubismus führt die Treppe, die auf diesem Bild zu sehen ist. Man kann sich also vorstellen, was es für Severini bedeuten muß, diese Treppe zu malen, nachdem sie schon von so vielen Künstlern, die zu seinen persönlichen Heroen gehören, bestiegen worden ist. Vielleicht ist das kleine Männchen in der Ferne er selbst. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern am Montmartre, deren »lockerer« Kleidungsstil durch zahlreiche Fotografien belegt ist, bevorzugte Severini nämlich einen konservativen Kleidungsstil, schwarze Anzüge, Mäntel und Hüte. Daß dieser Kleidungsstil als äußerer Träger für eine innere Identität fungierte, davon zeugen auch die Selbstporträts, auf denen Severini stets in Anzug und Krawatte, manchmal auch mit Hut zu sehen ist. Worin aber spiegelt sich Severinis Auseinandersetzung mit dem Postimpressionismus, von der er in seiner Autobiographie so häufig spricht? Die Postimpressionisten sind in ihren wohlgeordneten Kompositionen doch davon abgekommen, alltägliche Momenthaftigkeit zu suggerieren? Dies hat auch Severini gesehen, wenn er das malerische Verfahren Seurats und dessen Manifestation auf der Leinwand reflektiert: »Meiner Meinung nach war es Seurat, der am erfolgreichsten eine Balance zwischen Sujet, Komposition und Technik etablierte. Weiterhin basierte seine Methode auf den neuen Ideen über Farbkontraste (Chevreul, Helmholtz, Charles Henry etc.), in so guter Übereinstimmung mit der modernen Welt, die Seurat zu malen wünschte, so daß er einige Werke von großer Bedeutung realisier-

29 Severini widmet diesem Stadtviertel in seinen Lebenserinnerungen sogar ein eigenes Kapitel, dem alle hier angeführten Äußerungen entnommen sind. Vgl. Severini 1965, S. 34-56.

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Futuristen auf Europa-Tournee te.«30 Zum einem besteht nach Severini die Innovation Seurats darin, Sujet, Komposition und Technik als Konstituentien eines Bildes in ein wohl ausgewogenes Verhältnis zu stellen, worin sich die Gleichmäßigkeit seiner Bilder gründet. Zum anderen verschließt er sich als Maler nicht den neuesten rationalistischen Wahrnehmungstheorien und schafft es somit, der modernen Welt zu adäquatem Ausdruck zu verhelfen. Dieses methodisch stringente Vorgehen begründet wahrscheinlich die Ruhe der Darstellungen Seurats, die sie trotz aller Geschäftigkeit der dargestellten Szenen ausstrahlen. Trotz Anwendung von Malregeln auf erkenntnistheoretischer Basis gelinge es Seurat, die Farbwirkung seiner Bilder in eine Farbpoesie münden zu lassen: »Er erreichte eine wahre Farbpoesie durch die Division von Komplementärfarben, eine Methode, die den einfachsten Landschaften einen großen und entschiedenen Ausdruck verlieh. (...) Das berühmte Gemälde, Un Dimanche après ï Midi à L’Ile de la Grande Jatte (Abb. 59), das neuerdings im Chicago Art Institute hängt, ist legitimer Weise unter den großen Meisterwerken platziert.«31 In welchem Verhältnis sind Severinis bußerungen über Seurat zu seinem Gemälde zu sehen? Er assimiliert sich an Seurat durch die Strenge der symmetrischen Komposition, die Einfachheit des Sujets und die Anwendung des Divisionimus, der sich in vielen, einander entgegenstehenden Farben ausdrückt, trotzdem aber keine aggressive Stimmung erzeugt, wie bei Boccioni, sondern eine sehr freundliche. Auf der anderen Seite ist das Bild Severinis als Gegenstück zu jenen Seurats, wie z.B. der Grande Jatte, konzipiert. Geht es in der Grande Jatte darum,32 in einer Szene, die eigentlich agil und lebendig sein sollte, zeitliche Dauer festzuhalten, ist es Severinis Ziel, mehr oder weniger ohne menschlichen Handlungskontext, am Beispiel eines konstanten Gegenstandes, den Eindruck von Momenthaftigkeit zu erzeugen. Würde Severini die bereits manifestierte ästhetische Ausrichtung beibehalten, verhielte sich der Futurismus zu seiner Kunstproduktion wie ein nichtssagendes Etikett. Ist es wirklich so, wie Simonetta Fraquelli und viele andere meinen, daß der Futurismus auf Severini gar keine Wirkung gezeigt habe?33 In diesem Zusammenhang aufschlußreich ist die Analyse des Bildes Boulevard aus

30 »Secondo me, era stato Seurat, prima e meglio degli altri a stabilire un equilibrio tra soggetto, composizione, e tecnica; il mestiere da lui adottato era inoltre basato su nozioni nuove relative ai contrasti di colori (Chevreul, Helmholtz, Charles Henry, ecc.) e cio concordava così bene con il mondo moderno che Seurat voleva esprimere, che realizzo delle opere di importanza capitale.« (Ebd., S. 46, Übersetzung LW). 31 »Egli trovò, con la sua divisione, che dava al piu banale paesaggio una espressione grandiosa, definitiva. (…) Col quadro, anch’esso arcinoto, Un dimanche après-midi a l’île de la Grande Jatte, che è al Museo di Chicago, c’è ampia materia per metterlo vicino ai più grandi maestri.« (Ebd., Übersetzung LW). 32 Zu diesem Bild vgl. Thomas 2004, S. 448-466. 33 Fraquelli 1999, S. 8.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) dem Jahr 1910 (Abb. 60),34 das, entstanden kurz nach seinem Beitritt, als futuristische Version des Bildes Printemps à Montmartre in Erwägung gezogen wird.35 Auf dem breit angelegten, weitläufigen Boulevard flanieren zahlreiche Spaziergänger, einzelne Männer und Frauen, aber auch Pärchen, eng umschlungen oder Händchen haltend. Sie flanieren, um zu flanieren, keiner scheint ein konkretes Ziel zu haben, das zu erreichen er anstrebt. Zwar herrscht ein munteres Treiben auf dem Boulevard, aber keine Hektik. Es ist Winter, die Bäume sind kahl, die Dächer des Gebäudeensembles, in das der Boulevard mündet, mit Schnee bedeckt. Alle sind warm angezogen. Trotz dieser Jahreszeit, die oft als deprimierend empfunden wird, ist das Treiben der Leute keineswegs schleppend oder melancholisch, sondern wirkt ausgesprochen heiter. Die Geschäftigkeit wird an die Peripherie, an den Rand des Bildes gedrängt. Straßen mit Autos verlaufen neben den Baumreihen, die den Boulevard säumen. Jenseits des Boulevards erheben sich Gebirgsformationen, die mit kleinen Wohnhäusern besiedelt sind. Im Gegensatz zum Boulevard als Inbegriff des öffentlichen Lebens strahlen sie Ruhe und Privatheit aus. Die Landschaft, die sich in der Ferne jenseits des Boulevards erhebt, greifen die Dreiecksformationen wieder auf, die den Raum bilden, in dem sich das Treiben auf dem Boulevard abspielt. Es ereignet sich in mosaikartig nebeneinander gesetzten Flächen, die entweder in hellen oder in dunklen Farbwerten stark miteinander kontrastieren. Nach Severini stellen sie Licht und Schatten dar, deren Wechselspiel das Treiben auf dem Boulevard in geometrische Formen zerschneidet.36 Den Fluß des Geschehens vermögen sie sichtbar zu machen: man sieht den Boulevard, wie er sich in der Tiefe verengt, das Gebäudeensemble, in das er mündet, die Flaneure, die auf ihm spazieren. Den Fluß des Sehens aber stören sie: die Silhouetten fast aller Passanten sind unvollständig. Der Fläche, in der sich ein Silhouettenfragment befindet, ist eine andere entgegengesetzt, die nicht die Silhouette fortzusetzen vermag und nichts mehr mit ihr zu tun hat. Ebenso wie der Boulevard in unzählige Flächen facettiert ist, wird auch der Blick des Betrachters auf ihn gebrochen. Da der Blick in dieser Darstellung nicht ruhen kann, wirkt auch die muntere Lebendigkeit auf dem Boulevard ruhelos. Diese Ruhelosigkeit

34 Über die Datierung dieses Bildes besteht keine Klarheit. Martin nimmt an, daß es im Jahr 1910 entstanden ist (Martin 1968, S. 96f.). Diese Datierung wird von Fonti in Frage gestellt, da die flächige, nicht-illusionistische Malweise gegenüber Souvenirs de Voyage stärker ausgeprägt sei und daher später, im Jahr 1911 also, entstanden sein müsse (Fonti 1988, S. 117). Severini aber gibt in seinen Lebenserinnerungen an, dieses Bild bereits im Jahr 1910 Braque gezeigt zu haben (Severini 1965, S. 79). Bildlogisch erscheint mir die Argumentation von Martin plausibler als jene Fontis, da es als futuristische Weiterentwicklung des Bildes Printemps à Montmartre in meinen Augen kurze Zeit später entstanden sein muß. 35 Vgl. Martin 1968, S. 96f. 36 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Severini: Presentazione alle opera esposte alla Sackville Gallery, März 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 110.

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Futuristen auf Europa-Tournee würde eskalieren, wenn ihr die darin enthaltenen geometrischen Dreiecksformationen nicht entgegen ständen. Deren zentrale Anlage und jene des gesamten Bildes verdeutlichen die fragil anmutenden, leicht gegeneinander versetzten Baumstämme in der Bildmitte, die einer Mittelachse gleichen. Die Grenzen zwischen den Dreiecksformationen sind im Mosaikensemble noch sichtbar, an ihrer Stelle fügen sich die ansonsten unregelmäßig gegeneinander gesetzten Mosaikflächen geradlinig aneinander. Severini überführt die noch 1909 manifestierte Farbdivision in eine Division der Form. Auch in dieser veränderten Ausdrucksmodalität vermag er noch momentgebundene Lebendigkeit zu vermitteln: man hat auch bei dem Bild Boulevard den Eindruck, es handele sich um einen bestimmten Tag im Winter, um einen bestimmten Moment, auf den der Blick sich richtet. Und, sobald der Blick sich abgewandt hat, könnte man meinen, das Treiben auf dem Boulvard gehe weiter. Die Unruhe, die beide Darstellungsmodi implizieren, bändigt Severini in symmetrisch geordneten Kompositionen. Im Unterschied zur Formkonstitution bei dem farbdivisionistischen Verfahren, in dem sich die Formen des Sujets in zahlreichen kleinen Punkten konfigurieren und auf der Netzhaut des Betrachters synthetisiert werden, interferieren bei der Formdivision die Formen des Sujets mit den mosaikartigen Formen, die die Leinwand überziehen. Damit überlagern sich zwei verschiedene Formtypen: einer, der das Sujet konstituiert, ein weiterer, der mit dem Sujet nur dann etwas zu tun hat, wenn er zu dessen Formträger wird, sich aber ansonsten autonom zu ihm verhält. Auf der einen Seite ist Severinis Hinwendung zur Formdivision eine Konsequenz der vorhergegangenen postimpressionistischen Orientierung, die sich für viele ihrer Repräsentanten als Sackgasse darstellte. Auf der anderen Seite ist diese Entwicklung, die Form gegenüber der realistischen Darstellung zu autonomisieren, nicht unabhängig vom Kubismus zu sehen, der sich ganz der formtheoretischen Reflexion verschrieben hat. Während die Kubisten (vor allem Picasso und Braque) aber ihr Sujet von jeglichem narrativen Kontext befreien, ihn in der kubisch-facettierten Reduktion abstrahieren, ist bei Severini eher ein permanentes Oszillieren zwischen narrativem Handlungskontext und Autonomisierung der Form auszumachen. Ist Severinis Art der Formdivision die Fortsetzung seiner vorhergegangenen postimpressionistischen Orientierung implizit, beziehen die Kubisten ihren Formenkanon aus der expliziten Abwendung von den Ausdrucksqualitäten der Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dies spiegelt sich auch in der Auswahl der Sujets: Einen Boulevard als typisch impressionistisches Sujet hätten die Kubisten bestimmt nicht dargestellt. Die Auseinandersetzung mit dem Futurismus mobilisiert in Severini offenbar starke Erneuerungsenergien. So überführt er beispielsweise den Darstellungsmodus seiner Malerei von der Farb- in die Formdivision. Diese Entwicklung ist einerseits in der Logik seines bereits manifestiertem Oeuvres begründet, andererseits vollzieht sie sich in Auseinandersetzung mit dem Kubismus. In diesem Punkt ist Severini seinen Kollegen um einen Schritt voraus ï Sofficis Einwand, daß die futuristische Kunst in Unkenntnis des Kubismus entstanden ist, kann Severini nicht betreffen. 80

›Mostra d’arte libera‹ (1911) Da Severini die futuristische Kunstproduktion gar nicht kennt, und von deren »Personal« nur Boccioni und Balla, bieten ihm einzig die Gründungsmanifeste Anhaltspunkte, eine »futuristische« bsthetik zu entwickeln. Wie aber kann Severini die Manifeste interpretiert haben? Warum stellt er nicht wie Russsolo Züge dar oder sonstige industriell gefertigten Dinge, die als Fortschrittssymbole fungieren könnten? Im Gründungsmanifest Marinettis37 steht doch geschrieben, daß ein Rennwagen schöner sei, als die Nike von Samothrake. Dieser Technikverherrlichung verleiht auch das Gründungsmanifest futuristischer Malerei38Nachdruck in der Forderung, Gegenstände der technisierten Welt zum Sujet zu erheben: »Wie unsere Vorfahren Stoff für ihre Kunst aus der religiösen Atmosphäre zogen, (...) so müssen wir uns an den greifbaren Wundern des zeitgenössischen Lebens inspirieren, an den eisernen Netzen der Geschwindigkeit, (...) an den Überseedampfern, den Dreadnoughts...«39 Severini stellt keine Symbole des Fortschritts dar, weil die Technisierung, die in Italien vielleicht angestrebt wird, in Paris schon längst zur Alltagsrealität gehört. Eine Realität, die schon eingetreten ist, muß eben nicht mehr heraufbeschworen werden. Warum stellt Severini nicht wie seine Kollegen Gewalt dar? Warum ist eine aggressive Stimmung in keinem seiner Werke zu bemerken? Warum sind alle seine Bilder so ausgesprochen freundlich und heiter? Aggressivität ist einer der Stimmungsträger des Futurismus, der sich auch in den Manifesten unverhohlen ausdrückt. Im Gründungsmanifest Marinettis steht, daß es »Schönheit nur noch im Kampf« gebe,40 ein Wort, da als Vorlage für den berühmten Schlußsatz in André Bretons Roman ›Nadja‹, »la beauté sera convulsive ou elle ne pas«,41 diente. Die Darstellung von Gewalt bei Boccioni und Carrà ist auch Ausdruck der eigenen aggressiven Haltung, die in Italien zur Verteidigung eines Möglichkeitsraums von ästhetischer Modernität notwendig ist. Am Montmartre aber muß die Möglichkeit von Modernität nicht mehr verteidigt werden, ganz im Gegenteil, sie ist sogar gefragt. Daher muß sich Severini um eine Verteidigung seiner Kunst nicht bemühen. Stattdessen kann er sich mit der Frage beschäftigen, wie er innovativ mit anderen Künstlern in Wettbewerb treten kann. Deswegen sind Bilder, in denen Gewalt dargestellt ist, in Severinis frühem futuristischen Oeuvre nicht zu finden. Und warum widmet sich Severini noch der Darstellung eines Pariser Boulevards als einem Sujet, das eher im Impressionismus gängig gewesen wä37 F. T. Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, in: Baumgarth 1966, S. 23-29. 38 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: Manifesto dei pittori futuristi, ebd., S. 49-52. 39 »Come i nostri antenati trassero materia d’arte dall’atmosfera religiosa (…), così noi dobbiamo ispiraci ai tangibili miracoli della vita contemporanea, alla ferrea rete di velocità avvolge la Terra, ai transatlantici, alle dreadnought (…).« Gambillo/Fiori 1958, S. 63; deutsche Übersetzung in: Baumgarth, 1966, S. 50. 40 F. T. Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, ebd., S. 23-29. 41 Breton 1988, S. 753.

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Futuristen auf Europa-Tournee re? Im Gründungsmanifest futuristischer Malerei heißt es doch, daß die Futuristen »alle schon abgenützten Motive und Themen« radikal ablehnen?42 Vielleicht nahm Severini jene bußerung desselben Manifestes wörtlich, daß »nur die Kunst lebensfähig ist, die ihre eigenen Elemente in der sie umgebenden Umwelt findet.«43 Und die Severini umgebende Umwelt ist Montmartre, sind die Boulevards, die Nachtclubs, die in der Initialphase der futuristischen Kunstproduktion so oft von ihm dargestellt werden. Severinis Kunst der Initialphase ï auch wenn sie mit der Kunstproduktion seiner italienischen Kollegen nichts zu tun hat ï spiegelt seinen Begriff von ästhetischer Innovation, der nur in der Ausdruckmodalität begründet sein kann, nicht aber im Sujet. Da er isoliert von der italienischen Kunstszene in Paris lebt, muß er in dieser Phase ein Konzept entwickeln, das von den künstlerischen Vorgängen in Italien relativ unabhängig ist. Diese Autonomie wird er bis ins Jahr 1914 beibehalten.

Die Malerei der Gemütszustände Noch vor Antritt der Paris-Reise beginnt Boccioni die vielleicht wichtigste Werkreihe seiner initialen Kunstproduktion futuristischer Malerei: die erste Fassung des Triptychons Stati d’animo (Gemütszustände, Abb. 61-63), dessen Exponate die Titel Gli adii, Quelli che vanno und Quelli che restano tragen.44 Der Titel bezeichnet eine Thematik, die für Boccioni schon als jungen Mann interessant war. Sein unveröffentlicher Roman Pene dell’anima wurde bereits erwähnt. Malerisch hatte er sich schon in dem Bild Il Lutto damit befaßt, einen Gemütszustand darzustellen. Auch theoretisch hat er sich zu der Thematik »Gemütszustände« in seinem Vortrag über die »Pittura degli stati d’animo« geäußert, den er am 29. Mai des Jahres 1911 im Circolo Artistico in Rom gehalten hatte.45 Darüber hinaus gibt es zahlreiche Inspirationsquellen, die zur damaligen Zeit auf ihn einwirkten. Dazu zählt im weiteren Sinne die Philosophie Bergsons, der auch den Begriff der »états d’âme« verwendete,46 und die Malerei des französischen Künstlers Charles Cottet (1863-1924), dessen Triptychon Au pays de la mer mit den Untertiteln Ceux qui partent, Le dîner des adieux und Celles qui restent Boccioni zur Titelgebung inspirierte.47 Das Triptychon war seit 1898 in Besitz des Museo Bottancini (heute Museo Civico) in Padua, wo Boccioni im

42 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: Manifesto dei pittori futuristi, in: Baumgarth 1966, S. 49-52. 43 Ebd., S. 63. 44 Andere Autoren vermeiden die Bezeichnung »Triptychon«. Ich verwende sie, da Boccioni schon in seinem vorfuturistischem Oeuvre die sakrale Form des Triptychons verwendet, wie in »veneriamo la madre« von 1907-08. Außerdem ist das Vorbild von Cottet auch schon ein Triptychon. 45 Vgl. Schneede 1994, S. 67; Baumgarth 1966, S. 70-73. 46 Vgl. Schneede 1994, S. 68. 47 Ebd.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) Jahr 1907 bei seiner Mutter wohnte, so daß es sehr wahrscheinlich ist, daß er dieses Triptychon kannte. Der werkübergreifende Titel Stati d’animo indiziert das Kollektivthema aller drei Tafeln, die in ihrem spezifischen Zusammenhang verschiedene Gemütsverfassungen veranschaulichen. Die erste, Gli adii (Abb. 61), leitet das emotive Ereignis ein. Auf der rechten Bildhälfte bewegen sich vor einer von links nach rechts steil aufsteigenden, expressiv gewirbelten Linientextur schwarze, ovale Kreisformen, die durch Tangenten verbunden sind. Diese zweifach wiederholten Formgefüge stellen von oben gesehene Figurenpaare dar, die sich ein letztes Mal in die Arme fallen, bevor sie Abschied voneinander nehmen. Einen Moment später nämlich werden sich ihre Wege trennen, das Figurenpaar spaltet sich in die Einzelfiguren, die links unten und rechts oben zu sehen sind. In der zweiten Fassung dieses Bildes wird ein Zug in drei verschiedenen Positionen zu sehen sein: zunächst, wie er in den Bahnhof einfährt, dann, wie er am Bahnsteig hält, zuletzt, wie er wieder abfährt. Wahrscheinlich will Boccioni damit den äußeren Rahmen der Abschiede deutlicher abstecken, der in beiden Bildern derselbe ist: die Figurenpaare befinden sich an einem Bahnhof. In der ersten Fassung sind sie von dem Dampf eingehüllt, den die Lokomotive am Bahnsteig hinterläßt. Diese ist aber noch nicht wie in der zweiten Fassung zu sehen. Die Figurenpaare trennen sich in zwei Personengruppen: in die Abreisenden und in die Zurückbleibenden. Diesen beiden Personengruppen sind die folgenden Darstellungen gewidmet. Die Abreisenden durchziehen in dem Bild Quelli che vanno (Abb. 62) als drei voneinander isolierte Köpfe oberhalb der horizontalen Mittelachse von links nach rechts das Bild. Sie scheinen fast von der schräg aufsteigenden Linientextur verschluckt zu werden. Der mittlere Kopf ist in expressiver Farbgebung gestaltet. In dem Gesicht sind die Farben Lila und Weiß flächig nebeneinander gestellt. Dieser Kopf wird von zwei weiteren, veristisch dargestellten Köpfen eingeklammert. Die Köpfe ziehen an Telegraphenmasten und kleinen Wohnsiedlungen vorbei, deren Häuser in grüner Farbe schwach hinter der Linienstruktur hervorscheinen. Schneede weist darauf hin, daß in diesem Bild nicht nur der Insasse eines Zuges, sondern auch sein Ausblick aus dem Fenster dargestellt sei.48 Diese Annahme bestätigt eine von Schneede nicht besprochene Studie zu diesem Bild (Abb. 64), auf der links oberhalb der Köpfe die Seitenansicht der Lokomotive eines fahrenden Zuges zu sehen ist. Seine Bewegung durchzieht in mehrfach wiederholten Dreiecksspuren horizontal das Bild. Daß die Linienstruktur ein bildliches bquivalent für den Fahrtwind ist, zeigt eine weitere Studie zu diesem Bild (Abb. 65). Hier verläuft die Linienstruktur nicht wie in der ersten Fassung schräg abfallend, sondern folgt einer horizontalen Tendenz. Sie überzieht zwar die gesamte Bildfläche, aber in weniger dominanter Ausprägung. Statt der Wohnsiedlung ist eine plane, kahle Landschaft zu sehen, in der sich links neben der vertikalen Mittelachse eine hügelartige Formation erhebt. An ihrer lin-

48 Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee ken Seite peitscht der Wind auf und gibt sich formal in weißen Streifen zu erkennen, die stark mit der dunklen Tönung des Hügels kontrastieren. In dem Gemälde bewegen sich bogenartige Linien mit zackiger Kontur dem Fahrtwind entgegen, die vielleicht den Schatten des Zuges oder schlicht Bewegungsformen darstellen. Den Abreisenden steht die Personengruppe der Zurückbleibenden gegenüber, deren Gemütszustand in dem Bild Quelli che restano (Abb. 63) dargestellt ist. Sie bewegen sich entweder einzeln oder in Paaren schleppenden Schrittes durch einen Raum, der von senkrecht verlaufenden Linien in hellgrüner Farbgebung durchzogen ist. Ebenso wie der Raum bestehen auch die Figuren aus Linien, die der Ausrichtung ihrer physischen Bewegung entsprechen und somit der abwärts strebenden Dynamik des Bildgrundes entgegenstehen. Die Pinselstriche des Raumes verdichten sich in ihnen, ebenso die Farbintensität durch die höhere Konzentration schwarzer Linien in ihren Körpern. Da sie durch den Modus ihrer Darstellung Teil des Raumes sind, gibt es für sie keinen Ausweg aus ihm. Ihr Weg durch den Raum muß beschwerlich sein, da sich die senkrechte Linienstruktur der horizontalen Ausrichtung ihrer Bewegung entgegenstellt. Schleppenden Schrittes, in geduckter Haltung bewegen sie sich, ohne Weg und ohne Ziel. In der zweiten Fassung deuten Realitätspartikel, die in die senkrechte Linienstruktur eingefügt sind, den äußeren Rahmen an, in dem sich die Zurückbleibenden befinden. Wahrscheinlich verlassen sie gerade tief betrübt das Bahnhofsgelände. Motivisch gelesen könnte mit den senkrecht verlaufenden Linien die »verregnete Großstadt« als szenischer Rahmen gemeint sein. Severini wird später schreiben, daß Boccioni überzeugt war, »mit diesen drei Bildern, die er die ›Gemütszustände‹ nannte, ein Schlüsselthema gefunden zu haben (...)«49 Severini aber beurteilt die erste Fassung der Gemütszustände weitaus kritischer als Boccioni: »Es war eine extrem literarische Form der Malerei, unsicher ausgeführt, und die Bilder hätten genauso gut Die Flut oder Das Schiffswrack genannt werden können.«50 Severinis Kritik ist nicht von der Hand zu weisen. Würden Studien zu dem Bild Gli adii (Abb. 66) nicht eindeutig belegen, daß Boccioni mit den Ovalformen sich umarmende Figurenpaare meint, könnten sie in der Tat auch mit Booten verwechselt werden, die vom wild sich gebärdenden Wasser weggetragen werden. Auch in Quelli che vanno ist unklar, ob die Linientextur von rechts nach links abfällt und somit den Fahrtwind darstellt, oder ob sie von links nach rechts aufsteigt, also in die gleiche Richtung zieht wie die Köpfe. Dann würde sich nämlich auch ihre Wirkung verändern. Sie würde sich nicht der Dynamik der Abreisenden entgegenstellen, sondern sie begleiten und verstärken. Auch die Bahnhofsszene als äußerer Rahmen ist aus den Darstellungen der ersten Fassung nicht rekonstruierbar. Alle drei Bil49 »Egli credeva di aver trovato un soggetto-chiave con tre quadri che chiamò Stati d'animo (...).« (Severini 1965, S. 105, Übersetzung LW). 50 »Era una pittura eminentemente letteraria, realizzata in modo invert, sì che I quadric avrebbero potuto chiamarsi anche Diluvio universale, oppure Naufragio….« (Ebd., Übersetzung LW).

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) der sind aus sich selbst heraus – ohne einen Blick auf die Studien und die zweite Fassung – also nicht zu erschließen. Um so aussagekräftiger ist das Triptychon für die künstlerische Entwicklung Boccionis und der futuristischen Malerei. Denn in diesem Triptychon entwickelt er die Strategien weiter, die er in dem Bild Il lutto schon angedacht hatte. Auch wenn keines der Bilder Elemente eines futuristischen Stils aufweist, liegt ihnen bereits eine futuristische Intention zugrunde, die sich noch symbolistischexpressionistisch materialisiert. Es ist die Absicht, die Dynamik der Emotionen auszudrücken, die hier schon weitaus deutlicher ausgeprägt ist als noch in dem Bild Il Lutto. Boccioni verstärkt dazu in allen drei Tafeln die psychologisch anmutende Führung der Linien, die neben ihrer motivischen Bedeutung stimmungsbildende Funktion haben. In dem Bild Gli adii bedeutet die gewirbelte Liniengebung die emotive Konfusion, die den Abschied begleitet. Der abfallende Duktus der mittleren Tafel veranschaulicht, wie schwer es den Abreisenden fällt, ihre vertraute Umgebung hinter sich zu lassen. In dem Bild Quelli che restano verstärkt die abwärts strebende Liniengebung die melancholische Verfassung, in der sich die Figuren befinden. Ebenso knüpft Boccioni an Il lutto an, wenn er in jedem der Bilder ein und dieselbe Figur in verschiedenen Phasen ihrer Gemütsbewegung darstellt. In jedem der drei Gemälde sind gleichzeitig zeitlich aufeinanderfolgende Positionen ein und desselben Subjektes dargestellt, an dessen veränderter äußerer Gestalt die innere Prozessualität seiner Psychologie offenbar wird. Auch wenn sich die mehrfache Wiederholung derselben Figur in allen Bildern auf ihre Gemütsbewegung bezieht, sehen wir uns am Ende einer Phasendarstellung gegenübergestellt, so wie sie im Bereich der Fotografie von Eadweard Muybridge entwickelt wurde. Müßig zu spekulieren, ob Boccioni das Konzept der Bewegungsfotografie Muybridges und der Chronofotografie Mareys bereits bewußt rezipiert hat. Bekannt war ihm aber in jedem Fall die futuristische Fotografie Bragaglias, die auf der Basis der analytischen Bewegungsfotografie Muybridges zu einer Autonomisierung der fotografischen Mittel führte. Jedoch mutet die Übernahme dieser fotografischen Experimente nicht wie in den Arbeiten einiger anderer Maler ingenieurhaft-schematisch an. Die Übertragung dieser fotografischen Bildstrukturen war für Boccioni kein Selbstzweck, sondern diente als Mittel, Gemütsbewegungen abzubilden. Dieses bereits futuristische Vorhaben Boccionis, die Dynamik der Emotionen abzubilden, wird später mit einem futuristischen Stil kombiniert und in dieser Kombination zu den ästhetischen Kernpostionen futuristischer Malerei gehören. Dieser künstlerische Selbstentwurf Bocccionis wird auch den Blick prägen, mit dem er nach Paris fährt und die Kunst dort besichtigt.

Die Reise nach Paris im November 1911 »An einem Septembermorgen«, schreibt Carrà in seiner Autobiographie, »fuhren also Boccioni und ich in Richtung Paris ab, und als wir dort angekommen waren, begaben wir uns sofort zu Severini in der Impasse Guelma, welcher sehr

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Futuristen auf Europa-Tournee erfreut war, uns zu sehen, und er erwies uns jede Aufmerksamkeit, um uns in unseren Untersuchungen zu unterstützen. In jenen Tagen wurde der Salon d’Automne eröffnet und die Kubisten stellten sich zum ersten Mal in einem Saal vor. Dort waren Léger, Gleizes, Le Fauconnier, Metzinger zu sehen: es fehlten Picasso und Braque, die zweifelsohne das interessanteste Duett bildeten. Von diesen sahen wir trotzdem Werke bei Kahnweiler, der seit einiger Zeit ihr Händler war.«51

Bei ihrem Paris-Aufenthalt begegnen die futuristischen Maler den Kubisten, deren Gruppierung gespalten disponiert ist:52 Auf der einen Seite stehen die ›Galeriekubisten‹, Picasso und Braque, die am Montmartre wohnen und an den Galeristen Daniel Henry Kahnweiler vertraglich gebunden sind. Daher sind ihre Arbeiten nur in den Galerieausstellungen bei Kahnweiler und dem Kunsthändler Ambroise Vollard sowie in verschiedenen Ausstellungen im Ausland zu sehen. Conditio sine qua non ihres Vertrags ist, daß sie sich nicht an den Ausstellungen der Pariser Salons beteiligen, also dem Salon des Indépendants im Frühjahr und dem Salon d’Automne im Herbst jeden Jahres. Da sich die Werbung der Galerie Kahnweiler nur auf Mundpropaganda stützt, sind Picasso und Braque in Paris um 1911 weitaus unbekannter als die ›Salonkubisten‹, deren Vertreter am Montparnasse wohnen und ihre Arbeiten in den Pariser Salons ausstellen.53 Picasso, der sich selbst eher als Anreger des Kubismus, nicht als sein Führer versteht,54 bereitet es nach Ansicht von Severini Unbehagen zu sehen, wie sich jenseits seiner Kontrolle eine Schule ausbildet, die zu evozieren er niemals vorhatte55 und die sich im Jahr 1911 als breit angelegte Bewegung ausprägt.56 Die Ausstellung kubistischer Kunst im Salon des Indépendants im Jahr 1911 mit den Malern Henri le Fauconnier, Albert Gleizes, Fernand Léger und Jean Metzinger gilt heute als die erste Gruppenmanifestation der Salonkubisten,57 die Albert Gleizes später Vertreter des »orthodoxen Kubismus« nennen wird.58 Severini beschreibt diese Gruppierung der Kubisten als »disziplinierten

51 »Un mattino di settembre partimmo dunque Boccioni ed io alla volta di Parigi ed ivi giunti ci recammo ubito da Severini in Impasse guelma, il quale fu molto lieto di vederci e dimostrò ogni premura per favorirci nelle nostre indagini.In quei giorni s’era inaugurato il Salon d’Automne e i cubisti si presentavano per la prima volta con una sala. Vi erano Léger, Gleizes, Le Fauconnier, Metzinger: mancavano Picasso e Braque che formavano senza dubbio il duetto più interessante. Opere di questi pittori vedemmo tuttavia da Kahnweiler, che era da qualche tempo il loro mercante.« (Carrà 2002, S. 94, Übersetzung LW). 52 Vgl. Ganteführer-Trier 2004, S. 13. 53 Ebd., S. 14-16. 54 Vgl. Salmon 1966, S. 74-75, hier: S. 75. 55 Vgl. Severini 1965, S. 77. 56 Ebd., S. 82. 57 Vgl. Ganteführer-Trier 2004, S. 13; Fry 1966, S. 12-42, hier: S.30. 58 Gleizes 1966, S. 183-187, hier: S. 185.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) Trupp«,59 dem er aufgrund seiner Abneigung gegen die dort vorherrschende dogmatische Verfassung und gegen die von ihnen benutzten ästhetischen Formeln und Klischees mit kritischer Distanz gegenübersteht.60 Die für die Salonkubisten typische Haltung, mit der die futuristischen Künstler in Paris konfrontiert werden, vermittelt am besten eine Rezension des Kunstkritikers Roger Allard: »Daß die Malerei – unter allen Künsten – gegenwärtig auf der gedachten Entwicklungslinie den fortgeschrittensten Punkt erreicht hat, dürfte für sorgfältige und unparteiische Beobachter keinem Zweifel unterliegen. (...) Der Einfluß auf diese Künstler (...) ist offenbar. (...). Cézanne hat eine gewisse Anzahl bildhafter Wirklichkeiten wiedergefunden, wiederentdeckt, oder besser: eine einzige Wirklichkeit mit vielfachen Gesichtern ... Die Künstler ... haben es, im Gegensatz zu so vielen anderen, ... verstanden, am Werke Cézannes zu lernen und sich von ihm ermutigen lassen. (...) Das Streben dieser Künstler ist darauf gerichtet, sich allein mit den Mitteln der Malerei auszudrücken. Zwischen ihrer Sensibilität und der der Betrachter wollen sie keine anderen als nur bildnerische Mittel gelten lassen (...). Alle Tendenzen, die ich sehr summarisch angedeutet habe, bezeugen im ganzen genommen einen einhelligen Willen: Bilder zu malen; darunter müssen komponierte, konstruierte, geordnete Werke verstanden werden und nicht mehr Aufzeichnungen und flüchtige Skizzen, wo der Bluff einer unechten Spontaneität das zugrundeliegende Nichts bemäntelt.«61

So schätzt der Kunstkritiker Roger Allard die ästhetische Innovation kubistischer Künstler ein. Er sieht die kubistische Kunst als die avancierteste aller Zeiten an, da sie radikaler als alle vorhergegangenen Kunstrichtungen mit den bildbestimmenden Prinzipien bricht, die seit der Renaissance vorherrschend sind. Ausgehend von der Kunst Cézannes der 1880er Jahre ist vielleicht der bedeutendste Aspekt kubistischer Innovation die neuartige Behandlung räumlicher Verhältnisse, die jenseits eines zentralperspektivisch organisierten Illusionismus liegen. In einer insgesamt zurückgenommenen Farbpalette fügt sich dieser neuen Raumorganisation auch die Behandlung von Licht oder Hell-Dunkel-Kontrasten, die zuvor noch im Dienste der illusionistischen Darstellung stand. Seitdem die Fotografie die Malerei von ihrer Abbildfunktion befreit hat, sind die kubistischen Künstler die ersten, die sich nicht wie die Impressionisten in einem interaktiven Verhältnis zur Fotografie sehen, sondern die Flucht nach vorn antreten und sich auf die Ausdrucksmöglichkeiten ihres eigenen Mediums konzentrieren. Wenn es nun nach Allard ein Spezifikum des Kubismus ist, Bilder zu malen, spricht er eben dieses den vorhergegangenen Kunstrichtungen ab. Haben denn die Impressionisten keine Bilder gemalt? Nicht aus der Sicht Allards. Was er nämlich auch in den hier nicht zitierten Passagen seines Artikels verschweigt, ist die kontrapunktische Abgrenzung seines Bildbegriffs gegen den Begriff des »Abbildes«. Wie Allard den 59 Severini 1965, S. 77. 60 Ebd. 61 Allard 1966, S. 69f.

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Futuristen auf Europa-Tournee Begriff des Abbildes definiert hätte, darüber läßt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich als künstlerische Darstellung im Modus der imitativen Repräsentation, der die visuelle Wahrnehmung als Vorbild dient, deren Elemente durch Alltagssprache erfaßbar sind und deren Gegenstandsebene mit einer Frage »Was ist denn dargestellt?« begriffen werden kann. Demnach beginnt eine bildliche Darstellung im Modus der Präsentation – zu der die kubistische Kunst nach Allard zählt ï dort, wo Sprache versagt. Hier ordnet sich die Frage nach dem Sujet, die den Futuristen zu dieser Zeit noch so wichtig ist, der Frage nach dem Darstellungsmodus unter. Die Futuristen, deren Produktion noch in den zentralperspektivisch organisierten Schemata der illusionistischen Darstellung haftet, die noch bevorzugt postimpressionistische Maltechniken verwenden, deren Werken Allard vielleicht sogar unterstellt hätte, daß der »Bluff einer unechten Spontaneität das zugrundeliegende Nichts bemäntelt,« sehen sich also dieser avancierten Kunstrichtung gegenübergestellt, deren Exponate sie auf dem Herbstsalon des Jahres 9 besichtigen, nachdem sie die Künstler des »orthodoxen Kubismus« bereits in ihren Ateliers am Montparnasse besucht haben. Vielleicht das interessanteste Gemälde, das sie dort zu sehen bekommen,62 ist das Bild Essais pour trois portraits (Abb.67) von Fernand Léger. Ihm gesteht Severini immerhin zu, ästhetisch nicht gänzlich von dem »disziplinierten Trupp« absorbiert worden zu sein, da er im Gegensatz zu den anderen nicht die klassischen Farbmixturen verwendete, die an Akademien üblich waren und bereits von den Impressionisten abgelehnt worden sind.63 Da die futuristische Kunst der Initialphase eine Kunst des Sujets ist, ist dieses Bild Légers für die Futuristen nicht wegen seiner Ausdrucksformen interessant, die zylindrische Formgebung der Bilddetails etwa (wofür er von dem Kunstkritiker Louis Vauxcelles die Bezeichnung ›Tubist‹ erhält64) oder das Spannungsverhältnis, in das diese zylindrisch gestalteten Bilddetails mit amorphen Formelementen treten. Interessant ist dieses Bild für die Futuristen vielmehr wegen der Frage, die unter den Vertretern der hohen Kunstkritik des Kubismus als verpönt gilt ï es ist die Frage nach dem Sujet: Porträtiert ist dreimal derselbe Mann, jedes seiner Gesichter ist von einer anderen Mimik gezeichnet. Zum einem sind es insgesamt drei von Léger erinnerte Eindrücke dieses Mannes, die in ihrer Verschränkung eine umfassende Vorstellung seiner Persönlichkeit vermitteln. Zum anderen offenbart sich eben diese als Manifestation von Mimiken, die auf seinen Seelenzustand verweisen, der sich nur im zeitlichen Kontinuum entfalten kann. Beginnt man das Bild von unten zu lesen, sind die Porträts im Uhrzeigersinn positioniert, so daß die Komposition den zeitlichen Aspekt integriert. Es sieht so 62 Eine Aufzählung der kubistischen Arbeiten, die in diesem Salon ausgestellt sind, bei Gleizes 1966, S. 183-187. 63 Vgl. Severini 1965, S. 82. 64 Fry 1966, S. 12-42, hier: S. 23; dort Anmerkung 13: Louis Vauxcelles in »Gil Blas«, 30. September 1911.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) aus, als ob Léger die Gemütsbewegung dieses Mannes habe abbilden wollen. Und gerade mit diesem Thema hatte sich Boccioni schon vor seiner Paris-Reise beschäftigt, wie an dem Bild Il lutto und den Stati d’animo (II) gezeigt wurde. Die Bilder der übrigen Salonkubisten dürften für die Futuristen nicht so interessant gewesen sein, da sie nichts mit der Darstellung von Bewegung oder Zeit zu tun haben. Metzinger und Le Fauconnier zeigen jeweils eine Landschaft, ein Sujet, das fernab jeder futuristischen Intentionalität liegt.65 Gleizes zeigt das Bild La chasse, das in den kreischend grellen Fraben mehr eine Reminiszenz an seine fauvistische Phase zu sein scheint als ein kubistisches Bild. Über Werke wie Le goûter (Abb.68) von Metzinger schreibt Severini, daß sie zwar weithin anerkannt gewesen seien, er selbst ihren malerischen Wert erst Jahrzehnte später immerhin erkannt habe, und trotzdem in aller Ehrlichkeit zugeben müsse, daß er sich stets an »Museumsfarben« erinnert fühlte, was ihn daran hindere, Bilder wie dieses voll zu schätzen.66 Die Gesamtschau der ausgestellten Arbeiten gibt bereits im Jahr 9 ein insgesamt so heterogenes Bild von den Salonkubisten, daß es verständlich erscheint, wenn ihre Ausstellung La Section d’Or im Folgejahr von dem Kritiker Maurice Raynal so bewertet wird: »Bis zum Jahre 1910 hatten P. Picasso, J. Metzinger und G. Braque (...) den Kubismus ins Leben gerufen. Da seit dieser Zeit die Zahl der Künstler, die ihnen folgten (...), so beträchtlich zugenommen hat, ... scheint es heute recht schwierig, sie allein unter einem treffenden Etikett zusammenzufassen. Der Unterschied zwischen Männern wie Fernand Léger und Marcel Duchamp, zwischen Picabia und La Fresnaye, zwischen A. Gleizes und Juan Gris bewirkt, daß der Begriff ›Kubisten‹ von Tag zu Tag unschärfer wird, wenn er überhaupt jemals klar definiert war.«67

Zwar wurde der Kubismus nicht im Jahr 90, sondern bereits im Jahr 907 ins Leben gerufen, nicht von Metzinger, sondern von Picasso und Braque. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Bilder der Salonkubisten, über die Raynal sich hier äußert, ein Potpourri unterschiedlicher Auffassungen dessen sind, was kubistische Kunst sein soll, wobei der Spagat zwischen verschiedenen

65 In dem Kapitel »Gegen die Landschaft und die alte Ästhetik« schreibt Boccioni: »Wir Futuristen hassen das ländliche Idyll, den Frieden des Waldes, das Murmeln des Bächleins...wie die anderen es ausdrücken. Wir bevorzugen den von seiner Leidenschaft oder genialem Wahnsinn verstörten Menschen, die großen Mietskasernen, die metallischen Geräusche und das Gebrüll der Massen.« (Boccioni 2002, S. 22-31, hier: S. 23.) Diese Aussage bezieht sich nicht auf die impressionistische Landschaft, die verehrt werden müsse, wahrscheinlich aber auf die kubistische, da sie als »Ausnahme« nicht wie die impressionistische explizit genannt wird. 66 Das Bild Le goûter wird aus welchen Gründen auch immer bei Gleizes nicht erwähnt. Vgl. Severini 1965, S. 82. 67 Raynal 1966, S. 104-107, hier: S. 104f.

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Futuristen auf Europa-Tournee Ausdrucksmodalitäten so groß ist, daß das Etikett »Kubismus« bereits im Jahr 1911 schon nicht mehr ganz plausibel erscheint. Viel interessanter als die Bilder der Anhänger des »orthodoxen Kubismus« dürften die Gespräche mit ihnen gewesen sein. Denn auch die Salonkubisten machen sich ihre Gedanken darüber, wie Bewegung und Zeit in kubistischen Darstellungen ausgedrückt werden könnten – ein Thema, das auch für die Futuristen interessant gewesen sein muß. So schreibt der Maler Jean Metzinger in dem Zeitungsartikel »Kubismus und Tradition« im Jahr 1911 : »Sie (die Kubisten) haben sich erlaubt, um das Objekt herumzugehen, um von ihm – unter Kontrolle des Verstandes – eine konkrete Darstellung, bestehend aus mehreren aufeinanderfolgenden Ansichten, zu geben. Das Bild nahm den Raum in Besitz, und so herrscht es auch in der Zeit.«68 Die kubistischen Bilder integrieren also die Bewegung des Künstlers. »Um das Objekt herumzugehen,« ist eher metaphorisch zu sehen, stellvertretend für die Intention, eine allumfassende Ansicht eines Gegenstandes zu geben, die auf persönlichen Erfahrungen basiert. Diese müssen keineswegs nur visuell disponiert sein, es kann sich auch um haptische oder nasale Erfahrungen handeln. Betrachtet man Werke wie Le goûter, so stellt man fest, daß die Ansichten keineswegs als aufeinanderfolgende wiedergegeben sind, etwa als bildliche Entsprechung zur fotografischen Phasendarstellung von Eadweard Muybridge. Viel eher wirkt ihre Verschränkung assoziativ resümiert. Die im Bild integrierte Bewegung des Künstlers, aus der die Verschränkung mannigfaltiger Ansichten des Bildgegenstandes resultiert, führt am Ende zu seiner allumfassenden Wiedergabe. Diese steht der flüchtigen Wahrnehmung in der außerbildlichen Wirklichkeit entgegen, in der nur einseitige Eindrücke gewonnen werden. Die allumfassende Darstellung in den kubistischen Bildern zeigt die Bildgegenstände so, wie sie in der außerbildlichen Wirklichkeit niemals erfahren werden können. So führt die Methode der Kubisten nicht zur Darstellung von Bewegung, Fluktuation und Dynamik, was einer futuristischen Intention entsprechen würde, sondern zur Darstellung von Dauer. Apollinaire, der in beiden Kreisen der Kubisten verkehrt, bestätigt diese kubistische Intention indirekt, wenn er sagt, daß die kubistischen Maler intuitiv veranlaßt wurden, sich um die neuen Maße der Ausdehnung zu kümmern, die infolge des Aufkommens der nicht-euklidischen Geometrie möglich wurden, und die man in der »Sprache der modernen Ateliers« abgekürzt mit dem Begriff ›vierte Dimension‹ zu bezeichnen pflegte: »So wie sie sich dem Geiste darstellt, vom Gesichtspunkt der bildenden Künste aus, wäre die vierte Dimension aus den drei bekannten Maßen hervorgegangen: sie verkörpert die Unendlichkeit des Raumes, die in einem bestimmten Augenblick nach allen Richtungen hin Ewigkeit erlangt. Sie ist der Raum selber, die Dimension des Unendlichen.«69 Apollinaire geht

68 Metzinger 1966, S. 73-74, hier: S. 74. 69 Apollinaire 1966, S. 123. Zwar ist das Buch erst 1913 erschienen. Jedoch stammt die zitierte Äußerung aus Kapitel III, das als Vortrag konzipiert war, den Apollinaire im November 1911 gehalten hat. Somit kann man sagen,

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) nicht so weit, die vierte Dimension mit »Zeit« gleichzusetzen, sondern verharrt in Schemata, die in der Geometrie gültig sind. So wie jede Dimension aus der nächstniedrigeren hervorgegangen ist, leitet sich auch der vierdimensionale Raum mathematisch aus dem dreidimensionalen ab, indem jeder Punkt, der sich in ihm befindet, durch eine senkrecht auf ihm stehende Gerade ersetzt wird. Diese vierte Dimension, mit der sich nach Apollinaire die kubistischen Künstler beschäftigen, strebt nach Ewigkeit, oder wenn man so will, nach Dauer, und eben dieses Streben ist auch den kubistischen Werken immanent. Doch zumindest die Galeriekubisten werden diese von Apollinaire unterstellte Werkintention ablehnen. Picasso wird an Kahnweiler schreiben, nachdem er Apollinaires Buch über den Kubismus erhalten und gelesen hat, daß er »von diesem Geschwätz wirklich deprimiert« sei. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, daß gerade ihre Werke um 1911 in der zurückgenommenen Palette ihrer Farbgebung und ihrem homogenen Formenkanon eine enorme Strenge, Hermetik und auch gewisse Statik ausstrahlen, so daß die Idee, diese Bilder würden die Dauer eines Gegenstandes ausdrücken, plausibel erscheint. In dieser Intention, Dauer bildlich zu thematisieren, ist der Kubismus eine Kunst, der sich die Futuristen nach ihrer Rückkehr nach Italien diametral entgegensetzen werden. Apollinaire steht der futuristischen Kunst, die ihm vor allem »sentimental« und »albern« erscheint, mit Skepsis gegenüber. Zwar sind ihm keine Werke oder Reproduktionen von ihnen bekannt, doch hat ihm Boccioni von der Konzeption der Stati d’animo (I) berichtet, wie Apollinaire in einer Zeitschrift Ende 1911 vermerkt: »Ich habe zwei futuristische Maler kennengelernt, Monsieur Boccioni und Monsieur Severini.... Ich habe bis jetzt noch keine futuristischen Gemälde gesehen, aber wenn ich richtig verstanden habe, was die neuen italienischen Maler mit ihren Experimenten bezwecken, versuchen sie vor allem, Gefühle, ja Gemütszustände auszudrücken (dieser Ausdruck stammt von Monsieur Boccioni selbst). Ferner wollen diese jungen Männer von den natürlichen Formen loskommen, und sie halten sich allen Ernstes für die Erfinder ihrer Kunst. ›So‹, erzählte mir Monsieur Boccioni, ›habe ich zwei Bilder gemalt, von denen das eine die Abreise, das andere die Ankunft schildert. Die Szenerie ist ein Bahnhof. Um den Unterschied der Gemütszustände hervorzuheben, habe ich in dem Ankunftsbild keinem Strich aus dem anderen wiederholt.«70 daß das Thema »vierte Dimension« zu den Ideen gehörte, die in der Zeit kursierten, als die Futuristen in Paris waren. 70 »J’ai rencontré deux peintres futuristes: MM Boccioni et Severini. (...) Je n’ai pas encore vu de tableaux futuristes, mais si j’ai bien compris le sens des recherches auxquelles s’attachent les nouveaux peintres italiens, ils se préoccupent avant tout d’exprimer des sentiments, presque des états d’âme (c’est expression employée par M. Boccioni lui-même) et de les exprimer de la façon la plus forte possible. Ces jeunes gens ont encore le desir de s’éloigner des formes naturelles et veulent etre les inventeurs de leur art. ›Ainsi, m’a dit M. Boccioni, j’ai peint deux tableaux, dont l’unexprime le départ et l’autre : l’arrivée. Cela se passe dans une gare. Eh

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Futuristen auf Europa-Tournee Von Boccioni sind keine bußerungen über diese Begegnung erhalten, so daß der leicht herablassende Bericht Apollinaires nicht verifiziert werden kann. Es läßt sich also nicht klären, ob Boccioni wirklich so naiv war, zu erzählen, daß er in jedem der Bilder keinen Strich aus den anderen wiederholt habe. Allerdings scheint Apollinaire nicht richtig zugehört zu haben, da die Stati d’animo (I) nicht aus zwei, sondern aus drei Bildern bestehen. Der zynische Bericht ist für die Ausstellung futuristischer Kunst nicht gerade vorteilhaft. Apollinaire ist ein glühender Verfechter des Kubismus, an dessen Vorrangstellung im Wettbewerb um ästhetische Innovation er persönlich interessiert ist. So erklärt sich seine insgesamt voreingenommene Haltung gegen alle Kunstrichtungen, die für den Kubismus eine Bedrohung darstellen,71 also auch gegen den Futurismus. An dieser Haltung Apolliniares wird sich auch im Folgejahr nichts ändern, wenn er die zweite, weitaus stärker elaborierte Fassung der Stati d’animo (II) sehen wird, wovon einige seiner Rezensionen zeugen. Wie Carrà berichtet, haben die Futuristen die Werke von Picasso und Braque bei Kahnweiler besichtigt. Außerdem schreibt Severini, daß er die Futuristen in das Atelier von Picasso geführt habe. Wahrscheinlich besuchen sie auch Braque, dessen Atelier sich auf dem Impasse Guelma befindet, auf der gleichen Straße, wo auch Severini ein Atelier bezieht. Welcher Kunst sehen sich die Futuristen gegenübergestellt? Im Jahr 1910 gebraucht Allard zur Beschreibung kubistischer Arbeiten zum ersten Mal das Wort »analytisch«.72 Es ist davon auszugehen, daß spätestens in diesem Jahr, wenn nicht schon im Jahr zuvor, die frühkubistische Phase Picassos endete. In dieser wurde im Rahmen von imitativen Darstellungsmodi ein kubistisches Formenvokabular erprobt, das sich seit 1910 über die gesamte Leinwand ausweitet und zur Bildstruktur wird. Die Bezeichnung »synthetischer Kubismus« kommt erst im Jahr 1913 auf,73 und im Jahr zuvor sind einige Bilder zu finden, in denen dieser »synthetische Kubismus« schon leise anklingt. Also wird sich Picasso in der Hochphase des analytischen Kubismus befunden haben, als die Futuristen ihn Ende 1911 besuchen. Picasso, der sich erst 1923 in einem Interview öffentlich über den Kubismus äußern wird,74 redet im Gegensatz zu den Salonkubisten nicht gern ausschweifend über seine Kunst. Severini beruft sich auf André Salmon, wenn er später schreibt, daß Picasso diejenigen, die ihn zum Kubismus befragten, zu Braque oder den Salonkubisten schickte, über die Severini ihn mit Ironie reden hörte.75 Wahrscheinlich hat Picasso die Futuristen mit der visuellen Erfah-

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bien! Pour marquer la différence des sentiments, je n’ai pas mis, dans mon tableau de l’arrivée une seule ligne qui soit dans le tableau du départ.« (Apollinaire 1911 [Reprint 1976], S. 436f.; deutsche Übersetzung in: Nash 1975, S. 38). Dazu zählt auch der Fauvismus. Allard 1966, S. 68. Lacoste 1966, S. 129. Picasso 1966, S. 175-179. Vgl. Severini 1965, S. 77.

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) rung seiner Arbeiten allein gelassen und nicht zwischen ihnen und seinen Werken vermittelt. Bei Bildern wie Ma Jolie (Abb.69) werden sie verstanden haben, daß sie mit der Frage nach dem Sujet nicht zu begreifen sind. Der einzige Verweis auf den gegenständlich-thematischen Rahmen ist der am unteren Bildrand eingefügte Schriftzug »Ma Jolie«, und der Violinschlüssel, der rechts über ihm zu sehen ist. Wer ist denn nun Picassos Hübsche? Picassos Hübsche ist eine filigran anmutende Architektur, bestehend aus schwarzen Linien, die sich zum oberen Bildrand hin verjüngt. Die vorherrschende senkrechte Ausrichtung der Linien, ihre parallele Rhythmik, wird durch einige schräg gesetzte Linien und Rundformen durchbrochen. Die Linien grenzen zahlreiche Flächen ein, von denen einige durch starke Helldunkel-Kontraste modelliert sind, so daß die Flächen interessant schimmernden Facetten gleichen, die sich gegenseitig durchdringen oder überlagern. Die Helldunkel-Modulation vieler Flächen vollzieht sich von links nach rechts, somit nehmen sie die das Bild übergreifende HelldunkelModulation auf, die zum rechten Bildrand immer heller wird. Mit den harten schwarzen Linien kontrastiert die weiche Schraffur, die die nach außen sich öffnende Linienstruktur an den Grund bindet. Die Farbgebung wird von Ockertönen verschiedener Abstufungen dominiert, die nach rechts bis in Beige aufgehellt werden. Ohne den Schriftzug und ohne den Violinschlüssel wäre der Wirklichkeitsbezug aus der Komposition selbst nicht ersichtlich. Ob die Futuristen wissen, daß »ma Jolie« den Refrain eines damals bekannten Songs anklingen läßt: »O Manon ma jolie!/Mon coeur te dit bonjour«? Wahrscheinlich wußten sie auch nicht, daß sich Picasso in Eva Gouel verliebt hatte, die er immer »ma jolie« nannte. Der Schriftzug impliziert eine weitere Bedeutungskomponente, und diese werden die Futuristen wahrscheinlich verstanden haben: In einem konservativen ästhetischem Verständnis wären die Erwartungen, die sich an ein Bild mit dem Titel »Meine Hübsche« binden, an ganz andere Ausdrucksformen gebunden. Man würde eben eine Darstellung des konventionell Süßen und Lieblichen erwarten. Gerade diesen Erwartungen trotzt Picasso in seinem Bild und setzt ihnen mit einem Hauch von Ironie seine filigrane Linienarchitektur entgegen, die aus konservativer Sicht alles andere als »hübsch« ist. Ma Jolie ist eines der ersten Arbeiten Picassos, in dem Schriftzüge zum Einsatz kommen. Zuvor hatte er sich so stark der Abstraktion genähert, daß der Wirklichkeitsbezug seiner Bilder oft nicht verstanden wurde und die Werke als rein abstrakte Formenspiele begriffen wurden76 ï eine Ausprägung seiner Malerei, die »hermetischer Kubismus« genannt wurde. Durch eine Rückkehr zu einer gegenständlichen Darstellung wäre für ihn dieses Problem nicht zu lösen gewesen, da diese Rückkehr eben auch ein Rückschritt gewesen wäre. Deswegen fügte er ab 1911 Buchstaben und gegenständliche Partikel in seine Bilder ein, wie den Violinschlüssel oder den

76 Zu der Gefahr, einem Punkt völliger Abstraktion zuzusteuern vgl. Fry 1966, S. 27f.

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Futuristen auf Europa-Tournee Schriftzug »Ma Jolie«, um dem Auge bei seiner Wanderung durch das Bild einen gegenständlich-thematischen Rahmen zu geben. Die Futuristen, für die das Sujet eines Bildes bis zu ihrer Reise von elementarer Bedeutung war, werden gesehen haben, daß die französischen Künstler eben dieses bereits weit hinter sich gelassen haben. Auf der einen Seite sind die Futuristen stark von den ästhetischen Erfahrungen, die sie in Paris sammeln konnten, beeindruckt. Vor allem Boccioni, der noch zwei Wochen länger als die anderen Futuristen Severinis Gastfreundschaft in Anspruch genommen hat. In seinen Gemälden wird sich eine Beeinflussung durch die Galeriekubisten am deutlichsten bemerkbar machen. In ihnen werden sich die konstruktiven Linienarchitekturen wiederfinden und auch die Schriftzüge, die er bei Picasso und Braque gesehen hat. Boccioni ist nicht nur von der Kunst Picassos beeindruckt, sondern auch von ihm als Person. In einem intimen Rahmen lernen die Futuristen Picasso und Braque in dem Café de l’Hermitage kennenlernen, wo sie Stammgäste sind.77 Aus Paris schreibt Boccioni in einem Brief, daß Picasso »ganz hoch im Kurs« stehe.78 Nach seiner Rückkehr läßt er ihn durch Apollinaire ganz besonders grüßen: »Ich lege großen Wert darauf, daß dem Herrn Picasso ein ganz besonderer Gruß von mir ausgerichtet werde (...). Er ist ein bewundernswerter Maler, und seine Werke haben mich stark bewegt.«79 Auf der anderen Seite werden sich die Futuristen darüber klar geworden sein, daß sie in schon drei Monaten in dieser Stadt eine repräsentative Schau ihrer Werke ausstellen müssen, die in den Pariser Kreisen große Beachtung erregen soll. Dieses Bewußtsein stürzt zumindest Boccioni in eine schöpferische Krise. Davon zeugt ein Brief, den er nach seiner Rückkehr an Severini schreibt: »Ich bin in einer seltsamen Verfassung: Ich erwache! Gedanklich erklimme ich die höchsten Gipfel der Kunst, während mir meine neueste Kunst beschissen (sic! LW) erscheint! Dies ist eine seltsame Zeit, nicht gänzlich schlecht, aber sie macht mich grundsätzlich traurig. Ich arbeite wenig!!! ... Männer, Frauen, Dinge, alles, was sich in mir befindet, ist in einem chaotischen Zustand! Ich bewege mich gänzlich im Dunkeln auf mein dreißigstes Lebensjahr zu!!! Ich, der dachte, so viele Dinge zu wissen. So in der Malerei, so in allen Dingen! Alles ist auf den Kopf gestellt und ich leide langsam, langsam tief in meinem Inneren. Ich würde gerne so intensiv lieben, aber ich sehe darin nur Nutzlosigkeit! Ich würde gerne arbeiten und viel schaffen, und ich fürchte, daß ich nicht hochsinnig, auch nicht rein genug bin, es ist schrecklich. Nur allein und leer! Seichtes äußeres Leben verleitet mich! Ich fühle mich in meiner körperlichen Fülle und ich bin traurig.«80 77 78 79 80

Vgl. Carrà 2002, S. 94. Gambillo/Fiori 1958, S. 39. Brief an Apollinaire vom 1. Dezember 1911; zit. nach Ballo 1983, S. 57. »Sono in uno stato d’animo strano: conquisto la vita! Arrivo col pensiero alle più alte cime dell’arte e l’opera che faccio mi sembra presso che merda! È un periodo strano, che non è interamente brutto ma mi lascia triste in fondo.Lavoro poco!!! …. Gli uomini, le donne, le cose sono tutto in me allo

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) Auf der einen Seite hat der Paris-Aufenthalt Boccioni die Augen geöffnet. Theoretisch hat er verstanden, welcher Faktoren ästhetische Innovation bedarf. Allerdings weiß er nicht, seine theoretischen Erkenntnisse in eine Praxis umzusetzen, die jenseits des Kubismus liegt ï und trotzdem etwas Neues bietet. Dieser innere Spagat zwischen theoretischer Erkenntnis und der Unfähigkeit, sie praktisch zu realisieren, wirft ihn in eine depressive Verfassung, mit der eine Passivität einhergeht, die zur Stagnation der Arbeitsprozesse führt. Die Paris-Erfahrung führt zu einer Infragestellung seiner bisherigen Denk- und Bewertungsschemata, so daß sich nun alles in ihm in einem Zustand des Chaos befindet. Er würde so gerne intensiv lieben – aber er kann es eben nicht. Die Passivität steigert sich durch die Geringschätzung der eigenen Person und der Überzeugung, den eigenen hohen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können. Severini wird zu diesem Brief schreiben, daß sich Boccioni, wie alle Egozentriker, ständig bemühte, den unbedeutendsten Beweggründen seines Tuns auf die Spur zu kommen, um seine geheimsten Gefühle nach außen zu tragen, so wie gewisse Damen dauernd vor dem Spiegel die Beschaffenheit ihrer Haut analysieren, um die geringsten Spuren von Makel zu entdecken, die den Verfall ihrer Schönheit ankündigen könnten. »Damals kannte ich ihn gut; Ich kannte den großen Anteil von Theatralik in seinen Krisen und ich zollte ihnen nicht viel Beachtung.«81 Severini behauptet also, daß dieser Brief nichts als eine reine Manifestation der selbstverliebten Egozentrik Boccionis sei. Damit spricht er Boccioni die reale Grundlage für seine Krise ab. Dabei hat er doch selbst zur Paris-Reise geraten, er stellte doch persönlich mit eigenen Augen den Rückstand der futuristischen Kunst fest. Gerade für ihn müßte doch die Diskrepanz an ästhetischer Innovation zwischen kubistischer und futuristischer Kunst auf der Hand liegen. Und gerade er mußte Boccioni doch verstehen können, denn es war ja eine Illusion zu glauben, man könne die eigene Kunstproduktion innerhalb von nur drei Monaten auf ein völlig neues Niveau heben, um sich bei der Ausstellung im Februar 1912 nicht zu blamieren. Ob Boccioni ein selbstverliebter Egozentriker gewesen ist, sei dahingestellt, jedenfalls hatte er Anlaß zu seiner Krise. Trotzdem schafft er es gemeinsam mit Carrà, Russolo und Severini, eine 35 Exponate umfassende Bilderserie in nur drei Monaten herzustellen, die er am 12. Februar 1912 in der Galerie Bernheim Jeune ausstellen wird.

stato di caos! Marcio verso il trentesimo anno completamente al buio! Io che credevo di sapere tante cose ….Così in pittura così in tutto! Tutto è capovolto ed io soffro ma lentamente, lentamente, nel mio profondo.Vorrei amare molto e ne vedo l’inutilità! Vorrei lavorare e creare molto e temo di non essere in alto, né puro abbastanza, è terribile. Solo solo e vuoto! E la vita esteriore mi porge tutto i suo allettamenti! Mi sento nella pienezza fisica e sono triste.« (Brief von U. Boccioni an G. Severini, Ende 1911 – Anfang 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 233f.) 81 »Oramai lo conoscevo: sapevo anche quanta letteratura ci fosse in queste crisi e non ci badavo gran che.« (Severini 1965, S. 108, Übersetzung LW).

