Hirnzirkel: Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik [1. Aufl.] 9783839420652

Ob Neurocomputing oder Neuronale Netze - Ansätze, die Nervensystem und Computer kombinieren, haben Konjunktur. Der Band

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Hirnzirkel: Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik [1. Aufl.]
 9783839420652

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
TEIL I
1. Neuronale Integrationsmechanismen um die Wende zum 20. Jahrhundert
1.1 Einleitung
1.2 Physiologische, psychologische und neuroanatomische Aspekte der Herausbildung neuronaler Integrationsmechanismen
1.2.1 Cerebrale Lokalisation vs. funktionelle Äquipotenz
1.2.2 Dynamische Funktionalität (Reflex, Hemmung)
1.2.3 Grundideen des Assoziationismus
1.2.4 Meynerts „Mechanik des Gehirnbaus“ – eine neuroanatomische Grundlegung assoziationistischer Ideen
1.2.5 Exkurs: Spurentheorie des Gedächtnisses
1.2.6 Neuronendoktrin
1.2.7 Physiologie der Nerven
1.3 Neuronale Integrationsmechanismen
1.3.1 Ramón y Cajals Subsysteme
1.3.2 Die Nervennetze Siegmund Exners
1.3.3 Der „common path“- Mechanismus Sherringtons
1.4 Zusammenfassung
2. Die geschlossene Neuronenkette Lorente de Nós: ein neuronaler Integrationsmechanismus der Bahnung und Hemmung
2.1 Einleitung
2.2 Gleichgewichtsforschung bis 1900
2.3 Robert Bárány
2.4 Lorente de Nó als Neuroanatom
2.5 Lorente de Nós Studium der vestibulo-ocularen Reflexbahnen
2.6 Lorente de Nós Aufbruch in die USA
2.7 Die Elektrophysiologie der Nerven
2.8 C.E.S. und C.I.S
2.9 Lorente de Nós Synthese
2.9.1 Zirkulation als neuronaler Integrationsmechanismus der reflektorischen Nachentladung
2.9.2 Lorente de Nós zwei Typen der Neuronenkette
2.9.3 Neuroanatom oder Physiologe?
2.10 Zusammenfassung
Schlussbetrachtungen Teil I
TEIL II
3. Memory „ex Machina“– regenerative Zirkulation in kybernetischen Nervennetzen bei von Neumann und McCulloch
3.1 Einleitung
3.2 Grundannahmen kybernetischer Nervennetze
3.3 Nervennetzmodelle des Lernens
3.3.1 Lern- und Gedächtnistheorien im frühen 20. Jahrhundert
3.3.2 Einprotokybernetisches Konditionierungsmodell
3.3.3 McCullochs experimentelle Epistemologie
3.3.4 McCulloch und Pitts’ logische Nervennetze
3.4 „Memory“ – John von Neumanns kybernetisches Gedächtnisspeichermodell
3.4.1 Der ENIAC, der EDVAC und John von Neumann
3.4.2 Ringspeicher für den EDVAC
3.4.3 „First Draft of a Report on the EDVAC“
3.5 Regenerative Zirkulation in McCullochs kybernetischen Nervennetzmodellen
3.5.1 „Wissende“ Speicherkreise
3.5.2 Erkenntnisinstrument kybernetische Nervennetzmodelle
3.6 Der Geist der Automatentheorie
3.6.1 Die Automatentheorie als kybernetisches Projekt
3.6.2 Von Neumanns „Lernapparat“
3.7 Schicksal des Gedächtnisspeichermodells
3.8 Lorente de Nó – ein Kybernetiker?
3.9 Schlussbetrachtungen
Literatur

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Katharina Schmidt-Brücken Hirnzirkel

Katharina Schmidt-Brücken (Dr. rer. nat.) lebt und arbeitet in Dresden.

Katharina Schmidt-Brücken

Hirnzirkel Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik

D 83 Dissertation an der Technischen Universität Berlin 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Katharina Schmidt-Brücken Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2065-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 9

TEIL I 1.

Neuronale Integrationsmechanismen um die Wende zum 20. Jahrhundert | 21

1.1 Einleitung | 21 1.2 Physiologische, psychologische und neuroanatomische Aspekte der Herausbildung neuronaler Integrationsmechanismen | 26 1.2.1 Cerebrale Lokalisation vs. funktionelle Äquipotenz | 28 1.2.2 Dynamische Funktionalität (Reflex, Hemmung) | 30 1.2.3 Grundideen des Assoziationismus | 35 1.2.4 Meynerts „Mechanik des Gehirnbaus“ – eine neuroanatomische Grundlegung assoziationistischer Ideen | 39 1.2.5 Exkurs: Spurentheorie des Gedächtnisses | 42 1.2.6 Neuronendoktrin | 48 1.2.7 Physiologie der Nerven | 58 1.3 Neuronale Integrationsmechanismen | 60 1.3.1 Ramón y Cajals Subsysteme | 60 1.3.2 Die Nervennetze Siegmund Exners | 77 1.3.3 Der „common path“- Mechanismus Sherringtons | 83 1.4 Zusammenfassung | 91 2.

Die geschlossene Neuronenkette Lorente de Nós: ein neuronaler Integrationsmechanismus der Bahnung und Hemmung | 95

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

Einleitung | 95 Gleichgewichtsforschung bis 1900 | 98 Robert Bárány | 101 Lorente de Nó als Neuroanatom | 108 Lorente de Nós Studium der vestibulo-ocularen Reflexbahnen | 114 Lorente de Nós Aufbruch in die USA | 124 Die Elektrophysiologie der Nerven | 128 C.E.S. und C.I.S. | 134

2.9 Lorente de Nós Synthese | 139 2.9.1 Zirkulation als neuronaler Integrationsmechanismus der reflektorischen Nachentladung | 140 2.9.2 Lorente de Nós zwei Typen der Neuronenkette | 147 2.9.3 Neuroanatom oder Physiologe? | 159 2.10 Zusammenfassung | 165 Schlussbetrachtungen Teil I | 169 

TEIL II 3.

Memory „ex Machina“– regenerative Zirkulation in kybernetischen Nervennetzen bei von Neumann und McCulloch | 175

3.1 Einleitung | 175 3.2 Grundannahmen kybernetischer Nervennetze | 182 3.3 Nervennetzmodelle des Lernens | 185 3.3.1 Lern- und Gedächtnistheorien im frühen 20. Jahrhundert | 186 3.3.2 Einprotokybernetisches Konditionierungsmodell | 191 3.3.3 McCullochs experimentelle Epistemologie | 200 3.3.4 McCulloch und Pitts’ logische Nervennetze | 207 3.4 „Memory“ – John von Neumanns kybernetisches Gedächtnisspeichermodell | 214 3.4.1 Der ENIAC, der EDVAC und John von Neumann | 215 3.4.2 Ringspeicher für den EDVAC | 220 3.4.3 „First Draft of a Report on the EDVAC“ | 226 3.5 Regenerative Zirkulation in McCullochs kybernetischen Nervennetzmodellen | 238 3.5.1 „Wissende“ Speicherkreise | 242 3.5.2 Erkenntnisinstrument kybernetische Nervennetzmodelle | 249 3.6 Der Geist der Automatentheorie | 254 3.6.1 Die Automatentheorie als kybernetisches Projekt | 256 3.6.2 Von Neumanns „Lernapparat“ | 263 3.7 Schicksal des Gedächtnisspeichermodells | 277 3.8 Lorente de Nó – ein Kybernetiker? | 286 3.9 Schlussbetrachtungen | 289 Literatur | 295

Vorwort

Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Dirk Siefkes. Seiner Neugierde, Offenheit und seinem unorthodoxen Zugang zu Informatik verdanke ich dieses Projekt. Als Leiter des Interdisziplinären Forschungsprojektes Sozialgeschichte der Informatik sowie als Betreuer des Studienreformprojektes Geschichte als Zugang zur Informatik, beide eingerichtet am damaligen Fachbereich Informatik der Technischen Universität Berlin, eröffnete er mir den „Raum“ für diese Arbeit. Er unterstützte mich als aufmerksamer Leser und Zuhörer und war ein konstruktiver Kritiker. Ich danke ihm für seine kontinuierliche Begleitung des Projektes durch Höhen und Tiefen und für sein neugieriges Mittragen meiner Ausflüge in die Neurowissenschaften. Auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Michael Hagner von der ETH Zürich möchte ich herzlich danken. Er hat meine Hinwendung zur wissenschaftshistorischen Herangehensweise kontinuierlich und kritisch begleitet. Er war ein kompetenter Gesprächspartner, immer offen für meine Fragen. Im Rahmen des MaxPlanck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin vermittelte er mir anregende Kontakte zu einer Vielzahl von Wissenschaftshistorikerinnen und –historikern. Durch seine profunde Sachkenntnis auf dem Gebiet der Geschichte des Gehirns bzw. des Nervensystems hat er die Arbeit entscheidend mitgeprägt. Ihm verdanke ich viele wertvolle Anregungen und Hinweise. Dr. Heike Stach und Dr. Peter Eulenhöfer bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie boten als Wissenschaftliche Mitarbeiter im Interdisziplinären Forschungsprojekt Sozialgeschichte der Informatik am Fachbereich Informatik der TU Berlin einen anregenden und fördernden Rahmen. In gemeinsamen Gesprächen über die Überblendung von Mensch und Maschine in der frühen Informatik der 1940er und 1950er Jahre entstanden die ersten Ideen zu dieser Arbeit sowie ein erster Artikel. Der Rockefeller Foundation bin ich für das großzügige Stipendium sowie für die ausgezeichnete Betreuung meines Forschungsvorhabens im Rockefeller

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Archive Center in Sleepy Hollow, New York zum Dank verpflichtet. Besonders denke ich hier auch an die engagierte Unterstützung durch die Archivare Dr. Tom Rosenbaum und Dr. Lee Hiltzik. Mein Dank gilt ebenso den stets hilfsbereiten Archivarinnen und Archivaren der Library of Congress in Washington D.C., der American Philosophical Society in Philadelphia und dem Archiv des M.I.T. in Boston. Herzlich danken möchte ich desweiteren allen Menschen, die mich in meiner Arbeit direkt oder indirekt unterstützt haben. Socorro Muñoz recherchierte für mich in Madrid frühe Arbeiten Lorente de Nós. Katrin am MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin half mir bei der Übersetzung von Texten Ramón y Cajals und Lorente de Nós aus dem Spanischen. Prof. Dr. Andrew Clarke, Berlin, gab mir Hinweise zu aktueller Literatur über das Gleichgewichtssystem und sprach mit mir über die Bedeutung Lorente de Nós in dieser Disziplin. Der viel zu früh verstorbenen Dr. Lily Kay habe ich zu danken für ihren ansteckenden Enthusiasmus gegenüber meinem Forschungsprojekt und ihren ermunternden Optimismus. Besonders auch Prof. Dr. Cornelius Borck war in der Frühphase des Projektes ein wichtiger und immer wieder sehr hilfreicher Gesprächspartner. Für den fachlichen Austausch, wertvolle Hinweise und emotionale „Erste Hilfe“ gilt mein besonderer Dank Dr. Tara Abraham. Prof. Dr. Sam Schweber möchte ich danken, dass er mir während meiner Archivreise sein Haus in Boston öffnete und mich zwei Wochen lang rundum umsorgte, sowie Dr. Gerard Williger für die gemeinsam Zeit in Washington D.C. und seine spontane (Gast-)Freundschaft. Dr. Ingo Hirschberger danke ich für seine aufmerksame und kritische Lektüre und Dr. Benno Kirsch (nicht nur) für die hilfreichen Hinweise beim Layout. Danken möchte ich des weiteren Dr. Katja Bergmann, Dr. Yoshimi Sugano und Bernd Hartmann, Marit Brosche, Dr. Alfons Brüning, Dr. Barbara Długaszewska, Dr. Rainer Fisch, Daniel Kulesza, Dr. Jérôme Segal, Bogumiła Patyk-Hirschberger sowie besonders Dr. Johannes Schetelig für ihren Beistand in verschiedenen Phasen der Arbeit, die entscheidend länger dauerte, als ursprünglich geplant.

Einleitung

Vielfach wird eine Geschichte der Informatik als ein Nachzeichnen der Entwicklung von Rechengeräten und Rechenverfahren verstanden. Dabei ist es durchaus üblich, auch die Rechenmaschine von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) aus dem Jahr 1694 oder die Entwürfe der Difference Engine und der Analytical Engine durch Charles Babbages (1792-1871) im 19. Jahrhundert als Vorläufer der heutigen Computertechnologie aufzuführen.1 Geschichte erscheint so als eine Aneinanderreihung technischer Erfindungen großer Männer und Frauen. Solche Darstellungen gehen häufig einher mit einem verengten Verständnis von Technikentwicklung als deterministischem Prozess.2 Dem gegenüber steht die seit den 1970er Jahren sich entfaltende Vorstellung von Technik- und Wissenschaftsgenese als kulturellem und sozialem Prozess, deren Akteure ihre Werte, Abhängigkeiten, Orientierungen, gesellschaftlichen und beruflichen Kontexte in die Genese prägend einbringen. Die bisherigen Vorstellungen von kumulativer Wissensanhäufung sowie einer vermeintlichen Neutralität der wissenschaftlichen Bewertungsmaßstäbe wurden seitdem in Frage gestellt. Verschiedene Ansätze zu einem solchermaßen veränderten Ver-

1

Vgl. z.B. F. Naumann 2001.

2

Die Entwicklung des technischen Fortschritts wird in diesen Ansätzen häufig als frei von soziologischen oder kulturellen Faktoren wahrgenommen. Technikentwicklung scheint einer eigenen, „eingeborenen“ Logik zu folgen, in der es um ein immer besseres Verständnis von Naturgesetzlichkeiten geht, in dem Wahrheiten gesucht und gebzw. erfunden werden. Näheres zu diesem Bild der Technikentwicklung, auch bekannt als genetischer oder konsequentieller Determinismus, vgl. S. Beck 1997.

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ständnis wissenschaftlicher und technischer Entwicklung konnten sich etablieren.3 Einen solch erweiterten Blick auf die Informatikgeschichte hatte sich auch das Interdisziplinäre Forschungsprojektes IFP Sozialgeschichte der Informatik zu eigen gemacht, das 1993 von bis 1997 am ehemaligen Fachbereich Informatik der Technischen Universität Berlin unter der Leitung von Professor Dirk Siefkes durchgeführt wurde. Siefkes, Eulenhöfer, Stach und Städtler verstehen diese Disziplin als ein Wissens- und Technikfeld, das aus einem komplexen Prozess der Diffusion von Menschen-, Welt- und Technikbildern aus Genetik, Psychologie, Neurophysiologie, Elektrotechnik und Mathematik in die Informatik – und zurück verstanden werden kann.4 Ihr Interesse galt, die impliziten Orientierungen aufzudecken, die der Genese von Programmiersprachen oder der Automatentheorie von Neumanns oder den in der Informatik ständig präsenten Formalisierungsprozessen zugrunde liegen. Im Kontext ihres Projektes wählten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Gegenstand ihrer Untersuchung das über die Hardware hinausgehende immaterielle Umfeld des Computers, d.h. sie bearbeiteten Fachtexte der Informatik. Als Gemeinsamkeit des untersuchten Materials deckten sie einen Prozess auf, den sie als Hybridisierung bezeichneten. Siefkes, Eulenhöfer, Stach und Städtler verstehen darunter die Überblendung der dichotomen Bereiche Computer und Mensch unter Verwendung formaler, meist mathematisch spezifizierter Notationen, wodurch die Aktionsweise von Mensch und Computer „in eins“ zu fallen scheinen. Diese Hybridisierung weisen sie als ein zentrales Charakteristikum informatischen Denkens und Handelns aus.5 Indem die vorliegende Dissertationsschrift das Überblenden von Neurophysiologie (als das Substrat des menschlichen Geistes) und Computertechnik im Kontext der frühen Kybernetik der 1940er Jahre untersucht, leistet sie einen Beitrag zur Entstehung der Hybridisierung als zentrale Vorgehensweise in der Informatik. Anregungen zu diesem Thema erhielt ich im Rahmen des IFP Projektes. Es waren die gemeinsamen Diskussionen um die organismischen, technischen und mathematischen Anteile in zentralen Texten aus der Frühzeit der elektronischen Computer, besonders zu John von Neumann, die in mir das Interesse weckten, den in der Kybernetik verlaufenden Hybridisierungsprozess von Nervensystem und Computer näher anzuschauen und besonders den neurophy3

Vgl. z.B. B. Latour/ S.Woolgar 1979, B. Latour 1987, G. Ropohl 1988, W. Rammert 1989, 1998, K. Knorr-Cetina 1999, G. Banse / A. Grunwald 2010; Übersichten geben z.B. B. Heintz 1993 bzw. K. Handel/ V. Hess 1998.

4

Vgl. P. Eulenhöfer et al 1997, S. 6.

5

P. Eulenhöfer et al 1997, P. Eulenhöfer 1998, H. Stach 1999, D. Siefkes 2002.

E INLEITUNG

| 11

siologischen Vorbildern auf die Spur zu kommen, ein Unterfangen, dessen Ergebnisse im ersten Teil dieser Arbeit präsentiert werden. Die von mir im Rahmen des Projektes durchgeführten Vorarbeiten führten auch zu dem im Sammelband des IFP erschienenen Artikel zum Thema.6 Dieses erwähnte kybernetische Programm einer Überblendung von Nervensystem und Rechentechnik bereitete nicht nur den Boden für Hybridisierung als verbreiteter Ansatz in der Informatik, sie wirkte auch in Form der Theorie endlicher Automaten, der Künstlichen Intelligenz, der Theorie Neuronaler Netze und des Konnektionismus in diese Wissenschaft hinein. Daneben übte sie auch großen Einfluss auf andere Disziplinen aus wie z.B. die Neurobiologie.7 Letztendlich bereitete die damals etablierte Gehirn – Computer – Analogie die bis heute anhaltende naturwissenschaftliche Aufklärung des menschlichen Geistes über sich selbst und seine technische Reproduzierbarkeit vor. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf zwei Wissenschaftler, den Neurophysiologen und Psychiater Warren McCulloch sowie den Mathematiker Johann von Neumann. Ich untersuche, auf welche Weise und mit welchen Zielen diese beiden zentralen Persönlichkeiten aus der Frühzeit der Informatik den Computer mit dem Nervensystem amalgamierten. Sie entwarfen, wie ich darlegen werde, inspiriert von den ersten elektronischen digitalen Rechenmaschinen Modelle vernetzter ‚Nervenzellen‘, in denen sie unter Verwendung mathematischer Logik das Nervensystem in seiner Funktionsweise (Neurophysiologie) sowie die Funktionsprinzipien der Rechentechnik überblendeten. Diese Modelle zeichnen sich durch den Anspruch aus, den Geist duplizieren zu können und zugleich sowohl den Organismus als auch die Rechenmaschine in ihrer Funktionsweise abzubilden. Der Fokus meiner Untersuchung liegt auf den rekurrenten Organisationsstrukturen innerhalb dieser Modelle, in denen, so die Annahme, eine regenerative, d.h. anhaltende und in ihrer Stärke gleichbleibende Zirkulation ablaufen könne. Ich zeige, dass diese Vorstellung von anhaltender Zirkulation in Modellen vernetzter ‚Nervenzellen‘ in der Frühzeit der Informatik aus der Überblendung zweier heterogener Bereiche entstammt: Vorbild war einerseits der erste größere Rechenmaschinenspeicher, der auf dem Prinzip der Zirkulation basierte. Andererseits beruht die Vorstellung auf dem neurophysiologischen bzw. neuroanatomischen Konzept einer geschlossenen Kette von Nervenzellen, das der Neuroanatom und Physiologe Rafael Lorente de Nó wenige Jahre zuvor zur Erklärung 6

K. Schmidt-Brücken 1998.

7

Vgl. M. Minsky 1967, S. Heims 1993, H. Stach 1999, M.A. Arbib 2000, L. Kay 2001, R. Rojas 2001, T. Abraham 2002, H.W. Magoun/ L.H. Marshall 2003, G. Piccinini 2004, M. Christen 2006, M.A. Boden 2008.

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von Impulsregulation auf Ebene der Mikroorganisation des zentralen Nervengewebes (u.a. im Cortex) postuliert hatte (vgl. Abbildung E-1). Auf die bestehende Verbindung zwischen Lorente de Nós physiologischem Konzept einer geschlossenen Neuronenkette einerseits und McCullochs bzw. von Neumanns Konzept regenerativer Zirkulation andererseits hat bereits Freeman aufmerksam gemacht.8 Abbildung E-1 Lorente de Nós geschlossene Neuronenkette

R. Lorente de Nó 1938b, S. 210.

In einer geschlossenen Neuronenkette („closed chain“) kreisen Impulse eine Zeit lang, wobei sie durch eine konstante Abgabe von Impulsen für eine anhaltende Senkung des Schwellenwertes der Erregung benachbarter Nervenzellen sorgen. Physiologisch wird dieses Phänomen auch als Bahnung bezeichnet. Auch die Existenz regenerativer Zirkulation in Modellen vernetzter ‚Nervenzellen‘ in der Frühzeit der Informatik fand in der Literatur bereits Erwähnung.9 Dennoch sind weder die zirkulativen Prozesse noch ihre Verbindungen zu der Neurophysiologie Lorente de Nós bislang eingehender untersucht worden. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man die Situation mit dem maschinellen Funktionsprinzip der negativen Rückkopplung vergleicht – auch als negativer Feedback bekannt –, dem bereits zahlreiche Untersuchungen gewidmet wurden.10 Dass diese mangelnde Aufmerksamkeit nicht gerechtfertigt ist, zeigt eine genauere Betrachtung besonders der Zeit um die Mitte der 1940er Jahre. Ich lege in meiner Arbeit dar, dass zu dieser Zeit der sich formierenden Kybernetik die regenerative Zirkulation einen gleichrangigen Platz neben dem negativen Feedback einnahm: Sie bildete, so meine These, das funktionale Kernstück eines

8

W.J. Freeman 1984.

9

Vgl. z.B. J.-P. Dupuy 2000, M. Christen 2006.

10 Zu negativer Rückkopplung in der Kybernetik finden sich ausführliche Darstellungen z.B. in P. Galison 1997, T. Abraham 2004.

E INLEITUNG

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kybernetischen Gedächtnis- bzw. Lernmodells par excellence in Mensch und Maschine. Damit diente sie genau wie der negative Feedback oder der Shannon’sche Informationsbegriff dem kybernetischen Projekt, das sich aus der Verbindung von Organismus und Technik neue Erkenntnisse über den Geist, das Gehirn und den Bau verbesserter Computer erhoffte. Von seiner etymologischen Herkunft her beschreibt Kybernetik die Kunst der Handlungsteuerung oder Handlungsregelung. Der Mathematiker Norbert Wiener hatte ihn dem griechischen țȞȕİȡȞȘIJȘȢ entlehnt, dem auch der englische Begriff des Steuermann, der „governor“, entstammt. Demgemäß sieht das Handlexikon zur Wissenschaftstheorie beispielsweise den Kernbereich der Kybernetik in einer formalen Theorie geregelter dynamischer Systeme.11 Im Untertitel seines Buches Cybernetics – control and communication in the animal and the machine bringt Norbert Wiener12 zum Ausdruck, dass er Maschinen und Lebewesen gleichermaßen als Gegenstand dieser Kontroll- und Kommunikationsprozesse betrachtet. Dass die Kybernetik als eine Metawissenschaft diese diachronen Bereiche lebendige und tote Materie, Organismus und Computer, das Gehirn und die digitalen Schaltungen zu umfassen sucht, wurde bereits mehrfach beschrieben.13 Mit der Untersuchung einer Modellbildung im Schnittpunkt Neurophysiologie/ Technik leistet die Arbeit nicht zuletzt einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung eben dieser Kybernetik. Zwar war sie in den letzten Jahren häufiger Gegenstand historischer Darstellungen. Die bestehenden Publikationen beschäftigen sich vor allem mit den politischen, militärischen und technologischen Dimensionen der Kybernetik,14 ihrem Einfluss auf Sozialwissenschaften und Wirtschaft,15 mit der Militarisierung der Psychologie im Verlauf des 2. Weltkriegs und des anschließenden Kalten Kriegs,16 mit dem kulturellen Einfluss der Kybernetik auf das Verständnis dessen, was als menschlich angesehen wird,17 und die metaphorischen und methodologischen Verzweigungen der Kybernetik in die Molekular- und Entwicklungsbiologie18. Erst kürzlich wurde der Einfluss der Kybernetik auf unterschiedliche sozialwissenschaftliche Disziplinen unter11 H. Seiffert/ G. Radnitzki 1992, S. 183. 12 N. Wiener 1948b. 13 Z.B. P. Edwards 1997, P. Galison 1997, N.K. Hayles 1999, R. Cordeschi 2000, 2002, M. Hagner/ E. Hörl 2008. 14 P. Galison 1997, D. Mindell 2002. 15 S. Heims 1993, P. Mirowski 2001. 16 P. Edwards 1997. 17 N.K. Hayles 1999. 18 L.E. Kay 2000, E. Fox Keller 2002.

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sucht19 und der Entwicklung der Kybernetik in Großbritannien ein eigenes Buch gewidmet20. Eine umfassendere Untersuchung der kybernetischen Modellbildung im Schnittpunkt Technik/ Neurophysiologie steht jedoch noch aus. Die vorliegende Untersuchung erfolgt diachron. Der erste Teil der Arbeit (Kapitel 1 und 2) beschäftigt sich mit der Entwicklung von Modellen vernetzter Nervenzellen aus neurophysiologischer und –anatomischer Perspektive. Lineare und zirkuläre Formen der Erregungspropagation aus der Anfangszeit eines wissenschaftlichen Verständnisses des Nervengewebes als Netz autonomer Nervenzellen um die Wende zum 20. Jahrhundert werden vorgestellt. Kapitel 2 stellt die Entwicklung von Lorente de Nós Konzept geschlossener Nervenketten aus den 1930er Jahren dar. Der zweite Teil (Kapitel 3) widmet sich der Hybridisierung nervlicher und computerieller Funktionsweisen in der sich entwickelnden Kybernetik. Die Zeitspanne dieses Teils der Untersuchung reicht von der protokybernetischen Vorzeit der späten 1930er Jahren, über 1945, als der erste funktionsfähige digitale elektronische Computer in den USA seine Arbeit aufnahm, bis in die frühen 1950er Jahre. Das 1. Kapitel setzt im späten 19. Jahrhundert ein. In den 1890er Jahren wurde von Ramón y Cajal die Nervenzelle als singulärer, funktional und anatomisch unabhängiger Elementarbaustein des Nervensystems postuliert. Das Kapitel zeigt auf, wie Anatomen und Physiologen dieser Zeit ihre Kenntnisse nutzen, um über mögliche Zusammenhänge zwischen Geist und Nerven zu spekulieren. Drei damals entstandene Modelle vernetzter Nervenzellen werden vorgestellt; ich nennen sie neuronale Integrationsmechanismen. Ich zeige, wie in ihnen Erkenntnisse zu Physiologie und Anatomie sowie philosophische Spekulationen über den Geist zu solchen Modellen verquickt wurden, in denen die zu erklärende Funktion ein Ergebnis des Zusammenspiels der vernetzten Nervenzellen bildete. Die vorgestellten neuronalen Integrationsmechanismen von Santiago Ramón y Cajal, Sigmund Exner und Charles Sherrington sind sowohl im Cortex als auch in niederen Zentren des Nervensystems und dem Rückenmark angesiedelt. Sie werfen Schlaglichter auf die unterschiedlichen, um die Wende zum 20. Jahrhundert existierenden Ansätze zur Erklärung physiologischer Variabilitäten im Nervensystem (wie sie Beispielsweise bei Reflexen zu beobachten ist) sowie der Entstehung geistiger und körperlicher Fähigkeiten auf neuronaler Ebene. Eine Darstellung zirkulärer Aktivitäten in vernetzten Nervenzellen ist dabei, wenn überhaupt, allein bei Cajal zu erkennen.

19 M. Hagner/ E. Hörl 2008. 20 A. Pickering 2010.

E INLEITUNG

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Das 1. Kapitel spannt den Hintergrund auf für Lorente de Nós Postulat einer geschlossenen Nervenkette mehr als drei Jahrzehnte später. Dessen Weg hin zu einer Formulierung dieses Konzeptes widmet sich das 2. Kapitel, das auch den neurowissenschaftlichen Teil der Arbeit beschließt. In der Verdichtung dreier Ansätze (Neuroanatomie, Reflexphysiologie und Elektrophysiologie) formulierte Lorente de Nó, so meine Argumentation, ab 1933 seine Thesen über zwei Arten neuronaler Verkettungen in der Mikroorganisation des zentralen Nervengewebes, der geschlossenen und der sich verzweigenden Neuronenkette als neuronale Integrationsmechanismen, die der Koordination und Regulation nervöser Erregung im Nervensystem dienten. In den 1930er Jahren stellten Lorente de Nós Ausarbeitungen auf diesem Gebiet eine Ausnahme dar, da sich Physiologie und Anatomie zu diesem Zeitpunkt anderen Ansätzen verschrieben hatten. Sein Verdienst um eine frühe Darstellung der funktionellen Parzellisierung im Cortex sowie zentralnervöser neuronaler Verknüpfungsmuster findet inzwischen immer mehr Anerkennung.21 Während sich der erste Teil einer organizistischen Betrachtung des Nervengewebes aus Sicht der Neuroanatomen und Physiologen widmet, wird im zweiten Teil der Prozess die Entstehung einer technizistischen Sichtweise auf das Nervensystem betrachtet.22 Auf der Suche nach den universellen Mechanismen des Geistes wurden in den 1940er Jahren die Unterschiede zwischen Rechenmaschine und Gehirn eingeschmolzen. Dies geschah beispielsweise durch die Gleichsetzung der Grundelemente des gerade entwickelten, elektronischen, digitalen Computers, die digitalen Schalter, mit den Nervenzellen durch John von Neumann. Die Rechenmaschine – oder ein durch sie berechenbares mathematisches Modell – übernahm die Leitbildfunktion für das Verständnis von Gehirn und Geist. Die in diesem Zusammenhang entstandenen theoretischen Modelle nenne ich kybernetische Nervennetzmodelle.23 Die darin vollzogene Hybridisierung von Neurophysiologie und Technik war nicht nur dem technischen Blickwinkel von Mathematikern und Ingenieuren geschuldet. Die Vorstellung der Nervenzelle als dem Basiselement des Nervensystems, welches ähnlich einem digitalen on/off Schalter funktioniert, entstammte der Physiologie, nicht der Kybernetik (vgl. Schlussbetrachtungen Teil I), und wurde von McCulloch

21 A.M. Graybiel 1979, W.S. Hoar 1983, W.J. Freeman 1984, J. Larriva- Sahd, 2003, A. Fairén 2007. 22 Hier greife ich auf die Einteilung von M. Hagner 2004 zurück. 23 Wer den Begriff Nervennetze in Physiologie bzw. Anatomie geprägt hat, ist unklar. Eine erste Erwähnung des Begriffs lässt sich bei Albrecht von Kölliker im Jahr 1867 finden, vgl. Kapitel 1.

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und Pitts in ihr Modell logischer Nervennetze als Grundelement mit zwei Zuständen integriert. Das 3. Kapitel stellt dar, wie und von welchen Zielen geleitet McCulloch und von Neumann je individuelle kybernetische Nervennetzmodelle als Ausdruck einer Kybernetisierung ihres Denkens entwickelten. Ihre Modelle lassen sich insofern als offen bezeichnen, als dass verschiedene Konzepte aus den Bereichen Physiologie und Rechenmaschinentechnik darin adaptiert werden konnten, wie ich anhand der regenerativen Zirkulation zeige. Diese wurde von den zwei Wissenschaftlern unterschiedlichen Deutungen unterworfen. Sie beschreiben sowohl, welche Bedeutung die Zirkulation innerhalb der kybernetischen Nervennetzmodelle erfüllte, als auch welche geistigen Fähigkeiten anhand ihrer simuliert werden könnten. Ausgehend von dem physikalistischen Verständnis, dass der Geist allein im Zusammenspiel der Nerven gründe, postulierten McCulloch und von Neumann damit potentielle, den kognitiven Fähigkeiten wie „Lernen“ und „Gedächtnis“ zugrunde liegende Mechanismen. Sie bezogen sich in ihrem Tun auf psychophysiologische Theorien, die sich aus assoziationstheoretischen Ansätzen des 19. Jahrhunderts speisten, genauso wie auf die Funktionsweise des Computers. Fragen nach der Repräsentation von Semantik, wie sie später beispielsweise in den Debatten der Künstlichen Intelligenz wichtig waren, wurde dabei keine besondere Bedeutung beigemessen. Die vorliegende Arbeit soll nicht nur dazu beitragen, einen konstruktiven Umgang mit der Kulturalität der Informatik zu finden. Sie leistet zugleich einen Beitrag zu dem Thema, wie sich in der Kybernetik die Betrachtungsweise des Menschen auf sich und seine Welt nachhaltig veränderte. Wie Hagner und Hörl schreiben, begann sich unter dem Eindruck der unübersehbar werdenden hochtechnologischen Entwicklungen der 1940er Jahre das Bild des Menschen von sich selbst und seinem Sein in der Welt im Zeitalter von Kommunikation und Information neu auszugestalten.24 Das Gehirn als Sitz des Geistes wurde in dieser Zeit neu entdeckt. Im Kontext der elektronischen Rechenmaschinen betrachteten die beteiligten Wissenschaftler, unter denen Neurophysiologen genauso vertreten waren wie Ingenieure und Mathematiker, das Gehirn, das Nervensystem, den Geist vor allem durch die Brille von Mathematik und Technik.25 Während bis Mitte des 20. Jahrhunderts der Zugang zum Gehirn bzw. dem zentralen 24 M. Hagner/ E. Hörl 2008, S. 9. 25 Der Erfolg dieses technizistischen Ansatzes ist jedoch nach M. Hagner/ E. Hörl 2008 nicht nur mit den Maschinen und ihren Möglichkeiten zu begründen. Er füllte auch ihres Erachtens das Vakuum, das nach den Erfahrungen des Holocaust entstanden war, welcher seine Wurzeln in einem „auf Höherzüchtung und Ausmerzung ausgerichteten organizistischen Menschenbild“ besaß (ebenda, S. 9); vgl. auch M. Hagner 2004.

E INLEITUNG

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Nervensystem vorrangig von den klassischen Disziplinen Neuroanatomie und Physiologie geprägt war, die Strukturen klassifizierten, Regionen bzw. Funktionen lokalisierten und die Nervenfunktion untersuchten, wandelte sich die Frage nach dem „Was ist das Nervensystem bzw. das Gehirn?“ in der Kybernetik der 1940er Jahre in ein „Wie funktioniert es?“.26 In der vorliegenden Arbeit wird genau dieser Wandel in der Betrachtung des cerebralen Nervensystems innerhalb einer historisch festzumachenden Zeitspanne anhand konkreter Protagonisten illustriert. Jedoch weist die Arbeit ebenso auf den von Hagner und Hörl ausgewiesenen „imaginären Standort der Kybernetik hin, der eine neu, nach wie vor aktuelle Art der Erkenntnis hervorbringt“27. Denn die in der Kybernetik geprägte technizistische Perspektive auf das Nervensystem wirkt nach wie vor in der Informatik nach. Und auch der in der Kybernetik mit der Simulation der Funktionsweise des Nervensystems angestoßene Prozess der Neuauslotung des Menschen scheint in den beteiligten Wissenschaften, neben der Informatik auch die Psychologie und die Neurowissenschaften, noch nicht abgeschlossen zu sein.

26 Vgl. auch M. Hagner 2004, S. 288ff. 27 M. Hagner /E. Hörl, 2008, S. 8.

Teil I

1. Neuronale Integrationsmechanismen um die Wende zum 20. Jahrhundert

1.1 E INLEITUNG Das Thema dieses Kapitels ist die Darstellung neuronaler Integrationsmechanismen um die Wende zum 20. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um Modelle vernetzter Nervenzellen, wie sie der Feder von Physiologen und Anatomen entstammten. In ihren Entwürfen postulierten die Wissenschaftler Modelle als materielles Substrat körperlicher Reflexe und geistiger Prozesse. Die von mir so bezeichneten neuronalen Integrationsmechanismen weisen zwei wesentliche Merkmale auf: In ihnen werden Nervenzellen als Grundelemente verwendet und ihre Funktionsweise lässt sich als integrativ bezeichnen: • Die Nervenzellen in diesen neuronalen Integrationsmechanismen werden als

die elementaren Bausteine des Nervengewebes angesehen. Zwar wurde seit Entdeckung der Zellen durch Rudolph Virchow (1855) das Nervensystem durchaus als zellulär organisiert betrachtet; eine richtige Ausformulierung der Organisation des Nervengewebes erfolgte aber erst mit Etablierung der Neuronendoktrin in den 1890er Jahren, in der Nervenzellen als unabhängige Basiselemente des Nervengewebes postuliert werden. • Die neuronalen Integrationsmechanismen offenbaren eine funktionale Perspektive: Strukturelle Aspekte der Vernetzung der neuronalen Einzelelemente dienen – gemeinsam mit Annahmen zur Interaktion eben dieser Nerven (Physiologie) – der Erfüllung einer Gesamtfunktion: In solchen Modellen vernetzter Nerven wurden Prozesse postuliert, die zusammenwirkend ein Gesamtfunktion erfüllten. Dieses Prinzip der Komposition eines funktionalen Ganzen

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aus Einzelteilen durch Addition und Kombination wird auch als Integration bezeichnet.1 Das Kapitel beleuchtet schlaglichtartig die Hintergründe der Entstehung dieser neuronalen Integrationsmechanismen anhand der anatomischen, physiologischen und nicht zuletzt philosophisch-psychologischen Voraussetzungen. Die historischen Entwicklungen in den Bereichen Physiologie (Reflexe, Lokalisation, Koordination und Kontrolle) und Neuroanatomie sind bereits historisch gut aufgearbeitet. Ich werde sie je kurz erläutern. Nach dem einführenden Teil stelle ich drei spezifische Ausprägungen neuronaler Integrationsmechanismen vor. Bei den ausgewählten Beispielen handelt es sich um die Subsysteme des spanischen Neuroanatomen Santiago Ramón y Cajal, das Nervennetzmodell des Wiener Physiologen Siegmund Exner und den „common paths“-Mechanismus des englischen Reflexphysiologen Sir Charles Sherrington. Alle drei Beispiele entstammen der Zeitspanne zwischen 1894 und 1906, also kurz nach der Etablierung der Neuronendoktrin. Bei den Autoren handelt es sich um bekannte Anatomen und Physiologen, die mit ihren Arbeiten wichtige wissenschaftliche Konzepte Grund legten, welche sich – weiterentwickelt – im modernen Verständnis zentralnervöser Aktivitäten wiederfinden lassen. Mir geht es in diesem Kapitel nicht um eine vollständige Beschreibung und Analyse neuronaler Integrationsmechanismen um die Jahrhundertwende,2 – eine solche wäre im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten – als vielmehr um eine Einführung, die Einblick in die Vielfalt der Ansätze zur damaligen Zeit zeigt. Unter den Wissenschaftlern sind diese drei – neben ihrer allgemeinen Bedeutung – auch ausgewählt, weil Lorente de Nó sich nachweislich mit ihnen auseinander setzte (vgl. Kapitel 2). Ramón y Cajal war sein Lehrer. Über seinen Mentor, den Ohrenheilkundler Robert Bárány, kam er indirekt mit den Gedanken Exners in Kontakt. Von Sherrington übernahm er Ideen zur variablen Interaktion der Nerven.

1

Vgl. W. Riese 1942, S. 305. Ein ähnliches, vor allem funktionales Verständnis neuronaler Feinstrukturen kommt in dem von Breidbach verwendeten Begriff der „Funktionsarchitektur“ (O. Breidbach 1997) oder „Funktionsmorphologie“ (O. Breidbach 1999) zum Ausdruck, mit dem er beispielsweise Exners Ausführungen von 1894 beschreibt. Mit den von mir verwendeten Begriffen Mechanismus und Integration möchte ich den zweifache Bedeutung der funktionalen Perspektive in den neuronalen Integrationsmechanismen zum Ausdruck bringen, zum einen als Beschreibung der Funktionsweise der Nervenzellen, zum anderen als zu erklärende Gesamtfunktion.

2

Das „mem-System“ Siegmund Freuds ist beispielsweise ein weiteres prominentes Beispiel aus dieser Zeit, vgl. M. Jeannerod 1985, B. Gomulicki 1953.

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Neuronale Integrationsmechanismen – eine Synthese physiologischer, philosophischer und anatomischer Erkenntnisse Der Begriff Integration innerhalb der neuronalen Integrationsmechanismen unterstreicht, dass Interaktion und Anordnung der elementaren Bestandteile die Abläufe in diesem Nervenensemble bestimmen, so dass sich ein planmäßiges und zweckhaftes Geschehen vollziehen kann, ähnlich einer Maschine. In diesen Tendenzen zur Zerlegung einerseits und Synthese des nervösen Geschehens andererseits kann man durchaus Parallelen zur aufkeimenden industriellen Produktion und deren Organisation gegen Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehen.3 Eine solche integrative Betrachtungsweise der Nerven wurde ermöglicht durch den Erfolg der wachsenden Anwendung exakter naturwissenschaftlicher Methoden auf das Nervensystem im Verlauf des 19. Jahrhundert. Mit dem Zurückdrängen spekulativer Theorien wurden Geschehnisse in der Natur (und somit auch im Körper) auf Stoffe, Kräfte und Bewegungen zurückgeführt, die nur dem Gesetz von Ursache und Wirkung folgen (Kausalitätsprinzip). Die Leistungen des Organismus wurden als ein Ergebnis gemäß den Gesetzen der Physik und Chemie verstanden, eine Eigengesetzlichkeit des Organischen wurde dabei nicht gesehen. Folglich suchte man auch physische und psychische Fähigkeiten durch quantitative Wirkungen auf räumlich ausgebreiteter Materie zu erklären. Auch die Grundprozesse des Nervensystems wurden unter dieser Perspektive betrachtet. Man suchte sie als räumliches und zeitliches Zusammenwirken struktureller und funktioneller Aspekte des Nervensystems zu verstehen, wie diese den Gesetzen von Ursache und Wirkung folgend die Grundlage für die verschiedenen Erscheinungen des Lebens bilden könnten. In diesem Kontext bildete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an assoziationistische Theorien das Verständnis dynamischer Prozesse der Regulation und Adaption im Nervensystem heraus.4 Der eine solchermaßen funktionale Perspektive auf das Nervensystem erfassende Begriff der Integration wurde Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Er entstammt ursprünglich der Mathematik als Gegenbegriff zur Differenzialrechnung und wurde von dem Assoziationspsychologen Herbert Spencer in die Biologie eingeführt.5 Im all-

3

Vgl. S. Giedion 1987, B. Heintz 1993.

4

Vgl. z.B. R.M. Young 1990.

5

Vgl. W. Riese 1942, S. 296. Herbert Spencers First Principles, in denen er den Begriff Integration prägte, erschienen erstmals in den Jahren 1860-62.

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gemeinen Verständnis bedeutete Integration damals „the making up or composition of a whole by adding together or combining the separate parts or elements“6. Die als neuronale Integrationsmechanismen bezeichneten Modelle der Mikroorganisation des Nervengewebes mit ihren interneuronalen Verbindungen sowie den darin ablaufenden Prozessen sind alle hypothetischer Natur.7 Zwar bildeten anatomische und physiologische Kenntnisse die Grundlagen. So wurden die Nervenzellen wurden als die unabhängigen Grundelemente des Nervengewebes betrachtet und die nervöse Erregung als das elektrisch messbares Agens des Nervensystems. Die vorhandenen wissenschaftlichen Kenntnisse reichten jedoch nicht aus, um das Nervensystem in seinem neuronalem Aufbau und seiner Funktionsweise wirklich zu verstehen. Der Blick durchs Mikroskop gab nur eingeschränkt Aufschluss über die Vernetzung der Nervenzellen. Und auch über die innerhalb der Nerven ablaufenden Prozesse wusste man recht wenig, konnte man doch nur indirekt auf sie schließen. Zur Erkundung der Funktionen des Nervensystems standen damals zwei experimentelle Strategien zur Verfügung: • Defizitstudien, bei denen spezifische Strukturen des Nervensystems zerstört

und die daraus resultierenden Verhaltensveränderung beobachtet wurden. • Stimulationsstudien, bei denen eine der Komponenten künstlich gereizt und das reaktive Verhalten beobachtet wurde. Schwierigkeiten bei der Interpretation der Experimente entstanden, da in beiden Versuchsmethoden wegen der Eingriffe von außen nicht die regulären, d.h. nicht die ungestörten Verhaltensabläufe beobachtet werden konnten. Im Kapitel wird aufgezeigt, wie bestehende Lücken und Unsicherheiten in Neuroanatomie und Physiologie im 19. Jahrhundert durch philosophische und psychologische Vorstellungen ergänzt wurden. Besonders gerne bediente man sich der physikalistischen Philosophie des Assoziationismus, in der Wahrnehmung und Denken als Ergebnis mehr oder weniger fest verknüpfter ideeller Verbindungsbahnen betrachtet wurden, um anhand des Zusammenspiels der Nerven das Substrat geistiger und physischer Fähigkeiten zu plausibilisieren.8 6 7

Oxford Dictionary von 1901, ebd., S. 305. Bereits W. Riese 1942 wies darauf hin, dass es sich bei dem Begriff der Integration um ein theoretisches Konzept handelt und nicht um eine empirisch zu belegende Tatsache.

8

Vgl. Abschnitt 1.2.4. Ein Beispiel für dieses Vorgehen bietet der Physiologe Ewald Hering (1834-1918). Er verstand das Gehirn als ein „materielles Getriebe“, dem „zugleich ein Bewußtsein gegeben [ist], und während die Atome des Gehirns nach festen Gesetzen die Bahnen ihrer Bewegung suchen, webt sich aus Empfindung und Vorstel-

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Solcherlei Erklärungen des Geistes zu bieten, war in den „Wissenschaften vom Menschen“ des 19. Jahrhundert nichts Ungewöhnliches. Handelte es sich doch damals um ein zentrales Thema. Hagner weist darauf hin, dass in „den medizinischen, biologischen und anthropologischen Wissenschaften des gesamten Jahrhunderts (überhaupt) die Erklärung psychischer Phänomene durch körperliche Prozesse ein erstrangiges Thema (war)“9. Denn im Zuge der Durchsetzung eines allgemeinen naturwissenschaftlichen Denkens in den Wissenschaften vom Menschen sei auch nach den anatomischen und physiologischen Grundlagen des Geistes gefragt worden. In diesem Bestreben wurde „psychologisches“ Gedankengut auf die Ebene von physiologischen und anatomischen Kategorien transportiert. Physiologen und Anatomen brachten sich mit eigenem Beiträgen in die aktuelle Leib-Seele-Diskussion ein, indem sie Hypothesen über das nervöse Substrat geistiger Fähigkeiten formulierten. Manch ein Wissenschaftler erhoffte sich in der Verbindung von Psychologie bzw. Philosophie und Nervenkunde auch eine wissenschaftliche Fundierung seiner Disziplin oder glaubte vielleicht an die schnelle „Lösung jener großen Rätsel“, der Entschlüsselung der Funktionsweise des Gehirns im Sinne von Bewusstsein, Willen, Denken und Empfindungen, wie der Physiologe Ewald Hering 1870 schrieb.10 Das Verständnis, wie das Verhältnis zwischen Gehirn als materiellem Substrat einerseits und den geistigen Fähigkeiten andererseits zu verstehen sei, gestaltete sich jedoch nicht bei allen Wissenschaftlern gleich. Unterschiedliche Meinungen herrschten, in wieweit bestimmte geistige Fähigkeiten oder moralische Qualitäten überhaupt anhand quantitativer Prozesse erklärbar seien, und ob es nicht eine immaterielle Seele gäbe, die sich beispielsweise im freien menschlichen Willen oder in seinem sittlich-moralischen Verhalten kund tue und vollkommen unabhängig von der materiellen Sphäre sei.11 Jedoch auch unter den

lung, aus Gefühl und Wille das innere Leben“ (E. Hering 1870/ 1892, S. 1). „[S]o wird er [der Physiologe] entsprechende Reihen materieller Prozesse anzunehmen haben, welche einander auslösen, sich miteinander verknüpfen und in ihrer materiellen Weise das ganze Getriebe des bewußten Lebens nach den Gesetzen des funktionellen Zusammenhangs zwischen Materie und Bewußtsein begleiten“ (ebd., S. 7). Eben diese materiellen Prozesse unter Zuhilfenahme der Psychologie zu erforschen, sei Aufgabe des Physiologen. 9

M. Hagner 1999, S. 184.

10 E. Hering 1905, S. 1, die erste Auflage erschien 1870. 11 Vorstellungen, dass es eine moralische Instanz gäbe gänzlich unabhängig von der Materialität des Gehirns, waren im 19. Jahrhundert üblich. Hagner sieht die Gründe, die dazu führten, dass ab ca. 1870 schließlich auch der Sitz von Sittlichkeit und Moral an

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Wissenschaftlern, die einen bestehenden Zusammenhang zwischen geistigen und leiblichen Lebensprozessen annahmen, war das Verhältnis zwischen den zwei Sphären Leib und Geist umstritten: Befürworter einer physikalistischen Identitätsthese betrachteten die Abläufe in den Nerven als ursächliche Grundlage aller geistiger Aktivitäten. Vertreter des Epiphänomenalismus, der ebenfalls in einer physikalistischen Sicht gründet, verstanden mentale Prozesse als eine Art Nebenprodukt physischer Aktivitäten. Im Interaktionismus als einer Spielart des Dualismus wurde ein wechselseitiger Einfluss geistiger und leiblicher Prozesse postuliert.12 Unabhängig von der je eigenen philosophischen Grundhaltung bestand jedoch unter Anatomen und Physiologen eine weitgehende Übereinstimmung darin, dass das Nervensystem – als die physische Grundlage der Lebensfunktionen – anhand naturwissenschaftlicher Methoden verstanden werden könne. Auf dieser Grundlage entwickelten sich Vorstellungen zur Interaktion vernetzter Nervenzellen zwecks Erklärung einer höheren Funktion aus einer Synthese von neuroanatomischen und physiologischen Erkenntnissen unter Zuhilfenahme philosophischer Ideen.

1.2 P HYSIOLOGISCHE , PSYCHOLOGISCHE UND NEURO ANATOMISCHE ASPEKTE DER H ERAUSBILDUNG NEURONALER I NTEGRATIONSMECHANISMEN Das 19. Jahrhundert war auf vielfältige Weise prägend für das moderne Verständnis des Menschen: Um 1800 war es zu einer Neubestimmung im Verhältnis von Körper und Geist gekommen.13 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ein in weiten Teilen naturwissenschaftliches Verständnis des Menschen durchgesetzt. Entgegen vorheriger Annahmen, in denen man ein Seelenorgan zu lokalisieren suchte, in dem der Sitz der Seele vermutet wurde, wurden die Grundlagen menschlicher Psyche nun im Gehirn verortet. Das Hirn erfuhr eine Aufwertung; es avancierte zum Mittelpunkt der Bestimmung des Menschen („Cerebralisierung“ des Men-

die Materialität des Gehirns gebunden wurde, in den gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen der damaligen Zeit begründet, vgl. M. Hagner 2000b. 12 Zum Geist-Leib-Problem vgl. M. Bunge 1984, H. Walach 2005. 13 Ausführlich in M. Hagner 2000b.

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schen).14 Fortan rang man, das Gehirn zu besser verstehen, denn es galt als Zentrum, an dem Seele und Körper, geistige Prozesse und Nervenprozesse interagieren, als ein Ort, an dem diese „Interaktion [...] räumlich und materiell fixierbar ist“15. Neben dem Gehirn hatte sich zu diesem Zeitpunkt auch das Rückenmark in den Augen der Wissenschaft als eigenständige Struktur etablieren können16, anhand derer man die physiologischen Grundlagen der Bewegungsabläufe zu studieren begann. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm die Anwendung exakter naturwissenschaftlicher Methoden auf den Körper stetig zu.17 Das Experiment stieg zur zentralen Methode des Erkenntnisgewinns auf. Der methodische Zugriff vereinheitlichte sich. In unterschiedlichen experimentellen Ansätzen suchte man Gehirn und Rückenmark in ihrem Aufbau und ihrer Funktionsweise zu verstehen, um so den körperlichen Korrelaten menschlicher und animalischer Physis und Psyche auf die Spur zu kommen. In diesem Kontext bildeten sich drei wichtige funktionale Konzepte heraus: Lokalisation, Reflex, Hemmung. Als physiologische Konzepte, die zugleich Analogien im Bereich der Psychologie, d.h. der Erklärung des Geistes besaßen, kam ihnen eine große Bedeutung für die Debatten um das Verhältnis von Leib und Seele zu. Denn sie funktionierten in ihrer unklaren Begriffsbestimmung, wie Smith schreibt, als ein „vehicle for an emotive revolution of thought, laden with evaluative implications and open to semingly endless philosophical dispute“18. Im Folgenden werde ich zuerst die physiologischen Vorbedingungen neuronaler Integrationsmechanismen anhand der drei vorgestellten physiologischen Begriffe Lokalisation, Reflex, Hemmung näher erläutern. Im Anschluss erfolgt ein Exkurs in die Assoziationspsychologie mit Schwerpunkt auf der „Materialisierung“ seiner funktionellen Aspekte im Nervensystem. Wie die nervlichen Grundelemente in Form der anatomisch autonomen Nervenzelle gegen Ende des 19. Jahrhunderts konzeptionell konkretisiert und im zweiten Schritt auch physiologisch ausgestaltet wurden, zeigen die abschließenden Abschnitte.

14 Die verschiedenen konzeptionellen Entwicklungen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Verständnis des Gehirns als einem Organ führten, in dem die Funktionen des Verhaltens lokalisierbar sind, hat M. Hagner (ebd.) gut dargestellt. 15 Ebd., S. 11. 16 Das Rückenmark betrachtete man zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht länger als eine einfache Bündelung der Ausläufer peripherer Nerven, sondern es galt zunehmend als eine caudale Extension des Gehirns. 17 Vgl. ebd., M.A.B. Brazier 1988. 18 R. Smith 1992, S. 16.

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1.2.1 Cerebrale Lokalisation vs. funktionelle Äquipotenz Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Bestimmung des Gehirns und damit zu einer naturwissenschaftlichen Erklärung mentaler Prozesse bildete die Durchsetzung des sogenannten Lokalisationsprinzips. Der Streit um die Frage, ob das nervöse Zentralorgan, das Gehirn, funktionell unterteilbar sei, wurde besonders im 19. Jahrhundert erbittert geführt. Um die Deutungshoheit konkurrierten zwei wesentliche Richtungen: Der Lokalisationismus und die Äquipotenz.19 Die Vorstellung des Lokalisationismus, d.h. die Annahme, dass sich eine organische Pluralität des Gehirns in der Verschiedenheit seiner topographischen Strukturen ausdrückt, gab es in verschiedenen theoretischen Ausformungen seit der Antike. In der Zeit vor dem 19. Jahrhundert hatten jedoch Äquipotenzvorstellungen dominiert, die allein dem Gehirn als Ganzen das Potential zumaßen, das Substrat für Lebensäußerungen zu bilden. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es in der Physiologie zu einer experimentellen Bestätigung cerebraler Äquipotenz durch den Franzosen Marie-Jean Pierre Flourens (1794-1867) gekommen. Auf Grundlage einer Vielzahl von Läsionsexperimenten an Kleintieren schloss der Physiologe auf eine funktionale Dreiteilung des Gehirns: Das verlängerte Rückenmark beschrieb er als Sitz der vitalen Funktionen, das Kleinhirn als Ort der Koordination der Körperbewegungen, und im Großhirn sah er den Sitz des Willens und der Empfindungen an. Letzteres sei in seinen Funktionen nicht weiter unterteilbar, da all seine Teile funktional gleichwertig (äquipotent) seien.20 Aufgrund reizphysiologischer Experimente an der Großhirnrinde kam es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jedoch zu der wissenschaftlichen Durchsetzung vom Bild eines funktional differenziert organisierten Gehirns.21 Während sich in den Jahrzehnten zuvor eine ganze Reihe von Wissenschaftlern glücklos, wie Hagner schreibt22, daran versucht hatte, durch Reizungen, Quetschungen oder ähnlichen Einwirkungen auf die Großhirnrinde nennenswerte Reaktionen bei den Versuchstieren hervorzurufen, gelang es 1870 dem Anatomen Gustav Fritsch (1838-1907) und dem Psychiater Eduard Hitzig (1838-1927) gemeinsam, den experimentellen Beweis für eine Lokalisation von motorischen Funktionen an den frontalen Teilen der Großhirnrinde zu erbringen.23 Durch Anwendung geringer Ströme auf den freigelegten Cortex von Hunden gelang es ihnen, Reak19 Näheres in M. Hagner 2000b. 20 M. P. Flourens 1842. 21 Vgl. M.A.B. Brazier 1988, R.M. Young 1990, M. Hagner 2000b. 22 M. Hagner 2000b. 23 G. Fritsch/E. Hitzig 1870.

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tionen engbegrenzter Muskelgruppen der jeweiligen, der stimulierten Gehirnseite gegenüberliegenden Gliedmaßen zu erzielen. Die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse lieferte einen wichtigen Beweis für die Zusammenhänge zwischen cortikalen Zentren und motorischen Funktionsabläufen, der die besonders in Deutschland herrschende Reserviertheit gegenüber cerebralen Lokalisationstheorien löste. Viele Experimentatoren nahmen die Experimente als Anregung für ihre eigene Forschung am Großhirn auf – zu ihnen zählten der britische Physiologe David Ferrier (1843-1928) und der deutsche Friedrich Goltz (1834-1902). Die cerebrale Elektrophysiologie boomte in der Folgezeit. Physiologische Reizexperimente an der Gehirnoberfläche von Tieren wurden mit pathologischen Gehirnbefunden aus der Klinik kombiniert. Neben motorischen Regionen begab man sich auch auf die Suche nach sensorischen Funktionsarealen im Gehirn. Eine Vielzahl graphischer Kartierungen von Hirnfunktionen entstanden. Dass dabei Ergebnisse aus Tierversuchen und Beobachtungen am Menschen unhinterfragt zueinander in Beziehung gesetzt wurden, entsprach den Ideen der Evolutionstheorie. Eine den Menschen und das Tier vergleichende Hirnanatomie und Hirnphysiologie galt als angemessen, da von einer prinzipiellen Gleichheit in Aufbau und Funktion des Gehirns ausgegangen wurde. Die Ergebnisse der Hirnkartierungen divergierten, allerdings hatten sich gegen Ende des Jahrhunderts die Lokalisationslehren als Standardwissen etabliert. Es „bestand weitgehende Einigkeit darüber, dass die Ausführungen psychischer und physischer Funktion an die Materialität des Gehirns gebunden ist, und zwar an bestimmte Regionen“24 – eine auch noch heute geltende Grundannahme.25 Die cerebrale Lokalisation motorischer Funktionen legte eine materielle Entsprechung psychischer Funktionen nahe, die vorher als Ausdruck der nichtphysikalischen, mentalen oder vitalistischen Welt betrachtet wurden. „Localization“, so Smith, „thus enabled description of living and mental processes as part of the natural world.“26 Damit machte sie das Gehirn und damit alle mentalen Prozesse der naturwissenschaftlichen Betrachtung und Untersuchung zugänglich. Diese in der Lokalisationstheorie des Gehirns enthaltene Annahme, die Psyche setze sich aus lokalisierbaren Teilfunktionen zusammen, stand nicht im Widerspruch zu einer funktionalen und integrativen Perspektive auf das Nervensystem, wie in den neuronalen Integrationsmechanismen gegeben. Lokalisationstheorien gehen von der Annahme aus, dass psychische und physische Funktionen bestimmte, abgrenzbare Felder im Hirn besetzen (entweder eines oder mehrere, je nach Deutung). Daher sucht man funktionelle Hirnareale physiolo24 M. Hagner 1996, S. 59. 25 Vgl. ebd., M. Hagner 2000b, E. Oeser 2002. 26 R. Smith 1992, S. 17.

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gisch und anatomisch ein- und abzugrenzen. Neuronale Integrationsmechanismen gehen davon aus, dass Funktionen jeweils mehr oder weniger spezifischen Nervenensembles zugeordnet werden können. Da solche Nervenensembles nicht anders können, als einen Raum auszufüllen, setzen sie folglich eine Art Lokalisationsgedanken voraus, ohne dass diese jedoch immer auf einen bestimmten Ort festzulegen sind.27 Der Zugang zum Entwurf solcher neuronaler Integrationsmechanismen erfolgte nicht über die klassischen Methoden der Lokalisation, wenngleich deren Ergebnisse unterstützend herangezogen wurden, sondern über die Integration neuroanatomischen Wissens mit Erkenntnissen aus der Physiologie zum Bild eines in seiner Funktionsweise dynamischen Nervengewebes. 1.2.2 Dynamische Funktionalität (Reflex, Hemmung) Im Gegensatz zum Gehirn konnten sich Konzepte zur Funktion des Rückenmarks vergleichsweise früh herausbilden. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten zahlreiche Wissenschaftler das Spinum zum Gegenstand ihrer Studien gemacht. Die Etablierung einer akademischen Tradition der experimentellen Physiologie zwischen 1820 und 1830 ging einher mit der Konstruktion physiologischer Begrifflichkeiten zu Organisation und Kontrolle der Bewegungsabläufe. Als wichtigste Konzepte sind neben dem hier bereits früh etablierten Lokalisationsgedanken das Konzept des Reflexes und der Begriff der Hemmung (als Antagonist der Erregung, dem basalen Agens der Nerven) zu nennen. Diese drei Konzepte der Organisation und Kontrolle des spinalen Nervensystems konsolidierten gemeinsam eine Denkweise körperlicher Regulation, die im 17./ 18. Jahrhundert durch Descartes und anderen mit ihren Arbeiten zu mechanistischen Theorien körperlicher Funktionen28 etabliert worden war. Die physiologischen Debatten des 19. Jahrhunderts überstiegen dabei die erklärenden Begriffe der Physik und bezogen zugleich – durch Übertragung der Ergebnisse über die Funktionsweise der Nerven von niederen auch auf höhere Nervenzentren – psychische Phänomene mit ein. Fragen nach der Beziehung zwischen der Nerventätigkeit und dem Seelenleben, dem Wertesystem und dem eigenen Selbstbewusstsein waren also von Beginn an wichtige Bestandteile der allgemeinen physiologischen Forschung. 29

27 Vgl. W. Riese 1942. 28 Vgl. besonders F. Fearing 1970, S. 102. 29 Vgl. F. Fearing 1970, R. Smith 1992, M. Hagner 2000b.

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Reflex und Lokalisation Die zentrale konzeptionelle Entwicklung der experimentellen Physiologie des 19. Jahrhunderts bildet ohne Frage der Reflexbogen.30 Er besitzt seine Wurzeln in der Herausbildung eines senso-motorischen Funktionsverständnisses des Rückenmarks. Während die Frage nach der Lokalisation im Gehirn lange Zeit umstritten war, konnte sich diese Kategorie in der allgemeinen Physiologie Jahrzehnte eher etablieren: Bereits im 18. Jahrhundert hatte Albrecht von Haller zwischen Sensibilität und Irritabilität der Nerven unterschieden. Die BellMagendie-Debatte des frühen 19. Jahrhunderts führte zur Unterscheidung zwischen sensorischen und motorischen Nervenfunktionen. Das moderne Verständnis des Reflexes entstammt den 1830er Jahren. Der englische Physiologe Marshall Hall (1790-1857) hatte das physiologische Konzept formuliert31, nachdem er in Versuchen demonstriert hatte, dass der Beinrückziehreflex eines Frosches durch einen Reflexbogen getragen wird, der durch drei Prozeduren unterbunden werden konnte: Entfernen der Haut des Beines, Durchtrennen des motorischen Nervs und Zerstörung des Rückenmarks. Damit war der Reflexbogen mit drei Komponenten (Sensorium, Nerv, Rückenmark als Teil des zentralen Nervensystems) benannt. Hall postulierte 1833 den Reflex neben den drei damals bisher bekannten ursächlichen Prinzipien der Muskelbewegung (Wille, Einfluss der Atmung auf motorische Bewegungen, Irritabilität) als viertes funktionelles Grundprinzip einer Verhaltenssteuerung im Körper. 32 Da das zentrale Nervensystem in seiner Funktionsweise der Forschung nur indirekt zugänglich war, erwies sich das Reflexkonzept als einflussreicher Zugang. Das im Reflexkonzept enthaltene Reiz-Antwort-Schema eignete sich zur Analyse einfacher Bewegungsabläufe. Besonders Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber Vorstellung einer rein physischen Grundlage biologischer Phänomene aufgeschlossen zeigten, übernahmen rasch den Reflex als konzeptionellen Rahmen

30 Zur Geschichte des Reflexes im 19. Jahrhundert vgl. E. G. T. Liddell 1960, E. Clarke/ C.D. O’Malley 1968, F. Fearing 1970, M. Jeannerod 1985, L.S. Jacyna/ E. Clarke 1987, R. Smith 1992, O. Breidbach 1997, M. Hagner 2000b. 31 Halls Reflexfunktion basierte auf den Hypothesen des Britischen Anatomen Sir Charles Bell (1774-1842), der in den 1820er Jahren einen Nervenzirkel zwischen Gehirn und Muskeln annahm, die die muskulären Bewegungen regulierten, vgl. F. Fearing 1970. 32 Die nervliche Ebene dieser Reflexfunktion war Hall natürlich gleichwohl im Detail damals unbekannt: „The reflex function appears [...] to be the complement of the functions of the nervous system hitherto unknown“(M. Hall 1833, S.664).

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ihrer Forschung.33 Mit ihm als erklärendem Prinzip konnte das gesamte Nervensystem, also auch die höheren Gehirnzentren, als ein Organ der senso-motorischen Integration angesehen werden. Während Hall noch den Reflex als eine nichtmentale Funktion des Rückenmarks betrachtete, wandelte sich, unterstützt durch die cerebrale Lokalisation motorischer Funktionen, das Verständnis hin zur Reflexbasiertheit auch psychischer Phänomene: Denn Lokalisation suggeriert, dass Funktionen, die vorher dem Bereich des rein Geistigen, Vitalistischen zugeordnet wurden, eine materielle Basis besitzen. Durch Übertragung des Reflexes als physiologische Basisfunktion auf Aktivitäten der höheren Nervenzentren wurde ein physiologisches Konzept geschaffen, das es erlaubte, auch mentale Vorgänge, wie Denken oder Wollen, als reflexbasiert zu begreifen.34 Die Übertragung des Funktionsprinzips des Reflexes auf das Großhirn führte umgekehrt dazu zu hinterfragen, ob nicht das gesamte Nervensystem, also auch das Rückenmark, beseelt sei. Dies wurde in der Hälfte des 19. Jahrhunderts Gegenstand einer heftigen Debatte, die sogenannte Pflüger-Lotze-Debatte35. Im Ergebnis des Streites konnte sich die Dominanz des Gehirns gegenüber dem Rückenmark endgültig etablieren, die dabei getroffene Unterscheidung von Ebenen in der zentralen Neuraxie (nämlich Gehirn und Rückenmark) bildete eine weitere Stufe der Lokalisation im zentralen Nervensystem. So einfach das Prinzip des einfachen, unabhängigen Reflexbogens erschien, so ungenau war das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorhandene Wissen, wie komplex das sich vollziehende Reflexgeschehen wirklich war. Die Frage nach der Modifikabilität des Reflexgeschehens gewann in der folgenden Zeit zunehmend an Gewicht. Im Zentrum des sich entwickelnden Konzeptes der Regulation des Reflexgeschehens stand der Begriff der Hemmung. Hemmung und Erregung als regulierende, integrierende dynamische Aktivitäten im Nervensystem Besonders das Konzept der Hemmung mit seinem Pendant, der Erregung bzw. Bahnung, wurde zum integrierenden Faktor nervlicher Funktionsweise. Nach Fearing zählt die experimentelle Untersuchung der Phänomene Hemmung sowie Bahnung zu den wichtigsten Beiträgen der Physiologie zur Reflextheorie während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.36 Im Ringen um die körperlichgeistige Kontrolle im Menschen erblickte man zunehmend im letzten Drittel des 33 Vgl. R. Smith 1992, S. 76ff. 34 Vgl. z.B. P.M. Amacher 1964. 35 Näheres vgl. F. Fearing 1972, 162ff. 36 Vgl. F. Fearing 1970, S. 216.

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19. Jahrhunderts in dem dynamischen Kräftespiel von Hemmung und Erregung die Grundlage der Reflexsteuerung.37 Bahnung und Hemmung wurde mit zunehmender Durchsetzung der Neuronendoktrin zu der grundlegenden Dynamik auch in neuronalen Integrationsmechanismen. Seine Karriere in der Physiologie trat der Begriff der Hemmung in den 1830er Jahren an.38 1845 gelang es das erste Mal, dieses Phänomen im experimentellen Kontext überzeugend zu beschreiben. Der Physiologe E. F. Weber hatte den Vagusnerv eines Frosches elektrisch stimuliert und konnte eine Abnahme der Herzfrequenz feststellen. Im Vagusnerv verortete er die Quelle dieser hemmenden Aktivitäten – genauso wie die der erregenden Aktionen, ein Novum zur damaligen Zeit. Durch Webers experimentelle Beobachtung wurde die Annahme gestärkt, dass die peripheren Nerven selbst über eine spezifische Kapazität der Hemmung verfügten. Webers Bericht regten in der Folgezeit weitere Experimente an, die in dem Postulat des Physiologen Eduard Pflügers aus dem Jahr 1855 gipfelten, dass bei unwillkürlichen Bewegungen komplementär zum Erregungssystem ein „Hemmungs-Nervensystem“ existiere.39 Gestärkt wurde Pflügers Hypothese von der Hemmung als Eigenschaft spezifischer Nerven durch Evidenzen, dass solche Hemmungszentren auch im Gehirn existierten.40 Der russische Neurologe und Physiologe Iwan Sechenov (1829-1905) veröffentlichte 1863 Beobachtungen, wonach spinale Reflexe, bis hin zur totalen Hemmung 37 Vgl. R. Smith 1992, S. 21. 38 R. Smith hat ein ganzes Buch dem Begriff der Hemmung gewidmet, ebd. Er beschreibt darin, wie Hemmung als moralische und soziale Kategorie den gesellschaftlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts entnommen und in die Physiologie transferiert wurde. Der Begriff wurde im physiologischen Kontext umso einfacher akzeptiert, da er bereits im alltäglichen Verständnis der damaligen Zeit eine Vielfalt an Bedeutungen aufwies: Beispielsweise charakterisierte er damals bereits psychische Prozesse oder wurde zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Geist und Körper verwandt. Im Bereich der Physiologie blieb das Begriffsverständnis ähnlich verschwommen, vgl. F. Fearing 1970, S. 216. Hemmung konnte einen kausalen Prozess, aber auch eine funktionale Beziehung im Nervensystem beschreiben; manchmal wurde sie als ein spezieller physikalischer Mechanismus verstanden, an anderer Stelle als die Funktion eines Gehirnzentrums oder eines Nervs, vgl. R. Smith 1992, S.13. Aber genau aus diesem, physikalische, physiologische und psychologische Phänomene umfassenden Verständnis, so Smith Argumentation, zog der Begriff seine Faszination. Gerade durch diese unklare Bedeutung und dem Wechsel zwischen physikalischer Größe und psychologischem Begriff beförderte er die Leib-Seele-Diskussion. 39 Vgl. ebd., S. 80ff. 40 Ebd., S. 129.

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derselben, unter dem Einfluss höherer Nervenzentren standen.41 Doch eine genauere Bestimmung der zentralen Hemmungszentren im Gehirn erwies sich in den folgenden Jahrzehnten als schwierig.42 In dieser Zeit nahm das Verständnis des Reflexbogens als ein singuläres, unabhängiges Geschehen ab. Ab den 1870er Jahren wurde das Nervensystem verstärkt als permanent aktiv betrachtet. In diesem Kontext wurde tonische Erregung sowie Hemmung als deren antagonistische Kraft in die Deutung experimenteller Reflexuntersuchungen einbezogen. Erregende und hemmende Kräfte wurden als Eigenschaften nervlicher Aktivitäten angesehen und weniger als Ergebnis der Existenz hemmender Nerven, wie Pflüger es sah. Der Körper wurde als Funktionseinheit betrachtet, in der eine große Anzahl nervöser Mechanismen simultan kooperieren, um die Reflexe zentralnervös zu modifizieren. Das Reflexgeschehen verstand man nun als ein Ineinandergreifen unterschiedlicher Erregungen von verschiedenen Nervenbahnen, deren Koordination im Rückenmark stattfände und zu der Ausführung gerichteter Bewegungen führe.43 Als dynamische, die Aktivitäten steuernde Kräfte im Nervensystem begann das Begriffspaar der Hemmung und Erregung (später immer häufiger auch Bahnung, vgl. Abschnitt 1.3.2) Bedeutung in der Physiologie zu gewinnen. Die Reflexantwort wurde als Resultat räumlicher und temporärer Beziehungen zwischen Erregung und Hemmung im Nervensystem verstanden.44 Dieses Deutungsmuster erlaubte es den Physiologen, die verstörend große Variabilität und Diversität in den Reflexantworten besser zu verstehen.45 Die zentrale Frage jedoch, ob psychische und physische Fähigkeiten als Ergebnis bestimmter, zu lokalisierender Zentren im Cortex zu betrachten seien oder als ein Ergebnis einer zentralnervösen Balance zwischen hemmenden und erregenden Kräften, konnte jedoch auch in den folgenden Jahrzehnten nicht endgültig beantwortet werden.46 Die Geschichte von Erregung und Hemmung als sich ergänzende Größen positiv-erregender und negativ-hemmender Dynamiken im Nervensystem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist erst in Ansätzen geschrieben. Das Thema stellt sich umso umfangreicher dar, da die Physiologie zu dieser Zeit 41 Vgl. F. Fearing 1970, R. Smith 1992, G. Murphy/ J. Kovach 1972, M.A.B. Brazier 1988. 42 Vgl. R. Smith 1992, S.126-129. 43 Vgl. M. Jeannerod 1985, S. 66. 44 Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Vorstellungen nervlicher Hemmungsaktivitäten vgl. R. Dodge 1926a, b, F. Fearing 1970, R. Smith 1992. 45 Näheres vgl. R. Smith 1992, S. 129. 46 Vgl. ebd., S. 94.

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immer wieder Verbindung mit den philosophischen Ideen des Assoziationismus einging. Dabei wurde die Hemmung bzw. die Verstärkung nervlicher Aktivitäten mit entsprechenden Veränderungen in psychischen Fähigkeiten parallelisiert. Diese Entwicklung fand in allen beteiligten Disziplinen statt: • Die Vertreter des Assoziationismus selbst suchten eine naturwissenschaftliche

Fundierung ihrer Theorie, in dem sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts begannen, diese mit gängigem Wissen zu Anatomie und Physiologie des Nervensystems anzureichern.47 • In der sich von der Philosophie emanzipierenden Wissenschaft der Psychologie suchten Vertreter wie Wilhelm Wundt, durch Rückgriff auf die Physiologie ein analytisches und objektives Verständnis mentaler Kategorien zu erlangen.48 • Auch in Physiologie und Anatomie lassen sich viele Beispiele für die Tendenz finden, assoziationstheoretisches Gedankengut auf die Ebene der Nerven zu transportieren.49 Mit dieser in den 1860er Jahren einsetzenden Anreicherung von Ideen des Assoziationismus mit Erkenntnissen aus Physiologie und später auch der Anatomie, sowie der umgekehrten Aufnahme assoziativen Gedankenguts in die Wissenschaften vom Menschen wurde ein populärer psychophysiologischer Deutungsrahmen des senso-motorischen Hirngeschehens geschaffen. Geist und Wille einerseits sowie das senso-motorische Reflexgeschehen andererseits gehörten von nun an nicht mehr zwei getrennten Sphären an. Die in Reflexstudien beobachteten adaptiven Fähigkeiten des Nervensystems erfuhren durch diesen Prozess der Verbindung mit assoziationistischen Ideen genauso eine Erklärung, wie die geistigen Fähigkeiten eine physiologische Gründung erhielten. 1.2.3 Grundideen des Assoziationismus Die Grundideen des Assoziationismus50 lassen sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen. Dieser fragte, ausgehend von der Beobachtung, dass mit dem Auftreten 47 Als Beispiel hierfür lassen sich z.B. bei Alexander Bain in den 1850er bzw. 1860er Jahren anführen oder Herbert Spencer 1855. Für eine ausführliche Darstellung vgl. R.M. Young 1990. 48 Näheres z.B. R. Smith 1992. 49 Hier sind z. B. der russische Physiologe Ivan M. Sechenov, der österreichische Anatom Theodor Meynert (vgl. Abschnitt 1.2.4) oder der deutsche Neurologe und Psychiater Carl Wernicke zu nennen.

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einer Idee im Bewusstsein häufig weitere einhergehen, nach der Beziehung zwischen dieser ersten und den weiteren Ideen. Eine Blütezeit erlebte die Assoziationstheorie in England ab dem 17. Jahrhundert. Dort hatte in der Philosophie früh ein Zurückdrängen metaphysischer Kategorien zugunsten materialistischer Theorien stattgefunden. Inspiriert durch die Physik waren im 18. Jahrhundert englische Philosophen wie Berkeley, Hume oder Hartley bestrebt, psychische Fähigkeiten im Lichte der neuen Wissenschaft als rationale und empirische Vorgänge zu betrachten. Sie zerlegten und beschrieben Erfahrungen als vereinfachte und mechanisierte mentale Prozesse, die sie zugleich als physikalische Vorgänge zu verstehen suchten. Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelten sich in England eine Vielzahl verschiedener assoziationistischer Lehren, die sich durch ein hohes Maß in ihrem Verhältnis zu den damals aktuellen psycho-physiologischen Erkenntnissen immer neu zu bestimmen. In seiner modernen Variante des späten 19. Jahrhunderts wird der Assoziationismus verstanden als eine „funktionale“ Theorie mentaler Operationen.51 Er liefert Hypothesen über den internen Ablauf, das „Wie?“ mentaler Prozesse. Im Mittelpunkt steht die namensgebende „Assoziation“, ein geistiger Akt der Synthese elementar verstandener psychischer Einheiten, wie Wahrnehmungen, Gedanken, Eindrücke, Vorstellungen, durch den mehrere sinnliche Eindrücke aufgrund gesetzmäßiger Verknüpfungen als Einheiten zusammengefasst ins Bewusstsein gelangen. Geistige Fähigkeiten wie Denken erscheinen so als die erneute Aktivierung einer Menge von Einzelvorstellungen, die durch den Assoziationsprozess miteinander verbunden wurden. Die Frage, warum bestimmte Eindrücke eher erinnert würden als andere, wurde über die Variabilität der ideellen Verbindung mehrerer geistiger Entitäten (wie Ideen, Gedanken, Eindrücke) erklärt. Betrachtet man Assoziationen im Verbund, kann eine postulierte (dynamische) Hierarchie innerhalb der assoziativ verknüpften Entitäten ausgemacht werden: Je stärker die Verbindung, desto eher erscheint gerade dieser Gedanke, diese Idee oder jene Erinnerung aus der Menge aller Erinnerungen, Gedanken und Ideen erneut im Bewusstsein. Assoziative Verkettungen bekamen also zugleich eine ordnende Funktion im Verbund der Gedanken zugewiesen, eine Idee, die mit zunehmender Naturalisierung assoziationistischer Ideen immer größere Bedeutung erfuhr. Unter dem Einfluss des Assoziationismus wurde das materielle Substrat des Geistes im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Nerven erblickt. Die Parallelisierung von Nervenverbindungen mit assoziativen Verknüp50 Zur Assoziationstheorie vgl. F.A. Lange 1882, H.C. Warren 1921, R.S. Woodworth 1949, B.R. Gomulicki 1953, G. Murphy/ J. Kovach 1972, R.M. Young 1990. 51 Vgl. R.S. Woodworth 1949.

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fungen lässt sich zu den „späten“ Assoziationspsychologen zurückverfolgen, namentlich dem Aberdeener Professor für Logik Alexander Bain (1818-1903) und dem Ingenieur und Philosophen Herbert Spencer (1820-1903).52 Bereits im 18. Jahrhundert hatten sich physiologische Zugänge zur Psychologie entwickelt, aber erst der Wissenszuwachs in Anatomie und Physiologie im 19. Jahrhundert erlaubte eine Ausformulierung in Bezug auf Nerven und nervöse Erregung. Bei Alexander Bain, dem letzten Vertreter eines reinen Assoziationismus vor dem Einfluss der Evolutionstheorie, findet sich erstmals eine ernstzunehmende Parallelisierung materieller Prozesse und Assoziationsvorgänge. Seinem Band The Senses and the Intellect aus dem Jahr 1855 (4. Auflage 1894) stellte Bain ein ausführliches Kapitel voran, in welchem er die aktuellen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Physiologie und Neuroanatomie zusammenfasste. Zwar verhielt sich Bain bei der Gleichsetzung elementarer mentaler Assoziationsprozesse mit nervösen Vorgängen zögerlich. Dennoch verglich er die ungefähre Menge von individuellen motorischen und sensorischen Erfahrungen („acquisitions“) mit der Anzahl von Fasern und Zellen im Gehirn und kam zu dem Schluss, dass „there is no improbability in supposing an independent nervous track for each separate acquisition“53. Bain entwarf ein mechanisches Bild der Interaktion der elementaren psychischen Entitäten untereinander. Aristoteles hatte drei Kennzeichen benannt, die die ideellen Beziehungen zwischen den mentalen Einheiten bestimmen: Kontrast, Ähnlichkeit und Nachbarschaft. (Eine Wahrnehmung oder Idee löst die Erinnerungen an solche Erfahrungen aus, die in der Vergangenheit in großer Nähe zueinander aufgetreten sind). Diese drei wurden von der Britische Schule des Assoziationismus im 19. Jahrhundert zu den sogenannten Regeln des Assoziationismus erhoben, von denen der Regel der Nachbarschaft besondere Bedeutung zukam. (Diese spielte auch in den Theorien des 20. Jahrhunderts die Hauptrolle). Als das Gesetz der Kontiguität nahm sie bei Bain eine zentrale Stellung ein, nicht nur als Grundmechanismus zum Erwerb von Wissen und Können, sondern auch von körperlichen (!) Fähigkeiten sowie von „Memory, habit, and the Acquired Powers in general“54: „Actions, Sensations, and States of Feeling, occuring together or in close succession, tend to grow together or cohere, in such a way that, when any one of them is afterwards presented to the mind, the others are apt to be brought up in idea.“55 52 Vgl. z.B. R.M. Young 1990, O. Breidbach 1997. 53 A. Bain in B.R. Gomulicki 1953, S. 8. 54 A. Bain 1894, S. 341. 55 Ebd., S. 341.

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Für Bain bilden Assoziationen nicht nur die Grundlage der psychischen Welt, wie die Abfolge unserer Gedanken56, Gefühle, Wahrnehmungen. Auch geordnete Bewegungsabläufe würden durch die in der assoziativen Verknüpfung entstehende Organisationsstruktur gesteuert. Sie basierten auf einer geordneten Abfolge von assoziativen Zuständen, die bei Bain durchaus auch als räumlich-materieller Pfad durch ein Netz von Nervenbahnen verstanden wurde. Doch Bain äußerte sich nicht eindeutig über den Ort im Nervensystem, an dem das assoziative Geschehen stattfände. Erst mit der Durchsetzung des Gedankens der cerebralen Lokalisation kam es zu einer direkten Verortung assoziativer Prozesse in den höheren Gehirnzentren.57 Die vereinfachte, mechanisierte Darstellung mentaler Prozesse im Assoziationismus, wie sie bei Bain zu finden ist, fand damals ihr Pendant in dem Bestreben nach einer naturwissenschaftlichen Verortung des geistigen Geschehens im Gehirn. Hier waren es vor allem Wissenschaftler des deutschsprachigen Raums, dem Zentrum der experimentellen Laborwissenschaften zur physiologischen und anatomischen Erforschung des Nervensystems im 19. Jahrhundert, die die Assoziation – die wichtigste Grundannahme des Assoziationismus – übernahmen58, perpetuierten und ein neurologisches Antlitz gaben. Wesentlichen Anteil an der Verortung assoziativer Prozesse in den Nervenverbindungen besaß der österreichische Psychiater und Anatom Theodor Meynert (1833-1892).59 Indem er psychische Aktivitäten in cerebralen Gewebsstrukturen lokalisierte, lieferte er einen hirnanatomischen Beitrag zur Theorie der Lokalisation von Gehirnfunktionen.60 Bekannt ist er vor allem für seine Leistungen auf dem Gebiet der Hirnanatomie aus den späten 1860er bzw. frühen 1870er Jahren. Mithilfe seiner hirnanatomischen Erkenntnisse entwickelte er, wie Hagner es 56 „[T]he Laws that regulate the stream and Succession of our Thoughts“ (ebd., S.339). 57 Obwohl der Assoziationismus das Konzept der Lokalisation nicht direkt unterstützt, gibt es hier keine Widersprüche. Anatomische Lokalisation postuliert festumrissene Zentren im Cortex, die bestimmten Funktionen entsprechen. Der Assoziationismus geht davon aus, dass geistige Fähigkeiten aus der dynamischen Beziehung zwischen Einzelzentren entstehen. 58 Populär waren die Schriften der sogenannten Englischen Schule aus dem 19. Jahrhundert wie von Bain oder Mill und in geringem Maße auch deutschsprachige Beiträge wie beispielsweise von Johann Friedrich Herbart (1776-1841) oder Friedrich Eduard Beneke (1798-1854), vgl. H.C. Warren 1921. 59 Näheres zu Meynert vgl. E. Lesky 1961, M. Hagner 1996, O. Breidbach 1997,1999, E. Oeser 2002. Für eine ausführliche Darstellung, vgl. M. Hagner 2000b. 60 Vgl. E. Oeser 2002, S.223.

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genannt hat,61 das Bild des Menschen als „Nervenmann“. Unter Bezugnahme besonders auf Bain entwarf er ein Modell der Grundprinzipien der Hirnfunktionen, in dem er intellektuelle Prozesse auf Assoziationen62 zurückführte und diese auf nervlicher Ebene zu konkretisieren suchte. Dabei waren für ihn allein die Fülle der im Cortex des Menschen vorhandenen „Nervenkörper“ und die Vielfalt und Eigenheiten ihrer Verknüpfungen für die Realisierung der Hirnfunktionen konstitutiv. Das Hirngeschehen begriff er als Assoziation und Dissoziation von Nervenbahnen, als eine Abstimmung der Erregungsleitung zwischen „Nervenkörpern“. Die damals äußerst populäre, jedoch immer wieder heftig kritisierte Ableitung räumlicher Vorstellungen aus dem Prinzip der geistigen Assoziation,63 erfuhr durch Meynerts Theorien neue Unterstützung. 1.2.4 Meynerts „Mechanik des Gehirnbaus“ 64 – eine neuroanatomische Grundlegung assoziationistischer Ideen Den Ausgangspunkt für Meynerts Forschung bildeten die Geisteskrankheiten, die er auf krankhafte Veränderungen im strukturellen Aufbau des Gehirns rückzuführen suchte. Zugleich wollte er damit „der Psychiatrie durch anatomischen Grundbau den Charakter einer wissenschaftlichen Disziplin“65 geben. Unter Verwendung neuer hirnanatomischer Präparationstechniken gelang es ihm, die Großhirnrinde in ihrem strukturellen Aufbau umfassend zu studieren, wozu ihm seine Stelle als Prosektor an der Landesirrenanstalt in Wien ausreichend Gelegenheit bot, bevor er 1870 an derselben Klinik eine Professur für Neurologie und Psychiatrie erhielt. Als wesentliches Ergebnis seiner Studien beschrieb Meynert den anatomischen Aufbau des Großhirns und subcorticaler Strukturen, wobei er die von ihm ausgemachten Strukturmerkmale, besonders die Vernetzungsdichte corticaler Faserverbindungen und die in ihren verschiedenen morphologischen Ausprägungen als gleichwertige Elemente des Nervensystems anerkannten Nervenkörper als die Elementarbausteine des Nervensystems deutete. 66 Das aufgedeckte Faser-

61 Vgl. Hagner 2000b. 62 „Viele Vorstellungen sind aber beobachtungsgemäß miteinander verknüpft, so dass das Erwachen der einen auch eine andere erweckt. Dies ist ihre Association“ (T. Meynert 1892a, S. 13). 63 Vgl. z.B. F.A. Lange 1882, S, 700. 64 T. Meynert 1892b; dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag aus dem Jahr 1872. 65 E. Lesky 1961, S. 374. 66 Vgl. T. Meynert 1868, 1869, 1892a, b, c.

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system des Gehirns deutete er mithilfe psycho-physiologischer Theorien gespeist von Ideen des späten Assoziationismus. So unterschied er zwischen „Projektionsfasern“, Verbindungswege tiefer gelegener Hirnteile mit der Hirnrinde, die Sinnesreize in das Gehirn bzw. motorische Reize heraus zu den „Bewegungsnerven“ transportieren, und lokalen Verbindungen in der Hirnrinde, die man damals als „Associationsfasern“ bezeichnete. Letztere besaßen die Aufgabe, sinnliche Wahrnehmungen und im Gehirn befindliche Vorstellungen zu verbinden, und bildeten die Grundlage von Meynerts Hirntheorie. Anhand histologischer Studien schlussfolgerte Meynert, dass die „Hirnrindenkörper“ im Cortex nicht von Nervenkörpern in anderen Hirnarealen unterschieden werden könnten. Diese morphologische Gleichheit aller Nerven bedinge auch ihre funktionelle Gleichheit. Allerdings seien die Rindenzellen im Großhirn mit einer zusätzlichen Funktion ausgestattet, einer Art „Erinnerungsvermögen“67, das ein Fortdauern der Eindrücke in Erinnerungsbildern gestatte.68 Diese Erinnerungsfunktion erlaube einen nervlichen Assoziationsmechanismus, der unterschiedliche Sinneseindrücke im Cortex verkette. Aufgrund einer raum-zeitlichen Koinzidenz der in das Gehirn eintretenden sensorischen Reize bildeten sich corticale Verbindungen aus oder sie verlöschten, ein Prozess, den Meynert aller Wahrnehmung, allem Denken und Verhalten zugrundelegte und der in seiner Vielfalt und der Qualität der Verbindungen die materielle Grundlage der Persönlichkeitsbildung ausmache. Je geistig und moralisch höher stehend der Mensch, desto reicher und entwickelter seien seine Assoziationsbahnen. Eine gewisse Stabilität der Verbindungen sorge für Kontinuität in der Persönlichkeit. Meynert lässt ein dynamisches Bild der geistigen und nervlichen Prozesse entstehen: Die nervöse Erregung aktiviere die spezifischen psychophysiologi67 Vgl. T. Meynert 1892c, S. 85. Für Meynert unterschieden sich die Hirnzellen im Großhirn, in denen er den Sitz des Bewusstseins und der Denkprozesse verortete, von Nervenzellen anderer Hirnareale so, wie sich z.B. „magnetisches Eisen von nicht magnetischem unterscheidet“ (T. Meynert 1868, S. 79). Im Großhirn müssten Nervenzellen Erregungen lange bewahren, da hier die Erinnerungsbilder reproduziert würden, die die internen Repräsentationen der bisherigen Erfahrungen, Erlebnisse, sinnlichen Eindrücke darstellten, vgl. ebd., S. 79ff. „Das Erinnerungsvermögen nämlich ist eine fundamentale Eigenschaft der Gehirnzelle, deren molecularer Zustand durch den haftenden Reiz [...] in eine auf lange Zeit andauernde Veränderung versetzt wird“ (T. Meynert 1892b, S. 24). 68 „Die graue Rinde [...] besteht aus grossentheils nicht tief unter der Grenze der Sichtbarkeit stehenden, lebenden, bewusstseinsfähigen Wesen, den Gehirnkörpern [Zellen]“ (ebd, S. 23/ 24).

