Funktionales Denken im Strafrecht: Programmatische Vorüberlegungen zu einer funktionalen Methode der Strafrechtswissenschaft [1 ed.] 9783428431748, 9783428031740

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Funktionales Denken im Strafrecht: Programmatische Vorüberlegungen zu einer funktionalen Methode der Strafrechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428431748, 9783428031740

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PETER BRINGEWAT

Funktionales Denken im Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Band 20

Funktionales Denken im Strafrecht Programmatische Vorüberlegungen zu einer funktionalen Methode der Stralrechtswissenschalt

Von

Dr. Peter Bringewat

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

© 1974 Duncker & Humblot, Berlin

41 Gedruckt 1974 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Prlnted In Germany

ISBN 3 428 03174 1

Vorwort Mit der vorliegenden Studie soll nicht die schon seit längerer Zeit teils sehr heftig geführte Diskussion um das Verhältnis von Rechts- und Sozialwissenschaften fortgesetzt und um einige vielleicht neuartige Aspekte erweitert werden. Vielmehr geht die Untersuchung ohne Zweifel an der letztlich wohl unbezweifelbaren strafrechtswissenschaftlichen Relevanz der Sozialwissenschaften der Frage nach, ob und inweit jene kaum mehr zu verleugnenden Disparitäten zwischen einer im herkömmlichen Sinne betriebenen Strafrechtsgewinnung und -anwendung und der in ständiger Entwicklung und Bewegung begriffenen sozialen Realität des für die Gesellschaft normativ gesetzten Strafrechts als ein in erster Linie methodologisches Problem zu begreifen und mit Hilfe einer der Strafrechtsrealität adäquaten Methode aufzuheben sind. Wenn diesem Leitgedanken entsprechend die Methode des funktionalen Denkens daher in ihren Grundlinien unter Rückgriff auf allgemeinmethodologische Prinzipien der funktionalen Analyse sowie auf die funktionale Theorie und Methode der Soziologie konzipiert worden ist, handelt es sich - das muß zur Vermeidung von Mißverständnissen jedweder Art auch an dieser Stelle mit Nachdruck hervorgehoben werden - um nicht mehr als um programmatische Vorüberlegungen zu einer funktionalen Methode in der Strafrechtswissenschaft. Und nur so - nämlich als Experiment in jeder Beziehung - will das methodologische Konzept des funktionalen Strafrechtsdenkens verstanden werden. Nach Abschluß der Manuskriptarbeiten im Frühjahr/Sommer 1973 konnte die zum Teil einzelthematisch einschlägige Literatur nur in beschränktem Umfang berücksichtigt werden. Zu danken habe ich den Herren Professor Dr. Albin Eser, Professor Dr. Niklas Luhmann, Professor Dr. Werner Maihofer und Professor Dr. Gerhard Otte für fördernde Kritik, Anregungen und Hinweise. Die Reinschrift des Manuskripts besorgte Frau Edith Decker. Auch ihr sei dafür gedankt. Bielefeld im Juli 1974

Peter Bringewat

Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt

Ausgangspunkte und Problemfrage

13

1. Einführung ........................................................

13

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft? ................

14

2.1 Die allgemeinen Aufgaben der Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . ..

19

2.2 Das Problem der Methodenvielfalt ..............................

21

2.3 Sozialwissenschaftliche Aspekte des Strafrechts und teleologische Methode ...................................................... 22 2.3.1 Sozialwissenschaftliche Aspekte des Strafrechts ............ 23 2.3.2 Die Struktur der teleologischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 26 2.4 Als Beispiel: Das teleologische System der Straftatmerkmale ....

30

2.4.1 Bisherige Systemkonzeptionen der allgemeinen Verbrechenslehre .................................................... 30 2.4.2 Das teleologische System der Straftatmerkmale als materialer Verbrechensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. 34 2.4.3 Die Wertrationalität des teleologischen Systems der Straftatmerkmale als Grundlage seiner Erkenntnis- und Kontrollfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 35 2.4.4 Die zu fordernde gesellschaftliche Funktion des Straftatbegriffs .................................................. 39

Zweiter Abschnitt

Die methodologischen Prinzipien der funktionalen Methode

49

1. Die Struktur der funktionalen Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

49

2. Als Beispiel: Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie. . ..

55

2.1 Die funktionale Theorie der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2.1.1 Der soziologische Funktionsbegriff ........................ 2.1.2 Grundzüge der strukturell-funktionalen Theorie. . . . . . . . . . ..

55 56 59

2.2 Die funktionale Methode der Soziologie ........................

62

3. Die strafrechtswissenschaftliche Relevanz der methodologischen Prinzipien funktionalen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

66

Inhaltsverzeichnis Dritter Abschnitt

Der strafrechtliche Funktionsbegriff

71

1. Ansätze zu einer funktionalen Begrifjsanalyse im Problembereich der strafrechtlichen Handlungslehre ....................................

72

1.1 Die Klassifikationsfunktion des Handlungsbegriffs ..............

73

1.2 Die Definitions- und Verbindungsfunktion des Handlungsbegriffs

80

1.2.1 Die Definitionsfunktion des (sozialen) Handlungsbegriffs ....

81

1.2.2 Die Verbindungsfunktion des (sozialen) Handlungsbegriffs ..

82

1.3 Die Grenzfunktion des (sozialen) Handlungsbegriffs . . . . . . . . . . . . ..

83

1.4 Zur thematischen Relevanz der funktionalen Begriffsanalyse im Bereich der Handlungslehren ..................................

84

2. Die FunktionaHtät des Tatbestandes ................................

85

2.1 Die Individualisierungsfunktion des Tatbestandes als Deliktstypus ..........................................................

87

2.2 Die unrechtsbegründende Funktion des Tatbestandes als Unrechtstatbestand .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

90

2.3 Die Garantiefunktion des Tatbestandes als Garantietatbestand ..

99

3. Allgemeine Kennzeichnung des strafrechtlichen Funktionsbegrifjs .. .. 103

3.1 Katalogisierung funktionaler Denkansätze in der Strafrechtswissenschaft ...................................................... 104 3.2 Allgemeine Definitionsmerkmale des strafrechtlichen Funktionsbegriffs ...................................................... 108

Vierter Abschnitt

Programmatischer Ansatz zu einer funktionalen Methode der Strafrechtswissenschaft

113

1. Der allgemeine Funktionsbegrifj ..... . ............... . . . .... . ....... 113

2. Der soziologische Funktionsbegriff .................................. 114 3. Der strafrechtliche Funktionsbegriff als Grundelement der funktionalen Methode .................................................... 116

4. Beispiele für den möglichen Anwendungsbereich der funktionalen Methode

.......................................................... 118

5. Differentielle Merkmale im Anwendungsbereich der funktionalen Methode .......................................................... 125

Inhaltsverzeichnis

9

Fünfter Abschnitt

Funktional-teleologisches Denken in der Strafrechtswissenschaft als Entscheidungswissenschaft 1. Strafrechtswissenschaft als Entscheidungswissenschaft

127 128

2. Die Strukturelemente der Entscheidungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130

2.1 Feststellung und Beurteilung von Konfliktverhältnissen . . . . . . . . .. 130 2.2 Die Struktur der Strafrechtsnorm .............................. 132 2.3 Das Entscheidungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136 2.4 Die Grundstruktur der Entscheidungssituation

142

3. Die Struktur des strafrechtlichen Funktionsbegriffs

143

4. Funktional-teleologisches Denken im strafrechtswissenschaftlichen Entscheidungsprozeß .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 145

Sechster Abschnitt

.Äquivalenzfunktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft als Gesetzgebungswissenschaft 1. Entscheidungswissenschaftliche Grenzen der Strafrechtswissenschaft

157 158

1.1 Die Grenzen des Entscheidungsspielraums ...................... 160 1.2 Die methodologischen Grenzen des funktional-teleologischen Denkens .......................................................... 164 2. Strafrechtswissenschaft als Gesetzgebungswissenschaft ...... . ....... 169

2.1 Grundstrukturen sozialer Konflikte ............................ 173 2.2 Die Pluralität von Devianzformen und Normensystemen ........ 176 3. Aquivalenzfunktionales Denken als strafrechtswissenschaftliche Methode zur Ermittlung leistungsfähiger Ordnungsmodelle ............ 179

Siebter Abschnitt

Schlußbetrachtung Literaturverzeichnis

188 191

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

a.E.

am Ende

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts (in Verbindung mit anderen herausgegeben von Peter Badura, Konrad Hesse, Peter Lerche), 'I'übingen

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (gegründet 1907 von Josef Kohler und Fritz Berolzheimer), im Auftrag der internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Verbindung mit anderen herausgegeben von Rudolf Laun und Theodor Viehweg, Würzburg

BGH (St)

Bundesgerichtshof (Entscheidung in Strafsachen)

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht und Strafprozeßrecht

GS

Der Gerichtssaal. Zeitschrift für Zivil- und Militär-Strafrecht und Strafprozeßrecht sowie die ergänzenden Disziplinen, stuttgart

HdS

Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (herausgegeben von Erwin v. Beckerath u. a.)

h.M.

herrschende Meinung

JffiR

Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie (herausgegeben in Verbindung mit anderen von Werner Maihofer und Helmut Schelsky), Bielefeld

JR

Juristische Rundschau

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

KZSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (herausgegeben von Rene König), Köln und Opladen

LdS

Logik der Sozialwissenschaften (herausgegeben von Ernst

Topitsch), Neue Wissenschaftliche Bibliothek (herausgegeben von Gerhard Gäfgen, earl Friedrich Naumann, Jürgen Habermas, Eberhard Lämmert, Hans-Ulrich Wehler), Band 6

LK

Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 9. Aufl. (herausgegeben von Paulheinz Baldus und Günther Willms), Berlin 1971

MaS

Moderne amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie (herausgegeben und eingeleitet von Heinz Hartmann), Stuttgart 1967

Abkürzungsverzeichnis

12 MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NoR

Naturrecht oder Rechtspositivismus? (herausgegeben von Werner Maihofer), 2. Aufl., Darmstadt 1966

Rdnr.

Randnummer

RuP

Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik

SA

Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Köln und Opladen 1970

SchwZStR

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (gegründet von G. Stoß 1888), Bern

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung

WdS

Wörterbuch der Soziologie (herausgegeben von Wilhelm Bernsdorf), 2. Aufl., Stuttgart 1969

ZGS

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Erster Abschnitt

Ausgangspunkte und Prohlemfrage 1. Einführung Die gegenwärtige Situation der Strafrechts wissenschaft ist ein Beispiel für die in allen Bereichen der Rechtswissenschaft zu beobachtende Tendenz, das bisherige Selbstverständnis von Rechtsfindung und Rechtsanwendung nachdrücklich in Frage zu stellen. Sichtbarster Ausdruck dafür ist eine allmählich einsetzende kritische Selbstreflexion auch der Strafrechtswissenschaft auf die Gültigkeit und Haltbarkeit der eigenen Grundlagen. Die Zweifel etwa an der Leistungsfähigkeit einer konventionellen Strafrechtsdogmatik nehmen angesichts der ständig wachsenden Komplexität sozialer Prozesse zu. In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß sich die Strafrechtswissenschaft immer häufiger mit Problemkonstellationen konfrontiert sieht, die mit Hilfe herkömmlicher Denkkategorien und Methoden offenbar nur unzureichend erfaßt werden können!: Unbestreitbar existieren Diskrepanzen zwischen strafrechtswissenschaftlichen Forschungsergebnissen und der Strafrechtsrealität2 • Dieser Aspekt rechtfertigt die drängenden Forderungen nach einer an der sozialen Realität orientierten Strafrechtswissenschaft. Der "Triumphzug der Sozialwissenschaften" und die "Abdankung der Normwissenschaften" als sein scheinbares Korrelat ist ebensowenig wie der stets als unumgänglich notwendig beschworene Wirklichkeitsbezug des Strafrechts lediglich die Manifestation eines modischen Trends 3 • Vielmehr verbirgt sich hinter diesen, fast schon zum Klischee modernistischer Prägung erstarrten Schlagworten die Erkenntnis, daß eine Strafrechtswissenschaft nur lebendig bleibt, wenn sie sich an der sozialen Wirklichkeit orientiert4, weil das Grundlegende und Wegweisende für Rechtsanwendung und Rechtserkenntnis aus der sozialen Realität selbst gefunden werden muß5. Ebenso Krawietz, Funktion und Grenze, RuP 6 (1970), S. 153. Die Reformdiskussion um § 218 ist nur ein, wenn auch symptomatisches, Beispiel für diese Feststellung. 3 Ähnlich auch Mütler-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S. 105 ff. 4 So auch Würtenberger, Geistige Situation, S. 5. 5 In diesem Sinne Esser, Vorverständnis, S.18. 1

2

Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

14

Diese Erkentnnis enthält den Leitgedanken für jedwede Art von Rechtsgewinnung. Seine Umsetzung in die Gestaltung und Handhabung des Strafrechts scheint jedoch nur unzureichend realisiert, wenn immer wieder mahnend auf Disparitäten zwischen der im herkömmlichen Sinne betriebenen Strafrechtswissenschaft und einer in ständiger Entwicklung begriffenen Strafrechtswirklichkeit hingewiesen wird. Dem entspricht das nicht selten anzutreffende, bisweilen scheinbar im Dualismus ausgeartete, formale Nebeneinander von strafrechtlicher Praxis und Theorie6 • Die verstärkt zu beobachtende Nichtübereinstimmung zwischen dem, was als Strafrecht faktisch in einer Gesellschaft gelebt wird, und dem, was normativ als Strafrecht für diese Gesellschaft gesetzt ist7, kann nicht allein auf eine fehlende Kommunikation zwischen Strafrechtstheorie und Strafrechtspraxis zurückgeführt werdens. Derartige "soziologische Differenzen"7 haben bestimmte Vorbedingungen, die in erster Linie in der jeweils gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation zu suchen sind. Als deren heutiges Charakteristikum kennzeichnet ein fundamentaler und in den Auswirkungen seiner stetigen Weiterentwicklung kaum mehr überschaubarer Strukturwandel im Sozialgefüge 9 mit allen Folgeerscheinungen die gesellschaftliche Realität. Von diesem "soziologischen Tatbestand" muß eine Strafrechtswissenschaft entsprechend dem Leitgedanken jeder Rechtsgewinnung ausgehen, wenn bestehende Diskrepanzen zwischen Strafrecht und Strafrechtsrealität im sozialen Leben aufgehoben und das Entstehen neuer "soziologischer Differenzen" verhindert werden sollen. Eine ununterbrochene Orientierung der Strafrechtswissenschaft an sozialpolitischen Gegebenheiten ist somit notwendig. 2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

Aus der erforderlichen Orientierung der Strafrechtswissenschaft an sozialpolitischen Entwicklungsprozessen muß zugleich ihre Arbeitsweise resultieren. Die Dynamik der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit vermag die Strafrechtswissenschaft sicher nicht zu kompensieren, wenn sie das Strafrecht "als einen Gegenstand an sich und einen Zweck für sich" begreift, "über den man, abstrahiert und isoliert von allen gesellschaftlichen und menschlichen Voraussetzungen und Zielsetzungen, mit end6 Dazu Klüver/Priester/Schmidt/Wolf, Rechtstheorie Wissenschaftstheorie des Rechts, in: Rechtstheorie, S.l. 7 Zu dieser Definition der sog. "soziologischen Differenz", die hier übernommen wird, vgl. Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, JfRR 1

(1970), S. 19 ff. S

Vgl. auch Maihofer, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie,

S.254. 9

Jaspers, Wo stehen wir heute?, S. 473 ff.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

15

gültigem Aussagewert für irgendeinen Akt der Gestaltung und Handhabung des Strafrechts reflektieren und argumentieren könnte"!. Eine so als l'art pour l'art betriebene Strafrechtswissenschaft2 mit ihrer wissenschaftlichen Betrachtung des Strafrechts in "interesselosem Wohlgefallen" (Kant) verliert zwangsläufig auf Grund der vorausgesetzten Denkstrukturen jeden Bezug zur sozialen Realität. Ohne "engagiertes Erkenntnisinteresse" (Habermas) kommt daher eine realitätsbezogene Strafrechtswissenschaft nicht aus 3 • Diese Feststellung entzieht zugleich jedenfalls jenem Naturrechtsdenken den Boden, das ausschließlich auf der Vorstellung von der "Natur der Sache" als bloßer Stoffbestimmtheit der (Straf-)Rechtsidee basiert 4 • Diese Auffassung nimmt der Realität, zu der sich die Rechtsidee im Rechtsstoff nach Gestalt, Gehalt, Sinn und Wert materialisieren soll, im Vergleich zur Idee jegliche Selbständigkeit und Eigentümlichkeit5 • Strafrechtserkenntnis wäre dann gleichbedeutend mit dem Wiederfinden der visionär vorausbestimmten Rechtsidee in dem von ihr zu gestaltenden Rechtsstoff, im Falle ihrer übereinstimmung mit der Strafrechtsrealität letztlich also ein "Glücksfall der Intuition" (Radbruch) und damit unmethodisches Erkennen. Ein derartiges Vorgehen ist nicht geeignet, das Grundlegende und Wegweisende für die Rechtsgewinnung und Rechtsanwendung6 so zu ermitteln, daß "soziologische Differenzen" von der Strafrechtswissenschaft vermieden werden könnten. Dieses Erkentnisziel erfordert vielmehr eine Methode, die das Verhältnis zwischen gedachter und faktischer Wirkung strafrechtlicher Erkenntnisse und Entscheidungen im sozialen Raum kritisch analysiert und auch bisher unbekannte Richtigkeitskriterien in den strafrechtswissenschaftlichen Erkenntnisprozeß integriert. Sowohl der noch immer spürbare Einfluß eines szientistischen Wissenschaftsbegriffs als auch das Fehlen einer der Komplexität sozialer Konflikte adäquaten Methode scheinen die wesentlichen Gründe für die oftmals vorschnelle Diskreditierung des Strafrechts zu sein7 • Maihofer, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, S. 248. Dazu Priester, Das Prinzip der Wertfreiheit, S. 35 ff. a Vgl. auch Maihojer, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie,

1 2

S.254. 4 So aber Radbruch, Rechtsidee und Rechtsstoff, S. 343 bzw. S. 5: "Wie die künstlerische Idee sich dem Material bequemt, eine andere ist, wenn sie in Bronce, eine andere, wenn sie in Marmor sich verkörpern will, so ist es jeder Idee eingeboren, materialgerecht zu sein. Wir nennen dies Verhältnis die Stoffbestimmtheit der Idee ... "; vgl. noch ders., Die Natur der Sache als juristische Denkform, S. 157 ff.; ders., Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 19 ff.; ders., Rechtsphilosophie, S. 97 ff.; ferner Engisch, Form und Stoff, S. 81 ff. 5 So mit Recht Maihojer, Die Natur der Sache, S. 53 bzw. 146; vgl. demgegenüber aber auch Baratta, Natur der Sache und Naturrecht, S. 104 ff., insbesondere S. 134 ff. G Vgl. oben S. 13. 7 vgl. auch Lange, Die Krise des Strafrechts und seiner Wissenschaften, S.15 ff.

16

Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

Das alles gilt in ähnlicher Weise offenbar auch für die Strafrechtsdogmatik, die zentrale und beherrschende Disziplin der Strafrechtswissenschaft. Diesen Eindruck vermittelt zumindest die neuere strafrechtswissenschaftliche Diskussion mit ihrem Bemühen, einen Sinnzusammenhang zwischen sozialwissenschaftlichen und strafrechtsdogmatischen Forschungsergebnissen herzustellen8 • Die Konfrontation mit den Sozialwissenschaften hat mit Recht das Selbstverständnis der tradierten Strafrechtsdogmatik und ihrer praktischen Leistungsfähigkeit erschüttert. Symptomatisch dafür ist nicht etwa nur das einer Gegenüberstellung von Sozial- und Strafrechtswissenschaft inhärente wissenschaftstheoretische Problem, ob und in welcher Weise sich die Strafrechtsdogmatik disziplinär von der Sozialwissenschaft abheben läßt9 • Die Strafrechtsdogmatik kann sich auch nicht mehr der Existenzfrage entziehen, ob sie als "science pure"10 mit ihrer subtilen begrifflichen Verfeinerung l l des positiven Rechts überhaupt noch sinnvoll betrieben werden kann. Verlangt nicht vielmehr die der Strafrechtsdogmatik zugedachte Aufgabe, Richtigkeitskriterien für die Rechtsfallentscheidung bereitzustellen 12 , eine umfassende Ergänzung und Korrektur der strafrechtsdogmatischen Rechtsgewinnung und -anwendung durch sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse sowie deren Transformation in strafrechtsdogmatische Entscheidungskriterien 13? Die Relevanz des von einer etwa soziologischen Kategorienlehre erarbeiteten begrifflichen Instrumentariums für die Strafrechtsdogmatik14 läßt sich kaum bestreiten: ,,(Soziale) Handlung" und ,,(soziale) Norm" tauchen auch in der Strafrechtsdogmatik als begriffliche und systematische 8 Statt aller vgl. Lange, Die Krise des Strafrechts und seiner Wissenschaften, S. 15 ff.; MüHer-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechts dogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S. 105 ff.; O"deig, Hat die Strafrechtsdogmatik eine Zukunft?, ZStW 82 (1970), S. 379 ff.; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 5 ff.; Würtenberger, Geistige Situation, S. 1 - 46 jeweils mit weiteren Nachweisen. 9 Dazu allgemein Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, S. 117 ff.; Würtenberger, Strafrechtsdogmatik und Soziologie, in: Kriminalpolitik, S. 27 ff.; vgl. noch MüHer-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S. 107 mit weiteren Nachweisen; Naucke, Wissenschaftsbegriff - Rechtssoziologie - Rechtspraxis, S. 79 ff. 10 So treffend MüHer-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S.114. 11 Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 3, 4. 12 Ähnlich Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, S. 316 ff. 13 Dazu etwa Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 85 f., 112 ff. (Die Konkretisierung als Hinwendung zum Realen); Würtenberger, Strafrechtsdogmatik und Soziologie, in: Kriminalpolitik, S. 37 ff. 14 Vgl. dazu grundsätzlich Naucke, über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, S. 13 ff.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

17

Kategorien auf. Zwar kann allein die gleichlautende Formulierung einzelner Definitionen und Begriffe die (dialektische) Spannung zwischen der Strafrechtsdogmatik und den Sozialwissenschaften nicht aufheben l5 , aber sie unterstreicht, daß soziale Fakten und strafrechts dogmatische Erkenntnisprozesse untrennbar miteinander verbunden sind und die Anwendung strafrechtlicher Normen zuvor die Umsetzung sozialer Fakten mit normativer Struktur in strafrechtsdogmatische Entscheidungskriterien erforderlich macht. Dieser Befund kann zwangsläufig nicht ohne Auswirkungen auf das Verfahren zur rationalen Verifizierung16 der den strafrechtlichen Lösungen sozialer Konflikte zu Grunde liegenden Begründungszusammenhänge bleiben, als das sich die traditionelle Strafrechtsdogmatik versteht. In erster Linie sind die strafrechtliche Begriffs- und Systembildung davon betroffen l7 • Das zeigt sich deutlich an der Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs l8 , dessen Umschreibung des für das Strafrecht relevanten menschlichen Verhaltens inhaltlich auch von außerstrafrechtlichen Kriterien normativer und (oder) faktischer Art bestimmt wird l9 : Immer mehr rückt der soziale Sinngehalt als wesentliches Merkmal in den Vordergrund des für die strafrechtliche Tatbestandslehre teilweise als konstitutiv angesehenen Handlungsbegriffs 20 • Ähnliche Tendenzen kommen in der Auseinandersetzung um den Schuldbegriff zum Ausdruck21 • Sozialwissenschaftliche Aspekte finden zuneh15 Zum Kommunikationsproblem zwischen den Sozialwissenschaften und der Strafrechtsdogmatik vgl. etwa MüHer-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, S. 147; ferner allgemein zur Bedeutung der Sprache Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 66 ff., 74 ff. 16 Zu diesem Erfordernis der Rechtsdogmatik vgl. allgemein Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, S. 316. 17 Vgl. dazu das treffende Bild von Lange, Die Krise des Strafrechts und seiner Wissenschaften, S. 33: "Untersuchungen, die sich auf das System des Verbrechensbegriffs beschränken und dessen Oberbegriffe neu gruppieren wollen, haben keinen größeren Wert, als wenn man die Möbel in der Wohnung umstellt. Man gewinnt keinen neuen Raum damit." (Hervorhebung von mir.) 18 Dazu etwa Jescheck, Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung, S. 139 ff.; Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur der Handlung, S. 79 ff.; Maihofer, Der soziale Handlungsbegriff, S. 156 ff.; Eb. Schmidt, Soziale Handlungslehre, S. 339 ff.; Wolff, Das Problem der Handlung im Strafrecht, S. 291 ff.; vgl. ferner Michaelowa, Der Begriff der strafrechtswidrigen Handlung, S. 12 ff.; Roxin, Zur Kritik der finalen Handlungslehre, ZStW 74 (1962), S. 515 ff. 19 So auch MüHer-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechts dogmatik, in: 20 Vgl. aber auch Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. zum AT, Rdnr. 36: Strafrechtsdogmatik, S. 120. "Im übrigen dürfte die Erkenntnis zunehmen, daß der Handlungsbegriff dogmatisch letztlich unergiebig ist." Vgl. ferner Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 6 mit dortiger Anm. 15. 21 Dazu Müller-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S. 126 f.; ferner Ordeig, Hat die Strafrechtsdogmatik eine Zukunft?, ZStW 82 (1970), S. 382 f., jeweils mit weiteren Nachweisen.