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Futuristen auf Europa-Tournee

Die Ausgangslage Anfang 1912 Aus dem Zentrum ästhetischer Innovation stammend, beurteilt Severini die futuristische Kunst seiner Kollegen vor einem ähnlichen Hintergrund wie Soffici. Deswegen versteht er Sofficis Kritik an der futuristischen Kunstproduktion, trotz ihrer unzivilisierten Ausdrucksweise: »Ich sah ein, daß die heftigen Artikel Sofficis wohl begründet waren, und ich stellte mir sofort vor, was eine Ausstellung mit Bildern dieser Art in Paris bedeuten würde. Ich legte Boccioni, mit dem ich eng befreundet war, meinen Standpunkt dar und gab ihm zu verstehen, daß ein Besuch für sie unbedingt notwendig sei, damit sie mit eigenen Augen die Richtung sehen könnten, in der man arbeiten müßte. Boccioni ließ sich überzeugen, (…) und zusammen überzeugten wir schließlich Marinetti, der sich entschloß, ihnen eine vierzehntägige Reise nach Paris zu spendieren.«82

Die Initialphase des Primo Futurismo der Malerei endet mit der Reise Boccionis, Russolos und Carràs nach Paris im Oktober und November des Jahres 1911. Sie reisen dorthin, um ihre Ausstellung in der Galerie Bernheim Jeune für das folgende Jahr vorzubereiten, und vor allem, um sich mit dem Kubismus auseinanderzusetzen. Sie besuchen den Salon d’Automne, die Ateliers von Fernand Léger, Albert Gleizes, Henri Le Fauconnier, Jean Metzinger und Pablo Picasso. Nach dieser Reise werden die Futuristen die Kubisten als ihre stärksten Kontrahenten begreifen. Bis 1911 treten die Futuristen nach außen zwar als geschlossene Gruppierung auf, nach innen besteht aber eine gruppendynamische Interaktion nur zwischen Boccioni, Carrà und Russolo. Erst nach 1911 wird auch Severini in die Gruppendynamik des Futurismus integriert. In diesem Jahr beginnt auch Balla, sich ästhetisch als Futurist zu engagieren. Zuvor verfolgte er seine divisionistische Linie einer veristischen Malerei. In der interpersonellen Gruppendynamik spielt er bis ins Jahr 1913 eine marginale Rolle. Zwar äußert sich Boccioni in keinem seiner Briefe, in keiner seiner sonstigen Publikationen zu seinem Verhältnis zu Balla. Umgekehrt sind auch keine bußerungen Ballas zu finden. Es ist davon auszugehen, daß Boccionis Vorbehalte gegenüber Balla nach wie vor bestanden. Deswegen wird Boccioni eine gruppendynamische Partizipation Ballas am Futurismus verhindert haben. Da Balla weitaus älter ist als alle anderen Futuristen, wird seine integration in die Gruppe erschwert. Trotzdem läßt sich Balla nicht beirren, ästhe82 »Mi resi conto che i severi articoli di Soffici avevano delle serie ragioni, e pensai subito a quel che sarebbe stata un’esposizione a Parigi con lavori di quel genere. Sopratutto a Boccioni, con cui ero intimamente legato, espressi il mio punto di vista, e gli feci intendere che era assolutamente necessaria una loro visita a Parigi, affinché loro stessi vedessero le direzioni nelle quali si doveva operare. Boccioni si convinse (…) e tutt'insieme finimmo per convincere Marinetti, che decise di offrir loro un viaggio di una quindicina di giorni a Parigi.« (Ebd., S. 106, Übersetzung LW).

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›Mostra d’arte libera‹ (1911) tisch realisiert er sich weiterhin als Futurist. Im Jahr 1912 weicht er der gruppendynamischen Problematik aus, da er den Auftrag erhalten hat, die Innenräume des Hauses Loewenstein in Düsseldorf malerisch zu gestalten. Daher ist er 1912 gar nicht für die futuristische Bewegung verfügbar. Nach dem Besuch der übrigen Futuristen in Paris wird ihrer Kunstproduktion ein Spannungsverhältnis zum Kubismus implizit. Severini orientiert sich in seiner Malerei stärker als zuvor an den Konzepten des Futurismus. Da bis 1911 eine gruppendynamische Interaktion nur zwischen Boccioni, Russolo und Carrà besteht, Balla sich erst in diesem Jahr als Futurist realisiert und das Spannungsverhältnis zum Kubismus sich auf die futuristische Kunstproduktion noch nicht produktiv auswirkt, würde ich so weit gehen, die Reise der Futuristen nach Paris als stilistische Zäsur anzusehen. In dem ersten Jahr nach der Formation der Gründergruppe geht es vorerst um organisatorische Fragen, es geht darum, einen Anfang zu setzen und sich zu orientieren.

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DIE WANDERAUSSTELLUNG FUTURISTISCHER MALEREI (1912) Zu den zahlreichen Besuchern der Wanderausstellung futuristischer Malerei aus dem Jahr 1912 gehörte auch der Maler Franz Marc, der darüber folgende Anekdote zum Besten gab: »Der Picassosammler läuft in die Futuristenausstellung und schreit: sehr schön, wunderschön, aber keine peinture meine Herren. Da antwortet ihm ein Klügerer: ma pittura signore.«1 In dieser leicht überspitzten Formulierung will Franz Marc zum Ausdruck bringen, daß Kunst-Spezialisten in Frankreich die Malerei Picassos als das Non plus Ultra erachteten. Nur die in Frankreich ansässige Malerei bezeichneten sie als ›peinture‹, mit einem Begriff also, der besondere Qualität garantiert. Dem setzt Marc entgegen, daß die futuristische Malerei zwar keine ›peinture‹ sei, aber gegenüber dieser auch nicht herabgestuft werden dürfe. Um das zu verdeutlichen, führt er den Begriff der ›pittura‹ als ebenbürtiges bquivalent zur ›peinture‹ ein. Man kann sich also gut vorstellen, daß die futuristischen Maler mit ihrer ›pittura‹ in Paris kein leichtes Spiel hatten. Wie wird nun die ›pittura‹ der Futuristen in Paris, dem Zentrum der ›peinture‹, aufgenommen?

Die Ausstellung futuristischer Malerei in Paris Am 5. Februar 1912 wird in den Räumen der Pariser Galerie Bernheim Jeune auf der Rue Richepanse die Ausstellung futuristischer Malerei eröffnet.2 Es ist eine der bedeutendsten Pariser Galerien. Marinetti hat den Kontakt zu ihrem künstlerischen Leiter, Félix Fénéon, bei einer früheren Paris-Reise hergestellt. Es ist die erste Ausstellung futuristischer Malerei im europäischen Ausland, der zahlreiche weitere in anderen Städten Europas folgen werden. Die futuristischen Künstler zeigen eine 35 Exponate umfassende Bilderserie, die danach durch die Städte London, Berlin, Brüssel, Hamburg, Amsterdam, Den Haag, München, Wien, Budapest,

1 2

Marc 1912 (Reprint 1970), S. 87. Zu dieser Ausstellung vgl. Baumgarth 1966, S. 72f.;C. Tisdall/Bozzolla, 2000, S. 36f.

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Futuristen auf Europa-Tournee Frankfurt, Breslau, Wiesbaden, Zürich und Dresden ziehen wird.3 Boccioni ist mit zehn, Carrà mit elf, Russolo mit fünf und Severini mit acht Werken vertreten. Von Balla sollte das Bild Lampada ad arco auf dem Postweg nachgesandt werden, was aber nie geschehen ist. Russolo, Boccioni und Severini bereiten die Ausstellung vor und hängen die Bilder auf. Carrà beteiligt sich daran nicht. Er liegt im Hotel und ist krank. Außerdem ist er der Meinung, es sei Aufgabe des Galeristen, die Bilder aufzuhängen. Am Tag der Eröffnung geht es ihm wieder besser, so daß er die Räume zusammen mit den anderen besichtigen kann. »Diese bestanden aus einem weiten Salon und einem angrenzenden Saal von gewöhnlicher Größe«, schreibt er in seiner Autobiographie, »optimal von oben beleuchtet, tapeziert mit grauem Tuch eines wunderschönen Farbtons. (…) Und es kam der Tag der Eröffnung (…), der sich unter der Teilnahme eines sehr großen Publikums vollzog; dies wurde sicherlich durch die geschickte Reklame verursacht, die Felix Féneon (...) rund um das Ereignis betrieb. Auch Marinetti erwies sich als ein Meister dieses Metiers und trug lebhaft dazu bei, in dem Kreis seiner Freunde und der Presse ein großes Interesse für die Ausstellung zu wecken. (...) Ich habe schon gesagt, daß das Publikum, das an der Eröffnung teilnahm, groß war, was mich aber stärker verwunderte, war eine Reihe von luxuriösen Automobilen, in Reih’ und Glied aufgestellt, auf der Straße vor der Galerie. In Wahrheit hätte ich, als ich von Mailand abfuhr, niemals angenommen, daß eine Ausstellung vier junger Maler so viele Leute der hohen Gesellschaft interessieren würde, von den vielen anwesenden Intellektuellen nicht zu sprechen (...)«4

Am 9. Februar hält Marinetti »in seiner demagogisch die Öffentlichkeit erregenden Art«5 einen Vortrag über die Konzeption futuristi-

3

4

5

Eine Aufzählung der Werke bei Boccioni 2002, S. 279-290. Diese Aufzählung erschien zuerst in: Les Peintres et les sculpteurs futuristes italiens, 1913, S. 13-16. »Questi consistevano in un vasto salone e in una sala attigua di dimensioni normali, ottimamente illuminati dell’alto, tappezzati di tela grigia di un bellissimo tono. (…) E venne il giorno dell’inaugurazione (…), la quale si svolse con il concorso di un grandissimo pubblico; cosa questa certamente dovuta alla sapiente réclame che Felix Fenéon (…) aveva saputo fare intorno all’avvenimento. Anche Marinetti si rivelò un maestro del genere e contribuì vivamente a creare nel circolo dei suoi amici e presso la stampa un forte interesse per la mostra. (…) Ho detto che molto era il pubblico intervenuto all‘inaugurazione, ma quello che più mi stupì fu una fila di lussose automobile schierate nella strada davanti la galleria. In verità non avrei mai supposto, partendo da Milano, che un’esposizione di quattro giovani pittori avesse potuto tanta gente dell’alta società, e non dico dei molti intellettuali presenti (…).« (Carrà 2002, S. 96, Übersetzung LW). Severini 1965, S. 109.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) scher Malerei,6 der vornehmlich von Boccioni geschrieben wurde und als Vorwort zum Ausstellungskatalog vorliegt: »Wir können ohne Prahlerei erklären, daß diese erste Ausstellung der Futuristen in Paris auch die bedeutendste Ausstellung italienischer Malerei ist die jemals dem Urteil Europas unterlag. Durch unser Suchen und durch unsere Verwirklichungen, die schon zahlreiche begabte Nachahmer, aber auch ebenso viel unbegabte Plagiatoren um uns gesammelt haben, stehen wir an der Spitze der Bewegung der europäischen Malerei; wir verfolgen einen anderen Weg, der in mancher Hinsicht dem der Spätimpressionisten, Synthetisten und Kubisten gleicht, an deren Spitze die Meister Picasso, Braque, Derain, Metzinger, Le Fauconnier, Gleize, Léger, Lhote und andere standen. Wir bewundern den Heroismus dieser bedeutenden Maler (…), aber wir fühlen und erklären, daß unsere Kunst der ihren entgegengesetzt ist. Immer wieder malen sie das Unbewegliche, Erstarrte und alle statischen Zustände der Natur; sie verehren den Traditionalismus Poussins, Ingres und Corots, der ihre Kunst alt macht, sie versteinert, mit einer Hartnäckigkeit des Passeistischen, die uns unverständlich ist. Von einem gänzlich futuristischen Standpunkte dagegen suchen wir einen Stil der Bewegung, was vor uns noch niemals versucht worden ist. (…) Unzweifelhaft sind einige ästhetische Versicherungen unserer Kameraden in Frankreich einer Art maskierten Akademismus. Denn heißt es nicht zur Akademie zurückkehren, wenn man erklärt, daß das Sujet in der Malerei absolut unbedeutend und nichtssagend sei? Wir erklären dagegen, daß es keine moderne Malerei geben kann, ohne daß man von einer gänzlich modernen Empfindung ausgeht (…). Nach einem Modell malen, das posiert, ist Absurdität und geistige Feigheit, selbst wenn das Modell in linearen, sphärischen oder kubischen Formen auf die Leinwand übersetzt wird. (…) Wir verschmähen den Impressionismus, wir mißbillgen energisch die gegenwärtige Reaktion, die, um den Impressionismus zu töten, die Malerei wieder alten akademischen Formen zuführt.«7 6 7

Vgl. Ponte 1999, S. 45. Nous pouvons declarer sans vantardise que cette premiere Exposition de Peinture futuriste à Paris est aussi la plus importante exposition de peinture italienne qui ait été offerte jusqui’ici au jugement de l’Europe. (...) Par nos recherches et nos réalisations qui ont déjà attiré autour de nous de nombreux imitateurs doués et d'aussi nombreux plagiares sans talent, nous avons pris la tête du mouvement de la peinture européenne, en suivant une route différente, mais en quelque sorte parallèle à celle que suivent les Post-impressionnistes, Synthétistes et Cubistes de France, guidés par leurs maîtres Picasso, Braque, Derain, Metzinger, Le Fauconnier, Gleizes, Léger, Lhote, etc. Tout en admirant l’heroïsme de ces peintres de très haute valeur, (...) nous nous sentons et nous déclarons absolument opposés à leur art. Ils s’acharnent à peindre i’immobile, le glacé et tous les états statiques de la nature; ils adorent le traditionnalisme de Poussin, d’Ingres, de Corot, vieillissant et pétrifiant leur art avec un acharnement passéiste qui demeure absolument incompréhensible à nos yeux. Avec des points de vue absolument aveniristes, au contraire, nous recherchons un style du mouvement, se qui n’a jamais été essayé avant nous. (...) Il est indiscutable que plusieurs affirmations esthétiques de nos camarades de France révè-

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Futuristen auf Europa-Tournee Aus heutiger Sicht könnte man vielleicht meinen, daß es sich um die übliche Hochstapelei der Futuristen handele, wenn sie behaupten, ihre Ausstellung sei die wichtigste Präsentation italienischer Kunst, die jemals stattgefunden habe. Auf der anderen Seite ist diese Selbsteinschätzung aufgrund des faktischen Mangels an italienischen Ausstellungen in Paris durchaus realistisch. Ganz frei von Anmaßung ist dieser Vortrag trotzdem nicht, wenn sie der Ansicht sind, an der› Spitze der Bewegung der europäischen Malerei‹ zu stehen. Die wenigen Wochen ihres Paris-Aufenthaltes sind wahrscheinlich die Grundlage für die Behauptung der Futuristen, daß ihr Weg zwar den der Spätimpresionisten, Synthtisten und Kubisten ähnelt, womit sie zum Ausdruck bringen, daß sie ihrer Ansicht nach diese Kunstrichtungen studiert und verinnerlicht haben – um sie im nächsten Schritt zu überwinden. Dies ist eine Behauptung, von der sich vor allem die kubistischen Künstler beleidigt gefühlt haben dürften. Zum einen könnte man den Futuristen unterstellen, daß sie die französische Kunst des 19. Jahrhunderts kaum ernst nehmen können, wenn sie vorgeben, sie in nur zwei Wochen studiert zu haben. Zum anderen kommt es einer Provokation der kubistischen Künstler nahe, wenn die Futuristen behaupten, die kubistische Kunst bereits überwunden zu haben und so zu ihrem eigenen Stil gekommen zu sein. Die kubistische Kunst ist für die Futuristen eine Kunst des Erstarrten, des Statischen, des Bewegungslosen, in der die von Poussin, Ingres und Corot ausgegangenen Traditionen bewußt kultiviert werden. Daß die Kubisten von ihren Positionen ï aus Überzeugung ï nicht abzuweichen vermögen, fassen die Futuristen als Halsstarrigkeit, als passatistische Haltung auf, die sich verstärkend auf die bereits beschriebenen Charakteristika der kubistischen Kunst auswirke. Den »passatistischen« Ausdrucksformen der kubistischen Kunst setzen sie ihre »futuristischen« entgegen, in denen das Bemühen deutlich wird, einen »Stil der Bewegung« zu finden. So wie den Futuristen bereits mehrfach vorgeworfen wurde, das Sujet überzubewerten, werfen sie den Kubisten nun umgekehrt vor, es zur Nebensächlichkeit deklariert zu haben, wohinter sich aus ihrer Sicht Akademismus verbirgt. Wahrscheinlich setzen die Futuristen die Titel der kubistischen Bilder mit ihrem Sujet gleich. Titel wie Porträt, Landschaft oder Stilleben stehen für sie in einer jahrhunder-

lant une sorte d’académisme masqué. N’est-ce pas, en effect, revenir à l'Académie que de déclarer que le sujet, en peinture, a une valeur absolument insignifiante? Nous déclarons, au contraire, qu’il ne peut pas y avoir de peinture moderne sans le point de départ d’une sensation absolument moderne (...). Peindre d’après un modèle qui pose est une absurdité et une lâcheté mentale, meme si le modèle est traduit sur le tableau en formes linéaires, sphériques ou cubiques. (...) Tout en répudiant l’impressionnisme, nous désapprouvons énergiquement la réaction actuelle qui, pour tuer l’impressionnisme, ramène la peinture à de vieilles formes académiques. (U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini; »Les Exposants au public«, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 104ff.; deutsche Übersetzung in: Harten, 1974, ohne Seite).

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) tealten akademischen Tradition der Porträt- und Landschaftsmalerei. Dabei hat sich Apollinaire einige Tage vor der Ausstellungseröffnung dezidiert zum Verhältnis von Titel und Sujet geäußert: viele der neuen Maler würden ausschließlich Bilder malen, auf denen kein erkennbarer Bildgegenstand mehr zu sehen sei. Die Betitelung in den Katalogen spiele dann die gleiche zufällige Rolle wie ein Eigenname, der den Menschen bezeichne, ohne ihn zu charakterisieren. So wie es Leute mit dem Namen Legros gebe, die recht mager seien, und Leblonds, die recht dunkel seien, habe er Darstellungen mit dem Titel ›Einsamkeit‹ gesehen, auf denen sich Menschen tummelten.8 Ausgehend von der Annahme also, daß der Titel eines kubistischen Bildes mit seinem Sujet identisch sei, erklären die Futuristen, daß auch die Auswahl des Sujets einer Erneuerung bedürfe, auch wenn es noch so progressiv umgesetzt sei. Es scheint fast so, als fühlten sich die Futuristen dem Impressionismus (den die kubistischen Künstler ablehnen) stärker verbunden, dessen Wesen sie als »Lyrismus der Bewegung« bezeichnen. Auch wenn die Futuristen in ihrem Text betonen, daß die Kubisten ihre »Freunde« seien, wird nach dem Vortrag von dieser Freundschaft nicht mehr viel übrig geblieben sein. Nachdem das Publikum diese vielversprechende Einführung im Ausstellungskatalog zur Kenntnis nehmen konnte, bekam es zum ersten Mal die futuristische Kunst zu sehen, von der es in den letzten Monaten schon so viel gehört hatte. Im Katalog der Pariser Ausstellung finden sich keine Erläuterungen zu den ausgestellten Arbeiten, wohl aber im Katalog zur Ausstellung futuristischer Kunst in London,9 die, da es sich um dieselben Bilder handelt, an dieser Stelle herangezogen werden sollen. Im Folgenden werden einige Werke der Pariser Futuristen-Ausstellung exemplarisch besprochen. Dabei wird Umberto Boccioni besonderer Raum zugemessen, da er aufgrund persönlicher und künstlerischer Qualitäten die stärkste öffentliche Beachtung erfuhr.

BOCCIONI La Risata Nach der Rückkehr von von der ersten Paris-Reise dürfte Boccioni zuerst mit der Restaurierung und Überarbeitung des Bildes La Risata (Das Lachen, Abb. 70)10 begonnen haben.11 Das im ›Corriere della Sera‹ als »Schweinerei« bezeichnete Gemälde war schon auf der ›mostra d’arte libera‹ zu sehen gewesen, wo es so viel Empörung ausgelöst hatte, daß es beschädigt worden war.12 Die ursprüngliche 8

Vgl. G. Apollinaire: Über den Bildgegenstand in der modernen Malerei (erschienen am 1. Februar 1912 in »Les Soirées de Paris«), in: Apollinaire 1989, S. 151. 9 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Severini: Presentazione alle opera esposte alla Sackville Gallery, März 1912, In: Gambillo/Fiori 1958, S. 110. 10 Die deutschen Übersetzungen der Bildtitel sind dem deutschsprachigen Katalog entnommen: Der Sturm 1912. 11 Zu diesem Bild vgl. Calvesi/Coen 1983, S. 384f.; Schneede 1994, S. 93-98. 12 Vgl. Calvesi/Coen 1983, S. 248.

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Futuristen auf Europa-Tournee Fassung ist nicht durch Fotografien belegt. Doch kann eine Vorstellung von ihr durch bußerungen Marinettis13 und erhaltene Skizzen vermittelt werden. Dargestellt ist eine Szene in einem Nachtlokal, die von einer breit grinsenden, fetten Kokotte dominiert wird. Im oberen rechten Bilddrittel ist eine Bar zu sehen, an der einige Gäste ihren Drink nehmen. Dabei wenden sie dem Betrachter (naturgemäß) ihren Rücken zu. An diese Bar schließt sich ein offener Raum mit Tischen an, an denen männliche und weibliche Besucher trinken, rauchen und plaudern. Bei genauem Hinsehen erkennt man an der Bar eine Dame mit auffälligem, überdimensionalem Federhut, die dort wohl Kontakt zu möglichen Freiern aufnimmt. Das ganze Lokal wird von elektrischen Lichtquellen beleuchtet, deren kegelförmige Strahlen das Bildgeschehen vornehmlich auf der rechten Seite durchkreuzen. In der nächsten ›Phase‹ des Abends, die weiter unten auf der rechten Bildhälfte dargestellt ist, sitzt eine Frau mit einem rauchenden Mann an einem Tisch und trinkt Wein. Den unteren Bildrand markieren die rundgeschwungenen Lehnen von ThonetStühlen, wie sie in Lokalen dieser Zeit oft zu sehen waren. Im semantischen Zentrum links neben der Bildmittelachse spielt sich die eigentliche Aktion, ›das Lachen‹, ab: Fett und wollüstig, dekadent lächelnd, die Hände über der nackten Brust verschränkt, liegt die nur noch mit dem Federhut bekleidete Kokotte auf ihrem Bett. Sie ist so zufrieden, weil sich rechts und links neben ihr jeweils ein Freier befindet, beide noch in förmlicher Abendkleidung, bestehend aus Frack, Fliege und weißem Hemd. Sie wirken winzig und unbedeutend im Vergleich zu der überdimensionierten Prostituierten, was wahrscheinlich die männlichen Rezensenten dieses Bildes so empört hat. Den Übergang vom Nachtlokal zum Privatgemach markiert eine drehscheibenartig dargestellte Etagère, auf deren oberster Ebene bpfel als Symbole der Verführung platziert sind. Das Bild veranschaulicht den permanent sich wiederholenden Tages- oder besser: ›Nachtablauf‹ einer Kokotte, die zunächst in einer Bar ihre Freier kennenlernt, mit ihnen rauchend und trinkend Konversation betreibt und sie dann in ihr Etablissement führt, wo sie sich nackt auf ihren Divan begibt. Der Paris-Aufenthalt Boccionis unmittelbar vor der Ausstellung dürfte eine Überarbeitung des formalen Rahmens bewirkt haben. Die Bar auf der rechten Bildhälfte erinnert zum Beispiel an das Bild Bar aux Folies-Bergères von Édouard Manet aus dem Jahr 1882. Der Einfluß des Kubismus macht sich in der Geometrisierung der rechten Bildhälfte bemerkbar. Horizontal schneiden die Tische in das turbulente Geschehen ein, vertikal die Lichtkegel, die von den Scheinwerfern ausgehen. Die Etagere bildet eine Art Drehachse, die als dynamisches Verbindungsmoment zwischen den Bildsegmenten fungiert.

13 Vgl. Baumgarth 1966, S.188.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Stati d’animo II Das Konzept der Phasendarstellung wird Boccioni in der zweiten Fassung seines Triptychons Stati d’animo II (Abb. 71-73) weiter ausarbeiten. In ihm läßt sich der Einfluß des Kubismus am deutlichsten analysieren, da im Gegensatz zu allen weiteren ausgestellten Werken eine erste Fassung existiert, mit der die zweite verglichen werden kann.14 Die Titel der zweiten Fassung sind mit jenen der ersten identisch und auch an ihrer Reihenfolge hat sich nichts geändert. In Gli adii II (Die Abschiede; Abb. 71) ist die Darstellung eines Zuges ins Zentrum gerückt. Zunächst sieht man sich der Frontalansicht der Lokomotive eines fahrenden Zuges gegenüber, die aus nicht allzu weiter Ferne, aus einer hügeligen Landschaft mit Telegraphenmast auf der linken Seite, in den Bahnhof einfährt. Aus dem Schornstein steigt eine Dampfwolke, die, nach rechts einen Bogen ziehend, die Lokomotive in Nebel hüllt. Es folgt in der Bildmitte die nach links gerichtete Seitenansicht der Lokomotive, die gerade am Bahnsteig anhält. Sie trägt die Nummer 6943 auf dem Führerstand unterhalb der Frontscheibe, die einzigen Flächen von homogener gelber Farbigkeit im gesamten Bild, die rechts neben der vertikalen Bildmittelachse ï also fast bildzentral ï zu sehen sind. Die kreisrunde Fläche in roter Farbe ist nicht, wie Schneede in Erwägung zieht, ein Bahnhofssignal,15 sondern das Vorderlicht des Zuges, das dissoziativ in die Seitenansicht des Zuges gesetzt ist. Der Zug ist rechts und links von hellgrünen Wirbelstrukturen umgeben. Sie stellen zum einem die Rauchwolken des Zuges dar, zum anderen die Abreisenden und die Zurückbleibenden, die sich ein letztes Mal in die Arme fallen, was eine Studie zu diesem Bild nahelegt (Abb. 83). Gleichzeitig drücken sie die emotional aufgewühlte Verfassung der Abschiednehmenden aus. Die grüne Wirbelstruktur auf der rechten Seite wird durch die Linien überlagert, die den letzten Waggon des abfahrenden Zuges darstellen und das Bild einem konstruktiven Muster unterwerfen. Weiche Linien umspielen an allen Seiten die emotional aufgeladene Szene. Sie wiederholen sich als Trennlinien zwischen der Seitenansicht des Zuges und den Abschiednehmenden auf der rechten Seite. Welche nun die ›KraftLinien‹ sind, die Boccioni im Katalog erwähnt, darüber läßt sich nur spekulieren. Vielleicht sind es die Linien, die das gesamte Geschehen weich umspielen, vielleicht ist es die lineare Ausführung der Figuren, der Abschiednehmenden. In dem Bild Quelli che vanno II (Jene, die gehen, Abb. 72) sieht man jene, die sich eben verabschiedet haben, auf der Reise. Es erheben sich oberhalb der horizontalen Mittelachse in bildparalleler Abfolge drei Köpfe, die sich in homogenisierendem Blau deutlich 14 Obwohl sich dieses Triptychon sehr zur Analyse des kubistischen Einflusses auf Boccioni eignet, wird es, aus welchen Gründen auch immer, weder bei dem Autorenpaar Gerhardus noch bei Nash besprochen, die sich in ihren Publikationen explizit der Auseinandersetzung futuristischer Malerei mit dem Kubismus zuwenden. Zu diesem Triptychon vgl. Schneede 1994, S. 84-89; Tisdall/Bozzolla 2000, S. 43f. 15 Vgl. Schneede 1994, S. 84.

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Futuristen auf Europa-Tournee von der Linienstruktur des Grundes absetzen. Jeder von ihnen ist in mehrere Ansichten zergliedert, die durch Bogenformen miteinander verschränkt sind. Von rechts nach links gelesen, integriert der erste, schräg nach vorn geneigte Kopf zwei Seitenansichten und eine Dreiviertelansicht. Der zweite ist um 180 Grad gewendet. Hier sind geometrisch abstrahierte Formen dissoziativ zusammengefügt, was man mit einiger Vorsicht als Ausdruck innerer Konfusion deuten könnte. Das plastisch herausmodellierte Profil des dritten Kopfes wird durch eine geometrisch abstrahierte Frontalansicht überlagert. Das rechte Auge des Profils und das linke der Frontalansicht konvergieren und verschmelzen die beiden Ansichten. Jeder Kopf integriert durch das Verfahren der Auffächerung mehrere Phasen seiner Bewegung ï und repräsentiert für sich genommen eine Gemütsbewegung, die Ausschnitt der durch alle drei Köpfe repräsentierten kollektiven Gemütsbewegung ist. Die Köpfe bewegen sich in einem eigens für sie vorgesehenen Streifen. Vor allem auf der linken Seite des Bildes hebt er sich wesentlich dunkler von der übrigen Farbgebung ab. Motivisch stellt er den fahrenden Zug dar, in dem sich die Abreisenden befinden und der in dem Bild Gli adii II noch am Bahnsteig steht. Die durch die Köpfe repräsentierte Gemütsbewegung ist von rechts nach links zu lesen, da sich auch der Zug nach links bewegt. Aus seinem Schornstein steigt eine Dampfwolke auf, die in ihrer weichen und fließenden Formgebung mit der streng linearen Linienstruktur des übrigen Bildes kontrastiert. Der Zug fährt in rasantem Tempo durch die nächtliche Dunkelheit, durch die ihm der rote Schein seiner Vorderlampe, die trapezfömige Fläche am linken Bildrand, den Weg weist. Er zieht vorbei an einer Wohnsiedlung, die sich in den Farben Gelb und Orange deutlich vom blauen Bildgrund abhebt. Sie wird durch transparente Rechtecksformen überlagert und geometrisiert. Diese Formen stellen die Fenster des Zuges dar und verdeutlichen den subjektiven Ausblick der Zuginsassen. Rechts unten wechselt das Bild in eine grünliche Farbgebung. Die beiden in Mäntel und Hüte gekleideten Personen sind ›jene, die zurückbleiben‹, die sich noch im Bahnhofsgelände befinden, nachdem sie die Abreisenden verabschiedet haben. Der erste der drei Köpfe der Abreisenden schenkt ihnen einen letzten Blick, bevor er sich um die eigene Achse dreht und von dem schnell fahrenden Zug in die Ferne gezogen wird. Die in Quelli che vanno (II) antizipierte grünliche Farbgebung überzieht in dem Bild Quelli che restano (II) (Jene, die bleiben, Abb. 73) etwas dunkler das gesamte Bild. Von den Figuren, deren Köpfe in Quelli che vanno (II) schon zu sehen waren, ist in Quelli che restano (II) nur ein Mann übrig geblieben, der in fünf verschiedenen Phasen eines Bewegungsablaufes das Bahnhofsgelände verläßt. Unten links ist er von vorne zu sehen, wie er dem abfahrenden Zug hinterherblickt. Spiralförmig verschränkt mit seiner Vorderseite ist seine Rückenansicht. Gerade eben hat er sich auf dem Absatz umgedreht, um das Bahnhofsgelände zu verlassen. In der Bildmitte hat er sich schon weiter entfernt, auch hier ist seine Vorderseite zu sehen, er dreht sich noch einmal um und blickt ein letztes Mal zurück. Das Moment seiner Drehung indiziert die spiralförmige Organisation seiner Beine. Oben rechts ist er zwei weitere Male zu sehen, wie er endgültig das Bahnhofsgelände verläßt, ohne noch einmal zurück106

Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) zublicken. Vorne ist sein Körper noch deutlich von der senkrecht verlaufenden Linienstruktur differenziert. Je weiter er sich entfernt, desto stärker ist er mit ihr verwoben. Die Figuren bewegen sich vor dem Hintergrund einer geschwungenen, wie erschöpft anmutenden Linienstruktur, die Realitätspartikel einer typisch italienischen Gasse integriert. Links und rechts sind Zierdächer über den Eingangstüren befestigt. An der Häuserwand links lehnt ein Mensch, vielleicht ist es einer der zahlreichen Obdachlosen, die häufig in Bahnhofsvierteln zu finden sind. Ein weiterer ist in der Mitte des Bildes schemenhaft angedeutet. Durch die Integration der Realitätspartikel einer italienischen Gasse ist wie in dem Bild Gli adii (II) der äußere Rahmen eingänglicher als in der ersten Fassung. Man kann sich vorstellen, daß es die Straße ist, die zum Bahnhof führt, auf der ›jene, die bleiben‹, kommen und gehen. Severini, der seinen futuristischen Kollegen zugesteht, hart gearbeitet zu haben, sagt von ihnen, daß sie ihre Blicke auf neue Ziele gerichtet hätten. Daher enthielten die einzelnen Fassungen der Gemütszustände breitere und mehr geometrische Formen und unterschieden sich stark voneinander.16 Die zweite Fassung der Gemütszustände erscheint allerdings keineswegs »gänzlich anders« als die erste, wie Severini meint. In allen drei Tafeln sind diverse Gestaltungselemente bis hin zur kompositorischen Anlage erhalten geblieben. In dem Bild Gli adii (II) sind alle Elemente, die in der ersten Fassung zu sehen sind, auf die grünen Wirbelstrukturen reduziert, die rechts und links die Darstellung des Zuges umgeben. Sie stellen zugleich die Rauchwolken des einfahrenden Zuges und die Abschied nehmenden Figurenpaare dar, deren emotional aufgewühlte Verfassung die formale Ausführung dieses Bildsegments ausdrückt. Hinzugekommen ist die Darstellung des Zuges, so daß der äußere Rahmen ï eine Abschiedszene am Bahnhof – eingänglicher ist als in der ersten Fassung. In dem Bild Quelli che vanno (II) ist die kompositorische Anlage der ersten Fassung am deutlichsten erhalten geblieben. Auch hier erheben sich drei voneinander isolierte Köpfe oberhalb der horizontalen Mittelachse, die an einer Wohnsiedlung vorbeiziehen. In dieser Fassung sind die Bildebenen klarer voneinander differenziert. Die vermittelnde Funktion der Linientextur tritt deutlicher in Erscheinung als in der ersten Fassung, wo sie noch alle Bilddetails verschluckt. Jeder der Köpfe ist im Gegensatz zu jenen der ersten Fassung geometrisch abstrahiert und integriert mehrere Bewegungsmomente, die ein Teil der den Köpfen zugeordneten Gemütsbewegung ist. Hinzugekommen ist die Darstellung des Zuges, der einen dunklen Streifen ausbildet, innerhalb dessen sich die Köpfe befinden. In Quelli che restano (II) hat man deutlicher als in der ersten Fassung den Eindruck, daß nur eine Figur in fünf verschiedenen Phasen ihrer Bewegung zu sehen ist, nicht fünf verschiedene. Der Phasenzusammenhang ist also deutlicher als in der ersten Fassung herausgearbeitet, wo die Figuren noch zusammenhangslos durch den Raum schreiten. Die Figuren integrieren nicht wie in Quelli che

16 Vgl. Severini 1965, S. 108.

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Futuristen auf Europa-Tournee vanno (II) mehrere Bewegungsphasen, sondern scheinen durch die spiralförmige Organisation der Gliedmaßen selbst dynamisiert zu sein. Die Drehbewegung der Köpfe wird durch Kreissegmente veranschaulicht, die den Aktionsradius der Köpfe beschreiben. Das Verhältnis der Figuren zu ihrem Hintergrund ist komplexer als in der ersten Fassung gestaltet. Während in der ersten Fassung alle Figuren gleichmäßig in den Grund verwoben sind, erscheinen sie in diesem Bild links deutlich von ihm differenziert und durchdringen ihn mit jeder Bewegungsphase etwas mehr. Durch die Integration der Realitätspartikel einer italienischen Gasse ist wie in dem Bild Gli adii (II) der äußere Rahmen einer Bahnhofsszene leichter erkennbar als in der ersten Fassung. Dem thematischen Zusammenhang der drei Tafeln wird Boccioni in der zweiten Fassung auch in der formalen Ausführung gerecht. Der Zug, der sich in dem Bild Gli adii (II) noch am Bahnsteig befindet, rast in der mittleren Tafel in rasanter Geschwindigkeit durch die nächtliche Dunkelheit. Die Zurückbleibenden, die rechts unten in der mittleren Tafel zu sehen sind, verlassen in der letzten tief betrübt das Bahnhofsgelände. Da sich der narrative Kontext also formal durch alle drei Tafeln zieht, kann die Reihenfolge nicht, wie Schneede vorschlägt, verändert werden.17 Die Erfahrung des Kubismus führt Boccioni zu einer deutlich erweiterten Formensprache: In dem Bild Gli Adii (II) schlägt sich eine konkrete Beeinflussung in der formalen Ausführung des Zugwaggons auf der rechten Bildhälfte nieder, der nur in seinen konstruktiven Linien dargestellt ist. Die Zahlenfolge 6943, die auf der einen Seite die Nummer des Zuges ist, auf der anderen Seite autonom mitten im Bildgeschehen erscheint, verweist losgelöst von ihrer motivischen Bedeutung auf die kubistische Praxis, typographische Zeichen als Realitätsverweise in das Bild einzufügen,18 wie Picasso es etwa in dem Bild Ma Jolie getan hat. Bei den Kubisten aber haben diese eine ganz andere Funktion als bei Boccioni: sie sollen verhindern, daß ihre Bilder als rein flächige Abstraktionen gelesen werden. In ihrer zweidimensionalen Natur setzen sich die typographischen Zeichen der Komposition entgegen, die selber durch diesen Kontrast zwangsweise dreidimensional erscheint.19 Bei Boccioni dagegen besteht die Gefahr gar nicht, daß seine Komposition als rein flächige Abstraktion mißverstanden werden könnte. Ganz im Gegenteil, ein perspektivisch organisierter Bildraum ist stellenweise durchaus noch vorhanden, auch kann man nicht behaupten, die Abstraktion gehe so weit, daß die Narratio des Bildes nicht mehr erkennbar sei. Daher wird die Zahlenfolge in umgekehrter Funktion eingesetzt: in ihrer zweidimensionalen Natur setzt sie sich dem narrativen Kontext des Bildes und dem stellenweise noch perspektivisch organisierten Bildraum bildautonom entgegen. Wie in dem Bild Gli adii (II) schlägt sich auch in dem Bild Quelli che vanno (II) der Einfluß des Kubismus in einer stärkeren Geome17 Schneede ist der Ansicht, daß Gli adii als Bedeutungszentrum in die Mitte müsse. (Schneede 1994, S. 86). 18 Soweit äußert sich Schneede zu der Zahlenfolge. (Schneede 1994, S. 84.) 19 Vgl. Fry 1966, S. 27.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) trisierung der Bilddetails nieder. Die Rechteckformen, die die Wohnsiedlung überlagern, sind auf der einen Seite geometrische Muster, auf der anderen die Fensterscheiben des Zuges, aus denen die Insassen heraussehen. Der Kubismus könnte Boccioni weiterhin dazu inspiriert haben, die Gemütsbewegung durch die geometrische Segmentierung der Köpfe darzustellen. Dieses Verfahren wird in dem Bild Quelli che restano (II) weiter autonomisiert, indem Boccioni die Spirale zur Verschränkung der Bewegungsphasen verwendet und in eben dieser Spirale eine Form gefunden hat, die für sich genommen schon dynamisch anmutet. Während sich Picasso von seinen symbolistischen Wurzeln im Jahr 1911 bereits gänzlich gelöst hatte, behält Boccioni die symbolistische, an die Bilder Munchs erinnernde Farb- und Liniengebung bei. Ebenso bleibt ein andeutungsweise perspektivisch organisierter Bildraum erhalten. Das Formenvokabular aller Einzelbilder hat keine autonome Funktion, sondern schildert die bildinterne Narratio, die Ausschnitt aus der bildübergreifenden Narratio des Triptychons ist. Das Triptychon als Form ist weder bei den Salon- noch bei den Galeriekubisten zu finden, da es eine Abhängigkeit dreier Werke voneinander konstituiert, so daß eine Autonomie des Einzelbildes, wie sie die Kubisten anstreben, nicht möglich ist. Wenn nun bei der Besprechung der ersten Fassung gesagt wurde, daß die Intention, Gemütsbewegungen abzubilden, bereits futuristisch sei, nicht aber die Formensprache, in der sich diese Intention niederschlägt: welches sind dann die formalen Mittel, die den »Stil der Bewegung« ausmachen, den Boccioni vorgibt gefunden zu haben? So gegensätzlich zum Kubismus sich die Futuristen auch selbst gesehen haben mögen ï Boccionis Darstellung von Bewegung basiert auf einer Vorgehensweise, die ihm in Paris erst bekannt wurde: Es ist das Verfahren des Aufteilens, Zergliederns und Zerlegens des Gegenständlichen, mit dem er die zuvor schon im Ansatz vorhandene Phasendarstellung weiterentwickelt, die er in ihrer geometrisierten Segmentierung so weit abstrahiert, daß an ihr das Allgemeine gegenüber dem Speziellen offenbar wird.20 Keinem der Bilder scheint ein Regelwerk zur Phasendarstellung zugrunde zu liegen, ihre Ausführung erscheint eher spontan und intuitiv. So verhindert Boccioni, daß seine Phasendarstellungen schematisch anmuten – so wie die futuristischen Darstellungen seines ehemaligen Lehrers Giacomo Balla. In dem Bild Quelli che restano (II) wendet Boccioni sogar die Spirale als eine Form an, die für sich genommen, unabhängig vom Bildzusammenhang schon Dynamik ausdrückt und aufgrund dieser Eigenschaft bereits in der futuristischen Literatur metaphorisch verwendet wurde.21 Jedes der Bilder ist von einer Li20 Zur Analyse des futuristischen Formenvokabulars vgl. Gerhardus 1977, S. 21-26. 21 Die Spirale galt auch zuvor schon als Synonym für Bewegung im Futurismus. Zunächst wird sie metaphorisch in der Literatur verwendet. Lucini schreibt folgendes über die spiralförmige Entwicklung seines Werkes: »Seit ich im Sinn habe, dieses Buch zu schreiben, wollte ich mein Werk stufen-

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Futuristen auf Europa-Tournee nientextur dominiert, die das Bild einer Gesamtdynamik unterwirft und die Phasendarstellungen in einen psychologisch gefärbten Stimmungskontext einbindet, der durch die jeweilige Farbgebung verstärkt wird. Dies bestätigt auch Boccioni, wenn er zu dem Bild Quelli che vanno (II) schreibt, daß der Gemütszustand der Abreisenden durch die schrägen Linien auf der linken Seite dargestellt sei.22 Dagegen bedeuten die senkrechten Linien in dem Bild Quelli che restano (II) die niedergeschlagene Verfassung der Zurückbleibenden und ihre unendliche Traurigkeit, die alles nach unten zieht.23 In den Stati d’animo II wird auch die simultaneità als ein weiteres Konzept futuristischer Bildgestaltung erkennbar.24 Die als zeitliches Nacheinander zu verstehenden Phasenverschiebungen sind als gleichzeitiges Nebeneinander im Bild dargestellt. »Die Simultaneität der Gemütszustände«, ist in dem Vorwort des Kataloges zu lesen, sei »das berauschende Ziel« der futuristischen Kunst.25 Visioni simultanee und La strada entra nella casa Die simultaneità gilt den Futuristen als universell anwendbare Zauberformel ihrer Kunstproduktion. Ihren eigenen Aussagen zufolge ist sie die Grundlage aller weiteren gestalterischen Konzepte, durch die sie die eigene Kunstproduktion gegenüber anderen Kunstströmungen abgrenzen.26 Das Bild Visioni simultanee (simultane Ansichten, Abb. 74)27 ist das einzige dieser Ausstellung, das bereits im Titel auf das neue Gestaltungskonzept verweist und in der Ausführung konkret realisiert. Im Londoner Katalog schreibt Boccioni zu diesem Bild, daß die Phänomene des ›Innen‹ und ›Außen‹ sowie von Raum und Bewegung in allen Richtungen durch die Annäherung an ein Fenster durchgespielt würden.28 Zu sehen ist eine elegant in Lila gekleidete Frau, die aus ihrem Fenster auf eine Gasse blickt. Ihr Gesicht spiegelt sich im Fensterglas und verschmilzt mit der Darstellung der gegenüberliegenden Häuserfront und ist somit der gegenüberliegenden Seite eingeschrieben. Dabei sieht man auf der rechten Bildhälfte ihr sehr markant herausgearbeitetes Profil in Orange- und Brauntönen, auf der linken die Frontalansicht ihres Gesichtes. So ist sowohl ihr Wahrnehmungfeld zu sehen als auch die Art, wie es sich in ihrer Mimik ausdrückt. Sie beobachtet die Ereignisse unter ihr auf der Straße. Männer in schwarzer Kleidung eilen zur Straßenkreuzung rechts, wo ein Brand ausgebrochen ist.

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weise und in Spiralen um einen Kegel (so stelle ich systematisch das Leben dar) fortschreiten lassen. (...) So windet und entfaltet sich mein Denken wie eine ewige Schraube als Spirale um das Leben.« (Zit. n. Baumgarth 1966, S. 138f.) Vgl. Gambillo/Fiori 1958, S. 109 Ebd. Vgl. Boccioni: »Simultaneität«, in: Boccioni 2002, S. 157-169. Ebd., S. 230. Ebd., S. 159. Hier wurde von der Übersetzung ›Scheinvision‹, die im deutschsprachigen Katalog zu finden ist, abgewichen. Vgl. Gambillo/Fiori 1958, S. 110.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Die Frau ist nur eine von vielen, die den Brand beobachten. Beinahe in jedem Fenster ist ein schemenhaftes Gesicht zu sehen. Doch wirkt diese Dame in ihrer Eleganz isoliert. Dynamisiert wird das Bildgeschehen durch die rhythmische Staffelung der einzelnen glatten Häuserfronten mit den vielen Fenstern. Dieses Verfahren, das Boccioni vielleicht an den Eifelturmbildern Delaunays beobachtet haben könnte,29 zieht das Auge des Betrachters auf die Piazza, zu der sich die Gasse rechts oben öffnet und auf der der Brand ausgebrochen ist. Schwarze Rauchwolken steigen auf. Das Bild galt bis ins Jahr 1975 verloren und wurde oft mit dem Bild La strada entra nella casa (Die Straße dringt ins Haus ein, Abb. 75) verwechselt,30 das auch auf dieser Ausstellung zu sehen war. Vielleicht auch deswegen, weil sich der folgende, häufig in Zusammenhang mit dem zweiten Bild angeführte Passus aus dem Vorwort des Pariser Ausstellungskatalogs auf beide Bilder beziehen könnte: »Wenn wir eine Person auf dem Balkon (Innenansicht) malt, so begrenzen wir nicht die Szene auf das, was uns das schmale Fensterviereck zu sehen erlaubt, sondern wir bemühen uns, die Empfindungen des Auges der auf dem Balkon befindlichen Person in ihrer Gesamtheit zu geben: Das sonnendurchflimmerte Gesumm der Straße, die beiden Häuserreihen, die sich zu seiner Rechten und Linken entlangziehen, die blumengeschmückten Balkone; das heißt: Gleichzeitigkeit der Atmosphäre, folglich Ortsveränderung und Zergliederung der Gegenstände, Zerstreuung und Ineinanderübergehen der Einzelheiten, die von der laufenden Logik befreit, eine von der anderen unabhängig sind.« 31

Man könnte annehmen, daß die Frau, deren Gesicht in Visioni simultanee zu sehen ist, in La strada entra nella casa als Ganzkörperfigur auf ihrem Balkon steht, denn sie trägt das gleiche Lila wie die Frau im zuvor besprochenen Bild.32 Sie blickt von drei verschiedenen Standpunkten aus auf eine Baustelle, die dementsprechend mehransichtig dargestellt ist. Im Vordergrund sieht man ihre breite Rückenansicht und Details des verschnörkelten Balkongitters. Rechts und links von ihr sind zwei weitere Balkone zu sehen, von

29 Vgl. Calvesi/Coen 1983, S. 409. 30 Ebd. 31 »En peignant une personne au balcone, vue de l’intérieur, nous le limitons pas la scène à ce que le carrè de la fenêtre permet de voir; mais nous nous efforçons de donner l’ensemble de sensations visuelles qu’a éprouvées la personne au balcon: grouillement ensoleillé de la rue, double rangée des maisons qui se prolongent à sa droite et à sa gauche, balcons fleuris, etc. Ce qui veut dire simultanéité d’ambiance et, par conséquent, dislocation et démenbrement des objets, éparpillement et fusion des détails, délivrés de la logique courante et indépendants les uns des autres.« (U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: »Les Exposants au public«, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 105; deutsche Übersetzung in: J. Harten 1974, ohne Seite). 32 Zu diesem Bild vgl. Gerhardus 1977, S. 22 und S. 84f.

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Futuristen auf Europa-Tournee denen miniaturisierte Seitenansichten der gleichen Frau herabblicken. Was sie sehen, ist eine durch hohe Gerüstpfähle gegliederte Baustelle, auf der unzählige Figuren, wahrscheinlich Männer, ihrer Arbeit nachgehen. Sie sind in kreischend bunten Farben dargestellt, die den nervenaufreibenden Lärm, dem sich keiner der Anwohner entziehen kann, veranschaulichen. Die Häuser rund um die Baustelle werden in ihren Grundfesten erschüttert und kippen beinahe um. Der Lärm quillt förmlich in die Privaträume der Frau im Vordergrund. Miniaturisierte Bauarbeiter, Pferde und Schubkarren mit Steinen überwinden gerade die Hürde ihres verschnörkelten Balkongitters. Doch das alles scheint die Frau wenig zu tangieren. Ganz gelassen und in ruhiger Körperhaltung blickt sie auf die Baustelle. Der Himmel, von dem ein kleiner Streifen über der Häuserzeile am oberen Bildrand zu sehen ist, wirkt heiter und blau. Das theoretische Konzept der mehransichtigen Wiedergabe des Bildgegenstandes, das in den Kreisen der Kubisten zirkuliert, wird also hier aufgenommen und durch unterschiedliche Betrachtungsstandpunkte angereichert. Daß dieses Bild quasi als Fortsetzung der Visioni Simultanee anzusehen ist, dafür spricht nicht nur die ähnliche Gestaltung in schreiend grellen Farben, sondern auch das Verfahren, den Bildraum zu dynamisieren. In visioni simultanee manifestiert sich die simultanità in der spiegelbildlichen Gegenüberstellung eines wahrnehmenden Frauenantlitzes und eines weiteren, in dem sich das Wahrgenommene in der Mimik äußert, bei gleichzeitiger Visibilisierung ihres Gesichtfeldes. In La strada entra nella casa resultiert sie aus der Darstellung der drei Ganzkörperfiguren, die aus drei verschiedenen Perspektiven auf die mehransichtig dargestellte Baustelle blicken. Unverständlich dagegen ist Boccionis Postulat, die ›Simultaneität der Umgebung‹ darstellen zu wollen, weil sich die Umgebung immer aus simultan nebeneinander bestehenden Komponenten zusammensetzt. In quasi allen Bildern mit narrativem Inhalt ist eine ›Simultanität der Umgebung‹ festzustellen. Wahrscheinlich meint Boccioni die zwar zusammenhangslos, aber simultan nebeneinander bestehenden Komponenten der Umgebung, die dissoziativ auf das wahrnehmende Subjekt einströmen. Die ausgestellten Arbeiten von Boccioni würde ich in zwei Kategorien unterteilen: in die Kategorie der Arbeiten, die vor, und in die Kategorie der Arbeiten, die nach der Paris-Reise entstanden sind, eine Reise, die ich als stilistische Zäsur betrachte. Diese macht sich in den Bildern der ersten Kategorie dadurch bemerkbar, daß sie noch keine kubistischen Elemente enthalten, durch die Bewegung ausgedrückt oder das Bildgeschehen rhythmisiert wird. Zu dieser ersten Kategorie zählen die Gemälde Idolo Moderno, Rissa in Galleria und Cittá che sale. In La Risata und den Stati d’animo II legt Boccioni den Grundstein seiner futuristischen bsthetik, in der er symbolistische Farb- und Formelemente mit den kubistischen Verfahrensweisen des Auffächerns, Zerlegens und Fragmentierens kombiniert, um sein Ziel, einen emotiv gefärbten Dynamismus, zu realisieren. Hier sind die symbolistischen von den kubistisch inspirierten Formelementen noch gut voneinander zu unterscheiden, da die kubistischen in dem Bild La Risata im Nachhinein erst eingefügt

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) worden sind und in den Stati d’animo die symbolistische Anlage erhalten geblieben ist.