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schen Funktionalitäten des Gehirngewebes69. Die unterschiedlichen Wichtungen der Verbindungen verursachen Dynamik, beeinflussen die Vorgänge im Gehirn jedoch zugleich ordnend: „[A]ls ordnendes Moment [tritt] die Verschiedenartigkeit der Intensität auf, welche den entstandenen Verbindungen anhaftet. Sie dauern im Gedächtniss nicht durch einmaliges Vorkommen fort, sondern werden wesentlich durch wiederholtes Auftreten gefestigt. Zufällig herbeigeführtes Nebeneinander oder Nacheinander von Dingen wiederholt sich nicht, und die so geschaffenen Verbindungen verlöschen wieder im Gehirne. Da, wo sich das subjektive Band der Causalität aber mit einem gesetzmässigen Bande der Dinge deckt, wird die Verbindung durch Wiederholung ihres äusseren Auftretens auch im Gehirn bleibend.“70

Meynerts Vorstellungen von der Funktionsweise des Cortex lassen sich kennzeichnen durch das Fehlen eines Zentrums und einer hierarchischen Abstufung.71 Die graduell verlaufende Erregungsintensität gewährt die Reaktivierung der am stärksten miteinander verbundenen Nervenbahnen und modifiziert zugleich die Verbindungen (d.h. die zur Aktivierung benötigten Intensitätsgrade der Erregung). So kann die Großhirnrinde durch die dynamische Organisation seiner untereinander verknüpften Einzelelemente72 ihre Funktionalität autonom realisieren, in dem neu eintretende sinnliche Reize auf die im Nervengewebe materialisierten Erinnerungszustände treffen.73

69 „[D]as Bewußtsein [ist] [...] an die Erscheinung von erregten Nervenzellen gebunden“ (T. Meynert 1892a, S. 20). 70 T. Meynert 1892b, S.33. 71 Vgl. M. Hagner 1996. 72 Vgl. ebd. 73 Ein solch dynamisches System mentaler Prozesse findet sich bei Johann Friedrich Herbart (1776-1841), Professor der Philosophie in Göttingen und einer der wenigen deutschen Assoziationisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vgl. J.H. Herbart 1834, H.C. Warren 1921, G. Murphy/ J. Kovach 1973, R. Smith 1992, S. 59 ff. In Herbarts assoziationistischer Theorie der Denk- und Vorstellungsprozesse ist das Gefüge der im Geist repräsentierten Vorstellungen in ständiger Bewegung: Die in der Psyche abgelegten elementaren Erfahrungseinheiten stehen in einem labilen Gleichgewicht der gegenseitigen Abstoßung zueinander, wobei die Abstoßungskräfte graduell unterschiedlich ausfallen. Reize von außen wirken verändernd auf die Vorstellungen und ihre Stellung im Gesamtgefüge ein. In Konkurrenz mit anderen Vorstellungen können diese vollständig unter die Bewusstseinsschwelle gedrängt werden, weil sie in

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„Die letzteren [die Empfindungsnerven KSB] lösen Bewegungen nur durch vorhandene äussere Reize aus, während von der Gehirnrinde aus die Erinnerungsbilder von nicht mehr vorhandenen äusseren Reizen angesponnener Zustände als Bewegungs-Impulse wirksam sind. Der bewußte Lidschlag ist also eine Nachwirkung des grellen Sonnenscheins, der den Sehnerv und die Bewegungen im Schliessmuskel erregte, zugleich aber ein Innervationsgefühl schuf, welches der Hirnrinde die Bewegung als einen vom eigenen Leib ausgehenden Sinneseindruck signalisirte und ein Erinnerungsbild hinterliess. Diese bewussten Bewegungen, Erscheinungen unseres Bewusstseins nach aussen, werden also im Gehirn nicht von ihm unmittelbar innewohnender Kraft erzeugt. Das Gehirn strahlt nicht gleichsam eigene Wärme aus [...] sondern die Gehirne erborgen alle, ihren Erscheinungen zu Grunde liegende Kraft von Aussen“74.

Meynert hat in seiner „Mechanik des Hirnbaus“ wesentliche Prinzipien der Assoziationstheorie naturalisiert. Er stellte die Analogie zwischen der assoziationistischen Idee der Verknüpfung von psychischen Entitäten und den Nerven als hypothetischem Substrat dieser Prozesse auf eine strukturelle Grundlage im corticalen Nervengewebe. Indem er die ideellen Begriffsrelationen des Assoziationismus mit corticalen Nervenfaserverbindungen gleichsetzte, gab er dem ursprünglich nur mental gedachten Assoziationsprinzip als einer der ersten ein ernstzunehmendes (neuro-)wissenschaftliches Antlitz. 1.2.5 Exkurs: Spurentheorie des Gedächtnisses Die sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausbildende Amalgamierung von Nerven, Nervenfunktionen und Assoziationismus wurde im 20. Jahrhundert ein selbstverständlicher Bestandteil theoretischer Ansätze zum Verständnis des Gehirns. Theorien, in denen das Gedächtnis in dynamischen Nervenverbindungen oder Nervenzuständen verortet wird, treten gehäuft auf.75 Die-

zu großem Maße „verdunkelt“ werden (J.H. Herbart 1834, S.12/13), oder aber sie erstarken und drängen sich im Bewusstsein in den Vordergrund. 74 T. Meynert 1892b, S. 26. 75 Vgl. H.A. Bursen 1978, E. Florey 1993. Besonders in der Neurobiologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat man sich dieses funktionale Prinzip als Grundlage für Gedächtnistheorien zu Nutze gemacht. Gedächtnis wird dabei im Allgemeinen rein technisch als Speicherung von Gedächtnisinhalte verstanden, sowie als die Fähigkeit, Vergangenes erneut aus diesem Speicher in das Bewusstsein zu holen. Moderne neurobiologische Gedächtnistheorien gehen dabei von variablen neuronalen Verbindungen aus; die Inhalte des Gedächtnisses werden qua spezifischer Ausprägung variabler,

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se Ansätze werden zumeist unter dem Begriff Spurentheorie (englisch Tracetheory)76 zusammengefasst.77 Obwohl sie im Kontext dieser Arbeit erst im zweiten Teil Bedeutung erfahren, sind sie zeitlich und thematisch an dieser Stelle einzuordnen. Zurückgeführt wird ein solches rein physisches Verständnis von Gedächtnis, wie es in der Spurentheorie zu finden ist, im Allgemeinen auf eine Metapher Platos. Dieser verglich das Gedächtnis mit einer Wachstafel, in der die Wahrnehmungen bleibende Eindrücke hinterlassen, die dann wiederum betrachtet und erkannt werden können. Aristoteles, der bereits mit dem Assoziationsprinzip eine philosophische Theorie für Denken und Erinnern formuliert hatte (vgl. Abschnitt 1.2.3), bediente sich dieses Bildes. Er verstand den Gedächtnisinhalt als einen „,Abdruck‘ […] in einem Organ des Körpers, das durch ihn in einen bestimmten Zustand versetzt wird, der es möglich macht, diesen Abdruck zu ,erregen‘ und dadurch ein entsprechendes mentales Bild (eikon) zu erzeugen. [...] Das Abbild nun stellt eine Kopie des erinnerten Dinges oder Ereignisses dar [...]. Das eikon entsteht aufgrund des durch die Einwirkung eines Dinges oder Vorgangs entstandenen typos und durch den Akt der Wahrnehmung dieses typos.“78 Beide griechischen Philosophen dienten als Vorbilder und Inspiration für die physikalistischen Gedächtnistheorien der Neuzeit. Diese entfalteten sich besonders ab dem 18. Jahrhundert in England. Zu dieser Zeit dominierte eine materialistische Philosophie. Mit Descartes war dort die Suche nach einem körperlichen Substrat der Spuren, die mit den Prozessen des Erinnerns und Wiedererkennens einhergehen, verstärkt aufgenommen worden, was zu einer relativen Verbreitung dieser Ideen in den Wissenschaften vom Menschen um die Mitte des 18. Jahrhunderts führte. Einer damals landläufigen Annahme zufolge befindet sich die Spur der individuellen Erinnerungen in den Erregungs- und Bewegungsprozessen der in den Nerven befindlichen Fluiden: David Hartley beispielsweise sah 1749 – durch die Anwendung der Newraum-zeitlicher Muster gespeichert und sind über deren erneute Aktivierung abrufbar; das aktivierte Muster entspricht dabei dem evozierten Gedächtnisinhalt. 76 Gomulicki weist darauf hin, dass es sich bei der Spurentheorie um keine wissenschaftliche Theorie im eigentlichen Sinne handelt, sondern einfach um „a convenient name for a basically [...] mechanistic approach to the problem of memory phenomena, as opposed to a basically vitalistic one“ (B.R. Gomulicki 1953, S. 54). Bei H.A. Bursen 1978 findet sich eine Darstellung gängiger Varianten der Spurentheorie aus dem 20. Jahrhundert sowie eine Kritik dieser Theorie. 77 Einen historischen Abriss über die Entwicklung der Spurentheorien bieten z.B. B.R. Gomulicki 1953, E. Florey 1993. 78 Ebd., S. 157.

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ton’schen Lehre von sich bewegenden Partikeln – in den Veränderungen der Vibration in der weißen Substanz der Medulla die Basis des Gedächtnisses. Seiner Ansicht nach führe jede Wahrnehmung zu einer Änderung eben dieser Vibrationsmuster. 79 Wie bereits erwähnt, wurden psychische Fähigkeiten um die Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt auf Erregungsprozesse in Nervenbahnen zurückgeführt. Der Kieler Professor Peter Jessen beispielsweise, der eine eigenständige Psychologie jenseits der Philosophie anstrebte, betrachtete „alle Äußerungen des Seelenlebens […] durch die lebendige Thätigkeit des Gehirns und des Nervensystems vermittelt“80 und „bedingt“81. Neurologische Prozesse postulierte er als Grundlage von Instinkten und sinnlicher Wahrnehmung, aber auch von Wissen, Bewusstsein und Verstandestätigkeit.82 In der neurologischen Grundlegung dieser Seelenbereiche verblieb er jedoch in der episodenhaften Unterfütterung durch Beispiele aus der klinischen Praxis. Allein in seiner Gedächtnistheorie wurde Jessen konkreter: Assoziationstheorie und Gedächtnisvorstellungen sind bei ihm hier auf das Engste verbunden. Die Ausbildung von Gedächtnis geschieht seiner Ansicht nach durch das „Bahnen“ von Spuren im Nervensystem, wodurch die Nutzung eben dieser Spur gegenüber anderen Nerven präferiert würde. „Auf eine für uns unerklärliche Weise haftet an den Nerven jeder gemachte Eindruck; die Lebensgeister lassen, wie die Alten sagten, auf jedem Wege, den sie im Gehirn und in den Nerven durchlaufen, ihre Spuren zurück; je öfter und stärker sie dieselben Eindrücke wiederholen, desto tiefer werden die zurückbleibenden Spuren, desto gebahntere Wege finden die nachfolgenden vor und desto leichter entstehen dieselben Bewegungen von Neuem. Auf dieser Eigenschaft der Nerven beruht die Macht der Gewohnheit und das Erwerben der Fähigkeiten durch Übung. Alle associirten Bewegungen reproducieren sich mit desto grösserer Leichtigkeit, Sicherheit und Fertigkeit, je öfter sie sich wiederholt haben, und auch in den Ideenassociationen reproducirt sich mit einander, was durch Zeit und Ort und Gewohnheit mit einander verbunden war.“83

79 Vgl. G. Murphy/ J. Kovach 1972, B.R. Gomulicki 1953. 80 P. Jessen, 1855, S. 18. 81 Ebd., S. 394. 82 Andererseits konnte sich Jessen die Existenz von Gewissen oder freiem Willen noch nicht ohne einen immateriellen, „denkenden Geist“ als dem letztendlichen sittlichen Urgrund vorstellen, ebd., Kapitel 3. 83 Ebd., S. 479.

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Dieses von Jessen verwendete Bild der Bahnung war besonders in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verbreitet; neben „Bahnen“ finden sich Begriffe wie „Ausfahren“ oder „Ausschleifen“, die anschaulich den Prozess der Etablierung von Erinnerungen durch „Spuren“-Markierung verdeutlichen sollen.84 Jessen vertritt ein sehr grundlegendes Verständnis von Gedächtnis. Es ist für ihn keine abstrakte Eigenschaft der Seele. Er verortete es nicht an einem bestimmten Ort im Gehirn, sondern begreift es als „allgemeine Eigenschaft der Nerven“85. Hierin zeigt er eine große Nähe zu den Assoziationisten wie beispielsweise Bain, der die nervlich gegründete Assoziation als die Voraussetzung für den Erwerb neuer Fähigkeiten und sinnlicher Eindrücke verstand.86 „[O]hne jene Eigenschaft der Nerven würden wir es in keiner Sache zur Fertigkeit bringen, ohne sie würde es keine ausübenden Künstler, keine Maler und Bildhauer, keine Virtuosen und Equilibristen geben, ja wir würden kaum gehen und laufen, springen und klettern lernen, geschweige denn sprechen, lesen, schreiben und rechnen.“87

Jessen erwog sogar vorsichtig eine Ausdehnung seines Gedächtnisbegriffs auf „leblose Dinge [...], in so ferne gemachte Eindrücke an ihnen haften und Spuren zurücklassen“88. Nicht weniger radikal in seinem Gedächtnisverständnis war der Physiologe Ewald Hering (1834-1918) wenige Jahre später. Hering war von 1865 bis 1870 als Professor in der Nachfolge Carl Ludwigs an der Universität in Wien tätig. In diese Zeit fiel sein Vortrag aus dem Jahr 1870 an der Akademie gehalten unter 84 Vgl. R. Matthaei 1921, desgleichen Abschnitt 1.3.2. zum Bahnungsbegriff bei Exner. 85 P. Jessen 1855, S. 478. 86 Eine populistische Wiedergabe dieser Auffassung vom Erwerb von Fähigkeiten erfreute sich unter Physiologen und Anatomen des späten 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Damals war der assoziationstheoretische Gedanke weit verbreitet, wiederholtes Üben stärke die nervlichen Verbindungen und stelle daher die Grundlage von Wissens- und Fähigkeitserwerb dar. Um diesen Gedanken zu vergegenwärtigen, wurde gerne das Beispiel des Klavierspielens angeführt. Der bekannte Alltagseffekt, dass wiederholtes Üben beim Erlernen des Spiels zu einer fast automatisch zu bezeichnenden Fingerfertigkeit führt, wurde hierbei auf eine allmähliche Verfestigung der Verbindungsstärke in Nervenbahnen zurückgeführt. Dieses weitverbreitete Bild findet sich bei Physiologen wie Exner (vgl. S. Exner 1894), Hering (vgl. E. Hering 1905) und Wernicke (vgl. K. Wernicke 1874 in M. Jeannerod 1985) oder auch bei dem Anatomen Ramón y Cajal (vgl. S. Cajal 1906). 87 P. Jessen 1855, S. 479. 88 Ebd., S. 478.

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dem Titel Über das Gedächtnis als einer allgemeinen Function der organisirten Materie. Als Physiologe sah Hering sich ausschließlich zwischen die Disziplinen Physik und Psychologie gestellt. Erscheinungen des Bewusstseins und des Unbewussten verstand er, unter Verwendung assoziationistischer Ideen, als Bilder, die im Gedächtnis des Nervengewebes repräsentiert sind und sich gewollt oder ungewollt reproduzieren. Die „Äußerungen“ des Gedächtnisses „[fallen] zwar zum großen Teile zugleich ins Bewußtsein [...], [laufen] zum anderen und nicht minder wesentlichen Teile aber als bloße materielle Prozesse unbewusst [ab]“89. Die Nervensubstanz bewahre die Erinnerung an oft verrichtete Bewegungsabläufe genauso, wie Empfindungen und Wahrnehmungen. Diese Erinnerung sei an Markierungen in der Nervensubstanz oder an neu geschaffene Nervenverbindungen gebunden, die dann eine Reproduktion derselben aufgrund von „Ketten unbewußter Nervenprozesse“90 erlaubten. „[W]enn auch die bewußte Empfindung und Wahrnehmung bereits längst verloschen ist, [bleibt] doch in unserem Nervensystem eine materielle Spur zurück, eine Veränderung des molekularen oder atomistischen Gefüges, durch welche die Nervensubstanz befähigt wird, jene physischen Prozesse zu reproduzieren, mit denen zugleich der entsprechende psychische Prozeß, d.h. die Empfindung und Wahrnehmung gesetzt ist.“91

Im Gefüge der Nervensubstanz hinterließen die Wahrnehmungen bleibende Veränderungen (eben die sogenannten „Spuren“), die je nach Wiederholung und Intensität der Wahrnehmung gegenüber anderen eher reproduziert werden könnten. Das Gehirn sei dadurch besonders auf die Wahrnehmung bestimmter Ereignisse ausgerichtet: „Von vielen Dingen und Ereignissen, besonders den nur einmal oder flüchtig wahrgenommenen, bleiben nur einzelne, besonders hervorstechende Eigentümlichkeiten reproduzierbar, von anderen wiederum nur diejenigen, welche schon früher an anderen wahrgenommen wurden, und für deren Aufnahme das Gehirn daher gleichsam schon gestimmt war [Hervorhebung KSB]. Diese finden nun einen stärkeren Anklang, treten leichter und energischer ins Bewußtsein als das Übrige, und hierdurch wächst zugleich ihre Geneigtheit zur Reproduktion. So kommt es, dass das vielen Dingen Gemeinsame und deshalb besonders oft Empfundene und Wahrgenommene nach und nach so reproduktionsfähig

89 E. Hering 1905, S. 10. 90 Ebd., S.10. 91 Ebd., S. 8.

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wird, dass es endlich ohne den entsprechenden, von außen kommenden wirklichen Reiz schon auf schwache innere Reize hin reproduziert wird“92.

Diesen Reproduktionsbegriff nahm Hering zum Ausgangspunkt, um aller organischen Substanz ein Gedächtnis zuzusprechen – sozusagen als dessen Urvermögen. Der Muskel beispielsweise erinnere, ähnlich dem Nerv, aufgrund vergangener Belastungen mit Veränderungen, in diesem Fall mit Zuwachs. Unter dem Begriff „unbewusstes Gedächtnis der Natur“93 fasste Hering die allgemeinste Fähigkeit zur Reproduktion, nämlich die Weitergabe von im Verlauf der individuellen Lebensspanne erworbenen Eigenschaften an die Nachfahren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich ein stark vom Assoziationismus geprägter physikalistischer Gedächtnisbegriff etablieren können, dessen Substrat im Wesentlichen in Nerven mit dynamisch veränderbaren Eigenschaften erblickt wurde. Die sich später in der Psychologie etablierende Kategorie des Lernens wurde in diesem Verständnis meist mit eingeschlossen, als Prozess des Einschleifens dieser Gedächtnisspuren. Damit waren die wesentlichen Grundlagen für einen im 20. Jahrhundert weit verbreiteten Typus von Gedächtnis- und Lerntheorien gelegt: • Die Spurentheorie stellt im Grunde eine psychologische Variante der damals

einsetzenden Amalgamierung von Assoziationismus und Nerventätigkeit dar. Indem Anatomen, Physiologen und Philosophen in hohem Maße Assoziation und Nerventätigkeit analogisierten, wurden die Grundlagen für spätere Interpretationen neuronaler Dynamiken als Lern- und Gedächtnissubstrat geschaffen. • Gedächtnis wurde nicht mehr als eine spezifische Fähigkeit des Geistes angesehen. Reproduzierbare Lebensäußerung verstand man stattdessen als auf nervliche Gedächtnisspuren zurückführbar. Manchem galt Gedächtnis sogar in einem sehr weiten Verständnis als allgemeine Eigenschaft jeglicher organischer Substanz. Im 20. Jahrhundert wurde dieser Gedanke weiter zugespitzt. Vor allem das materielle Substrat der Gedächtnisspur stand im Zentrum der Überlegungen und damit verbunden der Akt der Etablierung bzw. Reaktivierung dieser Spur. In der (Physiologischen) Psychologie kam es zu einer Betrachtung von Lernen und Gedächtnis als zwei sich ergänzenden Funktionsweisen: Gedächtnis galt in diesem Verständnis als die Speicherung des Gelernten und als die Möglichkeit zur Reproduktion der gespeicherten Inhalte. 92 Ebd., S. 8. 93 Ebd., S. 21.

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Lernen94 wurde verstanden als ein Befüllen dieses wie rudimentär auch immer verstandenen Gedächtnisspeichers. In der Kybernetik der 1940er Jahre löste sich der Gedächtnisbegriff vollständig vom Organischen und wurde zu einem immateriellen Funktionskonzept, das sowohl im Menschen als auch in der Maschine seine materielle Entsprechung finden könne. • Die Grundlage für die Etablierung der Gedächtnisspur wurde in den Eigenschaften der Nerven gesehen sowie in deren Fähigkeit zur Veränderung dieser Eigenschaften. Variable Markierungen wurden an den Nerven angenommen, die mit den erinnerten Ideen und Wahrnehmungen auf irgendeine Art und Weise korrespondieren. „Wir sehen uns vielmehr zu der Voraussetzung genöthigt, dass das Aufnehmen und Festhalten der Ideen in den Nervenzellen geschehen werde“95. Diese Markierungen etablieren zugleich die Gedächtnisspur, deren Aktivierung mit dem Prozess des Erinnerns gleichgesetzt wird. Wenngleich die der Theorie zugrundeliegenden funktionalen Annahmen zur Veränderbarkeit der Markierungen an den Nerven damals vage bleiben mussten, deutlich ist zu erkennen, dass Gedächtnis hier als ein dynamischer Prozess des immer tieferen Einschleifens der Spuren verstanden wird. Spezifischere Ideen zu der Natur dieser Markierungen96 entwickelten sich im Fahrwasser einer Konkretisierung des Konzeptes der Nervenzelle. 1.2.6 Neuronendoktrin Zur Jahrhundertwende erfuhr das von Wissenschaftlern beschriebene assoziativ geprägte Zusammenspiel von gebahnten bzw. gehemmten Passagen zwischen nervlichen Entitäten eine wissenschaftliche Neuorientierung: Die Nervenzelle

94 Auch der Begriff des Lernens etablierte sich als ein weit gefasster Begriff. Er war nicht an den Menschen gebunden und wurde analog zu einem materiellen Gedächtnisverständnis in der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts als Veränderung des Wissens, der Kenntnis, des Vermögens, der Verhaltensweisen verstanden, die man unter Laborbedingungen quantitativ erfassen und untersuchen könne, vgl. Kapitel 3. 95 P. Jessen 1855, S. 480. 96 Im frühen 20. Jahrhundert nach der Etablierung der Neuronendoktrin wurden in der Durchlässigkeit der Nerven gegenüber nervöser Erregung die dynamisch veränderlichen Markierungen der Gedächtnisspuren erblickt. Aber auch andere physiologische Prozesse waren zu diesem Zeitpunkt als Spurenmarker im Gespräch, vgl. B.R. Gomulicki 1953.

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wurde zum dynamisch agierenden, autonomen Träger im Nervengewebe.97 Die folgenden Ausführungen zur Etablierung der Neuronendoktrin sind verhältnismäßig ausführlich, da die Neuroanatomie die Grundlage zum Verständnis der Theorien von Cajal und Lorente de Nó bildet. Die Geschichte der Nervenzelle hängt im Wesentlichen mit der Fortentwicklung der verwendeten histologischen Methoden und Instrumente zusammen. Die experimentelle Erprobung von Fixierungs- und Färbemethoden des Nervengewebes98 und die im 19. Jahrhundert zunehmende Verwendung mikroskopischer Instrumente, um die so erstellten Gewebepräparate näher zu betrachten, verhalfen zu einer genaueren Erkenntnis vom Aufbau des Nervengewebes. Der Einsatz von Hilfsmitteln und deren Weiterentwicklung reicht jedoch allein nicht aus, um den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung über den Aufbau des Nervengewebes hinreichend zu charakterisieren.99 Mit der Verwendung von neuen Fixierungs- und Färbemethoden wurden jeweils wieder neu Deutungsprozesse darüber angestoßen, was denn nun in den Präparaten zu erkennen sei. Dieser Prozess ist nicht nur abhängig von den optischen Qualitäten eines Präparates, sondern wird maßgeblich von den theoretischen Vorannahmen beeinflusst, die der oder die Betrachtende über den betrachteten Gegenstand besitzt. Theorien über Aufbau und Funktionsweise des Nervengewebes richten die Wahrnehmung auf das aus, was in Präparaten wahrgenommen wird und wie man dieses verarbeitet. „Implikationen für ein funktionelles Verständnis der Neuroarchitektur des Nervengewebes [werden] damit zum Teilmoment der Argumentation“, so beschreibt Breidbach100 den Prozess. In diesem Sinne charakterisiert er die Entwicklung der Neuronendoktrin als einen konstruktiven Diskussions- und Erkenntnisprozess, in dem die neuronalen Bilder (das, was vom Nervengewebe durch Gewebeschnitte, Färbung und Präpariertechnik sichtbar gemacht werden konnte) und theoretische Annahmen untrennbar in die The-

97

Ausführlich zur Neuronendoktrin vgl. L.S. Jacyna/ E. Clarke 1987, G.M. Shepherd

98

Ganz ohne eine Herrichtung lassen sich die Bestandteile des Nervengewebes nicht

1991, O. Breidbach 1993, S. Dierig 1994, M. Hagner 2000a. genauer erkennen. So bedarf es chemischer Verfahren, um die Bestandteile des Gewebes farblich hervorzuheben; des Weiteren muss das Gewebe dafür konserviert und fixiert werden. Diese Verfahren verstärken bestimmte Merkmale optisch, greifen möglicherweise verändernd in das Gewebe ein und haben dadurch Einfluss darauf, welche strukturellen Qualitäten überhaupt wahrgenommen werden können. 99

Vgl. L.S. Jacyna/ E. Clarke 1987, G.M. Shepherd 1991, O. Breidbach 1993.

100 O. Breidbach 1993, S. 122.

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oriebildung eingingen. „Gesehen wird [auf den Schnitten und Präparaten, KSB] nur das, was auch greifbar, d.h. im Kontext einer Theorie deutbar schien.“101 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es gelungen, zwei Phänomene im zentralen Nervengewebe sichtbar zu machen, zum einen kugelige Gebilde, Ganglienkugeln genannt, zum anderen miteinander verwobene Fasern. Die eingefärbten Körper der Nervenzellen wurden damals allerdings nicht in Verbindung zu den Fasern gebracht; beide galten als zu zwei getrennten Systemen gehörig. In den Fasern sah man die wichtigen, funktionstragenden Bestandteile. Bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich dann die Vorstellung etablieren können, dass Gehirn und Rückenmark aus nichts anderem bestünden als einer ungeheuren Ansammlung einfacher Nervenfasern und Ganglienzellen, wobei die Fasern durch die Zellen verbunden seien. Nervöse Ennervation hänge allein von den Verbindungen der Nervenzellen untereinander ab.102 Aber die Art und Weise, wie die Zellen miteinander in Verbindung träten, ließ sich aus den bestehenden Präparaten nicht ableiten. Diese Unsicherheit eröffnete den Raum für die nachfolgenden Debatten. Es standen sich vor allem zwei Meinungen gegenüber. Während eine Gruppe der ganzheitlichen Auffassung des Gehirns im Sinne der Äquipotenz-Theorie anhing und in diesem Sinne die Nerven als kontinuierliches Fasergeflecht betrachteten, favorisierten die andere die Vorstellung der Nervenzelle als umgrenzter Struktureinheit analog den übrigen Körperzellen. Die erste Ansicht führte zur Retikulum-Theorie, die zweite zur Neuronendoktrin. Um Antworten zu erhalten, bedurfte es einer verbesserten Visualisierung der Nervenzellen mit ihren feineren Ausläufern. Nur langsam wurden während der 1850er und 1860er Jahre auf diesem Feld Fortschritte erzielt.103 Meist experimentierten die Histologen mit verschiedenen Anwendungen zum Härten und Färben des Nervengewebes. Die Imagination unterstützte sie bei der Interpretation ihrer Präparate. In den späten 1860er und während der 1870er Jahren postulierte Albrecht von Kölliker (1817-1905) als einer der ersten eine ambitionierte funktionale Theorie zur Feinstarchitektur des Nervensystems.

101 Ebd, S. 85. 102 Vgl. L.S. Jacyna/ E. Clarke 1987, S. 98/99. 103 In den 1860er Jahren waren die meisten Methoden Grund gelegt, die auch heute noch in der Histologie verwendet werden, vgl. G.M. Shepherd 1991, S. 39.

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Abbildung 1-1 Erste Abbildung eines Nervennetzes

A. Kölliker 1867 in G.M. Shepherd 1991, S. 54.

Das Nervensystem bestehe demnach aus einem dreidimensionalen Fasergeflecht, in dem Nervenzellen kontinuierlich über ihre Fasern miteinander verflochten seien und das sich netzwerkartig104 über die gesamte graue Substanz der Hirnrinde und das Rückenmark ausbreite (vgl. Abbildung 1-1). Allerdings glaubte Kölliker, dass allein die Dendriten ein Netz bilden würden, während er eine Fusion der Axone verneinte. „Schema der Verbindungen von Zellen und Nervenfasern im Rückenmark. [...] Alle Zellen stehen miteinander in Verbindung durch die Netze ihrer verzweigten Ausläufer.“105

Sein Kollege, der Erlanger Anatom Joseph Gerlach (1820-1896), bestärkte zu Beginn der 1870er Jahre diese These, allerdings in der Variante, dass auch die

104 Albrecht von Kölliker führte hier 1867 den Begriff des „Netzes“ ein, vgl. G.M. Shepherd 1991, S. Finger 1994. 105 A. Kölliker 1867 in G.M. Shepherd 1991, S. 54.

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axonalen Fortsätze ein komplexes Netz bildeten.106 Ihm war mithilfe der von ihm entscheidend verbesserten Carminfärbung eine der zur damaligen Zeit besten Abbildungen der Nervenzellen und ihren Ausläufern gelungen. Allerdings zeichnet sich diese Färbung, wie sich später herausstellen sollte, durch mangelnde Exaktheit in der Darstellung des feineren Verlaufs der sich verästelnden Zellfortsätze aus und lässt dadurch im Nervengewebe ein komplexes Gefüge ineinander verwobener, letztendlich nicht voneinander abgrenzbarer Faserstrukturen erkennen. Unter dem Namen Retikulum-Theorie entwickelte sich aus den Thesen von Köllikers, Gerlachs und anderen die Theorie einer kontinuierlich verlaufenden Fortleitung von Nervenimpulsen. Die sogenannten Retikularisten betrachteten den – in anatomischen Gewebeschnitten durch Färbetechniken sichtbar gewordenen – eng verwobenen Nervenfilz als das elementare Organisationsprinzip des Nervensystems. Die Vielzahl nervlicher Verbindungen erschien ihnen so komplex, dass das Großhirn nur als Ganzes die notwendigen Leistungen erbringen könne.107 Durch die Entwicklung der Golgi-Imprägnierung wurde erneut ein qualitativer Erkenntnissprung in der Neuroanatomie möglich.108 Mit der nach ihm benannten Imprägnierungsmethode gelang es dem italienischen Mediziner Camillo Golgi (1843-1926) in den 1870er Jahren, Nervenzellen in ihrer Gänze exakt einzufärben.109 Bei der Behandlung nach der Golgi-Methode treten Nervenzellen 106 A. Kölliker in G.M. Shepherd 1991, S. 54, vgl. S. Dierig 1994, S.112-S.120. 107 Wie S. Dierig 1994 anmerkt, scheint es gleichsam verwunderlich, dass die Zelltheorie hier keinen Niederschlag fand, sondern die Protagonisten der retikularistisch gedeuteten Neurohistologie der 1870er und 1880er Jahre unter Vernachlässigung einer möglichen Rolle der Nervenzellkörper hartnäckig an der alten Faserlehre (d.h. an der Lehre aus dem 18. Jahrhundert, in der Faser das anatomische und funktionelle Grundelemente des Gewebes bildeten) hingen. Die Zelltheorie hatte sich zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt und fand bald in der allgemeinen Anatomie breite Akzeptanz. In ihr vereinigten sich anatomische und physiologische Aspekte: Die Körperzellen wurden als eigenständige Basiselemente des Gewebes betrachtet und gleichzeitig als die Träger körperlicher Stoffwechselprozesse. Besonders der Berliner Pathologe Rudolf Virchow (1821-1902) ist hier zu nennen, der im Jahr 1858 seine bis jetzt gültige Zellenlehre vorstellte. 108 Vgl. M. Hagner 2000a. 109 Über die Hintergründe der Entwicklung der Silbernitratmethode ist nur wenig bekannt. Camillo Golgi hatte Medizin in Pavia studiert und war dort am psychiatrischen Institut von Cesare Lombroso (1835-1909) ausgebildet worden. Gleichzeitig arbeitete er im Labor für experimentelle Pathologie von Guilio Bizzozero (1846-

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mit ihren Axonen und Dendriten als Reaktion schwarz hervor; daher auch ihr Name „reazione nera“ – schwarze Reaktion. Erstmals ergab sich ein vollständiges, klar konturiertes Bild der Struktur der Nervenzelle mit ihren sehr fein verästelten Ausläufern. Jetzt war es möglich, den genauen Verlauf von Nervenfasern über längere Strecken im Gehirn nach zu verfolgen. Allerdings werden – aus auch bis noch heute ungeklärten Gründen – nur eine sehr begrenzte, zufällig bestimmte Anzahl von Nervenzellen und -fasern durch die Färbung hervorgehoben110. Die auch heute noch erfolgreich verwendete Methode war jedoch unberechenbar: Ein Teil der auf diese Weise von Golgi erzeugten Präparate erwies sich als nicht verwertbar. Golgi hielt sich 1873 bei der ersten Veröffentlichung seiner auf dieser Methode beruhenden Befunde mit einer Beschreibung zurück, wie die Silberimprägnierung genau auszuführen sei. Dies war einer der Gründe, die eine rasche Verbreitung dieser Methode erst einmal verhinderten.111 Erst in den 1880er Jahren gelang die Reproduktion. Obwohl mit der Golgi-Methode erstmals Nervenzellen bis in die feinen Verästelungen ihre Ausläufer vollständig sichtbar gemacht werden konnten, ließ der 1901), einem jungen Professor für Histologie und Pathologie. Bizzozero war es auch, der Golgi in die experimentelle Forschung und Techniken der Histologie einführte. Seine ersten eigenen Forschungsergebnisse veröffentlichte Golgi auf dem Gebiet der Pathologie von Gehirnerkrankungen. Recht schnell verließ er jedoch die Psychiatrie, um sich der Erforschung von deren organischer Grundlage im Studium der Strukturen des Nervensystems zu widmen. Unzufrieden mit den bestehenden histologischen Methoden suchte Golgi nach besseren Techniken zur Darstellung der Strukturen des Nervensystems unter dem Mikroskop. In diesem Zusammenhang gelang ihm in den frühen 1870er Jahren die Entwicklung der Silberimprägnierung. Das Journal of the History of Neuroscience widmete 1999 eine Ausgabe dem Leben und Werk Camillo Golgis, vgl. Journal of the History of Neuroscience Band 8, Heft Nr.2. 110 Zwischen 0% und 5% der Zellen eines Gewebeblocks werden angefärbt. In dieser partiellen Färbung des Gewebes liegt aber auch die Stärke der Silberimprägnierung: Würden alle Nervenzellen eingefärbt, sähe das Präparat aufgrund der hohen Zellendichte vollständig schwarz aus, vgl. S. Dierig 1994. Eine ausführliche Beschreibung der Anwendung der Methode z.B. R. Greef in S. Cajal 1894, M.E. Scheibel/ A.B. Scheibel 1978. 111 Vgl. M. Hagner 2000a. Auch die von Golgi in seiner Veröffentlichung verwendete Sprache, das Italienische, mag ein Hemmnis bei der Verbreitung der Silberimprägnierung gewesen sein. S. Dierig 1994 weist daraufhin, dass Golgi seinen 1873er Artikel aus diesem Grund im Jahr 1894 auch in deutscher Sprache veröffentlichte.

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Blick durch die damaligen Mikroskope auf ein nach der Golgi-Methode erstelltes Präparat keinen genauen Schluss zu, auf welche Weise die sichtbar gemachten Nervenzellausläufer mit ihren weiten Verzweigungen (Kollateralen) miteinander in Verbindung standen, ob sie verwachsen seien (ein Zustand, der damals als Anastomose bezeichnet wurde) oder sich nur berührten. Golgi interpretierte die solchermaßen sichtbar gemachten Nerven auf Grundlage der RetikulumTheorie: Er unterschied zwischen frei endenden „protoplasmic prolongations“ der Nerven112, denen er eine die Zelle versorgende Funktion zuwies, und den „Achsen Zylindern“, den heutigen Axonen. Die Verzweigungen der Achsenzylinder bildeten für Golgi ein kontinuierliches Geflecht, das die grauen Substanz des Großhirns und auch die Kleinhirnrinde ausfüllt und die eigentliche Reizleitung übernahm113. Der spanische Anatom Santiago Ramón y Cajal (1851-1934) dagegen kam unter der Nutzung der Golgi-Methode zu einer völlig anderen Einschätzung: Er postulierte unabhängige Nervenzellen.114 Aber auch sein Postulat lässt sich aus den Präparaten nicht ohne Vorannahme über Charakter und Funktionsweise der Nervenzelle ableiten. Ramón y Cajal115 hatte für sein Heimatland Spanien eher ungewöhnlich bereits in jungen Jahren um die Mitte der 1870er Jahre das Mikroskop kennen gelernt. Obwohl die Mikroskopie als eine Wissenschaft in Spanien zu der Zeit nahezu unbekannt war, wandte sich Cajal neben seiner universitären Arbeit als Anatom dieser Technik zu und richtete ein eigenes privates mikroskopisches Labor ein. Dort experimentierte er – anfangs eher wahllos, später systematisch – mit verschiedenen mikroskopischen Techniken und untersuchte unterschiedliche Gewebe und Organismen. Im Laufe der Jahre erarbeitete sich Cajal so neben der Anatomie eine Position als Autorität auf dem Gebiet der spanischen Mikrosko112 C. Golgi 1873 in G.M. Shepherd 1991 S. 84-88. Diese damals sogenannten protoplasm(at)ischen Fortsätze, der Begriff wurde damals auch in die deutschsprachige Literatur übernommen, werden heute als Dendriten bezeichnet. 113 Vgl. M. Hagner 2000a. 114 Cajal war nicht der einzige, der Golgis Interpretation kritisch betrachtete. Auch andere Wissenschaftler wendeten sich in dieser Zeit gegen die retikularistische Theorie eines kontinuierlichen Nervennetzes. So vertraten 1886/87 etwa auch der Schweizer Psychiater Auguste Forel (1848-1931), der Baseler Anatom Wilhelm His (1831-1904), sowie der norwegische Zoologe Fridtjov Nansen (1861-1930) mit ihren Forschungsergebnissen die Theorie unabhängiger Nervenzellen, vgl. G.M. Shepherd 1991. 115 Näheres zur Biographie Cajals vgl. S. Cajal 1937, D.F. Cannon 1949, G.M. Shepherd 1991.

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pie. Nach Abschluss umfangreicher Arbeiten zur komparativen Histologie wendete sich Cajal dem mikroskopischen Studium des Nervengewebes zu. 1887 während eines Besuchs in Madrid stieß er im Labor des Psychiaters und Neurologen Luis Simarro auch auf Präparate, die mithilfe der von Golgi entwickelten Färbetechnik erstellt worden waren. Nach eigenen Angaben war er so fasziniert von den Ergebnissen, dass er selber mit dieser Imprägnierung zu experimentieren begann. Besondere Erfolge erzielte er durch die Anwendung dieser Methode auf embryonales oder neonatales Gewebe, da sich bei diesen mit der GolgiFärbung wegen der noch nicht erfolgten Myelinisierung der Nervenfasern bessere Färbeergebnisse erzielen ließen. (Die Golgi-Imprägnierung färbt myelinisierte Nervenfasern nicht richtig ein, da die Myelinschicht, die sich erst im Laufe der Entwicklung ausbildet, ein Eindringen des Silbers in die Fasern verhindert.) Cajal präparierte Nervengewebe von Kleintieren, aber soweit möglich auch von Menschen.116 Bis 1890 hatte er so die Feinstrukturen des Cerebellums grundlegend studiert und Erkenntnisse über die Retina, die Geruchsknospen, das Rückenmark und den Hirnstamm gesammelt. Diese umfangreiche Sammlung bildete die Basis für seine These von der Unabhängigkeit der Nervenzellen voneinander. Eine besondere Bedeutung besaßen dabei Cajals Untersuchungen der Kleinhirnrinde (von Vögeln)117. Seine Präparate zeigten ihm frei endende Axone. Daraus schloss Cajal, dass es keine Anastomose geben könne, da die axonalen Ausläufer nicht in die Nachbarzelle eindrängen (vgl. Abbildung 1-2). Cajal war sich in seiner Deutung anfangs nicht sicher. Er konnte keine verwachsenen Nerven erkennen, fragte sich jedoch, ob die Golgi-Methode wirklich alle Nervenzellausläufer abbilde. Selbst wenn er keine Anastomose erkennen könne, bedeute dies nicht, dass es keine gäbe.118 Letztendlich stützte Cajal seine These unabhängiger Nervenzellen mithilfe einer Vielzahl von Golgi-Präparaten aus verschiedensten Teilen des Nervensystems, die ihm an keiner Stelle Verwachsungen der Nervenzellen zeigten, und durch Annahmen zur Erregungsübertragung zwischen unabhängigen Nervenzellen.

116 So dankte Cajal etwa dem Direktor und den Ärzten des Findelhauses, vgl. S. Cajal 1900b, Heft 2, S. 4. 117 S. Cajal 1888, in weiten Teilen übersetzt ins Englische in G.M. Shepherd 1991, S. 140 ff. 118 Vgl. S. Cajal 1888 in ebd., S. 148.

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Abbildung 1-2 Cajals Tuschezeichnung der Zellen mit frei endenden Axonen

S. Cajal 1888 in G. M. Shepherd 1991, S. 143. Die Abbildung zeigt eine erste Illustration, die Cajal nach Resultaten der Golgi-Färbung anfertigte. Sie stellt einen vertikalen Schnitt durch die Kleinhirnwindung einer Henne dar: „[A]nd never an anastomosis between the Purkinje cells and the small stellate cells”119. A – Purkinje-Zellen, D – kleine sternförmige Zellen (spätere Korbzelle), C– herabsteigende Faserkörbe, in denen die Zweige der Achsenzylinder enden, F– große sternförmige Zelle der Körnerschicht (Diese Zelle war von Golgi entdeckt worden. Cajal nannte sie später Golgi-Zellen.), G – die sich stark verzweigenden Axone der großen sternförmigen Zelle

Gegen Ende der 1880er Jahre verbreitete sich die Neuronendoktrin120: 1889 war Ramón y Cajal mit seinen Forschungsergebnissen während einer Konferenz der Deutschen Anatomischen Gesellschaft in Berlin an die europäische Wissenschaftsöffentlichkeit getreten. Hier stießen die Ergebnisse seiner GolgiImprägnierungen und die Interpretation seiner Befunde bei Anatomen wie Albrecht Kölliker, Wilhelm His, Wilhelm Waldeyer, Arthur van Gehuchten auf 119 S. Cajal 1888 in G.M. Shepherd 1991, S. 147. 120 Spanien lag damals weit ab von den wissenschaftlichen Zentren Europas; Cajal war abgeschnitten vom Austausch mit ausländischen Kollegen und blieb bis in die zweite Hälfte der 1880er Jahre mit seiner Arbeit international isoliert.

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großes Interesse und Zustimmung. In den Monaten nach dem Kongress verbreitete sich Cajals These von der Unabhängigkeit der Nervenzelle rasch über die wissenschaftlichen Zentren Europas. Viele Wissenschaftler wendeten sich der bisher wenig beachteten Silberimprägnierung Golgis zu.121 Schon Anfang der 1890er Jahre hatte sich die neue Theorie der Nervenzellen als unabhängige singuläre Elemente des Nervengewebes bestehend aus einem Zellkörper und dessen Faserfortsätzen, den Dendriten und Axonen,122 weitestgehend etablieren können, wozu auch der mehrteilige Übersichtsartikel des deutschen Anatomen Wilhelm Waldeyer (1836-1921) aus dem Jahr 1891 beitrug.123 Die wesentlichen Bestandteile der Neuronendoktrin waren damit ausformuliert. Zwar hielten Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern neuronaler Anastomose und der Neuronendoktrin noch bis nach der Jahrhundertwende an, denn mit den technischen Mitteln des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts ließ sich nicht klären, ob diese wirklich den Tatsachen entspräche124, aber die Waagschale hatte sich zu Gunsten einer Theorie unabhängiger Nervenzellen gesenkt. 121 Die Hochzeit der Verwendung der Silberimprägnierung lag in den 1890er Jahren; danach nahm ihre Nutzung wieder ab. Zu einem vermehrten Einsatz kam sie erst wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 122 Die heute gebräuchlichen Begriffe für die Nervenfasern, Dendrite bzw. Axone, wurden auch zu dieser Zeit geprägt: der Schweizer Anatomen Wilhelm His schlug 1889 Dendrit anstelle des etwas umständlichen Begriffs protoplasmatische Fortsätze vor; 1896 regte Albrecht von Kölliker den Namen Axon als eine Vereinfachung für Achsenzylinder an, vgl. z.B. G.M. Shepherd 1991. 123 W. Waldeyer 1891 hatte darin den Stand der Forschung zur Anatomie des Centralnervensystems seit 1841 zusammengefasst. Er führte in seinem Artikel auch seinen neuen Begriff für die Nervenzelle ein – das Neuron. 124 Die nur unzureichenden Techniken im histologischen Bereich ließen eine eindeutige Beweisführung im Sinne der Befürworter bzw. Gegner der Neuronendoktrin nicht zu, vgl. A. Hoche 1899, G.M. Shepherd 1991, O. Breidbach 1997. Hier spielte besonders die Entdeckung der „Endknöpfe“, Ausstülpungen an den Enden der Dendriten, Ende des 19. Jahrhunderts eine Rolle. Der Begriff geht auf den Anatomen Hans Held (1866-1942) zurück – Held selber interpretierte seine Beobachtungen der Endknöpfchen als Hinweise auf ein Zusammenwachsen der Nervenzellen im Erwachsenenalter, also im Sinne der Kontinuität der Nervenfasern. Gestützt wurde er von seinen Kollegen Albrecht Bethe (1872-1954) und Istvan Apáthy (1863-1922), in deren Schnittpräparaten feinste Nervenfasern, sogenannte Neurofibrillen, in die benachbarten Nervenzellkörper einzudringen schienen. Gestützt auf diese Beobachtungen verfocht Held bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Idee eines retikularistischen Nervennetzes.

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1.2.7 Physiologie der Nerven Zur Festigung seiner These unabhängiger Nervenzellen gab Cajal auch auf die Frage nach einer Physiologie der unabhängigen Nervenzellen eine befriedigende Antwort. Golgi hatte seine Nervenphysiologie auf dem Hintergrund der Retikulum-Theorie formuliert, die einen nahtlosen Erregungsverlauf in alle Richtungen postulierte. Wie aber könnte eine Erregungsübertragung zwischen unabhängigen Nervenzellen aussehen? Die elektrische Erregung galt im ausgehenden 19. Jahrhundert als das Hauptprinzip einer Physiologie der Nerven.125 Das war nicht immer so gewesen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte die alte Vorstellung von den Nerven als Hohlrohrsystem vorgeherrscht. Zwar war bereits im 18. Jahrhundert eine elektrische Reizung von Froschmuskulatur in einem Nerv-Muskel-Präparat durch Luigi Galvani (1737-1798) gelungen, der Elektrizität als Grundlage der Nerv- und Muskeltätigkeit postulierte. Aber erst durch erfolgreiche Elektrizitätsmessungen an peripheren Nerven konnte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Ansicht etablieren, dass die elektrische Erregung auch das Hauptmedium nervlicher Kommunikation sei. Dies war der Verdienst vor allem von Emil Du BoisReymond (1818-1896), der 1849 zeigen konnte, dass die elektrische Erregung eine negative Erregungswelle oder Schwankung sei, die sich entlang des Nervs bewege und den im Nerv anliegenden Ruhestrom verändere. Seinem Freund, dem Physiologen und Physiker Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz (18211894), gelang im Jahr 1850die ersten Geschwindigkeitsmessungen der Erregung in Nerven eines Froschschenkels. Während man nun daran ging, die elektrischen Veränderungen der Nervenfunktion immer genauer zu erfassen, blieb die Natur des Nervenstroms jedoch ungeklärt. Möglicherweise würde er, so die Annahmen, durch einen physiko-chemischen Prozess initiiert werden. Nicht nur die Physiologie des peripheren Nervensystems wurde untersucht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangen die Stimulanz des Gehirns bzw. elektrische Ableitungen von Gehirnströmen. Dies führte zu einer vereinheitlichten Annahme über die Existenz von Nervenströmen im gesamten zentralen Nervensystem. Diese Vereinheitlichung in der Betrachtung der Nervenfunktionen verdrängte älteres Gedankengut, in denen den zentralen Nerven, besonders im Gehirn, spezifische qualitative Fähigkeiten zugewiesen worden waren. Reste von diesem Denken finden sich jedoch noch Ende des 19. Jahrhunderts, beispielsweise in der Idee einer Erinnerungsfunktion bei dem Psychiater und

125 Weiterführende Literatur z.B. K.E. Rothschuh 1958, L.A. Stevens 1973, M.A.B. Brazier 1987, S. Finger 1994.

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Neuroanatomen Theodor Meynert126 oder bei Ramón y Cajal127 in seiner Vorstellung, dass bestimmte Nerventypen jeweils ein kleines Gehirn für sich bildeten. Soweit die Darstellung der Situation zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die These unabhängiger Nervenzellen ließ sich nur überzeugend vertreten, wenn auch die Frage zur Erregungsübertragung zwischen den Zellen befriedigend geklärt war. Wie und wo bestünden etwaige Kontakte zwischen den Zellen? Welche Teile des Nervs seien in die Fortleitung dieser elektrischen Erregung einbezogen? Leitete der Köper der Nervenzelle oder besäßen allein die Nervenfasern diese Funktion? Durchflösse die Erregung den Nerv nur in eine Richtung oder beidseitig?128 In diese Anfang der 1890er Jahre herrschende Vielfalt an Überlegungen hinein formulierten der belgische Anatom Arthur van Gehuchten (1861-1914) und Ramón y Cajal im Jahr 1891 fast zeitgleich ein einheitliches Konzept der Erregungsleitung.129 Dieses „Gesetz der dynamischen Polarisation“ (Cajal) besagte, dass die Nervenzellen bei der Weiterleitung nervöser Impulse nach einem einheitlichen Prinzip funktionierten: Die sogenannten protoplasmatischen Fortsätze (Dendriten) nähmen die nervöse Energie auf und leiteten sie zum Zellkörper hin; die Achsenzylinder (Axone) seien cellulifugal ausgerichtet, d.h. sie leiteten die nervöse Energie weg vom Zellkörper. An den Endverzweigungen der Axone existierten Endpunkte, die sogenannten Faser- oder Endbäumchen, die in engem Kontakt mit den benachbarten Zellen stünden und von denen aus die Erregung weitergegeben würde. „And as this course of the nerve impulse through the protoplasm implies a certain constant orientation, something like a polarization of the waves of excitation, I designated the forgoing principle: the theory of dynamic polarization“.130

Damit war eine eingängige Theorie formuliert, mit deren Hilfe auch die funktionale Organisation der Nervenzellen und die Frage nach der Erregungsübertragung befriedigend beantwortet werden konnte. Diese funktionalen Aspekte komplettierten die Thesen zum anatomischen Aufbau der Nervenzelle und verhalfen 126 Vgl. Abschnitt 1.2.4, Fußnote. 127 Vgl. Abschnitt 1.3.1. 128 Vgl. z.B. W. Waldeyer 1891, G.M. Shepherd 1991. 129 Van Gehuchtens Publikation erschien wenig früher als Cajals. Van Gehuchten hatte Ende der 1880er Jahre auf Anregungen Cajals hin mit der Erforschung der Feinstrukturen des Nervensystems anhand der Golgi-Methode begonnen, vgl. G.M. Shepherd 1991. 130 S. Cajal 1937, S. 389.

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der Neuronendoktrin zur Durchsetzung. Die Aspekte der Neuronendoktrin zeigen sich hier bereits vollständig entwickelt, wie Dierig anmerkt.131 Das zu Beginn der 1890er Jahre formulierte Verständnis der Nervenzelle in ihrer Morphologie und Physiologie enthielte gleichsam die Grundzüge des weiteren Programms neurobiologischer Forschung im 20. Jahrhundert.

1.3 N EURONALE I NTEGRATIONSMECHANISMEN An der solchermaßen strukturell und funktionell ausdifferenzierten Theorie der Nervenzelle entwickelten und präzisierten sich die bisherigen Auffassungen eines neurophysiologischen Substrats psychischer und physischer Fähigkeiten. Vorstellungen von im Verband interagierenden Nervenzellen als eigenständigen Funktionseinheiten im Nervengewebe nahmen Konturen an. In den folgenden drei Beispielen werden unterschiedliche Ausprägungen neuronaler Integrationsmechanismen aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorgestellt. Sie zeigen vernetzte Nervenzellen, wie sie qua spezifischer Einflussnahme auf die neuronale Erregungsleitung zu der Erfüllung einer bestimmten Funktion zusammenwirken könnten. Während zu den Mechanismen Sherringtons und Exners bereits Veröffentlichungen existieren, wurden Cajals Subsysteme, besonders seine Darstellung rekurrenter Nervenverbindungen, bislang noch nicht ausführlich dargestellt. 1.3.1 Ramón y Cajals Subsysteme Wie bereits bei der Formulierung seiner Neuronendoktrin sichtbar geworden ist, war für Ramón y Cajal zum Verständnis des Nervensystems eine Analyse des strukturellen Aufbaus des Nervengewebes allein unzureichend. Als Anatom suchte er die Morphologie des Nervengewebes in ihrer Bedeutung für den Lebensvollzug des Gesamtorganismus zu verstehen. Dieses funktionale Verständnis stellt einen wichtigen Teilmoment seiner anatomischen Argumentation dar. Breidbach bezeichnet daher Cajals Neuroanatomie auch als eine „funktionelle Neuroanatomie“132. Funktional bedeutet aber nicht nur, dass Cajal Ergebnisse der Physiologie berücksichtigte. Genauso bezog er Theorien zu materiellen Grundlagen geistiger Fähigkeiten in seine Überlegungen mit ein. Auf diesem Hintergrund entstand sein Postulat zweier Subsysteme, zweier Grundmuster

131 S. Dierig 1994. 132 O. Breidbach 1997, S. 202.

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neuronaler Vernetzung, einer kreisförmigen und einer sich verzweigenden. Diese neuronalen Integrationsmechanismen werden mithilfe eines spezifischen Nervenzelltyps gebildet, der Nervenzelle mit kurzem Axon. Diese waren nach Cajal jeweils Teil spezifischer Subsysteme und dienten der Impulsverstärkung. In ihnen würden Erregungsmengen gespeichert, um bei Bedarf dem Nervensystem zur Verfügung gestellt zu werden. Denn im Nervensystem würde bei willentlich auszuführenden Handlungen eine größere Menge an Erregung gebraucht als vorhanden. Während eine lineare Erregungspropagation im Nervensystem die vorherrschende Vorstellung unter Physiologen und Anatomen der damaligen Zeit war, beschrieb Cajal um die Wende zum 20. Jahrhundert erstmals rekurrente Nervenverbindungen. Dreißig Jahre später sollte Lorente de Nó auf diese Arbeiten Cajals verweisen, die ihn zu seinen eigenen Postulaten der geschlossenen bzw. sich verzweigenden Neuronenkette führten, wenngleich mit anderer Deutung. Cajals Programm der Hirnforschung – die Bedeutung physiologischer und psychologischer Momente bei seiner Ausdeutung der neuronalen Morphologie Die besondere Leistung von Cajals Forschung besteht in der minutiösen Beschreibung unterschiedlichster Zelltypen in verschiedenen Hirnregionen und ihre Einbettung in den größeren Gewebezusammenhang. Ab Ende der 1880er Jahre verfertigte Cajal mithilfe verschiedener Imprägnierungstechniken133 unzählige Präparate von Hirnsegmenten und dem Rückenmark, mit dem Ziel, verallgemeinerbare Aufbau- und Strukturmerkmale in verschiedenen Hirnregionen zu erkennen. Er erarbeitete eine große Anzahl präzisester Bilder des zellulären Gesamtgefüges von Gehirnregionen in Mensch und Tier. Seine auf Golgi-Präparate 133 Cajal verwendete neben der Golgi-Methode die Imprägnierungen nach Nissl, Weigert-Pal, Ehrlich und Cox, vgl. z.B. S. Cajal 1900b. Die Nissl-Methode geht auf Franz Nissl zurück und färbt allein die Zellkörper an, die Ausläufer bleiben unsichtbar, vgl. F. Nissl 1894. Weigert-Pal dagegen imprägniert allein die myelinisierten Fasern der Nervenzellen, vgl. C. Weigert 1882. Die sogenannte Ehrlich-BlauMethode ist nur an lebendem Nervengewebe anwendbar, und daher für eine Analyse des menschlichen Nervengewebes nicht geeignet. Sie verhält sich in der Abbildung der Nervenzellen und ihrer Ausläufer ähnlich der Golgi-Methode, scheint allerdings aufgrund der Zersetzungsprozesse ihrer Farbe in der Anwendung nicht unproblematisch zu sein, vgl. P. Ehrlich 1886. Bei Cox handelt es sich um ein Derivat der Golgi-Methode, das vor allem die Dendriten einfärbt, vgl. W. Cox 1891.Weitere Informationen zu damals gängigen Färbetechniken findet sich auch bei E. Clarke/ C.D. O’Malley 1968 im Anhang.

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zurückgehenden Tuschezeichnungen des Nervengewebes, in denen er die Morphologie der Nervenzellen im betrachteten Hirnsegment, ihre Zuordnung zu einem Typ, sowie ihre möglichen Verbindungsbahnen – untereinander sowie mit anderen Regionen im zentralen Nervensystem – aufzeigt, bilden seine bekanntesten Darstellungen.134 Abbildung 1-3 Tuschezeichnung der tiefer gelegenen Schichten des visuellen Cortex einer 20 Tage alten Katze

S. Cajal 1899 in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 173.

Cajals eigentliches Ziel stellte jedoch nicht nur eine Gesamtdarstellung des Gehirns in seiner neuronalen Architektur, sondern auch in seiner Dynamik dar. Der Vorläufigkeit seiner daraus entstehenden Deutungen war Cajal durchaus be-

134 Vgl. O. Breidbach 1997, S. 212ff.

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wusst; dennoch erschien es ihm fruchtbar, anhand der bestehenden Kenntnisse eine „vorläufige anatomisch-dynamische Synthese“135 vorzunehmen. Er betrachtete diese als einen notwendigen Beitrag zum Fortschritt im wissenschaftlichen Verständnis des Gehirns: „Wir brauchen nicht zu bemerken, dass wir unsere Hypothesen nicht für ganz einwandfreie Theorien halten; wir glauben im Gegentheil, dass Angesichts der unermesslichen Schwierigkeiten des Problems und angesichts unserer geringen anatomisch-physiologischen Kenntnis des Nervenprotoplasmas, Alles, was von dem eigentlichen Mechanismus der psychischen Vorgänge gesagt wird, verfrüht ist. Indess sind die rationellen Hypothesen, welche sich auf bekannte Thatsachen stützen, berechtigt und sogar fruchtbar. Eine wissenschaftliche Hypothese giebt eine neue Richtung an, einen Weg, welcher zur Beobachtung und zum Experiment auffordert und der, wenn auch nicht unmittelbar zur Wahrheit, so doch immer zu Unternehmungen und Kritiken führt, die uns derselben näher bringen.“136

Im Zentrum seines Unterfangens stand die Nervenzelle, von deren umfassender Analyse hinsichtlich ihrer strukturellen und physiologischen Eigenschaften allein er sich Erfolg im Hinblick auf das Verständnis der „Gehirntätigkeit“ versprach. „Man sieht [...], dass die Erforschung der Gehirntätigkeit erst dann Erfolg haben wird, wenn die Organphysiologie in eine Gewebephysiologie sich umgewandelt hat, wenn das Studium der organischen Resultate durch dasjenige der elementaren Komponenten ersetzt wird.“137

Seinem Postulat folgend, dass Nerven unidirektionale Kanäle der Erregung seien, legte Cajal Darstellungen nervlicher Dynamik im Gewebeverband vor. In Schemata und Diagrammen deutete er den Fluss der Erregung durch die Zellen und Bahnen an.138

135 S. Cajal 1906a, Heft 5, S.49. 136 S. Cajal 1895, S. 378. Rechtschreibung im Original. 137 S. Cajal 1900a, Heft 1, S. 2. 138 Cajals frühesten Abbildungen physiologischer Abläufe entstammen den späten 1880er Jahren, vgl. S. Cajal 1937, Kapitel 5.

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Abbildung 1-4 „Flussdiagramm“ neuronaler Erregung durch den Cortex

Cajal 1894 in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 84. „Flussdiagramm“ Cajals aus dem Jahr 1894, in dem er die prinzipiellen Zelltypen des cerebralen Cortex von Säugetieren aufzeigte und zugleich die hypothetische Fließrichtung der nervösen Erregung durch die exemplarisch als Vertreterinnen ihrer Art abgebildeten Nervenzellen und deren Verbindungen darstellte. A –Pyramidalzelle, B – Riesenpyramidalzellen, C – polymorphe Zellen, D – Zellen mit aufsteigenden Axonen, E – Golgi-Zellen, F – besondere Zellen der Molekularschicht, G – Nervenfasern, die frei im Cortex enden, H – weiße Substanz, I – Kollaterale der Weißen Substanz.139

139 J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 84.

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Solche Abbildungen finden sich in auffälliger Häufung in Cajals Vorträgen, so z.B. in seiner Croonian Lecture aus dem Jahr 1894140 oder seiner Rede zum Erhalt des Nobelpreises (vgl. Abbildung 1-4)141.Hier mag die Illustration der physiologischen Dimension der von ihm maßgeblich mitgeprägten Thesen zum Verlauf der nervösen Erregung durch die Nervenzelle und deren Ausläufer durchaus motivierend gewirkt haben. Man kann annehmen, dass Cajal anhand dieser Bilder dem Publikum die physiologischen Implikationen seiner Forschung einprägsam vor Augen führen wollte.142 Der funktionale Charakter von Cajals Neuroanatomie zeigt sich nicht nur in seinen Postulaten zum neuronalen Erregungsfluss, sondern auch in seinen Hypothesen zu den Grundlagen psychischer Aktivitäten. Bestehende Wissenslücken der Hirnforschung – wo „exakte anatomisch-physiologische Tatsachen [fehlten]“143 – füllte Cajal durch Rückgriffe auf die Psychologie. Denn, so seine Begründung, „gegenwärtig [sind] die Phänomene des Bewusstseins besser bekannt als der Bau des Gehirns, und die Wissenschaft von der Seele kann diejenige vom Gehirn eher wirksam unterstützen als umgekehrt.“144

In seinem Bestreben, neuronale Korrelate kognitiver Fähigkeiten zu identifizieren, redete er keiner einfachen Deutung das Wort. Zwar sprach er sich für eine anatomisch-physiologische Grundlage des Geistes aus,145 wendete sich jedoch zugleich gegen eine vereinfachende „mechanische Erklärung der Denkprozesse“.146

140 Der Vortrag wurde von Cajal auf Französisch verfasst: Er liegt jedoch auch in englischer Übersetzung vor: zur einen Hälfte in G. M. Shepherd 1991, zur anderen in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988. 141 S. Cajal 1906b. Ein weiteres Beispiel ist S. Cajal 1893. 142 Im Falle der Croonian Lecture hatte Albrecht von Kölliker Ramón y Cajal sogar den Rat gegeben, seinen Vortrag physiologisch auszurichten, vgl. S. Cajal 1937, S. 418. 143 S. Cajal 1906a, S. 49. 144 S. Cajal 1906a, S. 49. Diesen Ausspruch schrieb Cajal im Übrigen dem Cytoarchitektoniker Oskar Vogt zu. 145 Vgl. S. Cajal 1906a, Heft 5, S. 67. 146 Ebd, S. 67/68.

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„Weder der Materialismus noch der Spiritualismus können uns erklären, wie es kommt, dass ein Phänomen der Bewegung von der ersten Rindenschicht aus zu einem Act des Bewußtseins wird.“147

Der Intellekt, das Ich-Bewusstsein, der Wille seien keine einfachen Reflextätigkeiten; es handele sich dabei auch nicht um „die Frucht der Arbeit eines bevorzugten Zentrums“. Vielmehr verstand Cajal geistige Fähigkeiten als Ergebnis eines im Gehirn errichteten dynamischen Zusammenhangs von Verbindungsbahnen, die das Zusammenwirken „einer grossen Zahl primärer und sekundärer kommemorativer Sphären“ ermöglichten. 148 Cajal glaubte an keine fundamentalen Abweichungen im strukturellen Aufbau des gesamten Gehirns. Demgemäß sprach er sich deutlich gegen eine strikte Lokalisation globaler Tätigkeiten des Geistes in einem Organ oder einem bestimmten Hirnareal aus. Stattdessen war er bestrebt, geistige Fähigkeiten in den neuronalen Feinstrukturen zu verorten, wie sie verteilt im Gehirn aufträten, mit der von ihm beschriebenen Nervenzelle als integralem Baustein. Morphologische Besonderheiten im neuronalen Gefüge suchte er mit geistigen Tätigkeiten zu korrelieren. In Anlehnung an Meynert nahm er an, dass die Vielfalt der Funktionen im Gehirn – bei einem immer gleichen Grundplan des Aufbaus149 – eine Konsequenz der Vielfalt und Diversität der nervlichen Verbindungen sei. In diesem Sinne finden sich bei Cajal Deutungsvarianten von Meynerts Postulat, in denen er Intelligenzleistungen nicht nur an die Vielfalt, sondern auch an die singuläre Existenz von Zellverbindungen sowie deren Leistungsfähigkeit knüpfte.150 Daneben machte Cajal aber auch die Morphologie der Nervenzellen selber 147 S. Cajal 1893, S. 377 (Rechtschreibung im Original). 148 S. Cajal 1906a, S. 60/61. 149 „[U]nd zwar nach Maßgabe eines Planes, dessen Grundlinien für das ganze Gehirn gleich sind“ (S. Cajal 1900b, Heft 2, S. 2/3). 150 Bei Cajal lassen sich assoziationstheoretische Vorstellungen der Interdependenzen von psychischen Fähigkeiten mit Wachstums- bzw. Degenerationsprozessen in neuronalen Verbindungen finden. Intelligenz und Lernen, geistiger Verfall bis hin zu Geisteskrankheiten („Anpassungs- und Regressionsphänomene“) beschrieb Cajal als Prozesse, die auf Veränderungen der Nervenzellausläufer zurückzuführen seien („Wachstums- und Verbindungsfähigkeit der Neurone“). Verbindungen zwischen Neuronen würden gefestigt aufgrund von Übung und Wiederholung (sic!); Wachstum von Nervenfasern führe zu geistiger Beweglichkeit, Schwächung oder Verlust von Verbindungen zu deren Einschränkung, vgl. S. Cajal 1906, Heft 5, S. 78/79. Cajal äußerte sich jedoch nur vage, wie Veränderungen an den Nervenfasern herbeigeführt werden könnten, so findet sich z.B. in seinen Texten die damals verbrei-

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zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen: „Da [...] unglücklicherweise die Funktion der meisten Nervenzellen unbekannt seien, so könne man allein auf eine Klassifikation der Zellen anhand der äußeren Aspekte zurückgreifen.“151 In diesem Sinne charakterisierte und klassifizierte er Nervenzellen anhand ihres Körperbaus und ihrer Ausläufer152 und schloss anhand vergleichender anatomischer Studien – etwa zur Häufigkeit der Verteilung bestimmter Nervenzellarten in speziellen Hirnregionen oder anhand vergleichender Studien zum zellulären Aufbau des Nervengewebes unterschiedlicher Tiergattungen und des Menschen – auf deren spezifische Funktionalität. So bezog sich Cajal beispielsweise in der Deutung von Nerven mit kurzen Axonen auf das alte physiologische Postulat der Nerven als Speicher der Nervenenergie (näheres vgl. unten). An anderer Stelle wies er dem Nervenzelltypus der Pyramidalzelle aufgrund ihres häufigen Auftretens allein in der menschlichen Großhirnrinde und ihrer spezifischen Vernetzung die Eigenschaft als Trägerin psychischer Leistungen zu.153 Oder er philosophierte in Anlehnung an die Assoziationstheorie über einen potentiellen „histologischen Mechanismus“ der Erinnerung von Bildern und Tönen.154 Wie sich anhand der kurz angerissenen Beispiele erkennen lässt, entwickelte Cajal jedoch keine Gesamttheorie der Gehirnfunktionen, sondern versuchte sich in einer psychologisch-funktionalen Ausdeutung der Merkmale neuronaler Gewebetextur, gestützt auf damals kursierende Hypothesen zum nervlichen Substrat des Geistes. Anhand der zwei Grundmuster neuronaler Vernetzung, einer kreisförmigen und einer sich verzweigenden, bestehend aus Zellen des Typs Nervenzelle mit kurzem Axon, möchte ich näher auf das komplizierte Verhältnis eingehen, das sich in der „funktionellen Anatomie“ Cajals zwischen den physiologischen und psychologischen Hypothesen und der durch das Mikroskop erkennbaren Morphologie des Nervengewebes ergibt.

tete Vorstellung, dass sich neue Nervenfortsätze in Richtung derjenigen Zellverbindungen ausdehnten, „welche Gegenstand der wiederholte Willenserregung“ seien (ebd., S. 78/79). 151 S. Cajal 1909, Bd. 1, S. 55/56. 152 Vgl. S. Cajal 1909, Bd.1, S.55. 153 Cajal deutete in den 1890er Jahren die im Cortex anzutreffenden Pyramidalzellen als „psychische Zellen“. Da er diese in besonderer Fülle und Verflechtung allein in der menschlichen Großhirnrinde angetroffen hätte, sei Intelligenz, so seine damalige Mutmaßung, an die Länge und Vielfalt der Ausläufer dieses Zelltypus geknüpft (S. Cajal 1893). 154 S. Cajal 1895.

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Den Ausgangspunkt von Cajals Überlegungen zu Nervenzellen mit kurzen Axonen bildeten zwei Klassen von Nervenzelltypen im Nervengewebe, diejenige mit langen bzw. solche mit kurzen Axonen. Diese Klassifizierung hatte Cajal von Camillo Golgi übernommen.155 Wie Golgi verstand Cajal die Zellen mit langen Axonen als die Leitungsbahnen, die verschiedenen Hirnstrukturen und Teile des Nervensystems miteinander verbinden. Kurzaxonige Zellen156 dagegen seien zwar in großer Zahl und in enormer Vielfalt im Nervensystem vertreten, jedoch von den wesentlichen Leitungsbahnen ausgeschlossen157. Da die Weiterleitung der Erregung durch die Nervenzellen mit langen Axonen gewährleistet sei, welche Aufgabe käme dann aber den kurzaxonigen zu? Erste Überlegungen zu dieser Frage stammen aus den frühen 1890er Jahren.158 Damals betrachtete Cajal die sogenannten „Golgi-Zellen“ der Kleinhirnrinde (Nervenzelltypus mit kurzen Axonen) als „Assoziationselemente“, die nervöse Energien an anderen Nervenzellgruppen abgäben.159 Um die Wende zum 20. Jahrhundert konkretisierten sich seine Vorstellungen anhand genauerer anatomischer Erkenntnisse über die Gehirnregionen, in denen ihm der Nachweis von Nervenzellen mit kurzen Axonen gelungen war. Aufgrund der Lage und Vernetzung mit umliegenden langaxonigen Zellen160 unterschied Cajal zwei Subsysteme der Transmission nervöser Erregung im Nervengewebe161 – „sistema subordinado“162 – 155 Golgi differenzierte Nervenzellen des Typus I und II; von den ersteren, den sogenannten motorischen Zellen, nahm er an, dass sie das gesamte Nervensystem durchliefen, während letztere, Golgis sogenannte sensible Nervenzellen, die graue Masse nicht verließen, vgl. W. Waldeyer 1891, S. 1217. Cajal unterschied in Anlehnung an Golgi zwischen Nervenzellen mit langen Axonen (Golgis Typus I) und kurzen Axonen (Golgis Typus II). 156 Nervenzellen mit kurzen Axonen wurden manchmal auch als „Zellen mit kurzem Axencylinder“ bezeichnet, z.B. S. Cajal 1902, Heft 3, S.19 ff. 157 S. Cajal 1901/02, S. 151/52. 158 S. Cajal 1891a, S.146. 159 Vgl. S. Cajal 1891. 160 Vgl. Cajal in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 422. 161 Vgl. S. Cajal 1901. Weitere Textstellen finden sich in folgenden Publikationen Cajals: In dem zweiten Band von Cajals berühmter französischsprachiger Ausgabe von 1911, die auf einer Übersetzung einer Monographie Cajals über den cerebralen Cortex aus dem Jahr 1904 basiert, sind dem Thema vier Seiten gewidmet (S. Cajal 1911, Bd. II, S. 149 ff). Mehrfach verwiesen sowohl Cajal als auch Lorente de Nó in Fußnoten auf einen Artikel Cajals aus dem Jahr 1901, der in der DezemberAusgabe der spanischen Zeitschrift La Veterinaria espana erschienen sein soll. Mir ist es jedoch nicht gelungen, diesen Artikel nachzuweisen. Daneben lassen sich in

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sich „verzweigende“ und „rückläufige“ Nervenfasern.163 Diese Subsysteme träten repetitiv auf; als „Condensatoren und Accumulatoren nervöser Energie“ seien sie wichtig bei der Speicherung nervöser Energien. Denn in beiden würde bei ankommender Erregung „latente Energie“ abgegeben und „in vitale Energie [überführt]“.164 Dies sei die notwendige energetische Grundlage für willentliche Handlungen. Mit diesem Bild adaptierte165 Cajal die im 19. Jahrhundert verbreitete, aus dem späten 18. Jahrhundert stammende Vorstellung, bei den damals sogenannten Nervenganglien handele es sich um „kleine Gehirne“ oder Quellen nervöser Energien.166 Sich verzweigende Nervenbahnen Dass sich Axone aller Nervenzelltypen oftmals in viele Seitenäste, auch Kollaterale genannt, verzweigen, war eine zu der damaligen Zeit relativ neue Erkenntnis. Sie basierte auf der Anwendung der Silbernitratimprägnierung Golgis besonders durch Ramón y Cajal während der späten 1880er und frühen 1890er Jahre.167 weiteren Texten Cajals, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind, in Nebenbemerkungen Verweise auf mögliche Funktionsweisen der Zellen mit kurzen Axonen finden. So mutmaßte Cajal 1902 über „die wichtige Rolle, die dieser Nervenzelltypus bei der Entstehung psychischer Vorgänge spielt“ (S. Cajal 1902, Heft 3, S. 52/53); ein weiteres Beispiel findet sich in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 182. 162 S. Cajal 1901/02, S.155. 163 Cajals Beispiele entstammen der Kleinhirn- bzw. der Großhirnrinde, zugleich bleiben sie jedoch nicht auf diese Regionen beschränkt, sondern gelten für alle Hirnstrukturen, in denen dieser Nervenzelltypus auftritt. 164 Vgl. S. Cajal in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S.422, S. Cajal 1901; Cajal nannte sie auch „potentielle“ und „actuelle Energie“, vgl. S. Cajal 1895, S. 369. 165 Cajal war sich der Vagheit seiner Vermehrungs- und Akkumulations-Hypothese bewusst. So schloss er auch nicht aus, dass man auch zu anderen Schlüssen über die physiologische Funktion der Zellen mit kurzen Axonen kommen könne. Allerdings, so Cajal, hefte allen Hypothesen zur Funktion von Zellen mit kurzen Axonen der Makel an, dass sie bis jetzt nicht durch Experimente überprüft werden könnten, vgl. S. Cajal 1911. 166 Zu Ursprung und Entwicklung dieser Idee vgl. L.S. Jacyna / E. Clarke 1987, besonders Abschnitt 7.5. 167 Die Beobachtung von Kollateralen im gesamten zentralen Nervensystem besaß Einfluss auf die physiologische Perzeption des Nervengewebes. Die Erregungsübertragung im Nervengewebe wurde in Folge weniger als ein isolierter Leitungsvor-

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Abbildung 1-5 sich verzweigende Nervenbahnen

S. Cajal 1901/02 in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 423. Schema der Verbindungen der Zellen in der Fascia dentata, einem Teil des Ammonshorns in der Großhirnrinde. A – afferente Fasern, B – Nervenzelle mit kurzem Axon, deren Enden die Körnerzelle umschließen, C – Körnerzelle, D – kleine Zelle mit kurzem Axon, b, c, d – Verzweigungen afferenter Fasern

gang betrachtet, denn als ein Geschehen, in das aufgrund der Verzweigungen der Axone sofort viele Nervenfasern einbezogen würden, vgl. z.B. W. Waldeyer 1891, S. 1355. Cajal spitzte diese Idee in seinem Begriff der „Avalanche de Conduction“ – „lawinenartige Weiterleitung“ zu. Seine Metapher steht für das Prinzip einer fortschreitenden Ausbreitung und Vermehrung von nervöser Energie im Nervengewebe: Aufgrund von Verzweigungen und Vernetzungen, die zwischen Nervenzellen wechselseitig bestünden, breite sich die ankommende Nervenwelle nicht linear aus, sondern ergreife bei ihrer Passage eine Vielzahl weiterer Zellen wie eine Lawine, die auf ihrem Weg immer mehr Material mit sich fort reiße, vgl. S. Cajal 1909, Bd. 1, S. 137. Cajals Idee der Erregungsvermehrung in sich verzweigenden Nervenbahnen von Zellen mit kurzen Axonen wurden später als eine Art Sonderfall der „Avalanche de Conduction“ begriffen, vgl. z.B. C.J. Herrick 1927, S.111 oder Abbildung 40, S. 220.

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Dass Nervenzellen mit kurzen Axonen sich verzweigen, stellt einen Sonderfall dar. Im Cerebrum jedoch fand Cajal nach eigenem Bekunden unzählige Fälle solcher Verzweigungen. Er deutete sie als Umwege, in denen die ankommenden Impulse in parallel verlaufenden Bahnen durch Zellen mit kurzen Axonen verliefen, um dann, wie in Abbildung 1-5 abgebildet, an den Dendriten einer einzigen Nervenzelle zu enden.168 Auf den ersten Blick erscheine diese Aufteilung als eine „anscheinend nutzlose“169 Verdoppelung der Wege, da eine direkte Nervenbahn einer Zelle mit langem Axon die kürzeste Verbindung darstelle (d). Doch, so spekulierte er, könnte es sein, dass ein ankommender Impuls auch eine Entladung der Zellen mit kurzem Axon (B, D) bewirke. Diese Entladung, in der zusätzlich die in der Zelle gespeicherte Erregung freigesetzt werde, verstärke dann den Impuls, der sich auf der Nervenbahn mit langem Axon befände, bis nach einer Weile die dynamischen Reserven der Zellen mit kurzem Axon aufgebraucht seien. Rückläufige Nervenbahnen Kurzaxonige Zellen können auch durch ihre rückläufigen Axone eine Kreisstruktur bilden, so Cajals Postulat (vgl. Abbildung 1-6). Das von Cajal angeführte Beispiel für rückläufige Nervenbahnen entstammt der Kleinhirnrinde. Afferente Impulse flössen durch die Moosfasern (A) und über die Körnerzellen (a) in deren parallel verlaufenden Axone (b) (Parallelfasern) und in die Purkinje-Fasern (d). Dabei werde ein Teil der Erregung auch durch die Golgi-Zelle (c) absorbiert. Durch deren kurze Axone werde Energie in einem Halbkreis zu ihrem Ausgangspunkt (den Moosfasern und Körnerzellen) zurückgeleitet. Die Rückleitung zu den Zellen der Moosfasern geschähe jedes Mal durch eine andere Nervenfaser. Dabei werde die in den Axonen gespeicherte Energie ausgeschüttet und verstärke die Erregungsmenge. Diese zwei von Cajal beschriebenen Subsysteme befinden sich im Spannungsverhältnis zwischen konkret lokalisierbarer Anatomie einerseits und einem verallgemeinernden Ansatz repetitiver, funktional begründeter Strukturmuster andererseits, ein typisches Merkmal für Cajal.170 Einerseits wirken die neuronalen Strukturmuster authentisch: Sie sind direkt in Geweberegionen lokalisierbar, detailliert werden die beteiligten Zelltypen in ihrer Vernetzung beschrieben, die Unterscheidung orientiert sich an der unterschiedlichen Vernetzung der kurz168 S. Cajal in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S.422/ 423; auch S. Cajal 1901/02, S.155/56. 169 S. Cajal in J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 422. 170 Vgl. O. Breidbach 1997.

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axonigen Nervenzellen. Andererseits zeichnen sie sich durch ein gewisses Maß an Generalisierung und Abstraktion aus. Im Folgenden werde ich die einzelnen Stränge aufzeigen, die in die Deutung eingeflossen sind, um aufzuzeigen, dass die zwei Subsysteme als neuronale Integrationsmechanismen verstanden werden können, und zu erläutern, welchen großen Raum dabei die funktionale Deutung in der Erkenntnis der Neuroanatomie einnimmt. Abbildung 1-6 rückläufige Nervenbahnen.

S. Cajal 1901/02, S. 154. Ausschnitt aus der Kleinhirnrinde: „Schema, um den Weg des durch die Kletterfasern herangeführten Stroms und die Rolle der Golgi-Zellen darin aufzuzeigen“.171

Die Neuroanatomie stellt den wichtigsten Begründungszusammenhang Cajals dar. Die spezifische Vernetzung der Nervenzellen mit kurzen Axonen (Verdoppelung der Wege) führt er als Argument für seine Akkumulationshypothese (Akkumulation nervöser Energie in kurzaxonigen Nervenzellen) ins Feld. Gerade dieses Argument scheint jedoch am unsichersten, denn der Blick durch das Mikroskop gewährt keinen gesicherten Einblick in die tatsächliche Vernetzung des Nervensystems. Da die von Cajal für diese Arbeiten favorisierte Golgi-Me171 S. Cajal 1901/02, S. 154.

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thode immer nur einzelne Nervenzellen und ihre Ausläufer hervorhebt,172 lassen sich die neuronalen Verbindungen innerhalb eines Gewebeausschnittes nicht einfach „ablesen“. Es bedarf der Herstellung einer Vielzahl an Gewebepräparaten, aus deren vergleichender Analyse nähere Informationen über allgemeine Strukturmerkmale gewonnen werden können. Jedoch auch dann stellt die Rekonstruktion der allgemeinen Vernetzung von Nervenzellen in Golgi-Präparaten keinen Prozess mit eindeutigem Ergebnis dar, sondern hängt wesentlich von der Fragestellung der Forschenden und deren „Abstraktions- und Konzeptionstalent“ ab, wie Scheibel und Scheibel betonen: „It is here [bei der Interpretation von Golgi-Präparaten, KSB] that an essential and highly personal ingredient must be added - the investigator's capacity to conceptually reconstruct the totality of the neuropil field which has been glimpsed so many times, and in so many guises [...]. It is one thing to describe faithfully the size and shape of dendrite systems or the total number and course of axon collaterals and the minutiae of terminal axonal structures. It is another thing to see, however dimly, the general model of interconnections, and the putative consequences of such linkage patterns. For Golgi is above all other light microscope techniques, a methodology conducive to physiological interpretation and predictive of physiological consequences.“173

Diese Eigenschaft der Golgi-Präparate liegt nicht nur in der partiellen Einfärbung des Gewebes begründet, sondern auch in der ungewöhnlichen Dicke der nach Golgi präparierten Schnitte: Diese ermöglicht es, „dass nicht nur die Zellfortsätze aus e i n e r Ebene [Hervorhebung im Original] in einem mikroskopischen Schnitt sichtbar sind, sondern auch die nach vorn und hinten sich ausbreitenden Zellausläufer“.174 D.h. in den Chromsilber-Präparaten entsteht ein dreidimensionales Bild der Nervenzellen im Gewebezusammenhang. Dieser regt – im Vergleich zu anderen Färbemethoden – in besonderem Maße dazu an, über die strukturelle Anordnung der Zellen „im Geweberaum“ nachzudenken. Bei der Verwendung der Golgi-Methode besteht also gerade die Kunst darin, beim Blick durch das Mikroskop Hypothesen zur Bedeutung spezifischer neuronaler Strukturmerkmale mit dem jeweils Beobachtbaren abzugleichen (vgl. Abb. 1-7).175 172 Zu den Besonderheiten der Golgi-Methode vgl. Abschnitt 1.2.6. 173 M.E. Scheibel/ A.B. Scheibel 1978, S.91. 174 R. Greef in S. Cajal 1893, S. 5. 175 An dieser Stelle bedürfte es bei Gelegenheit einer Durchsicht der erhaltenen histologischen Präparate Ramón y Cajals, um zu überprüfen, aufgrund welcher Darstellungen in Gewebepräparaten Cajal Rückschlüsse über die Existenz kreisförmiger Vernetzung der Nervenzellen mit kurzen Axonen zog.

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Abbildung 1-7 Photomikrographie eines Golgi-Präparates von Cajal

J. DeFelipe/ E.G. Jones 1988, S. 560. Pyramidalzellen in den Schichten II-V des visuellen Cortex einer Katze (420fache Vergrößerung)

Neben den Verkettungsmustern ist für Cajal ein weiterer, der Neuroanatomie zuzurechnender Aspekt ausschlaggebend für seine Deutung: das Auftreten der Nervenzellen mit kurzen Axonen in spezifischen Regionen und Organen des zentralen Nervensystems. Er fand Zellen dieses Typs in großer Zahl im Corpus Striatum (Sehbahn), der Großhirnrinde (Cortex), dem Kleinhirn (Cerebellum). In Rückenmark und Hirnstamm dagegen konnte er sie nicht nachweisen. Gemäß der Orte ihres Auftretens interpretierte er ihre Funktion als Erregungsverstärker

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und Akkumulatoren, in dem er Neuroanatomie mit psychologischen und physiologischen Aspekten verband176: In diesen Gehirnzentren würden eingegangene Stimulationen erst mit einem gewissen Zeitabstand in Aktionen umgesetzt, beispielsweise bei Erinnerungen, Vorstellungen, Entscheidungen. Zum anderen stünden die vom Gehirn ausgehenden, kraftvollen und anhaltenden Aktionen wie Laufen oder Springen in keinem Verhältnis zu den schwachen Eingangsstimuli, die das Gehirn hierfür erhielte. Diese Phänomene sprachen in Cajals Augen für die Existenz eines Akkumulatormechanismus im Gehirn, der nervöse Energie einerseits sammeln und andererseits bei Bedarf (d.h. bei geistigen Leistungen oder willentlichen körperlichen Anstrengungen) verstärken könne. Im Rückenmark und Hirnstamm dagegen würden nur Reflexe produziert werden; diese seien Aktionen, die sich durch eine geringe Intensität und kurze Wiederholung auszeichneten. Hier bräuchte man keinen Akkumulatormechanismus. Und – siehe da – hier ließen sich auch die entsprechenden Zellen nicht finden.177 Inwieweit hier Cajal in seinem histologischen Nachweis kurzaxoniger Nervenzellen von seinem Wunsch nach einer bestimmten Deutung geleitet worden sein mag, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Frage drängt sich jedoch auf, wenn man weiß, dass Lorente de Nó dreißig Jahre später der Nachweis kurzaxoniger Nervenzellen im gesamten zentralen Nervensystem gelang. Anhand des Beispiels „rückläufige Nervenbahnen“ (vgl. Abbildung 1-6) möchte ich noch auf weitere neurophysiologische Deutungen Cajals in seinen Subsystemen hinweisen. Interessanterweise gestalten sich bei ihm Text und Abbildung an dieser Stelle nicht deckungsgleich. Cajal gründet seine Überlegungen zur Rolle von Nervenzellen mit kurzen Axonen auf histologischen Er-

176 Die Verbindung aus Physiologie und Neuroanatomie im Körper betrachtete Cajal auch als Mittel zur Deutung größerer funktioneller Zusammenhänge: „Im Allgemeinen muss in diesem schwierigen Gebiet der Biologie der Physiologe dem Anatomen vorarbeiten. Letzterem würde es unmöglich sein, die funktionelle Bedeutung einer gewissen Struktur zu deuten, wenn nicht die Physiologie ihn zuvor über die Thätigkeit des zu untersuchenden Organs aufklärt. Ist die Topographie einmal physiologisch festgestellt, so tappt die histologische Analyse nicht mehr im Dunkeln und ihre Aufgabe besteht dann nicht bloss in der Vervollkommnung der feineren Anatomie, sondern auch darin, die grobe Lokalisation genauer zu präcisieren, d.h. die Zellen und Fasern zu bestimmen, welche mit den die Kollektivarbeit des nervösen Organs ausmachenden Elementarfunktionen betraut sind.“ (S. Cajal 1900b, Heft 2, S. 1, Rechtschreibung im Original) 177 Vgl. S. Cajal 1902, 1911.

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gebnissen, „strukturelle Tatsachen, die uns sicher erscheinen“.178 Ausgehend von der Neuronendoktrin identifizierte er Nervenzellen mit ihren Axonen und Dendriten. In einem Akt der Amalgamierung von aktueller Neurophysiologie und alter Erregungsspeicherlehre interpretierte er den Verlauf der kurzen Axone als rückläufige Verbindungen, das heißt als Nervenfasern, durch die nervöse Energie zu ihrem Ausgangspunkt in den Moosfasern zurückgeführt werden könne. Cajal nennt in seiner Veröffentlichung selbst die Voraussetzung für einen solchen Schluss: die Theorie der dynamischen Polarisation.179 Ohne die darin enthaltenen Annahmen über die Flussrichtung der nervösen Energie und den „Einbahnstraßencharakter“ der Nervenbahnen hätte er seine anatomischen Befunde nicht, wie oben beschrieben, deuten können. Zusätzlich zu dieser interpretativen Leistung auf Basis seiner Neuronendoktrin weist das Diagramm Ramón y Cajals (Abbildung 1-6) verglichen mit seinen histologischen Befunden weitere Bearbeitungen auf: Die Abbildung abstrahiert von dem realen Nervengewebe, da sie sich auf die für Cajals Aussage über die Funktionalität der Subsysteme notwendigen Elemente konzentriert. Die abgebildeten strukturellen Elemente des Nervengewebes stehen in der Darstellung miteinander in einer derartigen Verbindung, dass nervöse Erregung zirkulieren kann. Die Fließrichtung der nervösen Energie durch die Nervenzellen und ihre Ausläufer ist unmissverständlich eingezeichnet. Vor unseren Augen entsteht das Bild eines dynamischen Ensembles von Nervenzellen mit zirkulierenden Impulsen. Allein durch den Begleittext erfahren wir Cajals Deutung der Wegstrecke der nervösen Erregung – z.B. dass die nervöse Energie eben nicht zirkuliert – und lernen über die besondere Funktionalität der kurzen Axone als Verstärker und deren möglicher Relevanz für höhere geistige Funktionen, die ihnen Cajal aufgrund ihres Auftretens an bestimmten Stellen des zentralen Nervensystems beimisst. Die von Cajal beschriebenen Subsysteme, die sich verzweigenden bzw. rückläufigen Neuronenstrukturen – gebildet aus Nervenzellen mit kurzen Axonen – stellen vernetzte neuronale Organisationseinheiten dar, die eine neue, übergeordnete Funktionalität erfüllen. Die Beschreibung dieser neuronalen Integrationsmechanismen sind das Ergebnis einer komplexen interpretativen Leistung: Die Funktionseinheiten gründen zwar auf Beobachtungen neuronaler Morphologie und Vernetzung gemäß histologischen Untersuchungsmethoden. Ihre Deutung jedoch ist von physiologischen und psychologischen Ideen beeinflusst. Cajal stützte sich auf die alte Vorstellung der Nerven als kleine Energiequellen, aktualisierte diese durch seine mikroskopischen Befunde und maß dem ganzen 178 S. Cajal 1911, Bd. 2, S. 152. 179 Ebd., S. 149.