2 Bringewat

18

Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

mend Eingang in die Frage nach dem Sinn der Strafe22 und der Rationalität in der Strafzumessungspraxis23 , die unmittelbar in die Problematik der modernen, auf kriminologische und kriminalsoziologische Forschung angewiesenen, kriminalpolitischen Konzeptionen der Strafrechtswissenschaft übergeht24 • Die Strafrechtsdogmatik sieht sich jedoch auch im Hinblick auf das Strafrechtssystem und die Ausformung leistungsfähiger Subsysteme vor neue Aufgaben gestellt25 • Die nicht nur auf die Strafrechtswissenschaft beschränkten Bemühungen, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse auch systemtheoretisch zu bewältigen, haben zu einer Art inflationären Entwicklung verschiedenartigster Systemmodelle geführt26 : Der praktische Ertrag selbst eines offenen und beweglichen axiologischen Systemmodells sieht sich zahlreichen Zweifeln und Bedenken ausgesetzt27 • Andererseits ist eine Abkehr von der systematischen Durchdringung der Rechtsmaterie mit der Gefahr von Störungen der Erwartungssicherheit im Rechtsanwendungsprozeß auch dann keine geeignete Argumentationsbasis, wenn zwar auf solche Weise tatsächlich soziale Fakten und sozialnormative Verhaltensstrukturen in die strafrechtsdogmatische Arbeit einfließen könnten, sich aber damit zugleich die potentielle Gefahr irrationaler Entscheidungen bei der Rechtsanwendung aktualisiert. Es liegt daher nahe, nicht grundsätzlich auf Systembildungen zu verzichten, sondern den Grund für die schwierige und oft nicht zu leistende Transformation sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in das Strafrechtssystem in dessen dogmatischen Fehlansätzen zu suchen28 • Die den strafrechts dogmatischen Rechtserkenntnissen wegen ihres oftmals fehlenden Bezugs zur sozialen Wirklichkeit zunehmend mangelnde Resonanz im gesellschaftlichen Raum sowie der damit einhergehende Effizienzverlust bei der Regulierung sozialer Konflikte erweist sich daher vorwiegend als ein methodologisches Problem. Die Wahl der Methode hängt in erster Linie davon ab, welche Aufgaben die Strafrechtsdogmatik innerhalb der gesamten StrafrechtsVgl. statt aller Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, S. 34 ff. Dazu Haag, Messung wertrationaler Komponenten, S. 417 ff. 24 Ähnlich Müller-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S. 142 f. 25 Zur Notwendigkeit eines systematischen Strafrechts vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechts system, S. 5, 6, insbesondere Anm. 16 und dortige Nachweise. 26 Zum überblick vgl. etwa Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 19 ff. 27 Dazu Viehweg, Topik und Jurisprudenz, S. 55 ff.; aber auch Engisch, Rechtsphilosophie, zstw 69 (1957), S. 596 ff., insbesondere S. 600 f.; Otte, Zwanzig Jahre Topik-Diskussion, S. 183 ff., insbesondere Anm. 31 mit Nachweisen; vgl. noch Wieacker, Buchbesprechungen, S.107 ff. 28 So zu Recht Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechts system, S. 6, 7. 22

23

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

19

wissenschaft zu erfüllen hat. Dieser Aufgabenbereich soll daher grob skizziert werden. 2.1. Die allgemeinen Aufgaben der Stralrechtsdogmatik

In der Dimension der Gesetzlichkeit und Positivität29 artikuliert sich das Strafrecht als ein konsensfähiges Ordnungsprogramm30 , das darauf angelegt ist, soziale Sachverhalte effektiv zu regulieren. Die strafrechtliche Lösung von Interessen- und Erwartungskonflikten erfordert daher rationale, kognitive Prozesse, die nachvollziehbar sein müssen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Rechtsanwendung und Rechtsgewinnung aus dem geltenden Strafrecht für jedermann sichtbar mit Hilfe von bereits vorhandenen Rechtsfiguren und Rechtsregeln nachzuweisen ist30 • Die Positivität und Gesetzlichkeit des Strafrechts ist damit zwar Voraussetzung seiner Effektivität als Regelungsprogramm für und in der Gesellschaft, aber allein durch seine konkrete Existenz vermag das in einem legislativen Akt oder in anderer Form3l positivierte Strafrecht soziale Konflikte nicht endgültig zu lösen. Das Strafrecht kann daher nicht darauf verzichten, daß seine Normen tatsächlich angewandt werden. Solche zur Konfliktlösung notwendige Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall verlangt die Reduktion denkbarer Lebenssachverhalte auf einige wenige von der Einzelsituation abstrahierte strafrechtliche Kriterien und Maßstäbe, die sich dann als strafrechtsrelevante Tatbestandsmerkmale in der Einzelfallentscheidung niederschlagen 32 • Eine auf Kontinuität bedachte Anwendung des Strafrechts benötigt somit ein System, das die Merkmale und strafrechtlichen Begriffe für die strafrechtlichen Einzelfallentscheidungen in den sich aus empirisch feststell baren sozialen Sachverhalten konstituierenden Konflikten 33 bereithält. Ein solches System zu entwickeln, setzt die Reflexion des Strafrechts auf seine positive und gesetzliche Richtigkeit voraus. Diese Aufgabe stellt sich vorrangig der Strafrechts dogmatik. Sie setzt sich in erster Linie das Ziel, durch wissenschaftliche Arbeit am strafrechtlichen Normenkomplex das Strafrecht für seine Anwendung bei der Konfliktlösung aufzubereiten. Das geschieht durch Systematisierung und Typisierung der bereits in den strafrechtlichen Normen selbst vorhandenen Lösungs28 Zur Mehrdimensionalität des Rechts allgemein vgl. Maihofer, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, S. 254, 255 ff.; ferner M. Rehbinder, Einführung in die Rechtssoziologie, S. 4 ff. 30 Esser, Vorverständnis, S. 14 ff. 31 Zur Möglichkeit, dem Richterrecht im Strafrecht eine Art Rechtsquellencharakter zuzuweisen, vgl. Bringewat, Gewohnheitsrecht und Richterrecht, ZStw 84 (1972), S. 585 ff. 32 Allgemein dazu Esser, Vorverständnis, S.16. 33 Dazu allgemein Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, S. 9 ff., 70 ff.

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

muster für soziale Ordnungsprobleme 34 • Insoweit fungiert die Strafrechtsdogmatik als Ermittler von Entscheidungskriterien, die sie zur Vermeidung dauernder Neuargumentation erarbeitet und so zugleich die autonome Verbesserung ihrer Selektionsleistung ermöglicht35 • Hierbei handelt es sich jedoch stets um Vorgänge, die sich innerhalb des durch das positive und gesetzte Strafrecht vorgegebene Strafrechtssystem abspielen36 • Dementsprechend reflektiert die Strafrechtsdogmatik das Strafrecht offensichtlich nur auf seine systeminterne Richtigkeit. In ähnlicher Weise erfüllt die Strafrechtsdogmatik ihre Aufgabe der Begriffsbildung: Jeder entwickelte Rechtsbegriff behauptet ohne Rücksicht auf seinen Entstehungsprozeß und seine semantische Umsetzung immer nur eine von der Bewährung des ihn implizierenden Strafrechtssystems abhängige Richtigkeit 37 • Historische oder rechtspolitische Relativierungen und Problematisierungen kann die Strafrechts dogmatik bei der Begriffsbildung kaum erbringen 38 • Auf Grund ihrer Systemkonformität läuft die Strafrechtsdogmatik daher Gefahr, die Ergebnisse strafrechtlicher Evolutionen nicht verarbeiten zu können, und setzt sich damit zwangsläufig dem Verdacht aus, in traditionellen Denkformen und -kategorien apologetisch zu verharren. Die Strafrechtsdogmatik muß jedoch stets darauf bedacht sein, die Konsensfähigkeit ihrer Erkenntnisse und Entscheidungen in der Gesellschaft zu erhalten. Sie muß daher ihre Denkmodelle zur Konfliktlösung lebensnah, der dynamischen Sozialentwicklung angepaßt, gestalten und ausformen. Bei neuartigen Konfliktkonstellationen und Bewertungsproblemen wie auch im Hinblick auf veränderte Ansichten über deren Regelungsbedürftigkeit und -art muß die Strafrechts dogmatik somit in der Lage sein, die bisher anerkannten Teile des strafrechtlichen Ordnungsprogramms unter dem Aspekt gerade der neuartigen Problemund Konfliktlagen so zu modifizieren, daß durch entsprechend neuartige Entscheidungskriterien die Abstützung konkreter Konfliktlösungen durch intersubjektiven Konsens möglich bleibt. Welche Methode aber ist für die sachgerechte Erfüllung dieser und daraus folgender weiterer Aufgaben erforderlich und geeignet? 34 Zu dieser weiteren Aufgabe vgl. Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 121 ff.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 50 ff.; ders., Einführung in das juristische Denken, S. 43 ff.; Esser, Vorverständnis, S. 71 ff.; Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 17 ff., 84 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 149 ff.; Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, S. 312 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen. 35 Ähnlich Esser, Vorverständnis, S. 88. 36 Allgemein dazu vgl. Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, S. 311 ff. 37 So zu Recht Esser, Vorverständnis, S. 89 ff. 38 Zur genau umgekehrten Fragestellung vgl. Betti, Moderne dogmatische Begriffsbildung, S. 87 ff.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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2.2. Das Problem der MethodenvielfaIt

Die strafrechtsdogmatische Arbeit am strafrechtlichen Normenkomplex als Voraussetzung der Rechtsanwendung im Einzelfall besteht nicht allein aus einer Untersuchung der strafrechtlichen Regeln mit Mitteln der formalen oder materialen Logik 39 , die sich vornehmlich dem Aufbau und den verschiedenartigen Strukturen strafrechtlicher Normen unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die strafrechtsdogmatische Argumentationsbasis widmet. Rechtsanwendung verlangt stets auch die Interpretation und Konkretisierung strafrechtlicher Normen und Normenkomplexe, weil erst dadurch die Komplexität sozialer Konflikte reduziert und absorbiert wird40 derart, daß strafrechtliche Einzelfallentscheidungen möglich werden. Insbesondere in diesem Bereich strafrechtsdogmatischer Entscheidungsvorbereitung entsteht das Problem, die Vielzahl denkbarer Methoden im Hinblick auf ihre Eignung zur Vermittlung brauchbarer Entscheidungskriterien einem rationalen Selektionsverfahren zu unterwerfen. Sehr zweifelhaft wäre das Unterfangen, einen derartigen - nicht nur theoretisch denkbaren, sondern auch tatsächlich praktizierten41 - Methodenpluralismus als Stufenbau in Form eines algorithmischen Katalogs von Befragungsstufen zu denken und für die Interpretation strafrechtlicher Normen nutzbar zu machen42 • Aber auch die unkontrollierte Vermengung der verschiedenartigen Methoden ist kein Weg aus diesem Dilemma43 • So stehen heute gleichermaßen die historische, grammatische, logische, systematische und teleologische Methode bei der Interpretation und Konkretisierung von (Straf-)Rechtssätzen zur Verfügung. Diese Auswahlmöglichkeiten scheinen in der Tat die Rechtsanwendung und Rechtsgewinnung in einen "okkasionellen Kunstgriff" zu verwandeln44 • Trotzdem ist bislang die Frage der rationalen Entscheidbarkeit der Methodenwahl nicht gelöst 45 • Mit Recht macht Esser46 darauf aufmerksam, daß sich immer dann, wenn gewonnene Auslegungsergebnisse als 39 Dazu vgl. Engisch, Aufgaben einer Logik und Methodik des juristischen Denkens, S. 78 ff.; ders., Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 8 ff.; ferner Klug, Juristische Logik, S. 1 ff.; Tammelo, Rechtslogik und materiale Gerechtigkeit, S. 14 ff. 40 Ähnlich Esser, Vorverständnis, S. 125. 41 Als Beispiele vgl. die Nachweise bei Esser, Vorverständnis, S. 122 f., Anm.18 - 22. 42 Dazu KrieLe, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 85 ff.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 117 ff., insbesondere S. 122 - 127. 43 So mit Recht Esser, Vorverständnis, S. 122. 44 MüHer, Normstruktur und Normativität, S. 48. 45 Zu diesem Problem vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 176 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denker" S. 63 ff.; vgl. auch Coing, Die juristische Auslegungsmethode, S. 23 ff. 46 Esser, Vorverständnis, S. 124.

Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

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das Resultat eines Abwägens von Argumenten und Auslegungsgesichtspunkten herausfallen, die Frage nach den legitimen Gründen gerade dieser Abwägung als Zentralfrage der Methodenlehre erweist. Somit entsteht der Eindruck, als müsse dem Methodenpluralismus resignativ freier Lauf gelassen werden in der - vielleicht auch begründeten Hoffnung, daß "die immer größer werdende Palette des methodologischen Angebots schon zum richtigen Ergebnis führen werde"47. Indes lassen sich die verschiedenen Methoden unter dem Blickwinkel der Bezogenheit strafrechtsdogmatischer Argumentation auf konkrete Konfliktlösungen als ein durch Kooperation charakterisierter Sachzusammenhang begreifen. Damit ist weder ein algorithmisches Schema noch eine planlose Verflechtung der unterschiedlichen Methoden gefordert, sondern eine zweckgebundene Kombination sämtlicher Methoden bei gleichzeitiger Respektierung ihrer vielfältigen Bezugspunkte. Es ließe sich nachweisen, daß gerade die Verschiedenheit dieser Bezugspunkte gleichsam die Projektion der dem gesamten Strafrechtssystem zu Grunde liegenden Prinzipien abgibt. Mit dem Bekenntnis zur teleologischen Methode sowohl hinsichtlich der Konkretisierung strafrechtlicher Normen, als auch in bezug auf die eigenständige Begriffs-48 und Systembildung49 scheint offenbar die vorerst letzte Modalität strafrechts dogmatischer und allgemeiner strafrechtswissenschaftlicher Methodik erreicht 49 . Unter diesem Aspekt ist daher die Frage zu stellen, ob die Strafrechtswissenschaft auf der methodologischen Basis des teleologischen Denkens realitäts gerechte Erkenntnisse zu produzieren vermag, ob also im "teleologischen Bild des Strafrechtssystems" soziale Faktizitäten und sozialnormative Strukturen eine sachgerechte Transformation in strafrechtliche Kategorien erfahren. 2.3. Sozialwissenschaftliche Aspekte des Strafrechts und teleologische Methode

Das teleologische Verfahren wird gern als die Krone der juristischen Methoden apostrophiert, weil "es auf das eigentliche Ziel aller RechtsEsser, Vorverständnis, S. 124 ff. Dazu Mittasch, Wertbeziehendes Denken in der Strafrechtssystematik, S. 18 ff.; Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 19 ff.; vgl. aber auch Schaffstein, Teleologische Begriffsbildung, S. 13 ff.; vgl. auch Jescheck, Strafrecht AT, § 17 IV 1 b mit weiteren Nachweisen. 47

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49 Vgl. dazu etwa die teleologische Systematik der Straftatmerkmale zur überwindung des Gegeneinanders von herkömmlicher Lehre und finaler Handlungslehre (so das Vorwort) bei Schmidhäuser, Strafrecht AT 6/1 ff.; dazu auch Roxin, Ein "neues Bild" des Strafrechtssystems, zStw 83 (1971), S. 369 ff., insbesondere S. 404: "Der (im ganzen wie im einzelnen) gewaltig anregenden Kraft (dieses Buches) wird sich die Strafrechtsdogmatik der nächsten Jahrzehnte in keiner Frage entziehen können" (Parenthesen und Hervorhebung von mir).

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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anwendung zusteuert, die Zweck- und Wertgesichtspunkte herausarbeiten, aus denen der maßgebliche Sinn des positiven Rechts letztlich bindend zu erschließen ist"5o. Aber gerade die Erschließung von Zweckund Wertgedanken zur Sinnkonkretisierung des positiven Strafrechts wird von den Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Forschung in vielfältiger Weise problematisiert.

2.3.1. Sozialwissenschaftliehe Aspekte des Strafrechts Das gilt insbesondere für die heute generell als sachrichtige Aussage anerkannte These von der Existenz intensiver, aber nur schwer lokalisierbarer und abschätzbarer Wechselbeziehungen zwischen dem Strafrecht und sozialen Entwicklungsprozessen51 . Das Problem, ob sich das Ordnungsprogramm strafrechtlicher Normen und die Regulationsmechanismen der Sozialordnung als selbständige Ordnungsmuster voneinander abheben lassen 52 , kann wohl kaum durch eine Umdefinition dessen, was unter Strafrecht zu verstehen ist, gelöst werden53 • Vielmehr läßt sich auf zweifache Art induktiv die Existenz sozialer Ordnungskriterien nachweisen, die neben oder genetisch vor, jedenfalls aber außerhalb des strafrechtlichen Normenkomplexes anzusiedeln sindS4 : Zum einen impliziert die Strafrechtsdogmatik selbst die Wirksamkeit außerstrafrechtlicher Regeln als Steuerungsfaktoren sozialer Prozesse, indem sie "die Natur der Sache", die "Sozialadäquanz" und andere strukturell zumindest ähnliche KurzformeIn für soziale Sachverhalte zur Rechtserkenntnis heranzieht55 . Auf der anderen Seite hat eine Analyse sozialer Phänomene die Faktizität von Verhaltensmaximen aufgedeckt, die auf Grund ihrer ständigen Wiederkehr den Charakter quasi-verbindlicher Regeln annehmen können und teilweise tatsächlich angenommen haben 56 . Derartige soziale Normen haben Ordnungsfunk50 So Jescheck, Strafrecht AT, § 17 IV 1 b mit weiteren Nachweisen. 51 Dazu Trappe, Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie, in: Geiger, Vorstudien, S.16. 52 Vgl. zu diesem Problemkreis die Nachweise bei Schott, ARSP 47 (1961), S. 594 ff. einerseits, und den Panlegalismus bei WiUems, ARSP 47 (1961), S. 193 ff. andererseits; ferner König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, S. 36 ff. 53 In diesem Sinne grundsätzlich mit Recht Trappe, Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie, in: Geiger, Vorstudien, S. 17. 54 Dazu allgemein Trappe, Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie, in: Geiger, Vorstudien, S. 17. 55 Dazu etwa Maihojer, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, S. 267 f. 56 Vgl. zur Analyse des Zusammenhanges von Regelhaftigkeit, Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit sozialer Verhaltensmuster, Geiger, Vorstudien, S. 53 ff.

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

tionen in der Gesellschaft und stimmen in wenigstens dieser Hinsicht mit strafrechtlichen Normen überein. Diese Feststellung enthält unausgesprochen den Nachweis dafür, daß in der gesellschaftlichen Realität soziale Ordnungsgefüge wirksam sind, die sich zwar als akzeptierte (jedoch nicht institutionalisierte) Verhaltensmuster augenscheinlich mit einer (andersartig strukturierten) Strafrechtsordnung nicht identifizieren lassen, aber jedenfalls auch nicht beziehungslos neben ihr stehen. Das zeigt sich deutlich, wenn vorwiegend soziale Normen den Inhalt strafrechtsdogmatischer Argumentationen bestimmen, etwa wenn Generalklauseln und generalklauselartige Sätze die Basis strafrechtsdogmatischer Rechtsgewinnung und -anwendung bilden57 • Freilich geht solcher Umsetzung sozialnormativer Fakten regelmäßig eine Hypostase des jeweiligen Norminhalts voraus, so daß recht eigentlich sozialnormative Fakten nicht unmittelbar zur Rechtsfindung herangezogen werden, sondern strafrechtsdogmatische Argumentationen aus zuvor angestellten systemimmanenten Zweck- und Werterwägungen durch sie lediglich abgestimmt und abgesichert werden. Unterschwellig kommt in dieser "Technik" strafrechtsdogmatischer Rechtserkentnnis eine unter soziologischem Aspekt verfehlte Betrachtungsweise des Strafrechts zum Ausdruck: Es handelt sich dabei um die mehr oder weniger geläufige Gleichsetzung von Rechts- und Normbegriff, von Strafrechtssystem und Normensystem 58 , obwohl sich gerade diese Gleichsetzung für den strafrechtswissenschaftlichen Erkenntnisprozeß unter der Prämisse notwendiger Orientierung an sozialpolitischen Gegebenheiten zwangsläufig als irreführend erweisen muß59: Das trifft etwa für die Problematik der Bagatellkriminalität und die in diesem Zusammenhang auftauchenden Schwierigkeiten bei der strafrechtlichen Beurteilung leichter Warenhausdiebstähle sowie geringfügiger Verstöße gegen strafrechtliche Normen innerhalb von Betrieben zu 60 • Gerade in solchen Bereichen abweichenden Verhaltens sind offensichtlich nichtstrafrechtliche Normensysteme wirksam, so daß in vielen Fällen die bisherige Qualifizierung bestimmter Typen abweichenden Verhaltens als Kriminalität fragwürdig wird. Ähnliche Bedenken ergeben sich angesichts überkommener Kriminalitätsdefinitionen. Wäre tatsächlich jedes Verhalten, das gegen eine strafrechtliche Norm verstößt, als Kriminalität zu 57 Auch das Strafrecht mit seinen stringenten Sätzen "nullum crimen si ne lege" und "nulla poena sine lege" kann, will es nicht abseits aller Realität stehen, auf wertausfüllungsbedürftige und -fähige Begriffe und Sätze nicht verzichten; dazu etwa Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe, JuS

1968, S. 255.

Dazu Sack, Neue Perspektiven, S. 453, 454. Ähnlich Sack, Probleme der Kriminalsoziologie, S. 982 ff.; ders., Neue Perspekfiven, S. 454 ff. 60 Vgl. zu diesen Beispielen Sack, Neue Perspektiven, S. 456. 58

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2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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bezeiclmen6 t, dann müßte, gemessen an sozialwissenschaftlich-empirisehen Untersuchungen, die Mehrheit der Gesellschaft als kriminell beschrieben werden 62 • Eine isolierte Betrachtung des strafrechtlichen Normensystems führt somit offenbar deshalb zu unrealistischen Lösungen sozialer Konflikte, weil dabei die faktische Pluralität existenter und unterschiedlich wirksamer Normensysteme nicht zum Gegenstand strafrechtsdogmatischer Reflexion gemacht werden kann. Geht man dagegen von der "elativen Bedeutung des Strafrechtssystems im Gesamtzusammenhang aller sozialen Normensysteme aus, ergibt sich die Möglichkeit, soziale Konflikte unter verschiedenen normativen Gesichtspunkten zu beurteilen. Erst aus dieser "pluralistischen Perspektive" erhält zum Beispiel die auf bestimmte abgegrenzte Verhaltensbereiche innerhalb eines sozialen Systems bezogene Frage nach der Dominenz des einen oder anderen oder mehrerer Normensysteme ihren Sinn63 • Entsprechendes gilt für die zu der Vielheit sozialnormativer Verhaltensmuster parallel verlaufende Pluralität verschiedenartigster Kontrollmechanismen und damit gekoppelter Sanktionssysteme 64 • Auch insoweit macht die Relativität des Strafrechtssystems Differenzierungen notwendig65 • Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt für die Beurteilung sozialer Konflikte und ihrer Lösungsmuster ist die Tatsache, daß alle diese verschiedenen sozialen Normensysteme, Kontrollmechanismen und Sanktionsapparate nicht etwa nebeneinander oder nacheinander, sondern mit unterschiedlicher Intensität kumulativ in Erscheinung treten 66 • So beruht beispielsweise im strafrechtlichen Normensystem die Statuierung von Antragserfordernissen zur Auslösung der Strafverfolgung nicht nur auf der Respektierung eines Intimbereichs67 • Auch impliziert diese Enthaltsamkeit staatlicher Strafverfolgungsgewalt keine vergleichsweise geringere Verbindlichkeit der betreffenden Strafrechtsnorm. Vielmehr manifestiert sich darin unter anderem die Anerkennung und das Vertrauen in das Funktionieren außerstrafrechtlicher Normen- und Sanktionssysteme 68 • So die Definition bei HeHmer, Jugendkriminalität in unserer Zeit, S. 11. Vgl. dazu die Nachweise bei Sack, Neue Perspektiven, S. 458, Anm. 51. 63 Allgemein dazu vgl. Geiger, Vorstudien, S. 92 ff.; König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, S. 41; ferner die Nachweise bei Sack, Probleme der Kriminalsoziologie, S. 983. 64 Vgl. dazu etwa Luhmann, Rechtssoziologie 2, S. 282 ff.; ferner zum Überblick Kurt H. Wotjj, Soziale Kontrolle, S. 965 ff. 65 Als Beispiel vgl. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 133. 66 Ähnlich Sack, Neue Perspektiven, S. 455, 457. 67 Vgl. aber beispielhaft Heimann-Trosien LK, § 247 Rdnr. 1; Schönke! Schröder, StGB, § 170 a Rdnr. 15 und § 247 Rdnr. 7. 68 So mit Recht Sack, Neue Perspektiven, S. 455. 61

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

Der Verzicht auf das strafrechtliche Ordnungsprogramm und damit der Verzicht auf einen besonders formalisierten Typ sozialer Normensysteme ist zugleich Indiz dafür, daß informelle Instanzen sozialer Kontrolle wie der Familienkreis, die Nachbarschaft, Betriebsgemeinschaften etc. in zahlreichen Konfliktsituationen über wesentlich wirksamere Kontrollmechanismen verfügen als etwa entsprechende formelle Instanzen sozialer Kontrolle69 • Typisch für die Struktur sozialer Interaktion ist eine Verschränkung und überlagerung verschiedenartigster sozialnormativer Verhaltensmuster. Damit besteht das methodologische Problem der realitätsadäquaten Entscheidungsvorbereitung und Ermittlung allgemeiner Richtigkeitskriterien für Konftiktlösungen durch die Strafrechtswissenschaft darin, die vielfältigen Konsequenzen aus der Pluralität der in der Gesellschaft wirksamen Ordnungsprogramme und deren Wechselbeziehungen im strafrechtlichen Erkentnnis- und Entscheidungsprozeß methodisch und sachgerecht zu verarbeiten. Die Strafrechtswissenschaft benötigt demnach eine methodologische Basis, auf der sich die erkenntnis~ und entscheidungstheoretische Problemkomplexität der normativen Pluralität sozialer Interaktionsprozesse und Konfliktsituationen weitgehendst erfassen läßt. Unter diesem Aspekt ist daher die Leistungsfähigkeit der sog. teleologischen Methode zu überprüfen. Aufschlußreich dürfte insofern bereits ihr struktureller Aufbau sein.