CARRÀ Stazione di Milano Das Bild La stazione di Milano (Mailänder Bahnhof, Abb. 76) von Carlo Carrà ist wahrscheinlich das einzige, das erst nach der ›mostra d’arte libera‹ entstanden ist und bereits vor der Paris-Reise vollendet wurde. Dies erscheint deswegen paradox, weil es weitaus weniger innovativ ist als die Bilder, die zuvor entstanden sind. Es illustriert mehr oder weniger wörtlich die Forderungen, die in den Manifesten zu lesen sind. Die Bahnhofsarchitektur, dargestellt in Blau- und Grüntönen mit wenigen leuchtend roten Einstichen, wird dominiert von einer gewaltigen Glaskuppel, die von einem Eisengerüst getragen wird. Es ist die typische Ingenieursbauweise der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie sie auch für die Mailänder Ladenpassage Galleria Vittorio Emmanuele II (Abb. 77) charakteristisch ist. Die Darstellung des Bahnhofs entwickelt sich spiralförmig in konzentrischen, fragmentierten Kreisbewegungen zu einem mittig positionierten Oval, das den Bahnsteig einrahmt, auf dem mehrere Züge zu sehen sind, aus deren Schornsteinen bläulicher Dampf aufsteigt. Die sprachliche Artikulation, in der sich Carrà im Londoner Katalog zu diesem Bild äußert, ähnelt sehr der Sprache Boccionis. Er verwendet Begriffe, die von Boccioni eingeführt worden sind. Zum Beispiel spricht er vom Eindruck der ›Kraft-Linien‹, die einen Bahnhof ausmachen.33 Daß er in dieser Beschreibung den unbestimmten Artikel wählt, läßt erkennen, daß es weniger um den Bahnhof von Milano geht, der vielleicht seine Inspirationsquelle war, als um das Phänomen des modernen Bahnhofs aus Glas und Stahl an sich, wie es um diese Zeit auch in Paris oder Köln zu finden gewesen wäre. ›Quello che mi ha detto il tram‹ und ›Sobbalzi di fiacre‹ Zwei heute sehr bekannte Gemälde Carràs, in denen sich seine Paris-Erfahrung niederschlägt, sind Quello che mi ha detto il tram (Was mir die Straßenbahn erzählt, Abb. 78) und Sobbalzi di fiacre (die rüttelnde Droschke, Abb. 79). Das Bild Quello che mi ha detto il tram ist, wie der geringere Abstraktiongrad nahelegt, wahrscheinlich zuerst entstanden. Vielleicht wurde es schon vor der Paris-Reise begonnen und erst danach beendet. Zunächst mag es aus heutiger Sicht verwundern, daß keine Straßenbahn abgebildet ist, sondern eher die Rückenansicht eines offenen Wagens, der von einem Pferd gezogen wird. Carrà stellt einen Mischtypus aus Kutsche und Straßenbahn dar, der zum Entstehungszeitpunkt des Bildes – 20 Jahre, nachdem die erste Straßenbahn der Welt durch Berlin fuhr – durchaus noch gängig war. Zwar fuhren diese ›Straßenbahnen‹ bereits auf Schienen, doch wurden sie von Pferden gezogen. Es waren ›Pferdebahnen‹

33 Vgl. Gambillo/Fiori 1958, S. 111.

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Futuristen auf Europa-Tournee oder ›Rösslitrams‹, wie dieser Typus in der Schweiz genannt wurde. Die Pferdebahnen sind in zwei Typen zu unterteilen: Die Sommervariante zeichnet sich durch einen offenen Waggon aus, wie er im Bild von Carrà zu sehen ist, die Wintervariante durch einen geschlossenen. Im Londoner Katalog sagt Carrà zu dem Bild, daß er die Emotionen eines Passagiers im Straßenbahnwagen mit denen eines Betrachters von außen synchronisiert habe.34 Stellt man sich vor, daß sich das Traben der Pferdehufe auf den Wagen überträgt und die Insassen durchrüttelt, entsprechen die grob gegeneinander klaffenden Flächen, die den Wagen umgeben, den disparaten Seheindrücken der Passagiere. Die Darstellung des Wagens und der Straßenpassanten, die in schwarzer Kleidung und gebückter Haltung hinter der Kutsche entlanglaufen, folgen noch einem mimetischen Darstellungskonzept und symbolisieren die Sichtweise des außenstehenden Beobachters. Das Bild Sobbalzi a fiacre dürfte direkt nach dem Bild Quello che mi ha detto il tram entstanden sein. Der Fiaker gehört zu den Verkehrsmitteln, die seit 1900 zunehmend durch andere Transportmöglichkeiten verdrängt wurden, also zur Entstehungszeit des Bildes in Italien noch gängig waren. Der Fiaker ist einen Hügel hinaufgefahren, auf dessen stark gekrümmtem Gipfel er sich gerade befindet. Gleich wird er den steil abfallenden Berghang wieder hinunter donnern. Der Fiaker paßt sich der Krümmung des Gipfels so stark an, daß er quasi in seine Einzeilteile – in den offenen Kutschwagen, die Passagiere, den Kutscher und die Pferde – zerfällt. Der bruchstückhaft wiedergegebene Mann trägt ein Sonntagshemd in roten und weißen Streifen, von der Frau ist zumindest ein zum Hemd des Mannes passender, roter Sonnenschirm zu sehen. Sie hatten sich auf eine gemütliche Kutschenfahrt eingerichtet, die am Ende gänzlich ungemütlich anmutet. Im Londoner Katalog schreibt Carrà zu diesem Bild, daß der doppelte Sinneseindruck dargestellt sei, den das plötzliche Rütteln eines alten Fiakers bei den Insassen und den Betrachtern hervorrufe.35 Im Prinzip liegt diesem Bild dieselbe Idee zugrunde wie schon dem Bild Quello che mi ha detto il tram, eine bildliche Form für zwei verschiedene Erlebnisformen zu finden: auf der einen Seite steht das Erleben jener, die einem Ereignis leibhaftig beiwohnen, auf der anderen Seite das Erleben jener, die das Ereignis von außen beobachten. Nur einzelne Realitätsfragmente verweisen auf den gegenständlichen Rahmen. Auch die Lichtmodulation folgt stärker bildeigenen Gesetzmäßigkeiten. Und nicht zuletzt in der zurückgenommenen, bräunlichen Farbigkeit zeigt Carrà in beiden Bildern, daß er sich die Gesetze der kubistischen Bildkonstruktion zumindest zu Herzen genommen hat. Diese beiden Werke sind jene der gesamten Ausstellung, die am stärksten von den Bildern Braques und Picassos inspiriert sind. La donna e l’assenzio In La donna e l’assenzio (Die Frau und der Absinth, Abb. 80) sitzt eine elegant wirkende Frau mit Perlenkette und Federhut auf einer 34 Ebd., S. 110. 35 Ebd.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Bank in einem Café. Das Bild ist so grün wie die Farbe des Absinths, des Lieblingsgetränks der französischen Bohème, dem sich bereits Degas, Manet und viele weitere französische Künstler malerisch gewidmet haben. Zu sehen ist eine fragmentiert anmutende Frau in mehreren Phasen ihrer vom Rausch bestimmten Gemütsbewegung. Carrà stellt die unmittelbare Umwelt der Frau so dar, wie sie ihr in ihrem Rausch erscheinen muß: die Tischoberfläche ist in zwei verschiedenen Positionen zu sehen, die sich gegenseitig überlagern: die Dame sieht bereits doppelt. Tatsächlich hat sie auf dem Bild mehrere Gesichter. Eins wächst rechts neben der Bildmittelachse aus ihrem eigenen Profil heraus, ein anderes ist links davon schemenhaft angedeutet, neben ihrer Brust befindet sich ein von geraden Linien durchkreuzter Schädel, und mit etwas Phantasie kann man noch viele weitere Gesichtsfragmente entdecken, die mit zunehmendem Rausch immer weiter nach unten rutschen, so als würde der Kopf in seiner Gehirntätigkeit durch den Absinth ausgeschaltet und immer mehr die Herrschaft über seine Trägerin verlieren. Vor den Augen der Frau zerfällt das Kaffeehaus-Ambiente immer mehr in unzusammenhängende Fragmente: angedeutete Fetzen von Tischdecken, die typischen rundgeschwungenen Lehnen von Thonet-Stühlen, die teils in die Tischplatte eingeschrieben sind, teils aus dem Bild wegzukippen scheinen, eine Wasserkaraffe zum Verdünnen des Absinths, von der nur der untere Teil zu sehen ist. Interessant ist das in diesem Werk in Erscheinung tretende Frauenbild einer Großstadtdame, die sich insofern ›avantgardistisch‹ verhält, als sie sich den traditionellen Rollenerwartungen nicht fügt, sondern ohne Begleitung in ein Lokal geht, um besonders hochprozentigen Alkohol zu trinken, der zu starken Bewußtseinsveränderungen führt. Der Kleidung nach handelt es sich wahrscheinlich um eine Tänzerin oder Kokotte. Solche Frauen dürften in Italien eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein, weil das Diktat der katholischen Kirche viel stärker war als in Frankreich und sie mehr in den privaten Bereich zurückdrängte. Carrà dürfte aber solche Erscheinungen bei seinen Paris-Reisen häufig gesehen und sich dadurch wie Toulouse-Lautrec, Manet und viele andere inspiriert gefühlt haben. Anlässlich der Ausstellung in Paris hat er dieses aus der französischen urbanen Tradition stammende Motiv wohl wieder aufgegriffen. Porträt des Dichters Marinetti Auf dem ganz in Rot-, Beige- und Brauntönen gehaltenen Bild ist der Dichterfürst Marinetti bei seinen wichtigsten Tätigkeiten, Rauchen und Dichten, zu sehen (Abb. 81). Auf dem Tisch liegt ein bereits beschriebenes Blatt, das deutlich sichtbar von ihm selbst unterschrieben worden ist. Der Rest des Inhalts handelt vom Futurismus und ist nur ansatzweise zu entziffern. Ein weiteres ›unbeschriebenes Blatt‹ wird gerade von seiner spitzen Feder beschriftet. Das im Verhältnis zur Hand überdimensional große Schreibwerkzeug hat etwas von einer scharfen Waffe, deren Schlagkraft durch eine senkrecht aufragende transparente Fläche mit hartem rotschwarzen Rand noch betont wird. Man merkt dem Bild das Bemühen Carràs an, dem Blick Marinettis einen Hauch intellektueller

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Futuristen auf Europa-Tournee Scharfsinnigkeit zu verleihen. Die dunklen Augen sind weit aufgerissen und scheinen den Betrachter zu durchbohren. Das Gesicht mit dem großen schwarzen Schnäuzer ist dunkelhäutig dargestellt und wirkt daher stark orientalisch, möglicherweise ein Verweis auf die ägyptische Herkunft Marinettis, die allerdings aus den erhaltenen Fotografien nicht hervorsticht. Es kann aber sein, daß diese orientalische Anmutung eher auf einen auratischen Aspekt in der Persönlichkeit Marinettis abzielt. Er wurde oft mit einem brillanten Werbekaufmann oder Bazarhändler verglichen,36 der sein Publikum durch seine Botschaften in den Bann zu ziehen wußte. Marinetti, von dem in diesem Bild der Oberkörper zu sehen ist, wirkt rund und kolossartig, wodurch der Dichterfürst bildlich monumentalisiert wird. Der Schreibtisch wird von einem Rundbogen verfremdet und überlagert, so daß er sich zum ›Schreibuniversum‹ ausweitet, bevölkert von diversem Handwerkszeug wie Feder, Tintenfass, Fotokamera und Papier, die Marinetti sämtlich zu Gebot stehen. Im Hintergrund tickt eine Uhr. Es ist kurz nach zwölf. Aus diesem Universum ragt Marinetti wie dessen göttlicher Schöpfer hervor. Dieses Prinzip, Heilige und Propheten mit ihren Insignien darzustellen, ist bis in die Anfänge der christlichen Kunst zurückzuverfolgen. Da das Verhältnis von Carrà zu Marinetti damals (1910/11) unkritisch und unreflektiert war, ist davon auszugehen, daß diese Bezugnahme nicht ironisch, sondern affirmativ gemeint ist. Es ist sicher richtig, daß dieses Bild von Carrà das bekannteste aller Marinetti-Porträts ist, wie die Autoren Maly und Dietfried Gerhardus betonen;37 bekannt wurde es aber wohl eher deshalb, weil es auf dieser berühmten Ausstellung zu sehen war und nicht wegen seines Konzepts, das einer traditionellen Heiligendarstellung ähnelt und Carràs tiefe Verehrung für Marinetti zum Ausdruck bringt. Zusammenfassend läßt sich zu den in Paris ausgestellten Bildern Carràs sagen, daß sie einen sehr heterogenen Eindruck vermitteln, so als hätte der Maler noch keine ästhetische Identität gefunden. Aus Gemälden wie Stazione di Milano spricht noch sehr stark die Überbewertung des Sujets gegenüber dem Darstellungsmodus, das alte Missverhältnis also, das schon Severini und Soffici an den Bildern der Initialphase futuristischer Kunst kritisiert hatten. – In den Werken Quello che mi ha detto il tram und Sobbalzi di fiacre wird das Bestreben deutlich, Bewegung und ihre Wahrnehmung im Bild festzuhalten, wobei aber möglicherweise die Akzente nicht richtig gesetzt wurden. Eine Straßenbahn oder ein Fiaker sind in sich tote, unbewegliche Gegenstände. Das einzig Bewegliche an ihnen sind die Räder. Ausgerechnet diese sind nur marginal angedeutet. Obwohl Carrà Bewegung darstellen möchte, fehlt es diesen Arbeiten an der Dynamik, die in früheren Werken wie den Nuotatrici (Schwimmerinnen) so überzeugend ist. Auch in der Farbgebung stehen diese beiden Bilder hinter früheren weit zurück. In den Schwimmerinnen kontrastiert das vielschichtige Blauweiß des Wassers mit der grellen Kleidung der Frauen. Die Darstellungen von der Straßenbahn und dem Fiaker wirken dagegen in ihrer zurückge-

36 Vgl. Carrà 2002, S. 83f. 37 Vgl. Gerhardus 1977, S. 88.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) nommen bräunlichen Farbigkeit vom Kubismus eines Picasso und Braque inspiriert, ohne daß der Bildgegenstand dies verlangte. Denn schon damals wurden die Pferdebahnen als Fläche für Werbung in schrillen Farben genutzt und waren keineswegs in bescheidenen Brauntönen gehalten. Das rasante Vorbeiziehen dieser bunten Werbeflächen am Auge des Betrachters wäre durchaus ein Phänomen gewesen, das dem Bestreben, Bewegung darzustellen, entgegenkommen wäre und auch zur futuristischen Vorliebe für das pulsierende Leben der Großstadt gepasst hätte. Im Bild der Absinth trinkenden Frau scheinen mir die Anleihen aus Boccionis Gemütszuständen überdeutlich zu sein. Die simultane Darstellung einer psychischen, in diesem Fall durch Rausch hervorgerufenen Befindlichkeit in ihren einzelnen Phasen wirkt wie eins zu eins von Boccioni übernommen. Die schon in der Initialphase von Severini und Soffici kritisierte Anwendung der divisionistischen Malweise an den Bildrändern wirkt noch unsicherer und beliebiger als in der Initialphase selbst, da sie nicht konsequent genug ausgeführt ist und sich mit Formelementen kubistischer Geometrisierung mischt. Das Überzeugendste an dieser Darstellung ist die konsequent grünliche Farbgebung, die die Farbe des Absinths wieder aufgreift und als Metapher für den Zustand des Rausches durchaus sinnvoll erscheint.

RUSSOLO Luigi Russolo ist auf dieser Ausstellung nur mit fünf Bildern vertreten, da seine künstlerische Laufbahn wesentlich später begann als die der anderen futuristischen Maler und sein Oeuvre deutlich weniger Werke umfasst. Das Werk Treno in corsa wurde bereits an anderer Stelle dieser Arbeit besprochen. Ein weiteres, Una – tre teste, ist verschollen. Das Bild I Capelli di Tina (Tinas Haar, Abb. 82), eine Hommage an eine italienische Lorelei mit wallenden rotblonden Haaren und Augen, die blaue Lichtstrahlen entsenden, knüpft in seiner zwischen Symbolismus und Jugendstil changierenden bsthetik unmittelbar an das hier schon behandelte Werk Profumo an und ist weit davon entfernt, eine futuristische Programmatik darzustellen. So empfanden es offenbar auch die Rezensenten, weshalb es in keiner einzigen Besprechung kritisiert oder auch nur erwähnt wird. Es wurde nicht einmal eines ›Verrisses‹ für würdig gehalten. Verbleiben also die Bilder Riccordi di una notte (Erinnerungen an eine Nacht, Abb. 83) und La Rivolta (Der Aufstand, Abb. 84).38 Riccordi di una notte, das ebenfalls von den Rezensenten nicht erwähnt wird, greift Ansätze von Boccioni auf, indem es nicht ›Gefühle‹, sondern Begebenheiten einer einzigen Nacht dissoziativ collagiert: rechts unten die schemenhaften Köpfe von Männern in einer Abendgesellschaft oder grell erleuchteten Bar, ein kleines Pferd oder ein Esel, das eine Kutsche zieht, die in einer Vorstudie noch deutlicher ausgeführt ist, mehrere langgezogene Schattenfiguren, die das malende Ich auf dem Heimweg womöglich gesehen hat, das alles 38 Hier wurde die Übersetzung des deutschsprachigen Katalogs, ›Revolution‹, nicht übernommen.

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Futuristen auf Europa-Tournee verklärende Mondlicht, das nur noch von einem verführerischen Frauenantlitz (wiederum von wallendem Haar umgeben) überstrahlt wird. Russolo greift nicht nur Ansätze von Boccioni auf, er kombiniert sie auch mit Elementen, die aus der symbolistischen Kunst bekannt sind. Dazu gehört zum Beispiel, daß Russolo die Motive nicht direkt von der Natur auf das Bildfeld überträgt, sondern Erinnerungen über eine symbolhafte bsthetik wiedergibt, die durch ihr Zusammenfügen in der Darstellung eine Synthese erfahren. Aber auch die Traumähnlichkeit der Szenerie sowie die Darstellung verrätselter Frauenantlitze scheinen dem Symbolismus entlehnt zu sein. La Rivolta Das einzige Bild, in dem ansatzweise eine futuristische bsthetik zum Ausdruck kommt, ist das großformatige Werk La Rivolta. Eine Masse rebellierender Proletarier ist sehr abstrahiert dargestellt in Form eines leuchtend roten, großflächigen Dreiecks, aus dessen Spitze die Männer der vordersten Front ihre Arme nach vorn strecken. Ihre Dynamik wird durch vier gleichschenklige Dreiecke verstärkt, die die Darstellung wie eine Sequenz von Schallwellen durchziehen. Das Dreieck, das die rebellierende Masse repräsentiert, scheint sich aus einem gelb-grün-gestreiften Untergrund fortzubewegen, der möglicherweise die Po-Ebene oder jedenfalls den Lebensraum des Landarbeiters symbolisieren könnte. Die Lage der Landarbeiter und ihre Abhängigkeit von wenigen reichen Großgrundbesitzern, wie sie später auch in Filmen wie Bitterer Reis dargestellt wurde, führte vor der Demokratisierung Italiens immer wieder zu erbitterten Aufständen gegen das Kapital und zu zunehmender Landflucht in die großen Metropolen. Dort erwartete die Neuankömmlinge ein trostloses Leben in riesigen Mietskasernen, die auf diesem Bild durch finstere blaue Fassaden dargestellt sind. Ein dunkles, lochähnliches Fenster reiht sich ans andere. Es entsteht der Eindruck riesiger, menschenunwürdiger Arbeitervorstädte, wie sie besonders für Norditalien typisch waren. Fast bedeutungslos darin eingequetscht wirkt die grüne Fassade einer kleinen Straßenkirche mit dem charakteristischen spitzgiebligen Dach, in das ein rundes Fenster eingelassen ist. Bei flüchtiger Betrachtung könnte man das Ganze fast für eine geometrische Formstudie halten, in der die roten gleichschenkligen Dreiecke abstrakte dynamische Kräfte bilden, die sich vor dem Hintergrund einer blauen Gitterstruktur bewegen. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, daß es sich bei dem großen Dreieck um rebellierende Massen handelt, die in den städtischen Raum vorstoßen und diesen wie das Bildgefüge zum Kippen bringen, eine Metapher für den gesellschaftlichen Umsturz durch das Proletariat. Diesen Interpretationsansatz vertritt auch der deutsche Romancier und Nervenarzt Alfred Döblin, dessen begeisterte Rezension in der Mai-Nummer der Berliner Zeitschrift ›Der Sturm‹ von 1912 hier im Vorgriff zitiert werden soll: »Mit ausgestreckten Armen ein Zug von tausend Menschen, ein rasender, unheimlicher Trupp, aus dem rote Feuer brechen; die Häuser versinken in Grau, die Häuser knicken vor ihrem Ansturm ein und flattern wie vom Wind zerblasen über ihnen, vor ihnen, neben ihnen,

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) nicht mehr als eine wesenlose Lichterscheinung.«39 Die Intention Russolos, mehr als eine dekorative geometrische Studie zu liefern, wird durch frühere Varianten dieser Arbeit noch deutlicher. In einer davon sind die Massen voranstürmender Proletarier klar zu erkennen, ebenso wie die klar voneinander differenzierten Mietskasernen (Abb.85). Die geometrische Konstruktion des Bildes ist auf einer weiteren Studie zu sehen (Abb.86). Da Marinetti einen rechtspolitischen Ansatz vertrat, der mit proletarischer Revolution nichts zu tun hatte, wurde Russolo zum Prozess einer fortschreitenden Abstraktion und Verrätselung gezwungen, für den es in seinen früheren Arbeiten kein Vorbild gibt. Es klingt fast absurd, daß gerade dieser Akt der Verschlüsselung Russolo auf ein stilistisches Niveau hebt, das als futuristisch zu bezeichnen ist, eine Leistung, die er ohne diese Notwendigkeit wahrscheinlich nicht vollbracht hätte.

SEVERINI Danzatrice ossessionante Zu den insgesamt acht Gemälden von Gino Severini läßt sich vorab sagen, daß er Motive aus seinem alltäglichen Lebensumfeld auswählt, die hauptsächlich mit der Darstellung von ›Tanz‹ und ›Tänzerinnen‹ (nach dem Vorbild von Toulouse-Lautrec) zusammenhängen. Diese Inspirationen erhielt er aus den Bars, Variétés und ›boîtes de nuit‹, in denen er am Montmartre häufig verkehrte. Die in dem Bild Danzatrice ossessionante (Die ruhelose Tänzerin, Abb. 87) vorherrschende Malweise ist ein konsequent angewandter Pointillismus, mit dem Severini an frühere Kunstproduktionen wie an das bereits besprochene Werk Printemps à Montmartre (1909) anknüpft. Dabei behält er das Verfahren der Formdivision bei, das er schon in seinem Bild Le Boulevard (1911) verwendet hatte. Die Darstellung ist in zahlreiche, farbig unterschiedliche Segmente eingeteilt, die ihrerseits pointillistisch gestaltet sind. Die Anlage des hochformatigen Bildes ist symmetrisch. In der Hauptsache sind zwei nebeneinandergestellte gleich große Brustbild-Ansichten ein- und derselben Tänzerin zu sehen, die sich etwa komplementär zueinander verhalten. Dazwischen verläuft die Mittelachse der Darstellung, die durch eine kreisrunde Lichtquelle am oberen Bildrand markiert wird. Von dieser Lichtquelle gehen kegelförmige Strahlen aus, die besonders die links zu sehende Ansicht beleuchten und segmentieren. In den Oberkörper der Frau ist in beiden Ansichten ein schwarzer Katzenkopf mit schwefelgelben Augen eingelassen, eine Anspielung auf das berühmte Kabarett ›Chat Noir‹ am Montmartre, in dem seit 1881 der künstlerische Nachwuchs aus dem Bereich Chanson und Tanz einem exquisiten Publikum vorgestellt wurde (Severini hat dem Motiv der ›schwarzen Katze‹ übrigens auch ein eigenes Bild gewidmet, das ebenfalls auf der FuturistenAusstellung zu sehen war).40 Der Katzenkopf erscheint in dieser Darstellung zweigeteilt. Die rechte Frauenansicht hält die rechte

39 Döblin 1912 (Reprint 1970), S. 41. 40 Il Gatto Nero (1911).

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Futuristen auf Europa-Tournee Hälfte der Katze im Arm, die linke die andere. Nach einem ähnlichen kompositorischen Prinzip ist auch das Bild La Modista gestaltet, das ebenfalls auf der Pariser Ausstellung zu sehen ist. Severini sagt in seinem eigenen Kommentar zu dem Gemälde Danzatrice ossessionante, daß es sich nicht um irgendeine, sondern um eine ganz bestimmte Tänzerin handle, die er »in vielen Perioden seines Lebens« immer wieder beobachtet und genau studiert habe.41 Die Summe der dabei gesammelten persönlichen Eindrücke – vergangene, gegenwärtige, beiläufige und übertrieben dramatische, aus der Nähe und aus der Ferne empfangene – habe er in diesem Bild zusammengefasst. Es geht also nicht, wie manchmal irrtümlich angenommen,42 um die verschiedenen ›Gemütszustände‹ der Tänzerin, womit indirekt eine Imitation Boccionis unterstellt wird, sondern um Severinis eigene. Offenbar hat diese Frau den Maler über lange Zeit stark gefesselt. Sie hat ein wohlgeformtes, alabasterweißes Gesicht, das sich dramatisch von dem üppigen schwarzen Haar abhebt, große, stark geschminkte Augen und schön geschwungene dunkelrote Lippen, die allerdings fest verschlossen sind und keine Gefühlsregung zeigen. Sie steht nur da und ist schön. Unnahbar und narzisstisch. Sigmund Freud hat diesen Frauentyp einmal mit »schöne(n), narzisstische(n) Katze(n)« verglichen.43 Darum paßt auch die Katze, die sie im Arm hält, so gut zu ihr. In ihrer symmetrischen Segmentierung, die genau die der Tänzerin entspricht, wirkt sie wie ihr animalisches alter ego. Im oberen Bildbereich ist die Frau zwei weitere Male ›en miniature‹ zu sehen, wie eine kleine, blasse Erinnerung aus der Ferne, einmal als Ganzkörperfigur, das andere Mal als Brustbild, jedoch ohne irgendwelche individuellen Merkmale oder Gesichtszüge. Sie trägt ein dunkelrotes, tief ausgeschnittenes Kleid mit enger Taille und neigt den Kopf neckisch zur Seite. Am linken Bildrand ist ein ebenfalls gesichtsloser Mann mit Frack, Zylinder und Fliege zu sehen, einer der vielen Besucher des Nachtlokals, in dem die Tänzerin auftritt. Eine leise Verwirrung stiftet der Titel des Bildes. ›Ossessionante‹ wird in der englischen Fassung des Ausstellungskataloges als ›haunting‹ (verfolgend, wie ein Gespenst umgehend) übersetzt, in der deutschen aber als ›ruhelos‹. Letzteres scheint besonders wenig plausibel, da sich die beiden das Gemälde dominierenden Frauenansichten gar nicht bewegen, sondern statisch dargestellt sind – man sieht noch nicht einmal ihre tanzenden Beine wie auf anderen Bildern Severinis, die das Phänomen ›Tanz‹ darstellen, wie Danseuse Bleue oder La Chahutteuse. Dies macht noch einmal deutlich, daß Severini nicht die Ruhelosigkeit der dargestellten Tänzerin meint, sondern seine eigene, als Verfolgung empfundene Obsession von ihr. Alfred Döblin war von dieser Arbeit vollkommen hingerissen und sah darin eine ganz neue Art, Porträts zu malen. 41 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Severini: Presentazione alle opera esposte alla Sackville Gallery, März 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 110. 42 Vgl. Fonti 1988, S. 118. 43 Vgl. Appignanesi/Forrester 1992, S. 355.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) »Severini sieht das Gesicht seiner ruhelosen Tänzerin veilchenfarben zweimal über die Fläche gehen«, schreibt er in der Zeitschrift ›Der Sturm‹. »Sie dreht sich in Ganzfigur; den Zylinder im Nacken sieht ihr ein Kavalier zu, und aus dem Boden des Bildes stechen zwei schwefelgelbe Katzenaugen. Kein Vordergrund, kein Hintergrund, nicht Zeit, nicht Raum; auf dem Urgrund liegt alles gemächlich – und so malt man ein Porträt!«44

La Danza del Panpan Dieses riesige bunte Wandgemälde von ca. 250 mal 350 cm Größe (Abb.88) ist nicht genau zu datieren.45 Vermutlich entstand es im Laufe des Jahres 1911, da Severini im Januar an Marinetti schreibt, ob er ihm nicht einen Vorschuss für bereits vorhandene Werke zahlen könne, da er Leinwand und Farben für ein großformatiges Gemälde – wahrscheinlich La Danza del Panpan – brauche. Auch die weitere Geschichte des Bildes ist verwirrend. Auf der großen futuristischen Tournée im Jahr 1912 war es noch zu sehen, wurde dann an einen deutschen Bankier, Dr. Borchardt, verkauft und später von den Nationalsozialisten als ›entartete Kunst‹ zerstört. In den Jahren 1959/60 fertigte Severini auf der Basis von alten Zeichnungen und Fotografien eine Reproduktion des Gemäldes an, die heute in Paris (Centre Pompidou) zu sehen ist. Über die Farbigkeit des Originals sind also keine genauen Aussagen zu machen, außer daß es wahrscheinlich grellbunt war. Das schon in La danzatrice ossessionante vorhandene Gestaltungsprinzip wird in diesem Bild teilweise aufgegriffen. Die künstlichen Lichtquellen eines Nachtlokals – des berühmten ›Monico‹ am Montmartre – nehmen hier den ganzen oberen Bildrand ein, ohne jedoch das Bildgeschehen durchgängig zu segmentieren. Unter den Lichtquellen erkennt man die Bar des Tanzlokals und die schemenhafte Figur eines Kellners. Der ganze Rest – also der größte Teil – der Darstellung gleicht einem unentwirrbaren Puzzle, das zu analysieren quasi unmöglich ist. Verschiedene Tische mit männlichen und weiblichen Gästen scheinen einen Kreis zu bilden, in dessen Mitte mehrere Tänzerinnen den Pan-Pan tanzen. Welcher Tanz das war, ist heute schwer zu ermitteln; unzählige Frauenbeine in hellen, hochhackigen Schuhen, deren Absätze einen ohrenbetäubenden Lärm zu produzieren scheinen, sind den dazugehörigen Körpern kaum zuzuordnen. Alles quirlt durcheinander und ist in Bewegung. Individuelle Gesichter sind kaum auszumachen, nur ein männlicher Gast im unteren linken Bilddrittel wendet sich ernst und versonnen dem Betrachter zu, als ginge ihn das lebhafte Treiben im ›Monico‹ gar nichts an. Von daher scheint es ziemlich weit hergeholt, wenn Daniela Fonti ein Zentrum der Darstellung erkennen möchte, in dem zwei beliebte Modelle Severinis, die Tänzerinnen Liette und Nanette, als ›aktiv‹ und ›passiv‹ miteinander tanzend zu sehen sehen sein sollen.46 Es gibt keine Ordnungsfaktoren, an denen sich das Auge wie in dem Bild Boulevard festhalten könnte; es gibt keinen

44 Döblin 1912 (Reprint 1970), S. 41. 45 Zu diesem Bild vgl. Fonti 1988, S. 120f. 46 Ebd., S. 120.

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Futuristen auf Europa-Tournee Hintergrund und keine räumliche Tiefe; vielmehr ist der illusionistische Tiefenraum in diesem verwirrenden Mosaik fast gänzlich aufgelöst, wenn man von einigen wenigen Details wie den eckigen weiß gedeckten Tischen absieht. Die Verwirrung nimmt bei längerer Betrachtung des Gemäldes nicht ab, sondern zu. Es entsteht der Eindruck von Totalchaos, das Severini selbst laut, champagnertrunken und grellfarbig genannt hat.47 Das empfand auch Kurt Tucholsky, der nach seinem Besuch der Berliner Ausstellung darüber schrieb: »Mir wurde rot und grün vor den Augen, das Bild drehte sich, ich tanzte, und das wollte es ja auch.«48 Guillaume Apollinaire, einer der ersten und prominentesten Rezensenten der Pariser Ausstellung, kam zu einem ähnlichen Urteil und schrieb über dieses Werk, es sei wert, sehr genau betrachtet zu werden. »Es ist das wichtigste Werk, das bisher von den Futuristen gemalt wurde. In diesem Bild ist die Bewegung gut wiedergegeben. Da sich die optische Mischung kaum bemerkbar macht, ist alles in Bewegung versetzt, so wie es der Künstler wollte.«49 Von den anderen Gemälden Severinis sei er weniger überzeugt, da sie unter dem Einfluß neo-impressionistischer Techniken der Malerei Van Dongens ständen.

ZUSAMMENFASSUNG, REZENSIONEN, WERTUNG Abschließend läßt sich zu dieser Ausstellung sagen, daß Severini und Boccioni in ihrem Bemühen, Bewegung darzustellen, die stärksten Positionen vertreten, wobei sie diesen Stil der Bewegung selbst ›Dynamismus‹ nennen. Boccioni konzentriert sich auf die Bewegung des Gemüts, was man als ›emotiven Dynamismus‹ bezeichnen könnte; Severini mehr auf tänzerische Bewegung, die mit einer rauschhaften mentalen Verfassung in Zusammenhang steht, so daß die Bezeichnung ›ekstatischer Dynamismus‹ adäquat wäre. In der ästhetischen Positionierung von Carrà und Russolo ist eine starke Orientierung am Vorbild Boccionis zu erkennen. Obwohl Carrà auf eine ebensolange Erfahrung als Maler aufbauen konnte wie Boccioni, wirkt sein Stil wesentlich weniger unverwechselbar und autonom. Bis auf Russolo stellen alle Futuristen nur einen kleinen Teil ihrer umfangreichen Produktion auf dieser Ausstellung vor. Bei Russolo dagegen entsprechen die vorgestellten Exponate beinahe seinem futuristischen Gesamtwerk, wobei von den insgesamt fünf ausgestellten Arbeiten nur eine, nämlich Rivolta, überzeugend wirkt und eine überregionale Resonanz findet. Alle anderen Maler haben um ihren Stil hart gekämpft. Russolo konnte nur mit dem Bild Rivolta das Publikum begeistern, ansonsten leitet seinen Anspruch auf Zugehörigkeit zu den Futuristen wahrscheinlich aus der (biographischen)Tatsache ab, daß er die entscheidenden Manifeste mit unterschrieben hat. So versteht ihn jedenfalls Apollinaire, wenn er in einer ersten Rezension zur Ausstellung schreibt, vielleicht werde er eines Tages mehr an »bildnerischen Problemen inte47 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Severini: Presentazione alle opera esposte alla Sackville Gallery, März 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 110. 48 Peter Panter ( = Kurt Tucholsky) 1925, S. 97. 49 Apollinaire 1989, S. 153.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) ressiert« sein.50 Russolos weniger dezidierte ästhetische Position ist vielleicht auch damit zu erklären, daß er an der gemeinsamen Paris-Reise der Futuristen, die auch eine Art Studienreise war, gar nicht teilgenommen hat. Von daher ist eine kreative Verarbeitung des Kubismus in seinen Werken nicht zu finden. Severini selbst widmet dieser Ausstellung ein ganzes Kapitel seiner Autobiographie, in dem er zu einem sehr differenzierten Gesamturteil kommt.51 Dabei referiert er nicht nur seine eigenen Eindrücke, sondern auch die von Carlo Carrà, Guillaume Apollinaire und Ardengo Soffici, so daß sich ein äußerst facettenreiches Werk aus den unterschiedlichsten Perspektiven ergibt, worin man eine geistige Grundhaltung sehen könnte, die auch die Basis seiner Bildproduktion ist. Marinetti und Carrà hätten diese Ausstellung als einen »wundervollen Erfolg« geschildert. Es sei aber an der Zeit, »offen zu sein, um die Dinge zurechtzurücken«. Welchen Nutzen habe sonst ›Geschichte«?52 »Die Wahrheit der Angelegenheit ist«, schreibt er weiter, »daß zu einer Zeit, als die Qualität italienischer Kunst stets niedrig war, diese jungen Künstler alle Mittel nutzten, um ihr Wissen über die künstlerische Aktivität, so wie sie in Paris zu finden war, auf den neuesten Stand zu bringen. Das Bemühen selbst verdient Lob, nicht Kritik. Ihr Mut, Arbeiten in einer Arena auszustellen, wo sie mit den besten Künstlern ihrer Zeit verglichen werden würden, sollte ihnen Respekt und nicht Tadel einbringen. Unglücklicherweise war es falsch und taktlos von diesen Neulingen, in Paris als Herausforderer und Antagonisten auszustellen, anstatt sich der vielen bereits offenen Türen zu bedienen. Sie hätten versuchen sollen, sich in die Bewegung moderner französischer Malerei einzufügen, die bereits mehr und mehr eine europäische wurde, sie hätten ihr Bestes tun sollen, Nutzen aus diesen Gemälden zu ziehen, womit sie in der Tat ihre frischen Intuitionen und ihren persönlichen Wert hätten entfalten können, anstatt sich mit Manifesten, stürmischen Konferenzen und spektakulären Enthüllungen abzugeben. Es war nur natürlich, daß ihr aggressives Verhalten Reaktionen provozierte, und ihre Ideen, obwohl sie gleichermaßen gut und innovativ waren, mißverstanden und untergraben wurden. Man muß bemerken, daß weder Marinetti noch meine futuristischen Freunde diese Reaktionen jemals zur Kenntnis genommen haben; im Gegenteil, sie leugneten sie vollständig. (Nur Soffici würde später davon sprechen). Statt dessen redeten sie soviel über den Erfolg der Ausstellung, über das Lob in den Zeitungen, so daß sie ihre eigene Version schließlich glaubten.«53 50 51 52 53

Ebd. Vgl. Severini 1965, S. 109-131. Ebd., S. 109. »Che questi giovani artisti, in un momento in cui il livello dell’arte italiana era die più bassi, abbiano cercato con ogni mezzo di mettersi rapidamente al corrente dell'attività artistica europea, quale si manifestava a Parigi, è cosa degna di encomio e non di critica; ed anche il coraggio di esporre il loro lavoro in un campo dove avrebbe dovuto sostenere il confronto dei migliori artisti dell’epoca è da ascrivere a loro onore e nessuno può biasimarli. Ma fu uno sbaglio, una mancanza di tatto e di furberia, da parte di

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Futuristen auf Europa-Tournee Dieser Selbstbetrug sei sogar so weit gegangen, daß Carrà mehrere Artikel von Apollinaire als äußerst schmeichelhaft angeführt habe, obwohl sie in Wahrheit niederschmetternde Verrisse gewesen seien. Severini führt größere Auszüge aus zwei Apollinaire-Artikeln an, die unmittelbar nach der Ausstellung erschienen sind. In seinen Memoiren fungieren sie nur als für sich selbst stehende Beweise dafür, daß die italienischen Futuristen jenem Selbstbetrug unterlagen, von dem eben die Rede war. Er beginnt mit einem Auszug aus dem ersten Artikel Apollinaires zu dieser Ausstellung, der zwei Tage nach der Vernissage, am 7. Februar 1912, erschienen ist: »Die Futuristen sind junge Maler, die eine Menge Lob verdienten, wenn sie nicht durch die Prahlerei und die Überheblichkeit ihrer Manifeste jede Nachsicht ausschließen würden, die wir sonst geneigt wären, ihnen gegenüber walten zu lassen. Sie erklären, der Kunst der französischen Malerei ›absolut entgegengesetzt‹ zu sein, und doch sind sie gerade in diesem Punkt nichts anderes als plumpe Nachahmer. Nehmen wir z.B. Boccioni, den ich persönlich für den begabtesten Maler der Futuristen halte. Picassos Einfluß auf sein Werk ist unübersehbar, so wie in jeder zeitgenössischen Malerei sein Einfluß spürbar ist. Boccionis beste Arbeit ist am meisten von Picasso inspiriert. Sie benutzt sogar die gedruckten Zahlen, die Picassos neuen Werken eine so einfache und grandiose Realität geben. Die Titel der futuristischen Bilder scheinen oft dem Vokabular der Unanimisten entlehnt zu sein. Die Futuristen sollten sich vor Synthesen in Acht nehmen, die sich nicht bildnerisch umsetzen lassen und nur zu den kalten Allegorien der Pompiers führen. Das Bild ›Pan-Pan à Monico‹ sollte man sehr aufmerksam betrachten. Es ist das wichtigste Werk, das bisher von den Futuristen gemalt wurde. In diesem Bild ist die Bewegung gut wiedergegeben. Da sich die optische Mischung kaum bemerkbar macht, ist alles in Bewegung versetzt, so wie es der Künstler wollte. Weniger überzeugt bin ich von den anderen Bildern Severinis, die ganz offensichtlich von der neo-impressionistischen Technik Van Dongens Malerei beeinflußt worden sind. Erwähnen wir noch Carrà, der in der Art von Rouault, aber viel vulgärer malt, und der manchmal an den Akademismus eines vergessenen Malers, Mérodack-Jeaneau, erinnert. Russolo ist am wenigsten von den jungen französischen Malern beeinflußt. Seine Vorbilder muß man in München oder Moskau suchen. Vielleicht wird er eines

questi giovani, presentarsi a Parigi, quando molte porte erano già aperte, come concorrenti e come antagonisti, invece di cercare in ogni modo di incastrarsi nel movimento pittorico francese, ma di già di più in più europeo, cercando di mettersi in prima fila con le opere, con quel che realmente portavano d’intuizioni nuove e di vero valore personale, e non con i manifesti, le tumultose conferenze, le spettacolari esposizioni. Era naturale che la loro attitudine aggressiva provocasse una reazione, e che anche le idee buone e nuove da loro portate fossero fraintese e volontariamente svalutate. Ora di questa reazione né Marinetti, né i miei amici futuristi fecero mai parola, anzi vollero negarla assolutamente (soltanto Soffici ne parlerà più tardi); e parlarono tanti di successi e di allori giornalistici, che finirono per crederci anche loro.« (Ebd., S. 109., Übersetzung LW).

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Tages mehr an bildnerischen Problemen interessiert sein. Die jungen futuristischen Maler könnten durchaus mit einigen unserer avantgardistischen Künstler mithalten. Bisher sind sie aber nichts weiter als unbeholfene Schüler von Picasso oder Derain. Was jedoch die Anmut des Bildes anbelangt, so haben sie keine Ahnung davon.«54

Bereits im ersten Satz spricht Apollinaire das Problem der futuristischen Hochstapelei an, die sich in ihren zahlreichen schriftlichen bußerungen niederschlägt. Ihre bußerungen als solche führen naturgemäß dazu, sich von einer reinen Beschäftigung mit ihrer malerischen Kompetenz ablenken zu lassen. Hinzu kommt, daß der grundsätzlich provozierende Grundton, dessen sich die futuristischen Maler bedienen, am Ende gegen sie selbst verwendet wird. Zu diesen bußerungen gehört auch die von Apollinaire angeführte Behauptung, daß die Futuristen ihre Kunst als der französischen absolut entgegengesetzt ansehen. Es ist Apollinaire absolut beizupflichten, daß dies nicht der Fall sein kann, wie im Verlauf dieser Arbeit gezeigt wurde und was auch die Bildanalysen erwiesen haben. Doch kann man ihm noch folgen, wenn er so weit geht, die futuristischen Künstler als »plumpe Nachahmer« zu bezeichnen? Wohl 54 »Les futuristes sont des jeunes peintres auxquels il faudrait faire crédit si la jactance de leurs déclarations, l’insolence de leurs manifestes n’écartaient l’indulgence que nous serions tentés d'avoir pour eux. Ils se déclarent ›absolument opposes‹ à l’art de écoles françaises extrêmes et n’en sont encore que les imitateurs. Voilà Boccioni, que me paraît être mieux doué des peintres futuristes. L’influence de Picasso est ainsi indéniable, comme elle n’est point niable sur toute la peinture contemporaine. La meilleure toile de Boccioni est la plus directement inspirée des derniers ouvrages de Picasso. Il n’y manque même point ces nombres en chiffres d’imprimerie qui mettent dans les récentes productions de Picasso une si simple et si grandiose réalité. Les titres des tableaux futuristes paraissent fréquemment empruntés au vocabulaire de l’unanimisme. Que les futuristes se méfient des synthèses qui ne se traduisent point plastiquement et ne mènent le peintre qu’à la froide allégorie des pompiers. Il faut encore regarder avec attention cette Danse du pan-pan à Monico, qui est jusqu’à maintenant l’œuvre la plus importante qu’ait peinte un pinceau futuriste. C’est une toile où le mouvement est bien rendu et le mélange optique des couleurs ne s’y faisant point, tout y remue selon le souhait de l’artiste. J’aime moins les autres toiles de Severini, trop influencées par la technique néo-impressionniste et par les formes de Van Dongen. Mentionnons encore Carrà, sorte de Rouault plus vulgaire que le nôtre, et qui rappelle parfois encore l’académisme d’un Mérodack-Jeaneau, peintre oublié. Russolo est le moins influencé par les jeunes peintres français. Il faudrat chercher ses maîtres à Munich ou à Moscou. Nous le retrouverons un jour plus préoccupé d’idees véritablement plastiques. Les Jeunes peintres futuristes peuvent rivaliser avec quelques-uns de nos artistes d’avant-garde, mails ils ne sont encore que les faibles élèves d’un Picasso ou d’un Derain et, quant à la grâce, ils n’en ont pas idée.« (Apollinaire 1966, S. 227f., Severini 1965, S. 109f.; deutsche Übersetzung in: Apollinaire 1989, S. 152f.)

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Futuristen auf Europa-Tournee kaum. Die Futuristen sind vom Kubismus inspiriert, wie in den Bildanalysen gezeigt wurde. Ebenso nahm die Entwicklung der futuristischen bsthetik von der Auseinandersetzung mit der kubistsichen Kunst ihren Ausgang. Doch sind die kubistischen Formelemente nur Teil eines von vorneherein eklektizistischen Konzepts, das allein der Umsetzung eines futuristischen Anliegens dient, nämlich Dynamik auszudrücken, sei es in einem ekstatischen Sinne wie bei Severini oder im Rahmen einer emotiv gefärbten Semantik wie bei Boccioni. Genauso wenig wie die futuristischen Maler der französischen Kunst »absolut entgegengesetzt« sind, sind sie deren »plumpe Nachahmer.« Während die stilistische Einordnung der Bilder durch Apollinaire, nach dem Severinis Malerei an die von Kees van Dongen, Carràs Bilder an die Werke von Georges Rouault und MérodackJeaneaus erinnert, nicht besonders einleuchtend erscheint, ist die Parallele, die Apollinaire zwischen den futuristischen Bildtiteln und dem Unanimismus zieht, ausgesprochen hellsichtig.55 Ich würde sogar so weit gehen, sie auf den Futurismus als Gesamtphänomen auszudehnen. Denn die Theorie der Unanimisten, deren treibende Kraft Jules Romain war, den Menschen nicht als Individuum, sondern als Teil der Gesellschaft im Sinne einer beseelten Einheit (unanime) zu sehen, ist bei den Futuristen eine gelebte Praxis, die sich beispielsweise in den ›Serate‹ manifestiert. So wie die Unanimisten eine Poetik suchten, die mit der modernen Realität besser übereinstimmt als die des literarischen Symbolismus, suchen die futuristischen Künstler dasselbe für ihre bsthetik. Zu dieser Programmatik gehört bei beiden Gruppierungen die ostentative Hinwendung zu Themen, die ihrem Begriff von Modernität entsprechen, wie Elektrizität, Automobile und Fabriken. Die bildnerischen Formen, die die Futuristen gefunden haben, entsprechen den literarischen des Unanimismus. In seinem Romanzyklus ›Les Hommes de bonne volonté‹ erzählt Jules Romain nicht die Geschichte einer Einzelperson, sondern zeitlich parallel ablaufende Ereignisse, die montageartig zusammengefügt sind, so daß sich ein collagiertes Gesamtbild ergibt ï eine literarische Entsprechung zum Konzept der simultaneità, das sich bei Boccioni visualisiert findet, wie in visioni simultanee. Das unanimistische Gedankengut könnte den Malern durch Marinetti übermittelt worden sein. Dieser war nämlich ebenso wie Apollinaire ein häufiger Gast der ›Abbaye de Créteil‹, der im Jahr 1906 gegründeten Werkstatt des Unanimismus, in der auch die Bücher der Unanimisten gedruckt wurden und in der die unanimistischen Dichter ihrer Arbeit nachgingen. Ganz von der Hand weisen kann Apollinaire Momente von großer Kreativität und Begabung, die sich in den Arbeiten der Futuristen niederschlagen, jedoch nicht, wenn er immerhin zugibt, daß die futuristischen Maler mit einigen der eigenen, also französischen, avantgardistischen Malerei mithalten könnten. Einschränkend fügt er hinzu, daß sie »unbeholfene Schüler von Picasso und Derain« seien, aber die Anmut ihrer Bilder nicht zu kopieren vermöchten. Und

55 Vgl. dazu Kommentar von Hajo Düchting, in: Apollinaire 1989, S. 333f.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) in der Tat ist es so, daß keines der futuristischen Darstellungen so zart und filigran wirkt wie viele von Picasso aus dieser Zeit. Severini unterschlägt in seiner Darstellung den ersten Absatz des von ihm zitierten Artikels, der ebenso wie der bereits zitierte Rest sehr aufschlußreich ist und in dem folgendes zu lesen ist: »Die Simultanität der Gemütszustände im Kunstwerk: Das ist das berauschende Ziel unserer Kunst.‹ Diese Erklärung der italienischen Futuristen enthüllt zugleich die Originalität und die Schwäche ihrer Malerei. Sie möchten Formen in Bewegung malen, ein völlig legitimes bildnerisches Ziel, doch zugleich verfallen sie der Manie vieler Pompiers, die Gemütszustände malen zu wollen. Während unsere avantgardistischen Maler überhaupt keine Gegenstände mehr in ihren Bildern darstellen, so ist der Gegenstand noch das Interessanteste, was die Bilder der Pompiers zu bieten haben. Die Futuristen erklären, daß sie die Vorteile des Bildgegenstandes nicht aufgeben wollen. Genau das könnte sich aber als verhängnisvolles Riff erweisen, an dem ihre an sich positive künstlerische Zielsetzung scheitern könnte.«56

Im ersten Satz dieses Zitats aus dem Pariser Ausstellungskatalog macht sich das Problem bemerkbar, wie stark der Futurismus vom Ideengut Boccionis dominiert wurde. Die ›Malerei der Gemütszustände‹ ist eine ästhetische Konzeption, die ausschließlich von Boccioni entworfen worden ist. Zwar wurde sie von Carrà und Russolo in ihren Bildern epigonal angewandt, doch an ihrem Entwurf waren sie in keiner Weise beteiligt. Nun stellt sich die Theorie Boccionis in dem Pariser Ausstellungskatalog als allgemeine Theorie der futuristischen Malerei dar. Deswegen wird sie von Apollinaire auf eben diese projiziert ï unausgesprochen auch auf Severini, dessen Malerei von den theoretischen Erwägungen Boccionis unabhängig ist, da er nicht die Bewegung des Gemüts, sondern die ekstatische Bewegung des Tanzes darstellen möchte. Vielleicht hat Severini deswegen diesen Abschnitt des Artikels nicht angeführt. Zwar erachtet Apollinaire es als »völlig legitimes bildnerisches Ziel«, »Formen in Bewegung«, nicht aber Gemütszustände darstellen zu wollen. Dies veranlaßt ihn dazu, die Futuristen mit den Pompiers, den naturalistishen akademischen Malern zu vergleichen, weil beide am Gegenstand haften, was eine strukturelle Innovation

56 »La simultanéité des états d’âme dans l’œuvre d’art: voilà le but enivrant de notre art.‹ Cette déclaration des peintres futuristes italiens dit l’originlité et le défaut de leur peinture.Ils veulent peindre les formes en mouvement, ce qui est parfaitement légitime, et ils partagent avec la plupart des peintres ›popmpiers‹ la manie de peindre des états d’âmes. Tandis que nos peintres d’avant-garde ne peignent plus aucun sujet dans leurs tableaux, le sujet est souvent ce que les toiles des ›pompiers‹ ont de plus intéressant. Les futuristes italiens prétendent ne point renoncer au bénéfice du sujet et cela pourrait bien être l’écueil contre lequel viendrait se briser leur bonne volonté plastique.« (Apollinaire 1966, S. 227; deutsche Übersetzung in Apollinaire 1989, S. 52).

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Futuristen auf Europa-Tournee behindern könnte. Die folgenden bußerungen über den Bildgegenstand legen nahe, daß Apollinaire der Ansicht ist, das Anliegen, Gemütszustände darstellen zu wollen, müsse zwangsweise zu einer rein illustrativen Malerei führen ï die er als Verfechter des Kubismus natürlich ablehnt. Dieser Zusammenhang wird erst im zweiten Artikel zu dieser Ausstellung deutlich,57 in dem folgendes zu lesen ist: »Die Kunst der neuen Maler in Frankreich unterscheidet sich vom Akademismus der Pompiers durch die heftige und erbitterte Beobachtung der Natur. Die neuen Maler beobachten die Natur sehr genau, sie zerlegen sie und studieren sie mit unendlicher Geduld. Man sollte es daher nicht erstaunlich finden, daß solche reinen Maler überhaupt nicht mehr am Gegenstand oder Motiv weiter interessiert sind und daß sie nun ihre Bilder einfach ›Malerei‹, ›Studie‹ oder ›Landschaft‹ nennen. (...) Die Futuristen sind jedoch kaum an bildnerischen Problemen interessiert. Die Natur interessiert sie nicht. Ihr Hauptanliegen ist das Sujet. Sie möchten Gemütszustände malen. Das ist die gefährlichste Malerei, die überhaupt vorstellbar ist. Sie wird die Futuristen unweigerlich dazu führen, reine Illustratoren zu werden.«58

Auch wenn das Problem, vom Bildgegenstand die ästhetische Innovation zu erwarten, nach der Initialphase des Futurismus massiv entschärft wurde, ist es für Apollinaire immer noch so dominierend, daß er den Gegenstand ï neben den Gemütszuständen ï als das Interessanteste erachtet, das die futuristischen Bilder zu bieten haben ï und auch an dieser Stelle kann er es sich nicht verkneifen, die futuristischen Maler mit den Pompiers zu vergleichen. Vielleicht erscheint es im Rahmen einer kubistischen bsthetik plausibel, »überhaupt keine Gegenstände« mehr darzustellen. Doch kann dieses Prinzip als Maßstab auf die futuristische Malerei übertragen werden? Ist es im Rahmen der futuristischen bsthetik überhaupt sinnvoll, es anzustreben, den Bildgegenstand gänzlich aufzulösen? Gerade in dem Postulat, die »Vorteile des Bildgegenstandes« nicht aufgeben zu wollen, das Apollinaire den futuristischen Malern zum Vorwurf macht, erweisen sich die futuristischen Maler eben

57 Vgl. G. Apollinaire, Die Futuristen, in: Le petit Bleu, 9. Februar 1912, deutsche Übersetzung in: Apollinaire 1989, S. 153-157. 58 »L’art des nouveaux peintres de France se distingue de l’académisme des ›pompiers‹ par une observation violente, acharnée de la nature. Les jeunes peintres scrutent la nature, ils la dissèquent, ils l’étudient avec patience. Aussi ne doit-on point s'étonner que les plasticiens aussi purs ne se préoccupent point du sujet et que leurs tableaux soient maintenant intitulés: peinture, etude ou paysage.(…) Les futuristes, eux, n’ont presque pas de préoccupations plastiques. La nature ne les intéresse pas. Ils se préoccupent avant tout du sujet. Ils veulent peindre des etats d’âmes. C’est la peinture la plus dangereuse que l’on puisse imaginer. Elle amènera tout droit les peintres futuristes à n’être que des illustrateurs.« (Apollinaire 1966, S. 231; deutsche Übersetzung in Apollinaire 1989, S. 155f.)

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) nicht als »plumpe Nachahmer«, wie er sie an anderer Stelle bezeichnet. Denn, wie soll man Bewegung darstellen ohne einen Gegenstand, durch den sie realisiert werden kann? Die futuristischen Maler lehnen den Gegenstand deswegen nicht gänzlich ab, weil sie ihn in moderner Weise darstellen wollen, in Bewegung, als Teil einer Durchdringung verschiedener Bildsphären. Und gerade das Spiel zwischen Auflösung des Gegenstandes auf der einen Seite und seiner Konstitution auf der anderen zu Gunsten der Darstellung von Geschwindigkeit, Durchdringung und Simultanität ist eine Eigenheit der futuristischen bsthetik, die an den Bildern dieser Serie schon ansatzweise zu erkennen ist und sich bis Ende 1913 noch stärker ausprägen wird. Den zweiten Artikel, den Apollinaire zu dieser Ausstellung geschrieben hat, erachtet Severini als den noch wichtigeren,59 obwohl viele Argumente des ersten Artikels wiederholt werden. Nachdem sich Apollinaire auch hier an der futuristischen Hochstapelei gerieben hat, gesteht er immerhin ein, daß der originellste Aspekt der futuristischen Malerschule die Suche nach einer Bewegungsdarstellung in der Malerei« sei.60 Doch fügt er einschränkend hinzu: »Soweit dieses Problem überhaupt mit bildnerischen Mitteln lösbar ist, haben es bereits jedoch die französischen Maler gelöst, in Wirklichkeit sind die Futuristen eher philosophischen und literarischen als bildnerischen Ideen gefolgt.«61 Apollinaire ist also dermaßen in Rage geraten, daß er den Futuristen sogar ihren »originellsten Aspekt«, die Suche nach einer Bewegungsdarstellung in der Malerei, abzuerkennen versucht, um ihn den französischen Malern als ihr Verdienst zuzuschreiben. Wie unhaltbar diese bußerung ist, zeigt sich schon darin, daß Apollinaire im Gegensatz zu seiner sonstigen Argumentationspraxis keine Beispiele anführt, die die Schlagkraft seiner These bekräftigen. Es hat in der französischen Malerei vielleicht vereinzelte Werke gegeben, die die futuristische Suche nach einem Stil der Bewegung leise antizipierten. Im Falle Severinis wäre etwa der Maler Toulouse-Lautrec zu nennen.62 Doch gibt es keine Schule, keine Kunstrichtung, die diesem Problem konsequent nachgegangen wäre oder es gar gelöst hätte. Vielleicht ärgert es Apollinaire, daß diese italienischen Hochstapler, die, wie in seinem Artikel zu lesen ist, »von der französischen Malerei (...) weder Corot noch Renoir, weder Seurat noch Matisse« kennen, trotzdem eine Bühne gefunden haben, auf der sie sich weiter entwickeln und wettbewerbsfähig werden. Nachdem Apollinaire die bereits im ersten Artikel enthaltenen stilistischen Einordnungen wiederholt, kommt er zu einer leicht differenzierten Einschätzung Severinis : »Severini ist neben Boccioni derjenige, der unter den futuristischen Malern am meisten zu sagen hat.«63 Zu diesem Ergebnis gelangen auch die Bildanalysen der hier 59 60 61 62

Vgl. Severini 1965, S. 110. Apollinaire 1989, S. 155. Ebd. Ihn nennt Severini zumindest selbst in seiner Autobiographie als Vorbild. Severini 1965, S. 81. 63 Apollinaire 1989, S. 155.

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Futuristen auf Europa-Tournee vorliegenden Arbeit, da Severini der einzige war, der es mit seiner Ausformung eines ›ekstatischen Dynamismus‹ vermochte, sich von Boccioni ästhetisch zu emanzipieren und einen autonomen Aspekt der Bewegungsdarstellung in der Malerei zu verfolgen. Auch die stilistischen Querverweise Apollinaires erscheinen nun plausibler. Neben Kees van Dongen nennt er dieses Mal auch Signac, Cross und Rysselsberghe. Zumindest über Signac und Cross sagt Severini selbst, von ihnen beeinflußt worden zu sein.64 Aber auch Severini unterliegt dem Selbstbetrug, den er seinen Kollegen vorwirft, wenn er aus dem folgenden Absatz zitiert, ohne Apollinaires bußerung zu kommentieren, daß es die Futuristen ohne ein gewisses Maß Kühnheit nie gewagt hätten, derart unfertige Werke auszustellen65: »Trotzdem wird die Ausstellung der futuristischen Maler unsere eigenen jungen Maler lehren, in Zukunft noch kühner als bisher zu sein. Ohne Kühnheit würden es die Futuristen nie gewagt haben, Arbeiten zu zeigen, die noch so unvollkommen sind. Die futuristische Ausstellung wird unsere jungen Maler auch ermessen lassen, wie weit voraus sie ihren Rivalen in Italien und in der Tat in der ganzen Welt sind. Die Ausstellung wird sie auch lehren, bessere Titel für ihre Bilder zu finden. Hier sind einige von Boccionis Titeln: ›Les adieux, Ceux qui s’en vont, ceux qui restent, La rue entre la maison, La rire, La ville Monte, Visions simultanée, Idole moderne, Les forces d’une rue, La rafle.‹ Carrà hat sich nicht gescheut, ein Ereignis darzustellen, dem er selbst beigewohnt hat: Das Begräbnis des Anarchisten Galli. Russolo hat ein Bild mit ›La révolte‹ betitelt.«66

So mag es dem Leser der Autobiographie von Severini scheinen, daß Apollinaire den futuristischen Malern immerhin die Kühnheit als eine Eigenschaft lasse, die zu begrüßen sei. Daß dem aber keinesfalls so ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Trotzdem scheint auch Apollinaire von der futuristischen Malerei stärker irritiert zu sein als er zugibt. Andernfalls wäre sie der Aufregung und zahlreichen Artikel nicht wert. Wenn Apollinaire die futuristischen Maler am Ende nicht doch ernst nähme, welche Veranlassung sollte er sonst haben,

64 Cross und Rysselsberghe seien an Seurat orientiert – ebenso wie Severini. Severini 1965, S. 74. 65 Ebd., S. 112; Apollinaire 1989, S. 156. 66 »Cependant, l’exposotion des peintres futuristes apprendra à nos jeunes peintres à avoir encore plus d’audace qu'ils n’en ont eu jusqu’ici. Sans audace, les futuristes n’auraient jamais osé exposer leurs essais encore si imparfaits. Elle leur servira à mesurer aussi de combien ils dépassent encore leurs rivaux d’Italie et de toutes les nations. Elle leur apprendra encore mieux à choisir les titres pour leur peinture. Voici les titres de Boccioni: Les Adieux, Ceux qui s’en vont, ceux qui restent, La Rue entre dans la maison, La Rire, La Ville monte, Visions simultanées, Idole moderne, Les Forces d’une rue, La Rafle; Carrà n’a pas craint de reproduire un événement auquel il a assisté: Les Funerailles de l’anarchiiste Galli; Russolo a peint une toile intitulée La Revolte.« (Apollinaire 1966, S. 231; deutsche Übersetzung in: Apollinaire 1989, S. 156).