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die psychophysiologische Rolle als Speicher der für willentliche Aktionen benötigten Nervenenergie zu. Die von ihm beobachteten „verdoppelten“ Strukturverbindungen dieser Zellen entsprechen genau der zuvor angenommenen Aufgabenstellung als Sammler und Bereitsteller zusätzlicher Energie. Die in neuronalen Integrationsmechanismen vernetzten Nervenzellen mit kurzen Axonen besitzen bei Cajal eine eigenständige Funktionalität als Akkumulatormechanismen. Damit unterschied der Anatom unterschiedliche Zelltypen mit unterschiedlichen – wohlgemerkt zusätzlichen – Aufgaben. Seiner Deutung liegt noch nicht die Annahme einer prinzipiellen funktionalen Gleichheit aller Nervenzellen zugrunde, wie sie sich im weiteren Verlauf durchsetzte. Auch damals gängige physiologische Debatten wie beispielsweise um den Begriff der Hemmung rezipierte Cajal nicht weiter in seinen theoretischen Überlegungen. Ein in diesen Aspekten moderneres Verständnis vertrat der Physiologe Siegmund Exner, dessen Nervennetztheorie im nächsten Abschnitt im Mittelpunkt steht. Seine Hypothese einer funktionalen Gleichheit aller Nervenzellen ist, wie zu sehen wird, stark von den Ideen der Assoziationstheorie geprägt. 1.3.2 Die Nervennetze Siegmund Exners Die Nervennetze des Professors der Physiologie Sigmund Exner an der k. u. k. Universität in Wien (1846-1926) stellen einen für damalige Verhältnisse radikalen Versuch dar, mentale Fähigkeiten allein aus physiologischen Vorgängen in vernetzten Nervenzellen herzuleiten.180 1894 legte er ein Buch mit dem Titel Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen vor, in dem er sein Ansinnen erklärte: „Ich betrachte es also als meine Aufgabe, die wichtigsten psychischen Erscheinungen auf die Abstufungen von Erregungszuständen der Nerven und Nervencentren, demnach alles, was uns im Bewußtsein als Mannigfaltigkeit erscheint, auf quantitative Verhältnisse und auf die Verschiedenheit der centralen Verbindungen von sonst wesentlich gleichartigen Nerven und Centren zurückzuführen.“181

In seinem Buch wagte Exner den Schritt, die wichtigsten psychologischen Erscheinungen (wie Sprachverständnis, Aufmerksamkeit, Gedächtnis – Erinnerung, willentliche Handlungen, Wahrnehmungsprozesse – Sehen, Empfindung,

180 Näheres vgl. O. Breidbach 1997, 1999, M. Hagner 1996. 181 S. Exner 1894, S. 3.

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Bewusstsein, Vorstellungen, Denken, Entscheiden)182 als interneuronale Regulierungsprozesse zu beschreiben. Indem er diese streng naturwissenschaftlich auf physikalische Prozesse in und zwischen gleichartigen Nerven zurückführte, suchte er den nervösen Vorgängen im Körper eine einheitliche Erklärungsgrundlage zu bieten.183 Dafür führte er – etwa im Sinne eines Baukastenprinzips – das Grundelement Nervenzelle mit ihren allgemeinen Funktionsprinzipien (Hemmung, Bahnung, Ladung, Summation) ein, aus denen sich seines Erachtens letztendlich die physiologischen Grundlagen sämtlicher psychischen Erscheinungen modellieren ließen. Sein Ansatz erschöpft sich also nicht im Entwurf eines spezifischen neuronalen Integrationsmechanismus, sondern er eröffnet die Möglichkeit der offenen Kombination der funktionalen Einzelelemente zu immer neuen psychischen Prozessen, im Extremfall zur Modellierung des gesamten Gehirns. Das bekannteste Beispiel ist wohl Exners Nervennetzmodell des optischen Bewegungsempfindens (vgl. Abbildung 1-8). Exners Ausführungen bleiben weitestgehend spekulativ. Besonders abstrahierte er von den zeitgenössischen histologischen Erkenntnissen. So fanden die neuroanatomischen Feinstrukturen unterschiedlicher Hirnregionen bei ihm beispielsweise keinerlei Berücksichtigung. Was Exner jedoch auszeichnet, ist, dass er aktuelle Erkenntnisse aus mehreren Wissensgebieten (Neuronendoktrin, Reflex- und Nervenphysiologie, Lokalisation, Hirnanatomie, physiologischer Psychologie) in seiner Gehirntheorie zusammenfasste. Dass anatomische und physiologische Daten so konsequent zu einer konsistenten Hirntheorie zusammengefasst wurden, lässt sich zu dieser Zeit nur bei Exner finden.

182 Allerdings stellt Exner nur die kognitiven Fähigkeiten dar, die im Verständnis der damaligen Zeit auf physiologischen Prozessen gründeten, vgl. O. Breidbach 1999, S. XXIX. 183 An dieser Vorgehensweise Exners ist der Einfluss des Physiologen und Anatomen Hermann von Helmholtz (1821-1894) deutlich erkennbar, bei dem Exner Ende der 1860er Jahre in Heidelberg studierte. Der Aufenthalt weckte in ihm einen mathematischen und physikalischen Zugang zur Hirnphysiologie. Helmholtz stand um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Bund mit Emil du Bois-Reymond (1818-1896), Ernst von Brücke (1819-1892) und Carl Ludwig (1816-1878) mit dem Ziel, die Physiologie auf ihr chemisches und physikalisches Fundament zurückzuführen, vgl. G. M. Shepherd 1991. Sigmund Exner folgte im Übrigen im Jahr 1891 Ernst von Brücke auf den Lehrstuhl der Physiologie in Wien nach.

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Abbildung 1-8 Exners Nervennetzmodell zum optischen Bewegungsempfinden

S. Exner 1894, S. 193. „a-f und die analogen Punkte sind die Stellen, an denen die von den Netzhautelementen kommenden Fasern in das Centrum eintreten. Die Zellen S, E, Jt und Jf repräsentiren Centren, nach welchen von jedem jener punkte Erregungen gelangen und wo sie summirt werden können. […] a1-a4 Centren, welche mit den Kernen der äusseren Augenmuskeln (im Schema sind nur vier angeführt: M. rectus internus, superior, externus und inferior) in naher Verwandtschaft stehen, vielleicht mit ihnen identisch sind. C. Fasern zum Cortex als dem Organ des Bewusstseins“.184

Exner verstand Wahrnehmung und Denken als dynamische Hirnereignisse.185 Im Zentrum seiner Hirnpsychologie stand die neurologische Adaption der Assoziation in Gestalt variabler Erregbarkeit neuronaler Verbindungen – Exner nannte diese variable Verknüpfungsstärke den Grad der „Verwandtschaft“ zwischen den 184 S. Exner 1894, S. 193 (Rechtschreibung im Original). 185 O. Breidbach 1997, S. 29.

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Zellen.186 – Nervenbahnen können von der nervösen Ladung leichter oder schwerer als zuvor passiert werden, wofür Exner das Begriffspaar Bahnung und Hemmung prägte (vgl. Abschnitt 1.2.2). Diese zwei Begriffe, Bahnung und Hemmung, bildeten die funktionalen Grundprinzipien seiner neuronalen Gehirnpsychologie: „Da wir [...] keine anderen Zustände als die der größeren oder geringeren Erregung und der größeren oder geringeren Erregbarkeit, sowie die Thatsache der Hemmung, Bahnung und Ladung kennen, so sind wir genöthigt, auf Grund dieser die Erklärung der Erscheinungen zu versuchen.“187

Normalerweise wurde in der Psychophysiologie und Physiologie der damaligen Zeit Erregung und Hemmung als Begriffspaar verwendet. Erregung erschien Exner jedoch zu unpräzise, um die von ihm beobachteten Wechselwirkungen von Erregungen im zentralen Nervensystem zu beschreiben.188 So führte er im Rahmen einer reflexphysiologischen Untersuchung Anfang der 1880er Jahre analog zur Hemmung den Begriff der Bahnung ein.189 Exners Aufmerksamkeit galt damals dem Zustand des Nervensystems nach der Auslösung eines Reizes; besonders faszinierte ihn dabei, dass eine motorische Aktion eine positive Disposition im Nervensystem zu hinterlassen schien, die nachfolgend das Auslösen von Reaktionen erleichterte. In Experimenten konnte er zeigen, dass nicht nur gleiche Reize in zeitlicher Abfolge dargebracht die nachfolgende Reflexantwort 186 S. Exner 1894, S. 153. 187 Ebd., S.225. Die Ursachen für physiologische Phänomene wie Hemmung, Summation/ Ladung oder Bahnung wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Einführung der Neuronendoktrin vermehrt in den Nervenzellen oder ihren Fasern verortet, vgl. C. Sherrington 1906, M. Verworn 1913, G.T. Brown 1916, K. Lucas 1917, R. Dodge 1926a, b, F. Fearing 1970, R. Smith 1993. 188 S. Exner 1882. 189 Mit seinem Bahnungsbegriff gab Exner den im deutschsprachigen Raum unter Physiologen und Anatomen schon lange verbreiteten Gedanken einen griffigen Namen, nervliche Leitungsbahnen würden durch intensives Training „ausgefahren” werden können, d.h. die Verbindungsstärke zwischen bestimmten Nerven würde durch häufige und intensive Nutzung zunehmen. Andere Nervenbahnverbindungen würden bei geringerer Nutzung abgeschwächt oder aufgrund der Nutzung anderer Bahnen völlig gehemmt. Dieses stetige „Auf“ und „Ab“ der Verbindungsstärken zwischen Einzelelementen (seien es ideelle oder materielle Entitäten) findet sich als ein wiederkehrendes Element in vielen früheren und zeitgenössischen assoziationstheoretischen Erklärungen des Geistes; vgl. z.B. R.M. Young 1990.

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günstig beeinflussten,190 sondern dass auch Reizungen unterschiedlicher Teile des zentralen Nervensystems und des peripheren Nervensystems eine solche Wirkung zeitigen. Die durch die Reizungen ausgelöste Erregungswelle verändere nicht nur hemmend, sondern auch bahnend die interne Dynamik des Erregungsflusses im zentralen Nervensystem, so seine Schlussfolgerung. Während Hemmung also für Exner eine allgemeine Erschwerung des Erregungsablaufs repräsentierte, stand Bahnung für die Begünstigung des Erregungsablaufs durch andere Erregungen, die in das zentrale Nervensystem eintreten oder zuvor eingetreten sind. „Erregungen [können] fördernd auf den Ablauf anderer wirken, indem sie gleichsam die Bahn frei machen.“191 1882 äußerte Exner noch keine Vermutung, wo im Nervensystem die nervösen Aktivitäten Bahnung und Hemmung verortet sein könnten. Erst in den 1890er Jahren übertrug er unter Zuhilfenahme der Assoziationstheorie die Ergebnisse seiner Reflexuntersuchungen auf Prozesse in cerebralen (!) Nerven. In den Verbindungen singulärer Nervenzellen erblickte er den Ort von Bahnung und Hemmung. Wie man sich die Vorgänge jedoch physiologisch genauer vorzustellen habe, ist für Exner von untergeordnetem Interesse.192 Für ihn gilt: Je enger die Verbindung, desto leichter der Erregungsfluss zwischen den Zellen,193 bzw. je weiter die Verbindung, desto schwerer. Daraus entwickelte er seine dynamische Hirntheorie: Die afferenten Erregungen können einander überlagern und verursachen dabei „lokale Veränderungen der Verknüpfungsarchitektur“, wie Breidbach es nennt.194 An den Zellen summiere sich Erregung und werde gemäß den aktuellen Verwandtschaftsgraden der Nervenzellverbindungen weitergeleitet,195 wobei zugleich Einfluss auf deren Bereitschaft zu einer erneuten Erregungsweitergabe genommen werde. Die spezifischen Reaktionen des Gehirns sind nach Exners Verständnis abhängig von den eintreffenden Erregungen und den aktuellen Zuständen seiner neuronalen Einzelelemente: Die eingehende

190 S. Exner 1882. 191 S. Exner 1894, S. 76. 192 Mehrheitlich nahm die Physiologie zu dieser Zeit an, Erregung könne hemmenden Einfluss auf die Leitungsfähigkeit einer Nervenverbindung ausüben. Aber auch die Existenz von eigenständigen Hemmungsfasern erschien im Bereich des Möglichen. Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Auffassungen und Ansätze geben beispielsweise R. Dodge 1926a, b, F. Fearing 1970, R. Smith 1992. 193 Vgl. S. Exner 1894, S. 58/59. 194 O. Breidbach 1997, S. 30. 195 S. Exner 1894, S. 88.

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Erregung trifft immer auf ein bereits „gestimmtes Gehirn“196, auf Nervenzellen und Nervenfasern, die sich (aufgrund vorangegangener oder zeitgleich auftretender Wahrnehmungen und Ereignisse) in einem bestimmten Bahnungs- oder Hemmungsverhältnis zueinander befinden. In der Überlagerung von Nervenphysiologie und Assoziationismus war eine abgewandelte Form des Sensualismus entstanden, der Lehre, nach der alle Erkenntnis allein auf Sinneswahrnehmungen zurückgehe. Die Eindrücke träfen auf ein bereits gestimmtes Nervensystem, das aufgrund vorangegangener Aktivitäten mehr oder weniger bereit sei zum „Erkennen“. Bei Exner finden wir den Prozess der Wahrnehmung und des Erkennens unter Bezugnahme auf konkrete physiologische Kategorien assoziativ ausgedeutet, nämlich mit der Nutzung identischer Nervenbahnen mit demselben Erregungspotential:„Zwei Empfindungen sind für das Bewußtsein gleich, wenn durch den Sinnesreiz dieselben Rindenbahnen in demselben Maasse in Erregung versetzt werden. [...] Zwei Empfindungen sind ähnlich, wenn wenigstens ein Theil der in beiden Fällen erregten Rindenbahnen identisch ist.“197 Jede Wahrnehmung, jedes Erkennen besaß bei Exner seine ganz eigenen Bahnungen im Großhirn. Der Vorgang des Wahrnehmens und Erkennens lässt sich also nach Exner auf die quantitative Variabilität von Nervenbahnen im Gehirn bzw. Großhirnrinde zurückführen.198 Um die Lücke zwischen physiologischen Prozessen und dem bewussten Erleben zu schließen, führte Exner das „Princip der centralen Confluenz“ ein: Beim Sehvorgang z.B. flössen ausgehend von den Peripherie im Großhirn verschiedenste Erregungen zusammen, die dort – sich in bestimmten Bahnen bewegend – unsere Wahrnehmung bewirkten. In unserem Bewusstsein nähmen wir die Erregungsvorgänge im Großhirn allerdings nur als ein Phänomen wahr, nämlich in diesem Fall als das erkennende Erfassen unserer Umgebung mit den Augen („Princip der centralen Confluenz“). Die auch heute nur unbefriedigend geklärte Frage, wie der Sprung von der funktionalen Variabilität der

196 Vgl. S. Exner 1894. Mit dem Begriff des „gestimmten Gehirns“ spielte Exner auf den Vortrag seines Kollegen, des Physiologen Ewald Hering (1834-1918) an, den dieser im Mai 1870 vor der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien gehalten hatte, vgl. Abschnitt 1.2.5. 197 S. Exner 1894, S. 225. 198 Demgemäß vertrat Exner, wie Hagner darlegt, in den Diskussionen um die Lokalisation von Funktionen in den cerebralen Rindenfeldern eine „gemäßigte Lokalisation“, die, „eine komplexe Funktion [...] nicht auf eine oder ein paar Regionen (reduzierte). Außerdem postulierte er einen fließenden Übergang zwischen den einzelnen Feldern“ (M. Hagner 1996, S.61), vgl. E. Lesky 1961, S. 543.

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Materie zur Qualität des Bewusstseins erfolge, bleibt jedoch auch in Exners Theorie unbeantwortet. Bei Exners Hirntheorie handelt es sich vor allem um einen psychophysiologischen Ansatz, in dessen Zentrum die Funktionsprinzipien variabler Wichtung interneuronaler Verbindungen (Bahnung und Hemmung) zwischen den Zellen stehen. Der einzelne Nerv besitzt keine spezifische Funktionalität mehr, wie beispielsweise noch bei Meynert oder Cajal. Er wird als Mechanismus der Erregungsverarbeitung mit immer gleicher Funktionalität betrachtet. Die zu erfüllenden geistigen und körperlichen Funktionen werden bestimmt durch die von ihm postulierten Verknüpfungsstrukturen; sie werden allein durch interneuronale Bahnung und Hemmung reguliert und gesteuert. Exner kommt dabei ohne jegliche zirkuläre Strukturen aus. Seine Nervennetzmodelle bilden insofern eine Ausnahme unter den in diesem Kapitel dargestellten neuronalen Integrationsmechanismen, als dass man in seinen Nervennetzen nicht von der Funktionsweise der Einzelelemente auf das Verhalten des Ganzen schließen kann. Innerhalb einer funktionalen Netzeinheit können auch keine Subsysteme mehr lokalisiert werden. In der konzertierten Aktion paralleler neuronaler Aktivität entfaltet sich das gewünschte Verhaltensbild als Epiphänomen nervlicher Funktion199. Einfluss auf die Ausprägung des Verhaltens nehmen die je aktuellen funktionalen Zuständen der neuronalen Einzelelemente und die eingehende Erregung. Eine Nähe von Exners Entwurf zu aktuellen konnektionistischen Ansätzen ist unverkennbar. Breidbach bezeichnet Exners dynamische Hirntheorie daher auch als einen Vorläufer der modernen Neurophilosophie.200 1.3.3 Der „common path“-Mechanismus Sherringtons „In the analysis of the animal’s life as a machine in action there can be split off from its total behaviour fractional pieces which may be treated conveniently.“ C. SHERRINGTON 1906, S. 237.

Sherrington ging wie Exner von einer funktionalen Gleichheit der zentralen Nervenzellen aus. Im frühen 20. Jahrhundert etablierte er sein Konzept des „common path“201, eines allgemeinen neuronalen Integrationsmechanismus der 199 Vgl. W. Bechtel/ R.C. Richardson 1993. 200 O. Breidbach 1997, 1999. 201 C. Sherrington 1906.

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Reflexsteuerung auf neuronaler Ebene. In diesem werden die vielen an einer Nervenzelle ankommenden Erregungen miteinander verrechnet und das so erzielte Ergebnis von der Zelle weitergeleitet. Ein solches Funktionsprinzip reguliere, so Sherrington, nicht nur die Erregungen auf einer Ebene. Als allgemeines Prinzip der Erregungskoordination im Nervensystem integriere es auch die bereits durch den „common path“-Mechanismus erzielten Ergebnisse auf höheren Ebenen erneut bis zum letzten, dem „final common path“. Im Gegensatz zu Exner und Cajal verhielt sich der britische Neurophysiologe Charles Scott Sherrington202 (1857-1952) jedoch sehr zurückhaltend gegenüber Erklärungen des Geistes; als seinen Forschungsgegenstand hatte er sich die (überwiegend) durch das Rückenmark gesteuerten Bewegungsreflexe gewählt. Sherrington zählt zu den bedeutenden Physiologen seiner Zeit. Seine Arbeiten besaßen maßgeblichen Einfluss auf die physiologische Forschung des 20. Jahrhunderts, da sie die Konzepte spinaler Reflexkontrolle transformierten. Als einer der ersten führte Sherrington eine detaillierte Analyse der Reflexkontrolle bei komplexeren physiologischen Abläufen wie dem Stehen und Gehen durch. Für Smith203 besteht die Bedeutung seiner Arbeiten in folgenden Punkten: Sherrington gelang die erste verständliche, experimentell abgesicherte Erklärung, wie das Nervensystem über den Grundmechanismus des Reflexes integrierte und koordinierte motorische Bewegungsabläufe bewerkstellige. Für die Erklärung suchte er Erkenntnisse der Reflexanatomie, Physiologie und des Reflexverhaltens zu einem kohärenten Modell zusammenzufügen. Mit dieser Synthese bislang isoliert betrachteter Forschungsergebnisse aus den Bereichen Anatomie, Histologie und Neurophysiologie schuf er einen vereinheitlichenden Deutungsrahmen, der die Grundlagen des modernen spinalen Reflexverständnisses bildet.204 1932 erhielt Sherrington gemeinsam dem Physiologen Edgar Douglas Adrian den Nobelpreis für Physiologie und Medizin für seine Studien reziproker Aktivitäten paarig angelegter Muskeln. In den frühen 1880er Jahren hatte Sherrington im Labor von Sir Michael Foster Physiologie studiert sowie unter den Physiologen John Langley und Walter Gaskell gearbeitet. Letztere weckten sein Interesse an der Fragestellung, auf welche Weise sich physiologische Funktionen in anatomischen Strukturen spiegelten.205 In den 1890er Jahren begann Sherrington mit eigenen systematischen 202 Näheres zu Sherrington vgl. E.G.T. Liddell 1960, R. Smith 1992, S. Finger 2000. 203 R. Smith 1992, S. 182. 204 Vgl. M.A.B. Brazier 1988. 205 Weitere wichtige Stationen seines beruflichen Lebens: Von 1895 bis 1912 war Sherrington als Physiologieprofessor in Liverpool tätig, ab 1913 bis zu seiner Emeritierung 1935 hatte er die Wayneflete Professur der Physiologie in Oxford inne.

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Studien der Rückenmarksreflexe. Gaskell hatte ihn angeregt, zuerst die spinalen Reflexe zu studieren, bevor er sich eingehender mit den komplizierten Vorgängen im Großhirn beschäftige. Zunächst bildete der relativ einfach organisierte Patellarsehnenreflex (Kniebeugereflex) sein Forschungsobjekt, später analysierte er den durch mehrere Muskelgruppen bedingten, komplexen Kratz-Reflex an Hunden. Die Experimente führte Sherrington zumeist an sogenannten Spinaltieren durch, bei denen das Gehirn bis auf Hirnstamm und Rückenmark operativ entfernt worden war. Dies ermöglichte eine gezielte Untersuchung der durch das Rückenmark vermittelten reflektorischen Bewegungen. Zur Aufzeichnung der Muskelkontraktionen verwendete Sherrington den Myographen, dessen Benutzung er für das Studium der muskulären Reflexantworten verbesserte und popularisierte.206 Auf anatomischer Seite studierte er den genauen Verlauf der afferenten und efferenten Nervenbahnen zwischen Muskeln und Rückenmark. Den einfachen Reflexbogen fand er, wie viele andere zur damaligen Zeit, als unzureichend zur Beschreibung der Motorreflexe: „A simple reflex is probably a purely abstract conception because all parts of the nervous system are connected together and no part of it is probably ever capable of reaction without affecting and being affected by various other parts, and it is a system certainly never absolutely at rest.“ 207

Jedoch wählte er ihn weiterhin zur Analyse des komplexen spinalen Reflexgeschehens als „unit reaction“, um das Geschehen im experimentellen Rahmen auf die Bewegungsgrundformen der Reflexe reduzieren zu können.208 Denn für die Analyse bilde er eine „convenient, if not probable, fiction“, um sich schematisch vereinfachend den ansonsten unübersichtlichen Abläufen zu nähern. Es gelang ihm auf diese Weise, die motorischen Körperfunktionen als ein geordnetes Zusammenwirken antagonistischer Muskelbewegungen zu beschreiben.209 Seine

206 Vgl. E.G.T. Liddell 1960, S. 117/ 118. 207 C. Sherrington 1906, S. 7/8. 208 Ebd., S. 6. 209 Heute weiß man, dass die Abläufe der allermeisten Reflexe noch viel komplexer sind und aus einem koordinierten Ablauf der verschiedensten Muskelbewegungen bestehen, deren Kontraktionen bzw. deren Entspannung (antagonistische Muskulatur) in bestimmter Reihenfolge und Stärke erfolgen muss. Wenn wir beispielsweise auf einen spitzen Stein treten und den Fuß als Reaktion hochziehen, laufen nervöse Prozesse nicht nur im Rückenmark ab. Zum Ausgleich der Gleichgewichtsverlagerung wirken der Hirnstamm und das Kleinhirn mit; neben der Muskulatur beider

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Beobachtungen und Ergebnisse über das Zusammenwirken verschiedener Reflexe als Grundlage eines geregelten Verhaltensablaufs fasste Sherrington zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff Integration zusammen. So auch der Titel seines vielbeachteten Buches von 1906 The Integrative Action of the Nervous System, das auf seinen im Jahr 1904 gehaltenen zehn Silliman Lectures an der Yale University basiert und bis 1947 ohne wesentliche Änderungen in mehreren Auflagen erschien. Die Steuerung der Muskeln bei (reflektorischen) Bewegungsabläufen betrachtete Sherrington als das Ergebnis spinaler Regulationsprozesse, die durch zentrale Erregungs- und Hemmungseinflüsse entstünden. Sherrington verstand sie als Ergebnis einer „quasi-quantitative Analyse“ der Erregungen210, in der positive und negative Effekte im Rückenmark interagierten.211 Die antagonistische Muskelsteuerung bei Bewegungsabläufen führte er auf hemmende Prozesse in singulären Nerven des zentralen Nervensystems zurück. Dafür prägte er den Begriff der internuntialen Neuronen – „internuntial neurons“ – Neuronen, die zwischen efferenten und afferenten Nerven gelegen die Bewegungsabläufe steuerten. „The seat of the inhibition appears, therefore, with some likelihood, to lie neither in the afferent neurone proper nor in the efferent neurone proper, but in an internuncial mechanism – synapse or neurone –between them.“212

Als möglichen Ort dieses internuntialen Mechanismus führte Sherrington die Synapse ein213. Den Begriff der Synapse hatte er 1897 erstmals in Michael Fosters (1836-1907)214 Textbook of Physiology verwendet. Überzeugt, dass die Beine werden zugleich die Rumpf-, Schulter-, Nacken- und Armmuskulatur aktiviert, vgl. P. Duus 2001. 210 C. Sherrington 1906. 211 Vgl. R. Smith 1992, S. 184. 212 Ebd., S. 105. Über Funktionsweise und einem möglicherweise dem Hemmungsvorgang unterliegenden Mechanismus äußerte Sherrington sich jedoch vage, zu unsicher und widersprüchlich erschienen ihm die experimentellen Ergebnisse der letzten Jahrzehnte, vgl. Abschnitt 2.2. Als Mechanismus hinter der Hemmung vermutete er eine Zustandsveränderung an der synaptischen Membran, die eine Weiterleitung blockiere, vgl. C. Sherrington 1906, S. 192/93. 213 Zu den Hintergründen von Sherringtons Entwicklung des Synapsenkonzepts in den 1890er Jahren vgl. R. French 1970. 214 Näheres zu Michael Foster, dem britischen Physiologen und Lehrer Sherringtons, und der sogenannten Physiologischen Schule in Cambridge vgl. G.L. Geison 1978.

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nervöse Erregung durch Kontakt sich berührender Oberflächen unabhängiger Nervenzellen (im Sinne der Neuronendoktrin) 215 und nicht durch Kontinuität der Nervenfasern übertragen würde, schrieb Sherrington: „So far as our present knowledge goes we are led to think that the tip of a twig of the arborescence [of the axon, KSB] is not continuous with but merely in contact with the substance of the dendrite or cell-body on which it impinges. Such a special connection of one nerve cell with another might be called a synapsis.“216

Ein anatomischer Nachweis dieser funktional definierten Schnittstelle zwischen den Zellen war jedoch damals genauso unmöglich, wie Kenntnisse über mögliche synaptische Prozesse. Dennoch – oder gerade deswegen – konnte Sherrington die Synapse als Platzhalter für einen die Reflexbewegungen koordinierende Zellmechanismus postulieren.217 Ausgehend von seinen Beobachtungen aus der Reflexphysiologie schloss Sherrington mithilfe des Synapsenkonzepts auf interne Abläufe im Nervensystem, indem er eben diese Synapsen heranzog, um reflexphysiologische Phänomene zu deuten, die sich nicht auf die Leitungseigenschaften peripherer Nervenfasern zurückführen ließen. Den Synapsen ordnete Sherrington den Ursprung unbekannter Reflexphänomene zu, wie z.B. das Auftreten rhythmischer Reflexantworten, unabhängig von der Intensität oder dem Rhythmus der Stimuli,218 „bahnung“s- Effekte219 oder verzögerte Reflexantworten220. In seinem Verständnis der Funktionsweise der Synapse bezog sich Sherrington auf das Konzept der „Neuronenschwelle“, wie es der Berliner Arzt A. Goldscheider formuliert hatte.221 Dieser hatte den Begriff „Neuronenschwelle“ zur Beschreibung des funktionellen Widerstands bzw. variablen Erregbarkeit des Nervenzellkörpers gegenüber der Fortleitung von nervösen Impulsen im Ner-

215 Sherrington war bereits früh ein überzeugter Vertreter der Neuronen als unabhängigen Einheiten im Nervengewebe gewesen. 1894 hatte er Ramón y Cajal bei sich in London als Gast aufgenommen, als dieser sich anlässlich seiner Croonian Lecture in der Stadt aufhielt. 216 C. Sherrington in M. Foster 1897, Bd. 3, S. 929. 217 C. Sherrington 1906, S. 155/156. 218 C. Sherrington 1906, S. 49/50. 219 Sherrington verwendete das deutsche „Bahnung“, was auf eine breite Rezeption dieses Begriffs zu der damaligen Zeit schließen lässt. 220 Im Englischen „delay“ bzw. „(prolonged) after-discharge“ genannt. 221 Vgl. Verweis C. Sherrington 1906, S. 155, S. 156, S. 321.

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vengewebe an den Nervenzellübergängen eingeführt.222 Die Idee lässt sich als neuronale Interpretation des in Reizexperimenten an Nerv-Muskel-Präparaten beobachteten Schwellenwerts der Erregung verstehen, ab dem eine Reaktion der Effektororgane erfolgt. – Einen solchen Schwellenwert hatte bereits Exner postuliert, ihn aber weder örtlich noch funktional näher qualifiziert. – Mit seinem Konzept zog Goldscheider Konsequenzen aus den physiologischen Aspekten der Neuronendoktrin, die das Nervensystem als aus diskontinuierlich angeordneten Nervenzellen bestehend ansah. Von diesen nahm man an, dass „die durch einen Reiz gesetzte Erregung eine Kette von aneinander gereihten Neuronen durchläuft“223: „[D]ie Erregung eines Neurons [wirkt] als Reiz auf das ContactNeuron; die durch äussere Reizung des End-Neurons gesetzte Erregung läuft in diesem Neuron ab, wirkt aber bei genügender Stärke als Reiz für das nächste Neuron, und so wiederholt sich bei jedem Neuron der Reizvorgang.“224 Da „die Nervenleitung die Wege geringeren Widerstandes bevorzug[e]“, entstünde im Gewirr der miteinander in Kontakt stehenden Nervenfasern aufgrund der Neuronenschwelle das Phänomen der Ordnung und des geregelten Ablaufes der Bewegungen.225 Damit knüpft Goldscheider das Erlernen von Bewegungsabläufen an eine Verringerung des Leitungswiderstandes (ganz im Sinne der Assoziationspsychologie von Bain und Spencer), den er mit seinem Konzept der Neuronenschwelle als funktionalem Ort im Nervensystem assoziierte. Diese Idee der Ordnung findet sich auch in Sherringtons Konzept der Synapse wieder. Erst die Synapse ermöglicht für ihn die Koordination verschiedenster Impulse zu einem gerichteten Verhalten: „The synaptic nervous system has developed as its distinctive feature a central organ, the central nervous system. [...] [I]t is [...] in virtue of physiological properties, an organ of reflex reinforcement and interferences [hier ein anderer Ausdruck für Hemmung, KSB], [...] in short, an organ of co-ordination in which from a concourse of multitudinuous excitations there result orderly acts, reactions adapted to the needs of the organism, and that these reactions occur in arrangements (patterns) marked by absence of confusion, and proceed in sequences likewise free from confusion. […] By the development of these powers the synaptic system with its central organs is adapted to more speedy, wide, and delicate co-ordinations than the diffuse nerve system allows. Out of this potentiality for

222 A. Goldscheider 1898. 223 Ebd., S. 1ff. 224 Ebd., S. 3. 225 Ebd., S. 14, S. 48.

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organizing complex integration there is evolved in the synaptic nervous system a functional grading of its reflex arcs and centres.“226

Für diese Koordinationsleistung im zentralen Nervensystem bedarf es eines neuronalen Basismechanismus, eines „mechanism for coordination“227, dessen zentrales Element die Synapse ist. Dieser Mechanismus beruht auf einem spezifischen Arrangement, in dem die Nervenzellen erst in ihre funktionalen Zuordnung zueinander Bedeutung gewinnen, dem „gemeinsamen Pfad“, englisch „common path“: Wenn zwei oder mehr Nervenzellen mit ihren Erregungen an einer dritten zusammentreffen, besitzen diese (vorausgesetzt die ankommende Erregung übersteigt die Neuronenschwelle) an ihrer Synapse die Möglichkeit zur Integration – d.h. quasi einer Verrechnung – der ankommenden Aktivitäten. (Ankommende Impulse werden hierbei räumlich summiert und können so zugleich den Schwellenwert der Erregung der Zielnervenzelle senken. Die sogenannten Interferenzen sorgen für die Hemmung der Aktivität einer Zielnervenzelle.) Damit sorgt bei Sherrington nicht die Nervenzelle als „in sich bestehende Reaktionseinheit“ für die Reaktionsqualität, sondern der „Modus der Verschaltungen“, wie Breidbach228 es nennt. Dieser „common path“ stellt für Sherrington das allgemeinste Organisationsprinzip im Nervensystem dar: Es bestehe nicht nur auf Ebene der Mikroorganisation des Nervengewebes, sondern setze sich in die verschiedenen Organisationsebenen des Nervensystems fort. Die zu beobachtende Reflexreaktion werde mittels immer höher integrierter „common paths“ erreicht, die für Sherrington im Sinne der Evolutionstheorie zwecks Erfüllung eines überlebensrelevanten Verhaltensablaufs zusammenwirken. „Pure reflexes are admirely adapted to certain ends. They are reactions which have long proved advantageous in the phylum, of which the existent individual is a representative embodiment.“229 Sherrington prägte den Begriff des „common path“ in Gestalt algebraischer Prozesse der Erregungsverrechnung innerhalb spezifisch vernetzter Nervenverbände. Dieser neuronale Integrationsmechanismus bot eine Erklärungsmöglich226 Ebd. 312/313. 227 Ebd., S. 145. 228 O. Breidbach 1997, S. 266. 229 C. Sherrington 1906, S. 388. Der Nervenstrang, über den diese durch die nervösen Integrationsprozesse hervorgegangenen efferenten Impulse zu den muskulären Effektororganen geleitet werden, bezeichnete Sherrington als den sogenannten „final common path“. Dieser unterscheidet sich von den niedereren „common paths“ nur darin „that it exhibits communism in the highest degree“ (ebd., S. 145, Hervorhebung im Original).

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keit für geordnete reflektorische Bewegungsabläufe, jedoch nicht für die hohe Variabilität, die bereits vermeintlich einfachste Reflexe aufweisen.230 Dass das „conductive web changes its functional patterns within certain limits to and fro“231, war Sherrington als Reflexphysiologe natürlich bewußt: „The gray matter may be compared with a telephone exchange, where, from moment to moment, though the endpoints of the system are fixed, the connections between the starting points and terminal points are changed to suit passing requirements, as the functional points are shifted at a great railway junction. In order to realize the exchange at work, one must add to its purely spatial plan the temporal datum that within certain limits the connections of the lines shift to and fro from minute to minute.“ 232

Um dieser Variabilität innerhalb des Nervennetzes („nervous web“)233 Rechnung zu tragen, enthielt sein „common path“-Mechanismus intrinsische Dynamiken, die in ihrer Beschreibung allerdings recht vage gehalten sind: Zum einen sei die Stärke der ankommenden Erregungen gestuft, zum anderen besäßen die Synapsen die bereits erwähnte, jedoch nicht näher bestimmte Fähigkeit, ihren Schwellenwert in einer bestimmten Spannbreite variabel zu ändern. Obwohl Sherringtons Reflextheorie, wie Smith anmerkt234, Implikationen für die nervlichen Grundlagen geistiger Fähigkeiten aufweist, verhielt er sich zurückhaltend gegenüber dieser Fragestellung. Seine Äußerungen zu den Aufgaben des Gehirns beziehen sich vor allem auf die Fähigkeit des Erlernens reflektorischer Bewegungsabläufe: Durch Cortex und Cerebrum, den „organs of nervous control“235, erhielten wir Menschen die Möglichkeit, unsere reflektorischen Fähigkeiten, soweit dem Willen zugänglich, zu kontrollieren oder zu modifizieren236. „[I]t is cerebral function which encompasses best that modification of old and that development of new reaction, which perfects the adaption of the indi230 Rahmenbedingungen und Ereignisse, die vorher oder während der Reflexantwort auftreten, führen zu einer Variation des Reflexverhaltens: Welch hohe Variabilität beispielsweise der Patellarsehnenreflex, der Prototyp des einfachen, monosynaptischen Reflexbogens, in seiner Ausprägung besitzt – abhängig von intrinsischen Bedingungen wie körperlicher Entspannung oder nervlicher Anspannung –, ist ausführlich in F. Fearing 1970, Kapitel 15 beschrieben. 231 C. Sherrington 1906, S. 233. 232 Ebd., S. 233. 233 Ebd., S. 233. 234 R. Smith 1992. 235 C. Sherrington 1906, S. 391. 236 Ebd., S. 388.

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vidual to the environment“237. Spinal vermittelte Reflexabläufe seien nur in eng umgrenzten Grenzen variabel. Dagegen ermöglichten cerebrale Kontrollprozesse das Erweitern der eigenen Fähigkeiten, modern gesprochen „das Lernen“. Wie diese Kontrolle auf neurophysiologischer Ebene ausgeübt werde, blieb für Sherrington Zeit seines Lebens eine wichtige offene Frage. Gegenüber einer direkten Parallelisierung der zwei Sphären, der geistigen und der physiologischen, verhielt er sich jedoch sehr zurückhaltend.238 Mit dieser Zurückhaltung prägte er eine ganze Generation nachfolgender Physiologen, wie auch in Kapitel 2 zu sehen sein wird. In den vorgestellten Arbeiten Sherringtons aus dem frühen 20. Jahrhundert kommt fraglos der muskulären Reflexanalyse die größte Bedeutung zu. Mit seinen recht allgemein gehaltenen Thesen zur zentralnervösen Integration spinaler Reflexe legte Sherrington den Grund für wichtige Konzepte der Neurophysiologie, die ihre Wirkung im Verlauf des 20. Jahrhunderts entfalteten. Indem er die Synapse als regulativen Mechanismus der Nervenzelle postulierte, sicherte Sherrington zum einen die Neuronendoktrin Cajals physiologisch ab. Zum anderen entfaltete er anhand der Synapse in seiner „common paths“-Theorie einen zentralnervösen Mechanismus der Erregungskoordination für die Regulation der Muskelbewegungen. Zwei Jahrzehnte später werden sich Sherrington und seine Mitarbeiter unter dem Einfluss der sich etablierenden Elektrophysiologie erneut der zentralnervösen Integration von (spinalen) Reflexabläufen zuwenden. Zu diesem Zeitpunkt wird er sein Konzept bahnender und hemmender Faktoren an der Synapse präzisieren. Sherringtons Einfluss ist es zu verdanken, dass in den 1920er Jahren Erregung und Hemmung als sich ergänzende Größen in der Reflexanalyse im anglo-amerikanischen Raum eine erneute Welle der Verbreitung erfuhren. Darauf werde ich im nächsten Kapitel (Abschnitt 2.8) ausführlicher zurückkommen, da Sherrington in diesem Punkt deutlichen Einfluss auf Lorente de Nós Verständnis der Funktionsweise des zentralen Nervensystems besaß.

1.4 Z USAMMENFASSUNG In den Wissenschaften vom Menschen präzisierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine dynamische Perspektive der Funktionsweise des Nervengewebes. Indem auf der zellulären Ebene des Nervengewebes wenngleich noch vage

237 Ebd., S. 391. 238 Ebd., S. 386, vgl. R. Smith 2001.

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raumzeitliche Organisationsstrukturen differenziert wurden, schuf man eine Erklärungsgrundlage für das nervliche Substrat geistiger und physischer Fähigkeiten. In diesem Prozess wurden Erkenntnisse der Anatomie und Physiologie mit Theorien der Assoziationspsychologie vermischt in ein dynamischen Gesamtbild integriert, das Aufschluss über die mögliche Entstehung der äußerlich sichtbaren Fähigkeiten des Lebendigen, d.h. Reflexe, geistige Fähigkeiten etc., geben sollte. Obwohl die neuronalen Integrationsmechanismen der neuroanatomischen Bestimmung der Nervenzelle als autonomem Basiselement des Nervengewebes als Voraussetzung bedurften, gewann diese, wie ich gezeigt habe, in ihrer topographischen und morphologischen Besonderheit nur im Rahmen einer funktionellen Interpretation an Bedeutung – selbst bei einem Anatomen wie Ramon y Cajal, der in seinem Ansatz den Spagat zwischen funktionaler Verallgemeinerung und konkreter Lokalisation versuchte. Die in den neuronalen Integrationsmechanismen vorgestellte räumliche Anordnung der Neuronen gründet zwar in der Neuroanatomie. Ihre beschriebene spezifische Vernetzung lässt sich jedoch nicht als ein Ergebnis neuroanatomischer Forschungspraxis bezeichnen. Denn wie am Beispiel der Golgi-Imprägnierung ausgeführt, konnten Neuroanatome die Vernetzungsmuster nicht ohne weiteres in Gewebepräparaten ablesen. Cajals postulierte Vernetzungsmuster entstammen einer funktionalen Deutung, die den Blick durch das Mikroskop beeinflusste. Auch die innerhalb der Nervenzellverbünde ablaufenden Integrationsprozesse waren spekulativer Natur. Dass im Nervensystem Prozesse stattfinden, in denen die Erregungsleitung gehemmt oder gefördert werde, wurde zwar durch physiologische Experimente gestützt. Dass diese Prozesse durch Dynamiken innerhalb vernetzter Zellverbünde entstünden und reguliert würden, war eine mit den damaligen Instrumenten nicht weiter zu belegende Hypothese. Wie ich skizziert habe, entsprangen Vorstellungen solcher Dynamiken in und zwischen den Nervenzellen mehrheitlich einer Synthese neurophysiologischen Gedankengutes mit Ideen des Assoziationismus. Dadurch wurde ein einheitlicher Erklärungsund Deutungsrahmen für das nervliche Substrat geistiger und physischer Fähigkeiten geschaffen. Exner beispielsweise, der als Physiologe auf der Suche nach den materiellen Grundlagen des Geistes war, postulierte bahnende bzw. hemmende interneuronale Verbindungen (d.h. eine Erleichterung bzw. Hemmung neuronaler Passagen). In seinem Entwurf steuern variable neuronale Wichtungen den Erregungsfluss durch das Nervennetz und bestimmen dadurch die jeweilige Wirkung. Auch bei Anatomen wie Meynert oder Cajal finden sich solche von der Assoziationstheorie beeinflussten Vorstellungen, wenn sie beispielsweise Intelligenzleistungen an die variable Lei(s)tungsfähigkeit singulärer Zellverbindungen knüpfen. Aber auch Sherringtons „common path“-Mechanismus, der

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allein der physiologischen Erklärung reflektorischen Geschehens diente, ist nicht unbeeinflusst von den Ideen des Assoziationismus, wie seine Rezeption von Goldscheiders Neuronenschwelle zeigt. Dreißig Jahre später verbandt der Neuroanatom Lorente de Nó entgegen den damals in Physiologie und Anatomie herrschenden Trends erneut den Blick durch das Mikroskop mit Erkenntnissen aus der Reflex- und Elektrophysiologie. Die Hintergründe von Lorente de Nós Konzept einer geschlossenen bzw. sich verzweigenden Neuronenkette als neuronalem Integrationsmechanismus schildert das zweite Kapitel.

2. Die geschlossene Neuronenkette Lorente de Nós: ein neuronaler Integrationsmechanismus der Bahnung und Hemmung „To present Lorente de Nó as a neurophysiologist would be an understatement. In a career of his own making, his accomplishments are far wider. Electrophysiology was built upon a foundation of neuroanatomy and to the two, neurochemistry is now being added. Even while under the patronage of world leaders during his formative years his learning was eclectic and his activities individual. At an early age he gained a reputation for originality. “ SCIENTIFIC REPORT FÜR DAS ROCKEFELLER INSTITUTE FOR MEDICAL RESEARCH, N.D., WOHL

FRÜHE

1940ER JAHRE, HEFTER 7,

KASTEN 4, RG 302.2, SAMMLUNG ROCKEFELLER UNIVERSITY, RAC

2.1 E INLEITUNG Der Entstehung und Bedeutung des Konzepts der geschlossenen Neuronenkette gilt dieses Kapitel. Mit diesem neuronalen Integrationsmechanismus bereicherte Lorente de Nó in den 1930er Jahren nachhaltig das aus dem 19. Jahrhundert stammende Bild des zentralen Nervensystems als dynamischem Nervennetz um zirkulative Prozesse. „[T]his made him to the first who could advance a quasi re-

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alistic functional interpretation of neuronal wiring diagrams“ bewertet Fairén dessen Leistung.1 Mit seinen Hypothesen zur Mikroorganisation des Nervengewebes stand Lorente de Nó jedoch zu diesem Zeitpunkt isoliert da. Die anatomische und physiologische Forschung hatte sich im Verlauf der ersten zehn Jahre des 20. Jahrhunderts von der Untersuchung des Nervensystems als dynamischem Netzwerk verabschiedet. Die Gründe dafür sind noch nicht näher geklärt. Breidbach vermutet den Grund im fehlenden experimentellen Nachweis der postulierten physiologischen Prozesse.2 Sicher hatte hier aber auch die Tatsache maßgeblichen Einfluss, dass die Neuronendoktrin nach 1900 wissenschaftlich stark umstritten war.3 Erst Jahrzehnte später, im Verlauf der 1930er und 1940er Jahre sollte es anhand von Degenerationsstudien gelingen, die Theorie unabhängiger Nervenzellen zu erhärten. Der letztendliche Beweis stand jedoch bis zur Einführung des Elektronenmikroskops im Jahr 1950 aus. Worin auch immer der Grund für die Abkehr zu suchen sein mag, die Entwicklung der Hirnforschung verlagerte sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts auf aussichtsreicher erscheinende Projekte: Mit der Cytoarchitektonik und ihrem Versuch, Funktionsareale im Gehirn zu lokalisieren, wendete sich die Neuroanatomie für die nächsten Jahrzehnte vom Studium der Feinstorganisation des Nervengewebes als Schlüssel zum Verständnis des Nervensystems ab.4 In der Physiologie konzentrierte man sich auf die nähere Erforschung der Abläufe in einzelnen Nervensträngen (d.h. vor allem der Ausläufer im peripheren Nervensystem). Das elektrophysiologisch messbare Verhalten bei der nervösen Erregungstransmission stand dabei im Vordergrund. Ausgehend von der Untersuchung peripherer Nerven drang man in den 1930er Jahren auch zu den elektrisch messbaren Abläufen im zentralen Nervensystem vor. Strukturelle Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes, wie sie die Frage nach der neuronalen Vernetzung darstellt, besaßen in der Elektrophysiologie jedoch nur marginale Bedeutung. Obwohl Lorente de Nós These der Existenz geschlossener Neuronenketten für seine Zeit ungewöhnlich waren, waren jedoch die von ihm verwendeten Forschungsmethoden, die ihn zu seinem Ergebnis führten, alles andere als abseitig. Ich teile die These Fairéns5, dass es gerade seine Synthese verschiedener, damals aktueller physiologischer Erkenntnisse und Herangehensweisen war, die ihn in

1

A. Fairen 2007, S. 442.

2

O. Breidbach 1997.

3

Vgl. G.M. Shepherd 1991, O. Breidbach 1999.

4

Vgl. M. Hagner 2001.

5

A. Fairén 2007.

L ORENTE DE NÓS GESCHLOSSENE NEURONENKETTE

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Ergänzung zu seiner neuroanatomischen Forschung zum Postulat seiner geschlossenen Neuronenketten führte. Gerade seine physiologisch beeinflusste Deutung struktureller Zusammenhänge in der Mikroorganisation des Nervengewebes zeichnet Lorente de Nós Thesen aus, ein Merkmal, in dem er seinem Lehrer, dem Neuroanatomen Ramón y Cajal ähnelt (vgl. Kapitel 1). Lorente de Nó ergänzte nach seiner Ausbildung bei dem spanischen Nobelpreisträger aus Unzufriedenheit über den Aussagewert seiner histologischen Schnitte seine Studien um physiologische Experimentalreihen, wodurch er zu einem besseren Verständnis der funktionellen Organisation des Nervengewebes vorzudringen hoffte. Als Studienobjekt wählte er sich in den 1920er Jahren die vestibulo-ocularen Reflexe, jene von den Gleichgewichtsorganen im Innenohr induzierten Augenreflexe, ein damals noch wenig verstandenes Gebiet. Aufgrund der Kompliziertheit der zentralnervösen Gleichgewichtsreflexe beginnt dieses Kapitel mit einem historischen Abriss zu diesem Thema. Wesentliche Anregungen erhielte Lorente de Nó von dem österreichisch-schwedischen Ohrenheilkundler Robert Bárány (1876-1936): In der Auseinandersetzung mit dessen Wissen und Methodik entwickelte er, so meine These, seine experimentelle Praxis der Reflexphysiologie zum Studium der vestibulo-ocularen Reflexe. In den frühen 1930er Jahren führte er dann unter Einbeziehung der aktuellen elektrophysiologischen Erkenntnisse seine bisher gesammelten Resultate zu der Formulierung von zwei Typen verketteter Nervenzellen als den Basismechanismen in der funktionellen Mikroorganisation des gesamten Nervensystems zusammen. Damit schuf Lorente de Nó nicht nur eine Erklärungsgrundlage für das vestibulo-oculare Reflexgeschehen, sondern präsentierte zugleich eine allgemeine Theorie neuronaler Organisation und einer auf Bahnung und Hemmung beruhenden Impulsregulation im gesamten zentralen Nervengewebe.6 Eine Beschreibung der neuroanatomischen Leistungen Lorente de Nós wurde gerade in der letzten Zeit von zwei Neurowissenschaftlern veröffentlicht, allerdings mit Fokus auf den Cortex.7 Meine Untersuchung ergänzt an vielen Stellen diese Publikationen. Dieses Kapitel leistet somit auch einen Beitrag zur Geschichte der Neurowissenschaften in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, bei dem es sich in vielen Bereichen weiterhin um ein „territory to be explored“ handelt,8 dessen Untersuchung noch weitestgehend aussteht.9

6

Vgl. J. Larriva-Sahd 2002, A. Fairén 2007.

7

Ebd.

8

M. Hagner/ C. Borck 2001, S. 509.

9

Neuere Publikationen zur Geschichte der Neurowissenschaften z.B. H.W. Magoun/ L.H. Marshall 2003, L. Salisbury/ A. Shail 2010.

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2.2 G LEICHGEWICHTSFORSCHUNG

BIS

1900 10

Die Sinnesorgane zur Wahrnehmung der Stellung des Körpers und der Wahrung des Gleichgewichts (auch Labyrinth- oder Vestibularisorgane genannt) liegen im Innenohr neben dem Hörorgan, der Schnecke (Cochlea). Zu ihnen zählen die Vorhofsäckchen, auch Otholithenapparate genannt, Sacculus und Utriculus, und als wichtigstes der häutige Bogengang. Die Erforschung des Vestibularissystems begann vergleichsweise spät.11 Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte völlige Unkenntnis über ihre Bedeutung. Lange Zeit wurden die Labyrinthorgane als Bestandteil des Gehörsinns betrachtet, wenn ihnen überhaupt eine spezifische Funktion beigemessen wurde. Zwei historische Stränge können in der Gleichgewichtsforschung ausgemacht werden: Die Erforschung der Bogengänge und ihrer Funktion anhand von Tierexperimenten einerseits und andererseits die wissenschaftliche Beobachtung des Gleichgewichtsinns anhand eines der führenden Symptome bei Erkrankungen der Bogengänge, dem Schwindel. 1825 hatte der bereits in Kapitel 1 im Zusammenhang mit Äquipotenztheorien des Gehirns erwähnte Physiologe Jean Marie Pierre Flourens (1794-1867) bei Tauben und anderen Säugetieren die Bogengänge zerstört und deren anschließende Unfähigkeit zu geordneten Bewegungsabläufen dokumentiert. Der Prager Physiologe Johann Evangelista Purkinje (1787-1869) untersuchte ungefähr zur selben Zeit das Phänomen des Schwindels an Menschen. Er beschrieb als erster den Nystagmus12 – eine unwillkürliche, rasche Augenbewegung – als Schwindelsymptom und vermutete bereits, dass der Schwindel im Kopf entstünde, stellte aber keinen direkten Zusammenhang zu Flourens Experimenten her. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden Theorien, die das Gleichgewichtsempfinden bzw. das Schwindelgefühl in Zusammenhang mit den

10 Literatur zur Geschichte des Gleichgewichtsinns in Auswahl: R. Bárány 1913, R. Bárány 1916, C.R.Griffith 1922, M. Camis 1930, G. Joas 1997, F. Engel-Murke 1998, zum aktuellen Forschungsstand z.B. P. Duus 2001. 11 G. Joas 1997 vermutet, dass die versteckte Lage der Bogengänge hinter dem Felsenbein zu dem späten Zeitpunkt der Erforschung beigetragen habe. 12 Nystagmus – „Augenzittern; unwillkürliche, rhythm., schnell aufeinanderfolgende Zuckungen der Augäpfel, schon in der Ruhestellung (Spontan-N.), erst beim Blick in best. Richtungen od. in Abhängigkeit von versch. Kopf- bzw. Körperlagen (Lage-N.) auftretend, mit einer langsamen Bewegung d. Augen nach der einen u. einer raschen Zuckung in die entgegengesetzte Richtung (Ruck-N.) [...] od. nach bd. Richtungen gleich schnell (Pendel-N.)“ (Pschyrembel 1986).

L ORENTE DE NÓS GESCHLOSSENE NEURONENKETTE

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Bogengangapparaten im Innenohr brachten. Dem Physiologen Friedrich Goltz (1834-1902) gelang es 1870, den Erhalt des Gleichgewichtes diesen Teilen des Innenohres zuzuschreiben. Zum Jahreswechsel 1873/74 erschienen innerhalb weniger Wochen die Ergebnisse dreier Wissenschaftler, die die Thesen Goltz zur Existenz eines neuen Sinnesorgans stützten und präzisierten. Der Arzt Joseph Breuer (1842-1925, Wien), der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838-1916, Prag) und der Chemiker Alexander Crum-Brown (Edinburgh)13 waren unabhängig voneinander zu der Erkenntnis gelangt, dass die Bogengänge im Innenohr das Sinnesorgan zur Erfassung von Drehbewegungen seien. Vor allem die sogenannte Mach-Breuer-Theorie zur Funktionsweise des Gleichgewichtssensoriums galt Jahrzehnte als Lehrmeinung. Man nahm an, dass am Beginn der Drehung die Kupula gegen die Ampulle verschoben werde und daraufhin langsam wieder in ihre Ausgangsposition rutsche. Diese Bewegung würde von Sensoren erfasst und als Drehung wahrgenommen. In Tierversuchen wurden in rascher Folge bis zur Jahrhundertwende die Grundlagen der Vestibularisforschung erarbeitet, die das Ausmaß des Einflusses der Bogengangapparate auf den Erhalt des Gleichgewichts deutlich werden ließen: Ergänzend zu der Auffassung, dass die Bogengänge einen Mechanismus enthielten, der es dem Körper erlaube, seine Position in Bewegung wahrzunehmen, wurde ein ständiger Einfluss des Vestibularisystems auf die gesamte Körpermuskulatur (auch in Ruhestellung) entdeckt, die sogenannten tonischen Reflexe (später auch Lagereflexe genannt). Diese ermöglichen dem Einzelnen, seinen Körper aufrecht zu halten und jederzeit auch in völliger Ruhe um die Stellung der eigenen Gliedmaßen im Raum zu wissen. Sie wurden den Otholiten zugeordnet.

13 Joseph Breuer wiederholte mit verbesserter Technik Flourens Versuche an Tauben. Zusätzlich unternahm er erste systematische Drehexperimente an Versuchstieren mit intakten und zerstörten Bogengängen, die ihn zu der Überzeugung gelangen ließen, dass dieses Organ Drehbewegungen wahrnehmen könne und die Bewegung der Flüssigkeit in den Bogengängen, die Endolymphe, für die von Flourens beschriebenen Symptome verantwortlich sei, J. Breuer 1873. Der Physiker Ernst Mach stellte zuerst eine mathematische Gleichung für Drehvorgänge auf, nach deren organischem Korrelat er im Anschluss suchte. Anhand des Aufbaus der Bogengänge bewies er, dass allein sie als Organ befähigt seien, Drehbewegungen wahrzunehmen, E. Mach 1875. Brown als der dritte im Bunde löste das Problem aufgrund klinischer Untersuchungen. Nach eingehender Untersuchung einer Vielzahl von Personen mit Schwindelsymptomen kam er zu dem Schluss, dass die Bogengänge als Auslöser dieser Symptome wahrscheinlich seien, A. Crum-Brown 1874; vgl. F. Engel- Murke 1998.

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Ein besonderes Unterkapitel der Gleichgewichtsforschung stellen die labyrinthären oder vestibulären Augenreflexe dar, auch vestibulo-oculare Reflexe genannt. Die Vestibularorgane stehen in enger Beziehung zu den Augenmuskeln, so dass bei ihrer Reizung fast stets auch Augenreaktionen auftreten. Besonders zwischen zwei Reaktionsweisen wurde damals unterschieden: • Entweder verändert sich die Position der Augäpfel entgegen der Drehrichtung,

so dass die Identität des Gesichtsfeldes trotz der Kopfbewegung mehr oder minder gewahrt bleiben kann. Diese Bewegungen fallen unter den Oberbegriff der tonischen Reflexe und stehen in Zusammenhang mit den Otholitenapparaten. Man nahm an, dass diese Augenbewegungen die Aufgabe besitzen, die Orientierung des Körpers im Raum zu gewährleisten und Positionsveränderungen auszugleichen. • Oder die Augäpfel kompensieren die Stimulation (beispielsweise ausgelöst durch schnelle Drehungen des Kopfes) mit einer Anzahl rascher, unwillkürlicher Augenbewegungen, einem rhythmischen Zucken der Augäpfel, bestehend aus einer langsamen Bewegung und einer schnellen Gegenbewegung, die als Nystagmus bekannt ist. Daher wird sie häufig auch als Augendrehreaktion oder Bewegungsreflex bezeichnet. Diese Reaktion lässt sich nicht nur durch eine Bewegung des Körpers auslösen, sondern auch durch anders geartete Stimulationen der Bogengänge (beispielsweise kalorische Reizung). Der labyrinthäre Einfluss auf die Augen war bereits Ende des 19. Jahrhunderts bekannt. Breuer hatte das Phänomen der vestibulär induzierten Augenbewegungen ausführlich beschrieben. Auf welchem Wege diese Augenbewegungen jedoch zustande kamen, blieb unbekannt. Als einer der ersten gelang es dem ungarischen Professor der Physiologie Andreas Höyges (1847-1907), zentralnervösen Nervenverbindungen zwischen den Augenmuskelkernen (im Mittelhirn) und den Bogengängen nachzuweisen.14 Seine Veröffentlichungen aus den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts erschienen jedoch in ungarischer Sprache, ein Umstand, der deren allgemeine Rezeption bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein verzögerte. So blieb es einem recht jungen österreichischen Ohrenarzt, Robert Bárány, vorenthalten, die Beobachtungen der Ohrenheilkunde (Otologie) mit Erkenntnissen aus Tierexperimenten zu kombinieren und anhand dieser die zentralnervösen Zusammenhänge vestibulärer Augenreflexe zu postulieren.

14 A. Höyges 1881, die deutsche Übersetzung erschien 1912, vgl. F. Engel-Murke 1998.

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2.3 R OBERT B ÁRÁNY Für die klinische Praxis der Otologen besaß das Gleichgewichtssystem um 1900 aufgrund der vagen Kenntnisse nur geringe Bedeutung. Bei Schwindel und Gleichgewichtsstörungen wurde zwar auch bedingt auf eine Erkrankung der Bogengänge geschlossen, allerdings konnte man mangels genauerer Diagnosetechniken nichts über Art oder Ausmaß einer möglichen Erkrankung aussagen.15 Dies änderte sich mit der Einführung einer Untersuchungsmethode der labyrinthären Augenreflexe, der Test des kalorischen Nystagmus durch Robert Bárány im Jahr 1905.16 Durch eine systematische Untersuchung der Augenreflexe gelangte Bárány zu einer Diagnosetechnik, die ihm zugleich als Ausgangspunkt für ein neues Gebiet der Otologie diente. Robert Bárány (1876-1936)17 entstammte einer österreichisch-jüdischen Familie in Wien. Nach Abschluss seines Medizinstudiums im Jahr 1900 wandte er sich der Otologie zu. Ab 1902 war er als Assistent an der Ohrenklinik des k. k. Allgemeinen Krankenhauses in Wien unter Adam Politzer (geb. 1835) tätig. Hier wurde er mit der Tradition vertraut, die eine enge Verbindung zwischen den Bogengängen und dem Erhalt des Körpergleichgewichts sah. In der Klinik gehörten Spülungen der erkrankten Ohren seiner Patientinnen und Patienten zu Báránys Aufgaben. Er beobachtete, wie übrigens andere bereits zuvor, dass die Spülung körperliche Reaktionen hervorrief, wie Brechreiz und Schwindel und als augenfälligste und konstanteste die Augenbewegungen18: Bárány hatte nun die brillante Idee, die vestibulären Augenreaktionen als Gradmesser für die funktionale In-

15 Dabei war eine Diagnostik in diesem Bereich damals nicht ohne klinische Bedeutung, da sich Vereiterungen des Mittel- und Innenohres leicht zu lebensbedrohlichen Erkrankungen ausweiten konnten. Hatte eine Infektion erst einmal das Labyrinth erreicht, war eine Operation unumgänglich, um eine möglichen Ausbreitung der Entzündung ins Schädelinnere und damit den wahrscheinlichen Tod zu verhindern. 16 Der kalorische Nystagmus ist (neben dem sogenannten Bárány’schen Zeigetest) die Untersuchungstechnik Báránys, für die der sonst eher Unbekannte unter den Nobelpreisträgern (Physiologie und Medizin des Jahres 1914) auch heute noch namhaft ist. 17 Zu Leben und Werk Robert Báránys besonders G. Joas 1997. C. Borck 2004 stellt in seinem kurzen Artikel die Bedeutung Báránys für die Entstehung der Oto-Neurologie dar. 18 Je nach Temperatur des zur Spülung des Ohres verwendeten Wassers unterschieden sich die von Bárány beobachteten Effekte: Hatte das Wasser Körpertemperatur, so fühlten sich die Patienten wohl; wurde kälteres oder wärmeres Wasser verwendet, traten Übelkeit, Schwindel und ein unwillkürlicher Nystagmus auf.

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tegrität der Bogengänge zu verwenden.19 Indem er die traditionellen Methoden der Bogengangsreizungen standardisierte und sie an Gesunden und Kranken gleichermaßen testete, konnte er bald einen Kanon für normale und abweichende Reaktionen entwickeln. Báránys Leistung lag damit weniger in der ausführlichen Beschreibung des Nystagmus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen als in dessen Verwendung als Diagnoseinstrument. Die Entdeckung des kalorischen Nystagmus ließen Bárány in den kommenden Jahren zu einem Spezialisten des Vestibularapparates werden.20 Wie Borck schreibt, blieb er nicht bei der Beobachtung von Schwindel und Nystagmus stehen, sondern legte mit seinem Werk aus klinischen Beobachtungen und einfachen Versuchen wesentliche Grundlagen der modernen Anschauungen zur Gleichgewichts-, Bewegungs- und Haltungskontrolle als einem fein abgestimmten Zusammenspiel von Gleichgewichtsorgan, Augen, Körperstellung und Kleinhirn.21 Wesentliches Merkmal für die Etablierung seiner ausgedehnten Funktionsprüfungen war, dass Bárány die von ihm beobachteten vestibulär induzierten Bewegungen auf deren neuroanatomische Strukturen zurückzuführen suchte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der VIII. Hirnnerv, der sogenannte vestibuläre Nerv, welcher vom Innenohr zu den Vestibulariskernen im Hirnstamm führt, bereits vergleichsweise gut anatomisch erfasst. Das Wissen um die von den Vestibulariskernen ausgehenden (primären und sekundären) Nervenbahnen blieb jedoch vage.22 Schlüsse über den möglichen Verlauf und die Zusammensetzung der zugrundeliegenden Nervenbahnen zog Bárány auf Grundlage seiner physiologischen Beobachtungen an Patientinnen und Patienten. Seine Hypothesen glich er mit Erkenntnissen der neuroanatomischen Literatur ab – hier ist besonders das

19 Bárány untersuchte die richtungsmäßigen Gesetzmäßigkeiten, nach denen der Nystagmus auftrat, und lieferte zugleich eine Erklärung für das Phänomen: Er deutete den Nystagmus als eine Reaktion, die im Vestibularapparat aufgrund des Temperaturunterschiedes des eingespritzten Wassers zu der im Labyrinth vorhandenen Flüssigkeit, der Endolymphe, auftrat. 20 1906 erschien Báránys erste große Monographie zum Vestibularapparat, das zur Standardliteratur für die Pathologie und Physiologie des Gleichgewichtsorgans avancieren sollte, 1907 sein bekanntes praxisorientiertes Lehrbuch Physiologie und Pathologie (Funktions-Prüfung) des Bogengang-Apparates beim Menschen. 21 C. Borck 2004, S. 179. 22 Vgl. O. Marburg 1913.

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Werk des Neuroanatomen Ramón y Cajal23 zu nennen.24 Operationen oder posthume Obduktionen ließen ihn seine Thesen bestätigt oder modifizieren. In seinem Vorgehen berief sich Bárány auf das Vorbild des Physiologen Sigmund Exners, der wie Bárány in Wien an der k. u. k. Universität tätig war.25 Bárány hatte bereits während seines Studiums Exners Buch Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen von 1894 gelesen (vgl. Kapitel 1). Die „Tendenz [des Buches ist]“ so schrieb er rückblickend Anfang der 1930er Jahre „[...] für alle meine neurologischen Arbeiten maßgebend geblieben.“26 „Erörterungen, welche den Entstehungsmechanismus bewußter oder unbewußter psychischer oder nervöser Vorgänge betreffen, müssen stets etwas Hypothetisches an sich tragen. Trotzdem halte ich es von großem heuristischen Werte, wenn wir uns psychische und nervöse Vorgänge nach dem klassischen Vorgehen EXNERS in seinem Buch ‚Grundlagen der Erklärung psychischer Erscheinungen‘ in mechanistischer Weise zu erklären versuchen, wenn wir den uns unbekannten Vorgang auf bestimmten, uns bekannten Bahnen ablaufend denken, ihn bestimmte Ganglienzellen des Gehirns passieren lassen.“27

Die Suche nach den nervlichen Verbindungen, die den funktionellen Zusammenhängen zugrunde liegen, bildete die Basis, auf der es Bárány gelang, wirkungsvolle diagnostische Methoden zu entwickeln. Durch systematische vesti-

23 R. Bárány brachte den neuroanatomischen Arbeiten Ramón y Cajals große Wertschätzung entgegen: „Die Histologie des Kleinhirns ist nun leider nicht über jeden Zweifel sichergestellt. Die verschiedenen Autoren sind in vielen Punkten uneinig. Ich vermag nicht zu beurteilen, wer von den verschiedenen Autoren Recht hat. Ich halte mich an denjenigen Autor, der 1. die positivsten Angaben macht und 2. dessen Angaben am besten mit den von mir festgestellten physiologischen und klinischen Details in Übereinstimmung gebracht werden können. Dieser Autor ist RAMÓN y CAJAL“ (R. Bárány 1912a, S. 1737, Hervorhebung im Original). 24 Ergänzende Einblicke in die funktionellen Aufgaben, beispielsweise des Kleinhirns, erlangte Bárány mittels Lokalisationsstudien, bei denen er an Tieren und auch an Menschen – durch Reizung von Kleinhirnrindenarealen die Bewegungszentren der Extremitäten im cerebellaren Cortex erforschte, vgl. R. Bárány 1912b, R. Bárány/ C. Vogt/ O. Vogt 1923, G. Joas 1997. 25 Dieses Vorgehen Báránys in seiner Forschung wird von G. Joas 1997 in einer Biographie Báránys ausführlich beschrieben. Joas erwähnt Sigmund Exners Einfluss auf Báránys Arbeiten allerdings nur kurz. 26 R. Bárány in G. Joas 1997, S. 23. 27 R. Bárány 1912a, S. 1737.

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buläre Funktionsprüfungen konnte er so Erkrankungen der durch das Gleichgewichtssystem ennervierten Nervenbahnen und Gehirnstrukturen diagnostizieren. Indem er das vorhandene Wissen der Zeit aus den Gebieten der Gleichgewichtssinns, der Neurologie, und Anatomie erstmals zu genauen Funktionsprüfungen verband, wies Bárány zugleich der Ohrenheilkunde eine neue Richtung. „Im Schnittfeld von Ohrenheilkunde, Neurologie und Physiologie entstand [...] das Fachgebiet Neuro-Otologie.“28 „[Bárány gelang es,] eine Menge von den bis dahin bekannten, aber oft einander scheinbar widersprechenden Tatsachen unter einen einheitlichen Gesichtswinkel [zu bringen], derart, daß dadurch neues und wesentlich schärferes Licht über die ganze Labyrinthologie geworfen wird [...]; [Báránys Arbeiten] wirkten bahnbrechend auf dem Gebiet der klinischen Labyrinthforschung und gaben den Anstoß zu intensiver Forschungsarbeit durch mehrere Jahrzehnte seitens der Vertreter der Otologie in der ganzen Welt.“29

Bárány hatte sich nicht nur Zeit seines Lebens mit der Korrelation der von ihm beobachteten vestibulären Phänomene auf anatomische Strukturen befasst, auch Fragestellungen nach den nervlichen Grundlagen geistiger Fähigkeiten beschäftigten ihn.30 So bezeichnete er sich selber auch als „Hirntheoretiker“31. Dieses Thema zeigt eine bislang eher unbekannte Seite Báránys32, die jedoch nicht ohne Einfluss auf Lorente de Nó blieb. Bárány hatte seine bis zum seinem Umzug

28 C. Borck 2004, S.179. 29 G. Holmgren 1936, S. 350. 30 In einem Nachruf auf seinen Freund und Kollegen verwies der schwedische Mediziner Gunnar Holmgren auf die Jahrzehnte währende Bedeutung, die die Rückführung geistiger Prozesse auf deren nervliche Basis für Bárány besessen haben. „Mit intensiver Arbeitslust stürzte Báránys Feuergeist sich auf eine Reihe von Fragen auf dem neurologisch-psychologischen Gebiet, die sein Interesse erregten, und durch Jahrzehnte kämpfte er mit den schwersten Problemen und verwandte eine enorme Arbeit auch auf Fragen, deren Lösung ihm nicht gelang, weswegen sie nur zum Teil zur Veröffentlichung gelangten“ (G. Holmgren 1936, S.351). Auch bei Bárány selber finden sich ab seiner Zeit in Schweden Hinweise auf dieses Interesse. So verwies er auf eine von ihm geplante Veröffentlichung zum Thema „Bewußtseinvorgänge“ (R. Bárány 1919, S.48), die jedoch nie veröffentlicht wurde. 31 R. Bárány 1930, S.282. 32 G. Joas 1997 geht in seiner ansonsten ausführlichen Biographie Robert Báránys nicht über die Angaben in R. Lorente de Nó 1987 hinaus auf das ausgeprägte Interesse Báránys an den nervlichen Korrelaten des Geistes ein.

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nach Schweden im Jahr 1917 umfangreiche Forschungstätigkeit im Bereich der Otologie einschränken müssen, da die Leitung der Klinik in Uppsala ihm viel Routinearbeiten abverlangte. Stattdessen wendete er sich verstärkt gehirntheoretischen Fragestellungen zu, in denen er in „mechanistischer Weise“ über die nervliche Grundlage psychischer Phänomene in der Großhirnrinde nachdachte.33 In den letzten zwölf Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1936 arbeitete er an der Koordination des damals vorhandenen fragmentarischen Wissens über Anatomie und Physiologie des Nervensystems, um Phänomene wie Hören, Verstehen oder Sehen psychophysiologisch anhand der Organisation des cortikalen Nervengewebes und den Eigenschaften der Nervenzellen und -fasern zu erklären. Sowohl die makroskopische Ebene der Verbindungen von Leitungsbahnen und Nervenzentren, als auch die Mikroperspektive der Nervenzellen und deren Vernetzung – „Zellschemen“ wie Bárány sie nannte34 – versuchte er – nach dem Vorbild Exners35 – funktionell zu beleben. Dabei übernahm er dessen Vorstellung von Hemmung und Bahnung als neuronale Regulationsgrößen zur „Abstimmung der Nerven“, wie er es nannte. „Die hier ausgesprochenen Hypothesen stellen einen Versuch dar, unsere psychischen Vorgänge zu lokalisieren und als Erregungen36, Hemmungen, Abstimmungen von Neuronen zu begreifen.“37

So entstanden mehrere Entwürfe Báránys von neuronalen Modellen höherer Gehirnfunktionen.38 Unter anderem postulierte er einen cortikalen Mechanismus

33 R. Bárány 1912a, S. 1737. 34 R. Bárány 1932. 35 „Der erste, der zur Verdeutlichung und Erklärung komplizierter Vorgänge im Zentralnervensystem Zellschemen in ausgedehnter Weise angewendet hat, war Sigmund Exner [...]. Von ihm habe ich diese Art, mir präzise, wenn auch hypothetische Vorstellungen zu diesen Vorgängen zu machen, übernommen. [...] Durch die einmal gemachten Annahmen wird die Denkarbeit gezwungen, ganz bestimmte Bahnen einzuschlagen, und die gemachten Folgerungen müssen sich wieder mit Beobachtungen aus der Anatomie, Physiologie und Pathologie des Nervensystems, der Psychologie und Psychiatrie decken“ (R. Bárány 1932, S. 140). 36 Erregung verwendete Bárány hier im Sinne von S. Exners Bahnung. 37 R. Bárány 1930, S. 297. 38 Insgesamt publizierte Bárány sechs gehirntheoretische Aufsätze: Den Auftakt bildete ein Artikel von 1925, zu den anatomischen Grundlagen des Binokularen Sehens, in dem Bárány seine Überlegungen zu Aspekten der Sehfähigkeit – nämlich die Tatsa-

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der Sprachentwicklung basierend auf neuronalen Zirkulationsprozessen.39 Mit Verweis auf Cajals Beschreibung kurzaxoniger Nervenzellen40 wies Bárány darin rückläufigen Nervenfasern eine entscheidende Bedeutung zu, allerdings in einer gegenüber Cajal veränderten funktioneller Bedeutung: Zellen mit kurzen Axonen wurden bei Bárány durch ihre rückläufigen Verbindungen mit Nervenzellen in der nächsthöheren Schicht „abgestimmt“; diese Abstimmung geschehe aufgrund der Zirkulation von Impulsen. Diesen Mechanismus bezeichnete Bárány als einen „Innervationszirkel“.41 Als Resultat eines Abstimmungsprozesses reagiere die abgestimmte Zelle auf verschiedene Reize mal bahnend, mal hemmend42; diese Veränderungen seien nicht nur physiologischer Art, sondern würden auf biochemischer Ebene dauerhaft verankert: „Die Abstimmung müssen wir uns als eine chemische Veränderung denken, die bewirkt, dass dieselben Reize eine schon einmal abgestimmte Zelle leichter erregen, als eine nicht

che, dass die von beiden Augen getrennt wahrgenommenen Bilder normalerweise als eines erlebt werden – als seines Wissens nach erste Hypothese bezeichnete, den „anatomischen Bau der Hirnrinde funktionell zu beleben“ (R. Bárány 1925); 1927 folgte ein Artikel zum optischen Cortex, genauer zum Rindenmechanismus der Korrespondenz der Netzhäute; 1928 zu Mechanismen beim Hörvorgang; 1930 und 1932 zwei Artikel zu cortikalen Mechanismen der Sprachproduktion, 1936 zum cortikalen Mechanismus des Musikhörens, vgl. R. Bárány 1927a, 1928, 1930, 1932, 1936. 39 R. Bárány 1930 bzw. 1932. Diese Artikel zum cortikalen Mechanismus beim Spracherwerb basieren auf einem Vortrag, den Bárány Ende 1929 in Uppsala gehalten hatte. 40 Bárány bezog sich in seinen Artikeln von 1930 und 1932 explizit auf Cajal, nämlich Cajal 1902, Heft 3, S. 52/53. Hierin hatte Cajal aufgrund der Verteilung der Nervenzellen mit kurzen Axonen im menschlichen Gehirn, sowie von Vergleichen mit den Vorkommnissen dieser Zellen in Tiergattungen geschlossen, dass „die Zellen mit kurzen Axencylinder [...] bei der Entstehung psychischer Vorgänge eine wichtige Rolle spielen.“ Jedoch läßt sich aufgrund von Báránys Ideen zu rückläufigen Nervenbahnen von Zellen mit kurzen Axonen stark vermuten, dass er auch mit den weitreichenderen Thesen Cajals zur Bedeutung dieses Zelltypus als Akkumulator nervöser Energie vertraut war, vgl. Kapitel 1. 41 R. Bárány 1932. 42 Das Vorbild Sigmund Exners wird in Báránys Thesen zum Mechanismus des Spracherwerbs m. E. an vielen Stellen sichtbar: Nicht nur, dass Bárány sich in seiner Einleitung ausdrücklich auf diesen bezieht. Auch in Báránys Begriffswahl und Konzepten, wie z.B. der Aufmerksamkeitserregung, scheinen Exners Ideen deutlich durch, vgl. R. Bárány 1932.

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abgestimmte, während diese Zelle zugleich für andere sie treffende Reize schwerer oder nicht zugänglich wird. Die Abstimmung ist also eine Steigerung der Erregbarkeit für gewisse spezifische Reize bei Herabsetzung der Erregbarkeit für andere spezifische Reize. Sie ist präzisierter Ausdruck für die Veränderung der Zelle durch die Funktion, für das Gedächtnis der Zelle.“43

Dieser Vorgang bildete für Bárány eine mögliche neuronale Grundlage für Lernprozesse, wie in diesem Falle dem Spracherwerb. Eine Nähe zu Ideen der Assoziationismus lässt sich in vielen seiner psychophysiologischen Thesen entdecken. Da es Bárány an eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet der Histologie und Neuroanatomie mangelte44, zog er in den 1920er Jahren zur Diskussion seiner Hirntheorien den jungen Rafael Lorente de Nó als Gesprächspartner hinzu. Lorente de Nó besaß anatomisches Fachwissen45, stand Báránys Bemühungen allerdings skeptisch gegenüber, da er die vorhandenen Kenntnisse als unzureichend einschätzte, um eine allgemeine Theorie der Funktionsweise des Cortex zu erarbeiten.46 Die Gespräche zwischen Bárány und Lorente de Nó scheinen auf jeden Fall beide Wissenschaftler dazu angeregt zu haben, der Idee zirkulativer Prozesse im Nervengewebe intensiver nachzugehen; jedenfalls lassen sich Báránys „Innervationszirkel“ vom Anfang der 1930er Jahre und die wenig später postulierte geschlossene Neuronenkette Lorente de Nós als ein bemerkenswerter

43 R. Bárány 1932, S. 141/42. 44 Bárány stützte sich für diese Aspekte seiner Arbeit vorwiegend auf die Neuroanatomie Ramón y Cajals, vgl. z.B. R. Bárány 1912a, 1917, 1927, 1930, 1932. Darüber hinaus verweist auch ein ausführlicher Überblicksartikel zu der historischen Entwicklung und dem aktuellen Stand der Neuronentheorie aus dem Jahr 1914 auf ein fortwährendes Interesse Báránys am „Bau des Nervensystems“, vgl. R. Bárány 1923. 45 „Since I had become an expert on the fine structure of the cerebral cortex, I was the proper interlocutor for Bárány, for I would be able to prevent him from making asumptions that were either too simple or too complicated, and I would also (be) able to invalidate explanations that either conflicted with known facts or were postulated on arrangements of doubtful or unknown existence“ (R. Lorente de Nó 1987, S.12). 46 „I knew that the available evidence, anatomical and experimental, at that time was utterly insufficient to elaborate a general theory of the cerebral cortex“ (R. Lorente de Nó 1987, S.13).

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Doppelvorschlag47 zirkulierender Erregung als Abstimmungsmechanismus im zentralen Nervengewebe verstehen.

2.4 L ORENTE

DE



ALS

N EUROANATOM „Do these fibers contribute impulses of the same nature [...]? This is a question of undeniable theoretical importance, which makes it only more painful for us to admit our incapacity to solve the problem.“ R. LORENTE DE NÓ 1992, S. 31. „Es ist also logisch, dass es einen anatomischen Mechanismus gibt, der dieser physiologischen Korrelation entspricht.“ R. LORENTE DE NÓ 1923A, S. 29, ÜBERSETZUNG KSB.

Rafael Lorente de Nó wurde am 8. April 1902 in Saragossa, Spanien geboren48. Seine Studien am Nervengewebe begann er bereits im Jahr 1918 während seines Medizinstudiums an der Universität seines Heimatortes Zaragossa unter der Leitung des jüngeren Bruders des bekannten Neuroanatomen Santiago Ramón y Cajal, Pedro Ramón y Cajal (1854-1950).49 Von dort wechselte Lorente de Nó an die Universität in Madrid, wo er 1923 sein Medizinstudium abschloss. Bereits im Jahr 1921 wurde er Assistent am Instituto de Cajal50, dem er als Mitarbeiter

47 Lorente de Nó verweist in einem seiner frühen Artikel zur Existenz geschlossener Neuronenkettenmechanismen im Cortex auch auf Báránys Innervationszirkel, vgl. R. Lorente de Nó 1933f, S. 430/ 431, Fußnote. 48 Zu Biographie und Forschung Lorente de Nó vgl. L. Kruger/ T.A. Woolsey 1990, T.A. Woolsey 2001, J. Larriva –Sahd 2002, A. Fairén 1993, 2007. Die biographischen Angaben habe ich mithilfe von Materialien aus dem Rockefeller Archive Center ergänzt und korrigiert. 49 Vgl. R. Lorente de Nó 1919, 1920a, b, 1920/21, 1921. 50 „I came to Cajal`s laboratory in 1921. I had been doing some research and when I visited Dr. Cajal, he offered me a position in his laboratory“ (R. Lorente de Nó an Lambert, 15. Februar 1935, Hefter 898, Kasten 75, Serie 200A, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC).

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Ramón y Cajals bis 1927 angehörte, wo er sich zu einem seiner bekanntesten Schüler entwickelte. In Madrid begann Lorente de Nó mit histologischen Studien zur Erforschung des Aufbaus zentraler Gehirnstrukturen im Cortex und im Hirnstamm.51 Ramón y Cajal führte ihn in die Imprägnierungstechnik nach Golgi ein52, für die Lorente de Nó bald einen anhaltenden Enthusiasmus entwickelte.53 Gemeinsam arbeiteten die beiden Anfang der 1920er Jahre an ihren jeweiligen Projekten zum Cortex.54

51 R.Lorente de Nó 1922a, 1992, 1922b, 1923a. 52 Seiner Verehrung hat Lorente de Nó 1922 in der Einleitung seines Artikels in der Festschrift anlässlich Ramón y Cajals Jubiläums Ausdruck verliehen: „The enduring work by Professor Cajal with the Golgi method ceased in 1903 [...]. But, nowadays he has retraced his own steps and he is exploring again the fine structure of the nerve centres; we have followed him along this line, and the present work is, rather than a sample of our labors, a breath of his direction and example“ (R. Lorente de Nó 1923a in englischer Übersetzung von A. Fairén 1993, S. 468). 53 Lorente de Nó verwendete ähnlich wie Cajal eine breite Palette an Färbe- und Imprägnierungsmethoden, um sich in seiner histologischen Analyse dem Nervengewebe von mehreren Seiten zu nähern. Die Golgi-Methode wurde jedoch von ihm favorisiert. Es ist eine anhaltende, beinahe an Fanatismus grenzende Begeisterung Lorente de Nós überliefert: „Lorente was fascinated by the stain and continued its use with the ‚fervor of an apostle‘.“ (Scientific Report für das Rockefeller Institute for Medical Research, n.d., wohl frühe 1940er Jahre, Hefter 7, Kasten 4, RG 302.2, Sammlung Rockefeller University, RAC). Daneben nutzte Lorente de Nó vor allem die Golgi-Cox-Methode, einer Modifikation der Golgi-Technik: Anstelle von Silbernitrat wird Quecksilber für die Imprägnierung verwendet. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass eine angemessene Anzahl von Nervenzellen eingefärbt wird. Die Methode wurde von W. Cox 1891 vorgestellt und ist seitdem bis heute ohne große Veränderungen in Nutzung, vgl. M.E. Scheibel/ A.B. Scheibel 1978, S.103. 54 Lorente de Nó veröffentlichte 1922 einen noch heute vielbeachteten Artikel zur nervlichen Feinstruktur des „akustischen“ Cortex der Maus, vgl. R. Lorente de Nó 1922a, 1992. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei dem von ihm analysierten Hirnareal allerdings nicht um das akustische Zentrum. - Cajal erforschte zu diesem Zeitpunkt den Aufbau des visuellen Cortex der Katze, vgl. S. Cajal 1921 bzw. 1922a, und die Hirnrinde von Nagern, vgl. S. Cajal 1922b bzw. 1923. Diese zwei späten Veröffentlichungen Ramón y Cajals zur Feinstruktur des Cortex blieben vom damaligen wissenschaftlichen Umfeld weitestgehend unbeachtet, obwohl beide Artikel kurz nach ihrer Publikation vom spanischen Original ins Deutsche übersetzt erschienen; diesen

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Bereits in Lorente de Nós frühen neuroanatomischen und histologischen Publikationen finden sich unübersehbare Hinweise auf sein Interesse an einem funktionellen Verständnis neuronaler Strukturen. In der Morphologie des Nervengewebes, seiner Vernetzung, sah Lorente de Nó den Schlüssel zur physiologischen Bedeutung dieser Strukturen; in der histologischen Analyse der Gewebestrukturen eröffneten sich ihm Hinweise auf deren funktionale Organisation.55 Solche Ambitionen – die Antwort auf die Funktion in den Verbindungen zwischen den verschiedenen Nervenzentren, Hirnarealen und Nervenzellen zu suchen – waren in den frühen 1920ern jedoch zum Scheitern verurteilt, da das Nervensystem nur unzureichend erforscht war. Die neurologischen Kenntnisse afferenter und efferenter Verbindungsbahnen des Gehirns, und insgesamt die Feinstrukturen des Gehirns sowie dessen interne Vernetzung waren lückenhaft.56 Durch die neuen histologischen Färbetechniken hatte sich zwar im 19. Jahrhundert das Wissen um den Aufbau des Nervengewebes so erweitert, dass eine histologische Erschließung des Nervengewebes möglich wurde. So war die Kartierung der Anatomie des Gehirns in seinen anatomischen Partien und großen Ner-

Umstand werten J. DeFelipe/ E.G.Jones 1988, S. 494 als einen weiteren Beweis für die Vorherrschaft der Cytoarchitektonik in der Neuroanatomie der 1920er Jahre. 55 Lorente de Nó teilte sein Interesse an der physiologischen Deutung der Nervenstrukturen mit Ramón y Cajal (vgl. Kapitel 1). Dessen Veröffentlichungen zur Feinstrukturen des cortikalen Gewebes aus dieser Zeit zeigen sein anhaltendes Interesse an der funktionellen Deutung von Verbindungsbahnen im Gehirn, vgl. S. Cajal 1922b, 1923. Fairén weist auf Cajals Einfluss auf seine Schüler diesbezüglich hin: „A logical development of Cajal’s heritage was that the best Spanish neuroscience that immediately followed him [...] grew on the understanding, that research in morphology is useless if done disregarding function“ (A. Fairén 1993, S. 471). 56 Noch Anfang der 1930er Jahre wurde die „aktuelle Abwesenheit von verläßlichem anatomischen Material“ über die Verbindungen im Gehirn beklagt (S. Poliak 1932, S. 2/3). So plädierte der deutsch-amerikanische Mediziner Stephen Poliak (Assistenzprofessor für Neurologie an der University of Chicago) für ein verstärktes Studium der anatomischen Verbindungsbahnen, besonders auch im Cortex, um so endlich in den Stand versetzt zu werden, die genauen Funktionen der Gehirnstrukturen erfassen zu können: „Without minimizing our knowledge of the organisation and function of the cerebral cortex, the need of a thorough, systematic study of the connections of various cytoarchitectural areas and regions is clear. [...] To understand the distinctive function of the cortex the same fundamental problem encountered in other parts of the nervous system must be solved, namely, that of the connections or interrelationships“ (ebd, S.1).