2.3.2. Die Struktur der teleologischen Methode Der teleologischen Denkweise liegt in jeder Variante ihrer Grundformen 7o ein dreiaktiger Finalnexus zugrunde. Er besteht aus einer Zwecksetzung im Bewußtsein, der anschließend auf diesen Zweck bezogenen Selektion von Mitteln zur Realisierung des Zwecks und dem dadurch erst möglichen Realisationsprozeß der Zwecksetzung außerhalb des Bewußtseins. Das Kennzeichnende des Realisationsprozesses besteht darin, daß das teleologische Verfahren zur Zweckbewirkung in der Realität auf einem typischerweise durch Finalität überformten Kausalnexus beruht. Zwischen Kausalität und Finalität existiert somit eine eigenartige Simultan69 Ähnlich Sack, Neue Perspektiven, S. 455; ders., Probleme der Kriminalsoziologie, S. 983; vgl. aber auch Selznick, Rechtsinstitutionen und soziale Kontrolle, S. 141 ff. Inwieweit hier die sog. gesellschaftlichen Gerichte in der DDR eine Ausnahme darstellen, ist noch nicht abzusehen; allgemein dazu Eser, Gesellschaftsgerichte in der Strafrechtspflege; ferner Reiland, Die gesellschaft~ lichen Gerichte, insgesamt. 70 Zu den Grundformen teleologischen Denkens vgl. die Dbersicht bei Hartmann, Teleologisches Denken, S. 7 ff.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft? Bewußtsein

Zwecksetzung

\

7" \\\

Selektion der Mittel

27

I

Realisation

außer alb des Bewußtseins zu bewirkender Zweck

im Bewußtsein gesetzter Zweck

bindung71 • Dieser Zusammenhang von Kausalität und Finalität spielt allerdings nicht allein in den Grundformen der Teleologie eine wesentliche Rolle, sondern ebenso in final gesteuerten Systemen und sog. Selbstregulatoren. Es überrascht daher nicht, wenn das vereinfacht dargestellte Strukturmodell der teleologischen Methode mit geringfügigen Abwandlungen im Strukturaufbau eines einfachen, der aristotelischen Kategorialanalyse des teleologischen Denkens sehr ähnlichen kybernetischen Grundmodells wieder auftaucht72 : Rückkopplung

I

I~(-----

~----------------~I

Ursache ~-----~

----~>I Ein~irkung em Systemauf

1 >I ------c~

Resultat

~----------~

Auch in diesem kybernetischen Grundmodell ist die lineare Kausalität durch Rückkopplung final überformt, das Verhältnis von Kausalität und Finalität im Prinzip also dasselbe wie im teleologischen Verfahren. Abgesehen davon, daß der Strukturaufbau des teleologischen Verfahrens weitgehend mit dem des kybernetischen Grundmodells übereinstimmt und Selbstregulatoren deshalb nicht zu Unrecht bisweilen als "teleologische Systeme höherer Ordnung" (Stegmüller) bezeichnet werden, macht die strukturelle Vergleichbarkeit der Zweckrealisierung im teleologischen Verfahren und der kreiskausalen Rückkopplungsvorgänge zur 71 Ähnlich auch StegmüUer, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 533; ders., Beiträge zum Problem der Teleologie, S. 7 ff. 72 Zur aristotelischen Kategorialanalyse vgl. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 65 ff.; zum Schaubild vgl. auch Klaus, Das Verhältnis von Kausalität und Teleologie, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 7 (1960), S. 1274.

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

Erzielung bestimmter Resultate zugleich das Problem aller Teleologie deutlich: Die Realisation erwünschter Zwecke bzw. Werte (erwünschter Resultate) erscheint zwar durch die Antezipation eben jenes erwünschten Zweckes oder Wertes in das Bewußtsein mit anschließender Mittelselektion (Rückkopplung) möglich. Wie aber ist in diesem Kreislauf das Verfahren zur Bestimmung dessen, was als erwünschter Zweck oder Wert gelten soll, zu integrieren? Und weiter: Welche Kriterien sind für den Prozeß der Zwecksetzung maßgebend? Schließlich hat aus der Sicht einer auf realitätsadäquate Erkenntnisse und Entscheidungen abzielenden Strafrechtswissenschaft noch ein anderes typisches Strukturmerkmal der teleologischen Methode wesentliche Bedeutung für deren Qualität als heuristisches Verfahren: Ihrer Sturktur nach setzt die teleologische Denkweise im Grunde den für die Mittelselektion als Bezugspunkt notwendigen Zweck bereits voraus. Damit aber ergeben sich erhebliche Zweifel an der Leistungsfähigkeit der teleologischen Methode bei der Erfassung und Verarbeitung der durch eine Vielzahl unterschiedlicher Ordnungsprogramme hervorgerufenen normativen Komplexität innerhalb sozialer Interaktionssysteme und Konfliktsituationen. Diese Zweifel betreffen jedoch nicht nur den Prozeß der Zwecksetzung als einen strukturell eigenständigen Akt der teleologischen Methode. Sie betreffen vielmehr angesichts der kumulativen Wirkung verschiedenartiger Normenkomplexe in sozialen Konflikten mit entsprechend unterschiedlich gearteten Entscheidungskriterien ihre heuristische Bezugskategorie: den Zweckbegriff. Insoweit sind allerdings zwei Gesichtspunkte auseinander zu halten. Zum einen fragt sich, ob der Zweckbegriff über ein genügend großes KomplexitätspotentiaF3 verfügt. Zum anderen enthält die Zweckbestimmung als solche im Sinne einer einseitig ausgerichteten Wertbezogenheit ein der teleologischen Denkweise immanentes Problem. Der zunächst genannte Aspekt stellt für die teleologische Methode als Verfahren der Heuristik insbesondere deshalb einen Prüfstein ihrer Leistungsfähigkeit dar, weil der Zweckbegriff als insoweit heuristische Bezugskategorie zugleich die Bedeutung einer vorgegebenen Erkenntnisund Entscheidungsprämisse hat. Selbst wenn man entgegen der kybernetischen Zwecktheorie davon ausgeht, daß Zwecke nicht als eindeutig vorgestellte empirische Wirkungen, sondern als Variablen zu definieren sind, muß stets im Auge behalten werden, daß sowohl der "Zweck" als auch die "Zweckvariable" bereits das Ergebnis von Reduktionsvorgängen ist, etwa durch Entscheidung. Zwar läßt sich das außerordentlich geringe Komplexitätspotential der Zweckkategorie durch einen gewissen 73

Dazu auch Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 123 ff.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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Grad von Unbestimmtheit bei der Zweckformulierung74 und damit durch eine Zweckvariable erweitern. Die Variabilität von Zwecken findet jedoch dort ihre Grenze, wo die Zusammensetzung von Wirkungskomplexen nicht mehr auf einheitlicher Bewertungsgrundlage vollzogen werden kann. Das Komplexitätspotential auch einer Zweckvariablen als heuristische Bezugskategorie des teleologischen Denkens reicht daher ebenfalls nicht aus, um etwa die Zweck- und Wertkomplexität sozialer Konfliktsituationen voll zu umgreifen. Damit läßt sich vorerst feststellen, daß das Leistungsvermögen des teleologischen Denkens zumindest hinter den Erwartungen zurückbleibt, die eine "realistische" Strafrechtswissenschaft an ihre methodologische Basis zu stellen hat. Zu einem ähnlichen Befund führt die weitere überlegung, daß die Bestimmung von Zwecken unter wertungsmäßigen Gesichtspunkten stets "positiven" Charakter hat und eben deshalb die teleologische Methode zweckneutrale und gar zweckwidrige Begleitumstände des als Bezugskategorie fixierten Zwecks nicht mit berücksichtigen kann. Offenbar muß das teleologische Denkverfahren stillschweigend von einem Wertdualismus als unabdingbarer Voraussetzung ausgehen, mit der Konsequenz, daß es die empirisch immerhin nachweisbare Kategorie der Wertindifferenz nicht zu erfassen vermag 75 • Diese Art unvollständiger Disjunktion kommt besonders deutlich in der sog. Ganzheitsteleologie zum Ausdruck, denn: Nur wenn wirklich ein Sinnprinzip die Welt als Ganzes von unten auf beherrscht, muß sie teleologisch angelegt sein75 • Für eine derartige Ganzheitsteleologie stellt schon die Existenz einer sinnlosen, aber deshalb noch lange nicht sinnwidrigen Welt ein nicht zu lösendes Problem dar76 • Damit ist indessen zugleich auch festgestellt, daß sich die teleologische Denkweise jedenfalls aus der Perspektive einer auf realitätsbezogene und -adäquate Erkenntnisse und darauf fundierter Entscheidungen abzielenden Strafrechtswissenschaft nicht als deren methodologische Basis verwenden läßt. Zwar können im Prinzip auch außerstrafrechtliche Kriterien Eingang in die jeweilige Bezugsgröße finden. Dabei kann es sich nach Struktur und Bedeutung der Bezugskategorie als Zweckvariable jedoch immer nur um "positive", den Zweck verdeutlichende Kriterien handeln. Zweckneutrale und zweckwidrige außerstrafrechtliche Entscheidungskriterien lassen sich dagegen schon per definitionem nicht in die Bezugskategorie des teleologischen Denkverfahrens integrieren77. 74 Dazu etwa Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 145 ff. 75 Dazu Hartmann, Teleologisches Denken, S. 107 ff. (112 ff.). 78 Ähnlich auch Würtenberger, Geistige Situation, S. 16 ff. 77 An dieser Feststellung ändert auch die etwaige Möglichkeit nichts, Zweckwidrigkeiten negativ definiert in die an sich positive Formulierung der Zweckvariablen einzubeziehen. Dabei handelt es sich lediglich um einen definitionstheoretischen Vorgang, nicht aber um eine Veränderung der sachlichen Grundlage von Entscheidungsprämissen.

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage 2.4. Als Beispiel: Das teleologische System der Straftatmerkmale

Zur überwindung des Gegensatzes von herkömmlicher Lehre und der finalen Handlungslehre soll das von Schmidhäuser entwickelte und von ihm so bezeichnete "teleologische System der Straftatmerkmale" beitragen 78 . Mit dieser Bezeichnung soll der sachliche Zusammenhang von Straftat und Strafe als grundlegender Systemgedanke betont sein79 . Ob und inwieweit dieses teleologische Straftatsystem mehr als nur eine Synthese gegensätzlicher Positionen der allgemeinen Verbrechenslehre darstellt, tritt besonders deutlich im Vergleich mit den bisherigen Konzeptionen des Verbrechenssystems hervor.

2.4.1. Bisherige Systemkonzeptionen der allgemeinen Verbrechenslehre Nach Ausgangspunkt und Gesamtbild steht auch heute noch unausgesprochen im Hintergrund der konventionellen Verbrechenslehre eine vorwiegend kLassifikatorisch-kategoriaLe Verbrechenssystematik80 . Bildhaft verdeutlicht, handelt es sich bei dieser Systemkonzeption um eine Begriffspyramide nach Art des Linneschen Pflanzensystems81 . Das klassifikatorische Systemmodell kann als ein Produkt der formalen Logik aufgefaßt werden82 . Seine Strukturelemente sind abstrakt-allgemeine Oberbegriffe 83 , die im Wege isolierender Abstraktion aus konkreten (Allgemein-)Begriffen gewonnen werden84, und die zur Konkretisierung dieser generellen Oberbegriffe erforderlichen (Art-)Merkmale85 : "genus proximum" und "differentiae specificae"86. An der Spitze des klassifikatorischen Systems der Verbrechensmerkmale steht danach ein Gattungsbegriff als eine "Klasse" von (konkreten) Begriffen87 , etwa der HandIn diesem Sinne das Vorwort bei Schmidhäuser, Strafrecht AT. So Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 276. 80 Ähnlich Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S.173 ff. 81 Vgl. dazu etwa Radbruch, Der Handlungsbegriff, S. 8 ff.; ders., Zur Systematik, S. 158; Mayer, Vorbemerkungen, S. 138; Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 269; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S.l1 ff. 82 Ähnlich Radbruch, Zur Systematik, S. 159; Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 268, 269; ferner Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S.184; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 2,5 ff. 83 Zum abstrakt-allgemeinen Begriff vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 412 ff.; ferner Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 22 ff. 8' Zum konkreten Allgemeinbegriff vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 412 ff.; vgl. ferner Knele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 98, wo jedenfalls die wohl auch bedachte klassifikatorische Systematik nicht klar vom axiomatisch-deduktiven Systemmodell abgesetzt wird. 85 So Radbruch, Zur Systematik, S. 158. 86 Dazu noch Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S.184; ferner Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 7. 87 Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 413. 78

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2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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lungsbegriff, der damit dem Verbrechenssystem als Ganzem die Grundlage gibt. An ihn schließen sich die durch Hinzufügung von unterscheidenden Merkmalen ermittelten "Artbegriffe ersten Grades"ss, an diese die "Artbegriffe zweiten Grades"s8 usw. an. Die für die allgemeine Verbrechenslehre wesentliche Funktion eines derartigen Verbrechenssystems beruht auf der Vorstellung von der Klassifikation als einer bestimmten Konkretisierungsmethode. Sie besteht letztlich darin, die Straftat schrittweise als "tiefer gelegenen Artbegriff" kenntlich zu machen s9 oder - aus anderer Perspektive - das Verbrechen als "letzten Gattungsbegriff sozusagen klassifikatorisch zu überbauen"9o. Mit dem klassifikatorischen Verbrechenssystem eng "verwandt" ist das kategoriale Verbrechenssystem91 • Es zergliedert "die Sache selbst" in Form und Stoff, in Kategorie und Material92 und kann, so man will, als ein Systemmodell der materialen Logik 93 verstanden werden. Die systemtragenden Strukturmerkmale sind seine (Delikts-)Kategorien. Und hier wird eine winzige Differenz zum klassifikatorischen Verbrechenssystem insofern spürbar, als nunmehr zunächst Artmerkmale gleichen Gehalts gewissermaßen auf "horizontaler" Ebene gruppiert werden. Hinzu kommt, daß die Kategoriebegriffe der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld eine Art begrenzter Materialisierung der jeweils in ihnen enthaltenen Artkriterien andeuten. Im Unterschied zum klassifikatorischen Verbrechens system der formalen Logik werden im kategorialen Verbrechenssystem statt formaler "differentiae specificae" bestimmte materiale Kategorien dem Systemober- und Gattungsbegriff stufenweise hinzugefügt, und so wird zu immer spezielleren Artbegriffen(-kategorien) fortgeschritten. Auch hierin kommt also eine der Klassifikation grundsätzlich ähnliche Konkretisierungsmethode zum Ausdruck. Recht eigentlich handelt es sich bei einer derartigen Systemkon88 Hier nur zur Verdeutlichung einer stufenweisen Ausdifferenzierung immer enger werdender Artbegriffe eingeführt; vgl. zu diesem Vorgang Radbruch, Zur Systematik, S. 158; ferner Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S.I84; Schmidhäuser, Verbrechenslehre-, S. 269. 89 Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 184. 90 Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 269; zwischen beiden Auffassungen (vgl. Anm. 89) besteht insofern kein Unterschied, als der von einem Gattungsbegriff a aus ermittelte Artbegriff al zugleich Gattungsbegriff für weitere Artbegriffe a2 - an sein kann. 81 Sowohl Regler, Zum Aufbau der Systematik, S. 218 als auch Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 185 bezweifeln, ob zwi'schen kategorialem und klassifikatorischem Systemaufbau überhaupt ein Unterschied besteht; vgl. aber Radbruch, Zur Systematik, S.158. 92 So Radbruch, Zur Systematik, S. 158. 93 Allgemein dazu vgl. etwa Engisch, Aufgaben einer Logik und Methodik des juristischen Denkens, S. 78 ff.; Esser, Vorverständnis, S. 103 ff.; Roxin, Rechtsidee und Rechtsstoff, S. 261 f.

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

zeption um ein klassifikatorisch-kategoriales Verbrechenssystem 94, auf das sich der in der allgemeinen Verbrechenslehre auch heute noch95 größtenteils als gültig akzeptierte, bisweilen als "klassisch" bezeichnete 96 , dreigliedrige Verbrechensbegriff im Prinzip zurückführen läßt. Das Bestechende in der logischen Klarheit97 , die der Trichotomie von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld zu eigen ist, darf allerdings nicht über den unmittelbar aus den Strukturbedingungen sich ergebenden statischen Charakter des klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystems und die damit einhergehende Automatik theoretischer Begriffe98 hinwegtäuschen. Zwar mag das klassifikatorisch-kategoriale Verbrechenssystem gerade wegen seiner systeminternen Organisationstypik zur Erfüllung logischer Funktionen prädestiniert sein. Ein vornehmlich durch logische Funktionstauglichkeit ausgewiesenes Verbrechenssystem muß aber zwangsläufig die allgemeine Verbrechenslehre jedes sozial-dynamischen Elements entkleiden, weil allein durch logische Operationen weder generell die Wertkomplexität sozialer Konflikte zu reduzieren und absorbieren ist, noch spezifische Wertstrukturen des Einzelfalles erfaßt werden können. Anerkennt man, daß "Straftat" lediglich die begriffliche Umschreibung wertkomplexer sozialer Sachverhalte darstellt, so sind sach- und in diesem Sinne realitätsgerechte Erkenntnisse auf der Basis eines nur die logische Richtigkeit der Rechtsanwendung gewährleistenden Verbrechenssystems nicht zu erzielen. Freilich könnte dem systematisch ermittelten Ergebnis bei evidenter Unverträglichkeit mit dem Gerechtigkeitsgebot durch eine Wertungskorrektur 99 im Einzelfall zur materiellen Richtigkeit verholfen werden. Aber dann stellte sich in letzter Konsequenz unweigerlich die Frage, wozu es einer Straftatsystematik und eines Systemdenkens in der allgemeinen Verbrechenslehre überhaupt noch bedarf 1oo . Ein Festhalten am klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystem kann daher sinnvoll nur dann sein, wenn es sich als ein den viel94 Radbruch, Zur Systematik, geht ab S. 160 von eben dieser Systemkombination ständig aus. Und auch nur in diesem Sinne wird überwiegend von einem klassifikatorischen Verbrechenssystem gesprochen, vgl. statt aller Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 269; ders., Strafrecht AT 7/3 ff.; ferner Engisch, Juristische Systematik, S. 184, 185. 95 Vgl. als Beispiel nur Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 10 f., 16 ff. 98 Busch, Moderne Wandlungen, S. 3, 6; Gallas, Beiträge, S. 19 ff. bzw. ZstW 67 (1955), S. 2 ff. 97 So Radbruch, Zur Systematik, S. 163; ferner Gallas, Beiträge, S. 19 ff. bzw. ZStW 67 (1955), S. 2. 98 Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, § 21 12. 99 Dazu Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 8. 100 So mit Recht Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 5; vgl. ferner grundsätzlich Kriete, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 97 ff.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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fältigen Wertstrukturen sozialer Verhaltensmodalitäten adäquates System der Straftatmerkmale konzipieren läßt. Unter diesem Aspekt entsteht allerdings das Problem, ob das klassifikatorisch-kategoriale Verbrechenssystem ohne Veränderung seiner typischen Systemstruktur etwa durch kriminalpolitische Wertfundierung ausreichend materialisiert werden kann10l, ob also die einzelnen Systemkategorien mit entsprechenden kriminalpolitischen Wertentscheidungen in einer Synthese zu vereinigen sind. Gewiß ist es denkbar, jede Deliktskategorie aus der Perspektive ihrer jeweils relativ selbständigen kriminalpolitischen Funktion zu materialisieren102. Die Gesetzesbestimmtheit könnte so als Leitgedanke der Tatbestandsmäßigkeit angesehen werden, während die Kategorie der Rechtswidrigkeit als Bereich sozialer Konfliktlösungen die sozial richtige Regulierung des Widerstreits von Individualinteressen oder von gesamtgesellschaftlichen Belangen und Bedürfnissen des Einzelnen beinhalten müßte. An Stelle des empirisch schwer verifizierbaren Andershandelnkönnens könnte etwa die Frage, ob und inwieweit ein grundsätzlich mit Strafe bedrohtes Verhalten bei irregulären persönlichkeits- und situationsbedingten Umständen noch der Strafsanktion bedarf, den entscheidenden Bezugspunkt der "Schuld" darstellen 103 . In der Tat wäre so eine Integration kriminalpolitischer Wertentscheidungen in die einzelnen Deliktskategorien zu erreichen. Unklar bleibt jedoch, wie diese kriminalpolitische Materialisierung zugleich systeminterne Wirkungen entfalten soll. Ein im Sinne von kriminalpolitischer Folgerichtigkeit und Einheitlichkeit zu verstehender systematischer Zusammenhang existiert zwischen den je einzeln auf kriminalpolitische Zielvorstellungen bezogenen Straftatmerkmalen offenbar nicht, es sei denn, das Postulat des nullum-crimen-Satzes, die sozialregulierende Interessenabwägung in Konfliktsituationen und die Forderungen der Strafzwecklehre104 bildeten ein homogenes kriminalpolitisches Wertgefüge. Das scheint indessen zumindest zweifelhaft105 . Soll hingegen das Verbrechenssystem auch innersystematisch von kriminalpolitischer Folgerichtigkeit beherrscht 101 v. Liszt, auf den die klassifikatorische Verbrechens systematik letztlich zurückgeht, stellte entschieden die Kriminalpolitik neben das Strafrechtssystem: "Das Strafrecht ist die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik" (Grundbegriffe des Strafrechts, S. 80). Freilich ist die damals vorherrschende formale Betrachtungsweise längst überwunden und die Gültigkeit dieses Satzes widerlegt: Geblieben ist jedoch das Problem, auf welche Weise kriminalpolitische Wertentscheidungen optimal in das Verbrechenssystem integriert werden können; vgl. dazu etwa Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 275. 102 In dieser Weise geht Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 14 ff. vor. 103 So Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 15 ff. 104 So Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 16. 105 Zu weiteren Bedenken vgl. Dreher, GA 1971, S. 216, 217. 3 Bringewat

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

sein, so müssen alle Systemelemente entweder auf einen gemeinsamen Bezugsbegriff ausgerichtet sein oder wechselseitig aufeinander bezogen werden. Diese Art von "kriminalpolitischer Materialisierung" der einzelnen Straftatmerkmale läßt sich jedoch im klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystem vermutlich wegen der vorgegebenen Systemstruktur nicht durchführen. Aus systemtheoretischer Perspektive bringt somit letztlich die überwindung der ursprünglich formalen Erfassung der Straftatmerkmale durch eine umfassende Suche nach deren materialem Gehalt nichts ein l06 •

2.4.2. Das teleologische System der Straftatmerkmale als materialer Verbrechensbegriff Vor dem Hintergrund dieser auch von der gegenwärtigen allgemeinen Verbrechenslehre ungelösten systematischen Probleme besteht das Neue der von Schmidhäuser so bezeichneten teleologischen Systematik der Straftatmerkmale vorrangig in der Ersetzung des klassifikatorisch-kategorialen Systemmodells durch eine Systemkonzeption mit teleologischer Struktur und damit durch eine Straftatsystematik, die über eine Bezugskategorie für die systematische Ordnung der einzelnen Straftatmerkmale verfügt. Der charakteristische Ausgangspunkt des klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystems, einen durch isolierende Abstraktion gewonnenen und deshalb sinnentleerten l07 Allgemeinbegriff als Gattungsbegriff oder -kategorie an seine "Spitze" zu stellen, kommt damit als grundlegender Systemgedanke für das teleologische System der Straftatmerkmale nicht mehr in Betrachtl08 • Vielmehr geht es bei der teleologischen Systematik der Straftatmerkmale ausschließlich darum, die Straftat unmittelbar als wertwidriges Geschehen zu erfassen l09 • Entscheidend ist das Ziel des systematischen Bemühens: die sachgerechte Rechtsanwendung llO • Das bedeutet, daß "immer auf die Rechtsfolge der Strafe hin zu fragen ist", wenn der materielle Gehalt der Straftatmerkmale und Kriterien für deren systematische Einordnung ermittelt werden sollen. Der sachliche Zusammenhang von Straftat und Strafe erweist sich so als systemtragende Grundlage des teleologischen Verbrechensbegriffs 111 • So auch Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 275. Vgl. zu der mit der isolierenden Abstraktion einhergehenden Sinnentleerung etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 419 ff. 108 So Schmidhäuser, Strafrecht AT, 7/30, 31; ders., Verbrechenslehre, S. 274, 275 ff., 277. 109 Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 276. 110 Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/2. 111 Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 276; vgl. ferner Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 185; Radbruch, Zur Systematik, S.159 f. 106 107

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In der Tat handelt es sich um ein ganz entschieden teleologisches Verbrechenssystem, wenn alle denkbaren Straftatmerkmale materiell auf die Rechtsfolge "Strafe" bezogen werden l12 • Das Teleologische dieses Straftatsystems kommt zunächst in der "Zweckbezüglichkeit"113 jedes einzelnen Straftatmerkmals zum Ausdruck114 und bezeichnet insoweit die Methode, nach der sich das System aufbaut 1l5 • Darüber hinaus aber fungiert als allein maßgeblicher Bezugspunkt die Rechtsfolge der "Strafe", im Grunde also ein Begriff, der normativ strukturiert ist und durch Wertungen konkretisiert bzw. definiert werden kann. Die "Zweckbezüglichkeit" oder auch "Rückbezüglichkeit" der einzelnen Straftatmerkmale führt dann zu der Konsequenz, daß auch sie nicht mehr nur wertfreie Begriffe, sondern wertbezogene Elemente darstellen. Die Aufgabe des teleologischen Straftatsystems besteht demnach im Endeffekt darin, die Straftatmerkmale als Teilaspekte eines Wertganzen zu beschreiben und deren wertungsmäßige Folgerichtigkeit und Einheitlichkeit116 zu gewährleisten117.