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) sie als ›Rivalen‹ der französischen Künstler anzusehen? Offenbar fühlt sich Apollinaire von den futuristischen Künstlern ernsthaft bedroht. Es klingt zugleich vermessen und wenig souverän, unverhohlen kundzutun, daß die Ausstellung der Futuristen die französischen jungen Maler ermessen lassen werde, wie weit voraus sie ihren ›Rivalen‹ in Italien und in der ganzen Welt seien ï auch dann, wenn dem wirklich so sein sollte. Was Apollinaires Kritik an der Titelgebung einzelner Bilder oder Bildzyklen betrifft, so erscheint es in der Tat ungewöhnlich, daß allein der Titel der Gemütszustände insgesamt drei Zeilen einnimmt. Ironisierend fügt er weiter hinzu: »Kurz, die neue in Frankreich geförderte Kunst scheint sich bisher auf eine Melodie zu beschränken, während uns die Futuristen zumindest durch die Titel gelehrt haben, daß diese Kunst auch die Fülle einer Symphonie erreichen könnte.«67 Die Ironie besteht darin, daß Apollinaire vorgibt, die französischen Künstler, die in seinen Augen der ganzen Welt so weit voraus sind, könnten tatsächlich noch etwas von den Futuristen lernen. Während sich Picasso und Braque auf ›einfache‹ Gegenstände konzentrieren und trotzdem in ihren Bildern überzeugen, plustern die Futuristen ihren Aspekt ästhetischer Innovation ebenso theatralisch wie unnötig auf, was sich eben auch in den Bildtiteln bemerkbar macht. Der Begriff ›Melodie‹ ist vermutlich die musikalische Metapher für die kubistische Malerei als eine Kunst einer genialen ›neuen Einfachheit‹ (ein Begriff, der in der Musikästhetik dieser Zeit durch die Schönberg-Schule en vogue war), der Terminus ›Symphonie‹ könnte dagegen so zu verstehen sein, daß Apollinaire die futuristische Malerei als Kunst des vielstimmig Theatralischen und Konstruierten auffasst, vor der er an anderer Stelle empfiehlt, sich in acht zu nehmen. In diesem Zusammenhang ist vielleicht erwähnenswert, daß die ›Symphonie‹ als Gattung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zwar noch von weltberühmten Komponisten wie Gustav Mahler und Richard Strauss gern bedient wurde, für die um Schönberg versammelte Avantgarde aber bereits etwas Verstaubtes, Reaktionäres und Bombastisches hatte, das sich aus klassischen und romantischen Einflüssen speiste, ohne sich in einer eigenen Tonsprache zu artikulieren. Die Anwendung des Begriffs ›Symphonie‹ auf die futuristische Kunst macht demnach deutlich, daß Apollinaire sie für antiquiert hält. Dieser zuletzt zitierte Satz aus dem Artikel Apollinaires ist der einzige, auf den sich Carrà in seiner Autobiographie beziehen wird, wenn er schreibt: »Die Ausstellung machte sich unterdessen als künstlerisches Ereignis von höchstem Rang geltend. Die ganze Pariser Presse besprach sie ausführlich, darunter ›Le petit bleu de Paris‹ vom 9. Februar 1912 mit einem sehr schönen Artikel von Guillaume Apollinaire, der in der futuristischen Malerei ein ›sich Erheben der Melodie zur Symphonie‹ sah.«68

67 Ebd. 68 »L’esposizione intanto andava sempre più affermandosi come avvenimento del primo piano. Tutta la stampa parigina ne trattò diffusamente, fra cui ›Le petit bleu de Paris‹ del 9 febbraio 1912 con un bellissimo articolo di

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Futuristen auf Europa-Tournee Hierin spiegelt sich der Selbstbetrug der italienischen Futuristen, von dem bei Severini anhand eines anderen Beispiels die Rede war. Carrà mißversteht vollständig den zynischen Verriß der Ausstellung als Lob. Er reißt den Satz aus dem Gesamtzusammenhang und gibt ihn teils in eigener Rede, teils als Zitat wieder ï so daß er ihn in seinem ironischen Charakter grundsätzlich verfälscht. Im Oktober des Jahres 1912 erscheint ein weiterer Artikel Apollinaires über die futuristische Malerei, der weder bei Carrà noch bei Severini erwähnt wird.69 In der Zwischenzeit war die futuristische Bilderserie schon in allen bedeutenden Metropolen Europas zu sehen gewesen. Weitaus sachlicher wiederholt der Kritiker die Argumente der vorhergegangenen Artikel und fügt neue hinzu, wie etwa folgendes: »Der Futurismus ist meiner Meinung nach eine italienische Nachahmung von zwei Stilrichtungen der französischen Malerei, die innerhalb weniger Jahre aufeinander folgten: Fauvismus und Kubismus. Ich selbst führte M. Marinetti, den ersten Theoretiker der futuristischen Malerei, in die Arbeiten der neuen französischen Maler ein (…).«70

Die Einflüsse kubistischer Malerei auf die futuristische sind in dieser Arbeit und anderen Untersuchungen oft genug dargelegt worden. Wie aber kommt Apollinaire zu der These, daß der Fauvismus die zweite Quelle der »Nachahmung« ist, aus der die futuristischen Maler geschöpft hätten? Zunächst dürfte bei der Ausstellung von 1912 verwirrend sein, daß, wie bereits gesagt, eine ganze Reihe von Bildern aus der Zeit vor der Paris-Reise stammt, also vor der konzentrierten Auseinandersetzung mit der französischen Kunst, so daß es schwierig ist, auseinanderzuhalten, welche Darstellungen durch die Paris-Erfahrung inspiriert sind und welche nicht. Hinzu kommt, daß Apollinaire viele weitere Bilder futuristischer Malerei, die auf der mostra d’arte libera zu sehen waren, gar nicht bekannt waren. Ohne diese Differenzierung mag es in der Tat so erscheinen, daß die Futuristen das kubistische Formkonzept mit einem fauvistischen Farbkonzept kombiniert hätten. Dafür spricht etwa die dramatische Oberflächengestaltung und die intensive Farbgebung einiger der futuristsichen Gemälde. Nicht aber bei Severini, der sich in vielen seiner Bilder lieblicher Farbwirkungen bedient und seine Guillaume Apollinaire che vede nella pittura futurista un ›elevarsi della melodia alla sinfonia«. (Carrà 2002, S. 98.) 69 G. Apollinaire, Der Futurismus, in: L'intermédiaire des chercheurs et des curieux, 10. Oktober 1912; deutsche Übersetzung in: Apollinaire 1989, S. 186-187. 70 »Le futurisme est, à mon sens, une imitation italienne des deux écoles de peinture française qui se sont succédé dans les dernières années: les fauves et les cubistes. J’ai moi-même fait connaître à M. Marinetti qui fut le premier théoricien de la peinture futuriste les œuvres des nouveaux peintres français (…).« (Apollinaire 1966, S. 272f.: deutsche Übersetzung in: Apollinaire 1989, S. 186.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Farbwahl noch an jene der postimpressionistischen Bilder anlehnt. Jedoch ist die farbliche Gestaltung als kontinuierliche Weiterentwicklung der Kunstproduktion seit den Anfängen der futuristischen Malerei zu sehen, vielleicht sogar seit den individuellen Anfängen der Malerei einzelner futuristischer Maler. Dieses Farbkonzept verbalisierte Boccioni im Gründungsmanifest futuristischer Malerei, das bekanntlich lange vor der Paris-Reise entstanden ist, erstmalig mit dem Begriff des ›angeborenen Komplementarismus‹, ein Prinzip, das man bereits in Gemälden sehen konnte, die aus der Zeit vor der Gründung des Futurismus stammen. Daß Marinetti der »erste Theoretiker der futuristischen Malerei« sein soll, ist vielleicht ein Mißverständnis Apollinaires. Nicht ganz abwegig dagegen erscheint die leise Andeutung, daß Marinetti die futuristischen Maler zumindest dazu angeregt hat, eine Konkurrenzsituation zu den französischen Künstlern aufzubauen. Zwar gibt es keine konkrete bußerung Marinettis dazu im Bereich der bildenden Kunst, dafür aber in der Musik. Dem italienischen Musiker Pratella, der daran interessiert ist, Mitglied der futuristsichen Bewegung zu werden, schreibt Marinetti im Jahr 1912 in einem Brief: »Ich schicke Dir alles das, was es in Paris über fortschrittlichere Musik gibt. Meiner Meinung nach wird Ravel richtigerweise als der bedeutendste der französischen Neuerer bezeichnet. Du mußt ihn mit einem Ausbruch übermähstiger Originalität in Paris unbedingt übertreffen und an die Wand drücken. Begnüge Dich deshalb nicht mit Deiner Begeisterung, die Deine große Begabung hervorruft. Bei dir geht es weder darum, ein großartiger, genialer Musiker, noch der größte Musiker in Italien zu sein, sondern der wichtigste aller neuerer, der kühnste derer, die die Musik revolutionieren, indem Du Dich über Débussy und seinen Nachfolger Ravel, über Strauss und seinen Nachfolger Florent Smith erhebst. (...) Wie Du bei Ravel feststellen kannst, der in Débussys Fußstapfen tritt, ist er nur ein halbherziger Neuerer, d. h. nur auf dem Gebiet der Technik (darin ähnelt er den Kubisten) (...)«71

71 »Ti mando tutto ciò che c’è di più avanzato in fatto di musica a Parigi. Ravel è, credo, giustamente considerato come il più importante dei novatori francesi. È assolutamente necessario che tu lo superi e lo schiacci a Parigi con uno scoppio di originalità strapotente. Non accontentarti dunque dell’entusiasmo che suscita il tuo grande ingegno. Non si tratta per te di essere semplicemente un grandissimo musicista di genio, né il più grande musicista italiano, ma il più novatore die novatori, il più audace dei rivoluzionari in musica, saltando a piè pari al di là di Debussy e del suo seguace Ravel e al di là di Strauss e del suo seguace Florent Schmith. (...) Come potrai constatarlo, Ravel, sulle peste di Debussy, è un novatore a meta, cioè soltanto tecnicamente (e ciò rassomiglia ai Cubisti).« (Gambillo/Fiori 1958, S. 237f; deutsche Übersetzung aller in dieser Anthologie enthaltenen Briefe der Jahre 1912 und 1913 in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 332-392, hier S. 338f.

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Futuristen auf Europa-Tournee Nach Marinetti sind also Débussy und Strauss und ihre »Nachfolger« Ravel und Florent Smith die wichtigsten Erneuerer der Musik. Für Marinetti ist es ausgesprochen wichtig, daß Pratella besonders die französische Konkurrenz übertrifft. Ravel sei nur ein Epigone von Débussy, nur zur Hälfte Erneuerer, da er nur technisch innovativ sei ï wie die Kubisten. Die Fauvisten erwähnt Marinetti gar nicht. Ich würde also nicht so weit gehen, den Fauvismus als einen dem Kubismus gleichwertigen Ausgangspunkt der Entwicklung futuristischer bsthetik anzusehen, zumal, wie schon gesagt, die farbliche Gestaltung der neuesten Bilder an jene vor der Parisreise anknüpft. Außerdem begreifen die Futuristen die Kubisten als ihre größte Konkurrenz, wogegen eine fauvistische Inspiration beinahe marginal erscheint. Auch in ihren Schriften ist die Auseinandersetzung mit dem Fauvismus von sekundärer Bedeutung. Im letzten Absatz des Artikels vom 10. Oktober 1912 übt Apollinaire auch soziale und politische Kritik an den futuristischen Malern: ihm zufolge werden sie »aus den fetten Pfründen der futuristischen Bewegung unterstützt, mit Sitz des Hauptquartiers in Mailand, und stehen sich deswegen finanziell nicht schlecht. Die meisten der jungen Kubisten dagegen, die heute einer der nobelsten und geistigsten Kunstauffassungen vertreten, sind von allen Mitmenschen verlassen worden, werden von der Presse beschimpft und leben praktisch in halber Armut, wenn nicht sogar in völliger Mittellosigkeit.«72 In Severinis Autobiographie gibt es eine zentrale Aussage, die, ohne auf diesen Artikel konkret Bezug zu nehmen, dem Klischee von Marinetti als Mäzen der futuristischen Kunst widerspricht.73 Es habe ihm oft an Großzügigkeit gegenüber seinen Freunden in Mailand gefehlt, sowie auch an kritischem Urteilsvermögen gegenüber denjenigen, die er begünstigte. Sobald sich eine noch so unbedeutende Person selbst als Futurist bezeichnet habe, sei sie stärker von Marinetti gefördert worden als sie in Wahrheit verdient habe. Auch habe er damals schon begonnen, die Dinge weniger unter künstlerischem Aspekt als im Hinblick auf ihre Wirkung zu betrachten. Daher sei Quantität für ihn wichtiger als Qualität geworden. Dieses Prinzip habe letztlich dazu geführt, daß alle von Marinetti begünstigten Techniken und Aktivitäten vom Faschismus absorbiert werden sollten. Eine weitere interessante Reaktion auf die Ausstellung futuristischer Malerei in Paris ist das ›Manifest der futuristischen Frau‹ der Malerin und Poetin Valentine de Saint-Point, einer damals 37jährigen Nichte des Dichters Lamartine, die später unter dem Namen ›Fanatikerin des göttlichen Lichtes‹ nach bgypten gehen und zum Islam konvertieren würde. Kurz nach einer gemeinsamen Abendveranstaltung mit Marinetti in der ›Maison des Etudiants‹, die am 7. März 1912 stattfand,74 erscheint das genannte Manifest, das bald auch den deutschsprachigen Raum erreicht und im Mai 1912

72 Apollinaire 1989, S. 187. 73 Vgl. Severini 1965, S. 103f. 74 Vgl. Ponte 1999, S. 46.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) in der Berliner Zeitschrift ›Der Sturm‹ veröffentlicht wird.75 Es handelt sich nicht um ein Künstlermanifest, das sich konkret zum ästhetischen Programm der futuristischen Malerei äußert, sondern um einen Appell an die Frau der Zukunft, die ›futuristisch‹ zu sein habe, worunter sie ein Wesen mit »weibliche(n) und männliche(n) Eigenschaften« versteht, das sich der traditionellen Rollenfixierung entzieht und wie eine Jeanne d’Arc oder Charlotte Corday revolutionäre und kriegerische Qualitäten entwickelt. »Seit Jahrhunderten stößt man den Instinkt der Frau mit Füßen«, sagt Valentine de Saint-Point, die sich vom Feminismus als einem »Gehirnfehler« deutlich abgrenzt. »Der blutarme Mann, der mit seinem Blute geizt, will sie nur als Krankenpflegerin; mehr fordert er nicht! Sie hat sich bändigen lassen. Aber schrei ihr ein neues Wort zu, stoß einen Kriegsschrei aus, und freudig wird sie wieder ihrem Instinkt folgen und zu ungeahnten Eroberungen voranschreiten.« Es ist sehr wahrscheinlich, daß Valentine de Saint-Point Otto Weiningers 1903 erschienenen Weltbestseller ›Geschlecht und Charakter‹ gelesen hat,76 in der von der grundsätzlichen Bisexualität jedes Menschen die Rede ist. Könnte Valentine de Saint-Point aber auch durch die Bilder der Futuristen zu diesen bußerungen inspiriert worden sein? Möglicherweise ja; denn gerade die in Paris ausgestellten von Carrà, Severini, Boccioni und Russolo zeigen zwar nicht die militante Revolutionärin, die Seite an Seite mit den Männern kämpft, aber auch nicht die züchtige Mutter und Hausfrau. Gezeigt werden vielmehr Frauen, die als Tänzerinnen, BarBesucherinnen, Prostituierte oder mythische Gestalten mit gewaltiger Haarfülle und fesselndem Blick traditionelle Rollenklischees jener Zeit ablegen, ohne deshalb ihre körperliche und mentale Weiblichkeit aufzugeben. Das Manifest von Saint-Point ist heute besonders bekannt, weil es im Grunde ein Paradox ist. Der Futurismus war eine fast rein männlich dominierte Bewegung, deren Aussagen und Postulate etwas stark Frauenfeindliches hatte und Frauen deshalb abschreckte. In diese Männerdomäne bricht Valentine de Saint-Point wortgewaltig ein, woraus man sowohl raffiniertes Kalkül als auch Ironie lesen könnte. Dieser Text machte die Autorin mit einem Schlag international weitaus bekannter als ihre Gedichtbände es jemals vermocht hätten. Für viel mehr Aufsehen sorgte aber ihr ›Futuristisches Manifest der Wollust‹,77 das sie am 27. Juni 1912 in der Salle Gaveau dem Pariser Publikum vorstellt, ebenfalls im Beisein Marinettis. Laut Präambel ist es eine »Antwort an die unredlichen Journalisten, die Sätze verstümmeln, um die Idee lächerlich zu machen, (...) Antwort denjenigen, für die Wollust nur Sünde ist« oder die »in der Wollust nur das Laster anstreben.« Valentine de Saint-Point benutzt den Begriff ›Wollust‹ (frz.: luxure) in einem Sinne, der etwa dem der 75 Vgl. Valentine de Saint-Point: »Manifest der futuristischen Frau«, in: Harten, 1974, ohne Seite. 76 Vgl. Weininger 1997. 77 Valentine de Saint-Point: »Futuristisches Manifest der Wollust«, in: Asholt/ Fähnders 1995, S. 29f.

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Futuristen auf Europa-Tournee Freud’schen ›Libido‹ entspricht. Sie umfasst nicht nur körperliche, sondern auch kriegerische und geistige Energien, bzw. setzt diese frei. »Die Wollust, außerhalb jedes moralischen Konzepts stehend, und als wesentliches Element des Dynamismus des Lebens begriffen, ist eine Kraft.« In der Beziehung zwischen den Geschlechtern plädiert sie für die Abschaffung der Zärtlichkeit zugunsten der ›Wollust‹. Zärtlichkeit ist für sie eine Art Sentimentalität, das, was Freud in den ›Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‹ ›psychische Überschätzung des Sexualobjektes‹ genannt hat. – Diese bußerungen aus dem Mund einer schönen, eleganten Frau mit gewaltigem Federhut sorgten für große Aufregung im Publikum, die schließlich zu Prügeleien führte. Eine solche Entweihung der Liebe war selbst für die nicht gerade für Prüderie bekannten Pariser zuviel. Einen Monat nach dieser Veranstaltung, am 28. Juli 1912, erscheint in der Zeitung ›La Voce‹ ein Artikel aus der Feder von Ardengo Soffici, desselben italienischen Kunstkritikers und Malers, der bereits an anderer Stelle als dem Futurismus kritisch bis ablehnend gegenüberstehend erwähnt wurde. Der Titel des Artikels lautet ›Nochmals über den Futurismus‹.78 Er behandelt das Phänomen des Futurismus und seiner Rezeption in Paris, angefangen mit der Ausstellung in der Galerie Bernheim Jeune bis zu den Manifesten und Auftritten von Valentine de Saint-Point. Soffici zitiert dabei aus zwei Briefen guter Freunde, die er jedoch nicht namentlich nennt. Aus der Autobiographie von Severini erfährt man, daß es sich um die Baronesse Hélène d’Oettingen und deren Bruder, Serge Jastrebzoff, handelte, beides interessante Figuren in der Pariser Kunstszene.79 Die Baronesse bzw. der erste zitierte Anonymus schreibt: »Ich habe gestern die Futuristen gesehen î ich habe sie in ihren Werken und Persönlichkeiten gesehen, und mir scheint, daß es nicht ausreichend harte Strafen genug für sie geben könnte, auch nicht der ausreichend groben Worte, um ihre wahre Rolle im Leben und in der Kunst zu umreißen î ich finde nur, daß es zuviel ist, daß diese Demütigung, die man durch sie erfährt, beinahe schrecklich ist, und daß ihre Unverschämtheit unbestraft bleibt!«80 78 Ardengo Soffici, »Ancora del Futurismo«, in: La Voce 28 (1912), S.852. Übersetzung aller zitierten Passagen LW. Der Artikel wurde unter dem Titel ›Anchor of Futurism‹ partiell schon einmal ins Englische übersetzt. ›Ancora‹ heißt einerseits ›nochmals‹, andererseits ›Anker‹. Daß ›Anker‹ nicht gemeint sein kann, liegt schon allein deswegen auf der Hand, da Soffici sich schon so häufig zum Futurismus geäußert hat, daß er sich in diesem Artikel eben noch ein weiteres Mal zu ihm äußert. Englische Übersetzung von Jennifer Franchina, in: Severini 1995, S. 97. 79 Severini 1965, S, 119 f. 80 »Ho visto ieri I futuristi – gli ho visti nelle opere e in persona, e mi pare che non ci potrebbe essere punizione abbastanza grave per loro, nè parole abbastanza grossolane per stabilire la loro vera funzione nella vita e nell’arte – solo trovo che è troppo, che è quasi terribile questa umiliazione che si sente e la loro sfacciataggine che resta impunita!« (Ardengo Soffici, »Ancora del Futurismo«, in: La Voce 28 [1912], S.852.) .

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Der zweite Gewährsmann, der Bruder der Baronesse also, schreibt über die Soirée von Valentine de Saint-Point: »(...) Ein einziges Spektakel, organisiert von den Futuristen zur Vergrößerung ihres Ruhmes – weil sie über den Futurismus und die Frau gesprochen hat, und besonders über die Fleischeslust als Quelle großer Kraft. Auf der Treppe traktierte man sich mit Faustschlägen. Aber oh weh! Dort waren auch einige Schwachköpfe, die wie die Futuristen alles ernst nahmen, was sie sagte, ohne untereinander einig zu sein, diese Pechvögel!«81

Soffici zitiert diese Aussprüche, um die Gefühle der angeblichen Mehrheit der Pariser Gesellschaft damit auszudrücken. Severini zitiert sie, weil diese beiden Personen nicht nur durchschnittliche Mitglieder dieser Mehrheit sind, sondern auch im absoluten Vordergrund der modernen Kunstszene stehen, Freunde von Picasso, Max Jacob, Apollinaire etc. Seiner Ansicht nach nehmen diese Briefe den Widerhall auf, den die futuristischen Veranstaltungen, besonders die der Malerei, in Paris produzierten. Meiner Ansicht nach sind diese beiden Aussprüche deswegen interessant, weil sie eine Wendung bei Soffici motivierten, mit der er begann, mit dem Futurismus zu sympathisieren. Eigentlich, sagt er, habe er nicht vor, sein altbekanntes Urteil über den Futurismus zu revidieren. Aber es gebe etwas »in diesen Ausbrüchen, und noch mehr in den Hohngelächtern der Essayisten, Journalisten, Kaffeehausästheten und vieler, die, ohne einen Finger zu bewegen, sich ermächtigt glauben, jeden zu verspotten und zu verhöhnen, der es wagt, die Luft eines intellektuellen Ambientes aufzufrischen.« Über diese Überheblichkeit der selbsternannten Pariser Elite schreibt er, daß sie ihn »absolut ärgere« und seinen Gerechtigkeitssinn provoziere. »Es ist die alte, unbesiegbare Aversion aller gegen das Neuartige und die Kühnheit.« Damit bescheinigt er eben jener Elite, die sich selbst für so aufgeschlossen und weltbewegend innovativ hält, in Wirklichkeit konservativ und borniert zu sein. Bevor er diesen Gedanken weiter ausführt, wiederholt er in kräftigen Worten die Einwände, die man ihm und dem Futurismus entgegenhalten könnte: Er bringe keine neuen Ideen hervor und seine Kühnheit sei nur Scharlatanerie. Er sei ein Mischmasch aus eigenem und ausländischem Kram, ein altbackenes, ranzig schmeckendes Anisplätzchen, wie man es bis heute in schlechten Pizzerien neben den Espresso gelegt bekommt. Aber: »Der Futurismus ist eine Bewegung, und Bewegung ist Leben.« Müsse man sich darum nicht ernsthafter für seinen Charakter, seine Mittel und Grenzen interessieren, anstatt nur für die Skandale und Unfälle, die er provoziere? »Alle wissen«, schreibt er über die Ausstellung in der Galerie Bernheim Jeune,

81 »(…) spettacolo unico, organizzato dai futuristi per loro maggior gloria – giacchè essa ha parlato del futurismo e la donna, es sopratutto della lussuria come sorgente di grande forza. Ci sono stati dei pugni per le scale. Ma ahimè! C’erano anche alcuni imbecilli che insieme ai futuristi prendevano sul serio tutto ciò ch’essa diceva senza esser però d’accordo fra loro, i disgraziati.« (Ebd.)

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Futuristen auf Europa-Tournee »und ich vielleicht mehr als jeder andere, daß sie (...) kein Triumph für die italienische Kunst war. Der Divisionismus, der improvisierte Kubismus, kombiniert mit dem malerischen Divisionismus, wer konnte das ernst nehmen? Wer nahm sie (die Futuristen) ernst? Niemand. Aber daraus resultierte trotzdem, daß die Legende eines toten und unter der Tölpelhaftigkeit seines Konservativismus (...) begrabenen Italien erschüttert wurde.« Das Gefasel und die schamlosen Verrücktheiten der Futuristen, die er als »Ikonoklasten« bezeichnet, weckten die Aufmerksamkeit des Publikums für ein Land, dessen Kunst schon totgesagt gewesen sei. Künstlerisch und ästhetisch sei die Ausstellung vielleicht wenig überzeugend gewesen. Aber hätte man stattdessen die Etablierten, einen Bistolfi, De Maria oder Tito nach Paris schicken sollen, oder gar Vertreter einer gänzlich unbedeutenden jungen italienischen Malerei? »Denken wir gut darüber nach«, fügt er sinnend hinzu. Valentine de Saint-Point, die von den Futuristen zu ihren spektakulären Auftritten inspiriert wurde und durch ihre Manifeste selber zur Futuristin geworden war, könne man zwar für recht überspannt halten. Auch seien ihre Thesen keineswegs neuartig. Schließlich seien alle großen Kunstwerke »mit c...« – gemeint ist der »cazzo« – gemacht, also Produkte einer Sublimierung erotischer Energie. Doch dies sei nicht wichtig. Wichtig sei vielmehr, »daß eine Frau in der Öffentlichkeit ein solches Argument verbreiten konnte.« Über den Futurismus kommt Soffici zu folgender Zwischenbilanz: »Tauschen wir die Gedanken und die Personen aus, ihre Arbeiten und ihren Stil, und wir werden ein Schauspiel des Lebens und der Freiheit haben. Weil das Unheil des Futurismus nicht in jenen besteht, die ihn repräsentieren, und darin, wie sie ihn repräsentieren, und nicht in der Essenz einer Erneuerungsbewegung, die ausgezeichnet ist.« Klassizismus und Ernsthaftigkeit unter italienischen Künstlern seien ja etwas sehr Schönes, fährt er ironisch fort, bildeten aber eine solche Dunggrube der Mittelmäßigkeit, daß er eine futuristische Schlägerei auf der Treppe vorziehe. »Ich wollte alles in allem sagen«, heißt es im abschließenden Absatz, »daß aus der futuristischen Bewegung ein Mensch, ein neues Bewußtsein, ein Künstler hervorgehen kann (...). Dieselben, die ich ein anderes Mal angegriffen (...) habe, weil ihre Werke banal und rückständig waren, können morgen (...) etwas hervorbringen, (…) das es wert ist, fortzuleben und sich enthusiastisch zu enthüllen.«82

82 »Cambiamo mentalmente le persone, le loro opere e il loro stile ed avremo uno spettacolo di vita e di libertà. Giacchè il guaio del futurismo consiste in quelli che lo rappresentano, in come lo rappresentano non nella sua essenza di movimento rinnovatore – che è eccellente. (…) Si. I saggi pensieri e rigorosi, le grande parole, la cultura, la ragione, la probità letteraria, il classicismo, la serietà sono tutte cose bellissime, ma avviene che da noi esse formano, combinate insieme, un tal pantano, una tale concimaia di mediocrità, di banalità che francamente io preferisco una scazzottatura futurista per le scale. (…) Volevo dire, insomma, che dal movimento futurista può uscire un uomo, una coscienza nuova, un artista (…). Quelli stessi che

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Soffici hat also sehr wohl verstanden, was Apollinaire bereits an anderer Stelle andeutete, daß man in Paris über die futuristische Kunst lachen dürfe, in Italien aber keineswegs, da sie das Beste sei, was das Land an zeitgenössischer Kunst zu bieten habe. Er erkennt, daß die Intentionen der futuristischen Maler mit seinen eigenen durchaus übereinstimmen könnten, so daß der Artikel die innere Wendung indiziert, von der weiter oben schon die Rede war. Auch wenn die Futuristen Soffici immer noch mit Vorbehalt gegenüberstehen, beauftragen sie Severini in einem Gruppenbrief, die ›Friedensverhandlungen‹ mit ihm einzuleiten.83 Severini ist dieser Aufforderung gefolgt. Dies führt dazu, daß eine Reihe florentinischer Journalisten von La Voce, zu denen auch Soffici gehört, sich dem Futurismus anschließt und eine eigene Gruppe in Florenz gründet, aus der 1913 die Zeitschrift ›Lacerba‹ hervorgeht, die das kommunikative Organ der Futuristen bis 1915 sein wird. In seiner Funktion als Maler tritt Soffici auch aktiv künstlerisch dem Futurismus bei und wird ab 1913 auch auf dessen Ausstellungen mit eigenen Werken vertreten sein. Er tritt damit an die Stelle von Russolo, der keine neuen Bilder mehr produziert, sondern sich der futuristischen Musik zuwendet.

Die Ausstellung futuristischer Malerei in London London als nächste große Station der Futuristen-Ausstellung war zu dieser Zeit kunsthistorisch nahezu völlig unbedeutend.84 Es gab auf dem Gebiet der bildenden Kunst keine international wettbewerbsfähige Avantgarde, die sich mit den französischen Kubisten oder Fauvisten hätte messen können. Die letzte große Kunstrichtung in England waren die Präraffaeliten, die in ihrem Bestreben, an mittelalterliche Bildkonzepte anzuknüpfen, von den Futuristen bestimmt nicht als ästhetisch gleichwertige Konkurrenz angesehen wurden. Hochachtung empfanden die Futuristen vor Einzelfiguren wie Constable und Turner, auf deren Rolle für die Genese der futuristischen bsthetik schon an anderer Stelle hingewiesen wurde. Insgesamt war die Londoner Kunstlandschaft um 1912 ausgesprochen konservativ und ebenso wie das italienische Publikum wenig bereit, sich gegenüber innovativen Bildkonzepten zu öffnen. Das Kunstleben stand stark unter dem Einfluß der Monarchie, der Aristokratie und der Großindustrie, deren Repräsentanten sich von zeitgenössischen Malern schmeichelhaft porträtieren ließen. Der Zuckerfabrikant Henry Tate eröffnete 1897 ein Museum, die Tate-Gallery, in io ho altra volta attaccato (…) perchè le loro opera erano sciocche e arretrate, possono domani in uno slancio (…), creare qualche cosa degna di vivere, rivelarsi entusiasticamente.« (Ebd.) 83 Vgl. Brief von Boccioni, Carrà und Russolo vom 17. Oktober 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 250. 84 Zur künstlerischen Situation in England zu Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Orchard 1996, S. 9-21, hier S. 9ff.; Vallier 1963, S. 81-88 und S. 150152.

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Futuristen auf Europa-Tournee der keine avantgardistischen Maler, sondern nur akademische Künstler ausstellen durften. Die Royal Acadamy verwaltete die künstlerische Ausbildung und förderte einen rein traditionalistischen Malstil. Dennoch gab es um die schillernde Galionsfigur des Protest-Poeten Ezra Pound einen Kreis rebellierender Dichter, Philosophen und Musiker, der sich für die europäische Avantgarde öffnete und begeisterte. Zu diesem Kreis gehörte auch die Schriftstellerin Virginia Woolf, die über die erste, 1910 in London von Roger Fry organisierte post-impressionistische Ausstellung mit Werken von van Gogh und Cézanne gesagt hatte, daß sich mit dieser Ausstellung »die menschliche Natur geändert und die Moderne begonnen« habe.85 Was war es, was Marinetti bewog, ausgerechnet London als nächste Station der Futuristen-Ausstellung anzusteuern?86 Er hatte berechtigten Grund zu der Annahme, daß die Künstler um Ezra Pound, die sich ›Imaginisten‹ nannten, diese Ausstellung sehr beachten würden. Was die Stadt brauche, hatte Pound kurz vor dem Erscheinen der Futuristen gesagt, sei eine ›Bewegung‹. Er produzierte wie Marinetti selbst Manifeste und kaufte Anteile an Zeitungen auf, um die Popularität seiner Gruppe zu fördern, die sich ähnlich wie die Futuristen als ästhetische Guerilla verstand. Die bildende Kunst spielte jedoch zu dieser Zeit hier nur eine marginale Rolle. Neben dem möglicherweise von dieser Gruppe ausgehenden Reiz war es die ›futuristische‹ Atmosphäre der Stadt, die Marinetti seit seinem ersten Besuch im Jahr 1910 fast magisch anzog,87 das flächendeckende U-Bahn-System, die zweistöckigen, leuchtend roten Busse, die nächtlichen Leuchtreklamen, die großen Plätze und Straßenkreuzungen mit dem lebhaften Verkehr. Über die Rahmenbedingungen der Ausstellung ist wenig bekannt. Eröffnet wurde sie am 1. März 1912 in der Sackville-Gallery am Picadally-Circus, im Herzen des modernen, pulsierenden London. Ein Kunsthändler namens Robert-René Meyer-See hatte sie organisiert und fand dabei lebhafte Unterstützung durch den progressiven Direktor der Galerie, Max Rothschild, der auch zwei der futuristischen Bilder kaufen würde.88 In welcher Besetzung die Futuristen anreisten, ist nicht ganz klar. Sicher ist, daß Severini, Boccioni und Marinetti vor Ort waren. Marinetti logierte vermutlich mit Boccioni, der mit seinem extravaganten Geschmack eine weniger exquisite Behausung nicht ertragen hätte, im prestigeträchtigen Hotel Savoy am ›Strand‹, in dem der legendäre französische Star-Koch 85 Zit. nach Schwanitz 1996, S. 437. 86 Zu ›Marinetti und die Futuristen in London‹ vgl. Orchard 1996, S. 13f. 87 Das sagt Marinetti in einem Interview, das im weiteren Verlauf dieses Kapitels besprochen wird und Im Anhang dieser Studie zu finden ist: »Futurist London. Leader if new Art School on our neglect of reality«, in: The Evening News vom 4.3.1912, S. 3. 88 Severini schreibt folgendes über ihn: »Con noi c’era pure un certo MeyerSee, una specie di mercante senza negozio di quadri antichi e pseudoantichi, che ci aveva organizzata una esposizione a Londra, alla Sackville Gallery.« G. Severini 1965, S. 130.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Auguste Escoffier sein berühmtes Dessert ›Pfirsich Melba‹ kreierte. Severini dagegen war offenbar anderweitig und bescheidener untergebracht und mußte mit seinen Freunden per Rohrpost in Kontakt bleiben. Nur so ist es zu erklären, daß er am 1. März 1912 an Boccioni schreibt, ohne finanzielle Unterstützung von Marinetti könne er nicht wieder von London nach Paris zurückreisen, wo er aber dringend gebraucht werde.89 Der unprätentiös aufgemachte Ausstellungskatalog, der genau wie der aus Paris einer kleinformatigen Broschüre gleicht, trägt den Titel ›Exhibition of Works by the Italian Futurist Painters‹.90 Er kostete nur six Pence, war also auch für das ›gemeine Volk‹ erschwinglich. Wie der französische Katalog umfasst er das Gründungsmanifest, die Vorrede der Aussteller an das Publikum und die Liste der ausgestellten Werke, diesmal mit kurzem englischen Kommentar. Die Eröffnung scheint unspektakulär gewesen zu sein. Es fehlte jeder dramatische Auftakt, für den in der Regel Boccioni und Marinetti sorgten, die aber wohl noch gar nicht anwesend waren, sondern erst später erschienen, vielleicht, weil sie nach ihren skandalträchtigen Auftritten in Paris, mit denen sie sich reichlich unbeliebt gemacht hatte, eine kurze Atem- und Gedankenpause brauchten. Ein anderer Grund könnte darin bestanden haben, daß ihnen die Suffragetten an genau diesem Tag die Show stahlen und die Londoner Innenstadt unsicher machten. »Der heutige Nachmittag«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 1. März 1912, »brachte die schwersten Ausschreitungen von Anhängerinnen des Frauenstimmrechts. (...) Große Trupps von Frauen durchzogen Whitehall, Picadilly, Haymarket ... und zertrümmerten Ladenfenster (...). Einige Frauen drangen bis zur Downing Street vor und zerschlugen die Fensterscheiben des Wohnsitzes des Premierministers.«91 Allein am 1. März kam es zu 80 Verhaftungen. Severini war offensichtlich präsent. Leicht bedrückt berichtet er über die Eröffnung an Boccioni, daß die Dinge für die Verbreitung des Futurismus gut gelaufen seien und daß es sehr viele Zeitungsartikel gebe. An diesem Tag aber leider keine Verkäufe.92 Begeistert von der Ausstellung war der berühmte Komponist, Pianist, Dirigent und Musiktheoretiker Ferruccio Busoni. In einem Brief an seine Frau schrieb er: »Ich habe mir die Futuristen angesehen, und einige Dinge machten starken Eindruck auf mich.«93 Boccioni sei ihm als der Stärkste

89 Vgl. Brief von Severini an Boccioni, London, 1. März 1912, in: SchmidtBergmann, 1991, S. 335f. 90 The Sackville Gallery, »Exhibition of the works by the italian futurist painters«, März 1912. Der Katalog ist vollständig abgedruckt auf http:// www.rodoni.ch/busoni/catalogo1/catalogo1.html vom 9. Mai 2008. 91 Frankfurter Zeitung, »Die Suffragetten kommen« vom 1.3.1912, S. 3. 92 Vgl. den bereits angeführten Brief von Severini an Boccioni, London, 1. März 1912, in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 335f. 93 Brief von F. Busoni an seine Frau, London, 18. März 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 236; deutsche Übersetzung in Schmidt-Bergmann 1958, S. 337.

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Futuristen auf Europa-Tournee erschienen. Er habe ein Bild einer sich erhebenden Stadt gemalt,94 das wirklich großartig sei. Exzellent sei auch das Bild Uscità dal teatro von Carrà. Auch Severinis Pan Pan al Monico sei ihm positiv aufgefallen, ein Maler, der sich sehr von den anderen Futuristen unterscheide. Es sei unglaublich, wie schnell die ästhetische Entwicklung in der Malerei fortschreite und daß diese Maler schon beinahe aus der Mode geraten seien. Interessant dabei ist, daß Busoni sich selbst futuristischem Gedankengut verwandt fühlte. Sein 1907 erschienener ›Entwurf einer neuen bsthetik der Tonkunst‹ plädiert für die Abschaffung der Notation zugunsten der Improvisation, da die Notenschrift lediglich ein »ingeniöser Behelf« sei und sich zur Musik wie das Porträt zum lebendigen Menschen verhalte.95 So wie die Futuristen Akademien und Museen niederreißen wollten, wollte er die Opernhäuser als bürgerliche Kunsttempel schließen lassen. Dies brachte ihm unter deutschen Konservativen viele Feindschaften ein, unter anderem die seines Kollegen Hans Pfitzner, der ihm in seiner 1917 erschienenen Schrift ›Futuristengefahr‹ regelrechte Hasstiraden widmete.96 In London kaufte Busoni das Gemälde La città che sale von Boccioni, um es in seiner Berliner Villa im Zimmer seiner Frau aufzuhängen. Während Severini eher leise von dem Erfolg dieser Ausstellung sprach und lediglich die zahlreichen Zeitungsartikel erwähnte, feierte Marinetti in seiner bekannten großspurigen Art die Aktion als großen Erfolg. In einem schon zitierten Brief an den Musiker Pratella schreibt er am 12. April 1912: »In London vergrößerte sich der kolossale Erfolg phantastisch. Mehr als 350 kritische Artikel innerhalb eines Monats und vier Tagen. Weswegen die Galerie die Bilder nicht abgeben wollte. Eben wegen des Zulaufs der zahlenden Masse. Die Verkäufe übersteigen jetzt 11 000 Francs.«97 Busoni habe ein Werk von Boccioni erworben. Und auch Russolo, Carrà und Severini hätten zu hohen Preisen verkauft, was sich nur teilweise verifizieren läßt. Feststeht, daß der Galerist Max Rothschild je ein Bild von Severini und Russolo kaufte, und zwar Le Boulevard und Treno in corsa. Ob tatsächlich 350 Zeitungsartikel erschienen sind, die Marinetti gezählt und gelesen hat, ist eher fraglich. Aus den einschlägigen Literaturangaben und dem Archiv der British Library lassen sich lediglich 25 nachweisen, von denen exemplarisch einige besprochen werden sollen.

94 Gemeint ist das Bild La città che sale. 95 Vgl. Busoni 1907, S. 23. 96 Vgl. Pfitzner 1917 - Dieses wutschäumende Pamphlet überbot er 1920 noch durch ein weiteres: »Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom«, in: Süddeutsche Monatshefte, München 1920, S.12. 97 »A Londra, il successo colossale aumentò in modo fantastico. Più di 350 articoli critici in un mese e quattro giorni, poiché la galleria non voleva lasciare partire i quadri, data l’affluenza della folla pagante. Le vendici superano ora gli undicimila franchi.« Brief von Marinetti an Pratella, 12. April 1912, in: Gambillo/Fiori, 1958, S. 237; deutsche Übersetzung in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 338ff.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Schon lange vor der offiziellen Eröffnung gibt es Vorab-Besprechungen in englischen Zeitungen, deren Autoren offensichtlich in Paris gewesen sind. Am 7. Februar bringt der Daily Mirror unter dem Titel ›Artists of the Future‹ eine ganzseitige Montage der Bilder Obsessive Tänzerin, Die Modistin und Chat Noir von Severini, die Abschiede von Boccioni und die Rüttelnde Droschke von Carrà.98 Neben dieser Montage befindet sich eine Reklame für ein Asthmaund Bronchitismittel eines gewissen John Talbot. Im Kommentar des Autors heißt es: »Ungekonnte Bilder werden in Paris ausgestellt von einer Gruppe, die sich selbst zu ›Künstlern der Zukunft‹ hochstilisiert. Sie erklären, daß ein Porträt seinem Vorbild nicht ähneln sollte, und niemand kann ihnen vorwerfen, daß sie nicht tun, was sie predigen, so daß die Bilder unerforschliche Mysterien bleiben, die sich niemandem als den Malern selbst enthüllen. Sie sehen immer gleich aus, ob man sie nun nach rechts, nach oben oder nach unten dreht.«99

Aus diesen Zeilen spricht ein extrem kleinbürgerliches Kunstverständnis. Ein wichtiges Kriterium für die Qualität von Kunst scheint für diesen Autor zu sein, daß die Bilddetails sprachlich benennbar und illusionistisch dargestellt sind. Während in Paris die Aussage, daß ein Porträt nicht seinem Modell ähneln solle, keinerlei Aufsehen erregte, da sie für Kenner moderner Kunst etwas geradezu Selbstverständliches hatte, hat sie bei diesem Verfasser tiefe Irritationen hervorgerufen. Sein Unverständnis für die futuristischen Werke geht offenbar so weit, daß sie für ihn alle gleich aussehen und daß er keinerlei ästhetischen Genuß daraus zieht. Diese Feindseligkeit gegenüber dem Futurismus setzt sich auch in den späteren Rezensionen fort, die sich zum großen Teil mehr auf die Manifeste als auf die Werke beziehen. Sie seien zu Dutzenden über seinen Schreibtisch geflattert, schreibt ein Journalist der ›Evening News‹ am 2. März 1912 über die Manifeste.100 Eigentlich müsse er sie schon auswendig können. Es sei darin angedroht worden, Bibliotheken anzuzünden und Museen unter Wasser zu setzen. Nichts davon hätten die Futuristen wahr gemacht. Sie hätten auch nicht die Herrschaft über das Londoner U-Bahn-System übernommen. Feuerversicherungen für Bibliotheken seien ganz umsonst abgeschlossen worden. Ein einfacher Ire, der seine Drohung, Bomben zu legen, wirklich umsetze, sei revolutionärer als ein Futurist, die futuristische Bewegung darum genauso flach wie ein dünner Pfannkuchen, dem beim Fallen die Luft ausgegangen sei. Obwohl er gegen Schluß des Artikels zugibt, anfangs Sympathisant der Futuristen gewesen zu sein, weil ihm das Grenzensprengende der Manifeste gefallen habe, ist er nach der Besichtigung der Ausstellung enttäuscht. Die Qualität der Bilder bleibe weit hinter den Ansprüchen der Manifeste zurück und die Futuristen seien nichts als nervöse Amateure eines gestrigen Postimpressionismus.

98 99 100

»Artists of the Future« 1912, S. 11. Ebd. Vgl. The Londoner 1912, S. 1.

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Futuristen auf Europa-Tournee Dem Rezensenten ist es also ähnlich gegangen wie Soffici im Jahr 1911, als er die Vorankündigung der ›Mostra d’arte libera‹ gelesen hatte, die seine Neugier und Sympathie erweckte, seine Erwartungen aber nach Besuch der Ausstellung enttäuscht wurden. Die Kritik, daß sich in den futuristischen Bildern ein veralteter Post-Impressionismus ausdrücke, ist vielleicht verständlich, läßt jedoch ihre innovativen Aspekte vollkommen außer Acht. Während Apollinaire sich hauptsächlich an den in seinen Augen verfehlten Bildkonzepten der Futuristen rieb, nimmt dieser Autor stärkeren Anstoß an ihrer persönlichen Grundhaltung, viel zu reden, aber nichts zu tun. Dies erklärt auch den Vergleich mit dem »einfachen Iren«, der ein Vielfaches an politischem Mut besitze und für seine Überzeugung sogar ins Gefängnis zu gehen bereit sei. Die Meinung, daß die Futuristen nur eine »Show« veranstalten, vertritt auch Sir Claude Philipps, der am 2. März 1912 für den ›Daily Telegraph‹ schreibt.101 Anscheinend hat auch er die Ausstellung in Paris gesehen oder in ihrer Resonanz zur Kenntnis genommen. Deshalb schreibt er, daß den Futuristen in London nicht der Triumph eines Skandals zuteil würde. Die Ausstellung sei nur ein »kleines Bier« zur Erheiterung des Publikums. Nachdem er die »destruktiven« Tendenzen des Futurismus besprochen hat, wendet er sich den »konstruktiven« zu und beschäftigt sich damit, wie die Futuristen sich selbst kunsthistorisch verankern. Dabei weist er aber auch auf das Paradox hin, daß sie einerseits angeben, die französischen Künstler der Gegenwart zu bewundern, ihnen aber andererseits vorwerfen, »bewegungslose, gefrorene Objekte zu malen, all die statischen Aspekte der Natur.« Sie selbst suchten dagegen nach einem ›Stil der Bewegung‹, was vor ihnen niemals versucht worden sei. Vor dem Hintergrund dieser bußerung fragt sich der Autor, ob die Futuristen den Fries des Parthenon zur Kenntnis genommen hätten, der ebenfalls stark dynamisch und rhythmisiert sei, oder das Gemälde Rain, Steem and Speed – The Great Western Railway von William Turner, die bedeutendste bildnerische Darstellung von Bewegung, die die Welt jemals gesehen habe. Zum Schluß macht er sich über die Geschichtsfeindlichkeit der Futuristen ein bißchen lustig, besonders, was ihre eigenen nationalen Kulturdenkmäler betrifft, die er persönlich sehr schätze. Sie möchten doch die Kirchen von Padua und Assisi, Santa Croce und Santa Maria Novella, die Uffizien, den Palazzo Pitti, die Sixtinische Kapelle und den Dogenpalast unzerstört lassen, damit er sich an diesen »toten und nutzlosen Dingen«, diesen »Friedhöfen« einer gestrigen Kultur noch ein wenig erfreuen könne. Die renommierte ›Pall Mall Gazette‹ brachte nach der Eröffnung unter dem Titel ›Albtraum-Ausstellung in der Sackville-Gallery‹ ausgerechnet ein Interview mit Sir Philip Burne-Jones, der nicht nur selbst ein mäßig bekannter traditionalistischer Maler, sondern auch Sohn des Präraffaeliten Edward Burne-Jones war, mit dem er oft zu seinen eigenen Ungunsten verglichen wurde. Er selbst, 1861 geboren, also rund zwanzig Jahre älter als die futuristischen Maler, hatte in Oxford eine akademisch künstlerische Ausbildung erfahren

101

Vgl. Sir Claude Philipps 1912, S. 8.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) und malte hauptsächlich Hirtenlandschaften sowie kleine, schmeichelhafte Porträts junger Aristokratinnen, darunter die Großmutter von Lady Di, Irene Spencer. Es war also eine seltsame redaktionelle Entscheidung, ausgerechnet diesen Mann um seine Meinung zu befragen. Voreingenommenheit war damit vorprogrammiert. In diesem Interview sagt der Maler, daß sich die futuristischen Bilder »gänzlich außerhalb des Bereichs der Kunst befinden und auf keine Weise mit der Kunst in Verbindung stehen.«102 Der Artikel wird immer nur bruchstückweise zitiert. Das Original war in der British Library leider nicht mehr aufzufinden, der Artikel läßt sich aus einem Leserbrief des Londoner Galeristen der Futuristen, Max Rothschild, nur indirekt rekonstruieren.103 Rothschild machte Sir Philip Burne-Jones darauf aufmerksam, daß er keine Diskussionskultur habe, sondern »Beleidigung« mit »Kritik« verwechsle. Er rügt ihn aufgrund seines voreiligen Urteils und weist darauf hin, daß die weltberühmten Künstler Courbet und Rousseau auch einmal von der etablierten Kunstszene abgelehnt wurden. Es stehe ihm, Rothschild, zwar nicht an, zu prophezeien, daß den Futuristen einst eine ebenso glorreiche Zukunft bevorstehen würde, er müsse Burne-Jones aber definitiv darin widersprechen, daß ihre Bilder technisch inkompetent seien. Als Beispiel für die handwerkliche Fertigkeit der futuristischen Maler führt er Severinis Pan Pan im Monico an. Rothschild kritisiert die technizistische Auffassung von bsthetik, die aus Burne-Jones Ausführungen spreche. Burne-Jones habe das Handwerk des Malens mit dem Handwerk des Mediziners verglichen. Medizin sei aber eine exakte Wissenschaft, »gänzlich basierend auf der Erfahrung und Entwicklung des menschlichen Lernens.« Wogegen Malerei der ästhetische Ausdruck eines individuellen Temperaments sei, der nicht durch »mathematische Gesetze des Fortschritts« regiert und fixiert werden könne. »Ich stimme«, schließt Max Rothschild diesen Leserbrief, »mit Sir Philip darin überein, daß es im Land der Kunst viele Häuser gibt – oftmals unbequem überfüllt mit Innovationswütigen. Gerade deshalb sollte man, wenn aus einem dieser Häuser ein Lied der Jugend und Originalität hervorbricht, dieses Lied, selbst wenn es rauh und dissonant klingt, nicht mit Wutgeschrei, sondern mit Vernunft und Aufmerksamkeit« aufnehmen. Höhepunkt dieser Londoner Artikelserie ist ein in den ›Evening News‹ abgedrucktes Interview mit Marinetti und Boccioni,104 in dem diese die Gelegenheit ergreifen, sich selbst über ihre ästhetischen Grundsätze zu äußern. Der Reporter überschreibt dieses Interview mit dem Titel: ›Das futuristische London. Die Führer der neuen Kunstschule über unsere Nicht-Wahrnehmung der Realität.‹ Dabei ist nicht ganz klar, ob der Autor seine eigene Meinung ausdrückt oder den Leser provozierend aus der Reserve locken möchte. Im ersten Satz sagt Marinetti, Kunst sei wie Alkohol, vielleicht der einzige Alkohol, den es geben solle. Man sollte daraus »kein Schlafmittel für 102 103 104

Zit. nach Hesse 1992, S. 31. Vgl. Rothschild 1912, S. 8. Vgl. »Futurist London. Leader of new art school on our neglect of reality« 1912, S. 3.

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Futuristen auf Europa-Tournee schwache Nerven« machen, wie die englischen Maler es versuchten. Marinetti zielt also auf den sinnesfreudigen, dionysischen Aspekt der futuristischen Kunst und Kunst-Rezeption ab, eine Kunst der Farbe, der Bewegung und des prallen Lebens, die der englischen diametral entgegengesetzt sei. Diese wirke auf ihn wie ein Schlafmittel, womit er gleichzeitig diskret darauf anspielt, daß es in der Londoner Bohème nicht unüblich war, der städtischen Hektik und der Tristesse des Klimas durch Konsum des modischen Narkotikums Chloral zu entfliehen. Trotz dieser Einwände ergänzt Boccioni, daß er mit der Aufnahme der Ausstellung »ganz zufrieden« sei, »obwohl der englische Kunstgeschmack seit Generationen von falschen Bildkonzeptionen« zerstört worden sei. Hiermit spielt Boccioni auf ein Phänomen an, das er aus Italien kennt und das die Futuristen programmatisch bekämpfen: die kollektive Verbildung des nationalen Kunstgeschmacks durch eine dominierende akademische Tradition als Sprachrohr der herrschenden Klasse. »London selbst ist eine futuristische Stadt!« ruft Marinetti begeistert. »Sehen Sie sich nur diese riesigen, glänzenden Motor-Busse an, diese enormen, gleißenden Plakate! Sehen Sie die bunten elektrischen Lichter, die nachts die Werbetafeln beleuchten (...). Warum gehen Ihre Leute, die aus einer bunten Großstadtstraße kommen, in eine Galerie, um Bilder einer künstlichen Großstadtstraße zu bewundern, mit all den Motorbussen und den verschwommenen Plakaten? Weil Ihre Maler in einem nostalgischen Lebensgefühl leben, eine Vergangenheit beschwören, die nicht mehr zurückzurufen ist, sich in einer Hirtenidylle wähnen, während sie in Wahrheit mitten im Industriezeitalter leben.« 105

Marinettis Enthusiasmus für das »futuristische London« ist also echt. Er geht so weit, daß er das Interesse der Londoner an dieser Ausstellung beinahe nicht verstehen kann. Wie ist es möglich, in den futuristischen Gemälden etwas zu sehen, was nicht viel größer und sensationeller draußen auf der Straße zu sehen wäre? Marinetti beantwortet seine Frage selbst. Die futuristischen Maler würden nicht wie die englischen in einem »nostalgischen Lebensgefühl« leben, sondern in der Gegenwart und in der Zukunft. Anstatt wie Philip Burne-Jones flötende Schäferknaben zu malen, worauf Marinetti mit dem Wort ›Hirtenidylle‹ anspielt, sollten sie sich doch lieber der Themen annehmen, die für ihre eigene Zeit relevant sind. Wie es die englische Literatur übrigens schon längst getan hat, könnte man hinzufügen. George Bernard Shaw, Virginia Woolf, James Joyce oder Oscar Wilde betreiben bestimmt keine Realitätsflucht, die in der bildenden Kunst dieser Zeit immer noch dominierend ist – ein seltsam anmutendes Gefälle zwischen den Kunstsparten, das wohl auch dem Reporter bewußt gewesen ist. Dem Reporter wird das Gespräch zunehmend unangenehm, da es einen wunden Punkt nach dem anderen berührt. Er versucht, Marinettis London-Bild zu korrigieren: die Produzenten von Werbung seien keineswegs Protagonisten der Moderne oder gar Avantgarde, sondern würden sich privat nur für »altmodische Kunstwerke« interessieren, zwischen denen sie sich am Feierabend ausruhten. »Das ist genau ihr Fehler!« unter105

Ebd., S.3; Urtext im Anhang.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) bricht ihn Marinetti. »Wenn sie Ruhe wollen, warum nennen sie es Kunst? Vergnügen ist keine Kunst. Die einzig wahre Kunst liegt in der Neuerung, der Sensation. Sie müssen Kunst sehen, um zu lernen, nicht zum Vergnügen.« Das mag zunächst wie ein Widerspruch zu der anfänglichen Aussage erscheinen, daß ›Kunst‹ wie ›Alkohol‹ sei. Doch für Marinetti schließt der ekstatische Zugang zur Kunst intellektuelle Anstrengung nicht aus, im Gegenteil, im Falle der futuristischen Kunstrezeption ist beides für ihn unabdingbar miteinander verknüpft, so wie man bei einem guten Glas Wein anspruchsvoll denken und diskutieren kann. Kunst ist für ihn bei aller Sinnlichkeit etwas Ernsthaftes. Ihr Anblick soll die Sinneswahrnehmung schulen und spielerisch zum Nachdenken über die Dinge des Lebens anregen. – Das ist mit dem Wort ›lernen‹ gemeint. »Zum Beispiel fuhr ich gestern mit einer U-Bahn«, fährt er fort. »Ich bin natürlich schon in Paris U-Bahn gefahren, aber es war nicht so sensationell wie hier. Ich bekam, was ich wollte – kein Vergnügen, sondern eine völlig neue Idee von Bewegung, von Geschwindigkeit. Das ist, was Ihre eigenen Künstler Ihnen nicht geben.« Marinetti setzt also Kunst- und Technik-Erfahrung auf dieselbe Wahrnehmungsebene. Er fährt nicht U-Bahn, um sich zu amüsieren, sondern um seine Idee der Bewegung weiterzuentwickeln. Solche Möglichkeiten, die Gegenwart künstlerisch wahrzunehmen, seien in den Bildern der englischen Maler nicht umgesetzt, da sie nur auf das ›Vergnügen‹ (pleasure) der Betrachter abzielten. Um dieses Beispiel zu belegen, führt Marinetti das Gemälde Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway von William Turner an, das von einem anderen Reporter angeführt worden war, um die Futuristen des Plagiats zu bezichtigen. Zu diesem Bild sagt Marinetti: »Aber es war eine tote Lokomotive, nur ihre äußere Erscheinung, nicht ihre Seele, die Seele der Kraft und der Geschwindigkeit.« Damit verschweigt Marinetti allerdings die wirkliche Bedeutung dieses Gemäldes für die futuristische Malerei, auf die ich an anderer Stelle schon eingegangen bin. Daß Lokomotiven eine ›Seele‹ hätten, die Turner in seinem Bild unterdrückt habe, ist ein sehr poetischer Gedanke, der sich der sachlichen Debattierbarkeit entzieht. Der Reporter hätte allerdings an dieser Stelle einwenden können, daß es auch auf der Futuristen-Ausstellung ein Lokomotiv-Bild zu sehen gibt, Treno in corsa von Luigi Russolo, das die »Seele der Geschwindigkeit« bestimmt nicht besser darstellt, weil man stets den Eindruck hat, daß die Lokomotive wie ein Pappkarton nach hinten wegklappt. Um die Gegenwartsbezogenheit der futuristischen Malerei zu betonen, fügt Marinetti sinnierend hinzu, daß man deren Bewegungsstudien besser als ›Präsentismus‹ bezeichnen sollte, eine Bewegung, die im Jetzt und Hier, also im ›Präsens‹, stattfinde. Dies veranlasst den Journalisten zu fragen, wie es denn zu den außergewöhnlichen Farbmischungen käme, die mit der Realität nicht korrespondierten? »Ich gebe zu, daß ihr Engländer es schwer habt, ihre Schönheit zu sehen«, antwortet Marinetti. »Aber denken Sie daran, daß es südliche Bilder sind – der künstlerische Ausdruck einer Atmosphäre, 147

Futuristen auf Europa-Tournee die völlig anders als euer matschiges, nebliges, englisches Klima ist.« Hiermit spielt Marinetti darauf an, daß unterschiedliche klimatische Umstände zu unterschiedlichen ästhetischen Ausdrucksformen führen und daß Maler aus allen nord- und mitteleuropäischen Ländern seit Generationen nach Italien gereist sind, um sich durch die dortigen Lichtverhältnisse inspirieren zu lassen. So Recht er mit diesem Argument zweifellos hat, so beleidigend klingt es, wenn er indirekt zum Ausdruck bringt, daß man in Englands ›matschigem‹ Klima keine sinnesfreudige Kunst produzieren könne. »Wären englische futuristische Gemälde also völlig undenkbar?« fragt der Reporter folgerichtig. »Sicherlich nicht, aber eben vollkommen anders«, sagt Marinetti. Er selbst würde gerade eines dieser englischen futuristischen Gemälde vorbereiten, könne aber noch nicht darüber sprechen, da diese seine Idee gerade von einem seiner Künstler ausgeführt werde. – Marinetti hatte es offenbar eilig, das Interview zu beenden, und wird darum unlogisch. Wie sollte ein italienischer Futurist ein englisches futuristisches Gemälde malen können? Hierin spiegelt sich der irrtionale Anspruch, die englische Kunst annektieren zu wollen wie ein von präraffaelitischen Barbaren bewohntes Land. Gleichzeitig spielt Marinetti, selber nicht gerade ein Maler von Weltrang, sich zum Meister über ›seine‹ Künstler und die futuristische Kunst auf, der er nur ›Ideen‹ vorzugeben braucht, damit sie gehorchen. Marinetti versucht, den Erfolg dieser Ausstellung für sich zu vereinnahmen. Trotz aller demonstrativen Ablehnung der Vergangenheit führt er sich auf wie ein barocker Malerfürst, der ›seine‹ Maler wie seine Leibeigenen behandelt. Darauf hat der Journalist nichts zu erwidern und bemerkt deshalb lapidar: »Danach gingen Signor Marinetti und Signor Boccioni zur Sackville-Street-Ausstellung.« Dieser Schluß erschien der Redaktion wahrscheinlich etwas zu abrupt. Deshalb fügte sie Folgendes hinzu: »Unser Journalist fragte Signor Marinetti aber noch, was er von den Suffragetten und von dem Kohle-Streik unter dem Gesichtspunkt der politischen Aktion halte. »Über den Kohle-Streik habe ich keine Meinung«, sagte er. ‚Aber ich glaube, daß die Suffragetten das einzig Mögliche tun, um zu bekommen, was sie wollen.« Es gab Zeitungen, deren Redakteure nicht bereit waren, sich auch nur annähernd so ernsthaft mit der Futuristen-Ausstellung auseinanderzusetzen wie dieser Reporter der ›Evening News‹. So weigerte sich die Londoner ›Morning Post‹, eine Ausstellung zu besprechen, die »so sittenwidrig« sei, »daß man sie gar nicht zur Kenntnis nehmen« dürfe.106 Was damit gemeint sein soll, kann nicht genau geklärt worden. Auf den Bildern werden zwar immer wieder erotisch anmutende Damen dargestellt, aber das einzige in London ausgestellte Werk, das durch Andeutungen auf sexuelle Vorgänge anspielt, war La Risata von Umberto Boccioni. Möglicherweise ist auch das Dominieren erotischer Motive gar nicht gemeint, sondern die Freiheit in der Anwendung malerischer Mittel, die gegen die »gu-

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Zit. nach Hesse 1992, S. 31.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) ten Sitten« des akademischen Klassizismus verstieß und daher »sittenwidrig« war. Man könnte also etwas überspitzt resümieren, daß hier zwei höchst unterschiedliche Temperamente aufeinanderstießen, englisches und italienisches. So ähnlich mag es auch Boccioni empfunden haben, als er am 15. März 1912 an Victor Baer schrieb: »London, herrlich, monströs, elegant, überfressen, gut gekleidet, aber mit Gehirnen, die so schwer wie Steaks sind ... Wenn ich an all den sozialistischen, kooperatistischen, positivistischen, hygienischen Schwachsinn denke, der sich anmaßt, die italienischen Dinge nach der Meßlatte englischer Zwangsvorstellungen zu beurteilen, kommt mich das große Kotzen an.«107 Die Kollision der verschiedenen Nationaltemperamente nahm einen politischen Charakter an und ging so weit, daß Marinetti und Boccioni zum Privathaus des Journalisten John Mac Culloch marschierten, der sich als Kriegsberichterstatter erdreistet hatte, von den ›Greueltaten‹ der Italiener im italienisch-türkischen Krieg um die nordafrikanische Cyrenaika zu sprechen. Dieser hatte ein Jahr vorher begonnen und war 1912 noch in vollem Gange. Sein erklärtes Ziel, die Stellung Italiens als Mittelmeermacht zu festigen, löste in Italien große Begeisterung aus, natürlich auch bei Marinetti, der sich sofort als Kriegsberichterstatter zur Verfügung stellte. Marinetti dürfte besonders angetan davon gewesen sein, daß die Italiener damals modernste Kriegstechnik einsetzten wie Panzer und Flugzeuge. Bei der Konfrontation mit Mac Culloch kam es zwar nicht zu Handgreiflichkeiten, aber zu wilden Beschimpfungen, die Marinetti sofort an die italienische Presse weitergab. Diese schenkte dem Vorfall wesentlich mehr Beifall und Aufmerksamkeit als der ganzen Ausstellung. Trotz dieser extrem widersprüchlichen Resonanz führte die Londoner Futuristen-Ausstellung zu einer wichtigen künstlerischen Neuerung: der Gründung des ›Vorticismus‹ (von ›vortex‹: Wirbel) im Jahr 1914.108 Das Zentrum der Bewegung war der Maler, Romancier und Essayist Wyndham Lewis,109 der ursprünglich aus Kanada stammte und als einer der wenigen englischen Maler nicht nur in London, sondern auch in München und Paris studiert hatte. Daß er schon vor der Futuristen-Ausstellung aufgeschlossen gegenüber avancierten Konzepten der Malerei war, zeigt ein Selbstporträt aus dem Jahr 1911 (Abb. 89), das von der Malweise Cézannes geprägt ist. Zu den Vorticisten gehörte auch der Maler Nevinson,110 der sich in Bildern wie The Arrival (Abb. 90) ganz offensichtlich von futuristischen Konzepten inspirieren ließ. Im Mittelpunkt steht die Ankunft 107

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»Londra, bella mostruosa, elegante, ben pasciuta, ben vestita, ma cervelli pesanti come bistecchi. (…) Quando penso a tutta l’imbecellità socialista, cooperativista, positivista, igienista che vuoi giudicare le cose italiane attraverso l’ossessione di ciò che è inglese…mi viene la nausea.« (Ebd.) Zum Vorticismus vgl. den bereits zitierten Aufsatz von Orchard 1996, S. 5-18 und Vallier 1963, S. 87f. Zu Wyndham Lewis, ebd. S. 150 und Wieland Schmied: »Ezra Pound, Wyndham Lewis und der Vortizismus«, in: Orchard 1996, S. 92-99. Zu Christopher Nevinson vgl. Vallier 1963, S. 87f.