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venbahnen um die Wende zum 20. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen. Trotz dieser Fortschritte ließen sich die Daten und Theorien zu Struktur und Funktion des Nervensystems jedoch eher als ein Flickwerk, denn als ein konsistentes Wissensgebiet bezeichnen. Viele Gehirnstrukturen und Verbindungen, besonders die sekundären Nervenbahnen, waren ungeklärt oder die vorhandenen Kenntnisse nicht eindeutig. Die Hinwendung breiter neuroanatomischer Forschungskreise zur Cytoarchitektonik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verhalf ebenfalls nicht dazu, das fehlende Wissen auf diesen Gebieten rasch zu ergänzen. Aber nicht nur die aktuelle Neuroanatomie interessierte sich nicht für Verbindungsbahnen im Nervensystem, auch die damalige Reflexphysiologie mit ihrer funktionell orientierten, experimentellen Ausrichtung schenkte der Erkenntnis nervlicher Verbindungsstrukturen im allgemeinen wenig Aufmerksamkeit. In dieser Situation reichte Lorente de Nó die Histologie als alleiniger methodologischer Zugang nicht mehr aus: „[I]t became evident [to me] that purely anatomical studies would be insufficient to reach a good understanding of the nervous system.“57 Erst in der Ergänzung der unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen sah er den Schlüssel zum Erfolg, Organe in Aufbau und Funktion ganz zu erfassen, wobei allerdings der Anatomie das Primat vor der Physiologie gebühre: „Erst die Anatomie und dann die Physiologie, wenn aber zuerst Physiologie, dann nicht ohne Anatomie“58. Diesen Leitspruch des Psychiaters und Neuroanatomen Johann Bernhard Aloys von Gudden (1824-1886) aus dem 19. Jahrhundert hatte Lorente de Nó sich zu Eigen gemacht. In dieser Zeit betonte er immer wieder, die Physiologie bedürfe unbedingt genauer anatomischer Daten als Grundlage ihrer Experimente, da sie ohne eine vernünftige Anatomie keine brauchbaren Ergebnisse liefere.59 Zuerst müsse man „die genauen Verbindungen der Nervenzellen untereinander kennen“ und „solange wir nicht wissen, aus was für Zellen diese Bahn entspringt, und mit welchen Zellen sie Verbindungen eingeht, wissen wir tatsächlich nichts“.60 Aus diesem Verständnis heraus unternahm Lorente de Nó etwa um 1922/ 23 erste physiologische Experimente, in der Hoffnung, die in zeitgleich durchgeführten histologischen Studien aufgefundenen Nervenbahnen in ihrer Bedeutung näher bestimmen zu können. Unterstützt wurde er in seinem Vorhaben von Cajal, der für die Erforschung von Vernetzungen, besonders der nervösen Verbin-

57 R. Lorente de Nó, report work Lorente de Nó, 1934, S. 2, Hefter 897, Kasten 74, Serie 200A, RG1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC. 58 R. Lorente de Nó 1928, S.45. 59 R. Lorente de Nó 1933d, S.327. 60 R. Lorente de Nó 1928, S. 42.

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dungsbahnen im Gehirn, zusätzliche physiologischen Experimente für wichtig und notwendig erachtete61, diesen Weg jedoch nie selbst beschritten hatte. Als Einstieg wählte sich Lorente de Nó das Kleinhirn (Cerebellum)62, und rückte damit die Erforschung eines einzelnen Organs – in seinem Aufbau, seiner strukturellen Einbettung und seiner Funktionsweise – in den Mittelpunkt. Die zentralnervösen Verbindungen des Cerebellums waren – in Bezug auf ihre Vielfalt, aber auch in Ursprung und Ende – nur teilweise bekannt; ähnliche Unklarheit herrschte bei der Frage nach dem genauen Ausmaß der Beteiligung des Kleinhirns an der (vestibulär induzierten) Haltungskontrolle des Körpers63. Die Wissenschaftler Rudolf Magnus und A. de Klejn hatten 1920 ermittelt, dass die Zentren der labyrinthischen Reflexreaktionen nicht im Cerebellum, sondern im Hirnstamm, d.h. in der Medulla oblongata und im Mittelhirn, lägen, und dass der Verlauf der die labyrinthischen Reflexe vermittelnden Nervenbahnen nicht durch das Kleinhirn führe. Auf dieser Basis schlossen sie eine Einflussnahme des Kleinhirns auf die Haltungskontrolle aus.64 Die Utrechter Schule um den Pharmakologen Rudolf Magnus (1873-1927) bildete damals das führende Forscherkollektiv im Bereich des Gleichgewichtssystems, besonders dessen Einfluss auf die Körperhaltung, die sogenannten Körperstellreflexe65. Magnus hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Sherrington der Erforschung der Reflexkontrolle des Körpers zuge-

61 „(U)m überhaupt jemals eine befriedigende Erklärung des schweren Problems zu finden, [...] welches gerade darin besteht, endlich einmal näheres zu erfahren, wie es denn eigentlich mit den [nervlichen] ‚Beziehungen zu der Ferne‘ [...] aussieht“ (S. Cajal 1923, S.2). Nur so ließen sich in Cajals Augen z.B. auch die efferenten und afferenten Verbindungsbahnen des cerebralen Cortex genau bestimmen. 62 Die konkrete Anregung verdankte er einem gewissen Dr Gayarre, schrieb Lorente de Nó, der auch „[s]eine Aufmerksamkeit auf die epochemachenden Untersuchungen der Utrechter Schule lenkte“ (R. Lorente de Nó 1928, S.V). Diese Doppelstrategie in der Herangehensweise, nämlich physiologische und zugleich histologische Forschung, entsprach einer Forderung der Utrechter Schule um Rudolf Magnus und A. de Klejn, vgl. R. Magnus 1924. 63 Zur Diskussion um die strukturelle Einbindung des Kleinhirns und zu dessen Bedeutung für den Erhalt des Körpergleichgewichts vgl. R. Bárány 1912a, S. 1737, R. Magnus 1924, S. 594 ff, G. Joas 1997, S. 128/29, E. Clarke/ C.D. O’Malley 1968, S. Finger 1994; besonders R. Magnus (1924) enthält einen guten historischen Überblick. 64 Vgl. E. Clarke/ C.D. O’Malley 1968, S. 687/688. 65 Körperstellreflexe sind Reflexe, „die der Aufrechterhaltung oder Wiederherstelllung einer normalen Kopfhaltung u. Körperstellung dienen“ (Pschyrembel 1986, S.1593).

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wendet. Aus Mangel an freien Stellen in Deutschland nahm er 1908 eine Professur für Pharmakologie in Utrecht in den Niederlanden an. In mehr als 15 Jahren erweiterten und fundierten er und seine Mitarbeiter, besonders A. de Klejn, maßgeblich das Wissen um die Funktionsweisen der Vestibularapparate, der Nackenund Labyrinthreflexe und der beteiligten Nervenbahnen. Im Jahr 1924 publizierte Magnus seine wichtigsten Ergebnisse in einer weithin anerkannten Monographie mit dem Titel Körperstellung. Magnus’ Experimentalreihen zum Gleichgewichtssystem zeichneten sich durch ihre systematische Bearbeitung aus und galten in Bezug auf Versuchsanordnungen und vestibuläres Grundlagenwissen als Standard.66 Die Gruppe um Magnus arbeitete mithilfe der damals gängigen physiologischen Methoden, die zur funktionellen Lokalisation nervöser Strukturen zur Verfügung standen: Extirpation und Läsion; ersteres bedeutet das Entfernen von Gehirnstrukturen und peripherer Organen wie beispielsweise Großhirn, Kleinhirn, Hirnstamm, Labyrinthapparate etc., letzteres das Durchtrennen von Nervenbahnen und Hirnstrukturen. In beiden Methoden wird der Verlust an Gewebe mit dem Verlust an Körperfunktionen korreliert. In Experimenten wurden Versuchstieren – kleinen Säugern wie Kaninchen, Katzen, Hunden und Meerschweinchen – gezielt operative Verletzungen zugefügt, die Körperreaktionen der so vorbereiteten Kleintiere anschließend in Untersuchungsreihen zur Haltungs- und Bewegungskontrolle getestet und mit den Reaktionsweisen gesunder Tiere verglichen. Lorente de Nós Läsionsexperimente am Kleinhirn von Meerschweinchen aus den frühen 1920er Jahren waren an diese experimentelle Praxis von Magnus angelehnt.67 Seine Untersuchungen, in denen er die Auswirkungen einer einseitigen Kappung aller cerebellofugalen Nervenfasern auf den Muskelapparat überprüfte,68 schienen vordergründig das Ergebnis von Magnus und de Klejn zu bestätigen, zeigte die einseitige Trennung der cerebellofugalen Bahnen doch keinen feststellbaren Einfluss auf die Körperstellreflexe. Abweichend von Magnus konnte Lorente de Nó jedoch eine Veränderung des Muskeltonus und der Koordinationsfähigkeit der operierten Tiere beobachten, was für ihn auf einen bestehenden – wenngleich nachgeordneten – Einfluss des Kleinhirns auf den Erhalt des Gleichgewichts deutete. Geleitet wurde Lorente de Nó bei dieser Schlussfolgerung auch durch die Ergebnisse der von ihm verfertigten Golgi-Studien zum

66 Wegen ihres Beitrags zur Erkenntnis des Gleichgewichtssystems standen Magnus und de Kleijn in der engeren Auswahl für den Nobelpreis in Physiologie und Medizin, als Magnus 1927 überraschend verstarb, vgl. auch F.M.R. Walshe 1924. 67 Vgl. R. Magnus 1924, S. 590ff. 68 Vgl. R. Lorente de Nó 1923 c.

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Verlauf der afferenten und efferenten Cerebellar-Verbindungen mit den Vestibulariskernen und anderen Strukturen des Hirnstammes.69 Diese zeigten, dass die afferenten Kleinhirnbahnen vor ihrem Eindringen in das Cerebellum Verbindungen mit anderen Organen besitzen müssen: „Das Studium des Schemas [der Verbindungsbahnen, die in das Kleinhirn eintreten KSB] reicht aus, um die Aufmerksamkeit auf einige anatomische Sachverhalte zu lenken, die es uns erlauben, physiologische Schlüsse zu ziehen.“70 Durch weitere histologische Studien zum Verlauf der afferenten Kleinhirnbahnen erhärtete sich für Lorente de Nó die These des indirekten cerebellaren Einflusses auf das Gleichgewicht.71 Die Gründe, warum Lorente de Nó nach diesen ersten erfolgsversprechenden Schritten die Kleinhirnforschung verließ, sind unklar. Gegen Ende 1923 wendete er sich einem der Gleichgewichtsforschung eng verwandten Gebiet zu, den vestibulär induzierten Augenreflexen72. Dass daraus ein Forschungsprojekt erwuchs, das ihn die nächsten 15 Jahre begleiten sollte, verdankte er der Unterstützung Robert Báránys.

2.5 L ORENTE

DE N ÓS S TUDIUM DER VESTIBULO OCULAREN R EFLEXBAHNEN

Lorente de Nó traf Robert Bárány erstmals im Dezember 1923 in Zaragossa während einer Vortragsreise des bekannten Otologen. Von Lorente de Nó sind 73 die Umstände ihrer ersten Begegnung überliefert: Da seine ersten Versuche, die vestibulär induzierten Bewegungen der Augenmuskulatur zu studieren, er-

69 Vgl. R. Lorente de Nó 1923 b. 70 R. Lorente de Nó 1924a, S.62, Übersetzung KSB. 71 Z. B. R. Lorente de Nó 1924a. 72 Vielleicht fiel Lorente de Nós Wahl auf die vestibulo-ocularen Reflexe, da diese eine übersichtliche und begrenzte Problemstellung boten, sie zugleich jedoch ein Teilgebiet der Gleichgewichtsforschung darstellten, das von der Utrechter Schule um Rudolf Magnus und sowie anderen Wissenschaftlern bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu gründlich experimentell bearbeitet worden war, vgl. R. Lorente de Nó 1924 b, 1931. Lorente de Nó selbst begründet die Wahl rückblickend damit, dass der vestibuläre Reflex ihm eine gute Möglichkeit eröffnet habe, die Nervenstränge und Nuklei zu zerstören und die daraus resultierenden Veränderungen im Reflexverhalten beobachten zu können, vgl. R. Lorente de Nó, report work Lorente de Nó 1934, S. 3, Hefter 897 Kasten 74, Serie 200A, RG1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC. 73 R. Lorente de Nó 1928, 1987.

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folglos geblieben waren, nutzte er die Gelegenheit, um den bekannten Wissenschaftler nach einer Vorlesung anzusprechen. Bárány gab ihm bereitwillig Auskunft zur Verbesserung seiner experimentellen Messtechnik74; dem ersten Gespräch folgten bald weitere und am Ende von Báránys Spanienaufenthalt stand eine Einladung an Lorente de Nó, seine Studien in Schweden fortzusetzen.75 Bereits wenige Monate später, im April 1924, wechselte der junge Anatom nach Uppsala. Sein Forschungsaufenthalt, der bis 1927 währte, wurde durch ein Forschungsstipendium der spanischen Militärregierung („Junta para ampliación de estudios“) finanziert. Diese Förderung hatten Santiago Ramón y Cajal und Robert Bárány noch im Dezember 1923 bei einer Audienz der spanischen Regierung erwirken können. Für Lorente de Nó war Robert Bárány neben Ramón y Cajal der zweite wichtige Lehrer und Förderer. Er bot ihm neben guten Laborbedingungen für die Durchführung physiologischer Experimente76 auch die Möglichkeit, seine histologischen Studien fortzusetzen. Bárány versorgte ihn mit den notwendigen Materialien und verfolgte den Verlauf der Experimente mit großer Anteilnahme. Zwar war er ein seltener Gast im Vestibularlabor, aber alle wichtigen Fakten wurden miteinander besprochen.77 So verbrachte Lorente de Nó während seiner Zeit in

74 Die Bewegungen der Augen werden durch jeweils sechs Muskeln gelenkt, die sich im Orbit befinden und von denen jeder einzeln oder in Kombination mit anderen reagieren kann, wodurch die Beweglichkeit des Augapfels in jede Richtung ermöglicht wird. Bárány empfahl Lorente de Nó, jeden einzelnen der Augenmuskeln frei zu präparieren, um so genau beobachten zu können, welcher Muskel jeweils reagiere, vgl. R. Lorente de Nó 1928, S.III. – Diese Untersuchungsmethode geht übrigens auf den ungarischen Physiologen Andreas Höyges zurück. – Die Ergebnisse dieser Experimentalreihe, die Lorente de Nó unter der Anregung Báránys durchgeführte, erschienen 1924 in einem Artikel zu den Augenmuskelbewegungen als Reflexreaktion vestibulärer Stimulierung, vgl. R. Lorente de Nó 1924b. Auch später arbeitete Lorente de Nó mit dieser Registriermethode, vgl. R. Lorente de Nó 1931. 75 Am Institut von Ramón y Cajal in Madrid standen Lorente de Nó keine Laborausstattung zur Verfügung, die ihm ein eingehenderes physiologisches Studium der labyrinthären Augenreflexe ermöglicht hätte, vgl. R. Lorente de Nó 1987. Über welche Möglichkeiten das Instituto de Cajal für physiologische Forschung generell verfügte, muss an dieser Stelle ungeklärt bleiben. 76 Lorente de Nó erhielt einen Arbeitsplatz im Labor des Physiologen Gustaf Göthlin. 77 R. Lorente de Nó 1987, S.13. Lorente de Nó hatte 1987 seine Erinnerungen an seine Zeit mit Bárány veröffentlicht. Um die Frage nach Lorente de Nós und Báránys gemeinsamer Forschungsarbeit zu vertiefen, müsste der Nachlass Báránys in Schweden

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Uppsala fast täglich abends zwei Stunden in der Wohnung der Báránys, woraus sich eine intensive Freundschaft entwickelte, die ihre spätere räumliche Trennung überdauerte und bis Báránys Tod im Jahr 1936 hielt.78 Das Interesse an den vestibulären Augenreflexen, besonders deren nystagtischer Ausprägung, bildete das Bindeglied zwischen den beiden Wissenschaftlern. Zeit seines Lebens hatte Bárány deren Erforschung große Aufmerksamkeit geschenkt und so dazu beigetragen, dass die Beziehung zwischen den Vorgänge in den Labyrinthorganen des Innenohres und den dadurch ausgelösten reflektorischen Augenbewegungen näher geklärt wurden. Bereits früh in seiner Laufbahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte er für zentralnervöse Einflüsse auf die Ausprägung der vestibulären Augenreflexe, besonders des Nystagmus, plädiert.79 Aufgrund seiner Ergebnisse konnten man in den 1920ern allgemein annehmen, dass die Charakteristika der Augenreflexe wie etwa Dauer oder Frequenz des Nystagmus vom zentralen Nervensystem bestimmt werden, da sich ihre Charakteristika deutlich von den vestibulären Ausgangsreizen unterscheiden.80 Jedoch wusste man weder über die genauen Funktionsabläufe im Vestibularsystem81

auf diese Fragestellung hin genauer durchgearbeitet werden. Joas gibt im Anhang seines Buches eine detaillierte Aufstellung der im Archiv in Uppsala gelagerten Bestände aus dem Nachlass Báránys. Der Name Lorente de Nó findet sich in dieser Liste allerdings nur an wenigen Stellen, vgl. G. Joas 1997, S. 483, S. 520. 78 Auch nach Lorente de Nós Abreise aus Uppsala pflegten die beiden weiterhin brieflichen Kontakt, wobei dieser Lorente de Nós Angaben zufolge zumeist aus seinen wissenschaftlichen Anfragen und den prompten Antworten Báránys bestand, vgl. R. Lorente de Nó 1987, S.16. 79 Bárány nahm an, dass sich im Mittelhirn zwei Zentren befänden, die einen beständigen Tonus der Augenmuskulatur unterhielten, vgl. R. Bárány 1907 b, c, d. Später vermutete er unerkannte Großhirnareale als Zentrum, vgl. R. Bárány 1917. 80 Báránys Experimente ließen ihn die über ein Vierteljahrhundert etablierte MachBreuer-Theorie des Nystagmus kritisch hinterfragen, die die vestibulär induzierten Augenreaktion direkt auf Bewegungen im Otolithensystem (ein Endolymphstoß verschiebe die Kupula in Richtung Ampulle) zurückführte. Besonders das Phänomen der nystagtischen Nachentladung war mit der Mach-Breuer-Theorie nicht erklärbar, vgl. R. Lorente de Nó 1931. 81 Die Funktionsweise dieser Sinnesorgane verblieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im Bereich theoretischer Annahmen: „We can only conclude [...] that the internal ear is the seat of a receptor which stands in very close functional relationship with the equilibrium of the body.“ (C.R. Griffith 1922, S. 27). Auch 1928 hatte sich das Wissen um die Abläufe in den Bogengängen nicht wesentlich verbessert. Lorente de Nó

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Bescheid, noch war bekannt, in welchem Ausmaß möglicherweise Erregungen aus anderen Nervenzentren die ocularen Gleichgewichtsreflexe beeinflussten, ein Umstand, für den auch hier die unzureichenden anatomischen Kenntnisse mitverantwortlich gemacht wurden.82 Die Besonderheit des Gleichgewichtsinns (wie hier von Magnus beschrieben) macht verständlich, warum deren Erforschung im Vergleich zu anderen Sinnesorganen so kompliziert ist: „Der Grund [...] liegt darin, daß wir für unsere optischen und akustischen Empfindungen eigene Rindenbezirke haben, und daß wir daher mit unseren optischen und akustischen Wahrnehmungen direkt als gegebenen Einheiten arbeiten können. Im Gegensatz dazu fehlt uns aber eine statische Rinde. Es werden uns allerdings eine ganze Reihe von sensiblen Erregungen aus den verschiedensten Teilen unseres Körpers bewußt, und wir haben auch

nannte es „ein Problem, von dem wir bis heute keine klare Vorstellung haben“ und fasste den Minimalkonsenz zusammen:„Bei jeder Drehbewegung des Kopfes werden die Endolymphe im Inneren des häutigen Bogenganges, dieser im Inneren der knöchernen und die Perilymphe eine Bewegung zeigen. Daraus werden Kräfte entstehen, die auf die Kupula wirken werden. Über diese Kräfte können wir heute absolut nichts sagen“ (R. Lorente de Nó 1928, S. 171). 82 Bis Anfang der 1920er Jahre war es der Gruppe um Magnus gelungen, deutlich zu machen, dass dem Erhalt des Gleichgewichts eine Vielzahl zentralnervöser Prozesse zu Grunde liegen, die eine noch größere Komplexität aufwiesen als bislang angenommen. Als einen Grund für die ungesicherten Kenntnisse dieses eine Vielzahl von Reizen integrierenden und koordinierenden Systems machte Magnus das ungenügende neuroanatomische Wissen verantwortlich. Es fehle die genaue Kenntnis, welche Nervenbahnen und -zentren beständig durch das Gleichgewichtssystem aktiviert würden und an welchen Stellen das Gleichgewichtssystem mit anderen zentralnervösen Systemen interagiere. Die vorhandenen Kenntnisse der zentralen Leitungsbahnen wiederum seien unzuverlässig und bisweilen widersprüchlich, um Widersprüche und Probleme, die bei der physiologischen Beobachtung zentralnervöser Reflexe entstanden, zu erklären. „Das Ergebnis der bisherigen Untersuchungen ist, dass im Hirnstamme [...] ein verwickelt aufgebauter nervöser Zentralapparat liegt, der die gesamte Körperstellung in einheitlicher Weise regelt“ (R. Magnus 1924, S. 618). „Für die Mehrzahl der Reflexe läßt sich noch nicht angeben, welchen anatomisch bekannten Strukturen (Kernen) die physiologischen, in bestimmten Niveaus lokalisierten Zentren entsprechen, auf welchen anatomisch bekannten Bahnen die afferenten und efferenten Erregungen im Zentralnervensystem verlaufen, und aus welchen Neuronen diese Bahnen aufgebaut sind. Es ist also noch viel Arbeit zu leisten, bis der Aufbau des zentralen Körperstellungsapparates in allen Einzelheiten bekannt ist“ (ebd., S. 621).

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ein sicheres Lagegefühl unserer Glieder, aber wir müssen das Urteil über unsere Körperstellung und das Gleichgewicht aus einer ganzen Reihe von verschiedenen Sinneserregungen sekundär ableiten, welche uns von den Labyrinthen, den Muskeln und Gelenken, den Tast- und Sinnesorganen, den Augen geliefert werden, und welche als Einzelkomponenten häufig unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben. Daher [...] können wir keinesfalls durch subjektive Analyse direkt dem Anteil der einzelnen Sinnesorgane an der statischen Gesamtfunktion erkennen.“83

Es bedurfte hier vertiefter Studien, um die an den vestibulo-ocularen Reflexen beteiligten Strukturen und Organe zu erkennen, ihre funktionelle Bedeutung bei der Ausprägung der Reflexantworten zu erforschen und das in seiner Funktionsweise erst im Ansatz verstandene Gleichgewichtsorgan zu erfassen. Nichts weniger als diese Aufgabe hatte Bárány dem jungen Lorente de Nó Ende 1923 angeboten und ihn überzeugen können, „that the general mechanism for establishing vestibular eye reflexes could be fruitfully investigated“84. In den Jahren 1924 bis 1927 führte Lorente de Nó umfangreiche Studienreihen auf diesem Gebiet durch.85 Um das reflektorische Geschehen erfassen zu können, waren Kenntnisse der Funktionen der Gleichgewichtsorgane bzw. der Bewegungsabläufe der je sechs ocularen Muskeln erforderlich. • Die Funktionsweise der peripheren Gleichgewichtsorgane studierte Lorente de

Nó mittels Versuchen zur differenzierteren Beurteilung der Funktionsweise der Bestandteile der Vestibularapparate und Otholithenorgane im Innenohr. Durch Manipulationen am Gleichgewichtsorgan (z.B. Plombierung der Bogengänge, isolierte Reizung derselben, Extirpation eines Labyrinthes, Durchschneiden der ampullären Nerven des Labyrinthes) untersuchte er beispielsweise deren Auswirkungen auf die Ausprägung der ocularen Reflexe. • Den muskulären Vorgängen bei ocularen Bewegungen versuchte er auf die Spur zu kommen durch die Erforschung der allgemeinen Ennervation der Augenmuskulatur und eine genaue messtechnische Erfassung der Abfolge der Muskelbewegungen, die bei reflektorischen Augenbewegungen auftraten. Tonische Augenreflexe und Nystagmus ließen gut sich anhand von Rotationsex-

83 R. Magnus 1924, S. 5/6. 84 R. Lorente de Nó 1987, S. 5. 85 Vgl. R. Lorente de Nó 1924b, 1925a, b, c, 1926 a, b, 1927, a, c, 1928, 1931, 1932a. Besonders die letzten beiden Artikel geben einen guten Überblick über Lorente de Nós Vorgehensweise und Ergebnisse.

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perimenten an Versuchstieren86 untersuchen. Lorente de Nó arbeitete hier mit einer von Bárány empfohlenen Registriermethode der Augenmuskulatur, in dem er die Bewegungsabläufe und Kontraktionen der freipräparierten Augenmuskulatur mithilfe eines Myographen studierte. Den „nervlichen Mechanismus“ der vestibulo-ocularen Reflexe, der für deren spezifische Ausprägung sorgt, verortete Lorente de Nó – wie auch Bárány – nicht im Innenohr, sondern irgendwo in den zentralnervösen Verbindungen zwischen Bogengang und Augenmuskelkernen. Er suchte hierfür die an dem Reflex beteiligten Strukturen im Hirnstamm und angrenzenden Gehirnstrukturen (z.B. VIII. Hirnnerv, vestibulare Kerne, Mittelhirn) zu ermitteln und die Orte zu lokalisieren, an denen die labyrinthären Ausgangsreize Veränderungen unterworfen seien. Dabei bediente er sich der physiologischen Methode der Läsion, denn die Nervenzentren und -bahnen des Gleichgewichtssystems in den niederen Gehirnzentren waren experimentell nicht anders zugänglich als mithilfe beschädigender Techniken (sieht man von den neurologischen Beobachtungen an Erkrankten und einigen Menschenexperimenten ab, wie sie z.B. von Bárány durchgeführt wurden). Die von Magnus häufig verwendete Methode der Extirpation lehnte Lorente de Nó aufgrund der dadurch seines Erachtens möglicherweise ausgelösten, unkontrollierbaren Nebeneffekte an den Augenreflexen als in diesem Fall nicht präzise genug ab:87 „Die Operationsmethodik, die uns heute zur Verfügung steht, um die Physiologie des Nervensystems zu studieren, beschränkt sich auf zwei Arten von Eingriffen: Reizung der grauen Masse oder Verletzung derselben; da aber im Vestibularisgebiet isolierte Reizun88

gen nicht möglich sind , so bleibt uns keine andere Methode übrig, als die grauen Massen

86 Lorente de Nó arbeitete dabei vorrangig mit Kaninchen. Diese Tiere sind besonders gut für Reflexexperimente an den Augen geeignet, da bei ihnen „die Augenreaktionen am deutlichsten auftreten, die Verhältnisse daher am gründlichsten untersucht“ werden können, so die Begründung von Magnus (R. Magnus 1924, S. 610). Eine solche Herangehensweise war nicht unumstritten, da ungeklärt blieb, inwiefern eine Erkenntnis der tierischen vestibulären Reflexmechanismen auf den Menschen übertragbar sei, vgl. z.B. H.A. Riley 1930. 87 R. Lorente de Nó 1931, S. 211ff. 88 Die in der physiologischen Forschung verbreiteten Reizexperimente, bei denen durch eine gezielte elektrische, biochemische oder physikalische Stimulation bestimmter Hirnareale oder -strukturen versucht wurde, aufgrund der Reaktionsweise Rückschlüsse auf die Funktionalität der gereizten Gehirnpartien oder nervösen Strukturen zu er-

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zu lädieren bzw. deren Bahnen durchzuschneiden und die darauffolgenden Veränderungen der Reflexe zu studieren; die mikroskopische Analyse des operierten Gewebes wird uns nachher genau zeigen, worin die Verletzung bestanden hat“.89

Lorente de Nó brachte im Hirnstamm der Versuchstiere operativ Schnitte an, um dann die dadurch hervorgerufenen Unterschiede in den Reflexantworten der Tiere gegenüber unverletzten zu studieren. In den Experimenten wurden die vestibulären Reflexe durch Drehungen und andere Positionsveränderungen oder das Setzen von Kälte- und Wärmereize im Innenohr evoziert und die Reaktionen der Versuchstiere beobachtet, beispielsweise durch die Aufzeichnung der Muskelreaktionen mittels Myographen. Methodologisch orientierte sich Lorente de Nó auch hier wieder vor allem an Experimentalreihen von Bárány90 und Magnus91. Danach wurden die Tiere getötet, ihre Gehirne entnommen, diese in Formalin fixiert, geschnitten und mit Eisenhämotoxin oder nach Kultschitzky gefärbt.92 Jetzt konnte genauer untersucht werden, an welchen Stellen die Schnitte im Gehirn zu Verletzungen geführt hatten. Ein Vergleich der Ergebnisse aus den Reflexversuchen mit den zugehörigen Gehirnpräparaten ließ Rückschlüsse auf die beteiligten Leitungsbahnen und Nervenzentren sowie deren Funktion zu. Durch Defizite in den Strukturen, die als die Träger postoperativ fehlender Funktionen gedeutet wurden, lokalisierte Lorente de Nó die beteiligten Hauptreflexbahnen.

langen, gelangte im Bereich der Vestibularisforschung nur im Zusammenhang mit der Untersuchung der motorischen Kontrolle durch das Kleinhirn, vgl. z.B. R. Bárány 1912a,b,1914, zum Einsatz. 89 R. Lorente de Nó 1928, S. 37/38. 90 Bárány hatte, wenn auch vereinzelt, selbst Drehexperimente zur Untersuchung der Augenreflexe an Kaninchen unternommen – mit und ohne Extirpation von Teilen des Kleinhirns, vgl. z.B. R. Bárány 1906. 91 Im Jahr 1925 hielt sich Lorente de Nó für die Durchführung von Experimenten bei Rudolf Magnus bzw. A. de Kleijn in Utrecht auf. Hinweise auf diesen Aufenthalt finden sich z.B. in R. Lorente de Nó 1927a, S. 305 bzw. in den Erinnerungen seines Schülers Vincente Honrubia, vgl. V. Honrubia 1993, S.437; bis auf eine Danksagung Lorente de Nós an de Kleijn für eine experimentelle Methode zur Registrierung der Bewegungen der Augenmuskulatur finden sich keine genaueren Angaben zu den Inhalten des Treffens. 92 R. Lorente de Nó 1928, S.47, Fußnote 39.

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Der Verlauf der peripheren Leitungsbahnen der vestibulo-oculären Reflexe waren damals bereits bekannt: Periphere Reize aus dem Gleichgewichts- bzw. Hörorgan im Innenohr werden über den VIII. Hirnnerv ins Gehirn geleitet. Der VIII. Nerv endet in den Nervenkernen im Hirnstamm am Boden des 4. Ventrikels, ein Teil des Nervenstrangs in den sogenannten Vestibulariskernen, ein anderer in den Kernen des Cochlearissystems. Man in den 1920er Jahren allgemein an, dass ausgehend von den Vestibulariskernen im Hirnstamm Nervenverbindungen mit den Augenmuskelkernen im oberen Teil des Hirnstammes, dem Mittelhirn, bestehen müssten, auf denen die vestibuläre Erregung zu den Augenmuskelkernen geleitet würde. Die genauen Nervenbahnen sowie deren Verlauf waren jedoch umstritten.93 Nach dem von Lorente de Nó entwickelten Schema der zentralnervösen Verbindungen (vgl. Abb 2-1) gelangen die vestibulären Reize auf zwei Nervenbahnen zu den Augenmuskelkernen, durch das hintere Längsbündel und die Formatio retikularis94, wobei die Formatio retikularis für ihn die ungleich wichtigere Nervenbahn darstellte.95

93 Vgl. R. Lorente de Nó 1928, S. 38. Allgemein wurde in Anlehnung an Santiago Ramón y Cajal angenommen, dass es sich bei der gesuchten Verbindungsbahn um das hintere Längsbündel (Fasciculus longitudinalis dorsalis) handele: „Die aufsteigenden Fasern (des Fasciculus longitudinalis dorsalis) enden nach Ramón y Cajal in den Augenmuskelkernen des Mittelhirns, und es ist keine Frage, daß diese Leitungsbahn die Bewegungen der Augäpfel beherrscht.“ (H. Held 1923, S. 308), vgl. auch S. Cajal 1896, R. Bárány 1907a, 1919. Der deutsche Anatom und Neurologe Ludwig Edinger (1855-1918) dagegen meinte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das mittleren Längsbündel als die Leitungsbahn zwischen den Vestibulariskernen und den Zentren der Augenmuskelkerne ausgemacht zu haben, vgl. S. Ranson 1931. 94 Die Formatio retikularis oder Substantia reticularis ist ein netzartiges Nervengeflecht, das sich durch den Hirnstamm zum Zwischenhirn zieht; sie besteht aus mehreren Kernen; in sie gehen verschiedene Nervenbahnen ein bzw. führen aus ihr heraus. 95 In Bezug auf das hintere Längsbündel beruht Lorente de Nós Ergebnis auf einem Irrtum, dem er mit seiner experimentellen Technik jedoch nicht hätte beikommen können. In seinen Versuchen hatte er das hintere Längsbündel (und den ungekreuzten Tractus vestibulomesencephalicus) der Versuchstiere durchtrennt, d. h. die zwischen den peripheren Gleichgewichtsapparaten und den Augenmuskelkernen angenommenen direkten Leitungsbahnen, konnte aber dennoch die Augenreflexe durch vestibuläre Stimulation hervorrufen, vgl. R. Lorente de Nó 1927c, 1928, 1931. Auf dieser Grundlage schloss er, dass allein die Formatio retikularis für das Auslösen der vestibulären Augenreflexe ausreiche. „Wir wissen aber auf jeden Fall, [...] daß die Labyrinthreflexe ohne hinteres Längsbündel, durch die Substantia reticularis

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Abbildung 2-1 Schema der Hauptbahnen des vestibulo-ocularen Reflexes

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R. Lorente de Nó 1931, S. 209

Das Schema zeigt den Verlauf der Hauptnervenbahnen, auf denen die vestibulären Reize an die Augenmuskelkerne vermittelt werden. Die über das Schema verteilten Nervenzellen deuten die Existenz von Nervenzentren/ -kernen an diesen Stellen an. Lab – Labyrinth, G. S. – Gleichgewichtssinn, F. r. – Formatio retikularis, IV – Oculomotoriuskern, V. K. – Vestibulariskern, T – Thalamus, A.-M. – Faser zu den Augenmuskeln; in der Formatio retikularis entspringen, wie hier angedeutet, zusätzlich kurze Nervenbahnen, die in die Augenmuskelkerne einstrahlen.

Nachdem Lorente de Nó das Schema der Leitungsbahnen erarbeitet hatte, konnte er sich der Frage nach der zentralen Modifikation der vestibulo-ocularen Reflexe widmen: „Die Ursache für die Auslösung [...] liegen in Vorgängen im nervösen Labyrinth, aber die Charakteristika der Reflexe werden vom Nervensystem bestimmt“.97

hindurch, zustande kommen. Dieser Schluß steht im Widerspruch zu der herrschenden Meinung, die das hintere Längsbündel als die Bahn betrachtet, durch welche die Augenreflexe zustande kommen.“ (R. Lorente de Nó 1928, S. 119, Hervorhebung im Original). In späteren Jahren stellte sich heraus, dass nicht das hintere, sondern das mittlere Längsbündel (Median Longitudinal Fasciculus - MLF) die direkte Verbindung zwischen den Vestibulariskernen im Hirnstamm und den Augenmuskelkernen darstellt, vgl. H.H. Kornhuber 1974, P. Duus 2001). 96 Ein erster Entwurf findet sich bereits in R. Lorente de Nó 1928, S. 118. 97 R. Lorente de Nó 1931, S. 217.

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Bei der „Klarlegung des nervösen Mechanismus“98 konzentrierte er sich wiederum zuerst auf die Lokalisation der zentralen Modulationszentren des vestibulär induzierten Nystagmus. Anhand weitergehender Läsionsstudien ließen sich verändernde Einflüsse auf den Erregungsverlauf an verschiedenen Stellen verorten: In den Vestibulariskernen in der Rautengrube im Hirnstamm erführen die vestibulo-ocularen Reflexe eine erste Modellierung, deren Wesen allerdings unbekannt sei.99 An dieser Stelle trete auch eine Modifikation (des nystagmischen Augenreflexes) durch das Kleinhirn auf.100 Der Formatio retikularis jedoch maß Lorente de Nó die wichtigste Bedeutung für die Modulation und Regulation der vestibulären Erregungen zu101. Es handele sich bei dieser Nervenstruktur um ein Zentrum, das die Reflexantwort aus den eingehenden Erregungen ermittelt: „[Die] Säule der Subst. reticularis [stellt] ein einziges grosses Zentrum [dar], welches sich aus mehreren Neuronensystemen aufbaut. Die Aufgabe dieser Neuronensysteme ist es, das Ineinandergreifen der verschiedenen für die Reflexauslösung massgebenden Erregungen 102

zu ermöglichen“.

Das hier von Lorente de Nó postulierte Hauptzentrum vestibulo-oculärer Reflexmodifikation besitzt bis heute Gültigkeit.103 Eine befriedigende Antwort auf seine Fragestellung nach den Ursachen für den Nystagmus gelang ihm damit je-

98

Ebd, S. 212.

99

Ebd, S. 218, S. 223.

100 Ebd, S. 211. 101 Die Formatio retikularis ist nach Lorente de Nó für das Zustandekommen des Nystagmus unbedingt notwendig, vgl. R. Lorente de Nó 1931; S. 228: In ihr formiere sich der Nystagmusrhythmus (ebd, S. 233); sie sei für das Auftreten der schnelle Phase des Nystagmus verantwortlich (ebd, S. 242) und für die Nachentladung beim Nystagmus. Aber „auch die übrigen Labyrinthreflexe erfahren hier ihre letzte Modifizierung“ (ebd, S. 237). 102 R. Lorente de Nó 1931, S. 237. Lorente de Nó verwarf damit die Idee der Utrechter Schule, dass es in der Formatio retikularis verschiedene voneinander unabhängige Zentren gäbe, die eine jeweils spezifische Aufgabe in der Modifikation der vestibulären Erregung innehätten, ebd S. 227. 103 Der wesentliche Einfluss der Formatio retikularis auf das Zustandekommen der labyrinthären Augenreflexe gilt auch heute noch als unbestritten. Das genaue physiologische Geschehen in der Formatio retikularis bei der vestibulären Reizung der Augenmuskulatur bleibt jedoch weiterhin ungeklärt, vgl. H.H. Kornhuber 1974, V.J. Wilson/ G.M. Jones 1979.

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doch zu dieser Zeit nicht: „Welches der innere Mechanismus der Auslösung des Nystagmus ist, scheint mir bis heute nicht möglich zu bestimmen“.104 Mit der Spezifizierung der Orte der Reflexmodifikation durch Läsionsexperimente waren Lorente de Nós Möglichkeiten der reflexphysiologischen Erforschung der vestibulo-ocularen Abläufe in den späten 1920er bzw. frühen 1930er Jahren ausgeschöpft. Neue Impulse erhielt er erst wieder, als er Anfang der 1930er Jahre Europa gen USA verließ. Dort kam er in Kontakt mit der Elektrophysiologie der Nerven, die sich im englischsprachigen Raum während der 1920er Jahre etablieren konnte (vgl. Abschnitt 2.7), sowie der Reflexphysiologie um Sherrington (vgl. Abschnitt 2.8), der mit C.E.S und C.I.S sein Konzept eines graduellen Erregungszustands der Nerven präzisierte. Unter diesem Einfluss wandelte sich Lorente de Nós Perspektive: Hatte er zuvor die funktionelle Bedeutung von Makrostrukturen im vestibulo-oculären Geschehen qua Reflexstudien top-down zu erschließen gesucht, ergänzte er sie nun um eine bottom-upPerspektive, in der er die beobachteten Charakteristika der vestibulo-oculären Reflexe durch physiologische Prozesse, die in spezifischen neuronalen Vernetzungsmustern ablaufen, zu erklären suchte. An der Schnittstelle dieser Perspektiven entstand seine Hypothese der sich verzweigenden bzw. geschlossenen Neuronenketten (vgl. Abschnitt 2.9).

2.6 L ORENTE

DE

N ÓS AUFBRUCH

IN DIE

USA

Lorente de Nó hatte Uppsala im Sommer 1927 verlassen müssen, um von September bis Juni 1928 in Spanien seinen Militärdienst abzuleisten, fand aber bald Zeit, sich parallel dazu am Instituto de Cajal seiner Forschung widmen zu können. Im Anschluss an den Militärdienst kehrte er für mehrere Monate zu Bárány zurück, bevor er Ende 1928/ Anfang 1929 endgültig Schweden verließ, da ihm eine Stelle als Leiter der Abteilung für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (Otolaryngologie) am neueingerichteten Valdecilla Krankenhaus von Santander, Spanien, angeboten worden war.105

104 R. Lorente de Nó 1928, S. 190. 105 Eigentlich war mit Ramón y Cajal verabredet gewesen, dass Lorente de Nó eine Forschungsstelle am Instituto de Cajal in Madrid zugewiesen bekommen sollte. Der Plan zerschlug sich jedoch buchstäblich „über Nacht“, und Cajal drängte Lorente de Nó, die Arbeit am Valdecilla Krankenhaus anzunehme, vgl. R. Lorente de Nó an Robert Lambert, 15. Februar 1935, Hefter 898, Kasten 75, RG 1.1, Serie 200A, Ro-

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Wie vom Stifter der Klinik gewünscht, verbrachte Lorente de Nó das Jahr 1929 damit, die für die Tätigkeit im Krankenhaus notwendige klinisch-otologische Ausbildung an verschiedenen Universitäten in Europa – u.a. in Madrid, Berlin (für zwei Monate erneut bei Cècile und Oskar Vogt)106, Königsberg und Frankfurt/ Main – zu erlangen. Ab Januar 1930 war er mit der klinischen Arbeit in seiner Hals-Nasen-Ohren-Abteilung vollauf beschäftigt. Als ihm durch Vermittlung von Dr. Alan Gregg, einem ehemaligen Neurophysiologen, und Dr. Richard Pearce von der Rockefeller Foundation New York – mit letzterem war er während seiner Europareise einige Male zusammengetroffen – eine Stelle als Direktor des neu eingerichteten neuroanatomischen Instituts am Central Institut for the Deaf in St. Louis, Missouri, in den Vereinigten Staaten angeboten wurde107,

ckefeller Foundation Archives, RAC. J. Larriva-Sahd 2002, S. 6, deutet an, dass ein nicht einfaches Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen den beiden der Grund dafür gewesen sein könnte, dass Cajal Lorente de Nó zu diesem Zeitpunkt doch keine feste Stelle in seinem Institut angeboten habe. 106 Lorente de Nó hatte im September 1926 mit Báránys Zustimmung seinen Forschungsaufenthalt in Schweden für einen mehrmonatigen Besuch bei Cécile und Oskar Vogt am Kaiser Wilhelm Institut für Hirnforschung in Berlin unterbrochen (bis Februar 1927). Bárány selber war mit den Vogts gut bekannt, unter anderem durch einen Forschungsaufenthalt in Berlin: 1923 hatten sie gemeinsam Reizexperimente zur Lokalisation an der Großhirnrinde von Affen durchgeführt, vgl. R. Bárány/ C./ O. Vogt 1923. Der Besuch Lorente de Nós sollte vor allem Fragen in Bezug auf die Struktur des optischen Cortex klären helfen, über deren Aufbau Bárány und Lorente de Nó unterschiedlicher Meinung waren, vgl. R. Lorente de Nó 1987, S. 12 ff. Daneben nutzte Lorente de Nó die Gelegenheit, um sich Wissen über cytoarchitektonische Methoden anzueignen, die maßgeblich von den Vogts entwickelt und popularisiert worden waren (zur Cytoarchitektonik vgl. z.B. H. Satzinger 1998, M. Hagner 2004). Auf Anregung Oskar Vogts hin verfertigte er zudem eine Studie zur Angiotektonik, der Erforschung des Verlaufs der Blutbahnen und Gefäßverteilung im Gehirn, vgl. R. Lorente de Nó 1927b, 1933f, 1934a. Im CÉCILE und Oskar VOGT-ARCHIV, Düsseldorf, findet sich ein Briefwechsel zwischen Lorente de Nó und der Familie Vogt. 107 Bereits noch während der Verhandlungen der Rockefeller Foundation mit Dr. Max Goldstein vom Central Institut for the Deaf um die Bewilligung des von ihm beantragten Projektes hatte Alan Gregg von Paris aus Lorente de Nó als potentiellen Kandidaten für die im Projekt enthaltene Forschungsstelle vorgeschlagen: „I write to suggest that if the institution for the deaf in St. Louis is looking for a young research man whose abilities have met the highest commendations they might be

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nahm Lorente de Nó mit Freude an, da er sich dort erneut der Forschung widmen konnte. Das neuroanatomische Labor am Central Institut for the Deaf108 hatte zum Ziel, in der Verbindung von neuroanatomischer und klinischer Grundlagenforschung Entwicklungen voranzutreiben, die taub geborenen Kindern direkt oder indirekt zu Gute kommen sollten. Lorente de Nó war aufgrund seiner Forschungsprojekte zu anatomischen und physiologischen Problemen des Innenohrs und dessen Gehirnzentren für diese Stelle qualifiziert, da er neben der Vestibularisforschung und seiner klinischen Erfahrung auf dem Gebiet der otologischen Medizin auch (ab 1927 in Uppsala) mit der Erforschung des Cochlearsystems109 begonnen hatte, besonders dessen nervlichen Feinstrukturen.110 Im April 1931 traf Lorente de Nó in St. Louis ein, seit kurzem verheiratet und begleitet von seiner Ehefrau Hede, geb. Birfeld, der Tochter eines DeutschProfessors an der Universität Madrid. Bald nahm er seine Arbeit auf111, und auch

interested to learn about him [Lorente de Nó, KSB]. [...] [H]is knowledge of labyrinth function and desease is probably unequalled by a man of his generation. Vogt told me that he has the all the earmarks of a genius. My impression of him is an excellent one“ (A. Gregg an Pearce (mit Kopie an Goldstein), 29. September 1929, Hefter 896, Kasten 74, Serie 200A, Central Institute for the Deaf, St. Louis, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC). 108 Das Neuroanatomische Labor war Teil eines Projektes der Rockefeller Foundation am Central Institut for the Deaf. Nach langjährigen Verhandlungen war das Projekt 1930 bewilligt worden. Neben dem neuroanatomischen Labor enthielt es ein spezielles Programm zur Ausbildung von Lehrern für gehörlose Kinder, das in Zusammenarbeit mit der Washington University in St. Louis erarbeitet und durchgeführt wurde. 109 Zum Cochlearsystem zählt der akustische Nerv (nervus cochlearis), ein Teilstrang des VIII. Hirnnerven, sowie dessen Nervenkerne im Hirnstamm. Das Cochlearsystem überträgt die akustischen Reize aus dem Innenohr in das Gehirn. 110 Vgl. R. Lorente de Nó 1987, S.16. Diese Studien kulminierten in zwei wichtigen wissenschaftlichen Publikationen im Jahr 1933, vgl. R. Lorente de Nó 1933c, 1933d, in denen Lorente de Nó die anatomische Feinstruktur der cochlearen Nervenbahnen und -zentren in einer bis dahin unbekannten Komplexität aufzeigte, vgl. auch S. Finger 1994, S.125, M.A. Merchán et al. 1993). 111 „As my special work here, as nowbeing planned by Dr. Goldstein and me, is precisely in the field to which I have devoted many years of intimate study, I believe that I can accomplish something of definite value. The projected work includes the study of anatomical and physiological problems concerning the internal ear and its brain centers. [...] I intend first to complete the results of the study of the histologi-

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die Zusammenarbeit mit dem Leiter des Central Institute for the Deaf Dr. Max Goldstein, dessen Assistent Lorente de Nó zugleich war, verlief anscheinend so gut, dass Dr. Goldstein recht angetan über von seinen neuen Mitarbeiter berichtete: „Dr Lorente is hard at work, has given two excellent lectures to the Seniors of the Training College (also attended by several members of the faculty including myself), is much impressed by the opportunities of Central Institute and seems to be happy [...]. I see in him a substantial asset for the Central Institute.“

112

Über das Central Institut for the Deaf kam Lorente de Nó bald in Kontakt mit der Medizinischen Fakultät (Abteilung für Otolaryngologie) der nahegelegenen Washington University in St. Louis, da enge Kooperationen zwischen den beiden Institutionen bestanden.113 Dennoch sollte ein Jahr vergehen, bis auch die Physiologen dieser Einrichtung auf den spanischen Wissenschaftler aufmerksam wurden.114 Die Bekanntschaft mit Männern wie Joseph Erlanger (1874-1965) oder George Holman Bishop (1889-1973) und Herbert Gasser (1888-1963) katapultierte Lorente de Nó mitten hinein ins Zentrum elektrophysiologischer Forschung. Hier lernte er die neuesten Ansätze in der Erforschung des Verhaltens singulärer Nervenzellen (peripher und zentral) und in der elektrophysiologisch inspirierten Reflexphysiologie um Sherrington kennen, die ihn zur Entwicklung

cal anatomy of the labyrinth and of the acoustic centers in the brain, which I began in Europe. I plan soon to publish a number of monographs. I shall continue the physiological problems“ (R. Lorente de Nó an Gregg, 25. Mai 1931, Hefter 896, Kasten 74, Serie 200A, Central Institute for the Deaf, St. Louis, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC). 112 M. Goldstein an Stevens, 25. Mai 1931, Hefter 7165, Kasten 695, Series I, SubSeries V, GEB (General Education Board), RAC. 113 „Last week was the first scientific seminar in the Department of Oto-laryngology of Washington University Medical School and Dr. Lorente demonstrated beautifully his work in conjunction with nystagmus and muscle movement in the eye of a rabbit. He [...] was splendidly received by a large group of research workers gathered at the meeting“ (M. Goldstein an Gregg, 21. Oktober 1931, Hefter 896, Kasten 74, Serie 200A, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC). 114 „[N]either Gasser, Gilson nor myself for instance knew he [Lorente de Nó] was in town for nearly a year after he arrived, although he was working only two blocks away“ (G.H. Bishop an Lambert, 25. Februar 1935, Hefter 898, Kasten 75, Serie 200A, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC).

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seines neuronalen Integrationsmechanismus zweier Typen von Neuronenketten führten.

2.7 D IE E LEKTROPHYSIOLOGIE

DER

N ERVEN

„In fact we may conclude that the electrical method can tell us how the nerve fiber carries out its function as the conducting unit of the nervous system, and that it does so by reactions of a fairly simple type.“ E.D. ADRIAN 1932, S. 21. „Knowledge of the structure of the nervous system is indeed very far from complete; its functions are but dimly understood. Neurophysiology is an infant just beginning to toddle and walk.“ I.S. Wechsler 1941, S. 800.

Mit der Elektrophysiologie entstand in den späten 1910er Jahren eine erfolgreiche Methode, um das Erregungsverhalten singulärer Nerven genauer zu erkunden: Die Fortleitung der nervösen Erregung (Conduction) wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die Haupttätigkeit des Nervensystems wahrgenommen. Seit den Entdeckungen von Emil du Bois-Reymond und Hermann Helmholtz um die Mitte des 19. Jahrhunderts war es bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein jedoch nicht gelungen, genauere Erkenntnisse über die Erregungsleitung in Nervenzellen und -fasern zu erlangen. Wie Frank115 in seinem Artikel anschaulich herausgearbeitet hat, befanden sich die physikalischen Größen hart am Rande messtechnischen Erfassbarkeit der damaligen Zeit. Die Physiologen postulierten hypothetische Entitäten, Nervenimpulse genannt, die mit einer Geschwindigkeit von 20-30 m /sec die Nervenfasern passierten und dabei von elektrischen Veränderungen in der Größe von 0,1 Volt begleitet wurden. Erst in den 1910er Jahren gelangen Fortschritte im Verständnis des Erregungsverhaltens der Nerven als elektrisch messbarem Phänomen. Maßgebliche Neuerungen brachten die Experimente des britischen Physiologen Keith Lucas (1879-1916) und seines Schülers Edgar Douglas Adrian (1889-1977). Lucas gelang es, in Muskelreizexperimenten das „alles-oder-nichts“-Verhalten der Mus-

115 R.G.Jr. Frank 1994.

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keln nachzuweisen: Der Muskel kontrahiere bei ausreichender Reizung oder gar nicht. Seinem Schüler Adrian überließ Lucas den Nachweis dieses Verhaltensprinzips an peripheren axonalen Nervenbahnen. Auf Grundlage seiner Beobachtungen (elektrophysiologische Messungen an Nerv-Muskel-Präparaten unter Einwirkung biochemischer Substanzen) gelang Adrian die sogenannte „allesoder-nichts“-Regel für das Verhalten peripherer motorischer Nervenbahnen (Axone) zu etablieren: Wenn ein genügend großer Stimulus den Schwellenwert der Erregung des Nervs erreiche, feuere die Nervenzelle einen Impuls ab. Der ausgesendete Impuls sei maximal und von konstanter Größe, und zwar unabhängig von der Größe des vorangegangenen.116 Danach träte eine Zeit der Nichtstimulierbarkeit auf, gefolgt von einer Phase mit erhöhtem Schwellenwert der Erregung, absolute und relative Refraktärzeit genannt. Mit ihren Experimenten legten Lucas und Adrian117 den Grundstein zu einem elektrophysiologischen Zugang zum Nervensystem, der sich in seiner Beschränkung auf das messbare Verhalten der Nervenbahnen und -zellen als ein sehr erfolgreicher Ansatz erwies. Nicht mehr die Gesamtheit der physiologischen Lebensphänomene wurde in den Blick genommen, sondern das Verhalten der Nerven wurde – auf Grundlage ihrer Fähigkeiten sich in Nervensegmenten auszudehnen oder narkotisierte Strecken zu überwinden – als sich fortpflanzende „propagated disturbance“ erfasst.118 Das Jahrzehnt nach Adrians Entdeckung sah viele experimentelle und technologische Errungenschaften119, so dass sich das „alles-oder-nichts“-Verhalten

116 Vgl. E.D. Adrian 1912, 1914. Adrian arbeitete nicht als einziger an dem Nachweis des „alles-oder-nichts“-Leitungsverhaltens von axonalen Nervenfasern. Bereits wenige Monate vor Adrian hatte Max Verworn auf Grundlage eines ähnlichen arrangierten experimentellen Aufbaus die „alles-oder-nichts“-Regel des Verhaltens peripherer Nerven bei Fortleitung von Erregung postuliert (M. Verworn 1913), eine Angelegenheit, die Adrian anerkannte, vgl. E.D. Adrian 1933. 117 K. Lucas 1917. 118 Vgl. R.G.Jr. Frank 1994. 119 Beispielsweise wurde der Nachweis der „alles-oder-nichts“-Regel nicht nur an motorischen, auch in sensorischen Nerven erbracht (vgl. E.D. Adrian/ A. Forbes 1922). Eine Ableitung der elektrisch messbaren Aktivitäten in einer einzigen (!) peripheren Nervenfaser gelang erstmals Adrian 1926 (vgl. R.G.Jr. Frank 1994). Diese Arbeiten brachten ihm 1932 gemeinsam mit Charles S. Sherrington den Nobelpreis ein. Experimentell arbeitete man wie folgt: Die nervöse Erregung hervorgerufen durch elektrische Stimulation wurde messtechnisch erfasst (entweder am freipräparierten singulären peripheren Nervenstrang oder am Nerven-Muskel-Präparat mit dem ske-

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innerhalb weniger Jahre als gültige Regel neuronaler Impulstransmission etablieren konnte.120 Getragen wurde diese elektrophysiologische Erforschung der Nervenfunktion auch von der Entwicklung und dem Einsatz adäquater Instrumentarien, die eine Verstärkung der elektrisch messbaren Reize (der Radio-Verstärker beispielsweise kann schwache Signale vervielfachen ohne bedeutende Änderungen an deren Form- oder Zeitrelation) sowie deren graphische Darstellung ermöglichte (mit dem Kathodenstrahl-Oszillograph, einem sensitiven graphischen Repräsentationsinstrument, das die elektrischen Aktivitäten als Funktion der Zeit abbildet).121 Die Ausschläge der Messinstrumente wurden als Repräsentation nervöser Aktivitäten, den sogenannten Aktionspotentialen, verstanden, aus denen man Rückschlüsse über das individuelle Verhalten der Nervenbündel ziehen konnte: „[Our] knowledge of nerve must be gained from a correlation of the manifestations of its activity. As the action potential is the one manifestation that defines precisely the time at which the events having potential signs occur, it logically becomes the manifestation most suitable for common reference.“122

Neben den photographischen Abbildungen konnte man den nervösen Aktivitäten auch direkt auf dem Bildschirm der Kathodenstrahloszillograph zuschauen, „as if by a physiological television apparatus“.123 Innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren hatte die visuelle Repräsentation der Erregung in Form von Höhe, Gestalt und Dauer der Wellenformationen das verbal formulierte, qualitative Verständnis des „alles-oder-nichts“-Prinzips eines Edgar Douglas Adrian vollständig ersetzt. Der Washington School for Medicine, Abteilung für Physiologie, in St. Louis/ USA, gelang es, sich Anfang der 1920er Jahre neben dem britischen Cambridge als eines der Zentren zu etablieren, die mithilfe neuer Technologien erfolgreich die Leitungseigenschaften von peripheren Nervenfasern erforsch-

lettalen Muskel als sichtbarem Effektor der Wirkung stimulierter Nervenbahnen). Auf dieser Basis wurden Rückschlüsse über das Verhalten der Nerven bei der Erregungstransmission gezogen. 120 Vgl. A. Forbes 1939, R.G.Jr.Frank 1994, T.H. Abraham 2003b. 121 Vgl. B.H.C. Matthews 1928, E.D. Adrian 1932, G.H. Bishop 1934; zur genaueren Beschreibung der Funktionsweise des Oszillographen vgl. N.R. Carlson 1977. 122 H. Gasser in J. Erlanger/ H. Gasser 1937, S. 159. 123 G.H. Bishop 1934. Ich danke Cornelius Borck für den Hinweis auf diesen Artikel.

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ten.124 Der Physiologe Joseph Erlanger und sein jüngerer Kollege Herbert Gasser erfassten unter dem innovativen Einsatz eines elektronischen VakuumröhrenVerstärkers die elektrischen Charakteristika der Nervenerregungswellen peripherer Froschnerven.125 Anknüpfend an die These des schwedischen Physiologen Gustav Göthlins von 1907, dass die Durchleitgeschwindigkeit nervöser Erregung vom Durchmesser der Nervenbahnen abhänge, konnten sie in den folgenden Jahren die Beziehung der Histologie der Nervenfasern zu den fundamentalen funktionalen Eigenschaften der Nerven im Faserspektrum peripherer Nerven von Landwirbeltieren aufzeigen. Sie unterschieden drei Nervenfasertypen, die in ihrem Verhalten unterschiedliche Eigenschaften aufwiesen, z.B. in Bezug auf Leitungsgeschwindigkeit, die Größe und Fortdauer des Impulses, die Länge der Refraktärzeit oder die Größe der Erregungsschwelle. Die differenzierten Messungen der Leitungseigenschaften führten zu einer differenzierteren Sichtweise auf die Funktionsweise des Nervensystems, wofür Erlanger und Gasser 1944 der Nobelpreis in Physiologie und Medizin verliehen wurde.126 Die elektrophysiologische Forschung widmete sich während der 1920er Jahre vorrangig dem Verhalten peripherer Nerven. Als die eigentliche Herausforderung und das eigentliche Ziel galt jedoch die Einsicht ins zentrale Nervensystem: Besitzen die zentralen Nerven dasselbe Erregungsverhalten, das in peripheren Nerven nachgewiesen werden konnte? Die Elektrophysiologie versuchte sich hier besonders am Gehirn. Die Vielfalt der damaligen Forschungsansätze zu diesem Thema ist bislang noch nicht aufgearbeitet worden. Die Schwierigkeiten der Forschergruppen liegen vor allem im Untersuchungsgegenstand selbst begründet. Zwar erwies es sich als verhältnismäßig einfach, Veränderungen der Erregungspotentiale im Gehirn zu messen127: „The electrical changes in the cerebral cortex should provide the most direct index of its activities. They seem to correspond with the electric changes in muscle and nerve, for they have the same rhythmic character and they are present whenever the brain is known to be active. [...] In theory, therefore, it should be possible to learn what is happening in any part

124 Vgl. Übersichtsartikel L.H. Marshall 1987. 125 Vgl. z.B. H. Gasser/ J. Erlanger 1922, J. Erlanger/ G.H. Bishop/ H. Gasser 1926a, 1926b, J. Erlanger/ H. Gasser 1937. 126 Vgl. L.H. Marshall 1983. 127 Vgl. H. Davis 1936, E.D. Adrian 1936.

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of the brain by recording the potential changes in that part. There is no difficulty recording them“.128

Das Problem bestand jedoch darin, die Messungen angemessen zu analysieren: „At present the limitation of this type of work is probably the complexity of the brain itself; if too many things are happening at once and at the same place, it will be impossible to sort them out“.129 „[U]nfortunately such electrical recordings from the brain are not yet of much value, for we lack most of the data needed to interpret them. We do not know what kind of cortical activity is revealed by a given potential change, for we do not know what kind of activity is possible, what structures are responsible for the potential changes, or how excitation spread from one neurone to another“.130

Denn die zentralen Verbindungszellen im Nervensystem, die sogenannten „Internuntials“ oder Interneuronen, die weder sensorische noch motorische Funktionen erfüllen, sondern allein der Impulsvermittlung im Gewebe dienen, sind den Messungen nicht direkt zugänglich. Das Freipräparieren singulärer Nervenbahnen zu Untersuchungszwecken, wie es bei der Analyse peripherer nervöser Abläufe die Regel war (verbreitete Forschungsobjekte bildeten hier der skiatische Nerv des Frosches und der peritonale Nerv der Katze131), konnte an zentralen, besonders corticalen Nerven, aufgrund geweblicher Besonderheiten nicht durchgeführt werden: „In analysing the electrical records obtained from the activity of peripheral nerve trunks, conditions may be much simplified by removing the nerves in question from the body, but this is not feasible in recording the activity of the cerebral cortex of higher animals, owing to the much greater dependence of the activity of the nerve cell upon blood supply“.132

Einen Ausweg aus der misslichen Lage suchte man über das Studium des Verhaltens zentralnervöser Teilsysteme. Die Herausforderung solch experimenteller Studien am zentralen Nervensystem bestand darin – analog den reproduzierbaren

128 E.D. Adrian 1936, S. 127. 129 G.H. Bishop 1934, S. 130. 130 E.D. Adrian 1936, S. 127. 131 Vgl. R.G.Jr.Frank 1994. 132 S.H. Bartley/ G.H. Bishop 1933b, S. 173.

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Arbeitsbedingungen in der peripheren Neurophysiologie –, ein stabiles, umgrenztes Experimentalsystem innerhalb der komplexen Nervenstruktur zu erzeugen, so dass die gesammelten Daten Aufschlüsse über die Funktionsweise dieses gezielt isolierten Teilsystems geben konnten.133 Mit der wachsenden Verfeinerung und den gewonnenen Erfahrungen im Umgang mit den elektrophysiologischen Experimentaltechniken am peripheren Nerv wagten sich verschiedene amerikanische Gruppen um 1930 an die elektrophysiologische Erkundung zentralnervöser Vorgänge im Gehirn, so beispielsweise die Gruppen um Hallowell Davis und um Lee Edward Travis an der Harvard Medical School, die versuchten, die periphere Sinnesphysiologie auf die corticale Repräsentation von sensorischen Signalen auszuweiten.134 Auch die Washington School in St. Louis war auf diesem Feld vertreten. Der Ingenieur und Zoologe Georg Holman Bishop (1889-1973)135 beispielsweise, der später auch mit Lorente de Nó zusammenarbeiteten sollte, führte gemeinsam mit Howard Bartley umfangreiche elektrophysiologische Ableitungen am optischen Cortex durch, in denen sie die Auswirkungen gezielter evozierter Reize in den afferenten optischen Bahnen im optischen Cortex maßen. Über die elektrischen Erregungsverläufe in den Elementen des optischen Traktes gelangen ihnen Einblicke in die physiologischen Grundlagen des Sehvorgangs.136 Während solcherlei Experimente Einsicht in das Erregungsverhalten zentraler Teilstrukturen des Gehirns gewährten, verblieben Untersuchungen des Verhaltens einzelner Faserstränge bzw. singulärer Nervenzel-

133 Ich danke Cornelius Borck für das Gespräch über Versuche einer Etablierung von Experimentalsystemen mit dem Ziel der elektrophysiologischen Erforschung des Gehirns in den USA der frühen 1930er Jahre. 134 Vgl. K.S. Lashley 1929, S.H. Bartley 1933. 135 Als Erlangers Assistent war George Bishop in die Experimente Erlanger und Gassers einbezogen worden, als sich Gasser ab 1923 für zwei Jahre zu Forschungszwecken in Großbritannien aufhielt. Bishop entwickelte sich in dieser Zeit rasch zum eigenständigen Wissenschaftler. Unstimmigkeiten führten 1929 zu einer Aufkündigung der vormals erfolgreichen Kollaboration der drei Elektrophysiologen und zu einem Wechsel Bishops an das Ophtalmologische Institut in St. Louis, wo er gemeinsam mit Kollegen wie S. Howard Bartley sein Wissen aus den elektrophysiologischen Messungen an peripheren Axonen auf das Studium des optischen Nervensystems übertrug, vgl. L.H. Marshall 1983. 136 Vgl. z.B. G.H. Bishop/ S.H. Bartley 1932 a, b, 1934, S.H. Bartley/ G.H. Bishop 1933 a, b, G.H. Bishop 1933, 1935, 1936, J.L. O`Leary/ G.H. Bishop 1938.

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len und deren Interaktion jedoch jenseits der Möglichkeiten dieser Experimentalsysteme.137 So stellte sich um die Mitte der 1930er Jahren die Frage nach den individuellen Erregungszyklen zentraler Nerven nach wie vor unklar dar: „We face here an important problem concerning the phenomena of central excitation, about which we really know very little“138. Bis zum Beweis des Gegenteils bzw. des experimentellen Nachweises wurde die Vorstellung des „alles-oder-nichts“-Verhaltens peripherer Nerven auf die zentralen Erregungsprozesse übertragen.

2.8 C.E.S. UND C.I.S. Die aufblühende Elektrophysiologie inspirierte auch die Reflexphysiologen um Sherrington zu neuen Untersuchungen. Auch sie waren an dem Verhalten zentraler Nervenzellen interessiert, allerdings mehr mit dem Fokus auf deren regulative Funktionen. Wie schafft es ein Motorneuron, die unterschiedlichen internen Impulse zu einer Reflexantwort zu integrieren? Ab Mitte der 1920er Jahre eröffnete Sherrington mit Physiologen wie John F. Fulton, Richard S. Creed, Derek Denny-Brown und John C. Eccles ein neues Kapitel der Reflexphysiologie139. Um Sherringtons These der Integration von Bahnungs- und Hemmungsprozessen im spinalen Nervensystem errichteten sie eine durch die Elektrophysiologie inspirierte Neuauflage eines älteren Forschungsprogramms.140 Das verwendete Experimentalsystem an spinalen Refle-

137 Ein andersgelagerter Ansatz, corticale Aktivitäten zu erfassen, um tiefer in die Geheimnisse der Funktionsweise der Gehirns einzudringen, entstammt dem Jahr 1929: Das Elektroencephalogramm (EEG) wurde von Hans Berger in Berlin entwickelt. In der Traditionslinie der cerebralen Lokalisation von Eigenschaften und Fähigkeiten wurden in den 1930er EEG-Messungen der corticalen Erregungsströme durchgeführt, in der die unterschiedliche Morphologie der Gehirnströme (Erregungsableitungen von Hirnarealen) mit verschiedenen mentalen Aktivitäten korreliert wurde. Diese experimentelle Technik breitete sich auch ab Mitte der 1930er Jahre als erfolgversprechend in den USA aus, vgl. M.A.B. Brazier 1961, L.H. Marshall 1987, ausführlich C. Borck 2005. 138 D.W. Bronk 1936. 139 Vgl. J.F. Fulton 1938. 140 Vgl. C. Sherrington 1925, J.F Forbes 1929, J.F. Forbes et al. 1930, J.C. Eccles/ C. Sherrington 1931, J.C. Eccles/ C. Sherrington 1931/32, R.S. Creed et al. 1932. Die Konzepte C.E.S. und C.I.S. übten in dieser Zeit weitreichenden Einfluss auf die

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xen hatte bereits in den Jahrzehnten zuvor Einsichten in die elementaren Abläufe der reflektorisch induzierten Muskelbewegungen und die Grundkoordination der Muskeln bei Bewegungsabläufen geleistet (Gesetz der reziproken Innervation, gekreuzter Streckreflex). Jetzt suchte man in der Interpretation der Beziehung zwischen a) gesetzten elektrischen Reizen und der daraus resultierenden muskulären Reaktion und b) elektrischen Ableitungen an den efferenten Nerven die Prinzipien der Reflexsteuerung in den Motorneuronen zu erhellen. (Die Motorneuronen und ihre Dendriten werden dem zentralen Nervensystem zugerechnet; ihre Axone jedoch stehen in Verbindung mit den Muskeln und gehören dem peripheren Nervensystem an). Bereits Anfang des Jahrhunderts hatte Sherrington die These vertreten, Reflexbewegungen seien das Ergebnis einer synaptischen Verrechnung erregender und hemmender Erregungen (vgl. Kapitel 1). Diese These war vom Elektrophysiologen Lucas bestärkt worden,141 der die nervöse Konduktion im zentralen Nervensystem analog derjenigen im peripheren betrachtete und folglich Reflexphänomene wie Bahnung, Summation, Hemmung, Nachentladung als nichts anderes als ein Ergebnis der Erregungstransmission zwischen den Zellen betrachtete. Unter den Begriffen C.E.S. (central excitatory state) und C.I.S. (central inhibitory state) für neuronale Bahnungs- und Hemmungsprozesse entwickelte nun Sherrington ein konzeptionelles Instrumentarium, das die Regulation von Erregungsprozessen in den zentralen Motorneuronen beschrieb. (Das Soma der Motorneuronen ist die letzte zentralnervöse Station der Verrechnung verschiedener Erregungen zur Reflexproduktion in Sherringtons „final common path“, vgl. Kapitel 1). Mit ihren Untersuchungen des Verhaltens der spinalen (von Spinum = Rückenmark) Motorneuronen und deren Bedeutung für die Ausprägung von Muskelreflexen der Gliedmaßen erfuhr während der 1920er und 1930er Jahre die Vorstellung vom Nervensystem als einem Netzwerk von interagierenden Nervenzellen experimentell erneut Aufmerksamkeit.

Vorstellungen zentralnervöser Erregungsregulation aus, vgl. J.F. Fulton 1926, S.R. Ranson/ J.C. Hinsey 1930, R. Lorente de Nó 1939, S. 417/418. 141 „Are we to suppose that the central nervous system uses some process different from that which is the basis of conduction in peripheral nerves, or is it more probable that the apparent differences rest only on our ignorance of the elementary facts of the conduction process? If we had a fuller knowledge of conduction as it occurs in peripheral nerve, should we not see inhibition, summation, and after-discharge as the natural and inevitable consequences of the one conduction process working under conditions of varying complexity?“ (K. Lucas 1917 zitiert in J.C. Eccles 1970, S. 395 bzw. J.F. Forbes 1929, S.147).

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Die Physiologen um Sherrington untersuchten die Reflexe anhand der Muskelkontraktionen der Gliedmaßen. Diese sind von allen zentralen Vorgängen experimentell am leichtesten zugänglich; zugleich lassen sich die beteiligte Erregungsprozesse vergleichsweise gut kontrollieren. Unter rigider Kontrolle der Versuchsbedingungen wurden die basalen Elemente koordinierter Bewegungen, „Beugen“ bzw. „Strecken“ („Flexion“ bzw. „Extension“), untersucht.142 Die Tiere wurden enthirnt oder das Rückenmark bzw. die Hirnzentren je nach experimentellem Fokus an verschiedenen Stellen durchtrennt (z.T. wurden Läsionen auch an enthirnten Tieren durchgeführt), um Einflüsse jeweils höherer Zentren auszuschließen.143 Das reflektorische Geschehen an der Beuge- bzw. Streckmuskulatur wurde durch eine Denervierung der umliegenden Muskulatur, der Hautsensoren und der Nerven auf die zu untersuchende motorische Einheit reduziert, und das Verhalten dieses solchermaßen isolierten Muskels auf gezielte Reizung (elektrisch oder manuell) hin beobachtet und messtechnisch aufgezeichnet (Myograph, elektrische Erregungsmessung). Die Analyse der Messergebnisse erfolgte anhand der funktionellen Kategorien C.E.S. (central excitatory state) und C.I.S. (central inhibitory state). In Anlehnung an den „local excitatory state“, einem von Keith Lucas 1910 beschriebenen Phänomen der Summation und Erregungsverstärkung in peripheren Nerven bezeichnete Sherrington C.E.S. als die über einen Zeitraum anhaltende Summation von durch subliminale Erregung erzeugtem „E“ – einem erregenden Agenten, der bei der Akkumulation einer ausreichenden Menge zu einer Erregungstransmission führe. Analog dazu entwarf er das Bild eines Hemmungsmechanismus C.I.S. Dieser sich temporal an den Motorneuronen summierende Agent wurde als „I“ bezeichnet.144 C.E.S. und C.I.S. wurden als einander oppo-

142 Vgl. R.S. Creed et al. 1932, S. 104, J.F. Fulton 1938, S. 55. 143 Vgl. A. Forbes 1929, S. 148, J.C. Eccles/ C. Sherrington 1931/1932, R.S. Creed et al. 1932, J.F. Fulton 1938. 144 Besonders für Sherrington blieb die Natur der C.E.S und C.I.S zugrundeliegenden Mechanismen den funktionellen Prozessen der experimentellen Befunde nachgeordnet. Wenn, dann war er am ehesten der von Forbes vertretenen Vorstellung einer sich anhäufenden chemischen Substanz oder biochemischer Prozesse in der synaptischen Membran zugeneigt. Diese Haltung war kennzeichnend für ihn: „[Sherrington’s] outlook was always physiological in the sense that the ‚how‘ of events was what interested him. He deprecated the question ‚why‘. [...] The physiologist cannot say why a muscle contracts, nor define life. To dogmatize concerning the ‚why‘ of a bird’s flight implies the knowing the ‚why‘ of the bird’s existence.“ (C. Sherrington in D. Denny-Brown 1957, S. 546). Das „Warum“ lag für ihn außerhalb der damals

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nierende aktive Prozesse verstanden, die sich in den Motornerven algebraisch neutralisieren können, und dadurch regulierend auf den Reflexablauf einwirken145. Auch wenn Sherrington anfangs bei der Einführung von C.E.S und C.I.S keinerlei Vermutungen über deren Lokalisierung äußerte146, wurden diese Phänomene bald in der Synapse verortet.147 Im Verlauf der Forschung etablierte sich die Annahme, dass sich C.E.S und C.I.S nicht nur temporär, sondern auch räumlich an den Motorneuronen summieren würden, ein Umstand, der aus den anatomischen Gegebenheiten abgeleitet wurde, da eine Motorzelle zumeist eine Vielzahl synaptischer Anbindungen besitzt, an denen zeitgleich Impulse anliegen können. Die Gruppe um Sherrington übertrug ihre Ergebnisse zum Verhalten von Motorneuronen auf das nervöse Erregungsverhalten des gesamten zentralen Nervensystems und aktualisierte die im späten 19. Jahrhundert entfaltete Vorstellung der Erregungsregulation in dynamischen Nervennetzen. Bahnung und Hemmung wurden in Form von C.E.S und C.I.S als generelle Eigenschaft zentraler Nervenzellen postuliert, die aufgrund algebraischer Summation graduelle Unterschiede in der Erregung ermöglichten: „In the same way there is no reason to deny the possibility of graded states of inhibition and excitation existing locally in the central nervous system and determining the frequency of rhythmic discharge from nerve cells“.148 Während hemmende Pro-

möglichen menschlichen Erfahrungs- und Verständnismöglichkeiten (z.B. C. Sherrington 1906, S. 235). Daher übte er nicht nur in Bezug auf einen Erklärungshintergrund physiologischer Phänomene Zurückhaltung, sondern verhielt sich auch abwartend bis abweisend gegenüber der Frage nach dem Verhältnis zwischen Geist und Körper, vgl. Kapitel 1, näheres auch in R. Smith 2002. 145 Vgl. J.C. Eccles/ C. Sherrington 1931/1932. 146 Vgl. C. Sherrington 1925. 147 Vgl. z.B. A. Forbes 1929, J.C. Eccles/ C. Sherrington 1931, S.529, J.C. Eccles/ C. Sherrington 1931/32. Die Synapse als der Ort zentralnervöser Erregungsregulation hatte sich im Verlauf der 1920er Jahren verfestigen können. Allerdings war die experimentelle Evidenz dafür immer noch gering: „The fundamental importance of the synapse seems a logical conclusion, yet we must bear in mind [...] that the properties of the synapse are still entirely hypothetical“ (K.S. Lashley 1929, S. 541). Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht vollständig geklärten Morphologie der Nervenzelle, Stichwort: kontinuierliches Geflecht oder autonomes Nervenelement vgl. Kapitel 1, wurde vereinzelt die Existenz der Synapse sogar in Frage gestellt, vgl. z.B. O.W. Tiegs 1927. 148 E.D. Adrian 1933, S. 754.

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zesse kaum weiter konkretisiert wurden, fand eine Spezifizierung der Summationsprozesse in Anlehnung an die experimentellen Ergebnisse im Spinum statt: Summation ergäbe sich im zentralen Nervensystem aus dem hypothetischen räumlichen und zeitlichen Arrangement des Geschehens in vernetzten Nervenzellen: „In regions where several paths converge there is the possibility of spatial as well as temporal summation, the simultanious arrival of several impulses producing a greater effect than the arrival of one alone“.149 Zeitliche Summation vollzöge sich, wenn zwei oder mehr Impulse kurz hintereinander aufträten, räumliche beim Eintreffen der Erregung an verschiedenen Punkten am Zellkörper oder Dendriten. Darauf aufbauend wurde die vom dem Ende des 19. Jahrhunderts bekannte Vorstellung einer Regulation des Nervensystems aufgrund variabler Zustände seiner Elemente ausformuliert: Die Erregung träfe auf Nerven in unterschiedlichen Stadien der Bahnung bzw. Hemmung und zeitige durch ihren Einfluss auf die graduell abgestuften, funktionellen Erregungszustände der Nerven ihrerseits Auswirkungen auf den Erregungsfluss nachfolgender Impulse.150 Obwohl sich in der Physiologie (nicht nur in der Elektrophysiologie) gegen Ende der 1920er bzw. zu Beginn der 1930er Jahre die Hinweise häuften, dass die Abläufe im zentralen Nervensystem komplexer waren, als eine Ansammlung einfacher Reflexbögen es je sein könnte, war eine Vorstellung vom Nervensystem als einer dynamischen Interaktion vernetzter Nervenzellen, die zudem variable Zustände der Erregung annehmen konnten, wie sie die Gruppe um Sherrington vertrat, eher selten. Das allgemeine Bild von der Gesamtorganisation des Nervensystems war immer noch geprägt durch die Vorstellung des 19. Jahrhunderts, die das Nervensystem mit einer Telefonzentrale verglich.151 Ein Grund hierfür mag in dem Umstand liegen, dass die Allgemeinheit der Physiologen damals eher mit der Erforschung der elementaren Prozesse beschäftigt war als mit einer Synthese ihrer Ergebnisse. Das Nervensystem galt daher noch Ende der 1920er Jahre vor allem als eine „elektrische Schaltvorrichtung zwischen Reiz und Reaktion“.152

149 Ebd., S. 754. 150 G.T. Brown 1916, A. Forbes 1929, A. Forbes et al 1930, E.D. Adrian 1933, C. Sherrington 1933, H. Gasser in J. Erlanger/ H. Gasser 1937. 151 Vgl. O. Breidbach 1997, S. 160 ff. 152 D. Draaisma 1999, S. 189.

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N ÓS S YNTHESE

Die beschriebenen elektro- und reflexphysiologischen Experimentalsysteme zur Untersuchung zentralnervösen Verhaltens der 1920er und frühen 1930er Jahre ließen sich leider nicht auf die Lorente de Nó umtreibende Frage nach den neuronalen Integrationsmechanismen hinter den vestibulo-ocularen Reflexen übertragen. Denn jede vestibulo-oculare Reflexantwort ist von einer ausreichenden labyrinthären Stimulation abhängig, die die Augenmuskelkerne vermittelt über mehrere Verbindungen erreicht. Diese Umstände erlaubten Lorente de Nó keine genaueren experimentellen Rückschlüsse darauf, wie die genaue Ausprägung der vestibulo-oculären Reflexe zustande kommt, etwa durch eine experimentelle Isolation der motorischen Einheit der Augenmuskulatur analog den spinalen Reflexexperimenten der Gruppe um Sherrington. Denn Einflüsse aus anderen Hirnzentren auf die Ausprägung dieser Reflexe konnten nicht ausgeschlossen werden, wohingegen genau solche „Störungen“ bei Sherringtons experimenteller Isolation der Motorneuronen gerade verhindert wurden. Dennoch inspirierten die Ergebnisse der Elektrophysiologie und Reflexphysiologie Lorente de Nó maßgeblich bei der Beantwortung seiner Frage nach den Mechanismen hinter den vestibulo-ocularen Reflexen: Die Resultate seiner eigenen Reflexstudien suchte er auf Grundlage seiner parallel dazu angefertigten histologischen Präparate153 zu erklären. Bei seiner Deutung griff er auf das von der Elektrophysiologie postulierte Verhalten internuntialer Nervenzellen („allesoder-nichts“) bzw. auf das durch Sherrington präzisierte Konzept der graduellen Bahnung und eventuell auch auf das der Hemmung zurück (C.E.S bzw. C.I.S.).

153 Parallel zu seinen reflexphysiologischen Experimenten hatte Lorente de Nó im Verlauf der 1920er Jahre Präparate angefertigt, die ihm Einblick in die neuronale Feinstorganisation der jeweilig beteiligten Hirnregionen gewährten. So enthalten Lorente de Nós Veröffentlichungen aus dem Jahr 1926 beispielsweise Studien zur Anatomie des Nervus vestibularis, einem Teil des achten Hirnnervs, der für die Übertragung der Reize von Gleichgewichtssinn zu den Vestibulariskernen im Hirnstamm sorgt, sowie der strukturellen Einbettung dieser Vestibulariskerne, vgl. R. Lorente de Nó 1926 a, b. Einen Großteil seiner in diesem Zeitraum erarbeiteten histologischen Studien zum Gleichgewichtssystem veröffentlichte er jedoch erst in späteren Jahren, vgl. Lorente de Nó, report work Lorente de Nó 1934, S. 2, Hefter 897 Kasten 74, Serie 200A, RG1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC. Damit folgte er einer durch ausüblichen Praxis, neuroanatomische Präparate über einen längeren Zeitraum zu sammeln und die Ergebnisse zu einem Zeitpunkt zu veröffentlichen, wenn sie auf einer großen Datenmenge basierten.

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Den Ausgangspunkt für die Formulierung der Neurononenketten als grundlegendem neuronalen Interationsmechanismus im zentralen Nervensystem bildete die Frage nach der Entstehung nystagtischer Nachentladung der Augen (auch Nachreaktion oder „prolonged-After-Discharge“ genannt), eine spezifische Reflexreaktion nicht nur der vestibulo-ocularen Reflexe (vgl. Abschnitt 2.9.1). Hier publizierte Lorente de Nó erstmals die Idee der Zirkulation in geschlossenen Nervenformationen als zugrunde liegenden Mechanismus. In einer Verallgemeinerung seiner Beobachtungen folgte als nächster Schritt sein Postulat geschlossener Neuronenketten als einem allgemeinen Mechanismus der Reflexsteuerung und als neuronalem Integrationsmechanimus der Erregungsmodulation im Cortex (Abschnitt 2.9.2). In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre entwickelte er dann ein eigenes Experimentalsystem zur elektrophysiologischen Erforschung der vestibulär induzierten Augenreflexe, mit dem er nun selbst als Elektrophysiologe das Verhalten ocularer Motorneuronen im Erregungszyklus untersuchte (Abschnitt 2.8.3), um seine Thesen zu den Neuronenketten abzusichern. 2.9.1 Zirkulation als neuronaler Integrationsmechanismus der reflektorischen Nachentladung Im Spätsommer 1929 hatte Lorente de Nó in Uppsala mit Artur Blohmke, einem Professor für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde aus Königsberg, auf Báránys Anregung hin an elektrischen Reizexperimenten zur Auslösung des vestibulären Nystagmus, dem sogenannten „elektrischen Nystagmus“, zu arbeiten begonnen, der um 1912 von Bechterew entdeckt worden war.154 Den beiden Wissenschaftlern gelang es nacheinander, durch die elektrische Reizung einer Neuronengruppe in der Formatio retikularis einen über die Dauer der direkten Reizung signifikant verlängerten Nystagmus auszulösen. Lorente de Nó schrieb: „Dieses Neuronensystem hat also anscheinend die Fähigkeit, einen Reiz mit lange andauerndem Nystagmus zu beantworten [das sogenannte Phänomen der Nachentladung KSB]“.155 1932 legte Lorente de Nó156 einen neuronalen Mechanismus zur Erklärung dieses Reflexphänomens der nystagtischen Nachentladung vor. Hierin beschrieb er erstmals geschlossene und sich verzweigende Neuronenketten in subcerebra-

154 Vgl. R. Lorente de Nó 1987, S.14. 155 R. Lorente de Nó 1931, S. 236. 156 Die Veröffentlichung R. Lorente de Nó 1932d basiert auf einem Vortrag, den Lorente de Nó zuvor auf Einladung der American Otological Society gehalten hatte.

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len Hirnpartien wie dem Mittelhirn, der Formatio retikularis und den Vestibulariskernen.157 Abbildung 2-2 Lorente de Nós Schema neuronaler Verkettungen als Erklärung der nystagtischen Nachentladung

R. Lorente de Nó 1932d, S. 290

Zentrales Element bildete ein neuartiges „Transmission“-System158, in dem Nervenimpulse durch anhaltende Zirkulation gespeichert und so aufgrund kontinuierlicher Befeuerung der Motorneuronen zur Ursache einer die externe Reizung überdauernden Reflexantwort werden könnten. „As the central neurones obey the all-or-nothing law [...], it is clear that a single neuron is not able to store up an excitation for spending it slowly. The neurones discharge themselves after each impulse; therefore if in the vestibularis nuclei no mechanism was present, able to store up the peripheral stimulation, the nystagmus would stop in the same moment that the peripheral process comes to an end. Such a mechanism may be represented by the neurone chains of typ I; this chain [vgl. Abbildung 2-2, KSB] is able to set up a prolonged after discharge“.159

157 Wenn man von einem nicht weiter überprüfbaren Hinweis Lorente de Nós auf einen Vortrag mit ähnlichem Inhalt absieht, den er nach eigenen Angaben im Februar 1930 in Straßburg gehalten habe, vgl. R. Lorente de Nó 1933a, Fußnote S. 248. 158 R. Lorente de Nó 1933a. 159 R. Lorente de Nó 1932d, S. 292, Hervorhebungen im Original.

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Das Diagramm zeigt exemplarisch Verkettungen von Nervenzellen, wie sie nach Lorente de Nó im Vestibulärsystem zu finden sind. In Ausschnitt I sind Aktivitäten in Neuronenketten als Erklärung für das Phänomen der Nachentladung dargestellt.160 Die hier abgebildete Neuronenketten – e - a - e – funktionierten wie folgt: „Diese Neuronenkette kann eine verlängerte Nachentladung auslösen, wenn (1) die Refraktärzeit der Zelle a länger ist als die der Zelle e, und (2), wenn sie etwas länger ist als die Zeit, die der Nervenimpuls benötigt, um den Weg a-e-a zurückzulegen. [...] Sobald die Zelle G.S. aufhört, Nervenimpulse zu schicken (d.h. sobald keine Reize mehr aus dem Vestibularapparat im Innenohr übertragen werden), arbeitet die Kette e-a automatisch: Ein Impuls, der e in Richtung Motoneuron M verlässt, erregt gleichzeitig auch Zelle a; der Impuls a wiederum stimuliert Zelle e, so dass ein zweiter Impuls diese Zelle verlässt; wegen der Zeitverhältnisse in der Neuronenkette erreicht der zweite Impuls e die Zelle a zu einem Zeitpunkt, zu der sich die Zelle a in der Endphase ihrer Refraktärzeit befindet. Der Impuls e ist jedoch fähig, einen weiteren Impuls a hervorzurufen; der zyklische Prozeß dauert an, solange, bis nach einer bestimmten Anzahl von Durchläufen der Impuls e die Zelle a erreicht, während diese sich in einem so frühen Stadium der Refraktärzeit befindet, dass kein weiterer Impuls ausgelöst werden kann. Die Nachentladung setzt im selben Moment aus, weil die Zelle e nicht mehr erregt wird“.161

Bei diesem Nachentladungsmechanismus wies Lorente de Nó der Kette rückgebundener Nerven wesentliche Bedeutung für die Ausprägung der Reflexe zu. Dies tat er unter Rückbezug auf elektrophysiologische Annahmen zentralnervöser Erregungsregulation und Erregungsverhalten wie die Refraktärzeit und die „alles-oder-nichts“-Regel. Lorente de Nós Postulat zirkulierender Erregung als mögliche Ursache des Reflexphänomens der Nachentladung war nicht neu. In der Physiologie hatte es bereits in den 1920er Jahren ähnliche Hypothese gegeben, die Lorente de Nó durchaus bekannt waren. Denn das Reflexphänomen der Nachentladung ließ sich nicht einfach durch die üblichen neurophysiologischen Konzepte wie Bahnung, Hemmung oder die Leitungsgeschwindigkeit der Nervenbahnen bzw. die Verzö-

160 In einem zweiten Ausschnitt II lieferte Lorente de Nó einen potentiellen nervlichen Mechanismus zur Erläuterung des rhythmischen Ablaufs des Nystagmus Diesen Prozess führte Lorente de Nó auf eine intermittierende Hemmung von Nervenzellen zurück, die auf der Existenz rückgeleiteter Impulse und inhibitorischer Nervenfasern basiere. 161 R. Lorente de Nó 1932d, S. 292/ 293, Übersetzung KSB.

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gerung beim Queren der Synapsen erklären. Als Ursache, wie die Erregung länger im Nervensystem gehalten werden können, um über die externe Stimulation hinaus für anhaltende Erregung der Motorneuronen zu sorgen, waren damals unterschiedliche Ideen im Gespräch162, von denen jedoch die Zirkulationshypothese den größten Zuspruch erfuhr: Diese geht auf Sherrington zurück, der 1922 einen dynamischen Speicher postulierte, in dem sich nervöse Erregung perpetuieren und die Reflexantwort verstärken könne. „[In] the reflex center there exist neurones which maintain and reinforce the excitation of the final moto-neurone, by a sort of circular re-excitation“.163 Sherrington war der Überzeugung, eine solche Speicherfunktion könne im Nervengewebe durch rückgebundene Nervenfasern realisiert werden. Im Verlauf der 1920er griffen einige Physiologen Sherringtons Idee auf, so Alexander Forbes bzw. Stephen Ranson und Clarence Hinsey. Im Folgenden stelle ich kurz ihre Hypothesen vor, in denen sie analog zu Sherrington das Reflexphänomen der Nachentladung auf zyklische Erregung in verketteten Nervenzellen zurückführten. Besonders dem Bostoner Alexander Forbes (1882-1965) kommt im englischsprachigen Raum bei der Beschreibung möglicher neuronaler Vernetzungsmodelle eine große Bedeutung zu. Forbes hatte sich ähnlich vielen amerikanischen Physiologen in jungen Jahren für längere Zeit im Labor von Sherrington aufgehalten. Während seines Studienaufenthaltes in Manchester zwischen 1910 und 1912 bot sich Forbes dabei die Gelegenheit, die Arbeiten von Keith Lucas und dem jungen Edgar Douglas Adrian kennenzulernen.164 Anfang der 1920er Jahre übertrug Forbes das Lucas-Adrian-Konzept der Erregungsfortleitung im peripheren Nerven-Muskelgewebe auf das Rückenmark (als „einfachster Mechanismus“ im zentralen Nervensystem) mit seinen spezifischen Reflexphänomenen wie Latenz, Summation, Hemmung etc.165 „[W]e may well believe that a basis for all the great diversity of function may lie in the single type of disturbance which seems to be a phenomenon common to nerve and muscle fibers. We should therefore refrain [...] from concluding that summation, inhibition, tonus,

162 Vgl. Übersichtsartikel C. Sherrington 1922. 163 C. Sherrington 1922, S. 100. Als Vorbild für diese Idee bezeichnete Sherrington die elektrischen Studien am Herzen von Sir Thomas Lewis, die zeigen, dass bei VorhofFlattern wiederholt Erregungen im Herzmuskel zirkulieren. 164 J.C. Eccles 1970, Frank 1994 165 Vgl. C. Sherrington 1906, A. Forbes 1922, 1929.