2.4.3. Die Wertrationalität des teleologischen Systems der Straftatmerkmale als Grundlage seiner Erkenntnisund Kontrollfunktion Mit der Gewährleistung einer wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und Einheitlichkeit aller Straftatmerkmale erfüllt das teleologische Straftatsystem im soeben gekennzeichneten Sinne seine Primärfunktion aus systemtheoretischer Perspektive. Damit genügt es zugleich auch gewissen logischen Funktionen118 , obwohl das an bestimmte Kriterien gebundene 112 So Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/2 ff., 7/31; vgl. auch Eser, StrafR I, Nr. 3 A 23 ff.; ders., Eigentumssanktionen, S. 138 ff., 228 ff. 113 Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 185. 114 Insoweit ist Teleologie nur in einem engen Sinne zu verstehen. Zu diesem engen Teleologiebegriff vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 41 mit Nachweisen in Anm. 113; ferner Klug, Juristische Logik, S. 176 ff. 115 In diesem Sinne Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/4: "Der Sache nach muß sich ein teleologisches System von anderen Systemen jedoch dadurch unterscheiden, daß es das Teleologische bewußt zu seiner Methode macht." 116 Vgl. zum teleologischen oder axiologischen Systembegriff allgemein Canaris, System denken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 40 ff. 117 So Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/1; zum genaueren Aufbau der teleologischen Systematik der Straftatmerkmale vgl. ders., Strafrecht AT, 6/5 ff., und ders., Verbrechenslehre, S. 276 ff. 118 In diesem Sinne behält der Satz: "Daß die Logik im systematischen Teil der Jurisprudenz eine entscheidende Rolle spielt, ist offensichtlich, denn der Begriff des Systems selbst ist ein spezifisch logischer Terminus" (Klug, Juristische Logik, S. 5) seine Bedeutung. Dagegen kann die Auffassung von Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 121 ff., 241 ff., das Systemproblem nur im Bereich der "logischen Richtigkeit" des Rechts anzusiedeln, ebenso wie die

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

wertbeziehende Denken nicht ohne weiteres mit logischen Denkformen gleichgesetzt werden kann. Nur so ist zu erklären, daß sich im Rechtsgewinnungs- und Rechtsanwendungsprozeß auf der Basis des teleologischen Verbrechenssystems Wertentscheidungen und logische Operationen regelmäßig in einem einheitlichen Akt vollziehenl19 • Das Aufsuchen der sozial richtigsten und flexibelsten Lösungen für Konfliktsituationen12o , das strafrechtlich Angemessene, erscheint dann gleichzeitig als denknotwendige Erkenntnis 121 • Der eigentliche Grund dafür liegt in der Natur teleologisch-systematischen Denkens, das Wertentscheidungen der Spekulation entzieht und nachvollziehbar macht, sofern "Werte" im Sinne vernünftiger Werturteile als konsensfähig und justiziabel konzipiert werden122 : Systemargumentationen garantieren ein Mindestmaß an Rationalität. Werden daher Wertentscheidungen und -begriffe, die insgesamt durch intersubjektiven Konsens abgesichert sind, nach den Kriterien der materialen Folgerichtigkeit und Einheitlichkeit 123 aufeinander bezogen, so ergibt sich ein konsistentes Wertungsgefüge 124 und damit ein System, das sich als Instrument für rationales Argumentieren im Rechtsanwendungsakt einsetzen läßt. Alles dies gilt entsprechend auch für ein Verbrechenssystem 125 mit teleologischer Struktur. Die von ihm bewirkte Wertrationalität der Straftatmerkmale dient als deren wohlgelungene systematische Einordnung nicht allein didaktischen Zwecken126, sondern impliziert rechtliche Qualifikationen 127 und hat Erkenntniswertt 28 • Das Erkennen und Einordnen der allgemeinen Merkmale strafbaren Verhaltens vollzieht ablehnende Meinung von Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 222 ff. in bezug auf ein "inhaltlich gefülltes" Rechtssystem nicht überzeugen. Bedenklich auch Zimmerl, Strafrechtssystem, S. 1: "Die Kriminalpolitik findet ihre Grenzen an den Erfordernissen der Strafrechtssystematik." Vgl. noch Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 174 ff. 119 Dazu Heller, Logik und Axiologie, S. 67 f., 89 ff., 95 ff. 120 Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 8. 121 Dazu Esser, Interpretation und Rechtsneubildung, JZ 1953, S. 523, dort auch Anm. 21; vgl. ferner Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 176 f. 122 So Esser, Vorverständnis, S. 161. 123 Dazu grundsätzlich Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 45. 124 Esser, Vorverständnis, S. 98. 125 Deshalb hält Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 3 ff., 6 eine Abkehr vom Systemgedanken im Bereich der allgemeinen Verbrechenslehre nicht für ernstlich diskutabel. Vgl. auch Engisch, Juristische Syste[Q.atik, Studium Generale 10 (1957), S. 177. 126 Vgl. aber Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 97 ff. 127 So treffend Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S.188. 128 So Radbruch, Zur Systematik, S. 159; auch Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/1.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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sich im teleologischen System der Straftatmerkmale als wechselseitiger Materialisierungsprozeß129. Die Erkenntnisfunktion des teleologischen Verbrechenssystems besteht somit nicht etwa darin, daß das Erkenntnisobjekt erst auf Grund systematischer Operationen quasi aus dem vorgefaßten Straftatsystem abgeleitet wird 130. Im Gegenteil: Der Erkenntnisgegenstand an sich ist das schon vorhandene Material, das dann seinen materiellen Gehalt durch systematische Qualifikationen erhält1 31 . Immer geht es letztlich darum, noch nicht taxierte sozialrelevante Merkmale eines Verhaltens mit dem in der Arbeit an strafrechtlichen Einzelproblemen erreichten und im Verbrechenssystem zusammengefaßten Erkenntnisstand 132 abzustimmen. Es wäre somit verfehlt, die Erkenntnisfunktion des teleologischen Systems der Straftatmerkmale gleichsam im bloßen "Herausziehen von Schubladen", in denen das Material zuvor geordnet untergebracht wurde 13 1, zu erblicken. Vielmehr bewirkt die Einbeziehung von Begriffen in das Straftatsystem eine Profilierung ihrer Wertstrukturen133 , die selbst wiederum auf ihre systematische Richtigkeit reflektiert und präzisiert werden. In diesem "dialektischen Prozeß" realisiert das teleologische System der Straftatmerkmale seine Erkenntnisfunktion13t : Die Analyse der Straftat liefert einzelne Merkmale. Das Straftatsystem stellt ihre wertungsmäßige Folgerichtigkeit und Einheitlichkeit her 135 . Hinzutretende Kriterien werden in den so entstandenen Wertungszusammenhang eingebracht. Und indem sich der Vorgang von Analyse und systematischer Einordnung kontinuierlich fortsetzt, erweist sich die teleologische Systematik der Straftatmerkmale als Initiator für neue Erkenntnisse 133. Nichts anderes ist gemeint, wenn das Erkennen und Einordnen der Merkmale strafbaren Verhaltens im teleologischen System der Straftatmerkmale als wechselseitiger Materialisierungsprozeß umschrieben wird134. Ebenso wie diese gewissermaßen entscheidungsvorbereitende Erkenntnisfunktion beruht auf der vom teleologischen Straftatsystem gewährleisteten Wertrationalität auch seine Kontrollfunktion. Die sachgerechte Beurteilung sozialer Konflikte unter strafrechtlichen Aspekten erfordert in aller Regel Rückgriffe auf noch systemexterne Wertstrukturen. Das In diesem Sinne Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/1. Grundsätzlich dazu Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 89. 131 Engisch, Juristische Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 188. 132 So Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 347. 133 Ähnlich Esser, Vorverständnis, S. 98. 134 In diesem Sinne Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/1 ff.; vgl. ferner Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 104 ff. 135 Vgl. dazu grundsätzlich Canaris, System denken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 104 ff. 129

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

Arsenal der für die Rechtsanwendung zur Verfügung stehenden Systemargumente kann daher bei der Konfliktlösung nicht sofort zum Einsatz kommen. Insoweit stößt "Rechtsgewinnung auch aus dem teleologischen System der Straftatmerkmale" an dessen immanente Schranken. Diese Feststellung deckt sich allerdings nicht mit jener These, daß das "Hinauf- und wieder Hinablaufen" auf den Systemstufen 136 nichts Neues erbringt, und zwar schon deshalb nicht, weil die Struktur des teleologischen Straftatssytems zeigt, daß ein Verbrechenssystem mit "echter Systemqualität" nicht notwendig eine Stufenstruktur oder gar ein internes "Schubfachprogramm" voraussetzt1 37 • Vielmehr ist damit nur klargestellt, daß es sich niemals um unwiderrufliche und endgültige Ergebnisse handeln kann, wenn die strafrechtliche Problemkonstellation sozialer Konflikte aus systematischen Erwägungen in bestimmter Weise gelöst wird138 : Wie jedes Rechtssystem kann auch das teleologische System der Straftatmerkmale eben nur der Versuch sein, das "Ganze der Gerechtigkeit" im Hinblick auf soziale Verhaltensweisen in einem folgerichtigen Kontext wertrationaler Erkenntnisse zu erfassen 139 • Rechtsanwendung, die auf einer ausschließlich an systemautonomen Entscheidungskriterien orientierten Richtigkeitsüberzeugung basiert, ist zwar ein rationaler Prozeß, kann aber nicht unfehlbar stets die Sachrichtigkeit der Entscheidungen garantieren14o• Andererseits läßt sich eine Tendenz zur Irrationalität kaum eliminieren, wenn sich die Richtigkeitsüberzeugung des Rechtsanwenders an vorsystematischen Wert- und (angeblichen) Gerechtigkeitskriterien ausrichtet. Eine in dieser Weise erarbeitete Konfliktlösung ist zumeist überaus angreifbar, weil sie das Substrat einer Reihe von mehrschichtigen situativen Verständnis- und Erkenntnisakten 141 darstellt. Die Absicherung einer derartigen strafrechtlichen Entscheidung gegen den Vorwurf der Willkürlichkeit erfordert eine Kontrollinstanz. Diese Funktion kann etwa vom teleologischen Straftatsystem erfüllt werden. Nur so ist ein Mindestmaß an Rationalität auch für Konfliktlösungen außerhalb des im Straftatsystem enthaltenen SelektionsproSo aber Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 98, 99. Die gesamte Kritik von Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 97 ff. krankt an diesem Ansatz: Unausgesprochen werden insoweit nur Formen formallogischer Systemmodelle zur Grundlage der Erörterungen gemacht und unstatthaft die Kritik auf jede Art von Systemdenken übertragen. 138 Dazu allgemein Canaris, System denken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 106. 139 So sinngemäß Coing, Privatrechtssystem, S. 28; Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantstudien 29 (1924), S. 163 f. 140 Zum Ganzen vgl. Esser, Vorverständnis, S. 87 ff., 94 ff., 139 ff. 141 Ähnlich Kunz, Rechtstheorie, S. 23. 136

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2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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gramms zu erreichen: Durch Rückbindung (bzw. Rückformation) an das System der Straftatmerkmale wird eine Kontrolle ermöglicht, inwieweit systemautonome Entscheidungskriterien mit außersystematischen Richtigkeitskriterien korrespondieren142 . Die Kontrollfunktion des teleologischen Systems der Straftatmerkmale besteht somit außer in der überprüfung der ohne Neuargumentation an systemeigene Kriterien angelehnten strafrechtlichen Verhaltensbewertung auf ihre Stimmigkeit und Haltbarkeit im systematischen Kontext und ihrer notwendigen Korrektur auch in einer begrenzten vorläufigen Richtigkeitsgewähr außersystematischer Argumentationsteile 143.

2.4.4. Die zu fordernde gesellschaftliche Funktion des Straftatbegriffs Das teleologische System der Straftatmerkmale erfüllt somit seine Kontrollfunktion ähnlich wie seine Erkenntnisfunktion in einem "dialektischen Prozeß"144. Aus der überkommenen strafrechtsdogmatischen Perspektive handelt es sich dabei um die wohl wichtigsten Primä1'funktionen eines leistungsfähigen Straftatbegriffs, weil sie es sind, die im Endeffekt entscheidend dazu beitragen, die im teleologischen Straftatsystem implizierten "Wertstrukturen" der Straftatmerkmale "zu aktualisieren"145. Die Leistungsfähigkeit auch des teleologischen Systems der Straftatmerkmale im Sinne Schmidhäusers hat indes seine Grenzen, was bereits beiläufig angemerkt wurde: Rechtsgewinnung aus dem teleologischen System der Straftatmerkmale umfaßt prinzipiell nur die bereits in das Straftatsystem integrierte Wertkomplexität sozialer Konflikte, nicht aber systemexterne Wertstrukturen. Ebenso ist die Leistungsfähigkeit des teleologischen Verbrechenssystems beschränkt, wenn es als Kontrollinstanz für außersystematische Argumentationen fungiert. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß häufig jeder Variation des System arguments Kollisionen mit dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit vorgeworfen werden146 • Diese Kritik kann kaum überzeugend 142 143

Esser, Vorverständnis, S. 88. Allgemein dazu Maihofer, Realistische Jurisprudenz, in: Rechtstheorie,

S.459.

144 Inwieweit auch andere Konzeptionen der Verbrechenssystematik auf ähnliche Weise Erkenntnis- und Kontrollfunktionen erfüllen, bleibt bewußt offen (vgl. zur Äquivalenz systematischer Konstruktionen Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen, S. 42 ff.). Die Beschränkung auf das teleologische System der Straftatmerkmale im Sinne Schmidhäusers ergab sich aus dem bisherigen Gang der Darstellung. 145 Esser, Vorverständnis, S. 96. 146 Vgl. beispielhaft außer Jescheck, Strafrecht AT, § 21 I, 2: "Entscheidend hat immer die Lösung der Sachfrage zu sein, während Erfordernisse der Syste-

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Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

mit dem Hinweis abgetan werden, daß Argumentationen aus dem teleologif:chen Verbrechenssystem selbst wiederum nichts anderes als teleologische Argumentationen darstellen l47 , es sei denn, die Umsetzung der durch teleologisches Denken gewonnenen Erkenntnisse in ein teleologisch strukturiertes System der Straftatmerkmale garantierte ununterbrochen die materiale Richtigkeit auf ihm basierender systematischer Operationen jedweder Art: Ein derartiges Strafrechtsverständnis trüge der Dynamik und den zweifellos vorhandenen evolutiven Tendenzen im Strafrecht148 keine Rechnung und könnte es auch nicht, weil es die "Zeitdimension" des Strafrechts nicht beachtet. Der systematische Zusammenhang von Prinzipien und Rechtsgedanken mit jedem einzelnen Sachverhalts-, Tatbestands- und Begriffsverständnis ermöglicht zwar normativ auswertbare Feststellungen. Diese normative Auswertung kann aber nicht mehr leisten als die Reproduktion und erneute Produktion der Prämissen, die in die Begriffe und ihr Systemverhältnis hineingelegt wurdenl49 : Der "Saldo" ist stets nur ausgeglichen. Außersystematische Richtigkeitskriterien - die utopischen Ränder der Wirklichkeit 150 - stellen somit auch für das teleologische System der Straftatmerkmale ein Problem dar. Eine materiale Richtigkeitsgewähr systemfremder Kriterien kann das teleologische Verbrechenssystem erst dann leisten, wenn solche zunächst systemfremden Kriterien durch einen Integrationsprozeß in das System einbezogen worden sind. In der Tat führt diese Methode zu anschließend auch systemrichtigen Konfliktlösungen. Zugleich stellt sich aber die Frage, wie außersystematische Richtigkeitskriterien Eingang in das teleologische System der Straftatmerkmale finden können, wenn sich herausstellt, daß die dem Straftatsystem zugrunde liegenden Prinzipien mit außersystematischen Richtigkeitskriterien nicht zu vereinbaren sind. In diesen Fällen bedarf es zwangsläufig einer überprüfung und Korrektur der systematischen Prämissen. Damit steht indessen auch das teleologische System der Straftatmerkmale ständig unter dem Vorbehalt einer Umbildung und Neustrukturierung1iH • Diese Feststellung führt unmatik als zweitrangig zurücktreten müssen"; Noll, Tatbestand und Rechtswidrigkeit, ZStW 77 (1965), S. 3; Schaffstein, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum, S. 178; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 41. 147 So aber grundsätzlich Canaris. Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 106 ff., dort auch Anm. 81 und 85. 148 Dazu grundsätzlich Maihofer, Realistische Jurisprudenz, in: Rechtstheorie, S. 453 ff. und als konkretes Beispiel Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen, S. 51 ff. 149 So mit Recht (ähnlich) Esser, Vorverständnis, S. 96; vgl. ferner Krie~e, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 98/99. 150 So treffend Maihofer, Realistische Jurisprudenz, in: Rechtstheorie, S. 450. 151 So zu Recht allgemein Canaris, System denken und System begriff in der Jurisprudenz, S. 104.

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mittelbar zu einer anderen: Das Streben nach in jeder Hinsicht sachrichtiger Rechtsanwendung auf der Basis des teleologischen Systems der Straftatmerkmale setzt eine permanente Systemkorrektur voraus, die als endgültig abgeschlossen nur im Unendlichen gedacht werden kann152 • Aus systemtheoretischer Perspektive fällt somit die Kritik von Schmidhäuser163 am klassifikatorisch-kategorialen Aufbau des Verbrechenssystems - so berechtigt sie sein mag - in gewisser Weise auf seine eigene Systemkonzeption zurück: Der entscheidende Bezugsbegriff für alle Straftatmerkmale und deren systematisches Verhältnis ist die Rechtsfolge "Strafe". Dieser Begriff muß so materialisiert werden, daß alle Straftatmerkmale als Teilaspekte eines Wertganzen bestimmt werden können. Auf einen zeitlichen Fixpunkt bezogen, mag unter Umständen der materiale Gehalt der "Strafe" so ermittelt werden können, daß soziale Konflikte durch systematisch abgesicherte Erkenntnisse und Entscheidungen zu lösen wären. Wenn jedoch bislang unbekannte Richtigkeitskriterien den materiellen Gehalt des Strafbegriffs grundlegend verändern, dann ergibt sich nicht nur die Frage, inwieweit sich auf Grund ihrer "Zweck- oder Rückbezüglichkeit" in entsprechender Weise die einzelnen Straftatmerkmale in ihrem Gehalt verändern, sondern auch unter systematischen Gesichtspunkten das weitaus größere Problem, ob die teleologisch strukturierte Systematik der Straftatmerkmale nach wie vor eine dem gänzlich veränderten Inhalt des Strafbegriffs adäquate Systemkonzeption darstellt. Insofern darf freilich nicht übersehen werden, daß es sich hierbei weniger um Bedenken gegen das teleologische System als solches, sondern vielmehr um generelle Problemfragen der rechtstheoretischen Funktion und Grenzen der Erkenntnisleistung eines Straftatsystems überhaupt handelt. Gegen den teleologischen Ansatz bei der Entwicklung eines Systems der Straftatmerkmale selbst ergeben sich allerdings ebenfalls gewisse Bedenken, und zwar aus dessen strukturellen Vorbedingungen und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Materialisierung der Straftatmerkmale als dessen Systemelernente. Problematisch ist insbesondere, ob und in welchem Maße der Strafbegriff als alleinige Bezugskategorie im teleologischen Straftatsystem außerstrafrechtliche Kriterien für eine sachgerechte Rechtsanwendung aufnehmen kann. Diese Fragestellung 152 Vgl. auch Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, S. 163: "Ein unendlicher Verstand, der alle Problemlinien bis in ihre entferntesten Konsequenzen übersehen könnte ... würde ... das System so anlegen, daß alles in ihm seinen Ort fände. Ein endlicher Verstand wird das nie können." Ähnlich Emge, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 378: "Wer die Geschichte der Systeme überblickt, so wie sie uns bisher geboten werden, wird wohl die Behauptung wagen dürfen: ein System ist stets ein inhaltlich zu weit gehendes Unterfangen der Vernunft." 153 Schmidhäuser, Strafrecht AT, 7/30, 31.

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führt unmittelbar zu einer anderen: Verfügt der Strafbegriff als Bezugspunkt aller Straftatmerkmale über ein derart großes Komplexitätspotential, daß sich in ihn die Wertkomplexität sozialer Sachverhalte durch entsprechende Materialisierungsprozesse vollständig integrieren und in strafrechtsdogmatische Kategorien umsetzen läßt? Und weiter: Vermag die teleologische Systematik tatsächlich die Straftat als unmittelbar wertwidriges Geschehen in der sozialen Realität zu erfassen? Diese überlegungen führen möglicherweise über das eigentliche Anliegen Schmidhäusers hinaus. Sie machen jedoch die "empfindlichen Stellen" eines teleologischen Systems der Straftatmerkmale besonders deutlich. Die bereits allgemein gegenüber dem Zweckbegriff als Bezugskategorie des teleologischen Verfahrens formulierten Bedenken, kehren angesichts des teleologischen Systems der Straftatmerkmale konkret gegenüber der begrifflichen Ausgestaltung der Rechtsfolge "Strafe" wieder: Zwar ist der Strafbegriff vermutlich geeignet, auch außerstrafrechtliche Kriterien aufzunehmen. Die Grenze seiner Aufnahmekapazität ist indessen erreicht, wenn Kriterien in Frage stehen, die entweder von der notwendigerweise einheitlichen Bewertungsgrundlage der Strafzweckformulierung nicht einbezogen werden können, oder aber als sachlich "neutral" oder "negativ" und damit als zweckwidrig oder zweckneutral zu charakterisieren sind. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man es für zulässig halten könnte, daß innerhalb ein und derselben Zweckformulierung materiell positive und materiell negative Strafkriterien gegeneinander abgewogen werden. Zum einen ist diese Abwägung bereits per se außerordentlich problematisch, zum andern vergrößert eine derartige Abwägung nicht das Komplexitätspotential des Strafbegriffs als Bezugskategorie: Ein etwaiger "überschuß" an zweckwidrigen Kriterien müßte bei der Materialisierung des Strafbegriffs etwa durch eine Variable von Strafzwecken schon wegen der immanenten Grenzen der Zweckvariabilität des Strafbegriffs unberücksichtigt bleiben. Man muß deshalb im Auge behalten, daß das teleologische System der Straftatmerkmale und somit auch der teleologische Straftatbegriff lediglich einen Teilkomplex der Wertkomplexität sozialer Sachverhalte, etwa des kriminellen Verhaltens, zu erfassen und zu verarbeiten vermag. Ein weiterer wesentlicher Aspekt des Straftatbegriffs ergibt sich aus der Tatsache, daß im gegenwärtigen Rechtsverständnis das klassifikatorisch-kategoriale ebenso wie das teleologische Straftatsystem im Sinne Schmidhäusers, trotz aller Materialisierung vorwiegend als instrumentales Mittel zur Rechtsgewinnung und Rechtsanwendung begriffen15 " 154 Vgl. grundsätzlich dazu auch Callies, Rechtstheorie als Systemtheorie, in: Rechtstheorie, S. 146 ff.; ferner Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, NoR, S. 32'4 f.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

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nicht aber nach seiner gesellschaftlichen Funktion 155 hinterfragt wird. Statt etwa auf die allgemeine Verbrechenslehre als einen die Gesellschaft in mannigfacher Weise strukturierenden Prozeß und umgekehrt zu reflektieren, wird gesellschaftliche Realität als von der Verbrechenslehre prinzipiell getrennt verstanden i56 . Unter gesellschaftlicher Funktion des Straftatsystems ist eine soziale Leistung zu verstehen i57 . Sie besteht in der Einwirkung auf die Veränderung oder Nichtveränderung der Gesellschaft, einer Einwirkung, die von den individuell oder kollektiv angestrebten Zwecken und anzuerkennenden Werten her zweckrational und wertrational begründet und gerechtfertigt sein muß157. Solche geforderte gesellschaftliche Funktion des Straftatsystems setzt sich wie die des gesamten Strafrechtssystems aus einer integrativen und einer regulativen Komponente zusammen. Sie wirkt regulativ, indem sie zwischenmenschliche Verhaltensprozesse strukturiert und für eine Verhaltensbestimmung beim "Akteur" ebenso wie für eine Erwartungssicherung bei den möglichen "Adressaten" seiner Aktionen sorgt, so daß der Interaktionsprozeß rational kalkulierbar wird 157. Auch im übrigen stimmt die zu fordernde gesellschaftliche Funktion des Straftatsystems mit der des Strafrechts weitgehend überein: Die integrative Komponente innerhalb der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts erschöpft sich nicht bloß als "Mechanismus sozialer Kontrolle" in der Konfliktvorbeugung. Vielmehr geht es auch darum, den durch die Enttäuschung von Erwartungen herbeigeführten Vertrauensverlust gegenüber der Funktionstauglichkeit strafrechtlicher Regulationen erneut herzustellen i57 . Nur so können die ohnehin enttäuschungsanfälligen Erwartungsstrukturen auch für die Zukunft stabilisiert158 , letztlich also das Problem der Reintegration der Gesellschaft nach einem Konflikt gelöst werden. Diese Reintegration der Gesellschaft ist schon deshalb erforderlich, weil ein Konflikt stets mehr zerstört als nur die Gesichertheit von Verhaltenserwartungen: Er hat Fernwirkungen, die im Extremfall das Gefüge der Gesamtgesellschaft inkonsistent machen können157 . Solche Störfaktoren auffangen zu können, gehört ebenfalls zur gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts. Für jene Auffassung, die 155 Allgemein zur gesellschaftlichen Funktion des Rechts Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, JfRR 1 (1970), s. 25 ff. 156 Ähnlich lautet in bezug auf die allgemeine Rechtstheorie der Befund von Callies, Rechtstheorie als Systemtheorie, in: Rechtstheorie, S. 147, dort auch Anm. 21 - 23 mit weiteren Nachweisen. 157 So Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, JfRR 1 (1970), S. 25 ff.; vgl. noch Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 24 ff., 33 ff" 40 ff. 158 Ähnlich unter anderem Aspekt Luhmann, Die Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, JfRR 1 (1970), S. 179 ff.