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Futuristen auf Europa-Tournee eines riesigen Schiffes in einem Hafen. Verschiedene Sinneseindrücke, die das ›Maler-Ich‹ während der Fahrt erhalten hat, werden segmentiert und simultan dargestellt. Nevinson übernimmt zum einen die dynamische Formensprache der futuristischen Malerei und zum anderen das Konzept der Simultaneität. Ebenso wie die Futuristen gründeten auch die Vorticisten eine Zeitschrift, ›Blast‹, das zentrale Organ der Bewegung, in dem die Mitglieder ihre Beiträge veröffentlichten. In der ersten Ausgabe vom Juni 1914 erschien das Manifest ›Vitale englische Kunst‹,111 ein Gemeinschaftswerk von Marinetti und Nevinson. Marinetti leitet dieses Manifest mit der Erklärung ein: »Ich bin ein italienischer futuristischer Dichter und ein begeisterter Bewunderer Englands. Ich möchte freilich die englische Kunst von der schwersten aller Krankheiten heilen – dem Passatismus. Ich habe das Recht, umfassend und kompromisslos zu sprechen und gemeinsam mit meinem Freund Nevinson, einem englischen futuristischen Maler, das Kampfsignal zu geben.«112 Nun gibt es sie also, eine englische futuristische Malerei, wonach der Reporter der Evening News Marinetti 1912 gefragt hatte. Nevinson war so beeindruckt von der Bewegung, daß er ihr inzwischen beigetreten war. Das Manifest besteht aus einer Auflistung von Dingen, die die Autoren ablehnen und solchen, die sie fordern. Die Autoren sind gegen: »1. – Die Verehrung der Tradition und den Konservativismus von Akademien, die kommerzielle Fügsamkeit der englischen Künstler, die Verweiblichung ihrer Kunst und ihr vollkommenes Aufgehen in einem rein dekorativen Stil.« Das Manifest der ›vitalen englischen Kunst‹ klingt wie der Versuch, eine auf England gemünzte Version der italienischen Manifeste herzustellen. Wie üblich fällt auf, daß Marinetti mehr zu beklagen als konstruktiv einzubringen hat. Der Abschnitt mit seinen positiven Forderungen umfasst rein quantitativ weniger als ein Drittel seiner langen Reklamationsliste. Er fordert von der englischen Kunst, daß sie »stark, männlich und antisentimental« sei; optimistisch und furchtlos nach Abenteuern verlange; ihre Verehrung der »Kraft« und des »physischen wie moralischen Mutes« demonstriere; die »robusten Tugenden« der »englischen Rasse« (!) kräftige; Sport als ihr wesentliches Element betrachte; eine »kraftvolle Avantgarde« hervorbringe, die von den Reichen und Mächtigen im Lande in jeder Form unterstützt werden solle. Diesem ebenso sentimentalen wie unbrauchbaren Forderungskatalog, der argumentativ weit hinter dem Niveau des Interviews in den ›Evening News‹ zurückbleibt, in dem sich immerhin noch etwas wie eine avancierte Kunstauffassung spiegelte, setzt Marinetti, der hier wohl federführend war, eine wirre Reklamationsliste entgegen, die sich der sachlichen Analysierbarkeit entzieht. In dieser plädiert er für die Ausschließung aller Personen und Personengruppen, die nicht in sein faschistoides Kunst- und Menschenbild passen: dazu

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F.T. Marinetti/C.R.W. Nevinson, »Vitale Englische Kunst«, in: Asholt/ Fähnders 1995, S. 77f. Ebd.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) gehören Homosexuelle, symbolisiert durch den Dichter Oscar Wilde, die Präraffaeliten, an denen er jetzt weniger ihren Vergangenheitskult als ihre verträumten Bildinhalte verdammt, die er mit weiblichen oder vielmehr weibischen Eigenschaften assoziiert, der betrunkene, also suchtkranke Künstler, dem es an männlicher Robustheit und Disziplin fehlt. Durchgängig ist ein aggressiv frauenfeindlicher Ton. So kritisiert Marinetti eine angebliche »englische Auffassung«, nach der Kunst ein »nutzloser Zeitvertreib« sei, »nur für Frauen und Schulmädchen geeignet.« Die Suffragetten, vor deren Auftritten er einst soviel Respekt hatte, daß er der Eröffnung seiner eigenen Ausstellung feige fernblieb, sind vergessen. Insgesamt propagiert er das Ideal vom männlichen Künstler als Herrenmenschen, der den übrigen Gesellschaftsschichten übergeordnet ist und mit seiner »unsentimentalen«, d.h. für Marinetti: gefühllosen Kunst zur Stärkung der »englischen Rasse« beiträgt. Dieses Manifest muß einige der englischen Vorticisten, die ursprünglich mit den Ideen des Futurismus sympathisierten und von ihnen künstlerisch inspiriert wurden, derartig angeekelt und abgestoßen haben, daß sie das Bedürfnis entwickelten, sich dagegen abzugrenzen. So schreibt Wyndham Lewis in seinem ›Melodrama der Modernität‹, daß die Bezeichnung ›Futurist‹ nicht mehr als ein Etikett sei, ebenso pittoresk wie unpräzise.113 Es sei zu hoffen, daß bald ein neues gefunden werde. »Futurismus, so wie er von Marinetti gepredigt wird«, sei »weitgehend aktualisierter Impressionismus, ergänzt von Automobilismus und Nietzsche-Gags«, der mit italienischer Direktheit über Vergangenheit und Zukunft »knurre und plärre.« Historisch gesehen sei er nichts als eine »oberflächliche und romantische Rebellion junger Mailänder Maler gegen den Akademismus, von dem sie umgeben waren.« Das »Melodrama der Aktivität« sei das Thema dieser »phantasievollen, aber recht konventionellen Italiener.« Zum Schluß greift er Marinetti persönlich an: »Kann Marinetti, dieser sensible und energische Mann, nicht dazu gebracht werden, den sentimentalen Müll von Automobilen und Flugmaschinen über den Haufen zu werfen?«114 Wyndham Lewis schlägt Marinetti also mit dessen eigenen Waffen, nämlich sentimental, oberflächlich, unpräzise und konventionell zu sein und dem Kult von Automobil und Geschwindigkeit zu huldigen wie die Präraffeliten dem Mittelalter. Das meint er mit dem Titel seiner manifestartigen Schrift ›Das Melodrama der Modernität.‹ Gerüchte sagen, daß er in privaten bußerungen über Marinetti noch sehr viel schärfer geworden sei. »Er pflegte zu sagen, daß die beträchtlichen Geldmittel, die ihm zu Gebote standen, aus einer Kette von Luxusbordellen in bgypten stammten, die Marinettis Vater betrieben hatte«, berichtet ein englischer Zeitgenosse, Douglas Goldring.115 Abschließend läßt sich sagen, daß die Gründung des Vorticismus ohne den Futurismus nicht denkbar gewesen wäre. Trotz ihrer späteren vehement negativen Abgrenzung gegen seinen geistigen

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Vgl. Wyndham Lewis, »Das Melodrama der Modernität«, ebd., S. 82f. Ebd. Zit. nach Hesse 1992, S. 31.

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Futuristen auf Europa-Tournee Führer Marinetti schafften die Vertreter des Vortizismus nicht, eigene Inhalte und Konzepte zu entwickeln, die auf die europäische Avantgarden ähnlich agitierende und katalysierende Auswirkungen gehabt hätten wie der Futurismus. Von der Zeitschrift ›Blast‹ gab es noch eine zweite Auflage im Juli 1915, eine ›War-Number‹ (Abb. 91)116 Danach wurde die Produktion des Organs eingestellt. Das Titelblatt ist von Wyndham Lewis gestaltet und stellt im mechanistischen Stil Soldaten dar, die mit ihren Gewehren eine imaginäre Front bedrohen. Wie für die meisten der frühen europäischen Avantgarden bedeutete der Erste Weltkrieg auch für den englischen Vorticismus das Ende.

Die Ausstellung futuristischer Malerei in Berlin Im Gegensatz zu England konnte Deutschland im Jahr 1912 eine ausgesprochen lebhafte, aufgeschlossene und international disponierte Kunstlandschaft vorweisen.117 Hatten sich die Futuristen in Paris vornehmlich mit dem Kubismus auseinanderzusetzen, kamen sie in Deutschland vor allem mit den Expressionisten in Berührung. Zu nennen wäre zunächst die 1905 in Dresden gegründete Gruppierung ›Die Brücke‹,118 deren Mitglieder anderen Kunstrichtungen gegenüber aufgeschlossen waren, vor allem gegenüber dem Fauvismus, und sich unkonventioneller Inspirationsquellen bedienten wie der afrikanischen Skulptur oder japanischen Stichen. Wie beim Futurismus ist schon der Name der Gruppierung Programm: ›Die Brücke‹ versinnbildlicht das Verbindungsmoment zwischen verschiedenen Stilrichtungen und steht für den ›Brücken-Schlag‹ in die Zukunft. Zum Zeitpunkt der Ausstellung ï im April 1912 ï waren schon quasi alle Brücke-Künstler nach Berlin umgesiedelt, der Stadt, wo auch die Futuristen-Ausstellung stattfand. Die zweite bedeutende Künstlervereinigung des deutschen Expressionismus ist der im Jahr 1911 in München gegründete ›Blaue Reiter‹,119 zu dem Franz Marc und Paul Klee gehörten, und der durch die Persönlichkeit Wassily Kandinskys dominiert wurde. Schon die ›Erste Ausstellung der Redaktion des Blauen Reiters‹ in der Münchener Galerie Thannhäuser, die mit der Gründung der Gruppierung konvergierte, erwies sich als Schmelztiegel verschiedener avantgardistischen Kunstrichtungen. Ausgestellt waren nicht nur die Arbeiten der Veranstalter, sondern auch die Arbeiten von Rousseau, Delaunay, Campendonk, Macke und den Brüdern Burljuk. Diese Ausstellung des Blauen Reiters, erweitert um Arbeiten von anderen Künstlern wie Klee, Kubin und Jawlensky, wurde vier Monate später, im März 1912, als ›Erste Sturm-Ausstellung‹ in der Galerie ›Der Sturm‹ in der Gilka-Villa auf der Tiergartenstraße 34A in

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Lewis 1915. Zur Kunstlandschaft in Deutschland vgl. Vallier 1963, S. 31-56. Zu den Malern der Brücke, ebd., S. 119-122. Zu den Malern des Blauen Reiters, ebd., S. 123-129.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Berlin gezeigt, in der kurze Zeit später die futuristischen Bilder ausgestellt wurden.120 ›Der Sturm‹ war ursprünglich eine von dem Musiker Herwarth Walden herausgegebene Zeitschrift mit dem Untertitel ›Wochenschrift für Kultur und die Künste‹, die am 3. März 1910 zum ersten Mal erschien und sich zu einem der bedeutendsten Kommunikationsorgane der europäischen Moderne entwickelte. Mit dieser Ausstellung der Arbeiten des Blauen Reiters ist der Herausgeber Herwarth Walden zum Galeristen avanciert. Die ›Zweite SturmAusstellung‹, die am 12. April eröffnet wurde, war den Futuristen gewidmet.121 Nell Walden, Ehefrau von Herwarth Walden, der vorher mit der exzentrischen Dichterin Else Lasker-Schüler verheiratet war, berichtet in ihren Lebenserinnerungen: »Vor allem war die Futuristenausstellung ein ganz toller Erfolg. Sie hatte manchmal pro Tag tausend Besucher. Die Presse konnte schimpfen so viel sie mochte, ï was sie auch getan hat ï, jeder wollte diese Ausstellung sehen. Es war Mode, dort gewesen zu sein.«122 Dem stehen die bußerungen Boccionis entgegen, der als vorerst einziger Futurist die Ausstellung nach Berlin begleitet und am Tag der Ausstellungseröffnung deprimiert an Carrà schreibt: »Heute morgen wurde die Ausstellung eröffnet, die ganze Stadt war weiß von Schnee. Die Einnahmen sind, verglichen mit denen in Paris und London, äußerst gering. Und die Ursache für das alles: das schlechte Wetter, ein für Kunstveranstaltungen unterkühltes Klima, und, wie ich fürchte, ein Journalist als Ausstellungsorganisator, folglich ein Kollege und Feind aller Journalisten und damit auch des einzigen Werbemittels, das in einem Fall wie dem unseren zur Verfügung steht. Wir werden sehen, ob sich das Wetter morgen bessern wird. (...) Heute vormittag habe ich ganz allein die Ausstellung umgestaltet. Wir haben vier riesige Säle, die besten, mit Licht, aber schlecht unterteilt, weil Vorhänge fehlen. Ganz in der Nähe gibt es einen Saal mit Bildern von Delaunay (Eiffelturm und zwei Pariser Ansichten), Derain (Landschaft), Vlaminck (idem), Kandinsky (mit einer musikalischen Komposition). Im oberen Stockwerk: Braque, Herbin, Dufy, Kokoschka usw. Ich mußte alles umgestalten, weil die Bilder ohne jedes Kritierium aufgehängt waren. Sie hingen höher als ein Mensch groß ist. Ich habe Nägel eingeschlagen und bin müde.«123

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Vgl. Brühl 1983, S. 33-36. Der Sturm 1912. Walden/Schreyer 1954, S. 11f. »S’è inaugurata questa mattina l’esposizione con la città tutta bianca di neve. Le entrate sono state pochissime paragonate a quello che ho visto a Parigi e a Londra. La causa di tutto ciò: il tempo pessimo, l’ambiente poco accolorato per le manifestazioni d’arte e, temo, l’essere organizzatore un giornalisi, quindi dell’unico strumento adatto alla réclame, in casi come i nostri. Vedremo domani se il tempo si rimettera. (...) Questa mattina ho trasformato da solo l’esposizione. Abbiamo quattro enormi sale, le migliori, con luce, ma mal distribuita per mancanza di tende. Vicino a noi c’è una sala di Delaunay (Torre Eiffel e due paesaggi di Parigi); Derain ( paesaggio); Vlaminck (idem); Kandinsky (con una composizione muca-

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Futuristen auf Europa-Tournee Vielleicht ist der Blick Nell Waldens durch die historische Distanz und das Bedürfnis, ihre Rolle als Waldens »Muse« zu betonen, verfälscht worden. Dagegen erscheint die Darstellung Boccionis weitaus authentischer und stärker mit der tatsächlichen Lage übereinzustimmen ï zumal sie eine unmittelbare Reaktion auf die Ausstellungseröffnung ist. Obgleich die Ausstellung zuvor durch die Publikation des Textes ›Die Aussteller an das Publikum‹ in der Zeitschrift ›Der Sturm‹ vorbereitet wurde, war in der Staatsbibliothek zu Berlin heute keine Tageszeitung mehr zu finden, in der die Ausstellung angekündigt worden ist.124 Womöglich lag Boccioni mit seiner Vermutung, daß zuvor nicht genug Werbung für die Ausstellung gemacht wurde, nicht falsch. Dies dürfte in der Tat auf Herwarth Walden zurückzuführen sein, der damals für seine schlechte Pressearbeit bekannt war. So kam es, daß die Ausstellung am Tag ihrer Eröffnung nur dürftig besucht war. Walden hatte als Organisator von Ausstellungen quasi keine Erfahrungen ï wenn man von der ersten Sturm ï Ausstellung absieht, der einzigen, die er vor der Futuristen-Ausstellung konzipiert hatte. Dementsprechend unerfahren hat er womöglich die Ausstellungsräume ausgewählt und gestaltet, so daß sie zur Präsentation von Kunst bei weitem nicht so optimal waren, wie sie es in Paris den Beschreibungen Carràs zufolge gewesen sein müssen. Hinzu kommt, daß Malerei nicht gerade das primäre Metier Waldens war, der Klavier, Komposition und Musikwissenschaft studiert hatte. Dies beobachtete auch Paul Klee, der Walden zwar als »hervorstechende Persönlichkeit« beschreibt, doch feststellte, daß es ihm an irgendetwas mangele: »Er versteht nicht einmal etwas von Bildern! Und wenn etwas wirklich Wertvolles an ihm ist, so ist es seine außerordentlich gute Witterung.«125 Damit wäre zu erklären, warum Walden die Gemälde so ungünstig an den Wänden angeordnet hat, daß Boccioni alles umarrangieren mußte. Aus der bußerung Boccionis geht weiterhin hervor, daß in den weiteren Ausstellungsräumen Arbeiten von Künstlern der deutschen und französischen Avantgarde zu sehen waren ï die futuristischen Bilder befanden sich also in bester Gesellschaft. Da die übrigen Ausstellungssäle zur Kunstpräsentation aber nach dem Urteil Boccionis noch ungeeigneter waren als jener, in dem die futuristischen Bilder zu sehen waren, konnte sich das Potenzial der gesamten Bilderschau gar nicht angemessen entfalten. Die Lage gestaltete sich in den Augen Boccionis noch ungünstiger, als Walden ihm von seinem Verhältnis zur Zeitschrift ›La Voce‹ erzählte. Boccioni schreibt in seinem Brief an Carrà :

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le).Al piano superiore: Braque, Herbin, Dufy, Kokoshka, ecc. Ho dovuto trasformare tutto ciò perché i quadri erano disposti senza alcun criterio. Erano alti più dell’altezza di un uomo. Ho battuto chodi e sono stanco.« (Brief von Boccioni an Carrà, nach dem 12. April 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S.239f.; deutsche Übersetzung in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 340f.) Es wurden die größten Berliner Tageszeitungen eingesehen, u.a. die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt und die BZ. Zit. nach Eimert 1974, S. 106.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) »Damit du die typische heitere Schwermut der Dinge in Italien mitbekommst, möchte ich Dir erzählen, daß mir der Herausgeber des ›Sturm‹, der Zeitschrift, die unsere Ausstellung organisiert hat, voll Befriedigung eine Nummer der ›Voce‹ zeigte und mir sagte, daß zwischen beiden Zeitschriften volle Solidarität bestünde. Nachdem ich ihm die Haltung dieser werten Zeitschrift uns gegenüber geschildert habe, ist er aus allen Wolken gefallen. Bedenke, daß die Künstler, die von dieser Zeitschrift verteidigt werden, mit Ausnahme der Franzosen, nebulöser und literarischer sind, als man sich vorstellen kann. So ist es immer!«126

Walden, der dank eines Stipendiums zwei Jahre in Florenz verbracht hatte, um dort Musik zu studieren, kannte sich in den Florentiner Kreisen aus, daher war ihm auch die Zeitschrift ›La Voce‹ bekannt. Er wußte also, daß ›La Voce‹ nicht nur in Italien, sondern auch in Europa als ausgesprochen aufgeschlossenes Blatt galt. Die Polemik zwischen ›La Voce‹ und den Futuristen ist ihm wahrscheinlich entgangen. Er wollte sich wohl bei Boccioni als in die italienische Zeitschriftenlandschaft besonders eingeweiht beliebt machen, indem er von der Solidarität zwischen ›La Voce‹ und ›Der Sturm‹ erzählte, erreichte aber mit seiner bußerung das Gegenteil: er trat in das größte ›Fettnäpfchen‹, das es überhaupt gab. So deprimiert Boccioni in Berlin am Tage der Ausstellungseröffnung auch gewesen sein mag, es scheint für ihn doch noch einen Hoffnungsschimmer gegeben zu haben, der im letzten Abschnitt des Briefes deutlich wird: »Unsere Ausstellung ließe sich jährlich wiederholen. Ich habe mit ihm (Walden) schon darüber gesprochen, und wir sind uns einig. Wirklich, lieber Carrà, wir sind jetzt auf einem Weg, auf dem es, die Ruhe und das Geld zum Arbeiten vorausgesetzt, genügen wird, unsere Werke reisen zu lassen, und alles andere kommt dann von selbst. Nur das Ausland zählt! Ich weiß nicht, ob Dir bekannt ist, daß die meisten Käufer der Kubisten Picasso, Braque, Matisse und Van Dongen Deutsche und Russen sind, dann erst kommen die Amerikaner. (...) Lebwohl, grüße alle Freunde und bleib’ mir gewogen. Dein Umberto Boccioni.«127 126

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»Per darti la solita allegra malinconia sulle cose italiane, ti dirò che il direttore dello ›Sturm‹ , il giornale che ha organizzato la nostra esposizione, mi ha mostrato con soddisfazione un numero della ›Voce‹ e mi ha detto che tra loro v’e solidarietà. Io gli ho descritto l’attitudine del caro giornale verso di noi ed è cascato dalle nuvole. Nota che gli artisti difesi da questo giornale, a parte I francesi, sono quanto di più nebuloso e letterario si possa immaginare. È sempre cosi!« (Brief von U. Boccioni an C. Carrà, nach dem 12. April 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 240; deutsche Übersetzung in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 342. »Unsere Ausstellung ließe sich jährlich wiederholen. Ich habe mit ihm (Walden) schon darüber gesprochen, und wir sind uns einig. Wirklich, lieber Carrà, wir sind jetzt auf einem Weg, auf dem es, die Ruhe und das Geld zum Arbeiten vorausgesetzt, genügen wird, unsere Werke reisen zu lassen, und alles andere kommt dann von selbst. Nur das Ausland zählt! Ich weiß nicht, ob Dir bekannt ist, daß die meisten Käufer der Kubisten

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Futuristen auf Europa-Tournee Boccioni betrachtet die futuristischen Bilder nun als kommerziell vermarktbare Produkte, die für ihn »arbeiten«, wenn sie auf Reisen geschickt werden. Für den Fall, daß dieses Vorhaben Erfolg haben sollte, ginge für Boccioni ein Traum in Erfüllung: Er könnte sich nur noch der futuristischen Bildproduktion widmen, ohne daß es ihn an Geld mangelte oder er sich unliebsamer Auftragsarbeiten verschreiben müßte. Daß Boccioni innerhalb der Grenzen Italiens nicht auf eine große Käuferschaft zählt, liegt auf der Hand, da die ästhetischen Ziele der futuristischen Malerei in Italien aufgrund eines durch konservative Bildvorstellungen geprägten Kunstverständnisses nicht verstanden werden. So kommt es zu dem Paradox, daß für die Futuristen, die sich im Ausland in ihrer ›Italianità‹ geradezu inszenieren, nur eben dieses als Forum zählt. Mit den deutschen Kunstsammlern meint Boccioni wahrscheinlich den in Paris agierenden Daniel Henry Kahnweiler, den die Futuristen in ihren Briefen immer »Canaille« nennen,128 und die Geschwister Leo und Gertrude Stein, die, obgleich in den USA geboren, deutsch-jüdischer Herkunft sind. Kahnweiler wird später bei den Futuristen beliebter sein als Walden, da er erstens intelligenter und zweitens ehrlicher gewesen sei, wie Severini schreibt.129 Bei den russischen Kunstsammlern hat Boccioni wahrscheinlich die Kaufleute Iwan Morosow und Sergej Schtschukin im Sinn, die Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutende Sammlungen moderner Malerei zusammengetragen haben.130 Zum Zeitpunkt der bolschewistischen Oktoberrevolution hatte Morosow etwa 500 Kunstwerke gesammelt und Schtschukin etwa 250, die heute im Moskauer PuschkinMuseum und in der St. Petersburger Eremitage zu besichtigen sind. Im zitierten Brief schreibt Boccioni an Carrà, daß er Marinetti »vor wenigen Minuten«, also noch am Tag der Ausstellungseröffnung, telegraphiert habe, daß er unbedingt nach Berlin kommen müsse. Zwar konnte sich Boccioni mit Walden problemlos verständigen: Walden beherrschte aufgrund seines Aufenthalts in Florenz die italienische Sprache perfekt. Aber Boccioni war nun einmal der deutschen Sprache nicht mächtig, daher konnte er keine ReklameAktion initiieren, um mehr Besucher in die Ausstellung zu locken. Marinetti traf bald danach ein und blieb zusammen mit Boccioni weitere zehn Tage in Berlin.131 Gemeinsam mit dem Ehepaar Walden sorgten sie für ausreichend Reklame, wie sich Nell Walden erinnert: »Zurückblickend muß ich noch an eine Episode denken im Zusammenhang mit dem Besuche der beiden Futuristen zur Futuristenausstellung in Berlin. Eines Abends zogen wir zu Viert los, jeder mit einem großen Paket von den Futuristenmanifesten, welche jede Nacht, so lange die Ausstellung dauerte, an die Lit-

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Picasso, Braque, Matisse und Van Dongen Deutsche und Russen sind, dann erst kommen die Amerikaner. (...) Lebwohl, grüße alle Freunde und bleib’ mir gewogen. Dein Umberto Boccioni.« (Ebd.) Brief von Boccioni an Severini, Juni/Juli 1912, ebd., S. 348f., hier S. 349. Vgl. Severini 1965, S. 128. Zu diesen beiden Kunstsammlern vgl. Költzsch 1993. Vgl. Walden/Schreyer 1954, S. 15.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) faßsäulen geklebt wurden. Also, wir zogen los, nahmen ein offenes Auto und fuhren langsam durch die Leipziger und Friedrichsstraße. Alle Vier im Wagen stehend und die Plakate auf die Straße werfend, mit dem Rufe: ›Eviva Futurista!‹(...) Das war Reklame im Sinne der Futuristen und Herwarth Waldens.« 132

Nach dem Eintreffen Marinettis gestaltete sich das Verhältnis zwischen den Futuristen und dem Ehepaar Walden zunächst ausgesprochen freundschaftlich. Sie gingen nach Schließung der Galerie abends immer in das Lokal ›Dalbelli‹ und amüsierten sich köstlich, wie Nell Walden in ihren Lebenserinnerungen berichtet.133 Marinetti wird sich wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Berlin bei Walden in einem Brief für den »liebenswerten Empfang« bedanken.134 Jedoch verdrängt Nell Walden in ihren Lebenserinnerungen, daß die Futuristen von ihrer exotischen ›Vorgängerin‹ Else Lasker-Schüler, die nicht nur den Namen ›Der Sturm‹, sondern auch jenen ihres Ehemanns, Herwarth Walden, der eigentlich Georg Levin hieß, erdacht hatte,135 viel stärker fasziniert waren als von ihr. In demselben Brief schreibt Marinetti an Walden, daß er seine »geniale Frau« seiner Wertschätzung und Bewunderung versichern solle, er habe von ihr eine sehr schöne Übersetzung orientalischer Verse gelesen.136 An die aus Dänemark stammende Nell Walden dagegen scheinen sich weder Marinetti noch Boccioni erinnern zu können, da sie in ihrer skandinavischen Nüchternheit womöglich einen ziemlich blassen Eindruck hinterlassen hat. Am 13. Mai 1912 schreibt Marinetti an Walden, daß er die futuristischen Bilder sorgfältig und möglichst schnell in Kisten verpacken solle, um sie nach Brüssel an die Galerie Georges Giroux ï der nächsten Station der Wanderausstellung ï zu schicken,137 wo sie spätestens am 20. Mai 1912 ankommen sollten. Am 1. Juni 1912 wird dort die Ausstellung futuristischer Malerei eröffnet, wiederum von Boccioni begleitet. Inzwischen waren in Berlin die Verkaufsverhandlungen angelaufen, wobei sich ein Bankier namens Dr. Borchardt als besonders interessiert an den futuristischen Bildern zeigte. Am 29. Mai schreibt Boccioni aus Brüssel an seine Freunde Carrà und Russolo: »Von der Direktion der Deutschen Nationalbank wurde er uns als wohlhabend, aber ein wenig verschwenderisch skizziert; (...) Darüberhinaus lud uns dieser Herr immer zu prunkvollen Essen im höchst aristokratischen Berliner Klub ein.«138 »Die Gesamtsumme für alle Maler beträgt in Mark 11.650 für 24 verkaufte Werke und wird in Raten an Marinetti bezahlt,« heißt es an anderer Stelle.139 Dieser Preis scheint verhältnismäßig niedrig gewesen zu sein. Severini beklagt sich, für sein Bild Pan Pan à Monico 132 133 134 135 136 137 138 139

Ebd. Ebd. Schmidt-Bergmann 1991, S. 343. Vgl. Brühl 1983, S. 8. Brief von F. T. Marinetti an H. Walden, 26. April 1912, in: SchmidtBergmann 1991, S. 343. Brief von Marinetti an Walden, vor dem 13.5.1912, ebd., S. 345. Ebd. Ebd., S. 346.

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Futuristen auf Europa-Tournee nur 2000 Mark erhalten zu haben, obwohl er doch ganze zwei Jahre daran gearbeitet habe.140 Andererseits enthob er die Futuristen der Notwendigkeit, wegen jedes einzelnen Gemäldes komplizierte Verkaufsverhandlungen zu führen. Ruft man sich den eingangs zitierten Brief Boccionis an Carrà in Erinnerung, in dem er leicht verträumt von der Möglichkeit spricht, daß sich womöglich ein Käufer für die Bilder finden lassen würde, gewinnt man vorerst den Eindruck, daß für ihn ein Traum in Erfüllung gegangen sein dürfte. Nicht aber, wenn man den weiteren Briefwechsel der futuristischen Maler konsultiert und somit tiefere Einsichten in die Geschäftsmethoden von Borchardt und Walden gewinnt. Im Juni/Juli 1912 schreibt Boccioni an Carrà, daß die futuristischen Maler eingeladen seien, zusammen mit Picasso, Braque, den Kubisten, Cézanne und anderen in New York auszustellen. In diesem Zusammenhang schreibt er weiter: »Die Sache wäre mir gleichgültig, wenn mir nicht ein Freund (...) geschrieben hätte, er wisse von einer demnächst stattfindenden Futuristenausstellung in New York. Diese wird (so stelle ich mir vor) von Dr. Borchardt durchgeführt, der uns mit den Bildern, die er von uns zum halben Preis gekauft hat, zu Spekulationszwecken in allen wichtigen Metropolen der Welt zuvorkommt. Unser triumphaler Einzug in alle wichtigen Städte ist äußerst gefährdet! Das ärgert mich und wird Marinetti, an den ich schreibe, noch mehr ärgern.«141

Das heißt, daß Borchardt die Bilder nicht aus privater Leidenschaft erworben hat, sondern um selbst eine Wanderausstellung zu arrangieren, mit der er Profit zu machen hoffte. Damit unterläuft er die Zielvorstellungen der Futuristen. Die futurischen Maler würden in New York nicht mehr die Möglichkeit haben, sich selbst mit ihren Gemälden in Szene zu setzen, weil Borchardt ihnen womöglich schon zuvorgekommen sein wird. Er würde nicht nur die Eintrittsgebühren, sondern auch den ideellen Erfolg für sich haben und möglicherweise einzelne Bilder gewinnbringend weiterverkaufen. Wie Boccioni oben schreibt, hat er Marinetti tatsächlich über diesen Sachverhalt unterrichtet. Dieser richtet sich in einem eigenen Brief vom 15. November 1912 an Walden :

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Vgl. Severini 1965, S. 128. »La cosa mi sarebbe indifferente se un mio amico non avesse scritto a Severini che sa di una prossima mostra futurista a New York. Questa (immagino) è fatta dal dottor Borchardt il quale a scopo di speculazione, con i quadri comprati a metà prezzo, ci precede e svergina tutte le città più importanti del mondo. Il nostro ingresso trionfale in tutte le capitali è completamente compromesso! Questo mi secca e seccherà più Marinetti al quale scrivo subito (…).« Brief von U. Boccioni an C. Carrà, Juni/Juli 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 246; deutsche Übersetzung in: SchmidtBergmann 1991, S. 350.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) »Liebster Walden, wir sind sehr verärgert über Dich, weil Du uns nicht über die diversen Futuristenausstellungen unterrichtet hast, die Du mit Dr. Borchardt organisiert hast. (...) Wir wollen also über die Ausstellungen, die du vorbereitest, informiert werden und wollen auch, daß diese Ausstellungen nur wirklich futuristische Bilder umfassen. Schreibe mir sofort, ob es wahr ist, daß du gerade eine Ausstellung in New York vorbereitest. Sollte das der Fall sein, hätte ich die Absicht, dort eine Rede zu halten. Ich bedanke mich im voraus für alles. Viva Garibaldi. Ich umarme Dich. F. T. Marinetti.«142

Da Marinetti an Walden und nicht an Borchardt schreibt, weiß er also Bescheid, daß die beiden kooperieren. Walden organisiert die verschiedenen Etappen der Wanderausstellung der insgesamt 24 Bilder, zu der er im Sturm-Verlag einen dreisprachigen Katalog druckt.143 Die Kooperation geht sogar so weit, daß Walden später einige Gemälde von Borchardt aufkauft. Auch wenn der ganze Brief Marinettis sehr verärgert klingt, wäre er wohl bereit gewesen, einzulenken, wenn man ihn als Sprecher der Futuristen gebührend involviert hätte. Eine Rede in New York ï das hätte Marinetti sicher gut gefallen, zumal seine eigenen Kontakte so weitreichend nicht waren. Doch dazu kam es nie, die Ausstellung ist nicht zustande gekommen. Jahrzehnte später versucht Nell Walden ihren Mann von den im Raum stehenden Vorwürfen reinzuwaschen, wenn sie schreibt, daß die Galerie ›Der Sturm‹ sich auch im Krieg für die ›feindlichen Ausländer‹ einsetzte, zu denen eben auch die italienischen Futuristen gehörten. Deswegen habe der Sturm-Kreis einen schlechten Stand in der Presse gehabt: »Wir ließen aber nicht locker, und als die Ausländer aus dem Kriege zurückkamen, fanden sie sich, dank der unermüdlichen Propaganda des STURM als berühmte Künstler. Viele von ihren Bildern, die wir im Sturm ausgestellt hatten, waren verkauft worden. Der Erlös war aber gering, als sie in der Inflationszeit die Abrechnungen bekamen. Da wir aber alle Zahlungen an feindliche Ausländer einer Treuhandstelle übergeben mußten î wir konnten sie ja selber weder erreichen, noch durften wir sie direkt auszahlen î, verloren auch diese Künstler, wie wir alle in Deutschland, durch die Inflation viel Geld. Dagegen waren sie

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»Carissimo Walden, Siamo molto arrabbiati contro di te perché non ci hai mai avvertiti delle diverse esposizioni di Pittura futurista che hai organizzate insieme col Dr. Borchardt. (...) Vogliamo dunque essere informati sulle esposizioni che prepari, e vogliamo che queste esposozioni comprendano unicamente quadri veramente fituristi. Scrivimi subito se è vero che stai preparando un’esposizione a New York poiché in questo caso avrei intenzione di tenere della conferenze in quella città. Ti ringrazio antisipatamente di tutto. Viva Garibaldi. Ti Abbraccio. F.T. Marinetti.« (Brief von F. T. Marinetti an H. Walden, 15. Novemver 1912, in: Gambillo/Fiori, 1958, S. 253; deutsche Übersetzung in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 358. Zur Kooperation von Walden und Borchardt vgl. Eltz 1986, S. 42ff.

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Futuristen auf Europa-Tournee unterdessen berühmt geworden, und konnten die übrig gebliebenen Bilder nun zu hohen Preisen verkaufen. Trotzdem es nicht Herwarth Waldens Schuld war, oder falsches Disponieren vom STURM, wurde später daraus doch von Herwarth Waldens Feinden ein großes Wesen gemacht, wobei es an infamen Andeutungen nicht fehlte.«144

Zunächst ist dazu zu sagen, daß viele Künstler in den Krieg zogen und nicht wieder zurückkamen ï wie auch Boccioni. Er selbst konnte naturgemäß aus seiner Berühmtheit gar keinen Nutzen mehr ziehen. Es mag ja sein, daß das Ehepaar Walden durch die Inflationszeit viel Geld verloren hat. Dies ist aber nicht der Grund dafür, warum die futuristischen Maler am finanziellen Profit nicht beteiligt werden konnten ï Waldens und Borchardts dubiose Aktivitäten rund um die futuristischen Bilder vollzogen sich bereits im Jahr 1912 und hatten nichts mit der Inflation zu tun. Die Tatsache, daß Borchardt, wie Severini schreibt, die noch ausstehenden Raten niemals mehr beglichen hat,145 ist in Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch zu sehen. Aber so viel Geld, daß sich Walden seine gesamte Provision auszahlen konnte, war anscheinend vorhanden.146 Auf welche »infamen Andeutungen« auch immer Nell Walden anspielt, sie können auf jeden Fall nicht von den Futuristen stammen, die sich zwar von Borchardt und Walden hintergangen fühlten, aber später kein großes Aufhebens mehr darum machten. Womöglich meint Nell andere Künstler, die sich ebenso wie die Futuristen ›geprellt‹ fühlten. Wie bereits erwähnt, war in der breiten Berliner Öffentlichkeit die Ausstellung futuristischer Bilder aufgrund der dürftigen Pressearbeit Waldens kaum »angekommen«. Anders sah es in den eingeweihten Künstlerkreisen aus, die zu der Stammleserschaft des ›Sturm‹ gehörten. Ein vorbereitender Artikel, der meistens nur fragmentarisch zitiert wird, erschien zwei Tage vor der Ausstellungseröffnung, am 10. April 1912, in der Zeistchrift ›Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst‹, einem von Franz Pfemfert herausgegebenen Konkurrenzblatt. Arthur Segal, der Verfasser des mit dem Titel ›Die neue Malerei und die Künstler‹ überschriebenen Artikels,147 war selbst Maler, hatte unter anderem in Paris studiert und war gerade aus der Neuen Sezession ausgetreten, zu deren Mitbegründern er gehört hatte. Wie der Titel des Artikels schon zeigt, ist die Ankündigung der Ausstellung futuristischer Bilder einer grundsätzlichen Reflexion über die neue Malerei untergeordnet. Im ersten Absatz erzählt Segal die Geschichte eines Malers, die die Geschichte eines jeden Malers sein könnte, der in dieser Zeit lebte ï auch seine eigene:

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Walden/Schreyer 1954, S. 42. Vgl. Severini 1965, S. 128. Ebd. Segal 1912, S.1.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) »Ich muß an die Geschichte des Malers denken, der durchaus berühmt werden wollte, in die modernste Ausstellung ging, sehr viel abguckte, dann zu Hause sich einschloß, um ganz moderne Bilder zu malen. Kaum ist er damit fertig, mit Ungeduld auf die Wirkung seiner neuen Bilder wartend, eilt er zur eben eröffneten Ausstellung î da wird zu seiner Enttäuschung schon wieder anders gemalt; er ist noch immer der Unmoderne. Wieder guckt er ab, ändert seine Malweise: mit der nächsten Ausstellung wiederholt sich das Spiel.«148

Segal thematisiert das Phänomen der rasanten Entstehung neuer Kunstrichtungen und ihrer ästhetischen Innovationen, die sich für Maler zunehmend als problematisch erweist. Die Kunstrichtungen folgen so schnell aufeinander, daß Plagiat keinen Sinn mehr hat: das heute noch Moderne ist morgen schon wieder unmodern. Maler, die stets das Neueste plagiieren, sehen sich ständig dem Problem gegenübergestellt, daß dieses Neueste sogleich schon wieder als veraltet gilt. Maler, die der Avantgarde angehören wollen, sind einem solchen Druck ausgesetzt, daß ihnen am Ende nur die Möglichkeit bleibt, selbst innovativ zu sein und immer wieder Neues und nie Gesehenes zu schaffen. Erst im zweiten Absatz kommt Segal zu den Futuristen, die nun an der Reihe sind, in ihrer Ausstellung das Neueste zu zeigen: »Blitzschnell folgt Entwicklung auf Entwicklung. Gauguin, Matisse sind längst ›überwunden‹. Kaum beginnt der Cubismus sich bemerkbar zu machen, ist schon der Futurismus da. Jetzt wird Berlin die Futuristen sehen; die jungen Künstler, die nach der neuesten Sensation ausschauen, werden sich darauf stürzen, und siegesfroh wird jeder seine Beute heimbringen, um sie dem überraschten (und entsetzten) Publikum zu zeigen. Die Sucht nach unglaublich Neuem jagt wie eine Krankheit die Künstler. Die Angst, ›akademisch‹ zu werden, ist zur Todesangst geworden. Akademisch sein, ist entwürdigend, ist ein Beweis der Talentlosigkeit, ist Beleidigung. Man zuckt die Achseln: Hm! Cézanne. Mitleidslächeln: Gauguinschüler. Jedoch Cubismus, Futurismus, ja, bei diesen Gedanken lacht doch das Herz.«149

Jetzt nennt Segal die Kunstrichtungen und Künstler, die so schnell aufeinander folgten, beim Namen: die Innovatoren Gauguin und Matisse, die gestern noch als Gründerväter der modernen Malerei galten, gehören heute schon zum ›alten Eisen‹ï obgleich Gauguin erst im Jahr 1903 verstorben war und sich die Gruppe fauvistischer Maler um Henri Matisse erst wenige Jahre zuvor aufgelöst hatte. Den Konkurrenzkampf zwischen Futurismus und Kubismus, von dem Segal wahrscheinlich keine detallierte Kenntnis hatte, haben die Futuristen ›gewonnen‹, da sie nun gegenüber den Kubisten das Neueste zu bieten haben. Ob Segal richtig liegt, wenn er den Berliner Künstlern unterstellt, daß sie die Futuristen-Ausstellung aus Sensationslüsternheit besucht hätten, kann nicht abschließend beurteilt werden. Als anregend werden sie womöglich die Manifeste empfunden haben, die schon vor der Ausstellungseröffnung im 148 149

Ebd. Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee ›Sturm‹ erschienen waren.150 Mit ihrer Attacke auf alle etablierten Kunstinstitutionen werden die Futuristen auf Sympathie gestoßen sein, denn ebenso wie in Italien bestand auch in progressiven Berliner Künstlerkreisen die panische Angst, ›akademisch‹ zu sein. Diese Angst ging sogar so weit, daß sich die Bilder Cézannes, auf die man sich noch kurze Zeit zuvor nur allzu gerne berief, als Referenzquelle plötzlich nicht mehr eigneten. Einige Jahrzehnte zuvor, zur Zeit des Impressionismus etwa, sei der Gang der Entwicklung langsamer gewesen, schreibt Segal weiter. Heute sehe das anders aus: »Expressionismus, Cubismus und Futurismus leben dagegen zur gleichen Zeit, sind innerhalb einiger Jahre entstanden. Die Gegensätze sind darum schärfer, ausgeprägter, obwohl sie Beziehungen zueinander haben. Der Künstler, der gestern Expressionist war, heute Cubist ist und morgen Futurist, macht nur rascher die Entwicklung durch.«151 Während also im 19. Jahrhundert die Kunstrichtungen noch aufeinander folgten, existierten sie heute synchron, auch wenn sie nacheinander entstanden seien. Ihre Koexistenz bedinge auf der einen Seite die Notwendigkeit, daß sie sich um so deutlicher voneinander unterscheiden müßten, auf der anderen den Umstand, gemeinsame Charakteristika aufzuweisen. Die rasante Entwicklung der ›Ismen‹-Kunst zwinge den Künstler dazu, sich schneller zu entwickeln und ermögliche es ihm zugleich, in schnell aufeinander folgenden Etappen verschiedene Kunstrichtungen zu vertreten. Im letzten Absatz verweist Segal nochmals auf die Futuristenausstellung und darauf, daß die ästhetische Innovation der futuristischen Malerei eigentlich Kandinsky anzurechnen sei, einem Künstler, der trotz seiner russischen Abstammung als ›Deutscher‹ galt: »Ich habe schon darauf hingewiesen, daß wir demnächst in Berlin eine Ausstellung der Futuristen haben werden, die augenblicklich in Paris Aufsehen erregen. Eine Kostprobe, einen Vorgeschmack davon gibt uns Kandinsky, der jetzt in Berlin seine Impression Moskau sehen läßt. Die rein abstrakte, geistige Kunst Kandinskis bedeutet die letzte Konsequenz, zu der das rein Dekorative gelangen mußte. Hier will es mir scheinen, als ob der Futurismus schon ein Zurück bedeutet, ein Zurück zum Konkreten, zum Gegenständlichen.«152

Anscheinend war Segal nicht genau über die Stationen der Ausstellung futuristischer Malerei informiert. Die Ausstellung sorgte derzeit nicht in Paris, sondern in London für Aufsehen, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde. Daß auch Segal nicht ganz parteilos an die Beurteilung des Futurismus heranging, wird aus seiner Einschätzung ersichtlich, daß Kandinskys Bild Impression Moskau schon einen ›Vorgeschmack‹ auf die Futuristen gebe und daß der Futurismus, über Kandinsky hinaus, schon ein Zurück bedeutet,

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Wie etwa: »Futuristen. Die Aussteller an das Publikum« 1912 (Reprint 1970), S.3-4. Segal 1912, S.1. Ebd.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) ein Zurück zum Konkreten, zum Gegenständlichen. Der Vorwurf des Anachronimus wird allerdings gemildert bzw. aufgehoben, indem dieses ›Zurück‹ im Sinne einer Weiterentwicklung verstanden wird. Die Weiterentwicklung hat Werner Haftmann bekanntlich in einer Ausstellung zum Objekt in der Kunst des 20. Jahrhunderts thematisiert.153 Walden, dem Herausgeber des ›Sturm‹, gelingt es weniger stark, den ästhetischen Prinzipien der futuristischen Malerei gerecht zu werden, denn er beschränkt sich darauf, nur die Rezensionen, die zu der Ausstellung erscheinen, zu rezensieren. Diese Artikel füllen im ›Sturm‹ ganze Seiten, auf denen Walden mit jedem einzelnen Kritiker wie der Vorsitzende eines Tribunals abrechnet. Dabei zitiert er die bußerungen, über die er sich besonders geärgert hat, und scheint blind gegenüber der Tatsache zu sein, daß sie ihrerseits manches Bedenkenswerte enthalten: Einer dieser Artikel trägt den an sich schon aggressiven Titel ›Abwehr‹ und ist auf dem Titelblatt der Maiausgabe des ›Sturm‹ zu lesen.154 Ein Herr Karl Scheffler hat den besonderen Unmut Waldens auf sich gezogen, der aus seinem Artikel den folgenden Absatz zitiert: »Das Bedenklichste ist, sie wirken intellektuell unehrlich. Ihre Kunst stellt sich dar als ein unlauterer Wettbewerb. Bei allem zur Schau getragenen Enthusiasmus wittert man zwischen den Zeilen ihres Programms Neid und andere unreine Instinkte. Sie sind nicht Fanatiker der Wahrheit, wie sie sagen, sondern Fanatiker des lauten Erfolgs um jeden Preis. Nicht jugendlicher Sturm und Drang steht hinter ihrer Malerei, sondern ein recht übles Menschentum.«155

Es ist vollkommen legitim, daß Karl Scheffler zunächst den subjektiven Eindruck schildert, den er von den futuristischen Bildern und Texten gewonnen hat. Man hat nicht das Gefühl, daß er die futuristische Malerei einseitig diffamieren möchte ï so wie man es einigen Artikeln Sofficis klar unterstellen könnte. Auch wenn dieser Absatz keine Erklärungen darüber enthält, wie Scheffler zu diesem Eindruck gekommen ist, kann man ahnen, worauf er anspielt: wenn er den Futuristen unterstellt, »intellektuell unehrlich« zu sein, dann meint er damit, daß sie nicht wirklich die Ziele vertreten, die sie zu vertreten vorgeben. Sie tun so, als seien sie an bildtheoretischen Fragestellungen interessiert, dabei geht es ihnen nur darum, andere Kunstrichtungen mit allen verfügbaren Mitteln zu übertrumpfen. Wenn Scheffler den Futuristen unterstellt, neidisch zu sein, dann meint er damit, daß sie gern die Erfolge anderer Künstler für sich verbuchen wollen. Deswegen sind sie in den Augen Schefflers keine

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Die Ausstellung hieß ›Metamorphose des Dinges - Kunst und Antikunst 1910 -1970‹ und ist von einer Gruppe europäischer Museumsdirektoren kuratiert worden, auf Berliner Seite war dies Werner Haftmann zusammen mit Jörn Merkert. Metarmorphose des Dinges: Kunst und Antikunst (1910-1970) 1971. Walden 1912 (Reprint 1970), S. 33-34. Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee »Fanatiker der Wahrheit«, wie sie selbst aber vorgeben. Daß es zweifellos richtig ist, daß sie »Fanatiker des lauten Erfolges« sind, bedarf keiner Ausführung mehr ï es ist oft genug dargelegt worden, daß die Futuristen, allen voran Marinetti, genau wußten, wie sie die Werbetrommel zu rühren hatten, um für möglichst viel Furore zu sorgen. So kommt Scheffler zu dem Schluß, daß der ›jugendliche Sturm und Drang‹ nur vorgetäuscht sei und sich hinter ihm ein »recht übles Menschentum« verberge. Zu diesem Resümee könnten die als aggressiv empfundenen Werbekampagnen der Futuristen geführt haben, durch die die Futuristen die Demonstration ihrer Ernsthaftigkeit konterkarierten – zu ihrem eigenen Nachteil, weil sie seit dem Beginn der futuristischen Malerei sehr konsequent und ernsthaft ihre ästhetischen Ambitionen umsetzten. Die weiteren Artikel zur futuristischen Malerei in der Zeitschrift ›Der Sturm‹ stammen ausschließlich von Personen, die unmittelbar dem Sturm-Kreis angehören. Der erste Artikel, der nach dem oben besprochenen in einer späteren Maiausgabe des ›Sturm‹ erschienen ist, stammt aus der Feder Alfred Döblins.156 Dieser war seit einem Jahr als Kassenarzt für Nervenkrankheiten in Berlin tätig. Obgleich Döblin schon seit 1910 hin und wieder Artikel für den ›Sturm‹ geschrieben hatte, begann Walden erst 1912, ihn in die Kunst- und Literaturszene Berlins einzuführen. Ein Jahr später wird Döblin mit seinem Erzählband ›Die Ermordung einer Butterblume‹ als Schriftsteller debütieren. Döblin wird etwas später unter Einfluß des Futurismus sein eigenes Literaturprogramm formulieren.157 Als sein Artikel über die futuristische Malerei erschien, stand er also noch am Anfang seiner publizistischen Laufbahn. Dieser berühmte und viel zitierte Artikel ist sehr ausufernd, betrifft in weiten Teilen nicht die futuristische Malerei, sondern generelle Fragen zur Kunst und ihrer Rezeption. Die scharfsinnigen und hochreflektierten Bildbetrachtungen Döblins wurden schon im Rahmen der einzelnen Bildbesprechungen zitiert. Eher selten diskutiert werden seine allgemeinen Erwägungen zur futuristischen Malerei: Zu Anfang des Artikels stellt Döblin fest, daß für eine Sinfonie, ein Quartett oder ein Drama das Sich- Hineinhören oder ï Lesen als selbstverständlich gelte. Die Schwierigkeit, die sich dem unmittelbaren Verständnis entgegensetze und die Langsamkeit des Hineinwachsens in das Kunstwerk werde als »Index seiner Güte« angesehen. Anders verhalte es sich aber bei der Malerei und der Plastik: »Die Erleuchtung soll nur so von den Wänden knallen. Man passiert eine Ausstellung; mit jeder Kopfdrehung holt man sich einen Kunstwert herunter, wie die Jungens Spatzen beim Schützenfest.«158 Döblin kritisiert also den schnellen Konsum von visuell erfahrbaren Kunstwerken, mit dem, so wünscht es das Publikum, auch 156 157

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Döblin 1912 (Reprint 1970), S. 41. Der Einfluß des Futurismus auf Döblin macht sich bereits in seinem Artikel über die »Futuristische Worttechnik« bemerkbar: Döblin 1913 (Reprint 1970), S. 280-282. Döblin 1912 (Reprint 1970), S. 41.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) ein möglichst hoher Erkenntnisgewinn einhergehen soll. Die Menschen besuchten mit derselben Erwartungshaltung eine Ausstellung, mit der sie auf einen Rummel gehen, wo sie Spatzen in Schießbuden abschießen. In diesem Rahmen kommt Döblin in Hinblick auf die futuristischen Bilder zu einer Schlußfolgerung, die zwar zunächst banal klingen mag, doch einen neuen Aspekt in die zeitgenössische Futurismusrezeption bringt: »Hier die Grundnegation der Futuristen. Sie verlangen Zeit für sich. Jedes Bild ist ein Gedicht, eine Novelle, ein Drama; man liest das nicht in zwei Minuten. Man braucht schon mehr Zeit bei den Futuristen als bei den Pointillisten und Impressionisten: mit den vier Schritten an die gegenüberliegende Wand und ›rechtsum kehrt‹ ist es nicht getan. Ein Bild will gedeutet sein. Es stellt eine Aufgabe. Für eine Mark Eintritt bekommt man nicht sechzig Kunstwerke, sondern sechzig Aufgaben. Eine Ausstellung ist keine Stehbierhalle. (...) Das Kunstwerk verlangt Disziplin, Eindringen Bemühung, Bemühung. Dies ist es, daran fehlt es, daher alle Mißverständnisse.«159

Die Feststellung, daß die Betrachtung der futuristischen Gemälde Zeit erfordert, daß sie keineswegs auf den ersten Blick dechiffrierbar sind, hat sich auch aus einigen der in dieser Arbeit vorgenommenen Bildanalysen ergeben. Konträr dazu verhält sich die Kritik Schefflers, daß die Futuristen reine »Fanatiker des lauten Erfolges« seien, was zwar ebenfalls richtig ist, aber eben nur partiell, da die futuristischen Maler in einigen ihrer Bilder eine Ernsthaftigkeit an den Tag legen, die oftmals verkannt wird. Natürlich ist es auch bei den Pointillisten und Impressionisten nicht mit den »vier Schritten an die gegenüberliegende Wand und ›rechtsum kehrt« getan, wie Döblin meint. Vielleicht widersprechen die Bilder dieser Kunstrichtungen einfach seinem Naturell: Döblin war aufgrund seiner Studien und Dissertation im Fach Psychiatrie mehr an der Evokation psychologischer als wahrnehmungstheoretischer Phänomene interessiert. In seiner Dissertation ›Gedächtnisstörungen bei der Korsakoff’schen Psychose‹, die im Jahr 2006 erstmalig als Buch erschienen ist, beschäftigt er sich mit der ›Confabulation‹, der absurden und ausufernden Fabulierlust, die als Folge von Alkoholismus nach einiger Zeit den zuerst eintretenden Gedächtnisverlust ersetzt. An einer Stelle seiner Dissertation unterscheidet er sogar zwischen dem krankhaften Fabulieren, dem Gegenstand seiner Arbeit, und dem ›poetischen Fabulieren‹, das die Dichter auszeichnet. Jedenfalls wird er in einigen der futuristischen Gemälde, wie etwa den Stati d’animo (II), seine Idee der poetischen Confabulation malerisch angewandt sehen. Außerdem sind in den Bildern gesellschaftliche und psychologische Phänomene dargestellt, die sein reges Interesse als Dichter und als Psychiater gefunden haben dürften. Döblin hat offenbar das vielfältige und konträre Gerede rund um die futuristischen Gemälde zur Kenntnis genommen. Auch wenn er die Quellen, die er im Sinn hat, nicht benennt, kann man doch sagen, daß er die futuristische Kunst als allgemein mißverstanden er-

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Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee achtet. Zu Mißverständnissen kam es seiner Ansicht nach, weil sich die Rezensenten gar nicht oder eben nur unzureichend mit den Werken selbst auseinandergesetzt haben. In diesem Punkt kann Döblin nur zugestimmt werden. Wie etwa auch die Rezeption in London zeigt, haben die Rezensenten sich mehr mit den Manifesten und dem schriftlich verbalisierten Programm als mit den Bildern auseinandergesetzt. Für dieses Problem sind die Futuristen allerdings zum Teil selbst verantwortlich, da sie durch ihre zahlreichen schriftlichen bußerungen den Wirkungsraum ihrer Werke enorm eingeschränkt haben. In manchen Punkten aber scheint Döblin die futuristische Malerei falsch eingeschätzt zu haben. Beispielsweise schreibt er, daß der Futurismus kein Prinzip sei und auch kein Prinzip habe. Nur der Plural sei zulässig: Prinzipien, elementare Einsichten habe er vorzuweisen. Für diese nennt er nur eines: »Der Futurist lehnt zum Beispiel als Maler die Theatralik ab.«160 Vor allem auf die Werke Boccionis scheint diese Feststellung nicht zutreffend zu sein. Gerade etwa das Bild Gli Adii, die erste Tafel der Stati d’animo, ist nicht frei von einer gewissen Theatralik in Thematik und Ausführung. Auch wenn die futuristischen Arbeiten nicht auf den ersten Blick dechiffrierbar sind, so ziehen sie doch durch die vielen, oftmals schreienden Farb- und Formkontraste unmittelbar die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, ein Ansatz, der schon in sich theatralisch ist. Von ›subtilem Charme‹ einer zunächst unauffälligen bsthetik, deren Qualitäten sich erst auf den zweiten Blick offenbarten, kann keine Rede sein, abgesehen von dem Bild Boulevard Severinis vielleicht. Kontrapunktisch zu den Werken der Futuristen verhalten sich unter diesem Gesichtspunkt die Bilder Picassos. Durch ihre gedeckte Farbgebung und filigranen Formkompositionen erscheinen sie zurückgenommen und nicht-theatralisch. Im nächsten Abschnitt nennt Döblin sogar einen der Gründe für die Theatralik der futuristischen Maler, deren Existenz er andererseits abstreitet: »Eine Szene zu malen lohnt nicht der Mühe. (...) Seht viele der älteren Maler an: die krampfhafte Bemühung der guten unter ihnen, in jedem Punkte intensiv und lebendig zu sein, jedes Eckchen mit Empfinden auszustatten. Dieses Aengstigen; und der Raum ist so wahnsinnig klein; und zum Schluß die Erkenntnis: es ist nicht halb, nicht ein viertel, was ich wollte. Mit einem Ruck macht sich der Futurist Platz, stößt den Alb von seiner Brust. Worauf kommt es doch an? Nicht auf die entseelte blöde Szene, das Objekt, sondern auf î mich, auf mich, auf mich und nichts weiter.Was sind Wellen, Berge, Gesichter, Farben, Linien gegen mich! Er ist nicht Nachschöpfer, sondern Neuschöpfer.«161

Zunächst beschreibt er den Mangel an Souveranität bei den »älteren Malern«, die sich noch darum bemühen, eine Szene zu malen und dabei das gesamte Bild durch ihr Empfinden zu animieren. Dabei revitalisiere sich ein Phänomen, das seit der Renaissance als über-

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) holt angesehen wurde: der horror vacui, die Angst vor dem Leerraum. Nach diesen ganzen Bemühungen müsse der »ältere Maler« enttäuscht feststellen, daß er seine Intention, »jedes Eckchen mit Empfindung auszustatten«, gar nicht realisiert habe. Die Futuristen dagegen entledigten sich dieser Intention der »älteren« Künstler und ersetzten das Bestreben, es dem innovationssüchtigen Betrachter recht zu machen, durch unbekümmerte Ich-Bezogenheit. In dieser Ich-Bezogenheit liege die Quelle ihrer Kreativität und Inspiration. Aber auch ihrer Theatralik, müßte man hinzufügen, wenn man sich Döblins Auffassung von der Ich-Bezogenheit ›des‹ Futuristen kritiklos anschließen wollte. – Nun erhebt Döblin nicht den Anspruch, einen wissenschaftlichen Aufsatz über die futuristische Malerei zu schreiben, weshalb er auch nicht aus diesem Blickwinkel gelesen werden darf. Trotzdem muß man sich von der generalisierenden Aussage, daß alle Futuristen in ihrer Bildproduktion ich-bezogen seien, distanzieren. Zutreffend ist das allenfalls für Boccioni, der seine eigene großen Wechseln unterworfene mentale Verfassung in Bildern wie den Stati d’animo überdeutlich zum Ausdruck bringt. Für Severini gilt das Gegenteil. Als Persönlichkeit wirkt er nicht ichbezogen, sondern eher selbstauflösend: überaus taktvoll, hilfsbereit, diplomatisch, sensibel, und darum prädestiniert, sich von anderen ausnutzen zu lassen, nicht zuletzt von seinen eigenen futuristischen Kollegen. Dieser persönlichen Disposition entsprechen auch seine Arbeiten, die sich vor allem der vielschichtigen Beschreibung seines persönlichen Umfeldes widmen und dabei formale Auflösungstendenzen zeigen, denen sogar das Bildzentrum anheim fällt. Über die anderen beiden Futuristen – Russolo und Carrà – läßt sich in diesem Punkt zur Zeit der Ausstellung noch nichts Näheres sagen. Russolo hat noch zu wenig gemalt, um als Künstlerpersönlichkeit beurteilt werden zu können und steht außerdem in zu starker Abhängigkeit von Boccioni. Carrà wird seine ästhetische Identität erst später entwickeln. »Der Futurismus ist ein großer Schritt«, schreibt Döblin im letzten Absatz seines enthusiastischen Artikels. »Er stellt einen Befreiungsakt dar. Er ist keine Richtung, sondern eine Bewegung. Besser: er ist die Bewegung des Künstlers nach vorwärts. Es kommt auf die einzelnen Werke nicht an. Es ist zum Jammern, daß das Land der ‚Innerlichkeit‘ sich den Mut zu sich von außen einblasen lassen muß. Aus dem Lande der Farben und schönen Menschen kommt die Lehre zu uns: ›Die Seele ist alles.‹ Unsere Maler machen Experimente, sie studieren die Gesetze der Farben, Linien, Flächen. Sie sind ehrlich – es ist zum Lachen – während das Haus brennt. Ich bin kein Freund der großen und aufgeblasenen Worte. Aber den Futurismus unterschreibe ich mit vollem Namen und gebe ihm ein deutliches Ja.«162

Döblin äußert hier wieder einmal eine Erkenntnis, die zwar zunächst scheinbar banal klingt, die ansatzweise nur Soffici gehabt hat: Der Futurismus sei keine Richtung, sondern eine Bewegung, und zwar die Bewegung des Künstlers nach vorwärts. Damit defi-

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Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee niert er in wenigen Worten das Wesen des Futurismus, der nicht nur für sich in Anspruch nimmt, Bewegung (nach vorne) bildnerisch darzustellen, sondern auch eine mental an der Zukunft ausgerichtete Lebensauffassung impliziert. Damit geht eine Kühnheit einher, die auch Apollinaire schon festgestellt hat und die von französischen Rezipienten eher belächelt wurde, die aber Döblin zutiefst beeindruckt, da sie den Künstlern seines eigenen Landes fehle. – Döblin benennt im Folgenden ein Grunddilemma des deutschen Menschen und Künstlers, das Nebeneinander von tiefer Innerlichkeit oder ›Seele‹ und akademisch zergliedernder Ordnung und Gründlichkeit. Dabei komme die ›Seele‹ nie wirklich zum Ausdruck, da sie immer durch die Ordnung reglementiert und gestört werde. Die Italiener hätten dieses Problem mit der Ordnung nicht, und wo die Ordnung fehle, könne die ›Seele‹ sich voll entfalten. Das bewegt Döblin dazu, den Futuristen ein »deutliches Ja« zu geben, wenn zwar nicht in ›aufgeblasener‹, so doch in großer und gelegentlich etwas pathetischer Wortgebärde. Einen der Schlüsselartikel zum Futurismus liefert Franz Marc, selbst Mitglied der Künstlervereinigung ›Blauer Reiter‹, der schon zu Beginn des Kapitels über die Pariser Ausstellung zitiert wurde. In einer Oktobernummer des ›Sturm‹ schreibt er: »Was dem Hundezüchter die schwarzen Leizen und andere Merkmale der reinen Rasse seiner Hunde sind, das ist für den modernen Bilderkenner der Begriff der ›peinture‹. Wer sich nicht näher auskennt, sieht in das Züchterbuch. Die ›peinture‹ ist bei Bildern, was die ›Blume‹ der guten Weine ist. Gefühlssache. Wer sich auch hier nicht auskennt, sieht auf die Etikette, die die Firma aufgeklebt hat. Und dann kommt die Blamage. Der Picassosammler läuft in die Futuristenausstellung und schreit: sehr schön, wunderschön, aber keine peinture, meine Herren, da antwortet ihm ein Klügerer: ma pittura signore. Damit hört die Unterhaltung auf. Man kann ihm dann ein japanisches Gedicht oder etwas, das mindestens so schön ist und nicht immer nur von Kranichen und Pflaumenblüten handelt, vorlesen: ›Wenn man ein Fenster öffnet, tritt der ganze Lärm der Straße, die Bewegungen und die Gegenständlichkeit der Dinge draußen plötzlich in das Zimmer.‹ Oder: ›Die Macht der Straße, das Leben, der Ehrgeiz, die Angst, die man in der Stadt beobachten kann, das erdrückende Gefühl, das der Lärm verursacht.‹ Und solche Dinge zu malen, gelang den Futuristen, vorzüglich sogar. Carrà, Boccioni und Severini werden ein Markstein der Geschichte der modernen Malerei sein. Wir werden Italien noch um seine Söhne beneiden und ihre Werke in unseren Galerie aufhängen.«163

Franz Marc kritisiert zu Beginn dieses Artikels die beinahe rassistische Verwendung des Begriffes ›peinture‹ als alleiniges Kriterium für künstlerische Qualität. Die Bedeutung dieses Begriffs sei einerseits nur einem hochspezialisierten Fachpublikum zugänglich, andererseits werde er beinahe klischeehaft auf alles angewandt, was aus Frankreich komme, eine Art Gütesiegel für Qualitätsprodukte der bildenden Kunst. Für Franz Marc ist der Begriff irrational und 163

Marc 1912 (Reprint 1970), S. 87.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) schwammig, ›reine Gefühlssache‹, ein Klischee französischer oder frankophiler Chauvinisten. Denn was für den Franzosen ›peinture‹ sei, sei für den Italiener ›pittura‹. Er kritisiert damit, daß die Franzosen nicht über den ›Tellerrand‹ ihres eigenen Landes hinaussähen, die Werke des aus Spanien eingewanderten Picasso als non plus ultra der französischen Kunst betrachteten, und nichts neben ihm und einigen seiner ›Landsleute‹ gelten ließen, schon gar nichts aus dem sogenannten Ausland. Das mache sie unempfänglich und blind für die Kunst der restlichen Welt, sogar für die Schönheit eines alten japanischen Haiku – oder, um zum Thema zurückzukommen, für die hochpoetischen Bildbeschreibungen, die im Katalog der Berliner FuturistenAusstellung zu finden seien. Als Beispiele zitiert er die Kommentare zu Boccionis Werken La strada entra nella casa (Das Leben der Straße dringt in das Haus) und Le forze di una strada (Kräfte einer Straße). Es ist anzunehmen, daß Franz Marc die Artikel von Apollinaire bekannt waren. In dezidiertem Gegensatz zu ihm kommt er zu dem Ergebnis, daß die futuristischen Bilder kein vorübergehendes italienisches Phänomen, sondern Marksteine der zeitgenössischen Malerei seien, denen er eine glorreiche Zukunft prophezeit. Zu den Artikeln von Döblin und Marc ist bei aller Wertschätzung zu sagen, daß sie pro-futuristische Positionen vertreten und keinerlei auch nur annähernd kritische Sicht. Diese hätte Herwarth Walden nämlich gar nicht zugelassen. Er gab vor, ein kritisches Organ der neuen Kunst herauszugeben, duldete aber in Wahrheit nicht den geringsten Widerspruch gegen seine Kunstauffassung und Ausstellungsaktivitäten, sondern setzte sich gegen Andersdenkende aggressiv zur Wehr. Nur so ist es zu verstehen, daß er nicht auch Wassilij Kandinsky im ›Sturm‹ zu Wort kommen ließ, obwohl Marinetti auf Kandinskys Urteil größten Wert legte und Walden noch im Februar 1912 gebeten hatte, ihm die Manifeste des Futurismus zuzuschicken.164 Es gibt also keinen Artikel von Kandinsky über den Futurismus. Wohl aber einen Brief an Walden vom 12. November 1913, der selbstverständlich nicht im ›Sturm‹ abgedruckt wurde: »... In dem futuristischen Katalog habe ich jetzt wieder gewissenhaft die zeichnerische Seite der Bilder untersucht. Zum dritten oder vierten Mal sehr, sehr objektiv, und ... nein! Gezeichnet sind die Sachen nicht. Kompositionell ist nur die ›rüttelnde Droschke‹ gut, die übrigen Bilder sind kompositionell akademisch î also so, wie wir sie in Museen sehen, die ›überschwemmt werden müssen‹. (Schon diese Idee zeigt, wie wenig die Museen von den Futuristen verstanden werden.) î mit dem Unterschied, daß sie in der schematischen Periode steckenbleiben, was bei keinem Meister geschehen kann, d.h. wenn er auch schematisch komponiert...Ich habe es mein ganzes Leben beobachtet, daß Menschen, die etwas können (ganz gleich auf welchem Gebiet) sich nie vernichtend über fremdes Können aussprechen und am wenigsten öffentlich und noch weniger im Gymnasiastenstil. Also: die Zeichnung selbst ist ohne Ausnahme im futuristischen Katalog oberflächlich. Ich weiß tatsächlich, was eine Linie ist und

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Brief von Marinetti an Walden, Februar/März 1912, in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 335.