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and all the other phenomena characteristic of the central structures require the assumption of new and wholly unknown functional capacities in the central mechanism“.166

In enger Anlehnung an Lucas postulierte Forbes, dass die zentralen Nerven in ihrer Funktionsweise „qualitativ“ nicht von peripheren Nerven abweichen müssten.167 Dieses „Credo“ wiederholt Forbes gebetsmühlenartig in den kommenden Jahren.168 Allein die strukturelle Organisation, „the intricately branching system of interconnections“169, unterscheide das zentrale Nervensystem von den peripheren Nervenbahnen. Die Ursache zentralnervöser Reflexphänomene wie Hemmung, Summation oder Nachentladung sei allein in den Verknüpfungen zentraler Nerven zu suchen. In diesem Sinne forderte Forbes, die Entstehung von Reflexphänomenen aus der Spezifität zentralnervöser Verbindungen abzuleiten. Er selbst legte als Erklärung für spinale Nachentladung eine Theorie vor, in der die nervöse Erregung die Motorneuronen auf parallel verlaufenden, außergewöhn170 lich langen Nervenbahnen („delay-paths“) erreiche – zeitlich verzögert gegenüber den eigentlichen Reflexbahnen. In den folgenden Jahren verwarf er aufgrund experimenteller Evidenzen jedoch diese „delay-path“-Theorie zugunsten der These zentraler reverberierender Aktivitäten in geschlossenen Kreisstrukturen.171 Mit dem Argument, dass das gesamte Nervensystem ein „enormously complex system of branching paths“ darstelle, führte er nun die Nachentladung auf „reverberierende Nervenimpulse im großen Netzwerk vorhandener Pfade“ in Rückenmark und niederen Hirnzentren zurück.172

166 A. Forbes 1922, S. 411. 167 „Are we to suppose that the central nervous system uses some process different from that which is the basis of conduction in peripheral nerves, or is it more probable that the apparent differences rest only on our ignorance of the elementary facts of the conduction process? If we had a fuller knowledge of conduction as it occures in peripheral nerve, should we not see inhibition, summation, and after-discharge as the natural and inevitable consequences of the one conduction process working under conditions of varying complexity?“ (K. Lucas 1917 in J.C. Eccles 1970, S. 395, bzw. A. Forbes 1929, S.147). 168 Vgl. A. Forbes 1922, 1929, 1939, A. Forbes et al. 1923, A. Forbes et al. 1930. 169 A. Forbes 1922, S. 363. 170 Forbes hatte ein „provisional scheme of connections of spinal neurons“ seiner „delay-paths“ Idee ausgearbeitet, vgl. A. Forbes 1922, S. 397. 171 A. Forbes et al. 1923. 172 Ebd., S. 41.

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Diese Idee der reverberierenden Erregung in geschlossenen Nervenzellketten als Mechanismus für Nachentladung war auch von dem Neurologen Stephen Walter Ranson (1880-1942) und seinem Absolventen Joseph Clarence Hinsey (1901-1981) an der Chicagoer Northwestern Medical School aufgegriffen worden, um eine anhaltende Reflexantwort in den Gliedmaßen einer Katze zu erklären. Abbildung 2-3 Ransom und Hinseys Modell der Vernetzung prämotorischer und motorischer Spinalzellen

S.R. Ranson/ J.C. Hinsey 1930, S. 491. Modell der Vernetzung von prämotorischen und motorischen Nervenzellen im Rückenmark einer Katze, die aufgrund von Impulszirkulation eine verlängerte Reflexantwort bewirken können. Die Pfeile markieren den Fluss der nervösen Impulse.173

Von seiner Ausbildung her war Ranson Neuroanatom.174 Seine Forschung war jedoch von der Suche nach der physiologischen Bedeutung struktureller Be173 S.R. Ranson/ J.C. Hinsey 1930, S. 491.

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obachtungen geprägt, die ihn ähnlich wie Lorente de Nó zur Anwendung physiologischer Untersuchungsmethoden führte. Von 1928 bis zu seinem unerwartet frühen Tod im Jahr 1942 leitete Ranson als Direktor des Institute of Neurology an der Northwestern University Medical School erfolgreich ein Forschungsprogramm, bei dem die reflektorischen Reaktionen der Gliedmaßen sowie deren Muskeltonus anhand stereotaxischer Instrumente studiert wurden.175 Im Kontext dieser Untersuchungen postulierten er und Hinsey zu Beginn der 1930er Jahre als Erklärung für anhaltende reflektorische Nachentladung das Modell rückläufig vernetzter prämotorischer und motorischer Spinalzellen im Rückenmark von Katzen (vgl. Abbildung 2-3). Die hier skizzierten neuronalen Integrationsmechanismen der Nachentladung ähneln einander. Ranson und Hinsey, Sherrington, Lorente de Nó und Forbes bedienten sich desselben dynamischen Modells neuronaler Organisation, nämlich der anhaltenden Zirkulation in kreisförmig vernetzten Neuronen. In diesem Modell werden strukturelle und funktionelle Aspekte zu einem Reflexmechanismus verknüpft, gemäß der damals gängigen Vorstellung, dass „[n]eurons [...] never function independently, but only when joined end to end in chains whose connections are correlated with the functions they serve“.176 Unterschiede lassen sich jedoch in Bezug die Perspektive erkennen, aus der heraus diese Modelle neuronaler Vernetzungsstrukturen jeweils entworfen und plausibilisiert wurden: Sherrington, Forbes, sowie Ranson und Hinsey gingen von den beobachteten Reflexphänomenen aus und postulierten zirkulative Prozesse, wobei sich die angenommene neuronale Kreisstruktur ausschließlich aus der Erfüllung einer spezifischen Funktion, nämlich der Nachentladung, ergab. Ein wirkliches Interesse an den realen anatomischen Mikrostrukturen besaßen sie nicht. Der Zirkulation in den Neuronenketten wohnte für sie nicht mehr Bedeutung inne, als dass sie eine mögliche Erklärung für die beobachteten Verzögerungsreaktionen lieferte. Lorente de Nós Ausgangspunkt dagegen bildete die Anatomie. Er suchte anhand seiner histologischen Befunde in der Formatia retikularis, dem Mittelhirn und den Vestibulariskernen die Feinstorganisation des zentralen Nervengewebes funktionell zu beleben,177 um so die Entstehung der von ihm beobachteten vestibulo-ocularen Reflexphänomene auf Ebene der nervlichen Vernetzung zu verstehen.

174 Vgl. H.W. Magoun/ L.H. Marshall 2003, S. 135. 175 Vgl. W.F. Windle 1981. 176 C.J. Herrick 1927, S. 61; vgl. S.R. Ranson 1931, S. 53. 177 Vgl. R. Lorente de Nó 1933/34 Zusammenfassung.

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2.9.2 Lorente de Nós zwei Typen der Neuronenkette „Die Funktion einer Nervenzelle ist durch ihre Verbindungen bedingt. Wenn wir wissen wollen, was für eine Rolle ein Neuron spielen kann, so müssen wir natürlich seine Verbindungen vollständig kennen.“ R. LORENTE DE NO 1928, S. 39.

Lorente de Nó blieb jedoch nicht bei der Erklärung dieser spezifischen Reflexantwort (Nachentladung) stehen, sondern veröffentlichte auf Grundlage seiner Histologie eine funktionelle Interpretation der Mikrostrukturen im gesamten zentralen Nervensystem. 1933 abstrahierte er die sich in seinem 1932er Nervenmechanismus andeutenden Typen neuronaler Verknüpfung zu den strukturellen und funktionalen Grundbausteinen des Nervensystems, die seines Erachtens in ihrer Bedeutung noch vor den Nervenzellen rangierten: „The internuntial neurons are arranged in chains of two types [...] [die sich verzweigende bzw. geschlossene Nervenkette]178 which, with but few exceptions, are also found in every part of the central nervous system“ (vgl. Abbildung 2-4).179 Seine Ergebnisse gründete er nach eigenen Angaben auf Beobachtungen aus über zehn Jahren neuroanatomischer Praxis im zentralen Nervensystem und besonders dem Vestibularsystem, „using the methods and working in the way I learned from the great Spanish neurologist, S. Ramón y Cajal“.180 In dieser Unterscheidung zweier Formen nervlicher Substrukturen kurzaxoniger Zellen stützte sich Lorente de Nó auf Ramón y Cajals Nervenzellformationen, die dieser im Kleinhirn und in Teilen der Großhirnrinde ausgemacht hatte.181 Dabei übernahm er zugleich dessen Einteilung in Nervenzellen mit kurzen und langen Axonen. Im Gegensatz zu seinem Lehrer sei ihm der Nachweis des Nervenzelltypus mit kurzem Axon, der über das morphologische

178 Ursprünglich hatte Lorente de Nó sie als die Regel der „plurality of connections“ und die Regel der „reciprocity of connections“ bezeichnet (R. Lorente de Nó 1932d, S. 290; Lorente de Nó 1933a, S. 248). Später vereinfachte er die Bezeichnungen in „multiple chains of neurons“ und „closed chains of neurons“ (R. Lorente de Nó 1938b, S. 210). 179 R. Lorente de Nó 1938 a, S. 210. 180 R. Lorente de Nó 1933a, S. 290/291. 181 Vgl. Kapitel 1.

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Charakteristikum „rückläufige Nervenfaser“ verfügt, jedoch in fast allen Nervengewebearten gelungen.182 Abbildung 2-4 Lorente de Nós zwei Typen neuronaler Verkettungen

R. Lorente de Nó 1938b, S. 210.

Ähnlich wie bei Cajal besaßen Lorente de Nós zwei Typen neuronaler Verkettung als repetitiv auftretende Grundstrukturen im zentralen Nervengewebe zugleich eine physiologische Bedeutung.183 Sie bildeten die Organisationseinheiten oberhalb der Nervenzellen, die den Fluss der nervösen Erregung durch das Nervengewebe lenken: „The elementary units in the nervous system are not the single neurons but chains of neurones linked together in a different way for each particular function“.184

Für Lorente de Nó repräsentierten sie somit die neuronalen Grundlagen jeglichen Verhaltens, „mechanisms of any nerve activity, be it a spinal reflex or a high cerebral function“.185 Hier wird ein Abstraktionsschritt in seinem Denken sichtbar: Während ein Jahr zuvor noch die neuronalen Integrationsmechanismen hinter 182 Lorente de Nós Einschätzung nach wurde diesem Teil der Arbeiten Ramón y Cajals, nämlich „der Existenz solch komplizierter Kreisverbindungen[,] nicht weiter Beachtung geschenkt, da sie nur in hochkomplizierten Organen wie dem cerebralen und cerebellären Kortex vorzuliegen schienen“ (R. Lorente de Nó 1933a, S. 247). Cajal habe jedoch Unrecht gehabt in Bezug auf die beschränkte Ausbreitung von Nervenzellen mit kurzen Axonen; er [Lorente] habe sie in jedem von ihm untersuchten Gewebe des Zentralen Nervensystems ausfindig machen können, genauso wie rückläufige Axone, vgl. R. Lorente de Nó 1933a, S. 248. 183 „[P]hysiological significance of the arrangement of the neurons in synaptical chains“ (R. Lorente de Nó 1938a, S. 208). 184 R. Lorente de Nó 1933f, S. 437. 185 Ebd., S. 421.

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Reflexphänomena wie Nachentladung oder Rhythmisierung im Zentrum seines Interesse standen, postulierte er nun zwei Nervenkettentypen, mit deren Hilfe er alle zentralnervösen Koordinations- und Regulationsprozesse herleiten könne. Im Einzelnen sah er in den zwei Nervenketten folgende Funktionalitäten auf dynamische Weise während der Impulstransmission verwirklicht: Die sich verzweigenden Nervenketten bildeten die Basiseinheit der Transmission der Nervenimpulse; in Anlehnung an Ramón y Cajal betrachtete Lorente de Nó diese Struktur zugleich als einen Mechanismus zur Vervielfachung der Impulse, da sich die Impulse in jedem Zweig mit gleicher Größe fortsetzen. 186 In Nervenketten des Typs „closed chains“, den geschlossenen Neuronenketten würden Impulse in den Axonen rückgeleitet. Je nach Beschaffenheit dieser Ketten (Länge der Kette und individuelle Eigenschaften der Nervenzellen) maß ihr Lorente de Nó bahnenden bzw. hemmenden Einfluss zu. Bahnung („facilitation“)187 und Hemmung („inhibition“) wurden so zu zeitlich begrenzten Phänomenen, deren Auftreten direkt von der Erregungszirkulation in den Neuronenkreisen abhing. Bahnung verstand Lorente de Nó als synaptischen Summationsprozess, bei dem die rückgeleiteten Impulse den Schwellenwert der Erregung senkten. Dieser Bahnungseffekt könne jedoch verlängert werden, wenn in den geschlossenen Neuronenketten Impulse nicht nur einmalig, sondern konstant über einen Zeitraum zirkulierend gedacht werden, so dass aufgrund anhaltender Befeuerung („constant bombardement“) ein Absenken der Erregungsschwelle über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden könne.188 Dieses

186 Ebd., S. 343. Bereits Cajal hatte der Verzweigung der Nervenbahnen den Effekt der Ausbreitung und damit einer Verstärkung der Erregungsleitung beigemessen, vgl. Kapitel 1. 187 Dass Lorente de Nó hier die englische Entsprechung von Bahnung, „facilitation“, verwendet, weist auf den Einfluss der Gedankenwelt seines Lehrers Barany bzw. dessen Vorbild Siegmund Exner hin, die die Regulation physiologischer Prozesse in vernetzten Nerven betrachtet hatten. Sherrington dagegen verwendete diesen Begriff beispielsweise nicht. Zum Verständnis zentralnervöser Regulationsprozesse hatte er das rein physiologische Begriffspaar C.E.S. und C.I.S. geprägt. Bahnung im Sinne Lorente de Nos entspräche bei Sherrigton der Existenz von subliminalem C.E.S., vgl. R. Lorente de Nó 1938b. 188 Lorente de Nó befand sich mit seiner Erklärung von Bahnung in der Minderheit. Um die Mitte der 1930er Jahre wurde in den Diskussionen um die Ursache von langanhaltenden Bahnungseffekten allgemein die Idee von biochemischen Agenten favorisiert, vgl. R. Lorente de Nó 1939, S. 419ff. Lorente de Nó dagegen unterstützte die Idee elektrischer synaptischer Prozesse basierend auf strukturellen Gegeben-

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Phänomen bezeichnete Lorente de Nó unter Bezugnahme auf die Theorien von Forbes bzw. Ranson und Hinsey auch als „reverberating circuit“ oder „closed self reexciting chain“.189 Bei der Hemmung190 knüpfte er an Theorien zur Refraktärzeit von Nervenzellen als Mechanismus zentraler Hemmung an, wie sie von Lucas, Adrian oder Forbes vertreten worden waren.191 Als Refraktärzeit wird die Periode verminderter Erregbarkeit einer Nervenzelle bezeichnet, die ihrer Stimulation folgt. Sie unterteilt sich in eine absolute Refraktärzeit, in der eine Erregbarkeit der Nerven auch bei größtmöglichem Stimulus ausgeschlossen ist, und in eine Phase relativer Refraktärzeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass nur durch ungewöhnlich große Erregung eine Reaktion herbeigeführt werden kann oder der abgegebene Stimulus außergewöhnlich gering ausfällt. Durch ein anhaltendes Zirkulieren in den geschlossenen Neuronenketten, so Lorente de Nós These, würden die Impulse in so rascher Abfolge aufeinander folgen, dass sich die Nervenzellen bei ankommenden Stimuli bald nur noch in ihrer refraktären Phase befänden. Als Folge trete eine kurzzeitige Blockade auf.192 Bahnung und Hemmung verstand Lorente de Nó als temporäre Resultate dynamischer Prozesse, deren Mechanismen er außerhalb der Zelle in den geschlossenen Neuronenketten verortete. Anhand der zwei Typen von Neuronenketten entwickelte er sein Funktionsmodell des zentralen Nervensystems als ein sich selbst modifizierendes Netzwerk. Dabei unterschied er zwischen reflexgesteuertem Verhalten im spinalen Nervensystem sowie den niederen Hirnzentren einerseits und der Erregungsregulation im Cortex andererseits. Reflexvermittelte Nerventätigkeiten verstand Lorente de Nó so, dass zu jedem Reflex eine festgelegte

heiten als Basis der Bahnung, denn die Zeitspanne, in der temporale Summation stattfinden könne, sei zu kurz zum Aufbau einer biochemischen Substanz als Grundlage von C.E.S., so sein Argument, vgl. R. Lorente de Nó in A. Forbes 1936. 189 Z.B. in R. Lorente de Nó 1933a, S. 281. 190 Lorente de Nó entwickelte vergleichsweise spät die Theorie der hemmenden Funktion von Neuronenkreisen. 1932 vertrat er noch die Idee der Existenz hemmender Nervenfasern, vgl. R. Lorente de Nó 1932d; in R. Lorente de Nó 1933f, S. 424 erwähnt er Hemmung im cerebralen Cortex, ohne näher darauf einzugehen, wie diese seines Erachtens entstehen könne. Erst Ende der 1930er Jahre betrachtete er Hemmung als ein mögliches Resultat subcerebraler Aktivitäten in geschlossenen Neuronenketten, ein Mechanismus, der möglicherweise auch für den Cortex gelte, vgl. R. Lorente de Nó 1938b. 191 Vgl. R. Dodge 1926a, b. 192 Vgl. R. Lorente de Nó 1938 b, c.

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Nervenbahn existiere, deren Funktion zentralnervös durch Nervenketten moduliert werden könne. Die Flexibilität corticaler Aktivitäten dagegen spiegelt sich für Lorente de Nó in flexiblen corticalen Funktionseinheiten wider: Jede corticale Nervenbahn könne zu einer Hauptbahn der Erregungstransmission werden, die von benachbarten Nervenbahnen aus modifiziert werden könne. Zur Begründung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten in niederen und höheren Nervenzentren zog Lorente de Nó wiederum die Neuroanatomie heran. Die Bedeutung von Neuronenketten in niederen Gehirnzentren und im Rückenmark Mit seinen zwei Typen neuronaler Verkettungen präsentierte Lorente de Nó ein modifiziertes Verständnis des Reflexbogens als dem Grundprinzip der Reaktionssteuerung im spinalen und subcerebralen Gewebe. Das in der Physiologie verbreitete Konzept des Reflexbogens als funktionelle Grundeinheit des Nervensystems greife zu kurz, so Lorente de Nó, und stelle eine Idealisierung dar, die nicht den neuroanatomischen Gegebenheiten entspräche193: Die reflektorischen Hauptbahnen bestünden aus Nervenzellen mit langen Axonen.194 Diese seien für die afferente bzw. efferente Erregungstransmission zuständig, jedoch von unzähligen Verbindungen kurzaxoniger Nervenzellen überlagert, welche in sich verzweigenden und geschlossenen Neuronenketten arrangiert seien. Diese nähmen Einfluss auf die Reflexantwort, indem sie ihrerseits nervöse Erregungen in die Bahnen leiteten. Dadurch modifizierten sie den Erregungsfluss195 und regulierten die Entladung. Lorente de Nó bezeichnete diese Zellen daher auch als Regulatoren.196

193 R. Lorente de Nó 1938a, S. 229. Dabei verwies Lorente de Nó auf das aufgeweichte Reflexverständnis anderer Wissenschaftler, wie z.B. Herrick (vgl. Lorente de Nó 1933a, S. 245/246): „It is evident that the ‚simple reflex‘ is a pure abstraction. Such a reaction never occurs in the intact living body, and there is no known nervous mechanism capable of executing such an isolated response. The reflex arcs are interrelated by an inconceivable complicated web of nervous cross-connections, so that the simplest reflex movement requires the participation of many of them“ (C. Herrick 1931, S. 72). 194 Auch in dieser funktionellen Unterscheidung der Aufgabenbereiche zwischen Nervenzellen mit langen bzw. kurzen Axonen folgte Lorente de Nó seinem Lehrer Ramón y Cajal, vgl. Kapitel 1. 195 Vgl. R. Lorente de Nó 1933a. 196 Vgl. R. Lorente de Nó 1933f, S. 337.

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Im Lichte von Lorente de Nós reflektorischem Organisationsprinzip erscheint das dichte Geflecht an Nervenverbindungen, wie es in der Formatia retikularis und den vestibularen Nervenkernen auftritt, als ein hochspezialisiertes neuronales System, in dem die vielfältige Morphologie der nervösen Verknüpfungen die Reflexspezifika ermögliche. „The whole vestibular system has revealed itself as constituted by numerous chains of neurons, reciprocally connected

197

in many ways and having their links in various anat-

omic nuclei. All the chains work in intimate collaboration and all are necessary for the production of the normal reflex reaction. It has been found as a rule, that whenever a lesion is made in any part of the anatomic mechanism, the reflex action becomes abnormal.“198

Am Beispiel der vestibulo-ocularen Reflexe entwarf Lorente de Nó das Bild einer autonomen Regulation von Reflexaktivitäten in niedereren Gehirnzentren anhand von bahnenden und hemmenden Prozessen in geschlossenen Ketten. „The whole vestibular system is a physiologic unit that finds itself in constant activity, and according to its functional state the afferent impulses set up reflexes of determined pattern, because they find open only a limited number of extremely numerous anatomic paths“.199

Das Gleichgewichtssystem wird hier als abgeschlossenes System mit funktionalen Zuständen präsentiert, die jeweils ein festgelegtes Reflexverhalten auslösen. Die Transformation von einem Zustand in einen anderen geschieht aufgrund interner Mechanismen (den zwei Typen der Neuronenketten) und ergibt sich durch das Auftreffen des aktuellen Inputs auf Zustände, die auf den Input früherer Zeiten zurückgehen. Anhand der geschlossenen Neuronenketten entwarf Lorente de Nó eine Reihe weiterer neuronaler Integrationsmechanismen, die zur Erklärung spezifischer ocularer Reflexphänomene dienten: Er postulierte nicht nur verschiedene Modelle, die Nachentladungsphänomene200 und Rhythmisierung201 plausibilisierten, sondern entwarf auch neuronale Integrationsmechanismen, die zeitliche Verzö-

197 Die reziproke Verknüpfung ist ein anderer Begriff Lorente de Nós für seine geschlossene Neuronenkette. 198 R. Lorente de Nó 1933a, S. 287. 199 Ebd., S. 279. 200 Vgl. R. Lorente de Nó 1933a, S. 279. 201 Vgl. Ebd., S. 281ff.

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gerungen erklärten, wie sie bei der reziproken Ennervierung der Augenmuskulatur während des Nystagmus202 auftreten, sowie solche, die eine Ursache für die oculare Reflexumkehr lieferten203. Die Bedeutung von Neuronenketten im Großhirn Lorente de Nó nutzte die konzeptionellen Möglichkeiten seiner NeuronenkettenTypen auch für den Entwurf einer grundlegenden Theorie zu Aufbau und Funktionsweise des Großhirns. 204 Dieser Entwurf ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Die Gehirnfunktion über eine elementare Organisation des corticalen Nervengewebes zu erklären, war damals ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher war der Versuch, die Funktionsweise des Gehirns ohne Verbindungen zu der Lokalisierung mentaler Fähigkeiten zu beschreiben. Während er in niederen Nervenzentren von lokalisierbaren, festverdrahteten Reflexpfaden sowie isolierten Zentren der Reflexanpassung ausging, erwähnte Lorente de Nó in seiner Hirntheorie an keiner Stelle eine Beziehung zwischen mentalen Fähigkeiten und der corticaler Organisation. In seinem Entwurf wendete er sich vor allem gegen die Cytoarchitektonik, die von anatomisch fest umgrenzten Funktionsarealen im Cortex ausging, welche mit spezifischen Funktionalitäten korrelieren. Im Gegensatz dazu erteilte Lorente de Nó der strengen Kompartementierung des Gehirns eine deutliche Absage. Er postulierte dynamisch sich verändernde Aktionseinheiten im Cortex. Die Bestimmung der genauen Rolle dieser Kompartementierung in Bezug auf höhere Hirnfunktionen verwies Lorente de Nó an die experimentelle Psychologie und

202 Vgl. R. Lorente de Nó 1934b. 203 Vgl. R. Lorente de Nó 1938b, 1939. 204 Vgl. R. Lorente de Nó 1933f, 1934a, 1938c, ausführliche Darstellung J. LarrivaSahd 2002, A. Fairén 2007. W.J. Freeman 1984 berichtet, Lorente de Nó habe ihm in einem persönlichen Gespräch Anfang der 1980er Jahre mitgeteilt, dass er bereits in den 1920er Jahren der Überzeugung gewesen sei, dass Kreisstrukturen ein zentrales Merkmal des Cortex seien, vgl. auch A. Fairén 2007. Als Cajal jedoch sein diesbezügliches Manuskript gelesen habe, habe er ihm mit Nachdruck abgeraten, es zu veröffentlichen, da das Ergebnis von der Wissenschaft nicht akzeptiert werden würde und dadurch Lorente de Nós Karriere gefährdet sei. Aus Respekt gegenüber seinem Mentor habe Lorente de Nó Cajals Tod abgewartet, um die Ergebnisse zu publizieren. Fairén hinterfragt diese Version, vgl. A. Fairén 2007, S. 439/440. Auch Cajals Tod im Oktober 1934 widerspricht dieser Darstellung Freemans, da die Publikationen Lorente de Nós zu cortikaler Zirkulation von 1933 bzw. 1934 datieren, vgl. Lorente de Nó 1933f, 1934a.

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Neurologie. Folglich war für ihn auch das Phänomen der zentralen Hemmung keine Frage der Lokalisation, sondern allein der neuronalen Interaktion.205 Lorente de Nó hatte auch das Großhirn mit seiner von ihm geliebten GolgiMethode studiert, die allein den Cortex in seiner „wahren Struktur“ zeige206. Anhand gemeinsamer Strukturmerkmale wagte er den Analogieschluss: Vergleichende histologische Studien der im Allokortex gelegenen „regio entorhinalis“ bei Mäusen, Ratten, Kaninchen, Katzen, Affen und beim Menschen ergaben, dass Nervenzellen mit kurzen Axonen und rückläufige Nervenbahnen überall in großer Anzahl aufträten.207 Von der parallelen Existenz dieses Zelltyps in niederen Nervenzentren sowie im Großhirn leitete er die Funktion funktioneller Nervenketten auch als Basismechanismen der Erregungsregulation im Cortex ab. Das kleine Schema rechts in Abbildung 2-5 „summarizes the plan upon which the central nervous system is built“.208 Anhand seiner Neuronenketten entwickelte Lorente de Nó eine Erklärung auch für den damals durch das Aufkommen des EEG wieder ins Blickfeld geratenen Umstand eines fortwährend aktiven Großhirns209, das sich in seiner Erregungskoordination nicht grundlegend von niederen Nervenzentren unterscheidet: Der Cortex sei ein System von „autogenous cortical activity“210, geregelt durch die zwei Typen neuronaler Verkettungen. Der Fluss der Erregung durch das Großhirn werde aufgrund der Effekte vorangegangener Erregungen durch das Nervengewebe gelenkt, d.h. nur bestimmte Pfade seien jeweils „offen“ für neu ankommende Impulse („Fraktionierung der Erregung“ aufgrund räumlicher

205 Mit dem Phänomen der Hemmung in höheren Hirnzentren beschäftigte sich Lorente de Nó vergleichsweise spät. In R. Lorente de Nó 1933f erwähnte er deren Existenz im cerebralen Cortex, ohne näher darauf einzugehen, wie diese entstehen könne; erst Ende der 1930er Jahre betrachtete er Hemmung als ein mögliches Resultat subcerebraler Aktivitäten in geschlossenen Neuronenketten, ein Mechanismus, der möglicherweise auch für den Cortex gelte, vgl. R. Lorente de Nó 1938b. 206 R. Lorente de Nó 1933f, S. 408. 207 R. Lorente de Nó 1933f. Der Cortex bestünde fast zur Hälfte aus Nervenzellen mit kurzen Axonen, vgl. ebd., S. 405. 208 R. Lorente de Nó 1938c, S. 313; vgl. T.A. Woolsey 1993, S. 498. 209 Um die Mitte der 1930er Jahre war aufgrund der Verbreitung des EEGs in den USA der Blick auf die corticalen Erregungsströme gelenkt worden, die auf fortwährende autonome Aktivitäten des Großhirns schließen ließen, vgl. H. Davis 1936, C. Borck 2005. 210 R. Lorente de Nó 1933f, S. 436.

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Summation)211. Als komplexes reizverarbeitendes System seien dessen Efferenzen ein Ergebnis der dynamischen Interaktion aktueller und vorangegangener Impulse.212 Dies war ein Novum in der Darstellung corticaler Organisation.213

Abbildung 2-5 exemplarischer Ausschnitt intracorticaler Vernetzung, rechts in klein die Grundstruktur intracorticaler Vernetzung214

R. Lorente de Nó 1938c, S. 313.

211 R. Lorente de Nó 1938b, vgl. D.W. Bronk 1939. 212 Lorente de Nó arbeitete die Idee der Hemmung für den cerebralen Cortex nicht weiter aus: In R. Lorente de Nó 1938c erwähnt er zentrale Hemmung interessanterweise nicht einmal. 213 Wissenschaftler wie Vernon B. Mountcastle oder J. Szentágothai griffen in späterer Zeit Lorente de Nós Idee der modularen Organisation des Cortex auf, die heute zum integralen Bestandteil der Neurobiologie zählt, vgl. V.B. Mountcastle 1957, J. Szentágothai 1975, O. Breidbach 1997, S. 328/29, T.A. Woolsey 2001, S. 6. 214 Lorente de Nós Beitrag zur funktionalen und strukturellen Architektur des Cortex, vgl. R. Lorente de Nó 1938c, erschienen in Fultons grundlegendem Buch zur Physiologie des Nervensystems, vgl. J.F. Fulton 1938, wurde noch Jahre später rezipiert.

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Diese kolumnaren Einteilungen stellten für Lorente de Nó zugleich auch die physiologischen Grundeinheiten des Cortex 215dar, da sie alle corticalen Nervenzelltypen (inklusive afferenter Nervenfaser und efferenter Zellen)216 in variabler Anzahl enthielten.217Für den Cortex postulierte Lorente de Nó – analog zu den sich überlagernden Neuronenketten als den basalen Funktionseinheiten in den niederen Nervenzentren – ein Modell vertikaler Kolumnen durch alle corticalen Schichtungen.218 Die sich verzweigenden und die geschlossenen Nervenzellverkettungen sorgten dafür, dass in jeder dieser „units“ aufgrund ihres strukturellen Aufbaus „the whole process of the transmission of impulses from the afferent fibre to the efferent axon may be accomplished“219. Dabei sind die Grenzen der „units“ jedoch nicht strukturell festgelegt, sondern dynamisch veränderlich: Jedes corticale Element vermag – theoretisch – zur Achse einer neuen vertikalen Kolumne werden,220 ein Gedanke, der eine entscheidende Veränderung gegenüber seinen frühen histologischen Arbeiten aufweist, in der die Basiseinheiten statischen Charakter besaßen: Bereits 1922 hatte Lorente de Nó die Idee corticaler Basiseinteilung im Ansatz herausgearbeitet. Quer durch die Schichtungen des somatosensorischen Teil des Cortex der Maus221 hatte er verdichtete Ansammlungen von Nervenzellen und -fasern beobachtet, „Glomérulos“, die er als die eigentlichen corticalen Funktionseinheiten bezeichnete. Diese Vorläufer der vertikalen Kolumnen sah er durch intracorticale Nervenfasern untereinander verbunden; an ihren Grenzen bestünden Überlappungen.222 Mit seinen vertikalen Kolumnen aus den 1930er Jahren entwarf Lorente de Nó ein Modell der corticalen Parzellisierung und Modularisierung corticaler Ak-

215 „[P]hysiological units“, R. Lorente de Nó 1933f. 216 Vgl. R. Lorente de Nó 1938b, c. 217 „[T]he „units“ in the cortex are constituted by each afferent fibre, the efferent cell that will carry the impulses further, and the internuncial neurons that have to regulate the discharge of the efferent ones. As [...] each afferent fibre generates a ramification having more or less the form of a vertical cylinder with the fibre itself as axis, we may consider each cylinder with all the cells it contains and the neurons underneath as a physiological unit” (R. Lorente de Nó 1933f, S. 406). 218 Vgl. R. Lorente de Nó 1922, 1933f, 1938c, 1992. 219 R. Lorente de Nó 1938c, S. 311. 220 R. Lorente de Nó 1933f. 221 Irrtümlich fasste Lorente de Nó diesen Teil des Cortex ursprünglich als akustisches Zentrum auf, vgl. Lorente de Nó 1922, 1992. 222 R. Lorente de Nó 1922a, 1992, 1933f, 1938c; vgl. A. Fairén 1993 und besonders 2007.

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tivitäten. Als eines der hervorstechenden Merkmale lässt sich dessen Variabilität festhalten: Aufgrund rückgeleiteter und neu einströmender Impulse entstehen hier wechselnde Situationen geöffneter Leitungsbahnen. Die Zirkulation in den geschlossenen Neuronenketten produziert variable Zustände der Bahnung und Hemmung an den beteiligten Nervenzellen; die Einteilung der vertikalen Kolumnen ist offen gehalten und gestaltet sich variabel immer neu. Damit gelang Lorente de Nó eine Beschreibung neuronaler Organisation, die im Rückgriff auf einfachste Prinzipien zugleich der strukturellen sowie physiologischen Komplexität dieses Organs sowie seiner funktionalen Variabilität und Offenheit Rechnung zu tragen suchte. Das Verhältnis zwischen Anatomie und Physiologie in Lorente de Nós Neuronenkettenmechanismen Den Dreh- und Angelpunkt Lorente de Nós Theorie der Erregungskoordination und -regelung im zentralen Nervengewebe bildeten die Neuronenketten. Schaut man jedoch genauer hin, so muss man feststellen, dass der anatomische Nachweis dieses Strukturmusters damals wie heute Schwierigkeiten bereitet. Diese Art nervlicher Verkettung kann man – genau wie die sich verzweigende Nervenkette – nicht einfach aus den Golgi-Präparaten herauslesen (vgl. Kapitel 1). Zwar lassen sich in diesen Präparaten unzählige Beispiele solcherlei Nervenzellverbindungen erahnen, wiederkehrende Strukturmuster verbleiben jedoch im Bereich der deutenden Abstraktion. Das heißt, um seine Präparate zu deuten, kam Lorente de Nó nicht ohne Vereinfachungen223 und funktionale Deutungen aus. Wie bereits im ersten Kapitel beschrieben, unterstützt gerade die Golgi-Methode eine auf die Erkenntnis von Funktionen ausgerichtete Interpretation der neuronalen Morphologie, wie sie bei Lorente de Nó zu finden ist.224 In seiner Interpretation der Histologie lehnte er sich dabei eng an bestehende Vorstellungen von nervlicher Erregungsleitung und gradueller Stufung neuronaler Erregungszustände durch Bahnung und Hemmung an und suchte in seinen histologischen

223 Zum Beispiel reduzierte er die in den Präparaten erkennbaren Nervenzellverbindungen auf zwei Prinzipien der Zuordnung zueinander, um sie theoretischen Durchdringung zugänglich zu machen: „The interest of the analysis consists in that it is possible to reduce the actual anatomical complexity of the nerve centers to simple diagrams suitable for theoretical arguments“ (R. Lorente de Nó 1938b, S. 208). Dazu gehört beispielsweise, dass die dreidimensionalen Nervenverläufe in den Präparaten bei Lorente de Nó auf zwei Dimensionen reduziert werden. 224 Gerade in dieser Fähigkeit zur Abstraktion und Vereinfachung sehen A. Fairén 1993, S. 471 und A.M. Graybiel 1978, S. 78 ein großes Talent Lorente de Nós.

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Präparaten eigene, strukturell basierte Antworten für Mechanismen, die diesen Phänomenen möglicherweise zugrundeliegenden.225 Lorente de Nós zwei Typen funktionaler Vernetzung von Nerven können so, entgegen Lorente de Nós eigener Darstellungsweise in den 1930er Jahren, in der er das Primat der Anatomie immer wieder herausstrich, als Ergebnis eines Deutungsprozesses verstanden werden, bei dem die Frage nach den (strukturellen) Grundlagen zentralnervöser Regulationsprozesse und der Blick durch das Mikroskop einander beeinflussten. Die neuropsychologischen Deutungen von neuronalen Subsystemen mithilfe kurzaxoniger rückgebundener Nervenzellen durch Ramón y Cajal (vgl. Kapitel 1), auf die sich auch Bárány mit seinem Innervationszirkel bezog, strukturierten seine Interpretation sicher mit. Das Ergebnis waren zwei neuronale Integrationsmechanismen, in denen die morphologischen Elemente (Nervenzellen) in einer derartigen strukturellen Anordnung zu finden sind, dass sie spezifischer funktionale Anforderungen (Bahnung, Hemmung, Verteilung der Erregung) angemessen erfüllen können. Lorente de Nós zwei Typen neuronaler Verkettungen sind damit ein Beispiel für die Zusammenführung von Physiologie und Anatomie in einem neuronalen Integrationsmechanismus 226 zwecks Erfüllung einer spezifischen Funktionalität.

225 Es wäre hier sicher spannend, die entsprechenden Golgi-Präparate Lorente de Nós ausfindig zu machen und einer genaueren Analyse zu unterziehen. 226 Lorente de Nós klinische Erfahrungen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre besaßen dagegen keinerlei Einfluss auf seine Forschung an den Neuronenketten. Die Klinik hatte ihn eher gelangweilt: „Ich [bin] kein Kliniker“ schrieb er 1927 (R. Lorente de Nó 1927a, S.313) und „The practice of otolaryngology is repetitious and often boring“ (R. Lorente de Nó 1987, S.16). Dass die klinische Seite der HalsNasen-Ohrenheilkunde ihn nicht interessierte, offenbart sich auch deutlich im Jahr 1935. Lorente de Nó hatte das Angebot, als Arzt an die Washington Medical School in St. Louis/ USA in die HNO-Abteilung zu wechseln. Dieser Wechsel kam für Lorente de Nó – trotz drohender Arbeitslosigkeit und ungeklärter Aufenthalts- und Berufsperspektive – jedoch nicht in Frage, vgl. RAC.

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2.9.3 Neuroanatom oder Physiologe? „Knowledge of the properties of nerve may not result in the immediate solution of the problems offered by the central nervous system, but it supplies challenging analogies and working hypotheses“ R. LORENTE DE NÓ 1939, S.460.

1934 wandte sich Lorente de Nó der elektrophysiologischen Erforschung zentralnervöser Prozesse zu.227 Hierdurch erhoffte er sich eine Überprüfung und Fundierung besonders seiner Theorie der geschlossenen Neuronenketten als zentralem Regulationsmechanismus. Denn diese baut auf einem Exzitationszyklus228 zentraler Nervenzellen auf, der bislang jedoch nicht experimentell am einzelnen Nerv verifiziert werden konnte. Bereits nach kurzer Zeit berichtete er voller Enthusiasmus und Optimismus an das Rockefeller Institut: „This winter I have been working very intensively on the properties of the nerve cell. Every improvement in the technique has made possible a new determination and I, myself am astonished at how easy it is to ascertain the elemental properties of the nerve cell. The results of the experiments certainly will change very much the current ideas“.229

Für seine Zwecke hatte Lorente de Nó mit Unterstützung der Washington School eigene Messinstrumente konstruiert, u.a. einen elektrischen Stimulator für Nerven bzw. Muskeln und einen Kathodenstrahl-Oszillographen.230 Im selben Jahr nahm er auch erstmals an den informellen Treffen der sogenannten „Axonologen“ im Vorfeld der Jahreskonferenzen der American Physiological Society teil. Die Bezeichnung für diesen lockeren Verbund elektrophysiologisch experimentierender Neurowissenschaftler und Neurowissenschaftlerinnen geht auf ihr

227 Näheres dazu in A. Fairén 2007. 228 Als Erregungszyklus wird der physiologische Prozess im Nerv vom Beginn der Erregung bis zur vollständigen Wiederherstellung nach der Entladung bezeichnet. 229 R. Lorente de Nó an Gregg, 15. Januar 1935, Hefter 898, Kasten 74, Serie 200A, Central Institute for the Deaf, St. Louis, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC. 230 R. Lorente de Nó/ B. Blossom 1934.

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gemeinsames Projekt der Erforschung des Verhaltens singulärer Nervenzellen zurück.231 Lorente de Nó wendete sich in seinen Untersuchungen zuerst dem Verhalten der ocularen Motorneuronen in den Augenmuskelkernen zu. Für gezielte Stimulationsversuche konnte er hier seine genauen anatomischen Kenntnisse der vestibulo-oculären Reflexbahnen nutzen (vgl. Abbildung 2-6). Abbildung 2-6 schematische Darstellung der vestibulo-ocularen Reflexbahnen für elektrophysiologische Messungen

R.Lorente de Nó 1938b, S. 210. vestibulo-oculare Reflexbahnen plus Klemmen (F) und Ableitung (R), Oc.n- oculomotorischer Nerv, Mb – Mittelhirn, P- Pons, Med – Medulla, V-Vestibulärnerv

Indem er die Elektroden (f1, f2) in die den ocularen Motorneuronen vorgelagerten Nervenbahnen (z.B. dem hinteren Längsbündel und angrenzenden Fasern, f. l. p.) setzte, gelang es ihm, die ocularen Motorneuronen direkt, d.h. ohne Reizung zwischengeschalteter Interneuronen, zu stimulieren.232 Neben der elektrischen Erregung, die mithilfe von „R“ (= Recording?) an oculo-motorischen oder trochlearen Nerven abgegriffen wurde, zeichnete Lorente de Nó wie bisher die reflektorischen Kontraktionen der Augenmuskulatur auf. Als Ergebnisse seiner elektrophysiologischen Experimente konnte Lorente de Nó die Reaktionsweise der ocularen Motorneuronen in Bezug auf Verzöge-

231 Vgl. L.H. Marshall 1983. 232 Vgl. R. Lorente de Nó 1939.

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rungen bei der synaptischen Transmission233, Bahnung und Summation234, 236 Refraktärzeiten235, sowie deren Eigenschaften unter antidromischer Stimulati237 on beschreiben. Die Resultate erfuhren bei den amerikanischen Physiologen Anerkennung, wenngleich sie nicht, wie von Lorente de Nó erhofft, die Erkenntnisse der Elektrophysiologie revolutionierten.238 Lorente de Nós eigentliche Pläne, mithilfe dieses Experimentalsystems näheren Aufschluss über das Erregungsverhalten internuntialer Neuronen zu erlangen, schlugen jedoch fehl – nach eigenen Angaben aufgrund technischer Schwierigkeiten.239 Um seine Thesen einer internuntiellen Bahnung durch anhaltendes Bombardement aufgrund von zirkulativen Prozessen in Neuronenketten zu stützen, führte er in den nächsten Jahren weitere Experimente durch, mit deren Veröffentlichung240 er sich mitten in den elektrophysiologischen Diskursen der Zeit befand, in denen das Für und Wider bestimmter Annahmen zu synaptischer Übertragung und zum Erregungsverhalten zentraler Zellen diskutiert wurden. Mit Entwicklung und dem Einsatz seines elektrophysiologischen Experimentalsystems während der Jahre 1934-1939 hatte sich Lorente de Nó von einem (reflex-)physiologisch forschenden Neuroanatomen und Spezialisten für den VIII. Hirnnerv zum anerkannten Physiologen entwickelt. Im Verlauf der 1920er und der ersten Hälfte der 1930er Jahre hatte er mit seinen neuroanatomischen Studien und physiologischen Experimenten einen Beitrag zur besseren Kenntnis

233 Vgl. R. Lorente de Nó. 1935b. 234 Vgl. R. Lorente de Nó 1935f, g. 235 Vgl. R. Lorente de Nó 1935c. 236 Bei der antidromischen Stimulation werden die efferenten Bahnen gegenläufig stimuliert, da Nerven in beide Richtungen leitungsfähig sind. Diese experimentelle Technik wurde um 1930 von der Schule um Sherrington eingeführt, um den spezifischen Erregungsprozess spinaler Reflexe entgegen der normalen Verlaufsrichtung zu studieren, vgl. z.B. J.C. Eccles/ C. Sherrington 1931. 237 Vgl. R. Lorente de Nó 1935d. 238 Vgl. J. Erlanger/ H. Gasser 1937, J.F. Fulton 1938. 239 R. Lorente de Nó 1939, S. 430. Lorente de Nó plante, Rückschlüsse auf das Verhalten der Internuntialen Nervenzellen indirekt zu gewinnen anhand geschickt gewählter Stimulationspunkte an subcerebralen Fasern, die indirekte Verbindungen zu den oculären Motorneuronen besaßen. Die unter der Stimulation auftretenden Augenreaktionen hätte er als Ergebnis einer Stimulation der Motorneuronen gewertet, die auf Grundlage spezifischer zentraler neuronaler Organisationsstrukturen erfolge, vgl. Lorente de Nó 1938b. 240 Vgl. R. Lorente de Nó 1939.

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der Funktionsweise des Gleichgewichts- und des Hörsystems und der anatomischen Feinstrukturen der beteiligten Nervenbahnen und Gehirnareale geleistet. Diese Arbeiten vervollständigte er in den USA zwischen 1931 und 1934 durch die Vollendung bereits begonnener neuroanatomischer (und auch in geringem Maße physiologischer) Studien zum Vestibularsystem und zum Cortex241 und ergänzte sie während seiner Zeit am Central Institut for the Deaf um physiologische Experimente zum Hören.242 Um diese Zeit erfuhr Lorente de Nó eine längere Phase der beruflichen Unsicherheit, in der die Richtung seiner weiteren Laufbahn unklar war. Im Sommer 1935 lief das Projekt der Rockefeller Foundation am Central Institut for the Deaf aus, das Lorente de Nó finanziell absicherte. Aufgrund der wirtschaftlichen Depression war es ihm nicht möglich, an anderen Forschungseinrichtungen in den USA unterzukommen, obwohl sich bekannte Physiologen243 an ihren Universitäten für ihn einsetzten. Lorente de Nó erwog seine Rückkehr nach Spanien; Bárány hätte ihm durch einen Kredit den Neubeginn erleichtert; auch die Rockefeller Foundation erwog eine zweijährige Finanzierung von Lorente de Nó in Madrid. Allerdings war die Lage aufgrund der politischen Umstände im Lande dort disparat. Eine alternative Lösung bot die Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Washington School. Sie offerierte Lorente de Nó eine Stelle als praktischer Arzt, die dieser allerdings ablehnte, da er sich als Anatom und Physiologe, nicht als Kliniker verstand. Nach vielem Hin und Her wurde eine Zwischenlösung gefunden, die es ihm ermöglichte, für weitere zwei Jahre in St. Louis zu bleiben, um dort begonnene Forschungsprojekte abzuschließen: Freunde sicherten ihm aus eigenen Mitteln einen Teil der Finanzierung zu, die Rockefeller Foundation gab die andere Hälfte.244

241 Vgl. R. Lorente de Nó 1932a Monographie, 1932 d, 1933 a-f, 1934b, vgl. auch Lorente de Nó, report work Lorente de Nó, 1934, Hefter 897, Kasten 74, Serie 200A, RG1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC. 242 Vgl. R. Lorente de Nó 1932b, 1932c, 1935a. Einen ausführlichen Überblick über die Gesamtheit der neuroanatomischen Beiträge Lorente de Nós gibt J. Larriva-Sahd 2002. 243 Die Namen der Wissenschaftler, die sich für Lorente de Nó einsetzten, liest sich wie das „Who is who“ der US-amerikanischen Physiologie, u.a. Herbert Gasser, Stanley Cobb und John Fulton; vgl. auch Hefter 898, Kasten 75, Serie 200A, Central Institute for the Deaf, St. Louis, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC. 244 Ein umfangreicher Briefwechsel zu diesem Thema ist im RAC zu finden: Hefter 898, Kasten 75, Serie 200A, Central Institute for the Deaf, St. Louis, RG 1.1, RAC.

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In dieser Situation kam Lorente de Nó das Glück zu Hilfe: 1935 wurde Herbert Gasser von der Cornell Universität, wo er seit 1931 eine Professur innehatte, zum Direktor an das Rockefeller Institute for Medical Research (RIfmR) berufen. Gasser, der Lorente de Nós Arbeiten seit geraumer Zeit begleitete und ihn sehr schätzte245, konnte ihm nun eine Assistentenstelle anbieten. Mit seinem Eintritt in die physiologische Abteilung des Rockefeller Institute for Medical Research im September 1936 sollte für Lorente de Nó das Pendel seiner Forschung für lange Zeit in Richtung Neurophysiologie ausschlagen.246 Bis zu seiner Emeritierung 1967 widmete er sich nun der Erforschung elektrophysiologischer und biochemischer Prozesse peripherer Nerven.247 Welche Ziele Lorente de Nós neurophysiologische Forschung begleitete und motivierte, die mit seinen Experimenten an den oculären Motorneuronen begann, muss weitergehenden Untersuchungen überlassen bleiben. Einiges spricht jedoch dafür, dass auch hier neben der Physiologie die Neuroanatamie weiterhin eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Thomas Woolsey, einer seiner Schüler aus dieser Zeit, vertritt zwar die Auffassung, dass Lorente de Nó gänzlich zur Elektrophysiologie „konvertiert“ sei.248 Das würde jedoch bedeuten, dass Lorente de Nó die Meinung Gassers geteilt hätte, der die Kenntnis physiologischer Prozesse als Voraussetzung für die Deutung neuronaler Strukturen erachtete.

245 RAL (Lambert) Notiz eines Gesprächs mit Dr. Herbert M. Gasser, 23. Mai 1935: „2. We discuss case of Lorente de No, (St. Louis). G. says de No has a rare mind and is an original thinker, full of ideas [...]. de No should work in close relation with physiologists rather than clinicians. G. has done everything to find a place for de No at Cornell and will continue his efforts“ (Diary RAL, Hefter 898, Kasten 75, Serie 200A, Central Institute for the Deaf, St. Louis, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC). RAL (Lambert) Notiz über ein Gespräch mit Gasser über Lorente de Nó, 24. Mai 1935: „In a talk yesterday with Gasser (Cornell) about another matter, the deNo case came up for discussion. Gasser has been in close touch with de No during the past year or more, has reviewed deNo’s papers before publication, and had a long talk with him here recently when deNo reported his decision to return to Spain. Gasser thinks deNo has a rare mind and is almost unique in combining knowledge of neuro-cytology and physiology“ (Diary RAL, Hefter 898, Kasten 75, Serie 200A, Central Institute for the Deaf, St. Louis, RG 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC.) 246 Vgl. G.W. Corner 1965, T.A. Woolsey 2001. 247 Vgl. z.B. R. Lorente de Nó 1947. 248 T.A. Woolsey 2001.

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„Investigation (of the central neurones), however, will be slow and laborious; and it can proceed in an orderly manner only if it is founded on a thoroughgoing knowledge of the properties of the stuff out of which the structure is built and their relation to the ease of transmission between the units of structure. Our knowledge of patterns can never transcend our understanding of a single synapse“.249

Mir scheint es jedoch recht unwahrscheinlich, dass Lorente de Nó seine Überzeugung des Primats der Anatomie über die Physiologie, das er noch in den späten 1930er Jahren in Bezug auf die Neuronenketten vehement verteidigte250, später in das völlige Gegenteil verkehrt haben soll. Dagegen spricht auch, dass er sich nach seiner Emeritierung wieder der Neuroanatomie zuwendete: 1972 wurde Lorente de Nó an das University of California Los Angeles (UCLA) Center for Health Sciences berufen, wo er sich in den folgenden Jahren der Lehr- und Beratungstätigkeit und dem Schreiben widmete sowie seine 1938 abgebrochenen Studien zur Feinstrukturierung des Cochlearsystems vervollständigte und herausgab.251 Schaut man sich die Geschichte seiner zwei Typen von Nervenketten an, erscheint die Frage nach dem Primat der einen oder der anderen Disziplin eher nebensächlich. Lorente de Nó hat im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere wie selten ein anderer in beiden Disziplinen, Anatomie wie Physiologie, erfolgreich gewirkt. Im Falle seiner zwei Typen von Neuronenketten bildet gerade die Ergänzung dieser beiden Richtungen das Besondere, machte gerade sie seine spezifische Herangehensweise aus.

249 H. Gasser in J. Erlanger/ H. Gasser 1937, S. 205. 250 Lorente de Nó maß – ganz Neuroanatom – in Bezug auf eine funktionelle Deutung der Neuronenketten der histologischen Untersuchung das Primat über die Physiologie zu. Denn erst auf Grundlage einer strukturellen Detailanalyse jeder Neuronenkette sei eine Aussage über das spezifische Verhaltens der jeweiligen Nervengewebes möglich, ob ein geschlossener Neuronenkreis beispielsweise bahnend oder hemmend wirke und wie lange diese Wirkung andauere. Ohne detailliertes Wissen um die anatomischen Bedingungen könne man nicht vorhersagen, welche Stimulation welcher Nervenzellen zur Transmission führe. Noch könne man vorhersagen, auf welchen Bahnen der Impulse weitergeleitet würde, vgl. R. Lorente de Nó 1939, S.403. 251 R. Lorente de Nó 1976, 1981, vgl. auch A. Gallego 1993, J. Larriva-Sahd 2002.

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2.10 Z USAMMENFASSUNG Durch die Untersuchung von Lorente de Nós Arbeiten der 1920er und 1930er Jahre habe ich gezeigt, wie seine Konzepte der geschlossenen sowie der sich verzweigenden Neuronenkette als verdichtetes Resultat eines ausgeprägten wissenschaftlichen Interesses entstanden, beobachtbares Reflexverhalten auf die Feinstrukturen des Nervengewebes rückzubeziehen. Zuerst suchte er durch reflexphysiologische Läsionsexperimente top-down die zentralen Strukturen im Gehirn zu lokalisieren, welche die vestibulo-ocularen Reflexe vermitteln und modifizieren. Durch die Rückführung dieser Ergebnisse auf die Mikrostrukturen des Nervengewebes sowie deren Funktionalitäten generierte er bottom-up Hypothesen zu deren funktioneller Organisation. Bei dieser Herleitung seiner zwei Neuronenkettentypen prägten, wie im Kapitel detalliert beschrieben, folgende physiologische Hypothesen seine anatomische Deutung. • elektrophysiologische Hypothesen zum Erregungszyklus zentraler Nerven • reflexphysiologische Hypothesen zu Erregung und Hemmung als regulativen

Größen im Nervengewebe • reflexphysiologische Hypothesen zu dynamischer Zirkulation im Nervenge-

webe als Ursache für Nachentladung Geschlossene und sich verzweigende Neuronenketten lassen sich als neuronale Integrationsmechanismen bezeichnen: Sie sind ein Amalgamat von strukturellen (Mikroskop) und funktionellen Annahmen (nervlicher Erregungszyklus), deren Integration mit dem Ziel einer Plausibilisierung der zentralnervöser Erregungsmodulation geschah. Im Gegensatz zum 1. Kapitel, wo sich der Entwurf neuronaler Intergrationsmechanismen nicht nur auf Körperreflexe, sondern zumeist auch auf geistige Fähigkeiten bezog, dienten Lorente de Nós Neuronenketten jedoch ausschließlich der Erklärung von Regulationsmechanismen für physiologische Phänomene innerhalb des Nervensystems. Mit seinen Neuronenketten führte Lorente de Nó einen neuen Baustein in die neuronale Mikroorganisation ein. Sie sind wiederkehrende strukturelle Einheiten im Nervengewebe, neuronale Muster dabei ähnlich denen Cajals. Sie bilden funktionelle Input-Output Einheiten – ähnlich den Nervenzellen –, deren Aufgabe es ist, die Erregungsfortleitung im Nervengewebe zu steuern und zu regulieren. Sie sind eine anatomisch-physiologische Ausformulierung grundlegender neurophysiologischer Funktionen, die bis dato allein physiologisch erklärt wurden. In Lorente de Nós Ansatz gründen diese Phänomene auf interagierenden Nervenzellformationen: Bahnung wird als eine Folge von Summationsprozessen

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aufgrund anhaltender Zirkulation in den geschlossenen Neuronenketten verstanden, die zu einer Senkung des Schwellenwerts der Erregung führen; Hemmung entsteht, wenn nach anhaltender Zirkulation aufgrund der Refraktärzeit keine Impulsweiterleitung möglich ist. Mit seinen zwei Typen der Neuronenketten aktualisierte und konkretisierte er die alte Vorstellung vom Nervensystem als raum-zeitlichem Netzwerk gemäß neuerer physiologischer (und anatomischer) Forschungsergebnisse. Neben der zentralnervösen Modulation und Regulation gab er damit auch Antwort auf die Frage nach der Vermittlung einer ständigen Erregungstätigkeit im Cortex durch die Nerven. Lorente de Nós Postulat einer geschlossenen Formation von Nervenzellen wurde schnell rezipiert, entgegen seinen Vorstellungen jedoch vor allem von Wissenschaftlern, die auf der Suche nach einem neurologischen Substrat geistiger Fähigkeiten waren. (vgl. Teil II). Diese Verbreitung mag Lorente de Nó geehrt haben, war jedoch sicher nicht in seinem Sinne. Denn Lorente de Nó stand der Frage nach dem nervlichen Korrelat psychischer Fähigkeiten äußerst skeptisch gegenüberstand: „The evidence [in Bezug auf den Cortex KSB] existing today is pitifully insufficient [...], and what is worse, I fear it will remain insufficient for centuries to come“252. In seinen Arbeiten fehlen folglich jegliche Hinweise auf die neuronale Basis kognitiver Prozesse. Lorente de Nó suchte zwar die Entstehung allgemeiner Reflexphänomene wie verzögerte Nachentladung, Rhythmisierung oder Synchronisation der Entladung anhand des nervlichen Verhaltens in Neuronenketten zu erklären. Eine Konkretisierung hin auf die Erklärung kognitiver Funktionen sucht man in seinen Arbeiten jedoch vergebens. Auch in seinem Postulat einer kolumnaren Parzellisierung des Cortex ist seine Abneigung gegenüber einer direkten, psychophysiologischen Deutung erkennbar. Die in ihrer nervlichen Organisationsstruktur komplexen und in Gestalt und Umfang veränderlichen vertikalen Kolumnen bildeten Lorente de Nós funktionelle und strukturelle Grundeinheiten im Cortex. In einem solch offenen, nichtdeterministischen, dynamischen Modell lassen sich mentale Zustände nicht in die singuläre Verknüpfung von Nervenzellen und deren funktionelle Zustände zurückverfolgen. Regeln, die Auskunft über die dynamischen Veränderungen der Kolumnen hätten gegeben können, fehlen gänzlich. Lorente de Nós Haltung ist umso interessanter, als dass seine Lehrer Ramón y Cajal und Robert Bárány sowie dessen Vorbild Sigmund Exner psychophysiologischen Spekulationen nicht abgeneigt waren und selber diesbezügliche neu-

252 R. Lorente de Nó 1987, S. 13.

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ronale Integrationsmechanismen entworfen hatten (vgl. Kapitel 1). Lorente de Nó dagegen stand wohl eher Sherringtons Ansichten nahe: „The spectacle drowns any naive notion that the activity of a single nerve cell by itself can ever amount to a mental experience. For that, we have to seek rather some attribute of the organization itself. To pursue mind into the unicellular world would seem like looking for a firefly across astronomical distance“.253

Mit dieser vorsichtigen Haltung befand er sich in Übereinstimmung mit der elektrophysiologischen Wissenschaftscommunity der USA und Großbritannien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die sich unter dem Einfluss Sherringtons auf die Erkundung der elementaren Eigenschaften des Nervensystems beschränkte. Wie George Bishop über seine Forschung der nervlichen Verbindungsbahnen zwischen Augen und Großhirnrinde schrieb: „We are observing the nervous pathway of sensation, not the sensation itself“254.

253 C. Sherrington 1933, S. 22. 254 G.H. Bishop/ S.H. Bartley 1934, S. 1006.

Schlussbetrachtungen Teil I

Der erste Teil der Arbeit beschreibt funktionelle Konzepte vernetzter Nerven in Neurophysiologie und -anatomie zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten, einmal frühe Vorstellungen um die Wende zum 20. Jahrhundert, zum anderen Lorente de Nós Konzept zweier Neuronenketten aus den 1930er Jahren. Bereits mit der Durchsetzung der Neuronendoktrin zeigte sich eine Vielfalt von Ideen, auf welche Weise vernetzte Nervenzellen zusammenwirken könnten, um daraus höhere Funktionen abzuleiten. So waren bereits früh Thesen über eine funktionelle Variabilität der Nervenverbindungen verbreitet, über eine mögliche Speicherung und Freigabe von Nervenenergie, über eine mögliche Verrechnung von erregenden (und ggf. hemmenden) Impulsen an den Synapsen oder über die Senkung des Schwellenwertes der Erregung (auch Bahnung genannt). Auch die höheren Funktionen, die diesen neuronalen Integrationsmechanismen zugewiesen wurden, fielen heterogen aus. Sie reichten von einfacher Impulsregulation oder Reflexmodulation bis zu höheren kognitiven Fähigkeiten. Die in der Arbeit vorgestellten neuronalen Integrationsmechanismen des späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts wurden an konkreten Stellen im Nervengewebe verortet. Anatomische Details fanden Berücksichtigung, beschränkten sich zumeist aber auf eine Beschreibung der beteiligten Nervenzellen. Betrachtet man Lorente de Nós nur wenige Jahrzehnte später formulierte neuronale Integrationsmechanismen, so zeigt sich, dass die Wissensentwicklung hier ein offener Prozess war. Zwar stand Lorente de Nó bei der Ausformulierung seiner zwei Typen von Neuronenketten unter dem Einfluss der Ideen neuronaler Vernetzung und dynamischer Interaktion, wie sie um die Jahrhundertwende postuliert worden waren, allen voran Bahnung und Hemmung.1 Er interpretierte

1

Die Entwicklung der Neuronenketten verstehe ich ganz im Sinne Ludwik Flecks, der über die Entwicklung desWissens schreibt, dass eine Auflösung historischer Bindungen keinesfalls möglich sei, vgl. L. Fleck 1994, S. 33, zugleich jedoch betont, dass

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sie jedoch gemäß seiner eigenen Fragestellung und setzt sie im Lichte seines wissenschaftlichen Horizontes zu einer, wie ich gezeigt habe, neuen Hypothese zusammen. Keine der vorangegangenen Theorien wiederholt sich bei Lorente de Nó in identischer Weise, doch gingen Vorstellungen und Begriffe, die in älteren Formulierungen existieren, in abgewandelter Form in seine Theoriebildung ein. Betrachtet man die vorgestellten neuronale Integrationsmechanismen, so muten sie in ihrer Funktionsweise manchmal beinahe wie mathematische Maschinen an. Bei Sherrington beispielsweise geschieht an den Nervenzellen die Summation ankommenden Erregungen („common-path“-Mechanismus) bzw. später eine algebraische Verrechnung opponierender Einflüsse, C.E.S und C.I.S. Ein weiteres, an die Funktionsweise von Maschinen mahnendes Charakteristikum der neuronalen Integrationsmechanismen ist ihre interne Steuerung.2 Funktioniert in Cajals Subsystemen die Speicherung bzw. Abgabe der Erregung noch wie von Zauberhand, scheinen die neuronalen Integrationsmechanismen Exners, Sherringtons und Lorente de Nós bereits selbstregulativ. Die Mechanismen der Steuerung sind dabei intrinsisch: Die neuronalen Integrationsmechanismen steuern ihr Verhalten, indem sie von außen einströmende Reize autonom „verarbeiten“ und die Nervenzellen dabei innerhalb gewisser Grenzen ihre „Zustände“ verändern können, wodurch sie Einfluss auf die zukünftige Erregungsverarbeitung nehmen. Eine Nervenzelle mit variablen Zuständen und einem daher variablen Verhalten in der Erregungsleitung bildet den Dreh- und Angelpunkt dieser Vorstellung. Ein solches Verständnis der Nervenzelle als autonom agierender, fast technisch anmutender Funktionsmechanismus war durch die Elektrophysiologie gestützt, wenn nicht gar vorangetrieben worden. Als es im Laufe der 1920er und 1930er Jahre gelang, die Nervenpotentiale immer feineren Untersuchungen zu unterziehen, formulierte man das Neuron in Richtung einer nach elektrischen Prinzipien funktionierenden, abstrakten Input-Output-Einheit aus. Die Beschreibung seiner Funktionsweise konzentrierte sich auf das Verhalten unter elektrophysiologischer Stimulation und ließ dabei biochemische Prozesse vollständig

Erkenntnisse wesentlich durch die Einstellungen des Umfeldes und des Erkennenden selbst geprägt werden. In diesem Sinne versteht Fleck jede Erkenntnis als ein „denkhistiorisches Ereignis, […] ein Ergebnis der Entwicklung und des Zusammentreffen einiger kollektiver Denklinien“ (L. Fleck, 1987, S. 34). 2

Zur Problematik der Integration als beschreibendem/ erklärendem Prinzip der Funktionsweise des Gesamtorganismus, nicht nur seiner Einzelfunktionen vgl. W. Riese 1942.

S CHLUSSBETRACHTUNGEN

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außer Acht3: „The neuron as an electrical apparatus“, wie Bishop sie später im Rückblick charakterisieren sollte.4 Die Bezeichnung der Synapse als „switching mechanism“ durch den Physiologen Alexander Forbes Ende der 1930er Jahre ist eine konsequente Fortführung dieses Denkens: „As yet, we have hardly any clue to the switching mechanism [Synapse KSB] whereby such things as volition are achieved, that is, the way in which one part or another may be

3

Die elektrophysiologische Betrachtung als Mittel der Analyse nervlicher Aktivitäten bildete in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die dominante Perspektive. Zwar hatten sich zu dieser Zeit bereits die Evidenzen um Acetylcholin und Adrenalin als nervlichen Transmissionssubstanzen verdichtet, und die Wissenschaftler Otto Loewi (1873-1961) und Henry Hallett Dale (1875-1968) im Jahr 1936 den Nobelpreis für ihre Studien zum Einfluss biochemischer Prozesse auf neuronaler Erregungs- und Transmissionsprozesse in peripheren Nerven und dem autonomen Nervensystem erhalten. Dennoch beharrten die Elektrophysiologen Mitte der 1930er Jahre mehrheitlich auf einer rein elektrischen Perpektive zentralnervlicher Transmission und betrachteten biochemische Faktoren als fragwürdig. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. J.F. Fulton 1938, T.H. Abraham 2003b. Zur Verteidigung der Elektrophysiologen muss man jedoch einfügen, dass auch die „humorale“ Theorie Fragen ungeklärt ließ, und an einigen Stellen mit Messergebnissen der Elektrophysiologie nicht vereinbar schien, vgl. z.B. R. Lorente de Nó in A. Forbes 1936, R. Lorente de Nó 1939. Lorente de Nós löste diesen Konflikt für sich, indem er zentrale Nervenzellen als nach elektrischen Prinzipien funktionierende Einheiten betrachtet, bei denen das Verhalten im Vordergrund steht und die Natur der fraglos darunterliegenden biochemischen Prozesse von nachgeordneter Bedeutung ist, vgl. Lorente de Nó 1939, S. 441.

4

G.H. Bishop 1965, S. 12. Dabei waren sich Physiologen wie Gasser durchaus der Vereinfachungen bewusst, die sie bei der Deutung ihrer Messungen als Aktivitäten singulärer zentraler Nerven vornahmen: „Strictly speaking, the body of our knowledge about nerve consists of the sets of data which have been obtained by various methods devised for the purpose of measuring the manifestations of nerve activity; but inside into current thought about nerve functioning cannot be gained by confining our attention to sets of data alone. The experimentator is forced to set up in his mind models of nerve which integrates the facts and gives them meaning: and interpretations are largely made in terms of these model nerves- the only ‘nerves’ that are understandable. [...] In reality models of this kind are the crudest sort of simplification“ (H. Gasser 1937, S. 131/132).

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open to the stream of impulses under the varying conditions which occur in the life of animals“5.

Dieser (in seiner Funktionsweise fast gänzlich unbekannte) Schaltmechanismus trage dafür Sorge, dass in vernetzten Nerven der Erregungsfluss in die jeweils erforderlichen Bahnen gelenkt werde, um so höherer Funktionen wie das Wollen zu ermöglichen. Wenngleich die Beschreibungen neuronaler Interaktionen in vernetzten Strukturen an die Funktionsweise von Maschinen erinnern, waren die in diesem Teil der Arbeit vorgestellten neuronalen Integrationsmechanismen jedoch weit davon entfernt, als Vorlagen für maschinelle Konstruktionen dienen zu wollen. Es wurden darin keine maschinellen Abläufe dargestellt, auch wenn die Prozesse deren Prinzipien zu folgen scheinen. Sie enthielten keine mathematischen Formeln und niemand suchte, sie nachzubauen. Die vorgestellten neuronalen Integrationsmechanismen sind eher als ein Ausdruck des Bekenntnisses der Anatomen und Physiologen zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen physischer – und psychischer – Prozesse zu verstehen, jenseits vitalistischer Erklärungen.6 Im Zentrum steht das Bemühen um ein naturwissenschaftliches Verständnis von Aufbau und Funktionsweise des zentralen Nervensystems bzw. des Gehirns. Doch gerade diese Perspektive auf das Nervensystem, wie sie in neuronalen Integrationsmechanismen aufscheint, diese an die Funktionsweise einer Maschine erinnernde Beschreibung der nervlichen Tätigkeit, bildete eine wichtige Voraussetzung für die Hybridisierung der Mikroorganisation des Nervensystems und der ersten digitalen Computer in der (Proto-)Kybernetik der 1940er Jahre, wie sie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit beschrieben wird.

5

A. Forbes 1939, S. 471.

6

Zu dieser Zeit lassen sich allerdings schon Bestrebungen nachweisen, Maschinen zu konstruieren, die geistige Fähigkeiten simulieren, z.B. R. Cordeschi 2002. Die in der Künstlichen Intelligenz verbreitete These, dass durch Konstruktion einer Maschine, die dieselben Verhaltensweisen wie ein Organismus aufweist, die Plausibilität einer Theorie über die Organisation des Organismus bewiesen werden könne, nach deren Maßgabe die Maschine konstruiert wurde, kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf.

Teil II



3. Memory „ex Machina“ – regenerative Zirkulation in kybernetischen Nervennetzen bei von Neumann und McCulloch

3.1 E INLEITUNG Um die Mitte der 1940er Jahre wurden in den USA erste digitale, elektronische Rechner entworfen, die mit ihrem Leistungsvermögen große Bewunderung hervorriefen. Einmal programmiert, konnten sie Berechnungen ohne weitere menschliche Intervention durchführen und umfangreiche Rechenaufgaben in einer bisher unbekannten Geschwindigkeit bewältigen. Die Computer schienen den Betrachtern über weitreichende geistige Fähigkeiten zu verfügen, wie sie bisher nur den Menschen zugebilligt wurden. Darin lag für viele die Faszination dieser neuen Maschinen. „To many of us, […] the most exciting potentialities of computers lie in their ability to perform non numerical-operations – to work with logic, translate languages, design circuits, play games, co-ordinate sensory and manipulative devices and, generally, assume complicated functions associated with the human brain.“1

Dass mit ungewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattete Maschinen und mechanische Gerätschaften die Menschen verschiedenster Epochen in Erstaunen versetzten und dazu anregten, auch über sich selbst nachzudenken, ist nichts Ungewöhnliches.2 Solcherlei technischen Wunder, die über menschliche Fähigkeiten zu verfügen schienen, beflügelten seit jeher die Spekulationen über die theoreti-

1

C. Shannon 1953, S. 1235.

2

Vgl. z.B. A. Tympas 1996, M. Geier 1999.

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schen Prinzipien, die den physischen und geistigen Fähigkeiten des Menschen zu Grunde liegen. Die Vergleiche zwischen Computern und Menschen, die sich in den USA in den 1940er Jahren im Kontext der ersten digitalen elektronischen Rechenmaschinen entwickelten, gingen jedoch über die spekulativen Vergleiche vergange3 ner Jahrhunderte weit hinaus, waren sie doch mehr als bloße Metaphorik. Sie blieben nicht bei Feststellung von möglichen Ähnlichkeiten zwischen Maschine und Mensch; es kam vielmehr zu weitreichenden Überblendungen der organischen und technischen Sphären: Maschinelle Funktionen wurden mit geistigen Prozessen gleichgesetzt, die zugrunde liegenden Mechanismen in Computer und Gehirn als analoge Vorgänge verstanden. Diese vereinheitlichende Perspektive auf Mensch und Maschine nannte sich Cybernetics – Kybernetik. Obwohl der Begriff erst 1948 durch das gleichnamige Buch des Mathematikers Norbert Wiener geprägt wurde, hatten sich deren entscheidende Ansichten bereits im Verlauf der 1940er Jahre entwickeln können,4 als Fachleute aus Neurophysiologie, Psychologie, Mathematik und Ingenieurwesen in den USA versuchten, die Grenzen und Möglichkeiten der Vergleiche zwischen den damals neue entwickelten, elektronischen Rechenmaschinen und eben dem Menschen auszuloten.5 Die kybernetischen Ideen verdichteten sich und verbreiteten sich ausgehend von zehn interdisziplinären Treffen, die zwischen 1946 und 1953 von der Josiah Macy Jr. Foundation in New York organisatorisch und finanziell unterstützt wurden.6 Neben illustren Vertreterinnen und Vertretern aus den oben genannten Themengebieten waren auch einige ausgewählte Sozialwissenschaftler und Behavioris7 ten sowie wechselnde Gäste an den Macy-Konferenzen beteiligt.

3

S. Heims 1993 beispielsweise charakterisiert Norbert Wieners Haltung zur Kybernetik: „Wiener took the relation between engineering device and description of people in many applications stronger than a metaphor“ (S. Heims 1993, S. 249).

4

Vgl. S. Heims 1993, P. Edwards 1997.

5

Vgl. J.-P. Changeux 1984, P. Edwards 1997.

6

Vgl. S. Heims.1993, C. Pias 2004.

7

S. Heims 1987, 1993 bieten eine gute Übersicht über die Konferenzen und ihre Teilnehmer. Leider sind die genauen Inhalte der ersten fünf Konferenzen (1946-1948) weitgehend nur aus Zusammenfassungen Beteiligter bekannt, vgl. Zusammenfassung W.S. McCulloch der ersten drei Macy Konferenzen 1947, To the Members of the Conference on Teleological Mechanisms, abgedruckt in C. Pias 2004; Zusammenfassung der Diskussion um einen Beitrag von von Neumann durch D.G. Marquis vom Herbst 1947, Summary of Discussion following Paper by Dr. von Neumann, LOC, Margret Mead Collection, F42, Special working groups, Macy Foundation, Cyber-

M EMORY „ EX M ACHINA “

| 177

Das vorliegende Kapitel widmet sich dieser weitreichenden Gleichsetzung technischer und organischer Konzepte in der Kybernetik, beispielhaft aufgezeigt an einem kybernetischen Gedächtnismodell. Dabei handelt es sich um eine heute wenig verbreitete, damals jedoch sehr bekannte Analogie zwischen Mensch und Maschine, für deren Verbreitung kaum einer so gesorgt hat wie der Psychiater und Neurophysiologe Warren McCulloch: „Modern computing machines have several kinds of memory. Theoretically, the simplest is one composed of relays like the rest of the circuit, but arranged in a closed path of sufficient length so that the beginning and the end of a train of signals running around the loop do not overlap. In such a path a train of impulses patterned after some input may continue to circuit as long as we please; as long as it lasts, it continues to reiterate in the form of its input the thing sensed. Kubie first proposed, and Lorente de Nó first demonstrated, the existence of such paths within the central nervous system“.8 „To compute as we do a machine must have some kind of memory. [...] Lorente de Nó was the first to prove that brains have reverberating chains of nerve cells. These are just regenerative circuits in which a set of signals patterned after some input can go round and round“.9

Die Übereinstimmung im technischen und organischen Bereich wird hier auf zweifache Weise konstruiert. Einerseits auf begrifflicher Ebene: Das Wort „Memory“, mit dem im Englischen die psychischen Phänomene von Erinnerung und Erinnern bezeichnet werden, wird auf Maschinenspeicherprozesse übertragen – „Memory“ erscheint als das Gedächtnis der Maschine.10 Zugleich scheinen

netics, Conference on Feedback 1947 Oktober). Darüber hinaus existiert eine Mitschrift der Konferenzteilnehmerin Margaret Mead. Die mehrere Hefte umfassenden Notizen sind leider in Margret Meads Kurzschrift verfasst und konnten bis jetzt nicht entziffert werden, vgl. LOC, Washington DC, Margret Mead Collection. Von der zweiten Hälfte der Konferenzen (6.-10.) existieren veröffentlichte Mitschriften der Vorträge und Diskussionen, vgl. H. von Foerster 1950/51/52/53/55. In dieser Zeit verlagerten sich die Diskussionen von Nervensystem-Rechenmaschinen Analogien hin zu mehr philosophischen Themenstellungen wie dem Verständnis von Sprache oder der Frage nach der Entstehung sinnhafter Bedeutungen. 8

W.S. McCulloch/ J. Pfeiffer 1949, S. 371.

9

W.S. McCulloch 1949, S. 494.

10 Dass die heute so geläufige Bezeichnung Memory für Computerspeicher nicht selbstverständlich war, sondern ein Erbe der Kybernetik darstellt, zeigen beispielweise erste

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Rechenmaschinenspeicher und Gedächtnis auf demselben Funktionsprinzip zu basieren, einer anhaltenden Zirkulation von Impulsen in geschlossenen Strukturen, seien diese nun organischer oder technischer Natur.11 Diese Form der Zirkulation weist zwei Merkmale auf: Sie dauert den Zeitraum der Speicherung der „Gedächtnisinhalte“ an und verhält sich regenerativ, das heißt, sie dauert theoretisch ad infinitum an, ist weder inkrementierend noch dekrementierend. Ich bezeichne diese Form der Zirkulation im Folgenden als regenerative Zirkulation. Die regenerative Zirkulation diente, so die zentrale These dieses Kapitels, in der frühen Kybernetik als grundlegende Funktion für ein kybernetisches Modell jener Fähigkeiten in Mensch und Maschine, die im weitesten Sinne mit Gedächtnis, mit Lernen, aber auch mit Erkenntnis assoziiert werden. Sie erhob den Anspruch, sowohl für den Menschen als auch für die Maschine Gültigkeit zu besitzen. Für solche Modelle mit Zirkeln wurde, wie ich zeigen werde, in der Kybernetik auf Vorbilder aus beiden Bereichen zurückgegriffen: auf die geschlossene Neuronenkette Lorente de Nós einerseits (siehe Kapitel 2) und auf den ersten größeren projektierten Computerspeicher, die sogenannte Delay-Line, deren Funktionsweise auf dem Zirkulationsprinzip beruht, andererseits. Die Brücke zwischen den zwei Bereichen bildete die Mathematik, im Besonderen die Boole’sche Logik. Für die Entstehung solcher Modelle, in denen neurowissenschaftliche und ingenieurtechnische Konzepte überblendet werden, waren in der Kybernetik besonders der Psychiater und Physiologe Warrren McCulloch und der Mathematiker John von Neumann verantwortlich. Sie sind auch die zentralen Personen dieses Kapitels. Wie die zwei Wissenschaftler solche Hybridmodelle mit regenerativer Zirkulation im Zentrum entwickelten und verwendeten, wird im Folgenden geschildert werden. McCulloch zählt zu den schillerndsten und einflussreichsten Personen in der Geschichte der Entwicklung der Neuronalen Netztheorie, der Kybernetik und der Künstlichen Intelligenz. Gemeinsam mit Walter Pitts entwarf er 1943 ein ma-

britische Veröffentlichungen über Digitalrechner, in denen von Storage die Rede ist, vgl. B. Randall 1973. 11 Eine geschlossene Kette von Relais, wie in dem Zitat erwähnt, entspricht keinem real verwendeten Rechenmaschinenspeicher. Was McCulloch zu dieser Aussage bewogen haben mag, ist unklar, vielleicht fehlender technischer Einblick aufgrund militärischer Geheimhaltung. Recht hatte er jedoch in dem für den Vergleich Speicherung in Mensch und Maschine entscheidenden Punkt, dass die ersten Speicherkonzepte in Computern auf Zirkulation beruhten, vgl. Abschnitt 3.4.

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thematisches Modell logischer Nervennetze, das ihrer Meinung nach neurophysiologische Funktionen wie etwa räumliche Summation adäquat abbildet. Ihre Netze imitierten, wie Dupuy schreibt, das Nervensystem in seinem anatomischen Aufbau und seiner physiologischen Funktionsweise.12 Zugleich verstanden McCulloch und Pitts jeden Berechnungsschritt innerhalb des Netzes als eine grundlegende geistige Aktionseinheit. Damit boten sie eine empirische Erklärung geistiger Prozesse im Nervensystem; „[T]he mind goes no longer more ghostly than a ghost“13. Als eine zentrale Funktion integrierten sie in ihre Modelle logischer Netze einen regenerativen Zirkel als Lernmechanismus, der eine direkte Adaption neurophysiologisch basierter Konditionierungsprozesse darstellt. Sie waren dazu durch den Biophysiker Nicolas Rashevsky anregt worden, in dessen Gruppe an der Universität von Illinois sie sich auch kennen gelernt hatten. Dieser hatte Ende der 1930er Jahre, inspiriert von Lorente de Nós geschlossener Neuronenkette, einen solchen neuronalen Konditionierungsmechanismus mathematisch modelliert. Der Mathematiker John von Neumann, damals Berater beim ENIAC Projekt, dem ersten digitalen elektronischen Computer der USA, erweiterte die logische Netznotation von Pitts und McCulloch aus dem Jahr 1946 um die Computeranalogie. Er überführte in seiner Beschreibung logischer Schaltungen und Nervenzellmodelle wechselseitig ineinander, und konstruierte so das Bild einer Rechenmaschine als Gehirn.14 Damit legte von Neumann zugleich die Grundlagen für die Automatentheorie, die einen abstrakten Entwurf von Rechenmaschinen ermöglicht – jenseits der Materialität und Eigenschaften ihrer Hardwarekomponenten. In diesem Kontext konstruierte von Neumann auch das Bild des Maschinenspeichers als Gedächtnis (und umgekehrt) unter Bezugnahme auf Lorente de Nós geschlossene Neuronenkette15. Damit sind die zwei Typen von regenerativer Zirkulation in der Kybernetik umrissen: einmal psychophysiologisch interpretiert als Bahnungsmechanismus, der analog den hypothetischen Prozessen im Nervensystem durch die Veränderung der „neuronalen“ Erregungseigenschaften Lernen ermöglicht; zum anderen maschinell interpretiert, als ein Gedächtnisspeicher, der analog der Funktionsweise des ersten projektierten Rechenmaschinenspeichers arbeitet.16

12 J.-P. Dupuy 2000. 13 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1943. 14 Vgl. H. Stach 1999, J.-P. Dupuy 2000. 15 Vgl. K. Schmidt-Brücken 1998. 16 In der Kybernetik wurde über anhaltende Zirkulationsprozesse nicht nur als Grundlage von Lern- und Gedächtnisprozessen, sondern auch als pathologische Ursache für

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McCulloch und von Neumann blieben jedoch nicht bei ihrem je entwickelten Modell stehen, sondern adaptierten, wie ich zeigen werde, auch die jeweils andere Interpretationsweise regenerativer Zirkulation. Dreh- und Angelpunkt dieser Mensch und Maschine überblendenden Modelle bildete die biomorphe Interpretation einer Nervenzelle, welche in ihrer Funktionsweise sowohl die „alles-odernichts“-Regel der Neurophysiologie repräsentieren kann als auch die zwei Zustände eines binären Kippschalters, wie er in Digitalcomputern Verwendung findet. Ich bezeichne die darauf basierenden Modelle17 der Kybernetik im Folgenden als kybernetische Nervennetzmodelle. Meine Begriffswahl geschieht in Anlehnung an Dupuy – er bezeichnet diese Modelle als „neural network“18 – und zugleich in Abgrenzung zu den Modellen vernetzter Nervenzellen, wie sie zu der Zeit beispielsweise von Lorente de Nó in den Neurowissenschaften verwendet wurden (vgl Kapitel 2). Eine solche Kybernetikgeschichte, in der die Zusammenführung von neurowissenschaftlichen Konzepten und Gedanken mit der Ingenieurtechnik und der Mathematik in kybernetischen Modellen beschrieben wird, ist bislang nur in Teilen geschrieben, obgleich bereits auf die Überblendung von Nervensystem

Erkrankungen oder Neurosen diskutiert, ein Aspekt, den ich an dieser Stelle nicht vertiefen möchte, ihn der Vollständigkeit halber jedoch erwähne: Während im Kontext von Lernen und Gedächtnis die regenerative Zirkulation als kontrollierter zyklischer Prozess betrachtet wurde, sah man in ihm in den Diskussionen um die Hintergründe psychiatrischer Erkrankungen einen unkontrollierten, zerstörerischen Prozess. Sogenannte Reverberationen könnten (psychische) Erkrankungen auslösen, in dem sie wahllos auf weite Teile des Gehirns übergriffen, so die These, und dadurch die normalen Abläufe erheblich beeinträchtigen, vgl. z.B. Brief L. Kubie an McCulloch, 12. April 1949, APS, McCulloch Papers, BM 139 Nr.2, Mappe: Macy Meeting VI, April/ Mai 1949 Nr. 2 oder W.S. McCulloch in H. von Foerster 1955, S. 73, N. Wiener 1948b, S. 171ff. 17 Im Allgemeinen fällt in der Literatur die Abgrenzungen zwischen Metapher und Modell nicht eindeutig aus. Ich wähle, angelehnt an S. Leonelli 2007, S. 7, den Begriff Modell. „[A]nything used by practising scientists to mediate between theory and phenomena can be called model“. Dieser Begriff drückt m.E. besser als Metapher den explorativen Charakter und die sehr formalisierte Art und Weise aus, mit dem die Kybernetiker die Grundlagen kognitiver Fähigkeiten und damit des Geist zu erfassen suchten. 18 J.-P. Dupuy 2000, S. 8.

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und Computer in der Kybernetik hingewiesen wurde.19 Bei verschiedenen Autorinnen und Autoren findet sich bereits eine genauere Analyse neurowissenschaftlicher Anteile und Einflüsse: Kay 2001 und Abraham 2002 explorieren die Nervenanalogien in McCullochs logischen Nervennetzen von 1943. Stach 1999 beschreibt, wie von Neumann in seinem First Draft aus dem Jahr 1945 Neurophysiologie und Maschinenfunktionen ineinander überführte. Christen 2006 untersucht die Analogie zwischen dem Informationsbegriff und der Konzeption der Nerven in der Kybernetik sowie die spätere Anwendung des Informationsbegriffs bei der Erforschung des Gehirns.20 Eine Analyse zirkulärer Prozesse fehlt in diesen Veröffentlichungen jedoch. Um den überblendenden, metawissenschaftlichen Charakter der kybernetischen Nervennetzmodelle genauer fassen zu können, greife ich auf den Begriff Hybridisierung zurück. Darunter ist die Zusammensetzung eines Ganzen, d.h. einer Theorie, eines Modells, aus zwei oder mehr eigenständigen Gegenstandsbereichen zu verstehen, mit dem Ziel, dass sich aus der Ergänzung der Eigenschaften der beteiligten Bereiche neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Im Rahmen des Interdisziplinären Forschungsprojektes IFP Sozialgeschichte der Informatik wurden diese Begriffe von Eulenhöfer, Siefkes, Stach und Städtler in die Geschichte der Kybernetik und Informatik eingeführt.21 Die Autorinnen und Autoren charakterisieren Hybridisierung als das „in eins“ Setzen von Mensch und Maschine unter Verwendung formalisierter, z.T. mathematisch aus formulierter Notationen. Dabei handelt es sich um eine analysierende Perspektive auf die Entstehungsprozesse, denn sie betrachtet gezielt die darin vorhandene Überblendung von technischem Gerät und Organismus, um die Vermischung dualer, einander normalerweise ausschließender Gegenstandsbereiche gedanklich erneut trennen zu können.22 Wie Eulenhöfer, Siefkes, Stach und Städtler gezeigt haben, handelt es sich bei der Hybridisierung um eine zentrale Vorgehensweise, die nicht nur die Kybernetik prägte, sondern die gesamte Informatik durchzieht. Die vorliegende Arbeit untersucht die Entstehung dieser Vorgehensweise in den 1940er Jahren.

19 So charakterisieren beispielsweise L.H. Marshall/ H.W. Magoun 1998 die Kybernetik als eine Symbiose von Elementen der Physiologie und Mathematik. Auch J.-P. Dupuy 2000 verweist auf diese Analogien. 20 Vgl. H. Stach 1999, L.E. Kay 2001, T.H. Abraham 2002, 2003 a, b, 2004 a, b, M. Christen 2006. 21 Vgl. P. Eulenhöfer et al. 1997, P. Eulenhöfer 1998, D. Siefkes et al 1998, H. Stach 1999. 22 Z.B. P. Eulenhöfer 1998, S. 23, H. Stach 1999, S. 4ff.

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Ich beschreibe kybernetische Nervennetzmodelle als Ergebnis eines Hybridisierungsprozesses, in dem die Gehirn-Computer-Analogie als Leitmotiv der Erkenntnis galt. Die Hybridisierung war dabei kein Selbstzweck. Aus der Überblendung mehrerer Wissensbereiche erhofften sich Wissenschaftler wie von Neumann und McCulloch neue Einblicke in die Grundlagen geistiger Prozesse, die sie aus einem der beteiligten Wissensgebiete allein nicht erlangt hätten. McCulloch wollte den Geist aus den neurophysiologischen Grundlagen heraus verstehen, von Neumanns Ziel war der Bau intelligenter Computer.23 Das spezifische theoretische Instrumentarium, um diese Erkenntnisse zu gewinnen, waren eben die kybernetischen Nervennetzmodelle. Diese stellten – mit dem Modell der formalisierten „Nervenzelle“ im Zentrum – ein offenes, wandelbares Instrumentarium zum Entwurf immer neuer Netzmodelle dar. In ihnen konnten die verschiedensten Ideen zur Funktionsweise des Nervensystems und des Computers integriert werden, um sich von verschiedenen Seiten der Funktionsweise des Geistes zu nähern. Diese Veränderungen in der Modellierungsweise offenbaren das tiefe Engagement der zwei Wissenschaftler in ihrem Ringen um ein adäquates Modell des Geistes.24 Nicht nur Lorente de Nós Konzept der geschlossenen Neuronenketten war in der Kybernetik in Gestalt der regenerativen Zirkulation gegenwärtig, Lorente de Nó selbst gehörte zu dem auserwählten Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Kybernetik-Konferenzen. Daher werde ich gegen Ende des Kapitels auf Lorente de Nós Rolle in der Kybernetik näher eingehen.