44

Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

"Straftatsystem" ausschließlich oder doch hauptsächlich als instrumentalen Begriff im Rechtsanwendungsakt versteht, ist freilich das Problem, einen auch im Hinblick auf die Erfüllung der geforderten gesellschaftlichen Funktion leistungsfähigen Straftatbegriff159 zu entwickeln, kaum zu bewältigen, weil die Perspektive der ihr zu Grunde liegenden allgemeinen Verbrechenslehre zu eng ist und etwa die normative Faktizität strafrechtlicher Kategorien in der Gesellschaft nicht einbezieht. Diese These besagt nichts weniger, als daß erst dann von "Straftat" die Rede sein kann, wenn bestimmtes Verhalten in der Gesellschaft als Straftat erkannt wird. Im Grunde erweist sich daher eine Analyse der in der gesellschaftlichen Realität existierenden Konstellationen und Konflikte der Interessen und Erwartungen als notwendig, weil ohne Kenntnis dieser Tatsachen ein volles Verständnis und eine in bezug auf seine gesellschaftliche Funktion sachl'ichtige Konzeption des Straftatbegriffs nicht möglich ist 160 • Daraus folgt, daß sich die allgemeine Verbrechenslehre nicht mehr nur mit dem Strafrecht unter dem Aspekt seiner Positivität und Gesetzlichkeit beschäftigen kann, sondern ebenso seine gesellschaftlichen Tatsachen feststellen muß. Dafür muß sie die Wirkung des Strafrechts in der Gesellschaft zunächst empirisch analysieren und die Zusammenhänge seiner normativen Kriterien in sozialen Sachverhalten untersuchen. In diesem Sinne versteht sich die allgemeine Verbrechenslehre recht eigentlich als Rechtstatsachenforschung 161 und macht es sich zur Aufgabe, die strafrechtlichen Formeln und Begriffe für komplexe soziale Prozesse und Beziehungen in ihrer Faktizität zu erfassen und so den "vorgefaßten" und tatsächlichen Inhalt strafrechtlicher Aussagen zu sondieren162 • Allerdings stellen diese empirischen Erhebungen aus der Sicht der Rechtstatsachenforschung nur Daten und das Arbeitsmaterial dar, auf deren Grundlage die allgemeine Verbrechenslehre den Sachzusammenhang zwischen sozialen L:obensrollen und Lebenslagen als Basis menschlicher Koexistenz 163 aufzuklären hat. Insoweit steht eine Analyse des 159 Die Bezeichnung Straftat "begriff" wird hier als gleichbedeutend mit Straftat - "system" verstanden. 160 Vgl. auch Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung, S. 21. 161 Allgemein dazu M. Rehbinder, Die Rechtstatsachenforschung, JfRR 1 (1970), S. 333 ff. mit Nachweisen zu der umstrittenen Standortbestimmung dieser Disziplin (S. 335, 342 ff.). 162 Abweichend verengt E. E. Hirsch, Rechtssoziologie heute, S. 21 (insbesondere Anm. 31) den Aufgabenbereich der Rechtstatsachenforschung in eine bloße Erforschung dessen, was in der Lebenswirklichkeit rechtens ist; vgl. noch Valkhoff, Mensch und Gesellschaft, S. 223 ff. 163 Dazu allgemein Maihofer, Die Natur der Sache, S. 64 ff. bzw. 155 ff.; ders., Vom Sinn menschlicher Ordnung, S. 41 ff.; ders., Recht und Sein, S. 102 ff.; ferner Baratta, Natur der Sache und Naturrecht, S. 138; Thyssen, Zur Rechtsphilosophie des Als-Seins, ARSP 43 (1957), S. 87 ff. bzw. S. 328 ff.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

45

Bedingungsverhältnisse zwischen dem durch das Strafrecht bewirkten und anderem faktischen Verhalten (und umgekehrt) sowie zwischen den durch strafrechtliche Kategorien hervorgerufenen und anderen tatsächlichen überzeugungen (und umgekehrt) im gesellschaftlichen Bewußtsein im Vordergrund l64 . Erst in diesem, aus der Perspektive der gesellschaftlichen Strafrechtsrealität entstehenden, "Diagramm der Relativitäten" können die Kongruenzen und Divergenzen zwischen strafrechtlichen und. außerstrafrechtlichen Regeln menschlichen Verhaltens ebenso wie zwischen strafrechtlichen und faktischen überzeugungen erkannt werden. Die allgemeine Verbrechenslehre kann jedoch bei der bloßen "Differentialdiagnose" (Maihofer) zwischen strafrechtlichen Kategorien und gesellschaftlicher Realität nicht stehenbleiben, sondern muß versuchen, diese Widersprüche zu beseitigen l65 . Damit ändert sich die Betrachtungsweise und das Erkenntnisziel der allgemeinen Verbrechenslehre erneut, denn auf Grund der Diagnose von realer Determination des Strafrechts durch die gesellschaftliche Realität und idealer Determination der Gesellschaft durch das Strafrecht ergibt sich das Problem, entweder die normativen Strukturen des Strafrechts, die gesellschaftliche Realität oder das gesellschaftliche Bewußtsein zu korrigieren. Dafür ist es notwendig, die festgestellten Unstimmigkeiten auf eine der drei Dimensionen (des Strafrechts) zurückzuführen. Und indem sich die allgemeine Verbrechenslehre einer immanenten Strafrechts-, Sozial- und Ideologiekritik bedient l65 , kann versucht werden, Unverträglichkeiten zwischen der Strafrechtsrealität in der Gesellschaft und strafrechtlichen Begriffen und Systemen aufzuheben166. Aus dieser theoretischen Skizze einer auch auf die gesellschaftliche Richtigkeit ihrer Erkenntnisse reflektierenden allgemeinen Verbrechenslehre muß sich zwangsläufig ein anderer als der bisherige Denkansatz bei der Entwicklung des Straftatbegriffs ergeben, weil an die Stelle der bisher "eindimensionalen Betrachtungsweise" des als Straftat umschriebenen Verhaltens eine "mehrdimensionale Erfassung"167 der Straftatmerkmale tritt. 164 Ähnlich Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, JfRR 1

(1970), S. 18. 165 Im Ergebnis ebenso Maihofer, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, S. 267 ff., 272, 273; ders., Die gesellschaftliche FunktioI). des Rechts, JfRR 1 (1970), S. 11 ff., 20 f.; ders., Rechtssoziologie und Ideologiekritik, S. XI ff., XVI; ferner auch König/Kaupen, Ideologie und Recht, S. 356 ff. bzw. 147 ff. 166 Allgemein zu dieser Problematik noch Maihofer, Ideologie und Recht, S. 26 ff.; ders., Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, JfRR 1 (1970), S. 21. Zum Ideologiebegriff vgl. Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 53 ff.; vgl. ferner König/Kaupen, Ideologie und Recht, S. 356 bzw. S. 147, sowie die Definition des Ideologiebegriffs von Geiger bei Trappe, Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie, in: Geiger, Vorstudien, S. 31 (mit Nachweis in Anm. 55). 167 Allgemein zur Mehrdimensionalität des Rechts Maihofer, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, S. 267 ff.

46

Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

Ein erster Schritt in dieser Denkrichtung ist das Verständnis der "Straftat" als eines so bezeichneten "normativen Tatbegriffs"168, der ganz anders strukturiert ist, als etwa das klassifikatorisch-kategoriale oder das teleologische Straftatsystem im Sinne Schmidhäusers. Das zeigt sich schon daran, daß der normative Tatbegriff einen Entwicklungsprozeß darstellt, der aus einer "Vorzone, begleitenden Zone und Nachzone" besteht169 und etwa auch Strafwürdigkeitsmerkmale des "Akteurs" mit einbezieht. Gemeint ist damit in erster Linie, daß das Tatverhalten des "Akteurs" als solches Ausgangspunkt seiner begrifflichen Erfassung sein soll und alles in ihn einzubeziehen ist, was erforderlich ist, um ein volles konkretes Wertbild des Verhaltens zu gewinnen170. Dieser erweiterte Straftatbegriff ist seiner Konzeption nach unter methodischem Aspekt zwar nicht ohne weiteres mit der teleologischen Systematik der Straftatmerkmale im Sinne Schmidhäusers gleichzusetzen, kann aber auf Grund seiner Wertbezogenheit als teleologischer lil oder korrekter als axiologischer lil Begriff 172 bezeichnet werden. Der nächste Schritt geht über das Verständnis des Straftatbegriffs als eines zweck- und wertrationalen Begriffs noch hinaus, weil "Straftat", bezogen auf alle von einer im zuvor skizzierten Sinne mehrdimensional angelegten allgemeinen Verbrechenslehre ermittelten Verhaltenskriterien, zugleich als "funktionaler Begriff" anzusehen ist. Diese Umschreibung stellt nicht etwa nur eine terminologische Differenzierung dar, sondern impliziert einen veränderten materialen Gehalt des Straftatbegriffs, der daraus resultiert, daß nach der (komplexen) Funktionalität der "Straftat" im gesellschaftlichen Raum gefragt wird. Damit ist freilich noch nicht geklärt, auf welche Weise, insbesondere auf welcher methodologischen Basis, ein derartiger funktionaler Straftatbegriff erarbeitet werden könnte. Es liegt nahe, die hierfür geeignete Methode entsprechend als "funktionale Methode" zu kennzeichnen. Diese Kennzeichnung sagt indessen nur wenig darüber aus, welche methodologischen Kri168 Grundsätzlich dazu Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der "Tat", S. 358 ff., 371 ff.; vgl. andeutungsweise auch Eser, Absehen von Strafe, S. 272 ff.; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 35; Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 280. 169 So Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der "Tat", S. 359 ff. Auch wenn dieser erweiterte (Straf-)Tatbegriff in erster Linie als Konzept für eine sachgerechte Strafzumessung entwickelt worden ist, folgt daraus keineswegs eine Beschränkung seines Anwendungsbereichs. Das hat Lang-Hinrichsen im Bereich der Rücktrittsproblematik beim Versuch (vgl. S. 366 ff.) und von Täterschaft und Teilnahme (vgl. S. 374 ff.) gezeigt. 170 Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der "Tat", S. 363. 171 Zur Unterscheidung beider Begriffe vgl. Canaris, System denken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 41 ff. 172 In diesem Sinne Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der "Tat·~

S.362.

2. Funktionales Denken in der Strafrechtswissenschaft?

47

terien für die funktionale Methode maßgebend sind und inwieweit es sich dabei um ein über die allgemeine Verbrechenslehre hinausreichendes methodologisches Konzept der Strafrechtswissenschaft handelt, das die methodische Erarbeitung realitätsgerechter Strafrechtserkenntnisse zu gewährleisten vermag. Ausgehend von der Vorstellung, daß die Rechtswissenschaft und also auch die Strafrechtswissenschaft praktisch und praktikabel bleiben sollte, wenn sie Gesetzgebung und Rechtsprechung, damit die Beurteilung menschlichen Verhaltens und so dieses Verhalten selbst beeinflussen will, hat bereits NoH1i3 eine Methode funktionalen Rechtsdenkens empfohlen. Danach werden Begriffe von ihrer Funktion her gebildet und verwendet und die Voraussetzungen von Rechtsfolgen als abhängig von der Bedeutung dieser Rechtsfolgen begrifflich umschrieben 173 • Als methodisches Prinzip ergibt sich somit in gewisser Weise ein "Konstruieren vom Ergebnis" her 174• Aber auch aus dieser Umschreibung läßt sich letztlich nur ableiten, daß die Frage nach der Funktionalität strafrechtlicher Begriffe offenbar das wesentliche Kriterium der funktionalen Methode darstellt. Soweit im übrigen bei strafrechtlichen Problemlösungen auf Funktionen und auf die Funktionalität von Begriffen abgestellt wird 175 , scheint es sich häufig um methodologisch unreflektierte Argumentationen zu handeln. Somit stellt sich im Hinblick darauf, was unter funktionaler Methode zu verstehen ist, eine ganze Reihe von Fragen. Zunächst ist es erforderlich, aus wissenschaftstheoretischer Perspektive die allgemeinen Prinzipien funktionalen Denkens aufzuzeigen, die dann am besonders geeigneten176 Beispiel des sozialwissenschaftlichen, und zwar speziell des soziologischen Funktionalismus 176, weiter verdeutlicht werden. Bereits die Darlegung der allgemeinen Prinzipien funktionalen Denkens und das Anwendungsbeispiel im soziologischen Forschungsbereich werden ein vorläufiges Urteil über die Verwendbarkeit der funktionalen Methode in der Strafrechtswissenschaft unter dem Aspekt der Erfassung auch außerstrafrechtlicher ErNoH, Tatbestand und Rechtswidrigkeit, ZStW 77 (1965), s. 1 ff., 2. So Noll, Tatbestand und Rechtswidrigkeit, ZStW 77 (1965), S. 2, der die Methode funktionalen Rechtsdenkens sowohl für den Richter als auch den Gesetzgeber empfiehlt. 175 Beispielhaft dafür etwa die Funktionslehre zur Einteilung der Garantenpfiichten beim unechten Unterlassungsdelikt (vgl. statt aller Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. zum AT, Rdnr. 103 ff.); ferner die Funktionsanalyse des Handlungsbegriffs bei Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 6 ff.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 27 ff. (funktionelle Tatherrschaft) ; Rudolphi, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, S. 166 ("konkrete Rechtsgüter [sind] werthafte soziale Funktionseinheiten") ; diese Beispiele ließen sich um viele andere vermehren. 176 Die funktionale Theorie und Methode hat insbesondere in der Soziologie große Bedeutung und ist dort am weitesten entwickelt. 173

174

48

Erster Abschnitt: Ausgangspunkte und Problemfrage

kenntnisse als Richtigkeitskriterien für die (Straf-)Rechtsgewinnung zulassen. Ob und inwieweit die funktionale Methode auch als methodologische Basis für die Strafrechtswissenschaft in Betracht kommen kann, ergibt sich daraus, ob und inwieweit der dann noch aufzusuchende strafrechtliche Funktionsbegriff nach Struktur und Inhalt mit dem allgemeinen Funktionsbegriff und dem der Soziologie übereinstimmt. Schließlich wird noch das Verhältnis zwischen teleologischer und funktionaler Methode und dabei insbesondere zu klären sein, ob funktionales Denken zugleich Formen teleologischen Denkens mitumfaßt177 •

177 Zu dieser Annahme geben insbesondere die Ausführungen von Noll, Tatbestand und Rechtswidrigkeit, ZStW 77 (1965), s. 2 ff. Anlaß, denn das Abstellen auf den Bezugspunkt der Rechtsfolge "Strafe" entspricht weitgehend der von Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/1 ff. und ders., Verbrechenslehre, S. 276 ff. angewandten Methode beim Aufbau der teleologischen Systematik der Straftatmerkmale. Allerdings bleibt zu beachten, daß NoH, offenbar anders als Schmidhäuser, als Bezugspunkt seiner Begriffsbildung nicht allein die Rechtsfolge als solche bestimmt, sondern deren Bedeutung. Diese Formulierung scheint darauf hinzudeuten, daß auch außerstrafrechtliche Elemente als Richtigkeitskriterien der Begriffsbildung in Betracht kommen sollen.

Zweiter Abschnitt

Die methodologischen Prinzipien der funktionalen Methode Die bisherigen überlegungen lassen als offenbar kennzeichnendes Merkmal der funktionalen Methode lediglich die Frage nach der Funktionalität von Begriffen, Systemen oder Ähnlichem erkennen. Gewiß enthält diese Feststellung noch keine konkreten Anhaltspunkte für allgemeine methodologische Prinzipien des funktionalen Denkens. Von Bedeutung ist indessen die Eigenart der Fragestellung selbst. Immer dann, wenn die Frage nach der Funktionalität von Begriffen etc. auftaucht, geht es recht eigentlich darum, das Spektrum verschiedenartiger Funktionen, die beispielsweise ein Begriff oder ein System erfüllt, durchschaubar zu machen. Das Eigentümliche der dafür erforderlichen Fragestellung besteht ganz allgemein also darin, komplex-funktionale Zusammenhänge zu analysieren, und beschreibt damit unmittelbar das generelle Erkenntnisziel der funktionalen Methode, weil deren Ausgangspunkt letztlich mit der Frage nach der Funktionalität von Begriffen etc. gleichgesetzt werden kann. Und noch ein weiterer wesentlicher Aspekt hat sich ergeben: Die funktionale Methode stellt offensichtlich ein analytisches Erkenntnisverfahren dar, so daß die durch funktionales Denken gewonnenen Erkenntnisse und darauf beruhende Aussagen letztlich mit den Ergebnissen funktionaler Analysen identisch sind.

1. Die Struktur der funktionalen Methode Die insoweit zulässige Gleichsetzung von funktionaler Analyse und funktionaler Methode erlaubt zugleich Rückschlüsse auf die Struktur der funktionalen Methode derart, daß es sich dabei um nichts anderes als um die Struktur funktionaler Analyse handelt. Das abstrakt angesetzte Schema der funktionalen Analyse geht von der Voraussetzung aus, daß gewisse Gegenstände, etwa Begriffe oder Vorgänge oder ähnliche Kategorien im untechnischen Sinne, gegeben sind. Der Einfachheit halber seien diese vorauszusetzenden Gegenstände zusammenfassend "System" genannt, ohne daß damit inhaltliche Implikationen verbunden wären. Vorausgesetzt wird weiter das empirisch feststellbare Auftreten eines relativ konstanten Merkmals an oder in dem System (S). Dieses Merkmal sei mit X umschrieben . • Bringewat

50 Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens Der funktionalen Analyse kommt es nun darauf an zu zeigen, daß sich das System S in einem inneren und äußeren Zustand (Z = Zi + Zu) befindet, wenn das Merkmal X gewisse notwendige Bedingungen N als "funktionelle Erfordernisse" für S erfüllt. Die Wirkungen von N können dabei durch Elemente von der - summarisch gekennzeichneten - Art X herbeigeführt werden, wobei X die Gestalt Xl und (oder) X2 bis X n annehmen kann. Sind diese Voraussetzungen gegeben, dann funktioniert das System S "normal oder adäquat oder optimal" ete. 1 • Als Muster der funktionalen Analyse ergibt sich somit: Ein System S wird identifiziert, das unter bestimmten inneren und äußeren Bedingungen einen bestimmten Zustand Z des adäquaten, normalen, optimalen Funktionierens erreicht oder aufrechterhält, wenn eine Funktionsvoraussetzung N erfüllt ist. N kann durch das Element X oder eine seiner möglichen "funktionellen Alternativen" bewirkt werden. Das Element X kann sowohl innerhalb wie außer halb von S liegen, ohne daß es jedoch bereits durch Z erfaßt sein darf2 • Dieses Muster der funktionalen Analyse enthält bereits alle Strukturmerkmale der funktionalen Methode, die deutlicher hervortreten, wenn der dem Modell für funktionale Analysen zu Grunde liegende Entwicklungsprozeß verfolgt wird. Ausgehend von den schon umschriebenen Voraussetzungen für den Ansatz funktionaler Analysen, ergibt sich zunächst ein vergröbertes Schlußschma M1 3. Als Prämissen werden gesetzt:

+ Zu

(Pt)

Ein System S funktioniert zur Zeit T im Zustand Z = Zi adäquat (normal, optimal).

(P2)

Das System S funktioniert zur beliebigen Zeit T n nur dann adäquat (normal, optimal), wenn eine bestimmte notwendige Bedingung N erfüllt ist.

(P3)

Immer dann, wenn das System S das Merkmal X enthält, ist auch die Bedingung N erfüllt.

Daraus ergibt sich als Schlußfolgerung: (Ft)

Das Merkmal X tritt zur Zeit T in oder an dem System Sauf.

1 Hierzu und zum folgenden StegmüHer, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 561 ff. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Stegmü!ler selbst beurteilt den Erklärungswert funktionaler Analysen zwar sehr skeptisch und lehnt die funktionalistische Erklärung als wissenschaftlichen Erklärungstyp sui generis ab, spricht aber dem funktionalen Denken eine wichtige Bedeutung als heuristisches Verfahren nicht ab (S. 583). 2 Ähnlich Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 14; vgl. ferner Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 561. 3 Dazu Hempel, Functional Analysis, S. 271 ff. und Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 566.

1. Die Struktur der funktionalen Methode

51

Dieses Schlußschema enthält allerdings ein logisches Problem4 : Nach P2 soll N eine notwendige Bedingung bzw. Funktionsvoraussetzung für das adäquate (normale, optimale) Funktionieren von S sein. P3 gibt eine hinreichende Bedingung X für N an. P1 gewährleistet, daß S adäquat funktioniert. Aus P1 und P2 kann auf das Auftreten von N geschlossen werden. Indem dann mit Hilfe von P3 auf das Vorhandensein von X geschlossen wird, ergibt sich ein im Grunde unkorrekter Schluß aus dem "adäquaten Funktionieren" von S auf eine dafür hinreichende Bedingung X 5, weil es letztlich für N noch andere hinreichende Bedingungen geben kann. Zur Behebung dieses Mangels im Schlußverfahren bieten sich prinzipiell zwei Möglichkeiten an. Zum einen kann P3 so formuliert werden, daß ausschließlich X als hinreichend für N angesehen wird. Dann ergäbe sich das Schlußschema M2 mit folgendem Aussehen: ' Als Prämissen werden gesetzt:

(P4)

S enthält dann und nur dann das Merkmal X, wenn N erfüllt ist8 •

Als Schlußfolgerung bleibt F1 bestehen. In diesem Schlußverfahren erscheint X als funktionell unentbehrliches Element zur Erfüllung der Funktionsvoraussetzung N in S. Die zweite Möglichkeit, das grundlegende Schlußschema MI logisch korrekt zu fassen, besteht darin, die Unentbehrlichkeitsthese zu verwerfen und statt dessen davon auszugehen, daß mehrere hinreichende Bedingungen für N existieren, die abschließend er faßt werden von A. A ist dann die Klasse aller möglichen funktionalen Alternativen, Äquivalente oder Substitute von X 7. Das darauf aufbauende Schlußschema M a verändert sich dann wie folgt: Als Prämissen werden gesetzt:

Pl P2 (P5)

N ist in oder an S zur Zeit T nur dann erfüllt, wenn in oder an S zur Zeit T eine der Bedingungen aus A realisiert ist8 •

Dazu Sfegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 567. So mit anderen Zeichen Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 567. ft Ähnlich Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 567. 7 Dazu Merton, Funktionale Analyse, S. 135 f., 142 und ders., Social Theory and Social Structure, S. 19 ff., 33 f. 8 Ebenso Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 569. 4

5



52 Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens Die Schlußfolgerung lautet dann entsprechend: (F2)

Eine der Bedingungen aus A ist in oder an S zur Zeit T realisiert8 •

Damit wird durch die funktionale Analyse nicht mehr das Auftreten eines ganz bestimmten Merkmals X in einem adäquat (normal, optimal) funktionierenden System S zu einem bestimmten Zeitpunkt T erklärt, sondern das Auftreten von X oder seinen funktionalen Alternativen. Die prinzipiell zweifach mögliche Korrektur des Schlußschemas M1 führt zu einem weiteren Problem. Zwar sind die Schlußschemata M2 und Ma exakt gefaßt, lassen jedoch nur undeutlich die Voraussetzungen ihrer Anwendbarkeit erkennen. Ein Anhaltspunkt dafür ergibt sich aus der nicht auszuschließenden Variabilität hinreichender Bedingungen für N, oder - deutlicher formuliert - aus der Anfechtbarkeit der Unentbehrlichkeitsthese D• Die Anwendbarkeit des Schlußschemas M2 hängt somit von dem Nachweis ab, daß X als hinreichende Bedingung für N funktional unentbehrlich für S ist. Die Gültigkeit dieser These kann jedoch nur dann überprüft werden, wenn feststeht, welches S der für N durch X notwendige funktionale Bezugspunkt ist. Entscheidend kommt es also darauf an, die Prämisse P1 so genau wie möglich zu formulieren. Erst wenn aus der Vielzahl möglicher Systeme ein konkretes Objekt individualisiert ist, wird die grundsätzliche Möglichkeit eröffnet, die Unentbehrlichkeitsthese empirisch haltbar zu begründen. Mißlingt dieser Nachweis, dann steht entsprechend nurmehr das Schlußschema M s zur Verfügung. In jedem Falle ist somit eine genaue Umgrenzung des Bezugspunktes funktionaler Analysen unerläßlich1o • Dafür reicht allerdings die zunächst zu leistende Individualisierung des zu analysierenden Objekts allein nicht aus. Vielmehr ergibt sich aus der Formulierung von PI, daß das nunmehr konkretisierte Objekt S sich zur Zeit T in einem allgemeinen Zustand (Z = Zi + Zu) des adäquaten (normalen, optimalen) Funktionierens befindet. Auch die Merkmale dieses Zustandes bedürfen einer genauen Bestimmung. Im Idealfall können diese Merkmale durch eine Reihe meßbarer Daten ausgedrückt werdenl l . Grundsätzlich stellen jedoch Zi und Zu als Zeichen für die inneren und äußeren Bedingungen des Zustandes von S Variable dar, die sich innerhalb gewisser Grenzen ändern können, ohne daß das "adäquate (normale, optimale)" Funktionieren von S in Frage gestellt wird. Diese Spiel räume von Zi und Zu (entsprechend I und U) sind so Vgl.obenP4 • Ebenso Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 15; Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 571 ff.; vgl. ferner Merton, Funktionale Analyse, S. 140. 11 So Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 15; vgl. auch Merton, Funktionale Analyse, S.140. 9

10

1. Die Struktur der funktionalen Methode

53

exakt wie möglich abzugrenzen l2 • Die in Ml-3 verwendete Prämisse Pl ist daher genauer zu formulieren: (P'1) S funktioniert zur Zeit T im Zustand Z = Zi + Zu adäquat (normal, optimal), sofern Zi im Rahmen von I und Zu im Rahmen von U variieren l2 • Die Erörterung der in den Schlußverfahren auftretenden Strukturmerkmale funktionaler Analysen beruhte bislang auf einer (unterstellten) deterministischen Formulierung der Prämissen, so daß die verschiedenen Schlußfolgerungen F1 und F2 deduktiven Charakter annahmen l3 • Die in den Prämissen verwendeten Gesetzmäßigkeiten können jedoch auch in der Form statistischer Regelmäßigkeiten ausgedrückt werden. In diesem Falle ändert sich der Erklärungstypus der funktionalen Analyse. Dann stellen die Schlußfolgerungen nurmehr induktive Argumente dar l4, die Schlußverfahren führen dann also zu probalistischen Erklärungen l5 • Ohne Rücksicht auf die Art der aus funktionalen Analysen zu ermittelnden Erklärungen und Aussagen über bestimmte Objekte ergibt sich für die Anwendbarkeit der zuvor entwickelten Schlußschemata schließlich noch das Erfordernis, außer den schon beschriebenen Korrekturen auch eine Präzisierung des in den Schemata verwendeten Zustandsbegriffs vorzunehmen; denn durch die Konkretisierung der Merkmale Zi und Zu innerhalb von I und U wird zwar ein bestimmter Zustand von S genauer gekennzeichnet, nicht aber die Art des Zustandes selbst fixiert. Der Zustand des adäquaten, normalen oder optimalen Funktionierens von S impliziert gewisse Zielzustände. Deren Definition ist deshalb notwendig, weil anderenfalls kein Maßstab zur differenzierten Beurteilung der Wirkungen von X vorhanden ist16 • Aber gerade diese Differenzierung hat entscheidende Bedeutung insofern, als die Wirkungen von X nunmehr nach positiven, negativen und indifferenten Funktionen in bezug auf den definierten Zielzustand unterschieden werden können l8 • X kann somit entsprechend nach funktionalen, dysStegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 573. Zur Deduktion allgemein vgI. Bochenski, Zeitgenössische Denkmethoden, S. 73 ff.; SeiffeTt, Einführung in die Wissenschaftstheorie, S. 105 ff., insbesondere S. 119 ff. 14 So Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 569. Zur Induktion und Statistik allgemein vgI. Bochenski, Zeitgenössische Denkmethoden, S. 117 ff., S. 124 ff.; Seiftert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, S. 133 ff., 185 ff., insbesondere S. 164 ff., S. 218 ff. 12

13

15 Grundsätzlich zur Unterscheidung deterministischer und probalistischer Erklärungen im sozialwissenschaftlichen Funktionalismus Schütte, Funktionalismus, S. 18 ff. 16 Ebenso Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 15; vgI. ferner Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 574 ff.; Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 112 ff.