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Futuristen auf Europa-Tournee wann sie durch eine kalte oder durch eine heiße Hand gezogen wurde. Es ist wahr, daß eine gute Zeichnung (speziell Linien) sehr selten ist. Wenn man aber keine richtige Gabe (Zauberhand) besitzt und sich außerdem so gar keine Mühe gibt, so entsteht unvermeidlich eine tote Zeichnung. Die Farbe, die an sich immer schön ist, kann diese böse Seite vertuschen, die Reproduktion legt sie aber bloß. Ich kann nichts dafür, wenn ich in diesem speziellen Fall Augen habe: die Zeichnung war für mich eine ganz besonders schwierige Frage in der Kunst î ich habe an ihr jahrelang verzweifelt, wenn auch langsam gearbeitet î so wurde mein Auge geübt. Die Leichtsinnigkeit und die hastige Eile sind heute für viele radikale Künstler charakteristisch, dadurch haben sich die Futuristen, wie ich schon gesagt habe, auch das Gute ihrer Ideen verdorben. Ich spreche so ausführlich darüber, damit Sie nicht denken, daß ich in meinem Urteil an dem erwähnten Leichtsinn und der Eile selbst leide. Solche Künstler können sich nur freuen, daß unsere Kunstkritik impotent ist...«165

Kandinskys Aussage, daß er sich ernsthaft mit dem Ausstellungskatalog auseinandergesetzt habe und kein billiges Pauschalurteil abgeben wolle, scheint glaubwürdig. Er beklagt, daß die Bilder weniger als schlecht, nämlich gar nicht gezeichnet seien, also das Fehlen des Elements der Zeichnung. Das, was die Futuristen anderen Kunstrichtungen, besonders solchen der Vergangenheit, vorwürfen, nämlich schematisch und akademisch zu sein, seien ihre Bilder am Ende selbst und entbehrten deswegen jener Meisterschaft, die in den Kunstsammlungen der Museen oft zu studieren sei. Ein Durchlaufen gewisser schematistischer Perioden sei für den späteren Meister unerlässlich, um zur Freiheit in der Anwendung malerischer Mittel zu gelangen. Die Futuristen dagegen seien im Schematismus steckengeblieben. Auch wenn Kandinskys Kritik sehr bedenkenswert ist, muß man leider sagen, daß sie jeglicher Begründung entbehrt, was allerdings in einem persönlichen Brief verzeihlicher erscheint als in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Artikel. Was meint er mit dem Schematismus und Akademismus in den futuristischen Werken? Ich finde keine schlüssige Antwort darauf. Meint er vielleicht weniger die Bilder selbst, als die schematische Negativabgrenzung gegenüber anderen Künstlern und Kunstrichtungen, die in den Manifesten der Futuristen deutlich wird? Wer ein wirklicher Meister sei, habe es nicht nötig, sich verächtlich über Kollegen zu äußern. An dieser Feststellung ist etwas sehr Überzeugendes, zumal man sich bei der Lektüre mancher futuristischer Manifeste fragen muß, was außer der Negativabgrenzung eigentlich bleibt, was sie ihr an Eigenem entgegenzusetzen haben. – Im weiteren Verlauf des Briefes kommt Kandinsky auf seine eingangs geäußerte Kritik zurück, den futuristischen Bildern fehle das Element der Zeichnung, das er für das Zentrale eines jeder Darstellung erachtet. Damit geht eine Abwertung des Umgangs mit der Farbe einher, die Schwächen der Zeichnung allenfalls zu vertuschen vermöge, was bei Betrachtung des farbigen Originals vielleicht nicht auffalle, wohl aber in den schwarzweißen Reproduktionen des Ausstellungskatalogs, die etwas

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Zit. n. Eltz 1986, S. 98f.

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Wanderausstellung futuristischer Malerei (1912) Entlarvendes und Ernüchterndes hätten. Zunächst scheint Kandinsky zu vergessen, daß viele seiner Bilder, die bis 1912 entstanden sind, in ihrer expressiven Farbgebung oftmals die Zeichnung vermissen lassen. Im Übrigen spielte das Element der Zeichnung bei vielen seiner deutschen Zeitgenossen eine dominierende Rolle. So sehr sich die Künstler der ›Brücke‹ auch an den Farbkonzepten des Fauvismus orientierten: sie hatten sich alle als Architekturstudenten in Dresden kennengelernt und konnten einen reflektierten und versierten Umgang mit der Linie vorweisen. Kandinsky mag jahrelang um die Zeichnung gerungen haben. Er übersieht über dieser eigenen Problematik, daß der Antagonismus zwischen Zeichnung und Farbgebung eine reiche und fruchtbare kunsthistorische Tradition hat. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang die leidenschaftlichen Debatten von Ingres und Delacroix, der Gegensatz zwischen den farbdominierten Bildkonzepten fauvistischer Kunst und jenen des Kubismus, die durch zurückgenommene Farbgebung die Zeichnung dominieren ließen. Bezogen auf die futuristischen Werke läßt sich sagen, daß die Farbe zwar dominiert, daß aber vor allem Boccioni trotzdem versucht, eine kubistisch anmutende Kultur der Zeichnung zu integrieren. Auch Severinis ›Pan-Pan‹- Bild mit seinen unzähligen kleinen ineinandergeschachtelten Figuren und Figurfragmenten ist hochartifiziell gezeichnet, wofür auch die zweijährige intensive Arbeitszeit spricht. Kandinsky argumentiert insgesamt nicht sehr schlüssig und geht hauptsächlich von seinem eigenen Standpunkt als Künstler aus, ganz im Gegensatz zu Franz Marc, der sich als Maler vollkommen zurücknimmt und die Futuristen in den Kontext der zeitgenössischen Kunstdiskussion stellt. Trotzdem wäre der Abdruck eines solchen Briefes im ›Sturm‹ sinnvoll gewesen, um die vielfältige Debatte über den Futurismus transparent zu machen und insbesondere seine Wirkung auf deutsche Künstler in der Spannbreite zwischen Begeisterung und Ablehnung zu zeigen. Nicht nur Franz Marc und Kandinsky, auch Macke, Klee, Kirchner und viele andere haben sich pointiert über den Futurismus geäußert.166 Sie miteinander in Dialog treten zu lassen und diesen in der Zeitschrift ›Der Sturm‹ zu publizieren, wäre sicher sehr interessant gewesen.

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Diese Künstler kommen hier nicht zu Wort, weil ihre Äußerungen schon in anderen Publikationen angeführt und diskutiert wurden (vgl. Eltz 1986). Das künstlerische Verhältnis zwischen Futurismus und Expreesionismus bleibt an dieser Stelle unberührt, weil es schon bei Dorothea Eimert ausführlich dargestellt wurde (vgl. Eimert 1974).

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ERSTER DEUTSCHER HERBSTSALON (1913) Die Wanderausstellung im Jahr 1912 war die umfangreichste, die die Futuristen jemals organisiert haben. Eine zweite, an der auch Giacomo Balla und das neu gewonnene Mitglied Ardengo Soffici teilnehmen durften, wurde für das folgende Jahr konzipiert. Eine weitere Serie von 40 Werken zeigte den fortgeschrittenen Entwicklungsstand der futuristischen Ästhetik. Doch passierte sie nur zwei Stationen: zu sehen war sie im Foyer des Teatro Costanzi in Rom und im Rotterdamschen Kunstkring.1 Aus heutiger Sicht aber war die Teilnahme der futuristischen Maler am Ersten Deutschen Herbstsalon im September 1913 in Berlin viel bedeutsamer,2 auch wenn sie dort nur eine kleine Auswahl der Exponate zeigten, die in den oben genannten Ausstellungen zu sehen waren. Denn beim Herbstsalon habe »das Publikum zum ersten Male Kunstwerke sehen können, die man jetzt klassisch nennen« müsse, erinnert sich Nell Walden. »Kandinsky, Marc, Klee, Chagall, Kokoschka, die Futuristen und die Kubisten zeigten hier Werke, die heute in den großen Museen der ganzen Welt hängen.«3 Mit ihrer Teilnahme am Herbstsalon wurden die Futuristen gleichberechtigt in die Vielfalt der avantgardistischen Kunstrichtungen aufgenommen. Der Erste Deutsche Herbstsalon wurde von Herwarth Walden und den Malern des Sturm-Kreises nach dem Vorbild des Salon d’Automne in Paris organisiert. Um sein ambitioniertes Vorhaben realisieren zu können, reiste Walden zusammen mit seiner Frau Nell ein Jahr lang durch ganz Europa: »Das erste Jahr unserer Ehe waren wir fast ständig auf Reisen. Es galt, für den Herbst 1913 die Ausstellung ›Erster Deutscher Herbstsalon‹ vorzubereiten, (...) den DER STURM im September 1913 in großen, nur zu diesem Zweck gemieteten, sehr schön eingerichteten Räumen an der Potsdamer Straße 75 veranstaltete«,4 schreibt Nell Walden in ihrem Erinnerungsbuch für ihren Mann. Eine gewisse Verwirrung stiftet heute noch der Ausstellungskatalog,5 in dem auf der ersten Seite die Adresse des Sturm-Verlags und der Sturm-Galerie ï Potsdamerstr. 134a ï angegeben ist, und nicht die Adresse der gemieteten Räume.6 Die weitläufige Ausstel-

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Les peintres et les sculpteurs futuristes italiens: Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, 1913. Allgemein zum Herbstsalon vgl. Selz 1997, S. 43-54. Walden/Schreyer 1954, S. 26. Ebd., S. 13ff. Erster Deutscher Herbstsalon, 1913. Dieser Verwirrung unterliegt auch Selz 1997, S. 48.

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Futuristen auf Europa-Tournee lungsfläche des Herbstsalons betrug 1200 Quadratmeter. Die mobilen Zwischenstellwände hatten eine Höhe von 2, 20 m. Diese Räume muß das damalige Publikum als riesig empfunden haben. In ihnen fand die Ausstellungseröffnung statt, an die sich Nell Walden erinnert: »Am 20. September 1913 wurde die STURM-Ausstellung ›Erster Deutscher Herbstsalon‹ eröffnet. Es war künstlerisch ein durchschlagender Erfolg, waren doch hier etwa 75 Künstler der neuen Kunstgestaltung aus allen Ländern mit gegen vierhundert Werken vertreten. Damit wurde bewiesen, daß die neue Kunst sich überall stark und lebendig meldete. Die Künstler hatten damals noch keinen Kontakt miteinander, und doch regten sich erstaunlicherweise dieselben starken künstlerischen Kräfte.«7

Nell Walden schätzt im Nachhinein die Bedeutung des Herbstsalons richtig als ›durchschlagenden Erfolg‹ ein. Heute gilt er als Höhepunkt von Waldens Aktivitäten als Galerist.8 Vertreten waren nicht 75 Künstler, wie Nell Walden unrichtig berichtet, sondern 90 aus insgesamt dreizehn Ländern, allerdings nicht mit vierhundert Werken, sondern lediglich mit 366. In diesem Umfang war der Erste Deutsche Herbstsalon neben der Kölner Sonderbundausstellung im Jahr 1912 und der Armory Show in New York von 1913 die bedeutendste Überblicksausstellung avantgardistischer Kunst vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Interessant war bei allen diesen Ausstellungen in der Tat, daß Bilder und Skulpturen von Künstlern verschiedenster Länder mehr oder weniger nebeneinandergestellt und damit vergleichbar wurden. Hinzu kommt, daß viele der vertretenen Künstler den Herbstsalon und die Sturm-Galerie persönlich besuchten, so daß sie miteinander in Dialog treten konnten. Die Ausstellung wurde von einem anspruchsvollen Katalog begleitet, »sehr schön gedruckt mit vielen Abbildungen in Kupfertiefdruck«,9 wie Nell Walden schreibt. Die Gestaltung dieses Kataloges könnte durch den der Futuristenausstellung beeinflußt sein: der Werkliste geht auch hier eine ›Vorrede‹ voraus,10 die eine Art Absichtserklärung Waldens darstellt. Ziel der Ausstellung sei es, »einen Überblick über die neue Bewegung in den bildenden Künsten aller Länder zu geben«, schreibt Walden im ersten Satz. Im weiteren Verlauf des Textes legt er sehr weitschweifig und mit vielen nicht näher gekennzeichneten Goethe-Zitaten gespickt seine Kunstanschauung dar und polemisiert ebenso präventiv wie primitiv gegen die zu erwartenden Äußerungen der Kunstkritiker, denen er vorwirft, sie hätten schon vor zehn Jahren die Bedeutung von Schriftstellern wie Heinrich Mann, Karl Kraus und Else Lasker-Schüler nicht erkannt und Oskar Kokoschkas im ersten Jahrgang der Zeitschrift Der Sturm reproduzierte Grafiken als ›Kritzeleien‹ verspottet. Inzwischen seien diese Künstler allgemein anerkannt. Darum wolle

7 8 9 10

Walden/Schreyer 1954, S. 25. Selz 1997, S. 54. Walden/Schreyer 1954, S. 25f. Vgl. Erster Deutscher Herbstsalon, 1913, S. 5-8.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) er diese ›Herrschaften‹ warnen, sich diesmal ebenso ignorant zu verhalten. Die Teilnahme der Futuristen am Ersten Deutschen Herbstsalon wurde vor der Eröffnung auf großen Plakaten angekündigt. Ein Foto zeigt (Abb. 92), wie sich eine Schar von Männern neugierig vor einem Schaufenster der Deutschen Buchhandlung versammelt, wo unter anderem ein Plakat mit der Überschrift ›Futurismo‹ aufgehängt ist. Unter dieser ist sehr undeutlich ein Bild zu erkennen, das wahrscheinlich im Herbstsalon ausgestellt war. Man sieht also, daß die Teilnahme der Futuristen am Ersten Deutschen Herbstsalon das öffentliche Interesse weckte und für Furore sorgte. Die nun folgenden Bildbesprechungen entsprechen der im Katalog vorgegebenen Reihenfolge und somit womöglich der originalen Hängung. Balla ist mit zwei Arbeiten, Boccioni, Carrà, Russolo, Severini und Soffici sind mit jeweils drei Arbeiten vertreten.

Balla Wie bereits ausführlich dargelegt wurde, konnte Balla aus verschiedenen Gründen an der Wanderausstellung des Jahres 1912 nicht teilnehmen: Boccioni wollte sich von seinem ehemaligen Lehrer abgrenzen. Vielleicht erschienen ihm die Arbeiten Ballas nicht würdig, in Paris ausgestellt zu werden. Außerdem war Balla in Düsseldorf, um dort das Haus Loewenstein zu dekorieren. Diese Situation änderte sich Ende 1912. Boccioni besuchte seinen ehemaligen Lehrer in Rom und schrieb nach diesem Besuch am 23. Dezember an Severini: »Balla hat uns verblüfft, weil er (...) sich auf den Weg einer vollkommenen Umwandlung begeben hat. Er verleugnet all seine Werke und seine Methoden. Er hat vier (noch veristische) Bewegungsbilder angefangen, die aber unglaublich fortschrittlich und ungewöhnlich im Vergleich zu (den Arbeiten von) vor einem Jahre sind. (...) Er war zwei Monate in Deutschland und muß (die Dinge) mit Verstand beobachtet haben. Er bewundert uns und teilt vollkommen unsere Ideen, ist aber noch zu fotografisch und episodenhaft, ist 42 Jahre alt, er hat einen fast jungfräulichen und unberührten Willen. Marinetti und ich sind vom Schauspiel seiner mutigen Entwicklung gerührt, wie von einem Heldentum, von dem es schwerlich andere Beispiele gibt. (...) In einigen Tagen kommt Balla nach Mailand, um unsere Arbeiten anzusehen und mit uns zu leben, was ihm gewiß gut tun wird. Zu Palazzeschi sagte er: sie haben mich in Paris nicht gewollt und hatten Recht; sie sind viel fortgeschrittener als ich, aber auch ich werde arbeiten und Fortschritte machen! Ist er nicht wunderbar?«11

11 »Balla ci ha sbalordito, poiché (…) si è messo sulla via di una completa trasformazione. Ripudia tutte le sue opere e I suoi metodi. Ha cominciato quattro quadri di movimento (veristi ancora) ma incredibilmente avanzati e stranissimi a paragone di un anno fa. Ha trasformato un suo allievo che ci segue… (…) È stato due mesi in Germania e deve aver visto con intelligenza. Ci ammira e condivide le idee in tutto, è però 42 anni, ha una volontà

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Futuristen auf Europa-Tournee Für Boccioni war es wahrscheinlich ein Hochgenuß, aus dieser vermeintlich überlegenen Position über seinen ehemaligen Lehrer zu urteilen. Im Oeuvre Ballas ist zwischen kommerzieller und nichtkommerzieller Bildproduktion streng zu trennen. Im Gegensatz zu den anderen Futuristen mußte er eine Familie inklusive seiner alten Mutter ernähren, deswegen versuchte er mit konventionell gestalteten Gemälden die italienische Käuferschaft für sich zu gewinnen. Damit ist aber nicht gesagt, daß er selbst an diesen Bildern Gefallen gefunden hätte oder daß sie seiner ästhetischen Überzeugung gerecht geworden wären. Da schon zur Zeit der Gründung des Futurismus niemand seine konventionellen Werke kaufen wollte, machte er sozusagen aus der Not eine Tugend und widmete sich seit 1912 ausschließlich der Entwicklung futuristischer Darstellungsweisen ï wohl wissend, daß er damit in Italien noch viel weniger Geld verdienen würde als mit seiner ›konventionellen‹ Produktion. Jedenfalls war Boccioni von den ersten vier Bewegungsbildern Ballas sehr angetan. Ich glaube nicht, daß Balla während seiner Zeit in Düsseldorf von einem deutschen Künstler beeinflußt worden ist. Ballas futuristische Bilder sind viel weniger von anderen Kunstrichtungen geprägt als die von Boccioni. Vielmehr ist anzunehmen, daß er die Zeit und die geographische Distanz nutzte, um Abstand vom italienischen Kunstmarkt zu gewinnen, um futuristische Darstellungsweisen zu entwickeln und den Mut zu fassen, sie zu realisieren. Vielleicht konnte er in Deutschland beobachten, welche ästhetischen Wagnisse die Künstler, etwa die des Blauen Reiter, dort eingingen, und wurde somit ï vielleicht auch Dank der kulturell ambitionierten Familie Loewenstein ï inspiriert, sich selbst ähnlich mutig zu verhalten. Dafür spricht ein Brief Ballas an seine Familie, in dem er von dem »Bild der Hand, die eine Geige spielt« spricht.12 Er hatte es schon vor seiner Reise nach Deutschland begonnen und wollte es noch in Düsseldorf vollenden. Die Enttäuschung darüber, daß er an der Wanderausstellung nicht teilnehmen konnte, scheint ihn motiviert zu haben, künftig so elaborierte ästhetische Ergebnisse vorzulegen, daß ihm Boccioni die Teilnahme an Gruppenausstellungen kein weiteres Mal mehr versagen konnte. Sie motivierte ihn auch zu enormer Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit in seiner künstlerischen Produktion. Seine ersten futuristischen Arbeiten gehören heute noch zu den Aushängeschildern der Bewegung. Um zu solchen Ergebnissen zu gelangen, brauchten die anderen Futuristen zwei bis drei Jahre.

quasi vergine e intatta e lo spettacolo della sua coraggiosa evoluzione ha commosso me e Marinetti come di un eroismo di cui difficilmente se ne vedono esempi. (…) Tra pochi giorni Balla viene a Milano per vedere I nostri lavori e vivere con noi il che gli farà bene certamente. A Palazzeschi disse: non mi hanno voluto a Parigi e hanno avuto ragione; sono molto più avanzati di me ma lavorerò e progredirò anch’io! Non è meravigioso.« (Übersetzung geringfügig geändert. Urtext und Übersetzung in Listan 1984, S. 45). 12 Brief von Balla an die Familie, Düsseldorf 1912, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 255.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913)

RHYTHMUS DES BOGENS Eines der in Boccionis Brief genannten vier »noch veristischen Bewegungsbilder«, die in seinen Augen noch »zu fotografisch und episodenhaft« sind, ist das Bild La mano del violinista o Ritmi del violinista (Die Hand des Geigenspielers oder Rhythmen des Geigenspielers, Abb. 93), das unter dem Titel Rhythmus des Bogens auf dem Herbstsalon ausgestellt war.13 Das Gemälde ist Ende des Jahres 1912 in Düsseldorf entstanden, als Balla an der Dekoration des Hauses Loewenstein arbeitete. Musik spielte in der Familie Loewenstein eine wichtige Rolle: Arthur Loewenstein spielte Geige, seine Frau Grete Klavier. Es wurde schon spekuliert, ob eine Studie zu dem Bild entstanden ist, während Balla Herrn Loewenstein beim Üben zuschaute.14 In einem Brief an seine Familie schreibt Balla, daß er gleich mit den Loewensteins ein Konzert besuchen werde.15 Vielleicht waren bei so passionierten Amateurmusikern auch häusliche Kammerkonzerte keine Seltenheit. Jedenfalls könnte der äußere Rahmen eines Kammerkonzerts Balla zur konkreten Ausgestaltung seiner Darstellung inspiriert haben. Grete Loewenstein hat an diesem Bild so viel Gefallen gefunden, daß sie es gerne behalten hätte, wozu es aber nicht gekommen ist. Vielleicht wurde es von Balla für die Dekoration des Hauses Loewenstein konzipiert ï in ein Musikzimmer hätte es sicher gut gepaßt. Das würde auch die auf der Spitze stehende, aus weißen Balken geformte Dreiecksform erklären, die das Bildgeschehen von der restlichen, schwarz bemalten Leinwand trennt. Je mehr sich die Geige innerhalb des Dreiecks in ihrem Bewegungslauf nach unten neigt, desto stärker verwischt sie sich in ihrer divisionistischen Darstellung mit dem Hintergrund. Die Bewegungsphasen der saitengreifenden Hand erscheinen phantomhaft transparent, so daß der Geigenhals hinter ihnen sichtbar ist. Sie greifen nicht nur in die Saiten, sondern auch ineinander, sie sind miteinander verkettet. Der Bogen, nach dem das Bild benannt wurde, ist am schwersten zu erkennen. Er ist in dünnen Linien dargestellt, die parallel zum weißen Balken auf der linken Seite verlaufen. Der Unterarm des Geigenspielers ist mit dem Ärmel eines schwarzen Anzugs bekleidet, an dessen unterem Ende eine weiße Manschette herausblitzt. Im Verlauf der fünf Bewegungsphasen verlängert sie sich zu einem weißen Streifen. Im Hintergrund, oberhalb der ersten Bewegungsphase, ist der untere Rand eines Bildes zu sehen, dessen prachtvoller Rahmen, vermutlich in Gold, ein florales Ornament trägt. Die ganze Szene ist in goldenes Licht getränkt, das womöglich von einem Kronleuchter ausgeht. So entsteht der Eindruck, diese Szene sei Ausschnitt eines Kammerkonzerts. Wie Boccioni in seinen Gemälden aus den Jahren 1911 und 1912 stellt auch Balla Bewegung durch die Segmentierung des Motivs in verschiedenen Positionen dar, ein Prinzip, das aus der wis13 Zu diesem Bild vgl. Robinson 1971, S. 102-106. 14 Ebd. S. 104. 15 Hierbei handelt es sich um den bereits angeführten Brief Ballas an seine Familie, Düsseldorf 1912, Gambillo/Fiori 1958, S. 255.

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Futuristen auf Europa-Tournee senschaftlichen Fotografie Muybridges und Mareys bekannt ist. Während Boccioni aber versucht, diesen Bezug durch eklektizistisches Beiwerk in seinen Bildern und verbale Äußerungen in seinen Veröffentlichungen wissentlich (und mit mäßigen Erfolg) zu vertuschen, bekennt sich Balla in diesem und vielen weiteren Darstellungen ostentativ zu seiner Beeinflussung durch die Fotografie. Diese Beeinflussung wird derart deutlich, daß Balla im Gegensatz zu Boccioni gar nicht mehr viel über seine ästhetischen Konzepte reden muß. Balla geht aber nicht nur von der wissenschaftlichen Bewegungsfotografie aus, sondern auch von der futuristischen des sogenannten Fotodynamismus, die durch Anton Giulio Bragaglia (1890-1960) begründet worden ist.16 Bragaglia wohnte wie Balla in Rom und hatte im Jahr 1911 mit seinen fotodynamistischen Experimenten begonnen, die er in diesem und in den folgenden Jahren durch Veröffentlichungen unter dem Titel fotodinamismo futurista theoretisch fundierte. Er besuchte häufig das Café Aragno, wo er Balla möglicherweise kennenlernte. Er war ebenfalls durch Boccioni von der Gruppe der Mailänder Futuristen ausgeschlossen worden, weil Boccioni die Fotografie nicht für kunstwürdig hielt und nicht den Verdacht aufkommen lassen wollte, daß er selbst durch den Fotodynamismus beeinflußt sein könnte. Boccioni sorgte sogar dafür, daß Bragaglia an futuristischen Ausstellungen, auf denen auch Boccioni vertreten war, nicht teilnehmen konnte.17 Balla und Bragaglia teilten also nicht nur das gleiche Schicksal, sondern auch ähnliche ästhetische Überzeugungen. Fotos wie Il Violoncellista (Abb. 94) aus dem Jahr 1913 zeigen, daß sich Bragaglia ganz ähnlichen Sujets widmete wie Balla. Dieses Foto gibt auch Aufschluß darüber, warum Balla den Geigenbogen so darstellte, daß man ihn kaum erkennen kann. Denn auch hier bilden die unteren Bewegungsphasen des Bogens so dünne Streifen aus, daß sie wie kaum wahrnehmbare Schwingungen oder Vibrationen anmuten. Diese übernimmt Balla und läßt die im Foto deutlich sichtbaren Bewegungsphasen des Bogens weg. Die durch den Austausch mit Bragaglia gewonnenen Darstellungsprinzipien kombiniert Balla mit dem Verfahren des Divisionismus. Darin ist kein blindes Verharren in überkommenen Gewohnheiten zu sehen, die man als Futurist besser hinter sich gelassen hätte. Der Divisionismus ermöglicht es, die Hand transparent erscheinen zu lassen und somit den Eindruck von Flüchtigkeit zu verstärken. Außerdem erlaubt die Anwendung des Divisionismus, daß die ästhetische Konzeption des Bildes mit den Theorien Boccionis über das Verhältnis von Bildgegenstand und Umgebung korrespondiert, vielleicht sogar mehr, als Boccioni lieb gewesen wäre: er schreibt nämlich in seinem Buch Pittura Scultura futuriste, daß »die Flächen und Volumina einer Umgebung und eines Gegenstandes nicht mehr isoliert« sind, sondern einander durchdringen, »indem sie zur Bildung einer neuen Individualität, zur Konstruktion des autonomen Organismus (Bild) beitragen, den der Künstler erschaf-

16 Zu Ballas Verhältnis zu Bragalia vgl. Robinson 1971, S. 90ff. 17 Vgl. Golding 1986, S. 20.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) fen soll.«18 Der »Begriff des in sich geschlossenen, endlichen und meßbaren Gegenstandes« sei »das Ergebnis des traditionellen objektiven und photographischen Bemühens, den Gegenstand wieder zu reproduzieren (...), ihn optisch zu fixieren und ihn somit aus dem Leben zu lösen, um ihn in die Kunst zu überführen...(...) Wir hingegen, die wir bemüht sind, die bildnerische Resultante aus Gegenstand + Umgebung zu bilden, brechen die Konstruktion des Gegenstandes genau dort ab, wo uns die lyrische Intuition die ergänzende Hilfe der Umgebung eingibt. In diesem Augenblick dringt das Element Umgebung in das Element Gegenstand ein und bildet eine simultane Durchdringung der Ebenen.«19 Durch die Anwendung des Divisionimus erreicht Balla genau die Aufbrechung der starren Grenzen zwischen Bildgegenstand und Umgebung oder Hintergrund, die Boccioni propagiert. Denn durch die transparente Erscheinung der Hand in ihren Bewegungspositionen wird sie gleichzeitig mit dem Hintergrund verschmolzen. Gleiches gilt für die Darstellung des Geigenkopfes. Wenn man dieses Bild isoliert von den zuvor entstandenen Arbeiten des Jahres 1912 betrachtet, könnte man den Eindruck gewinnen, es sei das erste, in dem Balla Bewegung darstellt. Denn die Anwendung des Divisionismus wird zwar auf der einen Seite dem Ausdrucksziel in besonderer Weise gerecht, auf der anderen Seite könnte man aber meinen, man habe eine Art Übungsstück vor sich, in dem Balla sowohl neue Konzepte ausprobiert als auch an althergebrachten haftet, denen er noch nicht völlig souverän gegenübersteht. Im Vergleich zu dem im Folgenden besprochenen Gemälde Eine Leine in Bewegung, das einige Monate vorher entstanden ist, erscheint »Das Bild der Hand, die eine Geige spielt« als leicht anachronistisch.

EINE LEINE IN BEWEGUNG Das Bild Dinamismo di un cane al guinzaglio (Dynamismus eines Hundes an der Leine, Abb. 95) ist auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon unter dem Titel Eine Leine in Bewegung ausgestellt.20 Der originale Titel läßt erkennen, daß sich Balla mit den Problemen der futuristischen Malerei auseinandergesetzt hat. Das Wort ›dinamismo‹ zeigt, daß Balla nicht das Motiv, den Hund an der Leine, in den Vordergrund stellt, sondern den Darstellungsmodus des Dynamismus. Durch das im Titel angegebene Motiv ironisiert Balla die Konventionen der konservativen Malerei, in der weniger der Hund im Fokus des Interesses steht, als die elegante, repräsentative Frau, die ihr zierliches kleines Hündchen ï vielleicht auf einem Pariser Boulevard ï ausführt. Das zierliche Hündchen fungiert schon seit Jahrhunderten (bis heute) in der Malerei und im realen Leben als Aperçu schöner Frauen, deren Schönheit und Weiblichkeit durch das Hündchen eine Steigerung erfährt. Balla wurde übrigens zu

18 Boccioni 2002, S. 143. 19 Ebd., S. 144. 20 Zu diesem Bild vgl. Robinson 1971, S. 88-96.

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Futuristen auf Europa-Tournee diesem Bild inspiriert, als er eine seiner Schülerinnen, die Gräfin Nerazzini, in ihrem Palazzo in Montepulciano besuchte und beobachten konnte, wie sie mit ihrem kleinen Hund spazieren ging.21 Bei Balla aber ist weder eine elegante Frau noch ein zierliches Hündchen zu sehen. Stattdessen der raffinierte Saum eines einfachen Kleides und die dazugehörigen Frauenfüße, die in bequem anmutenden Schuhen stecken. Der Dackel ist als solcher nur zu erkennen, da er die typischen Konturen eines klassischen Kurzhaardackels aufweist, dessen Haar unter normalen Umständen kupferrot ist. Zwischen dem Frauenkörper und dem Hundekörper schwingt die ›Leine in Bewegung‹, nach der das Bild im Katalog des Herbstsalons benannt ist. Die Frauenfüße, die Hundeleine, die Beine und das Schwänzchen des Hundes sind in fast unzähligen Bewegungsphasen dargestellt, die sich gegenseitig überlagern, so daß der Eindruck entsteht, man würde einem kurzen Ausschnitt eines ganzen Bewegungsablaufs gegenüberstehen. Im Gegensatz zu der eher groben Differenzierung der Bewegungspositionen in Rhythmus des Bogens sind hier die Bewegungsphasen ganz fein voneinander unterschieden, so daß Ballas Intention, die Kontinuität der Bewegung darzustellen, deutlich wird. Bei den Beinen des Hündchens mutet der Bewegungsablauf aufgrund der fast identischen Abstände zwischen den Bewegungsphasen der Beine sehr gleichmäßig an. Ganz im Gegensatz zum ›Frauchen‹, das sich sehr ungleichmäßig bewegt, wie an den verschieden großen Abständen zwischen den Bewegungsphasen der Füße zu erkennen ist. Am meisten unterscheiden sich die Bewegungsphasen der Hundeleine voneinander, weil der Hund schneller läuft als die Frau und daher ständig zurückgeholt werden muß. Die nach vorne gerichtete Bewegung des Hündchens und des Frauchens wird durch die schräg nach rechts abfallenden Strichbildungen im Hintergrund verstärkt. Auch in dieser Darstellung bleibt Balla beim divisionistischen Verfahren, das er, wie in dem Bild zuvor, seinen Zielen anpaßt: die Übergänge der Bewegungspositionen der Hundebeine etwa werden durch den Divisionismus zu Zonen verschmolzen, die sich gegenseitig überlagern und die Suggestion des Bewegungsflusses verstärken. Gleiches gilt für die Hundeleine und die Frauenfüße. Letztere sind als ein dunkelblaues Raster dargestellt, das durch schwarze Punkte ausgefüllt ist. In diesem Bild abstrahiert Balla stärker von der veristischen Komponente des Divisionismus, die in der zuvor besprochenen Arbeit mehr zur Geltung kam. Durch die Wahl dunkler Farben für das Motiv gegenüber dem hellen Hintergrund springt einem das Bild sofort ins Auge und begründet dessen Signalwirkung. Die schwarz-blau-weiße Farbigkeit des Bildes erinnert an Schwarz-Weiß-Fotografie oder an Ultraschallaufnahmen. Balla wählt für seine Darstellung nicht das von den übrigen Futuristen bevorzugte Tier, das Pferd, sondern ein kleines Hündchen, das er aber so darstellt, wie es im technischen Manifest der futuristischen Malerei gefordert ist: »Eine Form ist niemals bewegungslos vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet stetig. Wegen der

21 Ebd., S. 88.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) Persistenz eines Bildes auf der Retina multiplizieren sich bewegende Objekte selbst, werden deformiert, folgen in der Sukzession aufeinander wie Vibrationen in dem Raum, den sie durchqueren. Deswegen hat ein rennendes Pferd nicht vier Beine und seine Bewegungen sind dreieckig.«22 Balla stellt ein Hündchen dar, um sich von den übrigen futuristischen Malern abzugrenzen und ihre Dogmatik zu ironisieren. Dies wird durch den Perfektionismus, mit dem Balla die Forderung des Gründungsmanifests bildnerisch erfüllt, verstärkt. Balla geht sogar soweit, daß die Bewegung der Hundebeine einer Vibration gleicht. Obwohl vorher entstanden, erscheint das Gemälde Eine Leine in Bewegung im Vergleich zu Rhythmus des Bogens fortschrittlicher, weil Balla hier erstens das divisionistische Verfahren weitaus stärker abstrahiert. Während in Rhythmus des Bogens der gegenständliche Rahmen eines Kammerkonzerts glaubhaft angedeutet ist, weist das Bild Eine Leine in Bewegung keine vergleichbare Komponente, wie etwa ein Landschaftssegment als Hintergrund, auf. Weiterhin wird in dem Gemälde Rhythmus des Bogens auf der einen Seite Bewegung dargestellt, auf der anderen Seite wird ihre Illusion durch die grobe Differenzierung der Bewegungsphasen wieder zerstört. Gleichzeitig ist diese grobe Differenzierung notwendig, um eine mit der musikalischen Rhythmik korrespondierende visuelle Form herzustellen. Im Gegensatz dazu versinnbildlicht in Eine Leine in Bewegung die feine Differenzierung der Bewegungsphasen den Bewegungsfluß. Dessen war sich Balla voll bewußt, wie ein Foto, das aus der Kamera Bragaglias stammt, deutlich macht (Abb. 96): Balla steht in einem dunklen Raum neben seinem Gemälde. Um den vibrierenden Charakter seiner Darstellung vor Augen zu führen, bewegt sich Balla, das Gemälde dagegen steht still. Man gewinnt den Eindruck, daß die Bewegung von Ballas Körper der auf dem Gemälde dargestellten sehr ähnlich ist. Bei aller Ernsthaftigkeit seiner bildnerischen Anliegen wird an diesem Bild besonders deutlich, daß Balla eine Eigenschaft hat, die den anderen futuristischen Malern anscheinend fehlt: Humor. Diese Eigenschaft ermöglicht es Balla, sein Schicksal als ›ausgestoßener Futurist‹ ganz gut zu ertragen, indem er auch die lächerliche Seite der futuristischen Dogmatik erkennt und sich über sie hinwegschwingt. Der Humor Ballas mündet aber nicht in Verachtung, sondern in Souveranität, weil er die ästhetischen Ziele des Futurismus trotzdem ernst nimmt und sie mit seinen eigenen Mitteln zu realisieren versucht. Anstatt sich zu beschweren, gelingt es Balla, überzeugende Gemälde zu schaffen und aus seiner Außenseiterposition auszubrechen. In dieser charakterlichen Disposition ist er der Gegenpol zu Boccioni, der sich in der Lage Ballas womöglich theatralisch in Szene gesetzt und über seine Situation zahlreiche Zeitungsartikel geschrieben hätte. Die Gegensätzlichkeit der Personen Balla und Boccioni führt dazu, daß sie zwar auf der einen Seite voneinander sehr angetan waren, auf der anderen birgt sie ï besonders aus der Perspektive Boccionis ï großes Konfliktpotenzial. Die

22 U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini: La pittura Futurista. Manifesto Tecnico, in: Baumgarth 1966, S. 181-183.

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Futuristen auf Europa-Tournee Gegensätzlichkeit der beiden Künstler schlägt sich auch ästhetisch nieder: während Boccioni die Dynamik der Gefühle darstellen möchte, was an anderer Stelle dieser Arbeit ›emotiver Dynamismus‹ genannt wurde, orientiert sich Balla an der visuell wahrnehmbaren Bewegung, die er in seinen Bildern suggerieren möchte. Der von ihm begründete Gegenpol könnte mit dem Terminus ›positivistischer Dynamismus‹ bezeichnet werden, ein Begriff, der in der Literatur schon etabliert ist. Von der Position Ballas werden auch die anderen futuristischen Maler ï trotz der geographischen Distanz ï beeinflußt, wie es etwa in der Arbeit Der rote Reiter von Carrà deutlich wird. Carrà konzentriert sich aber nur auf die Darstellung der physischen Bewegung, auf die humoristische Komponente, die durch Balla eingeführt wurde, verzichtet er. An den analytischen Bewegungsbildern der Futuristen wird noch ein weiterer Aspekt der futuristischen Malerei deutlich: eine gewisse Diskrepanz von Theorie und Praxis. Die Futuristen sprechen in ihren Manifesten davon, daß sie das Feuer, die Dynamik, die Schnelligkeit und die Gewalt ins Bild rücken wollen. Auch wenn Balla und die anderen Futuristen in ihren bewegungsanalytischen Darstellungen gerade das darstellen möchten, erreichen sie durch die schrittweise sich vollziehende Zerlegung des Bildfelds das Gegenteil. Sie wollen die Beschleunigung der Bewegung darstellen, es manifestiert sich aber im Bild deren Verlangsamung oder sogar Einfrierung. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis macht sich auch in einigen Themenfeldern der futuristischen Malerei bemerkbar. So zum Beispiel in den Arbeiten, die ›Gewalt‹ ï in welcher Form auch immer ï ausdrücken wollen, um eine visuelle Korrespondenz zu den Manifesten herzustellen. Die bildliche Darstellung von Gewalt im Futurismus erscheint im Vergleich zu ihrem Verbalradikalismus beinahe harmlos. Dieser Bruch zwischen Theorie und Praxis ist aber nichts Ungewöhnliches, sondern ein vielleicht typisches Indiz für eine pionierhafte Aufbruchstimmung, in der Widersprüche nahezu unvermeidlich und legitim sind. Sie sind auch in anderen Kunstrichtungen festzustellen, wie zum Beispiel im Surrealismus, wo die theoretisch geforderte ›écriture automatique« in der Praxis nur selten ausgeführt wurde.

Umberto Boccioni ESPANSIONE SPIRALICA DI MUSCOLI IN MOVIMENTO Boccioni zeigt insgesamt drei Arbeiten, eine Skulptur (Abb. 96) und zwei Gemälde. Er hatte kurz zuvor das Genre der futuristischen Skulptur mit dem Manifest Scultura futurista (veröffentlicht im September 1912, zurückdatiert auf den 11. April 1912)23 begründet und Juni-Juli 1913 als Bildhauer mit einer Ausstellung in der Gale-

23 Boccioni, »Technisches Manifest der futuristischen Plastik«, in: ders. 2002, S. 237-249.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) rie ›La Boetie‹ in Paris debütiert.24 Von den insgesamt vierzehn Gipsskulpturen, die von Mitte 1912 bis Anfang 1914 entstanden sind, wurden nach einer Ausstellung im Jahr 1917, ein Jahr nach Boccionis Tod also, neun zerstört. Zwei konnten von Marinetti gerettet werden: Sviluppo di una bottiglia nello spazio (Entwicklung einer Flasche in den Raum, 1912 und Forme uniche della continuità nello spazio (Abb. 97) (1913) ï die bedeutendste Arbeit, die Boccioni jemals geschaffen hat. Wahrscheinlich hielt Marinetti diese beiden für die besten, so daß ihre Rettung kein Zufall war. Marinetti war es auch, der es veranlaßte, die beiden Skulpturen in Bronze zu gießen. In dieser Version sind sie heute im Museum of Modern Art in New York zu sehen. In den Jahren 1912 und 1913 schuf Boccioni eine ganze Serie von insgesamt vier schreitenden Figuren, denen Rodins Skulptur L’homme qui marche (schreitender Mann, Abb. 98) von 1878, die 1911 in Rom ausgestellt war,25 als Vorbild diente. Rodin hatte ein ganz ähnliches Anliegen wie Boccioni: er wollte in seiner Skulptur den Übergang der einen Bewegungsphase in die andere darstellen, den ›fruchtbaren Moment‹, wenn man so möchte, den Lessing an der Laokoon-Gruppe beobachten konnte. Die im Herbstsalon ausgestellte Skulptur Espansione spiralica di muscoli in movimento (1913) ist, chronologisch gesehen, wahrscheinlich die dritte Skulptur und somit der direkte Vorläufer der Skulptur eines schreitenden Mannes, die in Bronze gegossen wurde. Der wohl signifikanteste Unterschied zwischen den beiden Skulpturen besteht darin, daß die Bronze-Skulptur auf Plinthen steht und die auf dem Herbstsalon ausgestellte nicht. Bei beiden Skulpturen sind die Beine als separate Elemente mit jeweils eigenem Bewegungsfeld behandelt, ganz im Gegensatz zu den zwei VorgängerSkulpturen (Abb. 99 und 100), bei denen die Beinpositionen im fortlaufenden Fluß dargestellt sind und ein beinahe geschlossenes Bewegungsfeld bilden. Boccioni wollte nicht nur den Prozeß des Schreitens darstellen, sondern auch den Eindruck von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit vermitteln. Wenn aber die Beinpartie als fortlaufende Zone dargestellt ist, scheint der nach vorne gerichtete Bewegungsdruck nach unten gezogen und gebremst zu werden. Der Eindruck von Schwerelosigkeit wird bei der ausgestellten Skulptur verstärkt, indem Boccioni darauf verzichtet, die Armpartie gänzlich auszuarbeiten, da auch die Arme wie in Sintesi di un dinamismo umano den Eindruck des Bewegungsflusses visuell behindern würden. Durch die Reduktion des Kopfes auf eine maskenähnliche Grundform wird die Konzentration auf die Figur als eine in Bewegung befindliche verstärkt. Bei den Vorgänger-Skulpturen dagegen deutete Boccioni eine Art Gesicht an, arbeitete den Haaransatz aus und kombinierte den Kopf mit völlig disparaten Elementen wie

24 Einen guten Überblick über das skulpturale Oeuvre liefert: Mattioli Rossi 2006, S. 17-81. Weiterhin lesenswert ist der bereits zitierte Aufsatz von Golding 1986. 25 Mattioli Rossi: Dalla scultura d’ambiente alle forme uniche della continuitá nello spazio, in: dies. 2006, S. 61.

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Futuristen auf Europa-Tournee Fensterrahmen und Häusern, die von seinem eigentlichen skulpturalen Vorhaben, Dynamik auszudrücken, ablenken. Daß Boccioni die im Herbstsalon ausgestellte Skulptur Espansione spiralica di muscoli in movimento nennt, hängt damit zusammen, daß er gerne den Eindruck erwecken möchte, die Bewegung konstituiere sich nur über die Form der Spirale und sonst über nichts. Dies ist teilweise sicher richtig. Das vordere Bein, der Gesäßmuskel, die auf dem Bild nicht sichtbare Taille, die sichtbare Schulter und nicht sichtbare Gesichtpartie scheinen in einem spiralförmigen Zusammenhang zu stehen. Gleiches gilt für das hintere Bein bis hin zur sichtbaren Gesichtshälfte. Zu vertuschen scheint Boccioni aber, daß seine Art der Bewegungsdarstellung genauso durch die Chronofotografie Mareys beeinflußt ist, wie jene seines ehemaligen Lehrers. Boccioni war ï offiziell ï sehr dagegen, die Fotografie als künstlerisches Hilfsmittel einzusetzen, obgleich er sich stillschweigend und gezwungenermaßen ihrer bediente, wenn es darum ging, Dynamik auszudrücken, wie schon bei den Gemütszuständen gezeigt wurde. Daß auch Boccioni von der Chronofotografie ausgegangen ist, zeigt die Skulptur Muscoli in velocità, die unmittelbar vor der Skulptur entstanden sein muß, die im Herbstsalon ausgestellt wurde. In der unteren Zone sind die aufeinanderfolgenden Bewegungspositionen der Beine ansatzweise noch zu erkennen ï und somit auch die Beeinflussung durch Marey. Durch den simplen Trick, in Espansione spiralica die Beine als separate Elemente voneinander zu trennen, wird dieser Zusammenhang verschleiert. Trotzdem, wenn auch nicht mehr so deutlich sichtbar, verdanken die ausgestellte Skulptur und Forme uniche ihr Formpotenzial der Bewegungsfotografie. Ein weiterer gestalterischer Unterschied besteht darin, daß in Espansione spiralica dem vorderen Bein bis hin zum Knie die skulpturale Masse vorangestellt ist, wodurch der schreitende Mann wie angewurzelt erscheint. Durch die vorgelagerte Masse wird das Schreiten der Figur behindert. Dies ändert Boccioni in Forme uniche, indem er das skulpturale Volumen hinter das Bein verlagert und verringert, so als ob die schreitende Figur eine flammenartige Bewegungsspur im Raum nach sich ziehen würde. In Espansione Spiralica hat Boccioni einen Skulpturentypus geschaffen, dessen formale Mängel er in Forme Uniche behebt. Zwar wird heute mehr über Forme uniche geredet, auch deswegen, weil sie im Gegensatz zu Espansione Spiralica zumindest in Bronze noch vorhanden ist, trotzdem können die Äußerungen über diese Skulptur auf Espansione spiralica übertragen werden, weil der Skulpturentypus identisch ist. Über die Bronze-Skulptur schreibt John Golding in seinem bedeutenden Aufsatz Boccioni. Unique Forms of Continuity in Space, der auch dieser Darstellung als Grundlage dient, daß »das finale armlose Bild mit seinen muskulären Verzerrungen, erinnernd an flatternde, nasse Draperie, mehr als nur ein wenig den ursprünglich verachteten Formen der Antike verdankt. Die Nike von Samothrake und das rasende Autombil sind in gewisser Hinsicht eins geworden.«26 Diese Regression auf das Formenpotenzial historischer

26 Golding 1986, S. 26.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) Kunstepochen erklärt Golding damit, daß Boccioni im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen in Paris von den Möglichkeiten, die die »primitive Kunst« zu bieten hatte, nichts wissen wollte. Und mit dem »Wunsch, den Vorrang Italiens zu preisen, scheint es zu einer unwillkürlichen Anerkennung der Pracht seines kulturellen Erbes gekommen zu sein.«27 Auch wenn die absurde Mixtur von Historizität und Modernität die gesamte Bewegung des Futurismus und seine Artefakte durchzieht, würde ich in diesem Fall von einem Vergleich mit der Nike von Samothrake, der auch auf die im Herbstsalon ausgestellte Figur übertragbar ist, Abstand nehmen. Vielleicht strahlen beide Skulpturen in ihrer formalen Reduziertheit bereits eine Erhabenheit und Klassizität aus, die sie mit den Skulpturen der Antike vergleichbar macht. Trotzdem ist festzuhalten, daß die Skulpturen Espansione spiralica und Forme uniche im Gegensatz zu vielen anderen Werken des Futurismus selbst heute noch zeitgemäß und modern wirken. Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, daß auf der italienischen 20-Cent-Münze die Silhouette von Forme uniche (Abb.101) zu sehen ist ï neben dem Colosseum auf der 5-CentMünze und der Venus von Botticelli auf der 10-Cent-Münze. Man kann daraus ersehen, welche Bedeutung diese Skulptur für das künstlerische Selbstverständnis Italiens hat. Mit ihrer Abbildung auf der Münze ist sie das am häufigsten reproduzierte Kunstwerk des Futurismus.

AUFLÖSUNG VON PERSONEN AM TISCH, 1912 Dem Gemälde Scomposizione di figure a tavola (Abb.102) wurde, obwohl es auf den Ausstellungen in Rom, Berlin und Rotterdam zu sehen war, in der Sekundärliteratur keine besondere Beachtung geschenkt. Dies hängt einerseits damit zusammen, daß es sich in einer für die Öffentlichkeit unzugänglichen Privatsammlung befindet und Farbabbildungen nicht vorhanden sind. Andererseits zählt das Bild nicht gerade zu den Höhepunkten in Boccionis Schaffen, soweit die Schwarzweißabbildung eine Beurteilung zuläßt: zunächst stechen die beiden Lichtstrahlen, die von oben in die Darstellung ragen, aufgrund ihrer Helligkeit ins Auge. Strahlen dieser Art waren schon in dem Gemälde La Risata zu sehen. Die beiden Menschen, die auf dem Michael Wilhelmer zu sehen sind, befinden sich in einer Bar oder einem Lokal, in dem Alkohol ausgeschenkt wird. Der Mann, auf dessen Kopf die Strahlen konvergieren, sackt in sich zusammen und lehnt seinen Kopf an die Schulter der Frau neben ihm. Diese trägt einen großen Hut und hat dem Mann ihr Gesicht zugewandt, so daß man ihr Profil sehen kann. Vielleicht sind beide schon so betrunken, daß sie den Tisch, der vor ihnen steht, doppelt sehen, weshalb sich seine Formen im Vordergrund wiederholen und das Bild geometrisieren. Sie bilden eine Art Gegengewicht zu den geschwungenen Formen, aus denen sich die menschlichen Figuren zusammensetzen. Auf dem Tisch stehen mehrere Gläser, vermutlich Sektkelche. In dem Glas, das der Mann in der Hand hält, befindet sich eine kleine Gestalt, die vielleicht den Rausch, den Katzenjam27 Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee mer oder den bösen Geist des Alkohols symbolisieren könnte. Das Hemd unter dem Anzug des Mannes bildet eine weiße Fläche, die aufgrund ihrer Helligkeit sofort den Blick auf sich zieht. Lichtstrahlen, die von oben in das Dargestellte hineinragen, Tische, die das Bild geometrisieren, Bogenformen, die die Dynamik von Figuren ausdrücken, sind aus den Gemälden La Risata, der zweiten Fassung der Gemütszustände und vielen anderen Bildern hinlänglich bekannt. Die Formen von Menschen oder Gegenständen zu wiederholen, um damit das Phänomen des Doppeltsehens beim Rausch auszudrücken, ist eine Innovation Carràs, die er in dem Gemälde La donna e l’assenzio artikuliert hatte, das ebenfalls auf der Wanderausstellung zu sehen war. Weiterhin ist es schwer verständlich, warum Boccioni ausgerechnet ein Herrenhemd zum visuellen Bedeutungszentrum erhebt. Man kann nicht sagen, daß Boccioni aufgrund seiner neu entdeckten Passion für die Skulptur keine Zeit und Energie mehr für die Malerei hatte. Der Oeuvrekatalog zeigt, daß Boccioni noch viele andere interessante Bilder zu bieten hatte, wie etwa das Gemälde Dinamismo di un footballer aus dem Jahr 1913 (Abb.103), das heute im Museum of Modern Art zu sehen ist. Es zeigt im Gegensatz zum ausgestellten Bild seine aktuelle Auffassung der Bewegungsdarstellung anhand des Sujets der relativ jungen und ›proletarischen‹ Sportgattung des Fußballs. Sein Konzept, die Bewegungsphasen zu verschmelzen, ist einerseits dem Gegenstand des Fußballspiels in seiner extremen Schnelligkeit hochgradig angemessen, und bedingt andererseits den Eindruck einer totalen Verfremdung und Abstraktion. In seiner explosiven Kraft scheint die Darstellung die aufgeladene Stimmung am Vorabend des Ersten Weltkriegs aufzugreifen.

ELASTICITÀ In dem Bild Elasticità (Abb.104) reitet ein Mann zu Pferd durch eine suburbane, industrialisierte Landschaft. Er reitet an kubistisch reduzierten Häusern mit roten Dächern vorbei, vielleicht Fabriken, aus deren Schornsteinen große Dampfwolken emporsteigen. In die Landschaft sind zwei Telegraphenmasten gesetzt. Das Pferd scheint förmlich in einen weiteren zu rennen, der seinerseits fast auf das Pferd zu kippen droht. Das Pferd bewegt sich in zügigem Tempo, im Trab oder Galopp. Die Hufe wirbeln den Sand oder Staub des Bodens auf, der in weichen Bogenformen die Beine des Pferdes umspielt. Das Pferd ist kaum zu bändigen, es reißt ungestüm seinen Kopf in die Höhe. Der Reiter ist in einen klassischen Reitanzug gekleidet, er trägt schwarze Reitstiefel, einen ockerfarbenden Anzug und einen Helm. Er hat sein Gesäß aus dem Sattel gehoben, um den Pferderücken während des schnellen Galopps oder Trabs nicht unnötig zu belasten. Boccioni wollte nicht die Bewegung des Pferdes darstellen, sondern die dynamische Bewegungsempfindung des Reiters, der durch den Gang des Pferdes durchgeschüttelt wird und dementsprechend sein Umfeld wahrnimmt. Boccioni stellt nur einen ganz kurzen Ausschnitt aus einem Bewegungsablaufs dar. Er arbeitet wie Balla mit der Wiederholung von

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) Bewegungsphasen, deutet sie aber nur ganz flüchtig, durch wenige Striche an, anstatt sie wie Balla mehr oder weniger völlig auszuformulieren. Dies wird zum Beispiel an dem im Bild sichtbaren Hinterhuf deutlich, über dem die vorige Bewegungsphase nur durch zwei einander zugewandte Halbbogenformen dargestellt ist, die mit einem Strich verbunden sind. Das gleiche gilt für den Fuß des Reiters, der insgesamt dreimal dargestellt ist, jedes Mal aber nur flüchtig skizziert. Boccioni unterwirft aber nicht nur die sich bewegenden Elemente des Dargestellten seiner dynamischen Darstellung, sondern auch die, die eigentlich still stehen, und die als dynamisch nur durch die Empfindung des Reiters wahrgenommen werden. Die verschiedenen Dynamiken der Bildelemente werden durch die Verschränkung der Volumina miteinander verschmolzen, so daß eine ebenmäßige Synthese von Vorder- und Hintergrund hergestellt wird: der Reiter zu Pferd, die Fabriklandschaft im Hintergrund, die Staubwogen im unteren Bereich der Arbeit gleichen einem flächigem Einerlei. Abgesehen von dem historischen Zusammenhang fragt man sich, wie Schneede darauf kommt, in dem Bild die »gewaltige Kraft des Aufbruchs« zu sehen?28 Schneede begründet diese Deutung damit, daß Boccioni für sein Pferd die Farbe Rot verwende, die in der futuristischen Malerei die »Farbe des Kampfes, der Aggression, der Rebellion« sei.29 Auch wenn die Farbe Rot tatsächlich in der futuristischen Malerei diese Bedeutung hat, wirkt der Reiter zu Pferd in seinem Temperament eher gemäßigt als rebellisch. Auch scheint die Haltung des Pferdes nicht für dessen Wut und Rebellion zu sprechen. Ein wütendes Pferd schnaubt, legt die Ohren zurück und bäumt sich auf. Man fragt sich, was Boccioni mit diesem Bild eigentlich bezwecken wollte. Die industrialisierte Landschaft Mailands, von der Boccioni so fasziniert war, kennen wir schon. Sie ist in einer ganzen Serie vorfuturistischer Gemälde dargestellt. Den Eindruck des Aufbäumens hatte Boccioni viel besser in Città che sale dargestellt. Vielleicht ist es ein futuristisches Selbstporträt Boccionis, der selbst ein versierter Reiter war und im Ersten Weltkrieg bei einer Reitübung durch einen Sturz tödlich verunglückte. An Sinn gewinnt dieses Gemälde erst im Kontext der Geschichte der futuristischen Malerei: nachdem Balla die Darstellung von Bewegung nach dem Mareyschen Prinzip der Phasenzerlegung zum Programm erhoben hatte, folgten ihm auch Carrà mit dem bereits erwähnten Bild Der rote Reiter und Russolo mit dem Bild Dinamismo di un automobile, das an die Automobil-Darstellung Ballas angelehnt war. Wie schon mehrfach erwähnt, war Boccioni explizit gegen die Phasendarstellung in der Malerei. In seinem Buch Pittura Scultura Futuriste ist dem Darstellungsprinzip des Dynamismus ein eigenes Kapitel gewidmet. Grundlage für dieses Kapitel war der Vortrag Dinamismo plastico, den Boccioni am 12. Dezember im florentinischen Teatro Verdi gehalten hat und den er drei Tage später in der Zeitschrift Lacerba veröffentlichte.30 In diesem Text äußert er seine

28 Schneede 1994, S. 166. 29 Ebd. 30 Boccioni 1913, S. 288-290.

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Futuristen auf Europa-Tournee eigene Begiffsbestimmung des Dynamismus und grenzt sich gegen die Bewegungsdarstellung von Balla, Carrà und Russolo ab: »Der Dynamismus ist die simultane Aktion der charakteristischen Bewegung, die dem Gegenstand eigen ist (absolute Bewegung), und der Veränderung, die der Gegenstand durch die Ortsveränderung im Verhältnis zur beweglichen oder bewegungslosen Umgebung erfährt (relative Bewegung). Es ist daher nicht wahr, daß schon allein die Zerlegung der Formen eines Gegenstandes Dynamismus ist. Sicherlich haben die Zerlegung und die Deformation für sich einen Bewegungswert, denn sie unterbrechen die Kontinuität der Linie, sprengen den Rhythmus der Silhouette und vermehren die Begegnungen und die Andeutungen, die Möglichkeiten und Richtungen der Formen. Aber das ist noch nicht der futuristische bildnerische Dynamismus, ebensowenig wie es eine Flugbahn, der Ausschlag eines Pendels oder die Fortbewegung von Punkt A nach Punkt B ist.«31

Boccioni unterscheidet zwischen der absoluten und der relativen Bewegung als zwei Größen, die im Bild koexistieren und den Dynamismus begründen. Dabei fungiert die Umgebung eines Gegenstandes in der relativen Bewegung als eine Kraft, die auf den Gegenstand einwirkt und ihn verändert. Dieser bildnerische Prozeß wird in Elasticità vor Augen geführt: Elastizität ist nämlich die Eigenschaft eines Materials, sich aufgrund der Einwirkung einer äußeren Kraft zu dehnen oder zu stauchen. In dem Bild will Boccioni zeigen, wie das Umfeld auf die Konfiguration des Pferdes permanent einwirkt: im Bereich des Gesäßes des Reiters ist das Grün der Landschaft zu sehen, das Pferd ist im hinteren Bereich von dem Blau des Sockels, über dem sich der Telegraphenmast erhebt, durchsetzt, der Bewegungsdruck nach vorne bewirkt die Schräglage des kippenden Telegraphenmasten. Durch die Darstellung des Verhältnisses der absoluten und relativen Bewegung werden die starren Grenzen der im Bild wiedergegebenen Gegenstände aufgelöst, die sich ständig gegenseitig verformen. Boccioni setzt seinen Begriff des Dynamismus als den einzig gültigen in der futuristischen Malerei und spricht der Methode Ballas, Bewegung durch das Zergliedern von Bewegungsphasen darzustellten, ihre dynamische Wertigkeit ab, auch wenn er ihr immerhin einen »Bewegungswert« zugesteht. Boccioni zählt einige der Möglichkeiten auf, die sich aus der Phasendarstellung ergeben und tut 31 »Il dinamismo plastico è l’azione simultanea del moto caratteristico particolare all’oggetto (moto assoluto), con le trasformazioni che l’oggetto subisce nei suoi spostamenti in ralazione all’ambiente mobile e immobile (moto relativo). Dunque non è vero che la sola decomposizione delle forme di un oggetto sia dinamismo. Certamente la decomposizione e la deformazione hanno in sè un valore di moto in quanto rompono la continuità della linea, spezzano il ritmo siluettistico e aumentano gli scontri e le indicazioni, le possibilità e le direzioni delle forme. Ma questo non è ancora il dinamismo plastico futurista, come non lo è ancora la traiettoria, il dondolio a pendolo, lo spostamento da un punto A a un punto B.« (Ebd., S. 288f.; deutsche Übersetzung in Boccioni 2002, S. 122f.)

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) dabei so, als würden sie zusammen genommen nicht ausreichen, um mit dem Begriff ›Dynamismus‹ bezeichnet zu werden. Erstens drückt er sich falsch aus, wenn er schreibt, daß die Phasendarstellung den Rhythmus der Silhouette sprenge. In der Phasendarstellung werden leicht voneinander differierende Silhouetten in einen rhythmischen Zusammenhang gestellt. Zweitens scheint er schon beim Schreiben übersehen zu haben, daß die von ihm aufgezählten Möglichkeiten sich in den Ohren eines futuristischen Malers ziemlich attraktiv anhören müßten, zumal sie, im Gegensatz zu seiner Definition des Dynamismus, konkret benennbar und begreifbar sind. Im nächsten Satz unterstellt er Balla stillschweigend, daß er nur an der Illustration von Bewegung als Fortbewegung zwischen zwei Punkten interessiert sei. Daß Ballas Art der Bewegungsdarstellung unter den Futuristen zur Schule wurde, ist damit zu begründen, daß sich sein Konzept aus den Bildern selbst heraus erklärt und einfach zu adaptieren ist. Boccioni dagegen verliert sich in seiner Äußerung in schwer greifbaren Formeln, wogegen er sich bildnerisch, zumindest in Elasticità, nicht signifikant weiterentwickelt hat und nur geringfügig über die zweite Fassung der Gemütszustände hinausgewachsen ist, ganz im Gegensatz zu Balla, der mit dem Gemälde Bambina corre sul balcone, den Automobil-Bildern und den Darstellungen vom Schwalbenflug bemerkenswert stringent den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgte. Boccioni hatte vermutlich vor, mit dem Bild Elasticità eine Art ästhetisches Manifest gegen die Bewegungsdarstellung Ballas und für die eigene zu schaffen. Wenn man so weit geht, dem Bildtitel eine allgemein gehaltene Botschaft abzugewinnen, dann ist er sicher nicht als »Aufforderung an die eigene Fraktion« zu verstehen, »im Kampf so beweglich und vital zu agieren wie Pferd und Reiter.«32 Vielmehr ist das Wort ›Elastizität‹ auf die Bewegungsdarstellung in der futuristischen Malerei zu beziehen: Elastizität in dem Sinne, sich nicht ï wie Balla ï auf ein bildnerisches Prinzip festzulegen, sondern sich seine Flexibilität zu bewahren, um nach immer neuen Möglichkeiten in der Bewegungsdarstellung zu suchen.

Carlo Carrà Carrà zeigt mit seinen drei auf dem Herbstsalon ausgestellten Arbeiten, daß er im Rahmen der futuristischen Malerei immer noch eine ziemlich unsichere Position vertritt:

ZENTRIFUGALE KRÄFTE Der Titel des ersten Bildes, Zentrifugale Kräfte (Abb.105) mag sich futuristisch anhören: man erhofft sich die Darstellung von Formen, die den Mittelpunkt fliehen und sich entgegen den Bildrändern bewegen. Es ist dieser Darstellung anzusehen, daß es der Kubismus von Braque Carrà sehr angetan hat: dafür sprechen die zurückgenommene Farbigkeit des Bildes und die ineinander verschachtelten 32 Schneede 1994, S. 166.

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Futuristen auf Europa-Tournee geometrischen Formen, die sich innerhalb der Bildgrenzen in einem Oval um einen Mittelpunkt herum gruppieren. Dieser Mittelpunkt ist entweder die Form, die dem Umriß eines Hauses mit Giebeldach gleicht oder der Punkt, wo zwei Linien im rechten Winkel aufeinanderstoßen und das Fragment eines Rechtecks bilden, das wie eine autonome Fläche in die Darstellung eingefügt ist. Viele der Formen muten architektonisch an: am linken Bildrand, könnte man meinen, sind drei Treppenstufen, auf der rechten Bildseite ist ein Hausnummernschild mit der Nummer 38 zu sehen, man assoziiert das Formenensemble vielleicht mit einer verwinkelten italienischen Stadt. Am unteren Bildrand huscht eilig eine Figur in geduckter Haltung vorbei, von einer weiteren etwas oberhalb ist nur der Hut zu sehen. Das Treiben in der italienischen Stadt war schon in vielen anderen Bildern ein Thema Carràs Malerei. Deswegen erscheint es nicht abwegig, daß er es hier ein weiteres Mal dargestellt hat. Und vielleicht ist auch der Titel nicht nur ein Verweis auf die futuristische Ästhetik, sondern auch eine Charakterisierung des Stadtlebens: die Stadt als anonymer Organismus, der von Hektik geprägt ist, dem ein konzentrierender Mittelpunkt fehlt. Durch das Bestreben, ein futuristisches Vorhaben kubistisch zu gestalten, wirkt die Darstellung in sich widersprüchlich. Vielleicht hatte die harsche Kritik der futuristischen Wanderausstellung des Jahres 1912 Carrà verunsichert. Anstatt wie Balla eine eigene futuristische Linie auszuarbeiten, scheint sich Carrà um Konzessionen zu bemühen, wodurch er womöglich versucht, dieses Mal die Kritiker auf seine Seite zu ziehen. Bemerkenswert ist in dem Bild allerdings, daß es einen abstrakten Eindruck vom Treiben in italienischen Städten vermittelt, der hier viel besser wiedergegeben ist als ihn ein realistisches Bild darstellen könnte.

SIMULTANÉITÉ (SIMULTANEITÀ) In Simultanéité (Simultaneità), das auch den Titel Donna al balcone (Abb. 106) trägt, wird deutlich, daß Carrà immerhin in der unentschlossenen Gestaltung seiner Bilder konsequent ist: zu sehen ist eine Rückenfigur, dem Titel nach eine Frau, am Geländer eines Balkons, die, angedeutet durch ein frei stehendes Haus, in eine offene dörfliche Landschaft blickt. Die Rückenfigur gleicht einem Torso. Der Oberschenkel ist nur angedeutet, die Arme fehlen gänzlich und der Kopf ähnelt einer beinahe plastischen Hohlform. Der Rücken ist in drei verschiedenen Bewegungspositionen dargestellt. Beim Gesäß dagegen spielt Carrà mit zweierlei Möglichkeiten: der zweifachen Wiederholung der Silhouette und der veristischen Ausformulierung. Die Partie zwischen Kopf und Rücken ist durch schräg ins Bild gesetzte Schulterformen durchbrochen. Die Frau scheint fast über das Geländer zu kippen und formal mit der Landschaft, in die sie blickt, zu verschmelzen. Das Geländer verstärkt durch seine zweifache Durchbrechung dieses Eindruck. Jenseits des Balkons ist das Umfeld in kubistischen Formen gestaltet, die sich auf die Frau zubewegen und ihrerseits mit ihr verschmelzen. Wiederum wird auch bei dieser Darstellung die Beeinflussung in der zurückgenommenen, grauen Farbigkeit und den kubistisch

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) ausgeführten Bildelementen die starke Beeinflussung Carrás durch den Kubismus deutlich. Im Gegensatz zu dem vorher besprochenen Bild aber ist dieses durch die Wiedergabe der Bewegungsphasen und die Verschmelzung des Gegenstandes mit seiner Umgebung noch deutlich futuristischer. Doch auch hier oszilliert Carrà zwischen den Positionen Boccionis und Ballas. An Balla lehnt er sich durch die Darstellung des Frauenkörpers in Bewegungsphasen an. Eine Beeinflussung durch die ästhetischen Theorien Boccionis wird durch den Versuch, die Frau mit ihrer Umgebung und umgekehrt zu verschmelzen, deutlich. Diese visuelle Realisation erinnert nämlich an Boccionis Definition des Dynamismus, den Gegenstand in Relation zu seinem beweglichen oder unbeweglichen Umfeld zu setzen.

PLASTISCHE EMANATION (TRASCENDENZE PLASTICHE) Das letzte von Carrà ausgestellte Bild Plastische Emanation (Transcendenze plastiche) (Abb. 107) ist das einzige aus dem Jahr 1913, das den fortgeschrittenen Entwicklungsstand von Carràs Bildproduktion vor Augen führt. Der im Katalog in Klammern beigefügte Titel Trascendenze plastiche ist der von Carrà ausgedachte, weil er unten links im Bild zu lesen ist. Ich würde in diesem Falle das Wort ›Transzendenzen‹ nicht im philosophischen Sinne lesen, sondern seine konkrete Bedeutung bevorzugen: Transzendenz als simple Grenzüberschreitung. Carrà stellt ein kreisförmiges Ensemble von eckigen und abgerundeten Formen dar, die sich kreisförmig bewegen und gegenseitig ›überschreiten‹. Die weißen Formen sind gegeneinander durch harte, schwarze Konturen abgegrenzt und kontrastieren mit den Braun- und Ockertönen an den Bildrändern. Man könnte meinen, daß dieses Werk eine Art Gegenstück zu dem zuerst besprochenen Gemälde ist, da sich die Formen auf den Mittelpunkt des Gemäldes konzentrieren, wo sie immer kleinteiliger werden. In diesem Gemälde ist Carrà im Vergleich zu den vorherigen ungegenständlicher geworden. Von der Phasendarstellung Ballas ist in diesem Gemälde keine Spur zu erkennen. Statt dessen scheint er sich eher an Boccioni zu orientieren, indem er versucht, abstrakte Formen als in Bewegung befindliche darzustellen. Dies bedeutet aber nicht, daß Balla als Inspirationsquelle aus dem Spiel ist: in anderen Gemälden scheint sich Carrà beinahe ausschließlich an Balla anzulehnen, wie etwa in dem bereits mehrfach erwähnten Bild Der rote Reiter. Carràs Position im Rahmen der futuristischen Malerei erscheint unklar. Alle seine Bilder sind ein Kompromiß zwischen dem Kubismus, der Position Ballas und der Boccionis.

Luigi Russolo Die Tatsache, daß Russsolo mit drei Bildern vertreten ist, im Gegensatz zu Severini und Balla, die jeweils nur zwei Arbeiten zeigen können, könnte bedeuten, daß Russolo als futuristischer Maler sehr hoch geschätzt wurde. Von den drei auffindbaren Arbeiten ist

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Futuristen auf Europa-Tournee das dritte Ich-Betrachtung (Autoritratto) nicht mehr auffindbar. Die verbleibenden beiden werden im Folgenden besprochen.

FORTSETZUNG DER HÄUSER IN DEN HIMMEL Der Tunnel in dem Bild Fortsetzung der Häuser in den Himmel (compenetrazioni di case + luce + cielo) (Abb.108) aus dem Jahr 1912 ist bis ins Unendliche in Sektoren zerteilt. Oberhalb einer horizontal segmentierten Straße in Braun- und Grüntönen erhebt sich der Himmel zur Rechten wie zur Linken in transparenten Bogenformen, die am oberen Bildrand ineinandergreifen. Rechts wie links werden von diesen Bogen kleine Häuser eingefaßt, die in alle Richtungen zu kippen drohen. An der Horizontlinie sind zwei Lichtpunkte zu sehen, von denen Lichtkegel ausgehen, die einerseits über die Bogenformen des Himmels hinwegstrahlen, andererseits in den von den Bogenformen gebildeten Tunnel hineinragen. Ein weiterer Lichtpunkt, der durch zwei transparente, konzentrische Kreisformen eingerahmt ist, reiht sich auf der rechten Seite zwischen die Häuser ein. Von ihm gehen zwei diffuse Lichtkegel aus, einer, der die Lichtkegel der zwei anderen Lichtquellen kreuzt, ein weiterer, der sich bogenförmig in das Bildgefüge einordnet. Der Arbeit wurde auf dem Herbstsalon der Titel Fortsetzung der Häuser in den Himmel gegeben, weil sich die Formen der Dächer in ihrer Wiederholung nach oben fortsetzen. Der in Klammern beigefügte Titel ist der von Russolo erdachte. Seine Formulierung als Addition geht auf Boccionis Bildtitel und auf dessen Publikation Pittura Scultura Futuriste zurück, in denen er gern und häufig versucht, ästhetische Phänomene in Rechenformeln auszudrücken. Dieses Verfahren wird von Russolo übernommen. Man gewinnt den Eindruck, er wolle es Boccioni recht machen und nicht in seiner Gunst abfallen. Deswegen ist es auch nicht richtig, wenn Franco Tagliapietra in der wenigen Publikationen über diesen Künstler meint, daß er mit diesen und anderen Bildern eine eigene Bildsprache entwickelt habe,33 auch wenn es stimmt, daß Russolo im Gegensatz zu Carrà den kubistischen Einfluß stark zurücknimmt.

PLASTISCHE ÜBERSICHT DER BEWEGUNGEN EINER FRAU (RIASSUNTO PLASTICO DEI MOVIMENTI DI UNA DONNA) Die Mitte der Darstellung (Abb. 109) zeigt eine Frau, die in ein hochgeschlossenes, aber sehr figurbetontes, feminines Gewand gekleidet ist, das ihr bis zu den Knöcheln reicht. Sie trägt einen Hut, den sie tief ins Gesicht gezogen hat, so daß nur noch die Partie unterhalb der Augen erkennbar ist. Ihr Gesicht ist auf ein Buch gerichtet, das sie in ihrer linken Hand hält. Nach der Haltung ihrer leicht geknickten Beine zu schließen, scheint sie auf einem im Bild nicht sichtbaren Stuhl zu sitzen und zu lesen. Gleichzeitig sind von derselben Frau weitere Ansichten gegeben, die zeigen, wie sie von

33 Vgl. Franco Tagliapietra: »Dalla suggestione simbolista alla teorizzazione e produzione futurista: incisioni e dipinti«, in: ders./Gasparotto 2006, S. 34.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) rechts nach links durch das Bild schreitet. Die Seitenansicht zeigt ihre zarte, anmutige Gestalt. In der Mitte wendet sie sich frontal dem Betrachter zu, während sie ihrer Lektüre nachgeht. Dann wendet sie sich wieder zur Seite und verläßt beinahe körperlos die Darstellung. Die Silhouetten sind in wellenförmige Linien eingefaßt. Die Linien des Rasters in Dunkellila werden durch die Modulation der Zwischenbereiche in gelber Farbe gegeneinander abgegrenzt. Diese Farbmodulation erlaubt es Russolo, die Frau im Zentrum des Bildes in Szene zu setzen. Die fast monochrome Farbgestaltung im unteren Bildteil macht eine exakte Interpretation schwierig. So bleibt es der Deutung des Betrachters überlassen, in diesem Bildabschnitt die schlanken Beine einer Frau sehen will, die sich unabhängig vom Körper dieser Frau im Raume bewegen. In dieser Arbeit verbindet Russolo die Position Ballas und jene Boccionis zu einer Synthese. Gemäß Ballas Konzeption des positivistischen Dynamismus stellt Russolo die Frau in Bewegungsphasen dar. Indem er aber die Bewegungsphasen der Frau in ein bogenförmiges Liniengefüge eingliedert, wird die klare Abgrenzung zwischen Gegenstand und Umgebung vermieden, die Boccioni propagierte. Dabei geht es Russolo nicht um die reine Darstellung der physischen Bewegung der Frau, sondern auch um ornamentale Qualitäten, die er dieser Darstellungsform abgewinnt. Gleichzeitig versucht er, auf diese Weise ein verklärtes Frauenbild zu schaffen: die Gestalt schreitet nicht als konkrete Person, sondern als Repräsentantin der modernen, intellektuell ambitionierten Frau durchs Bild. Ziel Russolos war es wahrscheinlich, ein Frauenbild darzustellen, von dem sich in dieser Zeit viele Männer angezogen fühlten: die intellektuell ambitionierte Madame, die das Trauma, nicht emanzipiert zu sein, durch ihre geistige Aktivität hinter sich gelassen und sich von dem konservativen Frauenbild gelöst hat ï ohne dabei ihre Weiblichkeit aufzugeben. Diese Absicht wird in dem Bild allerdings nur durch ein Detail deutlich, nämlich durch das Buch, das die Frau in der Hand hält. Ohne dieses Buch könnte sie (in Anlehnung an die Frauenbilder Severinis) aufgrund der dynamischen Darstellung auch eine Tänzerin oder Kokotte sein, womit sie in der Literatur auch schon verwechselt worden ist.34 An diesem Gemälde wird deutlich, daß Russolo im Gegensatz zu den anderen Futuristen nicht seinen Blick auf den französischen Kubismus, sondern auf den deutschen Expressionismus der Brücke-Künstler richtet. Dafür sprechen die starken Kontraste der Farben Gelb, Lila und Grün, die markante Liniengebung und die mythische Verklärung der dargestellten Frau, der durch ihre reduzierte Wiedergabe entsteht und sie zur Projektionsfläche von persönlichen Vorstellungen macht. Interessant ist, daß sich Ernst Ludwig Kirchner selbst an Russolo zu halten schien, als er eines seiner bedeutendsten Gemälde schuf, das Bild Fünf Frauen auf der Straße von 1913 (Abb. 110). Während Russolo ein- und dieselbe Frau in voneinander differierenden Bewegungspositionen malt, entscheidet sich Kirchner für

34 Ebd., S. 36.

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Futuristen auf Europa-Tournee fünf verschiedene Frauen, die sich aber alle relativ ähnlich sehen. Sie stehen jenseits eines kleinen Pfades, der die im Titel erwähnte Straße darstellt. Als Kokotten locken sie in extravaganter Kleidung und exzentrischen Posen die Freier, die am Straßenrand die Erfüllung ihrer leiblichen Gelüste erwarten. Die Auswahl der Farben ähnelt jener Russolos: die Gewänder der Frauen sind in einem dunklen, nicht ganz so leuchtendem Blau dargestellt, das sich aber deutlich von dem flächigen Gelb und Grün des Hintergrundes abhebt. Ein solcher Kontrast kommt bei Russolo nicht zustande, weil die Flächen dunkler Farbigkeit gegenüber dem Gelb quantitativ zu stark überwiegen. Die hier exemplifizierte Beeinflussung von Künstlern durch den Futurismus ist ein symptomatisches Phänomen. Die futuristische Malerei ist kein in sich geschlossener und perfekter Organismus wie etwa die kubistische Malerei von Picasso und Braque. Dies hängt oftmals mit der unsicheren und technisch wenig versierten Realisierung der bildnerischen Ziele, die sich die Futuristen gesetzt haben, zusammen. Aber gerade die Mängel dieser Bilder sind für andere Künstler ein wichtiges Potenzial, weil sie neue Impulse freisetzen.

Gino Severini Gino Severini ist im Katalog mit zwei Werken vertreten, der Abbildungsteil zeigt ein weiteres, das im Katalog nicht aufgeführt ist und auf der Ausstellung nicht zu sehen war. Ursprünglich sollten sechs Werke von Severini gezeigt werden,35 was sich aber als überproportional herausstellte, da seine Kollegen nur mit jeweils drei Arbeiten vertreten waren. Außerdem hatte er schon im Jahr 1913 Gelegenheit, auf einer Einzelausstellung in der Galerie ›Der Sturm‹ seine Werke zu zeigen.36

PORTRÄT VON F.T. MARINETTI Das erste ausgestellte Bild, Porträt von F. T. Marinetti (Ritratto di Marinetti) von 1913 (Abb. 111), ist nur durch eine Schwarz-WeißAbbildung überliefert. Der Aufbewahrungsort und die Maße sind unbekannt. In seinen Memoiren schreibt Severini, daß das Bild kurz vor seiner Hochzeit mit Jeanne Fort am 28. August 1913 in dem Hotel, in dem er zu dieser Zeit wohnte, entstanden sei.37 Er habe es aus bedruckten Stoffetzen und einem realen Schnurrbart zusammengesetzt. Daniela Fonti berichtet, daß Severini die Zeitungsausschnitte, die in der Darstellung zu sehen sind, erst nach der Ausstellung auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon einfügte.38

35 Vgl. Brief von Severini an Walden vom 29. Juni 1913, in: Schmidt-Bergmann 1991, S. 374f. 36 Gemälde und Zeichnungen des Futuristen Gino Severini, 1913. 37 Vgl. Severini 1965, S. 154. 38 Vgl. Fonti 1988, S. 149.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) Der Blick wird zunächst auf den Kopf des Gründers der futuristischen Bewegung gelenkt, der in drei verschiedenen Bewegungsphasen dargestellt ist. Ein monumental angelegter Kopf, bei dem Severini auf die Ausführung der Augenpartie verzichtet, wird zu seiner Rechten von einem Zylinder überlagert, zu seiner Linken von einem weiteren Kopf, dessen Ausarbeitung nach links leise ausklingt und in Collagestücke übergeht. Aus diesem Kopf erwächst die ihm vorgelagerte Unterpartie des Gesichtes, in die auch der Schnurrbart eingefügt ist, der aus echten Haaren besteht. Das Ensemble sich überlagernder Köpfe thront auf dem Oberkörper Marinettis, der in diesem Bild einen schwarzen Anzug mit Fliege und ein weißes Hemd mit Stehkragen trägt. Der Oberkörper ist seinerseits in zwei Bewegungsphasen zu sehen. Vermutlich ist die dargestellte Bewegung so zu verstehen, daß Marinetti mit Zylinder zunächst dem Betrachter den Rücken zukehrt, sich dann um die eigene Achse dreht und immer näher auf den Betrachter zugeht. Die in das Bild eingefügten Collagestückte gehen im oberen Bereich von seinem Kopf aus, ein weiteres scheint von links unten schräg nach rechts aufzusteigen. Die zu lesenden Schriftzüge repräsentieren Begriffe und Schlagworte, mit denen man Figur und Programm Marinettis sofort assoziiert: Die Wörter »Sans fils en liberté futuriste«, die sich aus zwei aneinandergefügten Papierstücken zusammensetzen, beziehen sich auf das berühmte Technische Manifest der futuristischen Literatur,39 das Marinetti auf den 11. Mai 1912 datierte und in dem er unter anderem den Begriff der ›immaginazione senza fili‹ (Drahtlose Phantasie) in das Kompendium futuristischer Terminologie einführte. Der Terminus der ›Drahtlosen Phantasie‹ wurde zum Schlagwort unter den futuristischen Malern, weil es nicht nur in der Literatur, sondern auch in der bildenden Kunst anwendbar ist. In einem weiteren Manifest Marinettis, Zerstörung der Syntax ï Drahtlose Phantasie ï Befreite Worte ï die futuristische Sensibilität,40 das er auf den 11. Mai 1913, also genau ein Jahr später datierte, schreibt er über diesen Begriff: »Unter drahtloser Phantasie verstehe ich die absolute Freiheit der Bilder oder Analogien, die mit unverbundenen Worten, ohne syntaktische Leitfäden und ohne irgendeine Zeichensetzung ausgedrückt werden.«41 Diesen Begriff, mit dessen Definition Marinetti eine der zentralen Ideen der dadaistischen Lautgedichte vorwegnahm, interpretiert Severini primär als Aufruf zur gestalterischen Freiheit, womit erklärt wäre, warum er die Wortstücke »Sans fils en liberté futuriste« in die Darstellung einfügt. Der zweite Schriftzug, »L’imagination et les mots, manifeste«, der weiter links zu sehen ist, kann nicht so streng philologisch wie der vorherige interpretiert werden, weil heute kein Manifest Marinettis mit einem solchen Titel bekannt ist. Man muß ihn im übertragenen Sinne verstehen: Marinetti war ein Mann des Wortes und er vermochte es, die Imagination der bildenden Künstler über den Kataly39 Vgl. F. T. Marinetti: »Die futuristische Literatur. Technisches Manifest«, in: Schmidt-Bergmann 1993, S. 282-288. 40 F.T. Marinetti: Zerstörung der Syntax - Drahtlose Phantasie - Befreite Worte - die futuristische Sensibilität, in: Harten 1974, ohne Seite. 41 Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee sator des Wortes zu inspirieren. Das Wort »manifeste« betrachte ich als stehenden Begriff betrachten, mit dem im Futurismus ständig operiert wird. Womöglich hat Severini Zeitungsartikel über den Futurismus gesammelt und in einem von diesen den Schriftzug gefunden, den er für die Charakterisierung Marinettis als passend erachtete, so daß er ihn in das Bild einfügte. Das letzte Collagestück mit den Wörtern »Manifeste futurisme« ist links unten zu sehen. Severini möchte damit wahrscheinlich ausdrücken, daß die Kultur, Manifeste zu schreiben, von Marinetti begründet wurde und seit dem Gründungsmanifest den Futurismus durchdringt. Marinetti besuchte den Ersten Deutschen Herbstsalon und schrieb kurz nach seiner Rückkehr in einem Brief von September/ Oktober 1913: »Lieber Severini, eine große Debatte in den deutschen Zeitungen über den Schnurrbart meines wunderschönen Porträts.«42 Damit ist das Werk Severinis von allen ausgestellten Arbeiten der Futuristen das einzige, dem in der Presse besonderes Interesse gewidmet wurde. Ich konnte nur einen Artikel finden, in dem von dem eingeklebten Schnurrbart die Rede ist. In einem Verriß über die gesamte Ausstellung, der in der Abendausgabe der Vossischen Zeitung am 19. September erschien, schreibt der Rezensent über den Ersten Deutschen Herbstsalon und das Marinetti-Porträt: »Es ist nur eine vergrößerte ›Sturm‹-Ausstellung geworden, unkritisch, mit einer deutlichen Vorliebe für das Absonderliche und Alberne. Walden hat seinen Herbstsalon von vornherein dem Gelächter preisgegeben, indem er Kindereien zuließ wie Severinis Porträt Marinettis, dem ein Friseurschnurrbart aus wirklichen Haaren dort, wo vermutlich der Mund sitzt, angeklebt worden ist (...)« 43

Zur damaligen Zeit war es unkonventionell und ungewöhnlich, Echthaar in Bilder einzukleben. Es war aber nicht nur unkonventionell, sondern auch komisch oder clownesk. Während die aufgeschlosssenen Kunstbetrachter wahrscheinlich lachen mußten, empfanden es die Kritiker als bizarre Dreistigkeit, sich so leichtfüßig und ironisch über die Regeln der konventionellen Ästhetik hinwegzusetzen, wie Severini es getan hat. Der Ärger über diese Freizügigkeit verstellte ihnen den Blick auf die ästhetische Wertigkeit dieses Porträts, das jenes von Carrà, das auf der Wanderausstellung des Jahres 1912 zu sehen war und bereits besprochen wurde, in den Schatten stellt. Heute ist das Marinetti-Porträt Severinis mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Dies hängt damit zusammen, daß Severinis Bild verschwunden ist und Carràs nicht. In dem Porträt von Carrà ist Marinetti bei seiner schreibenden Tätigkeit mit diversen Schreibutensilien wiedergegeben. Man gewinnt den Eindruck, daß sich Carrà darauf konzentrierte, das Gesicht Marinettis realistisch zu gestalten. Dies entbehrt jeder Notwendigkeit, weil ein Foto viel besseren Aufschluß über Marinettis Aussehen gegeben hätte. 42 Brief von Marinetti an Severini, September/Oktober 1913, in: SchmidtBergmann 1991, S. 384. 43 Vossische Zeitung , Abendausgabe vom 19. 9.1913.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) Das Umfeld dagegen ist so universal gehalten, daß es zu jedem beliebigen Schriftsteller oder Dichter passen würde. Severini verfährt umgekehrt: ihm geht es nicht um die Wiedererkennbarkeit von Äußerlichkeiten, die er auf wenige ›Chiffren‹ wie Schnurrbart, Zylinder und Anzug reduziert, sondern um die Spezifizierung Marinettis als Person ï nicht als Dichter, sondern als Gründer des Futurismus. Die eingefügten Collagestücke vermitteln eine Vorstellung von Marinettis Gedankenwelt. Dabei stellt Severini genau die Aspekte heraus, für die Marinetti heute noch geschätzt wird: Marinetti als Begründer der Manifestkultur in verschiedenen ästhetischen Sparten, die in vielen späteren Kunstrichtungen wie etwa dem Surrealismus übernommen wurde. Während das Bild von Carrà keinen gestalterischen Aspekt aufweist, der es futuristisch erscheinen läßt, stellt Severini den Gründer des Futurismus in seiner futuristischen Darstellungsweise dar: er bedient sich des von Balla etablierten Konzepts, Dynamik durch Segmentierung in Bewegungsphasen darzustellen. Doch wendet er dieses Konzept weniger schematisch und stärker malerisch an, indem er versucht, die Dynamik von Marinettis Aura erscheinen zu lassen ï eine Aura, die durch ein Foto eben nicht abgebildet werden kann.

PLASTISCHER RHYTHMUS DES VIERZEHNTEN JULI (RITMO PLASTICO DEL 14 LUGLIO) Das Bild Plastischer Rhythmus des vierzehnten Juli (Abb. 112), das aus Severinis Sicht zu seinen besten Gemälden zählt,44 ist wie das Marinetti-Porträt kurz vor seiner Hochzeit im Sommer 1913 in einem Pariser Hotelzimmer entstanden. Von einer vertikalen Achse, die gegenüber der Mittelachse leicht nach rechts versetzt ist, gehen in alle Richtungen kubistisch anmutende Röhrenformen in schwarzer Farbe aus, deren Darstellungsweise an die Bilder Légers erinnert. Am oberen Ende der Vertikalachse ist die Lafette zu sehen, auf der die Kanonenrohre montiert sind. Die verschossene Munition ist in fragmentierten bunten Kreisformen dargestellt, die Rauchschwaden nach sich ziehen. Die gelbe Kreisform oben rechts ist womöglich der Mond oder die aufgehende Sonne, die am Himmel thront. Die Ausführung der Formen am Bildrand erstreckt sich bis über den Rahmen, reicht also bis zum äußersten Rand jenseits der außerbildlichen Wirklichkeit. Der Hintergrund ist in große geometrische Flächen unterteilt. Von oben ragt eine Dreiecksfläche in die Darstellung, die an der vertikalen Mittelachse in eine himmelblaue und eine lila Partie geteilt ist. Die pointillistische Malweise in diesem Bildbereich kontrastiert mit der eher flächigen Malweise des restlichen Hintergrundes. Die übrigen Flächen sind in Weiß, Schwarz und leuchtendem Rot gehalten. Die Farben Blau, Weiß und Rot erinnern an die französische Trikolore. Die Hintergrundfarben sind so angeordnet, daß sie einen starken farblichen Kontrast zu dem Geschehen im Vordergrund bilden. Unten links ragt eine Fläche ins Bild, die in ihrer rotbraunen

44 Vgl. Severini 1965, S. 154.

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Futuristen auf Europa-Tournee Farbigkeit gegenüber dem Rest der Darstellung als Fremdkörper erscheint. Auf ihr sind die Lettern »CAFE 10« zu lesen. Der Titel des Bildes legt nahe, daß Severini hauptsächlich den ›Sturm auf die Bastille‹ darstellte, der am 14. Juli 1789 erfolgte, nachdem Arbeiter, ›Bourgeois‹ und meuternde Soldaten das Zeughaus des Heeres geplündert hatten. Die Bastille galt als Symbol der Willkürherrschaft der absolutistisch regierenden Könige. Dort waren häufig Gegner des Königs jahrelang ohne rechtskräftiges Urteil inhaftiert. Die Bastille wurde gestürmt, ihre Besatzung von der Menge geschlagen. Das war der Ausbruch der Französischen Revolution. Dieser Tag ist in Frankreich heute noch ein Nationalfeiertag. Severini, der sich selbst als halben Franzosen verstand, stellt dieses Ereignis als heiteren Moment der französischen Geschichte dar. Seine Frau berichtet später, daß diese Arbeit weniger durch die Französische Revolution inspiriert sei, als durch die Eröffnung eines Pariser Straßencafés, das an diesem geschichtsträchtigen Tag seinen Namen, vermutlich »CAFE 10«, erhielt.45 Aufgrund dieser Äußerung wurde das Bild in der Literatur als reiner Ausdruck des Pariser Straßenlebens von 1913 gelesen.46 Von einer solchen Lesart sehe ich ab, weil das Thema der Darstellung hauptsächlich ein historisches Ereignis darstellt. Daß Severini dieses in Verbindung mit der Eröffnung eines Pariser Straßencafés bringt, würde ich eher als Folge seiner Aspirationen in der futuristischen Kunsttheorie betrachten. In seinem 1913 geschriebenen Manifest Die bildnerischen Analogien des Dynamismus47 versucht er, den von Marinetti für die futuristische Literatur eingeführten Begriff der Analogie in die Malerei zu transportieren. Die dort enthaltenen Ausführungen zur Anwendung der bildnerischen Analogie lassen sich besser auf andere Werke Severinis von 1913 beziehen. Viel deutlicher wird das in diesem Bild angewandte Prinzip der bildnerischen Analogie durch eine Äußerung Marinettis erläutert, die in dem genannten Manifest angeführt wird: »Analogie ist nur die tiefe Liebe, die fernstehende, scheinbar verschiedene und feindliche Dinge verbindet. Nur durch sehr ausgedehnte Analogien kann ein orchestraler Stil, der gleichzeitig polychrom, polyphon und polymorph ist, das Leben der Materie umfassen... Um alles zu umfangen und zu erfassen, was es an Flüchtigem und Unfaßbarem in der Materie gibt, muß man engmaschige Netze von Bildern oder Analogien bilden, die man in das geheimnisvolle Meer der Erscheinungen auswerfen wird.«48

45 Vgl. Fonti 1988, S. 155. 46 Ebd. 47 Gino Severini, »Die bildnerischen Analogien des Dynamismus«, in: Harten 1974, ohne Seite. 48 »L’analogia non è che l’amore immenso che riunisce le cose distanti, apparentemente differenti e ostili. Per mezzo di analogie vastissime, questo stile orchestrale, nello stesso tempo policromo, polifonico e polimorfo, puo abbracciare la vita della materia…(…) Per sviluppare e cogliere tutto ciò che c’è di più fuggevole e inafferabile nella materia, bisogna formare delle reti serrate di immagini o analogie che lanceremo

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) Eigentlich ist die Analogie das Verhältnis von Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit zwischen zwei oder mehreren Dingen. Nun werden bei Marinetti durch die Analogie Dinge in ein Verhältnis gesetzt, die auf den ersten Blick in keinem Verhältnis zueinander stehen. Diese fernstehenden Dinge müssen in einem Artefakt zusammengeführt werden, um der Simultaneität des Lebens gerecht zu werden. So kommt es, daß der Sturm auf die Bastille und die Eröffnung eines Straßencafés nur durch ein Datum in Beziehung zueinander gesetzt werden und vielleicht auch noch dadurch, daß Severini, der beides als einen heiteren Moment auffaßte, der Meinung war, daß die Stimmung des einen der Stimmung des anderen ähnlich sei. Zunächst mag es seltsam anmuten, daß ein Künstler wie Severini, der in seiner Malerei bislang vollkommen unpolitisch war, sich mit einem solchen Thema befaßt. Dies ändert sich, wenn man sich der Bedeutung der Französischen Revolution und der Rolle, die Napoleon Bonaparte für Italien spielt, bewußt ist. 1792 marschierte Napoleon über Ligurien in Norditalien ein. 1808 stand ganz Italien unter französischer Herrschaft. Während Adel und Klerus von ihren alten Rechten Abstand nehmen mußten, wurde Napoleon für die unteren Schichten zur Galionsfigur. Er führte nicht nur die heutige italienische Flagge ein, die wie die französische eine ›Trikolore‹ ist, sondern reformierte auch die Verwaltung, die Justiz und das Erziehungswesen. Seine bedeutsamste Neuerung war die Einführung eines bürgerlichen Gesetzbuches, des Code civil oder Code Napoléon. Damit waren für den Großteil der Bevölkerung ihre bürgerlichen Rechte garantiert. Vor diesem historischen Hintergrund wird verständlich, warum sich Severini mit diesem Thema auseinandersetzte. Das Bild markiert eine Wendung in seiner künstlerischen Arbeit, weil er sich vom Prinzip ›l’art pour l’art‹ löst und seine Bereitschaft signalisiert, sich zu politischen Themen zu äußern. Die leichte und heitere Art, in der er dies tut, steht ganz im Gegensatz zum Geist des Politische(n) Programm(s) des Futurismus der futuristischen Partei,49 das Marinetti wenig später gemeinsam mit Boccioni, Carrà und Russolo veröffentlichte: »Futuristische Wähler! versucht mit Eurer Stimme folgendes Programm zu verwirklichen: Ein völlig souveränes Italien. î Das Wort ITALIEN muß über das Wort Freiheit dominieren. Alles ist erlaubt, nur nicht Feigling, Pazifist und Antiitaliener zu sein. Eine größere Flotte und ein größeres Heer; ein Volk, das stolz darauf ist, italienisch zu sein, für den Krieg, diese einzige Hygiene der Welt, und für ein großes Italien mit intensiver Landwirtschaft, Industrie und Handel.«50

nel mare misterioso dei fenomeni.« (Gino Severini: »Le analogie del Dinamismo. Manifesto Futurista«, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 77; deutsche Übersetzung in: »Die bildnerischen Analogien des Dynamismus«, in: Harten 1974, ohne Seite. 49 F.T.M. Marinetti, U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo: »Politisches Programm des Futurismus«, 11. Oktober 1913, in: Harten 1974, ohne Seite. 50 Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee In diesem politischen Programm, bei dem Marinetti wahrscheinlich federführend war, nimmt der futuristische Nationalismus beängstigende Züge an. Hier wird deutlich, daß Marinetti von einer Gebietserweiterung Italiens träumt, die nur durch Krieg zu erreichen ist. Kunst spielt dabei eine wichtige mediatorische Rolle, weil nur sie in der Lage ist, dieses Ziel visuell zu veranschaulichen. Wer wie Severini Kanonenrohre als Symbol für die Französische Revolution darstellt, ist theoretisch auch in der Lage, Kriegspropaganda für sein eigenes Land zu betreiben. Ändern muß sich nur noch die zugrunde liegende politische Haltung, in der Marinetti Severini vielleicht zu beeinflussen hoffte. Seltsam wirkt in diesem und in späteren Bildern Severinis, daß er seinen Motiven die bedrohliche Komponente nimmt, indem er die dargestellten Inhalte wie Waffen und Panzer durch abgerundete Formen und bunte Farben abmildert und verniedlicht, so als ob es sich um ein harmloses Kinderspiel handeln würde. Dieses Phänomen ist auch bei den anderen futuristischen Malern zu beobachten. In einem Wandteppich von Fortunato Depero (Abb.138), der im Museum für Moderne Kunst in Rom zu sehen ist, denkt man beim ersten Blick aus der Ferne, er habe ein lustiges Fußballspiel oder ein frohes Volksfest dargestellt. Erst bei näherer Betrachtung bemerkt man, daß man kein lustiges Fußballspiel, sondern einen Kriegsschauplatz vor sich hat.

DYNAMISCHES HIEROGLYPH VOM BAL TABARIN Das Bild Dynamisches Hieroglyph von Bal Tabarin (Abb. 113) von 1912 ist nur als Reproduktion im Abbildungsteil des Katalogs zu sehen. Es war höchstwahrscheinlich nicht ausgestellt, da es nicht in der Werkliste aufgeführt ist. Diese Arbeit Severinis entstand in Pienza, wo er den Sommer zusammen mit seinen Eltern verbrachte.51 Es ist sehr bedauernswert, daß diese Arbeit mit den Maßen 161,6 x 156,2 cm nur im Abbildungsteil des Katalogs zu sehen war, weil so die höchst artifiziell ausgearbeitete Kleinteiligkeit des Bildes durch die Kleinheit des Katalogformats verschluckt wird. Das Gemälde ist als Fortsetzung des Pan Pan a Monico zu sehen, das an anderer Stelle schon besprochen worden ist. Das Thema ist wieder einmal das Pariser Nachtleben im ›Bal Tabarin‹. Das 1904 eröffnete Nachtlokal war mit einer kleinen Bühne, einem Zuschauerraum und einer Tanzfläche ausgestattet. In ihm wurden abendliche Aufführungen der verschiedensten Genres dargeboten: Tanzdarbietungen, kleine Operetten, Gesang, Varieté. Anders als im Theater oder Konzertsaal durften die Zuschauer während der Darbietungen rauchen und trinken. Der Tabarin, auf den Severini in diesem Bild verweist, war der erste, der internationalen Ruf erlangte und dessen Name später zum Synonym für Lokale mit ähnlichem Konzept wurde. Severini zeigt die Tanzbühne des Bal Tabarin, auf der zwei Tänzerinnen verschiedene Tänze darbieten, wahrscheinlich, wie die eingeschriebenen Worte nahelegen, »Valse« (Walzer) und Polka. Die Tänzerinnen tragen weite Gewänder in Weiß und Lila, die sich ver51 Vgl. Severini 1965, S. 131.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) mischen und den Hauptteil der Leinwand ausfüllen. Ihre Vermischung resultiert aus der Fragmentierung in unzählige Facetten, womit Severini die diffizile Rhythmik des Tanzes vermitteln möchte. Unter den Gewändern stechen zwei Füße in hochhackigen Schuhen hervor, die sich in tänzerischer Bewegung befinden und eine Vorstellung davon vermitteln, wie die Damen während des Tanzes die Rhythmik der Musik durch das Klappern ihrer Absätze begleiten und verstärken. Das Gesicht der Tänzerin im lila Gewand ist in drei Facetten zerlegt. Ihr Gesichtausdruck wirkt so, als wäre sie mit der Musik eine mentale Symbiose eingegangen. Das Ambiente, in dem die Tänze aufgeführt werden, erscheint ausgesprochen karnevalesk: die Wände sind mit zahlreichen Flaggengirlanden verziert, oberhalb der Frauenköpfe reitet eine kleine nackte Frau auf einer Schere, ein ebenso kleiner Mann zu Pferd erdolcht ein viel größeres rotes Michelin-Figürchen. Neben den Frauen sind Personen zu sehen, die womöglich zum Personal des Bal Tabarin gehören und an der Aufführung beteiligt sind ï ein Mann im roten Anzug und neben ihm einige flüchtig skizzierte Gesichter. Der untere Bereich der Darstellung ist der Darstellung des Publikums gewidmet: links die Platte eines runden Bistro-Tischchens, auf dem ein Sektkelch steht. Rechts ein Mann in Anzug mit Hut und Fliege, der im Gesicht einen Schnurrbart trägt und Ähnlichkeit mit Marinetti zu haben scheint.52 Darunter ein weiterer Mann mit Strohhut, wahrscheinlich Severini selbst, der sich häufig mit Strohhut abbildete, seinem Symbol, seinem ›Markenzeichen‹.53 Das Bild wird in seiner Kleinteiligkeit durch Vertikallinien geordnet, die aber niemals den gesamten Bildraum durchziehen, sondern immer nur partiell. Nach seiner Hochzeit rückt Severini davon ab, das Pariser Nacht- und Straßenleben so darzustellen, wie es hier noch zu sehen ist. Dies kann ganz einfach damit in Zusammenhang gebracht werden, daß er aufgrund seiner Ehe etwas zur Ruhe gekommen ist und nicht mehr so viel ausgeht. Vielleicht ist es seiner Frau auch nicht recht, daß er weiterhin diese attraktiven Damen der Halbwelt darstellt. Das Bild ist als Fortsetzung von Pan Pan à Monico zu sehen. Während im Pan Pan die einzelnen Mosaikelemente, aus denen es zusammengesetzt ist, ganz klar voneinander abgegrenzt sind, werden hier die verschiedenen Facettierungen miteinander verschmolzen. Damit wird die Darstellung dynamischer und der Eindruck des Bewegungsflusses verstärkt. Durch diese Darstellungsweise kann man sich auch besser vorstellen, wie die Gewänder der Frauen beim Tanzen hin- und herschwingen. Severinis Art, Bewegung darzustellen, nannte ich an anderer Stelle ›ekstatischen Dynamismus‹, weil sich Severini vorwiegend der Dynamik des Tanzes widmete und sich darum bemühte, für dieses Thema die adäquaten Ausdrucksmittel zu finden. Dadurch, daß alle Elemente des Bildes in einem dynamischen Zusammenhang stehen, der durch den Verzicht auf eine klare Konturierung verstärkt wird, wird auch das ekstatische Moment seiner Darstellung verstärkt. Die bereits besprochenen Bilder von Severini sind für sein gesamtes Schaffen im Jahr 1913 nicht reprä-

52 Vgl. Fonti 1988, S. 128. 53 Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee sentativ, da er sich auch in diesem Jahr auf die Darstellung des Tanzes konzentrierte, dabei aber immer abstrakter wurde, und zwar so weit, daß man ohne Kenntnis des Titels nicht mehr verstehen kann, worum es eigentlich geht. Man könnte aber weiterhin sagen, daß er auch nach der Ausstellung von 1912 seine Linie beibehält. Ein Qualitätskriterium seiner Malerei in dieser Zeit ist die Wiedererkennbarkeit, was bei den Futuristen nicht gerade eine Selbstverständlichkeit ist, wie in dieser Arbeit an den Bildern Carràs und Russolos vielfach gezeigt wurde. Severini vermochte es, neben den dominanten Positionen der Kubisten auf der einen Seite und denen einiger Futuristen wie Boccioni und Balla auf der anderen, seine Eigenheiten zu bewahren und weiter zu kultivieren.

Ardengo Soffici Der bis dahin vornehmlich als Kunstkritiker, Lyriker und Übersetzer hervorgetretene Ardengo Soffici ist auf dieser Ausstellung mit drei Arbeiten vertreten. Eines davon ï Auflösung der Flächen einer Lampe ï ist nicht mehr klar identifizierbar. Zu diesem im Katalog des Herbstsalons aufgeführten Titel gibt es in den gängigen Werkverzeichnissen keine genaue Entsprechung, weshalb auf die Besprechung im Folgenden verzichtet wird. Über den Künstler Soffici schreibt sein Kollege Carrà in einem biographischen Abriß, daß er sich schon seit seinem achten Lebensjahr der Malerei gewidmet habe.54 Nachweislich betrieb Soffici nach seinem neunzehnten Lebensjahr in Florenz Malstudien an der Accademia di Belle Arti und der Scuola Libera di Nudo. Kurz nach der Jahrhundertwende ging er mit Freunden nach Paris, wo er unter anderem im Salon des Indépendants ausstellte und als Xylograph für französische Zeitschriften wie Plume und Revue Blande tätig war. Er verkehrte in den Kreisen der sog. ›Avantgarde‹ und trat mit Picasso, Apollinaire und vielen anderen in persönlichen Kontakt. 1907 kehrte er nach Italien zurück, wo er sich maßgeblich an der Gestaltung und Herausgabe der Zeitschrift La Voce beteiligte.

MALERISCHE SYNTHESE DER STADT PRATO (SINTESI DELLA CITTÀ DI PRATO) Das erste der drei in Berlin aussgestellten Bilder ist die Malerische Synthese der Stadt Prato (Sintesi della città di Prato) (Abb. 114) aus dem Jahr 1912. Zu der toskanischen Stadt Prato hatte Soffici einen besonderen Bezug, weil er dort als Jugendlicher eine Zeit lang gewohnt hatte. Prato war und ist ein kleines Zentrum des Stoffhandels und der Textilweberei. Städtebaulich dominiert jedoch nicht wie in Mailand oder Turin die moderne Industriearchitektur, sondern wertvolle historische Bausubstanz wie der zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert entstandene Dom mit Werken des berühmten italienischen Bildhauers Donatello und ein aus dem 13. Jahrhundert stammendes Kastell Kaiser Friedrichs II. In diesem Sinne hat Soffici seine Stadt Prato auch dargestellt: als fast prototypisches, al54 Vgl. Soffici 1913 (Reprint 1970), S. 266.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) tertümlich-verwinkeltes toskanisches Städtchen auf einem Berghang. Die Darstellung ist von extrem zurückgenommener Farbigkeit, die sich auf sanfte Braun-, Grau- und Ockertöne beschränkt – ein Farbklang, den Soffici wohl von den Kubisten übernommen hat. Trotz dieser bewußt reduzierten Farbgebung erhält das Bild durch seinen Formenreichtum eine immense ›Buntheit‹: Rundbögen, Palmen, Treppenfragmente, Mauern, Brüstungen, Türme, Spitz- und Kuppeldächer und vieles mehr. Dieser Formenreichtum hat jedoch ›System‹, indem er sich in eine klare Schachtelstruktur einfügt. Im mittleren Bereich dominiert mit leichter Versetzung nach links eine vertikale Liniengebung, die zu den Bildrändern hin von Rundbögen und schrägen Flächen eingerahmt wird. Der Gesamteindruck ist bei aller formalen Vielfalt ausgesprochen statisch, was dadurch verstärkt wird, daß kein Mensch, kein Tier, kein Gefährt auf den Straßen zu sehen ist. Es liegt eine tiefe Ruhe über der Stadt, eine italienische tranquillezza, die sofort an mezzogiorno, an Mittagsruhe, denken läßt. Soffici hat diese Darstellung der Stadt Prato offenbar mit dem liebevoll-subjektiven Blick seiner Jugenderinnerung, ›mit dem Herzen‹ gemalt, was ihm bei aller formalen Stringenz etwas sehr Eindringliches verleiht. Das unterscheidet es von dem anderen ausgestellten Bild.

AUFLÖSUNG EINER ZUCKERDOSE UND EINER FLASCHE, 1913 (SCOMPOSIZIONE DI PIANI DI ZUCCHIERA E BOTTIGLIA) Dargestellt ist ein Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen (Abb. 115). Einer davon ist schräg vom Tisch abgerückt, der andere steht frontal vor dem Betrachter. Von der Tischkante scheinen die Zuckerstücke, die vermutlich zu der im Titel erwähnten Zuckerdose gehören, herabzufallen. Die Flasche ist nur durch einige Kreisformen repräsentiert, die ihren Boden darstellen. Die Darstellung ist von zurückgenommener grauer Farbigkeit. Die Formelemente heben sich davon durch ihre schwarze Konturierung deutlich ab. Sie sind mit den Farben Weiß und Grün herausmodelliert. An diesem Bild wird deutlich, warum Soffici als Maler nicht bekannter geworden ist. Seine Aussage, durch den Impressionismus, Kubismus und die Malerei Cézannes beeinflußt zu sein, wie er in einem Artikel des ›Sturm‹ schreibt,55 bedeutet noch nicht, daß die Bildkonzepte dieser Bewegungen auch sinnvoll angewendet sind. Während in dem ersten besprochenen Gemälde nicht nur die oben genannten Einflüsse in Erscheinung treten, sondern auch seine persönliche Leidenschaft für diese Stadt, wirkt das letztere wie eine Studie über beliebige Alltagsgegenstände. Das Bild der Stadt Prato ist im Oeuvre Sofficis eine Ausnahmerscheinung. Die anderen Arbeiten scheinen den von ihm genannten Einflüssen nicht immer ganz gerecht zu werden. In der Decorazione di Bulciano (3) zum Beispiel stellt er Frauenkörper dar, die ganz in der Art des Bildes Les Demoiselles d’Avignon von Picasso gehalten sind. Doch scheint er selbst durch die Titelgebung anzudeuten, daß er nicht mehr als einen ›dekorativen‹ Anspruch erhebt. Deshalb irritiert es, wenn Sof55 Ebd.

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Futuristen auf Europa-Tournee fici in einem Brief an Carrà schreibt, wie schön er es finde, daß Carrà ihn vor allem als Maler begreife.56 »Schön deshalb, weil ich, wie Du weißt, mein Leben hauptsächlich mit dem Schreiben verdiene, und es mir vielleicht nicht gelingen wird, mich von diesem Metier zu befreien, um mich gänzlich dem anderen, das meine Wahrheit ist, zu widmen, das die wahre Passion meiner Seele ist! Ironie des Schicksals!«57 Andererseits zitiert der kritische italienische Philosoph und Antifaschist Benedetto Croce einen kunstbewanderten Zeitzeugen, der den Maler Soffici als »Null unter den Nullen der Futuristen« bezeichnet habe. Damit seien seine eigenen Zweifel an der »künstlerischen Inkompetenz« Sofficis bestätigt worden, zu seinem großen Bedauern, da ihm das literarische Werk Sofficis wegen seiner Ehrlichkeit und Originalität immer sehr gefallen habe.58 Diese Einschätzung erscheint weitaus realistischer als die von Soffici selbst. Man hat den Eindruck, daß Soffici sich in seinen Bildern von seiner Tätigkeit als Kunstkritiker nicht zu lösen vermag. Zunächst rekapituliert er die Gesetze und Ideale der von ihm favorisierten Kunstrichtungen. Dies wiederholt sich in dem bereits erwähnten Artikel,59 in dem er, obwohl er über seine eigenen Arbeiten sprechen möchte, nur die Geschichte des Impressionismus und Kubismus stark verkürzt wiedergibt. Gegen Ende des Artikels fragt man sich, warum er sich als »Kubisten« bezeichnet – er ist doch der Bewegung des Futurismus beigetreten. In den Zeitungsartikeln zum Herbstsalon wird eher die gesamte Ausstellung besprochen als einzelne Künstler, Kunstrichtungen und -gruppen, die nur kurze Erwähnung finden.60 In der Presse überwiegt die Tendenz, sich über das ganze Projekt des Herbstsalons und auch über die Futuristen mit verständnislosem Amüsement zu äußern. Für die Futuristen selbst dagegen war ihre Teilnahme an dieser Ausstellung eminent wichtig, weil sie, wie bereits zu Anfang erwähnt wurde, nun als Mitglieder einer avantgardistischen Kunstrichtung gelten. Die Ausstellung ihrer Bilder zeigt auch die Weiterentwicklung der futuristischen Malerei und des Futurismus selbst. Zunächst stellt seit 1913 auch Balla seine Gemälde zusammen mit denen der anderen Futuristen aus. Damit bringt er seinen eigenen Ansatz ein, Bewegung darzustellen, der jenem von Boccioni diametral entgegengesetzt ist. Die anderen Futuristen schwanken zwischen diesen beiden dominanten Positionen. Von nun an wird Balla immer mehr an Bedeutung gewinnen. Die neuen Anhänger des Futurismus werden ihn aufsuchen, weil sein ästhetisches Konzept eingängiger ist als das von Boccioni. Er wird sich unter dem Eindruck der Geschoßfotografie von Ernst Mach und Jo-

56 Carrà 1922, S. 111. 57 Ebd. 58 Brief an G. Prezzolini aus Neapel vom 28. März 1913, in: Prezzolini 1960, S. 511. 59 Vgl. Carrà 1922. 60 Vgl. hierzu den bereits in zitierte Artikel aus der Vossischen Zeitung und noch folgende, die ich in der Staatsbibliothek zu Berlin finden konnte: herbst=sturm, 1913. - Der Herbstsalon, 1913.

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Erster Deutscher Herbstsalon (1913) sef Maria Salcher den Automobilbildern widmen,61 in denen es darum geht, nicht mehr Bewegung, sondern Geschwindigkeit darzustellen. Damit liegt er stärker auf der Linie Marinettis, der schon im Gründungsmanifest sagte, daß ein Rennwagen schöner als die Nike von Samothrake sei, der in später entstandenen Texten wie La nuova religione di velocità (Die neue Religion der Geschwindigkeit) von 1916 nicht müde wird, der Geschwindigkeit zu huldigen und dabei das Auto mit einem Geschoß gleichsetzt. »Der Rausch der hohen Geschwindigkeit im Autombil ist nichts anderes als die Freude, sich mit der einzigen Göttlichkeit vereinigt zu fühlen. (…) Die Schlachtfelder, Maschinengewehre, Gewehre, Kanonen und Projektile sind göttlich. (…) Die Explosionsmotoren und die Reifen eines Automobils. (…) Religiöse Ekstase der 100-PS-Motoren. Die Freude beim Schalten von der dritten in die vierte Geschwindigkeit. Die Freude, wenn man auf das Gas tritt, rasselndes Pedal musikalischer Geschwindigkeit. (...) Der Heroismus ist eine Geschwindigkeit (…). Der Patriotismus ist die zielgerichtete Geschwindigkeit einer Nation. (…) der Krieg ist die notwendige Prüfung für ein Heer, der zentrale Motor einer Nation...Eine große Geschwindigkeit ist eine artifizielle Reproduktion der analogischen Intuition des Künstlers. Drahtlose Allgegenwart der Einbildungskraft = Geschwindigkeit. Schöpferisches Genie = Geschwindigkeit.« 62

Durch diese Textstelle wird deutlich, was es bedeutet, wenn Balla auf der Basis der Geschoßfotografie die Geschwindigkeit des Automobils darstellt. Dem heutigen Betrachter kann der kriegspropagandistische Aspekt der Autobilder Ballas entgehen, sofern er nicht weiß, daß um 1913 das Automobil mit einem Geschoß identifiziert wurde. Balla bedient mit seinen Auto-Bildern Marinettis futuristische Ideologie und verdrängt somit Boccioni, der Ballas ästhetischem Konzept nichts entgegensetzen kann. Während zu Anfang der futuristischen Malerei Politik und Kunst voneinander getrennt waren, wird von Marinetti nun explizit eine kriegspropagandistische Kunst gefordert. In einem Brief an Severini von 20. November 1914 schreibt er, daß Italien gegen Österreich in den Krieg eintreten werde. Er könne

61 Vgl. Schröder 1984, S. 36-59. 62 »L’ebbrezza delle grandi velocità in automobile non è che la gioia di sentirsi fusi con l’unica divinità. (…). I campi di battaglia. Le mitragliatrici, i fucili, i cannoni, i proiettili sono divini(…). I motori a scoppio e I pneumatici d’un automobile sono divini.(...) Estasi religiiosa che espirano le centovalli. Gioia di passare dalla 3a alla 4a velocità. Gioia di premere l’accelatore, pedale russante della musicale velocità(...) L’eroismo e una velocità. (...) Il patriottismo è la velocità diretta d’una nazione; la guerra è il collaudo necessario di un esercito, motore centrale di una nazione. (...) Una grande velocità è una riproduzione artificiale dell’intuizione analogica dell’artista. Onnipresenza dell’immafinazione senza fili = velocità. Genio creatore = velocità.« (F.T. Marinetti, »La nuova religione-morale della velocità«, in: Gambillo/Fiori 1958, S. 53f.; deutsche Übersetzung in: Schmidt-Bergmann, 2009, S. 205f.

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Futuristen auf Europa-Tournee seinerseits nicht untätig sein und werde ständig an Demonstrationen gegen Österreich teilnehmen. Aber auch dies würde ihm nicht ausreichen, deswegen sei es notwendig, die künstlerische Arbeit wieder aufzunehmen. Boccioni und Carrà würden unaufhörlich arbeiten und auf die Stunde des Kampfes warten. In der Zwischenzeit seien sie zu diesen Schlußfolgerungen gekommen: 1. Dieser Krieg werde nach und nach die ganze Welt überrollen. 2. Die Welt werde mindestens zehn Jahre im Krieg verharren, das bedeute, in einem aggressiven, dynamischen, futuristischen Zustand. Deswegen sei es notwendig, daß der Futurismus in dieser futuristischen Stunde zum plastischen Ausdruck werde. Marinetti möchte von einem weit gespannten Ausdruck sprechen, der sich nicht nur auf wenige Verständige begrenzt; von einem Ausdruck, der so stark und synthetisch sein soll, daß er die Vorstellung und das Auge von beinahe allen intelligenten Lesern trifft. Er sehe darin nicht eine Prostitution des plastischen Dynamismus; aber er glaube, daß der große Krieg, der so intensiv von den futuristischen Malern gesehen werde, in ihrer Sensibilität wahre Zuckungen auslöse, die sie zu einer brutalen Vereinfachung sehr klarer Linien treiben würden, mit dem Ziel, die Leser anzufeuern und aufzuheizen, so wie der Krieg die Kämpfer anfeuere und aufheize. Vielleicht werde es Bilder oder Skizzen geben, die etwas weniger abstrakt seien, ein bißchen zu realistisch und in gewisser Weise eine Art des fortgeschrittenen Postimpressionismus. Vielleicht auch, das hoffe er, werde man zu einem neuen kriegerischen plastischen Dynamismus gelangen. Boccioni und Carrà seien seiner Meinung und sie glaubten, daß dieser Krieg der Kunst immense ästhetische Möglichkeiten eröffne. »Wir fordern Dich also auf, Dich malerisch für den Krieg und für seinen Widerhall in Paris zu interessieren. Versuche, malerisch den Krieg zu leben, in all seinen wunderbaren mechanischen Formen (militärische Züge, Befestigungsanlagen, Verwundete, Krankenwagen, Krankenhäuser, Züge). Du hast das Glück, Dich jetzt in Paris zu befinden. Ziehe in vollkommener Weise Nutzen aus dieser Lage, gebe Dich der enormen antiteutonischen militärischen Emotion hin, die ganz Frankreich bewegt.«63 Auf diese Aufforderung folgten zahlreiche kriegspropagandistische Bilder wie Severinis Panzerzug in Aktion aus dem Jahr 1915. Man muß davon ausgehen, daß Marinetti die futuristischen Maler Italiens zwar nicht schriftlich, aber doch mündlich dazu aufrief, sich vom ›l'art pour l'art‹ zu verabschieden. Ironischerweise gewinnt Carlo Carrà, der in der Zeit zuvor niemals zu einer eigenen profilierten Position gefunden hat, in der Ausführung dieses Auftrags seine beängstigende Stärke, wie in dem Bild Manifestazione interventista, das zu Demonstationen für den Kriegseintritt mobilisieren soll. Ansonsten ist durch das Zusammenlegen von Kunst und Politik seit 1914 die große Phase der futuristischen Malerei vorbei, von der ihre Ausstellung auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon eine letzte Vorstellung vermittelt hatte.

63 Gambillo/Fiori 1958, S. 350f.; deutsche Übersetzung in Harten 1974, ohne Seite.

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SCHLUSSWORT Die Analyse der Vorgeschichte futuristischer Malerei ergab, daß die wichtigsten Protagonisten dieser Gruppe schon lange bevor der ›Futurismus‹ gegründet wurde, in intensiven persönlichen und künstlerischen Beziehungen zueinander standen. Boccioni, Severini und Balla waren seit Jahren miteinander bekannt und standen aufgrund der Parallelitäten und Polaritäten ihrer jeweiligen Biografien in regem Diskurs miteinander, wie viele wenig bekannte Briefe aus dieser Zeit belegen. Diese Briefe geben Einblick in ihre Persönlichkeiten und ästhetischen Überzeugungen. Alle futuristischen Maler ï mit Ausnahme Luigi Russolos ï stammten aus proletarischen Verhältnissen, alle fühlten sich dazu berufen, die moderne Kunst Italiens zu erneuern, ein Vorhaben, das mit der Gründung des Futurismus konkret wurde. Zahlreiche Beispiele aus dem 1909 entstandenen Bildschaffen der futuristischen Maler markieren einen deutlichen Paradigmenwechsel gegenüber den erst kurz zuvor entstandenen Bildern, so daß vieles dafür spricht, das Gründungsdatum der futuristischen Malerei aus dem Jahr 1910 in das Jahr 1909 vorzuverlegen. Die ›Mostra d’arte libera‹ war die erste Ausstellung, an der auch die futuristischen Maler als Gruppierung teilnehmen konnten. Hier hatten sie die Möglichkeit, erste Konzepte zu erproben und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Kritik ï sowohl aus der Presse als auch aus den eigenen Reihen ï ergab, daß sich die in Italien beheimateten Futuristen nicht ausreichend mit dem Kubismus, einer Kunstrichtung, die von vielen Zeitgenossen als führend erachtet wurde, auseinandergesetzt hatten. Nach einem intensiven Studienaufenthalt der Gruppe in Paris wurden in wenigen Monaten einige der bereits vorhandenen Arbeiten überarbeitet und viele weitere neu hinzugefügt. Es entstand eine 35 Arbeiten umfassende Bilderserie, die als Wanderausstellung durch ganz Europa geschickt wurde. In Paris fühlten sich die Kubisten, allen voran ihr prominentester Verfechter Guillaume Apollinaire, von den Futuristen provoziert, weil sie behaupteten, sich mit ihrer Kunst an die Spitze der europäischen Avantgarden setzen zu wollen. Jedoch konnten sie immerhin die Dichterin Valentine de Saint-Point für sich begeistern, die als einzige Frau mit zwei Manifesten dem Futurismus beitrat. Auch Ardengo Soffici, der zuvor ein starker Kritiker des Futurismus war, konnte erste Sympathien für die Futuristen und ihr Unterfangen, die moderne Kunst Italiens erneuern zu wollen, entwickeln. An ihrer zweiten Station in London trafen die Futuristen auf eine sehr konservative Kunstauffassung, die sie in etwas anderer Weise aus ihrem eigenem Land schon gewöhnt waren. In London

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Futuristen auf Europa-Tournee gab es nicht eine so avancierte und elitäre Kunstkritik wie in Paris, die sich hauptsächlich mit immanent künstlerischen Fragen befaßte. Statt dessen konzentrierten sich die Kritiker in London vornehmlich auf die bußerungen der Futuristen in ihren Manifesten, die mit Argwohn, Empörung und Ironie aufgenommen wurden. Allerdings motivierte die Ausstellung die Gründung des ›Vortizismus‹, der ersten avantgardistischen Kunstrichtung Englands. Die Begleitumstände in Berlin, der dritten Station der Wanderausstellung, wirkten auf die Futuristen insgesamt unbefriedigend: kalter Winter, ungünstige Ausstellungsräumlichkeiten, zwiespältige Presseresonanz. Trotzdem war diese Ausstellung im Nachhinein der größte Erfolg, weil die futuristischen Maler viele der deutschen Künstler und Schriftsteller für sich begeistern konnten: dazu zählen Franz Marc, Alfred Döblin, Paul Klee, Herwarth Walden und viele andere. Nur Wassily Kandinsky stand der futuristischen Kunst kritisch gegenüber. Die futuristischen Maler konnten sogar einen Bankier namens Dr. Borchardt als Käufer ihrer Bilder für sich gewinnnen, auch wenn dieses Geschäft sich später als enttäuschend erweisen sollte. Zu einer zweiten Wanderausstellung diesen Umfangs fehlten den Futuristen und vor allem Marinetti wahrscheinlich die Energie und das Geld. Es gab zwar eine weitere Bilderserie, doch war sie nur auf zwei Stationen zu sehen. Bedeutender dagegen war ihre Präsenz auf dem ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ im Jahr 1913, wo die Futuristen neben zahlreichen weiteren avantgardistischen Kunstrichtungen ihre Arbeiten zeigen konnten. Nach dem ›Ersten deutschen Herbstsalon‹ engagierten sich die futuristischen Maler politisch für den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg. Damit nahmen sie vom Prinzip des ›l’art pour l’art‹ Abstand, das sie zuvor noch für ihre Kunst geltend gemacht hatten: nicht der Bildgegenstand, sondern die Art seiner Darstellung ist ›futuristisch‹. Dieses Prinzip wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs aufgegeben. Der Bildgegenstand hatte kriegspropagandistisch zu sein und wurde damit als solcher wieder bedeutungsvoll. Um für die breiten Massen verständlich zu sein, mußte er möglichst wenig abstrakt dargestellt werden. So schufen die futuristischen Maler kurz vor dem Ende der ersten Phase futuristischer Malerei eine Kunst, von der sie sich anfangs selbst distanziert hatten. Wenn die Futuristen mit den Augen von 1909 die Entwicklung ihrer Malerei gesehen hätten, hätten sie vielleicht gesagt, daß sie zunächst eine ›fortschrittliche‹ Kunst‹ erzeugen wollten, wogegen sie gegen Ende der ersten Phase scheinbar immer ›rückschrittlicher‹ wurden – obwohl man einwenden könnte, daß es so etwas wie ›Fortschritt‹ oder ›Rückschritt‹ in der Kunst nicht gibt. Diese Entwicklung barg aber auch neue Möglichkeiten: Carlo Carrà, der im Krieg den Maler Giorgio de Chirico kennengelernt und mit ihm die ›pittura metafisica‹ begründet hatte, setzte sich mit der Kunst Giottos auseinander1 und versuchte unter dem Zeichen einer radikalen Reduktion in seiner Malerei eine neue Einfachheit zu finden. Dies wäre im Rahmen

1

Im Jahr 1916 erschien der Artikel »Parlata su giotto« in »La Voce«. Carlo Carrà: »Parlata su Giotto«, in: Arco 1987, S. 117-127.

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Schlußwort eines rein evolutionistischen Fort- oder Rückschrittdenkens eventuell nicht möglich gewesen. Severini dagegen trieb nicht seine eigenen Innovationen voran, sondern führte den synthetischen Kubismus weiter fort oder widmete sich der Darstellung und der Verherrlichung der Mutterschaft. Dieser Prozeß der Traditionalisierung vollzog sich über Jahrzehnte hinweg auch bei Giacomo Balla, der zur Zeit des faschistischen Regimes veristische Bilder von Frauen mit italienischer Flagge malte. So wird am Ende der Titel der Bewegung, mit dem diese Maler berühmt geworden sind, auch ihr Schicksal: die Ultramodernen modern.... Dennoch haben es die Künstler aus ehemals subproletarischen Schichten geschafft, den Futurismus weltweit bekannt zu machen ï bis heute. Für Umberto Boccioni wäre also, wenn er nur lange genug gelebt hätte, ein Traum in Erfüllung gegangen. Als Severini gemeinsam mit seiner Ehefrau das Grab des Kollegen in Verona besuchte, soll er ï so die Ehefrau später in einem Interview ï ausgerufen haben: »Abiamo vinto! Il Futurismo è conosciuto in tutto il mondo.«2

2

Sotis 1987, S. 5-13, hier S. 7.

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ANHANG

Briefe GIACOMO BALLA – VITTORE GRUBICY, PARIS, 19001 Egregio Signore, scusi la mia indiscrezione di scriverle senza conoscerla e il mio scritto poco letterario. Mi son preso questo permesso perché devo pure ringraziarla del quadro (I Fanali) che Ella con bene mi è esposto. Grazie di vero cuore. Ora vorrei pregarla di scrivermi se il quadro, passato in questa linea dei rifiutati, si potrà esporre a Venezia, altrimenti Le farò avere l’indirizzo per spedirlo a Torino da un mio amico pittore. Fra qualche tempo lascierò Parigi perché pure qui per vivere bisogna far di liscio con simpatia e far pittura su scatole da profumiere o quadri a soggetto, la vera arte è capita molto meno che in l’Italia e se ne fa pure piu poca. Artisti e pubblico passano davanti alle opere dell’ immenso Segantini indifferentemente ridendo e criticando ï disgraziamente il loro occhio vede solamente il passato. Nella stessa sala del grande artista stanno esposte delle teste modellate da un certo Rosso, ma esspresse con tanto sentimento e con tanta poesia, e sopratutto con un occhio con intellettuale del interpretare la forma ambientata dal colore che veramente colpisce e sorprende, ebbene nel vedere il mio entusiasmo davanti a queste buone qualità molti mi guardano con meraviglia altri mi danno il matto. Non parliamo d’esecuzioni melodiche a suggestione semplicemente non ci credano, mentre oramai è una cosa vecchia che l’artista quando contempla nella Natura un sentimento che fa parte di Lui e gli è data tanta fortuna per lungo esercizio d’occhio e teorie percettive, di vedere in un pezzo solo l’assieme del... quadro, puo con forte ripetuta concentrazione sostanziarsi di quello che vede e trasmettersi sulla tela senza essere davanti al vero e con tale facilità e rapidità di mezzi da farsene meraviglia quando esaurita la suggestione ne osserva il risultato. Il mio quadro fatto sopra una tela antica tutta sciupata e con colori da pochi soldi che (...)2sarà in questi mezzi materiali poco onesto ma le mie povere tasche non permettono di più. Ridotto cosi a minimi termini perché con l’arte vera ho mai fatto un un soldo e rifiuti a 1 2

Brief aus dem Nachlaß Grubicy, im MART, Archivio del ’900. Nicht lesbar

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Futuristen auf Europa-Tournee quantità, ma a queste cose non ci tengo perché certo che l’opera mia intellettualmente è Vergine e coscienzosa, e mi da forza nella lotta artistica. Abbia allora la gentilezza per l’affare del quadro di scrivermi a: (Roma-Via Piemonte 119) Sig. Giacomo Balla Fra qualche giorno lascierò Parigi Giacomo Balla

BOCCIONI – SEVERINI, ROM 2. SEPTEMBER 19023 Egregio Signor Severini, Lei mi perdonerà certamente se oso scrivere sul di dietro della sua Francesca da Rimini4 ma me lo suggerisce un senso di economia che lei ben capirà. Essendo grande la mia affezione per Lei e non bastando al mio cuore una semplice cartolina, avrei dovuto in caso contrario a questo, spendere dei denari per farle pervenire la Francesca come manoscritto raccomandato e poi per una lettera ove le avrei detto quel che ora le dico. Capirà che questa spesa eccezionale mi avrebbe addirittura rovinato. Perdonerà caro Signor Severini se scrivo male ma il sole tramonta (come gridano i falchi ...) e devo dare gli ultimi tocchi al magico bianco e nero del lungotevere e che salterà fuori un aborto come tutti gli altri miei figli che lei ben conosce ï Caro Signor Severini le do questa consolante notizia: A Roma, nelle altre città d’Italia e all’Estero, si tengono pubblici comizi per ottenere di gettare, a Roma nel Tevere, le altre città, nei loro relativi fiumi, tutte le »madonne« esistenti nei musei e nelle chiese, perché è universale la convinzione che la »madonna« che si sta manipolando ora in Pitigliano (provincia di Grosseto) eclisserà al suo comparire tutte le altre da Cimabue in poi ï In quanto a me, le giuro sul roseo capo del mio fratellino più piccolo, che aspetto premendo e sospirando questa alta manifestazione dell’arte mistica contemporanea. Caro Signor Severini si mantenga pulito e sano e si ricordi qualche volta di colui che sogna sempre il languore di suoi occhi, lo splendore della sua capigliatura e tante altre cose (...)5 Salve! Umberto

BOCCIONI – SEVERINI, ROM 7.SEPTEMBER 19026 Caro Severini, Seccami di nuovo con te non per celiare ma per parlare di cose serie. Di quell’affare riguardo mio padre e me continua ugualmente. Dopo un’altra scenata non ci siamo più parlati per 8 giorni conse-

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Brief aus dem Nachlaß Severinis, im MART, Archivio del ’900. Eine mehrseitige Dichtung Severinis, die auf der Rückseite des Briefes zu lesen ist. Unleserliches Wort. Brief aus dem Nachlaß Severinis, im MART, Archivio del ’900.

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Anhang cutivi. Immagina tu che vita deliziosa ch’io conduco. Adesso siamo in pace di quella maledetta cosa non se ne parla. Era und mese peso anche meno scoppierà la bomba ... Ora io sono a pregarti di volermi rispondere subito dopo questa mia se ritorni a Roma solo, e se ritornando avresti intenzione di venire ad abitare con me come si sentò intesi prima che partisti. Con tua madre non dire quello che succede tra me e mio padre, perchè sarebbe inutile dille che verresti stare con noi due e che una donna ci farebbe die mangiare. Tutti mi dicono che in questo modo io potrei risolvere la questione molto vantaggiosamente per me, ed anche a me sembra non ti pare? Dunque quando tu mi risponderai di fare senza timore o senza soggezione se vuoi fare cosi, mettendo le condizioni che ti parranno giuste e non nominando nulla di quello che sai circa mio padre, perché in questo modo io posso fargliela leggere. Sarà bene anche che tu scriva in due fogli staccati cosi come questi della Francesca dove in uno mi parlerai esclusivamente Perdona se scrivo male ?!!! Textteile fehlen (...) della questione di cui t’ho üarlato sopra, e nell’altro delle nostre cose intime. Cosi potrò far leggere l’uno e mio padre e l’altro trattenermelo io. Riguardo a questo siamo intesi ï Beato te che fuori vivere tutto il giorno nella libera campagna. Io che prima vi potere stare tutta la mattina sono ora nell’impossibilità di farlo. Quel raffreddore che mi colse quando tu stavi qui, mi ha lasciato una tosse noiosissima e il medico mi ha ordinato di starmene 4 o 5 giorni a casa nell’assoluto riposo ï Ti immaginerai quanto mi secca questa inazione forzata adesso che sento per il paesaggio direi quasi una febbre. Non sogno che grandi tele e non penso che luminosi paesaggi, e invece le tele mancano, i colori mancono, la salute manca...sono nato proprio sotto una buona stella. Ho portato il mio paesaggio da Balla e gli piacque molto. Gli domandai perché diceva che i nostri lavori vanno sempre bene e lui mi rispose che non essendovi il vero da confrontare non può fare tutte quelle osservazioni che vi sarebbero da fare. Se dice bene! ... bene! ...avanti! ... avanti! ... lo fa perché vede il progresso nella scelta delle linee, nel colorito e nella tonalità generale. Questo mi convinse tanto più che mi ricordo che quando si tratta di bianco e nero, dove ... vi sono colori e la disposizione dei piani deve risultare giusta e si puo guidicarla anche senza il vero egli fa sempre delle osservazioni. Che ne dici? Non ti pare giusta la sua risposta. Mentre tornavo da Balla con il paesaggio incontrai quel giovane che stava agli Incurabili e andò al Museo artistico e che una sera andando da Balla lo incontrammo in via degli Artisti tenendo una discussione sulla utilità della prospettiva e poi Balla dava ragione a noi, ti ricordi? Ebbene questo grandissimo animale, volle veder il paesaggio e dopo avermelo criticato e guardato con un sorriso di ? per poco non mi disse che era una porcheria... E sai cosa disse? che il divisionismo è uno stile (nota la parola e giudica l’uomo) che non 213

Futuristen auf Europa-Tournee gli piace perché bisogna andar lontano per guardarlo!!!!... Che bestia! Andai per curiosità da un pittore sporcaccione ma che è cavagliere e decorata dell’? di Danilo 1. del Montenegro.7 Egli aveva detto a mio padre che andassi a vedere un ritratto della regina che stava facendo....Che roba! e dire che è il beniamino dell’aristocratia e delle signore del corpo diplomatico (..).8 Io credo che se un cagnolino si tingesse la lingua nella tavolozza e leccasse e lecasse un piatto porcellano dipingerebbe con piu slancio ï Non capisce niente. Il mio paesaggio non gli piacque e il bianco e nero del lungotevere che avevo con me lo entusiasmò al punto da farlo esclamare: Ecco in questo studio mettendo dei contadini che tornano dal lavoro se ne farebbe un quadro!!!Guidica come uscii da quello studio ... Scappai da Balla con la paura d’esser diventato cretino anche tante furono le bestialità ch’io udii in un quarto d’ora. Mosone ha cominciato il famoso vicolo a giorni andrò a verdelo. Egli sta educando il povero De Margheriti e lo convince al divisionismo ... Tempo perso! ... Scrivi presto. Saluta rispettosamente per me i tuoi genitori e da me ricevi una stretta di mano tuo Boccioni.

Zeitungsartikel EVENING NEWS, 2. MÄRZ 1912, S. 1 To-Night’s Gossip The Futurist movement has fallen as flat as a breathless pancake. In the past year or so a dozen copies of the famous Manifesto have fluttered down on my desk. I ought to know it by heart, although some meddling ass has been tempering with the rich Futurist spelling that lat up the earlier editions if it.Yes, the world has received it much as the young Victoria received those copies of the Watertoast Gazette which were mailed regularly to her Luxurious Location in the Tower of London. The Futurist Manifesto is as dead as the Pogrom Defiance, or that other Manifesto which Tooley-street once cast into measures of frenzy. »Come then,« announced the manifesto, »the good incandiaries with their charred fingers!ï ï ï Here they come! Here they come!« But all in war did the Futurist sister Anne cry that she saw them coming: the good inciandaries with the charred fingers were not coming: they are not yet in sight. They were, I remember, to set fire to the shelves of the libraries, to deviate the course of canals to flood the cellars of the museums, letting the glorious canvases drift helplessly. With pickaxes and hammers, they were to sap the foundation of the venerable city. Cutting themselves with knives, the young priests of Futurism besought the good incendaries to do these things. 7 8

Danilo von Montenegro, Kronprinz Danilo Alexander von Montenegro. 29.2.1871 Centje (Montenegro) – 24.9.1939 (Wien). Unleserliches Wort

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Anhang They have done none of these things. Fire policies are still issued at reasonable terms to public libraries. Since the Manifesto flushed out, vivid in word as the winking lights of an ambitious whisky advertisement, I have seen the navvies trenching the streets to the derangement of much traffic. But none of these transits has led the healing water of the Regent’s Canal into the British Museum, since cellars remain dry as a Gresham lecture. I have seen no Old Master of any importance drifting helplessly in the flood from Trafalgarsquare. As for the foundations of this venerable city, nothing in particular has happened to them: the Tube extension is not under Futurist patronage. Abroad, the Manifesto may have been more actively at work. Yet I hear of nothing more disturbing than a reckless distribution of Futurist handbills at Venice. As though Futurism were an emulgent cough remedy, and no bomb that must whelm an effete civilisation. And now the Futurists have begun in England what the Anarchist cousins of the Movement would call the Propaganda by Dead. They have begun ill; they have walked into the Sackville-street trap and the shutter has fallen. The simple Irishmen is more revolutionary than the Futurist. When the Morpheys sad O’Tooles rise up to tell us that there are a race of sweet poets, when they bid us observe that dullness is Saxon, that genius is Celtic, that the fairies dance nowhere but on the green slope of Macgillycuddy’s Reeks we English listen, deeply impressed. For your native irishman is very wise; he is careful to publish no samples of his verse. On this sure ground were the Futurists when they contented themselves with teaching us by manifesto that Futurism was the only motive for painting, that works of art could only be realised by painters in a simultaneous state of mind. They lay strong and secure behind their manifesto: nervous amateurs of yesterday’s post-impressionism were heard to murmur that there was probably something in this Futurist business. Then the Futurists took their false steps. While they were talking about pictures they were safe enough, they were gathering respect. And now they have allowed themselves to paint a few sample dozens of Futurist pictures and to hang them in a gallery. It is nothing less than deplorable. There were the bold Futurists, standing, as they assured us, upon the summit of the world, and casting their challenge to the stars. Here they are in Sackvillestreet, Piccadilly, W., weekly showing you their pictures at a shilling a head plus sixpence for an entirely delightful catalogue. In their Manifesto stage, I had much sympathy with the Futurists. They were rebels against the limitations which fetter us. When Sir Boyle Roche told Mr. Speaker, Sir, that »a man, unless he is a bird, cannot be in two places at once«, honorable members laughed foolishly at this statement of a limitation which should have fired them to revolt. Why, indeed, should the horse draw the cart, when life would be fuller if the cart could but draw the horse, violently and simultanously? Why should a man travelling from london towards Searborough be cut off from all hope of arriving at Brighton? Why should we not snatch the shuddering pleasure of running with the hase and mingle it with the fired joy of hunting with the hounds? Why, as the Fu215

Futuristen auf Europa-Tournee turists put it, should a painter, choosing some noble theme, such as journey by motor-omnibus, be fettered to paint the scene before him within the omnibus, when his soul yearns to add up into the canvas all that is going on behind him as well, not to speak of the emotions, of all the jolted leaseholders on the omnibus route, the indigestion of the diners at the corner restaurant, and his own interrupting recollection of a dancer with green lips and scarlet hair? Why not, indeed? So the Futurists jammed it all upon their canvases, and it came out like the most imagination linoleum, like the cut-paper work of a Colney Hatch kindergarten, like the most curious patchwork quilts you ever saw in all your days. The turned a gallery into an Alice’s tea-party of the arts; they have filled up the glasses with treacle and ink, they have sprinkled the table with buttons and bran; A middly amused public is drifting through the turnstile, and saying. Did you ever! But the foundations of the venerable city are still unsapped. They should have begun with bombs, or, failing bombs, with (letztes Wort unleserlich) The Londoner

THE DAILY TELEGRAPH, SATURDAY, MARCH 2, 1912, S. 8 Sackville Gallery. Italian Futurist Painters. by Sir Claude Phillips There is grave reason to fear that the foundation of society are being sapped at the present moment in more quarters than one; but these young Italian painters ï for we take them to be young, if not exactly candid ï are threatening in the art lovers with things more dure still. Here, called from the »Initial Manifesto of Futurism,« which serves as the preface to their catalogue, are some of the things they would realise for our astonishment and regeneration: »Come then, the good incendiaries with their charred fingers!...Here they come! Here they come!....Set fire to the shelves of the libraries! Deviate the course of canals to flood the cellars of the Museums!« And again: »We wish to destroy the museums, the libraries, to fight against moralism, feminism and all the opportunist and utilitarian forms of cowardice.« This is all very shocking and terrible, and very full of the clash of war and strife and militant futurism; and we ought no doubt to fall on our knees and veil our faces, agreeably trembling before these young anarchists of art, these prophets and leaders. But somehow our flesh does not creep, we tremble less than we should; the sound is less of the clash of shield and spear than of the grosse caisse banged with a will by a company of showmen bent on our outdoing in extravagance their brother-showmen of the ultramodern groops. The much-tried citizen, so incessantly goaded in the effort to stimulate him either to frenzied admeration or to aggressive loathing ï it doesn’t very much matter which ï the bourgeois, with whom after all the ultimate verdict rests, has received so many artistic shocks

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Anhang and slaps. that his hide is hardened. He will be moderatly amused, no doubt, but the vials of his indignation are empty. If these enterprising Italians, whom we take to be not less practical than most of their great race are in matters appertaining to art, are counting on a »succès de scandale,« they will be signally disappointed. The animated style of their preface, based upon the prose, though not upon the ideas, of Friedrich Nietzsche, the quaint letterpress which describes the paintings and explains the states of mind of which they are the outcome, these things may secure for the show a certain vogue which, with all its calculated extravagance, it might not otherwise have commanded. For after all, the whole business is rather »small beer,« and as such should be chronicled, if at all. If we dilate on the exhibition at greater length, it is for the amusement of the public and ourselves, and not because it calls for any such extended notice. Did not a great and universally popular Latin poet ï whose books among the others this valiant band would no doubt desire annihilate ï write a line too often quoted, but in this case eminently in its right place: Parturiuns montes, nascetur ridiculus mus. (Mountains are in labour; the result will be a ridiculous mouse.) CONSTRUCTIVE TENDENCIES Having indicated in outline what are the destructive intentions of these terrible Futurists, we ought, in justice to them, to say a word as to their constructive tendencies. They respect the PostImpressionists, Synthetists, and Cubists of France, but while »admiring teir heroism,« declare themselves to be absolutely opposed to their art. »They obstinately continue,« say these Italians, »to paint objects motionless, frozen, and all the static aspects of Nature. ...We, on the contrary, with points of view portaining essentially to the future, seek for a style of motion, a thing which has never been attempted before us.« (We have imagined that the frieze of the Parthenon was one great rhythmic, ordered motion. And did not our Turner, not unknown to fame. paint the greatest picture of motion that the world has ever seen, »Rain, Steam and Speed ï The great western Railway«?) Moreover, we are told that what must be rendered is »dynamic sensation,« and than again that »through the chaos and clashing of rhythms, totally opposed to one another which we nevertheless assemble into a new harmony, we arrive at what we call the painting of »states of mind.« And finally, these heroic youths proclaim themselves »the primitivs of a completely renovated sensitiveness.« But enough of this! To describe this masterpieces of the Futurists is, unfortunately, not possible in words ï or possible only in a very few instances. Their leader, Signor Boccioni, even as it is, shows considerable talent, recalling in his colour-schermes and general tonality the great French painter-decorator Bernard. His best and most comprehensible effort is »The Rising City,« which is not without a certain grandeur in its suggestion of aspiration and upheaval. Signor Carrà triumphs signally in the titles of his paintings. Here are some of them: 217

Futuristen auf Europa-Tournee »What I was told by the Tramcar (the synchronised emotions of the passenger in a tramcar and of the spectator outside.)« »portrait of the Poet Marinetti ( a synthesis of all the impressions produced by the chief of the Futurist Mouvement.)« »Woman and Absinthe (the diverse plastic aspects of a woman seen in her quantitative complexity.)« this is really unkind to »Punch«: even ingenious O.S. himself cannot parody these parodies; they leave him nothing to say. »REBELLION« »Rebellion,« by Signor Russolo, is a brilliant and original pattern, which might quite appropiately serve for oil-cloth. Most alluring to those in search of unwholesome excitement will be Signor Severini’s description of his picture, »The Pan-pan Dance t the Monico,« »Sensation of the bustle and the hubbub created by the Tsiganes, the champagne-sodden crowd, the perverse dance of the professionals, the clashing of colours and laughter at the famous night-tavern at Montmartre.« But what is ist that such prurient sensationalists would actually find? A cubic puzzle on a gigantic scale, such as would have delighted our frivolous folk a couple of years ago, when they were seeking to kill time in setting up grand and glorious designs of a less humorous character than this. What may be called the Royal Academic group, those who with an admirable consistency have slammed the door in the face of every modern mouvement in succession, will no doubt chuckle in an ecstasy of delight at this reductio ad absurdum. The more serious among the Post-Impressionists have legitimate cause for annoyance, seeing that the foolish and the malevolent will have some excuse now for enveloping in one common condemnation all phases, the serious and the grotesque stile, of ultramodernity. Our sympathy for them would, however, be greater if they did not themselves confound the elements of vastness and permanence that there are in this Post-Impressionistic art with the overgrowth of rank fumisterie (humbug) by which these elements are too often obscured. Do not let it be thought that we are noolding the Futurists, or discharging against them an artillery which should be reserved for occasions more important.On the contrary, we have to thank them for some stimulating prose and an afternoon’s unalloyed amusement. Still, on the whole, we prefer the Arena Chapel of Padua, the Church of St. Frncis of Assisi, Santa Croce, and Santa Maria Novella; the Uffizi, the Pitti, the Accademia of Florence, the Accademia of Venice; the Sistine Chapel, the Doge’s Palace ï to mention only a few among the endless artistic glories of Italy. We pray you, young gentlemen, let there be a respite, leave us these dead and useless things, these »cemeteries,« but a little while longer; shine not upon us yet with too intolerable a radiance, lest, like the beloved of Jove in contact with the divine, we be your generous ardour, by your passion for the artistic generation of mankind, reduced to ashes.

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Anhang

PALL MALL GAZETTE, 4. MÄRZ 1912, S. 8 Letters to the Editor Sir Philip Burne-Jones and the Futurists Sir, ï The violent diatribe against the Futurist painters which is published in your columns in the form of an interview with Sir Philip Burne-Jones comes somewhat strangely from the son of a great artist who was himself a member of a small and at one time violentlyattacked band of artistic innovators. One would have thought that in such circumstances Sir Philip would have remembered the danger of hasty judgment upon any new artistic movement. I should also like to remind Sir Philip that insult is not criticism, and that theories are not disproved by calling their authors »a band of maniacs.« It is not my desire tu uphold the Futurists’ theories, which may or may not be based upon the most hopeless of fallacies: I only recall the fact that the pictures of Courbet and Rouseeau were refused at the Paris Salon, that Manet was met with sneers and general reprobation, that Ruskin heaped obloquy upon Whistler! Not that I would for a moment contend that the later destiny of these recognised masters also awaits the Italian Futurists: that is not for me to foretell; I only wish to call Sir Philip Nurne-Jones attention to the danger that he has incurred. Where I definitely join issue with him is when he says of these painters that »whatever may be their theories, the outcome is something hideous and incompetent.« Hideous, perhaps; that is a matter of opinion. But for sheer technical skill, the huge canvas by Severini , »The Pan-pan Dance at the Monico« (to mention only one), is an amazing production, and incompetence can surely not be alleged against its author! As to Sir Philip’s comparison with the medical profession, I submit that the simile is wholly false and inasmissible. Medicine is an exact science, based entirely upon experience and the development of human learning; whereas painting is the aesthetic expression of individual temperament, and cannot be governed by fixed or mathematical laws of progress. I agree with Sir Philip that in the Home of Art are many mansions ï how many of them uncomfortably crowded by the initiators of initiators! That is why, when from any one mansion there bursts forth a song of youth and originality, even though it be harsh and discordant, it should be received, not with howls of fury, but with reasonable attention and calm criticism ï Yours etc., Max Rothschild. The Sackville Gallery, 28, Sackville-street, Piccadilly, March 1.

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Futuristen auf Europa-Tournee

THE EVENEING NEWS, MONDAY, MARCH 4, 1912, S. 3 Futurist London. Leader of New Art School On Our Neglect of Reality. »Art is like alcohol: it is almost the only alcohol there ought to be. It should not be made a sleeping-draught for jaded nerves, as your painters are trying to do.« Thus Signor Marinetti, the head of the Futurist mouvement, who is staying at tha Savoy Hotel on a visit to London, explained to Eveneing News representative today the meaning of the paintings on show at the Sackville Gallery. With him was Signor Boccioni, author of the mysterious Painting. »Les Adieux,« and both declared that they were quite pleased, on the whole, with the way in which London, with its artistic taste spoilt by generations of false conceptions of art, had received their work. »Why London itself is a Futuristic City!« exclaimed Signor Marinetti. »Look at those brilliant hued motor-buses, these enormous, glaring posters. Look at the coloured electric lights that flush advertisements in the night. Look at these comfortable interiors, replete with modern appliances, and devoid of any of those superfluities that your old-fashioned painters rejoice in.« Why do your people, fresh from a view of the real Strand, with its painting life, turn into a drawing-room and admire pictures of an imaginary Strand, with all the moter-buses and the posters blurred out of sight? The fact is that your painters live on a nostalgic feeling, longing for the past that is beyond recall, imagining they live in the pastoral age, while they really live in the midst of industrial conflict.« ART NOT PLEASURE: »But you forget that the people who advertise by means of glaring posters are not generally the patrons of art.« urged our representative. »At any rate they consider advertising an unfortunate necessity, while in private life they turn to old-fashioned art as a rest.« »Precisely their mistake,« interrupted the italian artist. »If it is a rest they want, why call it art? Pleasure is not art. They only tue art is found in new sensations. You must come to art to learn, not to enjoy.« »For instance,« he added, »I travelled by a tube train yesterday. I had, of course, travelled by tube in Paris, but it was not the same sensation at all. I got what I wanted - not enjoyment, but a totally new idea of motion, of speed. That is what your own artists fail to give you. Turner once painted an engine, but it was a dead engine, just its outside appearance, not its soul, the soul of power and speed. In fact our movements might better be described as »presentism« than as »futurism.« AN ENGLISH PAINTING: »Admitting your contentions about the natur of the paintings, how do you explain these extraordinary mixtures of colours that are di-

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Anhang splayed in your futurist pictures, corresponding apparently to no reality?« »I admit that you English people will find it more difficult than we do to see their beauty,« replied Signor Marinetti. »But you must remember that they are all Southern pictures - the effect of an atmosphere totally different from your soft, mistwrapt English climate. Moreover, your eyes have been trained by painters of the old school, so that they are blind to reality.« »Would English Futurist paintings be quite impossible then?« »Certainly not, but they would be entirely different. I am preparing one,« he added. »I have an idea which may be developed by one of our artists. But I cannot tell you any more about it yet.« Thereupon Signor Marinetti and Signor Boccioni left to go to the Sackville-street exhibition, which they went over with Signor Mascagni. Before leaving Signor Marinetti, however, one representative asked what he thought of the Suffragettes and the coal strike from the point of view of action. »About the coal strike I cannot express an opinion,« he answered. »But I think the Suffragettes are doing the only possible thing to get what they want.«

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© 2009 der abgebildeten Werke von Giacomo Balla, Anton Giulio Bragaglia, Carlo Carrà, Fortunato Depero, Fernand Léger, Jean Dominique Anton Metzinger, Pablo Picasso, Gino Severini und Ardengo Soffici bei der VG Bild-Kunst, Bonn, und bei der »Famiglia Soffici Poggio a Caiano«. Ich habe mich bemüht, sämtliche Rechtsinhaber ausfindig zu machen. Sollte es mir in Einzelfällen nicht gelungen sein, Rechtsinhaber zu benachrichtigen, so bitte ich diese, sich beim Verlag zu melden.

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ABBILDUNGEN Abb. 1: Umberto Boccioni um 1910

Abb. 2: Gino Severini, 7. April 1913

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 3: Umberto Boccioni, Interno con la madre che lavora, 1909, Öl/Lwd., 100 x 65 cm, Privatbesitz

Abb. 4: Giacomo Balla, um 1911

230

Abbildungen Abb. 5: Giacomo Balla, Luna-Park, 1900, Öl/Lwd., 65 x 81 cm, Sammlung Gianni Mattioli

Abb. 6: Giacomo Balla, Autoritratto, 1894, Öl/Lwd., 34 x 30 cm, Rom, Privatsammlung

231

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 7: Giacomo Balla, Ritratto dello zio cacciatore del re, 1896, Öl/Lwd., Privatsammlung

Abb. 8: Giacomo Balla, Macchietta Romana, 1898, Öl/Lwd., Maße unbekannt, Privatsammlung

232

Abbildungen Abb. 9: Giacomo Balla, Studio ironico satirico, 1896, Tinte, Tempera, Aquarellfarbe und collage auf Papier, 17 x 43,5 cm, Rom, Privatsammlung

Abb. 10: Giacomo Balla, Il Sentiero, in einem Brief aus Paris an die Verlobte, Dezember 1900, Bleistift und Tinte auf Papier, 17,5 x 11 cm, Rom, Privatsammlung

233

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 11: Giacomo Balla, Ritratto del signor Pisani, 1901, Öl/Lwd., 74 x 120 cm, Rom, Privatsammlung

Abb. 12: Giacomo Balla, Signora Pisani al balcone – ritratto della signora Pisani, 1901, Öl/Lwd., 203 x 133 cm, Rom, Privatsammlung

234

Abbildungen Abb. 13: Giacomo Balla, Il Fallimento, 1903, Öl auf Tafel, 116 x 160 cm, Rom, Privatsammlung

Abb. 14: Balla vor seinem Gemälde Fallimento im Jahr 1929

235

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 15: Umberto Boccioni, Ritratto femminile (Frauenporträt), 1903, Pastell auf Karton, 59,5 x 48,5 cm, Mailand, Privatbesitz

Abb. 16: Umberto Boccioni, Donna (Frau), Privatsammlung

236

Abbildungen Abb. 17: Umberto Boccioni, Donna (Frau), Privatsammlung

Abb. 18: Gino Severini, Campo di grano, 1903, Öl auf Tafel, 38 x 27 cm, Rom, Sammlung Pinzauti

237

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 19: Giacomo Balla, La giornata dell'operaio, 1903, Öl auf Karton, Maße unbekannt, Privatbesitz

Abb. 20: Gino Severini, Via di Porta Pinciana al tramonto, 1903, Öl/Lwd., 91 x 51 cm, Reggio Calabria, Privatsammlung

238

Abbildungen Abb. 21: Umberto Boccioni, Città che sale, 1910, Öl/Lwd., 199,3 x 301 cm, New York, The Museum of Modern Art

Abb. 22: Umberto Boccioni, Studie zu Città che sale

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 23: Umberto Boccioni, Studie zu Città che sale

Abb. 24: Umberto Boccioni, Ritratto femminile, 1909, Öl/Lwd, 40 x 29 cm, Mailand, Privatbesitz

240

Abbildungen Abb. 25: Umberto Boccioni, Pagliaio al sole, 1908, Öl/Lwd., 35 x 59 cm, Venedig, Privatbesitz

Abb. 26: Umberto Boccioni, Testa di Vecchio, 1909, Öl/Lwd., 40 x 29 cm, Mailand, Civico Museo d'Arte Contemporanea

241

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 27: Umberto Boccioni, Ritratto della pittrice Adriana Bisi Fabbri, 1907, Öl/Lwd., 52x95 cm, Rom, Privatsammlung

Abb. 28: Giacomo Balla, La fidanzata alla villa borghese, 1902, Öl/Lwd., 60,5 x 90 cm, Mailand, Civica Galleria d'Arte Moderna

242

Abbildungen Abb. 29: Umberto Boccioni, Controluce, 1909, Öl/Lwd., 89 x 73 cm, Treviso, Privatsammlung

Abb. 30: Luigi Russolo, um 1910

243

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 31: Luigi Russolo, Profumo, 1910, Öl/Lwd., 64,5 x 65,5 cm, Birmingham/Michigan, Privatsammlung

Abb. 32: Umberto Boccioni, Testa femminile (Frauenkopf), 1909, Öl/Lwd., 64 x 66 cm, Mailand, Sammlung Moratti

244

Abbildungen Abb. 33: Carlo Carrà, um 1910

Abb. 34: Carlo Carrà, Paesaggio, 1906, Öl/Lwd, 28x40 cm, Mailand, Sammlung M. Caprotti

245

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 35: J.M.W. Turner, Rain Steam and Speed – The Great Western Railway, vor 1844, Öl/Lwd., 19,8 x 121,9 cm, London, National Gallery

Abb. 36: Carlo Carrà, Piazza del duomo, 1909, Öl/Lwd., 45 x 60 cm, Mailand, Privatsammlung

246

Abbildungen Abb. 37: Giacomo Balla, Lampada ad arco (Bogenlampe), 1909, Öl/Lwd., 174,7x114,7 cm, New York, Museum of Modern Art

Abb. 38: Umberto Boccioni, Zeichnung zur serata vom 18. 3.

1910

247

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 39: Umberto Boccioni, Zeichnung zu einer serata aus dem Jahr 1911

Abb. 40: Gino Severini und Jeanne im Jahr 1913

248

Abbildungen Abb. 41: Marinetti im Sommer 1909

Abb. 42: Guillaume Apollinaire im Atelier von Picasso, um 1910

249

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 43: Carlo Carrà, Uscità dal teatro, 1909, Öl/Lwd, 69 x 91 cm, 1909, London, Privatsammlung

Abb. 44: Umberto Boccioni, Rissa in galleria, 76,5 x 64 cm, 1910, Mailand, Pinacoteca di Brera

250

Abbildungen Abb. 45: Traviès, Festin de Balthazar, in La caricature Nr.181 vom 24.4.

Abb. 46: Carlo Carrà, I funerali dell'anarchico Galli (Das Begräbnis des Anarchisten Galli), 1910, Öl auf Leinwand, 198x266 cm, New York, The Museum of Modern Art

251

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 47: Carlo Carrà, Studie zu I funerali dell'anarchico Galli, 1906, Farbstift, 58 x 87 cm, Mailand, Sammlung B. Grossetti

Abb. 48: Paolo Uccello, La battiglia di San Romano, ca. 1445, Tempera auf Holz, 182,2x203,2 cm, Florenz, Galleria degli Uffizi

252

Abbildungen Abb. 49: Carlo Carrà, Il nuoto (Nuotatrici), 1910, Öl/Lwd., 110 x 160 cm, Pittsburgh, Carnegie Institute, Leihgabe von David Thompson

Abb. 50: Luigi Russolo, Treno in Corsa (Zug in voller Fahrt), 1911

253

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 51: Umberto Boccioni, Treno che passa, 1909, Öl/Lwd., 23 x 58 cm, Lugano, Museo Civico di Belle Arti

Abb. 52: Pippo Rizzo, Treno notturno in corsa, 1926, Öl/Lwd., 57 x 107 cm, Palermo, Elica Rizzo Gueci

254

Abbildungen Abb. 53: Andreas Achenbach, Die Neußer Hütte in Haerdt, 1860, Öl auf Holz 25,5 x 37,4 cm, Stadtmuseum Landeshauptstadt Düsseldorf

Abb. 54: Luigi Russolo, La Musica, 1911, Öl/Lwd., 220 x 140 cm, London, Sammlung Estorick

255

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 55: Umberto Boccioni, Il lutto (Die Trauer), Öl/Lwd., 105 x 134,6 cm, 1910, Privatsammlung

Abb. 56: Gino Severini, Printemps à Montmartre, 1909, Öl/Lwd., 72 x 60 cm, Mailand, Sammlung Bianchi

256

Abbildungen Abb. 57: George Seurat, Un Dimanche après-Midi à L’Ile de la Grande Jatte, 1885, Öl/Lwd., 207,5 x 308,1 cm, Chicago, The Art Institute

Abb. 58: Gino Severini, Boulevard, 1910, Öl/Lwd., 63,5 x 91,5 cm, London, Sammlung Estorick

257

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 59: Umberto Boccioni, Stati d'animo I - Gli adii, 1911, Öl/Lwd., 70,5 x 90,2 cm, Mailand, Civico Museo d'Arte Contemporanea

Abb. 60: Umberto Boccioni, Stati d'animo I - Quelli che vanno, 1911, Öl/Lwd., 71 x 96 cm, Mailand, Civico Museo d'Arte Contemporanea

258

Abbildungen Abb. 61: Umberto Boccioni, Stati d'animo I, quelli che restano, Öl/Lwd., 71 x 96 cm, Mailand, Civico Museo d'Arte Contemporanea

Abb. 62: Umberto Boccioni, Studie zu Quelli che vanno I, 1911, 96 x 120,5 cm Öl/Lwd., Mailand, Civico Museo d’Arte Contemporanea

259

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 63: Umberto Boccioni, Studie zu Quelli che vanno I, 1911, Öl auf Tafel, 38x55 cm, Bergamo Privatsammlung

Abb. 64: Umberto Boccioni, Studie zu Gli Adii I, 1911, Bleistift auf Papier, 48,5 x 60,9 cm, New York, The Museum of Modern Art

260

Abbildungen Abb. 65: Fernand Legér, Essai pour trois portraits, 1910-1911, 195 x 114 cm, Öl/Lwd., Milwaukee Art Center

Abb. 66: Jean Metzinger, Le gouter, 1911, 75,9 x 70,2 cm, Öl/Lwd., Philadelphia Museum of Modern Art

261

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 67: Pablo Picasso, Ma Jolie, 1911, 100 x 64, 5 cm, Öl/Lwd., New York, The Museum of Modern Art

Abb. 68: Umberto Boccioni, La Risata, 1911, Öl/Lwd., 110,2 x 145 cm, New York The Museum of Modern Art

262

Abbildungen Abb. 69: Umberto Boccioni, Stati d'animo II – Gli adii, 1911, Öl/Lwd., 70,5 x 96,2 cm, New York, The Museum of Modern Art

Abb. 70: Umberto Boccioni, Stati d'animo II – Quelli che vanno, 1911, Öl/Lwd., 70,8 x 95,5 cm, New York, The Museum of Modern Art

263

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 71: Umberto Boccioni, Stati d'animo II – quelli che restano, 1911, Öl/Lwd., 70, 8x 95,9 cm, New York, The Museum of Modern Art

Abb. 72: Umberto Boccioni, Studie zu Gli Adii, 1911, Bleistift auf Papier, 58,4 x 86,4 cm, New York, The Museum of Modern Art

264

Abbildungen Abb. 73: Umberto Boccioni, Visioni simultanee, 1911, Öl/Lwd., 60,5 x 60,5 cm, Wuppertal, Van der Heydt-Museum

Abb. 74: Umberto Boccioni, La Strada entra nella casa, 1911, Öl/Lwd., 100 x 100,6 cm, Hannover, Sprengel Museum

265

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 75: Carlo Carrà, Stazione di Milano, 1911, Öl/Lwd., 50 x 55 cm, Stuttgart, Staatsgalerie Stuttgart

Abb. 76: Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand

266

Abbildungen Abb. 77: Carlo Carrà, Quello che mi ha detto il tram, 1910/11, Öl/Lwd., 52 x 67 cm, Frankfurt/Main, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie

Abb. 78: Carlo Carrà, Sobbalzi di fiacre, 1911, Öl/Lwd., 55,5 x 67,1 cm, New York, The Museum of Modern Art

267

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 79: Carlo Carrà, La donna e l'Assenzio, 1911, Öl/Lwd., 67 x 32 cm, Privatsammlung Mailand

Abb. 80: Carlo Carrà, Ritratto di Marinetti, 1910/1911, Öl auf Leinwand, 90x80 cm, Privatbesitz

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Abbildungen Abb. 81: Luigi Russolo, Chioma (I capelli di Tina), 1910/11, Öl/Lwd., 71,5 x 49 cm, Privatsammlung

Abb. 82: Luigi Russolo, Ricordi di una notte, 1911, Öl/Lwd., 101 x 100 cm, Ort unbekannt

269

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 83: Luigi Russolo, La Rivolta, 1911, Öl/Lwd., 150,8 x 230,7 cm, Den Haag, Gemeentemuseum

Abb. 84: Luigi Russolo, Studie zu La Rivolta, 1911, monochrome Temperafarbe auf Papier, 150 x 234 cm, Privatsammlung

270

Abbildungen Abb. 85: Luigi Russolo, Studie zu La Rivolta, 1911, blauer und roter Bleistift auf Papier, 246 x 325 mm, Privatsammlung

Abb. 86: Gino Severini, Danzatrice ossessionante, 1911, Öl/Lwd., 73,5 x 54 cm, Privatsammlung

271

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 87: Gino Severini, La Danse du Pan Pan à Monico, 1911, Öl auf Leinwand, Maße unbekannt, Werk verschollen

Abb. 88: Wyndham Lewis, Selfportrait, 1911, Bleistift, Wasserfarbe und Gouache auf Papier, 31,3 x 24,3 cm, Privatsammlung

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Abbildungen Abb. 89: Christopher Richard Wynne Nevinson, The Arrival, ca. 1913, London, Tate Gallery

Abb. 90: Wyndham Lewis, Blast – War Number, Juli 1915

273

Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 91: Eine Schar von Männern versammelt sich vor der „Deutschen Buchhandlung“, wo unter anderem ein Plakat Mit der Überschrift „Futurismo“ aufgehängt ist.

Abb. 92: Giacomo Balla, La mano del violinista o Ritmi del violinista, ausgestellt unter dem Titel „Der Rhythmus des Bogens“, 1912, 52 x 57 cm, Öl /Lwd., London, Sammlung Estorick

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Abbildungen Abb. 93: Anton Giulio Bragaglia, Il violoncellista (Der Cellist),1913

Abb. 94: Giacomo Balla, Dinamismo di un cane al guinzaglio, ausgestellt unter dem Titel „Eine Leine in Bewegung“, 1912, 90,8 x 110,2 cm, Öl/Lwd., Buffalo (USA), Sammlung Albright-Knox Art Gallery

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 95: Balla neben dem Bild »Dinamismo di un cane al guinzaglio«, Fotografie von Anton Giulio Bragaglia, Januar 1913

Abb. 96: Umberto Boccioni, Espansione Spiralica di muscoli in movimento, Bild aus dem Katalog des Ersten Deutschen Herbstsalon, 1913, Gipsskulptur, zerstört

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Abbildungen Abb. 97: Umberto Boccioni, Forme Uniche della continuità nello spazio, 1913, Gips, 116,5 x 87 x 40 cm, Museu de Arte Contemporanea da Universidade de Sao Paulo

Abb. 98: Auguste Rodin, L'Homme qui marche, 1900-1907, Bronze, 213,5 x 71,7 x 156,5 cm, Paris, Musée Rodin

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 99: Umberto Boccioni, Sintesi di un dinamismo umano, 1913, Gips, zerstört

Abb. 100: Umberto Boccioni, Muscoli in Velocità (Muskeln in schneller Bewegung), 1913, Gips, zerstört

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Abbildungen Abb. 101: Italienische 20-Cent-Münze

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 102: Umberto Boccioni, Scomposizione di figure a tavola, ausgestellt unter dem Titel „Auflösung von Personen am Tisch“, 1912, Öl/Lwd., 70 x 80 cm, Privatsammlung

Abb. 103: Umberto Boccioni, Dinamismo di un footballer (Dynamismus eines Fußballers), Öl aufLeinwand, 193,2x201 cm, New York, The Museum of Modern Art, The Sidney and Harriet Janis Collection

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Abbildungen Abb. 104: Umberto Boccioni, Elasticità, augestellt unter dem Titel »Elastizität«, 1912, Öl/Lwd., 100 x 100 cm, Mailand, Civiche raccolte d'arte, Sammlung Jucker

Abb. 105: Carlo Carrà, forze centrifughe, ausgestellt unter dem Titel »Zentrifugale Kräfte«, Öl/Lwd., 60 x 50 cm, Mailand, Privatsammlung

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 106: Carlo Carrà, Simultaneità - La Donna al balcone, ausgestellt unter dem Titel »Simultanéité«, Öl/Lwd., 147 x 133 cm, Sammlung R. Jucker

Abb. 107: Carlo Carrà, Trascendenze plastiche, ausgestellt unter demTitel »Plastische Emanationen«, Öl/Lwd., 60 x 50 cm, 1912, Bild wurde im Krieg 1915/18 zerstört und von Carrà neu gemalt, Florenz, Sammlung F. Pontello

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Abbildungen Abb. 108: Luigi Russolo, Compenetrazione di case + luce + cielo, ausgestellt unter dem Titel »Fortsetzung der Häuser in den Himmel«, 1912, Öl/Lwd., 100 x 100 cm, Basel, Kunstmuseum

Abb. 109: Luigi Russolo, Sintesi plastica dei movimenti di una donna, ausgestellt unter dem Titel „Plastische Übersicht der Bewegungen einer Frau“, 1912-1913, Öl/Lnd., 85,5 x 65 cm, Grenoble, Musée de Grenoble

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 110: Ernst Ludwig Kirchner, Fünf Frauen auf der Straße,

1913, Öl/Lwd., 120 x 90 cm, Köln, Museum Ludwig

Abb. 111: Gino Severini, Ritratto di F. Tommaso Marinetti, ausgestellt unter dem Titel »Porträt von F. T. Marinetti«, 1913, Öl und Collage auf Leinwand, Maße und Ort unbekannt

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Abbildungen Abb. 112: Gino Severini, Ritmo plastico del 14 luglio , ausgestellt unter dem Titel »Plastischer Rhythmus des vierzehnten Juli«, 1913, Öl/Lwd., 66 x 50 cm (85 x 68 mit bemalten Rahmen, der verloren gegangen ist und durch Severini ersetzt wurde), Rom, Sammlung Severini

Abb. 113: Gino Severini, Geroglifico dinamico del Bal Tabarin, im Katalog des Herbstsalons abgebildet unter dem Titel »Dynamisches Hieroglyph des Bal Tabarin«, 1912, Öl und Pailetten auf Leinwand, 161,6 x 156,2 cm, New York, Museum of Modern Art

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Futuristen auf Europa-Tournee Abb. 114: Ardengo Soffici, Bild ausgestellt unter dem Titel »Malerische Synthese der Stadt Prato«, Bild nicht mehr auffindbar, Reproduktion aus dem Katalog des Herbstsalons

Abb. 115: Ardengo Soffici, Scomposizione di piani di zuccheriera e bottiglia, ausgestellt unter dem Titel »Auflösung einer Zuckerdose und einer Flasche«, Öl/Lwd., 35 x 25 cm, Florenz, Privatsammlung

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Abbildungen

Abbildungsnachweise Abb. 1, in: Boccioni: Futuristische Malerei und Plastik. Abb. 2, 18, 20, 41, 57, 59, 87, 88, 112, 113, 114, in: Daniela Fonti: Severini. Catalogo ragionato. Abb. 5, 15, 16, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 29, 32, 39, 40, 45, 52, 56, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 60, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 79, 89, 100, 101, 103, 104, 105, in: Calvesi/Coen: Boccioni. Abb. 31, in: Tagliapetra: Luigi Russolo. Abb. 43, 67, in: Apollinaire: Apollinaire zur Kunst. Abb. 46, in: La caricature. Bildsatire in Frankreich 1830-1835 aus der Sammlung von Kritter, Ausst.-Kat., Wilhelm-BuschMuseum hannover, 15.7.-5.10. 1980 (u.a.), Göttingen: Kunstgeschichtliches Seminar d. Univ. 1980. Auch wir Maschinen Abb. 53, in: Bartsch: …auch wir Maschinen. Kerstin thomas Abb. 58, Thomas: Stimmung in der Malerei. Luigi russolo. Vita e opere di un futurista Abb. 31, 55, 78, 82, 83, 84, 85, 86, 109, 110, in: Tagliapetra: Luigi Russolo. Le futurisme a Paris Abb. 90, in: Le futurisme à Paris. Une avant-garde explosive, unter der Leitung von Didier Ottinger, Ausst-Kat., Centre Pompidou (u.a.), 15.10.2008-26.1.2009, Mailand: 5 Continents Éditions 2008. Abb. 115, in: Erster Deutscher Herbstsalon. Abb. 116, in: Luigi Cavallo: Ardengo Soffici. Un’arte toscana per l’europa, Ausst.Kat., Galleria Pananti (Florenz) 4.10-20.11 2001, Florenz: Vallecchi 2001. Abb. 33, 34, 36, 37, 44, 47, 48, 50, 79, 80, 106, 107, 108, in: Massimo Carrà: Carrà. Tutta l’opera pittorica, Bd. I, 1900-1930, Mailand: Edizioni dell’annunciata (u.a.) 1967. Abb. 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 17, 19, 38, 93, 95, 96, in: Giovanni Lista, Balla, Rom 1982. Abb. 66, in: Fernand Léger. Catalogue raisonné, 1903-1919, Paris 1990. Abb. 94, in: Photographie Futuriste Italienne 1911-1939, Ausst.Kat., Mam – Musée dIart moderne de la ville de Paris, 29. Oktober 1981-3. Januar 1982, Paris 1981. Abb. 29, in: Anna-Carola Krauße, Geschichte der Malerei. Von der Renaissance bis heute, Köln: Könemann 1995 Abb. 35, in: J.H. Lienhard: How invention begins: And how it finds its final forms, Oxford: university Press 2006. Abb. 99, in: Mattioli-Rossi: Boccioni. Abb. 54, in: Herding: Industriebild und Moderne. Abb. 91, in: Orchard: Blast. Abb. 111, in: Magdalena M. Moeller, Ernst Ludwig Kircher. Die Straßenszenen 1913-1915, München: Hirmer 1993. Abb. 68, in: Claudia Hattendorff: Pablo Picasso: Ma Jolie, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 2001, S. 33-38.

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2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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