3.2 G RUNDANNAHMEN

KYBERNETISCHER

N ERVENNETZE

Die den kybernetischen Nervennetzmodellen inhärenten Grundannahmen25 waren in hohem Maße vom Behaviorismus beeinflusst, der damals vorherrschenden

23 Der polnischstämmige Mathematiker Stanisܽaw Marcin Ulam, ein persönlicher Freund von Neumanns, geht sogar so weit zu behaupten, dass es von Neumanns Faszination für die Funktionsweise des Nervensystems und der Organisation des Gehirns eines seiner zentralen Motive war, die ihn dazu bewogen, sich der Entwicklung digitaler Computer zu zuwenden, vgl S. Ulam in M.A. Boden 2008, S. 892. 24 Vgl. S. Leonelli 2007, S. 21. 25 Die kybernetischen Grundannahmen sind mehrfach beschrieben worden, z.B. R. Cordeschi 1991a, 2002, N.K. Hayles 1991,1999, S. Heims 1993, P. Edwards 1997, P. Galison 1997, M. Geier 1999, H. Stach 1999, J.-P. Dupuy 2000, L.E. Kay 2001, T.H. Abraham 2002, 2004b.

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Richtung der Psychologie. Er bot mit seinem Verhaltensbegriff als seiner zentralen Kategorie einen nichtmetaphysischen Ansatz der Betrachtung geistiger Prozesse, der es ermöglichte, maschinelles Verhalten und geistige Prozesse in einem Referenzrahmen zu betrachten. Denn die Beschreibung psychischer Fähigkeiten beschränkt sich im klassischen Behaviorismus auf die Beobachtung von Verhaltensänderungen sowie die Bestimmung der äußeren Faktoren, die diese Verhaltensänderungen bewirken.26 Eher „unscharfe“ Begriffe wie Geist, Denken, Vorstellung, Plan oder Absicht wurden gemieden, da im Behaviorismus die Überzeugung vorherrschte, dass die Reaktionen der Lebewesen durch die Umwelt determiniert seien. Menschen spiegelten in ihrem Verhalten die in ihrer Umwelt auf sie wirkenden Kräfte und Einflüsse wider. Anhand von Reiz-ReaktionsExperimenten suchte man zu erklären, wie Verhaltensweisen wie z.B. das Lernen zustande kämen. In Übernahme des aus dem Behaviorismus entlehnten Verhaltensbegriffs betrachtete die Kybernetik die Reaktionsweise der Maschinen und der Organismen gleichermaßen als reine Input-Output-Relation eines spezifischen Systems in Bezug auf die Bedingungen der Umwelt. Im Gegensatz zum klassischen Behaviorismus, der Spekulationen über die Interna mentaler Abläufe ablehnte, öffnete die Kybernetik jedoch die „Black Box“ des Geistes, in dem sie über die internen Funktionsabläufe spekulierte, die dem beobachteten Verhalten zugrunde lägen. Dadurch wurde der Geist wieder zu einer naturwissenschaftlich anerkannten Kategorie. In der Kybernetik wurde der Mensch und die Maschine in ihrer Funktionsweise als analog betrachtet.27 Die Kybernetik befragte den Menschen nicht mehr auf seine typologische oder individuelle Eigenart hin, „sondern fasste ihn als komplexen Funktionsmechanismus auf, der sich nicht prinzipiell von Maschinen unterschied“28. Cordeschi nennt diese Betrachtungsweise auch maschinellen Funktionalismus. Dieser geht davon aus, dass Organismen und Maschinen vom Standpunkt ihrer gemeinsamen funktionellen Organisation studiert werden können.29 Diese gemeinsame funktionelle Organisation sei mathematisch beschreibbar, da der Geist den Gesetzen der Mathematik und Logik folge. Seit der Entwicklung digitaler elektronischer Rechenmaschinen war ein auf diesen Grundla-

26 Das Ziel des Behaviorismus war eine Vorhersage und damit die Kontrolle des Verhaltens, „in which behavior was analyzed as a subject matter in its own right as a function of environmental variables without reference to to either mind or the nervous system“ (Burrhus Frederic Skinner (1904-1990) in G. Holton 1993, S. 53). 27 Vgl. beispielsweise H. Gardner 1989, S. 33, S. Heims 1993, S. 249. 28 M. Hagner/ E. Hörl 2008, S. 11. 29 R. Cordeschi 2002, S. 172, S. 246.

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gen konzipiertes Modell des Geistes auch maschinell zu konstruieren – jedenfalls theoretisch. „The closest mechanical analoge to the nervous system is the computing machine“.30 Der menschliche Geist wurde als direktes Ergebnis von Aktivitäten in neuronal realisierten Kausalstrukturen (basierend auf Logik) betrachtet.31 Die frühe Kybernetik vertrat hier ein physikalistisches Verständnis des Leib-Seele-Problems, das auf ein Gehirn-Geist-Problem zugespitzt wurde. Dieser maschinelle Funktionalismus der frühen Kybernetik beinhaltete zugleich die Vorstellung der Existenz eines universellen Funktionsmechanismus. Da die Grundlagen des Seins in der Mathematik, insbesondere der Logik gesehen wurden, könne man sie unabhängig von jedweder materiellen Basis beschreiben, so die von McCulloch und von Neumann geteilte Grundannahme. Der Erstgenannte schrieb: „First, I must know the laws of logic and mathematics which no creation can escape“.32 Da sich heute kein biologischer Vorgang aufgrund seiner chemischen und physikalischen Grundlage allein verstehen ließe,33 bedürfe es allgemein gültiger Funktionsprinzipien, nämlich solchen, die mathematisch beschrieben werden können, um die nervliche Basis von Denkprozessen zu verstehen: „I look to mathematics, including symbolic logic, for a statement of theory in terms so general that the creation of God and man must exemplify the processes prescribed by that theory“.34

Seine Modelle seien so allgemein gehalten, dass sie die von Menschen erzeugte und die von Gott gemachte Welt zugleich umfassen können.35 Für ihren Schöpfer stellen sie universelle Mechanismen des Geistes dar. Diese allgemeingültigen Funktionsprinzipien präsentierte McCulloch auch gerne als eine Art präexistente Naturgesetze. Sie werden zum „ursprünglichen“ Modell erhoben, wie Hörl es nennt,36 von dem angenommen wird, dass es sich dann sowohl im Computer als auch im Nervensystem auf je spezifische Art und Weise manifestieren könne.

30 N. Wiener 1948b, S. 208. 31 Zur Kritik an diesem Ansatz vgl. z.B. H. Walach 2005. 32 W.S. McCulloch an Teuber 10. Dezember 1947, APS, McCulloch Papers, BM 139 Nr.2, Macy Meeting Mappe IV, Oktober 1947. 33 W.S. McCulloch 2000, S. 179. 34 W.S. McCulloch an Teuber, 10. Dezember 1947, APS, McCulloch Papers, BM 139, Nr. 2, Macy Meeting Mappe IV, Oktober 1947. 35 Ebd. 36 E. Hörl 2008, vgl. auch N.K. Hayles 1999.

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Cordeschi und Boden sehen in der Annahme einer Existenz solch von der Materie unabhängiger funktionaler Modelle des Geistes eines der Hauptmerkmale der Kybernetik und der daraus hervorgegangenen Disziplinen und Wissenschaften Künstliche Intelligenz, Kognitionswissenschaften und Neuronale Netze.37 Cordeschi prägte hierfür den Begriff „Kultur des Artifiziellen“ und zeigte, dass deren Entwicklung lange vor der Kybernetik eingesetzt hatte.38 Diese „Kultur des Artifiziellen“ zieht sich wie ein roter Faden durch die in diesem Kapitel vorgestellten (proto-)kybernetischen Modelle von Rashevsky, McCulloch und von Neumann, die alle ihren Modellen mehr oder minder deutlich einen eigenständigen Wert (als eben eine solche von der Materie unabhängige Verkörperung des Geistes) zuerkennen. Die Frage nach einer Repräsentation des Nervensystems durch die kybernetischen Nervennetzmodelle wird dagegen von den vorgestellten Wissenschaftlern nachgeordnet behandelt. Mit dieser „Kultur des Artifiziellen“ wurde der Rahmen geschaffen für eine Neuausrichtung der Erforschung des Geistes und des Nervensystems.

3.3 N ERVENNETZMODELLE

DES

L ERNENS

In diesem Abschnitt werden zwei mathematisch ausformulierte Modelle des Nervensystems aus der Zeit der Protokybernetik vorgestellt. Sie enthalten beide regenerative Zirkulation zur Darstellung von Lernprozessen. Das erste Modell wurde von dem russisch-amerikanischen Wissenschaftler Nicolas Rashevsky entwickelt. Mit seinem Ansatz, der Modellierung psychologischer Prozesse anhand abstrakter mathematischer Nervenmodelle, besaß der Biophysiker großen Einfluss auf die Kybernetik, besonders auf McCullochs und Pitts Entwurf eines logikbasierten, neuronalen Netzmodells geistiger Prozesse aus den frühen 1940er

37 R. Cordeschi 1991a, 2002, M. Boden 2008. 38 Die Annahme, dass geistige Fähigkeiten universell seien und folglich auch in künstlich geschaffenen Systemen wie etwa Rechenmaschinen verkörpert werden könnten, gab es bereits lange vor der Kybernetik. R. Cordeschi 1991a, 2002 hat dieses Denken besonders in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet. Er untersuchte frühe „lernende“ Roboter, in denen einfache (neuro-)psychologische Lerntheorien maschinell umgesetzt worden waren. Jedoch erst mit dem Anbruch der Kybernetik und dem Bau von Computern waren in ausreichendem Maße Werkzeuge und Modelle verfügbar und technische Grundlagen geschaffen, um einen breiteren wissenschaftlichen Zugang zu ermöglichen.

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Jahren, deren Modell in diesem Abschnitt im Anschluss an Rashevsky erläutert wird. In ihren Modellen formulierten die Protagonisten nervliche Funktionen mathematisch aus. Die vernetzten „Neuronen“ „interagieren“ ähnlich den neurophysiologischen Vorbildern, allerdings streng formalisiert, mit dem Ziel, die Mechanismen geistiger Prozesse verstehen. Für die Modellierung wurden damals kursierende psycho-(physio-)logische Thesen des Lernens adaptiert. In beiden Beispielen zeigt sich die „Kultur des Artifiziellen“ bereits vollständig entfaltet: Die entstandenen Modelle beziehen ihren Wert nicht daraus, möglichst naturgetreue Abbildungen des Nervensystems (beispielsweise als Korrelat der Lernprozesse) zu sein, sondern leiten ihren Wert von dem Anspruch ab, den Geist duplizieren zu können. Während Rashevskys Lernmodell ein singulärer Entwurf blieb, wurde das logische Nervennetz von McCulloch und Pitts Ausgangspunkt für die kybernetischen Nervennetzmodelle. 3.3.1 Lern- und Gedächtnistheorien im frühen 20. Jahrhundert Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über die zwei wichtigsten Entwicklungen im Bereich der US-amerikanischen Lernpsychologie, die Rashevskys und in Folge auch McCullochs Modellierung des Lernprozesses beeinflussten, zum einen die Diskussionen um Konditionierung als basalem Lernakt und zum anderen die Spekulationen über mögliche neuronale Grundlage des Lernens, als neuronale Integrationsmechanismen einer wie auch immer gearteten Gedächtnisspur. Eine Aufarbeitung der Geschichte der Lernpsychologie inklusive psychophysiologischer Theorien des Lernens im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts steht weitestgehend aus, sieht man mal von Schilderung der Leistungen von Einzelpersonen ab. Die Etablierung des Konditionierungsprozesses als Lernakt Da Lernen – und Gedächtnis – fundamentale Bereiche des menschlichen Lebens bilden, sind sie Bestandteil einer jeden psychologischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Ihre Anfänge fallen zusammen mit der Etablierung der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Man versuchte, geistige Prozesse auf objektivierende Größen und mechanische Prozesse zurückzuführen, in der Hoffnung, auf diese Weise einen rationalen Zugang zum psychischen Innenleben zu finden. Die aus der Theologie oder Philosophie abgeleiteten mentalistischen Begriffe wie Bewusstsein oder Gefühle, wie sie noch in den psychologischen Theorien des 19. Jahrhunderts Verwendung fanden, erschienen vielen Wissenschaft-

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lern zur Jahrhundertwende in ihrer Bedeutung zu unpräzise und daher nicht geeignet, Einblick in die Fähigkeiten des menschlichen Geistes zu erlangen. Als Reaktion entstand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders in den USA die Laborpsychologie, die der Bedeutungsvielfalt metaphysischer Konzepte geistiger Prozesse durch den Einsatz objektiver psychologischer Kategorien zu entgehen suchten: Das Verhalten des Organismus im Verhältnis zu seiner Umwelt stand im Zentrum. Die Reduktion auf die Untersuchung beobacht- und messbaren Verhaltens unter klar umrissenen Laborbedingungen und der Versuch einer funktional-logischen Repräsentation interner Abläufe boten einen neuen Weg jenseits metaphysischer Spekulationen. Psychologische Phänomene, ja das Bewusstsein selber, wurden so auf beobachtbare physikalische Entitäten rückgeführt. Der klassische Behaviorismus (1912-1930)39 sowie im Anschluss eine Phase des Neobehaviorismus40 entwickelte sich aus diesen Tendenzen. In diesem Kontext etablierte sich Lernen als zentrale Kategorie. Besonders die Ideen des Assoziationismus wirkten hier entscheidend nach, obgleich man sich im Bemühen um Objektivität von dessen metaphysischen Anteilen abgrenzte. Lernen wurde verstanden als objektiv beobachtbare Verhaltensänderung aufgrund vorangegangener Ereignisse im Umfeld des Lernenden. Dieser Prozess geschehe durch Etablierung und Vertiefung von funktionellen Verbindungen zwischen unterschiedlichen Entitäten im Laufe individueller Erfahrungen. Die sich dadurch angeeignete Verhaltensänderung wurde in diesem Kontext als Gedächtnis betrachtet.

39 John B. Watson (1878-1958) gilt als Begründer des klassischen Behaviorismus. Seine Verhaltensanalysen basierten auf Beobachtungen an Tieren, die er als einer der ersten überhaupt in einem Labor für Tierpsychologie zuerst an der Chicago Universität und ab 1908 als Professor an der Johns Hopkins Universität durchführte. In Tierversuchen eröffneten sich für ihn die Grundprinzipien des Verhaltens, auch diejenigen des Menschen. Experimentell galt das Stimulus-Response-Prinzip, d.h. die Frage, wie sich ein Lebewesen zu einem gegebenen Reiz verhält, als Schlüssel zu einer Analyse des Verhaltens. Daneben waren weitere objektiv messbare Faktoren, ableitbar von peripheren Organen wie den Sinnen, Muskeln und oder Drüsen, als Indikatoren zugelassen. Die introspektive Suche subjektiver Beweggründe individuellen Verhaltens lehnte Watson ab, desgleichen „mentalistische“ Konzepte wie Eindruck, Gefühle, Wahrnehmung oder Wille. Spekulationen über Bewusstseinsvorgänge oder die Abbildung mentaler Gehirnprozesse galten ihm als tabu. 40 Näheres zu den philosophischen Ideen des (Neo-)Behaviorismus vgl. S. Koch 1964.

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„All knowledge, however acquired, all skill resulting from motor activity, all habits, all acquaintance with people and things, all attitudes built up in dealing with people and things, have been learned in a broad sense of the term. Whenever any act shows the effect of previous activity, aside from such temporary factors as fatigue, it shows the effect of learning. Learning, then, is any activity, that produces a relatively permanent affect on later activity“.41

Ein wichtiges Element bildete der experimentelle Zugang über die Erforschung des Lernverhaltens. Wichtige frühe Vertreter in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren vor allem Edward Thorndike (1874-1949), John B. Watson (1878-1958) und Edwin R. Guthrie (1886-1949). Unter Laborbedingungen wurde der Lern- und Gedächtnisbegriff in Tierexperimenten operationalisierbar. In der Untersuchung tierischer Grundmuster der Verhaltensmodifikation erhoffte man sich Aufschluss über Lernprozesse. Die in der Beziehung zwischen dargebotenem Stimulus und der Reaktion entstehenden Verbindungen im Verhalten der Tiere wurden als Lernprozess verstanden (Stimulus-Response). Dabei wurde allerdings nur ein Teilaspekt des Lernens untersucht, nämlich das auf Wiederholung basierende Training. Die Untersuchungen widmeten sich den experimentell zu beobachtenden Faktoren beim Entstehen oder Auflösen dieser funktionalen „Verbindungen“. Die Einführung der Konditionierung in die Lernpsychologie wurde von den russischen Physiologen Pawlow und Bechterew dominiert.42 Ivan Pawlow (1849-1936) beschrieb im Verlauf seiner Studien an den Verdauungsdrüsen das Phänomen der Konditionierung als erworbene Reflexe; für seine Forschung erhielt er den Nobelpreis.43 Vladimir M. Bechterew (1857-1927) studierte ab 1906 systematisch die von ihm sogenannten assoziativen Reflexe. Hilgard schreibt, dass man sich in der Psychologie weitestgehend auf Pawlow beruft, da dieser im Vergleich zu Bechterew seine Konditionierungsstudien gründlicher angelegt hatte, so dass sein Ansatz den Laborpsychologen besser zupass kam. Bechterew dagegen ging in seinem Ansatz eher in die Breite, da er auch zu Bereichen wie Psychopathologie, Neuropsychiatrie und kindliche Entwicklung forschte.44 In den USA ist es besonders dem Behavioristen Watson zu verdanken, dass die Konditionierung als Lernkonzept in die Psychologie Einzug hielt. Konditio-

41 R.S. Woodworth 1940, S. 292. 42 E.R. Hilgard/ D.G. Marquis 1940. 43 Näheres zu Pawlow und seiner Forschungsarbeit vgl. D. Todes 1997, 2000. 44 E.R. Hilgard 1987, S. 193.

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nierungseffekte, die temporale Verknüpfung einer Reaktion auf einen gegebenen Reiz, waren bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt, besonders den USA, bekannt. Schon 1906 war beispielsweise ein erster Artikel von Pawlow in der Zeitschrift Science erschienen. Aber erst mit Watsons Ausführungen im Jahr 1915 zum Thema The place of conditioned reflex in psychology wurde Konditionierung zu einem wichtigen Konzept in der amerikanischen Psychologie. Watson, der die Introspektion in der Psychologie ablehnte, führte stattdessen das Verhalten als Grundeinheit ein. Der konditionierte Reflex bot ihm eine Erklärungsgrundlage für diese Grundeinheit. Es waren jedoch weniger Watsons Experimente auf diesem Gebiet, die zu der Verbreitung der Konditionierung führten. Sein Beitrag bestand vielmehr in seiner Suggestion, es handele sich bei der konditionierten Antwort um eine Grundform des Lernens.45 Damit schuf er ein Paradigma für Lernprozesse, das seine Wirkung in den nächsten Jahren entfaltete. Während sich bis Mitte der 1920er Jahre Konditionierung vor allem durch einige Lehrbücher als allgemeine Theorie etablierte, richtete sich in den darauffolgenden Jahren die Aufmerksamkeit auf die Erforschung von Details des Konditionierungsprozesses. Mannigfach wurde jetzt ihre Verwendbarkeit in der Psychologie experimentell getestet.46 Vom Assoziationismus geprägte Lerntheorien, die Lernen als die zeitlich variable Etablierung von Verbindungen zwischen Entitäten verstanden, gingen mit der Konditionierung als experimenteller Methode eine enge Verbindung ein. Dies ermöglichte es, Verhaltensveränderungen (verstanden als basale Lernakte) aufgrund von Umweltveränderungen quantitativ zu erfassen. Dieser Schub an experimenteller Praxis ab der Mitte der 1920er Jahre war auch dem Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe von Pawlows Buch Conditioned Reflexes im Jahr 1927 (russische Ausgabe 1923) zu verdanken, in dem dieser seine Experimente und Ergebnisse aus einem Vierteljahrhundert beschrieb. Die Inhalte des Buches förderten auch die Suche nach dem neuronalen Korrelat dieser Lernprozesse im Gehirn. So wurden Anfang der 1930er vermehrt Experimente zur Lokalisation cerebraler Korrelate von Konditionierungsprozessen unternommen.47 Lernen als Mechanismus zur Etablierung von Gedächtnisspuren Gemeinhin wird die Existenz psychologischer Theorien auf Neuronenebene erst wieder in der modernen Neurobiologie und Psychologie der frühen 1950er Jahre

45 Ebd. 46 E.R. Hilgard/ D.G. Marquis 1940, S. 15/16. 47 Vgl. ebd.

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wahrgenommen. Die Entwicklungen der vorangegangenen Jahrzehnte finden kaum oder gar keine Erwähnung.48 Die aus der Assoziationstheorie überkommene Spurentheorie des Gedächtnisses war jedoch auch während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nie ganz verschwunden, sondern wurde durch neue Erkenntnisse aktualisiert und im Gefolge der aktuellen Entwicklungen in der Psychologie mehr auf die Frage nach einem neuronalen Korrelat des Lernens zugespitzt.49 Lernen wurde in diesem Ansatz als Prozess der materiellen Modifikation betrachtet, während das Gedächtnis als dessen Resultat verstanden wurde, als der bereits modifizierte Zustand der Nerven. „Gedächtnis wird unmittelbar, d.h. kausal, in Zusammenhang gebracht mit Lernen“.50 Solch spekulative Theorien waren vor allem eine Domäne der Anatomen bzw. Neurologen. Matthaei, Lashley, Douglas sowie Hilgard und Marquis geben eine gute Übersicht über die in den 1920er und 1930er Jahren kursierenden Theorien zum neuronalen Korrelat von Lernprozessen.51 Zwei Varianten ließen sich unterscheiden, eine funktionelle und eine strukturelle. Beide Varianten begriffen Lernen und Gedächtnis als Funktion veränderlicher Struktureigenschaften der Nerven. Bei diesen Modifikationen etablieren sich Relationen zwischen Nerven bzw. bestehende Relationen verändern sich, so das Verständnis. Gemäß der neuroanatomisch geprägten Variante wirken im Nervensystem funktionelle Prozesse auf die Etablierung neuer struktureller Verbindungen. Bei den biochemischen Varianten wird von bereits existenten neuronalen Verbindungen ausgegangen, die im Laufe des Lernprozesses funktionell auf neue Art und Weise aufeinander bezogen werden. Hypothesen über die neurophysiologischen Grundlagen des Lernens ersterer Art wurden eher von Anatomen und Embryologen52

48 Vgl. O. Breidbach 1997, S. 32ff. 49 Die Spurentheorie (Trace-Theory oder Memory-Theory) existiert in verschiedenen Ausformungen seit der Antike (vgl. Kapitel 1). Sie beruht auf der Annahme, kognitive Prozesse, Erlebnisse, Erfahrungen erzeugten eine wie auch immer geartete Spur (im Nervensystem), deren Reaktivierung zugleich die Reaktivierung der Erinnerungen bedeute. Näheres zur Geschichte der Spurentheorie des Gedächtnisses, vgl. z.B. B.R. Gomulicki 1953, E. Florey 1993, S. Finger 1994, Kap. 23. 50 E. Florey 1993, S. 195. 51 Vgl. R. Matthaei 1921, K.S. Lashley 1929, 1934, A.C. Douglas 1932, E.R. Hilgard/ D.G. Marquis 1940. 52 Beispielsweisen verfolgten Vertreter der American School of Psychobiology diesen Ansatz, Lernen auf Wachstumsprozesse im Nervensystem zurückführten. So betrachtete der Embryologe George Ellet Coghill (1872-1941) in Bezugnahme auf das Konzept „Entwicklung = protoplasmisches Lernen“ des ebenfalls zu dieser Schule zu

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vorgebracht, während Physiologen und Psychologen zumeist die funktionelle Spezifizierung/ Spezialisierung bereits bestehender Verbindungen in Betracht zogen. Erst im Laufe der 1930er Jahren wurde der Prozess immer häufiger in der Modifikation der synaptischen Widerstände verortet.53 Experimentelle Evidenzen, die solche psychophysiologischen Lerntheorien hätten stützen können, waren rar. Man erinnere sich an den neurophysiologischen Kenntnisstand der 1920er und 1930er Jahre (vgl. Teil I, Kapitel 2). Auf diesem Umstand machten gegen Ende der 1920er Jahre besonders die Psychobiologen Charles Judson Herrick und Karl Spencer Lashley aufmerksam. Sie verwiesen auf den spekulativen Charakters der damals kursierenden physiologischen Lerntheorien – z.B. „regardig the actual mechanism of learning, our knowledge is very incomplete“54– und machten deutlich, dass weitere Forschung an diesem Punkt unbedingt erforderlich sei,55 ein Anspruch, an dessen Umsetzung sie ab Ende der 1920er Jahre gemeinsam arbeiteten.56 3.3.2 Ein protokybernetisches Konditionierungsmodell Der russisch-amerikanische Biophysiker Nicolas Rashevsky (1899-1972) war der erste, der ein Modell des Lernens in mathematischen Nervennetzen entwarf, die neurophysiologisch und psychologisch spezifiziert waren. Seine Modelle

rechnenden Embryologen Charles Manning Child (1869-1955) neuronales Wachstum als Lernen, da es das Verhaltensrepertoire des Organismus erweitere, vgl. N. Weidmann 1999, S. 99; näheres zu der American School of Psychobiology und ihren Vertretern in N. Weidmann 1996, 1999. 53 Vgl. G. Murphy/ J. Kovach 1972, S. 122ff, S. 352ff. 54 C.J. Herrick 1927, S. 115. 55 Vgl. z.B. K.S. Lashley 1930. 56 Herrick und Lashley forschten zu dieser Zeit gemeinsam an der University of Chicago an neuroanatomischen und -physiologischen Grundlagen des Gehirns, besonders an der Frage, wie erlerntes Verhalten im Gehirn abgelegt sei. Trotz unterschiedlicher Sichten auf das Verhältnis von Gehirn und Geist – als Behaviorist klammert Lashley die Vorstellung eines Geistes als unnötig aus, während Herrick als ein Vertreter der American School of Psychobiology gerade introspektive Methoden als wichtige Ergänzung zu einer in der Biologie gegründeten Psychologie ansah – verband sie die Vorstellung einer eher holistischen Theorie der Gehirnfunktionen, in der konditionierte Reflexe nicht als Gehirnfunktion galt und stattdessen eine dezentrale Verteilung vieler Funktionen über das gesamte Gehirn angenommen wurden, näheres vgl. S.E. Kingsland 1993, N. Weidman 1996, 1999.

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markieren einen neuen Umgang mit dem Nervensystem. Rashevsky generierte nicht, wie in der Physiologie üblich, in enger Anbindung an experimentelle Ergebnisse Thesen über die Vorgänge in Gehirn und Rückenmark. Er begriff das Gehirn als ein physikalisches System, dessen inhärente Komplexität man durch mathematische Modelle, in diesem Fall aus dem Bereich der Thermodynamik57, erfassen könne. „Of all biological phenomena which are considered to offer the greatest difficulties to a physico-mathematical interpretation, the physiology of the brain occupies, beyond doubt, the most prominent position. [...] Although we are not able to give an adequat interpretation of the brain phenomena which would be altogether compatible with our present neurological and anatomical knowledge, we have been able to demonstrate by thermodynamical reasoning that physical systems of such a nature may be conceived, which would possess some of the fundamental properties characteristic of the brain, such as conditioned reaction to stimulus pattern, Gestalt discrimination, learning, spontaneous activity, and even elementary will and logical reasoning“.58

Mit seiner Biophysik verfolgte er jedoch keine möglichst präzise Beschreibung organischer Vorgänge, die er mit Resultaten aus einer experimentellen Praxis hätte abgleichen können oder wollen.59 Den Realitätsgehalt seiner Modelle zu bestimmen, überließ Rashevsky anderen, denn „[a] characteristic of mathematical method is that it is applied to scientific problem for its own sake, regardless of immediate contact with reality“.60 Für ihn stand der Aspekt der mathematischen Modellierbarkeit des dynamischen Verhaltens des Nervensystems im Vordergrund. Ihren Wert zogen seine Modelle vor allem aus der Möglichkeit einer Erklärung biologischer Phänomene. „Mathematical biophysics studies all physically conceivable possibilities of what may happen in a biological system. It studies these without regard to whether the possibilities

57 Die Thermodynamik stellt ein Gebiet der Physik dar, in dem die Entwicklung komplexer Systeme durch Differentialgleichungen beschrieben wird. Im Allgemeinen ist es jedoch schwierig, solche Gleichungssysteme zu lösen und sie damit z.B. für Vorhersagen nutzbar zu machen. 58 N. Rashevsky 1935, S. 82. 59 Vgl. T.H. Abraham 2002, 2004b. 60 N. Rashevsky 1934, S. 180.

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in question furnish the explanation of a given biological phenomenon. It studies all possible explanations“.61

Mithilfe dieses Ansatzes suchte Rashevsky, eine möglichst umfassende theoretische Basis für das Studium organischer Phänomene und damit für das menschliche Verhalten im Allgemeinen zu erlangen. Denn er hatte sich zum Ziel gesetzt, eine mathematische Theorie der grundlegenden Verhaltensgesetze der Individuen, „mathematical laws governing the behavior of individuals“62, zu etablieren. Rashevsky63 hatte in Kiew Physik studiert. Aus politischen Gründen wanderte er 1924 über Istanbul und Prag in die USA aus, wo er einige Jahre als Physiker in den Westinghouse Research Laboratories beschäftigt war und parallel dazu einen Lehrauftrag an der Universität von Pittsburgh wahrnahm. In dieser Zeit erwachte sein Interesse an Zellprozessen, in deren Abläufen er Ähnlichkeiten mit berechenbaren physikalischen Prozessen (nämlich der spontanen Teilung mikroskopischer Tropfen) sah, was ihn neben der Physik zu einer intensiven Beschäftigung auch mit der biologischen Forschung führte. Drei Ausrichtungen seiner Forschung lassen sich ausmachen: 1) physiko-chemische Theorien des Wachstums und der Gestalt von Zellen, 2) Theorien der nervlichen Erregungsfortleitung und 3) Modellierung des Gehirns als Grundlage der geistigen Fähigkeiten.64 Anfang der 1930er Jahre veröffentlichte Rashevsky einige Artikel zur mathematischen Theorie der Nervenleitung, in denen er sich mit erregenden und hemmenden Substanzen im Nervensystem, deren Verbreitung sowie dern Bedeutung bei der Transmission nervlicher Erregung in Form von Integral- und Differentialgleichungssystemen beschäftigte. 1934 wurde Rashevsky als Fellow der Rockefeller Foundation an die Universität von Chicago berufen, um in einem Projekt zu physiko-mathematischen Methoden und biologischen Problemen arbeiten. Ab Ende der 1930er Jahre leitete er dort seine eigene unabhängige Gruppe. Seine Forschung fasste er 1938 in seinem Standardwerk Mathematical Biophysics zusammen.65 Die Ergebnisse seiner Gruppe wurden im 1939 neu gegründeten Bulletin of Mathematical Bio-

61 N. Rashevsky 1934, S. 181. 62 N. Rashevsky 1938, S. 300. 63 Näheres zu Rashevskys Biographie und wissenschaftlichen Hintergründen finden sich in R. Cordeschi 2002 sowie den umfassenden Artikeln Abraham T. 2002 und besonders T.H. Abraham 2004b. 64 Vgl. Eintrag WW Diaries, Warren Weaver, S. 87/88, 9. Juli 1934, Record Group 12.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC. 65 N. Rashevsky 1938, 1948.

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physics veröffentlicht, das zu einer klassischen Zeitschrift im Bereich der Biophysik avancierte. Besonders Lernprozesse hatten früh Rashevskys Interesse geweckt. Er betrachtete sie als „eine besondere Art der Hysterese“. (Der Begriff Hysterese war ursprünglich von dem Physiker Sir James Alfred Ewing – 1855-1935 – geprägt worden, der darunter ganz allgemein das Fortdauern einer Wirkung nach dem Wegfall ihrer Ursache verstand). Lernen stellte für ihn in diesem Sinne eine Eigenschaft organischer Systeme dar, bei der die aktuelle Reaktion nicht nur von aktuellen Umweltreizen abhänge, sondern durch vorangegangene Ereignisse und Erfahrungen geprägt werde: „The same change in environment will cause different changes in the system, depending on the configuration, which the system possesses. Speaking in more physiological terms, the reactions of such a system to the same environmental change will vary. They depend on its ‚history‘ or, to be more anthropomorphic, on its ‚previous experience‘. In a formal way this however is a characteristic of the behavior of all organisms, particularly of the ‚higher‘ ones endowed with a highly developed brain. This dependence of reaction on previous experience we attribute to learning. And, from a purely formal point of view, learning is nothing more than a particular kind of hysteresis“.66

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, besaßen für Rashevsky auch physikalische Systeme die Fähigkeit zu lernen, nämlich genau dann, wenn ihre Komponenten eine gewisse Variabilität aufwiesen.67 Gemäß seiner Annahme, dass mathematische Modelle, die das Verhalten nachahmen, einen Beitrag zur Ergründung geistiger Fähigkeiten wie dem Lernen leisten können, entwickelte Rashevsky eine elektromechanische „Lernmaschine“, der gewisse Formen der Mustererkennung möglich waren.68 Im Anschluss daran wandte er sich der mathematischen Modellierung allgemeiner nervlicher Grundlagen des Lernens zu. Die klassische Konditionierung, wie von Pawlow eingeführt, übernahm er als grundlegendes Prinzip des Lernens – „[a]t the basis of learning lies Pavlov’s conditioned reflex“69 – und verband sie mit damals gängigen psychophysiologischen Theorien.

66 N. Rashevsky 1934, S. 193. 67 N. Rashevsky 1931a. 68 N. Rashevsky 1931b. Rashevskys Lernmaschine wird in R. Cordeschi 1991, 2002 ausführlich dargestellt. 69 N. Rashevsky 1934, S. 193.

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Auf dieser Grundlage entwarf Rashevsky seine dynamischen Nervennetzmodelle, deren Verhalten vollständig durch Differentialgleichungen beschrieben ist. Das Verhalten der „Nervenzellen“ als den variablen Elementen des Netzes modellierte Rashevsky analog der „alles-oder-nichts“-Regel der Neurophysiologie, die er als zwei unterschiedliche zelluläre Zustände beschrieb: Impulsweiterleitung oder nicht. „Each synapse is capable of possessing one of the two states. In the first state it does not transmit any nervous impulse at all. In the second it transmits a nervous impulse only when acted upon by a quite definite concentration of a substance which is generated during the stimulation of any afferent neuron“.70

Die (inter)zelluläre Dynamik führte er auf steigende und fallende Konzentrationen erregender und hemmender Substanzen zurück, die an den Enden der Axone ausgeschieden würden. Sie senkten oder höben den Schwellenwert der Erregung individueller Zellen. Hier bezog sich Rashevsky71 direkt auf Sherringtons C.E.S. und C.I.S. (vgl. Kapitel 2, Abschnitt 2.8). Als mathematische Grundlage der Beschreibung der funktionalen Organisation boten sich Differentialgleichungen an. Mithilfe dieser in ihrer Funktionsweise mathematisch beschriebenen Nervennetze konstruierte Rashevsky seine ersten Lernmodelle, in denen Konditionierung als Resultat eines Entstehungsprozesses neuronaler Verbindungen bzw. einer Modifikation bestehender neuronaler Verbindungen verstanden wurde.72 Die Entwicklung neuer Kontakte zwischen Zellen modellierte er zuerst gemäß der physiologischen Annahme, dass zwei Nervenzellen, wenn zeitgleich erregt, Anziehungskräfte entwickeln würden, die sie zueinander zögen. Reichten diese nicht aus, um den Kontakt zwischen den Zellen herzustellen, bildeten sich zumindest aufeinander zu wachsende Ausstülpungen.73 Dieses Verständnis einer neuronalen Basis des Lernens aufgrund von Wachstum und Modifikation gab Rashevsky Ende der 1930er Jahre auf und ersetzte es durch einen Bahnungsmechanismus ausgelöst durch Zirkulationen in einem „closed circuit“.74

70 N. Rashevsky 1931b, S. 380. 71 N. Rashevsky 1935, S. 85. 72 N. Rashevsky 1931b, 1934, S. 193, 1935. 73 Näheres vgl. N. Rashevsky 1935. 74 N. Rashevsky 1938, S. 244.

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Abbildung 3-1 „closed circuit“

N. Rashevky 1938, S. 244. „In this arrangement a neurone is stimulated by another; and the latter, in turn, stimulates the first neurone“.75

In dem „closed circuit“ stimulieren sich die „Nervenzellen“ gegenseitig, so dass ein Impuls zirkuliert, analog der geschlossenen Neuronenkette Lorente de Nós76. Durch diese Zirkulation nun wird eine Nervenzelle konstant mit Impulsen befeuert, wodurch ihr Schwellenwert der Erregung gesenkt wird (Bahnungseffekt). Allerdings deutete Rashevsky den Zirkulationsprozess anders als im Ursprungsmodell als reverberierend (der biologische Begriff für anhaltende Zirkulation)

75 Ebd. 76 N. Rashevsky 1938. Rashevsky verwies in der Verwendung eines geschlossenen Neuronenkreises nur indirekt auf Lorente de Nós Theorie geschlossener Neuronenketten. Es finden sich in N. Rashevsky 1938 jedoch Referenzen auf das Cold Spring Harbor Symposiums on Quantitative Biology 1936, an dem er und Lorente de Nó teilgenommen hatten. Ferner macht Rashevsky auf einen Artikel des Mediziners James Lee O’Leary (1904-1975) aufmerksam, worin dieser Lorente de Nós Konzept geschlossener Neuronenketten anwendete, vgl. J. O’Leary 1936. – O‘Leary war als junger Neuroanatomen auf eine Assistenzprofessur an die Washington School of Medicine nach St. Louis berufen worden, wo er mit George Bishop und Peter Heinbecker und auch Rafael Lorente de Nó zusammenarbeitete, vgl. R.N. DeJong 1982, L.H. Marshall 1983. – Auch in der überarbeiteten Fassung von Rashevskys Standardwerk aus dem Jahr 1948 gibt es erstaunlicherweise keinen direkten Verweis auf Lorente de Nó. Diese indifferente Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Kenntnisstand der Physiologie spiegelt m.E. das Interesse Rashevskys an der mathematischen Simulation von Verhalten wider, in der er die Möglichkeit der Berechenbarkeit des Verhaltens in einem Modell über dessen „Realitätsnähe“ in Bezug auf Strukturen und Funktionen im Nervensystem stellte.

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bzw. regenerativ77, während Lorente de Nó ihn aus physiologischer Perspektive als dekrementierend bzw. inkrementierend begriff. Im nachfolgend vorgestellten Modell78 modelliert Rashevsky den Prozess der Konditionierung als Ergebnis dieses Bahnungseffektes: Im Konditionierungstraining geschieht die parallele Darbietung zweier Stimuli, des unkonditionierten und des konditionierten. Ersterer entspricht einer Reiz-Reaktions-Kette, die automatisch ohne Eingriff von außen verläuft, beispielsweise die Darbietung von Nahrung (unbedingter Reiz) und der daraufhin einsetzende Speichelfluss (unbedingte Reaktion). Wird ein zweiter, neutraler Reiz parallel dargeboten, beispielsweise das Läuten einer Glocke (neutraler Reiz), so lässt sich der Speichelfluss (bedingte Reaktion) nach mehrfacher Wiederholung der Darbietung des unbedingten mit dem neutralen Reiz allein durch die Glocke (bedingter Reiz) auslösen; die Konditionierung verlief erfolgreich. Der unbedingte Stimulus Su produziert eine Erregung in der Nervenfaser Iu mit dem Schwellenwert hu. Diese Erregung traversiert einige Synapsen s (und Faser IIu) resultiert in der Reaktion R. Werden Su und Sc gemeinsam stimuliert, so kann bei genügend großen Stimuli die Zirkulation im Konditionierungskreis C angeregt werden. Dadurch wird die Synapse sc durch Produktion und Anlagerung eines Stoffes İ anhaltend gebahnt, so dass eine Stimulation von Sc ausreicht, um die konditionierte Reaktion hervorzurufen. Eine erfolgreiche Konditionierung entspricht hier also der Initiierung einer persistierenden Bahnung, die durch eine Reduktion des synaptischen Schwellenwertes der Erregung aufgrund reverberierender Erregung zustande kommt. Diese Aktion ermögliche aufgrund des Bahnungseffektes von nun an die konditionierte Antwort auch bei der alleinigen Darbietung des konditionierten Stimulus. Fasern III und III’ sind inhibitorisch und bieten in diesem Schema eine Erklärung für das Phänomen der Dekonditionierung, wie es bereits von Pawlow beschrieben wurde: Wenn eine zeitlang der bedingte Stimulus Sc alleine dargeboten wird, ohne Verstärkung durch Su, so lässt die bedingte Reaktion nach.

77 Auch Morgan spricht 1943 in seinem Lehrwerk der Psychologischen Physiologie in Zusammenhang mit den geschlossenen Neuronenketten Lorente de Nós fälschlicherweise von (unendlich) langanhaltender Reverberationen in diesen Kreisstrukturen, vgl. C. Morgan 1943, S.65, vgl. auch K. Schmidt-Brücken 1998, S. 199. 78 Rashevsky gibt genaue mathematische Berechnungsvorschriften an. Für die folgende Argumentation sind diese jedoch weder weiterführend noch erhellend; das Verständnis der Funktionsprinzipien ist hier vollkommend ausreichend.

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Abbildung 3-2 Rashevskys neuronales Modell des konditionierten Reflexes im zentralen Nervensystem

N. Rashevsky 1938, S. 249. Su und Sc – unbedingter und bedingter Stimulus; R – Response; fcp – final common path; S, SC, S’, S’’

– Synapsen; I, II, III usw. – Nervenfasern; H – Schwellenwert der Erregung

Die Zirkulation im Kreis III wird durch die Transmission der Synapse s’ angeregt. Eine hemmende Substanz j wird produziert, die allmählich die Passage durch Faser IIc blockiert. Ein Stimulus Sc ist bald nicht mehr ausreichend, um in R zu resultieren. Wird jedoch parallel zu Sc auch Su aktiviert, so geschieht eine Anregung der hemmenden Faser III’, die ihrerseits die Zirkulation im Kreis III unterbindet. In seiner mathematischen Modellierung des Lernens in zentralen Nervenzentren vereinfachte Rashevsky komplexe biologische Phänomene. Sein Konditio-

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nierungsmodell lehnte sich in seiner funktionalen Organisation an Erkenntnisse der Neurophysiologie an und suchte auf dieser Grundlage wesentliche Charakteristika von Pawlows konditioniertem Reflex wiederzugeben. Die angenommenen Verhaltensgrundlagen gründen auf Postulaten, die damals nicht weiter experimentell überprüft werden konnten. Doch bereits die Möglichkeit, postuliertes Verhalten mathematisch zu modellieren, betrachtete Rashevsky als hinreichenden Beweis dafür, dass das im Modell abgebildete neuronale Korrelat auch im Nervensystem aufträte.79 Wie bereits Abraham anmerkt,80 war die Existenz eines das Lernverhalten nachahmenden mathematischen Modells für Rashevsky bedeutsamer als dessen „Realitätsnähe“ in Bezug auf Strukturen und Funktionen im Nervensystem. Rashevsky generierte keine neurophysiologischen Experimente, um die Modelle anhand der Eigenschaften des Nervensystems zu testen, zu erweitern und so neue Erkenntnisse über das Nervensystem zu gewinnen. Stattdessen gestaltete er seine Modelle mathematisch komplexer, um so die neuronalen Grundlagen des Verhaltens noch besser erfassen zu können. Damit weist Rashevskys Forschung die Merkmale auf, die Cordeschi als „Kultur des Artifiziellen“ bezeichnet (vgl. 3.1), und kann in diesem Sinne als „Protokybernetiker“ bezeichnet werden. Rashevskys Ansatz der Verhaltensmodellierung in mathematisch ausformulierten Nervennetzmodellen wurde in seiner Illinoiser Studiengruppe aufgegriffen und weitergeführt. Die Darstellung dynamischer Zirkulationsprozesse in Neuronenkreisen verfolgten besonders zwei seiner engsten Mitarbeiter, Herbert D. Landahl (1903) und Alston S. Householder (1904-1993).81 Von diesen stammt auch ein leicht modifiziertes Modell „neuronaler“ Zirkulation. In Anlehnung an nicht näher genannte neurohistologische Evidenzen postulierten sie die Existenz eines „mononeuronic circuits“ oder „self-exciting neurons“, eines Neurons, das sich durch Kontakt des Dendriten mit den Kollateralen des eigenen Axons selber erregen könne.82

79 Vgl. N. Rashevsky 1935. 80 T.H. Abraham 2004b. 81 Vgl. z.B. A.S. Householder/ H.D. Landahl 1945, A.S. Householder 1947. Näheres zu Landahl und Householders Forschung in G. Piccinini 2004. 82 H.D. Landahl/ A.S. Householder 1939, S. 255. Nähere Hinweise zu einer möglichen Herkunft des Modells eines sich selber erregenden Neurons, vgl. W.S. McCulloch 2000, S. 226.

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Abbildung 3-3 „Mononeuronic circuit“

H.D. Landahl/ A.S. Householder 1939, Abbildung 1, S. 255.

Dieses Modell unterschied sich zwar in seinem Aussehen, jedoch nicht in seiner grundlegenden Funktionsweise von demjenigen in Rashevskys Entwurf. 3.3.3 McCullochs experimentelle Epistemologie Die Arbeitsgruppe um Rashevsky mit ihrem Bestreben nach mathematischer Formalisierung biologischer Phänomene bereitete den intellektuellen Hintergrund für den gemeinsamer Entwurf eines logikbasierten Nervennetzes des Psychiaters und Neurologen Warren McCulloch (1898-1969) sowie des jungen, mathematisch vielseitig begabten Walter Pitts (1923-1969). McCulloch hatte Pitts 1941 in Rashevskys Kolloquium getroffen, als er als Professor an das Illinois Neuropsychiatric Institute in Chicago wechselte. Der junge Pitts war kurz zuvor zu der Gruppe um Rashevsky gestoßen. „In 1941 I presented my notions on the flow of information through ranks of neurons to Rashevsky`s seminar in the Committee of Mathematical Biology of the University of Chicago and met Walter Pitts, who then was about seventeen years old.“83

Gemeinsam präsentierten die beiden Anfang der 1940er Jahre ein mathematisches Modell des zentralen Nervensystems. Zentrales Element bildet das „Neuron“, ein zweiwertiges logisches Element, das entsprechend dem „alles-odernichts“-Verhalten der Nervenzellen agiert.84 Die „nervlichen“ Verknüpfungen folgen den Regeln binärer Logik; die Interaktionen zwischen den „Neuronen“ repräsentieren die rechnerische Bewertung der Eingaben gemäß den dem Netz innewohnenden Regeln. In Anlehnung an die Neurophysiologie implementierten

83 W.S. McCulloch 1974, S. 10. 84 Diese „logischen Nervenzellen“ als Grundlage kybernetischer Modelle des Geistes sind ausführlich beschrieben, vgl. H. Stach 1999, L.E. Kay 2001, T.H. Abraham 2002, 2003.

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McCulloch und Pitts auch Vorstellungen zentralnervöser Erregungsregulation: Zum einen die veränderliche Nutzung nervlicher Verbindungsbahnen aufgrund von Hemmung und Bahnung und zum anderen das Konzept der synaptischen Summation. Ihr Modell eines logischen Nervennetzes besitzt ihrem Verständnis nach zwei Gültigkeitsbereiche, die wechselseitig ineinander überführbar sind, Mathematik und Neurophysiologie: „Because of the ‚all-or-none‘ character of nervous activity, neural events can be treated by means of propositional logic. It is found that the behavior of every net can be described in these terms, with the addition of more complicated nets containing circles; and that for any logical expression satisfying certain conditions, one can find a net behaving in the fashion it describes“.85

Ihr Artikel über die Grundlagen der logischen Nervennetze aus dem Jahr 1943, den sie in Rashevskys Zeitschrift veröffentlichten, gilt gemeinhin als eines der zentralen Dokumente der Kybernetik, gleichwohl er strenggenommen protokybernetisch ist, und wird als Keimzelle der Theorie neuronaler Netze betrachtet.86 A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity präsentiert eine symbiotische Verbindung zwischen Neurophysiologie und mathematisch-logischer Formalisierung, die zum Dreh- und Angelpunkt der Analogiebildung zwischen Nervensystem und Rechenmaschine in der Kybernetik und darüber hinaus avancierte. Die Symbiose aus Mathematik und Neurophysiologie in A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity spiegelt die biographischen Verschränkungen der Protagonisten wider, wie Abraham treffend bemerkt. 87 Walter Pitts (1923-1969)88 war ein mathematischer Autodidakt, hochbegabt und mit einer raschen Auffassungsgabe auch in anderen Bereichen: „There is no question, [...] that P. is both an excellent mathematician and a strikingly intelligent person who can quickly grasp the data and concepts of other fields“.89 Bereits in jungen Jahren soll er Bertrand Russell und Alfred North Whiteheads

85 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1943, S. 18. 86 Vgl. L.E. Kay 2001, T.H. Abraham 2002. 87 T.H. Abraham 2002, S. 4. 88 Zur Biographie von Walter Pitts, vgl. W.S. McCulloch 1965, S. Heims 1993, J. Lettvin 1998, N.R. Smalheiser 2000, L.E. Kay 2001, T.H. Abraham 2002. 89 RSM Interview, Notiz von Robert S. Morison/ Rockefeller Foundation über ein Gespräch mit Lorente de Nó und Pitts, 6. Mai 1946, Mappe 2237, Kasten 331, Serie 200, RG 2, Rockefeller Foundation Archives, RAC.

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Principia Mathematica gelesen und sich im Selbststudium Latein, Griechisch und Sanskrit angeeignet haben. 1938 traf er durch Zufall an der Universität von Chicago die Philosophen Bertrand Russell und Rudolf Carnap, von denen Letzterer auf Pitts außergewöhnliche mathematische Begabung aufmerksam wurde. Mit seiner Unterstützung konnte Pitts universitäre Seminare und Vorlesungen besuchen, ohne jemals eingeschrieben gewesen zu sein. Carnap war es auch, der ihn Nicolas Rashevsky vorstellte, in dessen Arbeitsgruppe er in der Folgezeit seine Faszination für Logik in den Dienst der Biologie stellte. McCullochs wissenschaftliches Leben90 kreiste nach eigenem Bekunden bereits seit seiner Jugend um die formalen Grundlagen von Denken und Wahrnehmen. „What is a number that a man may know it and a man that he may know a number?“ soll er als junger Student am Haverford College in Pennsylvania seinem Lehrer, dem Philosophen Rufus Jones, entgegnet haben, als dieser ihn nach seinen Zielen fragte. Worauf dieser lächelnd geantwortet haben soll: „Friend, thee will be busy as long as thee lives“.91 Diese erkenntnistheoretische Frage McCullochs nach dem Zusammenhang zwischen Mathematik und menschlichem Geist bildeten die Triebfeder für seine wissenschaftliche Arbeit. Durch sie brachte er den Geist als Studienobjekt zurück in die Wissenschaften vom Menschen, wie Kay schreibt,92 im Umweg über die Neurowissenschaften. 1923 schloss McCulloch seine Studien der Philosophie und Psychologie an der Columbia University ab. Unzufrieden mit den psychologischen Antworten auf die Frage nach den Grundlagen geistiger Fähigkeiten wandte er sich der Erforschung des Nervensystems zu. Im Anschluss an ein vierjähriges Medizinstudium führte ihn der praktische Teil der Ausbildung 1928 in die Neurologie am Bellevue Hospital in New York City, wo er experimentelle Forschung zu Epilepsie und Kopfverletzungen unternahm, und 1930 in die Psychiatrie im Rockland State Hospital for the Insane in New York. Dort traf er auf den niederländischen Psychiater Eilhard von Domarus (1893-1958), dem er half, seine Doktorarbeit ins Englische zu übersetzen. In The logical Structure of Mind: An Inquiry into the Philosophical Foundations of Psychology and Psychiatry suchte von Domarus wissenschaftliche Behandlungsmethoden des Gehirns mit philosophischen Auffassungen des Geistes und einer Theorie der logischen Struktur des

90 Neben seinem eigenen biographischen Erinnerungen, die McCulloch in seine Artikel einstreute, vgl. z.B. W.S. McCulloch 1965, 1974, sind die biographischen Hintergründe seiner Arbeiten gut aufgearbeitet, besonders in M.A. Arbib 2000, L.E. Kay 2001, T.H. Abraham 2002. 91 W.S. McCulloch 1961, S. 2. 92 L.E. Kay 2000.

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Denkens zu vereinbaren.93 McCullochs Begegnung mit dem seines Erachtens „only other trained philosopher forced into neuropsychiatry by philosophical problems“94 lehrte ihn, psychiatrische Erkrankungen aus philosophischer Perspektive zu betrachten, und schärfte die philosophische Dimension seiner Fragestellung „What is a man that he may know a number?“, die Suche nach einer formal-logischen Struktur des menschlichen Denkens und deren neurophysiologischer Grundlage. 1934 wechselte McCulloch nach Yale in das neurophysiologische Forschungslabor des niederländischen Psychiaters Johannes Gregorius Dusser de Barenne (1885-1940), um das Gehirn in seiner funktionalen Vernetzung zu studieren. In ihren sechs Jahren gemeinsamer physiologischer Erforschung der cortico-corticalen Verbindungen bei (Menschen)affen95 lernte McCulloch Dusser de Barennes Grundhaltung zur Sinnesphysiologie kennen. In dieser Auseinandersetzung schärfte sich McCullochs Forschungsansatz, den er später als experimentelle Epistemologie bezeichnen sollte: die Modellierung geistiger Prozesse anhand mathematischer Modelle, soweit als möglich in Anlehnung an physiologische und anatomische Daten. Dusser de Barennes hatte als Schüler des Physiologen Rudolf Magnus (vgl. Kapitel 2, Abschnitt 2.4) dessen auf Kant gegründetes Physiologisches a priori übernommen.96 Magnus Ansicht war es, dass die „a priori factors of our intellectual power must have a purely physiological basis“97. Wahrnehmung und Denken seien von vornherein festgelegt durch den physiologischen Apparat unserer Sinne, die sensorischen Nerven und die Nervenzentren. Seines Erachtens haben wir es mit festgelegten Mechanismen in unseren Körpern zu tun, „with permanent states of our sensory and nervous apparatus, and these will determine the nature of our observations and experiences, as if thereto impelled.“98 In dieser Identifikation des physiologischen Substrates unserer sinnlichen Wahrnehmung, unserer Erkenntnis und geistigen Lebens mit den a priori-Kategorien Emanuel Kants – Zeit, Raum und Mathematik – entwickelte McCulloch seine experimen-

93 E. von Domarus 1967. 94 W.S. McCulloch 1967, S. 350. 95 T.H. Abraham 2002 berichtet ausführlich über Dusser de Barenne und seine Strychnin-Methode corticaler Lokalisation. 96 L.E. Kay 2001, S. 594 weist darauf hin, dass Magnus der letzte Student von Herrmann von Helmholtz war, dessen neo-Kantianische Interpretation der Naturwissenschaften in seinen Schriften allgegenwärtig ist. 97 R. Magnus 1928, S. 97, Hervorhebung im Original. 98 Ebd. S. 99.

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telle Epistemologie. Er verstand das Nervensystem als in seinen zeitlichen und räumlichen Dimensionen mathematisch erfassbares Gebilde, dessen strukturelle und funktionelle Organisation die Grundlagen des Denkens bilde. Die Fähigkeit zu Wahrnehmung und Erkenntnis sei darin a priori festgelegt durch die Verdrahtung der Nerven. Die funktionale Organisation der Nerven mathematisch abzubilden, schien McCulloch nun als der Weg, um die neuronalen Grundlagen unserer geistigen Fähigkeiten zu erfassen. Bereits in den frühen 1930er Jahren hatte McCulloch angesetzt, neuronale Gehirnprozesse mithilfe der Boole’schen Algebra zu modellieren. Schwierigkeiten bereitete ihm jedoch die Idee zirkulierender Erregungen im cerebralen Cortex, über die nachzudenken er durch den Artikel A Theoretical Application to some Neurological Problems of the Properties of Excitation Waves which move in Closed Circuits des amerikanischen Psychiaters und späteren Psychoanalytikers Lawrence Kubie angeregt worden war. Kubie hatte als Psychiater eine Krankheitstheorie entwickelt, die auf stetiger Zirkulation in geschlossenen neuronalen Kreisstrukturen („closed circuits“) im Cortex basierte. Ausgehend von seiner Beobachtung, dass es beim Menschen „spontane, unwillkürliche Bewegungen gibt, die niemals ausreichend erklärt wurden“99, postulierte er 1930 reverberierende Nervenimpulse als Ursache für neurologisch bedingte Hirnerkrankungen. „[A]n attempt is made here to see if [...] [certain spontaneous] neurological phenomena become any more understandable if one simply pictures the central nervous system as a place in which, under certain conditions and in certain areas, excitation waves move along pathways which ultimatively return them to their starting points. This possibility is selected because such a circular wave would constitute a source of energy, which under certain conditions would give little or no outward sign of its existence, but which, with a 100

slight change in condition, might suddenly become manifest“.

In dem unkontrollierten Austritt nervlicher Impulse aus diesem dynamischen Erregungsspeicher nervöser Energien sah Kubie das neurologische Substrat von Erkrankungen wie Epilepsie oder bestimmter optischer Phänomene, die als Begleiterscheinung von Migräne auftreten können, aber auch krankhafte Bewe-

99

L. Kubie 1930, S.166.

100 Ebd, S. 167.

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gungsstörungen wie Chorea101 oder Athetosis102. Die Krankheitsbilder zeichnen sich durch rasche Bewegungswiederholungen, Oszillation oder Spasmen aus. Seine Ideen hatte Kubie während seines Aufenthaltes in London als U.S. National Research Council Fellow in den Jahren zwischen 1928 und 1930 präzisiert. Zu dieser Zeit stand er in regem Austausch mit Sherrington, der ihn auch ermutigte, den Artikel zu veröffentlichen.103 So ist eine gewisse Ähnlichkeit bei der Herleitung der möglichen Existenz solcher Zirkulationsprozesse zwischen 104 Abbildung 3-4 zeigt Kubies Sherrington und Kubie nicht verwunderlich. Zeichnung eines dynamischen Kreises interagierender Nervenzellen. Die „closed chain“ Kubies beruht nicht auf histologischer oder neurophysiologischer Forschung, sondern stellt einen durch seine Funktionsweise (nämlich die rhythmische Abgabe von Störimpulsen) begründeten Mechanismus basierend auf zyklischer Vernetzung dar, in dessen Zentrum die Idee einer kontinuierlich zirkulierenden Erregung steht. Die von Kubie getroffenen anatomischen und physiologischen Annahmen entsprachen dabei in keiner Weise den damals gängigen Vorstellungen über die funktionelle Einteilung des Cortexes.105

101 Chorea:„ (gr. Tanz) f: sog. Veitstanz des Mittelalters war hysterischer Natur [...], Hypotonie der Muskulatur, typische Hyperkinesen: schnelle, unwillkürliche Kontraktionen einzelner, wechselnder Muskeln oder Muskelgruppen“ (Pschyrembel 1986 S. 283). 102 Athetosis: „Störung des Bewegungsablaufs; langsame, bizarre, geschraubte, z.T. überdehnte Bewegungsabnormitäten bei e. willkür-motorischen Handlung“ (Pschyrembel 1986, S. 145). 103 Vgl. S. Heims 1993, S. 122. 104 L. Kubie benennt, genau wie Sherrington 1922, als Hintergrund für die Idee zirkulierender Impulse die Forschungsarbeiten von Sir Thomas Lewis zum Herzflattern, das durch Zirkulation ausgelöst werde, vgl. L Kubie 1930, S.168, C. Sherrington 1922. 105 Kubie teilte das Gehirn in mehrere – neurowissenschaftlich nicht nachgewiesene – Bereiche auf: Seine sogenannte „silent area“ war dadurch kennzeichnete, dass sich Nervenimpulse in ihr bewegen konnten, ohne körperliche Reaktionen auszulösen. Nach Kubie zirkuliere die Erregung kontinuierlich in diesem Bereich, bis sie zerstört würde oder in die „active areas“ des Gehirns überwechselte. Krankheiten würden ausgelöst, wenn durch Veränderungen im Gehirn neue Wege aus der „silent area“ in die „active areas“ des Gehirns entstünden. Erregung aus der „silent area“ setzten auf diese Weise in den „active areas“ störende, weil ungewollte körperliche Reaktionen zeitigende Prozesse in Gang. Eine wiederholte Abgabe von Störimpulsen in eine „active area“ betrachtete Kubie als einen möglichen Auslöser für z. B.

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Abbildung 3-4 Kubies „closed chain“

Kubie 1930, S. 174, Abbildungen 4 und 5

An anderer Stelle berichtete McCulloch, er habe Kubies Artikel erst Jahre nach dessen Veröffentlichung gelesen, aber bereits Ende der 1920er Jahre mit seinem ärztlichen Kollegen Samuel Bernard Wortis über die mögliche Bedeutung anhaltender Zirkulationen im zentralen Nervensystem als Krankheitsursache diskutiert.106 Welche seiner Erinnerungen auch zutreffend sein mögen, McCulloch war offensichtlich früh von der Idee neuronaler Zirkulationsprozesse fasziniert. Er scheiterte jedoch an der mathematischer Modellierung: „My theory of nervous nets computing through ranks of neurons could not cope with this, and it had to wait another dozen years for Pitts’ help“.107 Als er zu Beginn der 1940er Jahre Walter Pitts kennen lernte, eröffnete dieser ihm einen neuen Zugang zu zyklischen Prozessen. Pitts beschäftigte sich angeregt durch die Arbeiten von Rashevsky und seiner Gruppe mit der mathematischen Analyse regenerativer Zirkulationsprozesse. Anhand von Zirkulation in geschlossenen Nervenketten untersuchte er unterschiedliche Formen des Lernens.108 Er verstand zirkuläre Aktivitäten nicht als

Spasmen. Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage, wofür es einer „silent area“ im Gehirn überhaupt bedürfe, außer als Speicherort für potentiell störende, pathogene Nervenimpulse. 106 Vgl W.S. McCulloch 1974. G. Piccinini 2004 folgt in seiner Darstellung dieser Version der Erinnerungen McCullochs. 107 W.S. McCulloch 1967, S. 350. 108 Vgl. W. Pitts 1942, 1943.

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Krankheitsauslöser, sondern als einen normalen zentralnervösen Prozess, wie ihn auch Lorente de Nó postuliert hatte. „He [Pitts, KSB] was working on a mathematical theory of learning and I was much impressed. He was interested in problems of circularity, how to handle regenerative nervous activity in closed loops“.109

Gemeinsam gelang McCulloch und Pitts in zweijähriger Kollaboration der Entwurf eines logikbasierten Nervennetzes als universelles Modell geistiger Fähigkeiten. Zirkularität integrierten sie dabei als Korrelat von Lernprozessen. Bereits Orbach hat auf die Ähnlichkeiten zwischen Lorente de Nós geschlossener Neuronenkette und den Neuronenzirkeln in McCulloch und Pitts logischen Nervennetzen aufmerksam gemacht.110 Dass dies jedoch mehr ist als eine dem „Zeitgeist“ geschuldete, unabhängige Parallelentwicklung, wie Orbach die Situation bewertet, möchte ich im folgenden Abschnitt aufzeigen. 3.3.4 McCulloch und Pitts’ logische Nervennetze 111 Während Rashevsky Differentialgleichungen nutzte, um das Nervensystem in seiner Funktionsweise zu beschreiben, verwendeten McCulloch und Pitts zur Modellierung ihrer logischen Nervennetze Boole’sche Algebra, die auf den britischen Mathematiker George Boole (1815-1864) zurückgeht. Dieser hatte mit seinem 1854 erschienenen Werk An Investigation of the Laws of Thought, on which are founded the Mathematical Theories of Logic and Probability eine grundlegende Reform der mathematischen Logik begründet. Orientiert an der Arithmetik verwendete er elementare algebraische Methoden für die Definition seiner Algebra, d.h. mit ihr reduzierte er Aussagen über die Realität auf die Werte „1“ und „0“, die er mithilfe des Kalküls der Aussagenlogik mit den Werten „wahr“ und „falsch“ gleichsetzte, und gab Rechenregeln für Operationen auf diesen Zuständen an. Mit der binären Logik als Grundlage passten McCulloch und Pitts die Funktionsweise von Neuronen an die Zweiwertigkeit logischer

109 W.S. McCulloch 1974, S. 10. 110 Vgl. J. Orbach 1998. 111 Zur anfänglichen Rezeption von W.S. McCulloch/ W. Pitts 1943, vgl. M.A. Boden 2008, 4.iii.f.

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Ausdrücke an.112 Die „alles-oder-nichts“-Verhaltensregel der Nervenzellen wandelte sich bei ihnen, wie bereits bei Rashevsky, in eine Zustandsbeschreibung, d.h. das Neuron „feuert“ oder „feuert nicht“. Diese neuronalen Zustandsvariablen wurden in die Boole’sche Notation, „wahr“ oder „falsch“, „eins“ oder „null“, überführt. Die Zeitdauer der Erregungstransmission zwischen den „Neuronen“ erfolgte im Modell in getakteten Operationsschritten. Durch diese Neuerung, die Erweiterung der symbolischen Logik um einen zeitlichen Faktor, gelang es McCulloch und Pitts, die Dauer der Impulsverarbeitung im Nervensystem, die sogenannte synaptische Verzögerung, in ihren logischen Nervennetzen abzubilden.113 Auch die regulativen Funktionen im Nervengewebe wurden gemäß den Vorgaben Boole’ scher Logik formalisiert: Hemmung wird durch Negation als absoluter Prozess repräsentiert, wobei auch eine „relative Hemmung“ – als eine relative Anhebung des Schwellenwertes der Erregung – modellierbar blieb (vgl. Abbildung 3-5, f). Bahnung wurde als Ergebnis räumlicher und/oder zeitlicher Summation der Impulse betrachtet. Der Schwellenwert synaptischer Erregung betrug je nach repräsentiertem logischen Ausdruck „1“ oder „2“. Die Grundoperationen bildeten: (a) einfache Erregungsfortleitung mit zeitlicher Verzögerung, (b) „Oder-Funktion“, (c) „Und-Funktion“, (d) die Negation (physiologisch: Hemmung). Aus diesen Grundoperationen konstruierten McCulloch und Pitts weitergehende logische Operationen analog bekannten neurophysiologischen Regulationsmechanismen (vgl. Kapitel 1 und 2).114 (e) ?, (f) relative Hemmung, (g – oben) Auslöschung aufgrund der Refraktärzeit der Nervenzellen, wenn N1 eine Zeiteinheit vor N2 feuert,

112 Die logischen Nervennetze von McCulloch und Pitts sowie deren Hintergründe der Entstehung wurden von M.A. Arbib 2000, L.E. Kay 2001 und T.H. Abraham 2002 sowie G. Piccinini 2004 gut ausgearbeitet. 113 Vgl. W.S. McCulloch an Fremont-Smith, 24. Juni 1942, APS, McCulloch Papers, BM 139 Nr 1, Fremont-Smith Mappe Nr. 2. 114 Die Bezeichnung der neurophysiologischen Äquivalente ist übernommen aus L.E. Kay 2001, S. 599.

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(g – unten) (h)

Hemmung, temporale Summation,

Lernprozesse: (i - oben) (i – unten)

Bildung neuer synaptischer Verbindung, regenerative Zirkulation.

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McCulloch und Pitts erkannten die Abstraktion ihrer logischen Neuronen gegenüber organischen Nervenzellen an, „[t]he formal neurons were deliberately as impoverished as possible“115, und gaben offen zu, dass ihre wie technische Schalter operierenden Nervenzellen dem mathematischen Kalkül entgegenkamen. Dennoch besaßen diese abstrahierten Neuronen für Pitts und McCullochs auch die essentiellen Eigenschaften eines Neurons, so dass die logischen Nervennetze ihnen als ein adäquates Modell der funktionalen Organisation des Gehirns erschienen. Das neurophysiologische Substrat geistiger Prozesse wurde für sie darin angemessen repräsentiert, so dass McCulloch sagen konnte: „Thus both the formal and final aspects of that activity which we are wont [= accustomed, KSB] to call mental are rigorously deduceable from present neurophysiology“116. Jede Wahrnehmung, jede Idee ließe sich in solch einem logischen Netz realisieren. Die Aktivitäten eines Neurons, „0“ oder „1“, entsprachen dabei einem „Psychon“, für McCulloch die kleinste Einheit der Psyche. McCulloch und Pitts betrachteten somit alle physiologischen und mentalen Aktivitäten als mithilfe der Aussagenlogik – erweitert um den Faktor zeitlicher Taktung – darstellbar: „Thus in psychology, introspective, behavioristic or physiological, the fundamental relations are those of two valued logic“.117 Mit der Annahme, dass das Elementare in den psychischen Funktionen nichts anderes sein könne als das physiologisch Elementare,118 zeigt sich bei Pitts und McCulloch und ein konsequenter Materialismus. Das Modell repräsentiert das Nervensystem als ein dynamisches raum-zeitliches Ereignisnetz, dessen Operationen nach mathematischen Gesetzen verlaufen. In Bezug auf die Repräsentation von Bedeutungen blieb der Entwurf jedoch unspezifisch. Das Psychon repräsentiert Gedanken, Inhalte etc nicht in direktem eins-zu-eins Bezug. Stattdessen werden Bewusstsein und Denken als kausale Ergebnisse der Netzaktivitäten verstanden, als ein Nebenprodukt, wenn Impulse als die kleinsten psychischen

115 W.S. McCulloch 1974, S. 11. 116 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1943, S. 27. 117 Ebd., S. 25. 118 Vgl. Lange 1882, S. 673.

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Abbildung 3-5 Logischer Kalkulus der nervösen Erregungsleitung

W.S. McCulloch/ W. Pitts 1943, S. 26.

Einheiten in logischen Nervennetzen verarbeitet würden. Dieses Verständnis, das dem neurophysiologischen Verständnis nervlicher Aktivitäten entsprach, in dem Impulse als die die funktionalen Eigenschaften des Nervennetzes aktivierenden Entitäten betrachtet wurden, zeigt sich besonders in der einzigen geistigen Fähigkeit, deren Modellierung sich McCulloch und Pitts in ihren logischen Nervennetzen konkreter widmeten, dem Lernen.

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Die Vorgänge im Gehirn, die dem Phänomen, das wir allgemein als Lernen bezeichnen, zu Grunde liegen, waren unbekannt. Jedoch existierten psychophysiologische Hypothesen, in denen Lernprozesse mit Veränderungen der Eigenschaften der Nervennetze korreliert wurden (Ausbildung neuer Nervenverbindungen bzw. Veränderung der Leitungseigenschaften der Nerven). Diese psychophysiologischen Erklärungen für Lernprozesse nahmen sich McCulloch und Pitts zum Vorbild: In ihren Nervennetzen wird „Lernen“ entweder durch das „Wachstum“ zusätzlicher synaptischer Verbindungen (i – oben) oder durch Veränderung des „Schwellenwertes der Erregung“ in logischen Nervennetzen repräsentiert (i – unten). „The phenomena of learning, which are of a character persisting over most physiological changes in nervous activity, seem to require the possibility of permanent alterations in the structure of nets. The simplest such alteration is the formation of new synapses or equivalent local depressions of threshold“.119

Für die Modellierung der „local depression of threshold“ in ihren Nervennetzen adaptierten sie Lorente de Nós geschlossenen Neuronenkettenmechanismus der Bahnung, in seiner Gestalt jedoch reduziert auf einen monosynaptischen Kreis, wie ihn Landahl und Householder eingeführt hatten (i – unten, vgl. Abschnitt 120 121 3.3.2). Aber welchem dieser zwei unterschiedlichen „neuronalen Lernmodelle“ sollten sie in ihren Netzen den Vorzug geben? Beide gründeten letztendlich auf demselben Effekt, nämlich der Senkung des Schwellwertes der Erregung (einmal durch lokale Summation aufgrund einer neuen Verbindung, einmal durch Bahnung aufgrund konstanten Bombardements), und beide besaßen psychophysiologische Vorbilder. Dieses Dilemma lösten sie mathematisch durch einen Induktionsbeweis, durch den sie die (mathematische) Äquivalenz beider „Lernmodelle“ belegten (vgl. Abbildung i, einmal mit zyklischer Struktur, einmal ohne).

119 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1943, S. 22. 120 Als dritten neuronalen Lernmechanismus führten McCulloch und Pitts an dieser Stelle den Abbau synaptischer Hemmung an. Sie gingen jedoch im Verlauf ihres Artikels nicht weiter darauf ein. 121 G. Piccinini 2004 stellt McCulloch und Pitts Netze mit Zirkeln aus ihrem Artikel von 1943 dar und verweist auch auf den Bezug zu Landahl und Householder. Er geht jedoch weder auf die physiologische Dimension dieses Modells noch seine psychische Funktion als Lernmechanismus ein.

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Damit waren für McCulloch und Pitts, gemäß ihres Theorem VII alterable synapses can be replaced by circles, Lernprozesse in Netzen ohne Kreise denjenigen in Netzen mit Kreisen funktional gleichgestellt – aufgrund derselben Auswirkungen auf die logische Impulsverarbeitung – und konnten einander ersetzen. Da neuronales Wachstum das Modell einer veränderbaren Netzstruktur voraussetzt, eine solche jedoch kompliziert in der Berechnung ist, erhielt die Modellierung „neuronaler“ Lernmechanismen durch logische Netze ohne veränderbare Strukturen („Bahnung“ aufgrund von Zirkulation in Neuronenketten) von McCulloch und Pitts den Vorzug gegenüber solchen mit veränderbaren Strukturen (aufgrund des „Zuwachs“ einer neuen Synapse). Die Verwendung „neuronaler“ Zirkulation in logischen Nervennetzen erschien Pitts und McCulloch jedoch auch noch aus anderen Gründen sinnvoll. Die Verwendung von Zirkeln ermöglichte es ihnen, die zeitliche Determinierung der logischen Netzoperationen zu durchbrechen, denn regenerative Aktivitäten in Kreisstrukturen lassen keine Rückschlüsse auf den Zeitpunkt ihrer Initiation zu: „[T]he regenerative activity of constituent circles renders reference indefinite as to time past“. Neben der zeitlichen Indefinität sorgte die „oder-Operation“ (b) für eine räumliche Nichtdeterminierung des Netzes; durch sie wurde die vollständige Bestimmung eines vorangegangenen Zustandes unmöglich. Diese Eigenschaften bestärkten McCulloch und Pitts in ihrem Verständnis, dass die logischen Nervennetze dem menschlichen Geist ähnlich seien. „Thus“, so schlussfolgerten sie, indem sie die Begrenztheit des menschlichen Geistes durch die Nichtdeterminiertheit der (ihm möglicherweise zugrundeliegenden) logischen Nervennetze zu erklärten suchten, „our knowledge of the world, including ourselves, is incomplete as to space and indefinite as to time“122. Anhand des Lernmodells ist deutlich erkennbar, welchen Stellenwert McCulloch und Pitts der Mathematik – ähnlich Rashevsky – bei der Modellierung geistiger Prozesse beimaßen: Nicht die größtmögliche Nähe zum Nervensystem steht im Vordergrund, sondern wie schon bei Rashevsky die mathematische Modellierung des Verhaltens (in diesem Fall das Lernen). Die Möglichkeit einer einfacheren Darstellung im mathematischen Modell gibt den Ausschlag für die Auswahl des „neuronalen“ Lernmechanismus, weniger die Frage, ob der im Modell verwandte Mechanismus physiologisch betrachtet überhaupt als Lernmechanismus in Frage komme. In der Mathematik sahen McCulloch und Pitts die Leitwissenschaft, die ihnen den Entwurf einer Theorie des Geistes ermögliche, nicht in der Neurophysiologie. Auch hier zeigt sich wie schon bei Rashevsky die „Kultur des Artifiziellen“.

122 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1943, S. 25.

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Die Analogisierung von Nervensystem und Logik in McCulloch und Pitts Theorie logischer Nervennetze wäre wohl eine Fußnote der Geschichte geblieben ohne ihre Nähe zu der sogenannten Turing-Maschine, einem mathematischen Berechnungsmodell aus der Mitte der 1930er Jahre:123 Denn die Nähe zur Turing-Maschine schuf die Voraussetzungen für die kybernetische Triangularität Nervensystem – Logik – Rechenmaschine. Alles, was mit logischen Nervennetzen (ohne Zirkel) berechnet werden kann, kann auch mit einer Turing-Maschine berechnet werden. Die Nervennetze McCulloch und Pitts aus dem Jahr 1943 stellen aus heutiger Sicht eine Oberklasse der endlichen Automaten und eine Unterklasse der TuringMaschine dar, weil sie nicht wie diese über einen unendlichen Speicher verfügen.124 Der britische Mathematiker Alan Turing (1912-1954) hatte 1936 eine bemerkenswerte Arbeit On computable numbers with an Application to the Entscheidungsproblem vorgelegt, in der er ein Berechnungsmodell beschrieb, eben diese sogenannte Turing-Maschine.125 Turing führte sie ein, um zu beweisen, dass es keinen Algorithmus gebe, der für jede beliebige Formel entscheiden könne, ob diese nach endlich vielen Schritten ableitbar sei oder nicht. Damit präsentierte er seine Antwort auf das sogenannte „Entscheidungsproblem“ des deutschen Mathematikers David Hilbert (1863-1943). Dieser hatte, wie Heintz darlegt, das Entscheidungsproblem 1917 in den Kontext einer Reihe erkenntnistheoretischer Probleme gestellt, wobei er dieses als dasjenige verstand, das „das Wesen mathematischen Denkens“ am tiefsten berühre:126 Denn wäre die Unentscheidbarkeit aufgehoben, wäre die Mathematik als Wissenschaft am Ende, so die einhellige Meinung auch anderer Mathematiker wie John von Neumann oder G.H. Hardy. Denn dann böte ein mechanisches Regelwerk von jedermann anwendbar die metamathematische Lösung aller mathematischen Probleme. Die „Maschine“, Turings Nachweis der Unentscheidbarkeit, besteht aus einem fiktiven Lese- und Schreibkopf, der sich je nach eingelesenem Befehl über die aneinander gereihten Felder eines Endlosbandes bewegen kann, deren Flä-

123 McCulloch und Pitts wussten damals nicht, dass der später vor allem durch seinen Beitrag zur Informationstheorie bekannt gewordene Claude Shannon (1916-2001) in seiner Diplomarbeit, vgl. C. Shannon 1938, nachgewiesen hatte, dass Ausdrücke Boole’scher Algebra maschinell durch Relaisschaltungen realisiert werden können. 124 Zu einer mathematischen Einordnung der Nervennetzmodelle von McCulloch und Pitts 1943 im Verhältnis zur Turing-Maschine vgl. G. Piccinini 2004, M.A. Boden 2008. 125 A. Turing 1936. 126 B. Heintz 1993, S. 70.

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cheninhalte er entweder liest, beschreibt oder löscht.127 Interessanterweise verglich Turing die Arbeitsschritte seiner „Maschine“ mit den Rechenoperationen und Geisteszuständen eines rechnenden Menschen. Die Turing-Maschine ist „universell“, d.h. sie kann so konfiguriert werden, dass sie jede berechenbare Zahl errechnen kann: „Es ist möglich, eine einzige Maschine zu erfinden, die dazu verwendet werden kann, jede beliebige Folge zu errechnen“.128 Sie repräsentiert damit sozusagen eine virtuelle Metamaschine, den Prototypen aller Maschinen. Ein reales maschinelles Substrat für Pitts und McCullochs logisches Nervennetzmodell wurde mit der Konstruktion der ersten digitalen Rechenmaschinen geschaffen. Die Analogisierung von Nervensystem und Rechenmaschine vollzog der Mathematiker John von Neumann im Jahr 1945. Da Computer qua mechanischer Vorgänge ganz ohne Metaphysik aus sinnvollen Eingaben sinnvolle Ausgaben erzeugen können, bildeten sie eine Art Prototyp des Gehirns. Auf Grundlage von McCullochs und Pitts Nervennetzen schuf er die kybernetischen Nervennetzmodelle, ein neuronalisiertes Modell der Computerfunktionen mit dem Kernstück der regenerativen Zirkulation als Modell eines kybernetischen Gedächtnisspeichers.

3.4 „M EMORY “ – J OHN VON N EUMANNS KYBERNETISCHES G EDÄCHTNISSPEICHERMODELL „The great electrical developments of our times are witnesses to what an intellectual curiosity may be worth“. N. RASHEVSKY 1934, S. 196.

Mit der Fertigstellung und dem Probebetrieb des ENIAC, der ersten der elektronischen, digitalen Rechenmaschinen im Jahr 1945/46, besaß die Welt mehr als ein theoretisches Modell universeller Berechenbarkeit, wie es die Turing-Ma-

127 Eine ausführliche Beschreibung der Turing-Maschine, sowie ihrer geistesgeschichtlichen Einordnung findet sich in B. Heintz 1993. Die Autorin zeigt in ihrem Buch auf, dass die Turing-Maschine einem Kontext entstammt, in der die Mathematik zunehmend mechanistische Tendenzen entwickelt hatte. Diese Entwicklungen in der Mathematik parallelisiert Heintz mit der damals zeitgleich ablaufenden gesellschaftlichen Rationalisierung von Arbeitsprozessen. 128 A. Turing 1936, S. 31.

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schine darstellte. Mit dem digitalen Computer wurde eine universelle Maschine geschaffen, mit der jegliches Verhalten, das in seinen Abläufen eindeutig beschreibbar war, maschinell nachgeahmt werden konnte. Diese Möglichkeiten erkannte der Mathematiker John von Neumann frühzeitig. Selbst von dem Gedanken fasziniert, dass mentale Prozesse in Analogie zu maschinellen Funktionen verstanden werden könnten, bediente er sich der Nervennetzmodelle McCulloch und Pitts. In seinem First Draft of a Report on the EDVAC (im Folgenden First Draft genannt) aus dem Jahr 1945 über den projektierten Nachfolgecomputer finden diese Überlegungen ihren Ausdruck, wie ich im Folgenden darlegen werde. Im First Draft überblendete von Neumann die Funktionsweise der Rechenmaschine mit den logischen Nervennetzmodellen, wodurch er die ersten kybernetischen Nervennetzmodelle schuf. Als eine wesentliche Neuerung gegenüber Pitts und McCulloch enthielten die kybernetischen Nervennetzmodelle des First Draft das Modell des „Gedächtnisses“ eines Rechners. Er basiert auf regenerativer Zirkulation und besaß eine Entsprechung sowohl in der Neurophysiologie als auch in dem ersten Speicher der digitalen Großrechner, der Mercury-Delay-Line. In den kommenden Abschnitten beschäftige ich mich zuerst mit der Entwicklung der ersten digitalen elektronischen Rechner in den USA; dann gehe ich näher auf die ersten Speicher der Computer ein sowie deren Funktionsprinzip, um anschließend von Neumanns gedankliche Affinität zu mathematischen Theorien des Geistes vorzustellen und aufzuzeigen, wie diese im First Draft ihren Ausdruck im Entwurf kybernetischer Nervennetzmodelle fanden und speziell im Entwurf eines kybernetischen Gedächtnisspeichermodells als Gedächtniskorrelat in Maschine und Mensch. 3.4.1 Der ENIAC, der EDVAC und John von Neumann Der II. Weltkrieg hatte der Entwicklung digitaler Rechenmaschinen entscheidende Impulse verliehen: Der Bedarf an Rechenleistung stieg. Für die Berechnung von Flugbahnen, die Ballistik, und die Luftabwehr, aber auch in der Entwicklung der Atombombe wurden in den USA großen Mengen an Rechenkapazität benötigt. Kriegsbedingt erfuhren digitale Rechnerprojekte eine verstärkte finanzielle Förderung129 wie der Mark I ASCC („Automatic Sequence Controlled Calculator“)130 von Howard Aiken (1944)131, das Modell V von George Stibitz132

129 Vgl. A.W. Burks 1980, J.P. Eckert 1980, N. Stern 1980, P.E. Cerruzzi 1983. 130 Der Mark I, eine Kooperation zwischen IBM und Harvard, wurde 1943 fertiggestellt. 1944 erfolgte die offizielle Übergabe.

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(1946) und der ENIAC (1946) als erster elektronischer Rechner, entworfen von John Presper Eckert und John William Mauchly. Der ENIAC basierte als einzige der drei Rechenmaschinen auf Vakuumröhren als Schaltelementen und war in seinen Berechnungen um ein 500-faches schneller als die zwei anderen elektromechanischen Rechner. Alle drei stellten von ihrem technischen Design her Übergangsmodelle dar, d.h. sie arbeiteten auf digitaler Basis, jedoch noch nicht (vollständig) elektronisch. Mit ihrer Existenz bewiesen sie jedoch, dass funktionsfähige Rechner auf digitaler Basis konstruiert werden können. Dem ENIAC („Electronic Numerical Integrator and Computer“) kommt unter den amerikanischen Computerentwicklungen als erster digitaler, elektronischer, universeller Maschine eine herausgehobene Bedeutung zu: Im Jahr 1942 hatte die Moore School of Electrical Engineering in Pennsylvania kriegsbedingt eine enge Anbindung an das Ballistic Research Laboratory (BRL) des US Army 133 Ordnance Department erfahren, da der dort befindliche Differentialanalysator für die Berechnung von Geschoßbahnen benötigt wurde. Man war im Krieg auf diese sogenannten ballistischen Tabellen angewiesen, um den für verschiedene Entfernungen des Ziels benötigten Abschusswinkel eines Geschosses zu ermitteln. Daten wie Luftdruck, Windrichtung und Temperatur gingen ebenso in die Berechnungen ein wie die Eigenschaften der Abschussvorrichtungen. Mit dem Differenzialanalysator als schnellsten verfügbaren Analogrechner brauchte man mindestens 30 Tage zum Aufstellen einer Schusstafel.134 John William Mauchly (1907-1980), damals Assistenzprofessor für Physik am Ursinus College, und John Presper Eckert (1919-1995), ein Elektroingenieur, gehörten zu den am Analysator arbeitenden Wissenschaftlern. Gemeinsam mit dem Mathematiker und Leutnant Herman Goldstine (1913-2004), einem Verbindungsoffizier des BRL, entstand die Idee der Konstruktion einer Rechenmaschi-

131 Die Verwendung von Relaisschaltungen führten bei Betrieb von Mark I zum akustischen Vergleich mit einem „room full of ladies knitting“, vgl. P.E. Cerruzzi 1983, S. 58. 132 Dr. George Stibitz und Kollegen erbauten das Model V in den Bell Telephon Laboratories in New York. 133 Bei dem Differentialanalysator der Moore School handelte es sich um einen Nachbau des nach analogen Prinzipien arbeitenden Differential Analyzers von Vannevar Bush aus dem Jahr 1935. Das Ballistic Research Laboratory (BRL) hatte die Herstellungskosten für die Moore School übernommen unter der Bedingung, dass die Rechenmaschine im Kriegsfall dem BRL zur Nutzung überlassen würde, vgl. P. Lévy 1995. 134 Vgl. J. Shurkin 1984, P. Lévy 1995.

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ne mit verbesserter Leistungsfähigkeit, die im Gegensatz zum Analysator auf digitaler Basis und elektronisch funktionieren sollte: ein Rechner, der „die Flugbahn eines Geschosses wohl in weniger Zeit berechnen konnte, als das Geschoß benötigte, um durch die Luft zu fliegen“.135 Die Idee wurde besonders von Mauchly vorangetrieben. 1942 hatte er ein Memorandum entworfen, The Use of high speed vacuum Tube devices for calculating, in dem er die Vorteile einer digitalen elektronischen Rechenmaschine auf der Basis von Vakuumröhren für die Berechnung von Schussbahnen hervorhob.136 Das Dokument war 1941 nach einem Besuch Mauchlys bei dem Mathematik- und Physik Professor John Vincent Atanasoff (1903-1995) in Ames/ Iowa entstanden, der 1939 gemeinsam mit seinem Absolventen Clifford Berry mit der Konstruktion einer digitalen elektronischen Rechenmaschine begonnen hatte.137 Es gelang Mauchly, Eckert und Goldstine, die Verantwortlichen im BRL von der Idee zu überzeugen, so dass die Arbeiten an dem ENIAC bereits im Mai 1943 an der Moore School aufgenommen werden konnte. Im Sommer 1944 war das Entwurfsstadium abgeschlossen, und das Projekt konnte den Konstruktionsingenieuren übergeben werden. Die im Verlauf der Arbeiten gesammelten Verbesserungsvorschläge sollten in den Entwurf eines Nachfolgemodells, dem EDVAC („Electronic Discrete Variable Computer“) eingehen, mit dessen Vorarbeiten ungefähr zu dieser Zeit begonnen wurde. Bei der Ausarbeitung der Pläne für den EDVAC assistierte der Mathematiker John von Neumann, der auf der Suche nach Rechenkapazität als Berater zum Projekt an der Moore School gestoßen war. John von Neumann (eigentlich János Lajos Margittai Neumann) wurde am 28. Dezember 1903 als ältester Sohn in eine jüdische Familie der gehobenen Mittelschicht im damals noch habsburgisch regierten Budapest geboren.138 Seine

135 N. Macrae 1994. 136 J.W. Mauchly 1942. 137 J.V. Atanasoff 1940. Aufgrund des Krieges stellten Atanasoff und Berry jedoch 1942 die Arbeiten an dem „Atanasoff-Berry-Computer“ ein. Obwohl in Einzelteilen entworfen und konstruiert, gelangte der „A-B-C“ nie in den Zustand einer funktionsfähigen Rechenmaschine. Der Einfluss von Atanasoffs Rechenmaschine auf die Konstruktion des ENIAC ist umstritten, vgl. H.H. Goldstine 1973, A.W. Burks 1980, N. Stern 1980a, J. Shurkin 1984. Sie wurde zu einem wichtigen Indiz bei den Patentstreitigkeiten um den ENIAC, die in den 1970er Jahren mit der Aberkennung des ENIAC-Patents endeten, da das Gericht in seinem Urteil Atanasoff als den maßgeblichen Urheber des „Computers“ betrachtete. 138 Zur Biographie von Neumann vgl. S. Ulam 1958, Legendi und Szentivanyi 1983, S. Heims 1989, N. Vonneumann 1989, N. Macrae 1994.