54

Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens

funktionalen und nonfunktionalen Wirkungen für S befragt werden 17 • Als weitere Differenzierung tritt die Unterscheidung zwischen "manifesten" und "latenten" Funktionen, Dysfunktionen und Nonfunktionen hinzu17 . Die begriffliche Problematik des zu definierenden Ziel zustandes von S zeigt sich etwa, wenn vom Zustand normalen Funktionierens ausgegangen wird. Diese "Normalitätsaussage" kann zwar darauf beruhen, daß alle Teile von S mit einem hinreichenden Grad von Harmonie oder innerer Konsistenz kooperieren, also ohne ständige Konflikte hervorzurufen, die weder gelöst noch reguliert werden können18 . Aber das eigentliche Problem liegt in der Notwendigkeit, für diesen Normalzustand einen (Minimal-)Standard19 anzugeben und dessen Kriterien zu ermitteln20 , etwa durch empirische Forschungen im Falle eines real existierenden N ormalzustandes21 . Ent[cheidend kommt es somit darauf an, die Art des Zielzustandes von S zu bestimmen. Sofern die Definitionsmerkmale des Zielzustandes tatsächlicher Natur sind, also die Wirkungen von X tatsächlich beobachtet und in Daten transformiert worden sind, stellt der zu definierende Zustand nichts anderes als die Resultate beobachteter Wirkungen von X dar: Es handelt sich um einen Realzustand 22 • Indessen ist dies nicht die einzige Möglichkeit, den Zielzustand von S zu definieren. Vielmehr kann mit Hilfe entsprechender Kriterien auch ein "hypothetischer oder Soll-Zustand"22 von S beschrieben werden. Durch funktionale Analysen sind die Voraussetzungen eines derartigen Zielzustandes zu erfragen. Ein Vergleich mit dem Realzustand von S erlaubt dann die Feststellung, ob, inwieweit und von welchen X des individualisierten S Wirkungen entfaltet werden, die diesen Voraussetzungen genügen oder deren Erfüllung beeinträchtigen oder verhindern 22 . Auf diese Weise werden dann Korrekturen nach Maßgabe des definierten Zustands möglich 23 . Schließlich kann der Zielzustand von S auch als "systemimmanent" definiert und damit S auf die permanente Realisierung dieses Zustandes angelegt 17 Vgl. zu diesen Begriffen Merton, Funktionale Analyse, S. 140 ff.; Parsons, The Present Position, S. 212 ff.; ders., The Social System, S. 21 ff. 18 SO Z. B. Radcliffe-Brown, Structure and Function, S. 180 ff. 19 So Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 574. 20 Von ähnlichen Voraussetzungen geht Merton, Funktionale Analyse, S. 140 aus. 21 Nur für diesen Fall kann der Forderung von Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 574 nach empirischen Kriterien zugestimmt werden. 22 So Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 16. 23 Zur prognostischen Verwendbarkeit der funktionalen Analyse vgl. grundsätzlich kritisch Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 577 ff.; ferner Schütte, Funktionalismus, S. 24 ff.

2. Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie

55

werden 22 . Besondere Bedeutung auch im Hinblick auf die noch zu prüfende strafrechtliche Relevanz 24 der funktionalen Methode, wie sie sich der Struktur nach aus wissenschafts theoretischer Perspektive ergeben hat, kommt in diesem Zusammenhang der Tatsache zu, daß das in bezug auf derartige Zielzustände bestehende Definitionsproblem nicht aus sich selbst heraus gelöst werden kann, sondern vom funktionalistischen Analytiker auf der Basis intersubjektiv nachprüfbarer Kriterien entschieden werden muß25. 2. Als Beispiel: Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie

Zur Verdeutlichung der abstrakt angesetzten Strukturanalyse funktionalen Denkens eignet sich insbesondere der soziologische Funktionalismus, weil gerade dieser am weitesten entwickelt ist. Bemerkenswert ist der Wandlungsprozeß, den der soziologische Funktionalismus durch eine zunehmende Instrumentalisierung des ihm zu Grunde liegenden Funktionsbegriffs genommen hat: Aus einer funktionalen Theorie entwickelte sich allmählich eine "reine" funktionale Methode 26 . 2.1. Die funktionale Theorie der Soziologie

Die funktionale Theorie der Soziologie ist das Ergebnis eines Emanzipationsprozesses: Mit der Einführung des Funktionsbegriffes als methodologisches und theoretisches Forschungskonzept setzte die Abgrenzung der Soziologie von anderen sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen sichtbar ein 27 . Auf diese Weise konnte sich schließlich die Soziologie als einzelwissenschaftliche und eigenständige Disziplin konstituieren. Obwohl der dem funktionalistischen Forschungsprogramm zu Grunde liegende Funktionsbegriff im Laufe der Zeit durch zahlreiche Korrekturen und damit auch das theoretische Konzept soziologischer Forschung verändert wurde, blieb im Prinzip der qualitative Charakter der im einzelnen entwickelten Funktionsbegriffe relativ konstant28 . 24 Vgl. dazu unten Zweiter Abschnitt, 3. 25 So Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 16. 26 Dazu Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15

(1964), S. 97. Die weitere Darstellung benutzt weitgehend die soziologische Terminologie, um interpretative Verzerrungen auszuschließen. 27 Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, S. 98. 28 Das gilt mit Einschränkungen auch für den von Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 13 ff. konzipierten Funktionsbegriff, auf dem der Äquivalenzfunktionalismus als vorerst letzte Variante des Funktionalismus beruht; vgl. auch ders., Funktionale Methode, S. 35; ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 162 f.; vgl. zur Entwicklung des Funktionsbegriffs allgemein Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 55 ff.

Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens

56

2.1.1. Der soziologische Funktionsbegriff Der Konzipierung des soziologischen Funktionsbegriffs ist die Suche nach einem eigenständigen Erkenntnisobjekt für die Soziologie vorgelagert29 • Es wird gefunden in der "Gesellschaft" und mit der Formel "das Ganze ist nicht mit der Summe seiner Teile identisch"30 umschrieben. Nach diesem Prinzip ist die Gesellschaft eben nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System stellt ein Spezifikum der Realität dar, das einen eigenen Charakter hat 3t . Die ausdrückliche Hervorhebung der Gesellschaft als eine selbständige Einheit32 , die einen Funktionszusammenhang der sie konstituierenden Einzelelemente darstellt33 , drängt förmlich zur übernahme naturwissenschaftlicher Kategorien, die ebenfalls eine aus Teilen bestehende Ganzheit umfassen und problematisieren. So findet die Vorstellung von der Gesellschaft als einem lebenden Organismus34 und einem System Eingang in die soziologische Theorie und Methode. Und noch eine dritte Wurzel des soziologischen Funktionsbegriffs ist zu nennen35 : Der mathematische Funktionsbegriff, der eine Variable in Beziehung auf eine oder mehrere andere Veränderliche so umschreibt, daß die abhängige Variable durch eine unabhängige Veränderliche ausgedrückt werden kann, klingt an, wenn von "funktionaler Interdependenz" und "funktionaler Beziehung" die Rede ist36 • Allerdings lehnt sich die soziologische Terminologie nur in einem erweiterten Sinne an den mathematischen Funktionsbegriff37 an, etwa wenn definiert wird: "Eine echte funktionale Beziehung besteht zwischen zwei oder mehr Termini oder Variablen dann, wenn ausgesagt werden kann, daß unter genau bestimmten Bedingungen (die einen Term in der Beziehung 29

So Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964),

S.99.

30 Dazu statt aller Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 187; zum Begriff der Ganzheit vgl. Schlick, über den Begriff der Ganzheit, S. 213 ff.; zur genannten Formel vgl. Nagel, über die Aussage: "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile", S. 225 ff. 31 In diesem Sinne Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 187. 32 Aus kritischer Perspektive zur gesamtgesellschaftlichen Variante des Funktionalismus vgI. Carlsson, Betrachtungen zum Funktionalismus, S. 236 ff. 33 Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale WeIt 15 (1964),

S.99.

34 Aus kritischer Sicht dazu Carlsson, Betrachtungen zum Funktionalismus, S. 237 ff.; ferner Merton, Funktionale Analyse, S. 121 ff.; vgI. auch Priester, Rationalität und funktionale Analyse, JfRR 1 (1970), S. 481 ff. 35 Dazu etwa Merton, Funktionale Analyse, S. 121 ff.; ferner Priester, Rationalität und funktionale Analyse, JfRR 1 (1970), S. 483. 36 So auch Merton, Funktionale Analyse, S. 121. 37 Allgemein dazu Bochenski, Formale Logik, S. 371 ff.; Hilbert/Ackermann, Theoretische Logik, S. 134 ff.

2. Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie

57

bilden) bestimmte festgelegte Auswirkungen dieser Bedingungen (die den anderen Term dieser Beziehung bilden) beobachtet werden können 38 ." Die "Verwandtschaft" zum mathematischen Funktionsbegriff verdeutlicht das Bemühen, den Funktionalismus von der kausalwissenschaftlichen Denkweise abzulösen und die "Feststellung funktionaler Äquivalenz mehrerer möglicher Ursachen unter dem Gesichtspunkt einer problematischen Wirkung" in den Vordergrund zu heben 39 • Damit ist zugleich auch der vorläufige Endpunkt einer sich kontinuierlich fortsetzenden Entwicklung im soziologischen Funktionalismus erreicht: die sog. äquivalenz funktionale Methode. Diese Entwicklung des funktionalistischen Forschungsprogramms begann mit einer Reihe von Funktionsbegriffen, die auf einer Analogie "Organismus-Gesellschaft" beruhte: Nach Durkheim etwa sollte die Funktion eines sozialen Phänomens als dessen Beitrag zur Erhaltung des normalen Zustandes einer Gesellschaft zu verstehen sein40 •

Malinowski definierte: Funktion ist die Leistung einer sozialen Institution in bezug auf ein menschliches Bedürfnis - Funktion einer sozialen Institution bedeutet stets deren bedürfnisbefriedigende Wirkung41 • Radcliffe-Brown schließlich begreift Funktion im Sinne einer die gesellschaftliche Struktur erhaltenden Wirkung einer sozialen Institution42 • Alle diese Definitionen sind allerdings nicht unproblematisch, weil sie von bestimmten, als evident und daher materiell als richtig akzeptierten, Hypothesen ausgehen. Es handelt sich dabei um die Vorstellung, daß alle sozialen Elemente ausschließlich positive Funktionen haben, und um die Unentbehrlichkeitsthese, d. h. um die Auffassung, daß es sowohl bestimmte für den Fortbestand der Gesellschaft unentbehrliche Funktionen sozialer Institutionen gibt, als auch soziale Einrichtungen, die zur Erfüllung von Funktionen unentbehrlich sind 43 • Als ebenfalls problematisch stellt sich die weitere Frage nach den Definitionsmerkmalen des "normalen Zustands" einer Gesellschaft heraus, der mit "AngepaßtSo Lesser bei Merton, Funktionale Analyse, S. 121, Anm. 3. Dazu insbesondere Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 14; vgl. aber auch die Kritik bei Priester, Rationalität und funktionale Analyse, JfRR 1 (1970), S.483,484. 40 Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 141 ff., 194 ff.; ferner Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 56 f. 41 So Malinowski, A Scientific Theory of Culture, S. 38 f., 155 ff., 159; ders., Anthropology, S. 132 f.; ferner Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, JfRR 1 (1970), S. 45 ff. 42 Dazu Radcliffe-Brown, Structure and Function, S. 200 ff.; ders., On the Concept of Function, S. 395 f.; vgl. ferner Merton, Funktionale Analyse, S. 122, dort. Anm. 6. 43 Dazu vor allem Merton, Funktionale Analyse, S. 125 ff., 130 f., 132 ff.; vgl. ferner Carlsson, Betrachtungen zum Funktionalismus, S. 237 ff. 38 3g

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Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens

heit der Gesellschaft an die materiellen Milieubedingungen"44 oder mit "gesund"45 nur unzureichend erklärt ist. Vor allem aber interessiert noch, wie sozialer Wandel durch die einzelnen Definitionsmerkmale der variierenden Funktionsbegriffe beschrieben werden kann. Zwar läßt sich etwa ein historisch wandelbarer Zustand der Gesellschaft als Bezugspunkt für die Funktion sozialer Phänomene so bestimmen, daß die verschiedenen Funktionen einer einzigen Institution als Variable erscheinen 46 . Aber die Wandelbarkeit des Gesellschaftszustandes ist nur ein hypothetischer Zustand, der ohne die Ermittlung von überprüfbaren Daten eine Hypothese bleibt 47 . Gewissen Bedenken unterliegt auch die Formel "Funktion ist Bedürfnisbefriedigung"48, weil sie voraussetzt, daß die Funktion ein Wesensmerkmal sozialer Institutionen darstellt und jede Institution zur Bedürfnisbefriedigung beiträgt49 . Aber damit kündigt sich ein Zirkelschluß an, der immer dadurch entstehen kann, daß "der Grund nicht außerhalb des Begründeten liegt"50: Wenn Bedürfnisstrukturen als veränderlich begriffen werden, andererseits eine Institution auf mehrere menschliche Bedürfnisse und umgekehrt bezogen sein kann 51 , Institutionen jedenfalls aber stets bedürfnisbezogen sind, so ist es unumgänglich, ein Bedürfnis als Existenzgrund einer Institution aus der Existenz eben jener Institution abzuleiten 52 . Zweifelhaft bleibt ebenfalls, ob mit dem Begriff der Funktion das Problem des sozialen Wandels ausreichend erklärt und schließlich gelöst werden kann, wenn Funktion als strukturerhaltende Wirkung definiert wird 53 , weil die Kategorie der Struktur54 als ein Muster von Beziehungen zwischen sozialen Elementen ersichtlich statischen Charakter hat55 . Funk44 Dazu Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 100. 45 So Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 141 ff. 46 Dazu Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 177 ff.; ferner Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Weit 15 (1964), S. 101. 47 Vgl. auch Merton, Funktionale Analyse, S. 132 ff. 48 Vgl. Anm. 41. 49 Dazu Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, JfRR 1 (1970), S. 45 ff.; Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 103. 50 In Abwandlung eines Wortes von Fichte bei Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, JfRR 1 (1970), S. 58. 51 In diesem Sinne Malinowski, A Scientific Theory of CuIture, S. 29 ff., 85 ff., 110 ff. 52 So überzeugend Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 105. 53 Vgl. oben Anm. 42. 54 Dazu allgemein Rombach, Substanz, System, Struktur I, S. 15 ff.; aus der soziologischen Perspektive ferner Fürstenberg, Das Strukturproblem, KZSS 8 (1956), S. 623 ff. 55 Ähnlich Dahrendorf, Struktur und Funktion, KZSS 7 (1955), S. 491 ff.

2. Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie

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tion als strukturerhaltende Wirkung wird zudem erst verständlich, wenn Indikatoren für den Normalzustand einer gesellschaftlichen Struktur und die Bedingungen, unter denen er erhalten bleibt, fixierbar sinds6 • Auf Grund dieser Vorbehalte erscheint die von Parsons formulierte, allerdings ebenfalls an der Kategorie der Struktur orientierte, Definitions1 des soziologischen Funktionsbegriffs als Fortschritt. Danach sind Funktionen Leistungen sozialer Elemente für den StabiHtätszustand des gesamtgesellschaftlichen Systems. Von wesentlicher Bedeutung ist der veränderte funktionale Bezugspunkt: der Stabilitätszustand des Systems. Stabilität in diesem Sinne bedeutet jedoch nicht, daß ein bestimmter Gesellschaftszustand "normal" oder "wünschenswert" ist. Stabilität hat vielmehr die Bedeutung einer Struktur, und zwar nicht Struktur ontologischer Art, sondern von konkreten Erscheinungen abstrahierte und dynamisierte Struktur, letztlich die vertretbare pragmatische Annahme relativer StabilitätS8 • Damit ist die Vorstufe für eine Theorie des sozialen Wandels gewonnen, denn "Struktur" ist seiner Umschreibung entsprechend ein Kristallisationspunkt für soziale Vorgänge mit prozessualem Charakter sowie für einzelne Entwicklungskriterien. Deren Relevanz für das gesamtgesellschaftliche System kann auf Grund der Definitionsmerkmale des von Parsons formulierten Funktionsbegriffs auch funktional erklärt und beurteilt werdens9 •

2.1.2. Grundzüge der strukturell-funktionalen Theorie Jenes Konzept bildet zugleich die Grundlage für eine allgemeine und systematische soziologische Theorie: die sog. strukturell-funktionale Theorie 60 • Ihre entscheidenden Kategorien werden als Bestandsbedingungen und Funktionsvoraussetzungen des gesamtgesellschaftlichen Systems aus dem Bezugsrahmen sozialen HandeIns gewonnen 61 • Jede konkrete soziale Handlung muß danach unter drei Aspekten betrachtet werden 62 : Soziales Handeln wird von menschlichen Persönlichkeiten voll56 So mit Recht Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 109. 57 Parsons, The Present Position, S. 212 ff.; ders., The Social System, S. 21, 24 ff.; ferner Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 57 ff.; Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 110 ff. 58 So H. Hartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, in: MaS, S. 4. 59 Dazu die Nachweise in Anm. 57; ferner Dahrendorf, Struktur und Funktion, KZSS 7 (1955), S. 504 f. 60 Zum überblick vgl. Mayntz, Strukturell-funktionale Theorie, S. 1132 ff.; ferner Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 57 ff. 61 Dazu Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, KZSS 16 (1964), S. 30, 32 ff. 62 Zur Theorie sozialen Handeins Parsons, Einige Grundzüge, S. 153 ff.; ferner Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 110 ff. mit weiteren Nachweisen.

60 Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens zogen, die interagieren; soziales Handeln ist Bestandteil eines oder mehrerer, durch interaktive Beziehungen konstituierter, sozialer Systeme; und soziales Handeln orientiert sich an einem Normensystem. Diese drei Aspekte des sozialen HandeIns sind Abstraktionen von der Verhaltenskomplexität sozialer Elemente, die nicht weiter reduziert werden kann62 . Soll ein Interaktionssystem stabil bleiben, so müssen nach Parsons vier Systemprobleme gelöst werden: Anpassung (adaptation) des Systems an die Umgebung; Setzung von und Orientierung der Systemmitglieder an individuellen wie kollektiven Zielen und deren Erreichung (goal attainment); Aufrechterhaltung von Grundstrukturen in Verhaltensmustern und Spannungsbewältigung (pattern maintenance and tension management); Integration des Systems (system integration)63. Diese vier Systemprobleme stellen zugleich im Hinblick auf den Stabilitätszustand des gesamtgesellschaftlichen Systems funktionale Bezugspunkte dar. Brauchbare Erklärungen und Aussagen über die Funktionen sozialer Institutionen sind allerdings nur dann zu erzielen, wenn die vier Systemprobleme tatsächlich die realen Voraussetzungen für ein relativ stabiles und entsprechend funktionierendes Gesellschaftssystem angeben. Der Nachweis dafür wäre erbracht, wenn eine auf der Angebbarkeit beobachtbarer Daten beruhende empirische Kontrolle zum gleichen Ergebnis führte. Die strukturell-funktionale Theorie benötigt somit Indikatoren für den Stabilitätszustand des Gesellschaftssystems und für den Grad, bis zu dem die als Probleme umschriebenen Systemvoraussetzungen erfüllt sein müssen 64 • Fehlen derartige Daten, dann bleiben die Bestimmung von funktionalen Bezugspunkten problematisch und die theoretischen Aussagen unbegründet. Dessen ungeachtet zielt das theoretische Konzept der strukturellfunktionalen Theorie darauf ab, das Gesellschaftssystem als ein System von interdependenten Variablen zu konstruieren65 , die ausgewählte Ausschnitte aus der Realität repräsentieren 66 • Der Strukturbegriff ist insoweit nur der Garant dafür, daß alle Bestandteile eines sozialen Systems vollständig erfaßt und beschrieben werden67 • Struktureinheiten können so je nach Umfang des Systems inhaltlich differieren und entweder als Rolle (= Verhaltensaspekt eines Status')68, als Akteur (= RolVgl. Mayntz, Strukturell-funktionale Theorie, S.1135. Dazu auch Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 110 ff. 65 In diesem Sinne etwa Parsons, The Present Position, S. 212, 216; ferner Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 61 ff. 66 So H. Hartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, in: MaS, S. 4. 67 So Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S.110 ff. 68 Dazu Dahrendorf, Struktur und Funktion, KZSS 7 (1955), S. 505. 63

64

2. Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie

61

lenbündel) oder als Subsystem festgelegt werden 67 • Wesentlich ist nun, daß nicht einzelne soziale Prozesse als konkrete Erscheinungen unter Stabilitätsgesichtspunkten beurteilt werden, sondern deren abstrakte Kategorien im Netzwerk interdependenter Größen66 • Freilich müssen einige der realiter existierenden "Variablen" des sozialen Systems teilweise konstant gesetzt werden, da jedes System eben nur ein repräsentativer Ausschnitt der Realität ist. Aber der damit einhergehende Informationsmangel ist nicht so gravierend, daß damit der Sinn strukturell-funktionaler Aussagen in Frage gestellt wäre 66 • Im Zusammenhang ergibt sich ein "Vierschritt": In jedem konkreten Fall werden (a) bestimmte Strukturen des sozialen Systems vorausgesetzt, (b) darauf bezogene Funktionen von Systemelementen festgestellt, (c) deren Beitrag zum Funktionieren des Systems untersucht und schließlich (d) der Stabilitätszustand des sozialen Systems bestimmt69• Aus dieser Sicht sind Funktionen die Relevanzkriterien für die Stabilität eines sozialen Systems64 : Der Stabilitätszustand kann d~rch Funktionen negativ oder positiv beeinflußt werden, und zwar dann, wenn die vier Systemprobleme durch sie entweder gelöst oder nicht gelöst werden. Soziale Prozesse sind danach in funktionale, d. h. die zur Erfüllung der Funktionsvoraussetzungen beitragende, und dysfunktionale, d. h. die Erfüllung der Funktionsvoraussetzungen erschwerende oder verhindernde, zu differenzieren. Der im Konzept der strukturellfunktionalen Theorie zu Grunde gelegte Funktionsbegriff dient somit recht eigentlich als "Mechanismus" für die Selektion von Ordnungskriterien70 bei der Suche nach den Voraussetzungen eines hypothetisch gefaßten Zustandes gleichgewichtiger Integration innerhalb eines sozialen Systems71 • Eine solche Theorie erklärt das Phänomen sozialen Wandels mittelbar, indem dysfunktionale Vorgänge als desintegrative Faktoren aus dem theoretischen Modell des gesamtgesellschaftlichen Systems ausgeschlossen werden. Endogene Wandlungsursachen, alles nicht normativ regulierte Verhalten und insbesondere soziale Konflikte werden von dieser Theorie nicht unmittelbar erfaßt72 • Die Perspektive der "stabilitätserzeugenden Wirkung von Funktionen" müßte daher so erweitert werden, daß die Interdependenz von Systemelementen nicht nur im Sinne positiver wechselbezüglicher Leistungen, sondern auch als Konfliktverhältnis begriffen werden kann73 • Entscheidend kommt 69 Vgl. auch Dahrendorj, Struktur und Funktion, KZSS 7 (1955), S. 504 f.; ferner Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 63 ff. 70 Ähnlich Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, KZSS 16 (1964), S. 31. 71 So Mayntz, Strukturell-funktionale Theorie, S. 1135. 72 Ähnlich Mayntz, Strukturell-funktionale Theorie, S. 1135. 73 Dazu H. Hartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, in: MaS, S.l1 ff.; ferner Mayntz, Strukturell-funktionale Theorie, S. 1136.

62 Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens

es somit darauf an, die Gleichgewichtshypothese in bezug auf das gesamtgesellschaftliche System mit ihren Implikationen von Stabilität, Integration und Konfliktlosigkeit zu modifizieren oder vollständig zu ersetzen. 2.2. Die funktionale Methode der Soziologie

Während das Problem sozialen Wandels und die Frage nach der Lösung sozialer Konflikte die Hauptangriffspunkte der materialen Kritik an der strukturell-funktionalen Theorie darstellen, wird aus methodologischer Perspektive in erster Linie das Verhältnis von funktionaler und kausaler Analyse problematisiert und die Theoriekonzeption mit ihren vorausgesetzten Prämissen angesprochen und kritisiert74 . Die Umsetzung dieser Kritik bewirkt nicht nur eine entsprechende Korrektur der strukturell-funktionalen Theorie mit einhergehender begrifflicher Verfeinerung, sondern auch eine zunehmende Instrumentalisierung des Funktionsbegriffs und damit seine Neutralisierung gegenüber dem Erkenntnisobjekt7 5 • Bis zur Entwicklung und weiteren Ausgestaltung der strukturell-funktionalen Theorie fehlt im soziologischen Funktionalismus eine klare Differenzierung zwischen (funktionaler) Theorie und (funktionaler) Methode, so daß insoweit von einer eigenständigen Methodologie des Funktionalismus kaum gesprochen werden kann 76 . Zahlreiche Vorbehalte gegenüber der strukturell-funktionalen Theorie resultieren vornehmlich aus dieser "kompakten Betrachtungsweise"76: Danach hat die strukturell-funktionale Theorie die Form von Hypothesen über Beziehungen zwischen bestimmten Ursachen und Wirkungen77 und bildet ein System von Erklärungen und Aussagen über die soziale Realität78 . Die dazugehörige Methode hält dagegen einen Komplex von Regeln zur Prüfung der logischen Konsistenz und empirischen Geltung solcher Aussagen bereit77 , und stellt letztlich also ein Verfahren zur Analyse sozialer Systeme dar 78 . Aber derart konsequent wird innerhalb der strukturell-funktionalen Theorie selbst nicht zwischen methodologischen und systemtheoretischen Kriterien unterschieden. Erst mit der Neutralisierung des Funktionsbegriffs setzt auch das Bemühen um eine Trennung von Theorie und Methode im soziologischen Funktionalismus erkennbar ein. 74 Dazu H. Hartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, in: MaS, S. 11 ff. Zur weiteren Kritik vgl. ebendort Anm. 46 mit zahlreichen Nachweisen; ferner Carlsson, Betrachtungen zum Funktionalismus, S. 237 ff. 75 Dazu Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 113. 76 Ähnlich Luhmann, Funktionale Methode, S. 31. 77 So Luhmann, Funktionale Methode, S. 32 ff. 78 Ähnlich Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 97.

2. Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie

63

Das zeigt sich in der Konzeption Mertons, die der Unentbehrlichkeitsthese, dem Postulat der Gesellschaft als funktioneller Einheit und dem universalen Funktionalismus mit subtilen Differenzierungen entgegentritt79 • Kennzeichnend dafür ist das Fehlen eines durch wenige Definitionsmerkmale fixierten Funktionsbegriffs. An seine Stelle tritt unter dem Stichwort "Objektive Folgen" ein umfassender Begriffskatalog. In ihm sind Funktionen definiert als beobachtete Folgen, die die Anpassung eines gegebenen Systems fördern; Dysfunktionen sind indessen Folgen, die die Anpassung des Systems mindern. Hinzu kommen empirisch mögliche, nichtfunktionale Folgen, die für das betrachtete System irrelevant sind80 • Wesentlich ist die Feststellung, daß stets dysfunktionale und funktionale Folgen von jedem sozialen Element gleichzeitig bewirkt werden können und so ein "Saldoproblem" entsteht80 • Zugleich ist damit angedeutet, daß Funktionen, Dysfunktionen und Nonfunktionen nicht auf einen bestimmten Zustand des gesellschaftlichen Systems bezogen sind81 , sondern auf jedes soziale Element bezogen sein können. Grundbedingung ist nur, daß dieses Element standardisiert ist, d. h. strukturiert und repitiv auftritt80 • Innerhalb der Funktionen wird weiter differenziert zwischen Konvergenz und Divergenz von Motivationen und Folgen, wobei "Motivation" klar von anderen Begriffen, die häufig synonym gebraucht werden, abgesetzt und als "ausschließlich subjektive Disposition" verstanden wird82 • Im einzelnen ist zu unterscheiden zwischen solchen objektiven Folgen, die zur Anpassung des Systems beitragen, von den Systemmitgliedern beabsichtigt sind und beobachtet werden - sog. manifeste Funktionen - und solchen Folgen, die von den Systemteilen weder beabsichtigt sind noch wahrgenommen werden - sog. latente Funktionen. Folgen schließlich, die das System weder dysfunktional noch funktional berühren und daher irrelevant sind, stellen die pragmatisch unwichtige Klasse der nonfunktionalen Folgen dar8°. Auf derart verfeinerter begrifflicher Grundlage 83 können sowohl der soziale Wandel mit Hilfe der Dysfunktion weitgehend erfaßt und ebenso Konfiiktverhältnisse funktional beschrieben werden 84, weil Dysfunktionen, Funktionen und Nonfunktionen grundsätzlich in jedem einzelnen sozialen Element vorkommen. Das Postulat der Gesellschaft als "funkDazu insbesondere Merton, Funktionale Analyse, S. 125 ff., 139 ff. So Merton, Funktionale Analyse, S. 140 ff.; vgl. ferner Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 64. 81 So Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), 79

80

S.113.

So Merton, Funktionale Analyse, S. 140 ff. Zur weiteren Ausdifferenzierung vgl. Merton, Funktionale Analyse, S. 141 ff. 84 Zu dieser Forderung Mayntz, Strukturell-funktionale Theorie, S. 1136. 82

83

64 Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens

tioneller Einheit" stellt dann nur noch eine Frage des Grades von Harmonie der kooperierenden und interagierenden Systemteile dar, die im konkreten Fall eines bestimmten sozialen Systems jeweils gesondert zu beantworten ist85 • Allerdings bleibt auch der Ansatz von Merton noch problematisch, weil ein genaues Verfahren zur Bezugspunktbestimmung von Funktionen nicht in ihm enthalten ist. Insoweit stellt die von Mayntz8 6 am Beispiel der funktionalistischen Schichtungstheorie entwickelte Gleichsetzung von Erkenntnisabsicht der Forschung und funktionalem Bezugspunkt eine Vervollkommnung des Mertonschen Konzepts dar. Aus dieser Identitätsklausel folgt die Notwendigkeit, vor Anwendung der funktionalen Methode das Erkenntnisziel in eine Zustandsdefinition zu transformieren, weil erst die Angabe von Zielzuständen der zu analysierenden sozialen Systeme den Maßstab dafür liefert, bestimmte Wirkungen als funktional, dysfunktional oder funktional-irrelevant zu klassifizieren86 • Das Problem, eindeutig fixierte Bezugspunkte für die Anwendung der funktionalen Analyse zu bestimmen, findet somit in Form von beliebigen Zustands definitionen seine Lösung. Aber nicht nur mit der Ersetzung des Funktionsbegriffs durch einen umfassenden Katalog differenzierbarer Folgen für das zu analysierende soziale System setzt die Abgrenzung der funktionalen Methode von der funktionalen Theorie ein. Merton verwirft vielmehr auch die These von der funktionalen Unentbehrlichkeit bestimmter Elemente und Institutionen für das Funktionieren sozialer Systeme. Statt dessen werden sog. funktionale Alternativen, Äquivalente oder Substitute eingeführt, die es erlauben, mehrere Variationsbereiche für Sozialstrukturen zu konstituieren87 • Auf dieser Basis ist "Funktion" inhaltlich nicht mehr von vornherein als Bedürfnisbefriedigung oder struktur er haltende Wirkung oder allgemein als tatsächliche Wirkung fixiert, sondern hat den Charakter eines regulativen Sinnschemas 88 • Entscheidend ist insoweit, daß an Stelle der "Zustandserhaltung" , "Strukturerhaltung" und "Bestandserhaltung" als typischer Leistungsinhalt von Funktionen nunmehr die "Problematisierung von Wirkungen" oder die "Problemlösung" tritt89 , die "Funktion" somit nicht mehr als zu bewirkende Wirkung identifiziert 85 In diesem Sinne Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 114. 86 Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 14 ff. 87 So Merton, Funktionale Analyse, S. 142. 88 So Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 14. 8V Vgl. als Nachweis bei Luhmann, Funktionale Methode, S. 33 ff.

2. Die funktionale Theorie und Methode der Soziologie

65

wird, sondern als reine Aussagekategorie über die soziale Realität ein Mittel zur Durchführung funktionaler Analysen darstellt90 • Der eigentliche Sinn der funktionalen Methode besteht somit darin, einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen so zu organisieren, daß einzelne Leistungen als gleichwertig, gegeneinander austauschbar und fungibel erscheinen, während sie als konkrete Vorgänge unvergleichlich verschieden sind91 • Damit ist zugleich geklärt, worin die Erkenntnisleistung der funktionalen Methode besteht: Wenn ein System fortbestehen soll, dann muß es bestimmte (System-)probleme lösen 92 • Problemlösungen können nicht ohne Orientierung an Alternativen geleistet werden. Sie setzen Vergleichsmöglichkeiten voraus 93, und diese Vergleichsmöglichkeiten muß die funktionale Methode bereitstellen. Die Klasse aller funktional äquivalenten Möglichkeiten hat dabei den Charakter einer Variablen, die durch einen funktionalen Bezugspunkt, etwa den Zielzustand eines sozialen Systems9 4, definiert ist. Der Äquivalenzbereich hängt dann von den Definitionsmerkmalen des funktionalen Bezugspunktes ab, und umgekehrt haben diese Definitionsmerkmale die Aufgabe, einen derartigen Äquivalenzbereich funktionaler Alternativen zu konstituieren 91 • Innerhalb der Äquivalenzmöglichkeiten ist dann nach Luhmann zu unterscheiden zwischen disjunktiver (a) und konjunktiver (b) Äquivalenz95 : (a) Wenn in einer laufend sich wiederholenden Kausalbeziehung A durch C ersetzt und beobachtet werden kann, daß die Wirkung B nach wie vor eintritt, ist ein Urteil "A und C sind Funktionen für B" möglich° 6 • (b) Wenn eine abschließende Aufzählung von Mitursachen möglich ist und nur eine Ursachenkombination, bestehend aus ACDE ... , B bewirkt, ist das Urteil "ACDE ... ist eine Funktion für B" möglich, sofern B bei Eliminierung eines Kombinationsfaktors nicht eintritt96 • 90 Ähnlich Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 115. 91 So Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 14. 82 So bereits Parsons bei Mayntz, Strukturell-funktionale Theorie, S. 1135; vgl. ferner Steinbeck, Einige Aspekte des FunktionsbegriHs, S. 111 mit Nachweisen. 93 Luhmann, Funktionale Methode, S. 35. 94 Vgl. dazu Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 14 H. 95 So Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 23 H. 96 Vorausgesetzt ist dabei, daß A überhaupt B bewirkt, aber nicht durch Feststellung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs derart, daß A stets (oder mit angebbarer Wahrscheinlichkeit) B bewirkt; dazu Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 23 a. E.

5 Bringewat

66 Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens Indem sich die funktionale Methode dieses umrissenen, vornehmlich von Luhmann entwickelten, Verfahrens bedient, vermag sie als regulatives Sinnschema den für Problemlösungen notwendigen Vergleichsbereich funktionaler Alternativen zu organisieren. Der dabei zu Grunde gelegte Funktionsbegriff verwandelt sich als reine Aussagekategorie in ein heuristisches Prinzip, das eine "logische Gleichung" zwischen einem funktionalen Bezugspunkt und der Klasse aller funktional-äquivalenten Ausführungmöglichkeiten herstellt97 • Funktionales Denken charakterisiert sich auf diese Weise im Grunde als äquivalenzfunktionales Denken und löst sich damit von der kausalwissenschaftlichen Konzeption der funktionalen Betrachtungsweise: "Funktion ist nicht mehr eine Sonderart der Kausalbeziehung, sondern die Kausalbeziehung ist ein Anwendungsfall funktionaler Ordnung98 ." 3. Die strafrechtswissenschaftliche Relevanz der methodologischen Prinzipien funktionalen Denkens Sowohl die Umschreibung der allgemeinen methodologischen Prinzipien funktionalen Denkens, als auch das im Grundsätzlichen damit übereinstimmende Anwendungsbeispiel der in der Soziologie entwickelten Formen funktionaler Analysen enthalten zwar noch undeutlich, aber doch erkennbar Anhaltspunkte für die strafrechtswissenschaftliche Relevanz der funktionalen Methode. Im Bereich der Strafrechtsdogmatik etwa, und hier speziell in der allgemeinen Verbrechenslehre, könnte der Straftatbegriff als eine Zusammenfassung aller Merkmale, die zur Beschreibung strafbaren Verhaltens erforderlich sind, einer funktionalen Analyse unterworfen werden. Die Anwendung der funktionalen Methode bei der Entwicklung des Straftatbegriffs bedeutet dann nichts anderes als eine Analyse der Straftatmerkmale unter funktionalen Gesichtspunkten nach dem Muster: Wenn eine Funktionsvoraussetzung N erfüllt ist, erreicht der Straftatbegriff99 einen bestimmten Zustand oder erhält diesen aufrecht; N kann durch X oder eine der möglichen funktionellen Alternativen erfüllt werden; X kann sowohl innerhalb als auch außerhalb des Straftatbegriffs liegen1oo • Freilich taucht dann hierbei die Notwendigkeit auf, den "Zustand" des Straftatbegriffs zu definieren, weil ohne diese Definition der Maßstab fehlt, mit dessen Hilfe die einzelnen Merkmale des als Straftat beschriebenen 97 Dazu Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 22; ferner ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 162; vgl. noch Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale WeIt 15 (1964), S. 116. gB Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 16. gg Hier untechnisch und gleichbedeutend mit Straftat-"system" verwendet. 100 Vgl. zum einfachsten Muster funktionaler Analysen etwa Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 14 ff.

3. Strafrechtswissenschaftliche Relevanz funktionalen Denkens

67

Verhaltens nach ihrer Funktionalität, Dysfunktionalität oder funktionalen Irrelevanz differenziert werden könnten. Damit erweist sich der "Zustand" des Straftatbegriffs als sog. abhängige Variable 101 , die vorweg definiert werden müßte, damit dann gleichsam retrospektiv nach der Wirkung einer unabhängigen Variablen, dem Begriffselement X, gesucht werden könnte 101 . Im Grunde genommen geht es dabei um eine Definition von "Zielzuständen" des Straftatbegriffs, die als Bezugspunkte für funktionale Analysen der einzelnen Straftatmerkmale in Betracht kommen könnten102 . Diese zur Bestimmung des funktionalen Bezugspunktes aller Straftatmerkmale notwendige Zustandsdefinition des Straftatbegriffs könnte selbst wiederum funktional hinterfragt werden, indem der Straftatbegriff nicht mehr als Bezugskategorie, sondern als funktionales Element verstanden würde. Ein solches Vorgehen ermöglichte zugleich die Anwendung der funktionalen Methode außerhalb der allgemeinen Verbrechenslehre. Die Relevanz der funktionalen Methode für die entscheidungswissenschaftliche Komponente der Strafrechtswissenschaft ergäbe sich beispielsweise dann, wenn als funktionaler Bezugspunkt des Straftatbegriffs ganz generell die "Strafrechtsanwendung" definiert würde. Entsprechendes gilt für die erkenntniswissenschaftliche Perspektive der Strafrechtswissenschaft. "Strafrechtsanwendung" und "Strafrechtserkenntnis" sind allerdings Globalbeschreibungen und wären ohne exakte Angabe ihrer inhaltlichen Einzelkriterien als funktionale Bezugspunkte sinnvoll nicht zu verwenden 103 . Unverwendbar wären insofern auch erweiterte Definitionen: "Sachgerechte Strafrechtsanwendung"104 stellt etwa nur dann einen tauglichen Bezugspunkt im Rahmen funktionaler Analysen dar, wenn sich zugleich die Kriterien der Sachrichtigkeit angeben lassen. Der Ermittlung von Richtigkeitskriterien für die Anwendung des Strafrechts ist jedoch die Frage nach der (komplexen) Funktionalität strafrechtlicher Normen vorgelagert. Auch unter dem Aspekt einer als Gesetzgebungswissenschaft betriebenen Strafrechtswissenschaft105 hat somit die funktionale Methode erkennbar eine bestimmte Bedeutung. Sofern etwa als funktionaler Bezugspunkt das soziale System "GesamtgeseIlschaft" und als Beurteilungsmaßstab dessen nach dem jeweils frei zu bestimmenden strafrechtswissenschaftlichen Erkenntnisziel ausgerichÄhnlich Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 14 ff. Grundsätzlich dazu StegmiUler, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 573 ff.; vgl. ferner Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 16 ff. 103 Zum Erfordernis der exakten Definition funktionaler Bezugspunkte vgl. allgemein Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 573 ff. 104 Vgl. etwa Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/2. 105 Allgemein zur Rechtswissenschaft als Gesetzgebungswissenschaft vgl. Maihofer, Realistische Jurisprudenz, in: Rechtstheorie, S. 462 ff. 101

102

68

Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens

teter Zustand definiert würde lo6 , führte die Anwendung der funktionalen Methode zu einer der Zustandsdefinition entsprechenden inhaltlichen Ausgestaltung strafrechtlicher Normen. Entscheidend käme es daher im gesetzgebungswissenschaftlichen Bereich der Strafrechtswissenschaft auf eine genaue Definition des funktionalen Bezugspunktes an. Die strafrechtswissenschaftliche Relevanz der funktionalen Methode zeigt sich indessen nicht nur unter dem Aspekt ihrer allgemeinen methodologischen Prinzipien. Vielmehr eröffnet deren typische Fragestellung nach der Funktionalität von Begriffen, Vorgängen, Systemen und Normen etc. zahlreiche Möglichkeiten, verschiedenartigste funktionale Kriterien zu berücksichtigen. Das trifft insbesondere für die sog. äquivalenzfunktionale Methode zu, deren Erkenntnisleistung in der Organisation funktionaler Äquivalenzbereiche besteht, so daß mit Hilfe von Vergleichen und Orientierungen an funktionalen Alternativen genau fixierte Problemkonstellationen gelöst werden können lo7 • Sinngemäß könnten unter strafrechtswissenschaftlichen Gesichtspunkten auf diese Weise auch außerstrafrechtliche Richtigkeitskriterien in die Strafrechtsdogmatik, die Strafrechts an wendung und Strafgesetzgebung Eingang finden. Voraussetzung dafür wäre nur die Feststellung, daß bestimmte außerstrafrechtliche und strafrechtliche Begriffe, Vorgänge, Systeme und Normen etc. funktionale Äquivalente darstellen und somit gegenseitig ersetzbar, austauschbar und fungibel sind. Damit scheint die eingangs formulierte Forderung nach einem Straftatbegriff, der neben anderen auch bestimmten gesellschaftlichen Funktionen genügP08, sowie die Forderung nach einer entsprechend mehrdimensional angelegten Strafrechtswissenschaftlo9 , deren Erkentnisse nicht lediglich durch ihre systeminterne, sondern auch durch ihre gesellschaftliche Richtigkeit ausgewiesen sind, auf der methodologischen Basis des funktionalen Denkens prinzipiell realisierbar zu sein. Aus der offenbar in allen Bereichen der Strafrechts wissenschaft anzutreffenden Relevanz der allgemeinen Prinzipien funktionalen Denkens kann indessen nicht ohne weiteres eine unter spezifisch strafrechtswissenschaftlichen Gesichtspunkten geeignete funktionale Methode entwickelt werden, eine Methode also, die - schlagwortartig umschrieben - realitätsgerechte Erkenntnisse liefern soll. Man könnte sich zwar mit einem Hinweis darauf begnügen, daß die aus wissenschaftstheoretischer Perspektive ermittelten allgemeinen Prinzipien der funktionalen Methode durch eine sachgebundene und an den Eigenarten der Straf108 107 108 109

Vgl. dazu grundsätzlich Mayntz, Kritische Bemerkungen, S. 16. Vgl. dazu Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 16 ff. Vgl. dazu oben Erster Abschnitt, 2.4.4. Vgl. dazu oben Erster Abschnitt, 2.4.4., auch Erster Abschnitt, 2.3.1.

3. Strafrechtswissenschaftliche Relevanz funktionalen Denkens

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rechtswissenschaft orientierte Konkretisierung notwendigerweise auch zu einem speziell strafrechtswissenschaftlichen Konzept der funktionalen Methode führt. Immerhin spricht aus der Tatsache, daß funktionales Denken und Argumentieren in vielfältiger Weise zahlreichen anderen Wissenschaftszweigen als Theorie und/oder Methode dient11o, und daß die allgemeinen Prinzipien des funktionalen Denkens in diesen disziplinspezifischen Ausgestaltungen der funktionalen Methode modifiziert wiederkehren, eine Vermutung für die prinzipielle Zulässigkeit eines solchen Vorgehens. Zuvor aber ist es erforderlich, einen für das Konkretisierungsverfahren tauglichen Anknüpfungspunkt zu bestimmen. Gleiches gilt sinngemäß für die überlegung, auf Grund der einheitlichen wissenschaftstheoretischen Basis disziplinspezifische Formen funktionalen Denkens aus einem Wissenschaftsbereich in einen anderen zu transponieren, etwa die funktionale Theorie und Methode der Soziologie durch entsprechende Sinnverschiebungen in die Strafrechtswissenschaft zu übertragen. Im Hinblick auf das soeben genannte Verfahren provozieren die unverkennbaren Unterschiede zwischen der Strafrechtswissenschaft und Soziologie freilich schon grundsätzliche Bedenken. Allerdings stellt die Kontradiktion "Strafrechtswissenschaft = normative Wissenschaft / Soziologie = deskriptive Wissenschaft"l11 oder "Normwissenschaft/empirische Wissenschaft" nicht selten das Ergebnis tendenziöser wissenschaftstheoretischer Abgrenzung(shysterie) dar. Die tatsächliche Problemkomplexität der Fragestellung wird so nicht etwa reduziert, sondern eher simplifiziert: Eine erschöpfende Antwort um faßt mehr als nur wissenschaftstheoretische Grundsätze. Darüber hinaus wäre der Schluß von der (wissenschaftstheoretischen) Unvereinbarkeit beider Disziplinen 1l2 auf die Unübertragbarkeit einzelner Theorien und Methoden vorbehaltlich disziplin adäquater Modifizierungen nicht zwingend. Aus der somit zu vermutenden grundsätzlichen übertragbarkeit funktionaler Denkweisen von einer Disziplin in eine andere lassen sich jedoch noch keine brauchbaren Kriterien ableiten, an denen sich der eigentliche Transponierungsvorgang orientieren könnte. Vielmehr ist auch insoweit eine Fixierung geeigneter Anknüpfungspunkte erforderlich. Die zentrale Kategorie sowohl der wissenschaftstheoretisch-allgemeinen methodologischen Prinzipien funktionalen Denkens als auch der bereits nach disziplinspezifischen Merkmalen konkretisierten funktio110 Vgl. dazu die Nachweise bei Merton, Funktionale Analyse, S. 136, dort auch Anm. 33, 34. m Dazu die Nachweise bei Müller-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S. 108, Anm. 11 - 14. 112 Vgl. dazu nur Coing, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften, S. 2; ferner die Nachweise bei Müller-Dietz, Sozialwissenschaften und Strafrechtsdogmatik, in: Strafrechtsdogmatik, S. 108, dort Anm. 11 -14.

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Zweiter Abschnitt: Methodologische Prinzipien funktionalen Denkens

nalen Theorie und Methode der Soziologie stellt der Funktionsbegriff dar. Das zeigt die typische Verwendung des Begriffs "Funktion" und seiner Derivate in den Schluß verfahren der funktionalen Analyse 113 ebenso wie die mit der Entwicklung des soziologischen Funktionalismus parallel verlaufende inhaltliche Veränderung des jeweils zu Grunde gelegten Funktionsbegriffs 114 • Ein weiteres Indiz für die wesentliche Bedeutung des Funktionsbegriffs im Rahmen disziplineigener methodologischer Konzepte des Funktionalismus ergibt sich aus der inhaltlichen Verschiedenartigkeit etwa des mathematischen115 , des biologischen 116 oder des psychologischen117 und anthropologischen117 Funktionsbegriffs. Das Konzept einer speziell den strafrechts wissenschaftlichen Erkenntnisabsichten dienenden funktionalen Methode setzt daher vermutlich ebenfalls einen (speziellen) Funktionsbegriff voraus. Und dieser Funktionsbegriff enthält zugleich die zur Entwicklung einer eigenständigen funktionalen Methode für die Strafrechtswissenschaft notwendigen Anknüpfungspunkte. Somit stellt sich zunächst die Frage, welche Struktur und welche inhaltlichen Kriterien der strafrechtliche Funktionsbegriff aufweist.

Dazu StegmüHer, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 566 ff. Dazu instruktiv Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs, Soziale Welt 15 (1964), S. 97 ff. 115 Dazu allgemein Bochenski, Formale Logik, S. 371 ff.; ferner Knauthe, Kausales Rechtsdenken, S. 65 ff.; Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 38 ff.; Priester, Rationalität und funktionale Analyse, JfRR 1 (1970), S. 483 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen. 116 Allgemein dazu Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 558 ff. 117 Vgl. die Beispiele bei Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, S. 563 ff. 113

114

Dritter Abschnitt

Der strafrechtliche Funktionsbegriff Bereits das Vorfeld des Versuchs, die Kategorie der Funktion im Strafrecht zu bestimmen, ist durch Unsicherheiten in der Frage nach dem zweckmäßigsten Vorgehen gekennzeichnet. Bemerkenswert ist unter diesem Aspekt die verstärkt zu beobachtende Tendenz, Begriffe wie Funktion, Funktionszusammenhang, funktionell, funktional, funktionale Beziehung etc. in strafrechtswissenschaftliche Begründungszusammenhänge einzustellen1 oder gar ausschließlich als "funktional" umschriebene Argumentationen zur strafrechtlichen Problemlösung heranzuziehen2 • Bisweilen hinterlassen derartige überlegungen allerdings den Eindruck lediglich terminologischer Neuerungen3 • Generell läßt sich jedoch feststellen, daß "Funktion" und Derivate dieses Wortstammes ohne weiteres als aus sich selbst heraus verständlich für strafrechtswissenschaftliche Argumentationen verwandt werden. Dieser Befund gründet sich indes nicht allein auf den nicht selten anzutreffenden Mangel an methodologischer Reflexion, sondern impliziert zugleich die Existenz eines strafrechtlichen Funktionsbegriffs: Die Tatsache, daß bei der Verwendung funktionaler Argumente in strafrechtswissenschaftlichen Begründungszusammenhängen nicht ausdrücklich auf dessen Struktur und Inhalt eingegangen wird, läßt den Schluß zu, daß in der Strafrechtswissenschaft funktionalen überlegungen unbewußt eben dieser Funktionsbegriff, und zwar ein nach Struktur und Inhalt jeweils einheitlicher Funktionsbegriff, zu Grunde gelegt wird. Das Aufsuchen des strafrechtlichen Funktionsbegriffs setzt daher zweckmäßigerweise dort an, wo in der Strafrechtswissenschaft bereits von Funktionalität etc. die Rede ist. Dann ergeben sich möglicherweise Kriterien, die es erlauben, eine Definition des strafrechtlichen Funktionsbegriffs zu versuchen. 1 So etwa Herzberg, Funktionale Beziehung, JuS 1971, S. 517; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 27 ff.; Rudolphi, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, F. 166, um nur einige zu nennen; vgI. noch Esser, StrafR H, Nr. 25 A 19; Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. zum AT, Rdnr. 103 Lf. 2 VgI. insoweit nur Kienapfel, Erscheinungsformen der Einheitstäterschaft, S. 34 ff. 3 vgI. z. B. Michaelowa, Der Begriff der strafrechtswidrigen Handlung, S. 22, wenn dort ohne Begründung "Funktion" synonym für "teleologisches Prinzip" verwandt wird.