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außerordentliche Begabung für Mathematik wurde früh von seinem Vater erkannt und gefördert. Sein Mathematikstudium absolvierte von Neumann formal an der Universität in Budapest, aber aufgrund der politischen Umbrüche in Ungarn in Folge des II. Weltkriegs verbrachte er die Semester vorzugsweise in Berlin und Zürich, wo er 1925 zugleich mit einer Doktorarbeit in Mathematik und einem Ingenieurdiplom in Chemie abschloss. 1930 wurde er zum ersten Mal zu einem Gastaufenthalt an die Universität in Princeton/ USA eingeladen, wo er 1933 als jüngstes Mitglied am Institute for Advanced Study (IAS) eine Stelle als Professor annahm. Mit Ausbruch des II. Weltkrieges engagierte sich von Neumann in militärischen Projekten. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits ein angesehener Mathematiker, der zu einer Vielfalt an mathematischen Fragestellungen wichtige Beiträge geliefert hatte (u.a. Ergodynamik, Operator Theorie und Formale Logik).139 Ende 1943 wurde er von Robert Oppenheimer als Berater an das Los Alamos Scientific Laboratory in die Wüste Neumexikos berufen, wo er sich leidenschaftlich an den mathematischen Arbeiten zur Konstruktion der Atombombe beteiligte. In Los Alamos wurde von Neumann in die Beratungen über den Zündungsmechanismus der Atombombe einbezogen. Die Idee war, mit Hilfe traditionellen Sprengstoffs eine kugelförmige Stoßwelle zu erzeugen, die das Spaltmaterial im Inneren der Bombe plötzlich zusammendrücken und so zur Explosion bringen könnte. Diese Stoßwelle musste jedoch gleichmäßig und mit großer Kraft auf den nuklearen Sprengstoff wirken. Um den Implosionsverlauf im Vorfeld annähernd bestimmen zu können, wurden Modelle entwickelt, für deren Beschreibung nichtlineare partielle Gleichungen benötigt wurden, die nicht mit den üblichen Methoden gelöst werden konnten. Hier wurde von Neumanns Interesse an effektiven Methoden der Berechnung numerischer Rechnungen geweckt. Zum ersten Mal erfuhr er über das unter militärischer Geheimhaltung stehende ENIAC-Projekt, als er im Spätsommer 1944 auf dem Bahnsteig in Aberdeen durch Zufall auf Herman Goldstine traf. Wenige Wochen später im Oktober desselben Jahres war von Neumann durch das BRL zum Projektberater ernannt worden140 und besuchte fortan regelmäßig die Moore School. Durch seinen Einfluss sorgte er dafür, dass die ersten Aufgaben des ENIAC die im Rahmen der atomaren Forschung anfallenden Berechnungen waren. Der ENIAC nahm im Dezember 1945 seinen Betrieb auf und wurde am 15. Februar 1946 offiziell übergeben. Die fertige Rechenmaschine umfasste 40 se-

139 Einen Überblick über seine Beiträge vgl. J. von Neumann 1963. 140 Vgl. H.H. Goldstine an von Neumann, 20. September 1944, LOC, von Neumann Collection, Kasten 4, Mappe 1

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parate Panelen, 17.468 Vakuumröhren, 70.000 Widerstände, 10.000 Kondensatoren und 6.000 Schalter. Die Maschine war 30 Tonnen schwer. Sie brauchte für eine Multiplikation 2,8 Millisekunden, für eine Division 24 Millisekunden, für eine Addition 0,2 Millisekunden. Die Berechnung einer Flugbahn beanspruchte 30 Sekunden.141 Das ganze erste Jahr hindurch wurde der Rechner vorwiegend für ballistische Berechnungen, atomphysikalische sowie metereologische Probleme eingesetzt, bevor er in das Ballistic Research Laboratory versetzt wurde, wo er bis 1955 in Betrieb blieb. Während seiner Laufzeit an der Moore School besuchten den ENIAC viele Wissenschaftler aus den USA und Großbritannien, die ihrerseits mit der Konstruktion digitaler elektronischer Rechenmaschinen begannen. Wie sich bald herausstellte, bestand einer der größten Mängel des ENIAC in einem fehlenden adäquaten Speicher142: Dass die Abläufe im Computer steuernde Programm konnte nicht selber im Rechner abgelegt werden, sondern wurde in der „Hardware“ realisiert: An sogenannten „plugboards“ mussten Kabel umgestöpselt, Schalter umgelegt und Zubehör ausgetauscht werden. Bei jeder Aufgabenstellung wurde der ENIAC in eine Spezialmaschine verwandelt. Die Vorbereitung für die Berechnung neuer Aufgabenstellungen war so zeitaufwendig, dass sich sein Einsatz nur bei Problemen mit hohem Rechenaufwand lohnte, wie sie ballistische Berechnungen darstellten.143 Der Mangel an interner Speicherkapazität im ENIAC war Anfang 1944 von dem Projektteam an der Moore School als Problem erkannt worden und wurde zu einer zentralen Neuerung in der geplanten Nachfolgemaschine EDVAC. Das neue Rechner-Projekt wurde der Gruppe um Eckert und Mauchly im Frühherbst 1944 bewilligt. Durch die Einführung eines adäquaten Speichermoduls sollte nicht nur die Programmierung vereinfacht werden; man wollte durch die Ablage der Instruktionen im Speicher zugleich die Zugriffsgeschwindigkeit erhöhen, um so die elektronische Geschwindigkeit der Rechenmaschine auszunutzen zu können. Außerdem erhoffte man sich durch einen verminderten Einsatz störanfälliger Vakuumröhren, die im ENIAC in Form von Flip-Flop-Schaltungen als 1-bit Speicher genutzt wurden,

141 Nähere Beschreibung vgl. J. Shurkin 1984, H.H. Goldstine/ A. Goldstine 1946, P. Cerruzzi 1983,1999. 142 Ausführlich dazu H. Stach 1999, Kapitel 2. 143 Als Verbesserung wurden unter Anleitung von John von Neumann Ende der 1940er Jahre sogenannte „switchboards“ eingeführt, die eine Programmierung erheblich erleichterten. Die der „Programmierung“ des ENIAC unterliegende Technik verblieb jedoch im Bereich der Elektromechanik.

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eine Steigerung der Zuverlässigkeit. Das „Herz“ des neuen EDVAC144 bildeten die Mercury-Delay-Lines. 3.4.2 Ringspeicher für den EDVAC Mercury-Delay-Lines145 basieren auf dem Funktionsprinzip regenerativer Zirkulation. Die Grundidee dieses Speichersystems der EDVAC stammte aus der Radarforschung. Eckert hatte an der Moore School im Jahr 1942 sogenannte „Quecksilber-Verzögerungs-Leitungen“ als Mechanismus zur akkuraten zeitlichen Abstimmung von Radarsignalen für das Radiation Laboratory am Massachusetts Institute für Technology entwickelt.146 Das Funktionsprinzip ist denkbar einfach: Elektrische Impulse bewegen sich mit langsamerer Geschwindigkeit durch Quecksilber als durch metallene Leitungen, ein Umstand, den man zur gezielten Verzögerung von Impulsen einsetzen konnte. Dieses Prinzip war vorher in den Bell Labs entwickelt worden, wo William Shockley nachgewiesen hatte, dass eine vorhersagbare Verzögerung durch eine Röhre von bestimmter Länge, angefüllt mit Wasser und Ethylenglykol, erzielt werden könne, und wurde erfolgreich in den Ringspeichern des EDVAC zum Einsatz gebracht.147 Noch während der Arbeit am ENIAC waren 1944 die theoretischen und experimentellen Vorarbeiten zu dem neuen Verzögerungsspeicherelement abgeschlossen worden.

144 W. Aspray 1980, S. 222. 145 Diese Speicherelemente wurden in mehreren Spielarten entwickelt, vgl. J.P. Eckert 1953. Es gab die unterschiedlichsten Bezeichnungen. „Delay-Line Memories“, „Mercury-Delay-Line“ oder „Acoustic Delay Storage Device“ zählen zu den gebräuchlichsten. 146 .J.P. Eckert/ J.W. Mauchly, Automatic High-Speed computing: A Progress Report on the EDVAC, 30. September 1945. HML, Simon Gluck Collection, Accesion 1825, Kasten 23. Vgl. auch H.H. Goldstine 1973, J.P. Eckert 1980, S. 531, A.W. Burks 1980, S. 336, N. Macrae 1994, S. 248. 147 Vgl. J. Shurkin 1984, S. 183. Die Grundidee dieser Speichertechnik geht auf Verzögerungs-Speicher des serbisch-amerikanischen Ingenieurs Michael Idvorsky Pupin (1858-1935) aus dem späten 19. Jahrhundert zurück, vgl. J.P. Eckert 1953. Unterlagen zur Entwicklung dieser Speichertechnik in der Radartechnologie zählen als Bestandteil von kriegswichtigen Militärprojekten zu ehemals klassifiziertem Material. Eine Aufarbeitung der Herkunft des EDVAC-Speichersystems ist daher im Rahmen dieser Arbeit wegen der dafür erforderlichen umfangreichen Archivrecherchen nicht leistbar.

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Abbildung 3-6 Abbildung eines „Akustischen-Verzögerungs-Speicherelements“

A.W. Burks 1980, S. 337. Die Abfolge der akustischen Impulse und Leerstellen, die von links kommend die Quecksilberröhre entlang wandern, ist schematisch dargestellt.

Elektronische Schaltungen waren kreisförmig mit einer quecksilbergefüllten Röhre verbunden. Quarz-Kristalle an Ein- und Ausgang der Röhre konnten elektrische Signale in physikalische oder akustische Schwingungen konvertieren und umgekehrt. Die akustischen Signale durchwanderten den Quecksilbertank, wurden wieder in elektrische Impulse umgewandelt, der Taktfrequenz der Rechenmaschine angepasst und aufgefrischt. Durch die Zirkulation konnten immer gleiche Signalmuster reproduziert werden. „The memory device uses a delay line as a serial storage device and regenerates the signal pattern so that virtually unlimited storage times may be obtained“.148 Die „Quecksilber-Verzögerungselemente“ des EDVAC enthielten pro Röhre bis zu 1000 „Speicherplätze“ für Impulse bzw. deren Abwesenheit (digitales Prinzip), die im zeitlichen Abstand von einer 1 ȝsek. gespeichert werden konn149 ten. Die Verzögerungszeit in der Röhre betrug 382 Mikrosekunden. Zwar gab es auch andere Vorschläge für die Realisierung von Speichern mit schnellem Zu-

148 Eckert, John Presper/ Mauchly, John William. Automatic High-Speed computing: A Progress Report on the EDVAC, 30. September 1945. HML, Simon Gluck Collection, Accesion 1825, Kasten 23. 149

A Functional Description of the EDVAC (1.11.1949). Work Report between The Ordnance Department of the Army and The University of Pennsylvania, Moore School of Engineering. HML, Simon Gluck Collection, Accesion 1987, Kasten 1.

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griff auf die Programminstruktionen. So sollte der EDVAC ursprünglich Informationen auf Magnetscheiben speichern, eine Technik, die gerade für radartechnische Anwendungen im Gespräch war. Auch eine Sicherung der Daten basierend auf elektrostatischen Speicherprinzipien wurde überlegt. Den Ausschlag für den Einsatz von Ringspeichern in der EDVAC gab jedoch, dass sie sich von allen Vorschlägen ingenieurtechnisch am schnellsten und preisgünstigsten realisieren ließen. Das Speichersystem der EDVAC enthielt bei dessen Fertigstellung 128 lange und 6 kurze Röhren mit unterschiedlicher Speicherkapazität: Lange Röhren konnten mehrere Zahlenkolonnen oder Instruktionen speichern, während kurze jeweils nur ein Element aufnehmen konnten.150 Die Ringspeicher wurden auch erfolgreich in nachfolgenden Digitalrechnern implementiert.151 Anfang der 1950er Jahre waren verschiedene Typen im Einsatz, die jedoch durch neuhinzukommende Speichermethoden (vor allem durch Weiterentwicklungen elektrostatischer Speichermedien und der Magnettrommeln) verdrängt wurden, da die Zugriffszeiten in Ringspeichern durch das Zirkulationsprinzip unnötig lang ausfielen und neben der eigentlichen Delay-Line eine Vielzahl zusätzlicher Bauteile vonnöten war, um Speicher dieses Typs zu realisieren. Mit dem Speichersystem des EDVAC wurde erstmals projektiert, was später zum wesentlichen Merkmal der modernen Computer avancieren sollte: Die so später genannte „Speicherprogrammierung“, die Ablage der steuernden Instruktionen innerhalb der Maschine. Querelen um das Anrecht auf die Urheberschaft dieses Prinzip der Instruktionenablage ergaben sich durch einen mehr als 100 Seiten umfassenden informellen Bericht von Neumanns über das EDVAC Projekt vom März 1945. Den als First Draft of a Report on the EDVAC bekannt gewordenen Artikel hatte von Neumann nach einem zweitägigen Aufenthalt im EDVAC Team verfasst. In Rückgriff auf die im Moore School Team erarbeiteten, praktischen Lösungsansätze logischer Schaltkreise präsentierte von Neumann darin einen theoretischen Gesamtentwurf der Maschine, deren Funktionsweise er abstrakt darstellte. In dieser funktionsorientierten Darstellungsweise des technischen Gerätes liegt sein Beitrag zur Arbeit der EDVAC Projektgruppe. Sie ermöglichte eine Diskussion der Rechenmaschine, ohne im Detail die ingenieurtechnischen Realisierungen berücksichtigen zu müssen. Von Neumanns Wissen um ingenieurtechnische Realisierungen dagegen war gering, wie die Erinnerung von Arthur Burks offenbaren, einem Philosophen und Logiker, der auch dem Moore School Team angehörte:

150 Ebd. 151 Vgl. A.W. Burks 1980, J.P. Eckert 1953.

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Abbildung 3-7 Originalskizze Acoustic-Delay-Line des EDVAC

Progress Report on the EDVAC. University of Pennsylvania, Moore School of Electrical Engineering, 30. Juni 1946. HML, Simon Gluck Collection, Accesion 1987, Kasten 1, Kapitel II, Abbildung 1.2. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Hagley Museum and Library, Wilmington, USA.

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„I remembered well a discussion of serial adders that took place at one of our meetings of March 1945. Pres [Eckert,KSB] and John [Mauchly, KSB] had designed several serial adders, the simplest of which took ten tubes. Not knowing these results, von Neumann announced cheerly that he could build an adder with five tubes. We all looked amazed, and Pres said, ‚No, it takes at least ten tubes.‘ Johnny said, ‚I`ll prove it to you‘, rushed to the board and drew his adder. ‚No‘, we said, ‚your tube can`t drive it`s load in 1 ȝsec, so an inverter is needed, then another tube to restore the polarity.‘ And so the argument went on. Johnny was finally convinced. But he was not taken aback. ‚You are right‘, he said. ‚It takes ten tubes to add – five tubes for logic, and five tubes for electronics!‘“152

Obwohl anscheinend zunächst nicht zur Veröffentlichung vorgesehen wurde der First Draft am 30. Juni von Herman Goldstine und S. Reid Warren, dem Projektsupervisor des EDVAC auf Seiten der US Armee, unter den Mitarbeitern der Moore School verbreitet sowie an Interessierte in den USA und Großbritannien verschickt.153 Eckert und Mauchly reagierten verärgert, da sie und andere Projektmitglieder im First Draft keine Erwähnung fanden, selber aber aufgrund der Geheimhaltung, denen der ENIAC und der EDVAC als Militärprojekte unterlagen, nicht mit ihren Ergebnissen an die Öffentlichkeit gehen durften (ein Umstand, der im Übrigen genauso für von Neumann galt). Diese Spaltung zwischen wissenschaftlich orientierten Mathematikern wie von Neumann und Herman Goldstine auf der einen, die Computer als eine allen zugänglich zu machende Technik verstanden, und den kommerziell interessierten Ingenieuren Eckert und Mauchly auf der anderen Seite verschärfte sich über die Jahre, da aufgrund der weiten Verbreitung des First Draft die Entwicklung speicherprogrammierbarer Rechner untrennbar mit dem Namen von Neumann verbunden wurde154 und es aus diesem Grund für Eckert und Mauchly unmög-

152 A. Burks 1980, S. 341. 153 Vgl. N. Stern 1980b, H. Stach 1999, J. Shurkin 1984. 154 Dieser Zwist spiegelt sich in der Beurteilung von von Neumanns Beitrag zur EDVAC und der Speicherprogrammierung wider. Während lange Zeit – basierend auf den Aussagen von Herman Goldstine (H.H. Goldstine 1973, S. 192ff), der jedoch in der ersten Phase der Besuche von Neumanns an der Moore School aufgrund einer Krankheit abwesend war – von Neumann als „Erfinder“ der Speicherprogrammierung betrachtet wurde, setzt sich nun langsam eine differenzierte Betrachtungsweise durch, die auf Evidenzen aus der Projektierung der EDVAC mit Speicher für die interne Ablage von Instruktionen und Zahlen beruht.

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lich war, ein Patent auf Maschinen des EDVAC Typs („speicherprogrammierbar“) anzumelden155.156 Trotz seiner Bekanntheit, die der EDVAC durch den First Draft erlangte, wurde er nicht zur ersten speicherprogrammgesteuerten, digitalen, elektronischen Rechenmaschine. Diese Ehre kam zwei Computern zu, die 1949 kurz hintereinander erfolgreich ihren Betrieb aufnehmen konnten: Der EDSAC („Electronic Delay Storage Automatic Calculator“) unter Leitung von Professor Maurice Wilkes für das Cavendish Laboratory an der Cambridge University/ Großbritannien und der BINAC („Binary Automatic Computer“) von Eckert und Mauchly.157 Der EDVAC selber wurde erst im Jahr 1951 von einer neu zusammengestellten Gruppe an der Pennsylvania University beendet. Das Team um Eckert und Mauchly war 1946 zerfallen, als die beiden Wissenschaftler die Moore School im Streit um Patente verließen und im Juni 1946 eine eigene Firma zum Bau kommerziell orientierter digitaler elektronischer Rechner (den BINAC und besonders 1951 den UNIVAC „Universal Automatic Computer“) gründeten.158 Ihre ehemaligen Mitarbeiter Herman Goldstine und Arthur Burks wechselten zu John von Neumann an das Institute for Advanced Studies in Princeton, dem im Herbst 1945 ein eigenes Rechnerprojekt genehmigt worden war. Finanziert durch das US Armee Ordnance Department entwickelte das Team um von Neumann das Design für den IAS (benannt nach der gleichnamigen Forschungseinrichtung), dem Rechner, der gemeinsam mit dem EDVAC die digitale Rechnerentwicklung in den USA maßgeblich prägen sollte. Bereits ab 1946 gaben von Neumann, Goldstine und Burks die Projektüberlegungen in einer Reihe vorläufiger Berichte über logischen Entwurf und Programmierung digitaler, binär operierender Rechenmaschinen heraus,159 die in den USA eine große Verbreitung fanden und wesentliche Grundlagen der heutigen Informatik legten.

155 Die dem Interessenskonflikt entspringenden Zwistigkeiten überschatteten Eckert und Mauchly zeitlebens, da sie sich um ihre verdiente Anerkennung und die finanziellen Möglichkeiten gebracht sahen, vgl. J.P. Eckert 1980, N. Stern 1980a, 1980b, 1981, J. Shurkin 1984, P. Lévy 1995. 156 Neben seinem Status als erste Veröffentlichung der Idee der „Speicherprogrammierung“ wurde der First Draft auch darüber hinaus in der Informatik als bedeutungsvoll rezipiert, da er eine Beschreibung des später sogenannten von Neumann Prinzips der Rechnerkonzeption (Steuerwerk, Rechenwerk, Kontrolle, Speichereinheit, Ein- und Ausgabe) enthält, ausführlich dazu vgl. H. Stach 1999. 157 Vgl. S. Lavington 1980, N. Stern 1981. 158 Vgl. N. Stern 1979, 1980, 1981, P. Cerruzzi 1999. 159 Vgl. J. von Neumann gesammelte Werke.

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3.4.3 „First Draft of a Report on the EDVAC“ Im First Draft beschrieb von Neumann zum ersten Mal die Funktionsprinzipien eines modernen Computers – mithilfe von Neuronenmodellen. Seine abstrakte Beschreibung fußte auf den logischen Nervennetzen von McCulloch und Pitts von 1943 – dem einzigen im First Draft zitierten Artikel. Auf Empfehlung des Ingenieurs Julian Bigelow sowie seines Freundes, des Mathematikers Norbert Wiener, hatte von Neumann den Logical Calculus of the Nervous System bereits kurz nach dessen Erscheinen gelesen. In der Übernahme der Neuronennotation Pitts und McCullochs sowie deren auf der Boole’sche Logik basierenden Verknüpfungen vereinigte von Neumann im First Draft zwei seiner Interessen, wie Stach schreibt: Zum einen entwickelte er eine Grundlage, die eine ingenieurtechnisch unabhängige Diskussion über den logisch-funktionalen Entwurf von Rechenmaschinen ermöglichte. Zum anderen suchte er zu verstehen, auf welche Weise das Gehirn geistige Fähigkeiten hervorzubringen vermochte.160 Dieses letztgenannte Interesse, zugespitzt in der Frage nach einer mathematisch fundierten Theorie des Nervensystems, war von einem alten Freund von Neumanns aus Budapester Tagen angeregt worden. Ende der 1930er Jahre hatte er mit Rudolf Ortvay, dem Direktor des Instituts für Theoretische Physik an der dortigen Universität, über die Möglichkeiten einer mathematischen Formalisierbarkeit von Gehirnoperationen korrespondiert. Die betreffenden Briefe sind Teil eines umfangreichen Briefwechsels, der von ihrer anhaltenden Freundschaft in den 1930er und 1940er Jahren trotz der räumlichen Trennung nach von Neumanns Übersiedlung in die USA zeugt.161 Die Briefe offenbaren den etwas älteren Ortvay als überzeugten Vertreter eines formal-mathematischen Zugangs zum Verständnis des Gehirns. Ortvay glaubte, dass es einer neuen mathematischen Theorie bedürfe, um die corticalen Operationen zu entschlüsseln, denn in offensichtlicher Weise handele es sich bei der Organisation dieses Organs um „a highly sophisticated switchboard system, the scheme of which we do not know. The very task would be to propose theorems about this or to devise an adequate

160 H. Stach 1999. 161 Die Briefe sind in ungarischer Sprache verfasst und liegen in der von NeumannSammlung in der LOC bzw. in den Archiven der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest. Ein Abdruck einer Auswahl von 60 Briefen erschien 1987 vgl. F. Nagy 1987. Auszüge des Briefwechsels zwischen den Jahren 1939-1941 liegen in englischer Sprache in F. Nagy et al. 1989 vor.

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model for certain substantial features“162, beispielsweise von Gegenständen des alltäglichen Lebens wie „Tisch, Stuhl, Mann“. Mathematiker und Physiker könnten dabei Ärzten und Physiologen den richtigen Weg weisen, wie die Verbindungen zwischen den Elementen des Nervensystems, den Nervenzellen, zu verstehen seien, und ihnen so aus ihrer momentanen Sackgasse helfen, die Gehirnprozesse – auch in ihrem Bezug zu geistigen Fähigkeiten – zu verstehen. Denn „currently physicians are not leaning towards comprehensive theories, and they almost entirely lack the capability which would allow them to see the simple and theoretical structure of a complicated complex“.163 Die Mathematik dagegen sah Ortvay als soweit entwickelt an, dass sie in naher Zukunft auch Beiträge zur Rationalisierung der Psychologie und der Sozialwissenschaften leisten könne. Seine Hoffnungen in die mathematische Entwicklung einer Theorie des Nervensystems (in Kooperation mit Ärzten und Physiologen) setzte Ortvay in seinen Freund von Neumann: „I liked your paper [unklar, welches hier gemeint sein könnte, KSB] very much at the time, and it gave me hope that you might succeed in formulating the problem of switching of brain cells, if I succeed in drawing your attention to it. [...] The problem seems to be this: the brain can be conceived as a network with brain cells in its nodes. These are connected in a way that every individual cell can receive impulses from more than one other cell and can transmit impulses to several cells. Which of these impulses are received from or passed on to other cells may depend on the state of the cell, which in turn depends on the effects of anything that previously effected this particular cell. It may perhaps be sufficient that a cell has a limited number of potential states. [...] The actual state of the cells (which I conceive as being numbered) would characterize the state of the brain. There would be a certain distribution corresponding to every spiritual state and that would be relevant to every reaction, e. g. the way a stimulus is transmitted from a nerve. This modell may resemble an automatic telephone switchboard; there is however a change in the connections after every communication. Perhaps the ever-refining technologies in the switchboard equipment would provide a facile analogy. The big trouble is that the physicians who know the facts are so hostile towards a more abstract way of thinking...“164.

Im Erkenntnisprozess der neuronalen Organisation des Gehirns mithilfe der Mathematik maß Ortvay der funktionellen Organisation technischer Geräte wie den automatischen „Switchboards“ der Telefone oder der industrieller Fertigung

162 R. Ortvay an von Neumann 1939, in F. Nagy et al. 1989, S. 186. 163 R. Ortvay an von Neumann 1939, ebd., S. 185. 164 R. Ortvay an von Neumann 1941, ebd., S. 187.

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Vorbildcharakter zu: Essentielle organisationelle Elemente dieser Systeme könnten herausdestilliert und als Leitbild für das Verständnis des Gehirns verwendet werden.165 Von Neumann reagierte skeptisch und mahnte das Fehlen geeigneter Modelle für eine mathematische Theorie der Hirnoperationen an: „I believe that we must find a new terminology and new formulas (i.e. models) in all fields before we can proceed further [...]“.166 Als er jedoch um die Mitte der 1940er Jahre die logischen Nervennetzen McCullochs und Pitts kennen lernte, die zugleich als mathematische Modell einer logischen Maschine und des Nervensystems daherkamen, erblickte er in ihnen einen mathematischen Zugang zu Hirnoperationen im Sinne Nagys. Das Thema einer mathematischen Erkenntnis organismischer Prozesse sollte ihn im Übrigen bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen. Von Neumanns erkenntnistheoretisches Interesse an den Grundlagen des Geistes fand seinen Ausdruck in vielen seiner Schriften. Nicht nur im First Draft zeigen die häufig gezogenen Vergleiche zwischen dem Nervensystem bzw. geistigen Fähigkeiten und der Organisation bzw. Funktion der Rechenmaschine, dass von Neumann nicht auf eine strikte Abgrenzung zwischen natürlichem und technischem System bedacht war, sondern die Möglichkeiten einer solchen Analogisierung zur Erkenntnis der Grundlagen geistiger Prozesse auslotete. Zwar finden sich immer wieder genaue Unterscheidungen zwischen Nervenzellen und technischen Bauteilen. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, Vorstellungen des Nervensystems und des digitalen Rechners als sich selber regulierende und steuernde Systeme auf solche Weise zu hybridisieren, dass beide Bereiche in eins zu fallen scheinen. Stach ist ausführlich auf diese Analogiebildung Mensch-Maschine im First Draft eingegangen.167 Der Rechner erscheint wie ein Mensch, der denkt, wie ein selbständiges System mit dem „Gedächtnisspeicher“ als Voraussetzung seiner Verhaltensautonomie. Seine Eingaben müssen mit den Sinnen wahrgenommen werden können,168 die Ausgabe seiner Daten erfolgt analog zu den motorischen Handlungen des Menschen.169 Die Bearbeitung der Daten im Computer erfolge in der Regel ohne menschliches Zutun, sieht man von der Behandlung auftretender Fehler ab; allerdings

165 R. Ortvay an von Neumann 1941, ebd., S. 187. 166 J. von Neumann an Ortvay, 1940, ebd., S. 187. 167 Vgl. H. Stach 1999. 168 „[I]n some form which the device can sense“ (J. von Neumann 1945, S. 33). 169 Vgl. ebd., Abschnitte 1.2, 2.6.

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könnte langfristig auch hier die Rechenmaschine eine gewisse Autonomie erlangen, so von Neumanns Hoffnung:170 „The device may recognize the most frequent malfunctions automatically, indicate their presence and location by externally visible signs, and then stop. Under certain conditions it might even carry out the necessary correction automatically“.171

Nicht nur im Verhalten des Gesamtsystems finden sich Analogien zwischen Gehirn und Rechenmaschine. Auch sonst herrscht im First Draft ein steter Wechsel zwischen technischen Details und neurophysiologischen Konzepten und Termini, der Ähnlichkeiten zwischen der internen Organisation des Nervensystems und des Computers nahe legt. „The three specific parts, CA (central arithmetic), CC (central control) [...] and M (Memory), correspond to the associative neurons in the human nervous system. It remains to discuss the equivalents of the sensory or afferent and the motor or efferent neurons“172

Solche Ähnlichkeiten zwischen der Maschine und dem Nervensystem werden im Text allenthalben postuliert, ohne dass deren Bedeutung für die Darstellung der Funktionsweise der Rechenmaschine eine nähere Begründung erfährt. Letztendlich wäre von Neumann eine Beschreibung der Funktionsweise des Computers ohne Abstriche auch ohne Analogien in Richtung Nervensystem und Geist möglich gewesen. Dies unterstreicht die auch von Stach geäußerte These, dass es von Neumann im First Draft um mehr ging, als eine bloße Beschreibung der Funktionsweise des Computers.173 Nicht nur die auf den ersten Seiten des First Draft allgegenwärtigen Vergleiche erwecken die Assoziation von dem Computer als überdimensionalem Gehirn. In seinem Modell der „E-Elemente“ vollzieht von Neumann eine Verdichtung dieses Vergleichs. Diese Modelle stellen eine Hybridisierung von Nervenzellen, Logik und digitalen Schaltelementen dar. Sie sind mathematische Notationen, Formalismen, die sich in Aussehen und Funktion nicht von McCullochs

170 Das eigenständige Beheben interner Störungen bzw. die zuverlässige Funktionsweise trotz unzuverlässiger Bauteile wurde zu einem zentralen Thema für von Neumann bis zu seinem Tod. Um diese Fragestellungen zu lösen, orientierte er sich wieder am Vorbild des Nervensystems, vgl. J. von Neumann 1951, 1956, 1958. 171 J. von Neumann 1945, S. 33. 172 Ebd., S. 3. 173 H. Stach 1999.

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und Pitts logischen Nervenzellen von 1943 unterscheiden. Der einzige Unterschied besteht darin, dass sie neben neuronalem Verhalten nun auch die Funktionsweise logischer Vakuumröhren-Schaltungen repräsentieren; Abraham nennt sie daher „neurophysio-(logische) Schalter“ mit zwei Zuständen.174 Dadurch gelang es von Neumann, Nerven und Vakuumröhren-Schaltungen als vergleichbare abstrakte digitale „Schaltorgane“175 ohne Referenz auf die ihnen zugrundeliegenden, unterschiedlichen materiellen Substrate darzustellen. „Every digital computing device contains certain relay like elements, with discrete equilibria. Such an element has two or more distinct states in which it can exist indefinetely.[...] The relay action manifests itself in the omission of stimuli by the element whenever it has itself received a stimulus[...]. The emitted stimuli must be of the same kind as the received one, that is, they must be able to stimulate other elements [...]. It is worth mentioning, that the neurons of the higher animals are definitely elements in the above sense. They have all-or-none character, that is two states: Quiescent or excited“.176

Diese abstrakten funktionalen Elemente werden im First Draft auf zwei Ebenen mit ihren biologischen Äquivalenten, den Nervenzellen, gleichgesetzt, in ihrer bildlichen Darstellung und in der Beschreibung ihrer Dynamik. Eingeführt wurden sie in Form eines Kreises, „which receives the excitatory and inhibitory stimuli, and emits its own stimuli along a line attached to it: This axon may branch. The emission along it follows the original stimulation by a synaptic delay, which can be assumed to be a fixed time, the same for all E-elements“177

174 T.H. Abraham 2002. 175 In seinem Vortrag beim Hixon Symposium 1948 über „Cerebral gesteuertes Verhalten“ fiel von Neumanns Vergleich noch expliziter aus: „Die elementaren Schaltorgane lebender Organismen, zumindest in dem Umfang, wie wir sie hier betrachten, sind die Neuronen. Die elementaren Schaltorgane der neueren Rechenmaschinen sind die Elektroröhren“ (J. von Neumann 1967, S. 152). 176 J. von Neumann 1945, S. 36/37. Hervorhebungen im Original. 177 Ebd., S. 41.

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Abbildung 3-8 sich verzweigende E-Elemente in Analogie zu Nervenzellen

J. von Neumann 1945, S. 41

Von Pitts und McCulloch übernahm von Neumann auch die auf der Boole’schen Logik basierenden Verknüpfungen samt ihrer neurophysiologischen Konnotationen. Im First Draft finden sich die naturalisierten Regeln des interaktiven Verhaltens der formalisierten Nervenzellen aus dem A Logical Calculus, soweit dies für die Abbildung der Funktion logischer Schaltgatter bei der Rechenmaschine notwendig war: Schwellenwert, synaptische Verzögerung, räumliche Summation. Die hybriden E-Elemente verfügten über „inhibitorische“ oder „exzitatorische“ Synapsen (vgl. Abbildung 3-8), diese waren jedoch nicht modifizierbar, wie für die realen Synapsen angenommen. Auch das neurophysiologische Konzept der temporalen Summation (vgl. Teil I) war ausgeschlossen. Abbildung 3-9 exzitatorische und inhibitorische Synapse

J. von Neumann 1945, S. 42.

In seiner Darstellung verzichtete von Neumann auf die von McCulloch und Pitts in Anlehnung an Carnap verwendeten logisch-mathematischen Formalismen der Notation des Kalküls und der Beweisführung, die ihm ein Gräuel waren: „Ich glaube“, so urteilte von Neumann über McCulloch und Pitts Artikel, „dass sie sehr schöne und wichtige Ideen und Resultate enthalten, aber leider mit einem beträchtlichen Ballast von nicht allzuklarer philosophischer Terminologie und einer hyperformalisitischen Bezeichnungsweise. Die letztere schmerzt mich als ex-Logiker besonders: Es ist die m. E. sehr schwerfällige und unzweckmässige logische Apparatur von R.

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Carnap. Trotzdem sind die wirklichen Ideen und wesentlichen Resultate klar und durch178

greifend“.

Mithilfe seiner neurophysiologisierenden E-Elemente entwarf von Neumann die funktionalen Komponenten einer Rechenmaschine, wobei er anmerkte, dass „they can all be realized by vacuum tube circuits of the same complexity“179: „Comparison of some typical E-Element networks with their vacuum tube realizations indicates that it takes usually 1-2 vacuum tubes for each E-element“.180

Durch die Einführung dieser idealisierten Schaltelemente „E“ gelang ihm die Trennung des logischen Designs der Rechenmaschinen vom Schaltkreisentwurf.181 Es ermöglichte die Betrachtung des Rechners als ein modulares System, dessen Komponenten flexibel in logischer Organisation zueinander angeordnet werden können. Die komplexeste Rechnerorganisation kann so aus dem Arrangement einfachster Funktionselemente aufgebaut werden. Die visuelle Darstellungsweise (durch die E-Elemente und den daraus erstellten Funktionsmodulen) unterstützt eine vereinfachte Erfassbarkeit der Funktionen. Eine Erweiterung des Entwurfs durch Hinzufügen neuer Komponenten ist jederzeit möglich. Dass hier ein generelles, Technik unabhängiges Schema für den Entwurf von Rechnern entwickelt wurde, das sich an den allerwenigsten Stellen auf eine konkrete Maschine bezieht (ganz im Gegensatz zu der im Titel genannten EDVAC), stellt eine wesentliche Bedeutung des First Draft dar. Eine der Komponenten, die von Neumann aus den E-Elementen zur Beschreibung des Computers neu entwarf, war sein Modell eines Gedächtnisspeichers. Dieser basiert auf dem Funktionsprinzip der regenerativen Zirkulation und weicht in seiner Funktionsweise von dem bereits vorgestellten zirkulativen Lernmodell von McCulloch und Pitts aus dem Jahr 1943 ab. Während sich Pitts und McCulloch 1943 (wie zuvor Rashevsky) in ihrer Modellierung des Lernens auf das neurophysiologische Phänomen der Bahnung aufgrund zirkulativer Prozesse stützten, wie von Lorente de Nó für seine geschlossenen Neuronenketten postu-

178 J. von Neumann an Karl Bonhoeffer, 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11 K. F. Bonhoeffer. Auf die kritischen Anmerkungen von Neumanns im Briefwechsel von Neumann – Bonhoeffer hat L.E. Kay 2000 bereits hingewiesen. 179 J. von Neumann 1945, S. 42. 180 Ebd., S. 42. 181 Vgl. A.W. Burks in J. von Neumann 1963.

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liert, ist von Neumanns Gedächtnisspeicher in seiner Funktionsweise maschinell orientiert, da seine Funktionsweise analog der Mecury-Delay-Line verläuft. Dennoch weist er Ähnlichkeit mit dem neurophysiologischen Mechanismus Lorente de Nós auf.182 Von Neumann war zu diesem Zeitpunkt mit den wesentlichen Arbeiten Lorente de Nós vertraut, so dass man davon ausgehen kann, dass dessen Konzept der geschlossenen Neuronenkette hier in seine Mensch-Maschine Hybridisierung eingegangen ist. Die folgende Abbildung zeigt das Funktionsprinzip des für den EDVAC projektierten „Quecksilber-Verzögerungs-Speichers“, in dem die Impulse durch eine geschlossene Kette von E-Elementen zirkulieren können. Abbildung 3-10 „cyclical arrangement of k E-Elements“

183

J. von Neumann 1945, S. 44.

Die Darstellung des zyklischen Arrangements von E-Elementen kommt einerseits mathematisch-technisch daher. So erinnert die Abbildung eher an ein Schaltbild. Andererseits verwendete von Neumann in seiner Beschreibung der Funktionsweise dieses Speicherkreises Begriffe aus dem Bereich des menschlichen Geistes. Sein „Memory“ (sic!) - Netzwerk kann nicht nur Signale einlesen bzw. löschen als notwendige Operationen der Speicherverwaltung, es „erinnert“ und „vergisst“: „Provided with two input lines rs [„receive stimulus“, KSB], cs [„clear stimulus“, KSB] for receiving and clearing (forgetting) this stimulus, and with an output line os to signalize the presence of the stimulus (during the time interval over which it is remembered)“.184

Der solchermaßen in seinem Verhalten kontrollierbare Speicher wird nach seinen Worten zu einem „perfect memory organ“185.

182 Vgl. K. Schmidt-Brücken 1998. 183 Die Anzahl der E-Elemente im Speicherkreis ist natürlich nur in der theoretischen Betrachtung beliebig; im konkreten Fall stand sie für von Neumann in direkter Abhängigkeit zu der Anzahl der maximal zu speichernden Impulse, vgl. J. von Neumann 1945, S. 44. 184 Ebd., S. 44/45.

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Abbildung 3-11 „perfect memory organ“ 186

J. von Neumann 1945, S. 45, Abbildung 6

Nicht nur bei dem großen Speichermodul, auch bei der Modellierung einfacher 1bit-Speicher fand im First Draft eine Hybridisierung nervlicher und technischer Konzepte zu „memory“ statt. Die Flip-Flop-Schaltungen fanden in ENIAC und EDVAC als kurzzeitige Speicherzellen, bzw. als Zähler und Register Verwendung und bildeten die funktionalen Grundeinheiten damaliger digitaler elektronischer Rechentechnik: Sie bestanden aus zwei miteinander rückgekoppelten Schaltelementen, den Vakuumröhren187. Miteinander kombiniert realisierten sie eine sogenannte bistabile Kippschaltung oder Triggerschaltung, die von außen gesteuert zwischen zwei stabilen Zuständen wechseln kann (vgl. Abbildung 313). Für die Darstellung dieses einfachsten „memory device“ nutzte von Neumann ein rückgekoppeltes E-Element: Abbildung 3-12

J. von Neumann 1945, S. 44. „An element which stimulates itself, will hold a stimulus indefinitely“

185 Ebd., S. 44/45. 186 Für k=0 entspricht von Neumanns „perfect memory organ“ einem Flip-Flop. 187 Die weniger störanfällige und preisgünstigere Transistortechnik wurden erst Ende der 1940er entwickelt.

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Abbildung 3-13 Schaltkreis für eine Triggerschaltung aus Vakuumröhren nach Eccles und Jordan188

H.J. Reich 1939, S. 14

In den Abbildungen 3-12 und 3-14 tritt die Hybridisierung deutlich sichtbar zutage. Die Ähnlichkeiten zu dem „sich selbst erregenden mononeuronalen Kreis“ sind unverkennbar, wie er in der Gruppe um Rashevsky Gegenstand der mathematischen Analyse des Nervensystem war und wie ihn McCulloch und Pitts in ihrem 1943 Artikel verwendet hatten. In diesem Fall wird er jedoch nicht in Anlehnung an Lorente de Nós geschlossene Neuronenkette als Bahnungsmechanismus gedeutet, sondern als Modell einer „Erinnerungszelle“, in der Impulse durch dynamisches Kreisen gespeichert werden. „Ein sich selber stimulierendes Neuron ist eine elementare ‚Erinnerungszelle‘, da es sowohl im unangeregten als wie im angeregten Zustande beliebig lange verharren kann“189

Diese „Erinnerungszelle“ ergänzte von Neumann um Mechanismen, die das Einlesen (rs – read stimulus) und Löschen (cs – clear stimulus) von Impulsen steuer188 W.H. Eccles/ F.W. Jordan 1919 hatten als erste eine solche elektronische Triggerschaltung unter Verwendung von Vakuumröhren beschrieben, die auch zur Grundlage für die Schaltkreise im ENIAC wurde. 189 J. von Neumann an Karl Bonhoeffer 1.4.1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11 K. F. Bonhoeffer.

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ten, zu einem der Funktion der Triggerschaltung (Flip-Flop) entsprechenden technischen Netzwerkmodell: Abbildung 3-14 ansteuerbare Erinnerungszelle

J. von Neumann 1945, S. 44.

Mit seinem Gedächtnisspeichermodellen hat von Neumann die Entsprechung einer funktionalen Organisation in Nervengewebe und in der Rechenmaschine mehr als nur angedeutet: Durch die Verwendung hybrider E-Elemente scheinen die Modelle Speicherprozesse in organischen und technischen Systemen gleichermaßen zu repräsentieren. Durch Modelle und Beschreibungen legt von Neumann nahe, dass die regenerative Zirkulation durch kreisförmig vernetzte EElemente die Grundlage eines Gedächtnisses, eines Speichermechanismus, in Mensch und Maschine bilde. Die Speicherung erfolge dabei durch fortlaufende Zirkulation. Von Neumann verließ an dieser Stelle die bisher durch McCulloch und Pitts erfolgte neurophysiologische Deutung regenerativer Zirkel im Nervengewebe (Lernerfolg (Gedächtnis) = konstantes Bombardement aufgrund anhaltender Zirkulation = Senkung des Schwellenwertes der Erregung = Bahnung) zugunsten einer computerorientierten Deutung des Speicherprozesses (Gedächtnis = konstante Zirkulation der in Nullen und Einsen kodierten Inhalte). Auch in der konsequenten Nutzung des „Memory“-Begriffs, der ursprünglich allein zur Beschreibung menschlicher Gedächtnisprozesse Verwendung fand, kommt diese kybernetische, Mensch- und Maschinenprozesse vereinheitlichende Sichtweise des First Draft zum Ausdruck. Dieser in der Computertechnologie inzwischen selbstverständliche Begriff für den Speicher wurde hier durch von Neumann eingeführt und fand erst im Kontext der Kybernetik Verwendung. Durch den Einfluss von Neumanns, die Verbreitung seines First Draft und des kybernetischen Denkens im Umfeld der Konstruktion von Folgerechnern zur ENIAC setzte er sich rasch als Terminus technicus gegenüber dem ursprünglich gebräuchlichen „Storage“ -Begriff als Bezeichnung für technische Speichersysteme durch.190 Vergleicht man die USA, wo die Kybernetik ihren Ausgang

190 Vgl. B. Randell 1973. Die dort abgedruckten Originaltexte aus der Entstehungszeit der digitalen Computer stützen die These, dass der Begriff „Memory“ im Kontext der Kybernetik geprägt wurde und sich in den folgenden Jahren gegenüber der älte-

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nahm, mit Großbritannien, so kann man feststellen, dass sich die Verwendung des Begriffs „Storage“ in England weitaus länger hielt, bevor auch hier „Memory“ üblich wurde. Mit seiner Hybridisierung von Nervensystem, Rechner und Logik im First Draft liefert von Neumann eine wichtige Etappe auf dem Weg der kybernetischen Modellbildung. Im E-Element sowie im daraus konstruierten Gedächtnisspeicher erweiterte er McCullochs und Pitts logische Nervennetze um den Computer. Nicht nur die neurophysiologischen, auch die maschinellen Prozesse werden nun im Modell nachgeahmt: Die Grenzen zwischen natürlichem und technischem System sind dabei so durchlässig, dass Computer und Gehirn, Rechenprozesse und Denkprozesse, Datenspeicher und Gedächtnis hier in einem theoretischen Rahmen betrachtet werden können. „Die Rechengeräte erscheinen anthropomorph, die menschlichen Rechner technomorph“.191 So scheinen von Neumanns E-Elementmodelle an vielen Stellen geistige Fähigkeiten zu besitzen, beispielsweise werden sie wie ein Gedächtnis beschrieben, das vergessen oder erinnern kann. Die hohe Suggestivität, die das von von Neumann entworfene kybernetische Gedächtnisspeichermodell für das Verständnis menschlicher Gedächtnisprozesse enthielt, sollte bald ihre Wirkung entfalteten. Vor allem McCulloch sorgte mit seiner Übernahme des Gedächtnisspeichermodells in seine logischen Nervennetzmodelle für dessen Verbreitung und Popularität – weit über die Grenzen der Kybernetik hinaus.

ren Bezeichnung „Storage“ durchsetzte – in den USA schneller als in Großbritannien. Eine Ausnahme bildete der Mathematik- und Physikprofessor John Vincent Atanasoff, der Ende der 1930er Jahre sein nie vollendetes ABC Rechnerprojekt in seinen Fähigkeiten mit der Funktionswesise des menschlichen Gehirns verglich und in diesem Kontext den Speicher als „memory“ bezeichnete, vgl. J.V. Atanasoff 1940, S. 308/309. 191 P. Eulenhöfer 1998, S. 95.

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3.5 R EGENERATIVE Z IRKULATION IN M C C ULLOCHS KYBERNETISCHEN N ERVENNETZMODELLEN „Apart from all this, I continue, as usual, to try to write an ‚equation‘ for the brain.“ W.S. MCCULLOCH AN FULTON, 19. JANUAR 1946, APS, MCCULLOCH PAPERS, BM 1939 NR. 1 UND NR. 2, MAPPE FULTON III. „Man’s brain is the most complicated of the computing machines.“ W.S. MCCULLOCH 1949, S. 492.

McCulloch erweiterte bis 1947 maßgeblich seine eigene Theorie logischer Nervennetze aus den frühen 1940er Jahren. Als Teil der sich um die Mitte der 1940er Jahre formierenden Kybernetikszene war er fasziniert von den Möglichkeiten, die die Hybridisierung von Rechenmaschine und Nervensystem zu eröffnen schienen. Denn da von Neumann bereits im First Draft nachgewiesen hätte, dass mithilfe von Nervennetzmodellen auch die Funktionsweisen des Computers modelliert werden könne, und Computer Spuren geistigen Verhaltens aufwiesen, so könne man generell die Funktionsweise des Computers zum Vorbild biologischer Prozesse erheben, „in order to see what biological, psychological [...] problems might be approached with the theoretical tools, which, during the war, have created thinking and purposeful machines“192. Denn „[e]very robot suggests a mechanistic hypothesis concerning man“.193 Mit diesem Denkansatz schien ihm der Durchbruch hin zum Verständnis des menschlichen Geistes greifbarer denn je. „These ways of thinking are more powerful than many we have yet had“.194 Im folgenden Abschnitt verdeutliche ich exemplarisch, wie McCulloch die Rechenmaschine zum Leitbild seiner Forschung erhob. Schrittweise machte er die regenerative Zirkulation, deren Funktionsweise er nun in Analogie zur Mercury-Delay-Line verstand, zu einem zentralen Funktionsprinzip seiner experimentellen Epistemologie, um mit ihrer Hilfe neben den bereits 1943 beschriebe-

192 W.S. McCulloch an Lewin, 15. November 1946, APS, McCulloch Papers, Macy Meeting Mappe, März 1947. 193

W.S. McCulloch an Teuber, 10. Dezember 1947, APS, McCulloch Papers, BM 139 Nr. 2, Mappe Macy-Meeting IV, October 1947.

194 Ebd.

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nen Lernprozessen auch geistige Fähigkeiten wie Gedächtnis, Erinnerung und die Erkenntnis universeller Ideen abbilden zu können, zentrale Kategorien des „Wissens“, wie er es nannte. Durch die Einführung psychologischer Kategorien wie Lernen, Erinnern, Wissen oder Erkenntnis (als Interpretationen der Funktionsweise seiner Modelle) bot er, der den Geist im Sinne des Wiener Kreises rein mathematisch-logisch verstanden sehen wollte, der Metaphysik ein erneutes Einfallstor. McCulloch gehörte schon früh der sich etablierenden Kybernetikszene an. Bereits im Mai 1942 war es zu ersten Kontakten zwischen ihm und weiteren Protokybernetikern auf einem von der Josiah Macy Jr. Foundation ausgerichteten Kolloquium zum Thema Cerebral Inhibition in New York gekommen.195 McCulloch reagierte enthusiastisch auf die dort vorgetragene Grundidee von negativen Rückkopplungskreisen als Steuerungsmechanismus hinter zielgerichtetem Verhalten in Organismus und Maschine, die der Zusammenarbeit des Mathematikers Norbert Wiener, des mexikanischen Physiologen Arturo Rosenblueth und einem jungen Elektroingenieur, Julian Bigelow196, entstammte.197 Und nicht nur

195 Mehr zu dieser Tagung, vgl. T.H. Abraham 2004a, S. Heims 1993; mehr zur Vorgeschichte Kybernetik vgl. N. Wiener 1948b, S. Heims 1993, J.-P. Dupuy 2000. 196 Nach seinem Studium am MIT in den 1930er Jahren arbeitete Bigelow von 1941 bis 1943 als Research Associate mit Norbert Wiener am Anti-Aircraft Predictor zur Durchführung mathematischer und stochastischer Untersuchungen, die für die Vorhersage von Flugbahnen benötigt wurden. 1946 wurde Bigelow zum technischen Leiter der Electronic Computer Group am Institute for Advances Studies in Princeton ernannt, die unter John von Neumann digitale Rechenmaschinen konstruierten. 197 Norbert Wiener (1896-1964) arbeitete damals am Entwurf einer Kontrollapparatur zur Verbesserung der Flugabwehr (dem sogenannten „Anti Aircraft Predictor“), einer ambitionierten Unternehmung: Der zu entwickelnde Rechner sollte die Flugbahn des feindlichen Flugzeugs erkennen, seine künftige Position errechnen und die Abschussrakete zum richtigen Zeitpunkt starten. Die „Vorhersage“ beruhte auf der Berechnung der Wahrscheinlichkeit, mit der der Pilot das Flugzeug in eine bestimmte Richtung lenken würde. Die Arbeiten an Problemen der Abschusskontrolle führten Wiener zur Wahrnehmung des abzuschießenden Objektes als einer Einheit aus Mensch und Maschine, in der die Grenzen zwischen Piloten und dem von ihm gesteuerten Flugobjekt verwischten. Diese feindliche Aktionseinheit versuchten Wiener gemeinsam mit seinen Mitarbeitern und dem bereits genannten Arturo Rosenblueth durch eine einheitliche (neo-)behavioristische Analyse ihres Verhaltens beherrschbar zu machen: Die Zielkalkulation der Flugbahn der Abwehrrakete be-

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McCulloch zeigte sich interessiert, auch Wiener und Rosenblueth wollten den auf dem Kolloquium begonnenen Austausch über die Ingenieurtechnik-Gehirnphysiologie-Mathematik-Analogien fortsetzen. Man verabredete neue Treffen, die den Beginn einer Phase der Kooperation und des intensiven Gedankenaustauschs zwischen den Beteiligten markierten, der bis in die frühen 1950er Jahre anhielt. Es herrschte Aufbruchsstimmung und Enthusiasmus über die Nervensystem-Maschine-Analogien: „Überall stießen wir auf verständnisvolle Aufnahme, und das Vokabular der Ingenieure war bald neurophysiologisch und psychologisch ‚infiziert‘“198. Durch gegenseitige Besuche bestand ein beständiger Austausch zwischen McCulloch in Chicago, Wiener am MIT, Arturo Rosenblueth, der im Jahr 1943 nach Mexiko zurückgekehrt war und in MexikoCity am Instituto Nacional de Cardiologia die Aufgabe hatte, die Abteilung für Physiologie aufzubauen, und Pitts, der nach einem Jahr bei Wiener zwischen Chicago und Boston hin und her pendelte. Einbezogen in das Netzwerk war auch John von Neumann in Princeton, mit dem Wiener seit Ende den 1930er Jahren in freundschaftlichem Briefkontakt stand. Gemeinsam formierten sie eine, wie Heims es nennt, „impressive core group for making a place within American science for the new machine-organism analogies“.199 In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre hatte sich die protokybernetische Szene institutionell etablieren können.200 Die Ideen, die in vereinzelten Treffen zwischen 1943 und 1945 zwischen Wiener, McCulloch, Pitts, Rosenblueth, Bigelow, von Neumann und anderen ausgetauscht und lebhaft diskutiert wurden, hätten im weiteren Verlauf ohne festen organisationellen Rahmen sicher keine solche Verbreitung und Blüte erleben können. Besonders Norbert Wiener war es,

ruhte dabei auf negativen Rückkopplungsschleifen als Steuer- und Kontrollmechanismus, in die die extrapolierte Flugbahn des feindlichen Flugzeugs einbezogen wurde. Diese „zirkuläre Kausalität“ betrachteten die drei als Regulationsfunktion, die in Mensch und Maschine gleichermaßen wirksam dem teleologischen Erreichen eines gesetzten Ziels („purposive behavior – zweckgerichtetes Verhalten“) diene. Ihre Gedanken fassten sie 1943 in dem Papier „Behavior, Purpose, and Teleology“ zusammen, vgl. N. Wiener, J. Bigelow, A. Rosenblueth 1967, einem der konstitutiven Artikel der Kybernetik. Näheres zur Rolle des Anti Aircraft Predictors für die Entwicklung der Kybernetik, besonders des negativen Feedback, vgl. P. Galison 1997, und zu einer kritischen Analyse von Wieners Anspruch, den negativen Feedback in die militärische Abwehr eingeführt zu haben, vgl. D. Mindell 2002. 198 N. Wiener 1948b, S. 36. 199 S. Heims 1993, S. 44. 200 Näheres in S. Heims 1993.

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der diesen Prozess vorantrieb. Seine eigenen Forschungsarbeiten hatte bei ihm die Überzeugung gefestigt, dass die das Verhalten bestimmenden Funktionen in Rechenmaschinen und Nervensystem produktiv unter dem Dach einer neuen, vereinigenden Wissenschaftsperspektive betrachtet werden können. Er träumte von einer institutionellen Verankerung an einer Universität. Von einem gemeinsamen Treffen am 6./7. Januar 1945, an dem neben anderen von Neumann, McCulloch, Pitts, Wiener, Hermann Goldstine und auch Lorente de Nó teilnahmen, berichtete Wiener enthusiastisch an den nach Mexiko zurückgekehrten Arturo Rosenblueth: „We held a meeting two weeks ago and it was a great success. [...] The first day von Neumann spoke on computing machines and I spoke on communication engineering. The second day Lorente de Nó and McCulloch joined forces for a very convincing presentation of the present status of the problem of the organization of the brain. In the end we were all convinced that the subject embracing both the engineering and neurology aspect is essentially one, and we should go ahead with plans to embody these ideas in a permanent program of research“.201

Die Pläne mündeten zwar nicht, wie von Wiener erhofft, in einem gemeinsamen Wissenschaftszentrum für das bis dato noch nicht genauer betitelte Forschungsanliegen, aber die Josiah-Macy Jr. Foundation konnte nach Ende des II. Weltkrieges durch McCullochs Beharrlichkeit gewonnen werden, von 1946 bis 1953 zehn interdisziplinäre Konferenzen auszurichten. Diese Macy-Konferenzen trugen den Titel Conference on Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biology and Social Systems, welcher später durch Cybernetics ersetzt wurde.202 Frank Fremont-Smith als der Medizinische Direktor der Stiftung war der Hauptorganisator dieser Treffen; McCulloch hatte die Sitzungsleitung inne. Die Konferenzen gestalteten sich als Ersatz für das universitätsnahe Zentrum, in dem sie interdisziplinärer Treffpunkt und Ideenbörse der neuen Metaphorik waren. Ob-

201 N. Wiener an Rosenblueth, 24. Januar 1945, MIT, Norbert Wiener Collection, MC22, Kasten 4, Mappe 67, zitiert z.B. auch in S. Heims 1993, S. 50. 202 Die genaue Namensgebung war wie folgt: Die erste Konferenz hieß Feedback Mechanisms and Circular Causal Systems in Biology and Social Systems, die zweite und dritte trugen den Titel Teleological Mechanism and Circular Causal Systems; erst die vierte und fünfte fanden unter dem Namen Conference on Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biology and Social Systems statt; für die fünf weiteren Konferenzen wurde dieser Titel zum Untertitel, während als Obertitel Cybernetics verwendet wurde, vgl. H. von Foerster 1953.

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gleich der Enthusiasmus der Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Verlauf der folgenden neun Jahre gegenüber den ersten Treffen abnahm, führten diese sogenannten Macy- oder Kybernetik-Konferenzen zur Ausarbeitung, Verfestigung und Verbreitung der kybernetischen Ideen. 3.5.1 „Wissende“ Speicherkreise McCulloch stand als Ziel seiner experimentellen Epistemologie eine Theorie vor Augen, in der alles Wissen und Erkenntnis durch eine Physiologie und Verknüpfung der Nerven verkörpert sei. „Of [...] ideas we would know how nervous activity can propose anything concerning the world and how the structures of the system embodies this or that idea.“203

1943 hatte er mit Pitts zusammen logische Nervennetzmodelle entworfen, in denen sie Bewusstsein und Denken als Nebenprodukt der Impulsverarbeitung verstanden. Das gesamte Netzmodell stellt ein sehr allgemein gehaltenes Modell der Verkörperung von Wissen dar, ein „physiological substrat of knowledge“204 – mit einer Ausnahme allerdings, den dort implementierten Lernmechanismen. Hatte McCulloch regenerative Zirkulation 1943 noch gemäß dem psychophysiologischen Verständnis von Rashevsky als Motor einer konstanten Absenkung des Schwellenwerts der Erregung (Bahnung) betrachtet – ohne jeglichen Bezug zu irgendeiner Maschine, – interpretierte er ab 1946 diese Funktionsweise in Anlehnung an die Mercury-Delay-Line. McCulloch lernte von Neumanns Gedächtnisspeichermodell wohl im Verlauf der ersten der zehn Macy-Konferenzen kennen, die vom 8. auf den 9. März 1946 in New York stattfand. Von Neumann stellte an diesen Tagen drei Arten der Speicherung in digitalen Rechenmaschinen vor: Entweder könnten Muster digitaler Impulse in „Reverberberationsprozessen“ gespeichert werden, andererseits könne in Flip-Flop-Schaltungen je nach Art der verwendeten digitalen Bauelemente die Spannung in Kondensatoren aufrechterhalten werden, drittens könne man elektromechanische Relais in einer bestimmten Position einfrieren.205 Von Neumann selbst äußerte zu diesem Zeitpunkt bereits Zweifel, ob diese Ar-

203 W.S. McCulloch 1952, S. 258. 204 W.S. McCulloch in M.A. Boden 2008, S. 184. 205 D.G. Marquis 1947, Summary of Discussion following Paper by Dr. von Neumann, LOC, Margret Mead Papers, F42, special working groups, Macy Foundation, Cybernetics, Conference on Feedback 1947 October.

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ten der technischen Implementierung von Speicherfunktionen für die Erklärung organismischer Erinnerungsprozesse tauglich seien. McCulloch aber war angetan von von Neumanns Interpretation regenerativer Zirkulation als Gedächtnisspeicher, dass er ihn innerhalb weniger Monate zu einem zentralen Konzept innerhalb seiner experimentellen Epistemologie erhob. McCullochs Kybernetisierungsprozess verlief in zwei Etappen. Erste Veränderungen in seinem Verständnis regenerativer Zirkulation zeichneten sich bereits wenige Wochen nach dem erster Macy-Konferenz in dem Vortrag Finality and Form in Nervous Activity ab, den er im Rahmen der 15. James Arthur Lecture On the Evolution of the Human Brain am 2. Mai 1946 im American Museum of Natural History in New York City hielt.206 Der auf dem Vortrag basierende Artikel wurde erst sechs Jahr später veröffentlicht.207 Erstmals äußerte McCulloch darin die Idee regenerativer Zirkulation „als einer Art Gedächtnis“. Das heißt, er verlagerte die Deutung zirkulativer Prozesse weg von einem an die Neurophysiologie angelehnten Lernmechanismus, in dem die Modifikation des

206 Im Publikum saßen unter anderem auch Walter Pitts, Rafael Lorente de Nó und Norbert Wiener, sowie Robert S. Morrison von der Rockefeller Foundation, ein Freund McCullochs. Morrisons Notizen geben die Eindrücke eines einigermaßen Außenstehenden von dem Inhalt des Vortrags sowie der anschließenden Diskussion wider: „This was apparently as clear as possible an account of the possibility of making a mathematical formulation of the function of the nervous system based upon the assumption that the nerve impulse can be equated to a proposition in symbolic logic. McC. had obviously given much time to the lecture and although I could not follow it at all points it seemed like a worth while attempt. One basic assumption which will bear considerable further investigation is that the organization of neurons in the central nervous system can be assumed in the first incidence as being entirely random. A question on this point by Rafael Lorente de Nó in the discussion was more or less stepped aside by McC. The whole idea is also vulnerable from the standpoint that all models are merely analogies which may or may not tell us something about the structure of the biological system in which we are interested. The discussion was amusing since almost all the questions from the floor were answered not by McC but by Norbert Wiener, who succeeded in doing what he always does so far as I am concerned – stringing together a list of sentences, each of which seems beautifully clear in itself but leaves me without a grasp of the paragraph as a whole.“ (RSM Interview, Notiz Robert S. Morrison, 2. Mai 1946, Mappe 1374, Kasten 112, Serie 200A, University of Illinois, Psychiatry, Record Group 1.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC). 207 Vgl. W.S. McCulloch 1952.

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Schwellenwertes der Erregung als Ergebnis der Zirkulation im Vordergrund steht, hin zu einem eher computeriell orientierten Verständnis, in dem die Zirkulation selbst zum Gedächtnismechanismus wird. 208 „… [T]he blocks have helped me [vgl. Abbildung 3-15 bzw. 3-16 KSB]. When they are in single file in a circle and one is overset, the falling goes round the circle until the last to fall lands on the first. Were they set up as soon as they fell, the falling would go round for ever. This is memory of a kind [Hervorhebung KSB]. We have seen it in after-images and felt it in the dizziness that follows spinning. It may last much longer, certainly as long as the specious present in which we have the whole of a tune or an argument all together for the nonce. It cannot outlast activity“.209

In diesem Artikel zog McCulloch auch bereits in einer überraschend ausschließlichen Weise regenerative Zirkulation als Repräsentantin von allgemeinem Wissen und Ideen im Nervensystem in Betracht: „To use an idea is a finite act, which begins and ends in time [...]. In a finite net we seek a kind of finite action that can be repeated as often as desired, and can construct and recognize notions proper to the net. I know of nothing but circular paths that embody the possibility of such actions“.210

208 Rückwirkend betrachtete McCulloch bereits die erregende Zirkulation in seinem gemeinsamen Artikel mit Pitts 1943 als einen kybernetischen Gedächtnisspeicher: „By all odds, the most difficult epistemological problem is how we know universals, and this Pitts and I have already shown in its simplest case in the ‚Logical Calculus of Ideas‘, which you will find in the Journal of Mathematical Biophysics for 1943. There we indicated that a train of impulses in a regenerative loop or any of the surrogates for this action, called memory or record, by preserving the form of the fact without reference to the one particular moment when it was experienced“. (W.S. McCulloch an Teuber, 10. Dezember 1947, APS, McCulloch Papers, BM 139 Nr. 2, Mappe Macy Meeting IV, Oktober 1947). M.E. geschieht hier jedoch eine nachträgliche Verschiebung in der Deutung regenerativer Zirkulation. 1943 verstanden McCulloch und Pitts sie nämlich noch vorrangig als einen psychophysiologischen Bahnungsmechanismus, nicht als einen Speichermechanismus aufgrund von Zirkulation. 209 W.S. McCulloch 1952, S. 262. 210 Ebd., S. 273.

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Seine Gedanken zur Funktionsweise neuronaler Modelle unterstrich McCulloch visuell durch Dominosteine. Er nutzte sie zur Darstellung der funktionalen Grundelemente seiner Nervennetzmodelle, seine „(physio-)logischen“ Nerven. Die umfallenden Spielsteine ahmten dabei das „alles-oder-nichts“Verhalten der Nervenzellen nach (vgl. Abbildung 3-15 bzw. 16). Abbildung 3-15 McCullochs Illustration des „alles-oder-nichts“-Impulses anhand von Dominosteinen

W.S. McCulloch 1952, S. 258. „When a block is struck it falls all the way or it does not fall at all. That is its all-or-none impulse“211

Im Gegensatz zu den eben vorgestellten Überlegungen McCullochs zur Zirkulation als Gedächtnismechanismus zeigen seine in Finality and Form geäußerten Gedanken zur Funktionsweise neuronaler Lern- und Gedächtnismodelle jedoch, dass er sich zu diesem Zeitpunkt noch in mitten einer gedanklichen Entwicklung befand. Hier folgte er nämlich – ähnlich seinem Artikel mit Pitts aus dem Jahr 1943 – durchaus weiterhin den traditionellen neurophysiologischen Vorstellun-

211 Ebd., S. 258.

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gen der Modifikation interneuronaler Verbindungen, wie sie beispielsweise durch Zirkulation hervorgerufen werden können. Abbildung 3-16 McCullochs Illustration von Zirkulation im Nervensystem anhand von Dominosteinen

W.S. McCulloch 1952, S. 262.

Lernen sind diesem Verständnis nach die Prozesse, die die Netzeigenschaften bei der Transmission der Impulse modifizieren und damit für Veränderungen im Hinblick auf zukünftige Netzdurchläufe sorgen. Gedächtnis entsteht nach diesem Verständnis als ein Produkt der Aktivierung eines Prozessverlaufs in neuronalen Verknüpfungen. Die dabei auftretenden Modifikationen können beispielsweise durch das Wachstum einer zusätzlichen synaptischen Verbindung realisiert werden. Solche, sich in ihrem Aufbau verändernden Netze seien jedoch schwerlich mathematisch modellierbar, so McCulloch. Die Modifikationen könnten aber auch aufgrund einer variablen Durchlässigkeit neuronaler Verbindungen entstehen (vgl. Kapitel 1). An dieser Stelle wiederholt McCulloch sein Postulat von 1943, nämlich dass die regenerative Zirkulation als Auslöser „synaptischer Bahnung“ einen funktional äquivalenten Modifikationsmechanismus darstelle. Das heißt, McCulloch griff hier erneut auf Lorente de Nós Konzept der Absenkung des Schwellenwertes der Erregung einer Zelle qua konstantem Bombardement durch Impulse zurück, die in einer geschlossenen Neuronenkette zirkulieren. Jedoch deutete er ähnlich wie sein psychophysiologisches Vorbild Rashevsky die Zirkulation in geschlossenen Nervenketten als kontrolliert ablaufende, regenerative Prozesse, die solange andauerten, wie das Erlernte im Gedächtnis behalten werde. Ab Mitte Oktober 1946, kurz nach der zweiten Macy-Konferenz, lässt sich bei McCulloch erkennen, dass er das physiologische Vorbild der synaptischen

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Bahnung in Nervennetzen als Lern- bzw. Gedächtnismechanismus vollständig fallen gelassen hat zugunsten eines an den Ringspeicher angelehnten Mechanismus regenerativer Zirkulation.212 In einem Brief an den Gestaltpsychologen Kurt Lewin (1890-1947), einem weiteren Macy-Konferenzteilnehmer, schrieb er: „[T]he introduction of reverberating circuits into relay nets gives them a kind of active memory for which the absolute time is no longer significant […]. To such circular activity would correspond recognition of the enduring objects of the world, etc., as opposed to mere prehension of events. Among these enduring objects are those artifacts, words etc., which operate as signs in society, and which for the maker, serve as equivalents for circular paths wherein activity can reverberate sine diem“.213

Ein Erkennen sogenannter „Universalien“ – von gesellschaftlich bedeutsamen Zeichen und Ideen, deren Kenntnis dem Menschen angeboren sei, – aber auch das ganz individuelle Erinnern und Erkennen wird von jetzt an für McCulloch allein durch regenerativ zirkulierende Impulse verkörpert. Eine Idee bliebe so auf unbestimmte Zeit im Netz erhalten, während der Zeitpunkt ihres Eintritts in selbiges nicht mehr zu rekonstruieren sei. McCulloch entwarf damit zugleich eine mögliche Erklärung für die Repräsentation dauerhafter Objekte der Welt. Dieser Mechanismus erklärte ihm das Erkennen sogenannter „Universalien“ d.h. allgemeiner Konzepte in der Welt, deren Existenz McCulloch als absolut betrachtete. Die Universalien bilden für McCulloch die Grundkategorien des Erkennens: Die Menschen besitzen seiner Ansicht nach generelle Begriffskategorien von Bedeutungen jeglicher Art, wie beispielsweise Dreieck, Viereck, Tisch, verschiedene Klängen usw.214 Der Prozess des Erkennens ist für ihn gleichbedeutend mit einem Zuordnen der afferenten Nervenimpulse zu diesen universellen Begriffskategorien. Andererseits würden nicht nur Universalien erkannt. Denn die durch die Sinnesorgane einströmenden, afferenten Impulse könnten auch individuell erworbenen Kategorien, wie Werten, Gedanken, Erinnerungen, zugeordnet werden. Nicht nur die Erkenntnis überindividueller Begriffe, Ideen und Wahrheiten, auch ein individuelles Gedächtnis und Erkennen sei auf Basis von regenerativer Zirkulation erklärbar. Noch in den 1960er Jahren formulierte

212 Vgl. auch McCulloch Zusammenfassung der Macy-Konferenzen, speziell die zweite Konferenz, abgedruckt in C. Pias 2004. 213 W.S. McCulloch an Lewin 15. November 1946, APS, McCulloch Papers, BM 139 Nr 2, Mappe Macy Meeting III. 214 Vgl. W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947.

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McCulloch denselben Gedanken, allerdings erweitert um die erneut durch den Computer inspirierte Idee, dass die zirkulierenden Signalfolgen Muster bilden. „In a nervous system composed of such neurons, a closed regenerative path can sustain a sequence of impulses patterned after its input, provided only that the sequence in the input is of shorter duration than the time around the loops. A network composed of such elements can sort out and respond to any one figure in the sequence of impulses. The signal chasing itself around the loop represent an idea, presented once, but repeated at all subsequent times until the action is quenched. The process is a dynamic memory, making an invariant under translation in time“.215

Während in den Zitaten zuvor das computerielle Vorbild nur indirekt zum Vorschein kam – durch die neue Interpretation regenerativer Zirkulation als Speicherprozess von Impulsfolgen, die individuelle Erinnerungen und gesellschaftliche Universalien repräsentieren – nennt McCulloch in den folgenden Absätzen explizit seine Vorbilder: „Modern computing machines have several kinds of memory. Theoretically, the simplest is one composed of relays like the rest of the circuit, but arranged in a closed path of sufficient length so that the beginning and the end of a train of signals running around the loop do not overlap. In such a path a train of impulses patterned after some input may continue to circuit as long as we please; as long as it lasts, it continues to reiterate in the form of its input the thing sensed. Kubie first proposed, and Lorente de Nó first demonstrated, the existence of such paths within the central nervous system“.216 „To compute as we do a machine must have some kind of memory. [...] Lorente de Nó was the first to prove that brains have reverberating chains of nerve cells. These are just regenerative circuits in which a set of signals patterned after some input can go round and round“.217

McCulloch spielt hier zwar auf Lorente de Nós geschlossene Neuronenketten an, er deutet Zirkulation jedoch ganz im Sinne maschineller Speicherprozesse. Die Funktionsweise des Speichers wird zum interpretativen Vorbild auch für das Nervensystem. Sämtliche Gedächtnis- und Erkenntnisprozesse in Computer und im Nervensystem basieren für McCulloch von nun an – in Analogie zur Mercu-

215 W.S. McCulloch 1964, S. 369/370. 216 W.S. McCulloch/ J. Pfeiffer 1949, S. 371. 217 W.S. McCulloch 1949, S. 494.

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ry-Delay-Line – auf regenerativen Zirkulationsprozessen. Die darin zirkulierende Erregungsmuster repräsentieren auf nicht näher erläuterte Art und Weise die gespeicherte Idee, den gespeicherten Gedanken, der solange vergegenwärtigt werden kann, wie er aufbewahrt werde, d.h. solange, wie die Kreisbewegung anhalte. McCullochs kybernetisches Modell des „Wissens“, das ist seine Version von von Neumanns Gedächtnisspeichermodell. Im Vergleich zu von Neumann belässt McCulloch jedoch die Steuermechanismen dieser neuronalen Verkörperungen des Wissens beispielsweise im Unklaren. Ihn beschäftigte im Gegensatz zu dem Mathematiker nicht die detaillierte Ausarbeitung eines bis ins letzte durchdachten Gesamtkonzepts. McCulloch wollte keine Maschinen konstruieren. Er befasste sich mit der „großen“ Frage nach den neuronalen Grundlagen von Denken, Lernen und Gedächtnis. Ganz in diesem Sinne nahmen er und Pitts 1947 einen erneuten Anlauf auf der Suche nach den neuronalen Mechanismen des Geistes. Ihre Modelle sollten dieses Mal eine Antwort geben, wie das Nervensystem überhaupt Sinneseindrücke wahrnehmen und erkennen könne. Der regenerativen Zirkulation kommt darin eine zentrale Bedeutung als Repräsentantin von Universalien zu; allerdings findet dies nur beiläufig Erwähnung. 3.5.2 Erkenntnisinstrument kybernetische Nervennetzmodelle In dem 1947er Artikel How we know Universals: The Perception of auditorial and visual Forms suchte McCulloch gemeinsam mit Pitts die physiologischen Grundprinzipien der sinnlichen Wahrnehmung und des Erkennens von Universalien, mit Schwerpunkt Hören und Sehen, mittels seiner experimentellen Epistemologie näher zu bestimmen. Unter Berücksichtigung des vorhandenen Wissens um Histologie und Physiologie postulierten sie kybernetische Nervennetzmodelle der Wahrnehmung von Universalien im Cortex.218 Motiviert war ihr Projekt durch die Präsentation von gestaltpsychologischen Theorien des Chicagoer Experimentalpsychologen Heinrich Klüver auf der 2. Macy-Konferenz zum klassi-

218 T.H. Abraham 2003a stellt in ihrem Artikel gelungen die Hintergründe der Entstehung von W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947 dar. Sie hebt die bildliche Darstellung ins Zentrum und arbeitet daran den Entwicklungssprung von McCulloch und Pitts generell gehaltenen Hypothesen zu den nervlichen Grundlagen des Denkens aus dem Jahr 1943 zu ihren spezifischeren Nervennetzmodellen von 1947 heraus. Boden 2008, 1.2.i.c fokusiert in ihrem Überblick zu W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947 neben einer guten allgemeinen Darstellung auf deren Rolle als Vorläufer von modernen Ansätzen.

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schen Problem der Formenerkennung in der Gestalttheorie, „Gestalten“, der sie ihre eigene Sicht der Perzeption von Formen entgegensetzen wollten.219 Im 1947er Artikel verwendeten Pitts und McCulloch eine deutlich andere Mathematik als bei der Formulierung ihrer logischen Nervennetzmodelle im Jahr 1943, wie Boden hervorhebt.220 Sie seien von der Logik zur Statistik gewechselt, „from single units to collectives, and from purity to noise.“ Damit ähnele ihr Ansatz den heutzutage mit den Stichworten „distributed, cooperative, computing“ charakterisierten Modellen des Gehirns. Die Funktionsweise des Nervennetzwerks wurde darin nicht mehr verstanden als Analyse der Verbindungen der einzelnen Elemente. Stattdessen war das Modell fehlertolerant gegenüber kleineren Störungen in der Erregung oder dem Schwellenwert der Erregung einzelner Elemente, wie es auch von realen Nerven angenommen wurde.221 Trotz dieser Veränderungen sahen Pitts und McCulloch ihren Ansatz von 1947 als bloße Erweiterung des 1943er Papiers an, da sie darin weiterhin ihrem Programm einer experimentellen Epistemologie folgten. In How we know Universals fragten sie nach den Mechanismen im Nervensystem, welche bewirken, dass akustische und optische Universalien unabhängig von Tonhöhe, Klang, Größe, Perspektive, Verzerrung, Farbe, Materialität etc. erkannt werden. Als Strategie zum Erkennen dieser Universalien nutzen McCulloch und Pitts Invarianten. Durch eine Gruppe von Transformationen würde das Wahrgenommene als Invariante identifiziert, wobei die Invarianten im Nervensystem ihrerseits durch regenerative Zirkel repräsentiert werden. Ganz klar drücken sich McCulloch und Pitts hier nicht aus, sprechen jedoch von ihren Nervennetzmodellen aus dem Jahr 1947 als eine konkretisierende Ausarbeitung der Theorie neuronaler Reverberation (auch diese Begriffswahl signalisiert ihren Wunsch nach einer biologischen Anpassung des Modells!) als Repräsentation von Universalien. „The procedures are a systematic development of the conception of reverberating neuronal chains, which themselves, in preserving the sequence of events while forgetting their time of happening, are abstracted universals of a kind“.222

219 Vgl. W.S. McCulloch an Teuber, 10. Dezember 1947, APS, McCulloch Papers, BM 139, Nr.2, Macy Meeting Mappe IV, Oktober 1947. 220 M.A. Boden 2008, S. 889. 221 Auch für von Neumann war die Modellierung fehlertoleranter Modelle ein Anliegen, besonders, da die Vakuumröhren, die Grundschaltelemente der damaligen elektronischen Computer sehr störanfällig waren, vgl. z.B. J. von Neumann 1951. 222 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947, S.146.

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Zum Erkennen der Universalien definierten sie zwei unterschiedliche mathematische Mechanismen. Der erste überführt akustische oder optische Wahrnehmungserscheinung in Äquivalente der invarianten Gestalt. Die Invariante wird dabei als Mittelwert berechnet. Im zweiten Modell wird eine Gruppe von optischen Eingaben auf die Invariante reduziert. Als Beispiel führen McCulloch und Pitts an, dass der Reflexbogen zwischen den Augenmuskelkernen und der Augenmuskulatur durch negativen Feedback so gesteuert und fokusiert werden könne, dass ein Erkennen möglich sei. Die Sehachse werde durch die Helligkeitsverteilung so ausgerichtet, dass die Augen bei einer erkannten Invariante auf diese zentriert würden. Pitts und McCulloch Vorgehen in ihrem 1947er Papier ähnelt dem aus dem Jahr 1943. Sie definierten zuerst ein abstraktes mathematisches System, dass sie diesmal aber im Gegensatz zu 1943 mit einer Vielfalt an empirischen Daten anreicherten. Denn sie wollten jetzt Nervennetze entwerfen, „which fit the histolgy and physiology of the actual structure“.223 So suchten sie ihre Modelle in spezifischen corticalen Regionen zu verorten, indem sie ihnen Abbildungen spezifscher Hirnregionen von Golgi-Präparaten Cajals zuordneten. Die Dynamik ihres Modells glichen sie mit vorhandenen Messdaten zum nervlichen Erregungsfluss und dessen Spezifität, wie etwa der Pulsrhythmik, ab. Verglichen mit ihrem Ansatz von 1943, bei dem allein der Aspekt der logischen Berechenbarkeit im Zentrum stand, war dieses Bestreben neu. Wie Abraham in ihrer Darstellung zusammenfasst: „it represented an attempt to increase the models ‚fit‘ to anatomical and physiological data“.224 Ob sich allerdings die Wahrnehmung von Formen und Universalien grundsätzlich auf diese, jene oder eine ganz andere Art und Weise im Nervensystem vollziehe, konnte von McCulloch und Pitts auch durch die Anreicherung ihres Modells mit empirischen Daten nicht beantwortet werden. Vielmehr betrachteten sie ihre Modelle als einen Ausgangspunkt für histologische Untersuchungen und Experimente. „We have focussed our attention on particular hypothetical mechanisms in order to reach explicit notions about them which guide both histological studies and experiment“.225

Falls sich ihre Annahmen hypothetischer Mechanismen zum Wahrnehmungsprozess in Experimenten als falsch erweisen sollten, dann besäße ihr Modell im-

223 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947, S. 128. 224 T.H. Abraham 2003a, S. 425. 225 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947, S. 146.

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merhin noch eine Bedeutung als universelles Modell des Erkennens von Universalien, so McCulloch und Pitts: „.If mistaken, they still present the possible kinds of hypothetical mechanisms and the general character of circuits which recognize universals, and give practical methods for their design“.226

Denn ihre Modelle seien einerseits mit empirischen Daten angereichert, andererseits soweit mathematisch ausformuliert, dass einer maschinellen Umsetzung nach ihrem Bekunden wenig im Wege stünde. D.h. McCulloch und Pitts wiesen hier ihren Modellen explizit einen eigenständigen Wert zu, unabhängig davon, ob sie adäquate Modelle der Vorgänge im Nervensystem darstellen oder nicht. Die Überprüfung einer möglichen Übereinstimmung der Hypothesen von 1947 mit Vorgängen im Nervensystem anhand experimenteller Physiologie und Anatomie übernahm nicht McCulloch, sondern ein anderer Wissenschaftler. Dass die Ergebnisse den Thesen von McCulloch und Pitts 1947 widersprachen, bestätigte McCulloch nur in seinem Vorgehen.227 „We invent mechanisms, make hypotheses, and disprove them. Thus we are right to regard our work as scientific epistemology“. Mit diesem Satz soll er laut Überlieferung seinen Bericht über den aktuellen Stand des 1947er Papiers auf der 10. Macy-Konferenz beendet haben.228 In dieser Vorgehensweise zeigt sich ein neuer Zugang zur Erforschung des Nervensystems: Mithilfe von kybernetischen Nervennetzmodellen als Instrumente der Erkenntnis werden neue Theorien zur Funktionsweise des Nervensystems generiert, welche dann anhand der experimentellen Physiologie und Anatomie überprüft werden. Im 1947er Ansatz spiegelt sich deutlich McCullochs Überzeugung, dass die universelle berechenbare Existenz des Geistes letztendlich vor aller erfahrungswissenschaftlicher Analyse und Synthese des Nervensystems als deren Gegenstand stehe. Auch bei seiner zeitgleichen Beschreibung der regenerativer Zirkulation bezieht McCulloch in dieser Zeit zu diesem Thema deutlich Position. Im Grunde genommen seien seine durch die experimentelle Epistemologie gewonnenen Modelle nämlich zu generell, so McCulloch, als dass sie direkte Aussagen über

226 W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947, S. 146. 227 Bei Test in McCullochs Labor durch Donald McKay erwiesen sich die Hypthesen von W.S. McCulloch/ W. Pitts 1947 als neurophysiologisch falsch, vgl. M.A. Arbib 200, S. 208. 228 Vgl. M.A. Arbib 2000, S. 208 oder S. Heims 1993, S. 241.

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die realen Abläufe im Menschen treffen könne.229 Regenerative Zirkulation versteht er zuvorderst als Abbild eines universell gültigen, von der Materie unabhängigen Mechanismus der Wissensspeicherung. Ob sie die realen neuronalen Mechanismen abbilden, betrachtet er dabei als nachrangig. Diese Haltung kommt bereits in seinem 1943er Papier mit Pitts indirekt zum Ausdruck (vgl. Abschnitt 3.3.4). Damals hätten sie nachgewiesen, dass ein veränderbares Nervennetz einem unveränderlichen Nervennetz mit Zirkeln funktional äquivalent sei. „Anything which can be done by any kind of memory can be done by a reverberating one“.230 Erinnertes und Universalien müssen also für McCulloch nicht unbedingt in Form zirkulierender corticaler Prozesse niedergelegt sein, können es aber. Denn bei der regenerativen Zirkulation, oder deren biologiesierender Variante der Reverberation, handele es sich zuvorderst um ein grundlegendes universales Funktionsprinzip von Lernen und von Gedächtnis- bzw. Speicherprozessen. „To compute as we do a machine must have some kind of memory. [...] But every other form of memory is only a surrogate for reverberating chains [sic! KSB]. You may use an acoustic tank, a latticed grill within an iconoscope, a wire tape, or punched cards – but the computer must be able to put in and take out information, and so complete the loop round with information goes. It would be done with flip-flops or with thyratrons, only it would cost too much in space and time. Nerve cells are cheap, small, plentiful, take little energy, and are not too fast. Our brains have many of those closed chains, enough so that they can run for eight hours on end without much loss of information from this first kind of memory“.231

Und wenn sich dann eben doch herausstellen sollte, dass die Repräsentation von Ideen und Gedächtnisinhalten im Nervensystem nicht auf regenerativer Zirkulation, sondern beispielsweise auf synaptischer Modifikation infolge von Wachstumsprozessen beruhe, so sei doch das Funktionsprinzip der regenerativen Zirkulation aufgrund eben dieser Universalität ein legitimes Modell dieser geistigen Prozesse. „In short, the central problem of experimental epistemology seems in principle to be soluble along lines sufficiently well verified to reduce every particular question of physi-

229 Vgl. W.S. McCulloch an Teuber, 10. Dezember 1947, APS, McCulloch Papers, BM 139 Nr.2, Macy Meeting Mappe IV, Oktober 1947. 230 W.S. McCulloch 1951, S. 101. 231 W.S. McCulloch 1949, S. 494, vgl. auch W.S. McCulloch/ J. Pfeiffer 1949.

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ology of knowledge, however intricate experimentally, to a strict parochial problem [eben durch deren Repräsentation in regenerativen Zirkeln, KSB]“.232

3.6 D ER G EIST

DER

AUTOMATENTHEORIE

Ähnlich McCulloch hoffte auch von Neumann anhand der Hybridisierung von Nervensystem und Rechenmaschine zu einer Erkenntnis der funktionellen Grundlagen des Geistes vorstoßen zu können. In der kybernetischen Annahme, die funktionellen Grundprinzipien des Geistes seien universell, mathematisch beschreibbar und somit maschinell realisierbar, gründet auch seine Automatentheorie. Von Neumann wollte darin die bereits im First Draft beschriebenen Gemeinsamkeiten „künstlicher“ und „natürlicher“ Automaten, wie er sie nannte, näher erforschen. Der Begriff Automat steht in diesem Kontext für eine kybernetische, die Funktionsweise von Computer und Mensch umfassende Maschine, die sowohl materiell als auch immateriell gedacht werden kann.233 An dieser Stelle möchte ich Hagen widersprechen. Dieser vertritt die Ansicht, es handele sich bei von Neumanns Neuronenmetaphorik, die seine gesamte Automatentheorie durchzieht, um eine bloße kybernetische Camouflage militärisch relevanter Projekte. Indem er die neuesten Computerentwicklungen hinter der gerade aufkommenden Mensch-Maschine-Phantasterei versteckt habe, habe er die große militärische Bedeutung der Digitalrechnerentwicklung tarnen wollen.234 Meines Erachtens ging von Neumanns Interesse weit über die militärischen Einsatzmöglichkeiten der Rechenmaschinen hinaus. Er setzte sich mit den Mensch-Maschine-Hybridisierungen Stück um Stück auseinander, um aus ihnen zu lernen. Die Automatentheorie war sein Versuch, aus der im First Draft begonnenen unifizierenden Beschreibung „künstlicher“ und „natürlicher“ Automaten die natürlichen Grundlagen des Geistes (und basaler Lebensprozesse) besser zu verstehen, um bessere Computer konzipieren zu können. Am Beispiel eines Lernautomaten, von Neumann nennt ihn auch „Lernapparat“, zeige ich in diesem Abschnitt, wie er um eine Modellierung der funktionellen Grundlage des Lernens rang, die für Mensch und Maschine gleichermaßen gilt – mit regenerativer Zirkulation als zentralem Element.

232 W.S. McCulloch 1964, S. 371. 233 Vgl. H. Stach 1999, S. 111. 234 W. Hagen 2004,

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Während McCulloch die von von Neumann 1945 in dessen Gedächtnisspeichermodell nahegelegte Analogie zwischen Nervensystem und Rechenmaschine enthusiastisch in seinem Wissensmodell aufnahm und für sich zu einer zentralen Repräsentation des Geistes machte, äußerte sich von Neumann weitaus zurückhaltender. Vor allem hob er klarer die Grenzen der kybernetischen Nervennetzmodelle in Bezug auf ihre Übereinstimmung mit den nervlichen Vorbildern hervor. Auch hybridisierte er deutlich anders als McCulloch. Während McCulloch in seinen kybernetischen Nervennetzmodellen die Nähe zum Nervensystem sucht, erinnern die kybernetischen Nervennetzmodelle der Automatentheorie eher an technische Apparaturen: Von Neumanns „Lernapparat“ beispielsweise besteht aus lauter funktionalen Einzelmodulen, die analog einer (Rechen-)maschine zusammengesetzt sind. Eine solche Modularisierung seiner Modelle hatte sich bereits im First Draft abgezeichnet. Die im Lernautomaten verwendeten Module sind andererseits jedoch funktional so zusammengesetzt, dass sie einen Lernprozess nach neuropsychologischem Vorbild nachahmen. Letztendlich handelt es sich jedoch auch bei von Neumanns Lernautomaten ähnlich den Modellen McCullochs, um typisch kybernetische Nervennetzmodelle, in denen die Grenzen zwischen Nervensystem und Technik aufgehoben zu sein scheinen. Für von Neumann simuliert es Lernverhalten, es ist maschinell realisierbar und lieferte in seinen Augen zugleich Hinweise, wie eine mögliche funktionelle Organisation des Nervensystems (nicht) aussehen könnte.235 Die Automatentheorie gilt als von Neumanns persönlichstes Werk.236 Die Entstehung datiert in das letzte Lebensjahrzehnt; durch den vergleichsweise frühen Tod von Neumanns blieb das Projekt weitestgehend unvollendet.237 Die meisten Autoren betonen den mathematischen Charakter der Automatentheorie bzw. ihren computertheoretischen Bezug, gleichwohl sie durchaus die Intention von Neumanns benennen, „künstliche“ und „natürliche“ Automaten mit einer unifizierenden Theorie beschreiben zu wollen.238 Ausnahmen bilden hier Stach und Abraham,239 die die biologischen Bezüge zur Automatentheorie untersucht

235 Von Neumann verweist 1951 darauf, dass „one of the relevant things we can do at this moment with respect to the theory of the central nervous system is to point out the direction in which the real problem does not lie” (J. von Neumann 1951, S. 24). 236 Die Automatentheorie ist z.B. in W. Aspray 1980 ausführlich beschrieben. 237 Vgl. A.W. Burks in J. von Neumann 1966, W. Aspray 1990a, S. 317, Fn. 67, H. Stach 1999, S. 97. Eine abschließende Beurteilung ist dadurch nicht möglich. 238 Z. B. A.W. Burks in J. von Neumann 1966, W. Aspray 1980, 1990a. 239 H. Stach 1999, T.H. Abraham 2000.

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haben, besonders die spannende Frage nach selbstreproduzierenden Automaten.240 3.6.1 Die Automatentheorie als kybernetisches Projekt Die Hybridisierung nervlicher und maschineller Funktionen steht am Beginn der Automatentheorie von Neumanns: Lévy bezeichnet den First Draft als ihren Geburtsmoment. „Von nun an fallen „die Computer [...] unter die Theorie der Automaten, die nicht nur logisch-mathematische Objekte und elektronische Maschinen behandelt, sondern auch das Nervensystem der Lebewesen“.241

Mit seiner „(neurophysio-)logischen“242 Beschreibung der Funktionsweise der Rechenmaschine im First Draft legte von Neumann 1945 den Grundstein für seine generelle Theorie der digitalen Computer und zugleich einer algebraischen Theorie finiter Automaten, in der er Computer und Nervensystem als künstliche und natürliche Automaten unter dem Dach einer mathematischen Theorie zu einigen suchte. Er verfolgte damit ein doppeltes Anliegen, „von der Natur für den Bereich der technischen Konstruktion und umgekehrt von dem Bereich der technischen Konstruktion für die Interpretation der Natur lernen zu wollen“.243 „Natural organisms are, as a rule, much more complicated and subtle, and therefore much less well understood in detail, than are artificial automata. Nevertheless, some regularities which we observe in the organization of the former may be quite instructive in our thinking and planning of the latter; and conversely, a good deal of our experiences and difficulties with our artificial automata can be to some extend projected on our interpretations of natural organisms“.244

Einen ersten ausführlichen Überblick über Ziele und Fragen seines Programms einer Automatentheorie stellte von Neumann Ende der 1940er Jahre unter dem Titel The General and Logical Theory of Automata einer kleinen Schar von

240 Vgl. J. von Neumann 1951, 1966, 1967, W. Aspray 1990a. 241 P. Lévy 1995, S. 916. 242 Vgl. T.H. Abraham 2002. 243 H. Stach 1999, S. 100. 244 J. von Neumann 1951, S. 1/2.

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Wissenschaftlern auf dem Hixon-Symposium vor.245 Das Symposium wurde durch die Hixon Stiftung organisiert und fand vom 20. bis 25. September 1948 am California Institute of Technology statt.246 In seinem Vortrag finden sich wichtige Überlegungen sowie kritische Anmerkungen zur Automatentheorie, denn gleichwohl First Draft den Ausgangspunkt der Automatentheorie bildete, war von Neumanns Projekt viel breiter angelegt. So zählen zu den bekanntesten Überlegungen zur Theorie endlicher Automaten seine Gedanken zu sich reproduzierenden Automaten und zum Umgang mit Fehlern,247 auf die ich hier nicht näher eingehen werde. Von Neumanns allgemeine Überlegungen zu einer Erkenntnis der nervlichen Grundlagen des Geistes und seinen mathematisch geprägten Ansatz stelle ich im Folgenden vor: Die Automatentheorie gründet in der kybernetischen Annahme, dass eine empirische Erkenntnis des Geistes anhand von mathematischen Modellen möglich sei. Ins Zentrum seiner Betrachtungen stellte von Neumann, wie andere Kybernetiker auch, Fähigkeiten wie Denken, Lernen, Erinnern, die er im behavioristischen Sinne als „Verhalten“ eines Systems bzw. deren „Gesamtfunktion“ betrachtete.248 Im „Verhalten“ des Computers erblickte er das rechentechnische Pendant zum menschlichen Geist. Die funktionale Organisation des „Verhaltens“ folge in jedwedem System mathematisch beschreibbaren Regeln. Seine Aufgabe sah er nun in der Suche nach diesen Regeln, die die Funktionsweise von Organismen und Maschinen gleichermaßen erklärten. Ausgangspunkt war das Studium der Organismen, „natürlicher Systeme“. Seines Erachtens setzten sich auch noch so kompliziert erscheinende Prozesse in Lebewesen, ähnlich den Rechen-

245 Ebd. 246 Gemäß dem Stiftungszweck, nämlich der Unterstützung wissenschaftlicher Ansätze zum verbesserten Verständnis des menschlichen Verhaltens, stand das Treffen unter dem Thema „Cerebral Mechanisms in Behavior“. Eine Reihe bedeutender Wissenschaftler auf dem Gebiet der Humanwissenschaften, besonders der Neurophysiologie und Psychologie, waren eingeladen worden, unter ihnen der Neuropsychologe Karl Lashley sowie Teilnehmer der Kybernetik-Konferenzen wie Warren McCulloch, der Physiologe Ralph Gerard und der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler. Auch Lorente de Nó gehörte auf Betreiben Lashleys zum Kreis der Eingeladenen. Als Angehörige aus anderen Bereichen der Wissenschaft nahmen einzig John von Neumann und der Elektrotechniker John Stroud teil. 247 Vgl. z.B. J. von Neumann 1951, 1956, 1966, W. Aspray 1990a, H. Stach 1999, T.H. Abraham 2000. 248 Vgl. H. Stach 1999.

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maschinen, aus einfachen Grundelementen zusammen, die die Organisation der Einzelteile im Organismus in Hinblick auf die Gesamtfunktion beschrieben.249 „The natural systems are of enormous complexity, and it is clearly necessary to subdivide the problem that they represent into several parts. One method of subdivision, which is particularly significant in the present context, is this: The organism can be viewed as made up of parts which to a certain extend are independent, elementary units. We may, therefore, to this extent, view as the first part of the problem the structure and the functioning of such elementary units individually. The second part of the problem consists of understanding how these elements are organized into a whole, and how the functioning of the whole is expressed in terms of these elements. The first part of the problem is at present the dominant one in physiology. It is closely connected with the most difficult chapters of organic chemistry and of physical chemistry, and may in due course be greatly helped by quantum mechanics. [...] [I]t is not the part with which I shall concern myself here. The second part, on the other hand, is the one which is likely to attract those of us who have the background and the taste of a mathematician or a logician. With this attitude, we will be inclined to remove the first part of the problem by the process of axiomatization, and concentrate on the second one. […] This being understood, we may then investigate the larger organisms that can be built up from these elements, their structure, their functioning, the connections between the elements, and the general theoretical regularities that may be detectable in the complex syntheses of the organisms in question“.250

Um die in ihrem Verhalten beschreibbaren Grundbestandteile des Nervensystems in ihren funktionellen Relationen zu studieren, wollte von Neumann die im Nervensystem auftretenden physiologischen Prozesse axiomatisieren. Auf diese Weise ließe sich die offensichtliche Komplexität des Nervensystems auf einfa-

249 Bereits 1940 waren sich von Neumann und Ortvay darüber einig gewesen, dass sich ein komplexes System wie das Gehirn in einfache Operationen auflösen ließe, „I think that it will be possible to find a proper and simple theoretical approach to the operation of the brain“ (R. Ortvay an von Neumann 30. Mai 1940, Nagy et al. 1989, S. 187).„I suppose I can interpret your remarks about the complicated operation of the brain in the light of your wish to underline the difficulties of the present situation. There is absolutely no reason that this must ultimately be so. A bad vision (model) can easily create the impression of a terribly complicated situation, when later on, with the aid of a smarter approach, everything can be settled in a simple manner...“ (J. von Neumann an Ortvay, 1940, F. Nagy et al. 1989, S. 187). 250 J. von Neumann 1951, S. 2/3.

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che, berechenbare Grundoperationen zurückführen. Denn, so von Neumanns These, die immense Komplexität, die das Nervensystem aufweise, sei nur scheinbar. Im Zentrum der Automatentheorie standen axiomatisch beschriebene Nervenzellen, die sich eng an McCullochs und Pitts formalisiertes Nervenmodell anlehnten – „konventionalisierte Neuronen“, wie von Neumann sie auch nannte.251 McCullochs und Pitts logisches Nervennetzmodell von 1943 pries er denn auch als ein dem Nervensystem in seiner Funktionsweise äquivalentes Netzwerkmodell. „Ein beobachtbares Verhalten ist durch konventionalisierte Neuronen-Netze sofort erklärbar, falls es unzweideutig beschrieben ist“.252 Den Beweis dafür hätten McCulloch und Pitts erbracht. Bei aller Anerkennung hegte von Neumann jedoch Zweifel, ob McCullochs und Pitts Modell logischer Nervennetze ein dem Gehirn in Bezug auf Ausdehnung und Eigenschaften entsprechendes Modell darstelle und ob die vorhandene Mathematik zur Darstellung der Prozesse im Nervensystem ausreichend sei. Denn bei der Suche nach der Funktionsweise der Organismen legte er strenge Maßstäbe an: „I would however, put on ‚true‘ understanding the most stringent interpretation possible: That is, understanding the organism in the exacting sense in which one may want to understand a detailed drawing of a machine – i. e. finding out where every individual nut and bolt is located, etc“.253

Eine eingehendere Beschäftigung mit der Biologie hatten von Neumann bereits Mitte der 1940er Jahre zu der Überzeugung gelangen lassen, dass das Nervensystem kein einfaches Forschungsobjekt darstelle:254

251 J. von Neumann an Bonhoeffer,1.4.1949, LOC von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11 K. F. Bonhoeffer. 252 Ebd. 253 J. von Neumann an Wiener 29. November 1946, LOC, von Neumann Papers, Norbert Wiener, Kasten 7, Mappe 14. 254 Seine Frau, Klara von Neumann, berichtete in ihrem Vorwort zu The Computer and the Brain von Neumann habe begonnen, „sich mit der Neurologie zu beschäftigen, Kapazitäten auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie aufzusuchen, an vielen Konferenzen zu diesen Themen teilzunehmen“ (Klara von Neumann in J. von Neumann 1970, S. 10); einen ausführlichen Überblick besonders zu den späteren Kontakten von Neumanns mit den Biowissenschaften, vgl. W. Aspray 1990a, S. 181ff.

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„Our thoughts – I mean yours and Pitts’ and mine – were so far mainly focused on the subject of neurology, and more specifically on the human nervous system, and there primarily on the central nervous system. Thus, in trying to understand the functioning of automata and the principles governing them, we selected the most complicated object under the sun – literally“.255

Das Nervensystem in seiner Funktionsweise könne durch McCulloch und Pitts logische Nervennetze nicht ausreichend repräsentiert werden, denn die sich daraus ergebenden Modellentwürfe seien zu groß, als dass sie in einem Schädel Platz fänden. Desgleichen sei die Repräsentation von Inhalten darin zu ausufernd, die Nervennetze wiesen im Vergleich mit dem Gehirn eine zu hohe „Laufzeit“ auf.256 Daher plädierte er, dass in zukünftige funktionelle Modelle des Nervensystems sowohl die Ausmaße als auch genetische und metabolistische Aspekte einbezogen werden müssten: „Thus the problem might better be viewed, not as one of imitating the functions of the central nervous system with just any kind of network, but rather as one of doing this with a network that will fit into the actual volume of the human brain. Or, better still, with one that can be kept going with our actual metabolistic ‚power supply‘ facilities, and that can be set up and organized by our actual genetic control facilities. [...] I think that the first phase of our problem – the purely formalistic one, that one finding an ‚equivalent network‘ at all – has been overcome by McCulloch and Pitts. [...] There remains, however, plenty of malaise due to the next phase of the problem, that one of finding an ‚equivalent network‘ of possible, or even plausible dimensions and (metabolistic and genetic) requirements“.257

Desweiteren erkannte von Neumann in der Betrachtung nervlicher Aktivitäten als zweiwertige Schaltelemente eine Übersimplifikation.258 „Analoges“ Verhalten, wie er die unterliegenden biochemischen Abläufe im Nervensystem charakterisierte, würde übergangen und unter die zwei möglichen Zustände „0“ und „1“, „feuern“ und „nicht-feuern“ subsummiert. Jedoch

255 J. von Neumann an Wiener, 29. November 1946, LOC; von Neumann Papers, Norbert Wiener Korrespondenz, Kasten 7, Mappe 14. 256 Vgl. z.B. J. von Neumann 1951. 257 Ebd., S. 34. 258 Vgl. z.B. J. von Neumanns Korrespondenz mit Bonhoeffer 1949, H. von Foerster 1951, J. von Neumann 1967.

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„Umstände dieser Art brauchen es keineswegs auszuschließen dass das Neuron im Wesentlichen, d. h. in seiner positiven funktionellen Rolle im Gesamtorganismus, doch ein reines Schalt-Organ sein könnte“.259

Da bislang keine Klarheit herrsche über die Vielfalt an neuronalen Prozessen und ihre Bedeutung für die Gesamtfunktion, schien ihm also die Verhaltensbeschreibung neuronaler Aktivitäten anhand der „konventionalisierten“ Nervenzellen vorläufig gerechtfertigt, wie er es im First Draft begonnen hatte. Diese Haltung stützte er auch mithilfe eines rechentechnischen Analogieschluss: Die Funktionsweise der Vakuumröhren basiere auf analogen Prozessen, die jedoch nachgeordnete Bedeutung besäßen bei der Verwendung dieser Bauteile als digitale Schaltelemente in Rechenmaschinen. Auch seine Ansicht, digitale Mechanismen eigneten sich besser als analoge zum Verständnis komplizierter Sachverhalte, bestärkten ihn in seiner Meinung: „The digital aspect of automata should be emphasized at the present time, for we now have some logical tools to deal with digital mechanisms, and our understanding of digital mechanisms is behind our understanding of analogical mechanisms. Also, it appears, that digital mechanisms are necessary for complicated functions. Pure analog mechanisms are usually not suited for very complicated situations. The only way to handle a complicated situation with analog mechanisms is to break it up into parts and deal with the parts separately and alternately, and this is a digital trick“.260

Aus von Neumanns Perspektive bereiteten jedoch nicht nur das fehlende Wissen um die Funktionsweise des Nervensystems Probleme. Auch die bestehende Mathematik hielt er für ungeeignet zum Verständnis eines komplizierteren Automaten, wie ihn das Nervensystem darstelle. Seiner Einschätzung nach werfe das Nervensystem in seiner funktionellen Organisation Schwierigkeiten auf, „which cannot be formulated with our present logical techniques“.261 Analog sei der Rechnerentwicklung in Bezug auf Komplexität und Kapazität Grenzen gesetzt, wenn nicht eine adäquate Logik gefunden würde.262 Anhand der McCulloch-Pitts Neuronen seien nur Automaten mit einfacher Komplexität modellierbar. Organisationsformen höherer Komplexität (oder „Kompliziertheit“ wie von Neumann

259 J. von Neumann an Bonhoeffer, 1.April 1949, LOC von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11 K. F. Bonhoeffer, S. 10. 260 J. von Neumann 1966, 4. Illinois Lecture, S. 69/70. 261 J. von Neumann 1951, S. 34. 262 Vgl. z.B. J. von Neumann 1951, 1966.

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manchmal sagte) wiesen vielleicht ganz andere Formen der Logik auf. Eine solche Automatentheorie müsse im Wechselspiel zwischen Rechnerbau und Nervensystem entstehen und die Funktionsabläufe in beiden Bereichen gleichermaßen erfassen:263 „All of this does not alter my belief that a new, essentially logical, theory is called for in order to understand high-complicated automata and, in particular, the nervous system. It may be, however, that in this process logic will have to undergo a pseudomorphosis to neurology to a much greater extend that the reverse“.264

Mathematisch müsse diese neue Logik Aspekte der Wahrscheinlichkeitstheorie, der Thermodynamik und der Informationstheorie aufnehmen.265 Trotz dieser thematisierten Unzulänglichkeiten arbeitet von Neumann in der Automatentheorie mit den McCulloch-Pitts Neuronen266, denn sie erschienen ihm als Anknüpfungspunkt vorerst geeignet, um zu einer geeigneteren Automatentheorie vorzustoßen. 267 „Für den mehr formalen Standpunkt [...] mag vielleicht noch sprechen, dass man wohl von dort aus zur Logik komplizierter Automaten vorstossen können wird“.268

Allgemein ist bei von Neumann zu beobachten, dass er die von ihm entworfenen kybernetischen Nervennetzmodelle weitaus weniger enthusiastisch bewertet als McCulloch. Dies ist den bestehenden Unzulänglichkeiten in Bezug auf die Repräsentation der Nervenfunktion in den „konventionalisierten“ Neuronen und

263 Vgl. J. von Neumann 1951, 1958. 264 Ebd., S. 24. 265 Vgl. Korrespondenz J. von Neumann mit Bonhoeffer 1949 in LOC, J. von Neumann 1951, 1966, H. Stach 1999. 266 Interessanterweise arbeitete von Neumann in der Automatentheorie mit der Bezeichnung Neuronen, nicht E-Elemente, wie im First Draft. 267 Natürlich nutzte von Neumann seine Automatentheorie auch beim Entwurf von Rechenmaschinen. Wie in Abschnitt 3.3 dargelegt, bietet sie logische Formalismen, nach denen eine Maschine modular in ihren Einzelfunktionen beschrieben werden kann, vgl. J. von Neumann an Bonhoeffer, 1.4.1949, LOC von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11 K. F. Bonhoeffer, S. 8. Besonders W. Aspray 1990a, S. 195 betont den nutzbringenden Anwendungscharakter der Automatentheorie. 268 J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11, Rechtschreibung im Original.

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dem Fehlen einer geeigneten Mathematik geschuldet. Trotz seiner Zurückhaltung stellte von Neumann jedoch die kybernetische Grundidee, nämlich dass diese Modelle, wenn in Rechenmaschine oder Nervensystem verkörpert, Verhalten im Sinne von Geist duplizieren, nicht in Frage. Ähnlich McCulloch bewertete er seine kybernetischen Nervennetzmodelle als Modelle, die erinnern und lernen, und erblickte in deren funktioneller Organisation durchaus eine Option, wie diese Fähigkeiten auch auf Nervenebene realisiert werden könnten. 3.6.2 Von Neumanns „Lernapparat“ Von Neumanns Entwürfe eines synthetisierten Lernautomaten – basierend auf regenerativer Zirkulation – aus den späten 1940er Jahren sind wenig bekannt. An dieser Stelle möchte ich Asprays Einschätzung korrigieren. Dieser schreibt, Netze mit zirkulären Strukturen seien von von Neumann erst Anfang der 1950er Jahre in seine Automatentheorie eingeführt worden.269 Wie in Abschnitt 3.4.3 gezeigt, besitzen sie jedoch bereits seit dem First Draft, d.h. seit den frühen Anfängen der Automatentheorie eine wichtige Funktion als Gedächtnisspeichermechanismus. Spätestens jedoch in seinem Modell eines „Lernapparates“ aus dem Jahr 1949 verwendete von Neumann Kreisbahnen als eine zentrale Grundorganisationsform in seiner Automatentheorie. Im Folgenden werde ich von Neumanns automatentheoretisches Lernmodell kurz vorstellen. Erstmals beschrieb er es in einem Brief an den deutschen physikalischen Chemiker Karl Friedrich Bonhoeffer (1899-1957), der ab 1949 in Göttingen über Nervenmodelle und Membranpotentiale forschte.270 Die beiden Wissenschaftler hatten sich in den 1920er Jahren auf einer gemeinsamen Zugfahrt intensiv ausgetauscht; anlässlich seines Besuchs in den USA nahm Bonhoeffer Anfang 1949 erneut Kontakt mit von Neumann auf. Über seinen Schwager, den Genetiker und Biophysiker Max Delbrück (1906-1981), übersandte Bonhoeffer von Neumann eine Kopie seines Artikels aus dem Jahr 1948, in dem er seine Theorie der nervlichen Erregungsfortleitung präsentierte, die er anhand von Experimenten an einem Eisendraht-Nervenmodell entwickelt hatte. Von Neumann ließ ihm als Antwort den 1943er Artikel von McCulloch und Pitts zukommen. Außerdem schickte er ihm eine ausführliche Analyse der logischen Nervennetztheorie aus seiner Sicht und erläuterte seine Ideen zu lernenden Automaten, aufgebaut aus McCulloch-Pitts Neuronen sowie deren maschinelle

269 W. Aspray 1980. 270 Vgl. J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11.

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Umsetzungen. In einer ähnlichen Version, allerdings ohne (überlieferte) graphische Darstellung, präsentierte er sein Lernmodell gegen Ende desselben Jahres seiner Zuhörerschaft bei den Illinois Lectures.271 Im Folgenden beziehe ich mich aber vor allem auf die Bonhoeffer Korrespondenz. Von Neumann modelliert den Prozess des Lernens in seinem Lernautomaten als mechanischen Akt quantitativer Veränderungen der funktionellen Eigenschaften des Netzwerkes, neurophysiologisch ausgedrückt als zeitlich begrenzten Bahnungseffekt evoziert durch Konditionierung. Die Modellierung lässt als Vorbild deutlich den neuronalen Konditionierungsmechanismus erkennen, den Rashevsky um 1940 (vgl. Abschnitt 3.3.2) und später auch McCulloch272 als potentielles nervliches Substrat der bedingten Reflexe Pawlows interpretiert hatten: Das Ablaufschema erfolgte dort nach folgendem Prinzip: U, die unbedingten Afferenten, können eine Reaktion R auslösen und dabei die bedingten Afferenten C erregen. U kann R immer auslösen; C kann dies nur reflexhaft tun, wenn C und U so erregt werden, dass sie zeitgleich aktiv sind. Wenn beide eine Weile gleichzeitig aktiv sind, kann nach einiger Zeit C alleine R auslösen. Von Neumann übernahm diesen Konditionierungsmechanismus in seinen Lernmodell, verwendete allerdings die neutralen Buchstaben X und Y bzw. X’ und Y’, und ergänzte ihn um Steuerelemente, die anhand quantitativer Kriterien exakt regelten, wann der „Lernerfolg“ eintrete, bzw. wann wieder „vergessen“ werde.

271 Die Ausführungen von Neumanns zu „learning circuits“ finden sich im zweiten Vortrag der aus fünf Teilen bestehenden Illinois Lectures, die von Neumann im Dezember 1949 an der University of Illinois über „The Theory and the Organization of Complicated Automata“ hielt. Die Vorträge wurden aufgenommen und transkribiert; die Aufnahmequalität war jedoch teilweise so schlecht, dass ganze Passagen fehlen, vgl. Illinois Lecture 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 20, Mappe 2. Der Lernmechanismus, den von Neumann in seiner zweiten Illinois Lecture präsentierte, entspricht im Prinzip dem Bonhoeffer-Modell, unterscheidet sich jedoch in Details. In J. von Neumann 1966 dagegen erscheint das Lernmodell in einer gegenüber dem Ursprungsmanuskript verkürzten Form, was dem Herausgeber Arthur Burks zuzuschreiben ist, der nach von Neumanns Tod eine von ihm annotierte Version der Vorträge veröffentlichte. 272 Auf dem Hixon Symposium 1948 hatte McCulloch einen Konditionierungsmechanismus vorgestellt, als er von Konditionierungsexperimenten berichtet, die von seinem Mitarbeiter Jerome Lettvin an nicht intaktem Rückenmark durchgeführt worden waren, vgl. W.S. McCulloch 1952, S. 60/ 61.

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Den grundlegenden Mechanismus dieser Steuerung bildet die regenerative Zirkulation in geschlossenen Strukturen – von von Neumann als „Erinnerungsprozess“, als den „fundamental memory circuit in all automata“273 bezeichnet. Erinnerung ist hier – im Gegensatz zu seinem Gedächtnisspeichermodell – rein quantitativ zu verstehen. Die zirkulierenden Impulse entsprechen nicht den zu erinnernden Inhalten, sondern sind der Mechanismus, der eine kontinuierliche Bahnung ermöglicht. Durch diese Bahnung wird ein erfolgreicher Lernprozess realisiert, der so lange anhält, so lange „erinnert“ wird, wie die Bahnung erfolgt. Dieser Mechanismus wurde beispielsweise von McCulloch und Pitts in ihrem 1943er Artikel verwendet. Wenn ein Impuls einen solchen „Erinnerungsprozess“ anstößt, dann zirkulieren Impulse; von Neumann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Kreis „erinnert“, dass er angestoßen wurde. Die Zirkulation, der Vorgang des „Erinnerns“, kann wiederum durch einen gezielten Impuls beendet werden. Bei diesem Lernmechanismus erfüllen regenerative Zirkulationsschleifen die Aufgabe eines ansteuerbaren Schalters, so im Falle des Ventils (s. u.), oder einer Bedingungsschleife, so im Falle des Zählers bzw. Doppelzählers (s. u.). In seinem Lern-„Apparat“ L (Abbildung 3-17) bezeichnete von Neumann die Stimuli, die voneinander unabhängig die Reaktion X’ bzw. Y’ hervorrufen, mit X bzw. Y. Das Modell kann eine Stimulation von X mit der Reaktion von Y’ verknüpfen. Das heißt der „Apparat“ „‚lernt‘ die Folge X ĺ Y’ auf Grund von 2n ununterbrochenen positiven Beobachtungen“274: Wenn der Stimulation von X 2n -mal hintereinander mit einer zeitgleichen Stimulation von Y auftritt, dann wird das Ventil V geöffnet, verkörpert durch eine regenerative Zirkulationsschleife. Jede Stimulation von X alleine bewirkt nun eine Reaktion von X’ und Y’. Nach 2p- maligem Auftreten des alleinigen Ereignisses X ohne Zeit gleicher Stimulation von Y wird das Ventil wieder geschlossen, die Rückkopplungsschleife „gehemmt“. Der Mechanismus hat die Folge X ĺ Y’ „verlernt“.

273 J. von Neumanns 2. Illinois Lecture 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 20, Mappe 2, S. 14. 274 J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11.

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Abbildung 3-17 Lernapparat L

275

J. von Neumann, Figur 22 bzw. 22a

275 Die folgenden Abbildungen (3-17 bis 3-23) sind Zeichnungen der Autorin nach den Originalskizzen von Neumanns. Diese finden sich im Anhang seines Briefes an Bonhoeffer, vgl. J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11, sind jedoch von zu schlechter Qualität, als dass sie maschinell reproduzierbar wären.

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Im Element C (Abb. 3-18, Figur 21 bzw. 21a im Original) wird geprüft, ob die Ereignisse (X und Y) oder (X und nicht Y) gemeinsam auftreten. Je nach dem wird ein Impuls auf der oberen oder unteren Leitung an den Doppelzähler DZV gesendet. In seinen Schaltkreisen findet ein Aufsummieren der Anzahl der Ereignisse statt. Abbildung 3-18 Bauelement C

J. von Neumann, Figur 21, 21a, vgl. FN 274.

Tritt 2n -mal hintereinander das Ereignis (X und Y) auf, so sendet der Doppelzähler DZV einen Impuls an das Ventil V, das geöffnet wird (d. h. „Lernerfolg“) und solange geöffnet bleibt, bis 2p -mal hintereinander das Ereignis (X und nicht Y) eingetreten ist. Der auf einer zweiten Leitung gesendete Impuls aus DZV schließt in diesem Fall das Ventil V wieder. Wird die kontinuierliche Abfolge eines der Ereignisse (X und Y) oder (X und nicht Y) unterbrochen, werden alle Zähler auf „0“ zurückgesetzt und die Addition beginnt von Neuem. Die „Nervenzellen“ I, II, III und IV bezeichnete von Neumann als „VerzögerungsZwischen-Neuronen“. Sie dienen der zeitlichen Synchronisation der Abläufe. Von Neumanns Lernautomat setzt sich, wie bereits angeklungen, neben C aus den Elementen Zähler, Ventil bzw. Doppelzähler zusammen, die im Folgenden in ihrer Organisation näher erläutert werden.

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Der Zähler (Abbildung 3-19, Figur 16 bzw. 16a.) setzt sich aus einer beliebigen Anzahl hintereinandergeschalteter Zähleinheiten auf der Basis 2 (Abbildung 3-20, Figur 15, 15a) zusammen. Abbildung 3-19 Zähler

J. von Neumann, Figur 16, 16a, vgl. FN 274.

Sobald zwei Impulse aufeinander folgen, schaltet die erste Zähleinheit durch; sind vier Impulse aufeinander gefolgt, schaltet auch die zweite durch, usw. Liegt ein Impuls an A276 an, wird der Zählvorgang vollständig abgebrochen. In den Zähleinheiten (Abbildung 3-20, Figur 15, 15 a) dient die regenerative Zirkulation allein dem Aufbau des korrekten Schaltvorganges.

276 Von Neumann bezeichnet diesen auch als „auslösch-Mechanismus“, J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11, S. 4.

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Abbildung 3-20 Zähleinheiten

J. von Neumann, Figur 15, 15a, vgl. FN 274.

Das Ventil (Abbildung 3-21, Figur 18 bzw. 18a) lässt in geöffnetem Zustand einen Stimulus von X nach Y durch; ist es geschlossen, kann kein Stimulus passieren. Das einfache Ventil (Abbildung 3-21, Figur 17) ist geöffnet, wenn neben X auch bei A ein Stimulus anliegt, ansonsten bleibt es verschlossen. Das Element komplettes Ventil erhält eine regenerative Zirkulationsschleife277, die bewirkt, dass das Ventil durch eine einmalige Stimulation von C geöffnet, aber auch durch eine einmalige Stimulation von D wieder geschlossen werden kann. Diese regenerative Zirkulation erfüllt im Ventil eine Funktion, die neurophysiologisch als Absenkung des Schwellenwertes der Erregung bezeichnet wird. Eine solche Absenkung des Schwellenwertes der Erregung durch ein konstantes Bombardement der Zelle aufgrund von Reverberation in einem geschlossenen Neuronenkreis war in dem Modell von Rashevsky das zentrale Moment zur Modellierung des neuronalen Konditionierungsmechanismus (vgl. Abschnitt 3.3.2). Der Doppelzähler DZ (Abbildung 3-22, Figur 19, 19a) zählt zuerst die Stimuli auf G’. Wenn die Anzahl a erreicht ist, gibt er ein Signal auf H’ und schaltet um auf G’’. Hier zählt er die Stimuli solange, bis b erreicht wird, gibt ein Signal auf H’’, schaltet G’’ aus und fängt wieder bei G’ bzw. H’ an. In der Variante DZV (Abbildung 3-23, Figur 20, 20a) wurden von von Neumann vier Neuronen eingefügt, die der zeitlichen Synchronisation der Abläufe dienen. Ansonsten gleichen sich DZ und DZV in ihrer Funktionalität. Der Einfachheit halber verwendete von Neumann überall Zähler der Basis 2, aber auch Zähler mit einer anderen Basis sind denkbar.

277 Von Neumann bezeichnet diese auch als eine „Erinnerungszelle“, ebd., S. 5.

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Abbildung 3-21 einfaches Ventil (Fig. 17) und komplettes Ventil (Fig. 18, 18a)

J. von Neumann, Figur 17, 18, 18a, vgl. FN 274.

In der Darstellung oszilliert von Neumanns Lernmodell zwischen mathematischer Vorschrift, technischen Schaltelementen und vernetzten Nervenzellen. Sein an biologischen Vorgaben orientierter Modell ist so angelegt, dass der darin beschriebene Prozess große Ähnlichkeiten mit den in Lebewesen postulierten Lernprozessen aufweisen, ein Umstand, der durch die Verwendung der Neuronenmodelle als funktionelle Grundelemente noch unterstrichen wird. Die Erinnerungs- bzw. Lernprozesse werden als Modifikationen des Verhaltens der Elemente dieses kybernetischen Nervennetzmodells modelliert; d.h. der Lernerfolg ist ein Ergebnis des Gesamtgeschehens im Nervennetz, analog den Konditionierungsmodellen der Psychophysiologie. Es besteht keine Repräsentation „gelernter“ bzw. gespeicherter Inhalte wie in einem Computerspeicher, in dem Inhalte codiert abgelegt werden.

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Abbildung 3-22 Doppelzähler DZ (Figur 19, 19a)

J. von Neumann 1949, Figur 19, 19a, vgl. FN 274.

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Abbildung 3-23 Variante des Doppelzähler DZ V(Figur 20, 20a)

J. von Neumann 1949, Figur 20, 20a, vgl. FN 274.

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Zentraler Lernmechanismus ist stattdessen das sogenannte Ventil. In diesem wird, solange die „Konditionierung“ erfolgreich anhält, analog der neurophysiologischen Absenkung des Schwellenwertes der Erregung durch konstante Befeuerung, ein Prozess der regenerativen Zirkulation in Gang gesetzt, der in diesem Fall die „Durchlässigkeit“ des Ventils erhöht. Entgegen dem psychophysiologischen Vorbild sind in dem Modell jedoch klare Bedingungen formuliert, unter denen der Prozess der regenerativen Zirkulation aussetzt, das heißt die „Konditionierung“, aufgehoben wird. In seinem Lernautomaten modellierte von Neumann also ein kybernetisches Nervennetzmodell der Konditionierung, das auf Lorente de Nós neurophysiologisches Verständnis von Zirkulationsprozessen im Nervensystem zurückgreift. Bei aller Nähe zu neurophysiologischen und psychologischen Vorbildern weist das Lernmodell zugleich eine große Ähnlichkeit zu Rechenmaschinen auf. So hat zwar von Neumann in seinem Modell neuropsychologische Theorie des Lernens basierend auf Konditionierungsmechanismen umgesetzt – allerdings in einer konsequent mathematisch-technischen Sicht: „This thing now can learn, and it can learn exactly from 256 examples“.278 Wenn n=6 und p=8, erfolgt das „‚lernen‘ nach 64 (26) ununterbrochenen positiven Beobachtungen, ‚verlernen‘ nach 256 (28) ununterbrochenen negativen Beobachtungen“279. Der beschriebene Lernprozess besteht aus vollständig und eindeutig in ihrem Verhalten beschreibbaren Elementen, ähnlich der modularisierten Konstruktion einer Rechenmaschine.280 Der Zähler basiert wie jedes der Module auf den axiomatisierten McCulloch-Pitts Neuronen, Doppelzähler setzen sich aus Zählern zusammen. Dieser maschinelle Charakter wird noch durch die Bezeichnungen für die Funktionsmodule unterstrichen, wie der gerade erwähnte Doppelzähler oder das Ventil. Stach beschreibt als weitere maschinell anmutenden Aspekt von von Neumanns Automaten, dass dort „zeitliche Prozesse in diskrete Abschnitte zerlegbar zu sein (scheinen). Aus der Sicht einer Maschine, die selbst in einem bestimmten Zeittakt arbeitet, der die Operationen ihrer als ‚Stimulus-Response-Automatismen‘ beschreibbaren Bauteile synchronisiert, [sei] das verständlich“, so Stach.281

278 J. von Neumanns 2. Illinois Lecture 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 20, Mappe 2, S. 17. 279 J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11, S. 7. 280 Vgl. H. Stach 1999, S. 110. 281 Ebd.

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Ansätze zu dieser modularisierten, der Technik nahstehenden Struktur sind bereits in von Neumanns First Draft aus dem Jahr 1945 gut zu erkennen (vgl. Abschnitt 4.3). Bereits dort ergänzte von Neumann seine damals aus E-Elementen zusammengesetzten Grundelemente wie den „Memory Device“ zu einem technischen Modul, dem perfekten „Memory-Organ“, indem er ihm steuernde Elemente beifügte, die Erinnerung bzw. Vergessen ermöglichen (vgl. Abbildungen 3-11). Und im First Draft kann man eine Fülle weiterer Beispiele für diese modularisierte, techniknahe Beschreibung finden. Von Neumann konstruiert seinen Lernautomaten analog einer Maschine, deren Einzelfunktionen er gemäß einer psychophysiologischen Konditionstheorie zu immer höheren Funktionen bis hin zu einem Lernprozess zusammensetzte. Deutlich ist an diesem „Lernapparat“ von Neumanns Intention sichtbar, anhand seiner kybernetischen Nervennetzmodelle zum Entwurf intelligenter Computer vorzustoßen – in diesem Fall durch Adaption der aus der Psychologie überlieferten Funktionsprinzipien der Konditionierung. Der Lernapparat offenbart also auch von Neumanns Interesse, die funktionelle Struktur von Teilen einer Rechenmaschine nachzuahmen. Aus seinem Lernmodell leitete von Neumann erste Einschätzungen ab, wie viele Nervenzellen für Lernprozesse minimal benötigt würden.282 Zur Modellierung bzw. Konstruktion des oben beschriebenen Lernmodells benötigt man beispielsweise nach seinen Berechnungen 42 Neuronen (für n=6 und p=8). Diese Berechnung verschaffte ihm beispielsweise Anhaltspunkte, dass das menschliche bzw. tierische Gedächtnis nicht auf diese Weise funktionieren könne. Welche weitergehenden Schlüsse von Neumann für seine Automatentheorie daraus zziehen konnte, ist jedoch unklar. Denn diese Art der Annäherung an eine neue „Logik komplizierter Automaten“, in der von Neumann von der mathematischen Simulation psychophysiologischer Verhaltensmodelle näheren Aufschluss über die „wahren“ mathematischen Grundlagen neurobiologische Prozesse zu erhalten gedachte, gelangte wie bereits erwähnt, nicht über ihre ersten Ansätze hinaus. In Übernahme der McCulloch-Pitts These, dass ein beobachtbares Verhalten, das beschrieben werden kann, sofort erklärbar und qua logischem Nervennetz verwirklichbar sei, verkörperte dieses kybernetische Nervennetzmodell für von Neumann die Fähigkeit zum Lernen (qua Konditionierung). Er verwies auch darauf, dass man weitere, kompliziertere Verhaltensmodelle aus den „konventionalisierten Neuronen“ synthetisieren könne:

282 J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11, S. 7.

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„Auf Grund dieser Ausführungen ist es wohl klar wie man noch komplicirtere Verhaltungs-Formen aus dieden Neuronen synthetisirt“.283

Bei allem war er sich bewusst, dass Lernprozesse in Tieren und Menschen wohl in der Realität anders verlaufen. „Ich glaube natürlich nicht das der Lern-prozess im wirklichen Tiere wirklich wie in 9. beschrieben [d.h. nach Figur 22a, KSB] verläuft. Es ist aber doch wohl amüsant zu sehen, wie sich derartige Dinge aus den ‚konventionellen Neuronen‘ zusammensetzen lassen“.284

Ganz ähnlich fällt von Neumanns Bekenntnis zu seinem Gedächtnisspeichermodell aus. Er übernahm den Mechanismus basierend auf regenerativer Zirkulation explizit als Gedächtnismodell in die Automatentheorie: „I would like to mention that systems of nerve cells, which stimulate each other in various possible cyclical ways, also constitute memories. These would be memories made up of active elements (nerve cells). In our computing technology such memories are in frequent and significant use; in fact, these were actually the first ones to be introduced. In vacuumtube machines the ‚flip-flops‘, i.e. pairs of vacuum tubes that are mutually gating and 285

controlling each other, represent this type“.

Angeregt durch die Neuronenmetaphorik der Automatentheorie überlegte er, in wie weit es sich um ein adäquates Modell für das menschliche Gedächtnis handele und welche Implikationen dies für die Natur des menschlichen Gedächtnis habe. „I have already given an example of a memory circuit. I gave the example of the nerve cell which tickles itself, which is an elementary memory unit, [...]. This is a memory, and there’s not the slightest doubt that it’s adequate, that it’s intrinsically adequate to describe

283 J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11, S.7ff, Rechtschreibung im Original. 284 Ebd., S.8, Rechtschreibung im Original. 285 J. von Neumann 1958, S. 66. Die sogenannten „Flip-Flops“ wurden von von Neumann als einfachster „Memory Device“ betrachtet und graphisch als rückgebundenes E-Element dargestellt, eine Zelle, die sich selbst stimuliert, vgl. auch Abschnitt 3.4.3 im First Draft.

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any kind of memory we may have had. There is reason to believe that while it is a fine memory, it is not being used. It is probably used, or it may be used in some cases“.286

Er habe nach eigenem Bekunden „lange über die Rolle und Natur des ‚Speicherns‘, d.h. des Gedächtnisses nachgedacht“, wobei er „den Verdacht nicht los [wurde], dass dies nicht von den Nerven, wie wir sie kennen, besorgt“ werde:287 „Ein sich selbst stimulierendes Neuron ist eine elementare ‚Erinnerungszelle‘, da es sowohl im unangeregten als wie im angeregten Zustand beliebig lange verharren kann. [...] Für wirkliche Neuronen kommt dieses Schema allerdings nicht in Frage, da der absolutrefraktäre Zeitraum langer ist als der synaptische Verzug; wohl aber wäre eine langere Kreis-Kette möglich. [...] Solche Kreis-Ketten sollen im menschlichen Gehirn vorkommen, sie scheinen aber selten zu sein, und sollen als haupt-Mechanismus, oder auch als ein wichtiger Mechanismus, des normalen Gedächtnisses nicht in Frage kommen. Ich will aber hierauf nicht weiter Rücksicht nehmen, und Kreis-Ketten, wo immer zweckmässig, verwenden“.288

Obwohl von Neumann annahm, dass andere Speicherformen möglich und wahrscheinlicher seien, sowohl im Gehirn als auch im Rechner289, schloss er nicht aus, dass regenerative Zirkulation auch im menschlichen Gehirn als Gedächtnis Verwendung fände.

286 J. von Neumanns 2. Illinois Lecture 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 20, Mappe 2, S. 24. 287 J. von Neumann an Bonhoeffer, 17. Februar 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11, Hervorhebung von Neumann. 288 J. von Neumann an Bonhoeffer 1. April 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 2, Mappe 11; Rechtschreibung im Original. 289 Vgl. J. von Neumann 1958. Im Hinterkopf hatte von Neumann bereits zu Zeiten des First Draft Ideen für neue technische Speicherkomponenten, allen voran das Kathodenstrahl- Ionoskop, vgl. J. von Neumann 1945, Abschnitt 12.8. Die zu speichernden Daten werden im Ionoskop mittels Licht abgelegt und können durch einen Elektronenstrahl ausgelesen werden. Bei einem Kathodenstrahl-Ionoskop werden die Daten in Form elektrostatischer Ladungen auf die elektrischen Platten in der Kathodenstrahlröhre abgelegt, vgl. J. von Neumann 1966, S. 68. Eine solche Art der Speicherung hielt von Neumann aufgrund der kürzeren Zugriffszeiten von Anfang an für dem Ringspeichersystem überlegen; in seinem IAS Rechner in Princeton verwirklichte er diese neuartige Speichertechnik.

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„[O]f course, it does not prove that any circuit which you are designing in this manner really occurs in nature. It does not, but, this is the objection one can always make, and one should perhaps not make it before one examines the situation more closely“.290

Wie aufgezeigt, sind die im Rahmen von von Neumanns Automatentheorie entstandenen kybernetischen Nervennetzmodelle von Gedächtnis- bzw. Lernprozessen in ihrer Modularität eng an das Design einer Rechenmaschine angelehnt. Sie können von einem Computer oder einem idealisierten Nervensystem gleichermaßen ausgeführt werden. Eine Anreicherung der Modelle mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen wie McCullochs Vorgehen war jedoch des Mathematikers Sache nicht. Von Neumann näherte sich von mathematisch-technischer Seite an die Lösung an. Jedoch stand auch für ihn außer Frage, dass ein immer tieferes Verständnis des Nervensystems eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Theorie der Automaten darstellte. So zeigte sich von Neumann auf seiner Suche offen gegenüber Ideen aus der Neurophysiologie bzw. der Neuropsychologie: Regenerative Zirkulation deutete er je nach Kontext einmal analog der Funktionsweise der Mercury-Delay-Line als einen Gedächtnisspeicher (wie im First Draft), einmal analog dem neurophysiologischen Konzept als Bahnungseffekt (wie im Zähler des „Lernapparates“). Damit trug er mit seiner Automatentheorie zur Verbreitung und Verfestigung des kybernetischen Gedankens bei, dass die Gehirn-Computer-Analogie bei der Erforschung des Geistes nutzbringend eingesetzt werden könne. Während die Automatentheorie wie aufgezeigt für von Neumann weit mehr darstellte als eine bloße mathematische Theorie zur Darstellung und Analyse der Funktionsweise von Rechenmaschinen, ist weder eine Abbildung des Nervensystems noch eine Erklärung des Geistes in der aktuellen Theorie finiter Automaten Thema. Allein die heute noch verwendeten Darstellungen bergen die Erinnerung an die kybernetischen (und damit auch an die neurophysiologischen bzw. neuroanatomischen) Wurzeln dieser Theorie.

3.7 S CHICKSAL

DES

G EDÄCHTNISSPEICHERMODELLS

Während McCulloch und von Neumann die Idee regenerativer Zirkulation als Gedächtnis- und Lernmechanismus in die 1950er Jahre trugen, erlebte die Idee eines allgemeinen Gedächtnisspeichermodells basierend auf regenerativer Zir-

290 J. von Neumanns 2. Illinois Lecture 1949, LOC, von Neumann Papers, Kasten 20, Mappe 2, S. 18.

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kulation in der Kybernetik einen raschen Aufstieg – um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Von Neumann und besonders McCulloch war es, wie dargestellt, gelungen, bestehende Thesen von Zirkulationsprozessen im Nervensystem, wie sie von Lorente de Nó, Lawrence Kubie und anderen geäußert worden waren291, mit vorhandener Speichertechnik zu einem universellen Erkenntnis- und Gedächtnisprinzip basierend auf regenerativer Zirkulation in Mensch und Maschine zu analogisieren. Mit diesem euphorischen Mensch-Maschine Vergleich traf er in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre den Nerv der Zeit. Viele, die sich unter dem Dach der Macy-Konferenzen zusammengefunden hatten, waren fasziniert von den Nervensystem-Computer-Hybriden und den Möglichkeiten, die sie zu eröffnen schienen, nämlich den Hoffnungen auf eine baldige Erkenntnis der strukturellen Grundlagen des Denkens. Das lag auch an Persönlichkeiten wie McCulloch, die aus ihren Überzeugungen keinen Hehl machten. Das Gedächtnisspeichermodell erfuhr für wenige Jahre einen regelrechten „Hype“. Vornehmlich die dritte der Macy-Konferenzen292 war für die Verbreitung der Vorstellung des Prinzips eines gemeinsamen Gedächtnisspeichers in Mensch und Maschine auf Grundlage von Zirkulationsprozessen bedeutsam. Die Sitzung am Nachmittag des 13. März 1947 war der Frage nach Gedächtnis- bzw. Speicherprozessen in Mensch und Maschine gewidmet.293 Von Neumann eröffnete die Runde mit einem erneuten Vortrag über Rechenmaschinenspeicher. In der anschließenden Diskussion wurden die Differenzen und Übereinstimmungen zwischen technischen Speichern und dem Gedächtnis exploriert. Der Bedarf

291 McCulloch verwies mehrfach auf Lorente de Nó bzw. Kubie: „Kubie first proposed, and Lorente de Nó first demonstrated, the existence of such paths within the central nervous system.“ (W.S. McCulloch/ J. Pfeiffer 1949, S. 371) oder „[...] [Y]ou did ascribe to Lorente de Nó the demonstration of reverberatory chains of neurons and in doing so you were quite correct. Berry Campell is quite correct as to the notion having been proposed by Ranson and Hinsey three years earlier. [...] Berry Campbell is wrong when he supposes that they ever demonstrated it. They may have prior claim to the notion – they have none to the demonstration.“ (W.S. McCulloch an Northrop, 28. Mai 1948, McCulloch-Papers, APS, two divisions, B M139 Nr. 1 &2, Mappe “Correspondance and Papers”). Desweiteren vgl. W.S. McCulloch 1947. 292 Die 3. Macy-Konferenz fand vom 13. bis 14. März 1947 statt. 293 Alle Informationen entstammen Donald G. Marquis 1947, Summary of Discussion following Paper by Dr. von Neumann, LOC, Margret Mead Papers, F42, special working groups, Macy Foundation, Cybernetics, Conference on Feedback 1947 October.

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nach einer Löschfunktion im Computer wurde beispielsweise als ein offensichtlicher Unterschied zwischen organischem Gedächtnis und Rechenspeicher betrachtet. Beim Menschen werde auch scheinbar Vergessenes unter bestimmten Umständen wieder erinnert, ein Umstand, der gegen eine generelle „Löschung“ der Gedächtnisinhalte im Gehirn spreche. Gemeinsamkeiten zwischen Gedächtnis und maschineller Speicherorganisation waren assoziationspsychologisch inspiriert und erinnern die heutigen Leser an die spätere Zeigertechnik in der Maschinenspeicherverwaltung: Der Prozess des Erinnerns wurde sich als Aktivierung einer Verbindungen zwischen verschiedenen Entitäten vorgestellt, als eine Art Referenzmechanismus, durch den die abgelegte Erinnerungen lokalisiert und verfügbar gemacht werden könnten, „a process which must involve association between the memory and some finding symbol“.294 In Bezug auf mögliche Analogien der Speicherprozesse in Mensch und Maschine stießen nach Marquis Angaben wohl zwei Funktionsprinzipien auf allgemeine Zustimmung: Zum einen basierend auf Zirkulation in geschlossenen Kreisstrukturen; zum anderen verstanden als Zustandsänderungen im System: „The discussion centered on the characteristics of organic memory and their analogies to [...] computers: [...] By analogy with [...] computers there are two general classes of memory mechanisms. The first is a reverberating closed circuit of switching units in which memory depends upon continued activity in the circuit. The second is some kind of permanent change of state consequent upon activity of units in the mechanism“.295

Das erste dieser Speichermodelle ist, wie sich unschwer erkennen lässt, direkt der Funktionsweise der Maschine entlehnt. Letzteres ist ein schwaches Echo der traditionellen neurophysiologischen bzw. psychophysiologischen Vorstellungen neuronaler Modifikationen, beispielsweise die Modellierung von Fazilität bzw. Hemmung als zustandsveränderndem Gedächtnis- bzw. Lernmechanismus. Einen nicht unbeträchtlichen Beistand erfuhr die erstgenannte Idee der regenerativen Zirkulation als Gedächtnismechanismus durch Alltagserfahrungen, wie, dass sich eine bewusste Wiederholung des zu Erinnernden positiv auf das Gedächtnis auswirkt: „[O]ne can remember a six digit telephone number so long as he ‚keeps it going around his head.‘ Unless this is prolonged there is no permanent memory of the number“.296 Solche Alltagserfahrungen gemeinsam mit der Existenz von Ringspeichern in Rechenmaschinen verhalfen Speicherprozes-

294 Ebd. 295 Ebd. 296 Ebd.

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sen basierend auf regenerativer Zirkulation zu einer zeitweise ungeheuren Popularität unter den Kybernetikern. Einerseits konnte dieses Funktionsprinzip in Rechenmaschinen realisiert werden. Andererseits legten die geschlossenen Neuronenketten Lorente de Nós oder die „closed circuits“ Kubies dem kybernetischen Betrachter die Existenz ähnlicher Funktionsprinzipien im Nervengewebe nahe. Auch Norbert Wiener beispielsweise gehörte zu den Enthusiasten eines Gedächtnissubstrats basierend auf regenerativer Zirkulation in Mensch und Maschine. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre verwies er mehrfach auf die Evidenz solcher nervlicher Speicherkreise als Gedächtnissubstrat sowie der Verwendung dieses Prinzips als Rechenmaschinenspeichern. „In the nervous system, also, there is evidence of circulating memories. Here the process is activity in circular chains of neurons which keeps up indefinitely, once started“.297

In seinem Buch Cybernetics schrieb er: „To return to the problem of memory, a very satisfactory method for constructing a short298

time memory

is to keep a sequence of impulses travelling around a closed circuit, until

this circuit is cleared by intervention from outside. There is much reason to believe that this happens in our brains during the retention of impulses which occurs over what is know as the specious present. This method has been imitated in several devices which have been used in computing machines, or at least suggested for such a use“.299

Interessanterweise behauptete Wiener an dieser Stelle sogar, das Modell eines zirkulierenden Speichers im Computer ginge auf die Imitation des menschlichen Gedächtnis zurück. Das heißt, Wiener geht davon aus, zuerst habe es das Gedächtnismodell basierend auf Zirkulation gegeben, dessen Funktionsprinzip dann im Rechenmaschinenspeicher imitiert worden sei. Bei Wiener zeigen sich hier die Auswirkungen der verwirrenden Überblendung organischer und maschineller

297 N. Wiener 1948a, S. 211. 298 Dass Wiener bereits 1948 auf zirkuläre Aktivitäten als Basis eines Kurzzeitgedächtnisses verweist, ist überraschend früh. Da es von der dritten Macy-Konferenz Anfang 1947, in der über „Memory“ gesprochen wurde, keine weiteren Quellen gibt neben der eben zitierten Zusammenfassung von Marquis und einer von McCulloch (abgedruckt z.B. in C. Pias 2004, S. 342), ist nicht auszuschließen, dass damals zugleich bereits die alternative Ideen eines Kurzzeitgedächtnisses kursierte. 299 N. Wiener 1948b, S. 143.

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Konzepte in der Kybernetik. Zwar Wiener hatte bis Ende der 1940er Jahre eine zunehmende Skepsis gegenüber den Auswirkungen einer in seinen Augen entfesselten Technik entwickelt; dass die neuen Rechenmaschinen jedoch über geistige Fähigkeiten verfügten und Ähnlichkeiten mit dem Gehirn aufwiesen, betrachtete er als unzweifelhaft gegeben.300 Bei der Hybridisierung von Gedächtnis und Rechenspeicher wurde vor allem die funktionelle Ähnlichkeit betont; die bestehenden Unterschiede verblieben im Hintergrund. In dieser von jeglicher materiellen Grundlage abstrahierenden Betrachtungsweise, die von der verwirrenden Vielfalt an empirischen Daten der Anatomie und Physiologie des Nervensystems absah, sahen viele einen Beweis, dass man mit dem kybernetischen Ansatz gleicher Funktionsprinzipien in Mensch und Maschine auf dem richtigen Weg zu einer neuen Metawissenschaft sei, die Lebewesen und Technik gleichermaßen umfasse: Denn im Gedächtnisspeichermodell basierend auf regenerativer Zirkulation stimmten ja das (postulierte) funktionelle Prinzip eines nervlichen Gedächtnisses mit dem funktionellen Prinzip der Rechenmaschinenspeichers überein. Während die Hoffnungen, die in die kybernetischen Ideen im allgemeinen gesetzt wurden, weiter anhielten, erlebte das Gedächtnisspeichermodell ab Ende der 1940er Jahre, kaum dass es sich zu verbreiten begann, seinen Niedergang. Das hing mit der Frage nach der Aussagekraft kybernetischer NervensystemComputer-Hybride zusammen. Viele der Teilnehmer und Teilnehmerinnen an den Konferenzen waren in den Gespräch über den Gehirn-Maschine-Vergleich immer mehr von einem explorierenden „as if“ in ein gleichsetzendes „is“ verfallen. In ihrer Begeisterung verhielten sie sich so, als ob Computer und Nervensystem in ihrer funktionalen Organisation „eins zu eins“ übersetzbar seien. Und die kybernetischen Nervennetzmodelle eines McCulloch (oder eines von Neumann) mit ihren die Grenze zwischen Organismen und Technik überschreitenden Begrifflichkeiten und ihren objektivierenden Abbildungen schlugen in dieselbe Kerbe, auch wenn die Evidenzen einer Übereinstimmung dieser Modelle mit physiologischem Geschehen im Nervensystem gering ausfielen. Der Physiologe Ralph Waldo Gerard (1900-1974) regte daher auf der 7. Konferenz im März 1950 mit Nachdruck eine kritische Diskussion über die den kybernetischen Nervennetzmodellen allgemein zugrundeliegenden Analogie Nerven = digitale Schaltorgane an.301 Die analoge Seite, d.h. die biochemischen und auch elektrischen Prozesse sei mindestens genauso wichtig bei der Betrachtung der Funkti-

300 Vgl. z.B. N. Wiener an Markel, 9. Juni 1949, Wiener Papers, MIT MC 22, Kasten 6, Mappe 99. 301 R.W. Gerard in H. von Foerster 1951, vgl. T.H. Abraham 2003b.

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onsweise dieser Bestandteile des Nervensystems. Und abgesehen davon sei allgemein zu wenig über Gehirnprozesse bekannt, als dass man ein gesichertes Abbild des Nervensystems darstellen könne. Gerard appellierte an die Verantwortung der Teilnehmenden nach innen, wie auch nach außen gegenüber der interessierten Öffentlichkeit: „Internally, since we bring expertness in such varied fields, no one can be sure another’s statements are facts or guesses unless the speaker is meticulous in labeling suggestions as that. Externally, our responsibility is even greater, since our statements and writings – which may extend beyond an immediate area of competence – should not give a spurious certainty to a credulous audience, be this audience the lay intelligentsia or that precious company of young physical scientists now finding the happy hunting ground in biology”.302

Veranlasst zu diesem Schritt hatte Gerard der überraschend große Widerhall, auf den die kybernetischen Ideen auch außerhalb der Macy-Konferenzen gestoßen waren. In den großen US Zeitschriften wie Time Magazin, Newsweek und Life waren bereits ausführliche Artikel erschienen, in denen eine unhinterfragte Gleichsetzung von Gehirn und Rechenmaschine stattfand.303 Diese Aussprache markiert einen Wendepunkt in den Hoffnungen der Kybernetiker auf eine schnelle Erkenntnis der neuronalen Grundlagen des Geistes. Die Tagung führte zu einer Sensibilisierung gegenüber der Physiologie der Nerven und ihrer Interaktionen. Die Differenzen zwischen Nervensystem und Computer begannen eine größere Rolle in der allgemeinen wissenschaftlichen Diskussion einzunehmen. Kybernetische Nervennetzmodelle, die den Geist qua einer präzisen Beschreibung der unterliegenden strukturelle Organisation zu ergründen suchten, wurden hinterfragt und in Folge abgelöst durch Modelle, in denen vor allem eine organisationelle Stabilität der Performance des Nervennetzes im Vordergrund standen, nicht eine genaue Beschreibung neuronaler Mechanismen. 304 In diesem Zusammenhang kam es auch zu einer Neubewertung der Interpretation regenerativer Zirkulation. Die Idee eines allgemeinen Gedächtnisspeicher-

302 W. Gerard in H. von Foerster 1951, S. 11. 303 Vgl. z.B. Time Magazin, 23. Januar 1950, E.C. Berkeley 1949. 304 Ausführlich dazu M. Christen 2006, S. 55. Dieser Modellbildungsansatz, heute als Konnektionismus oder Neuronale Netze bekannt, wurde in den 1950er Jahren von dem repräsentationalen Ansatz der KI zurückgedrängt und erfuhr erst gegen Ende der 1980er Jahre eine erneute Renaissance, vgl. z.B. D. Draaisma 1999, M.A. Boden 2008.

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modells, die kurze Zeit zuvor noch begeistert aufgenommen worden war, verschwand zu Beginn der 1950er Jahre fast vollständig unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenzen. Regenerative Zirkulation bzw. deren biologische Begriffsvariante Reverberation, wurde von nun an vor allem als neuronale Basis eines Kurzzeitgedächtnisses in Mensch und Tier betrachtet, wie es Norbert Wiener 1948 postuliert hatte.305 Diese neue Betrachtungsweise trägt deutlich erkennbar die Spuren ihrer kybernetischen Herkunft, zu ihrer Popularisierung trug jedoch maßgeblich der Neuropsychologe Donald Olding Hebb (1904-1985)306 bei. Wie genau an dieser Stelle die ideengeschichtlichen Zusammenhänge waren, kann hier nicht weiter untersucht werden. Hebb hatte 1949 eine Bewertung reverberierender Neuronenketten als Kurzzeitgedächtnis veröffentlicht: In seinem Buch The Organization of Behavior postulierte er reverberierende Aktivitäten als eine vorübergehende Gedächtnisspur, in der die Zirkulation neuronaler Impulse so lange anhielte, bis das Gelernte durch Wachstumsprozesse (Bahnungseffekt) in der Synapse verankert sei. „To account for the permanence, some structural change seems necessary, but a structural growth presumably would require an appreciable time. If some way can be found of supposing that a reverberatory trace might cooperate with the structural change, and carry the memory until the growth change is made, we should be able to recognize the theoretical value of the trace which is an activity only, without having to ascribe all memory to it. The conception of a transient, unstable reverberatory trace is therefore useful, if it is possible to suppose also that some more permanent structural change reinforce it“.307

In den geschlossenen Neuronenketten Lorente de Nós sah Hebb den kurzzeitigen Speichermechanismus, der wirksam würde, bevor Eindrücke, Gedanken etc. im Nervensystem in eine langfristigere Form des Gedächtnisses überführt wür-

305 Von nun an findet eine mögliche maschinelle Analogie keine Erwähnung mehr. Eine Ursache dafür mag auch im technischen Bereich liegen. Zu Beginn der 1950er Jahre gab es neue Speichermedien basierend auf anderen Funktionsprinzipien, näheres dazu vgl. z.B. Time Magazin, 23. Januar 1950. Ringspeicher waren zwar noch bis in die 1960er Jahre im Einsatz. Diese Speichertechnik war jedoch aufgrund der langen Zugriffszeiten zu langsam, da man für den Zugriff immer einen Zirkeldurchlauf abwarten muss. 306 Näheres zu Hebb vgl. D.O. Hebb 1980, P.M. Milner 1993, S.E. Glickman 1998, J. Orbach 1998. 307 D.O. Hebb 1949, S. 62.

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den.308 Hebbs konnektionistische Theorie der zentralnervösen Grundlagen mentaler Aktivitäten basiert auf seiner Vorstellung, dass es nur möglich sei, die Gesamtfunktionalität des Gehirns zu verstehen, wenn die verfügbaren neurophysiologischen, anatomischen und neurologischen Kenntnisse zur Grundlage einer Erklärung von Verhalten gemacht würden. Auch die Physiologie würde davon profitieren, da sie zwar genaue Messungen anstellen, jedoch durch diese Einzelstudien alleine nicht zu einer Theorie der Gesamtfunktionalität des Gehirns vorstoßen könne. Diese Vorstellungen von reverberierender Zirkulation als einer Art Kurzzeitgedächtnis nahm der Physiologe Robert R. Ransmeier im Labor des Physiologen Gerard in Chicago zum Anlass, die These experimentell zu überprüfen. Seine Ergebnisse festigte die Vorstellung kurzzeitiger Speicherprozesse basierend auf Reverberationen. Ransmeier testete das Erlernen räumlicher Orientierung an Hamstern.309 Die Tiere wurden nach Orientierungsläufen in Irrgärten mit Elektroschocks behandelt oder stark gekühlt, um den Einfluss dieser die Gehirnwellen minimierenden Behandlung auf das Erinnerungsvermögen der Tiere zu untersuchen. Die Behandlungen blieben ohne Auswirkungen auf das Gedächtnis der Tiere, wenn sie vier Stunden nach dem Irrgarten appliziert wurden. Je größer jedoch die zeitliche Nähe der Schocktherapie zum Lauf ausfiel, desto bedeutsamere Einschränkungen im Lernprozess machten sich bemerkbar, bis hin zu einem Zeitintervall von einer Minute nach dem Lauf, während dem der Lernprozess vollständig unterbunden wurde. Da auch anders geartete Unterbrechungen nervöser Erregungen im Gehirn, wie beispielsweise durch Entzug von Sauerstoff oder Blutzucker, keinen Einfluss auf langfristige Gedächtnisleistungen besaßen, sprach gegen eine dynamische Speicherung als langfristiges Gedächtnissubstrat. Wenn Gedächtnisprozesse auf kontinuierlichen Aktivitäten im Nervensystem

308 Näheres dazu in D.O. Hebb 1949, 1980. Um zu klären, welchen Einfluss ggf. die Kybernetik auf Hebbs Veröffentlichung aus dem Jahr 1949 hatte, die ihn in seiner Theoriebildung (Kurzzeit-Gedächtnis = reverberierende Zirkulation nach dem Vorbild Norbert Wieners, Lorente de Nós) beeinflusst haben könnten, bedarf es weitergehender Forschung. Hebbs eigene Aussagen sind hier wenig hilfreich: Er erwähnt im Vorwort seiner Veröffentlichung von 1949 zwar Rashevsky bzw. McCulloch und Pitts als Beispiel für einen Versuch, sich durch mathematisches Modellieren dem Verhalten zu nähern. Allerdings bezieht er sich als Vorbild für sein Postulat eines Kurzzeitgedächtnisses basierend auf Reverberationen ausschließlich auf Lorente de Nó bzw. E.R. Hilgard / D.G.Marquis 1940, obwohl letztere bei der Darstellung ihres neuronalen Konditionierungsmodell ausdrücklich auf Rashevsky verweisen. 309 Vgl. R.R. Ransmeier/ W. Gerard 1954.

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beruhen sollten, dann nur in der Anfangsphase bis eine statische Verankerung, höchstwahrscheinlich an den Synapsen, erfolgt sei, so die Schlussfolgerung. Die Bewertung regenerativer Zirkulation bzw. Reverberation als einer Art Kurzzeitgedächtnis wurde letztendlich auch als ein „Ergebnis“ der Macy-Konferenzen festgehalten. Die Herausgeber der Konferenzen VI-X Heinz von Foerster, Margret Mead und Lucas Teuber lobten in ihrem Vorwort zur 8. und 9. Konferenz 1951 bzw. 1953 unter Verweis auf Hebb und McCulloch sogar die guten, weil experimentell überprüfbaren Theorieansätze, die aus dem anfänglich wohl überstrapazierten Konzept entstanden seien: „Undoubtedly, the action of reverberating circuits can be overgeneralized, and has been abused. Long-range memory may need more permanent neural changes, but the notion of such circuits has suggested models of neural activity which are potentially testable and therefore of value“.310

Auch für McCulloch als Vorsitzendem der Konferenzen gehörte die regenerative Zirkulation als eine vorübergehende Form des Gedächtnisses selbstverständlich zu den Konferenzergebnissen. „Closed loops within the central nervous system […] were mentioned as possibly accounting for transitory memories by McCulloch and Pitts, who indicated that they were logically sufficient, but physiologically improbable, as an explanation for all forms of memory”.311

Wie zu erwarten, formulierte McCulloch die Bedeutung der Ketten positiv – und auf seine eigene Forschung bezogen. Während das Modell der regenerativen Zirkulation als Gedächtnisspeicher in der Kybernetik zu Beginn der 1950er Jahre bereits seinen Gipfel überschritten hatte, entfaltete es seinen forschungsleitenden Charakter nun vor allem in der Psychologie: Als neuronaler Mechanismus für das Kurzzeitgedächtnis stellte es über Jahrzehnte ein wirkungsmächtiges Modell dar, dessen Spuren sich bis in psychologische Theorien der heutigen Zeit hinein finden lassen.312 Die Geschichte der regenerativen Zirkulation als neuronales Modell für ein Kurzzeitgedächtnis in der Psychologie wartet jedoch noch auf seine Aufarbeitung.

310 H. von Foerster 1953, S. XVI. 311 W.S. McCulloch in H. von Foerster 1955, S. 73. 312 Vgl. E.R. John 1967, T. Ruch/ H.D. Patton 1979, M. Jeannerod 1985, N. Birbaumer/ R.F. Schmidt 1991, E. Florey 1993.

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3.8 L ORENTE

DE

NÓ –

EIN

K YBERNETIKER ?

Während das dritte Kapitel näher darauf eingeht, auf welche Weise sein Konzept eines geschlossenen Neuronenkreises in der Kybernetik rezipiert und adaptiert wurde, kann Lorente de Nós eigene Rolle in der Kybernetik an dieser Stelle nur skizziert werden: Spätestens ab Mitte der 1940er Jahren stand er in engerem Kontakt mit der Gruppe um McCulloch und von Neumann und war ein reguläres Mitglied der ersten fünf Macy-Konferenzen. Aufgrund seiner Teilnahme bezeichnete Steven Heims ihn als „Kybernetiker“ sui generis.313 Ich dagegen komme zu einer vorsichtigeren Einschätzung. Dass er jemals mehr war als ein „counselor[...], guarantor[...] and informant [...]“, wie Dupuy die Rolle der Physiologen auf den Macy-Konferenzen beschreibt,314 würde ich nach den mir vorliegenden Dokumenten verneinen.315

313 S. Heims 1993. 314 J.-P. Dupuy 1994, S.87. 315 Eine umfangreiche Recherche in Lorente de Nós Nachlass wäre hierfür notwendig, die den Umfang dieser Arbeit jedoch übersteigt. Die Datenlage in den üblichen Archiven und Veröffentlichungen der Kybernetik ist spärlich, Lorente de Nó korrespondierte selten mit Kybernetikern wie Norbert Wiener, Warren McCulloch, Walter Pitts, Arturo Rosenblueth oder John von Neumann. 1948 führten persönliche Zwistigkeiten zwischen Lorente de Nó und Garcia Ramos, einem engem Mitarbeiter von Arturo Rosenblueth, der im Rahmen eines einjährigen Forschungsaufenthaltes in Lorente de Nós Labor am Rockefeller Institute for Medical Research arbeitete, zu schweren Verstimmungen zwischen ihm und Wiener bzw. Rosenblueth, vgl. Wiener Papers, MIT, MC22, Kasten 6. Dies wirkte sich sicher nicht verbessernd auf die Kommunikation mit den anderen Kybernetikern aus. – Zum anderen verhinderte seine langwierige Erkrankung Ende der 1940er Jahre und die anschließende einjährige Erholungsreise durch Europa während des Akademischen Lehrjahres 1950/51 wichtige Veröffentlichungen: Lorente de Nó reichte seinen im Rahmen des Hixon Symposiums 1948 gehaltenen Vortrag nicht schriftlich ein und konnte auch seine während der Konferenz von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mitgeschriebenen Wortbeiträge für die Veröffentlichung des Hixon Symposium Bandes nicht Korrektur lesen. Daher sind nur wenige seiner Wortbeiträge in den Sammelband aufgenommen worden, vgl. L.A. Jeffress, der Herausgeber des Hixon Symposium Sammelbandes, an von Neumann, 3.11.1950, LOC, von Neumann Papers, Kasten 19, Mappe 19. Während der zweiten Staffel der Kybernetik-Konferenzen (6.-10. Treffen) war er nur beim 9. Treffen im Jahr 1952 anwesend; kein Wortbeitrag von ihm ist von dieser Konferenz überliefert, vgl. H. von Foerster et al. 1953.

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In der Formierungsphase der Kybernetik schien Lorente de Nó von der allgemeinen Begeisterung erfasst worden zu sein. Als Spezialist für die funktionelle Anatomie des Cortex war sein Interesse an der Kybernetik bestimmt von der Frage nach allgemeinen Organisationsprinzipien im Nervensystem. Hier erhoffte er sich Anregungen, auch wenn er selbst sich in seiner Forschung in den 1940er Jahren schwerpunktmäßig mit biochemischen Prozessen in peripheren Nerven befasste. 1946 beispielsweise, während des ersten Macy-Treffens nahm er in Bezug auf den Mensch-Maschine-Vergleich eine explorativ-spielerische Haltung ein. Von Neumann hatte dieses Treffen mit einem Vortrag zum Thema „Computing machines: Their formal behavior including memory, learning and recording“ eröffnet. Als Koreferent war Lorente de Nó die Aufgabe zugefallen, für eine biologische Illustration zu sorgen.316 In seinem Referat beschrieb er physiologische Prozesse in Nerven mit Betonung der Ähnlichkeiten zwischen maschinellem und organismischen Verhalten, bzw. deren funktionalen Grundelementen Relais und Nervenzellen. Als Kritik gegen allzu grobe Vereinfachungen vorgebracht wurde, gab er bereitwillig zu, dass er den Vortrag mit Akzentuierung eben dieser Analogie vorbereitet habe. Lorente de Nós Haltung der späten 1940er und frühen 1950er Jahre lässt sich als eher vorsichtig bis kritisch gegenüber kybernetischen Hypothesen beschreiben. Sein anfänglicher Enthusiasmus hatte im Laufe der Jahre einer zunehmenden Skepsis Platz gemacht. Kybernetische Aussagen über die nervliche Organisation betrachtete er als Arbeitshypothesen, die jedoch den Realitäten des Nervensystems standzuhalten hatten. Der Vergleich fiel besonders im Bereich seiner Theorie geschlossener Neuronenketten zu Ungunsten der kybernetischen Hypothesen aus. Im kybernetischen Modell eines Gedächtnisspeichers beispielsweise sah Lorente de Nó das Verhalten zirkulierender Nervenimpulse als nicht korrekt wiedergegeben, denn die Reverberation in geschlossenen Neuronenketten verliefe im Nervensystem nicht konstant, also nicht regenerativ, sondern dekrementierend oder inkrementierend.317 An anderer Stelle kritisierte er: „No, the automaton [der Pitts und McCulloch Automat, das heisst deren kybernetisch erweitertes Modell der logischen Nervennetze, besonders hier der regenerative Zirkel, KSB] does not function in the way that our nervous system does, because the only way in which that could happen [nämlich der Akt des Erinnerns, KSB], as far as I can visualize, is by having some change continuously maintained. Possibly the automaton can be made to

316 Vgl. C. Pias 2004, S. 362. 317 R. Lorente de Nó in L.A. Jeffress 1951, S. 62.

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maintain memory, but the automaton that does would not have the properties of our nervous system. We agree on that, I believe.“318

Um beurteilen zu können, inwieweit Lorente de Nó durch die Kybernetik Anregungen für seine Fragen nach den Organisationsprinzipien der Nerven erhielt,319 bedürfte es weitergehender, vertiefender Forschung. Beispielsweise gäbe hier Lorente de Nós Vortrag, gehalten auf dem Hixon Symposium 1948 unter dem vielversprechenden Titel Models of the Nervous System aufschlussreiche Einblicke;320 er ist jedoch aufgrund einer längerfristigen Erkrankung Lorente de Nós gegen Ende der 1940er Jahre nie veröffentlicht worden (vgl. Fußnote 315). – Ein Brief Lorente de Nós an von Neumann aus den frühen 1950er Jahren zeigt einen Wissenschaftler, der durchaus die Ideen der Kybernetik für sich erwog: „The manner in which you can construct a reliable system out of unreliable elements is in my opinion very important for the understanding of the nervous system, especially of the cerebral cortex […] I cannot say that your plan of organization does apply to the cortex but I can say that your plan may very well apply to the cortex. For this reason your paper, to say the least, offers a plausible explanation of certain features of the structure of the cortex and suggesting working hypothesis for further anatomical studies. As I told you, lack of working hypothesis, that is to say, guiding ideas is one of the greatest difficulties encountered in the study of the fine neuro anatomy“.

321

Dass Lorente de Nó insgesamt zurückhaltend auf die kybernetischen Ideen reagierte und sich von der Begeisterung nicht dauerhaft anstecken ließ, liegt sicher in seiner wissenschaftlichen Ausrichtung begründet. Lorente de Nó suchte mittels seiner Forschung die Funktionsweise des Nervensystems auf Ebene der Mikroorganisation zu verstehen. Die kybernetischen Nervennetzmodelle besonders der späten 1940er Jahre aber waren vor allem auf die Simulation des Geistes ausgerichtet und nicht einer getreuen Wiedergabe funktionaler und struktureller Zusammenhänge im Nervensystem verpflichtet, auch wenn sie sich den Anschein gaben, eben diese abzubilden. Wenn Warren Weaver 1951 behauptete,

318 Ebd, S. 41. 319 Vgl. z.B. ebd., S.57/58. 320 Vgl. APS, McCulloch Papers, BM 139, Collection Nr. 2, Hixon Symposium. 321 R. Lorente de Nó an von Neumann, 31. Oktober 1951, LOC, von Neumann Collection, Kasten 5, Mappe 16, diverse „n“. In diesem Fall wurde Lorente de Nó durch ein nicht näher beschriebenes Manuskript von Neumanns inspiriert. Es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich um erste Entwürfe zu J. von Neumann 1956.

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dass Lorente de Nó, verglichen mit McCulloch, der bessere Wissenschaftler zur Erforschung kybernetischer Fragestellungen sei (wenn er nur jünger und gesünder und an kybernetischen Fragestellungen interessierter wäre), weil er der gründlichere Forscher sei und seine eigenen experimentellen Ergebnisse kritischer bewerte,322 so mag man diese Kritik an McCulloch zutreffend finden oder nicht. Der begeisterungsfähige McCulloch war auf jeden Fall geradezu von der kybernetischen Idee besessen, dass seine Nervennetzmodelle universelle Verkörperungen des Geistes darstellten. Lorente de Nó dagegen lag, wie Weaver treffend feststellte, der Denkstil der Kybernetik fern, in wie auch immer gearteten Modellen des Nervensystems (potentielle) Verkörperungen des Geistes zu sehen. Auch wenn er sich in seiner Laufbahn als Neurowissenschaftler unbefangen vielfältiger Forschungsansätze bedient hatte, eine Erkenntnis (der universellen Grundlagen) des Geistes, wie sie die Kybernetik verfolgte, zählte in keinem Augenblick zu seinen Bestrebungen (vgl. Kapitel 2). Daher hätte Lorente de Nó auch nicht der „bessere“ Kybernetiker sein können, denn m.E. war er gar keiner.

3.9 S CHLUSSBETRACHTUNGEN Nachdem die Frage nach Entstehung und Wesen mentaler Fähigkeiten in der Physiologie seit Beginn des 20. Jahrhunderts weitestgehend ausgeklammert wurde und auch in der vom Behaviorismus dominierten amerikanischen Psychologie der 1920er und 1930er Jahre nur ein Randdasein fristete, machten Kybernetiker, wie McCulloch, von Neumann oder Wiener den Geist und die Frage nach seinen materiellen Grundlagen wieder zu einem naturwissenschaftlich respektablen Thema. Anhand der Hybridisierung Nervensystem - (abstrakte) Rechenmaschine erhofften sie sich neue Erkenntnisse, um die Kluft zwischen materieller und geistiger Welt, lebendiger und toter Materie endlich überbrücken zu können. Als konkrete Ausformungen dieser Ideen entstanden kybernetische Nervennetzmodelle, die von Neumann und McCulloch, basierend auf vereinfachten Nervenzelldarstellungen, entwarfen. Diese kybernetischen Nervennetzmodelle waren offen für immer neue Adaptionen neurophysiologischer, psychophysiologischer und maschineller Analogien, wie anhand der unterschiedlichen Interpretation der regenerativen Zirkulation gezeigt wurde: Während von Neumann im First Draft 1945 zur Modellierung des Gedächtnisspeichers auf das Vorbild der

322 Eintrag WW Diaries, Warren Weaver Diaries 1951, 10. Januar 1951, S.1-3, RG 12.1, Rockefeller Foundation Archives, RAC.

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Funktionsweise des Mercury-Delay-Line Speichers zurückgreift, ist es in seinem Lernautomat 1947 die psychophysiologische Ausformulierung von Lernen als Konditionierung, das er in seinem kybernetischen Nervennetzmodell umsetzt. McCulloch dagegen interpretiert die Zirkel 1943 zuerst nach dem psychophysiologischem Vorbild Rashevskys (Konditionierung = Bahnung), und schwenkt dann in seiner Interpretation regenerativer Zirkulation auf das Vorbild des potentiellen Rechenmaschinenspeichers um, dessen Funktion er frei als Grundlage des Lernens und jeglicher Erkenntnis interpretiert. Die beiden Wissenschaftler befruchteten sich in der Wahl ihrer Vorbilder gegenseitig. Während der aus der Neurophysiologie kommende McCulloch die Rechenmaschine in ihrer Funktion zu seinem Leitstern erhob, um die Grundlagen des Geistes aufzudecken, untersuchte von Neumann das physiologische Vorbild (Konditionierung = Bahnung) auf seine Tauglichkeit hin zur Modellierung von (maschinellen) Lernprozessen. Insgesamt war McCulloch sehr viel enthusiastischer in seiner Bewertung der kybernetischen Nervennetzmodelle als Durchbruch hin zu einer Erkenntnis der (neuronalen) Mechanismen des Geistes als von Neumann. Allerdings verfolgten sie auch unterschiedliche Ziele. Während von Neumann in den kybernetischen Nervennetzmodellen ein Instrument sah, um qua Modellierung intelligenten Verhaltens auch intelligente Rechner konstruieren zu können, suchte McCulloch Antworten auf die große Frage nach dem Zusammenhang zwischen Nervensystem/ Gehirn und geistigen Fähigkeiten. Beide einte jedoch ihre funktionalistische Grundeinstellung. Sie teilen die Ansicht, dass das Substrat des Geistes in seiner Funktionsweise auf formalen mathematischen Regeln basiere und durch dieser „Schaltplan“ unabhängig von jedweder materiellen Verkörperung beschrieben werden könne. Zum Abschluss einer Arbeit, die mit einem Ausflug in die Neurophysiologie und Neuroanatomie begann, möchte ich anhand des Verhältnisses zwischen kybernetischen Nervennetzmodellen und dem Nervensystem die Spezifika dieser kybernetischen Nervennetzmodelle in einer Zusammenschau darstellen. Denn gerade im Bezug zum Nervensystem zeigen sich die Besonderheiten dieser kybernetischen Modelle. Im Unterschied zu den klassischen Neurowissenschaften, in denen das Gehirn bzw. das Nervensystem mit seinen Eigenschaften selbst das Referenzobjekt darstellt, d.h. neurowissenschaftliche Hypothesen anhand experimenteller Ergebnisse und der Evidenz histologischer Schnitten unterstützt oder verworfen werden (vgl. Teil I der vorliegenden Arbeit), wiesen McCulloch und von Neumann kein Interesse an der Wahrnehmung und Darstellung wissenschaftlich fundierter morphologischer Strukturen oder Formen des zentralen Nervensys-

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tems in ihren kybernetischen Nervennetzmodellen auf. Stattdessen bestimmten darin funktionale Zusammenhänge und eine strenge, mathematische Formalisierung die Modellierung. Bei der Modellierung zirkulärer Aktivitäten in geschlossenen Kreisstrukturen wurde beispielsweise nicht viel Wert auf eine originalgetreue Abbildung neurowissenschaftlicher Vorbilder gelegt. Viele der in kybernetischen Nervennetzmodellen beschriebenen Adaptionen lassen sich für die physiologische Realität des Nervensystems sogar ausschließen. So ist die von Rashevsky und von Neumann postulierte Existenz einer geschlossenen Neuronenkette mit nur einem Neuron genauso unwahrscheinlich, wie ein über lange Zeiträume in seiner Intensität gleichbleibender, anhaltender Zirkulationsprozess, von dessen möglichem Vorhandensein letztendlich fast alle beschriebenen Zirkulationen in kybernetischen Nervennetzmodellen ausgehen. Christen schreibt, dass der epistemische Leitsatz der Kybernetik in den 1940er Jahren darin bestand, dass man mehr über das Gehirn zu lernen hoffte, indem man Artefakte konstruierte, die wie Gehirne funktionieren.323 Ich würde die Vorgehensweise im Sinne der vorliegenden Arbeit reformulieren. Sie bestand m.E. darin, Modelle zu entwerfen, die die Funktionsweise des Gehirns mathematisch-technisch konstruierten, dem Gehirn bzw. Nervensystem allerdings nur in zweierlei Hinsicht ähnlich waren: Sie kamen mit anatomischen Details angereichert daher und waren in ihrer Funktionsweise derjenigen des Nervensystems im weitesten Sinne entlehnt. Hagner hat diese Art der Bezugnahme auf das Nervensystem in der Kybernetik folgendermaßen auf den Punkt gebracht. Seines Erachtens ist nicht das Nervensystem selbst der Gegenstand der Untersuchung in der Kybernetik, sondern ein wie er es nennt kybernetisches Modell vom Nervensystem (sic!).324 In diesem bestimmen Abstraktion, Generalisierung und Gesetzmäßigkeiten das Bild. Körpervorgänge werden „charakterisiert [...] durch gesetzmäßige Vorgänge wie Regulation, Symbolverarbeitung oder Rückkopplung“ wie Hagner schreibt.325 Diese Aufzählung müsste m.E. um regenerative Zirkulation ergänzt werden. Vorhandenes neurowissenschaftliches Wissen findet in diesem Modell des Nervensystems zwar seinen Platz – allerdings als biomorphe Interpretationen, angepasst an die spekulativen Dimensionen der kybernetischen Nervennetzmodelle,

323 M. Christen 2006, S. 59. 324 M. Hagner 2006. Hagner vertritt hier die These, dass es sich bei der Favorisierung des Modells in der Kybernetik gegenüber dem Körper selbst um den Ausdruck einer Kritik an bestimmten Arten der Anthropologie handelt, die ihren Ausdruck im Rassenwahn und der Frage nach werten und unwertem Leben gefunden hatte. 325 Ebd., S. 385.

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so dass sich das Modell mit Hagner gesprochen „in einen hypothetischen Raum hinein [entfernt], in dem es um eine spekulative Theorie der neuronalen Mechanismen geht“326. Fox Keller bezeichnet diesen Prozess auch als Schaffung einer „alternativen Realität“ des Nervensystems in der Kybernetik.327 Es ist eben gerade diese „alternative Realität“ des Nervensystems in den kybernetischen Nervennetzmodellen, welche besonders McCulloch, aber auch von Neumann als Ausgangspunkt für ihre Forschung nutzten. Erkenntnisse der (neuronalen) Grundlagen des Geistes suchten sie durch die Konstruktion neuer kybernetische Nervennetzmodelle zu gewinnen. Einerseits betrachteten sie diese dann bereits als a priori Modelle des Geistes. Von einer abstrakten, mathematisch formulierbaren Funktionsweise des Geistes gingen beide aus. Andererseits sah besonders McCulloch in ihnen einen Ausgangspunkt für Experimente in den klassischen Bereichen der neurowissenschaftlichen Erfahrungswissenschaft. Hier erweisen sich die kybernetischen Nervennetzmodelle als typisch proleptisch:328 Einerseits wird angenommen, dass sie die Funktionsweise des Geistes eben schon verkörpern. Andererseits sollen sie genutzt werden, um eben gerade diese geistigen Mechanismen im Nervensystem aufzudecken. Die so konstruierten kybernetischen Nervennetzmodelle, die vor allem durch ihre Berechenbarkeit legitimiert sind, setzen den Rahmen, in dem das Nervensystem – und der Geist – erforscht werden. Die Arbeit beschreibt, wie mit der Hybridisierung der Funktionsweise von Computer und Nervensystem abstrakte, berechenbare Formalismen zum Vorbild und zu einem methodischen Zugang im Verständnis des Geistes aufstiegen. Mit der Hybridisierung ging die Etablierung einer funktionalistischen Perspektive auf das Verhältnis Geist-Gehirn einher, da Vertreter der frühen Kybernetik für sich beanspruchte, nicht nur geistige Fähigkeiten, sondern jegliches Verhalten mathematisch-formalisiert beschreiben zu können – unabhängig vom unterliegenden Substrat. Boden sieht gerade diesem Funktionalismus, in dieser Abstraktion von der Körperlichkeit in dem man von den individuellen Merkmalen und von den ingenieurtechnischen Details absehen konnte, eine wesentliche Bedeutung.329 Eben gerade dieser Ansatz, der die Modellierung des Gehirns als auch

326 Ebd., S. 395. 327 E. Fox Keller 2002, S. 274. 328 Zum Begriff des proleptischen Modells in den Neurowissenschaften, vgl. M. Hagner /C. Borck 1999. 329 M.A. Boden 2008, S. 198.

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von Computern ermöglicht, so Boden330, führte zum frühen Konnektionismus und der symbolischen KI, aber auch den computationalen Neurowissenschaften. Er erlaubte es den Psychologen, die mentalen Prozesse als computationale Prozesse zu betrachten unter weitestgehender Nichtbeachtung des Gehirns. Er bildete die Grundlage des Funktionalismus in der Philosophie des Geistes („Philosophy of Mind“) und der kognitiven Wissenschaften („cognitive science“). Und er erlaubt es, und hier schließt sich der Kreis zur Informatik, Software als vollständig von der Hardware unabhängig zu betrachten.

330 Ebd.



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chenschrift 17, S. 1213-1218, S. 1244-1246, S. 1267-1269, S. 1287-1289, S. 1331-1332, S. 1352-1356. Walshe, F. M. R. (1924): (Review of) Körperstellung. Brain Nr. 47, S. 383-390. Warren, Howard Crosby (1921): A History of the Association Psychology. London: Constable. Wechsler, Israel S. (1941): A Textbook of Clinical Neurology. Philadelphia, London: W. B. Saunders, 4. Auflage. Weidman, Nadine (1996): Psychobiology, Progressivism, and the Anti-Progressive Tradition. Journal of the History of Biology, Band 29, Nr. 2. S. 267-308. Weidman, Nadine M. (1999): Constructing Scientific Biology: Karl Lashley’s mind-brain debates. Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press. Weigert C. (1882): Über eine neue Untersuchungsmethode des Zentralnervensystems. Zentralblatt med. Wiss. 20, S. 753-757, S. 772-774. Wiener, Norbert (1948a): Time, Communication, and the Nervous System. Annals of the New York Academy of Sciences, Bd. 50, Heft 4, S. 197-219. (Erstmals präsentiert als Vortrag in der New York Academy of Sciences am 21. 10. 1946). Wiener, Norbert (1948b): Cybernetics. Cambridge/ Mass: The Technology Press. Wilson, Victor J./ Jones, Geoffrey Melvill (1979): Mammalian Vestibular Physiology. New York, London: Plenum Press. Windle, William F. (1981): Stephen Walter Ranson – Ground-breaking Neuroscientist. Memoirs of Students and Colleagues at His Centenary 28 August 1980. The Regents of the University of California, UCLA Publication Services Department. Winkler, Cornelis (1921): Opera omnia, Bd. 7. Manuel de Neurologie, Bd. 1: L’Anatomie du Système Nerveux, Teil 2. Haarlem: De Erven F. Bohn. Woodworth, Robert S. (1940): Psychology. New York: Henry Holt. 4. Auflage Woodworth, Robert S. (1949): Contemporary schools of Psychology. London: Methuen. 8. Auflage. Woolsey, Thomas A. (1993): Glomérulos, Barrels, Columns and Maps in the Cortex: An Hommage to Dr. Rafael Lorente de Nó. In: Miguel A. Merchán/ José M. Juiz/ Donald A. Godfrey/ Enrico Mugnaini (Hg.), The Mammalian Cochlear Nuclei: Organization and Function. New York, London: Plenum Press. S. 479- 501. Woolsey, Thomas A. (2001): Rafael Lorente de Nó: April 8, 1902 – April 2, 1990. http://www.nap.edu/readingroom/books/biomems/rdeno.html. Zugriff am 7. Juni 2001.

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Young, R. M. (1990): Mind, Brain, and Adaption in the Nineteenth Century. Oxford: Clarendon Press.

V ERWENDETE ARCHIVMATERIALIEN Die Dokumente mit dem Kürzel (APS) stammen aus der American Philosophical Society, Philadelphia, Pennsylvania, USA. Die Dokumente mit dem Kürzel (HML) stammen aus der Simon Gluck Collection des Archivs im Hagley Museum and Library, Wilmington, Delaware, USA. Die Dokumente mit dem Kürzel (MIT) stammen aus dem Archiv des Massachusetts Institute of Technology, Boston, Massachusetts, USA. Die Dokumente mit dem Kürzel (LOC) stammen aus der Library of Congress, Washington D.C., USA. Die Dokumente mit dem Kürzel (RAC) stammen aus dem Rockefeller-ArchiveCenter, North Tarrytown, New York, USA.



Science Studies Celia Brown, Marion Mangelsdorf (Hg.) Alice im Spiegelland Wo sich Kunst und Wissenschaft treffen April 2012, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., inkl. DVD mit Filmen und Musik, 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2082-5

Diego Compagna (Hg.) Leben zwischen Natur und Kultur Zur Neuaushandlung von Natur und Kultur in den Technik- und Lebenswissenschaften Februar 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2009-2

Susanne Draheim Das lernende Selbst in der Hochschulreform: »Ich« ist eine Schnittstelle Subjektdiskurse des Bologna-Prozesses Juli 2012, 242 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2158-7

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Science Studies Stefan Kühl Der Sudoku-Effekt Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift Februar 2012, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1958-4

Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz, Peter Gendolla (Hg.) Akteur-Medien-Theorie Dezember 2012, ca. 800 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1020-8

Christine Wolters, Christof Beyer, Brigitte Lohff (Hg.) Abweichung und Normalität Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit November 2012, ca. 360 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2140-2

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Science Studies Catarina Caetano da Rosa Operationsroboter in Aktion Kontroverse Innovationen in der Medizintechnik Oktober 2012, ca. 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2165-5

Andreas Franzmann Die Disziplin der Neugierde Zum professionalisierten Habitus in den Erfahrungswissenschaften August 2012, 640 Seiten, kart., farb. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2073-3

Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie 2011, 332 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3

Florian Hoof, Eva-Maria Jung, Ulrich Salaschek (Hg.) Jenseits des Labors Transformationen von Wissen zwischen Entstehungs- und Anwendungskontext 2011, 326 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1603-3

Christian Kehrt, Peter Schüssler, Marc-Denis Weitze (Hg.) Neue Technologien in der Gesellschaft Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen 2011, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1573-9

Anna Leuschner Die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft Eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Analyse am Beispiel der Klimaforschung April 2012, 238 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1974-4

Tanja Paulitz Mann und Maschine Eine genealogische Wissenssoziologie des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften, 1850-1930 Oktober 2012, ca. 410 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1804-4

Sibylle Peters Der Vortrag als Performance 2011, 250 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1774-0

Ulrich Salaschek Der Mensch als neuronale Maschine? Zum Einfluss bildgebender Verfahren der Hirnforschung auf erziehungswissenschaftliche Diskurse Februar 2012, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2033-7

Myriam Spörri Reines und gemischtes Blut Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900-1933 Oktober 2012, ca. 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1864-8

Birgit Stammberger Monster und Freaks Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1607-1

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