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Dritter Abschnitt: Der strafrechtliche Funktionsbegriff 1. Ansätze zu einer funktionalen Begriffsanalyse im Problembereich der strafrechtlichen Handlungslehre

Nach verbreiteter Auffassung4 muß der strafrechtliche Handlungsbegriff gewissen Funktionen genügen, und zwar einer Klassifikationsfunktion, einer Definitionsfunktion, einer Verbindungs- und einer Grenzfunktion 5 • Diese "Funktionalisierung" des Handlungsbegriffs geht jedoch von verschiedenen Voraussetzungen aus: Zum einen beruht sie auf einer Systematik der Straftatmerkmale, die ungeachtet aller materialen Modifizierungen im Prinzip der klassifikatorisch-kategorialen Systemkonzeption 6 entspricht. Daraus ergibt sich zum anderen, daß auf Grund des insoweit typischen strukturellen Aufbaus der Straftatmerkmale dem Handlungsbegriff ein bestimmter Stellenwert zugewiesen werden muß. Beide Voraussetzungen sind nach dem gegenwärtigen Stand der Verbrechenslehre angreifbar7 , sei es. daß ein Festhalten am Systemgedanken grundsätzlich in Frage gestellt wird, sei es, daß "realitätsadäquate" Systemkonzeptionen strukturell in anderer Weise aufzubauen sind. Solche Einwände sind berechtigt. Dennoch spielt das klassifikatorisch-kategoriale Systemmodell in der heute vorherrschenden allgemeinen Verbrechenslehre noch immer eine gewichtige RolleS. Für die hier beabsichtigte Ermittlung des strafrechtlichen Funktionsbegriffs hat indessen die Kritik an einer bestimmten Straftatsystematik, so berechtigt sie sein mag, nur sekundäre Bedeutung, weil sie die allgemeinen strukturellen und inhaltlichen Merkmale des als relativ konstant gesetzten Funktionsbegriffs im wesentlichen unberührt läßt. Entscheidend ist danach nur, daß die Funktionalität strafrechtlicher Begriffe thematisiert und problematisiert wird, denn aus derartigen funktionalen Begriffsanalysen werden sich mittelbar oder unmittelbar Kriterien des, wenn auch methodologisch unreflektiert und unbewußt vorausgesetzten, Funktionsbegriffs ergeben. Ein Beispiel für funktionale Begriffsanalysen in der Strafrechtswissenschaft stellt die von Maihofer vorgetragene Untersuchung über die Funk4 Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, § 23 I, 2; Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 6 ff.; Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur der Handlung, S. 90 f.; Wessels, Strafrecht AT, § 2 I a. E., um nur einige zu nennen. 5 Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 6 ff. nennt die Definitionsfunktion des Handlungsbegriffs allerdings nicht ausdrücklich. 6 Vgl. dazu oben Erster Abschnitt, 2.4.1. 7 Zur Kritik vgl. nur Schmidhäuser, Strafrecht AT, 7/29 ff. 8 Maurach, Strafrecht AT, § 16 I AI b (S. 163) bezeichnet die Art der systematischen Einordnung des Handlungsbegriffs als herrschende Lehre; auch Schmidhäuser, Strafrecht AT, 7/29 ff. kritisiert den klassifikatorischen Ansatz der allgemeinen Verbrechenslehre unter dem Stichwort "Straftatsystematik der Gegenwart"; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 14 ff. geht bei der Fragestellung nach der kriminalpolitischen Funktion einzelner Deliktsmerkmale im Prinzip von eben jenem klassifikatorisch-kategorialen Verbrechensbegriff aus.

1. Funktionale Begriffsanalyse in der Handlungslehre

73

tionalität des Handlungsbegriffs im Verbrechenssystem darg. Freilich geht es Maihofer primär darum, sowohl der überkommenen sog. kausalen als auch der in einem gewissen Gegensatz dazu stehenden sog. finalen Handlungslehre einen "sozialen" Handlungsbegriff gegenüber zu stellen und unter funktionalen Gesichtspunkten die im Vergleich zum sozialen Handlungsbegriff bestehenden Unzulänglichkeiten des kausalen bzw. finalen Handlungsbegriffs aufzuzeigen. Für den Versuch, bereits vorhandene funktionale Begriffsanalysen nach möglichen Kriterien des noch zu bestimmenden strafrechtlichen Funktionsbegriffs "abzusuchen", ist allerdings nicht diese Diskussion um strafrechtliche Handlungsbegriffe wesentlich, sondern die Art der Argumentation, mit der die Funktionstauglichkeit bzw. -untauglichkeit des einen oder anderen Handlungsbegriffs überprüft wird. Die nachfolgende Beschreibung der von Maihafer erarbeiteten funktionalen Begriffsanalysen im Bereich der strafrechtlichen Handlungslehre legt ganz bewußt weder im Grundsätzlichen noch im Einzelnen Wert auf eine kritische Stellungnahme oder g.ar Identifizierung in der Sache selbst, sondern soll nur gewissermaßen exemplarisch ausgewähltes "Anschauungsmaterial" aufarbeiten. 1.1. nie Klassifikationsfunktion des Handlungsbegriffs

Diese erste, dem Handlungsbegriff im Verbrechenssystem zugewiesene Funktion erklärt sich zum einen aus der eigenartigen Strukturierung des klassifikatorisch-kategorialen Systemmodells!O, deren allumfassender Oberbegriff im Wege einer "radikalen Abstraktion" ermittelt wird ll , zum anderen aus der Tatsache, daß es gerade der strafrechtliche Handlungsbegriff im klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystem ist, der diesen systematischen Oberbegriff ausmacht!2. Die Geschlossenheit einer derartigen Systematik setzt eine logischsystematisChe Einheitlichkeit sämtlicher Verbrechensmerkmale voraus: Vom Handlungsbegriff als "genus proximum" müssen daher sämtliche

9

Vgl. grundlegend Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem,

S.6 ff.

Dazu oben Erster Abschnitt, 2.4.l. Eine andere Methode ist für den Aufbau eines klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystems kaum denkbar, weil es insoweit unter einer Art "Strukturzwang" steht. Dazu schon v. Liszt, Rechtsgut und Handlungsbegriff, S. 215: "Immer aber und ausnahmslos muß die Abstraktion und durch sie das System angestrebt werden" (Hervorhebung von mir). 12 Zur Kritik an dieser Rangzuweisung des Handlungsbegriffs vgl. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 7/30 ff. 10 11

74

Dritter Abschnitt: Der strafrechtliche Funktionsbegriff

"differentiae specificae" ausgehen können13 . Die logische Bedeutung des Handlungsbegriffs im VerbreclJ.enssystem besteht somit darin, daß alle übrigen Merkmale, die im Rahmen strafrechtlicher Beurteilungen überhaupt in Betracht kommen können, eben jenen Handlungsbegriff als Bezugskategorie voraussetzen14 . Mit der logisch-systematischen Bedeutung des Handlungsbegriffs fällt seine Funktion als Grundelement der Straftatsystematik zusammen15 : Alle Arten möglicherweise strafrechtsrelevanten menschlichen Verhaltens, Wirkens und Bewirkens in der realen Lebenswirklichkeit muß der Handlungsbegriff klassifizieren können. Positives Tun ebenso wie Unterlassen, vorsätzliches ebenso wie fahrlässiges, finales ebenso wie nichtfinales Verhalten, Vollendung und Versuch müssen von ihm in seiner "ausgezeichneten Stellung"16 als systematischer Ober- und Grundbegriff erfaßt werden17. Jeder Handlungsbegriff, der seiner Klassifikationsfunktion gerecht werden soll, muß somit zugleich auch die logische Stimmigkeit des Straftatsystems gewährleisten. Nach dieser allgemeinen Vorabbestimmung der durch den Handlungsbegriff zu erfüllenden Klassifikationsfunktion demonstriert Maihofer 18 im Rahmen einer überprüfung des kausalen, finalen und sozialen Handlungsbegriffs auf deren logische Einheitlichkeit, inwieweit die verschiedenen Handlungsbegriffe der beschriebenen Klassifikationsfunktion gerecht zu werden vermögen: Der sog. "kausale"19, natürliche 20 oder kritisch auch naturalistisch genannte Handlungsbegriff definiert Handlung als willensgetragenes körperliches Verhalten. Die Merkmale der "Körperlichkeit" und "Willkürlichkeit" heben somit aus der Komplexität mensch13 So Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 7 mit weiteren Nachweisen in Anm. 7. 14 So Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 7. 15 Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 6. Daß hier die wesentlichen Gedanken Maihofers referiert werden, ist als eine Verdeutlicl1ung dessen zu verstehen, was .. Klassifikationsfunktion" sein soll und welche Probleme sich daraus für den strafrechtlichen Handlungsbegriff ergeben. 16 Engisch, Der finale Handlungsbegriff, S. 145. 17 So Jescheck, Strafrecht AT, § 23 I 2; ders., Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung, S. 140 f.; Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur der Handlung, S. 90, 91; Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 7. 18 Vgl. dazu Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 11 ff., 38 ff., 66 ff. 19 Dieser Handlungsbegriff ist mit "kausal" nach heutigem Stand der Handlungslehre nicht mehr korrekt bezeichnet, denn in Wirklichkeit kommt auch der .. kausale" Handlungsbegriff nicht ohne Bezug auf die soziale Realität aus, vgl. dazu statt aller Baumann, Strafrecht AT, § 16 I 1 a; Eser, StrafR I, Nr. 3A 15 ff.; Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. zum AT, Rdnr. 27 a je mit weiteren Nachweisen. 20 So Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 11 ff.

1.

Funktionale Begriffsanalyse in der Handlungslehre

75

licher Verhaltensweisen bestimmte Arten heraus, die im Sinne der Definition dann als "Handlungen" zu bezeichnen sind. "Genus proximum" etwa für positives Tun und Unterlassen scheint demnach das "menschliche Verhalten" zu sein. Aber diese Aussage stößt in logischer Hinsicht offenbar auf eine Schwierigkeit: Wie können positives Tun und Unterlassen unter dem einheitlichen Gesichtspunkt des Verhaltens zusammengefaßt werden, wenn sie doch letztlich als ontologische alia, als "a und non-a" zu verstehen sind 21 ? Wie sollen ein Begriff und sein kontradiktorisches Gegenteil, Position und Negation, einem gemeinsamen Oberbegriff unterstellt werden können22 ? Die Beachtlichkeit dieser Fragestellung ist zumindest im Hinblick auf die für die Klassifikationsfunktion von Maihofer als notwendig erachtete logische Einheitlichkeit des Handlungsbegriffs evident. Sie erfordert allerdings eine präzise Formulierung des logischen Problems, denn die logische Unmöglichkeit, positives Tun und Unterlassen unter einem gemeinsamen Oberbegriff zusammenzufassen, besteht nur dann, wenn das Unterlassen aus der Sicht der Verhaltensform "positives Tun" als dessen Negation gekennzeiChnet wird23 • Unter dem Begriff "Verhalten" als einer Art "technischer Handlungsbegriff" lassen sich dagegen positives Tun und Unterlassen durchaus als eine Einheit begreifen. Wenigstens in formallogischer Hinsicht wäre damit an der Funktions- und Leistungsfähi~­ keit des (technischen) Handlungsbegriffs im klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystem nicht zu zweifeln 24 • In dieser Perspektive stehen positives Tun und Unterlassen nicht mehr als Position und Negation und damit als kontradiktorischer Gegensatz unverbunden nebeneinander, sondern münden als These und Antithese in der dialektischen Synthese des menschlichen Verhaltens ein23 •

21 Dazu etwa auch Engisch, Der finale Handlungsbegriff, S. 145; Gallas, Beiträge, S. 25 ff. bzw. ZStW 67 (1955), S. 11 ff.; Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur der Handlung, S. 90; Radbruch, Der Handlungsbegriff, S. 141 ff.; Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 270. 22 So vor allem schon Radbruch, Der Handlungsbegriff, S. 141 f. Zu den Konsequenzen dieser überlegung vgl. beispielhaft etwa die unverkennbare systematische Zweispurigkeit (dazu auch Schmidhäuser, Verbrechenslehre, S. 270 ff.) bei Schönke!Schröder, StGB, Vorbem. zum AT, Rdnr. 25 ff., 81 ff. mit weiteren Nachweisen; vgl. ferner noch Engisch, Der finale Handlungsbegriff, S.145. 23 So Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 12 ff. 24 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Michaelowa, Der Begriff der strafrechtswidrigen Handlung, S. 83 ff. von einem gewissermaßen "existenziellen" Handlungsbegriff aus gesehen: "Infolgedessen ist eine Unterlassung als ein nicht-so-Sein, als Äußerung der Existenz, die nicht in einer bestimmten Weise erfolgt, nicht gleichzusetzen mit einem überhaupt-nicht-Sein, sondern nur mit einer Seinsäußerung auf eine andere Weise, einem Anders-Sein" (S. 85, 86); vgl. ferner auch H. Mayer, Vorbemerkungen, S. 139.

76

Dritter Abschnitt: Der strafrechtliche Funktionsbegriff

Freilich ist damit der Handlungsbegriff in seinem materiellen Gehalt auf ein Mindestmaß reduziert 25 • Ein derartiger Handlungsbegriff kann zwar als ein erster Systemschritt geeignet sein. Er vermag jedoch nicht die notwendig nachfolgenden differenzierenden Straftatmerkmale zu begründen 26 . Eben deshalb muß ein sog. kausaler Handlungsbegriff als materieller Begriff die Strukturmerkmale der Körperlichkeit und Willkürlichkeit enthalten: Erst jetzt ist es möglich zu entscheiden, welches menschliche Verhalten als Handlung im strafrechtlichen Sinne bezeichnet sein so1l27. Und damit stellt sich die Frage nach der logischen Einheitlichkeit des (kausalen) Handlungsbegriffs in anderer Weise erneut: Wie sollen positives Tun und Unterlassen von einem materiellen, durch die Strukturmerkmale der Körperlichkeit und Willkürlichkeit gekennzeichneten, sog. kausalen Handlungsbegriff einheitlich erfaßt werden können? Die kausale Handlungslehre müßte danach sowohl das positive Tun als auch das Unterlassen als ein vom Willen beherrschbares (willkürliches) körperliches Verhalten erklären können. Indes ist das Unterlassen als "körperliches Geschehen" in der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt unauffindbar28 . Diesen Charakter erlangt es erst am Maßstab einer "fiktiven Realität": als nicht vorhandene, hypothetisch aber erwartete Tätigkeit 29 . Aber damit ist die Körperlichkeit der Unterlassung allein ein Denkproze(330. Ähnlichen Bedenken ist der kausale Handlungsbegriff auch im Hinblick auf die Willkürlichkeit des Unterlassens ausgesetzt; denn ein Willensakt als Ursache für bestimmte Folgen in der Außenwelt 31 ist im Unterlassen, jedenfalls nach der Auffassung von Maihofer, nicht derart enthalten, daß es, wenn auch nur psychologisch, als Faktum feststellbar wäre 32• Auch das Merkmal der Willkürlichkeit erfaßt somit die Unterlassung nur, wenn es auf ein konkret erwartetes Wollen bezogen wird. Die im sog. kausalen Handlungsbegriff als realexistent definierte Willkürlichkeit (der Unterlassung) läßt sich somit ebenfalls nur als DenkSo Mezger, Strafrechtsdogmatik, S. 13. So. H. Mayer, Vorbemerkungen, S. 140 ff., (S. 141, 142). Dieser Gesichtspunkt spielt insbesondere eine Rolle für die noch zu beschreibende Definitionsund Verbindungsfunktion des Handlungsbegriffs. 27 So Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 14, vgl. dort auch Anm. 14. 28 So jedenfalls Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 17 ff., 20 ff. 29 Dazu Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 17 ff.; vgl. ferner Mezger, Strafrecht, S. 132 ff.; Gallas, Beiträge, S. 26 ff. und ZStW 67 (1955), S. 8 ff., insbesondere auch Anm. 28; Jescheck, Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung, S. 143 ff. 30 Dazu auch Hardwig, Die Zurechnung, S. 100 ff.; E. A. WoZft, Der Handlungsbegriff, S. 11. 31 So z. B. Jescheck, Strafrecht AT, § 23 II 1 mit weiteren Nachweisen. 32 So Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 21. 25 26

1. Funktionale Begriffsanalyse in der Handlungslehre

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prozeß begreifen. Ein so strukturierter Handlungsbegriff kann daher seiner Funktion als Grundelernent, alle Arten menschlichen Verhaltens, die überhaupt strafrechtsrelevant sein können, zu klassifizieren, schon deshalb nicht genügen, weil von ihm positives Tun und Unterlassen nicht zu einer logischen Einheit zusammengefaßt werden können 33 • Vor prinzipiell ähnlichen Problemen scheint der sog. finale Handlungsbegriff zu stehen. Während die kausale Handlungslehre das Merkmal der Willkürlichkeit lediglich als Ursache für Außenweltveränderungen versteht34, sieht die finale Handlungslehre in der Willensintention das entscheidende Kriterium menschlichen Verhaltens. Weil menschliches Handeln die Ausübung von Zwecktätigkeit ist, kann Handlung nur ein finales und nicht lediglich kausales Geschehen sein. Finalität in diesem Sinne wird allerdings ebenso wie die Kausalität als ontologischer Begriff verstanden und als konkretes Strukturmerkmal des Seins aufgefaßt35 : des menschlichen HandeIns. Finalität ist damit die "Fundamentalstruktur" menschlichen Handelns36 • Sie unterscheidet sich von der Kausalität dadurch, daß der Mensch die möglichen Folgen des HandeIns auf Grund seines Kausalwissens antezipieren kann. Diese finale Antezipation umfaßt die Bestimmung des Handlungszwecks, die Auswahl der zur Zweckerreichung notwendigen Mittel und das Erkennen von Nebenfolgen, die mit dem Einsatz der Mittel und dem Erreichen des Zwecks verbunden sind. Gerade dieses kausale Vorauswissen versetzt den Menschen daher in die Lage, die einzelnen Handlungsakte so zu steuern, daß er den äußeren Kausalprozeß final überdeterminiert, indem er seine Tätigkeit planvoll auf ein bestimmtes Ziellenkt35 • Die Finalität ist es, die der Handlung ihren Sinngehalt gibt. Finalität als eine streng kategoriale Kennzeichnung der Handlungsstruktur bedeutet nach der finalen Handlungslehre jedoch nichts anderes als Vorsätzlichkeit35 im ~inne eines zielgerichteten W ollens. Insbesondere in dieser Gleichsetzung von Finalität und Vorsätzlichkeit zumindest in deren Bedeutungsgehalt sieht Maihofer 37 den Grund dafür, daß es dem finalen Handlungsbegriff als Systemoberbegriff nicht gelingt, 33 Zu diesem Ergebnis kommt Maihojer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 33. 34 Dazu Jescheck, Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung, S. 145. 35 Dazu grundlegend WeZzeZ, Das neue Bild, Vorwort und S. 1; ders., Kausalität, S .709 ff.; ders., Studien, S. 494 ff.; ders., Naturalismus und Wertphilosophie, S. 79 ff.; ders., Um die finale Handlungslehre, S. 7 ff.; ders., Strafrecht, § 8 I; vgl. ferner schon zu Dohna, Verbrechenslehre, S. 27 ff.; weiter auch H. v. Weber, Verbrechenssystem, S. 8 ff.; Maurach, Strafrecht AT, § 16 I A, II A; Niese, Finalität, S. 11 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen. 36 So WeZzeZ, Um die finale Handlungslehre, S. 7 ff. 37 Dazu Maihojer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 38 ff.

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Dritter Abschnitt: Der strafrechtliche Funktionsbegriff

dem Verbrechenssystem eine einheitliche Grundlage zu geben: Denn das Strukturmerkmal der Finalität ist im Unterlassen überhaupt nicht enthalten38 • Hier muß somit auf eine fiktive, sog. potentielle38 Finalität zurückgegriffen werden, die jedoch wiederum nicht als Faktum erfahrbar ist, sondern eine gedachte Tätigkeit als Bezugspunkt benötigt39 • Auch der finale Handlungsbegriff vermag daher die dem allgemeinen Handlungsbegriff im Verbrechenssystem entsprechend der funktionalen Begriffsanalyse von Maihofer zuzuweisende Klassifikationsfunktion nicht zu erfüllen40 • Die "neuralgischen Punkte" des sog. kausalen und finalen Handlungsbegriffs im Hinblick auf deren funktionale Geeignetheit als Grundelement des Straftatsystems stellen grundsätzlich auch für die soziale Handlungslehre ein Problem dar, weil die soziale Handlungslehre sowohl auf einem "kausalen" als auch auf "finalem" Ansatz beruhen kann41 , je nach dem welches Gewicht dem Willenskriterium beigelegt wird. Das entscheidende konstitutive und selbständige Element des sozialen Handlungsbegriffs ist die an ihrer sozialen Relevanz gemessene Sinnhaftigkeit des menschlichen Verhaltens. Dieses Kriterium, das zugleich die soziale Handlungslehre von anderen Handlungsbegriffen abhebt, stellt als Spezifikum des handelnden Menschen dessen Personalität und Sozialität in den Mittelpunkt der Betrachtung42 • Die "Spannbreite" der sozialen Handlungslehre entsteht durch eine unterschiedliche Gewichtung der verschiedenartigen Bezüge zwischen der Handlung als Objektivation der Person und ihrer Individualität: Eb. Schmidt etwa begreift die Handlung als sinnlich wahrnehmbare Veränderung in der sozialen Außenwelt durch willkürliches Verhalten 43 • An die Stelle der sinnlichen Wahrnehmbarkeit tritt später als Beurteilungsmaßstab der soziale Sinn der Handlung vom sozialen Standpunkt aus 44 • "Handlung" erscheint somit als willkürliches 38 Dazu vor allem Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 27 ff., 66 ff., 103 ff.; ferner Engisch, Der finale Handlungsbegriff, S. 144 ff. 39 Eine weitere Schwierigkeit besteht für die finale Handlungslehre bekanntlich in der Frage der Behandlung von fahrlässigen Taten. Hier mußten immer wieder neue Begründungen gefunden werden; vgl. dazu etwa Nowakowski, Zur Fahrlässigkeit, JZ 1958, S. 335 ff., 388; Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. zum AT, Rdnr. 32 mit weiteren Nachweisen. 40 So Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 38 ff., 55; vgl. ferner noch Gallas, Beiträge, S. 25 ff. und ZStW 67 (1955), S. 8 ff.; Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur der Handlung, S. 94; Mezger, Die Handlung im Strafrecht, S. 123; Michaelowa, Der Begriff der strafrechtwidrigen Handlung, S. 33 ff., 36 ff.; E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff, S. 13. 41 Dazu Esser, StrafR I, Nr. 3 A 18 ff. 42 Dazu allgemein Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur der Handlung, S. 96; Michaelowa, Der Begriff der strafrechtswidrigen Handlung, S. 35; E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff, S. 29 ff. 43 Dazu v. Liszt/Schmidt, Strafrecht, S. 153 ff. 44 So etwa Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, S. 78 ff.

1. Funktionale Begriffsanalyse in der Handlungslehre

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Hineinwirken in die sozialen Lebenszusammenhänge mit einem bestimmten sozialen Sinn45. Um diesen zwar sozialen, aber die Individualität der handelnden Person noch stark beachtenden Handlungsbegriff von seinen subjektiven Begrenztheiten der Täterpersönlichkeit abzulösen, findet eine Art "objektive Finalisierung" in ihn Eingang 46 : Handeln soll danach das Bewirken bezweckbarer Folgen durch einen willkürlich vollzogenen Akt und schließlich das willkürliche Bewirken berechenbarer sozialerheblicher Folgen sein46 . Trotz aller Wendung zum Objektiven: Auch dieser soziale Handlungsbegriff kommt ohne die, wenn auch nur sekundär erscheinende, Berücksichtigung der Willkürlichkeit nicht aus. Ein sozialer Handlungsbegriff, der seine Klassifikationsfunktion erfüllen soll, muß daher nach der Ansicht von Maihofer 41 sämtliche Restbestände der "kausalen" Handlungslehre entweder eliminieren oder jedenfalls so stark reduzieren, daß ihnen nur noch unerhebliche Bedeutung zukommt. Dafür ist die Erkenntnis notwendig, daß Handlung nicht lediglich nur das äußere oder innere Bewirken einer Wirkung sein kann, sondern als Akt und Produkt einer geistigen Leistung verstanden werden muß48: Körperlichkeit, Willkürlichkeit und Willentlichkeit sind keine brauchbaren begrifflichen Merkmale der Handlung 49 • Handlung ist vielmehr ein Leistungsbegriff, das Handeln selbst ein Geschehen zwischen Menschen: sozialrelevante Leistung oder Fehlleistung49 • Eine zu starke Objektivierung würde jedoch zur Verengung des sozialen Handlungsbegriffs führen 50 • Deshalb sind in objektivierter Form willensbezogene Elemente für den Handlungsbegriff unerläßlich. Maihofer sieht somit als konstitutiv für einen objektiven, finalen, personalen und insgesamt sozialen Handlungsbegriff intellektuelle, voluntative, objektive und soziale Elemente an und definiert Handlung als jedes objektiv beherrschbare Verhalten mit Tendenz auf eine objektiv vorhersehbare soziale WirkungS!. 45 Eb. Schmidt, JZ 1956, S. 292; vgl. noch ders., SJZ 1950, Sp. 286 ff. und ders., Soziale Handlungslehre, S. 341 f. 46 Dazu Engisch, Der finale Handlungsbegriff, S. 160 ff.; ferner ders., Weltbild, S. 38 ff. 47 Dazu Maihojer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, S. 68 ff. 48 So Maihojer, Der soziale Handlungsbegriff, S. 159 ff. 49 In diesem Sinne Maihojer, Der soziale Handlungsbegriff, S. 171. 50 Diese Gefahr konnte Maihojer, Zur Systematik der Fahrlässigkeit, ZStW 70 (1958), S. 99 ff., (169) und ders., Der soziale Handlungsbegriff, S. 179 nicht ganz bannen: In Teilbereichen allein auf die objektive Zweckläufigkeit des Geschehens abzustellen, verkennt, daß Personalität und Sozialität des Menschen Wechselbezüge und Identifikationen enthalten. Insofern ist die Kritik von Jescheck, Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung, S. 153; Michaelowa, Der Begriff der strafrechtswidrigen Handlung, S. 35 ff.; Arthur Kaujmann, Die ontologische Struktur der Handlung, S. 97, berechtigt. 51 So Maihojer, Der soziale Handlungsbegriff, S. 178, 179, vgl. dort auch S. 177 Anm.53.

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Dritter Abschnitt: Der strafrechtliche Funktionsbegriff

Die Grundlage dieser Definition lautet: Handlung ist sozialerhebliches menschliches Verhalten52 , eine Kennzeichnung, die es nach der Auffassung von Maihofer dem sozialen Handlungsbegriff ermöglicht, seiner logischsystematischen Bedeutung gemäß die logische Einheitlichkeit der klassifikatorisch-kategorialen Verbrechenssystematik zu gewährleisten und damit zugleich seiner Klassifikationsfunktion im Verbrechenssystem zu genügen53 • 1.2. Die Definitions- und Verbindungsfunktion des Handlungsbegriffs

Hierbei handelt es sich im Sinne der von Maihofer durchgeführten funktionalen Begriffsanalyse um systeminterne Funktionen des Handlungsbegriffs, die in einem gewissen "dialektischen" Spannungsverhältnis stehen54 • Die Definitionsfunktion besteht im Unterschied zur Klassifikationsfunktion darin, nicht nur dafür zu sorgen, daß in dem Handlungsbegriff alle Arten überhaupt denkbaren strafrechtserheblichen Verhaltens Aufnahme finden können, sondern zu ermöglichen, daß die Systembegriffe der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld als nähere Erläuterungen an ihn angeschlossen werden können55 • Der Handlungsbegriff genügt dagegen seiner Verbindungsfunktion nur dann, wenn die funktionale Aufeinanderfolge der Systemkategorien in Form einer stufenweisen "Subsidiarität" der jeweiligen Oberbegriffe56 gewahrt bleibt. Aus dieser Perspektive muß somit einerseits der Handlungsbegriff so viel materiellen Gehalt besitzen, daß die Kategorien der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit un