Friedrich Naumann in seiner Zeit [Reprint 2013 ed.] 9783110800531, 9783110166057

Papers on the different phases in the life and work of the social-liberal pastor, publicist and politician Friedrich Nau

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German Pages 381 [384] Year 2000

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Friedrich Naumann in seiner Zeit [Reprint 2013 ed.]
 9783110800531, 9783110166057

Table of contents :
Einführung
I. Politischer Gestaltungswille aus christlicher Verantwortung
Naumann und die Innere Mission
Wege in die Politik. Friedrich Naumann und Adolf von Harnack
Friedrich Naumann und der Evangelischsoziale Kongreß
II. Politischer Liberalismus in einer organisierten Welt
Der Liberalismus im Kaiserreich
Friedrich Naumann und der Kirchliche Liberalismus
Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation
III. Kapitalismus und Freisinn im Kulturdiskurs
Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik - Friedrich Naumann und der Versuch einer Neukonzeptualisierung des Liberalismus im Wilhelminischen Deutschland
„Maschine und Persönlichkeit“. Friedrich Naumann als Kritiker des Willhelminismus
Im Zeitalter der Sammelwerke. Friedrich Naumanns Projekt eines „Deutschen Staatslexikons“ (1914)
IV. Transformationen in Weltkrieg und Weimarer Republik
„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich.“ Friedrich Naumann und die deutsch-französischen Beziehungen (1899-1919)
Friedrich Naumanns „Mitteleuropa". Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen
„Wohin sollen wir gehen?“: Liberalismus und Weltkrieg
Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen. Ein Beitrag zum Verhältnis des Protestantismus zur Weimarer Republik
V. Werk und Wirkung
„Kein spiegelglattes, problemloses Christentum“. Über Friedrich Naumanns Theologie und ihre Wirkungsgeschichte
Friedrich Naumann und die politische Bildung
Theodor Heuss und Naumanns Nachleben in der Bundesrepublik Deutschland
Personenregister
Autorenverzeichnis

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Friedrich Naumann in seiner Zeit

Friedrich Naumann in seiner Zeit Herausgegeben von

Rüdiger vom Bruch

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin · New York 2000

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Friedrich Naumann in seiner Zeit / hrsg. von Rüdiger VomBruch. Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 ISBN 3-11-016605-4

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Textkonvertierung: Ready Made, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis RÜDIGER VOM B R U C H :

Einführung

1

I. Politischer Gestaltungswille aus christlicher Verantwortung J O C H E N - C H R I S T O P H KAISER:

Naumann und die Innere Mission . . .

Wege in die Politik. Friedrich Naumann und Adolf von Harnack

11

KURT NOWAK:

KLAUS E R I C H POLLMANN:

27

Friedrich Naumann und der Evangelisch-

soziale Kongreß

49

II. Politischer Liberalismus in einer organisierten Welt K A R L HEINRICH P O H L :

Der Liberalismus im Kaiserreich

F R A N K - M I C H A E L KUHLEMANN:

Friedrich Naumann und der

Kirchliche Liberalismus URSULA K R E Y :

65

91

Der Naumann-Kreis: Charisma und politische

Emanzipation

115

III. Kapitalismus und Freisinn im Kulturdiskurs T R A U G O T T JÄHNICHEN: Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik - Friedrich Naumann und der Versuch einer Neukonzeptualisierung des Liberalismus im Wilhelminischen Deutschland . . . . 1 5 1 GANGOLF HÜBINGER: „Maschine und Persönlichkeit". Friedrich Naumann als Kritiker des Willhelminismus

167

Im Zeitalter der Sammelwerke. Friedrich Naumanns Projekt eines „Deutschen Staatslexikons" ( 1 9 1 4 ) . . . 1 8 9 HELEN MÜLLER:

VI

Inhaltsverzeichnis IV. Transformationen in Weltkrieg und Weimarer Republik

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich." Friedrich Naumann und die deutsch-französischen Beziehungen (1899-1919) 209 PHILIPPE ALEXANDRE:

Friedrich Naumanns „Mitteleuropa". Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen 245

J Ü R G E N FRÖLICH:

HANS CYMOREK:

Weltkrieg

„Wohin sollen wir gehen?": Liberalismus und

269

Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen. Ein Beitrag zum Verhältnis des Protestantismus zur Weimarer Republik 287 MATTHIAS W O L F E S :

V. Werk und Wirkung H A R T M U T RUDDIES: „Kein spiegelglattes, problemloses Christentum". Über Friedrich Naumanns Theologie und ihre Wirkungsgeschichte N O R B E R T FRIEDRICH:

Bildung

Friedrich Naumann und die politische

317 345

Theodor Heuss und Naumanns Nachleben in der Bundesrepublik Deutschland

361

Personenregister Autorenverzeichnis

369 373

BARTHOLD C . W I T T E :

Einführung RÜDIGER VOM BRUCH

Das deutsche Kaiserreich erfreut sich ungebrochener Aufmerksamkeit, wie Gesamtdarstellungen und Spezialforschung belegen. Offensichtlich spiegeln die knapp fünf Jahrzehnte von der unter Otto von Bismarck „mit Blut und Eisen" und „von oben" geschmiedeten Reichsgründung 1870/71 bis zum umstrittenen revolutionären Zusammenbruch „von unten" und der Kapitulation von „Blut und Eisen" im Herbst 1918 eine faszinierend-widerspruchsvolle Ära deutscher Geschichte, in der ein monarchischer und autoritär-ständischer, freilich für neuartige Repräsentationsformen sich öffnender Konstitutionalismus den Pfropfen auf einem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Modernisierungsvulkan bildete. Insbesondere das von dem romantisch-modernistischen, in martialischen Maskeraden von Gottes Gnaden gleichwohl auf technisch-wirtschaftlichen Fortschritt drängenden Wilhelm II. vielleicht nicht geprägte, wohl aber in bezeichnenden Ambivalenzen repräsentierte Wilhelminische Zeitalter faszinierte schon die Zeitgenossen und offenbar unvermindert nachfolgende Generationen, welche die Jahrzehnte um 1900 zunehmend als eine epochale Modernisierungsschwelle im Übergang von ancien regime und liberaler Bürgergesellschaft zu massengesellschaftlicher Interessenartikulation und einer verwissenschaftlichten ordnungspolitischen Durchstaatlichung im kapitalistischen Kulturdiskurs identifizieren. Beharrung, Umbruch, Aufbruch, an solchen Kategorien orientieren sich Historiker ganz unterschiedlicher Epochen, und doch gewinnen sie in Zeiten beschleunigter Transformation und verdichteter Umbruchswahrnehmung besonderes Gewicht. Nicht zufällig wurde gerade das Kaiserreich mit Epitheta wie „unruhiges Reich", „nervöse Großmacht", „nervöse Modernität" bedacht, aber auch als Zeitalter „umgangener Entscheidungen" charakterisiert. Damit ist zugleich die Frage nach erkenntnisleitenden Kriterien gestellt, bezogen auf daseinsprägende Strukturen, auf daseinsformende Institutionen, auf daseinsdeutende Symbolformen und Dasein gestaltenwollende Personen. Strukturgeschichte und Biographik, das schien lange weit auseinander gelegen. Doch indem zunehmend in kulturgeschichtlicher Tiefenschärfung auf Verhaltensdispositionen und Wertentscheidungen bei unterschiedlichen Formen

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Rüdiger vom Bruch

von Lebensführung in einer sozio-strukturell segmentierten Weit geachtet und zugleich nach - gesellschaftlichen, weltanschaulichen, nationalen - Orientierungsrastern von Lebensführung in je spezifischen zeitlichen und Gesellungskontexten gefragt wird, entwickelte sich ein Interesse an den „wirklichen Menschen" in schwer zu entwirrenden Geflechten von Konditionierung und Chancen zu eigenverantwortlichem Entscheidungshandeln. Vor diesem Hintergrund verspricht eine Neubesichtigung von Friedrich Naumann in seiner Zeit einen spannenden Zugang zu einer ungewöhnlich faszinierenden Persönlichkeit des späten Kaiserreichs, in dem sich vielfältige, auf Modernität und Erneuerung hindrängende Zeitströmungen bündelten, der mit treffsicherer Sprachgewalt für diese Strömungen und für die von ihm vertretenen Reformerfordernisse einprägsame Formeln fand. Als sozial engagierter Diakon und zeitdiagnostischer Theologe, als sozialliberaler Programmatiker und charismatischer Volkstribun, als angeregter und anregender Mittelpunkt einer Fülle sich überschneidender kirchlicher, politischer und intellektueller Kreise formte er das Zeitgespräch um die Jahrhundertwende. Darüber hinaus öffnete er sich unruhig-rastlos den nachgerade einander überschlagenden wilhelminischen Modernismen in Partei-, Sozial-, Verfassungs- und Außenpolitik, in kirchlich-theologischen Ortsbestimmungen, in tastendexperimentierenden künstlerischen Ausdrucksformen, kommentierte er ermunternd mit wachem Blick das Ringen um alternative Lebensformen, um soziale Emanzipation von Benachteiligten und Randgruppen. Gleichzeitig wies er mit analytischer Schärfe auf die unentrinnbare und eben darum nüchtern zu akzeptierende Eigendynamik kapitalistischer Kulturgesinnung in allenfalls sozialliberal-monarchischer Abfederung hin. Er wollte liberale Individualsicherung und Verantwortungsethik in massendemokratische Institutionen überführen und befürwortete zugleich einen außenpolitischen Imperialismus mit nur begrenzt trennscharfer Abgrenzung zu alldeutscher Programmatik. Naumann steht für einen intellektuell ungewöhnlich breitgefächerten Modernismus in wilhelminischer Zeit, aber eben darum repräsentierte er diese in besonderer Weise. Ohne jeglichen revolutionär-prophetischen Gestus war er im kaiserreichlichen Deutschland verankert und schlug doch auch eine politisch-programmatisch überzeugende und persönlich respekterheischende Brücke zum sozialliberalen Konsens der Weimarer Parteiendemokratie, mit noch genauer auszulotenden Fernwirkungen zu liberalen Grundwerten in der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik. In seinen aus scharfsinniger Zeitdiagnostik entwickelten programmatischen Politikentwürfen gab er eine christliche Verantwortung in theologischer Standortsuche nicht preis; der frühe wie der späte Naumann

Einführung

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fragte nach theologischer Wegweisung in einer durch wissenschaftliche Analyse und politisches Handeln geformten modernen Welt. Die Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit Friedrich Naumann riß nach seinem Tod 1919 nie ab. Das in seinem feinsinnigen Facettenreichtum wohl bewegendste Zeugnis hatte bereits 1937, seitdem mehrfach neuaufgelegt, Theodor Heuss vorgelegt. Er war Naumanns enger publizistischer Mitarbeiter im Vorkriegsjahrzehnt, ein Meister biographischer Porträts, der auch als 1949 gewählter erster Bundespräsident die Erinnerung an Naumanns Ansprüche an politische Bildung, an liberale Sozialstaatsverpflichtung und eine wertgeleitete Verantwortungsethik wachhielt. Wuchtig und anspruchsvoll verhieß der Titel: „Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit". Das war Programm und Desiderat zugleich, denn wie sich der Mann, das Werk und die Zeit zueinander verhielten, das sollte die Forschung in unterschiedlichen Gewichtungen und methodisch-theoretischen Zugriffen künftig immer wieder beschäftigen. Mitte der sechziger Jahre erschien im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung im Westdeutschen Verlag eine sechsbändige, systematisch angelegte und seit langem vergriffene Werkausgabe. Neue politische Weichenstellungen und intellektuelle Strömungen um 1970 begünstigten eine intensive Beschäftigung mit einem frühen Gewährsmann sozialliberaler Programmatik, scharfer Zeitdiagnostik und einer insbesondere von der protestantischen systematischen Theologie reklamierten Sozialethik. Auch in den folgenden Jahrzehnten blieb monographisches Interesse an vielfältigen Aspekten des Wirkens Friedrich Naumanns und seines Umfeldes lebendig, konzentrierte sich indes auf neue Forschungsfragen und auf eine Revision vertrauter Einschätzungen vor dem Hintergrund einer konsequenten epochalen Historisierung des deutschen Kaiserreichs. Neue Anstöße entbanden etwa jüngere Forschungskonzepte zu Nationalismus und Liberalismus, zum kulturprotestantischen Milieu im Kontext neuer strategischer Analysen zu Religion, Kirchlichkeit und Theologie um 1900, zu kulturellen Modernisierungsprojekten und intellektuellen Diskursen im wilhelminischen Deutschland, zur präziseren Bestimmung von Lebenswelten und Lebensschicksalen. Aber auch eine fruchtbare Feinvermessung komplexer Spezialprobleme wie etwa Urbanität oder Diakonie und vieles andere wäre zu nennen, etwa eine Analyse des NaumannKreises unter dem Blickwinkel der modernen historischen Geschlechterforschung oder Erträge der jüngst verdichteten und aufregendes Neuland beschreitenden Weltkriegsforschung. Damit erscheint die Zeit reif für eine Neubesichtigung von dem M a n n , dem Werk und der Zeit, eben von Friedrich Naumann in seiner Zeit. Dieser Blick erfordert einen integralen Zugang, er wird nicht den

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Rüdiger vom Bruch

Politiker von dem Theologen, nicht den Analytiker von Verfassung, Gesellschaft und Wirtschaft von der teilnehmenden Begleitung zeitgenössischer Ästhetik scheiden können, er wird auf den jeweils ganzen Naumann in seinen Zeitverflechtungen zu achten haben und dabei biographische Entwicklung respektieren. Anzustreben ist ein Blick, der auf Lebenswelten achtet, der Friedrich Naumann in begründet unterscheidbaren Phasen von Leben und Werk nachspürt und derzeitigen lebensweltlich orientierten Forschungsschwerpunkten Rechnung trägt. Eben diesem Ziel dient das Projekt einer neuen Edition zu Werk und Nachlaß Friedrich Naumanns, welches nach Bewilligung eines entsprechenden Antrages durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit Herbst 1999 an der Berliner Humboldt-Universität, den Universitäten Bochum und Marburg durchgeführt und verlegerisch voraussichtlich vom Verlag Walter de Gruyter betreut wird. Wichtige Impulse ermöglichte in der Planungsphase des Editionsprojekts eine Wissenschaftliche Tagung anläßlich des vierzigjährigen Bestehens der Friedrich-Naumann-Stiftung vom 12. bis 14. Oktober 1998 in Lauenburg, veranstaltet von der Bildungsstätte Zündholzfabrik in Verbindung mit dem Archiv des Deutschen Liberalismus, Gummersbach, und dem Verlag Walter de Gruyter, Berlin. In enger Abstimmung mit dem Editionskonzept verklammerte die Tagung inhaltlich-systematisch und biographisch-lebensweltlich orientierte Fragestellungen zur Ortsbestimmung des deutschen Liberalismus und protestantischer Sozialethik mit zentralen Anliegen und Wirkungsfeldern Friedrich Naumanns von etwa 1890 bis in die frühe Weimarer Republik. Überlegungen zur theologischen und politischen Wirkungsgeschichte Naumanns bis in die Bundesrepublik schlossen sich an. Die Erträge der Tagung werden in diesem Band „Friedrich Naumann in seiner Zeit" dokumentiert, mit behutsamer Modifikation der in Lauenburg vorgesehenen Themenblöcke und Vorträge. In einem ersten Block Politischer Gestaltungswille aus christlicher Verantwortung gelangt der junge Theologe und Diakon auf dem Weg in die Politik ins Blickfeld. Ein ursprünglich vorgesehener Beitrag über den deutschen Protestantismus im Kaiserreich mußte leider ebenso entfallen wie eine Analyse der Predigten des frühen Naumann. Doch bleiben beide Themenbereiche in diesem Band präsent, vom frühen kirchlichen Liberalismus bis zur Demokratiefähigkeit protestantischer Theologen in der Weimarer Republik etwa, von dem Wichern- und Stoecker-Schüler bis zur theologischen Wirkungsgeschichte des stets auch als Prediger sich artikulierenden Friedrich Naumann. Jochen-Christoph Kaiser untersucht mit dem ursprünglichen und nie gänzlich preisgegebenen Wirkungskreis Naumanns in der Inneren Mission strukturelle Verlage-

Einführung

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rungen von Diakonie als individueller Liebestätigkeit zu einer gesamtgesellschaftlich zu organisierenden Sozialverpflichtung mit Blick auf eine zunehmend deutliche Funktionstrennung von Kirche und Staat. Auf unterschiedliche Wege in die Politik macht Kurt N o w a k in seiner vergleichenden Betrachtung der einander nahestehenden, aber im politischen Wirkungswillen und der Milieuorientierung politischen Gestaltens auseinanderdriftenden Persönlichkeiten Adolf Harnacks und Friedrich N a u m a n n s aufmerksam. Ein breiteres, aber nie zentrales Fundament bot der Evangelisch-soziale Kongreß (ESK) Naumann erst unter Harnacks Leitungsägide. Entscheidend blieb die Differenz zwischen Gelehrtenpolitik und Parteipolitik. Entsprechend skeptisch beleuchtet auch Klaus Erich Pollmann in seinem aus intensiver Beschäftigung mit dem ESK schöpfenden Beitrag ein eher schwach sich abzeichnendes Profil Naumanns in der Kongreßtätigkeit und wirft die Frage nach Parametern für mögliche Erfolgsbilanzen auf. Um eine präzisere Ortsbestimmung aufgrund neuer Forschungsergebnisse von sozialem und kirchlichem Liberalismus im späten Kaiserreich, von Organisation als prägender Zeitsignatur, und hier wiederum von kommunikativen Netzwerken im Umfeld Naumanns, geht es im zweiten Block Sozialer Liberalismus in einer organisierten Welt. Karl Heinrich Pohl bestätigt zwar nachlassende Bindungschancen des zudem fragmentierten politischen Liberalismus, verweist aber auf seine politisch-programmatische Attraktivität und damit auch Integrationskraft im Spektrum der großen Milieu-Parteien sowie auf politische Gestaltungspotentiale teilweise auf einzelstaatlicher Ebene, besonders in Sachsen, vor allem aber auf kommunaler Ebene gegenüber der bislang das Gesamturteil bestimmenden Reichsebene, freilich korrespondierend mit begrenzten demokratischen Wahlrechtsvorschriften. Frank-Michael Kuhlemann konzentriert seine Analyse des kirchlichen Liberalismus auf den spannenden Fall Baden, kontrastiert aber die von N a u m a n n dort favorisierte Großblockpolitik (von der Sozialdemokratie bis zu den Nationalliberalen) mit reservierter bis ablehnender Distanz Badener politischer Pastoren zu N a u m a n n und fragt von hier aus nach spezifischen, insbesondere pietistisch beeinflußten Milieuprägungen als Barrieren zwischen konkurrierenden kirchlichen Liberalismus-Konzepten. Auf der Basis umfangreicher soziographischer und in Datenbanken gefaßter Studien zu dem nach Begegnungszeitpunkt, Generationen, Berührungsintensität und Geschlecht zu differenzierenden „Naumann-Kreis" bzw. -kreisen zeichnet Ursula Krey eindringlich eine durchweg bezeugte, aber in Form, Dichte und Dauer zu überprüfende charismatische Ausstrahlung Friedrich N a u m a n n s in Wort und Schrift nach.

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Rüdiger vom Bruch

Der dritte Komplex Kapitalismus und Freisinn im Kulturdiskurs beleuchtet die zeitdiagnostische Analyseschärfe und sozioökonomischen Reformimpulse des liberalen Parteipolitikers Friedrich Naumann vornehmlich im Vorkriegsjahrzehnt. Welche politischen Entfaltungschancen bieten sozial erweiterte liberale Grundwerte in der Grundspannung von Sozialismus und Kapitalismus für eine sozialethisch verankerte Wirtschaftsdemokratie? Mit dieser zentralen Fragestellung Friedrich Naumanns setzt sich Traugott Jähnichen in seinem historisch-argumentativen Brückenschlag von Naumanns „Neudeutscher Wirtschaftspolitik" bis zur neueren sozialen Marktwirtschaft auseinander. Gangolf Hübinger bündelt Naumanns an Max Weber, aber auch an Lujo Brentano geschulte Zeitkritik in drei elementaren Fragestellungen: Wie läßt sich die kapitalistische Dynamik begreifen? Welcher Umbau der großen Institutionen ist wie erforderlich? Welche Nachkriegsordnung ist angesichts der Weltkriegserfahrung zu entwerfen? Gleichzeitig wird, vergleichbar mit Wolfgang J. Mommsens Studien zu Max Weber, in historisch souveräner dialektischer Beweisführung deutlich, wie der scharfsinnige Kritiker des Wilhelminismus nur als Wilhelminist begriffen werden kann. Einen bislang fast gänzlich unbekannten Aspekt im Wirken des Politikers, Publizisten und um die politische Bildung der Deutschen besorgten Friedrich Naumann erörtert Helen Müller anhand des im ersten Halbjahr 1914 von Naumann energisch vorangetriebenen, aber nach dem Kriegsausbruch abgebrochenen „Deutschen Staatslexikon". Dahinter stand eine politische vorwärtsdrängende Absicht, doch wieweit stand dieses Projekt auch für eine zeittypische Konjunktur enzyklopädischer Unternehmen im späten Kaiserreich mit Wurzeln, die weit in das 19. Jahrhundert zurückreichten? Eine ungewöhnliche und perspektivenreiche Verklammerung von Verlags- und Buchhandelsgeschichte mit der Geschichte von Gelehrsamkeit und sozialem Liberalismus am Vorabend des Großen Krieges. Diesem Krieg und seinen Auswirkungen im Umfeld von Naumann gilt der vierte Block Transformationen in Weltkrieg und Weimarer Republik. Bereits seit 1899 trat mit lebhafter Resonanz in Frankreich selbst Friedrich Naumann für eine Verständigung mit dem vermeintlichen Erbfeind ein, wie Philippe Alexandre zeigt. Doch wie veränderte sich dieses Konzept unter den Bedingungen des Krieges bei dem moderaten Imperialisten, von den Kriegsstimmungen befangenen Patrioten und Autor von „Mitteleuropa"; welche Anknüpfungschancen für eine Verständigung sah er nach der deutschen Niederlage? Davon war bislang wenig bekannt, der Autor präsentiert wichtiges und diskussionsfördernd gewichtetes Material für eine Akzentuierung der deutsch-französischen Beziehungen im frühen 20. Jahrhundert. Dem vielumstrittenen, immer wieder

Einführung

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diskutierten „Mitteleuropa"-Buch selbst gilt die breit angelegte, in ihrem perspektivischen Reichtum anregende Kontext-Analyse durch Jürgen Frölich, der liberalen Imperialismus in einem Annexionskrieg neu besichtigt: Wie rieb sich liberale Konzeptionalisierung mit einer schwierig zu gewichtenden Anlaßpublizistik im Gefolge nachgerade hektischer Reisetätigkeit? Wie ist Naumanns herausfordernde Formel Staatenbund - Wehrverband -Wirtschaftsverband in einer dann dramatischen Umkehrung zu interpretieren? Auf welch schwankendem Boden sich der deutsche Liberalismus im Weltkrieg bewegte, analysiert Hans Cymorek in facettenreicher Landschaftsvermessung unter der Fragestellung: Auswege aus der Krise? Suchten nur eng umgrenzte Eliten Auswege, blieb das Fußvolk verzagt, dominierte eine schwer greifbare liberale Polyphonie? Wer besetzte mit welcher Resonanz eine für den deutschen Liberalismus zentrale Neupositionierung gegenüber dem politischen Katholizismus, und waren die liberalen politischen Führer gemäß dem Eindruck von Naumann zwar freundliche Leute, aber zukunftsuntaugliche Mumien? Traditionsbelastete Hypotheken schienen gegenüber der im Sommer 1917 sich formierenden künftigen Weimarer Koalition zu dominieren; eine schwierige Ausgangslage für den liberalen Parteiführer Friedrich Naumann 1919. Wie belastet diese Ausgangslage nicht nur für den in der liberalen protestantischen Theologie des späten Kaiserreichs verankerten Friedrich Naumann war, mit welchen Hypotheken und damit restriktiven Vorbehalten liberale Theologen der Weimarer Parteiendemokratie entgegentraten, das zeigt der ernüchternde Beitrag von Matthias Wolfes. Das abschließende sechste Kapitel zielt in resümierender und zugleich zeitgeschichtlicher Bilanz auf Werk und Wirkung. Hartmut Ruddies skizziert eindringlich eine widerborstig-schwierige Wirkungsgeschichte des Theologen Friedrich Naumann, macht aber eben damit deutlich, daß keineswegs 1896 der Pfarrer und Theologe dem Politiker wich, sondern daß Naumann bis zu seinem Tod 1919 nur aus seinem theologischen Denken heraus sich einer umfassenden Interpretation erschließt und damit auch in seinem Nachwirken eine theologiegeschichtliche Bilanzierung erfordert. Norbert Friedrich rekonstruiert das lebenslange Interesse Naumanns an politisch gebildeter Staatsbürgerschaft von den 1890er Jahren bis zu seinen Bemühungen um eine institutionalisierte liberaldemokratische Staatsbürgerschule 1919 als Voraussetzung für demokratische Ressourcenförderung im Geist gesamtgesellschaftlicher Verantwortungsethik und schlägt von hier aus eine Brücke zur Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung in der frühen Bundesrepublik. Barthold C. Witte, vormals ein führender Vertreter bundesdeutscher auswärtiger Kulturpolitik in gestaltender Funktion, verfolgt Naumanns

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Rüdiger vom Bruch

Erbe als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus in den liberalen Positionierungen sowohl in der frühen DDR wie auch in den Anfängen der Bundesrepublik. Der Schwerpunkt liegt auf den Diskussionen um liberale und soziale Demokratie. Des weiteren beleuchtet er die Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung 1958 im Jahr nach der absoluten Mehrheit von CDU/CSU im Bundestag und zieht Linien aus bis zum Freiburger Programm der FDP 1961 mit Fernwirkungen auf die sozialliberale Koalition 1969. Dieser Band dokumentiert mit geringfügigen Umgewichtungen die Erträge der Lauenburger Tagung von 1998. Deren inhaltliches Konzept war vom Herausgeber entwickelt worden in enger Abstimmung mit Dr. Hasko von Bassi als seinerzeit treibender Kraft für diese Tagung und das Projekt einer Naumann-Edition im Verlag Walter de Gruyter und mit Dr. Jürgen Frölich, dem Leiter des Archivs des Deutschen Liberalismus und entscheidenden Verbindungsglied zur Friedrich-Naumann-Stiftung, welche in großzügiger Weise die Durchführung in der Bildungsstätte Zündholzfabrik ermöglichte. Beiden Herren und beiden Institutionen gilt besonderer Dank, sowie dem neuen Leiter des Bereichs Geisteswissenschaften, Herrn Dr. Volker Gebhardt, und Frau Dr. Claudia Brauers vom Verlag Walter de Gruyter, die großzügig und umsichtig die Drucklegung beförderten. Für die konzeptionelle Präsentation und Abstimmung mit den Autoren, die sich auf das mühevolle Abenteuer einließen und denen besonderer Dank für die zügige und gründliche Überarbeitung ihrer in Lauenburg vorgestellten und bereits in der überregionalen Presse gewürdigten Beiträge gebührt, trägt der Herausgeber die Verantwortung. Bei der redaktionellen Arbeit unterstützte mich in bewährter Weise Björn Hofmeister.

I.

Politischer Gestaltungswille aus christlicher Verantwortung

Naumann und die Innere Mission JOCHEN-CHRISTOPH KAISER

I. Friedrich Naumanns Beiträge zur Entwicklung der Inneren Mission können im folgenden nur knapp skizziert werden; sie sind zudem auf eine vergleichsweise kurze Spanne seines Lebens beschränkt: Zwischen 1888 und 1892 veröffentlichte er mehrere Artikelserien, in denen er die Arbeit der Diakonie analysierte und Vorschläge für ihre konzeptionelle Neuorientierung unterbreitete. Doch bereits während der Frankfurter Zeit konzentrierte sich sein Interesse über den engeren Rahmen der Vereinsdiakonie hinaus auf allgemeinere christlich-soziale Zeitfragen. Der damit einhergehende Versuch einer Politisierung des sozialen Protestantismus stieß innerhalb der organisierten Diakonie frühzeitig auf Kritik und Ablehnung; denn die Innere Mission mit ihrem doppelten Anliegen von missionarischer Erneuerung der Volkskirche und sozialer Arbeit verstand sich seit Wichern explizit als unpolitische Größe, die primär das bedürftige Individuum im Blick hatte und die Anfänge sozialpolitischer Einflußnahme des Protestantismus, die sich mit dem Namen Stoeckers und der .Berliner Bewegung' verbanden, 1 mit Zurückhaltung verfolgte. Die überwiegender Mehrheit der Kirchenführer, Diakoniker und Geistlichen hielt daran fest, daß Kirche und kirchliches Leben mit Politik nichts zu schaffen hätten. Politik war der Regierung vorbehalten und der monarchischen Staatsspitze, allenfalls noch den seit dem Vormärz in fast allen deutschen Ländern eingerichteten Parlamenten, die anstelle der Stände getreten waren und mit denen die Parteipolitik in das öffentliche Leben einzog. Gerade letztere erschien den meisten Protestanten als ,schmutziges Geschäft', dem man sich möglichst fernzuhalten habe, denn Parteipolitik richtete sich nicht auf das Gemeinwohl, sondern auf bestimmte Gruppen- und Einzelinteressen. Die Auseinandersetzung Siehe dazu meinen Beitrag: „Zur Politisierung des Verbandsprotestantismus. Die Wirkung Adolf Stoeckers auf die Herausbildung einer evangelischen Frauenbew e g u n g um die Jahrhundertwende", in: Wolfgang Schieder (Hg.): Kirche und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1 9 9 3 , S. 2 5 4 - 2 7 1 .

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J o c h e n - C h r i s t o p h Kaiser

zwischen diesen zielte nicht auf Kompromiß und Ausgleich, sondern auf Durchsetzung und Behauptung der jeweils eigenen Position, notfalls auch auf Kosten der anderen. Einer Gesellschaft, die im Pluralismus der politischen Meinungen (noch) keine Chance sah, sondern im Gegenteil die Gefährdung und Schwächung des Gemeinwesens durch Zersplitterung, Auflösung aller Werte und der darauf gründenden Staatszielbestimmung, mußte der Parteienstreit als unerträglich erscheinen. Deshalb begriff sich auch der Protestantismus als ,über den Parteien' stehend, was gesellschaftspolitisches Engagement allerdings nicht ausschloß. II. In wieweit Naumann bereits während des Studiums Impulse empfing, die ihn kurz nach dessen Abschluß zur Beschäftigung mit dem sozialen Protestantismus führten, ist in der neueren Literatur umstritten. 2 Eine intensivere Berührung mit der sozialen Frage als Herausforderung an Kirche und Staat beginnt wahrscheinlich erst mit seiner Zeit als Oberhelfer im Rauhen Haus (1883-1885), wo er unter dem Nachfolger Johann Hinrich Wicherns die Arbeit der Inneren Mission kennenlernte. Auf Wunsch des Vaters schlug er nach dem zweiten Examen 1885 eine ihm von Johannes Wichern angebotene Stelle als Reiseprediger des Rauhen Hauses aus; auch eine Offerte des von ihm verehrten Hofpredigers Stoecker, als theologischer Berufsarbeiter in die Berliner Stadtmission einzutreten, lehnte er - wohl ebenfalls auf väterlichen Druck hin ab. Neben persönlichen Gründen leitete den Vater anscheinend die Vorstellung, daß die Gemeindepraxis als klassisches Bewährungsfeld des protestantischen Pfarrers die seit dem Studium vorhandenen Zweifel des Sohnes an seiner geistlichen Berufung bald überwinden werden lasse. Naumann übernahm also ein Pfarramt im erzgebirgischen Dorf Langenberg, das von Bauern und Strumpfwirkern geprägt war und dessen soziale wie geistliche Herausforderungen kaum darauf hindeuteten, daß Naumann bald zu einem wichtigen Vordenker des sozialen Protestantismus werden sollte. Olaf Lewerenz führt Naumanns beginnendes Interesse an sozialen Problemen auf den Einfluß des jüngeren Wichern im Rauhen Haus zurück: Ders.: Zwischen Reich Gottes und Weltreich. Friedrich Naumann in seiner Frankfurter Zeit unter Berücksichtigung seiner praktischen Arbeit und seiner theoretischen Reflexion, Sinzheim 1 9 9 4 , S. 1 1 7 ; Irene Dingel verweist hingegen auf die sozialen Impulse, die der Erlanger Student durch Reinhold Frank und Gerhard v. Zezschwitz im Hinblick auf die soziale Verpflichtung des Pfarrberufs empfing: dies., Art. Naumann, in: TRE 2 4 , S. 2 2 5 - 2 3 0 , 2 2 5 .

N a u m a n n und die Innere M i s s i o n

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Die Freiräume in Langenberg nutzte Naumann dazu, sich gründlich mit der zeitgenössischen Literatur zur sozialen Frage zu beschäftigen; auch pflegte er die in Hamburg geknüpften Kontakte im Umfeld der Inneren Mission, auf deren Kasseler Kongreß von 1888 er ein vielbeachtetes Referat über die Funktion und Gestaltung des Sonntags im Leben der christlichen Gemeinde vortrug. Das alte Wichernsche Ziel der Schaffung einer ,lebendigen Volkskirche' stand dabei im Hintergrund. Naumann schlug dazu unkonventionelle Maßnahmen vor, die er im übrigen auch in seiner eigenen Gemeinde praktizierte - etwa durch die Abhaltung von Gottesdiensten außerhalb der Kirche, den bekannten Waldgottesdiensten, die er später ebenfalls in Frankfurt einführte, oder die Aufführung christlicher Theaterstücke. Daß sich sein Denken damals vor allem auf die Erneuerung der Volkskirche richtete, verband ihn mit dem Ansatz Wicherns, für den soziales Hilfehandeln diesem Ziel ganz untergeordnet war.3 Naumann vermischte nun diesen Gedanken mit den Ideen Emil Sulzes und dessen moderner Gemeindereformbewegung, die über den Weg einer wiederzubelebenden Parochialstruktur Volkskirche von den Kirchengemeinden her aufbauen wollte. Noch im gleichen Jahr publizierte Naumann in der Christlichen Welt seines Schwagers Martin Rade die bekannte Artikelserie über die „Zukunft der Inneren Mission", in der er grundlegende Gedanken über die Rolle der Diakonie im Prozeß der Volkskirchenbildung vorstellte.4 Er war der Meinung, daß die Überlegungen Wicherns zu diesem Thema in den vergangenen Jahrzehnten verschüttet worden waren und wieder neu zur Sprache kommen sollten.5 Drei Phasen hatte die Innere Mission 3

Das betont noch einmal eindrücklich Stephan Sturm in seiner soeben abgeschlossenen Untersuchung Sozialstaat und christlich-sozialer Gedanke. Johann Hinrich Wicherns Sozialtheologie und ihre neuere Rezeption in systemtheoretischer Perspektive, Diss, theol. Münster 1 9 9 9 .

4

C W 2. 1 8 8 8 , Nrn 4 3 , 4 5 , 4 7 .

5

Hier ergibt sich freilich das Problem, was in der Interpretation Naumanns wirklich von Wichern stammte und was er bloß mit ihm assoziierte, um dann eigene Vorstellungen unter Berufung auf Wichern zu entwickeln (und zu legitimieren). Im Vorwort seiner Aufsatzsammlung Was heißt Christlich-Sozial? (Leipzig 1 8 9 4 , III) hat Naumann implizit selbst um Verständnis für seine wenig wissenschaftlichsystematische Arbeitsweise geworben: „Wer mitten im öffentlichen Leben steht, kann nicht leicht große Bücher schreiben Er muß jede Woche zur Feder greifen, um dem Bedürfnis des Tages zu genügen ... Eine derartige Sammlung hat einen schwer zu vermeidenden Überstand: sie ist nicht systematisch, sie schließt Wiederholungen desselben Gedankens nicht aus ... Der Leser möge deshalb nicht zürnen ... Regelrechte Anlage eines Schriftwerks ist ja sehr schön, aber da, wo Gedanken erst um Gestalt ringen, wo neue Fragestellungen sich mit Gewalt hervordrängen, da ist sie bisweilen nicht möglich ... Der Leser muß es fühlen, daß wir nicht fertig sind, sondern mit ihm suchen wollen."

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für Naumann bisher durchlaufen: die Zeit der unkoordinierten kleinen Gruppen, die Zeit als ,Werk der Kirche' von der Gründung des CentraiAusschusses bis Ende der 1870er Jahre 6 und schließlich die Gegenwart, in der Diakonie .volkstümlich' und zur,Modesache' wurde. Inzwischen erreichte sie immer größere Volkskreise, gab aber damit auch zunehmend ihre „religiöse Besonderheit" preis. Naumann beurteilte diese für ihn notwendige Entwicklung keineswegs negativ, sondern sah in ihr eine Chance, von der Staat und Kirche gleichermaßen profitierten, sofern die Diakonie diesen Prozeß für sich bejahte und entsprechende Konsequenzen daraus zog. Deshalb bestimmte er in seiner Ausgangsthese Innere Mission als „freie christliche Vorarbeit für zukünftige, bleibende Organisationen in Staat und Kirche". Mit der Funktionszuweisung diakonischer Aufgaben auch für den Staat führte Naumann ein Element erneut ein, das Wichern seinerzeit zwar ebenfalls angesprochen hatte, das jedoch in der Rezeption der auf Wittenberg und die Denkschrift von 1849 folgenden Jahrzehnte in den Hintergrund getreten war: Innere Mission stellt sich sozialen Aufgaben, denen Staat und Gesellschaft bisher keine Beachtung schenkten. Aus ihrem privaten-verbandlichen Engagement zur Beseitigung sozialer Mißstände wird bei erfolgreicher Bekämpfung bald ein ,anerkanntes Hilfsangebot', das man schließlich als selbstverständlich betrachtet und in das endlich auch öffentliche Subventionen fließen. Damit wird aus der ursprünglich freien christlichen Liebestätigkeit ein staatliches Unternehmen. An den Beispielen von Schule und Rettungshäusern, von Armenpflege und der Wandererfürsorge machte Naumann diese Entwicklung fest. - Verwandte .Übernahmeprozesse' konstatierte er auch für die Kirche: Auf dem Gebiet der Stadtmissionen und anderen Feldern volkstümlicher Verkündigung, zu der ein zeitgemäßer Predigtstil für bestimmte Berufsgruppen wie Fabrikarbeiter und Seeleute gehört, hat die Innere Mission bisher wichtige Leistungen für die verfaßte Kirche erbracht. Auch im Hinblick auf die Nutzung neuer Medien wie

Ob man in dieser Epoche - und darüber hinaus - die Innere Mission Wichernscher Prägung wirklich als ,Werk der Kirche' kennzeichnen kann, scheint allerdings fraglich. Denn Wichern strebte wohl den engen theologischen wie organisatorischen Verbund mit der Kirche an, bestand jedoch andererseits auf der institutionellen Freiheit der Diakonie, die nur in der ihr eigenen vereinsrechtlichen Gestalt ihre Aufgaben erfüllen könne. Im übrigen wehrten auch die verfaßten Landeskirchen vorsichtige Annäherungsversuche stets ab, wie der Streit um den Diakonat auf der Monbijou-Konferenz von 1 8 5 6 deutlich macht. Dazu vgl. J . C. Kaiser, „Der Diakonat als geordnetes Amt der Kirche. Ein EKD-Gutachten, eine alte Frage und ihre Aktualität", in: Diakonie. Jubiläumsjahrbuch 1998, Stuttgart 1 9 9 8 , S. 2 1 2 - 2 1 9 .

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die Schriftenmission und die übergemeindliche Ausdifferenzierung religiöser Zuwendung mit der Zielrichtung auf entkirchlichte Bevölkerungsgruppen spielt sie eine Vorreiterrolle. Das alles arbeitet der Kirche zu, die folgerichtig damit beginnt, die erfolgreichen Arbeitsschwerpunkte der Diakonie in eigene Regie zu übernehmen. Naumann war davon überzeugt, daß sich die Innere Mission durch diese Vor- und Zuarbeit für Staat und Kirche letztlich selbst überflüssig machen werde. Er sah in ihr eine notwendige Zwischenstufe auf dem Weg zur Symbiose einer lebendigen Volkskirche mit einem für soziale Gerechtigkeit sorgenden, christlich orientierten Staat. Nicht mit dieser Zielsetzung, wohl aber in einer gewissen Strukturaffinität sind für ihn Diakonie und Sozialismus aufeinander bezogen. Denn auch letzterer fungiert als Anwalt der Schwachen in der Gesellschaft und hat das Verdienst, die soziale Frage auf die Tagesordnung der Politik gesetzt zu haben. Aber er stellt wie die Innere Mission nur eine Übergangserscheinung dar, da seine Zukunftshoffnungen utopisch sind und diese letztlich durch den ,wahren' Sozialismus des für die Herstellung gerechter Verhältnisse für alle Bürger zuständigen Staates ersetzt werden. Natürlich gibt es für Naumann gravierende Unterschiede zwischen Innerer Mission und Sozialdemokratie: Erstere ist christlich und praktisch, letztere atheistisch und theoretisch.7 Deshalb muß der sozialdemokratische Sozialismus scheitern; an seine Stelle tritt der christliche Sozialismus und durchdringt die Gesellschaft mit seiner Botschaft.8 Die Kritiker dieser Position ließen nicht lange auf sich warten; unter ihnen ragte der Beitrag des späteren Straßburger Kirchenhistorikers Hans von Schubert, damals als Nachfolger Naumanns noch Oberhelfer im Rauhen Haus, im gleichen Jahrgang der Christlichen Welt heraus. Von Schubert betonte den nie endenden Missionsauftrag der Diakonie, der nicht erledigt sei, wenn Staat und Kirche einzelne Arbeitsfelder von ihr übernähmen. Allerdings könne der Inneren Mission dies nur recht sein, weil sie dadurch die Freiheit gewönne, immer wieder neue Initia7

Hier sind die Anklänge an das Programm der christlich-sozialen (Arbeiter-)Partei Stoeckers von 1878 überdeutlich; vgl. Satz 2, w o die Sozialdemokratie als „unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch" gekennzeichnet wird; T e x t in: Günter Brakelmann/Traugott Jähnichen (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband, Gütersloh 1994, S. 114-116, 114.

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Naumann hat diese Gedanken in seinem Arbeiterkatechismus - ebenfalls von 1888 - und anderen Schriften in den kommenden Jahren weiter ausgeführt. Ich möchte an dieser Stelle darauf nicht eingehen, weil sie das Thema .Innere Mission' nicht direkt berühren, sondern die vorgestellten Gedanken im wesentlichen variieren und - im Hinblick auf die Sozialdemokratie - nur einzelne Punkte näher ausführen.

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tiven zu ergreifen. - Dieser Gedanke bedeutete eine wichtige Weiterführung der Naumann'schen Zustandsbeschreibung, enthielt er doch im Kern ein nicht nur auf den geistlichen Auftrag der Diakonie zu beziehendes Programm: Nach der Jahrhundertwende entwickelte die christlich geprägte englische Settlementsbewegung daraus eine Theorie der freien Wohlfahrtspflege - das Modell der sogen. Ausziehleiter. Nach dieser 1911 entstandenen ,extended-ladder-theory' des englischen Ehepaares Beatrice und Sidney Webb gehörte es zu den Aufgaben der nichtstaatlichen Wohlfahrtsverbände, die staatliche Grundversorgung (Armenpflege) durch flankierende Maßnahmen zu ergänzen, die nach Einsicht in die Notwendigkeit der zusätzlichen Hilfen dann wiederum durch die öffentliche Hand übernommen würden. In der permanenten Abfolge dieser beiden Phasen sozialen Hilfehandelns seien die freien Träger - anders als die öffentliche Wohlfahrt - stets in der Lage, neue Notlagen rechtzeitig zu erkennen und etwas dagegen zu tun. - Daß Naumann dieses Prinzip als erster thematisierte, scheint unzweifelhaft. Sicher ist anhand des historischen Befundes aber auch, daß es sich in Deutschland nur sehr bedingt durchsetzte. Zwar nahmen die privaten Verbände in der Tat immer neue Aufgaben in Angriff, aber die Substituierung durch die öffentlichen Sozialverwaltungen kam dem bis 1933 kaum nach, einmal wegen fehlender Mittel und dann, weil die inzwischen zu sozialen Großapparaten gewordenen freien Träger dazu tendierten, auch aus organisationspatriotischen Motiven freiwillig keine Arbeitsfelder abzugeben.

III. Naumann beschränkte sich jedoch nicht auf Reflexionen über die Innere Mission und ihre Zukunft, sondern griff auch gezielt in die Debatten um aktuelle diakoniepolitische Fragen ein. 1891 veröffentlichte er ein Büchlein, das sich mit der vier Jahre zuvor erschienenen Denkschrift des Centrai-Ausschusses über Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart9 beschäftigte.10 Der Hintergrund war der, daß Hofprediger Stoecker, von dem die Initiative zu dieser Denkschrift ausgegangen war, als Mitglied des Centrai-Ausschusses dort vorgeschlagen hatte, den jungen Langenberger Pfarrer mit einer publizistischen Offensive zu beauftragen, um das Manifest in weiteren Kreisen bekannt zu 9 10

Berlin 1884. Das soziale Programm der Evangelischen Kirche, Erlangen-Leipzig 1891.

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machen, - eine Anregung, die das Gremium freilich verwarf, weil Naumann unter diesen etwas betulichen konservativen Honoratioren als ,zu wild' galt.11 Stoecker kümmerte sich um dieses negative Votum allerdings nicht, sondern ermunterte Naumann gleichwohl, die Denkschrift auch ohne offiziellen Auftrag in der Deutschen Evangelischen Kirchenzeitung zu kommentieren. Aus dieser Artikelserie entstand dann mit einiger zeitlichen Verzögerung die erwähnte Schrift.12 Sie kam nicht von ungefähr erst 1891 heraus, denn inzwischen hatten die kaiserliche Botschaft von 1890 und der sich darauf beziehenden Erlaß des preußischen Oberkirchenrats, der die Pfarrerschaft ausdrücklich zur aktiven Beschäftigung mit der sozialen Frage aufforderte, das geistige Zeitklima in Richtung größerer Offenheit gegenüber diesem Thema verändert. Das von Theodor Lohmann, dem inzwischen politisch weitgehend .kaltgestellten' engen Mitarbeiter Bismarcks bei der Vorbereitung der Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre, im Namen des Central-Ausschusses verfaßte Papier entfaltete in 11 Punkten die Auffassungen der Inneren Mission zur sozialen Frage.13 Es stellte ungeachtet aller Vorsicht seiner Formulierungen und in Anknüpfung an traditionelle Positionen der Diakonie schon deshalb ein bemerkenswertes Zeugnis dar, weil sich die Diakonie damit erstmals in eine öffentliche, kontrovers geführte politische Diskussion einschaltete. Die 11 Thesen des Centrai-Ausschusses lassen sich in wenigen Abschnitten zusammenfassen, da eine Reihe von Aussagen redundant sind: Ausgehend von den in der Überschrift genannten ökonomisch-sozialen Konflikten, die ihren schärfsten Ausdruck im Kampf der Sozialdemokratie finden, werden Kirche und Innere Mission aufgefordert, das gesamte gesellschaftliche Leben ,mit dem Sauerteig des Evangeliums zu 11

12

13

Vgl. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart - Berlin 1937, 82. Heuss weist darauf hin, daß Naumann die Niederschrift schwerer gefallen sei als sonst; man merke ihr die Unzufriedenheit mit der Vorlage an, deshalb besitze sie auch ein apologetische Färbung. Außerdem habe Naumann, wie aus einem Brief an Gerhard Uhlhorn von 1888 hervorgehe, daran gezweifelt, ob es überhaupt Aufgabe der Kirche sein dürfe, ein sozialpolitisches Programm aufzustellen; Heuss, S. 86. Zur komplizierten Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Denkschrift vgl. vor allem Renate Zitt: Zwischen Innerer Mission und staatlichen Sozialpolitik. Der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann (1831-1905), Heidelberg 1997, S. 308ff. Vgl. ferner Günter Brakelmann, Zwischen Widerstand und Mitverantwortung. Vier Studien zum Protestantismus in sozialen Konflikten, Bochum 1994, S. 85ff. und schließlich Klaus Erich Pollmann: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890, Berlin-New York 1973, S. 70-72.

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durchdringen'. Das können sie aber nur aufgrund einer sorgfältigen Analyse der hier herrschenden Auseinandersetzungen. Diese ergibt, daß Liberalismus und Sozialdemokratie letztlich die gleichen Ursachen haben: den Materialismus als neuen Gott, der für die einen den Profit und für die anderen die ,Arbeit als Quelle allen Reichtums' in den Mittelpunkt stellt. Demgegenüber wissen Kirche und Innere Mission um die instrumentelle Funktion der Ökonomie: Sie soll besonders die Arbeiter vor existenzieller Not bewahren und mit ihren Ressourcen für eine ausreichende materielle Grundlage,sittlicher Lebensführung' Sorge tragen. Dazu gehören gesunde Wohnungsverhältnisse, verbilligte Einkaufsmöglichkeiten, .veredelte' Geselligkeitsformen, Gelegenheit zur Teilnahme am religiösen Leben. Auf die Arbeit selbst bezogen, ist die Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen zu beschränken, sollen die Schutzvorschriften verbessert, die Sonntagsarbeit generell verboten und die tägliche Arbeitszeit verbindlich geregelt werden. - Was sittliche Lebensführung im einzelnen bedeutet, benennt die Denkschrift nur implizit; gemeint ist aber kein umfassendes theologisches System, sondern eher die Vorstellung eines ,heiligmäßigen Lebens' im Anschluß an erweckliche Leitbilder, die von der gesellschaftlichen Sichtbarkeit der religiösen Bindung im Lebensvollzug des Christen, etwa in der konkreten Zuwendung zum bedürftigen Nächsten, ausgehen. Die intakte christliche Familie als Ideal, wie sie früher das handwerkliche Kleinproduzententum prägte, wo Eltern, Kinder und Mitarbeiter eine christliche Gemeinschaft bildeten, muß auch auf die größere Einheit der Fabrik übertragen werden. Nicht (neue) Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme bringen die Lösung der sozialen Frage, sondern - wie schon eingangs gesagt - die breite Anerkennung des christlichen Sittengesetzes. Um dieses wieder in Geltung zu setzen, bleiben der Kirche und ihrer Inneren Mission ,nur' die Mittel der Verkündigung und der .dienenden Liebe'. Freilich sind viele Fabrikanten aufgrund des Konkurrenzdrucks selbst bei gutem Willen nicht in der Lage, die notwendigen innerbetrieblichen Maßnahmen zur sozialen Sicherung ihrer Beschäftigten durchzuführen, es sei denn, sie setzten die Existenzfähigkeit ihres Unternehmens aufs Spiel. Hier ist der Staat gefordert, der eingreifen muß, um Wettbewerbsnachteile - etwa durch ausländische Konkurrenz - auszugleichen. Wenn die christliche Weltanschauung erst wieder alle Völker durchdringt, ist auch dieses Problem gebannt. 14 14

Zur wissenschaftlichen Einordnung und Kritik der Denkschrift vgl. die o. gen. Arbeiten und darüber hinaus Manfred Schick, „Innere Mission und soziale Bewegung in der evangelischen Kirche von 1870-1914", in: Ders./Horst Seibert/Yorick Spiegel (Hrsg.): Diakonie und Sozialstaat. Kirchliches Hilfehandeln und staatliche

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Friedrich Naumann gelang es tatsächlich, den „gedrängten akademischen Vortrag" der Denkschrift 15 aufzulockern und ihre Aussagen durch aktuelle Anspielungen und Zahlenmaterial plastisch zu machen. Im folgenden interessieren uns weniger die zustimmenden Passagen, sondern die von ihm auch geäußerte Kritik, die er freilich keineswegs in .wilder', sondern außergewöhnlich zurückhaltender, diplomatischer Form präsentierte. Sie richtete sich vor allem auf die mangelnde Konkretion einiger sehr allgemein gehaltener Punkte und bemängelte zusammenfassend das Fehlen eines theologisch-sozialethischen Programms. Im einzelnen hielt Naumann fünf Themenkreise für ergänzungsbedürftig: 1. Die Aussagen zum .Materialismus' der liberalen Ökonomie wie der Sozialdemokratie, 2. zu den .Unterlassungssünden' der Kirche gegenüber der soziale Frage, 3. zu den ordnungspolitischen Vorstellungen, 4. zur Übertragbarkeit tradierter Familienstrukturen auf die Betriebe und 5. zur „Dogmatik der Weltbeziehung des Christen". 1. Es genüge nicht - so Naumann - , den Materialismus der allein an Gewinnen interessierten Industrie zu geißeln und gleichzeitig der Sozialdemokratie eine materielle Gesinnung vorzuwerfen. Kirche und Innere Mission müßten darüber hinaus eine neue apologetische Volksliteratur auf wissenschaftlicher Grundlage erarbeiten, um diesen berechtigten Vorwurf auch für jedermann plausibel zu machen. Gefordert sei nicht allein die Klage über das verbreitete materialistische Denken, sondern eine ins Detail gehende Denkschrift über „die Aufgaben der Kirche und ihrer Inneren Mission gegenüber dem theoretischen Materialismus der Gegenwart". 16 2. Auch die Rede von den .Unterlassungssünden' der Kirche im Hinblick auf das Los der Arbeiterschaft reiche ohne nähere Bestimmung dieser Versäumnisse nicht hin; die Denkschrift sage nichts über den Adressaten dieser Selbstkritik aus: So wisse niemand, ob die Landeskirchen selbst, die akademische Theologie oder Pfarrer und Gemeinden dafür verantwortlich seien. Gleichwohl könne eine derartige, wenngleich globale Feststellung weiterhelfen, weil damit endlich ausgesprochen werde, was viele Christen ohnehin seit Jahren spürten: „Die evangelische Kirche mußte längst zur sozialen Frage entschiedener Stellung nehmen. Hätte sie es eher gethan, so würde die sozialistische Hauptpartei

15 ,6

Sozial- und Familienpolitik, Gütersloh 1986, S. 29-50, 38. - Auf diese Stellungnahmen wird im folgenden nicht eingegangen; stattdessen sollen Kommentierung und Kritik Naumanns daran zu Wort kommen. Dazu ausführlich auch Renate Zitt, S. 3 4 9 - 3 6 0 . Heuss, S. 83. Naumann (wie Anm. 10), S. 27.

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nicht so prinzipiell widerchristlich geworden sein, wie sie es eben geworden ist, denn die Gottlosigkeit ist nicht an sich ein Bestandteil des Sozialismus." 17 3. Natürlich sei es richtig, daß ordnungspolitische Vorstellungen dem Wandel der Zeiten unterworfen seien und nur das göttliche Sittengesetz keinem Wandel unterliege. Daraus dürfe man jedoch nicht den Schluß ziehen, daß Kirche und Theologie sich um die jeweiligen sozialpolitischen Konkretionen nicht zu kümmern hätten. Denn sonst handele man lediglich .opportunistisch', d.h. ohne ein durchdachtes Konzept, und könne von dieser Basis aus keine wirksame Hilfe leisten. 4. In enger Verbindung damit sah Naumann auch die Beschreibung des herkömmlichen christlichen Familienideals: Er bejahte zwar die monogame Ehe als sittlichen Organismus und kleinste wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft, hielt aber die Übertragbarkeit dieser Struktur auf die produzierenden Betriebe für problematisch und in der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie für wenig hilfreich. Das archaische Modell einer noch alle Güter des täglichen Bedarfs selbst produzierenden Familie sei angesichts einer zunehmend arbeitsteiligen Produktionsweise, die ja auch die Konsumgüter betreffe, heute völlig überholt. 18 Im Erwerbsleben spreche man besser und richtiger von .Genossenschaften', deren Grundlage nicht ein übergeordnetes christliches Ideal, sondern die Arbeit sei, die gleichwohl ebenfalls sittlich orientiert sein müsse. Das betriebliche Familienmodell passe - wenn überhaupt - höchstens auf die Großindustrie mit ihren mannigfaltigen Bestrebungen, ihren Arbeitern günstige Einkaufs- und Lebensbedingungen (Wohnungen) aus eigener Kraft zu schaffen. Der Dienstleistungssektor und Kleinbetriebe seien mit solchen Sozialleistungen jedoch überfordert, ja litten beträchtlich unter diesen sozialen Wohltaten der Großbetriebe, die sie um Arbeit und Brot brächten. 5. Die Predigt der Kirche schließlich habe sich bisher nicht systematisch um eine stringente .Lehre' von der Existenz der Christen in der Welt bemüht. Nach wie vor fehlten „die festen klaren Ausdrücke für die christliche Welterhabenheit, Weltverbundenheit, Weltarbeit; und weil die klare Erkenntnis fehlt, mangelt es an klarer gemeinsamer Praxis." Naumann forderte dazu auf, eine Art Katechismus „von den irdischen Gütern" zu entwerfen; 19 Es genüge nicht, nur von der Liebe Christi zum Individuum zu sprechen und nicht auch die .soziale Liebe' in den Blick 17 111

Ebd., S. 5 1 . „Ein solches vergangenes Ideal, eine spinnende, schneidernde, backende Familie, halten wir aber ... für eine Unmöglichkeit."; ebd., S. 9 9 .

"

Ebd., S. 129f.

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zu nehmen, „ohne welche ... die heutige Christenheit nicht mehr bestehen kann". 20 In seiner Schlußwürdigung der Denkschrift faßte Naumann diese kritischen Gedanken noch einmal zusammen und gab der Hoffnung Ausdruck, daß möglichst viele Persönlichkeiten im Anschluß an die Resolution des Centrai-Ausschusses zu den einzelnen Punkten Stellung bezögen: „Es würde auf diese Weise eine gewisse Grundlage für evangelisches Wirken innerhalb der sozialen Kämpfe gefunden werden können, wie es bis jetzt nicht vorhanden ist." 21 Das war nichts anderes als der Aufruf zur Schaffung eines sozialethischen Programms mit großer Breitenwirkung, das jeden Protestanten in die Lage versetzen sollte, an seinem Teil an der Lösung der sozialen Auseinandersetzungen der Zeit mitzuwirken.22 - Was uns aus heutiger Sicht als ,normal' erscheint, galt damals vielen Protestanten noch als ,unerhörte Zumutung'. Insofern führten sowohl die Denkschrift als auch die Zuspitzung ihrer Thesen durch Naumann über den Standpunkt hinaus, den Diakonie und Kirche in ihrer Mehrheit vertraten. Gewiß, der ,soziale Frühling' der frühen 1890er Jahre begünstigte die Wirkung dieses 1884 noch unzeitgemäßen Vorstoßes, aber er repräsentierte zunächst noch eine Minderheitenposition. Darum leisteten die von Lohmann entworfenen Thesen des Centrai-Ausschusses und ihr Weiterdenken durch Naumann einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Modernisierung der,politisch-sozialen Kultur' innerhalb des deutschen Protestantismus,23 welcher freilich erst Jahrzehnte später ein uneingeschränktes Ja zu seiner Mitverantwortung auf diesem Sektor fand.24

20 21 22

23

24

Ebd., S. 162. Ebd., S. 171. S.a. Manfred Schick: Kulturprotestantismus und soziale Frage. Versuche zur Begründung der Sozialethik, vornehmlich von der Begründung des Evangelischsozialen Kongresses bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs (1890-1914), Tübingen 1970. So auch Theodor Heuss, der die Denkschrift in ihrer Wirkung mit der Enzylika Rerum Novarum Leo XIII. von 1891 vergleicht, - eine von Heuss nicht näher begründete Wertung, die vor kurzem Renate Zitt auf einer reichen zeitgenössischen Materialbasis noch einmal bekräftigt hat. Mindestens hinsichtlich der Wirkungsgeschichte der nicht von ungefähr lange vergessenen Denkschrift halte ich eine solche Gleichsetzung allerdings für etwas euphemistisch. Vgl. Heuss, a.a.O., 82 und Zitt, a.a.O., S. 2 8 5 - 2 9 1 . Zum sogen. Nachwort zur Denkschrift, das der Central-Ausschuß 1896 in Reaktion auf den ,Maulkorberlaß' des Preußischen EOK veröffentlichte und das dessen Gültigkeit für die Innere Mission bestritt, nahm Naumann bereits nicht mehr explizit Stellung. Allerdings attackierte er den EOK-Erlaß selbst in einem Beitrag

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IV. Angesichts der von Naumann vorgebrachten, neuartigen Vorstellungen über Aufgaben und Funktion evangelischer Diakonie in Gegenwart und Zukunft ist es eigentlich erstaunlich, daß der Dreißigjährige nach der vergeblichen Bewerbung auf eine Zwickauer Pfarrstelle 1890 einen Ruf als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission nach Frankfurt a.M. erhielt. Dahinter stand der dortige Pfarrer Conrad Kayser, der Naumann auf den Kongressen der IM kennengelernt hatte und dessen Reformideen nicht zuletzt im Hinblick auf seine vergleichsweise sachlich und gerecht erscheinende Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie - für einen Neuanfang des in Frankfurt nicht recht reüssierenden Inneren-Missions-Vereins nutzen wollte. Naumann sagte zu, obwohl die Konditionen, die man ihm bieten konnte, schlecht waren. Daß er in seiner neuen Funktion nicht dem Frankfurter Konsistorium unterstehen sollte, empfand er allerdings als attraktiv. Denn er konnte sich denken, daß es bei Weiterverfolgung seiner Auffassungen schließlich mit den Kirchenbehörden zu Konflikten kommen mußte. In Frankfurt lernte Naumann erstmals diakonische Praxis in einer Großstadt kennen und entfaltete nach anfänglichen gesundheitlichen Problemen bald ungewohnte Aktivitäten: Er gründete mit dem Sonntagsgruß ein eigenes, bald erfolgreiches Vereinsorgan, rief 1891 einen evangelischen Arbeiterverein ins Leben, der zur Plattform einer neuen christlich-sozialen Offensive gegen die städtische Sozialdemokratie werden sollte, und realisierte mit Spendengeldern eine Art Wohnungsbaugenossenschaft für Arbeiter.25 Außerdem nahm er - auch dies für jene Zeit ungewöhnlich - Kontakte zu dem einflußreichen damaligen Armenfür die Soziale Praxis: „Das Problem der kirchlichen Sozialpolitik", ebd. S. 5. 1895/96, Nr. 14. Siehe auch Friedrich Naumann, Werke, Bd. 2, Opladen 1964, S. 4 8 0 - 4 8 6 . - Zum Nachwort: Die Stellung der Inneren Mission zu den sozialen Bestrebungen der Gegenwart. Ein Nachwort des Centrai-Ausschusses für Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche zu seiner Denkschrift über die Aufgabe der Kirche und ihrer Inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart, Berlin 1896. Wieder abgedruckt bei Brakelmann (wie Anm. 13), S. 155-158. 25

Damit übernahm Naumann implizit Anregungen, die vor ihm bereits von Friedrich v. Bodelschwingh stark gefördert worden waren: Dieser hatte 1885 in Bethel den .Deutschen Verein Arbeiterheim' gegründet, freilich mit der von Naumann in der Großstadt Frankfurt nicht realisierbaren Intention, geschlossene Arbeitersiedlungen im ländlichen Raum zu bauen, mit deren Hilfe die ,Schäden des sittlichen-sozialen Lebens', der .grassierende Materialismus' und die Oberflächlichkeit der Zeit zugunsten einer Rückbesinnung auf die christliche Familie und ihren Kinderreichtum überwunden werden sollten. - Vgl. den geschichtlichen

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dezernenten der Stadtverwaltung, Karl Flesch, auf, um Doppelunterstützungen Bedürftiger zu verhindern und Zuständigkeitsbereiche abzugrenzen: So sollte das städtische Armenamt vor allem eingesessenen Unterstützungsberechtigten helfen, während andere Personen, die sich in Frankfurt aufhielten, aber keinen Unterstützungswohnsitz nachweisen konnten, von der Inneren Mission betreut wurden. Mit diesem Konzept suchte Naumann seine bereits skizzierte theoretische Überlegung zu realisieren, bestimmte Arbeitsaufgaben Zug um Zug an die öffentliche Hand abzugeben. Außerdem konnte er auf diese Weise der Kritik des Vereins begegnen, die Innere Mission richte sich zu stark auf die Armenpflege aus und vernachlässige die missionarische Komponente. Naumann erkannte jedoch bald, daß bloße Wohltätigkeit bzw. Almosen letztlich keine Besserung der Situation der Bedürftigen erreichten. Er versuchte deshalb, sie nach ihren Fähigkeiten wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern. Wenn die Hilfsbedürftigen arbeitsfähig waren, lehnte die Diakonie materielle Unterstützung ab, half aber nach der Suche nach einem Arbeitsplatz. Das war das klassische Modell von Hilfe zur Selbsthilfe; hier sah Naumann die von ihm favorisierte ,Assoziation der Hilfsbedürftigen' verwirklicht. Daneben predigte er regelmäßig im Vereinshaus und hielt zahlreiche Vorträge, die ihn bald innerhalb der ganzen Stadt bekannt machten. Die Umsetzung seiner Ideen, sein persönliches Charisma und auch seine Erfolge riefen bald Neider und Kritiker auf den Plan, die sich vor allem an seinen fehlenden Berührungsängsten gegenüber der städtischen SPD stießen. In den Augen des Konsistoriums wie des Vereinsvorstands entfernte er sich auf diese Weise mehr und mehr von den klassischen Bahnen Innerer-Missions-Arbeit im ursprünglichen Sinne des Wortes. Seine politischen Kampagnen (Sonntagsarbeit) und der Versuch, den Arbeiterverein zum Sammelbecken einer gegen die Sozialdemokratie gerichteten Bewegung zu machen, isolierten ihn ähnlich wie Stoecker innerhalb des kirchlichen Spektrums. Hinzu traten seine Kontakte zu bekannten Vertretern des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, darunter nicht zuletzt sozial interessierte bzw. engagierte vermögenden Fabrikanten jüdischer Konfession, vor allem der beim Eisenbahnbau in den USA reich gewordene Charles Hallgarten und der Gründer der Metallgesellschaft, Wilhelm Merton, die seine Arbeit finanziell förderten. Auch die Maler Wilhelm Steinhausen und Hans Thoma gehörten wie der Begründer der Frankfurter Zeitung, Leopold

Rückblick des Sohnes Fritz v. Bodelschwingh zum Werk seines Vaters auf diesem Sektor: „Eine brennende Frage", in: Beth-El 5. 1924, 84-88.

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Sonnemann, zu seinem Bekanntenkreis. All dies paßte nicht ins Konzept des erwecklich geprägten Vereinsvorstands und erregte das Mißtrauen der Konsistorialbürokratie,26 während ihn eine Reihe von Kollegen weiterhin stützte. Schon 1893 spitzte sich der Konflikt derart zu, daß Naumann sein Amt als Theologe des Ev. Vereins aufgeben mußte; seine Freunde verschafften ihm daraufhin die Stelle eines Vereinsgeistlichen der Südwestdeutschen Konferenz der Inneren Mission, die in Frankfurt ein Büro unterhielt. Offiziell begründet wurde dieser im November 1894 erfolgende Wechsel mit dem Argument, Naumann werde nun mehr Zeit für seine christlich-soziale Arbeit finden. Treffender waren allerdings die Reaktionen in der Presse, die wie der Vorwärts von einer Maßregelung des geachteten Gegners durch den Ev. Verein und die kirchlichen Behörden sprachen. Die Akzentverschiebungen in den christlich-sozialen Auffassungen Naumanns während der Frankfurter Zeit thematisieren andere Beiträge in diesem Band näher; hier nur soviel: Ein letztes Mal nahm Naumann auf dem Posener Kongreß 1895 Stellung zu den künftigen Aufgaben der Inneren Mission. Nachdem er sich von seinem Konzept abgewandt hatte, über die Politisierung der organisierten Diakonie eine Änderung der Sozialverfassung herbeizuführen, wies er ihr jetzt im Rahmen einer Lösung der sozialen Frage keine Rolle mehr zu. Die von Rudolf Sohm 1895 auf dem Kongreß der Inneren Mission in Posen vorgenommene strikte Unterscheidung zwischen den Begriffen .christlich' und .sozial', die nicht miteinander verwoben werden dürften, weil die Umgestaltung der Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse eine Machtfrage sei, mithin in die Kompetenz des Staates falle, diente Naumann nun dazu, den Verzicht auf entsprechende kirchliche, aber auch seines Erachtens zu weit gehende diakonische Initiativen mit diesem neuen Argument zu fordern bzw. zu legitimieren. Welche problematischen Folgerungen man aus dieser These ziehen konnte, wurde der Inneren Mission erst in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts bewußt: Aus der gedanklichen Trennung der sozialen Aufgaben des Staates und des kirchlichen bzw. kirchennahen Wirkungsbereichs wurde im ,Dritten Reich' bzw. nach 1945 in der DDR 26

Es scheint, als träfe unbeschadet möglicher Einwände die Leitthese der Dissertation von Oliver Janz, nach der die protestantischen Pfarrer seit der zweiten Jahrhunderthälfte aus der von ihnen mitbegründeten bürgerlichen Gesellschaft und ihren kulturellen Netzen ausgezogen seien, auf die Frankfurter Verhältnisse in besonderem Maße zu; vgl. ders.: Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850-1914, Berlin-New York 1 9 9 4 .

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erst die Zurückdrängung, dann die weitgehende Ausschaltung freier kirchlicher Wohlfahrtspflege aus der Arbeit der offenen Fürsorge und an Rehabilitierungsfähigen aller Art. Hier blieb den (konfessionellen) Verbänden nur jene Klientel, die im Sinne von .Volks-' resp. sozialistischer Menschengemeinschaft' nichts mehr zu ,bieten' hatte, - eine verhängnisvolle Konsequenz, die sich bereits aus Friedrich Naumanns .arbeitsteiligem' Kompromißvorschlag in Posen ziehen ließ, daß die Christlich-Sozialen für die politische Emanzipation, mithin auch für Sozialreform eintreten sollten, während die Innere Mission nur noch für die Hilflosen zuständig sei. Wörtlich Schloß Naumann: „Die soziale Bewegung kann sich nur auf aufwärts strebende Klassen, also auf den vierten Stand, stützen. Die Innere Mission hingegen muß sich auf die bewahrenden, besitzenden Klassen stützen, um die Mittel für den versinkenden, gebrochenen fünften Stand zu erhalten, um die zu retten, die sich selbst nicht helfen können." 27

V. Es bleibt festzuhalten, daß Friedrich Naumann zusammen mit Stoecker, Lohmann und anderen weiterblickenden Persönlichkeiten wie Rudolf Todt das Verdienst gebührt, den sozialen Protestantismus Wichernschen Prägung gegenüber zahlreichen Widerständen aus traditionsbewußten Kreisen der Inneren Mission weitergebildet zu haben. Die sogenannte Phase zwei der Entwicklung der Diakonie in Deutschland überwand die Fixierung auf individuelles Hilfehandeln, das Wichern noch primär instrumentell zugunsten seines Ziels der Rechristianisierung der Gesellschaft betrachtet hatte, und forderte strukturelle Reformen, bei deren Durchsetzung Innere Mission und Kirche freilich auf Hilfe des Staates angewiesen waren und damit das Risiko einer Politisierung ihres Anliegens eingingen. Die .Revisionisten' diakonischer Aktion wie Naumann erkannten eher als andere Spitzenvertreter aus Kirche und Innerer Mission, daß sich mit der ab 1870 einsetzenden Hochindustrialisierung die Rahmenbedingungen sozialen Handelns grundlegend geändert hatten: Während Wichern noch ganz in den Strukturen des vormärzlichen Pauperismus dachte, waren nun die Antipoden von Unternehmertum und Sozialdemokratie zu lebensgeschichtlich erfahrbaren Größen geworden. Wenn Kirche und Diakonie ihnen gegenüber nicht in die Defensive geraten wollten, mußten sie sich mit der sozialen Frage in ande-

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Pollmann, a.a.O., S. 209, Anm. 74.

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rer Weise aktiv auseinandersetzen als noch eine Generation zuvor. Das ging freilich nur in kleinen Schritten und wurde von heftigen Abwehrreaktionen begleitet: Stoecker ist an dieser Erfahrung gescheitert, Naumann schlug einen anderen Weg ein und trennte schließlich in strikter Weise Kirche und Diakonie von christlich-sozialer Politik. Die Reformimpulse jedoch, die beide einer sozialethischen Neuorientierung des Protestantismus in seinen unterschiedlichen Lagern vermittelten, wirkten nach und leisteten noch Jahrzehnte später einen Beitrag zur Durchsetzung und Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft innerhalb des evangelischen Deutschland. 28

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Auch wer nicht so weit gehen will wie Jähnichen und Brakelmann (wie Anm. 7), die geradezu von den „protestantischen Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft" sprechen, wird ihnen mit dieser Modifikation folgen können.

Wege in die Politik Friedrich Naumann und Adolf von Harnack K U R T NOWAK

Friedrich Naumann, der Pastorensohn aus Störmthal bei Leipzig, und Adolf von Harnack, zweiter Sproß des Theologieprofessors und Universitätspredigers Theodosius Harnack aus Dorpat, spielten im politischen und publizistischen Leben des wilhelminischen Kaiserreichs und der ersten deutschen Demokratie eine beachtliche Rolle. Was Naumann angeht, so stand er in den Monaten vom Umbruch des Kaiserreichs zur repräsentativen parlamentarischen Demokratie für kurze Zeit sogar in der ersten Reihe der deutschen Politik. Bei der Betrachtung der politischen Wege Naumanns und Harnacks werden verschiedenartige Typen des politischen Protestantismus innerhalb eines relativ engen, des liberalprotestantischen Milieus sichtbar.

I. Politik als B e r u f Naumann ist 1 8 6 0 geboren, Harnack 1851. Die Altersdifferenz von neun Jahren scheint prima vista nicht erheblich zu sein. Tatsächlich stehen zwei unterschiedliche Generationen vor uns. Als Naumann 1 8 7 9 sein Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig aufnahm, war der Extraordinarius Harnack von dort bereits wieder abgegangen. Er hatte einen Ruf auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Gießen angenommen. Zwischen Naumann und Harnack klaffte eine Differenz der Lebens- und Bildungsjahre, aber auch die Differenz einer für Naumann uneinholbaren öffentlichen Reputation. Über diese Tatsache machte sich Naumann keine Illusionen. 1 9 0 2 begrüßte er Harnacks Wahl zum Vorsitzenden des „Evangelisch-sozialen Kongresses" in diesem Bewußtsein. „Auch der strenggläubigste Protestant aber, der nicht gerade berufsmäßig Polemik führt, wird sich der eigenartigen religiös-wissenschaftlichen Bedeutung Harnacks auf die Dauer nicht verschließen können. Um ganz persönlich zu reden: ich bin kein Schüler Harnacks und bin gar nicht imstande, seine Geschichte des christlichen Dogmas fachwissenschaft-

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lieh nachzuprüfen, aber daß er der hervorragendste Theologe ist, den der Protestantismus eben jetzt hat, scheint mir festzustehen." Wenn diese Eloge einer Steigerung fähig war, dann lieferte sie Naumann mit einem Tadel an die Adresse von Harnacks Kritikern: „... es giebt Leute, die sich noch nicht hineingefunden haben, Harnack an sich auch bei starken Meinungsverschiedenheiten als gemeinsames protestantisches Nationaleigentum zu betrachten." 1 In den Folgejahren verminderte sich die Differenz an Reputation, und zwar in dem Maße, in dem Naumann als Politiker und erfolgreicher Publizist auf der Bahn des Erfolgs voranschritt. Gänzlich eingeebnet war sie nie. Ein sprechender Beleg dafür ist Harnacks Brief an Naumann vom 26. Oktober 1915 nach der Lektüre von dessen Buch „Mitteleuropa". Kennt man die Harnackschen Nuancen beim Dank für Bücher und Sonderdrucke, dann sprach hier ein selbstbewußter Meister zu einem Gesellen, der noch viel zu lernen hatte. Eine „energische politische Denkleistung, auf einer konkreten Linie" - das war fast schon die ganze Anerkennung für den „hochverehrten und lieben Herrn Doctor". 2 Auf der anderen Seite mußte sich Harnack Naumann gegenüber eine Schwäche eingestehen. Harnack war, trotz hohen Engagements in der Sozialpolitik, in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik und in weiteren Bereichen des Politischen, kein Politiker. „Ich habe", gestand er seinem Intimfreund, dem Naumannschwager Martin Rade, im Alter von neunundsechzig Jahren, „während der Kriegsjahre u[nd] noch mehr seit dem Nov[ember] 1920 gelernt..., daß ich keine Anlage zum Politiker, sondern nur zum Historiker habe, d. h., daß es mir nicht gegeben ist, in schwebende Fragen sei es nun erbaulich oder wegweisend oder sonstwie einzugreifen. Es liegt mir meiner beschränkten Anlage nach nicht, u[nd] mein ,Genius' wehrt sich dagegen wie etwas ihm Fremdes." Wenn er sich in der Politik betätigt habe, dann geschah es „mit dem Widerwillen, als müßte ich einer unkeuschen Zumutung folgen. Sprechen kann ich darüber ..., schreiben nicht. Das sieht wie eine Idiosynkrasie aus, mag es auch sein; aber es ist so! Ich vermag in schwebenden Dingen mein Urteil nicht festzulegen."3 Solche Bedenken kannte Naumann kaum. Schon der Leipziger und nachmals Erlanger

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Friedrich Naumann: Harnack. In: Die Zeit N r . 5 vom 3 0 . Oktober 1 9 0 2 .

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Harnack an Naumann vom 2 6 . Oktober 1 9 1 5 aus Berlin-Grunewald (Nachlaß Naumann/Bundesarchiv Potsdam 3 8 / 1 / F 4 ) .

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Harnack an Rade vom 2 8 . Dezember 1 9 2 0 aus Berlin-Grunewald. In: Johanna Jantsch (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt. Berlin 1 9 9 6 , Nr. 5 7 9 .

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Student interessierte sich neben der Geschichte, der Literatur und den Naturwissenschaften leidenschaftlich für die Politik. Berührungsängste zwischen der Existenz des Christen und des Politikers blieben ihm weithin fremd. In seinen Studentenjahren sah man ihn aktiv beteiligt an der Gründung der „Vereine deutscher Studenten". In Langenberg bei Hohenstein-Ernstthal, seiner ersten Pfarrstelle, schrieb er einen „Arbeiterkatechismus". Seit 1890 fand er (wie auch Harnack) eine Plattform im „Evangelisch-sozialen Kongreß" und in den evangelischen Arbeitervereinen. So ging es immer weiter und immer zielstrebiger in die Politik hinein. 1895 verteidigte Martin Rade seinen Schwager gegen Harnacks Vorwurf, Naumann fehle die „Kenntnis dessen was oben vorgeht und Fühlung mit Regierungs- und politisch maßgeblichen Kreisen" - ein Vorwurf, der nebenher ein recht interessantes Licht auf Harnacks eigenes Politikverständnis wirft. Naumann sei die einzige wirkliche politische Begabung im „Evangelisch-sozialen Kongreß", hielt Rade der Kritik Harnacks entgegen, „trotzdem er die Fehler eines Agitators meiner Ueberzeug[ung] nach in denkbar geringstem Maße hat". 4 Zwei Jahre später war Rade Augen- und Ohrenzeuge bei Naumanns erster Rede als Reichstagskandidat in Frankfurt am Main. Er versäumte nicht, Harnack davon umgehend Bericht zu erstatten. „Der Ab[end] verlief sehr gut, mögen die Aussichten letz[t]lich immerhin gering sein." 5 Auf Anlage- und Charakterfragen lassen sich Naumanns und Harnacks unterschiedliche Wege in die Politik nicht reduzieren. Von Bedeutung waren sie dennoch. Bevor man in tiefere Gewässer eindringt, d. h. auf unterschiedliche Prägungen des Politikverständnisses bei Harnack und Naumann zugeht, scheint es auf jeden Fall lohnend zu sein, sie zu registrieren. Registrieren muß man sodann die unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexte. Harnack war ein Mann des akademischen Milieus, Naumann ein „Mann des Volkes". Harnack gehörte einer jüngeren, loyalitätsbeflissenen (und loyalitätsbedürftigen) Gelehrtengeneration an, die an der Seite des jungen Kaisers das Banner der Modernität vor sich hertrug. Unter dem Ansturm der „Jungen" waren diese „Modernen" jedoch plötzlich von der Aura des Konservatismus umgeben. Harnack muß ziemlich indigniert gewesen sein, als Rade ihm 1894 Naumanns Forderung präsentierte, mit seinem

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Rade an Harnack vom 1. November 1 8 9 5 aus Frankfurt am Main. In: Ebd., Nr. 172.

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Rade an Harnack vom 13. November 1 8 9 7 aus Frankfurt am Main. In: Ebd., Nr. 2 1 5 .

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ESK-Vortrag „Die evangelisch-sociale Aufgabe im Lichte der Geschichte der Kirche" nicht in der Historie steckenzubleiben. Harnack dürfe nicht darauf verzichten, „die Linie bis zur Gegenwart zu ziehn". 6 Harnack ein Archivar und Historist - er, der nach seiner Meinung doch gerade alle Anstrengungen unternahm, den Impuls des Evangeliums für die Sozialprobleme der Gegenwart fruchtbar zu machen? Naumann, dem Stürmer und Dränger, genügte Harnacks Art der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart nicht. In seiner Besprechung des „Wesens des Christentums" sollte Naumann den Vorwurf von 1894 wiederholen: Historisierung. Harnacks Vorlesungen zeigten „keine übermäßige Neigung, gerade diesem jetzt lebenden Zeitalter ein Christentum zu bieten, wonach es in seiner Begrenztheit und Einseitigkeit sucht". 7 Harnack reagierte auf Naumanns Rezension mit mühsam unterdrückter Wut. „Lieber Herr Pfarrer! Ich sage Ihnen meinen besten Dank für die Besprechung meiner Vorlesungen in Ihrer Zeitung. Die Schranken derselben empfinde ich selber sehr deutlich; aber Niemand kann zwei Herren dienen. Mir kam Alles in den ersten 8 Vorlesungen darauf an, den Religionsbegriff Jesu - oder besser: seine Frömmigkeit - ans Licht zu stellen. Das ist möglich und das, meine ich, ist das Wichtigste." 8 Bei ungebrochenem persönlichem Wohlwollen füreinander sahen sich Naumann und Harnack seit den 1890er Jahren auch auf anderen Gebieten voneinander geschieden, etwa im Respekt vor dem Status quo, näherhin vor dem Wilhelminismus. Harnack fand Naumanns abfällige Ironie bei der Einweihung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche unerhört. Jeder Satz in Naumanns Artikel in der „Hilfe" mußte ihn schmerzen. „Wenn ζ. B. eine sehr prächtige Kirche gebaut worden ist mit einer Krone, einem Kreuz und einem Stern auf der Spitze, wenn dann diese Kirche mit viel Uniformen, Musik, Hochrufen und ähnlichem Kram eingeweiht wird, wenn dann diese Kirche dazu dienen soll, gewisse irdische Verhältnisse zu stärken und zu stützen, so nennt man das ein Werk zur Ehre Gottes." 9 So sprachen nach Harnacks Ge-

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Rade an Harnack vom 2 9 . Januar 1 8 9 4 aus Frankfurt am Main. In: Ebd., Nr. 1 4 0 .

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Friedrich Naumann: Das Wesen des Christentums. In: Die Hilfe N r . 3 8 vom 2 3 . September 1 9 0 0 , Beiblatt S. 9f. Harnack an Naumann vom 2 2 . September 1 9 0 0 aus Westerland-Sylt (Nachlaß Naumann / Bundesarchiv Potsdam 1 3 4 / 1 / A 6 ) .

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Näheres in dem Brief Harnacks an Rade vom 2 7 . Oktober 1 8 9 5 aus Berlin W 5 0 und den Sacherläuterungen. In: Jantsch (Hg.): Briefwechsel Harnack - Rade (wie Anm. 3), Nr. 1 6 8 .

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schmack allenfalls die Sozialdemokraten und die Vertreter der Kirchenaustrittsbewegung, nicht aber ein evangelischer Geistlicher, der Naumann damals noch war. Jene zupackende Energie oder Freiheit war es, die Naumann zum Politiker machte, während Harnack „nur" ein homme politique blieb: parteilos, offen nach vielen (wenn auch keineswegs nach allen) Seiten und mehr zum Management des Status quo als zu dessen Überwindung begabt. Neben den individuell-habituellen Elementen muß man freilich auch eine grundlegende strukturelle Differenz sehen. Harnack, der wilhelminische Gelehrtenpolitiker, war in einer ganzen Reihe seiner Ämter bis 1918 in das „Staatshandeln" eingebunden. Anders als bei Naumann waren seine Tätigkeiten - abgesehen von der Arbeit im „Evangelisch-sozialen Kongreß" - regierungsamtlich abgestimmt und verankert. Die Differenzen im Verständnis des Politischen und bei der Gestaltung der Politik treten in den Jahren von 1890 (Gründungsjahr des Evangelisch-sozialen Kongresses) bis 1919 (Naumanns Todesjahr) nicht in allen Punkten und nicht in jeder Situation hervor. Naumanns Verwandtschaftsbeziehung zu Rade, Harnacks engstem Freund, dämpfte manchen Konflikt in der Sache. Außerdem fand sich das liberal- und kulturprotestantische Lager, weil es jenseits des mehrheitlichen konsistorialen Kirchenchristentums in ziemlich dünner Luft agierte, zu Binnenloyalitäten verpflichtet. Kritik und Zustimmung, Antikritik und Kritik der Antikritik begegnen gerade auch in der Beziehung zwischen Naumann und Harnack in vielfältigen Mischungen. Die Linie der Trennung ist dennoch stets sichtbar, eine Linie, die den nachmaligen Berufspolitiker Naumann vom Gelehrtenpolitiker Harnack bis nahezu auf den Grund scheidet. Das wird in den Abschnitten II. und III. näher darzulegen sein. Neben dem Trennenden gab es Gemeinsamkeiten. Sie entwickelten sich im Ersten Weltkrieg und im Übergang zur ersten deutschen Republik, wie die Abschnitte IV. und V. zeigen sollen.

II. Partei oder Reformbewegung? Auslöser einer ersten Trennung zwischen Naumann und Harnack war die Krise im „Evangelisch-sozialen Kongreß" von 1895. Der Kongreß, hervorgegangen aus einer fragilen Politik der Diagonale, stand damals zwischen zwei Feuern. Sie trugen die Namen Stoecker und Naumann. Stoecker verkörperte eine christlich-soziale Kirchen- und Politideologie, gegen die Harnack bereits im Umfeld der Kongreßgründung lebhaften Protest eingelegt hatte. In den „Preußischen Jahrbüchern" seines Schwagers Hans Delbrück hatte er dargelegt, was der Kongreß unter

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keinen Umständen sein und tun durfte. Gegen Stoecker eine Breitseite abfeuernd hatte Harnack formuliert, es müsse verboten sein, „sich den Glauben anzumaßen, die Kirche habe alle Heilmittel für die Gesellschaft im Besitz". 1 0 Wer Stoecker folgte, huldigte einem fruchtlosen und schädlichen Gesinnungsfundamentalismus. Er war zu differenzierter Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht in der Lage. Da Stoecker seit 1878 auch Parteiführer war (Führer der „Christlich-sozialen Arbeiterpartei" von 1 8 7 8 - 1 8 8 1 und der „Christlich-sozialen Partei" seit 1881), traf Harnacks Kritik der Stoeckerschen „Heilmittel" gleichzeitig die Symbiose von protestantischem Christentum und politischem Parteiwesen. Den anderen Protagonisten des Konflikts, Friedrich Naumann, beurteilte Harnack günstiger. Naumann besaß ein deutlich besser entwickeltes Sensorium für Staat, Politik, Gesellschaft und Kultur als Stoecker, der ekklesiale Rechristianisierungsstratege. Auf die Seite Naumanns legte er sich trotzdem nicht, obschon er in der ersten Kongreßphase viel Sympathie für die jüngeren „Christlich-sozialen" gehegt hatte. Auch Naumann war inzwischen richtungspolitisch gebunden: durch seine Neigung zum Eigenwert der Politik und seine Ambition, die Fronten der politischen Parteien durch den Aufbau einer neuen Kraft zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum aufzubrechen. 1895 war Naumann noch kein Berufspolitiker, doch auf dem besten Wege dorthin. Harnack hielt die Lage des Kongresses damals für aussichtslos. Wenn Stoecker „moralisch anstößig" und auf Dauer unhaltbar war, dann mußte der Kongreß Naumann und seinen Anhängern in die Hände fallen, weil, so Harnack, der Kongreß nicht über die Kraft verfügte, gegen die „sachlichen Anstöße, die Naumann's Politik bietet, im Congreß selbst u[nd] für seine Signatur nach außen ein solches Gegengewicht zu bilden, daß der Congreß nicht einfach mit Naumann identificirt wird - welch ein Existenzrecht hat der Kongreß noch!" 1 1 Harnack sah für den zwischen Stoecker und Naumann eingeklemmten Kongreß nur noch eine Möglichkeit: die Auflösung. Ende November 1895 rechnete er mit dieser Entwicklung in den nächsten vier Wochen.

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Einzelheiten bei Kurt Nowak: Sozialpolitik als Kulturauftrag. Adolf von Harnack und der Evangelisch-soziale Kongreß. In: Jochen-Christoph Kaiser/Wilfried Loth (Hg.): Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik. Stuttgart/Berlin/Köln 1 9 9 7 , S. 7 9 - 9 3 ; Zitat S. 81 (Konfession und Gesellschaft 11).

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Harnack an Rade vom 3 0 . Oktober 1 8 9 5 aus Berlin W 5 0 . In: Jantsch (Hg.): Briefwechsel Harnack - Rade (wie Anm. 3), Nr. 1 7 1 .

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Der politische Kern von Harnacks äquidistanten Voten lag in der Weigerung, eine Organisation, die keine Partei sein wollte, direkt oder indirekt in eine Partei umwandeln zu lassen. In Harnacks Absage an die Stoecker- wie an die Naumannrichtung steckte noch mehr, nämlich das grundsätzliche „Nein" gegen eine Fragmentierung des Politischen - in diesem Fall der Sozialpolitik - auf dem Boden von politischen Parteibildungen. Dafür gab es einen theologischen und einen soziologischen Grund. Theologisch widersprach Parteipolitik - zumal von Christen und Geistlichen - Harnacks christlichem Kultur- und kirchlichen Gemeinschaftsverständnis. 1911 versah Harnack das gedruckte Dankesblatt für seine Gratulanten zum 60. Geburtstag im Falle Naumanns mit einem handschriftlichen Gruß. Der Gruß enthielt eine hintersinnige Mahnung gegen Naumanns Parteigeist und bekräftigte, trotz allem, das Gemeinschaftliche. „Credo communionem sanctorum, i. e. rectorem hominum atque spiritualium, quorum radices in evangelio latent." 1 2 Soziologisch widersetzte sich Harnack der Parteipolitik wegen seines virtuell vorpolitischen Verständnisses der Politik. Aus dem Ideal der Glättung von Konflikten oberhalb und jenseits der Parteien (die in Deutschland an der Wende des 19./20. Jahrhunderts ein historisch noch junges Phänomen waren), vermochte sich Harnack nach meinem Urteil bis an sein Lebensende nicht zu lösen. Paul Göhre, ein Parteigänger Naumanns, schlug in der Krise des „Evangelisch-sozialen Kongresses" vor, sowohl Stoecker wie Naumann sollten - „für jetzt wenigstens" - von der Kongreßleitung zurücktreten. 13 So geschah es. Stoecker und Naumann gingen seither eigene Wege. Der Kongreß war gerettet. Einige Jahre dümpelte er unter Nobbe vor sich hin, ehe er mit Harnacks Wahl zum Vorsitzenden 1 9 0 2 in eine neue, seine erfolgreichste Phase eintrat. Dem Gedanken: Reformbewegung statt Partei war unter schmerzhafter Abstreifung der Parteipolitik zum Sieg verholfen. Abgewehrt worden ist in diesen Kämpfen übrigens auch die Zumutung Nobbes und Delbrücks, der Kongreß habe eine einsinnige politische Gesinnungskultur zu entwikkeln. Freilich gab es auch Grenzen der politischen Toleranzbereitschaft. Rade wollte im Kongreß jeden evangelischen Christen zulassen, selbst

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Gedrucktes Dankblatt Harnacks vom Mai 1 9 1 1 (Nachlaß Naumann/Bundesarchiv Potsdam 1 3 4 / 1 / B 1 ) . Harnack bezog sich auf Naumanns Handschreiben vom 5. Mai 1 9 1 1 (Nachlaß Harnack/Staatsbibliothek Berlin Unter den Linden - Preußischer Kulturbesitz).

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Paul Göhre: Die Krisis der evangelisch-sozialen Bewegung. In: Die Christliche Welt 5 ( 1 8 9 5 ) , Sp. 1 1 0 0 - 1 1 0 4 .

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wenn er eine noch so „radikale Sozialreform" erstrebte. Zudem war Rade offen für das Gespräch mit der Sozialdemokratie. Harnack hingegen praktizierte gegen sie einen Kurs der Aus- und Abgrenzung. Er ließ sich zu polemischen Äußerungen hinreißen, die Rade fassungslos stammeln ließen, so dürfe ein Christ, ein Mensch und Historiker einfach nicht reden. 14 Gestützt auf die jungen „Christlich-sozialen" etablierte Naumann auf der Erfurter Vertreterversammlung vom 23.-25. November 1 8 9 6 den „Nationalsozialen Verein". Der „Verein" verstand sich als die „Vorbereitung zu einer Partei". Bei den Vorversammlungen am 10./11. Februar 1896 in Erfurt und am 6. August 1896 in Heidelberg hatte der Verein sein Verständnis zunächst als „politische Vereinigung" zwecks Ergänzung der „bisherigen Parteiformen" artikuliert. Indes dürfte schon im Vorfeld der Herbstversammlung von Erfurt klar gewesen sein, was hier entstand. Man muß es auf das Konto der Mischungsverhältnisse und Binnenloyalitäten rechnen, wenn Harnack, inzwischen eine internationale Berühmtheit, dem jungen Parteigründer Naumann beim Übergang von der „politischen Vereinigung" zur „Vorbereitung einer Partei" Hilfestellung gab. Harnack fand sich bereit, im Berliner Kreis der Freunde von Naumanns Wochenzeitschrift „Die Hilfe" über den Namen der neuen Gruppierung und über den sechsten Punkt ihres Programms zu sprechen. Das geschah nicht hinter verschlossenen Türen; Harnack veröffentlichte seine Stellungnahme alsbald in dem (kurzlebigen) Vereinsorgan der Naumannianer, der Tageszeitung „Die Zeit. Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage". Wenn man will, war Harnacks Beratertätigkeit für Naumanns in statu nascendi befindliche Partei so inkonsequent wie nur irgend möglich. Die Dinge so zu sehen hieße jedoch, eine Eigenart des homme politique Harnack zu verkennen. Harnack verweigerte sich der Macht des Faktischen nur selten. Er sah seine Aufgabe darin, gerade auch in unbequemen Verhältnissen auf dem Platze zu sein, um sie zu beeinflussen. Obschon er wußte, daß evangelische Zeitgenossen hier einen Weg beschritten, der nicht der seine war, trat er unter die Naumannianer

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Harnack hatte (in einem nicht mehr vorhandenen Schreiben) die Sozialdemokratie eine „schmutzige Gesellschaft" genannt. Rade reagierte mit den Worten: „Wie darfst Du über Millionen so aburteilen ... Dieser Stimmung darfst Du nicht nachgeben - als Mensch nicht, als Christ nicht, als Deutscher nicht, als Vorsitzender des Evangelisch-sozialen Kongresses nicht. Auch als Historiker nicht" (Rade an Harnack vom 2 2 . Juli 1 9 1 0 aus Marburg. In: Jantsch [Hg.]: Briefwechsel Harnack - Rade [wie Anm. 3], N r . 4 6 7 ) .

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und versuchte ihnen bei der Namensfindung und bei der Formulierung ihres Programms behilflich zu sein. Er war sogar damit einverstanden, sein Einlagekapital bei der Zeitschrift „Die Hilfe" „auch für das neu geplante Unternehmen gerne zu Ihrer [Naumanns] Verfügung zu stellen", also für die (zunächst) geplante Erweiterung der „Hilfe" zur Tageszeitung, sodann für die Tageszeitung „Die Zeit". 15 Einen Beitritt zu der Neugründung, an der neben manchen anderen Theologen auch der Leipziger Neutestamentier Caspar Rene Gregory mitwirkte, hatte er freilich schon in seinem Tiroler Augusturlaub 1896 abgelehnt: „1) habe ich neben meiner Wissenschaft doch nur ein beschränktes politisches Interesse, 2) ist mir die Devise ,Christl.-Soz.' nicht erfreulich, da sie eine Geschichte hinter sich hat, die nicht schön ist." 16 Hinter den glatten Formulierungen des Tirolurlaubers, niedergelegt auf einer Postkarte, steckte der prinzipielle Protest gegen die Parteigründung. Daß Harnack ihn nicht offen aussprach, mehr noch, sich als eine Art Taufpate gewinnen ließ, entsprach seinem flexiblen und situativen Verständnis des Politischen. Harnacks Beraterrolle war Teil einer lebhaften Debatte, die sich nach der Veröffentlichung des Programmentwurfs am 1. Oktober 1896 entfaltet hatte. Nicht weniger als acht Gegenentwürfe und zweiundsechzig Änderungs- und Ergänzungsvorschläge lagen am Ende vor. Die widersprüchliche Vielfalt drohte die zarte Pflanze zu ersticken, noch ehe sie Früchte trug. Sollte der neue Verein die Bezeichnung christlich-sozial oder national-sozial tragen? Harnacks Votum lautete: „M. E. ist der Name ,Christlich-Sozial' nicht beizubehalten, sondern durch den anderen ,National-Sozial' zu ersetzen." 17 Die Begründung war so einfach und gleichzeitig so grundsätzlich wie nur denkbar. Unter der Voraussetzung, daß die neue Formation ihre ursprüngliche „Zwischenstellung" - „zwischen einem christlichen Verein und einer politischen Partei" - nicht mehr aufrecht erhalten konnte, war dem Grundsatz der Reformation, Geistliches und Weltliches „streng" voneinander zu scheiden, zu folgen. Der Name „Christlich-Sozial" stand in dieser Perspektive, zumal im Hinblick auf seine Stoeckersche Vergangenheit, als ungute Chiffre für die Vermengung von Gottes Reich

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Harnack an Naumann vom 20. August 1896 aus Stams/Tirol (Nachlaß Naumann/Bundesarchiv Potsdam 134/1/B1. Zum Einlagekapitel selber: Nachlaß Harnack/Staatsbibliothek Berlin Unter den Linden - Preußischer Kulturbesitz [Naumann]).

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Wie Anm. 15. Professor Harnack an Fr. Naumann, Berlin, den 4. November 1896. In: Die Zeit Nr. 3 9 vom 14. November 1896.

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zur Rechten und zur Linken. Wenn schon politische Partei, so Harnacks Rat, dann mit allen Konsequenzen. „Also ist der Entschluß geboten, sich m i t b e i d e n F ü ß e n auf den Boden zu stellen, der durch die sozialen, nationalen und politischen Bewegungen bezeichnet ist." Die schwierigere Operation bestand in der Bestimmung des Christlichen in der neuen Partei. Einerseits durfte das Christliche nicht fundamentalistisch als die prima causa eines politischen Programms mißverstanden werden. Dieses Denken führte zu dem „neuen Islam" Stoeckers, war in der Tat auch nicht das Thema der „Jungen". Andererseits war das Christliche vor der Herabsetzung zu einem bloßen Punkt im Parteiprogramm zu schützen. Harnack unterstrich: „Das Christentum soll ... eine bewegende Kraft bleiben, aber eben K r a f t und G e s i n n u n g . " Demgemäß riet er, den sechsten Paragraphen des Programmentwurfs so zu formulieren: „Wir wollen mitarbeiten an der Stärkung der idealen Mächte im Volksleben, in deren Mittelpunkt uns das Evangelium steht, und werden auch die bestehenden kirchlichen Gemeinschaften überall dort stützen und fördern, wo ihre Tätigkeit der sozialen Hebung des Volkes zu gute kommt und dem konfessionellen Frieden der Nation dient." Neben dem Impuls, dem Evangelium im Gebiet des Politischen einen Platz anzuweisen (ideale Macht), gab Harnack den Parteigründern mit seinem Formulierungsvorschlag ein kirchenpolitisches Programm auf den Weg. Das geht aus seinen Erläuterungen hervor. Die neue Partei solle offen sein für Protestanten und für Katholiken, darüber hinaus für alle „kirchlichen Vereinigungen", die im Sinne des Programms wirkten. Durch konfessionelle Offenheit fördere sie den religiösen Sinn, ohne sich dabei als „Schutztruppe der Kirchen" zu begreifen, allerdings auch nicht als indifferent in Kirchenangelegenheiten. „... sie muß anerkennen, daß das religiöse Leben vornehmlich durch die Kirchen gepflegt wird und hat ihnen in diesem Sinn, wo es Not thut, Beistand zu leisten. Sie selbst kann überall nur indirekt auf religiösem Gebiete wirken." 1 8 Was bis 1896 latent spürbar war, lag nach 1896 vor aller Augen. Naumanns und Harnacks Wege trennten sich. Nach Harnacks Wahl zum Vorsitzenden des „Evangelisch-sozialen Kongresses" fragte Rade, ob man Naumann nicht zum Vizepräsidenten machen könne. „Mit dem Auftrag sich seiner Organisation anzunehmen? Er hat jetzt Zeit dafür u[nd] wird, das weiß ich, zum Kongreß halten." 1 9 Harnack

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Ebd. Rade an Harnack vom 8. Juli 1903 aus Marburg. In: Jantsch (Hg.): Briefwechsel Harnack - Rade (wie Anm. 3), Nr. 337.

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reagierte auf dieses Ansinnen gar nicht erst. Naumann hatte sich mittlerweile zum Partei- und Berufspolitiker entwickelt. Als Berufspolitiker streifte Naumann sein christlich-soziales und diakoniepolitisches Erbe ab und formte ein neues politisches Weltbild, zunächst mit der Kompromißformel: „Christliche Politik treiben, heißt wahrhaftige Politik treiben." 20 Harnack blieb demgegenüber der politisch engagierte „Laie": ein Mann für alle Fälle, ausgenommen den Fall der Partei- und Berufspolitik. Wuchs Naumann nach der Niederlegung seines geistlichen Amtes 1897 immer tiefer in das Berufspolitikertum hinein, so Harnack in das Aufgabenfeld der ehrenamtlichen Sozial-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Er vertiefte sein Engagement im Evangelisch-sozialen Kongreß. Die Wahl zum Vorsitzenden kam 1902 nicht von ungefähr. Er beteiligte sich alsbald auch an der kräftezehrenden Reform des Mädchenschulwesens in Preußen. Außerdem bereitete sich allmählich seine Karriere als hochrangiger Wissenschaftspolitiker vor. Sie fand ihre Krönung 1911 in der Präsidentschaft der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften". Naumann ging über verschiedene Stufen (Nationalsozialer Verein, Freisinnige Vereinigung, Fortschrittliche Volkspartei, Deutsche Demokratische Partei) in das deutsche Parteienspektrum ein. Harnack blieb bis zu seinem Tod 1930 parteilos.

III. Politische Ethik und Religion Eine zweite Trennung zwischen Naumann und Harnack versteht sich als Vertiefung und Bekräftigung der ersten. Sie führt auf das Gebiet der politischen Ethik. 1903 erschienen Naumanns „Briefe über Religion", ein schmales Büchlein mit 27 Briefen, dessen Umfang nur doppelt so viele Seiten zählte. Nachdem Naumann am 23. September 1900 in seiner Wochenzeitschrift „Die Hilfe" Harnacks „Wesen des Christentums" als „reichlich abstrakt", historisierend und ungeeignet für die Gegenwart bezeichnet hatte, war damit zu rechnen, daß Harnack sich nunmehr die „Briefe über Religion" vornahm. In der

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Ein konziser Abriß zu Naumanns politischem Weg nebst Einordnung jenes Diktums bei Werner Jochmann: Friedrich Naumann. In: Martin Greschat (Hg. ): Gestalten der Kirchengeschichte. Die neueste Zeit III. Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1985, S. 113-126; analytisch vertiefend Walter Göggelmann: Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich Naumanns 1860-1903. Baden-Baden 1987 (Schriften der Friedrich-Naumann-Stiftung: Wissenschaftliche Reihe).

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Tat, Harnack zögerte nicht. Am 19. September 1903 lag der lesenden Öffentlichkeit seine Besprechung vor. Sie erschien in der „Nation" von Theodor Barth, dem Führer der „Freisinnigen Vereinigung". 21 Der mit dem „National-sozialen Verein" gescheiterte Naumann schickte sich im Sommer und Herbst 1903 an, zur „Freisinnigen Vereinigung" überzugehen und damit endgültig „säkular" zu werden. Worum es in dem wechselseitigen Schlagabtausch - und darum handelte es sich ging, war das Verständnis der Religion als Lebensmacht, als Potential ethischen Handelns in Politik und Gesellschaft. Hatte Naumann Besseres zu bieten als der angeblich in einer „tendenzlosen" (wissenschaftlich-historischen) Auffassung des Christentums steckengebliebene Harnack? Bevor Harnack sich dieser Frage näherte, behandelte er zunächst Naumanns weltanschaulichen Standpunkt und sein Frömmigkeitsverständnis. Auf dem Weltanschauungssektor war Harnack klug und fair genug, den Publizisten und Politiker Naumann nicht mit der Last eines Problems zuzudecken, das nicht nur Naumanns Problem war. Wie verhielten sich der moderne Weltbildwandel und die Fragmentierung der Gesellschaft in Weltanschauungsgruppen zur Religion? War eine „einheitliche Weltanschauung" noch möglich? Harnack akzeptierte Naumanns Einsicht (die er nicht teilte), daß die Konstruktion einer einheitlichen Weltanschauung aus christlichem Geist in der gegenwärtigen Lage dem Pluralismus der Weltanschauungen lediglich eine weitere Variante hinzufügte. „Aber das neue W e l t b i l d , wie es aufgestiegen ist, erfrischt und entzückt ihn, und was von dem Erbe der Vergangenheit in bezug auf Religion und Gottesglauben unerschüttert geblieben ist, das ist ihm genug. Der Teil ist ihm soviel wie das Ganze, ja mehr als das Ganze, wie es einst gegolten hat; denn wieviel Kindliches und Trübseliges war ihm beigemischt." 22 Bescheidenheit und Neugier im Prozeß der Fragmentierung war für Harnack als ein vorübergehen-

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Adolf Harnack: Naumann, F., Briefe über Religion, 1903. In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Litteratur Nr. 51 vom 19. September 1903, S. 810f. Zitiert wird nach dem Druck bei Kurt Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Mit einem bibliographischen Anhang von Hanns-Christoph Picker. Zwei Teile. Berlin 1996. Teil 1, S. 647-654. Aus dem Bereich der Sekundärliteratur sei genannt Hartmut Kramer-Mills: Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wirkungsgeschichte von Friedrich Naumanns „Briefe über Religion". Neukirchen-Vluyn 1997, S. 67-73 (Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen 18). Harnack als Zeitgenosse (wie Anm. 21), S. 651.

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der Zustand christlicher Existenz akzeptabel. Wenigstens war diese Haltung frei von jenem Pessimismus, der dem Menschen die Natur und die Geschichte vergällte. Wenig oder nichts zu tadeln hatte Harnack an Naumanns Darlegungen über Jesus. „Gottes Brunnen haben auch jetzt noch Wasser die Fülle." Harnack hob hervor, wie sehr er sich mit Naumann durch die Jesusfrömmigkeit verbunden wisse. Er empfinde „so gleichartig mit dem Verfasser ..., daß niemand weniger zu seinem Kritiker berufen ist als ich". 23 Der Satz war keine Floskel. Kurz zuvor hatte Naumann ihm seine gesammelten Andachten („Gotteshilfe") zugesandt. Seinen Dank hatte Harnack mit der Mitteilung verknüpft, mittlerweile seien die Texte bei den Familienandachten im Haus Harnack in Gebrauch. 24 Durch die Übereinstimmung im persönlichen Bekenntnis des Glaubens, das bei Harnack nach Naumanns negativer Lesart auf einem angeblich nur historisierenden Fundament ruhte, durfte sich der Rezensent vom Vorwurf eines lebensfernen Historismus entlastet zeigen. Die freundliche Akzeptanz von Naumanns partikularistischem Weltbild und die prononcierte Zustimmung zu dem, „was von Jesus, dem Persönlichen, unter Weglassung alles Unpersönlichen gesagt ist", 25 ließ die Differenz in der politischen Ethik um so deutlicher hervortreten. Harnack gestaltete seine Rezension hier zu einer scharfen Polemik. Naumann habe sich in eine politische Mixtur aus Klassenkampf und sozialdarwinistischen Ideologemen vom „Kampf ums Dasein" verrannt. Zur Illustration zitierte Harnack einen Zeitgenossen, der Naumann eine kritische Epistel zugesandt hatte: „Es gibt nicht wenige Leser Ihrer Andachten, die es bei aller Freundschaft nicht recht verstehen, wenn Sie gleichzeitig Christ, Darwinist und Flottenschwärmer sein können. Dieser etwas plump formulierte Satz erscheint als der Ausgangspunkt der .Briefe'." 26 In Harnacks Perspektive war der Vorwurf zu ergänzen durch den sozialistischen Klassenegoismus. Weil Naumann seine politisch-weltanschaulichen Prämissen - die nationale Großmachtpolitik, die Betonung des Antagonismus zwischen besitzenden und nichtbesitzenden Klassen und des „Kampfes ums Dasein" nicht mehr mit der „religiösen Moral" vermitteln könne bzw. Schranken zog, die sie auf dem Feld des Staates, der Politik und der Gesell-

23 24

25 26

Ebd., S. 652. Harnack an Naumann vom 2. November 1902 aus Berlin W 15 (Nachlaß Naumann/Bundesarchiv Potsdam 134/1/A3). Harnack als Zeitgenosse (wie Anm. 21), S. 652. Ebd., S. 649.

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schaft irrelevant machten, sah Harnack den Politiker und Christen im Dualismus einer „doppelten Lebens- und Buchführung" gefangen. 27 Harnacks Kritik lagen drei Prämissen zugrunde. 1. Es ging nicht an, die christliche Frömmigkeit ihrer ethischen Dimension zu berauben, auch nicht im politischen Leben. Seit seiner Gießener Rede zum Lutherjubiläum 1883 hatte Harnack immer wieder den reformatorischen Urimpuls eingeschärft. Der Christ, aus den monastischen und autoritären Bindungen der mittelalterlichen Kirche befreit, hatte jetzt seine Alltagswelt als den ihm von Gott gegebenen Wirkungs- und Gestaltungsraum seines Lebens zu betrachten. Der politische Raum war davon nicht ausgenommen. Christen hatten, wie Schleiermacher sagte, den Harnack gelegentlich zur Verdeutlichung der Heiligung des Profanen heranzog, alles „mit Religion" zu tun. „Kraft und Gesinnung" hatte Harnack das in dem Formulierungsvorschlag für den sechsten Programmpunkt des „Nationalsozialen Vereins" 1 8 9 6 genannt. 2. Mochte im Bereich der Weltbildproduktion aufgrund der schwierigen Zivilisationslage die Fragmentierung immerhin noch als Übergangsphänomen akzeptabel sein, bei der Gesellschafts- und Politikgestaltung war sie es nicht. In diesen Bereichen trug die Fragmentierung nach Harnacks Meinung den Stempel des Egoismus der Klassen und Parteien an der Stirn. Zwar hat Harnack - soweit ich sehe - niemals eine Grundsatzerklärung gegen die Aufspaltung des politischen Körpers in Parteien abgegeben. Im Prinzip aber war es ihm, der in Entwicklungsstufen und im Modell der complexio oppositorum dachte, unmöglich, eine permanente und unauflösbare Konstellation des politischen Interessenkampfes zu akzeptieren. Das galt für die Innenpolitik wie für die Außenpolitik. Mit dem „ J a " zur Diversifikation des politischen Willens im Spektrum widerstreitender Interessen war Naumann seinem Kritiker weit voraus. Das eigentliche Problem der politischen Ethik bestand jedoch darin, die Frage zu beantworten, wie sich die Realitäten der Politik mit der christlichen Ethik versöhnen ließen. Wenn Naumann mit seiner „doppelten Buchführung" dazu nicht in der Lage war, dann war es Harnack mit seinen sittlichen, die Geschichtsentwicklung harmonisierenden Anschauungen allerdings auch nicht. 3. Naumann deutete den „Kampf ums Dasein", wie Harnack monierte, in einem un- und widerchristlichen Geist. Harnack lehnte den Begriff „Kampf ums Dasein" nicht rundweg ab, füllte ihn aber - wie er es auch mit Nietzsches Wort vom

27 28

Ebd., S. 652. Ebd., S. 653.

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„Übermenschen" tat - mit anderen Inhalten. „Der ,Kampf ums Dasein' unter Menschen, unter den Menschen der Gegenwart, ist kein Kampf von Tieren, mag es einst auch so gewesen sein. Alle Kräfte des Guten, alle Tugenden - Wahrheit, Liebe, Sozialgefühl und Selbstlosigkeit - sind Kräfte in diesem Kampfe, und es sind die stärksten Kräfte. Vergebens habe ich in den Ausführungen Naumanns auch nur eine Zeile gesucht, in der diese einfache Wahrheit ihr Recht erhält: es ist, als ob ihn die sozialistische Geschichtsschreibung blind gemacht hätte." 28 Harnack, Repräsentant eines Verständnisses von Staat, Gesellschaft und Kultur, das sich theologisch auf die Gotteskindschaft des Menschen und seine unverlierbare Anlage zum Guten gründete und realpolitisch dem Stil sittlich verantworteter Honoratiorenpolitik folgte, betrachtete Naumann als verirrt „im Bannkreis einer irrigen und tyrannischen Betrachtung des Geschehens". 29 Nach der Besprechung der „Briefe über Religion" klaffte der Graben zwischen Harnack und Naumann tiefer denn je.

IV. W a n d l u n g e n Friedrich Naumann durchlief in seinem politischen Leben mehrere Veränderungen. Der Vereinsgeistliche der Inneren Mission wandelte sich zum christlich-sozialen Vereinspolitiker, der Vereinspolitiker zum nationalsozialen, dann liberalen Politiker. Der Versuch, diese Wandlungen exklusiv theologisch zu erklären, hat sich als fruchtlos erwiesen. Die Praxis des Politischen entwickelte ihre eigene Handlungs- und Begründungslogik. Aufschlußreich für das von Naumann betonte Eigengewicht des Politischen ist sein Verständnis der Parteien, über das er sich bereits 1903 in dem Beitrag „Das Wesen der politischen Parteien" ausgesprochen hatte. „Die Partei entsteht nicht ohne Idee, ist sie aber entstanden, dann verträgt sie es, daß unter Umständen der politische Apparat weiter funktioniert, auch wenn er das Gegenteil von dem tut, was er früher tat." Parteien waren nicht zur Verbreitung von „Gesinnungen" da, wie das bei weltanschaulich gebundenen Organisationen und Vereinen der Fall war. Die Zweckbestimmung einer Partei lag in der „Ausübung gesetzgeberischer Macht". 30 Natürlich wollte Naumann Gesinnung und parteipolitische Apparatur nicht vollständig auseinanderreißen. Die „Gesinnung" blieb als Hintergrund29 30

Ebd., S. 654. Friedrich Naumann: Das Wesen der politischen Parteien. In: Ders.: Werke. Sechs Bände. Köln und Opladen 1964-1969. Band IV, S. 199-202.

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identität präsent. Zielführend aber war etwas anderes: die Behandlung der jeweiligen Sachfrage im pragmatischen Kräftespiel der Politik. Harnack erscheint demgegenüber, jedenfalls bis 1914/15, als ein Mann mit festen politisch-mentalen Bindungen und theologisch-ethischen Maximen. Er repräsentierte die modern-konservative Bildungselite des wilhelminischen Deutschland in konsensfähigen Formen. Im März 1914 verlieh ihm Kaiser Wilhelm II. nach erfolgreichem Umzug der Königlichen Bibliothek in das Gebäude Unter den Linden den erblichen Adelstitel. Die Weltkriegsjahre 1914-1918 veränderten die politischen Horizonte. Naumann und Harnack brachen in einer relativ frühen Phase der Kriegshandlungen zu neuen politischen Ufern auf. Ein Markstein war im Falle Naumanns sein Buch „Mitteleuropa" (1915), das 1916 bereits in das 86. - 100. Tausend ging. Harnack hielt freilich, wie bereits angedeutet, von dem Buch nicht viel. Naumann gebe dem „wirtschaftlichen Element ein zur Seite drückendes Schwergewicht": „Das sehe ich noch nicht." 31 Wie heftig inzwischen auch Harnacks Weltbild in Bewegung geraten war, zeigen Äußerungen noch vor dem „Mitteleuropa"-Buch. „Das alte Europa kann nach diesem furchtbaren Kriege nur auf ganz neuer Basis wiederhergestellt werden oder ein Abgrund wird den anderen rufen, und die ganze Kultur geht wirklich zugrunde." So am 2. Februar 1915. 32 Harnacks Kulturoptimismus schien zeitweilig gebrochen. Er empfand die Nötigung, Erwägungen über den Zusammenhang von Geschichte, Kultur und Christentum vorläufig zurückzudrängen. Sie muteten ihm „wie eine verwundende Unzartheit" in den leiblichen und seelischen Nöten des Krieges an. „Errores hominum Providentia dei diriguntur: ein schlechter u[nd] ein guter Trost zugleich. Augustin sagt statt ,errores' vielmehr ,peccata', u[nd] so ists noch besser." 33 Naumanns Buch wirkte in Harnacks verdüsterter Perspektive wie die Schrift eines Idealisten. Der Verfasser unterschätze bei der Konstruktion seines europapolitischen Bauplans die „Irrationalisten und die Scheinherrschaften" der kleineren Staaten Europas, dazu noch die künftigen Rivalitäten der „schon gefestigten Weltstaaten". 34

31

Harnack an Naumann vom 2 6 . Oktober 1 9 1 5 (wie Anm. 2).

32

Harnack an Rade vom 2 . Februar 1 9 1 5 aus Berlin. In: Jantsch (Hg.): Briefwechsel Harnack - Rade (wie Anm. 3), Nr. 5 4 0 .

33

Ebd. Anlaß von Harnacks Äußerungen war die Schrift von Martin Rade: Dieser Krieg und das Christentum. Stuttgart/Berlin 1 9 1 5 (Der deutsche Krieg Nr. 2 9 ) .

34

Wie Anm. 2.

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Festeren Boden gewann Harnack erst wieder, als er sich auf neue Ideen der Außen- und Innenpolitik zubewegte. Mit dem „Alldeutschen Verband" führte er 1916 eine scharfe Debatte über die Annexionspolitik. In dem sensationellen Artikel „Der Abschied von der weißen Weste" verwahrte er sich gegen den Vorsitzenden der „Reichs- und freikonservativen Partei", Octavio Freiherr von Zedlitz-Neukirch. Zedlitz-Neukirch hatte sich zu einer Attacke gegen die ethischen Bedenkenträger hinreißen lassen. Sie gefährdeten angeblich die Kampfmoral und den siegreichen Ausgang des Krieges. Deutschland, so Harnack gegen Zedlitz-Neukirch, dürfe sich niemals als „unabhängiger Staat" in dem Sinne begreifen, „daß der Gedanke der Humanität" nicht mehr existiere „oder daß alle anderen Reiche zu seinen Füßen liegen". 35 Harnack entwickelte sich zum Fürsprecher einer Kriegszielpolitik, mit der sich auch nach dem Krieg in Gerechtigkeit und Frieden leben ließ. Auf der Ebene der Innenpolitik entsprach dieser Haltung eine Politik der inneren Reformen. Harnacks einschlägiges Stichwort, formuliert an der Schwelle des dritten Kriegsjahres, lautete: Herstellung einer „nationalen Arbeitsgemeinschaft". 36 Harnack forderte die Reform der Bildung, eine Wahlrechtsreform, die Reform der Wirtschaft und die Beseitigung von Schranken der ständischen Gesellschaft mit ihrem „Kastendünkel". 3 7 Die Abschaffung der Monarchie lag nicht in seinem Blick. Indes waren seine Reformideen so beschaffen, daß sie der monarchischen Spitze entbehren konnten. Besaß der Monarch nicht die Kraft, das Staats- und Gemeinwesen auf eine neue Stufe der Entwicklung zu heben, dann verlor „nicht nur er die Zügel aus der Hand ..., sondern das Volk selbst verfällt dem Kleinmut und innerer Auflösung". 3 8 Solche Gedankenbrücken nehmen sich im Nachhinein wie die Vorbereitung auf den postmonarchischen Staat aus. Während Harnack sich im Ersten Weltkrieg als politischer Publizist und Verfasser von Denkschriften an den Reichskanzler artikulierte, hatte Naumann als Parteipolitiker zu handeln. In den Grundsätzen der Innenpolitik gab es zwischen dem „Laien"-Politiker und dem Berufspolitiker zahlreiche Übereinstimmungen. In der (halb-)konstitutionellen Monarchie war der „Volksstaat" verpuppt. Naumann, der Kriti35

Adolf von Harnack: „Der Abschied von der weißen Weste". In: Harnack als Zeitgenosse (wie Anm. 2 1 ) , Teil 2, S. 1 4 6 5 - 1 4 7 2 ; Zitat S. 1 4 7 1 .

36

Adolf von Harnack: An der Schwelle des dritten Kriegsjahrs. Rede am 1. August 1 9 1 6 . In: Ebd., S. 1 4 7 3 - 1 4 9 0 ; Zitat S. 1 4 8 1 .

37

Ebd., S. 1 4 9 0 .

38

Adolf von Harnack: Das Gebot der Stunde. Eine Denkschrift im Juni 1 9 1 7 dem Reichskanzler eingereicht. In: Ebd., S. 1 5 1 0 - 1 5 1 4 ; Zitat S. 1 5 1 2 .

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ker des Wilhelminismus, sah diese neue Qualität wohl eher und schärfer als Harnack. In die Realität zu überführen war sie nicht durch Denkschriften, sondern nur durch konkrete Politik, d. h. durch die Schaffung einer veränderten Konstellation der Macht. Ein kräftiges Signal setzte Naumann mit seiner Reichstagsrede vom 15. Mai 1917. Er nahm das im Reformflügel der deutschen Politik kursierende Wort von der „Neuorientierung" auf. Die Osterbotschaft Wilhelms II. lag erst kurze Zeit zurück. Naumann forderte die Verwandlung des preußischen „Klassenstaats" in einen „Volksstaat". Schritte auf diesem Weg sollten die Umgestaltung der Verfassung zugunsten größerer Mitsprache des Parlaments und die Neuformulierung der „Volksrechte" sein. Mit der Stärkung der „Volksrechte" hoffte Naumann, staatsautoritäre und staatssozialistische Tendenzen zurückzudrängen. Der Staat sollte ein „lebendiger Organismus" werden, ein „einheitliches Volk ohne Klassen", ein „neuströmendes Volk". 39 Hier schlug volksmetaphysisches Substanzdenken des 19. Jahrhunderts durch. Ein nur pragmatisches Verhältnis zur Politik war Naumanns Sache nicht, so sehr er Pragmatiker sein wollte. In der Weimarer Nationalversammlung von 1919 versuchte Naumann, die Abgeordneten für einen Katalog volksverständlicher Grundrechte zu gewinnen, welcher der neuen Verfassung vorangestellt werden sollte. Das historische Vorbild war die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789. Die Abgeordneten hielten die Idee und die holzschnittartige Ausführung nicht für glücklich. Naumanns Anregungen fanden jedoch im zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung - Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen - einen Niederschlag. Bei der Behandlung der Monarchie zeigte sich in Naumanns Reichstagsrede von 1917 die gleiche Tendenz wie bei Harnack. Naumann griff die Monarchie nicht an, machte sie aber in der Konstruktion des „Volksstaats" entbehrlich bzw. stufte sie zu einem Ornament herunter. Der Kampf um die Neugestaltung der Innenpolitik hatte sein Herzstück im Ausgleich des „Bürokratenstaats" mit dem „Volksstaat". Das Kaisertum war außerhalb dieses Ringens zu sehen, was nicht ausschloß, daß ein „Zusammenwachsen von deutscher nationaler, volkswirtschaftlicher und seelischer Entwicklung" mit ihm stattfand. Der dynastisch-monarchische Gedanke war umgeprägt zum „Volkskaisertum" ohne politische Prärogative. „... der Übergang Deutschlands zum nationalen Volksstaat ist ein Prozeß, eine Entwicklung, eine Aufgabe für eine Genera-

"

Friedrich Naumann: Auf dem Wege zum Volksstaat (Reichstagsrede vom 15. Mai 1917). In: Ders.: Werke (wie Anm. 30). Band V, S. 5 6 7 - 5 8 4 ; Zitate S. 570.

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tion von Menschen. Es ist leichtfertig, die vorhandenen Schwierigkeiten nicht zu beachten. Aber etliche Grundelemente der kommenden neuen Volkspolitik sind heute für jeden sichtbar." 4 0 Der „Kanzlersturz" (Abdankung Bethmann Hollwegs) und die Berufung des preußischen Staatssekretärs für Volksernährung, Georg Michaelis, zum Reichskanzler am 14. Juli 1 9 1 7 mitsamt dem Einrücken von Parteivertretern in höhere Staatsämter bedeuteten einen Schritt auf dem Wege zur Parlamentarisierung der Verwaltung. Am 19. Juli 1 9 1 7 brachte der Zentrumsabgeordnete Erzberger im Reichstag die Initiative zu einem Verständigungsfrieden mit den Kriegsgegnern des Deutschen Reiches ein. Das Zentrum, die Fortschrittliche Volkspartei und die Mehrheitssozialdemokraten stellten sich hinter den Antrag. Hier bildete sich eine neue Mehrheit, die einerseits entschlossen war, die Friedensfrage vom Reichstag her in Angriff zu nehmen, und die andererseits den innenpolitischen Reformkurs vorantrieb. Einen nochmaligen Parlamentarisierungsschub erbrachte die Berufung des einstigen Zentrumsführers und bayerischen Ministerpräsidenten Graf Hertling, am 11. November 1 9 1 7 und die Vereinbarung eines Regierungsprogramms mit Vertretern der Mehrheitsparteien, auch wenn der Föderalist Hertling gegen die Stärkung einer parlamentarischen Zentralgewalt Vorbehalte hatte. Am Ende des Krieges standen Harnack und Naumann fest auf dem Boden der Reformbewegung und einer maßvollen Außenpolitik. Am 18. Oktober 1918 lud Harnack, an überparteilicher Glättung und Versöhnung interessiert, Gegner und Anhänger der Reformen in die Königliche Bibliothek zu einer gemeinsamen Sitzung ein. Vertreter des „Unabhängigen Ausschusses für einen Deutschen Frieden", der „Deutschen Vaterlandspartei" und des „Volksbundes für Freiheit und Vaterland" saßen einander gegenüber. Der Dualismus zwischen ihnen blieb unbereinigt. „Die bisher gepflogenen Grundsätze", notierte Ernst Troeltsch, der ebenfalls an der Zusammenkunft teilnahm, „zeigen, daß die Gegensätze, die bisher bestanden, unvermindert dieselben sind." Daß man sich „im Falle der äußersten N o t " gleichwohl zu gemeinsamer Arbeit treffen könne, war eine Illusion. 41 Die ältere Idee des überparteilichen Konflikt- und Interessenausgleichs erwies sich im konkreten Fall wie auch vom Grundsatz her als nicht mehr tragfähig. Politische Gestaltung war - so oder so - nur noch durch die Beschaf40

Ebd., S. 5 7 7 .

41

Das Protokoll dieser Sitzung ist aus dem Nachlaß von Reinhold Seeberg bekannt gemacht worden durch Günter Brakelmann: Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1 9 1 7 . Witten 1 9 7 4 , S. 2 9 7 - 3 0 8 (Kirche und Politik 1).

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fung von politischen Mehrheiten möglich. Daß der aus vormoderner Zeit überkommene Gedanke der Gesellschaftsharmonie über alle parteipolitischen Fraktionierungen hinweg möglich sei, blieb Harnacks Überzeugung auch im Umbruch von 1918/19. Naumann teilte s i e allerdings mit deutlichen Einschränkungen. Er agierte im Raster der Parteipolitik, und ihm fehlte jener Optimismus im Verständnis der Geschichte, den Harnack sich nach der temporär krisenhaften Erschütterung seines Weltbildes wieder zurückerobert hatte. V. Pragmatische Konvergenz In den Monaten des demokratischen Neubaus von der Novemberrevolution 1918 bis zu seinem unzeitigen Tode 1 9 1 9 entwickelte sich Naumann zu einer Gründerfigur der ersten deutschen Republik. Der Vorsitzende der „Deutschen Demokratischen Partei" führte die liberale Mitte und Linke in die „Weimarer Koalition" und erwarb sich erhebliche Verdienste bei der Ausgestaltung der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919. Harnack, der Präsident der „Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften", blieb der Berufspolitik auch in den staats- und parteipolitisch veränderten Verhältnissen fern. Art und Umfang des politischen Handelns beider traten, formal betrachtet, weiterhin auseinander. Klar war aber von vornherein, daß Naumann und Harnack sich ohne nostalgischen Schmerz über die verlorene Vergangenheit den aktuellen Aufgaben zuwandten. Dieser „Wirklichkeitssinn" unterschied sie von den politischen Ideologen, gleichviel welcher Couleur. Pragmatisch konnten sich Naumann und Harnack auch gar keine wirklichkeitsfremden Träume leisten: Naumann nicht als Vorsitzender einer großen Partei, und Harnack nicht als Präsident der größten außeruniversitären Wissenschaftsorganisation in Deutschland. Bei der Regelung der „Kirchenfrage" in den einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Nationalverfassung leisteten beide liberale Protestanten den Kirchen einen erheblichen Dienst. Entgegen der lange gehegten historischen Legende, die Grundrechtsbestimmungen der Artikel 135-141 seien nur unter massivem Druck des Zentrums und der beiden bürgerlichen Parteien DNVP und DVP zustande gekommen, ist heute bekannt, daß die eigentlich zielführende Politik bei der DDP, in zweiter Instanz dann auch bei der SPD lag. 42 Naumann 42

Vgl. Jochen Jacke: Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1 9 1 8 . Hamburg 1 9 7 6 , S. 1 1 9 1 4 9 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte XII).

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steuerte in der Nationalversammlung den mit Kultus- und Schulfragen betrauten Ausschuß. Harnack nahm als Fachberater der Regierung Anfang April 1919 an den Sitzungen teil. Nach Abschluß der Beratungen kommentierte er am 5. April in einem Brief an Reinhold Seeberg: „In Weimar in der Kommission der Nationalversammlung verliefen die Verhandlungen über Kirche, Staat, Schule und Relig.[ions-]Unterricht interessant, friedfertig und erfolgreich. Ich war täglich erstaunt, wie besonnen die Mehrheitssozialisten waren, wenn natürlich auch Differenzen blieben. Naumann, als Führer der Demokraten, hatte die Hand am Zünglein der Waage und hat seine Sache meisterhaft gemacht." 4 3 Naumanns Leistung bestand darin, daß es ihm einerseits gelungen war, die überzogenen Privilegierungs- und Sicherungsbedürfnisse des konservativen Flügels (Zentrum, DNVP, DVP) in Blick auf die Kirchen zu dämpfen, nämlich durch die interfraktionelle Vereinbarung über die verfassungsmäßige Fixierung der „gesellschaftlichen religiösen Grundrechte" von Mitte März 1919, und daß er andererseits die Sozialdemokraten auf diesen Boden hinüberschob. Die Strategie der „doppelten Bändigung", also des Maximalismus der bürgerlichen Parteien und des Minimalismus der SPD bei der Durchführung der allseits notwendig anerkannten Operation der Trennung von Staat und Kirche, gab den Artikeln 135-141 ihre Prägung. Naumanns Politik lief auf Kompromisse hinaus, in denen den Kirchen nicht zuviel gegeben und nicht zu viel genommen wurde. Das läßt sich bis in die Details rekonstruieren. Beispielsweise hatte die SPD zunächst gefordert, in Zukunft für die Kirchen keine öffentlichen Mittel mehr aufzuwenden. Demgegenüber hatte der bürgerliche Verhandlungsblock auf „gerechter Ablösung" aller Staatsleistungen beharrt, da sonst die Kirchen gar nicht lebensfähig seien. Naumann bahnte den Kompromiß mit seinem „Ja" zum Auslaufen der Staatsleistungen und dem gleichzeitigen „ J a " zur „gerechten Ablösung" an. Indes (und das war der Kompromiß): die Durchführung des Ablösungsprogramms solle einer späteren reichsgesetzlichen Regelung und den ihr nachfolgenden Einzelbestimmungen der Länder vorbehalten bleiben. Wie man weiß, kam das Reichsgesetz nie zustande. Das war es, was Harnack als Naumanns meisterliche Regie bezeichnete. Die beiden Großkirchen gingen aus den Beratungen des Ausschusses hoch zufrieden hervor. Die Religions- und Kirchenartikel waren viel günstiger ausgefallen, als sie zu hoffen gewagt hatten. Scharf 43

Harnack an Reinhold Seeberg vom 5. April 1919, Bundesarchiv Koblenz/Nachlaß R. Seeberg 68; zit. nach Jacke (wie Anm. 42), S. 142.

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besehen hatten Naumann und Harnack sich dabei selber eine Niederlage zugefügt, nämlich im Hinblick auf ihre ekklesiologischen und kircheninstitutionellen Ideale. Naumann sah, wie er noch im März 1919 in einem Artikel der „Hilfe" hervorgehoben hatte, die Lebenskraft des Protestantismus gerade in der Differenz von Glaube und Kircheninstitution. „Wer also fest auf dem Boden der Reformation steht, kann das starke Geschrei, als ob die Religion unterginge, nur für Kleinglauben ansehen. Die Religion geht nicht unter, solange es Gläubige gibt." 44 Nicht viel anders dachte Harnack. Auf der anderen Seite setzte Harnack als Historiker (nicht als Theologe) die Institutionen außerordentlich hoch an. Erst sie gaben den geschichtlichen Entwicklungen von innen her Linie und Struktur. Naumann folgte ihm darin aus realpolitischer Einsicht. Vergleicht man die kirchenpolitischen Programme und Forderungen anderer liberaler Protestanten im Umbruch von 1 9 1 8 / 1 9 - die Programme Martin Rades, Otto Baumgartens und sogar noch Ernst Troeltschs - mit der politischen Pragmatik Naumanns und Harnacks, dann standen Naumann und Harnack als „Realpolitiker" Schulter an Schulter gegen manche realitätsblinden Träume von einer Regeneration des Kirchenkörpers ab ovo. Insgesamt darf man sagen, daß Naumann und Harnack, unbeschadet grundsätzlich fortbestehender Differenzen im Verständnis des Politischen, die sich u. a. am Modell einer überparteilichen Konfliktregulierung festmachten (Harnack) bzw. sich in der Bejahung des Parteienpluralismus manifestierten (Naumann), nach 1918 in den Realien des Politischen miteinander konvergierten. Das ist nicht auf allen Strecken ihrer sich vielfältig kreuzenden Wege der Fall gewesen. 1918/19 war dieser Punkt jedoch erreicht. Ob in der Selbsterziehung zur Politik als Kunst des Möglichen die bedeutendere Leistung dabei auf seiten Naumanns oder Harnacks lag, ist die Frage.

44

Friedrich Naumann: Glaube und Kirche. In: Ders.: Werke (wie Anm. 30). Band I, S. 942f.

Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß KLAUS ERICH POLLMANN

Die umstrittene Stellung Naumanns 1892-1897 „Der bekannte Pastor Friedrich Naumann, jetzt Vereinsgeistlicher des Evangelischen Vereins der Inneren Mission in Frankfurt, ist als Referat für das Thema Christentum und Familie gewonnen, so teilte das Mitteilungsheft des Evangelisch-Sozialen Kongresses (ESK) 1892 mit. 1 Seitdem hat Naumann, nur vergleichbar mit Adolf von Harnack, Adolf Wagner und - bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1896, Adolf Stöcker, dem Evangelisch-Sozialen Kongreß mit seinen Vorträgen, Diskussionsbeiträgen und öffentlichen Auftritten, seinen Stempel aufgedrückt. Es war, wie die Ankündigung verriet, die erste Begegnung Naumanns mit dem ESK. 2 An der Gründung im Frühjahr 1890 hatte der gerade nach Frankfurt in den Dienst der Inneren Mission berufene junge sächsische Pfarrer also noch keinen Anteil. Auch den beiden Richtungen, die sich - zur Überraschung vieler Zeitgenossen, 1 8 9 0 in diesem Kongreß zusammengefunden haben, den politisch Konservativen und theologisch-orthodox-Positiven auf der einen Seite sowie den politisch Liberal-Konservativen bzw. theologisch Liberalen auf der anderen Seite, war Naumann nicht ohne weiteres zuzuordnen. Der Christlich-Soziale, der theologisch eher den Liberalen zuzuordnen war, war zur Zeit seiner ersten Berührung mit dem ESK im Begriff, sich von Stöcker zu lösen, dessen christlichsoziale Bewegung er bis dahin zuzurechnen war. Die Radikalisierung der „Jüngeren" um Naumann und Paul Göhre machte nicht nur die christlich-soziale Bewegung beim Kaiser, den Regierungen und Kirchenleitungen suspekt, sondern sie entwickelten sich mehr und mehr zum Sprengsatz im ESK und verschärften die dort von Anfang an vorhandenen Spannungen bis zum Bruch des konservativen Anhangs um

1

Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 4 / 1 8 9 2 .

2

Κ. E. Pollmann, Evangelisch-sozialer Kongreß, in: T R E , Bd. X , S. 6 4 5 - 6 5 0 ; dort auch die weitere Literatur.

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Stöcker und von Nathusius, der sich zwischen 1894 und 1896 vollzog. Dabei war Naumann aber nie lediglich der Protagonist einer Richtung, sondern wurde sehr schnell zu einer Leitfigur des gesamten Kongresses, der diesem Forum immer wieder Impulse gab. Gleich bei dem eingangs erwähnten Vortrag im Jahre 1892 hat Naumann mit bewußt zugespitzten Formulierungen Aufmerksamkeit und Widerspruch geweckt. Im Gegensatz zur überwiegenden Tendenz der protestantischen Ethik begriff er die Ehe „als Gesellschaftssache", eine stärker sozialistische als individualistische Einrichtung, die er ganz auf den Zweck der Fortpflanzung („Ehe existiert für uns nur in der Absicht, Familie zu werden") reduzierte. Die Begründung dafür war weniger malthusianisch sondern theologisch: es sei der christliche Beruf der Ehe, neue Generationen zu zeugen und als „Glaubenskämpfer und Himmelserben in Gottes Dienst zu stellen." 3 Ein Jahr später nannte er - im Anschluß an den Vortrag „Christentum und Wirtschaftsordnung" von Julius Kaftan die Sozialdemokratie „die erste große Häresie" und einen „innerweltlichen Chiliasmus", der an das Neue Testament anknüpfen könne. 4 Er traf damit nicht nur auf den Widerspruch von Stöcker, sondern auch Harnacks. Der damaligen Wirtschaftsordnung machte er den Vorwurf, das erklärte Ziel des Eigentumschutzes zu verfehlen, sondern in Wirklichkeit das Eigentum aufzusaugen und in wenigen Händen zu konzentrieren. Auf dem gleichen Kongreß widersprach er schroff dem Hofprediger Dr. Braun, der von der Annäherung der Stände in der Gegenwart gesprochen hatte. 5 1894 trat Naumann dem konservativen Greifswalder Theologen von Nathusius energisch entgegen, der den Beschluß des Ausschusses, den Frauen das Rederecht nicht länger zu verweigern, im Plenum kritisiert hatte. 6 Der Kongreß wich vor dem konservativen Protest zunächst auch wieder zurück und setzte ihn für die laufende Tagung außer Kraft. Bei dem Frankfurter Kongreß gab es einen weiteren Eklat: die unerwartete scharfe Attacke auf den landwirtschaftlichen Großgrundbesitz durch Max Weber und Paul Göhre, den damaligen Generalse' 4

5 6

Bericht über die Verhandlungen des 3. Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin 1892, S. 8-32. Bericht über die Verhandlungen des 4. Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin 1893, S. 36f. Ebd., S. 90. Bericht über die Verhandlungen des 5. Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin 1894, S. 10.

Friedrich N a u m a n n u n d der Evangelisch-soziale K o n g r e ß

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kretär des ESK, anläßlich der Vorstellung der Ergebnisse der Landarbeiter-Enquete, die der Kongreß ein Jahr zuvor durchgeführt hatte. 7 Naumann hatte dabei nicht das Wort ergriffen, doch stand er den beiden Referenten zu nahe, als daß er nicht mit deren schonungsloser Kritik an dem Großgrundbesitz, der von diesem bewirkten „Proletarisierung" der Landarbeiter und der „Polonisierung" der ländlichen Ostprovinzen identifiziert worden wäre. Seit der Frankfurter Tagung geriet der ESK mehr und mehr in den Strudel der sozialpolitischen Auseinandersetzungen. Die durch die Kaiser-Erlasse vom Februar 1890 ausgelöste soziale Aufbruchsstimmung war seit 1892/93 verflogen. 8 Wer den sozialdemokratischen Emanzipationskampf „im Kern" für berechtigt hielt, wie das für den ESK, noch mehr aber die jüngeren Christlich-Sozialen gilt, hatte mit zunehmend schärferen Angriffen der die Industrie und Landwirtschaft vertretenden Parteien, Verbände und Presseorgane einschließlich der regierungsnahen Blätter zu rechnen. Friedrich Naumann wurde für den Kongreß sowohl als Wortführer der Jungen als auch - seit Anfang 1895 - als Herausgeber eines neuen Blattes „Die Hilfe", das sehr bald auf sich aufmerksam machte und dessen Artikel in einen umfangreichen Pressespektrum zitiert und weiterverbreitet wurden, zu einer politischen Belastung. Es wurde in seiner Tendenz von der „Christlichen Welt" Martin Rades, ebenfalls ein führendes Mitglied des ESK und Schwager Naumanns, sowie der radikaleren und häufig sozialdemagogischen Zeitung „Das Volk" unterstützt. 1896/97 kam für ein Jahr „Die Zeit" dazu, die Naumann und seinen Nationalsozialen Verein publizistisch vertrat. 9 Das Aktionskomitee sah sich wenige Monate nach der Gründung des neuen Organs veranlaßt, durch äußeren und inneren Druck seine Haltung zur „Hilfe" zu definieren. Die Erklärung verband die sachliche Distanzierung von den Naumannschen politischen Positionen mit der Betonung der fortwährenden „geistigen Gemeinschaft": ... „daß wir in der Beurteilung der sozialen Verhältnisse in der „Hilfe", insbesondere über die Sozialdemokratie, mannigfach zum Teil erheblich abweichen, aber

7 8

'

Ebd., S. 43-96. Κ. E. Pollmann: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890, Berlin 1973. Zu den Kommunikationsmedien und Naumann-Kreis s. U. Krey, Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: O. Blaschke/F.-M. Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. MilieusMentalitäten-Krisen. Gütersloh 1996, S. 3 5 0 - 3 8 1 .

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Klaus Erich P o l l m a n n

nicht gesonnen sind, die geistige Gemeinschaft mit dem Herausgeber aufzuheben". 10 Noch im gleichen Jahr veröffentlichte der ESK eine zweite Erklärung, die im Ton sehr viel entschiedener gehalten war. Sie verwies darauf, daß der ESK keine Partei sein wolle und die einseitige Vertretung der Berufsinteressen einzelner Klassen ablehne und wandte sich gegen Naumanns und Göhres Absicht, eine Partei der kleinen Leute zu schaffen. 11 Diesmal begnügte sich das Aktionskomitee also nicht mit dem Hinweis auf die unterschiedliche Aufgabenstellung des ESK sowie der außerhalb des Kongresses verfolgten sozialpolitischen Bestrebungen seiner Mitglieder. Das Konfliktpotential innerhalb und außerhalb des ESK verschärfte sich noch dadurch, daß mit Stöcker12 der dynamischste Repräsentant des konservativen Lagers persönlich und politisch kompromittiert und zusätzlich mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, die Radikalen um Naumann und Göhre herangezüchtet zu haben. 13 In den Reihen des Aktionskomitees gab es im Herbst 1895 unterschiedliche Auffassungen darüber, wer die größere Belastung für den Kongreß sei: Naumann/Göhre oder Stöcker. 14 Diese Frage wurde schließlich im Mai 1896, nach dem Ausschluß Stöckers aus den Führungsgremien der deutsch-konservativen Partei und nach der kaiserlichen Ächtung durch das von dem Freiherrn von Stumm in die Presse lancierte Telegramm „Christlichsozial ist Unsinn" entschieden. 15 Stöcker trat aus dem von ihm mitgegründeten Kongreß aus, nachdem ihm der Rückzug aus dessen Vorstand nahegelegt worden war. Der Vorsitzende Nobbe und der einflußreiche freikonservative Publizist Hans Delbrück hatten dagegen schon Ende 1895 Naumann nicht mehr für haltbar gehalten, während Harnack Stöcker für stärker belastet hielt, allerdings mehr in moralischer als politischer Hinsicht. 16

10

Erklärung des Aktionskomitees des ESK vom Februar 1895. Mitteilungen des ESK, Nr. 2/1895. " Erklärung des Vorsitzenden des ESK, Nobbe, vom 6 . 1 0 . 1 8 9 5 . Mitteilungen des ESK, Nr. 7/1895. Die Erklärung erfolgte mit einstimmiger Billigung des weiteren Ausschusses. 12 W. Jochmann, G. Brakelmann u. M. Greschat: Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stöckers, Hamburg 1982. 13 Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 158ff. 14 J. Jantsch: Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin 1996, S. 333ff. 15 Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 261ff. 16 Jantsch, Briefwechsel, S. 337f.

Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß

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Mit Stöcker verließen die meisten Konservativen den Kongreß, der seitdem ein eindeutiges liberal-kulturprotestantisches Profil entwickelte. Zu den wenigen Konservativen, die an dem ESK festhielten, gehörte der „Kathedersozialist" Adolf Wagner. Zwei Jahre später kam es erneut zu einem Konflikt, der von dem früheren Generalsekretär Paul Göhre ausgelöst wurde. Mit dem Austritt Göhres aus dem Ausschuß nach dessen Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie war die Krise für Nobbe nicht ausgestanden. 17 Er bestand vielmehr darauf, daß Naumann sich rückhaltlos von Göhre, der diesem ein Jahr zuvor in den Nationalsozialen Verein gefolgt war, distanziere. Dazu war Naumann nicht bereit. In privaten Äußerungen klagte er über die Versuche, ihn aus dem ESK herauszudrängen. „Der evangelisch-soziale Kongreß ist doch wahrlich keine Schutztruppe für Großgrundbesitzer ... Erst betet man zu Gott, daß Leute sich dem Arbeiterstand widmen, und dann setzt man diese Leute vor die Tür." 18 Die liberalen Führungsmitglieder des Kongresses verhinderten schließlich dessen Brüskierung. Rade übte scharfe Kritik an Nobbes Versuch, Demokraten und Sozialdemokraten vom Kongress auszuschließen. Schließlich gelang doch eine Verständigung, die es Naumann erlaubte, dem ESK weiter anzugehören 19 , und zwar auf der Grundlage einer Resolution, welche die „Anerkennung des Strebens der von Lohnarbeit abhängigen Klasse nach Selbständigkeit" als „im Prinzip" gesund und berechtigt mit dem Bekenntnis zu evangelischer Gesinnung, fester Königstreue und gesetzmäßiger Sozialreform verband. 20 Trotz der Abgrenzungsabsicht war dies noch eine der verständnisvollen Aussagen in den Reihen des Bürgertums über die Berechtigung der sozialreformerischen Bestrebungen.

Die Frauen und der ESK Die pointierte Zweckbestimmung der Ehe auf die Bevölkerungsvermehrung ließ für eine Emanzipation der Frau in der Ehe, zumindest ,7

18

19 20

Μ. A. Nobbe: Der Evangelisch-soziale Kongreß und seine Gegner, Göttingen 1897. Naumann an Rade, 5.1.1897. Aus dem N L zitiert nach P. Theinen Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919), Baden-Baden 1983, S. 83. Jantsch, Briefwechsel, S. 386ff. Erklärung des Aktionskomitees und des Ausschusses des ESK vom 15.10.1897. Mitteilungen des ESK, Nr. 8/1897.

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Klaus Erich P o l l m a n n

nach heutigen Vorstellungen, wenig Raum. Dennoch war Naumann einer der entschiedensten Fürsprecher für eine stärkere Einbeziehung der Frauen in die Aktivitäten des ESK. Hier muß noch etwas näher auf die zuvor schon berührte Einstellung des Kongresses eingegangen werden. Der Beschluß des Ausschusses von 1894: gleichberechtigtes Rederecht bei den Verhandlungen sowie die Zuwahl von 3 Frauen in den damals 77köpfigen - Ausschuß, war in seinem ersten Teil vom Vorsitzenden Nobbe, nachdem von Nathusius seinen Austritt angedroht hatte, modifiziert worden. 21 Es sollte nunmehr im Ermessen des Vorsitzenden liegen, ob einer Frau während der Verhandlungen das Wort erteilt wurde. Im folgenden Jahr 1895 erfolgte dann aber doch, mit der Bestellung von Elisabeth Gnauck-Kühne als Referentin bei der Jahrestagung, der Durchbruch. 22 Vor dem Beschluß von 1894 hatte der Generalsekretär Göhre über eine gleichberechtigte Teilnahme der Frauen verhandelt, nachdem eine Reihe von Frauen auf dem ESK von 1893 mit dem ESK in Kontakt getreten war. Die Forderungen der Frauen waren dabei durchaus unterschiedlich. Eine gemäßigte Gruppe um Gnauck-Kühne ist hier von einer radikaleren um Elisabeth Malo abzugrenzen. Eine neuere Untersuchung 23 zeigt, daß Göhre im Zusammenspiel mit GnauckKühne die Gründung einer Frauengruppe im ESK betrieb; dieser traten im Jahr 1895 46 Frauen bei. Die entschiedenen Frauenrechtlerinnen konnten im Kongress nicht Fuß fassen. Es dauerte aber noch bis kurz vor der Jahrhundertwende, bis die Radikalen um Helene Lange und Elisabeth Malo sich vom Kongreß trennten. Die dort vertretenen Frauen durchbrachen auch später nicht das bürgerlich-kulturprotestantische Milieu. Sie wurden später in ihrer Aktivität und der Jahrhundertwende von den Frauen der Freien Kirchlich-sozialen Konferenz noch überholt. Kongreßverträge über die Frauenrechtsbewegung waren noch 1913 nicht konsensfähig. Es war gewiß zu emphatisch, wenn Naumann 1895 in der Hilfe resümierte: „Das evangelische Christentum hat in dieser Stunde seinen Bund mit der Frauenbewegung gemacht". 24 Naumann hatte wenig Sympathien für eine von „bloßen naturrechtlichen Theorien" abgeleitete Behandlung der Frauenfrage. Für ihn war die Frauenfrage „in 21 22

23

24

Bericht über die Verhandlungen des 5. Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 11. Bericht über die Verhandlungen des 6. Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin 1895, S. 82-135. Ch. Markert-Wizisla: Elisabeth Malo, Anfänge feministischer Theologie im wilhelminischen Deutschland, Pfaffenweiler 1997, S. 2 0 1 bis 2 5 3 . Die Hilfe, Nr. 2 4 v. 2 6 . 6 . 1 8 9 5 .

Friedrich N a u m a n n und der Evangelisch-soziale K o n g r e ß

55

erster Linie eine Frage der weiblichen Massen". Schon 1 8 9 2 hatte er sich gegen die christlich-konservative Verdammung der industriellen Frauenarbeit gewandt. Die Parole: die Frau gehört ins Haus sei keineswegs ein christliches Dogma. 25 Sie blieb für ihn mehr eine soziale als eine emanzipatorische Frage. Bei seinem gemeinsamen Referat 26 mit Gertrud Bäumer im Jahre 1906 über „Die sozialen Forderungen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage der Frau" 2 7 hielt er männliche Konkurrenzängste um Arbeitsplätze infolge des Vordringens der Frau auf den Arbeitsmarkt für hoffnungslos rückständig. Er hielt es für skandalös, daß verheiratete Frauen den gleichen Stundenlohn wie Ledige erhielten. Andererseits wandte er sich gegen die Auffassung, daß erst der Industrialismus die Rahmenbedingungen für die Selbstverwirklichung geschaffen habe, und verwies auf die Stellung der Frau im ökonomischen Mikrokosmos des „ganzen Hauses". Sein sozialdarwinistischer Zug brach durch, wenn er gegen die zölibatären Frauenberufe polemisierte („Wieviel unterdrückte Kindersehnsucht bedeutet die Ziffer 2 5 0 0 0 deutsche Lehrerinnen ... (allesamt) Frauen von Fleisch und Blut"), 2 8 ohne daß sich dagegen Widerspruch rührte.

Evangelische Arbeitsvereine und G e w e r k s c h a f t e n Naumann hatte gleich nach Antritt seines Amtes bei der Inneren Mission 1 8 9 0 in Frankfurt einen evangelischen Arbeiterverein gegründet und dabei von vornherein eine größere Beteiligung der Mitglieder einschließlich der Arbeiter an der Vereinsleitung durchgesetzt, um die Dominanz der Pastoren abzuschwächen. Sehr bald traten Differenzen zu der konservativ-patriarchalischen rheinisch-westfälischen Gruppe auf, die in einem Formelkompromiß zugedeckt werden konnten. 29 Dies geschah am Rande der 4. E S K 1 8 9 3 bei der üblichen Verbindung des Kongresses mit der Jahrestagung der evangelischen Arbeitervereine. Die von den Kongreßführern ausgehenden Einflüsse auf die evangelische

25

Bericht über die Verhandlungen des 3. ESK, 1 8 9 2 , S. 16.

26

Wie schon 1 8 9 5 , als Elisabeth Gnauck-Kühne von dem Korreferenten Hofprediger Stöcker eingerahmt wurde, hielt die Kongreßleitung es ein weiteres Mal für geboten, der Referentin einen männlichen Referenten an die Seite zu stellen.

27

Bericht über die Verhandlungen des 17. ESK, 1 9 0 6 , s. 1 1 8 - 1 6 8 .

28

Ebd., S. 1 4 5 .

29

Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 2 8 . Dazu auch Κ. M . Hofmann. Die Evangelische Arbeiterveinsbewegung 1 8 8 2 - 1 9 1 4 , Bielefeld 1 9 8 8 .

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Klaus Erich Pollmann

Arbeitervereinsbewegung neutralisierten sich weitgehend. Naumanns Polemik gegen den Charakter bloßer Erbauungs- oder Beschwichtigungsvereine wirkten die rheinisch-westfälischen Vereinsführer wie Lie. Weber und Arndt entgegen. 1897 trennten sich die evangelischen Arbeitervereine vom ESK und verbanden sich etwas später mit der Freien kirchlich-sozialen Konferenz, der christlich-sozialen Sezession unter Führung von Stöcker, Lie. Weber und von Nathusius. Der Versuch, den Göhre im Nationalsozialen Verein von 1896 unternahm, die evangelischen Arbeitervereine zur Plattform zu einer Vereinigung mit dem „vernünftigen Gros der Sozialdemokratie" 30 zu machen, scheiterte vollständig. Naumann behielt seinen Einfluß in den südwestdeutschen Vereinen, speziell in Württemberg, bis er schließlich im Mai 1902 aus dem Gesamtverband herausgedrängt wurde. Er forderte daraufhin die Mitglieder zum Eintritt in eine Gewerkschaft auf und wünschte sich deren parteipolitische Neutralität. Dabei gab er eine Präferenz für den Beitritt zu den freien Gewerkschaften erkennen. Gegenüber den Bestrebungen von 1897 im Nationalsozialen Verein zur Annäherung an die Sozialdemokratie war dies eher ein Rückschritt. Daran hatte sich nichts geändert, als der ESK 1909 das Thema: freie oder christliche Gewerkschaften behandelte. 31 Die unterschiedlichen Positionen wurden von dem Generalsekretär Lie. Schneemelcher und Pfarrer Traub, den Naumann vorgeschlagen hatte, vorgetragen. Naumanns Sympathien lagen bei dem Standpunkt Traubs, wenn er auch zugestand, „daß diese Frage nicht eindeutig zugunsten der freien Gewerkschaften zu entscheiden sei, solange dort die nichtsozialdemokratischen Arbeiter als Mitglieder zweiter Klasse behandelt würden und sie sich zu parteipolitischer Neutralität nicht durchringen könnten." 32 Naumann wurde dabei aber Schneemelcher nicht ganz gerecht, der nur eine bedingte Präferenz für die christlichen Gewerkschaften zu erkennen gegeben hatte. An den christlichen Gewerkschaften mißfiel Naumann der Einfluß der Zentrumspartei sowie die Instrumentalisierung des Begriffspaars christlich-national im Sinne eines antisozialdemokratischen Kampfbündnisses. Die Unschlüssigkeit des Kongresses gegenüber den verschiedenen Richtungen der Gewerkschaften hielt bis 1914 an und verstärkte seine bürgerliche Prägung. Selbst Naumann hat gelegentlich seine Sympathien für die evangelischen ,0 31

»

Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 50. „Geistige Strömungen in der deutschen Gewerkschaftsbewegung". Bericht über die Verhandlungen des ESK, 1909, S. 42-99. Evangelisch-Sozial, 1909, S. 264.

Friedrich N a u m a n n und der Evangelisch-soziale K o n g r e ß

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Arbeitervereine im Vergleich zu der „aus der Theorie abgeleiteten sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung" durchaus nicht verhehlt. 33

Der Einfluß Naumanns auf den Kongreß Naumanns Einfluß auf den ESK beruhte nur zu einem geringen Teil auf formellen Leitungsfunktionen. Im Jahre 1892 wurde er in den erweiterten Ausschuß aufgenommen. Doch das bedeutete nicht viel, da nahezu jeder, der sich auf einem der Kongresse hervortat, in dieses Gremium aufgenommen wurde. Dem engeren Führungskreis, dem Aktionskomitee, gehörte er lange Zeit nicht an. Noch 1901 galt er dafür als nicht tragbar. Erst danach, 1902, wurde er in das Leitungsorgan aufgenommen. Bei der Suche nach einem neuen Vorsitzenden in der Nachfolge des seit 1 8 9 0 amtierenden Landesökonomierats Nobbe im gleichen Jahr war Naumann im Rahmen des Aktionskomitees aktiv beteiligt. Unter manch anderen Namen fiel auch der Naumanns. 34 Die Nachfolgeregelungen waren für den ESK immer problematisch, - ein Zeichen für den fragilen Konsens unter seinen wichtigsten Repräsentanten. Im Vergleich zu späteren Existenzkrisen verlief der Wechsel von Nobbe zu Harnack im Jahr 1902aber noch relativ konfliktfrei, wenn auch auf einem Umwege. Der anfängliche Vorsatz: bloß kein Theologe! und die Suche nach einem von Richtungskämpfen unbelasteten Mann führte zunächst zur Wahl des nationalliberalen Landtagsabgeordneten Hackenberg. Dieser sagte aber - nicht ganz unerwartet - ab. Der Rheinländer Hackenberg war ein Vertreter des Evangelischen Bundes zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen, was seine Berücksichtigung gefördert haben dürfte. Schon Ende 1895 ist eine Öffnung in Richtung auf den antikatholischen Bund in Erwägung gezogen worden. Schließlich wurde entgegen der erklärten Absicht mit Adolf von Harnack doch ein Theologe zum Vorsitzenden gewählt, - trotz der schweren Bedenken des kirchlich positiven Nationalökonomen Adolf Wagner. Als Harnack 1 9 1 0 Rücktrittsabsichten bekundete, war Naumann wiederum unter den für die Nachfolge Vorgeschlagenen, doch er lehnte wegen seiner Beanspruchung durch „Politik und Wahlkampf" 33

Nämlich in einem nostalgischen Rückblick vor seinen Anhängern in seinem Heilbronner Wahlkreis. Evangelisch-Sozial, 1 9 0 9 , S. 190ff.

34

Archiv des ESK Leipzig, AI 2.

58

Klaus Erich P o l l m a n n

ab. Zuvor hatte er Harnack nachdrücklich zum Bleiben aufgefordert, („sonst geht es schlimm"!) 3 5 Der Nächste, an den man dachte war Ernst Troeltsch, doch er schien nur im Gespann mit Professor Schulze-Gaevernitz oder dem früheren konservativen Staatssekretär des Innern, Graf Posadowsky, geeignet zu sein. Die Wahl fiel schließlich wiederum auf einen liberalen Theologen, der ebensowenig unumstritten war wie zehn Jahre zuvor Harnack. Überdies hatte Baumgarten kein Hehl daraus gemacht, daß sein Haupteinsatz der Schulpolitik gelte. Nach Harnack hat sich auch Baumgarten in diesem Amt bewährt, wenn er seit 1918 auch den Glauben an eine weitere Existenzgrundlage für den ESK verlor. Einen geeigneten Nichttheologen für den Vorsitz hat der ESK erst 1925 wieder finden können. 36 Auf dem ESK von 1 9 0 9 wurde Naumann von Paul Drews in seiner Anwesenheit als Hoffnungsträger einer vergangenen Epoche des Kongresses gekennzeichnet. „Die Kirche verlor Naumann, der den Reiz der Politik nicht widerstehen konnte. ... darüber verloren wir seine wundervolle Kraft. Unsere Hoffnung ist gescheitert." 37 Das läßt sich auf dem ESK bzw. den Kulturprotestantismus nicht übertragen. Aber die programmatische Entwicklung des Kongresses ist nach der Jahrhundertwende sehr viel stärker von Harnack als von Naumann bestimmt worden. Sein Einfluß ist an dem Vortrag von Ernst SchulzeGaevernitz: „Kultur und Wirtschaft" (1907) zu erkennen, - eine „Kulturpredigt" gegen den Materialismus eines Haeckel oder Darwin, die Basis für eine neue kulturprotestantische Zeitbestimmung. 38 Nicht weniger wichtig war ihm die Ortsbestimmung im Verhältnis zu Kirche und Demokratie, die er in einem längeren Diskussionsbeitrag zu dem Referat von Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft (1904) vornahm. 39 Naumann setzte die Demokratie weit35

Sitzung des Aktionskomitees und des erweiterten Ausschusses, 1 4 . 1 0 . 1 9 1 0 . Ebd. Walter Eitz hat im Rückblick festgestellt: „so verband sich mit der Aera Harnack eine Aera Naumann, oder besser gesagt: diese beiden Männer bestimmten fortan, so lange sie lebten, die gesamte Arbeit des Evangelisch-sozialen Kongresses." In: J. Herz (Hg.), Evangelisches Ringen um Soziale Gemeinschaft: 5 0 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß 1 8 9 0 - 1 9 4 0 , Leipzig 1 9 4 0 , S. 4 6 .

36

Nämlich mit dem Reichsgerichtspräsidenten Walter Simons. H. Gründer: Walter Simons, die Ökumene und der Evangelisch-soziale Kongreß. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Protestantismus im 2 0 . Jahrhundert, Soest 1 9 7 4 .

37

Bericht über die Verhandlungen des 2 0 . ESK, 1 9 0 9 , S. 1 2 4 .

38

Bericht über die Verhandlungen des 1 8 . ESK, 1 9 0 7 ; Herz, Ringen, S. 6 4

39

Bericht über die Verhandlungen des 15. ESK, 1 9 0 4 , S. 1 1 - 8 2 .

Evangelisches

Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß

59

gehend mit der anwachsenden Sozialdemokratie gleich. Sehr viel entschiedener als Troeltsch verlangte er von dem Protestantismus „eine größere Sympathie mit der demokratischen Bewegung". 40 Nicht die christliche Ethik, sondern die institutionelle Form, nämlich Staatskirchentum, Patronats- und Pastorenkirche habe bisher die Annäherung, die für die religiöse Volksbegeisterung notwendig sei, verhindert. Eine ganze Reihe von Vortragsthemen, die von Naumann ausgingen, wurden indessen nicht aufgegriffen, ohne daß dafür konkrete Gründe angegeben wurden. Offensichtlich scheute der Kongreß die dadurch ausgelösten Kontroversen: -

die Folgen des Pietismus für das gesellschaftliche Leben die Friedensbewegung Christentum und Vaterlandsliebe Christentum und Nationalismus.

In diesem Zusammenhang ist die - von der Sächsischen Vereinigung erhobene - Forderung, das übliche Kaiser-Hoch zu Beginn der Tagung abzuschaffen, erwähnenswert. Daß sie keine Mehrheit fand, überrascht nicht. Selbst dem kritischen Baumgarten ging das zu weit. Für die Ortsbestimmung des Kongresses in den letzten Jahren vor 1914 war wohl das Thema: „Individualismus und Staatssozialismus", von den Referenten Professor Leopold von Wiese und Martin Rade im Jahr 1912 am wichtigsten. 41 Naumann blieb hier eher in der Defensive. Er widersprach den Rednern nicht, wenn diese als Folgen des Sozialversicherungssystems eine stärkere Bindung an ihre Klasse statt deren Lockerung, ferner die Schwächung der Selbstverantwortlichkeit, die Begünstigung einer allgemeinen Unterbeamtengesinnung und Oberwasser für den Drill der Paragraphenwächter ausmachten. 42 Naumann äußerte allerdings die Sorge, daß die Neuindividualisten den Gegnern der Sozialreform das Stichwort lieferten. Gegen diesen auch von Harnack zuvor betonten Trend hielt Naumann unbeirrt, ja demonstrativ an dem zunehmend negativ besetzten Begriff Staatssozialismus fest, und zwar für die Gebiete der Wohnungspolitik, Gesundheitsvorsorge und Jugenderziehung. Er fühlte sich dem Argument des „ewig jungen" Adolf Wagner näher, „daß mit bloßer individualistischer Kritik die Macht der Großbetriebsherren nicht gebrochen werden" könne. 43 Dieses konnte man, wie Naumann oft betonte, nur 40 41 42 43

Ebd., S. 45ff. Bericht über die Verhandlungen des 23. ESK, 1912, S. 13-61. Die Hilfe Nr. 10/1912. Evangelisch-Sozial, 1910, S. 209f.

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durch eine Industrieverfassung, die so dringlich sei wie zwei Generationen zuvor der staatliche Konstitutionalismus, durch einen „Großbetriebsparlamentarismus" begegnen. Auf der gleichen Tagung 1912 trat Naumann zum letzten Mal als Referent mit dem Thema Religion und Bildung auf. Entgegen seinen früheren Vorträgen fehlten hier provozierende, pointierte Aussagen. Er wich der Realität mit historischen und spekulativen Aussagen aus und prophezeite eine neue philosophische Periode, „in der die Fragen nach Ursprung und Ziel des menschlichen Lebens in den Vordergrund traten". 4 4 Dies könne eine neue Stunde der Religion werden, wenn sie der geistigen Gesamtbewegung des Zeitalters ihre Werte als Grundbesitz anbiete. Den krassen Gegensatz zu dem Neoindividualismus, der im Kongreß unter Harnacks Vorsitz zunehmend an Boden gewann, 45 bildete die Sächsische Evangelisch-soziale Vereinigung, die sich im Jahr 1904 gebildet hatte und dem ESK im folgenden Jahr beigetreten war. 4 6 Auf dem Kongreß trat diese Gruppe erstmals 1 9 1 0 mit dem Vortrag Georg Liebsters über „Sozialistische Weltanschauung und christliche Religio n " auf. 47 Naumann fühlte sich durch diese Richtung an seine Jugendschrift „Jesus als Volksmann" erinnert, wenn ihm diese neue Variante der Apologetik, die die Jüngeren bei ihrer Lösung von Stöcker überwunden hatten, auch befremdlich erschien. Das gleiche galt für den Bedarf nach einer neuen Dogmatik, der sich bei dieser Richtung zeigte. Der Zukunftsstaat werde her wieder ins Jenseits verlegt, „nachdem er eine Zeitlang versucht hat, eine irdische Erscheinung zu werden". 4 8 Dennoch begrüßte Naumann die neue Strömung als legitime Nachfahren seiner frühen christlichsozialen Vorstellungen: „Gott segne Euch! Ihr sollt es besser machen, als wir konnten! Das praktische Ziel dieser neuen Bewegung ist die regelmäßige Einführung religiöser Diskussionen in den kirchlichen Betrieb. Eine diskutierende Kirche, das ist eine Neuerung!" 4 9 Naumann blieb für den Kongreß eine unbestrittene Autorität. Dazu trugen ganz wesentlich seine Ansprachen auf den Volksabenden wäh44

Ebd., S. 6 2 - 8 0 .

45

Bericht über die Verhandlungen des 2 2 . ESK, 1 9 1 1 , S. 3 9 .

46

Evangelisches Ringen um soziale Gemeinschaft. 5 0 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß 1 8 9 0 - 1 9 4 0 , Leipzig 1 9 4 0 , S. 5 4 .

47

Bericht über die Verhandlungen des 2 1 . ESK, 1 9 1 0 , S. 1 3 - 5 1 .

48

Fr. Naumann, Die Industrialisierung des Christentums, in: Friedrich NaumannWerke, Bd. 1, Köln-Opladen 1 9 6 4 , S. 8 2 1 .

49

Evangelisch-Sozial, 1 9 0 9 , S. 3 2 3 .

Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß

61

rend der Jahrestagungen, die Naumann fast regelmäßig wahrnahm. Ihre außerordentliche Wirkung auf die Zuhörer bestätigt Baumgarten in seinem Nachruf von 1921. 5 0 Und der Kongreß wurde für ihn mehr und mehr eine bis zu seinen Anfängen zurückreichende Identifikationslinie. Der Rückblick auf die Anfänge des Kongresses war zugleich eine historische Betrachtung seiner eigenen programmatischen Entwicklung. Je weiter die historische Perspektive, desto stärker wird die skeptische Einschätzung, desto mehr aber auch erhielt der Kongreß einen verklärenden Glanz. Einige Lieblingsgedanken kehrten dabei immer wieder: -

-

-

-

-

der Protestantismus als Gesinnungs- und Kulturmacht, der das Individuum von den Autoritäten befreit hat und zu den „passiven" christlichen Tugenden die „aktiven", nämlich Leistung, Wagnis und Opferbereitschaft setzt, 51 der das Individuum so stärkt, daß es den Großbetriebscharakter" der modernen Welt unbeschädigt überstehen könne die rechte Einschätzung der Bedeutung der Massen und ihrer Leistungsfähigkeit für das Überleben des modernen Industriestaats, der nur mit einem technisch hochentwickelten Volk 5 3 konkurrenzfähig sei der Abstand der biblischen Ethik zu den an die moderne Gesellschaft gestellten Verhaltensanforderungen; wenn die Bibel auch keinen Anspruch auf wörtliche Befolgung ihrer Vorschriften erheben könne, so behalte sie doch als Spiegel und Gegenentwurf ihre große Bedeutung 54 der sozialreformerische Fortschritt, der eine optimistische Einschätzung der Zukunft zulasse55 und Voraussetzungen für die bereits weitgehend erfolgte und sich kontinuierlich fortsetzende Integration der Sozialdemokratie bilde nach der Staatsfürsorge (80er Jahre), dem Arbeitsschutz (90er Jahre) sei nun, im ersten Jahrzehnt des 2 0 . Jahrhunderts, der Aufbau und die Ausgestaltung der Industrieverfassung das große Thema 5 6

50

Evangelisch-Sozial, 1 9 2 1 , S. 3f.

51

Evangelisch-Sozial, 1 9 0 4 , S. 7 3 .

52

Evangelisch-Sozial, 1 9 1 0 , S. 2 0 9 f .

53

Evangelisch-Sozial, 1 9 0 4 , S. 7 2 .

54

Evangelisch-Sozial, 1 9 0 7 , S. 1 4 5 .

55

Evangelisch-Sozial, 1 9 0 6 , S. 89ff.

56

Evangelisch-Sozial, 1 9 0 9 , S. 1 5 7 .

62 -

Klaus Erich Pollmann in dem schicksalhaften Wettkampf der Industriegesellschaften seien zwei Nationen „zum letzten Wettkampf" berufen: die Nordamerikaner und die Deutschen, zwei Völker, die nachhaltig vom Protestantismus geprägt waren. 57

Die enge emotionale Bindung Naumanns an den Kongreß blieb bis zu seinem Lebensende erhalten. Noch wenige Monate vor seinem Tod trug sich der Parteivorsitzende der DDP mit dem Gedanken an einen neuen sozialpolitischen Kongreß, der von Prinz Max von Baden bis zu den integrationswilligen Sozialdemokraten reichen sollte, - eine Fortschreibung des ESK gemäß den neuen Bedingungen der Weimarer Republik. Naumann ist nicht mehr dazu gekommen, „dem Gedanken die Form zu geben". 58 Ob ein so erneuerter Kongreß, den sein Vorsitzender Baumgarten seit Oktober 1918 innerlich preisgegeben hatte, sofern er sich nicht energisch den Themen Demokratie, Pazifismus und Nationalismus 59 widmen würde, die bis 1925 anhaltende Krise des Kongresses hätte vermeiden oder verkürzen können, ist eine spekulative Frage.

57 58

59

Evangelisch-Sozial, 1909, S. 310f. Th. Heuß, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. München 3 1 9 6 8 , S. 482f. „Ärgernis geben oder sonst lieber still sein". Baumgarten vor dem Vorstand am 2 2 . 9 . 1 9 1 9 . Archiv des ESK, AI 2.

II. Politischer Liberalismus in einer organisierten Welt

Der Liberalismus im Kaiserreich K A R L HEINRICH P O H L

Die Liberalismusforschung hat in den letzten Jahren, vor allem dank der Anstöße von Dieter Langewiesche, einen erheblichen Wandel durchgemacht. 1 Konnte man vor zehn Jahren noch davon sprechen, die liberalen Parteien würden ein „Stiefkind der Forschung" darstellen, hat sich inzwischen Entscheidendes verändert. 2 Das betrifft nicht nur den Umfang und die Anzahl neuer Forschungsarbeiten und -ansätze, sondern auch und vor allem die Tendenzen im Urteil. Seit geraumer Zeit wird nicht mehr von einem Niedergang des politischen Liberalismus gesprochen. Dieses moderate Urteil gilt sogar für die bislang so kritisch analysierten Zeiträume wie die ersten Jahre des Kaiserreiches und die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. 3 Gegenwärtig wird zudem sehr offen die Frage erörtert, inwiefern die liberalen Parteien vor 1914 die Gesellschaft und das politische System mitbeeinflussen und mitgestalten konnten. Dabei werden die Stabilität der liberalen Parteien und ihre Einflußmöglichkeiten außerhalb der Reichsregierung neu diskutiert und bewertet. In den Blickpunkt gerückt ist dabei auch ihr Einfluß auf den Politikebenen der Länder und der Kommunen. 4 Die Bedeutung in wichtigen gesellschaftlichen Vereinigungen und Institutionen und nicht zuletzt ihr großer Einfluß im deutschen Pressewesen stehen seit einiger Zeit ebenfalls im Mittelpunkt des Interesses. Der Aufschwung der Forschung und die Verschiebung im Urteil hat eine Reihe von Gründen: Zum einen hängen sie mit der Intensivierung der Bürgertumsforschung zusammen. In ihr vollzog sich eine Rela1

Langewiesche, Dieter: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1 9 8 8 ; Ders. (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1 9 8 8 und Gall, Lothar/Langewiesche, Dieter (Hg.): Liberalismus und Region, München 1 9 9 5 .

2

Pohl, Karl Heinrich: Die Nationalliberalen - eine unbekannte Partei?, in: JbzLf 3 ( 1 9 9 1 ) , S. 8 2 - 1 1 2 , hier: S. 82.

3

Gall, Lothar (Hg.): Bürgertum und bürgerlich liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1 9 9 7 , Vorwort, S. IX.

4

Pohl, Karl Heinrich: Liberalismus und Bürgertum 1 8 8 0 - 1 9 1 8 , in: Gall, Lothar (Hg.): Bürgertum und bürgerlich liberale Bewegung, S. 2 3 1 - 2 9 1 .

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Karl Heinrich Pohl

tivierung der These von der generellen Schwäche des Bürgertums in Deutschland. Es wurde überzeugend nachgewiesen, daß das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert keinen permanenten Erosionsprozeß durchmachte. Die These von der politischen Machtlosigkeit wird inzwischen massiv in Frage gestellt. Damit wird auch die Ansicht, ein Defizit an „Bürgerlichkeit" sei wichtiger Bestandteil des deutschen „Sonderwegs", stark relativiert. 5 Dieser Tatbestand hat auf die Bewertung der Politik des politischen Liberalismus einen erheblichen Einfluß gehabt. Zum anderen wurde die Liberalismusforschung durch den Aufschwung der Nationalismusforschung befruchtet. 6 Zwar ist lange bekannt, daß nationales und liberales Denken im 19. Jahrhundert zusammengehören. Eine Wendung hin zu einer positiven Deutung dieser Tatsache hat sich jedoch erst in den letzten Jahren durchgesetzt. Dies hängt mit der politischen Wende in Deutschland zusammen. Die Nation, verstanden als eine „normale", mithin nicht mehr nur negativ zu deutende Größe (und damit verbunden zugleich eine Aufwertung der Rolle der Liberalen im Prozeß der Nationalstaatsbildung) und die abnehmende Wirkungsmächtigkeit einer sozialistisch/sozialdemokratischen Gesellschaftsutopie haben das Interesse für den bürgerlich-liberalen deutschen Nationalstaat deutlich verstärkt. Dieses neue Interesse kann - unabhängig von einem politisch durchaus anders ausfallenden Urteil über die Bedeutung eines neuen deutschen Nationalismus im europäischen Kontext - aus Sicht der Liberalismusforschung nur begrüßt werden. Im folgenden soll die Entwicklung des Liberalismus im Kaiserreich aus verschiedenen Perspektiven skizziert werden. Dabei soll vor allem auf den z.T. deutlich modernisierenden Charakter (der Begriff wird hier genannt, obwohl er vielerorten bereits als „Unwort" gilt) hingewiesen werden. 7 Untersucht wird also, inwieweit der Liberalismus dazu beitragen konnte, das parlamentarische System und eine dementsprechende politische Kultur in Deutschland zu befestigen, und inwieweit er in der Lage war, die „soziale Frage", hier verstanden als „Arbeiterfrage", zu 5

So etwa die Tendenz des Bielefelder Sonderforschungsbereiches 1 7 7 „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums: Deutschland im internationalen Vergleich", Arbeits- und Ergebnisbericht für die dritte Forschungsphase 1 9 9 2 - 1 9 9 4 , Bielefeld o.J., S. Iff.

6

Wegweisend Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation, Frankfurt 1 9 8 8 ; Wehler, Hans-Ulrich: Die Gegenwart als Geschichte. Essays, München 1 9 9 5 , S. 127ff.

7

Wehler, Hans-Ulrich: Modernisierungstheorie und Geschichte, in: Derselbe: Die Gegenwart als Geschichte, S. 1 3 - 5 9 , hier: S. 4 4 . Allgemein zur Modernisierung Riegel, Klaus-Georg: Modernisierungstheorien, in: Lexikon der Politik, hrsg. von Nohlen, Dieter, Bd. 1, Politische Theorien, München 1 9 9 5 , S. 3 4 9 - 3 5 4 .

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entschärfen und einen Ausgleich der sozialen Spannungen herbeizuführen. Im Mittelpunkt steht der politische Liberalismus, dessen Wirkungsmächtigkeit lange Zeit am stärksten angezweifelt wurde. Die bedeutende Rolle des Wirtschaftsliberalismus hingegen wird in den gängigen Gesamtdarstellungen kaum noch in Frage gestellt.8 Auf die kulturprägende Leistung des Liberalismus wäre sicherlich ebenfalls einzugehen, nicht zuletzt deswegen, weil gerade auf diesem Gebiet die Prägekraft seiner Vorstellungen immer noch als zu unbedeutend beurteilt wird. 9 Schließlich waren es vor allem die Liberalen, die ein engmaschiges Netz öffentlicher Kommunikation zustande brachten, um auf diesem Wege ihren Wertekanon, aber auch ihre realen politischen Vorstellungen zu propagieren. 10 Darauf kann aber ebenfalls hier nicht eingegangen werden. In der Politik geht es um drei Felder: In der Reichspolitik steht vor allem die Bedeutung der Liberalen (und hier insbesondere der Nationalliberalen) in der Reichsgründungsphase im Mittelpunkt. Es wird danach gefragt, wie stark auch in diesem Zeitraum scheinbarer Aufgabe fast sämtlicher liberaler Werthaltungen ihre politische und mentale Prägekraft blieb. Auf Länderebene werden die „Modernität" und der Einfluß des politischen Liberalismus am Beispiel Sachsens behandelt. Untersucht wird, ob auf den Gebieten der Wirtschafts- und Wahlrechtspolitik - Gebieten also, auf denen die Liberalen häufig als ausgesprochen „unsozial" und „antimodern" angesehen werden 11 - nach der Jahrhundertwende ein Innovationspotential vorhanden war, das bislang unterschätzt worden ist. *

9

10

"

Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, 2. Aufl., München 1991, S. 389ff. und Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.3: Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 702ff. Hübinger, Gangolf: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. Der Liberalismus nutzte seine Pressearbeit ganz gezielt dazu, mangelnde politische Stärke zu ersetzen. Vgl. dazu jetzt von Kieseritzky, Wolther: Liberale Parteielite und politische Steuerung der Öffentlichkeit im Kaiserreich. Die Vernetzung von Partei und Presse, erscheint in: Dieter Dowe/Jürgen Kocka/Heinrich August Winkler (Hg.): Parteieliten und Politik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, München 1999. Pohl, Karl Heinrich: Kommunen, kommunale Wahlen und kommunale Wahlrechtspolitik: Zur Bedeutung der Wahlrechtsfrage für die Kommunen und den deutschen Liberalismus, in: Lässig, Simone/Pohl, Karl Heinrich/Retallack, James (Hg.): Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland. Wahlen, Wahlrecht und Politische Kultur, 2. Aufl., Bielefeld, 1998, S. 89-126.

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Auf der kommunalen Ebene - der politischen Handlungsebene des deutschen Liberalismus schlechthin - soll die Fortgeschrittenheit des liberalen Politikmodells, also des Modells des „Munizipalsozialismus", untersucht und der scheinbare liberale Rückzug aus der Reichspolitik mit der Konzentration auf diese wichtige Ebene politischer Gestaltung konfrontiert werden. 12 Die Politik in München steht paradigmatisch für eine solche liberal „regierte" Kommune. Ergänzend wird schließlich ein Blick auf die sozialen Trägerschichten des politischen Liberalismus geworfen und zugleich der Frage nachgegangen, inwieweit es gerade der Liberalismus war, der schon vor dem Ersten Weltkrieg das politische Lagerdenken partiell überwinden und damit die für eine funktionierende parlamentarische Demokratie notwendigen Voraussetzungen wenigstens ansatzweise schaffen half. 13

I

Die Gründung des Deutschen Reiches ist - wie vieles in seiner Geschichte - durch erhebliche Ambivalenzen gekennzeichnet. Das gilt auch für die Politik des Liberalismus. Gemeint ist damit der Konflikt zwischen dem entstehenden und sich verfestigendem autoritären Obrigkeitsstaat und dem Wunsch des politischen Liberalismus, eine parlamentarische Demokratie zu installieren.14 Der deutsche Liberalismus, der sich die staatliche Einigung zum wichtigsten Ziel gesetzt hatte, war - und insofern ist der Kritik zuzustimmen - nicht stark genug, die Reichsgründung selber zu verwirklichen und das neue Reich mit seinem Geist zu erfüllen. 15

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15

Zur Rolle der Liberalen in den Kommunen Gall, Lothar: Das liberale Milieu. Die Bedeutung der Gemeinde für den deutschen Liberalismus, in: Liberalismus und Gemeinde. 3. Rastatter Tag zur Geschichte des Liberalismus am 10711. November 1990, St. Augustin 1991, S. 17-33. Rohe, Karl: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1992. Pohl, Karl Heinrich: V o m deutschen Reich bis zur Weimarer Republik. Entwicklungslinien der parlamentarischen Demokratie in Deutschland 1 8 6 7 - 1 9 3 3 , in: Klein, Ansgar u.a. (Hg.): Kunst, Symbolik und Politik. Die Reichstagsverhüllung als Denkanstoß, Opladen 1995, S. 167-190; danach auch die folgenden Gedanken. Paradigmatisch Winkler, Heinrich August: 1866 und 1878: Der Machtverzicht des Bürgertums, in: Carola Stern/H.A. Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte, 1848-1945, Frankfurt 1979, S. 37-60.

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Es waren vielmehr der „Verfassungsbrecher" Bismarck, seine konservativen Freunde und das Militär, die der deutschen Bürger größten Traum erfüllten. Sie schufen keinen liberalen und zivilen Staat, sondern begründeten in mehreren brachialen militärischen Akten ein zwar einiges, aber auch ein „kriegerisches" und undemokratisches Deutschland. Mit der Gründung des neuen Reiches rettete sich mithin - pointiert ausgedrückt - ein alter, zur Abdankung verdammter Geist unzeitgemäß in ein neues Zeitalter. Der Liberalismus konnte seine Positionen nicht durchsetzen. Der stärksten parlamentarischen Kraft im neuen Reich gelang es nicht, den wirtschaftlichen und sozialen Wandel vom Agrar- zum Industriestaat mit der Demokratisierung und Zivilisierung von Gesellschaft und Politik sowie der Parlamentarisierung des politischen Systems zu verbinden, wie es etwa in Großbritannien geschah. Man muß die (national)liberale Politik vielmehr als Anpassung an die „Bismarckschen Realitäten" interpretieren, als eine Kapitulation, die einem Bündnis von Bürgertum und preußischem Militärstaat Vorschub leistete und dabei die originär liberalen Vorstellungen fast vollständig aus den Augen verlor. Aus einer solchen Perspektive hat die liberale Realpolitik im Reich und in Preußen den wünschenswerten Anschluß des Reiches an die westeuropäische Verfassungsentwicklung unmöglich gemacht. Zutreffend ist auch, daß der politische Liberalismus, als er Anfang der siebziger Jahre an der Macht partizipierte, das bestehende illiberale System nicht entscheidend veränderte, sondern alsbald sogar konsequent verteidigte. Sein Ziel war es dabei, Katholiken, radikale Demokraten und schließlich auch die erstarkende Sozialdemokratie mit zutiefst illiberalen Methoden von der Macht fernzuhalten. Mit einer solchen Politik wurde das ursprüngliche Ziel, alle Schichten und Klassen der Bevölkerung zu integrieren, verfehlt: Statt Träger des Fortschritts zu sein, einen Systemwechsel zu initiieren, die „Arbeiterfrage" in Angriff zu nehmen und die Arbeiterbewegung in den Staat zu integrieren, wurden die Liberalen Juniorpartner des reaktionären preußisch-deutschen Systems.16 Das Reich war allerdings so „schlecht" nicht, wie es auf den ersten Blick scheint.17 Auch das ist das Ergebnis liberaler Politik in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren. Beurteilt man nämlich das Verhalten der Liberalen vor dem Hintergrund des massiven Problemdrucks, dem das gerade entstandene Reich ausgesetzt war, wiegt manch liberales 16

17

Holl, Karl/Trautmann, Günter/Vorländer, Hans (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 128ff.

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„Verschulden" leichter. Vor allem ist auch manch positive liberale Leistung hervorzuheben. Zum einen litt der Liberalismus, persönlichkeitsfixiert, wie er nun einmal war, an der Größe Bismarcks. Ihm hatte er keinen Liberalen mit auch nur annähernd vergleichbarem Charisma entgegenzusetzen. 18 Hinzu kam die Bedeutung der konfessionellen Frage. Das deutsche Reich war trotz des Ausschlusses von Österreich konfessionell tief gespalten. Das Verhältnis der beiden Konfessionen zueinander sowie die Rolle des Staates gegenüber der Kirche beschworen immer wieder neue Konflikte herauf, die den politischen Handlungsspielraum der Liberalen zusätzlich einengten. Nicht zuletzt behinderte auch eine (unzeitgemäße?) „Überdemokratisierung" des Reichstagswahlrechtes die politische Entfaltung des Liberalismus. Es trieb die Parlamentarisierung keineswegs voran, sondern sprengte frühzeitig die Integrationskraft des sich formierenden Parteiensystems. Die Etablierung der Arbeiterbewegung außerhalb des Liberalismus - anders etwa als in Großbritannien - hing stark damit zusammen. Die Profilierung des Liberalismus auch als „Sozialliberalismus" wurde dadurch massiv beeinträchtigt. Dies und die relative Machtlosigkeit des Parlamentes führten mit dazu, daß die deutschen Parteien schon frühzeitig in eine Art Fundamentalopposition verfielen und sich in sozio-kulturellen Milieus abschotteten. 19 Der politische Liberalismus, aufgrund seiner großen sozial-kulturellen und politischen Offenheit sowie seiner Mittelstellung dazu prädestiniert, eine parlamentarische Kultur nach westlichem Vorbild zu schaffen, wurde dadurch schon früh geschwächt. 20 Unter diesen Umständen verdient das Bemühen des politischen (National)Liberalismus, den bestehenden Staat zwar zu akzeptieren, ihn aber in liberalem Sinne wenigstens partiell umgestalten zu wollen, deutlich Anerkennung. Die Verfassungen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches trugen keineswegs nur die Handschrift Bismarcks, sondern vor allem die der Liberalen. Von einer Kapitulation vor dem preußischen Militärstaat kann insofern keine Rede sein. Allerdings konnten die Liberalen eine formelle Parlamentarisierung des Reiches zu keinem Zeitpunkt durchsetzen. Als Übergangslösung akzeptier18

19

20

Vgl. dazu schon Max Weber, in: Derselbe: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, I: Die Erbschaft Bismarcks, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 2. Aufl., Tübingen, 1958, S. 301. Vgl. als Anreger Lepsius, M. R. Rainer: Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Ritter, Gerhard. A. (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 140ff.

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ten sie ein halbkonstitutionelles System als Weichenstellung für eine zunehmende Abhängigkeit der Regierung von einer (liberal dominierten) Legislative. Und in der Tat: Der deutsche Reichstag war stärker und vor allem intimer in den Gesetzgebungsprozeß eingeschaltet als etwa das britische Unterhaus. 21 Auf dem Gebiet der Rechtsordnung setzten sich mit der rechtlichen Durchformung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens bürgerlich-liberale Rechtsvorstellungen durch, die sich in Rechtseinheit, Reform der Rechtsprechung, Ausbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und Selbstverwaltung mit der Folge einer weitgehenden Gesetzesbindung der Verwaltung widerspiegeln.22 Selbst bei der Anwendung der Sozialistengesetze gingen diese Errungenschaften nicht vollständig verloren. Der Weimarer Staat konnte in vielem an diese Tradition anschließen. Mit Hilfe des (unvollkommenen) „Vereinbarungsparlamentarismus" waren es die Liberalen, die mit der Modernisierung der Wirtschaftsverfassung auch die Voraussetzungen (mit)schufen, um eine weitere Industrialisierung auf breiter Basis zu ermöglichen. In einem bis dahin kaum vorstellbaren Tempo und mit großer Intensität wurden auf Initiative der Liberalen eine Fülle von Gesetzen durchgebracht, die der Ausbreitung und Stimulierung des wirtschaftlichen Aufschwungs dienten: Paßgesetz, Freizügigkeitsgesetz, Gesetz über vertragsmäßige Zinsen, Geldreform, Maß- und Gewichtsordnung, vereinheitlichtes Handelsrecht usw. 23 Damit wurden die Vorbedingungen erfüllt, um mit der fortschreitenden Industrialisierung auch weitere liberalisierende Kräfte freizusetzen. Daraus sollte sich - so die Hoffnung der Liberalen - eine weitergehende Emanzipation sowie die Einführung des „vollen Parlamentarismus" gewissermaßen von selbst ergeben. Es blieb aber bei dieser Utopie: Insbesondere die Wirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre machte die liberalen Konzepte zunichte und bremste eine erfolgversprechende politische Entwicklung ab. Die „Große Depression" mit ihren wirtschaftlichen, sozialen und sozialpsycho21

22

23

Vgl. hierzu schon Matthes, Heinz F.: Die Spaltung der Nationalliberalen Partei und die Entwicklung des Linksliberalismus bis zur Auflösung der Deutsch-Freisinnigen Partei (1878-1893). Ein Beitrag zur Geschichte der Krise des deutschen politischen Liberalismus, Phil. Diss., Kiel 1953 und Pikard, Ernst: Die Rolle der Parteien im deutschen konstitutionellen System vor 1914, in: Zeitschrift für Politik 9 (NF) (1962), S. 12-32. Grimm, Dieter: Bürgerlichkeit im Recht, in: Kocka, Jürgen (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S.149-188. In diesem Sinne vor allem Weber, Marie-Lise: Ludwig Bamberger. Ideologie statt Realpolitik, Wiesbaden 1987.

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logischen Spannungen traf die Liberalen und ihre politischen Konzepte mit voller Kraft. Von diesem Schlag hat sich die liberale Politik - zumindest auf Reichsebene - nicht mehr richtig erholt. Ihre ökonomische, politische und ideologische Anziehungs- und Stoßkraft schien zu erlahmen, ihre gesellschaftliche Basis sich zu verengen. Die Klassenkampfideologie der Reichsregierung - virtuos hochgespielt durch Bismarck und seine Politik - gewann an Bedeutung, der Liberalismus schien an gesellschaftsintegrierender Kraft zu verlieren. Nicht zuletzt war dies alles auch ein Ergebnis der „sozialen Blindheit", die die liberale Politik auszeichnete und die ihre feste Verankerung in den unterbürgerlichen Schichten verhinderte. 24 Die Liberalen sahen in der Sozialdemokratischen Partei schon früh nur noch den politischen Gegner und nicht mehr den Interessenvertreter einer ständig wachsenden Bevölkerungsschicht. Sie waren daher, anders als die Liberalen beispielsweise in Großbritannien, nicht in der Lage, die politischen Forderungen der Arbeiter durch ein liberales Programm aufzufangen und sich damit politisch zu öffnen. Das geschah erst viel später und ist im besonderen mit dem Namen Friedrich Naumanns verbunden. Entscheidend war also, daß der Liberalismus nicht rechtzeitig erkannte, daß die von ihm mitinitiierte Politik nicht die Klassengrenzen überwinden half, sondern die Klassengesellschaft festigte. Trotzdem wurde kein tragendes Konzept entwickelt, das notwendige gemäßigte Staatsinterventionen, staatliche Sozialpolitik und eine gesellschafts- und verfassungspolitische Integration der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften vorgesehen hätte. Die „Umbiegung" der sozialen Arbeiterfrage zu einer Mittelstandsfrage zeitigte fatale Folgen. Gerade der linke Flügel des Liberalismus tat sich hierbei hervor und wehrte sich mit besonderer Schärfe gegen jeden Kompromiß. Trotz vorwärtsweisender Elemente in der liberalen Politik kann man daher die retardierenden Elemente nicht übersehen.

II Zweifellos muß man seit den späten 70er Jahren von einem gewissen Rückzug der Liberalen aus der Reichspolitik sprechen. Dies hat allerdings häufig zu dem Irrtum Anlaß gegeben, der Einfluß des politischen Liberalismus insgesamt sei damit reduziert worden. Das aber stimmt so nicht und zeigt sich vor allem dann, wenn man die Reichsebene verläßt 24

Holl, Karl/Trautmann, Günter/Vorländer, Hans (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986.

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und sich der Ebene der Länder- und Kommunalpolitik zuwendet. Sachsen (und stärker noch Bayern und vor allem Württemberg und Baden25) können als Beleg dafür dienen, daß eine Bündelung und politische Aktivierung der zeitweise weit auseinanderstrebenden und oftmals schwachen liberalen Kräfte auf Landesebene auch im ausgehenden 19. Jahrhundert gelang, selbst wenn der Liberalismus dort lange Zeit nur noch schwach verankert war. Dies setzte allerdings voraus, daß die Arbeiterfrage nun nicht mehr nur als ein individuelles, sondern auch als ein strukturelles Problem beurteilt wurde. Ganz eindeutig bewies der unterschätzte deutsche Liberalismus damit nicht nur eine ungebrochene Lebens-, sondern auch eine außerordentliche Innovationskraft. Sachsen - um ein bislang vernachlässigtes Beispiel herauszugreifen war schon seit Gründung des Kaiserreiches eine der Hochburgen der Sozialdemokratie geworden, trotz eines anfangs starken, lebendigen und innovativen Liberalismus.26 Seit den 80er Jahren wurde das politische Leben auf Landesebene allerdings vor allem durch die agrarisch geprägten Konservativen und die Antisemiten geprägt.27 Ein höchst undemokratisches, dem preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht nachempfundenes plutokratische Wahlrecht sorgte seit dem Jahre 1896 dafür, daß die Sozialdemokraten von der Landespolitik praktisch ausgeschaltet blieben, obwohl sie bei freien Wahlen leicht die absolute Mehrheit hätten erringen können. 28 25

Zusammenfassende Studien über den Liberalismus in diesen beiden Ländern stehen nach wie vor aus. Die verdienstvollen Beiträge in dem Sammelband von Lothar Gall und Dieter Langewiesche (Liberalismus in der Region) geben dazu keine Auskunft. An älterer Literatur vgl. Heckart, Beverly: From Bassermann to Bebel. The Grand Bloc's Quest for Reform in the Kaiserreich 1899-1914, New Haven/ London 1974; Thiele, Jürgen: Die Großblockpolitik der Nationalliberalen Partei Badens 1905 bis 1914. Ein Beitrag zur Zusammenarbeit von Liberalismus und Sozialdemokratie in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Stuttgart 1976; Hunt, James C.: The People's Party in Württemberg and Southern Germany, 1890-1914, Stuttgart 1975 und Fenske, Hans: Der liberale Südwesten. Freiheitliche und demokratische Traditionen in Baden und Württemberg 1790-1933, Stuttgart 1981. Zu Bayern immer noch wichtig: Reimann, Joachim: Ernst MüllerMeiningen senior und der Linksliberalismus in seiner Zeit. Zur Biographie eines bayerischen und deutschen Politikers (1866-1944), München 1968. 26 Rudolph, Karsten: Die sächsische Sozialdemokratie. Vom Kaiserreich zur Republik 1871-1923, Weimar/Köln/Wien 1995. 27 Retallack, James: Notables of the Right: The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876-1918, London/Boston 1988. 2 " Vgl. dazu Ritter, Gerhard Α.: Das Wahlrecht und die Wählerschaft der Sozialdemokratie im Königreich Sachsen 1867-1914, in: Ders. (Hg.): Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs, München 1990, S. 49-101.

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In den 1890er Jahren spielten die Liberalen - in Sachsen vor allem die Nationalliberalen - nur noch eine marginale Rolle. Das waren keine besonders günstigen Umstände für eine politische Rückkehr in die Landespolitik. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierte sich dort aber trotzdem ein neuartiges Bündnis von industriellen Eliten und Liberalen, das innerhalb weniger Jahre zum aktivsten Faktor im Lande wurde und die politische und wirtschaftliche Bedeutung des politischen Liberalismus im hellsten Lichte erscheinen läßt. Zweifellos ist dafür ein Bündel von Faktoren maßgebend gewesen. Zum einen spielte die Verhärtung der Politik der konservativen Partei nach dem Gewinn der Zweidrittelmehrheit im Landtag eine wichtige Rolle. Er löschte alle liberalen Elemente ihrer Politik aus und mußte damit die Liberalen abschrecken. 29 Bedeutend war ferner der rasante Aufstieg der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen, der es einem nicht zuletzt durch Naumanns Vorbild - sozial angehauchten sächsischen Jungnationalliberalismus notwendig erscheinen ließ, eine veränderte Politik einzuschlagen. Er wollte nicht mehr darüber hinwegsehen, daß eine Politik, die die Sozialdemokratie und ihre Interessen - und damit die Wünsche der absoluten Mehrheit der Bevölkerung - vollständig außer acht ließ, auf lange Sicht nicht mehr erfolgreich sein würde. Das sozialdemokratische Wachstum sowie ihr Formenwechsel in der politischen Auseinandersetzung erzwangen geradezu eine andere liberale Politik. 30 Nicht zuletzt spielte die Wirtschaftskrise der Jahrhundertwende eine große Rolle. Sie hatte die sächsische Industrie in besonderem Maße getroffen und ihre Industriellen veranlaßt, sich endgültig in einem schlagkräftigen Verband zu organisieren, der sich auch nach politischen „Helfern" umsah. Der „neue" Liberalismus kam ihm da gerade recht. Die Ehe von reformbereitem Nationalliberalismus und Verband Sächsischer Industrieller (VSI) stellte also das Ergebnis von latenten politischen und wirtschaftlichen Defiziten dar. Zugleich aber signalisierte sie den Beginn einer sich verändernden Politik in Sachsen. Sie verschaffte der Industrie mehr politischen Einfluß und gab dem politischen Liberalismus Gelegenheit, sich von den Konservativen zu lösen und eigene Zielsetzungen anzuvisieren. Man kann geradezu von einem Akt libera-

29

,0

Retallack, James: Die „liberalen" Konservativen? Konservativismus und Antisemitismus im industrialisierten Sachsen, in: Lässig, Simone/Pohl, Karl Heinrich (Hg.): Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar/Köln/Wien 1 9 9 7 , S. 1 3 3 - 1 4 8 . Lässig, Simone: Wahlrechtskampf und Wahlreform in Sachsen ( 1 8 9 5 - 1 9 0 9 ) , Köln/ Weimar/Wien 1 9 9 6 .

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ler Selbstbefreiung sprechen - der sich übrigens nicht nur auf Sachsen beschränkte. 31 Liberale Vertreter der verarbeitenden Industrie gelangten nun ins Zentrum von Politik und Wirtschaft. Hierbei spielte vor allem der junge Gustav Stresemann eine entscheidende Rolle. Die stärker auf Kooperation mit den Konservativen ausgerichtete Großindustrie befand sich fortab nur noch in einer (starken) Minderheitsposition. 32 Eine neue Generation junger, national und zum Teil auch sozial orientierter Politiker, ideologisch flexibel, in der Regel in der Wirtschaft geschult, betrieb eine pragmatische und funktionale Politik, war ideologisch nicht mehr festgelegt und stellte eine enge Verbindung von Wirtschaftsverbänden und Parteiorganisation her 33 Auf diese Weise gelang es, einen engen Kontakt zu den Wirtschaftsverbänden einerseits und zu den nationalen Kampfverbänden andererseits herzustellen. Dadurch kam es zumindest zeitweise zu einer weitgehenden Integration eines breiten kleinbürgerlichen Umfeldes. Aus einer Honoratiorenpartei, die im Jahre 1888 in ganz Sachsen gerade 838 registrierte Mitglieder besaß, wurde binnen kurzem zwar noch keine Massenpartei, wohl aber eine mitgliederstarke Organisation. Von etwa 1.530 Mitgliedern im Jahre 1895 stieg sie über 11.850 im Jahre 1 9 0 7 schließlich auf beachtliche 19.950 im Jahre 1910 - um sich bei dieser Größenordnung einzupendeln. Der gegenwärtige politische Liberalismus in Sachsen wäre sicherlich froh, eine ähnliche Anzahl von Parteimitgliedern verzeichnen zu können. Auch in der sozialen Struktur entwickelte sich die Partei zu einer (klein)bürgerlichen „Mittelpartei" - wie das Beispiel Dresdens, des Wirkungsortes Stresemanns, belegt. Der (National)Liberalismus besaß dort seine Sympathisanten in der unteren (knapp 4 0 % ) , vor allem aber in der oberen Mittelschicht (etwa 3 0 % ) ; Arbeiter gab es allerdings kaum (nur etwa zwei Prozent). Selbständige, Gesellen oder Meister und selbständige Meister stellten weiterhin einen Block von einem Viertel ihrer Klientel dar, etwas kleiner als die der Beamten mit 2 6 % , aber stärker als die der Angestellten mit etwa 1 8 % . Auffällig ist der Unterschied in der

31

Bdl und Hansa-Bund können durchaus als partiell vergleichbare Industrieverbände gewertet werden; vgl. Ulimann, Hans-Peter: Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a . M . 1 9 8 8 .

32

Vgl. zu diesem Komplex Lässig, Simone/Pohl, Karl Heinrich: Sachsen im Kaiserreich.

33

Pohl, Karl Heinrich: Politischer Liberalismus und Wirtschaftsbürgertum: Z u m Aufschwung der sächsischen Liberalen vor 1 9 1 4 , in: Lässig/Pohl, Sachsen im Kaiserreich, S. 1 0 1 - 1 3 1 ; danach auch die folgenden Gedanken.

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sozialen Gliederung der verschiedenen Flügel der Partei. Die den Jungliberalen - dem „modernen" Stresemannflügel - zuzuordnenden Sympathisanten waren stärker in der unteren ( 4 5 % ) und schwächer in der oberen Mittelschicht (knapp 2 4 % ) verankert, es gab dort auch ein paar Arbeiter mehr (etwa fünf Prozent), dafür weniger Selbständige, Gesellen oder Meister und selbständige Meister (knapp 1 8 % ) . Der neue Mittelstand, die Angestellten, waren mit fast 2 1 % überproportional stark vertreten. Die Oberschicht (etwa 1 5 % ) war demgegenüber nur noch halb so stark wie bei den „alten" Liberalen; dort machten sie noch gut 2 5 % aus. 34 Im Landtag traten diese „neuen" Liberalen für eine moderate Wahlrechtsreform ein; sie stellten sich damit, eine liberale Tradition aufgreifend, als Partei der Mitte dar - und überwanden alte bis dahin überwiegende Ängste gegen eine allmähliche Demokratisierung des Wahlrechtes. Das neue sächsische Wahlrecht aus dem Jahre 1 9 0 7 stellte gegenüber dem plutokratischen Klassenwahlrecht des Jahres 1896 eine enorme Verbesserung dar - auch wenn das in der Forschung nicht immer entsprechend gewürdigt wurde. 35 Zwar ist ein nackter Egoismus des Liberalismus bei der Gestaltung des Wahlrechtes nicht zu verkennen. Hinter der Reformbereitschaft stand aber auch die Erkenntnis, daß die Sozialdemokratie größere Chancen erhalten müsse, um sich im Parlament artikulieren zu können. Ein Wahlrecht wie das aus dem Jahre 1896, in dem 8 0 % der Wähler - und vor allem die der Sozialdemokratie unvertreten waren, erschien diesen Liberalen nicht nur politisch unklug, sondern auch unzeitgemäß. Die sächsischen Liberalen reagierten also auf den starken sozialdemokratischen Protest mit vorsichtig gebremsten Reformen. Auch das neue Wahlrecht war restriktiv und verhinderte eine sozialdemokratische „Überflutung" der Zweiten Kammer. Es ließ aber immerhin einen starken Mandatsanteil auch der Sozialdemokratie zu. Im Ergebnis kam es schließlich im sächsischen Landtag zu etwa drei gleichstarken politischen Blöcken: Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten. Eine Kooperation der Mittelpartei, den Nationalliberalen, mit beiden „Flügelparteien" war fortab nicht mehr völlig auszuschließen. 34

Daten nach Pohl, Karl Heinrich: Power in the City: Liberalism and Local Politics in Dresden and Munich, erscheint in: Retallack, James (Hg.): Saxony and German History: Culture, Society, and Politics, 1 8 3 0 - 1 9 3 3 , Michigan 2 0 0 0 .

35

Vgl. dazu nur den - ansonsten in jeder Beziehung wegweisenden - Aufsatz von Gerhard A. Ritter: Das Wahlrecht und die Wählerschaft der Sozialdemokratie im Königreich Sachsen 1 8 6 7 - 1 9 1 4 , S. 4 9 - 1 0 1 ; ferner Ders.: Wahlen und Wahlpolitik im Königreich Sachsen 1 8 6 7 - 1 9 1 4 , in: Lässig/Pohl (Hg.), Sachsen im Kaiserreich, S. 2 9 - 8 6 .

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Im Kern beruhte diese neue Blüte des Liberalismus auf einer nationalen und industriellen Sammlungsbewegung, mit der es gelang, die Stadt gegen das Land zu mobilisieren. Die seit den 1890er Jahren vehement geführte Debatte Industriestaat gegen Agrarstaat bildete daher eine Bedingung dieses liberalen Aufschwungs. 36 Gleichzeitig ermöglichte diese Frontstellung aber auch eine Annäherung an die Sozialdemokratie. Die regionalen sächsischen Bedingungen schwächten und relativierten deshalb in erheblichem Ausmaß die Verkrustung und Versäulung des politischen Lebens auf der Reichsebene. Sie ermöglichten bereits eine ansatzweise Aufweichung und Öffnung der politischen Großblöcke. Ein Beispiel: Die im VSI zusammengefaßte kleinbetriebliche und mittelständische Industrie erwies sich etwa auf dem Gebiet wirtschaftsund sozialpolitischer Fragen zu einer vorsichtigen Öffnung gegenüber sozialdemokratischen Positionen in der Lage - und öffnete sich damit der sozialpolitischen Herausforderung, der sie sich in den 80er und 90er Jahren noch massiv verweigert hatte. 37 Das Koalitionsrecht der Arbeiter wurde anerkannt, man akzeptierte Verhandlungen zwischen beiden Seiten, bevor Arbeitskämpfe ausgebrochen waren. Der VSI war sogar bereit, Tarifverträge abzuschließen. Damit zeichneten sich wichtige Konfliktlinien ab, bei denen die Liberalen gegen die Konservativen standen und sich implizit Berührungspunkte mit der Sozialdemokratie ergaben. In Ansätzen wurde auch das Modell einer „Sozialpartnerschaft" zwischen Kapital und Arbeit akzeptiert und die sonst verfemten Freien Gewerkschaften als legitime Ansprech- und Verhandlungspartner ernst genommen. Beiderseitiges Ziel war eine Erweiterung und der allmähliche Ausbau des Tarifvertragssystems. Hier nahm Sachsen, nach Bayern, noch vor dem Ersten Weltkrieg die zweite Stelle im gesamten Reich ein. Das gelang trotz der hohen Industrialisierung, ein Faktor, der eine solche Entwicklung in der Regel stark behindert. 38 Um den „sozialen Frieden" weitgehend zu wahren, unnötige Streiks zu vermeiden und die

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Vgl. dazu N o n n , Christoph: Soziale Hintergründe des politischen Wandels im Königreich Sachsen vor 1914, in: Lässig/Pohl (Hg.), Sachsen im Kaiserreich, S. 3 7 1 - 3 9 2 . Vgl. hierzu jetzt von Kiseritzky, Wolther: Liberalismus und Sozialstaat nach der innenpolitischen Wende 1878/79. Zur sozialpolitischen Innovationsbereitschaft der liberalen Parteien im deutschen Kaiserreich auf nationaler Ebene 1880 bis 1893, Phil. Diss., Berlin, 1998. Vgl. dazu Pohl, Karl Heinrich: Sachsen, Stresemann und der Verein Sächsischer Industrieller: „Moderne" Industriepolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 1999, Bd. 134 (1998), S. 407-440.

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finanziellen Schäden für die Unternehmer möglichst gering zu halten, sahen VSI und Liberale Partei darin jedoch den einzig erfolgversprechenden Weg. Zu keinem Zeitpunkt ließen sich die Arbeitgeberorganisationen daher auch dazu bewegen, die gewerkschaftliche Tätigkeit etwa durch Ausnahmegesetze einschränken und das Streikpostenstehen der Gewerkschaften unter Strafandrohung stellen zu wollen. Es war vielmehr ihr Ziel, nicht durch einschüchternde Rechtsmaßnahmen und politischen Druck, sondern durch eine offensive Auseinandersetzung unter Ausnutzung aller bereits bestehenden Rechte den Kampf gegen die Freien Gewerkschaften aufzunehmen. Mit einer solchen in vielem „modernen" Auffassung - so ein Kurzresümee - stand der VSI nicht nur unter den deutschen Unternehmerverbänden weitgehend allein da, sondern wies auch den Weg in die Zukunft. 39 Untersucht man gar die politische Anstöße, die der VSI dem politischen Liberalismus in Sachsen gab, wird man - wenn man die sozialpolitischen Vorstellungen des gegenwärtigen organisierten Liberalismus sowie der ihm nahestehenden Unternehmerverbände in der Bundesrepublik zum Vergleich heranzieht - geradezu von einem Ausbund an sozialer Verantwortung sprechen können. Dem Wirtschaftsliberalismus der gegenwärtigen Freien Demokratischen Partei und den verschiedenen Verbänden von Arbeitgebern und Industrie in der Bundesrepublik stand mit dem sächsischen VSI und seiner nationalliberalen Filiale geradezu ein moderner „Sozialliberalismus" gegenüber - möchte man polemisch zugespitzt meinen. Einer allzuweit gehenden positiven Interpretation ist allerdings mit Schärfe entgegenzuhalten, daß der Grundgegensatz zwischen Arbeit und Kapital niemals in Frage gestellt wurde. Einen Eingriff in die Rechte des Kapitals lehnten sächsischer Nationalliberalismus und VSI als völlig inakzeptabel ab. Insofern favorisierte der VSI nach wie vor einen „Herrim-Hause-Standpunkt". Trotz aller Elastizität und Flexibilität ist zudem festzuhalten: VSI und Nationalliberale sahen trotz des weithin „offenen Umgangs" mit der Sozialdemokratie und den Freien Gewerkschaften in ihnen die Todfeinde des politischen und wirtschaftlichen Systems, die deswegen auch keine vollständigen „Bürgerrechte" erhalten durften.

39

Pohl, Karl Heinrich: Der Verein Sächsischer Industrieller und „sein" Industrieschutzverband. „Fortschrittliche" Unternehmerpolitik zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts?, in: Heß, Ulrich u.a. (Hg.): Unternehmer in Sachsen: Aufstieg - Krise Untergang - Neubeginn, Leipzig 1 9 9 8 , S. 1 4 5 - 1 5 6 ; danach auch die folgenden Gedanken.

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Ihre Bemühungen zielten daher trotz aller realistischen Einschätzung von der Bedeutung der sozialistischen Arbeiterorganisationen in erster Linie darauf ab, die „Roten" schwächen zu wollen, wo immer es möglich war. Unterstützung der „nationalen" Arbeiterorganisationen, Benachteiligung bei den politischen Wahlen, Manipulationen bei den Wahlen zu Vertretungsorganen der sozialen Einrichtungen, all dieses wurde nicht nur toleriert, sondern bewußt unterstützt. Gerade bei Konfliktsituationen - wie etwa dem großen Textilarbeiterstreik in Crimmitschau im Jahre 1 9 0 3 / 1 9 0 4 - zeigt sich neben der Modernität auch die Gespaltenheit dieser liberalen Politik. Auf der einen Seite ergriff der junge Syndikus des Verbandes und zugleich der neue „Star" der sächsischen Landespartei, Gustav Stresemann, massiv Partei für die Streikenden, mithin auch für die Sozialdemokratie und die Freien Gewerkschaften. Hier verleugnete er nicht seine auch durch die Persönlichkeit Friedrich Naumanns geprägte nationalsoziale Herkunft. 40 Zugleich war er als Pragmatiker aber immer auch darauf bedacht, die sächsischen Textilindustriellen, die die Aussperrung der Streikenden massiv betrieben, nicht zu verärgern, um sie nicht aus dem VSI herauszutreiben. Insofern beließ er es bei verbalen Kundgebungen, die ihm aber immerhin herbe Kritik vieler dem VSI angeschlossener Unternehmer einbrachte. Das taktische Geschick, das Stresemann hier bewies, läßt bereits die Fähigkeiten erkennen, die es ihm später in der Weimarer Republik ermöglichten, als Vernunftrepublikaner so erfolgreich zu agieren. Der „sächsische Weg" führte - wenn man es überscharf und pointiert benennen will - also fast in gerader Linie vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Bereits im Sachsen der Vorkriegszeit wurden nicht nur, aber auch, die Vernunftrepublikaner Weimars geboren, deren Entscheidung für die Republik von großer Bedeutung wurde. Darunter ist ein Typ zu verstehen, der zwar im innersten dem Kaiserreich und vielen seiner obrigkeitsstaatlichen Strukturen nachtrauerte, der aber wenigstens bereit war, einige Neuerungen der Republik zu akzeptieren. Mit schweren Bedenken - und oft nach einigen reaktionären Rückfällen war er bereit, den neuen Staat auf seine Brauchbarkeit hin wenigstens einmal zu testen und ihn als flexiblen politischen Rahmen zu nutzen. Insgesamt muß das Urteil über die Modernität der Politik des sächsischen Nationalliberalismus im späten Kaiserreich jedoch ambivalent bleiben: Ansätzen von modernen Konfliktlösungsstrategien standen unverändert scharfe Positionen gegenüber, die gegen die sozialistische 40

Stresemann, Wolfgang: Mein Vater Gustav Stresemann, 2. Aufl., Frankfurt a.M./ Berlin/Wien, 1985, S. 56.

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Arbeiterbewegung gerichtet waren. Es schien in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aber immerhin möglich zu sein, daß diejenigen Elemente, die die Kooperationen förderten, an Stärke gewinnen konnten.

III Die Angewohnheit, deutsche Politik vor allem aus der Sicht des Reiches und vielleicht noch aus der der Länder zu analysieren, hat dazu geführt, kommunale Politik weitgehend auszuklammern. Dabei stellt sie eine wichtige eigene Ebene des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschehens dar. Für das Deutsche Reich ist zudem von Wichtigkeit, daß die Kommunen im Unterschied zu vielen anderen europäischen Ländern besondere, relativ weitreichende Rechte besaßen. Das hing damit zusammen, daß seit Beginn des 19. Jahrhunderts das Prinzip der Subsidiarität überall in Preußen-Deutschland eine wichtige Rolle spielte. Im Kaiserreich verblieben weitreichende Kompetenzen und „Freiheiten" bei den Kommunen. Dies galt auch für die Finanzen. Das Recht auf eigene Einnahmen war ein konstitutives Merkmal deutscher kommunaler Selbständigkeit. Zwar besaß der jeweilige Staat die generelle Aufsicht über die Gemeinden, kontrollierte die Polizei und nahm die meisten Rechte in der Steuererhebung wahr. Zudem hatte er auch einen Einfluß bei der Besetzung der Oberbürgermeisterposten. Trotz alledem blieb aber ein deutlicher kommunaler Freiraum. Politik in den Gemeinden war daher nicht nur untergeordnete, abhängige Verwaltung, sondern konnte auch eigenverantwortlich, frei gestaltet werden. Und einen wichtigen Faktor im gesamten politischen Spektrum stellte sie allemal dar. Um nur ein Beispiel zu nennen: In einer Investitionsbilanz der deutschen Volkswirtschaft nahm die kommunale Investitionstätigkeit den wichtigsten Platz ein. Etwa 6 0 % aller öffentlichen Investitionen entfielen 1913/14 auf die Gemeinden - und bezogen auf die Gesamtinvestitionen, die in diesem Zeitraum von der deutschen Volkswirtschaft getätigt wurden, machten sie immerhin noch gut 1 2 % aus - wahrlich keine zu unterschätzende Größenordnung. 41 Die Gemeinden bildeten daher nicht unbedeutende Nischen, fernab von den eigentlichen Geschehnis41

Kaufhold, Karl Heinrich: Investitionen der Städte im 19. und 2 0 . Jahrhundert. Einführung, in: Ders. (Hg.): Investitionen der Städte im 19. und 2 0 . Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1 9 9 7 , S. XXIII. Z u m Themenkomplex vgl. auch Reulecke, Jürgen (Hg.): Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt" in Deutschland im 19. und frühen 2 0 . Jahrhundert, St. Katharinen 1995.

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sen der Politik, sondern dort wurden wichtige Entscheidungen getroffen. Vor allem trafen dort die politischen Probleme des Reiches geradezu wie in einem Brennglas zusammen. In den Städten gelang es den Liberalen nun, entscheidend Politik zu gestalten. Man kann von den Kommunen geradezu von einem Politikfeld sprechen, das sie fast unumschränkt dominierten. Die kommunale Ausprägung des entstehenden Sozialstaats gehört hier zu den wesentlichen liberalen Leistungen: Die moderne städtische Leistungsverwaltung, die Schulpolitik, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Installierung von Arbeitsämtern und Gewerbegerichten, die Kooperation mit Gewerkschaftskartellen und Arbeitersekretären, die Förderung von Krankenkassen und die Forcierung der Wohnungsbaupolitik, die Errichtung von Kunsthallen und Volkstheatern, der Aufbau von Volkshochschulen und städtischen Bücherhallen, der Bau von Volksbädern und Schlachthöfen, die Einführung von Straßenbahnen, Kanalisation, Elektrifizierung, die Liste dieser Tätigkeitsfelder ließe sich fortsetzen. All dies gehört zum liberalen Erfolgskatalog. Es fällt ins Auge, daß der „Kommunalliberalismus" die Politik eines munizipalen Sozialismus tatkräftig unterstützte. Die Kommune war offenbar ein Feld, auf dem die Orientierung am „Gemeinwohl" noch praktiziert wurde. Das zeigt, daß die Tradition der Gemeinde als die eines Raumes, der die Entfaltung des einzelnen zum Wohle der Allgemeinheit auch begrenzen konnte, auch im 20. Jahrhundert noch handlungsbestimmend war. 42 Auf diesem Gebiet gab es erhebliche Annäherungen an den Reformflügel der Sozialdemokratie. Das ist um so verwunderlicher, als die politischen Ausgangsvoraussetzungen für eine solche „moderne" Politik außergewöhnlich schlecht zu sein schienen. Fast alle Kommunen zeichneten sich nämlich durch ein besonders restriktives Wahlrecht aus, das - im Gegensatz zu dem der meisten Länder - im Laufe der Zeit kaum demokratisiert wurde. Im Gegenteil: Das an sich schon undemokratische Wahlrecht wurde häufig sogar noch „verschlechtert", und die Liberalen waren meist der Initiator dieser Politik. 43 Fragen des Bürgerrechts und der Zensus erwiesen sich hier als besonders probate Mittel der Diskriminierung. Kom-

42

So der Trend der Studien, die aus der Schule Lothar Galls stammen. Paradigmatisch Roth, Ralf: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1 7 6 0 - 1 9 1 4 , München 1 9 9 6 .

43

Pohl, Karl Heinrich: Kommunen, kommunale Wahlen und kommunale Wahlrechtspolitik: Zur Bedeutung der Wahlrechtsfrage für die Kommunen und den deutschen Liberalismus, in: Lässig/Pohl/Retallack (Hg.): Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland, S. 8 9 - 1 2 6 .

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munale Wahlrechtspolitik läßt sich also als eine durch und durch undemokratische Strategie zur Machterhaltung der kommunalen Eliten bezeichnen. Insofern kann man die liberale Politik in den Kommunen nicht als modern oder demokratisch bezeichnen. Vorwärtsweisende Entwicklungen schienen dadurch eher behindert. Dieser Schein trügt jedoch. Es fällt vielmehr auf, daß diese restriktive und „undemokratische" Haltung nicht nur ein „modernes" politisches Handeln zuließ, sondern zugleich auch mit einem ausgeprägten Verständnis von „kommunalem Parlamentarismus" gepaart war, für das das restriktive Wahlrecht offensichtlich eine Vorbedingung darstellte. Z w a r wurde Kommunalpolitik meist als „Unpolitik" definiert, also als ein Handeln, das - im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen auf Reichs- und Länderebene - nur durch „Sachverstand" geleitet wurde und pflichtgetreues und leidenschaftsloses Ausführen von „neutralen" Sachhandlungen im Rahmen der herrschenden Gesetze intendierte. Das war auch der formale Grund dafür, daß man die Sozialdemokratie als politische Partei aus der Verantwortung für das Geschehen in den Kommunen weitgehend exkludierte. Trotzdem aber gab es in vielen Städten des Reiches Ansätze, die Gleichberechtigung aller gewählten Stadtverordneten als Person doch anzuerkennen. Sehr oft wurden alle - also auch die wenigen Sozialdemokraten - in die kommunale Arbeit und die Politik des Munizipalsozialismus eingebunden. Tatsächlich kann man in verschiedenen Kommunen kurz vor dem Ersten Weltkrieg so etwas wie einen „funktionierenden Parlamentarismus" erkennen, mit Fraktionsbildungen, die alle „Parteien" einschlossen - auch die Sozialdemokratie. Wenn man das eine moderne, fortgeschrittene „parlamentarische Kultur" nennen will, war das politische Klima in einigen Kommunen durchaus fortgeschritten, fortgeschrittener jedenfalls als im Reichstag und den meisten Länderparlamenten. Selbst die Sozialdemokratie - sonst jeder staatlichen Wohltat abhold feierte die liberale deutsche Kommunalpolitik als eine außerordentliche Errungenschaft, an der zwar noch vieles zu verbessern sei, die aber zeige, daß im bestehenden Staat wichtige sozialdemokratische Forderungen zu verwirklichen seien - unter Mitarbeit der Sozialdemokratie. Es gelang dem Liberalismus jedoch (noch) nicht, weder in der Theorie noch in der Praxis, die Begrenzung des individuellen Egoismus in eine Kraft umzuwandeln, die auf alle Bereiche der Kommunalpolitik oder gar auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlte. Der Munizipalsozialismus blieb - mit einigen Ausnahmen auf der Länderebene - im wesentlichen ein kommunaler. Auf nationaler Ebene entstand er erst spät. Dort blieb er inhaltlich höchst vage und unbestimmt und vor allem lange Zeit auch weitgehend einflußlos.

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Als Bilanz liberaler Kommunalpolitik ist daher festzuhalten, daß die ausgeprägte Honoratiorenstruktur - die demokratischen Reformversuchen ehern widerstand - das Ideal blieb. Diese Form war jedoch gewollt und ruhte auf dem Selbstverständnis der Liberalen. Das restriktive Verhalten gegenüber einer inneren Demokratisierung kann man jedoch als Vorbedingung dafür interpretieren, daß der Kommunalliberalismus eine so große Flexibilität und Innovationsfähigkeit zeigte. Er war in der Lage, gleichzeitig eine kommunale Verwaltung aufzubauen und die städtische Lebenswelt grundlegend zu modernisieren, ja, schließlich sogar die Grundlagen für den modernen Sozialstaat zu legen. Dies alles geschah zudem auf eine Weise, die auch die Sozialdemokratie oftmals zufrieden stellte. Es bleibt allerdings auch festzuhalten, daß vor 1914 nur wenige Ansätze zu entdecken sind, die bürgerliche „Honoratiorengesellschaft" zu einer demokratischen „Staatsbürgergesellschaft" weiterzuentwickeln. Das Beispiel München kann verdeutlichen, wie weit eine solche liberale Kommunalpolitik bereits im Kaiserreich führen konnte und nicht zuletzt auch, inwieweit nationalsoziales Gedankengut direkt in eine solche Kommunalpolitik einfloß. Zugleich wird in diesem Beispiel aber auch sichtbar, wo die Grenzen einer solchen Politik lagen. München war - trotz der mehrheitlich katholischen Bevölkerung und des konservativen katholischen Umfeldes - seit „jeher" nicht nur bürgerlich geprägt, sondern auch politisch liberal.44 Daran konnten auch die Bemühungen der Bayerischen Staatsregierung nichts ändern, die zeitweise massiv in die kommunale Politik einzugreifen versuchte, die Polizeigewalt an sich zog oder als Stadtoberhaupt nur einen Zentrumsangehörigen akzeptierte. Es entwickelte sich dort ein breitgefächertes liberales Spektrum, das sich vom dominierenden rechten Nationalliberalismus bis zu den wenigen Linksliberalen um Ludwig Quidde erstreckte - und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die kommunale Politik beherrschte. Als gemeinsamer „Feind" galt das „klerikale" Zentrum, weniger die reformorientierte Sozialdemokratie. Das Zentrum wirkte geradezu als Klammer, um die divergierenden Elemente innerhalb des Liberalismus zusammenzubinden. Die größte Gruppe im organisierten Münchner Liberalismus war sozial im Wirtschaftsbürgertum verankert. Eine fast genauso wichtige Rolle spielte allerdings auch der alte Mittelstand, der vor allem die 44

Folgendes nach Pohl, Karl Heinrich: Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , München u.a. 1992.

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Handwerksmeister umfaßte. Er bildete um die Jahrhundertwende immer noch etwa ein Viertel der liberalen Sympathisanten. Um diese Klientel mußte der Liberalismus jedoch stark mit dem Zentrum ringen und geriet dabei mehr und mehr ins Hintertreffen. Das immer einflußreichere Bildungsbürgertum stellte etwa ein Fünftel des liberalen Potentials. Alle Sparten des Beamtentums waren dort vertreten; es gab sogar einige Offiziere - was in Preußen undenkbar gewesen wäre. 45 Der Liberalismus sah sich seit Mitte der 1890er Jahren allerdings einer wachsenden sozialdemokratischen und katholischen Konkurrenz ausgesetzt. Das liberale Stadtregiment ließ es daraufhin zu, daß die Sozialdemokraten partiell an der Macht partizipierten. Man wollte eher mit den reformorientierten Sozialdemokraten Münchens zusammenarbeiten, als dem Zentrum einen stärkeren Einfluß zuzugestehen. 46 Es entwickelte sich daraufhin so etwas wie ein „sozial-liberales" kommunales Politikmodell, das vor allem im Bereich der Sozial- und Schulpolitik (hier vor allem gegen das Zentrum), aber auch bei dem Versuch, die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit zu entschärfen, als wegweisend bezeichnet werden kann. Diese Entwicklung wurde auch dadurch nicht abgebrochen, daß das Bayern seit der Wahlrechtsreform von 1906 mehr und mehr „beherrschende" Zentrum nach einem politischen „Rechtsruck" nahezu jegliche politische Modernisierung unterdrückte und dem sozialliberalen Münchner Experiment mit größtem Mißtrauen begegnete. Allerdings gab es auch in München - wie überall im Deutschen Reich - einen verbissenen Kampf der kommunalen liberalen Oligarchie gegen eine Demokratisierung des Wahlrechtes. In der bayerischen Landeshauptstadt blieb dieser jedoch langfristig ohne Erfolg. 47 Mit der kommunalen Wahlrechtsreform von 1908, die gemeinsam von der Bayerischen Regierung, vom Zentrum und den Sozialdemokraten vorangetrieben wurde, war der Damm gebrochen: Die Zusammensetzung des Gemeindebevollmächtigtenkollegiums begann sich fortab zugunsten der Sozialdemokratie (und des Zentrums) zu verändern. Nach den Wahlen

45

46 47

Hettling, Manfred: Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1 8 6 0 bis 1918, Habilitationsschrift (Ms.), Bielefeld 1997, S. 117ff. Dieser gehaltvollen Studie verdanke ich ganz entscheidende Anregungen; nach Hettling auch die folgenden Gedanken. Vgl. hierzu Pohl, Karl Heinrich: Kommunen, kommunale Wahlen, S. 89-126. Kreitmeyer, Annelise: Zur Entwicklung der Kommunalpolitik der bayerischen Sozialdemokratie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung Münchens, in: AfS 25 (1985), S. 103-135.

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von 1911 setzte sich das 60köpfige Kollegium der Gemeindebevollmächtigten aus 2 4 Liberalen, 14 Zentrumsmitgliedern, zwei Hausagrariern, einem Antisemiten und 19 Sozialdemokraten zusammen. Ein weiterer Zuwachs der Sozialdemokraten schien zudem programmiert. 48 Es herrschte in München fortab ein „kommunaler Parlamentarismus", in dem die Sozialdemokratie (fast) ebenbürtig behandelt wurde. In der Versammlung der Gemeindebevollmächtigten brachte es der ehemalige Kohlenträger Sebastian Witti zum zweiten (und während des Krieges zum ersten) Vorstand. Im Verwaltungs-, im Handels- und Finanz- sowie im Bau- und im Schul- und Sanitätsausschuß stellte sie den Vorsitz und besetzte ein Drittel aller Mandate. Auch in der Lokalschulkommission und im Armenpflegschaftsrat war sie präsent - und ihre Mitarbeit wurde von den anderen Parteien geradezu gesucht. Nur Ehrenmedaillen wollten die Sozialdemokraten (noch) nicht annehmen ansonsten waren sie voll in das kommunale System integriert. Eine solche Entwicklung mag nicht überraschen. Auf dem Gebiet der Schulpolitik etwa ist das Ausmaß der Zusammenarbeit durchaus verständlich, und ebenso verständlich ist, daß das Zentrum heftig opponierte. 49 Eine gemeinsame Politik auch auf dem Gebiet der Wirtschaftsund Sozialpolitik muß dagegen eher verwundern. In der Tat gilt München aber bei der Durchsetzung des Tarifvertrages als eine Hochburg. Die „Rationalisierung des Arbeitskampfes", also das allmähliche Überwiegen von vertraglichen Regelungen gegenüber durch Streiks und Aussperrungen erzwungenen kurzfristigen Lösungen, wurde dort schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts favorisiert. Eine solche Strategie gilt in der deutschen Historiographie als „modern". 5 0 Außergewöhnlich ist auch, daß in München schon im Jahre 1 9 0 7 zwei Drittel aller Beschäftigten (und zwar der Männer und der Frauen) in tarifvertraglich geregelten Arbeitsverhältnissen standen. Städte, die einen ähnlich hohen Grad tarifvertraglicher Abschlüsse aufweisen, sind 48

Bei den letzten Wahlen, bei denen ein Drittel des Gremius gewählt wurde, errangen die Liberalen fünf Sitze, das Zentrum sechs, die Sozialdemokratie aber acht Mandate. Siehe dazu Pohl: München, S. 426ff.; danach auch die folgenden Gedanken.

49

Pohl, Karl Heinrich: Sozialdemokratie und Bildungswesen: Das „Münchner Modell" einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Schulpolitik und die Entwicklung der Volks- und Fortbildungsschulen im Bayern der Jahrhundertwende, in: Z B L G 5 3 ( 1 9 9 0 ) , S. 7 9 - 1 0 1 .

50

Schönhoven, Klaus: Arbeitskonflikte in Konjunktur und Rezession. Gewerkschaftliche Streikpolitik und Streikverhalten der Arbeiterschaft vor 1 9 1 4 , in: Tenfelde, Klaus/Volkmann, Heinrich (Hg.): Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1 9 8 1 , S. 1 7 7 - 1 9 3 .

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sonst nicht bekannt. 51 Die Gründe für die Münchner Besonderheit sind vielfältig 52 , nicht zuletzt aber waren der Wille der Kommune (und des Landes) entscheidend. Sowohl die Staatsregierung, die 1905 erklärte 53 , daß sie Tarifverträge ausdrücklich begrüße und ihr Zustandekommen mit allen Mitteln unterstütze, als auch die Kommune München, die sich mehrfach gegen die Münchner Großindustrie stellte, weil diese den Abschluß tarifvertraglicher Regelungen ablehnte, können als Motor dieser Entwicklung bezeichnet werden. In München bewährte sich bald ein Modell, in dem nach jeweils harten Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitskampfparteien im entscheidenden Moment entweder die Kommune oder aber der bayerische Staat eingriffen. Meist war es das Einigungsamt des Münchner Gewerbegerichtes (dessen Beisitzer paritätisch von Arbeitern und Unternehmern gewählt wurden), das den Fall an sich zog und als „neutraler" Schlichter fungierte. Mit seiner schon nach kurzer Zeit erworbenen Autorität gelang es ihm in der Regel, den Arbeitskampf zu entschärfen. Ohne Übertreibung wird man daher von einem sozialpolitisch „milden" und parlamentarisch „fortgeschrittenen" Klima sprechen können. Es kam vor allem dadurch zustande, daß Kommune, Unternehmer und Gewerkschaften, Liberale und Sozialdemokraten (und auch das Zentrum) gleichberechtigt nebeneinander und miteinander agierten - und auf diese Weise in vielen Fällen Konflikte im Entstehen beseitigten oder aber doch ihre Folgen gering hielten. Freie Gewerkschaften und Sozialdemokratie waren dabei ein geachteter und anerkannter Partner - auch wenn ihre Gleichberechtigung immer wieder neu und mühsam erkämpft werden mußte. Die Entwicklung in der Kommune München strahlte jedoch nur bedingt auf das Land Bayern aus. Im Gegenteil, nach den Landtagswahlen von 1912 setzte ein massiver Rechtsruck in der Landespolitik ein. Insofern zeigt sich deutlich, daß die Kommunalpolitik nicht auf die Landespolitik ausgreifen konnte. Auf der anderen Seite ist zu betonen, daß es der bayerische Liberalismus war, der im gleichen Jahr ein weitgehendes Wahlkampfabkommen mit der Sozialdemokratie auch auf Landesebene einging, mit dem Ziel, eine gemeinsame „Koalitionsregierung" zu bilden, um das Zentrum mit seiner reaktionären Politik abzulösen. Der Liberalismus löste sich also aus dem Getto der Kommunen, wenngleich 51

" 53

Der Durchschnitt für das Reich betrug im Jahre 1 9 1 2 etwa 1 5 % . Pohl, München, S. 263ff.; Jüngling, Elisabeth: Streiks in Bayern 1 8 8 9 - 1 9 1 4 . Arbeitskampf in der Prinzregentenzeit, München 1 9 8 6 , S. 2 7 . Schreiben des Bayerischen Ministerium des Äußern an die Kreisregierungen, 2 . 3 . 1 9 0 5 , HStA München, Μ Arb 8 6 1 .

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der Erfolg bis zum Kriegsausbruch noch ausblieb. Das aber war exemplarisch für die Politik des deutschen Liberalismus insgesamt.

IV Wen repräsentierte nun der Liberalismus in Deutschland? Wer waren die Hauptwähler schichten? Die Antwort auf diese Frage ist vage und muß vorerst vage bleiben. Das hängt damit zusammen, daß die Liberalen die Partei gewesen zu sein scheinen, bei denen die Fluktuation der Wähler besonders hoch gewesen ist. Der Stand der bisherigen Forschung über die soziale Schichtung der Liberalen läßt den Schluß zu, daß die liberalen Parteien um die Jahrhundertwende im wesentlichen „bürgerlich" waren. 54 Sie waren Parteien der Reichen und der Honoratioren. Arbeiter spielten genauso wenig eine Rolle wie - außer in einigen speziellen Regionen - das agrarische Element. Festzuhalten ist, daß es sich also bei der Mitgliederschaft auch jetzt noch mehr oder weniger um die bürgerlichen Mittelklassen handelte, wobei sich die Liberalen vor allem auf die traditionalen Eliten in den Städten stützen konnten. Es waren vor allem protestantische und industrialisierte Gebiete, wobei der Anteil der Liberalen mit dem Grad zunehmender Urbanisierung deutlich abnahm. Zu erwähnen ist aber auch, daß Liberale prinzipiell aus allen Schichten der Gesellschaft des Kaiserreiches stammen konnten. Was die Unfähigkeit des Liberalismus darstellte, nämlich ein festes Lager zu bilden, stellte - wenn die Umstände günstig waren - auch seine Stärke dar: Er konnte Wählerschichten überall mobilisieren, wenn seine Ideen nur wirkungsmächtig waren. 55 Bei den Bemühungen, dieses schmale Mitgliederpotential zu vergrößern, scheiterte der Liberalismus im allgemeinen. Bei einem solchen Urteil ist jedoch insofern Vorsicht geboten, als nur der Vergleich mit Zentrum und Sozialdemokratie zu einem solchen Ergebnis führt, nicht jedoch der Vergleich mit den Konservativen. Immerhin lassen sich aber neben Dresden weitere Ausnahmen anführen, die das Bild vom engen liberalen „Getto" modifizieren. Ihr allgemeiner Erklärungswert scheint jedoch begrenzt zu sein. Bei einer Analyse der gut 2.700 Mitglieder der 54

55

Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S.155ff.; danach auch die folgenden Gedanken. Zur Diskussion hierüber vgl. Immerfall, Stefan: Territorium und Wahlverhalten. Zur Modellierung geopolitischer und geoökonomischer Prozesse, Opladen 1992; Ders.: Politischer Liberalismus im Kaiserreich. Befunde und Deutungen aus wahlsoziologischer Sicht, in: liberal 32 (1992), S. 102-110.

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Düsseldorfer „Vereinigung der Mittelparteien" aus dem Jahre 1 9 0 7 zeigt sich dort immerhin, daß Kaufleute, kleine und mittlere Beamte sowie Angestellte tragende Säulen der Liberalen bildeten. Sie machten mehr als 4 0 % der Mitglieder aus. Arbeiter stellten immerhin fünf Prozent, im Landkreis Düsseldorf sogar mehr als zehn Prozent der Mitglieder. Eine solche Mitgliederstruktur scheint aber eher die Ausnahme gewesen zu sein. Auch die Ergebnisse aus Breslau können wohl nicht als repräsentativ gewertet werden, wenngleich für die Stadt die bislang genauesten Angaben vorliegen. 56 Den Kern der dortigen liberalen Basis bildeten Kaufleute, Handwerker und freie Berufe. Der Anteil der Kaufleute blieb nahezu konstant bei etwa 3 0 % , bei dem Fortschritt etwas niedriger, bei den Nationalliberalen z.T. höher. Dabei überwog der Anteil an gewerblich Selbständigen und nicht manuell tätigen Besitzbürgern. Eine weitere wichtige Gruppe war die der Handwerker, die jedoch im Laufe der Zeit an Bedeutung verlor. Machte diese Gruppe beispielsweise in den 60er Jahren noch 3 0 % des linksliberalen Potentials aus (bei den Nationalliberalen nur etwa zehn Prozent), sank er schließlich insgesamt im Liberalismus unter zehn Prozent ab. Die dritte wichtige Gruppe der freien Berufe fiel quantitativ nie so entscheidend ins Gewicht. Sie lag bei etwa fünf Prozent. Aus dieser Gruppe rekrutierten sich jedoch die meisten Führungsfiguren des Breslauer Liberalismus. Ein besonderer Befund für Breslau ist allerdings der, daß sich dort im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Juden zur Kerngruppe des Liberalismus entwickelten, die im ausgehenden Jahrhundert etwa ein Drittel aller Trägergruppen des Liberalismus stellten. Insgesamt ergibt sich bei den Liberalen der Jahrhundertwende folgendes Bild: Der Kleinbürgeranteil lag, von Ausnahmen abgesehen, relativ konstant zwischen 2 0 % und 5 0 % . Er war bei den Linksliberalen deutlich höher als bei den Nationalliberalen. In den 1860er Jahren war der Kleinbürgeranteil bei den Konservativen und Katholiken, der um 1 8 7 0 noch deutlich unter dem der Liberalen lag, stark gestiegen und begann den Prozentsatz bei den Liberalen zu übertreffen. Der Beamtenanteil war bei den Nationalliberalen deutlich höher als bei den Linksliberalen. Bei den Nationalliberalen lag er um zehn Prozent, bei den Linksliberalen - z.T. deutlich - unter fünf Prozent. Auch hier scheint die Situation in den Städten von derjenigen in ländlichen Gebieten stark zu

56

Hettling, Manfred: Von der Hochburg zur Wagenburg. Liberalismus in Breslau von den 1 8 6 0 e r Jahren bis 1 9 1 8 , in: Gall/Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region, S. 2 5 3 - 2 7 6 ; hier: S. 264ff.; danach auch die folgenden Gedanken.

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differieren. Bei den Nationalliberalen in Mittelfranken waren Mitte der 90er Jahre z.B. fast ein Drittel Beamte, ein Großteil Bürgermeister. Eine spezielle Eigenart der sozialen Schichtung des deutschen Liberalismus war sein soziales Gefälle im Nord-Süd-Vergleich. In Preußen, vor allem im östlichen Teil, und abgeschwächt auch in Sachsen fanden sich Beamte sehr viel stärker bei den Konservativen als in Süddeutschland. Bei den Bildungsbürgern zeigte sich ein ähnliches Gefälle, sowohl zwischen rechts und links als auch zwischen Nord und Süd, jedoch weniger deutlich und mit geringerer Regelmäßigkeit. Der hohe Anteil von Bildungsbürgern bei parlamentarischen Abgeordneten und Parteieliten (DelegiertenVersammlungen, Parteitagen) wird durch die Angaben über die soziale Basis jedenfalls deutlich relativiert. Umfangreich ist wiederum der Anteil an Besitzbürgern. Zwischen einem Drittel und mehr als der Hälfte der Wahlmänner, Parteimitglieder und Unterzeichner von Aufrufen gehörten zu dieser Gruppe, bei den Nationalliberalen mehr als bei den Linksliberalen. Ähnlich hoch und manchmal noch höher lag der Anteil der Besitzenden bei den städtischen Vertretungsorganen. Da nun seit den 1890er Jahren die politischen Spannungen zunahmen, sich die Extreme verschärften und die Mitte - der klassische Ort der Liberalen - an Kohäsionskraft verlor, ist besonders interessant, wie und mit welchen Mitteln die Liberalen ihre Anhänger in diesen schwierigen Zeiten zusammenhielten. Auffällig ist nämlich, daß der Anteil liberaler Reichstagswähler an der Bevölkerung relativ konstant blieb. Etwa 20 bis 25% der Bevölkerung wählten immer liberal. Der - häufig in den Vordergrund gestellte - absolute Mandatsverlust der Liberalen resultierte nämlich im wesentlichen daraus, daß es ihnen nicht gelang, einen wesentlichen Anteil der wachsenden Zahl der bisherigen Nichtwähler für sich zu mobilisieren - die hauptsächlich für die Sozialdemokraten votierten. Entscheidend für die relative Kohäsion war, daß sich die Liberalen während der gesamten Kaiserzeit immer an politischen Werten und Argumenten orientierten. Diese stellten das Individuum und den Bürger in den Mittelpunkt. Angesprochen wurde also vor allem der Typus des selbständig Wirtschaftenden. Dabei waren sowohl der ökonomische Status als auch die innere Einstellung von Bedeutung. Bis 1914 scheint es immerhin so gewesen zu sein, daß sich von diesem Ideal immer noch eine große Anzahl von Wahlbürgern ansprechen ließ, selbst wenn andere politische Ziele des Liberalismus (vor allem Nationalismus und Nation) entweder bereits verwirklicht oder aber doch von den anderen Parteien aufgegriffen worden waren. Als Fazit bleibt, daß sich die Liberalen im wesentlichen aus bürgerlichen Schichten rekrutierten, jedoch nicht - wie gewünscht - alle Bürger

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politisch auch einen konnten. Man kann daher die Liberalen als eine sich erst langsam ausweitende bürgerliche Honoratiorenpartei definieren, die über eine sozial relativ breit, wenn auch sehr ungleichmäßig gestreute Basis verfügte. Diese konnte sie jedoch nicht ähnlich eng an sich binden, wie es Katholiken und Sozialdemokraten gelang.57 Insofern kann man sie gegenüber den anderen Parteien als „Integrationspartei" bezeichnen. Der Zusammenhalt erfolgte weniger über Milieus als über „politische Überzeugung". Damit kam die Partei dem Ideal einer Volkspartei der Mitte durchaus nahe - wenngleich unter Ausschluß der Katholiken. Da sie Milieus und politische Lager überwinden half, ist sie als eine moderne Partei einzustufen. Für die ersten Jahrzehnte des Kaiserreiches kann man die Liberalen sogar als die „fortschrittlichste Partei" im politischen System bezeichnen. Das Erwachen sozialer Verantwortung, die Akzeptanz der Sozialdemokratie, ein Abbau wirtschaftspolitischen Autoritätsdenkens, die Verbreiterung der kommunalpolitischen Basis, verstärkte Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie - alles dieses waren Vorstellungen und Forderungen, die den Liberalismus auch im 20. Jahrhundert lebensfähig erhalten konnten. Mit ihnen konnte er durchaus optimistisch voranschauen. Die Politik Naumanns - so ein vorläufiges Fazit - schien sich also auch außerhalb der Nationalsozialen mehr und mehr durchzusetzen.

Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 155ff.; danach auch die folgenden Gedanken.

Friedrich Naumann und der Kirchliche Liberalismus FRANK-MICHAEL KUHLEMANN

Friedrich Naumann gilt in einer religions- und frömmigkeitsgeschichtlichen Perspektive als ein herausragender und einflußreicher religiöser Denker. Es wurde die These vertreten, daß es sich bei ihm nicht nur um einen frommen, individualistischen Schriftsteller handelte, sondern ganz im Gegenteil um einen religiösen Virtuosen, der die Hoffnung einer ganzen Theologengeneration verkörpert habe. Seine Wirkung zeigte sich in der Kaiserreichsgesellschaft etwa an der Verbreitung seiner Predigten und Andachten auf unzähligen Kanzeln und in der religiösen Publizistik. Die Forschung hat Naumanns Werk darüber hinaus in den Kontext einer theologischen Bewältigung der Säkularisierung gestellt und neuerdings sogar auf die bemerkenswerte Wirkungsgeschichte Naumannscher theologischer Positionen an den Beispielen von Gustav Frenssen über Leo Baeck bis hin zu Dietrich Bonhoeffer hingewiesen.1 Trotz dieser herausragenden Bedeutung blieb die politische Unterstützung Naumanns im kirchennahen protestantischen Milieu des Kaiserreichs gering. Das ist erklärungsbedürftig. Es ist daher zu fragen, ob es, außer den vielfach diskutierten allgemein- und sozialpolitischen Gründen, u.U. noch andere - spezifisch religiöse oder auch kirchenpolitische - Gründe für das Scheitern Naumanns gibt, die bereits innerhalb des kirchennahen Protestantismus Naumanns Auffassungen als nicht mehrheitsfähig haben erscheinen lassen. Diese Frage ist von der Forschung bisher kaum verfolgt worden, obwohl man doch gerade in den letzten Jahren damit begonnen hat, die liberalen Traditionen des

Vgl. H . Timm: Friedrich Naumanns theologischer Widerruf. Ein W e g protestantischer Sozialethik im Ubergang v o m 19. zum 20. Jahrhundert, München 1967; H . H . Neß: Friedrich N a u m a n n s Bemühungen um die säkulare Wirklichkeit. Ein Beitrag zum Thema Theologie und Säkularisierung und zum Verständnis N a u manns, Diss, theol. Münster 1970; H. Kramer-Mills: Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wirkungsgeschichte von Friedrich N a u m a n n s „Briefe über Religion", Neukirchen-Vluyn 1998; F. Naumann: Werke, 6 Bde., Köln/Opladen 1 9 6 4 , hier Bd. 1, Einleitung, S. X X V ; sowie Bd. 2, Einleitung, S. XVII.

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Protestantismus systematisch zu erforschen. 2 Als Erklärung bieten sich zunächst die vielfältige Fraktionierung des Protestantismus sowie die aufs Ganze gesehen - dominierenden konservativen Strömungen in den meisten Landeskirchen an, die die politische Verankerung Naumanns im kirchennahen protestantischen Milieu trotz aller liberalen Aufbrüche stark gehemmt haben. In diesem Beitrag soll aber nicht die Milieufraktionierung des Protestantismus, sondern der Kirchliche Liberalismus selber als ein wichtiger theologischer und religiöser Erfahrungshintergrund Naumanns in das Blickfeld rücken. Gefragt wird, ob und wie sich Naumanns Denken in dominante Traditionslinien des Kirchlichen Liberalismus in Deutschland einordnen läßt. Dabei sind in einem ersten Schritt zunächst die langfristig prägenden und konstitutiven Elemente des kirchlich-liberalen Denkens seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und daran anschließend sowohl die verbindenden als auch die trennenden Elemente zwischen Naumanns Auffassungen und den weithin herrschenden kirchlich-liberalen Positionen darzustellen. Insgesamt steht der Beitrag damit im Kontext der übergeordneten Frage nach den homogenisierenden bzw. konfligierenden Faktoren des Kirchlichen Liberalismus am Ende des Kaiserreichs. Auch läßt sich an dieser Fragestellung ein Stück weit das Problem der Einheitlichkeit oder aber der Zerfaserung des Liberalismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verfolgen. 3 Die Konfrontation Naumannscher Positionen mit spezifisch kirchlich-liberalen Auffassungen soll nicht ausschließlich, aber mit einem gewissen Schwerpunkt am Beispiel des Großherzogtums Baden erfolgen. Dieses Beispiel bietet sich vor allem deshalb an, weil der kirchenpolitische Liberalismus in Baden am Ende des Kaiserreichs nicht nur als eine kirchenparteiliche Bewegung, sondern auch in der Kirchenleitung dominierte. Darüber hinaus kommt Baden insofern eine besondere Bedeutung zu, als sich dort nach der Jahrhundertwende mit dem „Großblock" ein politisches Reformbündnis zwischen Nationalliberalismus, Linksliberalismus und Sozialdemokratie, mithin des von Naumann pro-

Vgl. G. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Z u m Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1 9 9 4 ; J. Mehlhausen: Der kirchliche Liberalismus in Preußen, in: J. Rogge u. G. Ruhbach (Hg.): Die Geschichte der evangelischen Kirche der Union, Bd. 2, Berlin 1 9 9 4 , S. 1 2 0 - 1 5 1 ; H . M . Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1 9 9 2 . Vgl. D. Langewiesche (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1 9 8 8 ; Ders.: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1 9 8 8 .

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pagierten Bündnisses von Bebel bis Bassermann, etablierte. Trotz dieser günstigen politischen und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen blieb auch in Baden die kirchliche Unterstützung sowohl von Naumanns „Nationalsozialem Verein" als auch der linksliberalen Parteien nach 1903 gering. Und es stellt sich die Frage, warum es selbst hier keine hinreichende Verankerung der von Naumann vertretenen Politik im liberalprotestantischen Milieu gab? 4 I. Grundzüge und Entwicklung des Kirchlichen Liberalismus zwischen 1 8 3 0 und 1 9 1 8 1. Anfänge und regionale Schwerpunkte. Die Anfänge des Kirchlichen Liberalismus liegen in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts. Anknüpfend einerseits an den theologischen Rationalismus, andererseits an die Theologie Daniel Friedrich Schleiermachers breitete sich „liberales Gedankengut" bei einer Reihe von Theologen „unterschiedlicher Herkunft und Schulbildung" aus. Wichtige Namen und Strömungen in diesem Zusammenhang sind die jüngere Tübinger Schule mit Theologen wie Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß. Auch Eberhard Gottlob Paulus, Richard Rothe und später Daniel Schenkel in Heidelberg sind als besondere Protagonisten kirchlich-liberaler Ideen hervorzuheben.5 Eine wichtige Phase für die Entwicklung des Kirchlichen Liberalismus stellten die Revolutions- und die nachfolgende Reaktionszeit sowie der liberale Aufbruch in den 1860er Jahren dar. In dieser Phase zeichneten sich einerseits eine gewisse Bündelung der verschiedenen Strömungen und Aktivitäten, andererseits sehr unterschiedliche Entwicklungswege ab, die vor allem aus den differierenden Entfaltungsmöglichkeiten der Liberalen in den einzelnen Landeskirchen resultierten. In Preußen bot sich für die Liberalen kaum eine Möglichkeit, in kirchenleitende

4

Vgl. zu Baden J. Thiel: Die Großblockpolitik der Nationalliberalen Partei Badens 1 9 0 5 - 1 9 1 4 . Ein Beitrag zur Zusammenarbeit von Liberalismus und Sozialdemokratie in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Stuttgart 1 9 7 6 ; F.-M. Kuhlemann: Bürgerlichkeit und Religion. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1 8 6 0 - 1 9 1 4 , Habilitationsschrift Bielefeld 1 9 9 8 .

5

Vgl. K. Barth: Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2 Bde. Zürich 1 9 4 6 , I 9 6 0 3 , Hamburg 1 9 7 5 , hier Bd. 2, S. 4 2 4 - 4 3 3 ; 4 6 3 - 4 8 6 ; 5 1 3 - 5 2 1 ; C. Stocker, Die theologische Fakultät an der Großherzoglich badischen Universität Heidelberg von 1 3 8 6 - 1 8 8 6 , Heilbronn 1 8 8 6 ; Zitat: Mehlhausen, Liberalismus, S. 1 2 5 .

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Positionen zu gelangen, so daß sie sich hier vornehmlich im kirchennahen Vereinswesen und in der Publizistik engagierten. In Baden dagegen kam es zur Ablösung eines konservativen Kirchenregiments durch ein kirchlich-liberales. Es gelang dem Liberalismus, sich als die dominante kirchenpolitische Strömung bis zum Ende des Kaiserreichs zu behaupten und den politischen Kurs der Landeskirche maßgeblich zu bestimmen. Auch in Oldenburg und in Bremen dominierten liberale Einflüsse. Einem gemäßigt liberalen Kirchenregiment in Oldenburg entsprach in Bremen eine aufgeklärt liberale Kirchenpolitik des Bremer Senats als der obersten kirchlichen Aufsichtsbehörde. 6

2. Der Kirchliche Liberalismus als religiös-theologische

Emanzipations-

bewegung. Überblickt man die Zeit von den 1830er Jahren bis zum Ende des Kaiserreichs, ist der Kirchliche Liberalismus zunächst als eine religiös-theologische Emanzipationsbewegung zu fassen. Charakteristische Elemente dieser Bewegung waren die an Subjektivität und religiöser Autonomie orientierte Frömmigkeitskultur der freien Persönlichkeit, die gegen dogmatische Überzeugungen und eine am Buchstaben historischer Bekenntnisse hängende Religion ins Feld geführt wurde. Das war aufs engste mit einer bürgerlichen Ordnungsidee verknüpft, die das sich selbst bildende und religiös nicht mehr bevormundete Individuum zum Ideal der bürgerlichen Existenz erklärt hatte. 7 Für den religiösen Liberalismus spielte von Anfang an - ganz in der Tradition Schleiermachers - auch das moderne Erfahrungsdenken eine Rolle. Nach dieser Auffassung sollte es der theologischen Arbeit vor allem darum gehen, die historisch gegebene Dogmatik und Kirchenlehre hinsichtlich ihrer „religiösen Bedeutung" zu interpretieren. Dogmen galten als die „Beschreibung des frommen Gefühls, als Sätze, in denen nur das Wissen um die Religion zum Ausdruck kommt, ... bei denen also von einem Wahr oder Falsch nicht eigentlich die Rede ist." Vor allem kam der persönlichen „Glaubenserfahrung" und der „Glaubensgewißheit", mit anderen Worten: der .religiösen Empirie' eine besondere Bedeutung zu. Das stellte eine Tendenz innerhalb der modernen Theologie dar, die sich nicht nur bei liberalen, sondern auch bei konser-

6

Vgl. Mehlhausen, Liberalismus; Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 6 4 - 8 5 ; D. v. Reeken: Kirchen im Umbruch zur Moderne. Milieubildungsprozesse im nordwestdeutschen Protestantismus 1 8 4 9 - 1 9 1 4 , Gütersloh 1 9 9 9 , S. 2 5 - 3 6 .

7

Vgl. V. Drehsen, Art.: Neuprotestantismus, in: T R E 2 4 . 1 9 9 4 , S. 3 6 3 - 3 8 3 ; M . R . Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: J . Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1 9 8 7 , S. 7 9 - 1 0 0 , 89.

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vativen und positiven Theologen, etwa dem Erlanger Johann (von) Hofmann oder dem Heidelberger Ludwig Lemme, nachweisen läßt. 8 Ein weiterer entscheidender Aspekt bestand in der Vorstellung, daß sich die Religion permanent fortentwickele. Diese Auffassung implizierte eine geschichtstheologische oder auch geschichtsphilosophische Konzeption der Geschichte. Ferdinand Christian Baur etwa hatte die Kirchengeschichte dialektisch konzeptualisiert. Darin erschien das Christentum als die höhere Einheit von Heiden- und Judentum und die Gegenwart als eine Synthese aus vor- und nachreformatorischer Zeit. Außer Baur hatte Richard Rothe ein evolutionäres Modell der Kirchenund Weltgeschichte vorgelegt. Die Weltgeschichte hatte nach seinem Verständnis als die Offenbarung Gottes und die Realisation eines vollendeten menschlichen Reiches Gottes zu gelten. Erlösung vollzog sich auf geschichtlichem Wege. Und der gesamte historische Prozeß wurde als eine Entwicklung zum Fortschritt gedacht. 9 Aufs engste damit verbunden war schließlich eine historische, innertheologische Religionskritik. Die theologische Forschung weitete sich je länger desto mehr zu einer „religionsgeschichtlichen Disziplin" und zu einer „historischen Kulturwissenschaft" aus. Die wichtigste Strömung stellte dabei zunächst die „Leben-Jesu-Forschung" dar. Später sind als wichtige Tendenzen die Arbeiten Julius Wellhausens und seiner Schüler zum Alten Testament zu nennen. Auch der von dem Theologen Adolf Deißmann gegründete Eranos-Kreis in Heidelberg, in dem Theologen, Religionswissenschaftler und Orientalisten zusammenarbeiteten, sowie vor allem die sog. „kleine Göttinger Fakultät" sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. In Göttingen etablierte sich ein Kreis junger Privatdozenten (Wilhelm Bousset, William Wrede, Heinrich Hackmann, Hermann Gunkel und Ernst Troeltsch), die ihre exegetischen und systematischen Forschungen im Rahmen eines methodisch-theoretischen Konzepts der (vergleichenden) Religionsgeschichte betrieben. 10

8

Vgl. Stocker, Fakultät, S. 16f.; K.G. Steck, Johann Christian Konrad von Hofmann ( 1 8 1 0 - 1 8 7 7 ) , in: M . Greschat (Hg.): Theologen des Protestantismus im 19. und 2 0 . Jahrhundert, 2 Bde., Stuttgart 1 9 7 8 , Bd. 1, S. 9 9 - 1 1 2 ; L. Lemme: Heilstatsachen und Glaubenserfahrung, Heidelberg 1 8 9 5 ; vgl. auch Th. Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1 8 7 0 - 1 9 1 8 , München 1 9 8 8 , S. 7 6 .

9

Vgl. Drehsen, Neuprotestantismus, S. 3 6 6 ; Ders., Vision eines kirchenfreien, ethischen Zeitalters des modernen Christentums: Richard Rothe ( 1 7 9 9 - 1 8 6 7 ) , in: Berliner Theologische Zeitschrift 11 ( 1 9 9 4 ) , S. 2 0 1 - 2 1 8 ; Barth, Theologie, Bd. 2, S. 4 2 4 - 4 3 3 , 5 1 3 - 5 2 1 .

,0

Vgl. Mehlhausen, Liberalismus, S. 1 4 2 ; Barth, Theologie, Bd. 2 , S. 4 7 2 - 4 7 9 ; A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung ( 1 9 0 6 ) , Tübingen 1 9 5 1 ; A. Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen

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Die hier knapp referierten Aspekte einer religiös-theologischen Emanzipation im Rahmen der Wissenschaft spiegelten sich innerhalb der Kirchen vor allem in den sog. „Fällen" wider. In ihnen ging es um die Geltung überkommener Lehrmeinungen und geltender Bekenntnisstände innerhalb der Landeskirchen und die damit verbundene, kirchenpolitisch brisante Frage, ob die von einem gegebenen Bekenntnisstand abweichenden Pfarrer Mitglieder der jeweiligen Landeskirche bleiben könnten. Auch im Apostolikumstreit und in den Auseinandersetzungen über die Besetzung theologischer Lehrstühle standen die durch den religiösen und theologischen Liberalismus aufgeworfenen Fragen als kirchenpolitische Fragen auf der Tagesordnung. Insgesamt läßt sich an diesen Debatten nicht nur die tiefe Zerstrittenheit der einzelnen Parteien, sondern auch die Tendenz einer zum Teil weit fortgeschrittenen religiös-theologischen Emanzipation im Rahmen des bestehenden Kirchensystems studieren.11 3. Der Kirchliche Liberalismus als kirchenpolitische Verfassungs- und Reformbewegung. Der Gedanke einer sich permanent fortentwickelnden Religion implizierte in einer kirchenpolitischen Perspektive die Vorstellung, daß auch die Kirche als Organisation einem fortlaufenden Veränderungsprozeß unterlag, ja unterliegen mußte. Die hierbei zugrundeliegende Maxime lautete: ecclesia semper reformanda. Konzeptionen zur Organisation der Religion in der modernen Welt waren bereits früh

"

1992, S. 102-107, 116-120; Nipperdey, Religion, S. 67-76; H. Tompert: Lebensformen und Denkweisen der akademischen Welt Heidelbergs im wilhelminischen Zeitalter vornehmlich im Spiegel zeitgenössischer Selbstzeugnisse, Lübeck/Hamburg 1969, S. 13, 43f.; H. Bornkamm, Die Theologische Fakultät in Heidelberg, in: G. Hinz (Hg.): Aus der Geschichte der Universität Heidelberg und ihrer Fakultäten (1936-1961), Heidelberg 1961, S. 1 4 4 - 1 5 3 , 1 5 1 . F.W. Graf: Der „Systematiker" der „Kleinen Göttinger Fakultät". Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: H. Renz und F.W. Graf (Hg.): Troeltsch-Studien, Bd. 1, Gütersloh 1982, S. 2 3 5 - 2 9 0 ; Ders., Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: R. vom Bruch, F.W. Graf u. G. Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Die Krise der Moderne und der Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 103-131; M . Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1 8 8 0 - 1 9 2 0 , Gütersloh 1992; G. Lüdemann u. M. Schröder (Hg.): Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, Göttingen 1987, S. 3 2 5 - 3 6 1 . Vgl. W. Nigg: Geschichte des religiösen Liberalismus. Entstehung - Blütezeit Ausklang, Zürich 1937, S. 2 4 6 - 2 9 7 ; Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 170190; E. Brinkmann: Die evangelische Kirche im Dortmunder Raum in der Zeit von 1 8 1 5 - 1 9 4 5 , Dortmund 1979, S. 71-149; Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 4 0 2 4 5 7 ; Ders., Gesellschaft, Frömmigkeit und Theologie. Milieubildung und Mentalität im Protestantismus Ostwestfalens um die Jahrhundertwende, in: Westfälische Forschungen 47. (1997), S. 2 9 3 - 3 2 2 .

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entstanden. In Baden hatte ein Kirchenverfassungsentwurf von 1821 die Kirche als einen „sittlich-religiösen freien Verein" mit dem Anspruch auf Selbstverwaltung der eigenen Interessen, und das hieß auch: der Trennung von Staat und Kirche, definiert. 12 Im Vorfeld der 1848er Revolution und im Zuge der Verfassungsbildungsprozesse im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden sodann immer wieder Forderungen artikuliert, die auf die Herstellung kirchlicher Selbständigkeit und die Schaffung (bzw. den Ausbau) kirchlicher Partizipationsrechte zielten. Entscheidend war hierbei die Ablehnung von staatlichen Eingriffen in die Kirche sowie die Befürwortung eines Kirchenaufbaus „von unten" auf der Basis des Gemeindeprinzips. Die Vorstellungen waren durchaus unterschiedlich. Sie reichten von demokratischen bis hin zu konstitutionell-repräsentativen Organisationsansätzen. In jedem Fall stand dabei das Modell einer „konstitutionellen Kirche im konstitutionellen Staat" im Mittelpunkt. 13 Manche dieser Forderungen flössen zwischen den 1830er und den 1860er Jahren bereits in diverse Kirchenordnungen und -Verfassungen ein. Von besonderer Bedeutung waren die rheinisch-westfälische Kirchenordnung von 1835 sowie der Oldenburger Kirchenverfassungsentwurf von 1 8 4 9 und die dann revidierte Oldenburger Kirchenverfassung aus dem Jahre 1853. Der Oldenburger Kirchenverfassungsentwurf konnte in der Revolutionszeit als der liberalste in Deutschland gelten. Die Oldenburger Verhältnisse beeinflußten auch die Entwicklung innerhalb der badischen Landeskirche, wo es 1861 zur Verabschiedung einer liberalen Kirchenverfassung kam, die, wie schon in Oldenburg, auf dem Gedanken der Gewaltenteilung zwischen Kirchenregiment und „Kirchenvolk", repräsentiert durch bestimmte Zwischeninstanzen wie den Kirchengemeinderat und die Kirchengemeindeversammlung, kam. Zu erwähnen sind für diese Zeit ferner die Kirchenverfassungen in Sachsen-Weimar sowie diejenige in Württemberg. 14

12

Vgl. P.v. Tiling, Gemeinde und Gemeindeprinzip im badischen Kirchenverfassungsrecht seit 1 8 2 1 , in: H. Erbacher (Hg.): 1 5 0 Jahre Vereinigte Evangelische Landeskirche in Baden 1 8 2 1 - 1 9 7 1 . Dokumente und Aufsätze, Karlsruhe 1 9 7 1 , S. 5 5 5 - 5 8 1 , 5 6 2 .

13

Vgl. Mehlhausen, Liberalismus, S. 127f., 1 3 4 - 1 3 7 ; v. Reeken, Kirchen, S. 2 5 , 2 9 ; H. Liermann, Die vereinigte evangelisch-protestantische Kirche des Großherzogtums Baden im konstitutionellen Staat 1 8 1 8 - 1 9 1 8 , in: Erbacher (Hg.), Jahre, S. 5 2 1 - 5 5 4 , 533ff. Einen weiteren wichtigen Punkt für die Kirchenreform stellte der Unionsgedanke dar (Mehlhausen, ebd., S. 132).

14

Vgl. E. Lehmann, Der Aufbau der evangelischen Volkskirche in Baden, Heidelberg 1 9 1 9 , S. 4 3 ; Liermann, Kirche, S. 5 4 7 ; Tiling, Gemeinde, S. 5 6 9 ; v. Reeken, Kirchen, S. 2 8 - 3 3 ; U. Schulze, Die Oldenburgische Kirchenverfassung von 1 8 4 9

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Auch der zweiten entscheidenden Forderung des Kirchlichen Liberalismus, die Kirche vom Staat zu trennen, wurde seit der Jahrhundertmitte in der Weise entsprochen, daß in vielen Landeskirchen mit der Schaffung der Evangelischen Oberkirchenräte eine relative Selbständigkeit etabliert wurde, die es den Kirchen ermöglichte, ihre Angelegenheiten weitgehend selbständig zu verwalten. 15 Die Diskussionen über die Kirchenreform waren nach der Jahrhundertmitte jedoch keineswegs beendet. Zwar spielten sie längst nicht mehr in allen Landeskirchen eine Rolle. In Oldenburg etwa war die Verfassungsdebatte um 1 8 7 0 zu einem vorläufigen Ende gekommen. 1 6 Anderswo blieben die Debatten darüber jedoch nach wie vor bestimmend für das kirchlich-liberale Selbstverständnis. In Baden diskutierte man besonders seit den 1890er Jahren wieder verstärkt über den Ausbau der innerkirchlichen Partizipationsmöglichkeiten. Entscheidende Fragen galten in diesem Zusammenhang der Bedeutung des Wahlmännersystems bei den Wahlen zur Generalsynode. Dabei war zu entscheiden, aus welchem der innerkirchlichen Repräsentativorgane (aus dem Kirchengemeinderat oder aber der Kirchengemeindeversammlung) sich die Wahlmänner rekrutieren sollten. Auch das Problem des Frauenwahlrechts innerhalb der Kirche trat auf die Tagesordnung. Schließlich äußerte sich das kirchenpolitische Reforminteresse in einer generellen Bürokratiekritik und in der Neuformulierung des Gemeindebegriffs. Es stand die Frage zur Diskussion, welches Selbstverwaltungsorgan innerhalb der Kirche die Gemeinde angemessen repräsentiere. 17 Nach der Jahrhundertwende ging es - besonders unter dem Eindruck der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich - noch einmal um das Verhältnis beider Institutionen zueinander. Sofern man sich für eine solche Trennung einsetzte, war zu entscheiden, auf welchen Ebenen sie durchzuführen sei. In diesem Zusammenhang standen die Dotation der Kirchen durch den Staat, der konfessionelle Religionsunterricht und die konfessionellen Lehrerseminare, schließlich die Rolle des summus

und ihre Revision 1 8 5 3 . Theologische, kirchliche und politische Hintergründe einer Kirchenordnung nach der Revolution von 1 8 4 8 , in: J G N K G 9 0 . 1 9 9 2 , S. 1 3 5 - 1 5 8 . In Preußen kam es zu einem funktionierenden kirchlichen Konstitutionalismus erst seit den siebziger Jahren (vgl. Nipperdey, Religion, S. 88ff.). 15

Vgl. P. Landau, Die Entstehung des neueren Staatskirchenrechts in der deutschen Rechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: W . Schieder (Hg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1 9 9 3 , S. 2 9 - 6 1 ; Nipperdey, Religion, S. 84f.

16

Vgl. v. Reeken, Kirchen, S. 3 3 - 3 6 .

17

Vgl. Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 4 7 4 - 5 0 1 .

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episcopus als Programmpunkte auf der kirchenpolitischen Tagesordnung. 18 4. Der Kirchliche Liberalismus als politisch-gesellschaftliche Reformbewegung. Waren liberale Pfarrer und Theologen bis zur Jahrhundertmitte vornehmlich mit den im engeren Sinne religiösen und theologischen Fragen einer Emanzipation des bürgerlichen Subjekts sowie den kirchenpolitischen Fragen der Kirchenreform beschäftigt, weitete sich der Kirchliche Liberalismus zunehmend auch zu einer politisch-gesellschaftlichen Reformbewegung aus. Das heißt nicht, daß die seit jeher zentralen Aspekte der Religions-, Theologie- und Kirchenpolitik keine Rolle mehr spielten. Sie waren aber nur noch zwei bzw. drei Faktoren neben vielen anderen. Zu den - gewissermaßen klassischen - Themenbereichen der innertheologischen und innerkirchlichen Selbstverständigung kamen jetzt andere, weit in die Politik hineinreichende Problemstellungen hinzu. Diskutiert wurden die Fragen der Schulpolitik: die unterschiedlichen Konzeptionen der Simultan- und der Konfessionsschule etwa. Weitere wichtige Themen waren die Stellung der Frau in der Gesellschaft, das politische Engagement des Christen in der „Welt", das Verhältnis von christlicher Ethik und Politik, die Bedeutung von Vereinen als Mittel der Gesellschaftspolitik, das Problem des Staatsbürgertums und der Staatsbürgerrechte, das Verhältnis von Nation und Konfession. Vor allem auch die Sozialpolitik bzw. die „Soziale Frage" beanspruchten mehr und mehr das Interesse des Kirchlichen Liberalismus.19 Die daran ablesbare Komplexitätssteigerung kirchlich-liberaler Interessen war aufs engste verbunden mit einer auch organisatorischen Ausweitung. Das zeigte sich zunächst an der Entstehung einer Vielzahl von Vereinen. Liberale akademische Vereine vornehmlich junger Theologen, wissenschaftliche Predigervereine, religiöse Zusammenschlüsse und Kirchenparteien (wie etwa der Protestantenverein, der Evangelische Bund sowie eine Vielfalt kirchenparteilicher Vereinigungen auf landeskirchlicher Ebene), auch liberale Vereine der äußeren Mission entstanden. Die Gustav-Adolf-Vereine, deren Gründung zwar weit in die erste Jahrhunderthälfte zurückreichte, erfuhren eine enorme Ausbreitung. Hinzu kam das Engagement von Liberalen in der zunächst eher konservativen Inneren Mission, darüber hinaus in politischen Parteien. Schließlich ist die publizistische und zum Teil auch personelle

18

"

Ebd., S. 501-525; Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 94f. Vgl. Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 458-555; Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 2 3 2 - 2 5 0 , 2 6 4 - 2 7 5 .

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Unterstützung politischer Parteien (so der National- und Linksliberalen oder von Naumanns Nationalsozialem Verein) durch die liberalen Kirchenparteien hervorzuheben. In Baden gelangte - das ist für den Inhaltswandel des Liberalismus wichtig - eine freikonservative Pfarrerbewegung, die sog. „Karlisten", zu einer gewissen Bedeutung. Sie rekrutierte sich aus vielen vom Liberalismus enttäuschten Pfarrern und verfolgte das Ziel, eine evangelische Volkspartei zwischen Nationalliberalismus und Konservativismus zu gründen. Mit alldem ist der Prozeß einer sich zunehmend verdichtenden kulturellen und politischen Vergesellschaftung des liberalen Protestantismus bezeichnet.20 Auf die Einzelheiten dieses Prozesses und die daran studierbaren inhaltlichen und organisatorischen Sezessionen ist an dieser Stelle nicht näher einzugehen. Statt dessen soll, wie das eingangs formuliert worden ist, dem Verhältnis von charakteristischen Positionen Naumanns und dominanten Strömungen innerhalb des Kirchlichen Liberalismus nachgegangen werden. Hierbei werden die Grundspannungen im Mittelpunkt stehen, die Naumann von bedeutenden kirchlich-liberalen Gruppen und Positionen trennte. Andererseits gab es wichtige verbindende, hier ebenfalls zu skizzierende Elemente, die sich für eine erfolgreiche Unterstützung von Naumanns politischen Zielen aber nicht umsetzen ließen.

II. Friedrich Naumann im Rahmen einer Geschichte des Kirchlichen Liberalismus 1. Zur religiösen und theologischen Prägung Friedrich Naumanns. Das religiöse und theologische Denken Naumanns ist nie traditionell religiös gewesen. Zum Studium der Theologie auf „Wunsch" und in der „Tradition" der Familie gekommen, lehnte Naumann bereits als Student in Leipzig und Erlangen die „traditionell-kirchlichen" Theologen ab. Er ließ sich statt dessen viel stärker vom Subjektivismus der Glaubenserfahrung leiten, die er vor allem in der Lehre des „empirischen" Theologen Franz Hermann Reinhold Frank in Erlangen kennengelernt hatte. Auch in den späteren Jahren hat sich Naumann nie für die dog20

Vgl. J.-Chr. Kaiser, Die Formierung des protestantischen Milieus. Konfessionelle Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert, in: O. Blaschke u. F.-M. Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen, Gütersloh 1 9 9 6 , S. 2 5 7 2 8 9 ; C. Lepp: Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes, Gütersloh 1 9 9 6 ; Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 2 0 8 - 3 0 7 ; Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 5 0 - 7 4 .

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matisch-theologischen Fragen interessiert. Er war schon bald fasziniert von der empirischen und historisierenden Richtung innerhalb der Theologie; frühzeitig verwarf er die Anschauungen der kirchlichen Orthodoxie und eine als „heuchlerisch und rückständig empfundene ... Kirchlichkeit". Mit Interesse verfolgte er den Fortgang der religionsgeschichtlichen Forschung und „suchte, dem Geiste seiner Zeit entsprechend, den Sinn der christlichen ,Religion' individuell und fern aller Dogmatik auszulegen". 21 Fragt man in einer systematischen Perspektive nach den verbindenden Elementen Naumannscher und der vorn skizzierten kirchlich-liberalen Positionen, ergeben sich vor allem folgende Gemeinsamkeiten: die weitgehende Subjektivität und Autonomie des religiösen Selbstverständnisses sowie die Auffassung vom Christentum als einer sich permanent entwickelnden, dabei aber äußerst integrationsfähigen, für neue Erkenntnisse (etwa den Darwinismus oder die moderne Naturerkenntnis offenen) Religion. Damit verbunden war eine Umdeutung vieler traditioneller Begriffe: Das „Reich Gottes" wurde als eine weitgehend immanente Realisation der Kulturentwicklung gefaßt. Gott erschien als Weltgeist und das Gebet als eine innerliche Besinnung. Die generelle Skepsis gegenüber den überkommenen Begriffen war auch mit der Vorstellung verbunden, daß es sich beim Glauben mehr um eine Grundstimmung der Seele, denn um eine Orientierung an kirchlichen Lehrformeln handelte. 22 Vergleicht man solche Positionen etwa mit den Aussagen, wie sie von den abweichenden Pfarrern in den sog. „Fällen" vorgetragen wurden, ist hier eine weitreichende Entsprechung festzustellen. 23 Trotz dieser emanzipatorischen Neufassung des Glaubens glich Naumanns religiöses Denken aber nicht einem schrankenlosen Subjektivismus. Auch in dieser Hinsicht lassen sich Anknüpfungspunkte an Grundpositionen innerhalb des Kirchlichen Liberalismus erkennen. Beispielhaft sei auf Entsprechungen hingewiesen, wie sie sich aus der Analyse der bereits zitierten „Briefe über Religion" aus dem Jahre 1903 und einer programmatischen Schrift des liberalen Heidelberger Theologen Heinrich Bassermann aus dem Jahre 1883 unter dem Titel „Die Bedeutung des Liberalismus in der evangelischen Kirche" ergeben. Die Schrift Bassermanns ist besonders deshalb herauszugreifen, weil ihr Verfasser 21

Vgl. W . Conze, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit ( 1 8 9 5 - 1 9 0 3 ) , in: W . Hubatsch (Hg.): Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, Düsseldorf 1 9 5 0 , S. 3 5 5 - 3 8 6 , 381ff., Zitate ebd.

22

Vgl. F. Naumann, Briefe über Religion ( 1 9 0 3 ) , Berlin 1 9 0 4 3 , S. 15f., 2 0 .

23

Vgl. hierzu die Literatur in Anm. 11.

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langjähriger Leiter des Heidelberger Predigerseminars war und ihm in dieser Funktion ein großer Einfluß auf viele junge Theologen der Naumannschen Pfarrergeneration zukam. 24 Bassermann hatte in seiner Schrift einerseits den „Freiheitsanspruch" und die „Selbständigkeitsrechte des Einzelnen" als konstitutive Faktoren des Liberalismus deutlich herausgestellt, andererseits aber betont, daß die Selbständigkeit des Denkens und religiösen Empfindens nicht in einen schrankenlosen Subjektivismus ausufern dürfe. 25 Diese Auffassung kam einer elastischen Verhältnisbestimmung zwischen der Subjektivität, der Freiheit und der Autonomie des Glaubens einerseits sowie den „positiv gegebenen Grundlagen" der Kirche andererseits gleich. 26 Das entsprach sehr weitgehend der Position Naumanns in den „Briefen" zwanzig Jahre später, in denen er trotz seines grundlegenden Bestrebens, die Religion als eine sich permanent fortentwickelnde Größe darzustellen, in wichtigen Punkten an der Tradition festhielt: Ausdrücklich betonte er, daß die Reste des altkirchlichen Lehrsystems schon deshalb nicht vollständig aufzugeben seien, weil sich der moderne Glaube eben aus der alten Kirchenlehre entwickele. Die Verbindung zwischen modernem Glauben und historischer Überlieferung sah Naumann besonders in der Orientierung an der Person Jesu gegeben. Während alle anderen Glaubensüberzeugungen letztlich nebensächlich seien, garantiere die Orientierung an Jesus die Zugehörigkeit zur „christlichen Gesamtreligion". Wie genau sich Naumann Jesus dabei vorstellte, wurde kaum expliziert. Er interpretierte ihn aber, wie viele der modernen Theologen, in einer rationalistisch-anthropologischen Lesart. Auf keinen Fall wollte er ein dogmatisches Jesusbild entwickeln. 27 Zum Bemühen, religiöse Liberalität und Tradition miteinander zu verbinden, paßte schließlich die Auffassung Naumanns, als moderner Mensch in der Kirche zu bleiben, selbst wenn vieles an dieser Kirche zu kritisieren sei. 28 In diesem Zusammenhang läßt sich bei Naumann auch das resultierte aber eher aus lebensgeschichtlichen Prägungen als aus theologischen Überlegungen - eine fest verankerte Überzeugung von der „inneren Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche" nachweisen. Dieses mentale Selbstverständnis war so stark ausgeprägt, daß es selbst 24

Vgl. H. Bassermann, Die Bedeutung des Liberalismus in der evangelischen Kirche, Wiesbaden 1 8 8 3 .

25

Ebd., S. lOf.

26

Ebd., S. 2 0 .

27

Vgl. Naumann, Briefe, S. 1 6 - 1 9 .

28

So etwa formuliert im Zusammenhang der „Fälle" Carl Jatho und Gottfried Traub. Vgl. Naumann, Werke, Bd. 1, S. 834f.

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durch Maßnahmen der Kirchenleitung nicht erschüttert werden konnte, die er, wie im „Fall" seines Freundes Gottfried Traub, für prinzipiell falsch hielt und scharf kritisierte.29 2. Das Problem der Kirchenpolitik. Die mentale Verbundenheit mit der Kirche implizierte aber keineswegs, daß sich Naumann in seinen Schriften mit der Kirche als Institution intensiver beschäftigt hätte. Fragen des innerkirchlichen Reformprozesses interessierten ihn so gut wie gar nicht. Und in weiten Phasen seines Lebens hat er sich nicht als ein Kirchenpolitiker verstanden. Zwar gibt es immer wieder Äußerungen, in denen er sich gegen eine „kirchliche Zwangsorganisation" und gegen ein „Zwangsbekenntnis" aussprach. 30 Das blieben aber weitgehend Allgemeinplätze, ohne konkrete Vorstellungen über die Veränderung der innerkirchlichen Partizipationsstrukturen. Schaut man sich seine Artikel an, in denen er sich explizit mit der Kirche auseinandersetzte, klingt darin immer nur die Vorstellung von der Kirche als einem „freien Gesinnungsverband" - ohne konfessionelle Festlegung - an. 31 Statt einer konfessionellen oder religiösen Fixierung sollte in der „Kirche der Zukunft" etwa der religiösen Musik eine besondere Bedeutung zukommen. Wurde ferner die alte Form der Predigt zwar nicht verworfen, stellte Naumann gleichberechtigt daneben die „freie Rede". Der Gegensatz von „Pfingstgeist" und „Kirchengeist" wurde beschrieben. Und er vertrat die Auffassung, daß der Protestantismus, den er einerseits als ein religiöses Gefühl und den Ausdruck freier Frömmigkeit, andererseits als den entscheidenden religiösen Hintergrund für die Gestaltung der modernen Welt und die Herausbildung eines nationalen Kulturideals begriff, letztlich ohne einen Kirchenbegriff auskomme. Es entspreche nicht dem Protestantismus, sich zu viel um die Kirche zu sorgen, heißt es an einer Stelle. Oder auch: „Nicht die Kirche" habe „das neue deutsche Reich gegründet, sondern jener Idealismus, der mit Kant und Schiller angefangen hat. Aus jenen Geschlechtern der Individualisten wuchs das neue Volkstum, an das man vorher kaum glauben konnte. Die Wiedergeburt des deutschen Volkes begann nicht an den Altären, sondern an den Kathedern; dort saß der wahre Protestantismus. Es wird aber für den organisierten Protestantismus nötig, daß er nun bald die Größten, die auf seinem Boden gewesen sind, daß er unsere

29

30 31

Vgl. Th. Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit (1937), München u. Hamburg 1968 3 , S. 297-307, Zitat 306. Naumann, Werke, Bd. 1, S. 773; Heuss, Naumann, S. 297. Naumann, ebd., S. 773.

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großen Idealisten hineinträgt in den Glauben des Volkes." 32 Mit alldem sind bei Naumann einerseits durchaus Anklänge an die Visionen des älteren Kulturprotestantismus im Sinne Richard Rothes, andererseits an die Theologie Schleiermachers zu erkennen, der die Religion u.a. als die Beschreibung des frommen Gefühls charakterisiert hatte. Kirchenpolitisch waren Naumanns Äußerungen allenfalls insoweit, als er sich in einigen Artikeln zwischen 1900 und 1918 für eine strikte Trennung von Staat und Kirche aussprach. Solche Äußerungen blieben aber äußerst randständig und finden sich eher versteckt in Artikeln, in denen es um den Glauben, die Religion oder den religiösen Liberalismus geht. Die Kirche erschien als eine Gesinnungsgemeinschaft mit Vereinsstatus. In diesem Zusammenhang sprach sich Naumann auch für die Abschaffung der Staatsdotationen und die finanzielle Unabhängigkeit der Kirche aus. Der religiöse Unterricht sollte, nach dem Vorbild Amerikas, von den Kirchen selber übernommen werden. Auch wurde das Summepiskopat als überholt herausgestellt. Andererseits findet sich die Vorstellung, daß die Frage der äußeren Organisation der Kirchen (staats-, freikirchlich oder als Sekte) für die den Glauben und die Religion völlig gleichgültig sei.33 Das nur sehr geringe Interesse Naumanns an der Kirche bedeutete schließlich, daß er den innerkirchlichen theologischen Auseinandersetzungen (mit Ausnahme der beiden bereits erwähnten „Fälle" Jatho und Traub) eine nur sehr geringe Aufmerksamkeit widmete, sich zumindest in die Debatten über Bekenntnisstand und Bekenntniswahrung nicht einmischte. Seine insgesamt auffällige Zurückhaltung in kirchenpolitischen Fragen änderte sich auffälligerweise erst in seinem letzten Lebensjahr, als er, wie Theodor Heuss das formuliert hat, „führend, ratend, vermittelnd mit vollem persönlichen Einsatz dafür wirkte, ... den christlichen Kirchen die Lebensmöglichkeiten im neuen staatlichen Verfassungsrahmen zu sichern". 34 Kontrastiert man Naumanns kirchenpolitische Zurückhaltung mit den grundlegenden Entwicklungsprozessen des Kirchlichen Liberalis-

32

33 34

Vgl. Heuss, Naumann, S. 300ff.; das letzte Ziatat ebd., S. 300; desweiteren Naumann, Werke, Bd. 1, S. 564f., 834f.; S. 942f. Vgl. Naumann, Werke, Bd. 5, S. 397; ebd., Bd. 1, S. 773, 5 6 5 , 943. Vgl. Heuss, Naumann, S. 303-307; Zitat S. 307. Vgl. auch F. Naumann, Staat und Kirche. Rede in der Nationalversammlung vom 17. Juli 1919, in: E. Heilfron (Hg.): Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, Bd. 6, 59. Sitzung, S. 4 0 2 0 - 4 0 3 2 ; zum Gesamtzusammenhang K. Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen (1981) 1988 2 , S. 72-81.

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mus, zeigt sich sofort, daß die Entwicklung in eine völlig andere Richtung ging und Naumanns spätes kirchenpolitisches Engagement für viele Kirchlich-Liberale eindeutig zu spät kam, um in Naumann einen möglichen Bundesgenossen zu sehen. Nach der kirchenkritischen Ära des liberalen Kulturprotestantismus, der noch ganz in der Tradition Richard Rothes stand, zeichnete sich eine immer bedeutsamer werdende Tendenz ab, die Religion auch in der modernen Welt wieder stärker an die Kirche zurückzubinden. Für die Pfarrer verstand sich das schon aus professionspolitischen Interessen fast von selbst. Aber auch darüber hinaus: Im Zuge einer zunehmend als Bedrohung empfundenen Entwicklung der konkurrierenden sozialmoralischen Milieus und der Entkirchlichung begannen sowohl Liberale als auch Konservative, sich um die Kirche zu sammeln und auf deren praktische Aufgaben zu besinnen. Die Kirche wurde zu einer Bastion für die Verteidigung und Aufrechterhaltung eines religiösen und theologischen Liberalismus, der Tradition und Modernität, Freiheit und Gebundenheit miteinander verbinden wollte. Während die Konservativen die Kirche schon seit eh und je als das Gravitationszentrum der modernen Welt betrachteten, verfestigte sich auch im Kirchlichen Liberalismus zunehmend die Überzeugung, daß man sich nur von der sicheren Ausgangsbasis einer unangefochtenen Stellung der Kirche her den Problemen in Politik und Gesellschaft angemessen stellen könne. 35 Das hatte, wie das vorn dargestellt worden ist, sowohl Folgen für den innerkirchlichen Reformprozeß (Verbreiterung der Partizipationsrechte, Bürokratiekritik) als auch für die äußere Stellung der Kirche, sprich: die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche. Während viele der älteren Kulturprotestanten für eine weitreichende Trennung von Kirche und Staat eingetreten waren, zeigte sich insbesondere seit der Jahrhundertwende eine deutliche Tendenz, auf diesem Wege nicht fortzuschreiten, sondern das bestehende System einer nur relativen Trennung (mit den Faktoren Staatsdotation, konfessioneller Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen und kirchliche Fachaufsicht, konfessionelle Lehrerseminare, Summepiskopat) aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck stand die Mehrzahl der Kirchlich-Liberalen in Baden etwa politisch hinter der Nationalliberalen Partei; andere Liberale wandten sich der er-

35

Vgl. Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 4 3 4 - 4 4 7 ; sowie vorn die Schrift von Bassermann, Liberalismus. Die Bedeutung der Kirchenpolitik als wichtiges Element des kirchlich-liberalen Selbstverständnisses wird auch von Hübinger mit Blick sowohl auf den Protestantenverein als auch die jüngeren Kulturprotestanten im Umkreis der „Freunde der Christlichen W e l t " herausgestellt (vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 1 2 9 - 1 4 2 , 138f.).

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wähnten freikonservativen Oppositionsbewegung, dem Karlismus, zu, die in der Kirchenfrage aber beide für den status quo optierten. Alle weiterreichenden Trennungsabsichten, wie sie die Sozialdemokratie und auch Naumann vertraten, wurden dagegen kategorisch abgelehnt.36 3. Das Verhältnis von Religion und Politik. Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche waren - in einer übergeordneten theoretischen Perspektive - unmittelbar verbunden mit der grundlegenden Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik. In dieser Hinsicht ist zunächst herauszustellen, daß sich Naumann keineswegs, wie das oft behauptet worden ist, seit der Jahrhundertwende von der Religion verabschiedet hat. Die Religion blieb für ihn eine maßgebliche Instanz und ein Antrieb auch für das politische Handeln. Dieses Verständnis der Religion kam aber eher einer zivilreligiösen Auffassung nahe. Selbstverständlich war Naumann davon überzeugt, daß jeder politischen Überzeugung eine religiöse Überzeugung innewohnte.37 So stellte der religiöse Liberalismus nach seinem Verständnis geradezu die Grundlage für den politischen Liberalismus dar. Beide vertraten einen unaufgebbaren Freiheitsanspruch des Individuums, den Gedanken der Autonomie und Selbstbestimmung sowie des Fortschritts.38 Andererseits trat Naumann trotz dieser Analogie der Ziele für eine funktionale und organisatorische Trennung von Politik und Religion ein. Das bedeutete zum einen, daß die Politik keinen konfessionellen Sonderinteressen zu entsprechen hatte; sie hatte sich aber für die Freiheit und die Gleichheit aller Staatsbürger einzusetzen. Zum anderen bedeutete die organisatorische Trennung, daß auch die Kirchen bzw. die Kirchenparteien, die religiösen Vereine und Organisationen „nichts Parteipolitisches leisten" dürften. Wörtlich heißt es bei Naumann: „Ich meine, es wäre direkt falsch, wenn irgendwelche religiösen Vereine sich gleichzeitig als ein Stück der politischen Maschine auftun wollten. Sie gewinnen nichts dabei, und für die Politik macht ihre direkte Agitation auch nicht viel aus". Die kirchlichen Vereine sollten statt dessen nur für die „innerkirchlichen Fragen" da sein. Und er war davon überzeugt, wenn die Vereine diese Aufgabe „ehrlich und gründlich im Sinne der Menschheitsideale und der rückhaltlosen Achtung vor dem einzelnen

Vgl. Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 4 7 4 - 5 1 3 . Vgl. W. Pentz, The Meaning of Religion in the Politics of Friedrich Naumann, in: P. Garett u.a. (Hg.): Papers of the Nineteenth Century Theology Group, Bd. 2 3 , Colorado 1997, S. 3-27. ·'« Vgl. Naumann, Werke, Bd. 1, S. 773-801. 36

57

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Menschen" betreiben würden, dann „können sie an sozialer und freiheitlicher Gesinnung Unendliches geben, was sich später in die Praxis der politischen Parteien von selbst" umsetzen würde. 39 Das Modell, das hier dahinterstand, war eine strikte Aufgabenteilung von Politik und Religion, ganz im Sinne der lutherischen ,Zweireichelehre'. Es gibt unterschiedliche Aufgaben, die in der Welt zu erledigen sind. Nicht, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun hätte. In beiden Bereichen gibt es selbstverständlich eine christliche oder auch religiöse Verantwortung, so wie bei Luther hinter beiden Bereichen der eine Herrschaftswille Gottes steht. Der entscheidende Punkt war lediglich, daß für die praktischen Erfordernisse des politischen und religiösen Handelns beide Bereiche voneinander zu trennen sind. Diese Grundhaltung Naumanns widersprach nun aber fundamental der Politik der liberalen Kirchenparteien in Baden. Baden konnte als das Land der politischen Pastoren gelten. Diese hatten sich seit den 1860er Jahren immer wieder für die Politik vor allem der Nationalliberalen Partei eingesetzt. Zum Teil fungierten sie sogar als deren Vertrauensmänner. Und es erschienen immer wieder Artikel in den Kirchenzeitungen, in denen man sich für die Politik des herrschenden Nationalliberalismus aussprach. Wenn man Naumanns Verhältnisbestimmung von Religion und Politik, wie das gerade geschehen ist, mit dem Modell der Lutherischen .Zweireichelehre' charakterisieren will, so entsprach das Selbstverständnis der badischen Liberalen eher dem Modell einer Politischen Theologie - mit dem Anspruch einer kirchlichen oder auch nur kirchenparteilichen Beeinflussung der öffentlichen Angelegenheiten. Im badischen Protestantismus spielten auch Elemente einer ,ReichGottes-Theologie', die davon ausging, die Welt mit dem Geiste des

39

Ebd., Bd. 1, S. 800f. Naumann reagierte an dieser Stelle auf die innerhalb des süddeutschen Protestantismus einflußreiche Schrift des Heidelberger Pfarrvikars und Jungliberalen Rudolf August Wielandt, Der politische Liberalismus und die Religion. Eine Mahnung an den deutschen Liberalismus, Göttingen 1 9 0 8 . Wielandt hatte in seiner Schrift darüber geklagt, daß die Religion für die Liberalen immer unwichtiger geworden sei. Nachdem sich die „politische und religiöse Begeisterung" früher noch gepaart hätten, betrieben die Liberalen heute nur noch „Interessenpolitik". Zur Diskussion über Wielandts Schrift in Baden auch Korrespondenzblatt der Landeskirchlichen Vereinigung 1 9 0 9 , S. 14f.; sowie der Artikel von Friedrich von Oertzen über „Die badischen Pfarrer und die Politik", ebd., S. 2 5 - 3 0 ; ferner Deutsche Reichspost. Zentral-Organ der Konservativen Süddeutschlands v. 1 6 . 8 . 1 9 0 9 . Zur Klage über die religiöse Indifferenz des politischen Liberalismus auch P. Mehlhorn, Art.: Protestantenverein, Deutscher, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 1 6 , 1 9 0 5 3 , S . 1 3 4 .

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Christentums sukzessive zu durchdringen, eine nicht unbedeutende Rolle.40 Dieser unterschiedlichen Auffassung entsprachen zum Teil auch andere Auffassungen in der Frage des Verhältnisses von christlicher Ethik und Politik. Während Naumann in Anlehnung an Max Weber und Rudolf Sohm die Unvereinbarkeit der neutestamentlichen Wertvorstellungen mit den machtstaatlichen sowie auch den sozialen und ökonomischen Interessen innerhalb der Klassengesellschaft betonte, traten viele badische Pfarrer für die Geltung christlicher Normen und Werte auch im Bereich der Politik ein, ohne freilich beantworten zu können, wie die sittlichen Prinzipien verantwortungsethisch übersetzt werden können. Selbst im Nationalsozialen Verein Badens kam es zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten. So vertrat Ernst Lehmann, einer der herausragenden badischen Pfarrer der jüngeren Generation, den Standpunkt, daß die Politik „grundsätzlich der Ethik untergeordnet" bleibe, und er betonte die Geltung sittlicher Prinzipien wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Verantwortung, Achtung vor dem Nächsten, Menschenrechte, Altruismus und christliche Liebespflicht auch in Anbetracht der „Eigengesetzlichkeiten" ausdifferenzierter Subsysteme.41 4. Das Problem des Sozialen Liberalismus. Ein letzter entscheidender Punkt, der auf die Unvermittelbarkeit Naumannscher Positionen mit denen breiter Teile innerhalb des Kirchlichen Liberalismus verweisen kann, liegt in der Konzeption des Sozialen Liberalismus, mithin im Versuch der Öffnung des Liberalismus nach „links" und der sowohl politischen als auch sozialen Integration der Arbeiterschaft in Politik und Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs. Dieses Konzept der Etablierung eines „proletarisch-bürgerlichen Gesamtliberalismus", der die politischen Kräfte des Kaiserreichs „von Bebel bis Bassermann" zusammenfassen wollte, wurde in Deutschland und selbst im liberalen Baden nur von einem verhältnismäßig kleinen Teil der Kirchlich-Libe-

40

41

Vgl. Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 2 8 4 - 2 9 5 ; 4 5 8 - 4 7 4 ; Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 95-113; Pentz, Meaning, S. 21-24. Vgl. zu Lehmanns Position E. Lorenz: Kirchliche Reaktionen auf die Arbeiterbewegung in Mannheim 1890-1933. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der evangelischen Landeskirche in Baden, Sigmaringen 1987, S. 95-98. Vgl. auch Lehmanns Diskussionsbeitrag anläßlich eines Referats von Pfarrer M a x Christlieb im Wissenschaftlichen Predigerverein Badens im Jahre 1 9 0 2 unter dem Titel „Ethik und Politik" (Bericht über die Thätigkeit des Wissenschaftlichen Predigervereins der evangelischen Geistlichkeit Badens 1902, S. 15-17, Zitat ebd. Z u m Gesamtzusammenhang Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 4 6 9 - 4 7 2 .

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ralen, vor allem aus der Generation der jüngeren Pfarrer, aktiv unterstützt. 42 Diese Geistlichen drängten außer ihrem sozialpolitischen Engagement und der Akzeptanz der Sozialdemokratie u.a. darauf, die Kirche aus ihrer „einseitigen Bindung an das Bürgertum" zu lösen und für sozialpolitische Reformen zu gewinnen. Dazu gehörte in der Regel die Überzeugung, den Klassenkampfgedanken zu akzeptieren, die Zusammenarbeit von christlicher und sozialdemokratischer Arbeiterschaft sowie auch den Eintritt der evangelischen Arbeitervereinsmitglieder in die sozialdemokratischen Gewerkschaften zu befürworten. Beispielhaft für solche Positionen ist hier vor allem auf den Württemberger Landesverband der Evangelischen Arbeitervereine hinzuweisen. Die sozialpolitische Ausrichtung wurde darüber hinaus von führenden Repräsentanten der Naumann-Richtung im Rhein-Main-Gebiet sowie von den im Unterbadischen Bezirksverband der evangelischen Arbeitervereine engagierten liberalen Pfarrern unter der Leitung des bereits erwähnten Ernst Lehmann in Mannheim vertreten. Hinzu kamen einige andere Pfarrer und Vertreter des liberalen Bürgertums aus dem parteipolitisch aber neutralen Badischen Landesverband der evangelischen Arbeitervereine, der zeitweise mit den Württembergern, etwa im gemeinsamen Projekt der „Süddeutschen Arbeiterzeitung", zusammenarbeitete. 43 Daß dieser Kurs von der Mehrheit der liberalen Protestanten nicht mitgetragen wurde, hing zunächst damit zusammen, daß viele in der 42

Vgl. Thiel, Großblockpolitik, S. 2 3 4 - 2 3 9 , 2 3 4 ; Naumann, Werke, Bd. 4 , S. 1 4 1 , 2 1 5 - 2 2 5 . Naumanns Konzept des Sozialen Liberalismus ist in der Forschung immer wieder dargestellt worden, so daß darauf an dieser Stelle nicht detaillierter einzugehen ist. Vgl. dazu vor allem D. Düding: Der Nationalsoziale Verein 1 8 9 6 1 9 0 3 . Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München 1 9 7 2 ; P. Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland ( 1 8 6 0 - 1 9 1 9 ) , Baden-Baden 1 9 8 3 ; K. Holl u.a. (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1 9 8 6 . In vergleichender Perspektive: G. Schnorr: Liberalismus zwischen 19. und 2 0 . Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel von Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1 9 9 1 .

43

Vgl. zu den Richtungen und Debatten innerhalb der Evangelischen Arbeitervereinsbewegung K . M . Hofmann, Die evangelische Arbeitervereinsbewegung 1 8 8 2 - 1 9 1 4 , Bielefeld 1 9 8 8 , S. 6 1 - 8 0 , 1 0 5 - 1 5 1 , hier auch besonders der Konflikt um den sozialpolitischen Kurs Friedrich Naumanns, der zum Austritt des Württemberger Verbandes aus dem Gesamtverband führte; zur Politik der beiden Arbeitervereinsbewegungen Badens grundlegend Lorenz, Reaktionen ( 1 9 8 7 ) , vor allem S. 2 2 - 7 0 ; Ders., Protestantische Reaktionen auf die Entwicklung der sozialistischen Arbeiterbewegung. Mannheim 1 8 9 0 - 1 9 3 3 , in: AfS 16. ( 1 9 7 6 ) , S. 3 7 1 4 1 6 , Zitat 3 7 5 ; sowie Süddeutsche Arbeiterzeitung 1 9 0 3 - 1 9 0 8 .

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sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft eine konkurrierende Lebenswelt und Deutungskultur erkannten, die sie mit dem eigenen protestantischen, vornehmlich an Bildung und Religion orientierten Kulturideal für unvermittelbar hielten. Der Sozialismus wurde von den meisten nicht als ein gesellschaftspolitisches Konzept interpretiert, sondern „einseitig ideen- und religionsgeschichtlich", als die „politische Konsequenz von theoretischem Atheismus und praktischem Materialismus" eingeordnet. Man hob die Diskussion der „Sozialen Frage" von Anfang an auf die Ebene eines schier unvermittelbaren weltanschaulichen Prinzipienstreits, so daß die Lösung konkreter ökonomischer und sozialpolitischer Probleme erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, zur Sprache kam. 44 Mit anderen Worten: Innerhalb des Protestantismus, auch des liberalen Protestantismus, blieb eine tiefsitzende „Kultursperre" oder auch ein fest verankerter mentaler Gegensatz erhalten, dessen Bedeutung als gar nicht groß genug veranschlagt werden kann. Es waren jedoch nicht nur die religionspolitischen Konsequenzen, die die Pfarrer Umtrieben. Gleichzeitig und unmittelbar damit verbunden spielte bei vielen die weitreichende Furcht vor einer Gefährdung der bürgerlichen Ordnung und mit ihr eines bestimmten bürgerlichen Kulturideals als mentaler Abwehrmechanismus eine Rolle. Wie es in der maßgeblich von Vertretern des liberalen Protestantismus gestalteten Süddeutschen Arbeiterzeitung hieß, sah man im Klassenkampfkonzept ein politisches Programm formuliert, das „den deutschen Arbeiter in einen künstlichen Gegensatz zum Bürgertum und damit zum ganzen deutschen Kultur- und Geistesleben" hineintreibe. 45 Auch die badische Kirchenleitung betonte die Gefahren, die „dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft" durch die Sozialdemokratie drohten und vertrat den Standpunkt, daß die Pfarrer auf sozialdemokratischen Veranstaltungen besser nicht sprechen sollten. 46 Die sozialkulturelle Einheit von Bürgertum, Protestantismus und deutscher Kultur stand hier als fest verankerte politische Leitidee im Hintergrund. Die Distanz zwischen sozialdemokratischer Deutungskultur und bürgerlich-liberaler Kulturauffassung zeigt sich sehr deutlich in der Arbeit vieler Arbeitervereine, die zum Teil eher als religiös-kulturelle

44

Zitate nach G. Brakelmann: Kirche, Soziale Frage und Sozialismus 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , Gütersloh 1 9 7 7 , S. 21f. Vgl. auch K. Anschütz: Protestantismus und Arbeiterschaft. Von der Bewältigung des Alltags in St. Georgen im Schwarzwald in den Jahren 1 9 1 4 - 1 9 2 3 , Stuttgart 1 9 9 2 .

45

Süddeutsche Arbeiterzeitung Nr. 1 vom 7 . 1 . 1 9 1 2 .

46

Gesetzes- und Verordnungsblatt für die Vereinigte Evangelisch-protestantische Kirche des Großherzogtums Baden 1 8 9 7 , S. 5 7 .

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Bildungsvereine, denn als sozialpolitische Foren für die Organisation von Arbeiterinteressen charakterisiert werden können. Das gilt vor allem für die „Bochumer Richtung", zum Teil aber auch für einige süddeutsche Vereine. 47 Ein süddeutsches Beispiel ist der Karlsruher „Arbeiterdiskussionsclub". Hier fanden sich Arbeiter, Angestellte, kleine Handwerker, aber auch Vertreter des Bildungsbürgertums sowie liberale Geistliche zusammen, um religiöse und soziale Fragen zu erörtern. Der Leiter der Karlsruher Kunsthalle, Hans Thoma, und auch der im Apostolikumstreit profilierte Pfarrer Georg Längin referierten in dieser Vereinigung über so vielfältige Themen wie „Schiller und Goethe", „Straßburg im 15. Jahrhundert", „Keppler und seine Entdeckungen", „Über den sittlichen Wert der Arbeit", „Jesaja als Volkslehrer und Patriot" etc. Die liberalen Pfarrer verfolgten mit dem Arbeiterdiskussionsclub das Modell einer „Bildungsgemeinschaft" von „hoch und niedrig". Auch im badischen Sandhofen spielte die Sängerabteilung eine entscheidende Rolle für das Ansehen des evangelischen Arbeitervereins, während seine Rolle als sozialpolitisches Diskussionsforum weitaus weniger beachtet wurde. 48 Einschränkend ist jedoch noch einmal zu sagen, daß trotz solcher Beispiele die soziale Aufgabe der evangelischen Arbeitervereine in Süddeutschland und namentlich in Württemberg und Baden stärker als anderswo reflektiert wurde. 49

III. Resümee Die Positionsbeschreibung Friedrich Naumanns im Rahmen einer Geschichte des Kirchlichen Liberalismus zeigt, daß Naumann über weite Strecken seines Lebens vom Gedanken einer religiös-theologischen Emanzipation des Menschen geprägt war. Die Etablierung einer freien Religiosität und die damit verbundene Ablehnung überholter Bekenntnistexte, die Überzeugung von der permanenten Entwicklungsfähigkeit

47

Vgl. P. Göhre: Die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und Ziele, Leipzig 1 8 9 6 , S. 1 2 4 ; Hofmann, Arbeitervereinsbewegung.

48

Vgl. B. Feyerabend, Die evangelischen Arbeitervereine, Diss. Frankfurt 1 9 5 5 , S. 1 5 6 ; H . Pfisterer, Badische Pfarrerpersönlichkeiten, in: G. Wunderer (Hg.): 1 8 9 2 - 1 9 9 2 . Die ersten hundert Jahre. FS zum 100jährigen Jubiläum des Evangelischen Pfarrvereins in Baden e. V., Karlsruhe 1 9 9 2 , S. 1 3 6 - 1 5 3 , 1 4 4 ; Georg Längin weiland Pfarrer der Weststadt Karlsruhe. Zu seinem 10. Todestag, Karlsruhe 1 9 0 7 , S. 2 2 . Z u m Gesamtzusammenhang Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 5 3 3 555.

49

Vgl. Kuhlemann, Bürgerlichkeit, S. 5 3 9 - 5 5 5 ; Hofmann, Arbeitervereinsbewegung, S. 6 1 - 8 0 , 1 0 5 - 1 5 1 , bes. 1 2 2 - 1 2 7 .

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der Religion und die Akzeptanz der historischen Forschung gehörten zu den von Naumann selbstverständlich geteilten Überzeugungen, so daß in dieser Hinsicht von einer weitgehenden Übereinstimmung mit Grundpositionen innerhalb des Kirchlichen Liberalismus gesprochen werden kann. Spannungen und Konfliktzonen ergaben sich dagegen im Hinblick auf die Kirchenpolitik und die Kirchenreform, bei der Verhältnisbestimmung von Religion und Politik sowie in der Beurteilung des Sozialen Liberalismus. Diese Differenzen haben dazu beigetragen, daß Naumann im Kirchlichen Liberalismus keine hinreichende Unterstützung fand und sein politisches Scheitern schon auf dieser Ebene gewissermaßen vorprogrammiert war. Unter den Bedingungen einer grundlegenden Positionsverunsicherung der Kirchen im 19. Jahrhundert, bedingt vor allem durch Säkularisierung und Entkirchlichung, aber auch durch den Bedeutungsgewinn der konkurrierenden sozialmoralischen Milieus wie des Katholizismus und des Sozialismus, war es selbst den im Rahmen des kirchenparteilichen Meinungsspektrums vorpreschenden und der kulturellen Moderne gegenüber aufgeschlossenen KirchlichLiberalen nicht möglich, sich auf eine Politikkonzeption einzulassen, in der den Grundfragen der Kirchenreform und der kirchlichen Existenzsicherung keine hinreichende Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Damit ist freilich noch kein Urteil über die Politikfähigkeit oder Unfähigkeit des Kirchlichen Liberalismus am Ende des Kaiserreichs gefällt. Richtet man den Blick nämlich weniger auf Naumann, sondern auf die politischen und kulturellen Strategien der Kirchlich-Liberalen, hielten die meisten von ihnen an einem bürgerlich-liberalen Kultur- und Politikideal fest, das sie durch die Unterstützung vor allem der Nationalliberalen Partei zum Ausdruck brachten. Umgekehrt setzten sich nationalliberale Abgeordnete nach der Jahrhundertwende immer wieder für die kirchlich-liberalen Interessen, etwa in der Bekenntnisfrage oder im Falle der Besetzung theologischer Lehrstühle, ein, so daß man in mancherlei Hinsicht von einem informellen Bündnis zwischen Kirchlichem und Politischem Liberalismus sprechen kann. 50 Das Kultur- und Politikideal Kirchlich-Liberaler wie auch vieler Nationalliberaler zeichnete sich durch die Überzeugung aus, die Kirche als die nach wie vor

50

Außerhalb Badens läßt sich das etwa anhand der Debatte im Preußischen Abgeordnetenhaus über die „Fälle" der beiden Pfarrer Römer und Cesar im Jahre 1 9 0 7 zeigen, in der die nationalliberalen Abgeordneten Friedberg und Schmieding für den Kirchlichen Liberalismus entschieden Partei ergriffen. Vgl. E. Brinkmann, Eine Pfarrerwahl an St. Reinoldi. Der „Fall Cesar" im Licht der Quellen, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 7 0 ( 1 9 7 6 ) , S. 6 4 107, 101-107.

Friedrich Naumann und der Kirchliche Liberalismus

113

maßgebliche institutionelle Trägerin der Religion anzusehen und darüber hinaus sich ihrer Schutzfunktion zu bedienen, die darin bestand, das nach wie vor kirchlich gebundene Bürgertum gegenüber gefährlich erscheinenden sozialen Veränderungen zu verteidigen. 51 Darin lagen nicht nur die Ursachen für die mangelnde Unterstützung Friedrich Naumanns, sondern gleichermaßen die Schwäche wie auch die Stärke des Kirchlichen Liberalismus bis zum Ende des Kaiserreichs.

51

Vgl. zu letzterem vor allem die Politik der liberalen und konservativen bürgerlichen Kirchenparteien Badens, die sich bei den Kirchenwahlen nach der Jahrhundertwende gegen die „Volkskirchliche Vereinigung", eine lokale Kirchenpartei, deren soziale Basis in der Arbeiter- und Handwerkerschaft Mannheims bestand und deren Bestreben es war, die Kirche aus ihrer einseitigen Bindung an das Bürgertum zu lösen, verbündeten. Vgl. Lorenz, Reaktionen (1976), S. 375-381.

Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation URSULA KREY

„War Friedrich Naumann überhaupt ein Liberaler?" fragt Ralf Dahrendorf, früherer Vorsitzender der gleichnamigen Stiftung 1994 in einem Aufsatzband mit Portraits über „Liberale und andere". 1 Auch wenn er am Schluß seiner Ausführungen einen Beleg dafür findet, „daß jeder Zweifel daran gänzlich unangebracht ist" 2 , scheint es so, als ob sich gerade zur Zeit wieder skeptische Stimmen mehren, die sowohl Naumann als auch die liberale Partei für überholt halten. Das liegt nicht zuletzt an drei Kernproblemen des Liberalismus: erstens an der schwierigen, intern verbindlichen Definition (zwischen national-, wirtschaftsund sozialliberal); zweitens an einer politischen Verortung im Spektrum der miteinander konkurrierenden Weltanschauungen (wie Konservativismus, Katholizismus und Sozialdemokratie) und drittens an seiner Verkörperung durch Einzelpersonen (zum Beispiel Eugen Richter, Theodor Barth und Friedrich Naumann) in der spannungsgeladenen, ambivalenten Gesellschaft des Kaiserreichs.3

Zur Wirkung Friedrich Naumanns Wie lassen sich diese Spannungen, Widersprüche und Gegensätzlichkeiten im Liberalismus als Ideengerüst und in seiner gesellschaftlichen 1

Ralf Dahrendorf: Liberale und andere. Portraits, Stuttgart 1 9 9 4 , S. 151.

2

Ebd., S. 159.

3

Grundlegend vgl. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1 9 8 8 ; ders. und Lothar Gall (Hg.): Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995; Karl Holl / Günter Trautmann / Hans Vorländer (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986; James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus. V o n den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1 7 7 0 - 1 9 1 4 , München 1983. Zur Gesellschaft des Kaiserreichs siehe Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. III: V o n der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1 8 4 9 - 1 9 1 4 , München 1995.

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Verwirklichung verstehen? Auf der Suche nach schlüssigen Antworten kommen nur wenige um die einzigartige Persönlichkeit N a u m a n n s herum. Theodor Heuss würdigte seinen Lehrer als „die interessanteste und facettenreichste Figur der wilhelminischen Epoche" und beschrieb ihn mit den Worten: „Er brachte eine saubere Luft mit, in die Politik wie in die geistige Auseinandersetzung; seine Überlegenheit, ohne herrscherliche Anmaßung, schuf den Zwang zur Sachlichkeit." 4 Derartige Beschreibungen geben zugleich Aufschluß über verkrustete Strukturen im politischen und akademischen Leben sowie über einen Mangel an identifikationsfähigen Vorbildern. Dennoch ist erstaunlich, wie einhellig der Grundtenor im Chor der Zeitgenossen war, die N a u m a n n verehrten. So bekannte Ludwig Curtius in seinen Memoiren: „Den wunderbaren M a n n selbst hörte ich nie auf zu lieben. Alle die politischen Parteipersönlichkeiten, die ich im Laufe der Jahre in seiner Nachbarschaft kennenlernte, schrumpften neben ihm beinahe in reines Nichts zusammen." 5 Otto Nuschke begriff ihn als epochenübergreifenden Repräsentanten: „Friedrich N a u m a n n war einer, der deutsche Kultur und Geschichte in ihrer Ganzheit in sich aufgenommen. In ihm vereinten sich politische Erkenntnis, wirtschaftliches Wissen, theologische Gelehrtheit und künstlerische Gestaltungskraft in einer Vollendung und Harmonie, wie es nur wenigen Sterblichen zuteil wird." 6 Willy Hellpach charakterisierte in einem persönlichen Brief N a u m a n n als „Präzeptor der demokratischen Ideale." 7 Gustav Schmoller nannte ihn 1912 einen „Propheten der sozialen R e f o r m " 8 und Rudolph Sohm stilisierte ihn sogar zum „Magister Germaniae". 9 Solche Äußerungen zeichnen das Bild einer abgehobenen Persönlichkeit von einsamer Größe. Auf den ersten Blick entspricht auch der viel4

5

6 7

8 9

Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. 536. Ludwig Curtius: Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1950, S. 163. Otto Nuschke: Friedrich Naumann, Berlin 1919, S. 1. Nachlaß Friedrich N a u m a n n (Bestand Ν 3001) im BA Berlin, Nr. 3 0 9 , Bl. 113, Briefdatum: 2 5 . 5 . 1 9 1 0 . Gustav Schmoller: Charakterbilder, München und Leipzig 1913, S. 302. Zit. nach Otto Nuschke (wie Anm. 6), S. 3. Theodor Heuss erinnert sich dagegen „mit völliger Deutlichkeit, als der ehrwürdige Rudolf Sohm, der wahrhaft kein Schwätzer war, 1903 Naumann, gleichviel ob er tagespolitisch erfolglos war, im Ethisch-Politischen den .praeceptor Germaniae' nannte." Ders.: Fr. N a u m a n n und sein Vermächtnis an unsere Zeit, in: Axel Hans Huber (Hg.): D. Friedrich N a u m a n n . Katalog der Gedächtnisausstellung in Heilbronn anläßlich seines 100. Geburtstages am 25. M ä r z 1960, Heilbronn 1962, S. 19-26, hier S. 22.

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zitierte Beileidsbrief seines Freundes Max Weber an die Witwe Naumanns dieser Einschätzung, in dem er ausführte: „Immer wieder hat man sich menschlich daran aufgerichtet, daß ... jemand existierte, den die Politik nicht menschlich erstarrt, mechanisiert, brutal oder raffiniert gemacht hatte. ... Die stolze Bescheidenheit seines Wesens verbot es fast, ihm zu sagen, was seine Ritterlichkeit, Gelassenheit, Wärme und Erfülltheit uns rein persönlich bot, wie adelnd er in den Diskussionen und Kämpfen unseres öffentlichen Lebens wirkte, wie ungeheuer viel größer sein Sein war als sein Wirken und sein Wirken wiederum als sein äußerlicher Erfolg. ... Die Größe seiner Erscheinung lag nicht in dem, was er wollte, sondern wie er es wollte und wie er seine Sache führte.... Und unverloren bleibt vor allem die Tatsache: daß ein Mensch sich innerlich so selbst behauptete in einer Zeit, die für ihn nicht geschaffen war. Entweder er kam zu früh oder zu spät." 10 Doch gerade diese Kondolenzworte haben die Aufmerksamkeit auf einen wunden Punkt gelenkt: nämlich auf die Frage des vordergründigen Erfolgs, der Durchsetzungskraft und langfristigen Wirkungen Naumanns. Spätere Diskussionen entzündeten sich an der Frage nach der Tragweite Naumanns in seiner Zeit und über seine Zeit hinaus. Werner Stephan kommentierte: „Aber diese Ausstrahlung des Seins kann in späteren Generationen nicht spürbar werden. Selbst Max Liebermanns schönes Naumann-Gemälde ruft nicht Stimmungen hervor, wie die Zeitgenossen sie empfanden. Nicht mehr der Mann kann heute wirken, sondern nur das, was er als Schriftsteller geschaffen hat." 11 Karl Barth erinnerte sich 1919 an den Untertitel der Zeitschrift „Die Hilfe", die er auf dem Schreibtisch seines Vaters fand: „Gotteshilfe, Bruderhilfe, Staatshilfe, Selbsthilfe". Diese Worte beeindruckten ihn tief, obwohl er „sie kaum verstand. Man spürte weithin: da ist etwas ganz Starkes, Großes, Neues im Kommen. Aber es kam nicht.... Wenn etwas durch die heutige Weltkatastrophe Lügen gestraft, abgetan und erledigt ist, so ist es die religiöse und politische Gedankenwelt Friedrich Naumanns. Man geht nicht ungestraft so nahe an der Wahrheit - vorbei. Seine Gestalt ist die Verkörperung der tragischen Größe, Schuld und Beschämung nicht nur seines Volkes, sondern unserer ganzen Zeit." 12

10

Zit. nach Theodor Heuss (wie Anm. 4), S. 5 3 4 .

"

Werner Stephan: Friedrich Naumann in unserer Zeit, 5. Aufl., Königswinter 1 9 9 0 , S. 3.

n

Karl Barth: Vergangenheit und Zukunft (Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt), Neuer Freier Argauer, 14. Jg. ( 1 9 1 9 ) , Nr. 2 0 4 u. 2 0 5 , wieder abgedruckt in: Jürgen Moltmann (Hg.): Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner, München 1 9 6 2 , S. 3 7 - 4 9 , hier S. 4 0 u. 4 3 .

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Aus den Worten Barths spricht nicht nur Zorn über die enttäuschten Hoffnungen eines jungen Mannes, sondern auch eine tiefe Ratlosigkeit nach dem gerade miterlebten Ersten Weltkrieg. Werner Conze urteilte demgegenüber nach dem Zweiten Weltkrieg 1950 etwas moderater, gleichwohl kritisch. Er hob Naumanns persönliche Tugenden Ehrlichkeit, Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft hervor, machte ihn aber letztendlich für das Scheitern seiner politischen Mission verantwortlich. Conze sah Naumann als Spiegelbild der inneren Schwierigkeiten des Reiches und seiner gespaltenen Gesellschaft. 13 Theodor Schieder, in den sechziger Jahren Herausgeber von vier Bänden einer insgesamt sechsbändigen Auswahledition, begriff Naumann in erster Linie als Politiker, dessen politische Ideen ihn für die Nachwelt interessant machen, „weniger die Wege, die er, um sie zu verwirklichen, gegangen ist." 1 4 Auch Thomas Nipperdey erkannte Naumanns Einfluß auf den Liberalismus der Vorkriegszeit und die bürgerliche Jugend an, kam jedoch zu dem Schluß, daß Naumanns Wirksamkeit in der Politik sowohl von den intellektuellen Zeitgenossen als auch von den nachgeborenen Historikern allzugern überschätzt würde; er sei vielmehr nicht zuletzt über einen seiner Schüler, Theodor Heuss, zu einer „Art Mythos" geworden. 15 Tatsächlich kommt dem späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss ein wesentlicher Anteil an der Rezeption zu. Er verfaßte in den dreißiger Jahren eine beeindruckende Biographie Naumanns 16 , um seinem verehrten Mentor und Vorbild ein „Denkmal der Dankbarkeit" zu setzen. 17 Diese Absicht soll Heuss' Leistung keinesfalls schmälern, gibt u

Vgl. Werner Conze: Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit ( 1 8 9 5 - 1 9 0 3 ) , in: Walther Hubatsch (Hg.): Schicksalswege Deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, Düsseldorf 1 9 5 0 , S. 3 5 5 - 3 8 6 .

14

Bd. 2 und 3 der Politischen Schriften (Schriften zur Verfassungs-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik) wurden 1 9 6 6 von Theodor Schieder herausgegeben und von Wolfgang J . Mommsen bearbeitet. Die folgenden, ebenfalls von Schieder herausgegebenen Bde. 4 und 5 (Schriften zum Parteiwesen, Mitteleuropaproblem und zur Tagespolitik) wurden von Thomas Nipperdey, Wolfgang Schieder und Alfred Milatz bearbeitet. Vgl. Schieders Vorwort in Bd. 2 , S. I X - X X X , hier S. X I . Siehe auch die Friedrich-Naumann-Bibliographie von Alfred Milatz, hg. von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1 9 5 7 .

15

Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1 8 6 6 - 1 9 1 8 , Bd. II, München 1 9 9 2 , insbes. S. 5 3 1 .

16

Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart 1937.

17

Das persönliche Bekenntnis von Theodor Heuss in seinen Erinnerungen 1 9 0 5 -

Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation

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a b e r a u c h einiges ü b e r die P r o b l e m a t i k seines U n t e r f a n g e n s preis: g a l t es d o c h , R ü c k s i c h t e n a u f L e b e n d e u n d Beteiligte zu n e h m e n , L o y a l i t ä t e n u n d D i s k r e t i o n z u w a h r e n . So zeichnete er ein k o m p l e x e s , u m A u s g e w o g e n h e i t b e m ü h t e s , allerdings a u c h subjektiv eingefärbtes, stellenweise h a g i o g r a p h i s c h a n m u t e n d e s Bild N a u m a n n s , d e m g e g e n ü b e r die a n d e r e n P e r s o n e n in s e i n e m U m k r e i s v e r b l a s s e n . 1 8 D e n n o c h

gebührt

T h e o d o r H e u s s der u n b e s t r e i t b a r e V e r d i e n s t , N a u m a n n v o r d e m V e r gessen b e w a h r t z u h a b e n . E r w a r a u c h m a ß g e b l i c h a n der G r ü n d u n g der „ F r i e d r i c h - N a u m a n n - S t i f t u n g " i m J a h r 1 9 5 9 beteiligt u n d für die H e r a u s g a b e einer s e c h s b ä n d i g e n A u s w a h l e d i t i o n a b 1 9 6 3 v e r a n t w o r t l i c h . 1 9 A l l e r d i n g s wies er bereits in s e i n e m G e l e i t w o r t z u m ersten B a n d d a r a u f hin, d a ß der B r i e f w e c h s e l N a u m a n n s a u f g r u n d der ä u ß e r e n U m s t ä n d e n i c h t b e r ü c k s i c h t i g t w e r d e n k o n n t e . 2 0 D a m i t w a r der Z u g a n g zu einer z e n t r a l e n Q u e l l e n g a t t u n g , in der a u c h a n d e r e P e r s o n e n zu W o r t k o m m e n , für die F o r s c h u n g w e i t g e h e n d v e r s p e r r t . Die o b e n g e n a n n t e n Urteile sind n u r ein kleiner A u s s c h n i t t a u s der schier e n d l o s e n Fülle v o n E i n s c h ä t z u n g e n ü b e r N a u m a n n s W i r k e n u n d

1 9 3 3 , Tübingen 1965, S. 172, lautet wörtlich: „Daß ich ihm, unter großen äußeren Schwierigkeiten, in einer umfangreichen Biographie ein Denkmal der Dankbarkeit errichten konnte, gehört zu den Beglückungen meines Lebens. Die Pflicht meines Seins schien mir mit dieser Leistung, die ein inneres Stück der Geschichte deutscher Zukunft gerettet haben würde, erfüllt." ,8

"

20

Heuss selbst hat diese Problematik in seinen späteren Briefen nachweislich reflektiert, z.B. in einem Brief an Johannes Haller vom 2 0 . 1 2 . 1 9 4 2 , in dem er u.a. schreibt: „Die persönliche Tragik Naumanns, eine ihn völlig lähmende Ehe, konnte von mir nur angedeutet werden. Die Frau lebte noch, als das Buch geschrieben wurde, und Sie müssen sich denken, wie schwierig es war, mit der Tochter, die die Situation völlig übersah, diese Seite des Problems zu formulieren." Nachlaß Heuss im BA Koblenz, Nr. 2 2 1 , Bl. 4 9 2 . Bd. 1: Religiöse Schriften, hg. von Walter Uhsadel (Geleitwort von Theodor Heuss), Köln 1964; Bd. 2: Politische Schriften, hg. von Theodor Schieder (Schriften zur Verfassungspolitik, bearb. von Wolfgang J . Mommsen), Köln 1966; Bd. 3: Politische Schriften, hg. von Theodor Schieder (Schriften zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, bearb. von Wolfgang J . Mommsen), Köln 1966; Bd. 4: Politische Schriften, hg. von Theodor Schieder (Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem, bearb. von Thomas Nipperdey und Wolfgang Schieder), Köln 1966; Bd. 5: Politische Schriften, hg. von Theodor Schieder (Schriften zur Tagespolitik, bearb. von Alfred Milatz), Köln 1967; Bd. 6: Ästhetische Schriften, hg. von Heinz Ladendorf (mit Register der Bände 1-6), Köln 1969. Im Geleitwort führt er als Begründung an: „Freilich, der Nachlaß Friedrich Naumanns ist von mir nach dem Ausbruch des Krieges im Einverständnis mit der Familie an das Reichsarchiv in Potsdam gegeben worden. Von dort, nachdem der Bombenkrieg eingesetzt hatte, wurde er in ein Bergwerk verlagert und nach dem Krieg bis jetzt nicht wieder herausgegeben.", Bd. 1, o.S.

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seiner Bedeutung für die Nachwelt. In der Forschung besteht inzwischen Konsens darüber, daß Naumann exemplarisch für die Widersprüche der wilhelminischen Zeit steht. Eine derartige Annahme trifft ohne Zweifel zu, ist aber nicht genügend spezifisch und trennscharf; denn viele Menschen sind in herausragender Weise Figuren ihrer Zeit, ohne deshalb kreisbildend zu wirken: ein Kreis, der sich aus konservativprotestantischen Traditionen heraus politisch emanzipierte; ein Kreis, der akademische und soziale Schranken überwand; ein Kreis, in dem Naumann keineswegs als abgehobenes geistiges Oberhaupt agierte, vielmehr ständig ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Mehr noch: Er provozierte selbst Widerspruch auf allen institutionellen Ebenen und löste Konflikte mit weitreichenden Konsequenzen aus. Durch den Kreis wurden eine Reihe von unterschiedlich erfolgreichen Projekten ins Leben gerufen. Er mobilisierte eine unübersehbare Anzahl von Menschen, so auch den katholischen Archäologieprofessor Ludwig Curtius: „In meinen entscheidenden Studentenjahren sind Sie mir Leiter geworden. Unaufhörlich habe ich von Ihnen gelernt. Kein Tag war seitdem, an dem ich nicht zu Ihnen gedacht habe, oft mit Widerspruch, oft mich aufbäumend gegen das Zaumzeug Ihrer Logik, manchmal empört über Argumente einer materialistischen Geschichtsauffassung, zuletzt Ihnen immer wieder folgend." 21

Zur analytischen Konzeption In den folgenden Ausführungen wird der Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Wirkung des Naumann-Kreises gelegt. Nach einem kurzen Hinweis auf meinen konzeptuellen Bezugsrahmen beleuchte ich wichtige Stationen der Entwicklungsgeschichte des Kreises, bevor abschließend die Abhängigkeit politischer Emanzipation von der Kohäsionskraft des Charismas erläutert wird. Meine These lautet: Friedrich Naumanns Bedeutung bestand weniger in seiner Persönlichkeit an sich oder in seinen Werken als vielmehr in seiner Fähigkeit, Menschen anzusprechen, zusammenzuführen, sie zu bewegen und lebenslang zu prägen, ihre Erwartungen aufzugreifen und (möglichst adäquat) umzusetzen. Daraus resultiert die Bedeutung des Naumann-Kreises: in der Fähigkeit, Krisen auszulösen, zu erkennen und anzuzeigen. Insofern kam ihm eine wichtige Rolle als Faktor und Indikator für gesellschaftliche Konflikte zu. 21

Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3001), Nr. 6, Bl. 18-19, Briefdatum: 26.9.1914.

Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation

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Die Begriffe „Naumann-Kreis" oder „Naumann-Schule" kursierten ebenso wie „Naumannianer" oder „Naumann-Schüler" bereits zu seinen Lebzeiten und wurden als Selbstbezeichnung von der Forschung aufgegriffen. 22 Im Blickfeld des Interesses standen allerdings immer das Naumannsche Gedankengut und seine Resonanz auf mehr oder weniger berühmte Zeitgenossen. Häufig wurde betont, daß Naumanns Ideen über den engen Freundeskreis hinaus von einer großen Anhängerschaft intensiv rezipiert wurden, ohne die genaueren ideellen und sozialen Verbindungen aufzuzeigen. Theodor Heuss widmete dem Naumann-Kreis in seinen „Erinnerungen 1 9 0 5 - 1 9 3 3 " ein eigenes Kapitel. Er charakterisierte dort einige Personen und schilderte seine Eindrücke und Anekdoten von Eugen Katz, M a x Maurenbrecher, Paul Göhre, Friedrich Weinhausen, Martin Wenck, Paul Rohrbach, Hellmut von Gerlach, Adolf Damaschke, Rudolf Breitscheid und Elly Knapp. 2 3 Damit hat er nur wenige Angehörige des inneren Kerns erwähnt. Hinzu kommt die mangelnde persönliche Distanz; ein Grundproblem, das nicht nur auf Heuss, sondern auf viele seiner Zeitgenossen zutrifft, die in ihren Autobiographien, literarisch oder wissenschaftlich Naumann als Person oder seine Gedanken gewürdigt haben. 2 4 Die Subjektivität der 22

Vgl. dazu die politische Biographie von Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche W e l t p o l i t i k . Friedrich N a u m a n n im Wilhelminischen Deutschland ( 1 8 6 0 - 1 9 1 9 ) , Baden-Baden 1 9 8 3 , der den Kreis als die „Freunde der Hilfe" und als Gründungsmitglieder des Nationalsozialen Vereins identifiziert; ebenso die Studie von Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitikim Wilhelminischen Deutschland ( 1 8 9 0 - 1 9 1 4 ) , Husum 1 9 8 0 , insbes.S. 1 5 7 u. 2 7 8 . Er spricht von „Naumanns akademischem Freundeskreis". Im Kontext anderer Forschungen wird der Naumann-Kreis tendentiell mit pejorativen Wertungen versehen, vgl. als Beispiel Volker Hentschel: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland: organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat, Stuttgart 1 9 7 8 , S. 1 6 9 , der die „kleine, stets etwas desorientierte Gruppe um N a u m a n n " erwähnt. Siehe exemplarisch die ausführlichen und anschaulichen Schilderungen bei Marianne Weber: M a x Weber. Ein Lebensbild, M ü n c h e n 1 9 8 9 , bes. S. 2 3 3 f f . Vgl. auch den Hinweis auf die „Schule N a u m a n n " in einem Brief von Constantin von Z a s t r o w an Martin Rade vom 9 . 8 . 1 9 3 0 , abgedruckt bei Anne Nagel: Martin Rade - Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie, Gütersloh 1 9 9 6 , S. 2 8 3 - 2 8 6 , hier S. 2 8 6 .

23

Vgl. T h e o d o r Heuss, Erinnerungen 1 9 0 5 - 1 9 3 3 , Tübingen 1 9 6 5 , insbes. S. 2 2 - 3 4 ; ders.: Friedrich Naumann und sein Kreis, in: V o m Gestern zum Morgen. Eine Gabe für Gertrud Bäumer, Berlin 1 9 3 3 .

24

Hier seien nur einige prominente Beispiele genannt: Gertrud Bäumer: Lebensweg durch eine Zeitenwende, Tübingen 1 9 3 3 ; Lujo Brentano: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1 9 3 1 ; Adolf Damaschke: Aus meinem Leben, Leipzig / Zürich 1 9 2 4 ; Hellmut von Gerlach: Von Rechts nach Links, Zürich 1 9 3 7 ; Gustav W . Heinemann: W i r müssen Demokraten sein. Tagebuch der Studienjahre 1 9 1 9 - 1 9 2 2 , München 1 9 8 0 ; Elly Heuss-Knapp: Bürgerin

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Erinnerungen ist zwar historisch authentisch und deshalb mitzuberücksichtigen; sie kann jedoch bei der Einordnung des Kreises in die Irre führen. Es bedarf demnach einer analytischen Distanz, um sich dem Naumann-Kreis anzunähern. Mein Untersuchungsprogramm erstreckt sich über das Sozialprofil, die Kommunikationsformen und die Themen hinaus auf den immer wieder beschworenen Zusammenhalt. Dazu dient mir ein Konzept mit drei sich ergänzenden Schwerpunkten, die hier nur ansatzweise skizziert werden können: Die soziale Bewegungsforschung bietet den strukturellen Bezugsrahmen für eine gesellschaftliche Standortbestimmung des Kreises.25 Damit werden alle nichtinstitutionalisierten Formen eines Gruppenverhaltens erfaßt, die auf gesellschaftlichen Wandel abzielen. Sie bewegen sich zwischen den Polen der öffentlichen Mobilisierung und der Organisation als Mittel zu dessen Stabilisierung. Da der Naumann-Kreis liberale und demokratische Absichten im weitesten Sinne verfolgte, wird er als Emanzipationsbewegung definiert. Die Bewegung orientierte sich auffallend eng an der Person Naumanns, war jedoch gleichermaßen institutionell und publizistisch eingebunden. Von der persönlichen Identifikation zeugt eine Vielzahl emphatischer Bekenntnisse; und der hohe Institutionalisierungsgrad läßt sich an den langfristig angelegten Aktivitäten erkennen, zu denen protestantische, liberale und kulturelle Organisationen gehörten, wie die Evangelischen Arbeitervereine, der Nationalsoziale Verein, der Deutsche Werkbund, das Staatslexikon und die Hochschule für Politik sowie die Zeitschriften „Hilfe" und „Zeit". 26 zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. von Margarethe Vater, Tübingen 1 9 6 1 ; Franz Schede: Rückblick und Ausblick. Erlebnisse und Betrachtungen eines Arztes, Stuttgart 1 9 6 0 ; Martin Wenck: Wandlungen und Wanderungen. Ein Sechziger sieht sein Leben zurück, unveröff. Manuskr., Leipzig o.J. ( 1 9 2 2 ) . 25

Vgl. dazu Joachim Raschke: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a . M . / N e w York 1 9 8 5 sowie Otthein Rammstedt: Soziale Bewegung, Frankfurt a . M . 1 9 7 8 .

26

Z u den einzelnen Projekten vgl. Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München 1 9 7 2 ; Antonio Missiroli: Die Deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin 1 9 8 8 ; Joan Campbell: Der Deutsche Werkbund 1 9 0 7 - 1 9 3 4 , München 1 9 8 9 (Original: The German Werkbund. The Politics of Reform in the Applied Arts, Princeton/New Jersey 1 9 7 8 ) ; allgemein siehe Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, 2. Aufl., München 1 9 9 2 ; vgl. auch Ursula Krey: Der Naumann-Kreis im Kaiserreich: Liberales Milieu und protestantisches Bürgertum, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 7 ( 1 9 9 5 ) , S. 5 7 - 8 1 .

Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation

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D a s e n t s c h e i d e n d e m e t h o d i s c h e P r o b l e m besteht in der Z u s a m m e n f ü h r u n g v o n konfessionellen M i l i e u b i n d u n g e n , einer a u s g e p r ä g t e n P e r s o n e n z e n t r i e r t h e i t u n d d e m sich e n t w i c k e l n d e n politischen B e k e n n t n i s z u m L i b e r a l i s m u s . H i e r setzt die Milieu-

und Bürgertumsforschung

an,

w o d u r c h w e i t e r g e h e n d e A u s s a g e n z u m G r a d der b ü r g e r l i c h e n Vergesells c h a f t u n g i m N a u m a n n - K r e i s e r m ö g l i c h t w e r d e n . 2 7 In A n l e h n u n g a n die vier g r o ß e n M i l i e u s v o n R a i n e r M . Lepsius g e r a t e n die B e d i n g u n g e n der bürgerlich-liberalen Sozialmilieus ins Blickfeld. 2 8 E r s t die jüngere F o r s c h u n g k o n z e n t r i e r t ihre A u f m e r k s a m k e i t a u f religiöse D e u t u n g s m u s t e r , die als m i l i e u k o n s t i t u i e r e n d e F a k t o r e n zur W a h r n e h m u n g politischer H a n d l u n g s f e l d e r b e i t r u g e n . 2 9 I m N a u m a n n - K r e i s begegneten sich s o w o h l Geistes- als a u c h N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r , s o w o h l V e r t r e t e r freier B e r u f e als a u c h kleine H a n d w e r k e r , s o w o h l M ä n n e r als a u c h F r a u e n . 3 0 D e s h a l b gingen v o n dieser B e w e g u n g i m m e r w i e d e r Impulse zur Ü b e r w i n d u n g der K l u f t z w i s c h e n den einzelnen W e l t a n s c h a u u n g e n aus. Die heuristis c h e K o n s t r u k t i o n des „ p e r s o n e n z e n t r i e r t e n M i l i e u s " ist geeignet, die Vielfältigkeit der M e i n u n g s b i l d u n g a u f einen N e n n e r zu bringen. 3 1 E s

27

Siehe dazu die Publikationen aus den Sonderforschungsbereichen zur Geschichte des Bürgertums im Vergleich, vor allem die Beiträge in Reinhart Koselleck (Hg): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990; Rainer M. Lepsius (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992; Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989; Klaus Tenfelde / Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994; Lothar Gall (Hg.): Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990.

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Vgl. M . Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel (Hg.), Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 3 7 1 - 9 3 ; auch in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. Vgl. die Beiträge in Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen, Gütersloh 1996, insbes. deren Einleitung, S. 34-41. Vgl. Ursula Krey: Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Blaschke / Kuhlemann (wie Anm. 29), S. 3 5 0 - 3 8 1 . Vgl. Herbert Naßmacher: Zerfall einer liberalen Subkultur. Kontinuität und Wandel des Parteiensystems in der Region Oldenburg, in: H. Kühr (Hg.): Vom Milieu zur Volkspartei. Funktionen und Wandlungen der Parteien im kommunalen und regionalen Bereich, Königstein 1979, S. 29-134. Den aktuellen MilieuForschungsstand faßt Klaus Tenfelde zusammen: Historische Milieus - Erblichkeit und Konkurrenz, in: Manfred Hettling / Paul Nolte (Hg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, S. 2 4 7 - 2 6 8 .

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gehört, in Abgrenzung zu den traditionellen, lokal und mental verankerten Milieus, zu den „prinzipiell überlokal ausgerichteten Milieus, „die man bis zu einem gewissen Grad frei wählen kann." 32 Als Maßstab für die Zugehörigkeit gelten gemeinsame Aktivitäten oder Kontakte im Rahmen von Freundschaft, Mitarbeit an Projekten und Rezeption der Ideen Naumanns. Drei Teilgruppen lassen sich in diesem Milieu differenzieren: die relativ kleine Gruppe der Weggefährten mit einer freundschaftlichen Verbundenheit (ungefähr 170 Personen); die größere, dynamische Kategorie der Multiplikatoren als Interessengemeinschaft (ca. 750); schließlich die ständig wachsende Anzahl der Rezipienten mit einem hohen Bedarf an politischer Aufklärung und der geringsten persönlichen Nähe zum inneren Kern des Naumann-Kreises (ca. 800). 33 Der Naumann-Kreis als personenzentriertes Milieu in einer politischen Emanzipationsbewegung sagt jedoch wenig über die Qualität des Zusammenhalts aus. Ein tragfähiger Erklärungsansatz für die Kohärenz ist in der Charismatheorie der Religionssoziologie zu finden.34 Sie beschäftigt sich seit Ernst Troeltsch mit der Beziehung des religiösen Ideenguts zu seinen gesellschaftlichen Ausdrucksformen. Inzwischen hat sich die Debatte über die Soziallehren der christlichen Gruppen und Kirchen hinaus auf das Verhältnis von Religion und Modernität verlagert. Die Gründe liegen in der abnehmenden Repräsentation der Religion durch kirchliche Institutionen sowie im Trend zur Individualisierung. Eine subjektiv erlebte Religiosität verstärkt häufig die Resonanz für politisches Handeln in kleineren Gruppen oder in übergeordneten Organisationen - ein Grund mehr, den Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von der Religion zur Politik zu erforschen. Untersuchungen religiös geprägter Mikroweiten und politischer Sozialmilieus ermögli-

32

So Karl Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 2 0 . Jahrhundert, Frankfurt a . M . 1 9 9 2 , S. 1 9 - 2 1 .

33

Die im folgenden referierten Daten und Ergebnisse beruhen auf den Erhebungen meiner Datenbank, die insgesamt knapp 8 0 0 0 Datensätze umfaßt.

34

Der jüngste Forschungsstand wird repräsentiert bei Winfried Gebhardt / Arnold Zingerle / Michael N. Ebertz (Hg.): Charisma. Theorie - Religion - Politik, Berlin/New York 1 9 9 3 . Grundlegend die Beiträge von Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Bd. 2 : Studien zu M a x Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt a . M . 1 9 9 1 sowie ders. (Hg.): M a x Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt a . M . 1 9 8 5 . Vgl. auch Stefan Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie M a x Webers, Darmstadt 1 9 9 4 . Zu den unausgeschöpften Anwendungsmöglichkeiten der Religionssoziologie vgl. Hartmann Tyrell: Religionssoziologie, in: Geschichte und Gesellschaft 2 2 ( 1 9 9 6 ) , S. 4 2 8 - 4 5 7 .

D e r N a u m a n n - K r e i s : Charisma und politische Emanzipation

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chen somit eine Neubewertung von langfristigen Prozessen, nicht zuletzt den der Säkularisierung einer sich modernisierenden Gesellschaft. Im folgenden möchte ich darlegen, warum sich „Charisma" als zentraler Schlüssel zum Verständnis des Naumann-Kreises eignet. Max Weber hat den vorher von Rudolph Sohm35 kirchenhistorisch besetzten Begriff aus dem theologischen Kontext gelöst und ihn in der Herrschaftssoziologie definiert.36 Charisma ist ein integrativer Begriff auf mehreren Ebenen. Er verbindet die Qualitäten einer Persönlichkeit (der „Führerfigur") mit der Zuschreibung durch die Anhängerschaft, ihren Deutungsmustern, Überzeugungen und Hoffnungen. Charisma wird erst durch die Projektion der Mitglieder legitimiert. Dabei gibt es Abstufungen und Nuancen, die selbst ein institutionelles Charisma nicht ausschließen. Für den Naumann-Kreis ergibt sich aus dieser Vorgabe ein Wechsel in der methodischen Perspektive, und zwar weg von der Konzentration auf Naumann hin zu den Erwartungen der Angehörigen des Kreises. Eine weitere Eigenschaft des Charismas ist die Verbindung von subjektiven Bedürfnislagen mit den objektivierbaren gesellschaftlichen Bedingungen. Bisherige Untersuchungen charismatischer Bewegungen haben ergeben, daß diese jeweils „Hochkonjunktur" hatten, wenn in 15

Vgl. Rudolph Sohm: Kirchenrecht. Die geschichtlichen Grundlagen, Bd. 1,2. Aufl., Berlin 1 9 2 3 .

36

M a x Webers Definition im Original: „,Charisma' soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als .Führer' gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus .objektiv' richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den .Anhängern' bewertet wird, k o m m t es a n . " W i r t s c h a f t und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1 9 8 0 , S. 1 7 9 . Vgl. auch seine Ausführungen in: Politik als Beruf, Stuttgart 1 9 9 2 . Hier differenziert er die Legitimitätsgründe einer Herrschaft und benennt „die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma), die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum oder anderen Führereigenschaften eines Einzelnen: .charismatische' Herrschaft, wie sie der Prophet oder - auf dem Gebiet des Politischen - der gekorene Kriegsfürst oder der plebeszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben." Ebd., S. 8; sowie bei Wolfgang J . M o m m s e n / Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod (Hg.): M a x Weber-Gesamtausgabe, Bd. 1/17: Wissenschaft als Beruf 1 9 1 7 / 1 9 1 9 ; Politik als Beruf 1 9 1 9 , Tübingen 1 9 9 2 .

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der Gesellschaft überkommene Ordnungsvorstellungen und Gewißheiten ihre Geltung verloren. Diese Dynamik erscheint auf den ersten Blick logisch und plausibel: In dem Maße, wie traditionelle Werte und Normen an Gültigkeit verloren, suchten die Betroffenen nach Auswegen, um zu neuen Sicherheiten zu gelangen. Das ließ sie dann zu leichter Beute für Heilsbringer oder Scharlatane werden. Deutlich wird dies für die Gesellschaft des Kaiserreichs. Sie war von inneren Widersprüchen gekennzeichnet und brachte so eine Fülle mehr oder weniger dubioser „Lichtgestalten" hervor. 37 Dieser Erklärungsansatz soll nicht ganz von der Hand gewiesen werden - dennoch erscheint Vorsicht angebracht: Die allzu gern bemühte große Krise verschleiert eher den Blick für die Vielzahl kleinerer, oftmals querliegender Krisen, als daß sie zur Erhellung der Problematik beiträgt. Dieser Einwand fordert dazu heraus, den internen und externen „Schlüsselkrisen" im Naumann-Kreis nachzugehen mit der Frage: Wurde durch sie die Bewegung eher gestärkt oder geschwächt? Der Charisma-Begriff verbindet auch die Dimension der „Sendung" als Mission mit deren Umsetzungsmöglichkeiten im Alltag. Diese Überlegung führt in den Bereich der Antriebskräfte, der Motivation von Handeln. Im Charisma steckt nämlich nicht nur das Problem, sondern zugleich ein Versprechen zur Bewältigung: Durch die Erlösung aus allen Handlungsunsicherheiten gewinnt der Charisma-Begriff eine anthropologische Dimension. So hat Michael Ebertz die Jesusbewegung als erste „charismatische Bewegung am Beginn der Geschichte des Christentums" klassifiziert. Er untersuchte die „Erzeugung" von Charisma und die Resonanz bei den Jüngern und der Menge. Dabei entlarvte er eine „Selbststigmatisierung" als Umkehrstrategie, indem „gesellschaftliche Defizienz-, Inferioritäts- oder Unterlegenheitsverhältnisse in einen Zustand der Auserwählung" umdefiniert werden. 38 Auf diese Weise wird aus der Not gewissermaßen eine Tugend. 37

38

Vgl. dazu aus der neueren Forschung Christoph Ribbat: Religiöse Erregung. Protestantische Schwärmer im Kaiserreich, Frankfurt a.M. 1996. Michael N. Ebertz: Macht aus Ohnmacht. Die stigmatischen Züge der charismatischen Bewegung um Jesus von Nazareth, in: Gebhardt u.a. (wie Anm. 34), S. 71-90, hier S. 73: „In seiner elementaren Struktur zwar äußerst simpel, ist diese genuine Verhaltensfigur der .Selbststigmatisierung' jedoch funktional äußerst komplex. Sie enthält sowohl Momente der Artikulation und Identifikation mit der Interessenlage, den Eigenschaften und Idealen der potentiellen oder aktuellen Anhänger charismatischer Bewegungen als auch - mittels der elementaren .Tricks' des Umdrehens - ein Moment des .Neuen' und .ganz Anderen'". Vgl. auch ders.: Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, Tübingen 1987.

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Schließlich bezieht sich der Charisma-Begriff nicht nur auf die Entwicklung individueller Eigenschaften, sondern ist auch selbst einer Entwicklungsdynamik unterworfen. Sie wird mit dem Prozeß der „Veralltäglichung" umschrieben, der nach Max Weber vorprogrammiert sei. Die außeralltägliche Qualität des Charismas wird so langfristig in einen Status der Gewöhnung bzw. Institutionalisierung überführt. Davon unabhängig durchläuft der Begriff eine kulturgebundene Entwicklung, die vom irrationalen Charakter zum „Charisma der Vernunft" führt. 39 Charisma kann aber auch politischer Natur sein. Infolgedessen läßt sich fragen, ob eine Übertragung des religiösen in politisches Charisma möglich ist. Damit werden durch den Charisma-Begriff ebenso die Handlungsbereiche Religion und Politik verknüpft. Ich fasse noch einmal kurz die vier Charakteristika von Charisma zusammen: 1) die Erwartungen der Anhänger, 2) die Krisen der Zeit (die auch Konflikte im Kreis begünstigen konnten), 3) die Aufwertung durch Erniedrigung, 4) die Wende von der Religion zur Politik. Erst deren spezifisches Zusammenwirken entscheidet über die Art des keinesfalls diktatorisch ausgeübten Charismas. Die Flexibilität des Konzepts resultiert gerade aus den variablen Komponenten in der Umsetzung. Es geht um die Wahrnehmungsebene der Beteiligten, die zunächst biographisch im Protestantismus verankert waren. Da der Umgang mit Krisen zu den ureigensten protestantischen Anliegen gehört, übernahm der Protestantismus hierbei eine zweifache Funktion: erstens als Bestandteil der Gesellschaft und zweitens als Gradmesser für gesellschaftliche Probleme. Die Wirksamkeit theologischer Handlungsanweisungen stieß allerdings d o r i a n ihre Grenzen, wo der Kanon „klassischer" Rezepte gegenüber den strukturell bedingten, „modernen" Konfliktlagen nicht mehr ausreichte und in der gesellschaftlichen Realität zu versagen schien. Selbst die Bestrebungen des sozialen Protestantismus erwiesen sich angesichts der breitgefächerten Notlagen als nur partikular wirksam und wurden deshalb von einigen Protestanten zugunsten politischer Handlungsanweisungen (von rechts bis links) in Frage gestellt. In Konkurrenz zur Pluralität an sinnstiftenden Weltanschauungen hatte die Religion ihr gesellschaftliches Deutungsmonopol verloren ein Erosionsprozeß, der auch den Katholizismus berührte, jedoch die Protestanten aufgrund ihrer landeskirchlichen Zersplitterung viel härter traf. Über die Anwendbarkeit theologischer Inhalte wurden zunehmend Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, besonders vor dem Hin-

39

Stefan Breuer: „Das Charisma der Vernunft", in: Gebhardt u.a. (wie Anm. 34), S. 159-184.

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tergrund des weiteren Wegs in das 20. Jahrhundert. Der Richtungsstreit entzündete sich vor allem an der Frage, inwieweit der Protestantismus als Gewissens- und Glaubensinstanz zu den grundsätzlichen und aktuellen, tagespolitischen Problemen Stellung beziehen sollte. Auf universitärer Ebene entwickelte sich eine Richtung der Theologie zur historischen Kulturwissenschaft des Christentums (u. a. vertreten durch Martin Rade), während der Religion eine Rolle als konstanter Bezugspunkt, als Referenzgröße und als moralischer Maßstab zukam. 40 Diese neuprotestantische Differenzierung von Religion und Theologie, von Frömmigkeit und Lehre ermöglichte dem Einzelnen ein persönliches Verhältnis zur Religion als Suchender. Damit wurde langfristig einem subjektiven Religionsverständnis auf individueller Ebene Vorschub geleistet. Dieser Prozeß, der allgemein als „Säkularisierung" oder „Entchristianisierung" bezeichnet wird, müßte zutreffender „Individualisierung der Religion" genannt werden. Was heißt das konkret? Anhand weniger Schlaglichter auf die Geschichte des Naumann-Kreises soll jener lange, verzweigte Oppositionsweg veranschaulicht werden, dessen Auswirkungen bis heute reichen.

Zur Genese und Entwicklung des Naumann-Kreises Aus der Entwicklungsperspektive lassen sich insgesamt drei politische Generationen des Kreises unterscheiden. In Anlehnung an das Generationenmodell von Detlev Peukert wird zwischen der Wilhelminischen Generation, der Gründerzeitgeneration, der Frontgeneration und der „im mehrfachen Sinne überflüssigen Generation" seit 1900 unterschieden. 41 Zur ersten Generation (der um 1860 Geborenen) gehörten über40

Z u m Kulturprotestantismus vgl. Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Z u m Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1 9 9 4 ; Friedrich W . Graf: Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: Archiv für Begriffsgeschichte 2 8 ( 1 9 8 4 ) , S. 2 1 4 - 2 6 8 ; ders.: Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Friedrich Wilhelm Graf: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2, Τ. 1, Gütersloh 1 9 9 2 , S. 1 2 - 1 1 7 ; außerdem Hans M . Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1 9 9 2 .

41

Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a . M . 1 9 8 7 , bes. S. 2 5 ff. Er setzt sich prägnant mit den Problemen der Begrifflichkeit auseinander und schreibt: „Im Kontinuum der aufeinanderfolgenden Geburten sind Jahrgangsgruppen oder gar Generationen, die eine Reihe von Jahrgängen zusammenfassen, keine eindeutig markierbaren objektiven Einheiten. Wir behelfen uns vielmehr mit dem Generationsbegriff, um bestimmte

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wiegend jüngere Theologen, die (nicht zuletzt aufgrund gemeinsamer Erfahrungen) miteinander befreundet waren. Die Anfänge des Freundeskreises sind zwischen 1879 und 1889 in einem konservativen Klima mit nationalpolitischem Pathos zu finden. Einige hatten sich schon in der traditionsreichen „Fürstenschule" St. Afra in Meißen oder während des Studiums in Leipzig und Erlangen kennengelernt: Friedrich Naumann, Martin Rade, Paul Göhre, M a x Maurenbrecher, Friedrich Weinhausen, Paul Rohrbach und Martin Wenck. 42 Das wesentliche Strukturmerkmal dieses Beziehungsgeflechts, das sich zunächst im Dunstkreis einer studentischen Kultur entfaltete, war somit in erster Linie ein generationsspezifisches Phänomen und durch übermächtige Autoritäten geprägt, die patriarchalische Funktionsmechanismen aufwiesen. Als grundlegende Instanz beeinflußte der Vater als familiäres Oberhaupt alle beruflichen Entscheidungen. So folgte Naumann im privaten Bereich dem Veto und Wunsch des Vaters, indem er statt Mathematik Theologie studierte. Auffällig ist seine größere Selbständigkeit und Unabhängigkeit in persönlichen Entscheidungen nach dessen Tod im Jahr 1890. Das große Idol der studentischen Jugend jener Zeit war der Hofprediger und politische Agitator Adolph Stoecker. Mit der Parole: „Auf zum Kyffhäuser" lud Naumann 1881 sein verehrtes Vorbild zu einer studentischen Versammlung ein. 43 Zusammen mit Diederich Hahn gründete er am 6. August 1881 den Verein Deutscher Studenten als Sprachrohr für nationalpolitische Forderungen. 44 Stoecker setzte große Hoffnungen in seinen Schüler Naumann und versuchte ihn später zur Mitarbeit in der Berliner Stadtmission zu gewinnen. Die enge persönliche Verbindung zwischen beiden verschärfte zehn Jahre später einen Zusammenhänge aufzuhellen, die gewisse Jahrgangsgruppen unter einer begrenzten Perspektive teilen. Wir fragen danach, wann jene in der Weimarer Republik verantwortlichen Persönlichkeiten ihre prägenden politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen gemacht hatten und unter welchen Bedingungen sie selber dazu übergingen, Politik und Gesellschaft mitzuprägen." 42

Vgl. dazu Paul Göhre: Erinnerungen an Friedrich Naumann, in: Die Glocke ( 1 9 1 9 ) , Nr. 2 3 ; M a x Maurenbrecher: Vom Pfarrer zum Politiker, in: Christliche Welt, 14. Jg., Nr. 2 0 ; Martin Wenck: Der Lebensgang Friedrich Naumanns, in: Die Hilfe, 2 5 . Jg., N r . 3 6 und Wenck (wie Anm. 2 4 ) .

43

Vgl. im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Stöcker, Rep. 92,1, 3a-f, Bl. 2 5 - 2 6 .

44

Vgl. dazu das von der Schriftleitung der „Akademischen Blätter" (Zeitschrift des Verbandes der Vereine Deutscher Studenten) herausgegebene Heft: Friedrich Naumann und die Vereine Deutscher Studenten, Kiel 1 9 6 0 (Deutsch-Akademische Schriften, Neue Folge - Heft 1) sowie im Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , N r . 2 4 1 .

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schmerzlichen Abnabelungsprozeß, für Naumann verbunden mit einer entschiedenen Abkehr von antisemitischen Tendenzen. 45 Die achtziger Jahre umfaßten in Naumanns Biographie seine theologische Ausbildung, erste praktische Berufserfahrungen als Oberhelfer bei Wichern im Hamburger „Rauhen Haus" (mit Friedrich Engel, Johannes Wichern, Wilhelm Philipps) und die erste Pfarrstelle im sächsischen Langenberg. Hier trafen sich junge Familien außerhalb der traditionellen Gottesdienste zu Diskussionsabenden und Volksfesten in der Umgebung des Dorfes, um das Evangelium in kleinen Theaterstücken nachzuspielen oder sich mit politischen Fragen auseinanderzusetzen, beispielsweise dem Verhältnis der Konfessionen zueinander, der Kirche und der Arbeiterschaft, sowie der Vereinbarkeit von Frauenarbeit und Familienleben. 46 Bereits in dieser Zeit richteten sich Hoffnungen und Erwartungen auf Naumann, da er brisante Themen aufgriff und nach neuen Formen der Umsetzung suchte. In der protestantischen Öffentlichkeit sorgte Naumann wiederholt für Aufsehen, wie beispielsweise beim Dritten Evangelisch-sozialen Kongreß 1 8 9 2 in Berlin. Bei dieser Gelegenheit lernten sich auch M a x Weber und Naumann kennen, der als erster Redner seinen Beitrag „Christentum und Familie" unter den Leitsatz stellte: „Der Zweck der Ehe ist die Erzeugung und die Erziehung von Kindern." Naumann selbst war seit 1889 mit der Pfarrerstochter Magdalene Zimmermann verheiratet und wurde zwei Jahre nach diesem Auftritt Vater der einzigen Tochter Elisabeth. Die Wirkung des Auftritts auf die Anwesenden hat der spätere Publizist und Mitarbeiter Naumanns Hellmut von Gerlach überliefert: „Das war so herzerfrischend natürlich, daß ein förmliches Zittern durch die Versammlung ging: die jungen Mädchen senkten errötend die Augen, die Mütter fanden es skandalös, die Herren schüttelten die Köpfe. Eine 60jährige Gräfin neben mir protestierte: ,Der Herr will Christ sein!' Stöcker, dessen Ehe nicht mit Kindern gesegnet war, nahm besonderen Anstoß. Der Eindruck war der: Ein Wolf ist in unsere Herde eingedrungen!" 47 45

Diese reflektierte Position läßt sich in vielen Briefen erkennen, vgl. exemplarisch im Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , Nr. 5, Bl. 1 0 5 - 1 0 6 (an Hermann Leo vom 1 7 . 3 . 1 9 1 3 ; N r . 10, Bl. 4 0 6 (an M a x Warburg vom 2 4 . 9 . 1 9 1 7 ) ; Nr. 13, Bl. 1 6 6 (an Hanna Grundke vom 4 . 1 . 1 9 1 9 ) ; Nr. 1 3 , Bl. 9 6 (an Traute Dockhorn vom 1 3 . 1 . 1 9 1 9 ) ; N r . 1 4 , Bl. 8 5 (an M a r g a r e t e Reinhardt vom 1 4 . 1 . 1 9 1 9 ) ; Nr. 6, Bl. 1 2 4 - 1 2 6 (an Martin Rade vom 9 . 2 . 1 9 1 4 ) .

46

Vgl. im Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , N r . 3, Nr. 6 1 , Nr. 1 5 0 , Nr. 1 5 6 , Nr. 1 8 2 , Nr. 1 8 5 - 1 8 7 , Nr. 1 9 7 - 1 9 9 , Nr. 2 4 9 .

47

Hellmut von Gerlach: Erinnerungen eines Junkers, Berlin 1 9 2 4 . Zit. nach Wilhelm Spael: Friedrich Naumanns Verhältnis zu M a x Weber, Königswinter 1 9 8 5 , S. 19.

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Derart pointierte Thesen erhitzten auch in Zukunft die Gemüter der gehobenen bürgerlichen Kreise und gaben häufig Anlaß zu Kopfschütteln und polemischer Kritik. Von 1890 bis 1896 war Naumann in Frankfurt am Main als Geistlicher für die Evangelischen Arbeitervereine zuständig. In dieser Phase vollzogen sich entscheidende Bewußtseinsprozesse, die von tiefgreifenden Kontroversen um den gesellschaftlichen Stellenwert der Religion, sozialen Problemlagen und politischen Lösungsstrategien geprägt waren. Durch öffentliche Auftritte erweiterten sich Aktionsradius und Bekanntheitsgrad der „jungen politischen Pastoren" erheblich. Hierbei sind bereits deutlich urbane Tendenzen des Naumann-Kreises erkennbar, nicht zuletzt aufgrund der typischen Brennpunkte einer Großstadt mit akuten sozialen Spannungen und verschiedenen, zum Teil verfeindeten Fraktionen der Frankfurter Honoratiorenschaft. Die Amtskirche erwies sich gegenüber diesen tiefgreifenden Konflikten als wenig hilfreich, da sie ebenfalls in mehrere orthodox-lutherische und liberale Richtungen zersplittert war, denen es nicht gelang, einen Interessenausgleich herzustellen. 48 Zu Beginn der Tätigkeit gab es weder eine gemeinsame Zeitung als Sprachrohr noch genügend Räumlichkeiten für größere Veranstaltungen. Als Naumann von seinen ersten Bibelstunden mit rund 90 Teilnehmenden berichtete, erwähnte er beiläufig „wenig Männer." 4 9 Das bedeutete: Frauen waren die Hauptklientel einer stark expandierenden Gemeindearbeit. Doch sie gehörten nicht nur zum Adressatenkreis, indem sie das religiöse Dienstleistungsangebot nutzten, sondern sie boten auch ihrerseits finanzielle Unterstützung an. Die freiwilligen Spendenangebote bewegten sich in den traditionellen Bahnen der christlichen Wohltätigkeit und waren durch großen Tatendrang und Glaubenseifer geprägt. Eine „ergebene Schülerin" N.N. spendete mehrfach, unter anderem „ 1 0 0 Mark Reisesteuer" für Naumanns Fahrt nach Jerusalem, wobei sie die Öffentlichkeit als fast konspirativ anmutendes Forum benutzte: „Es wäre mir eine wirkliche Freude, es tun zu dürfen - als-

48

Vgl. dazu Olaf Lewerenz: Friedrich Naumann und die Zukunft der Inneren Mission - die Frankfurter Jahre ( 1 8 9 0 - 1 8 9 7 ) , in: Theodor Strohm / Jörg Thierfelder (Hg.): Diakonie im Deutschen Kaiserreich ( 1 8 7 1 - 1 9 1 8 ) . Neuere Beiträge aus der diakoniegeschichtlichen Forschung, Heidelberg 1 9 9 5 , S. 4 2 1 - 4 3 7 . Der Beitrag beruht auf seiner Dissertation: Zwischen Reich Gottes und Weltreich. Friedrich Naumann in seiner Frankfurter Zeit unter Berücksichtigung seiner praktischen Arbeit und seiner theoretischen Reflexion, Sinzheim 1 9 9 4 .

49

In einem Brief an seine Mutter im Oktober 1 8 9 0 , Zit. nach Heuss, Naumann, S. 9 0 (wie Anm. 4 ) .

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dann bitte ich Sie in der nächsten Nummer der ,Hilfe' nur mit Ja oder Nein zu antworten." 50 Naumann begrüßte den Vorschlag und nahm das Geschenk an. Die Konflikte mit dem Frankfurter Konsistorium eskalierten schließlich in der Frage des politischen Engagements und hatten eine öffentliche Maßregelung seitens der Kirche zur Folge - ein Akt, der allerdings das Gegenteil bewirkte. Ein Beispiel aus der praktischen Gemeindearbeit soll das Gesagte veranschaulichen. So berichtete ein kaufmännischer Beamter von seinen ersten Kontakten zum Frankfurter Arbeiterverein, mit dem er als Lehrling zu Beginn der neunziger Jahre in Berührung kam. 51 Er schilderte die „schweren Kämpfe" zwischen seiner materialistischen Weltauffassung und dem Christentum. Ausschlaggebend für seine Teilnahme am Vereinsleben war schließlich die Überzeugungskraft Naumanns, denn: „Ich merkte, der Mann hat Führer-Qualitäten; von pfäffischer Verdummung und beabsichtigter Irreleitung armer Schäflein, die durch Erlernen von Bibelsprüchen und Gesangbuchsversen erzielt werden, konnte hier keine Rede sein." 52 Die früheren Vorurteile des Lehrlings hatten sich als hinfällig erwiesen; und er schwärmte im Rückblick von der schönen Zeit: „verbunden mit ihm blieb ich durch das Lesen seiner ,Hilfe' und seiner Werke." 53 Seinen späteren beruflichen Erfolg schrieb er diesen prägenden Einflüssen zu. So verwandelte sich die anfangs kritisch-reservierte Erwartungshaltung erst allmählich in eine bedingungslose Gefolgschaft. Eine solche Verbundenheit durch die Hilfe-Lektüre ist typisch für die Rezipienten, besonders im Vergleich zum persönlichen Austausch bei den Weggefährten und zum regen Briefwechsel bei den Multiplikatoren. Der eben genannte Kaufmann erlebte jedoch ebenso die Probleme jener Zeit mit dem Frankfurter Konsistorium, die Naumann selbst bitter mit den Worten kommentierte: „Die Stellung eines sozialen Pastors habe ich zur Genüge am eigenen Leibe erfahren müssen. ... Man warf uns ins Wasser, und wenn wir ertranken, wars unsere Sache." Aber, so schrieb der Beamte 1919: „Wir jungen Leute von damals, wir haben

50

Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3001), Nr. 3 0 8 , Bl. 101, Briefdatum: 2 0 . 2 . 1 8 9 7 und ebd., Bl. 123. Ein besonderer Ausdruck der Verehrung bestand auch darin, Predigten fein säuberlich abzuschreiben und mit Widmung zu überreichen. 51 Vgl. auch Klaus Martin Hofmann: Die Evangelische Arbeitervereinsbewegung 1 8 8 2 - 1 9 1 4 , Bielefeld 1988. 52 Zitat aus einem Leserbrief, unterzeichnet mit „H. C.", in: Die Gemeinde, Nr. 36, Frankfurt a.M. 6.9.1919, S. 229. " Ebd.

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diese schweren Zeiten unseres Freundes und Führers miterlebt, und deshalb sind wir auch mit ihm verwachsen gewesen. Von den Mannen, die solche Lieblosigkeit fertigbrachten, haben wir uns aber entfernt und mancher von uns ist kirchenfeindlich geworden und geblieben." 54 Nicht nur die Amtsbrüder solidarisierten sich also mit N a u m a n n ; der erniedrigende Akt seiner öffentlichen Maßregelung seitens der Kirche erhöhte das Ansehen Naumanns auch in den Augen seiner Anhänger. Diese Krise - wie frühere und noch folgende - wertete Naumann auf und verstärkte die Identifikation mit seinen Ideen, beispielsweise mit der kühnen Annahme, daß die Arbeiter national werden und die Besitzenden lernen müßten, sozial zu empfinden - eine These, die der Pfarrer Battenberg „wie eine neue Offenbarung" empfand und die seiner Wahrnehmung nach den Anstoß zur Gründung des Nationalsozialen Vereins gab. 55 Auch über die Auflösung des Vereins existiert eine veröffentlichte Episode aus einer internen Perspektive. Unter dem Titel: „Politiker oder Theologe?" erschien 1919 im Rahmen der Nachrufe auch „ein Beitrag zur Tragik in Naumanns Leben". 56 Lueken erzählte von einem Vorfall im Wahlkampf 1903, als Naumann im Oldenburger Wahlkreis für ein Reichstagsmandat kandidierte. Er schaffte es wider Erwarten, auch zahlreiche Nationalliberale für sich einzunehmen, so daß schließlich etwa 1000 Stimmen der Zentrumsanhänger als ausschlaggebend für die Wahl angesehen wurden. Nach Ansicht Luekens bestand ein geschickter Schachzug der Gegner darin, N a u m a n n öffentlich nach seiner Hal54

55

56

Ebd. Siehe auch im Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3001), Nr. 281.Vgl. dazu Hartmut Ruddies: Friedrich Naumanns Frankfurter Wende, in: Matthias Benad (Hg.): Gott in Frankfurt? Theologische Spuren in einer Metropole, Frankfurt a.M. 1987, S. 95-106. In: Evangelisch-Sozial. Vierteljahrsschrift für die sozial-kirchliche Arbeit, 1. Heft, Januar/März 1 9 3 0 unter dem Titel: Friedrich Naumann. Ein Gedenkwort zur 70. Wiederkehr des Geburtstages Friedrich Naumanns am 25. März 1930, S. 27f. Der Geheimrat D. Johannes Naumann in Dresden schildert die dichte Atmosphäre jener Tage: „Wird aus dem gärenden Most ein klarer Wein werden? Wir sitzen in Erfurt zusammen, ein eng geschlossener Kreis, und lauschen den Worten Friedrich Naumanns, der in scharf geschliffenen Sätzen die Lage unseres Volkes schildert: Auf der einen Seite eine Arbeiterschaft, kraftvoll, vorwärtsdrängend, Anteil verlangend an den Gütern der Erde, an Macht und Wissen, verbittert gegen den Staat, von internationaler Verbrüderung träumend, ohne Verständnis für nationale Bindungen; auf der anderen Seite die Besitzenden und Gebildeten, wurzelnd in der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes, besorgt um Erhaltung der Kultur und erworbener Rechte, ohne Verständnis für das Neue, das sich losringi." Die Gemeinde, Nr. 36, Frankfurt a.M. 6.9.1919, S. 228.

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tung zum Jesuitengesetz zu befragen. In einer Versammlung bekannte er sich zur Aufhebung des Gesetzes, begründete allerdings seine Position und verstand es, die protestantischen Zuhörenden mit Argumenten zu überzeugen. Genau dieser Umstand irritierte nun die anwesenden Katholiken, und es kam zu konfessionell aufgeheizten Diskussionen. Hier trat offenbar ein religiös motivierter Interessenkonflikt in den Erwartungen der potentiellen Wähler zutage, der eine Krise im politischen Wahlkampf heraufbeschwor. Das Ergebnis bestand darin, daß er die Stimmen der Nationalliberalen verlor und die Anhänger des Zentrums mit seinen Aussagen konsternierte. „Der Theologe, der hier mit Naumann durchgegangen war, war schuld daran, daß der Politiker sich glatt zwischen zwei Stühle setzte." Durch eine etwas diplomatischere Reaktion hätte er seine spätere Wahlniederlage verhindern können. Diese war nach Luekens Ansicht entscheidend für die Schlußfolgerung, daß der nationalsoziale Gedanke keine parteibildende Kraft habe. Der „Wahrheitssinn des protestantischen Theologen" stand dem Opportunismus des Politikers im Wege oder - mit den Worten Luekens: „Der Stammes-, Berufs und Gesinnungsgenosse Martin Luthers konnte sich in ihm nicht verleugnen." 57 In beiden Fällen geht es weniger um die faktische Authentizität der Ereignisse als vielmehr um die zeitgenössische Wahrnehmung, mit ihren jeweiligen Umdeutungen bzw. Interpretationen der Realität. Während bei der Gründungsgeschichte des Nationalsozialen Vereins die scheinbare Unvereinbarkeit der Interessen von Arbeiterschaft und Bürgertum als krisenhafte Konstellation empfunden wurde, auf deren Lösung sich die Erwartungen konzentrierten, fand in der nachträglichen Verklärung der Wahlschlappe eine Aufwertung des Hoffnungsträgers durch die konfessionelle Identifikation an der Nahtstelle zwischen Religion und Politik statt. Auch diese Verbindung verkörperte ein Konfliktpotential, das Paul Haag wie folgt beschrieb: „Wir vor Allen, die damals, Anfang der 90er Jahre, politisch heimatlos waren und als religiöse Menschen den Zusammenhang mit den Zeitfragen nicht fanden, uns gab er Richtung und Ziel. Und ein Mensch war in unser Leben getreten, dem wir vor- und nachher keinen mehr an die Seite stellen können." S8 Welche Rolle spielte die konfessionelle Zugehörigkeit? An nachweisbaren Konfessionen war über ein Viertel der Naumannianer und Naumannianerinnen protestantisch, während Juden und Katholiken mit jeweils etwa fünf Prozent vertreten waren. Die übrigen Mitglieder lassen sich konfessionell nicht eindeutig zuordnen. Als weitere Besonderheit muß " 58

Ebd. Ebd., S. 227.

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hervorgehoben werden, daß einige ganz aus der Kirche austraten oder einen Religionswechsel in verschiedene Richtungen vornahmen, Das bedeutet: Auch die konfessionellen Grenzen erwiesen sich im NaumannKreis als überwindbare Hürden. 59 Seit Ende 1894 erschien „Die Hilfe" - zunächst probeweise - mit dem Untertitel in volkstümlicher Aufmachung: „Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe", ab 1902 als „Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst". 6 0 Anfangs betrug die Auflage wöchentlich 1 2 0 0 0 Exemplare; Ende 1912 registrierten die Herausgeber 8 4 6 6 Abonnenten. In den ersten drei Jahren blieb die Geschäftskasse unberührt, während später eine Entnahme von jährlich 4 5 0 0 Mark für Naumann vorgesehen war, um seinen Lebensunterhalt nach dem Ende seiner Karriere als Pfarrer zu sichern. Das finanzielle Risiko wurde durch zahlreiche Darlehen reduziert, die sowohl von Professoren wie M a x Weber, Adolf von Harnack, Karl Rathgen und Gerhart von Schulze-Gaevernitz, als auch von Industriellen, Handwerkern und Frauen kamen. So bot beispielsweise 1 8 9 6 Frau Susmann aus Berlin ein Darlehen von 5 0 0 Mark und einen einmaligen Beitrag von 10 Mark für die neue Tageszeitung mit den Worten an: „Als Mitglied der evangelisch-sozialen Frauengruppe habe ich die Hilfe von ihrem ersten Erscheinen an gehalten und möchte diese Gelegenheit benutzen, um Herrn Pfarrer Naumann von Herzen zu danken, für die Anregung zum Nachdenken und Stärkung zum Tun." 6 1 Ihre vorbehaltlose Zustimmung resultierte aus dem Bedürfnis nach sinnstiftender Lebensorientierung, die in einer protestantischen Grundhaltung verankert war und gerade von Frauen schriftlich immer wieder

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Hier seien nur wenige Namen als Beispiele genannt: Cossmann (israelitisch, seit 1 9 0 5 katholisch), Herkner (katholisch, später Dissident), Graf von Hoensbroech (katholisch, seit 1 8 9 5 evangelisch), Breitscheid (evangelisch, dann Dissident), Legien (katholisch bis 1 9 0 4 ) , Merton (israelitisch, dann reformiert), Dehmel (erst evangelisch, dann ausgetreten), Friedberg (israelitisch, seit 1 8 8 4 evangelisch), Moll (israelitisch, seit 1 8 9 6 evangelisch), Mugdan (israelitisch, seit 1 8 9 3 evangelisch), Lederer (israelitisch, seit 1 9 0 7 katholisch), Ludwig (bis 1 8 8 3 Cohn, erst israelitisch, 1 9 0 2 - 2 2 evangelisch).

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Vgl. dazu im Nachlaß Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , Nr. 5 6 und 5 7 . Der Erfolg der Hilfe läßt sich auch aus Leserbriefen kritischer, gleichwohl treuer Rezipienten erschließen, die sich mit der Zeitung identifizieren. In zahlreichen Orten wurden „Hilfe"-Agenturen gegründet, die sich um die Einrichtung von lokalen Lesekreisen kümmerten. Durch ein dezentral organisiertes Netz entstanden Kontakte zur nationalsozialen Bewegung, die Anschluß an die Berliner Zentrale suchte und über die Zeitung koordiniert wurde.

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Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , Nr. 2 2 8 , Bl. 3, Briefdatum: 6.9.1896.

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artikuliert wurde. Zugleich ist ihre Hilfsbereitschaft typisch für die erste Generation der „Naumannianerinnen". Nach einer zweijährigen Verbandstätigkeit in der Südwestdeutschen Konferenz der Inneren Mission als Interimslösung gab Naumann 1 8 9 7 endgültig sein Pfarramt auf und widmete sich ausschließlich der Publizistik und Politik, fortan ohne sicheres Einkommen noch mehr auf Unterstützung angewiesen. 62 Zugleich verlegte er seinen Wohnsitz nach Berlin, was eine entscheidende Zäsur in persönlicher, beruflicher und politischer Hinsicht bedeutete. Die zunehmende Konzentration auf die „Hilfe" als Haupteinnahmequelle sowie als Kommunikationsforum bestärkte den inneren Zusammenhalt und eine politisierte Identität des Naumann-Kreises, während nach außen hin, über lokale und regionale Grenzen hinweg, weite Leser- und Leserinnenkreise erreicht wurden. Der öffentliche Wirkungsgrad wurde dadurch wesentlich erweitert, obwohl ein zweites risikoreiches Zeitungsprojekt 1 8 9 7 an mangelnder Resonanz scheiterte: „Die Zeit" war als „Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage" von Naumann für ein bildungsbürgerliches Publikum konzipiert, jedoch durch den Ortswechsel organisatorisch unzureichend umgesetzt worden. 63 Neben den Pfarrern verzeichnete der Kreis einen regen Zulauf von Professoren (Baumgarten, Barge, Bousset, Brentano, Curtius, Deissmann, Goetz, Harnack, Jäckh, Jastrow, Lamprecht, von Liszt, Lötz, Quidde, Schubring, Schulze-Gaevernitz, Sohm, Tönnies, Weber), darunter nicht nur Geistes-, sondern auch Naturwissenschaftler (von Düring, Voigt); außerdem freie Berufe, wie Rechtsanwälte, Journalisten, einige Fabrikanten, Unternehmer und Industrielle (z.B. Robert Bosch, Peter Bruckmann, Walther Rathenau, Hans Jordan), Kulturschaffende (wie Erich Schlaikjer); aber auch Angehörige des klassischen Mittelstandes, Handwerker und Lehrer, und sogar ein paar Arbeiter gehörten dazu. Ein solch weites Spektrum an Berufen, mit einem hohen Anteil an gesellschaftlichen Meinungsbildnern, war bemerkenswert. H

Ein größeres Geldgeschenk von insgesamt 4 6 0 0 0 Reichsmark bekam Naumann anläßlich seines 5 0 . Geburtstags 1 9 1 0 durch Schulze-Gaevernitz überreicht: ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt, wie es in dem beigefügten Schreiben im Auftrag der anonymen Spender und Spenderinnen hieß, die sich selbst als „Kreis der Freunde in Nord und Süd" bezeichneten. Vgl. im Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , Nr. 2 1 4 , Bl. 6 - 7 , 1 0 - 1 3 .

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Vgl. im Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , Nr. 2 2 9 . Laut Naumann hatte sie zum Zeitpunkt des Scheiterns ( 3 0 . 9 . 1 8 9 7 ) etwa 5 2 0 0 Abbonenten. Siehe auch den Briefwechsel über das Schicksal der Zeitung in ebd., Nr. 2 4 8 . Die Exemplare sind unter den Nrn. 3 0 / 1 , 3 1 - 3 3 zu finden. (Die „Zeit" wurde allerdings 1 9 0 1 neben dem Jahrbuch „Patria" neugegründet.)

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Hier wurden berufliche und soziale Schranken überwunden, auch wenn Meinungsverschiedenheiten an der Tagesordnung waren. Die Krisen sind der Schlüssel für den Zusammenhalt des Kreises. Exemplarisch sei hier nur hingewiesen auf die bereits erwähnten Auseinandersetzungen mit Adolph Stoecker, die schließlich zum offenen Bruch führten, mit dem Evangelisch-Sozialen Kongress, mit dem Frankfurter Konsistorium; auf die Konflikte zwischen Großindustrie und Arbeiterschaft, wie 1 8 9 5 mit Stumm-Halberg im Saarland, mit dem Verein Deutscher Studenten, mit dem Verein für Socialpolitik. 64 Besonders die Auflösung des 1 8 9 6 gegründeten Nationalsozialen Vereins 1 9 0 3 , nach M a x Weber „die Partei der Mühseligen und Beladenen" 6 5 , führte zu schweren Eskalationen im Naumann-Kreis. Dieser Schritt, von vielen Anhänger noch ein Jahrzehnt später als Fehler bedauert, zog sogar den Verlust einiger alter Weggefährten nach sich. Doch die Verbundenheit blieb auch bestehen, wenn ehemalige Weggefährten „als Parteifreund Lebewohl" sagten, wie der katholische Graf Felix Ludwig von Bothmer aus München, der Naumann 1 9 1 4 über seinen Austritt aus der bayerischen Fortschrittspartei mit den Worten unterrichtete: „Ich kenne keinen Menschen des politischen Lebens Deutschlands, der

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T h e o d o r Heuss weist in seiner Biographie und in seinen Erinnerungen auf eine Reihe von Konflikten und Konfliktherden hin (vgl. ein eigenes, so benanntes Kapitel, S. 2 6 0 - 2 6 8 ) ; darüber hinaus empfiehlt sich auch ein Blick in die einschlägigen Quellen im Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , z.B. Nr. 2 1 2 (Verein für Socialpolitik, Vorstanskrise 1 9 0 5 ) , Nr. 2 4 1 (Verein Deutscher Studenten), N r . 2 6 1 (Streit mit Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg), Nr. 2 7 6 (Gerichtsurteil 1 8 9 7 gegen Naumann u.a. wegen Übertretung der Polizeiordnung). An Sekundärliteratur siehe: Volker Drehsen: „Evangelischer Glaube, brüderliche W o h l f a h r t und wahre Bildung". Der Evangelisch-Soziale Kongreß als sozialethisches und praktisch-theologisches Forum des Kulturprotestantismus im Wilhelminischen Kaiserreich ( 1 8 9 0 - 1 9 1 4 ) , in: Hans Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1 9 9 2 , S. 1 9 0 - 2 2 9 ; J o a c h i m Heinz: Der „Scharfmacher" von „Saarabien". Stumm in der sozialdemokratischen Karikatur, in: Richard van Dülmen / J o a c h i m J a c o b (Hg.): Stumm in Neuenkirchen. Unternehmerschaft und Arbeiterleben im 19. Jahrhundert, St. Ingbert 1 9 9 3 , S. 1 6 5 - 1 8 0 ; Dieter Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Socialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des .Neuen Kurses' bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges ( 1 8 9 0 - 1 9 1 4 ) , Wiesbaden 1 9 6 7 .

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Wolfgang J . M o m m s e n in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff: M a x - W e b e r Gesamtausgabe 1/4: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1 8 9 2 - 1 8 9 9 , Tübingen 1 9 9 3 , S. 6 2 1 . Vgl. auch die anschaulichen Schilderungen von Wilhelm Spael: Friedrich Naumanns Verhältnis zu M a x Weber, St. Augustin 1 9 8 5 , insbes. S. 54ff.

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auf mich einen so nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat und dem ich zu so großem Dank verpflichtet bin wie Sie, sehr verehrter Lehrer." 6 6 Ein Beispiel für nicht erfüllte Hoffnungen und Erwartungen der Anhänger verkörperte der Färbermeister Rudolf Bornemann aus Fallingbostel, der seine grenzenlose Enttäuschung über Naumanns X X . Brief über Religion in der „Hilfe" vom 17. Mai 1903 zum Ausdruck brachte und sich berufen fühlte, für die kleinen Handwerker und Bauern zu sprechen: „Ich will nicht stillschweigend einen Mann verlassen auf den unsereiner als einen Führer im Kampf für Volksrecht und Freiheit hinsah. ... Zu uns, denen Luther den Geist und Körper befreit, und die Bismark gelehrt hat sich zu vertragen und siegreich zu schlagen, zu uns hat er gepredigt und hoffnungsvoll haben wir zugehört. ... Fürwahr, das möcht ich wissen, ob Naumann auf seinem politischen Pfad, schon soweit gekommen ist, dass er zu Gunsten einer vorgefassten politischen Ansicht zu diesem religiösen Ende gelangt ist. Dass er, um sein politisches Ideal zu rechtfertigen, sein religiöses Ideal zerstört." 6 7 Diese zugespitzte Äußerung belegt ein Dilemma, das den Naumann-Kreis spaltete: Während ein Teil der konfessionell eingebundenen Angehörigen aus allen Teilgruppen den Weg in die Politik nicht mehr mitgehen konnten, öffnete sich der Kreis seit Beginn des 20. Jahrhunderts für neue Adressaten, deren Überzeugungen jenseits der Religion verankert waren. Insbesondere jüngere Leute fühlten sich von den Ideen Naumanns magisch angezogen. Sie grenzten sich als eigene Alterskohorte bewußt gegenüber den „Alten" ab und werden deshalb zur zweiten politischen Generation im Naumann-Kreis gerechnet. Zu ihnen gehörten auch Theodor Heuss (als Student durch Vermittlung von Lujo Brentano aus München) und Elly Knapp, Tochter des bekannten Nationalökonomen Georg Friedrich Knapp aus Straßburg.

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Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , Nr. 6, Bl. 1 4 - 1 5 , Briefort und -datum: München, den 2 2 . 1 0 . 1 9 1 4 .

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Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , N r . 2 3 3 , Bl. 2 5 , Briefort und -datum: Fallingbostel, den 1 8 . 5 . 1 9 0 3 . Die „Briefe über Religion" erschienen zusammengefaßt in mehreren Auflagen, zuletzt Berlin 1 9 1 6 (6.Aufl. mit einem Nachwort nach 13 Jahren). Die monierten Passagen lauteten: „Neben dem Evangelium gibt es Forderungen der Macht und des Rechtes, ohne die die menschliche Gesellschaft nicht existieren kann. ... Oder ich will mich noch etwas behutsamer ausdrücken: ich persönlich weiß mir im Konflikt zwischen Christentum und anderen Lebensaufgaben nicht anders zu helfen, als daß ich die Grenzen zu erkennen suche, die das Christentum hat. Das ist schwierig, aber besser als die Last der halben Wahrheiten, deren Druck auch ich getragen habe." S. 6 4 (Zit. nach der 4 . Aufl.).

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Sie schrieb 1902 an Naumann: „Hochverehrter Herr Pfarrer, als mir in diesen Tagen ganz unerwartet ein kleines Legat zufiel, war es mein erster Gedanke und meine erste Freude, Ihnen einen Teil davon für die nationalsoziale Sache zur Verfügung zu stellen. ... Ich möchte so gern die Gelegenheit benutzen, um Ihnen zu danken für alles, was Sie seit Jahren, ohne es zu wissen, mir geschenkt haben. Ich kann sagen, daß Sie keinen geringen Teil an meiner Erziehung hatten, ich war fast noch ein Kind, als ich mir schon von meinem ersten Taschengeld die ,Hilfe' hielt. Und Ihnen habe ich es zu danken, daß mir seither alle die sozialen Gedanken immer mehr zum Lebensinteresse und Lebensinhalt werden." 68 Es ist ungewöhnlich, als junger Mensch einem Fremden seine Erbschaft anzubieten, und läßt neben den persönlichen Idealen auf einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit schließen, wenn damit die Verbreitung „sozialer Gedanken" gesponsert werden soll. Wesentlich ist jedoch in diesem Zusammenhang, daß für Elly Knapp die Lektüre der Hilfe Auslöser für ihre Kontaktaufnahme zu Naumann war. Genau hier sind die Anfänge einer Überzeugung zu finden, die später „Politik" als Handlungsperspektive begriff. Die ersten persönlichen Begegnungen von Elly Knapp mit Naumann fanden erst zwei Jahre später statt und wurden aus der Rückschau enthusiastisch ihrer Freundin mitgeteilt: „Außerdem stehen wir noch so ganz unter dem Eindruck der Naumann-Tage, daß es mir vorkommt, als müßten alle Menschen, die ich liebhabe, auch etwas davon spüren." 69 Sie berichtete von einer politischen Versammlung im „Roten Haus" in Schiltigheim: „Bier, Rauch und Debatte mit den Sozialdemokraten. Nur zehn bis zwanzig Damen, zum ersten Mal, daß Damen überhaupt anwesend waren. Es war wieder fein, dauerte aber von acht bis dreiviertel ein Uhr!" 70 Nach mehreren Erlebnissen dieser Art war Elly Knapp so beeindruckt, daß sie zum weiteren Studium nach Berlin wechselte, wo sie alsbald zum engeren Naumann-Kreis zählte. Zu ihren Aktivitäten gehörte eine schnelle Informationsbeschaffung über jeweils aktuelle Themen: So veranstaltete sie für Naumann eine Führung in der großen Ausstellung über Heimarbeit im Februar 1906 und begann, kleine Artikel für die „Hilfe" zu schreiben.71 Sie berichtete ihrem Vater von den ersten Kontakten zu Frauenrechtlerinnen in der „echt Berliner

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Zit. nach Elly Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. von Margarethe Vater, Tübingen 1961, S. 32. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 57.

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Gesellschaft", bei der immer eine Sache „ganz ausschließliches Modethema" sei, so im Dezember 1905 der Mutterschutz. 72 Doch im kleinen Kreis wurde auch gefeiert, zum Beispiel ein nationalsozialer Fasching. „Das war das Wunderbarste: wir alle auf dem Fußboden lagernd um ihn herum, er groß in der Mitte ragend und über das süddeutsche Wesen redend. Von den römischen Kasernen auf deutschem Boden anfangend, verfolgte er die süddeutsche Art bis zu uns, die wir hier einen ,seelischen Protest' gegen die offiziellen Feierlichkeiten, die zu gleicher Stunde im Schloß stattfanden, machten. Als er fertig war, tanzten wir um ihn herum - es war wie in einer anderen Welt, alle Gesetze der Schwere schienen aufgehoben, nicht nur die menschlichen Etikettegesetze." 73 Gerade diese, auf den ersten Blick unpolitisch wirkenden Schilderungen vermitteln einen authentischen Eindruck von der „lockeren", gelösten Atmosphäre des gesellschaftlichen Lebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Beteiligten trafen sich zwanglos beim gemeinsamen Abendessen, wenn beispielsweise wichtige Besprechungen über eine geplante Erweiterung der „Hilfe" anstanden. 74 Im Naumann-Kreis lernte Elly Knapp auch ihren zukünftigen Ehemann Theodor Heuss kennen, den sie 1908 heiratete. Diese Entscheidung wurde mit Naumann intensiv diskutiert, der dem Entschluß anfangs skeptisch gegenüberstand. Dazu schrieb Elly Knapp 1907: „Für mich persönlich wäre nun der wichtigste Teil der,Frauenfrage', über die ich manchmal mit Ihnen diskutiert habe, gelöst. Ich meine damit nicht gerade die Frage: ,Wen werde ich heiraten?', sondern die: ,Wie kann ich mich in die Lage versetzen, abzuwarten, bis ich nach inneren, nur inneren Gründen heiraten kann?' Die Frauenvereine sollten eigentlich ihren Mitgliedern so eine Art von Streikgeldern geben, um sie vor den Geldund Versorgungsheiraten zu bewahren!" 75 Diese Einstellung der Ehe

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Ihr Kommentar lautete: „Es hatte so was Krampfhaftes an sich, wenn bei Serings in drei Ecken je eine Gruppe saß, von denen jede über uneheliche Kinder redete, wobei die Damen immer viel radikaler sind als die Herren. Sie sind dabei alles sehr brave und ehrbare Damen, aber man ist hier nun mal .gestört' auf dieses Thema und es ist entsetzlich spießig, es sonderbar zu finden. Für mich hat es so was furchtbar Komisches, wenn die gebildeten Leut' so reden wie die Blinden von der Farbe." Ebd., S. 52f. Ebd., S. 59f. Original-Ton Elly Knapp: „Alle ,Hilfe'-Leute, inklusive der Geschäftsführer, waren da. Naumann sagte mir, es sei halt große Wäsche und ich dürfe helfen. So wurde denn alles durchgesprochen, was gut sei und was böse, und was gemacht werden müsse in der nächsten Zeit. Für mich war's sehr interessant." Ebd., 68. Ebd., S. 98.

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gegenüber war vergleichsweise modern, ebenso wie die Gütertrennung. Im alltäglichen Leben und der persönlichen Lebensplanung zeigten sich jedoch die Grenzen der geschlechterspezifischen Selbstbestimmung, indem der berufliche Wechsel von Theodor Heuss nach Heilbronn auch den privaten Umzug des Ehepaars bedeutete, was mit großen Umstellungsproblemen für Elly Heuss-Knapp verbunden war. Die folgenden Jahre erlebte sie die Aktivitäten des Naumann-Kreises aus der räumlichen Distanz, vorwiegend über die Berichterstattung in der „Hilfe". Sie blieb weiterhin berufstätig, später in der Rundfunkwerbung, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Auf den ersten Blick scheint der Kreis eine Männer-Domäne gewesen zu sein, denn der Frauenanteil lag unter zehn Prozent. Von diesen Frauen waren allerdings auffallend viele in der bürgerlichen Frauenbewegung organisiert: Marianne Weber, Minna Cauer, Elisabeth Gnauck, Marie Martin, Katharina Kippenberg und andere. Auf diese Weise gelangten Frauenthemen in die Diskussion und führten zu einem geschärften Problembewußtsein. Die Forschung reagiert auf derartige Kontakte zurückhaltend. 76 Einige Liberale um Naumann taten sich nämlich nicht gerade als Vorkämpfer für Frauenrechte hervor. Die Positionen einzelner Frauen mußten in der typischen Männerriege erst mühsam durchgesetzt werden. Umgekehrt lassen Äußerungen darauf schließen, daß zahlreiche Frauen selbst davor zurückschreckten, in der männlich dominierten Politik repräsentative Ämter zu übernehmen. 77 Grundsätzlich gab es jedoch innerhalb des personenzentrierten Milieus für zahlreiche Frauen die Chance auf ausbaufähige Betätigungsfelder, indem sie beispielsweise in der „Hilfe" Beiträge veröffentlichten. Angesichts der sonst begrenzten Partizipationschancen muß ihr Emanzipationsschritt im Naumann-Kreis hoch veranschlagt werden.

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Vgl. die kritische Position von Angelika Schaser: Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien ( 1 9 0 8 - 1 9 3 3 ) , in: H Z 2 6 3 ( 1 9 9 6 ) , S. 6 4 1 - 6 7 9 ; sehr differenziert Ursula Baumann: Protestantismus und Frauenemanzipation in Deutschland 1 8 5 0 bis 1 9 2 0 , Frankfurt a.M. / New York 1 9 9 2 ; außerdem: Doris Kaufmann: Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts, München 1 9 8 8 ; zur Organisationsgeschichte der Frauenbewegung Irene Stoehr: Emanzipation zum Staat? Der Allgemeine Deutsche Frauenverein - Deutscher Staatsbürgerinnenverband ( 1 8 9 3 - 1 9 3 3 ) , Pfaffenweiler 1 9 9 0 ; aus der älteren Forschung Barbara GrevenAschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1 8 9 4 - 1 9 3 3 , Göttingen 1981.

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Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Elly Heuss-Knapp und Friedrich Naumann im November / Dezember 1 9 1 8 , in: Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3 0 0 1 ) , Nr. 11, Bl. 184ff.

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Zur Kontinuität des Naumann-Kreises „Unaufhaltsam rollen die neuen Probleme heran: die Bevölkerungsvermehrung, das Gespenst der Arbeitslosigkeit, das Anwachsen der Großstädte, der die selbständigen Existenzen verschlingende Großbetrieb, die Boden- und Wohnungsnot, die Lockerung des Familienlebens", so schilderte Johannes Naumann aus der Rückschau 1930 das gesellschaftliche Gefüge um die Jahrhundertwende. 78 Diese Verflechtungen im Kaiserreich wurden lange für traditionell und rückständig gehalten; inzwischen hat sich in der Forschung unter dem Schlagwort „Ambivalenz der Moderne" die Einstellung durchgesetzt, daß es durchaus vielversprechende Ansätze zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft gegeben hat. Dazu schreibt Kurt Nowak: „Unter dem Gesichtspunkt der Ausbreitung und schließlichen Explosion der Moderne verlieren die Zäsuren zwischen Kaiserreich und Republik ihre Trennschärfe". 7 9 Mehr noch: In der gesellschaftlichen Gemengelage des Kaiserreichs vor dem Ersten Weltkrieg wurden die entscheidenden Weichen für die spätere Entwicklung in der Weimarer Republik gestellt. Was bedeutete das für den Naumann-Kreis? Der gemeinsame Nenner des Naumann-Kreises bestand in einer Oppositionshaltung mit völlig unterschiedlichen handlungsleitenden Konsequenzen. Meines Erachtens hat es (zumindest im Deutschen Kaiserreich) keine Bewegung gegeben, die eine derartig ungewöhnliche Metamorphose durchlaufen hat. Einzelne Reformbewegungen konnten zwar im Laufe der Zeit ihre Richtung ändern oder ambivalente Tendenzen aufweisen, ohne sich jedoch annähernd so radikal zu verwandeln: Das einzigartige Strukturmerkmal des Naumann-Kreises besteht in der Verbindung von kleinräumiger, konservativer Genese und einer sich zunehmend ausweitenden Opposition, verbunden durch die Wirksamkeit des Charismas. Diese genuin protestantische Opposition kehrte sich gegen die orthodoxen Traditionen der evangelischen Kirche wie auch gegen die Liberalismusvorstellungen des 19. Jahrhunderts, in denen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie als gesellschaftliche Herausforderungen ignoriert wurden. Zahlreiche Konflikte mit kirchlichen, staatlichen und politischen Institutionen dokumentieren diesen Verwandlungsprozeß des Naumann-Kreises und markieren darüber hinaus den Grad an Unzufriedenheit mit der herkömmlichen Verwaltung von 78

In: Evangelisch-Sozial (wie Anm. 5 5 ) .

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Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 2 0 . Jahrhunderts, München 1 9 9 5 , S. 2 3 3 .

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Religion und Politik im Kaiserreich. Das oppositionelle Leitmotiv setzte den in bildungsbürgerlichen Kreisen vorherrschenden kulturpessimistischen, oftmals elitären und bewußt unpolitischen Gesinnungen fortschrittsoptimistische, sozialintegrative und politisierende Akzente entgegen. Insofern war Opposition die entscheidende Voraussetzung für politische Emanzipation. Für einige Mitglieder, beispielsweise Paul Göhre, M a x Maurenbrecher, Hellmut von Gerlach, Rudolf Breitscheid und Gerhard Hildebrand bedeutete der Naumann-Kreis ein wichtiger Schritt in Richtung Sozialdemokratie. 8 0 Besonders die Rezipienten verfolgten alle öffentlichen Entscheidungsprozesse mit kritischer Anteilnahme. Ihre Briefe lassen am ehesten die politische Befindlichkeit durch teilweise ausführliche Schilderungen ihrer Lebensschicksale erkennen, verbunden mit dem Bedürfnis nach Identifikation und Orientierung, zum Beispiel sichtbar im Wunsch nach Stellungnahmen in weltanschaulichen und gesellschaftlichen Fragen. 8 1 Der Erste Weltkrieg war als gesellschaftlicher Ausnahmezustand für die gesamte Bevölkerung mit tiefgreifenden Konsequenzen verbunden. Für den Naumann-Kreis bedeutete er in seiner zugespitzten Krisenhaftigkeit eine immense Belastungs- und Bewährungsprobe. In den Kriegsjahren rückten alltägliche Versorgungsprobleme neben familiären Notsituationen in den Mittelpunkt der Anfragen, die N a u m a n n als Ratgeber und Seelsorger forderten. Viele Menschen hatten bei politischen Fragen keine Ansprechpartner und waren wenig informiert. Insbesondere jüngere Frauen beklagten sich über das Fehlen vertrauenswürdiger Instanzen zur persönlichen Meinungsbildung, während ältere Ehefrauen aus abgelegenen Regionen unter der Isolation litten und sich 80

Vgl. Karl Vorländer: Sozialdemokratische Pfarrer. Eine Skizze, in: Edgar J a f f e (Hg.): Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 30. Bd., Tübingen 1910, Repr. N e w York 1971, S. 455-513; Joachim Brenning / Christian Gremmels (Hg.): Paul Göhre. Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Sozialreportage eines Pfarrers um die Jahrhundertwende, Gütersloh 1978; Gerd Wilhelm Grauvogel: Theodor von Wächter. Christ und Sozialdemokrat. Ein soziales Gewissen in kirchlichen und gesellschaftlichen Konflikten, Stuttgart 1994; Franz Gerrit Schulte: Der Publizist Hellmut von Gerlach (1866-1935). Welt und Werk eines Demokraten und Pazifisten, München 1988. Allgemein siehe auch Erhard Eppler: Liberale und soziale Demokratie. Z u m politischen Erbe Friedrich Naumanns, Villingen 1961.

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So bezeichnete sich zum Beispiel Eva Greyl aus Berlin 1912 als „eine Ihrer Schülerinnen, das heißt als ein junger Mensch, der sich schon manchmal, wenn er in Überzeugungsfragen Rat und Hilfe brauchte, diesen bei Ihnen, in Ihren Werken oder Vorträgen geholt hat" und erkundigte sich nach Naumanns Position in der Judenfrage, in: Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3001), Nr. 46, Bl. 40.

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Naumann anvertrauten. 82 Das Engagement drückte sich publizistisch („Kriegs- und Heimatchronik") ebenso wie durch praktische Initiativen, z.B. in der Gründung der „Staatsbürgerschule" aus. Hier sollte eine „Erziehung zur Politik" stattfinden, legitimiert durch den gesellschaftlichen Anspruch auf eine soziale Integration der „Massen". Die Zielvorstellung war eine demokratische Erziehung, der Abbau sozialer Privilegien und eine Demokratisierung der politischen Kultur, um allen Staatsbürgern eine eigenständige, kritische und gleichberechtigte Teilhabe an den gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen zu ermöglichen. Zuletzt arbeitete Naumann intensiv in der Weimarer Verfassungskommission mit und wurde zum Ersten Vorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei gewählt. Seine Reputation war so groß, daß er sogar für das Amt des Reichspräsidenten genannt wurde. Der Tod machte diese Überlegungen zunichte: Kurz nach Verabschiedung der Reichsverfassung starb Friedrich Naumann im August 1919, zermürbt durch die Kriegserfahrungen wie viele Angehörige seiner Generation. In der Weimarer Republik schlossen sich die meisten Angehörigen des Naumann-Kreises der Deutschen Demokratischen Partei an und wirkten auf reichs- wie auf kommunalpolitischer Ebene in vielen Funktionen (z.B. Wilhelm Heile und Gertrud Bäumer). Überhaupt ist eine „Ämterhäufung" der Naumannianer und Naumannianerinnen als Charakteristikum zu beobachten, die sich nicht immer leicht rekonstruieren läßt. Dietmar Wiegand hat mir freundlicherweise die Mitgliedschaften des Thüringer Pfarrers und Naumannianers August Cesar übermittelt, der im Kaiserreich Gründer eines Raiffeisenvereins, Mitglied des Evangelisch-Sozialen Kongresses, des National-sozialen Vereins und der Freisinnigen Vereinigung, der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt, des Gustav-Adolf-Vereins und des Evangelischen Bundes war, in der Weimarer Republik Mitglied der DDP und des Thüringer Volkskirchenbundes und seit 1945 auch der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands angehörte. Was drückt sich in dieser Unermüdlichkeit der Mitgliedschaften unter wechselnden Regierungsformen aus? Über die persönlichen Beweggründe hinaus dokumentiert diese Haltung eine protestantische Identität, die für den Großteil der Naumannianer und Naumannianerinnen in Verbindung mit politischen Handlungsmaximen lebenslang verbindlich 82

Die selbsternannte „Mitteleuropäerin" Elfriede Heckmann von Sonnwerd aus Graz freute sich besonders über den von Naumann geprägten Satz: „Politik ist Arbeit aus dem Leben für das Leben." In: Nachlaß Friedrich Naumann (Bestand Ν 3001), Nr. 38, Bl. 37.

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blieb. Gerade der untrennbare Zusammenhang von sozialer Ethik und praxisorientiertem Handeln scheint einen Großteil der Klientel angesprochen zu haben. Besonders involviert war die um 1900 geborene protestantisch-bildungsbürgerliche, reformorientierte Generation Gustav Heinemanns, des Bundespräsidenten während der sozialliberalen Koalition. In meiner Kategorisierung handelt es sich um die dritte Generation des Naumann-Kreises. Insofern setzte sich die Prägung durch Naumann auch über die Weimarer Republik hinaus fort, u.a. überliefert durch Eugen Gerstenmaier, Erhard Eppler oder Hildegard HammBrücher. Die „Hilfe" erschien bis 1944 und bot den Mitarbeitern eine - allerdings zunehmend eingeschränkte, weil zensierte - Möglichkeit zur Meinungsäußerung. Als öffentliche Plattform verlor sie deshalb weitgehend an Einfluß im Vergleich zum Kaiserreich, als sie in den Konflikten zwischen Großindustrie und Arbeiterschaft (wie 1895 mit StummHalberg im Saarland) eine zentrale Rolle spielte. Das Schicksal des 1907 ins Leben gerufenen Deutschen Werkbundes dokumentiert die innere Zerrissenheit einer ehemals avantgardistischen Kultur mit funktionaler Ästhetik. In der Folgezeit entwickelte sich der Werkbund zu einem Sammelbecken verschiedener Richtungen, mit einem späten Sieg nationalistischer Tendenzen bis zur Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten 1934. Ähnlich erging es dem Deutschen Bund für Bodenreform nach dem Tod des langjährigen Vorsitzenden Adolf Damaschke 1935, ebenfalls ein Naumannianer. Diese kulturkritischen und sozialpolitischen Reformbewegungen waren seit der Jahrhundertwende mit dem Naumann-Kreis eng verbunden. Auch die Volksbildungsbewegung, insbesondere die kirchlichen Volkshochschulen, profitierten von den Impulsen der politischen Emanzipationsbewegung. 83 Die institutionelle Einbindung wurde nicht zuletzt durch die innovativen Projekte des Deutschen Staatslexikons (1914) und der Deutschen Hochschule für Politik (ab 1916) dokumentiert und ansatzweise auch realisiert. Während das Staatslexikon über das Planungsstadium nicht hinaus kam und aufgrund des Kriegsausbruchs vom Herausgeber Naumann kurzfristig storniert wurde 84 , gelang es der „Staatsbürgerschule" noch 1918, trotz großer organisatorischer Schwierigkeiten, den Lehrbetrieb aufzunehmen und bis in die dreißiger Jahre erfolgreich fort83

Vgl. die Ausführungen von Pfarrer E. Fuchs: Von Naumann zu den religiösen Sozialisten 1 8 9 4 - 1 9 2 9 , S. 3-20, in: Schriften der religiösen Sozialisten, Bd. 2 (Nr. 9-13), Reprint Würzburg 1976.

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Siehe Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik (wie Anm. 40), insbes. S. 303f.

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zusetzen, bevor sie von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde. Indem die Bildungseinrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg als OttoSuhr-Institut in die Freie Universität Berlin integriert wurde, institutionalisierte sich diese ursprünglich politische Kontinuitätslinie der Emanzipationsbewegung auf wissenschaftlicher Ebene langfristig erfolgreich. 85 Hier ist übrigens auch der Ausgangspunkt für die Studentenunruhen von 1968 zu finden, möglicherweise ein Hinweis auf die Traditionslinie bei der Mobilisierung der Jugend. Was hat politische Emanzipation mit Charisma zu tun? Charisma entstand im Falle Naumanns durch protestantische Opposition und bewirkte politische Emanzipation. Die Dimensionen des Charismas erschließen sich in den Erwartungen breiter Bevölkerungsgruppen, in den realisierten Projekten und in den damit verbundenen Spannungen und Krisen des Naumann-Kreises. Diese Bedingungen förderten ein partizipatives, egalitäres und aktives Politikverständnis in sozialer, medialer und inhaltlicher Hinsicht am Schnittpunkt von sozialer Demokratie und Liberalismus. Die Vorstellung von der Politik als identitäts- und konsensstiftende Perspektive kristallisierte sich in der Abgrenzung gegen Tendenzen von Ausschluß, Beharrung und Reaktion, mit Blick auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung und im pragmatischen Handeln heraus. So konnten Ideen durch ihre Realisierung an Wert gewinnen oder verlieren. Insofern ist die Zugehörigkeit zum Naumann-Kreis auch als offensiver Versuch zu begreifen, den „Aufbruch in die Moderne" konstruktiv mitzugestalten. Die deutsche Geschichte ist nicht gerade reich an solchen Beispielen demokratischer Praxis, die sich zudem außerhalb des rein akademischen Milieus bewegten. Die Bedeutung des Naumann-Kreises, dessen Kontinuität mit Vorbild-Funktionen bis heute reicht, besteht in einer sozialen Vielschichtigkeit der Teilnahme an einer öffentlichen Kommunikation über alle brisanten Themen des gesellschaftlichen Lebens. Die Experimentierfreudigkeit der politischen Bewegung war außergewöhnlich und typisch zugleich für eine orientierungsbedürftige Zeit. Zum Schluß möchte ich noch einmal auf die Eingangsfrage zurückkommen: War Naumann überhaupt ein Liberaler? Sein persönlicher Beitrag zum sozialen Liberalismus in einer organisierten Welt entfaltete sich in den Aktivitäten einer politischen Emanzipationsbewegung, die aus konservativ-protestantischen Traditionslinien heraus entstand und "5

Neben der bereits genannten Studie von Missiroli (wie Anm. 2 6 ) siehe auch Ernst Jäckh (Hg.): Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, Berlin 1 9 3 1 sowie ders.: Geschichte der Deutschen Hochschule für Politik, Berlin 1 9 5 2 .

Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation

147

als personenzentriertes Milieu strukturiert war. Vom Naumann-Kreis gingen wichtige Impulse zur Weiterentwicklung des gesamten Liberalismus und der Demokratisierung aus. Diese sind heute leider vielfach in Vergessenheit geraten oder werden vielleicht nur unzureichend rezipiert. Das staatsbürgerliche Konzept der sozialen Demokratie als Leitbild einer neuen gesellschaftlichen Ordnung vertrat von vornherein einen hohen Anspruch auf normativer Ebene. Dieser Anspruch kann durch die lebensweltliche Realität in einem heute noch andauernden Bewußtseinsprozeß erst langsam eingelöst werden. Den Naumannianern und Naumannianerinnen gebührt an dieser Entwicklung ein großer Verdienst. Ihre Forderungen sind entweder eingelöst worden oder haben sich erübrigt, Spurenelemente ihres Wirkens lassen sich in fast allen gesellschaftlichen Bereichen finden. Nicht zuletzt hat sich die protestantische Haltung der Opposition in der Bundesrepublik auch im Pluralismus an Deutungsangeboten als politisch konsensfähiger und identitätsstiftender Motor erwiesen und bislang zuverlässig bewährt.

III. Kapitalismus und Freisinn im Kulturdiskurs

N e u d e u t s c h e Kultur- und Wirtschaftspolitik Friedrich N a u m a n n und der Versuch einer Neukonzeptualisierung des Liberalismus im Wilhelminischen Deutschland TRAUGOTT JÄHNICHEN

N a c h dem politischen Scheitern des Nationalsozialen Vereins wird bei Friedrich N a u m a n n und im Umfeld seiner Parteigänger seit der Jahrhundertwende das Attribut „ N e u d e u t s c h " zum Kennzeichen einer kultur- und gesellschaftspolitischen Neuorientierung. Damit ist eine weitere grundlegende Etappe des sozialethischen und politischen Entwicklungsweges Friedrich Naumanns bezeichnet: nach der Frühphase im Horizont einer christlich-sozialistischen Programmatik und der wesentlich vom nationalen Machtstaatsgedanken bestimmten Zeit des Nationalsozialen Vereins entwickelte N a u m a n n eine neudeutsche Politikkonzeption, die als linksliberales Reformkonzept eine Kooperation der „deutschen Linken" 1 ermöglichen sollte. Diese Programmatik gehört in den zeitgeschichtlichen Kontext einer „breiten, bislang höchst unzureichend erhellten Diskussion über die liberalen Zukunftsvorstellungen ... und über die Wege, diese Ziele durchzusetzen" 2 .

1. Die Betonung der Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus als Kernelement der neudeutschen Kultur- und Wirtschaftspolitik Die Anerkenntnis der Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus markiert eine entscheidend neue Akzentsetzung im sozialethischen und politischen Denken N a u m a n n s seit der Zeit der Jahrhundertwende. Nur schwer ließ sich N a u m a n n - wie von M a x Weber bereits bei der Gründung des Nationalsozialen Vereins im Jahr 1896 gefordert 3 - davon überzeugen,

'

Friedrich N a u m a n n : Neudeutsche Wirtschaftspolitik, in: ders., Werke. 3. Bd., Schriften zur Wirtschafte- und Gesellschaftspolitik, bearbeitet von W o l f g a n g M o m m s e n , O p l a d e n 1 9 6 4 , S. 5 3 4 .

2

Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1 9 8 8 , S. 2 1 6 .

3

Weber übte an der christlich-sozialistischen Profilierung des Nationalsozialen Vereins scharfe Kritik, indem er die Bewegung als „Partei der Mühseligen und Belade-

152

T r a u g o t t Jährlichen

daß der „Kapitalismus ... eben erst an (hebt), die Herrschaft der Weltkugel an sich zu reißen". 4 Zu dieser Einschätzung gelangte Naumann insbesondere durch die Lektüre von Werner Sombarts Werk „Der moderne Kapitalismus". 5 Diese neu gewonnene Einschätzung steht in einem fundamentalen Gegensatz zu den Positionen des frühen Naumann, die unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und speziell mit marxistischer Literatur von einer zeitlich absehbaren Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise geprägt waren. So konnte er in seiner frühen Schrift „Die Zukunft der Inneren Mission" eine „grundsätzliche Verwandtschaft" 6 zwischen Innerer Mission und Sozialdemokratie feststellen, da beide eine „Entlastung der Bedrängten" 7 und dementsprechend ein gemeinsames Ziel, den sozialen Zukunftsstaat, anstrebten. Zwar grenzte sich Naumann theologisch gegenüber der Sozialdemokratie ab, die er als „chiliastische Schwärmerei" bezeichnete, der es allein um ein diesseitiges, materialistisches „Weltglück" 8 ging. Allerdings blieb Naumanns Denken lange Zeit von der gesellschaftsverändernden Zukunftsperspektive der Sozialdemokratie bestimmt, wobei er seinerseits ins Zentrum der Überlegungen das „in Christo erschienene Reich Gottes" 9 stellte, von dem er „Weltansicht und Ethik, Theorie und Praxis einheitlich zu gestalten" 10 versuchte. Das Reich-Gottes-Motiv, theologisch ist Naumann hier noch weitgehend von der Ritschl-Schule beeinflußt, steht bei ihm für die sozialethische Perspektive eines gesellschaftlichen Veränderungswillens, der im Sinn der neutestamentlichen Reich-Gottes-Botschaft „die möglichste Beseitigung von Armut und sozialer Verachtung" 11 beinhaltet. nen" titulierte, gleichzeitig jedoch dieses Forum dazu nutzte, „für deutsche Weltpolitik auf der Basis des industriekapitalistischen Fortschritts zu werben". Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im Wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 149f. 4 Friedrich Naumann: Die Zukunft des Kapitalismus, in: Die Zeit Nr. 9/1903, S. 230. 5 Vgl. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, Berlin 1902. 6 Friedrich Naumann: Die Zukunft der Inneren Misison, in: ders., Werke. 1. Bd., Religiöse Schriften, hrsg. von Walter Uhsadel, Opladen 1964, S. 97. Vgl. auch die Interpretation von W. Göggelmann: Christliche Weltverantwortung zwischen sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich Naumanns 18601903, Baden-Baden 1987, S. 65ff. 7 Ebd. * F. Naumann, Was tun wir gegen die glaubenslose Sozialdemokratie?, in: Friedrich Naumann, Werke. 1. Bd., a.a.O., S. 123; vgl. auch S. 127, S. 129f. 9 F. Naumann, Was tun wir gegen die glaubenslose Sozialdemokratie?, in: ebd., S. 127. 10 F. Naumann, a.a.O., S. 136. " F. Naumann, Christentum und Wirtschaftsordnung, in: Werke. 3. Bd., a.a.O., S. 337.

Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik

153

Aufschlußreich ist, wie Naumann im Horizont dieser Zielsetzung die technologischen Innovationen bewertet und diese in die Reformperspektive eines christlichen Sozialismus hat einbeziehen können. Im Unterschied zu den meisten Theologen seiner Zeit, die „der neuen industriellen Gesellschaft mit tiefer Skepsis"12 gegenüberstanden, hat Naumann den technologischen Fortschritt geradezu euphorisch begrüßt und theologisch legitimiert: „Das ist die Hauptwahrheit, die wir uns heute einprägen wollen: Gott will den technischen Fortschritt, er will die Maschine" 13 . Die Hochschätzung des technologischen Fortschritts als Voraussetzung der Beseitigung von Armut und Rückständigkeit läßt Naumann jedoch nicht die Not der an den Rand gedrängten Handwerker, die oft hoffnungslose Lage der Arbeitslosen und der durch die Maschine zu einer entfremdeten Arbeit gezwungenen Industriearbeiter verkennen. Naumann ließ seine „Besprechung über die Maschine mitten hinein in die sozialpolitische Arbeit" 14 führen, indem er als die wesentliche Ursache für die sozialen Notlagen die Ungerechtigkeiten der Kapitalherrschaft identifizierte. So stellte er in diesem Zusammenhang betont heraus, daß die „Geldverhältnisse ... noch nicht eingerichtet (sind) für das Zeitalter der Maschinen" 15 und proklamierte in diesem Sinn mit einer dezidiert antikapitalistischen Stoßrichtung die Zielsetzung eines christlichen Sozialismus.16 Das Ungenügen seines Versuches, ein christlich-sozialistisches Wertesystem für die gesellschaftliche Neuordnung als Alternative zur sozialdemokratischen Zukunftshoffnung zu entwickeln, ist Naumann recht bald aufgegangen. Der Schritt zur Parteigründung des Nationalsozialen Vereins17 und der daraufhin einsetzende bewußte Weg in die Politik

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13

14 15 16 17

Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in: Der deutsche Protestantismus um 1900, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf und Hans Martin Müller, Gütersloh 1996, S. 12. F. Naumann, Der Christ im Zeitalter der Maschine, in: ders., Werke. 1. Bd., a.a.O., S. 316. F. Naumann, a.a.O., S. 321. Ebd. Vgl. F. Naumann, a.a.O., S. 322. Naumann hat spätestens seit 1894 den Weg der Parteigründung und damit den Weg in die Politik erwogen. Vgl. F. Naumann, Das Recht eines christlichen Sozialismus, in: ders., Werke. 1. Bd., a.a.O., S. 418: „Darum ist für absehbare Zeiten die Hoffnung, daß unser religiös-sozialer Geist in eine der vorhandenen Gruppen eindringen wird, nicht groß. Wir müssen uns auf eigene Füße stellen und uns als Christlich-soziale organisieren, wenn auch noch nicht als Partei. Parteien soll man nicht machen wollen. Sie werden und wachsen, wenn ihre Zeit da ist. Ohne Organisation wird unendlich viel Kraft zwecklos verpufft."

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Traugott Jähnichen

wurde im Rückblick von Naumann dahingehend bewertet, daß eine Rechristianisierung der Gesellschaft geschichtlich überholt gewesen sei und statt dessen die spezifischen Sachgesetzlichkeiten von Politik und Wirtschaft deutlicher berücksichtigt werden müßten. 18 Das Ziel eines christlichen Sozialismus im Sinn einer Überwindung des Kapitalismus durch eine Rechristianisierung der Gesellschaft wurde dementsprechend von Naumann aufgegeben und er versuchte in der Folgezeit, durch eine Verbindung der nationalistischen und der sozialistischen Idee das soziale Problem im Horizont des deutschen Machtstaates zu lösen. 19 Als soziale Basis für das nationalsoziale Projekt erhoffte er ein Zusammengehen von Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft, wobei beide Seiten die jeweiligen besonderen Anliegen zu respektieren und zu unterstützen hatten: „Wir erwarten, daß die Vertreter deutscher Bildung im Dienst des Gemeinwohls den politischen Kampf der deutschen Arbeiter gegen die Übermacht vorhandener Besitzrechte unterstützen werden, wie wir andererseits erwarten, daß die Vertreter der deutschen Arbeit sich zur Förderung vaterländischer Bildung und Kunst bereit finden werden." 2 0 Den wichtigsten literarischen Niederschlag der nationalsozialen Phase Naumanns bildet seine verfassungspolitische Schrift „Demokratie und Kaisertum" 2 1 , in der er „die kameralistische Idee des sozialen Königtums aufgegriffen" und im Sinn einer „plebiszitär geführten Monarchie bei Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche" 22 weiter entwikkelt hatte. Insbesondere diese „radikale Anwendung des demokratischen 18

Vgl. F. Naumann, Wie lassen sich die sittlichen Ideale des Christentums in das gegenwärtige Leben überführen? In: ders., Werke. 1 Bd., S. 825ff. Vgl. auch die Kritik an Naumanns bisherigem Weg bei W . Göggelmann, a.a.O., S. 105f.

"

Vgl. hierzu folgende Interpretation von Ernst Troeltsch: „Interessant ist hier die Entwicklung Friedrich Naumanns, der von seinem christlichen Sozialismus durch realistische Erkenntnis der Sachlage immer mehr auf den Staat geworfen wurde, bis er das soziale Problem fast nur mehr vom Staat aus angreift und Kirche wie Christentum wieder in das Element des rein persönlichen und ethischen Lebens zurückverweist." Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppe, 3. Aufl., Tübingen 1 9 2 3 , S. 13.

20

Protokoll über die Vertreterversammlung aller Nationalsozialen in Erfurt vom 2 3 . - 2 5 . November 1 8 9 6 , Berlin 1 8 9 6 , S. 5 9 .

21

Die erste Auflage erschien im Jahr 1 9 0 0 , signifikante Änderungen nahm Naumann in der dritten Auflage von 1 9 0 4 vor, wobei insbesondere das neu eingefügte Kapitel „Demokratische Industriepolitik" eine weitere Neuorientierung des Naumannschen Politikverständnisses, wie dann in der neudeutschen Wirtschaftspolitik dargelegt, signalisiert. Die Textvarianten von „Demokratie und Kaisertum" sind abgedruckt in: Friedrich Naumann, Werke. 2 . Bd., Opladen 1 9 6 4 .

22

G. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, a.a.O., S. 150f.

N e u d e u t s c h e Kultur- und Wirtschaftspolitik

155

Gedankens" 23 blieb auch im Spektrum des liberalen Protestantismus nicht unumstritten. Ebenso dürfte der Einfluß Max Webers auf Naumann in dieser Phase am ausgeprägtesten gewesen sein24, und die Betonung der „Weltpolitik" als „sozialmobilisierendes" 25 Element zeigt, wie hier „Imperialismus und Sozialliberalismus ... zu zwei Seiten der gleichen Reformpolitik" 26 wurden. Auch in dieser Phase lassen sich bei Naumann noch stark kapitalismuskritische Bewertungen finden. Allerdings ist eine Akzentverschiebung gegenüber dem christlich-sozialen Naumann darin zu sehen, daß die spezifische Profilierung des nationalsozialen Experiments sich wie folgt zusammenfassen läßt: „Die Nationalismusdebatte dominierte die Sozialismusdebatte" 27 . In erstaunlicher Parallelität zur Auflösung des Nationalsozialen Vereins und der Hinwendung Naumanns zum linksliberalen politischen Spektrum finden sich verschiedene Äußerungen, die eine Neueinschätzung der Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus belegen. Angesichts des raschen Übergangs Deutschlands von einem agrarisch geprägten Land zur Industrienation 28 wurde von Naumann neben dem technologischen Fortschritt zunehmend auch die Finanz- und Organisationskraft des Kapitalismus positiv eingeschätzt. Dieser im Vergleich zu seinen Frühschriften grundlegende Perspektivwechsel hat weitreichende gesellschaftspolitische Konsequenzen: insbesondere der Sozialismus erfährt eine neuartige Betrachtung. Dieser ist nämlich nicht mehr eine die Ge-

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26 27 28

Vgl. die Kritik von Ernst Troeltsch an dieser Schrift: „Aber da unterscheide ich mich eben auch in der praktischen Anwendung von Naumann, indem ich die radikale Anwendung des demokratischen Gedankens für keineswegs wünschenswert halte, sondern in allen Kämpfen doch auch die Rücksicht auf den sittlichen Wert des aristokratisch-konservativen Gedankens fordere." E. Troeltsch, Debattenrede, in: Die Verhandlungen des 15. Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Breslau am 25. und 26. Mai 1904, Göttingen 1904, S. 55. Vgl. Theodor Heuß: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. lOOff; vgl. auch Walter Spael, Friedrich Naumanns Verhältnis zu M a x Weber, Baden-Baden 1986. Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland, Baden-Baden 1983, S. 307. G. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, a.a.O., S. 151. Ebd. „... und welche Umgestaltung im ganzen Denken des Volkes ist es, wenn aus einem Landvolke zum großen Teil ein Industrievolk geworden ist". Friedrich Naumann, Die politischen Aufgaben im Industriezeitalter, in: ders., Werke. 3. Bd., hg. von Wolfgang Mommsen, Opladen 1964, a.a.O., S. 1

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genwart motivierende Zukunftshoffnung, auch kein absoluter Protest gegen die bisherige kapitalistische Wirtschaftsweise, sondern „ein Kampf um Macht und Einfluß der Besitzlosen in dieser Wirtschaftswelt, die allseitig dem Ziele der Vereinheitlichung zustrebt." 29 Um diese Einschätzung im Blick auf die parteipolitische Konstellation seiner Zeit zu belegen, konnte Naumann insbesondere die Positionen der sog. Revisionisten innerhalb der Sozialdemokratie anführen, die - so vor allen Eduard Bernstein - kritisch die von Marx prognostizierte Entwicklung des Kapitalismus mit der tatsächlichen Entwicklung kontrastierten, auf die Phänomene eines allmählichen Anstiegs des Lebensstandards und die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen hinwiesen und daraus für die Sozialdemokratie die Konsequenz zogen, Katastrophentheorien, d.h. die Erwartung des baldigen Zusammenbruchs der kapitalistischen Gesellschaft aufzugeben. 30 Grundsätzlich hielt Naumann ein politisches Zusammengehen dieser reformorientiert eingestellten Sozialdemokraten mit Liberalen und auch mit Vertretern kapitalistischer Interessen für möglich, da diese Gruppierungen „den beträchtlichen Resten vorkapitalistischer Zustände, Empfindungen und Absichten gegenüber als geistige Einheit" 31 anzusehen seien. Vor diesem Hintergrund wurde von Naumann nicht mehr die Überwindung und auch nicht eine Verchristlichung oder individualethische Zügelung des Kapitalismus angestrebt, sondern eine - wie im folgenden zu zeigen ist - kultur- und sozialpolitische Einbettung des Kapitalismus, dessen Dynamik jedoch uneingeschränkt bejaht wird. Dem Sozialismus als einem wichtigen Kooperationspartner kommt in diesem Zusammenhang vor allem die Aufgabe zu, den Kapitalismus durch Sozialpolitik und Elemente der Partizipation korrigierend zu ergänzen. 2. Neudeutsche Kulturpolitik als Fundament gesellschaftspolitischer Reformen Die Programmformel „Neudeutsch" ist seit der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs zu einem Schlüsselbegriff einer gesellschaftspolitischen Neuorientierung innerhalb des liberalen Spek29

10

F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, in: ders., Werke. 3. Bd., a.a.O., S. 4 4 0 . Vgl. Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick, München 1 9 6 6 , S. 1 1 2 f ; D. Lehnert: Reform und Revolution in den Strategiediskussionen der klassischen Sozialdemokratie, Bonn 1 9 7 7 , S. 1 7 2 f f . F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 4 4 1 .

Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik

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trums geworden. Mit diesem Attribut verbindet sich eine Interpretation der jüngsten Entwicklung in Deutschland, die von einer äußerst optimistischen Fortschrittssicht der deutschen Gesellschaft geprägt ist. Vor dem Hintergrund eines von darwinistischen Gedanken geprägten Interpretationsschemas der Geschichte 32 , das „sinkende und steigende Völker und Schichten" 33 glaubt identifizieren zu können, wird die deutsche Entwicklung mit der anderer Länder verglichen. In diesem Sinn stellte N a u m a n n pointiert „die menschliche Lebenskraft als Grundlage der Volkswirtschaft" 3 4 heraus und sah in dem im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern höheren Bevölkerungszuwachs in Deutschland eine elementare Wirtschaftskraft, die gleichzeitig eine Wirtschaftsaufgabe beinhaltet. Auch die in Deutschland außerordentlich effiziente Organisation der Arbeit 35 - konkret wurden hier die Entwicklung von Großbetrieben, die Bildung industrieller Kartelle und Gewerkschaften u.a. angesprochen - ist von ihm als Beweis einer besonderen Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft hervorgehoben worden. N a u m a n n und andere Protagonisten der neudeutschen Kultur- und Wirtschaftspolitik betonten mit einem unverkennbaren Stolz, daß in Deutschland eine ökonomisch und weltpolitisch aufstrebende Nation entstanden ist. Diese Bewertung ist von ihnen mit den Begriffen „Neudeutsch" und „Jung" umschrieben und im Sinn einer deutlichen Überlegenheit Deutschlands gegenüber anderen Nationen explizit betont worden: das „deutsche Volk ist jugendlicher als die Kulturnationen Westeuropas." 3 6 Allerdings standen - so die neudeutschen Programmatiker - die sozialen Verhältnisse, die innere Struktur des Reichs und die eingeschränkten kulturellen und politischen Teilhabemöglichkeiten der Bevölkerung in einem Widerspruch zu dieser dynamischen Entwicklung. Daraus ergab sich für N a u m a n n die Aufgabe, „die sich streitenden Einzelinteressen in den Gedanken einer gemeinsamen vorwärtsschreitenden neudeutschen Kultur einzuordnen." 3 7

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Vgl. explizit zu diesem Thema F. Naumann, Religion und Darwinismus, in: ders., Werke. 1. Bd., a.a.O., S. 73Iff. F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 82ff. F. Naumann, a.a.O., S. 76. Vgl. hierzu F. Naumann, a.a.O., S. 301ff. D. von Schulze-Gaevernitz, Kultur und Wirtschaft. Die neudeutsche Wirtschaftspolitik im Dienste der neudeutschen Kultur, in: Die Verhandlungen des 18. Evangelisch-Sozialen Kongresses in Straßburg, Göttingen 1907, S. 21. Im Vorbereitungsausschuß des Evangelisch-Sozialen Kongresses hatte Friedrich Naumann dieses Thema und auch den Referenten vorgeschlagen und durchsetzen können. F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 534.

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Ihm ging es somit um die Entwicklung kulturpolitischer Maßstäbe als Grundlage einer neudeutschen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, um das angestrebte Zusammengehen von Liberalen, Kapitalisten und Sozialisten für die Aufgabe einer sozialen und gesellschaftspolitischen Reformperspektive zu fundieren. Mit dieser Aufgabenstellung verband Naumann ein genuin kulturprotestantisches Anliegen, „indem er historisch weit ausholend die Kongruenz von religiösem und politischem Liberalismus herausstrich." 38 In kritischer Abgrenzung zu Marx, Haeckel, Nietzsche und den westeuropäischen Traditionen des Utilitarismus ging es ihm um die Entwicklung einer „Weltanschauung einer sich vorbereitenden deutschen Linken" 39 , die in der Tradition des deutschen Idealismus wurzeln sollte. Diese Tradition wollte Naumann für die Gegenwart beerben und durch die „Vermittlung dieser Schätze für das Volksbewußtsein ... eine Vergrößerung der Zahl von Menschen ... die nicht nur Maschinenteile sind, sondern Individualitäten" 40 . In diesem Zusammenhang konnte Naumann auch von einem „deutschen Glauben", der zur Grundlage des „Volkstums" 41 zu machen ist, sprechen. Schließlich versuchte Naumann im Horizont dieser Fragestellung die Bedeutung des religiösen Liberalismus zu profilieren. Diesen sah er wesentlich dadurch bestimmt, daß er „an den Wert jedes Einzelmenschen für den Menschheitsfortschritt (glaubt) und ... darum das Recht der Persönlichkeiten" 42 vertritt. Dieser liberal-protestantische Persönlichkeitsgedanke sollte gerade auch für die Arbeitnehmerschaft fruchtbar gemacht werden. Sobald diese die Möglichkeit erhalte, sich sittlich und geistig zu bilden, „wird man wieder von neuem suchen und lesen in dem Neuen Testament der armen Leute". 43 Gerade in der religiösen und kulturpolitischen Perspektive sah Naumann eine angesprochene Kongruenz von religiösem und politischem Liberalismus. Diese Kongruenz hielt er insbesondere deshalb von entscheidender Bedeutung, weil die „Liberalisierung des Staates letztlich

38 39

40 41 42

43

G. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, a.a.O., S. 1 5 1 . F. Naumann, Debattenrede im ESK 1 9 0 7 zum Thema „Kultur und Wirtschaft", in: Verhandlungen des 1 8 . ESK, Göttingen 1 9 0 7 , S. 4 9 . F. Naumann, a.a.O., S. 52. F. Naumann, a.a.O., S. 5 1 . F. Naumann, Liberalismus und Protestantismus, in: ders., Werke. 1. Bd., a.a.O., S. 7 7 3 . F. Naumann, Debattenrede im ESK zum Thema „Das Urchristentum und die unteren Schichten", in: Die Verhandlungen des 1 9 . ESK von 1 9 0 8 , Göttingen 1 9 0 8 , S. 4 1 .

Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik

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niemals mit bloßer Staatstechnik und Nützlichkeitslehre (zu) erreichen (ist), sondern ... einen Untergrund von Volksglauben voraus(setzt), wie er sich im religiösen Liberalismus bietet". 44 3. Die Demokratisierung der Wirtschaft als Kernstück der neudeutschen Wirtschaftspolitik Auf der Grundlage dieser kulturpolitischen Überlegungen entwickelten Naumann und seine Gefolgsleute in Abgrenzung zu den feudalen Kräften und den konservativen Parteien die Grundlinien einer das Reich demokratisierenden sowie die Arbeiterschaft rechtlich, sozial und wirtschaftlich integrierenden Reformpolitik. Im Blick auf die Arbeits- und Sozialpolitik skizzierte Naumann als Grundproblem die Aufgabe, ob und inwieweit angesichts des unaufhörlichen Anwachsens der Großindustrie die „Menschenrechte im Industrialismus" 45 bewahrt werden können: „Behalten wir die Menschenrechte im Industrialismus? Das ist das tiefste Problem der Industrieverfassung." 46 Naumann befürchtete, daß die „immer größeren Riesenbetriebe ... eine neue Sklaverei..., eine Hörigkeit der Masse" 47 hervorbringen könnten. In den Debatten um die Entwicklung einer partizipatorischen Industrieverfassung ging es ihm vor allem darum, jede Art von feudaler Abhängigkeit zu überwinden. Scharf griff er in diesem Zusammenhang speziell die neuartigen Formen von Betriebsfeudalismus - etwa die Anbindung von Arbeitern an einen Betrieb durch Werkswohnungen, wobei das Wohnrecht unmittelbar an den Arbeitsplatz geknüpft war - an, bei denen er „Ostelbien übertroffen" 48 sah. Positiv lautete das von Naumann mehrfach verwandte Motto seiner sozialpolitischen Bestrebungen: „Wie werden Industrieuntertanen zu Industriebürgern?" 49 . Angesichts dieser Herausforderung müsse der Liberalismus das Ideal einer demokratischen Wirtschafts- und Sozialverfassung erarbeiten, welche dem einzelnen auch im Wirtschaftsleben grundlegende Men44 45 46 47 48 49

F. Naumann, Liberalismus und Protestantismus, a.a.O., S. 774. F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 428. F. Naumann, a.a.O., S. 331. F. Naumann, a.a.O., S. 428. Ebd. F. N a u m a n n , Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 421; vgl. auch die Reichstagsrede „Vom Industrieuntertan zum Industriebürger" in: Texte zur Gesellschaftsreform, hrsg. von O.H. von der Gablentz, Frankfurt/Berlin/Wien 1972, S. 338ff.

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schenrechte zur Entwicklung des Persönlichkeitsgedankens sichern könne. Die im Kern so zu verstehende neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik zielte somit auf eine „Methode der Mitbeteiligung aller an Leitung und Ertrag der Produktion ... Das ist neuer Liberalismus, ebenso wie die Beteiligung aller am Staat das Ziel des älteren rein politischen Liberalismus war." 50 Zur Umsetzung dieses partizipatorischen Konzeptes entwarf Naumann in einer zum Teil recht schematischer Parallelität zum politischen Konstitutionalismus das Programm eines „Fabrikparlamentarismus" 51 . Wie die Macht der Monarchen und Fürsten im Staat durch Verfassungen begrenzt und durch rechtsstaatliche Verfahrensmuster reglementiert worden ist, so sollte auch die Macht der Besitzer von Produktionsmitteln auf das zur Betriebserhaltung notwendige Maß eingeschränkt werden. 52 Auf diese Weise sollten die Freiheitsrechte der Bevölkerung gerade im Arbeitsprozeß gefördert werden. Zudem ging es Naumann darum, die bewußte Mitarbeit der abhängig Arbeitenden zu wecken, damit „auch die großindustrielle Arbeit freudige und selbstgewollte Leistung und Eigeninteresse der arbeitenden Person wird." 53 Eine solche selbstgewollte Leistung der Arbeitnehmer hielt er nicht zuletzt für eine zukunftsentscheidende, angesichts der angestrebten Weltmachtstellung Deutschlands notwendige Voraussetzung, um eine weitere Steigerung der wirtschaftlichen Leistungskraft zu erzielen. Als weiteres Argument zur Begründung von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer nannte Naumann schließlich die Aufgabe einer Vertiefung demokratischer Verfahren und Verhaltensweisen in der Bevölkerung. Er sah die Gefahr, daß eine „bloß politische Demokratie durch andere Strömungen" verdrängt werden könnte, während auch eine in der Wirtschaftsverfassung verankerte Demokratie von „fabelhaft zäher Festigkeit" sein könnte, „sobald sie einmal die ersten Schritte ins Dasein getan hat." 54 Obwohl Naumann ein detailliertes wirtschaftsdemokratisches Modell nicht ausgearbeitet hat, lassen sich drei zentrale Handlungsebenen dieser Option unterscheiden: die rechtliche Absicherung der Gewerkschaften, die für Naumann zu den wichtigsten Trägern der Demokratie zählten, der Ausbau innerbetrieblicher Mitbestimmungsrechte sowie

,0 51 52 53 54

F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 534 F. Naumann, a.a.O., S. 422 Vgl. F. Naumann, a.a.O., S. 421 F. Naumann, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger, a.a.O., S. 340 F. Naumann, Demokratie und Kaisertum, in: ders., Werke. 2. Bd., a.a.O., S. 112

N e u d e u t s c h e Kultur- u n d Wirtschaftspolitik

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neu zu schaffende überbetriebliche Gremien zur Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer im Staat. Die rechtliche Absicherung der Gewerkschaften, d.h. eine volle Koalitionsfreiheit, war für Naumann die Grundbedingung einer demokratischen Industrieverfassung. 55 Allein in unabhängigen Arbeitnehmerorganisationen, deren wichtigste Aufgabe der Aufbau eines Tarifvertragssystems sein sollte, sah Naumann die Grundlage, auf der weitere Mitbestimmungsregelungen aufgebaut werden könnten. Bezüglich einer partizipatorischen Gestaltung der Betriebe nahm Naumann den zeitgenössischen Gedanken der konstitutionellen Fabrik auf. 56 Eine volle Demokratisierung der Betriebe, d.h. „den Übergang des Besitzes in die Hand der organisierten Arbeiterschaft" 57 , hielt Naumann für grundsätzlich wünschenswert, stellte diesen Gedanken aber als eine mögliche Zukunftsperspektive zunächst bewußt zurück, um die unmittelbar anstehenden Mitbestimmungsfragen unter der Voraussetzung der Anerkennung des Privateigentums an den Produktionsmitteln zu diskutieren. Innerbetrieblich forderte Naumann vor allem die Erweiterung der Rechte der fakultativ bereits bestehenden Arbeiterausschüsse, die er zu „Vorschulen des in Zukunft kommenden Fabrikparlamentarismus" 58 ausbauen wollte. Naumann schlug vor, diesen Ausschüssen weitgehende Rechte zu übertragen, unter anderem ein Vorschlagsrecht der Arbeiter bei der Einstellung von Meistern, die Verteilung des Lohnquantums innerhalb der Arbeitsgruppe, die Regelungen wichtiger Arbeitszeitfragen und die Festsetzung der arbeitsorganisatorischen Arbeitseinteilungen.59 Ferner strebte er an, gerade den einzelnen Arbeitnehmern an ihrem unmittelbaren Arbeitsplatz weitreichende Partizipationsmöglichkeiten einzuräumen. Durch eine solche Organisation eines „inneren Zusammenhangs aller Arbeitskräfte ... entwickelt sich etwas, was man Betriebspatriotismus nennen könnte: der Betrieb sind wir alle!" 60 Dadurch würde nicht zuletzt die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie im internationalen Vergleich enorm verstärkt. Aller weiterer „wirtschafts-

55

56

57 58 59 60

Vgl. F. Naumann, V o m Industrieuntertan zum Industriebürger, a.a.O., S. 339; vgl. auch P. Theiner, Friedrich Naumann und der soziale Liberalismus im Kaiserreich, in: K. Holl (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 78f. Vgl. H. Freese, Das konstitutionelle System im Fabrikbetriebe, in: Verhandlungen des 10. ESK 1899, Göttingen 1899, S. 56-84. F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 421. F. Naumann, a.a.O., S. 422f. Vgl. F. Naumann, a.a.O., S. 423f. F. Naumann, a.a.O., S. 425.

162

Traugott Jährlichen

politischer Fortschritt" 6 1 hing nach Naumann von dem Gelingen einer partizipatorischen Industrieverfassung ab. Für die überbetriebliche Ebene forderte Naumann die Einrichtung von Arbeiterkammern, um ein Gegengewicht zu den bestehenden Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern zu schaffen. Alle Berufsgruppen sollten in gleicher Weise öffentliche Vertretungskörperschaften besitzen, um ihre Interessen zu artikulieren. Auf der Grundlage einer solchen Vertretung der jeweiligen Interessengruppen sah er schließlich die Möglichkeit gegeben, paritätisch von Unternehmern wie von Arbeitnehmern besetzte Arbeitskammern als eine Art wirtschaftspolitisches Parlament und als Instrument eines institutionell geregelten Konfliktausgleiches zu schaffen. 62 Träger der Industrieverfassung wie auch der übergeordneten Gremien sollten vorrangig die Unternehmensverbände und die Gewerkschaften sein. Staatliche Regulierungen waren in diesem Modell nur dort notwendig, wo sich die Industrieverfassung als unwirksam erwies bzw. nicht zustande kam. Nach Naumann gab es in Deutschland insbesondere aus dem Grund, daß die Industrieverfassung noch weitgehend unterentwickelt gewesen ist, eine Vielzahl staatlicher Regulierungen. Das gesellschaftspolitische Ziel des liberalen Politikers Naumann war demgegenüber das autonome Handeln der Verbände, welches staatliche Gesetzgebungsakte nach Möglichkeit einschränken und überflüssig machen sollte. Speziell die neudeutsche wirtschaftspolitische Konzeption verdeutlicht, daß Naumanns besonderes Anliegen seit der Zeit seines liberalen politischen Engagements die Gesellschaftspolitik gewesen ist. Die traditionelle protestantische Fixierung auf den Staat, die auch noch weitgehend seine nationalsoziale Phase bestimmte, hat er weitgehend überwunden. Staatsinterventionistische Forderungen spielten dementsprechend in der „neudeutschen Kultur- und Wirtschaftspolitik" nur eine untergeordnete Rolle. Als Ziel liberaler Gesellschaftspolitik galt ihm das Programm einer partizipativen Sozial- und Wirtschaftsverfassung, welche die Freiheit und die Persönlichkeitswürde des einzelnen auch im Wirtschaftsleben schützen sollte. Daß Naumann grundlegende Anliegen seiner christlich-sozialistischen Frühphase in diese Konzeption integrieren konnte, zeigt sein nunmehr präzisiertes Verständnis des Sozialismus. „Sozialismus" meinte hier, dem Kapitalismus „im einzelnen Terrain abzugewinnen und die Demokratisierung der Wirtschaftsleitung zu fördern." 6 3 61

F. Naumann, a.a.O., S. 5 3 3

62

Vgl. F. Naumann, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger, a.a.O., S. 3 4 1

M

F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 4 4 3

N e u d e u t s c h e Kultur- u n d Wirtschaftspolitik

163

4. Kulturprotestantische Kritik an der neudeutschen Kultur- und Wirtschaftspolitik Mit der neudeutschen Kultur- und Wirtschaftspolitik haben N a u m a n n und die mit ihm befreundeten Sozial- und Volkswirtschaftler, deren Anregungen er verarbeitet hat - zu nennen sind hier vor allem Brentano, von Schulze-Gaevernitz, M a x Weber, Sombart und Calwer 64 - , die Bewegung des Linksliberalismus durch den Versuch, den Liberalismus sozial zu erweitern, profiliert. Gemeinsam war ihnen die Einsicht „daß die Gesellschaft, nicht der Staat und seine Institutionen, das Schlachtfeld sei, auf dem die Entscheidungen der Zukunft fallen würden." 6 5 Auf dem Weg der Gesellschaftspolitik wollten sie den liberalen Denkstil, der sich wesentlich durch eine „Affinität zu neuem ...(,) Glaube an den Fortschritt zu mehr Freiheit, Recht und Vernunft" 6 6 auszeichnet, in die Masse der Bevölkerung vermitteln. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß diese gesellschaftspolitische Konzeption im Kontext einer starken Betonung des nationalen und imperialen Machtstaats entworfen worden ist und somit als eine besondere Variante der Traditionen des deutschen Nationalismus interpretiert werden kann. Diesen Aspekt hatte in der kontroversen Debatte des EvangelischSozialen Kongresses von 1907 über die „Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik" insbesondere die Kritik von Ernst Troeltsch herausgestellt. Er sah in dem Ideal einer „bloß neudeutschen Kultur" eine äußerst problematische Verengung und forderte statt dessen die Entwicklung einer „europäisch-amerikanischen" 6 7 Kulturform. In diesem Sinn skizzierte er in seiner Debattenrede im prononcierten Unterschied zu den Vorstellungen neudeutscher Kulturpolitik die erst noch zu leistende Aufgabe, „den westeuropäischen und den deutschen humanitären, sozialen Gedanken von neuem zu fassen zu versuchen." 68 Interessant ist darüber hinaus, in welcher Weise Troeltsch gegenüber der optimistischen, geradezu enthusiastischen Gegenwartsdiagnose der Vertreter neudeutscher Politik skeptische Einwände vorbrachte. Wäh64

65 66

67

68

Vgl. das Vorwort der ersten Auflage von 1906 der „Neudeutschen Wirtschaftspolitik". Wolfgang Mommsen, Einleitung, in: F. Naumann, Werke. 3. Bd., a.a.O., S. XXII. D. Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum. Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 96. Ernst Troeltsch, Debattenrede im ESK 1907 über „Kultur und Wirtschaft" in: Verhandlungen des ESK 1907, a.a.O., S. 35. E. Troeltsch, a.a.O., S. 37.

164

T r a u g o t t Jährlichen

rend Naumann „die technische Vervollkommnung", die „optimistische Gesamtbeurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung" und das Entstehen eines „neudeutschen Volkes, daß seine Zukunft erst noch vor sich sieht" 6 9 uneingeschränkt bejaht hat und fördern wollte, wies Troeltsch auch auf die Schattenseiten dieser Tendenzen hin. Bei neudeutscher Kultur assoziierte er „die ganze neudeutsche Schneidigkeit, jene Mischung von Eleganz und Brutalität, jenen Realismus, der den Fuß setzt auf den Nacken derjenigen, die nicht wert sind zu existieren oder nur wert sind zu dienen." 70 Speziell vor dem Hintergrund der nationalistischen und in diesem Zusammenhang auch sozialdarwinistischen Tendenzen im Wilhelminischen Kaiserreich betonte Troeltsch entschieden die Bedeutung des westeuropäischen Kulturtypus, dessen „humanitären Idealismus" 71 er als notwendige Ergänzung der deutschen Kulturideale verstanden wissen wollte. Aufschlußreich ist darüber hinaus Troeltschs Zurückhaltung gegenüber dem Zukunftsoptimismus der Vertreter neudeutscher Kulturpolitik: „Mir kommt es vor, als ob in dem alten Europa es vielfach krachte und die Zukunft möglicherweise ernst und düster sei." 7 2 Solche skeptischen Töne wurden in der ESK-Debatte von 1 9 0 7 lediglich von Otto Baumgarten in ähnlicher Form angedeutet 73 , Naumann hingegen verteidigte sein zukunftsoptimistisches neudeutsches Politikkonzept mit Entschiedenheit: „Und wenn wir der Zeit, die dann kommt, etwas utopistisch-enthusiastisch warten, dann soll (man) uns das ... nicht zu sehr übelnehmen" 74 Es sind somit innerhalb des Spektrums des liberalen Protestantismus nicht zu unterschätzende Konfliktlinien zu bezeichnen, die sich in erster Linie auf die Frage des „Nationalismus" 75 konzentrier-

69

Die genannten Zitate finden sich bei F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 5 2 6 f; vgl. auch folgende Aussagen Naumanns, a.a.O., Seite 5 2 7 : „Es sind die Menschen, deren Seelen leuchten, weil sie die Welt um sich herum neu werden sehen."

70

E. Troeltsch, Debattenrede ESK 1 9 0 7 „Kultur und Wirtschaft", a.a.O., S. 3 4

71

E. Troeltsch, a.a.O., S. 3 5 .

72

E. Troeltsch, a.a.O., S. 3 8 .

73

Vgl. Otto Baumgarten, Debattenrede ESK 1 9 0 7 zum Thema „Kultur und Wirtschaft", a.a.O., S. 32f.

74

F. Naumann, Debattenrede ESK 1 9 0 7 „Kultur und Wirtschaft", a.a.O., S. 5 2 .

75

Bereits anläßlich der Verhandlungen des ESK von 1 9 0 4 lassen sich diese Unterschiede feststellen, als Troeltsch im Rahmen seines Vortrages über „Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft" im Nationalismus keinen relevanten Bezugspunkt für die Entwicklung einer christlichen Ethik des Politischen sehen konnte und Naumann ihn in der Debatte daraufhin kritisch ansprach. Vgl. Verhandlungen des ESK 1 9 0 4 , Göttingen 1 9 0 4 . S. 1 Iff. In der überarbeiteten Fas-

Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik

165

ten und insofern die neudeutsche Kultur- und Wirtschaftskonzeption wesentlich betrafen. Ausblick Trotz vieler propagandistischer Versuche und politischer Anläufe ist es Naumann und anderen Vertretern einer neudeutschen Politikkonzeption nicht gelungen, ihre gesellschaftspolitischen Reformvorschläge zu verwirklichen. Auch die vielfachen Versuche der Entwicklung einer Industrieverfassung scheiterten vor 1914 allesamt. Obwohl Naumann somit ein unmittelbarer politischer Erfolg versagt geblieben ist, haben seine Ideen ein breites Echo im liberalen Bürgertum, in den Kreisen des sozialen Protestantismus aber auch im reformorientierten Flügel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gefunden. Erst unter den Bedingungen der Weimarer Republik gelang es zumindest in Ansätzen, das von Naumann skizzierte Programm einer partizipatorischen Industrie- und Wirtschaftsverfassung in die Praxis umzusetzen. Innerhalb der neugegründeten DDP konnte Naumann eine entsprechende Programmatik verankern. Vor allem aber die Weimarer Reichsverfassung verdankt wesentlich den Impulsen Naumanns den Teil über die „Grundrechte und Grundpflichten", zu denen in Artikel 165 die Deklaration der Gleichberechtigung der Arbeiter und Angestellten mit den Unternehmern gehört. 76 Aufgrund seines frühen Todes konnte er an der Ausarbeitung und Beschlußfassung des Betriebsrätegesetzes von 1920, das grundlegende Mitbestimmungsregelungen der Arbeitnehmerschaft in Deutschland erstmals eröffnet hat, nicht mehr mitwirken. Dieses Gesetz wurde von der MSPD, dem Zentrum und der DDP erarbeitet, wobei jedoch ein kleinerer Teil der DDP-Fraktion diesem Gesetz die Zustimmung verweigerte. Das Thema einer partizipatorischen Industrie- und Wirtschaftsverfassung wurde im weiteren Verlauf der Weimarer Republik

sung seines ESK-Vortrages: Politische Ethik und Christentum, Göttingen 1 9 0 4 hat sich Troeltsch dann explizit mit Naumann auseinandergesetzt, indem er „dessen Politik weniger demokratisch oder gar sozialistisch als nationalistisch mit einem starken Zusatz des Mitgefühls für die aufstrebenden Stände" (a.a.O., S. 11) bezeichnete und den Nationalitätsgedanken einer Kritik unterzog. 76

Vgl. Helga Grebing, Mitbestimmung von Arbeitnehmern als Mittel zur Demokratisierung der Gesellschaft, in: Dirk Bockermann u.a. (Hgg.): Freiheit gestalten. Z u m Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus 1 7 8 9 - 1 9 8 9 . FS Günter Brakelmann, Göttingen 1 9 9 6 , S. 1 9 1 .

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Traugott Jähnichen

weder von der DDP noch im Rahmen des Evangelisch-Sozialen Kongresses in nennenswerter Weise aufgegriffen oder vertieft. Demgegenüber ist es in der Weimarer Zeit der dem von Paul Tillich inspirierten religiös-sozialistischen Kairos-Kreis angehörende Ökonom Eduard Heimann gewesen, der dieses Anliegen Naumanns im Rahmen des sozialen Protestantismus fortgeführt hat. Heimann berief sich grundlegend auf die liberale Freiheitsidee und versuchte diese - ähnlich wie Naumann - unter den Bedingungen industrialisierter Arbeitsverhältnisse in neuer Weise zu profilieren. In diesem Sinn entwickelte er das Konzept einer sozialen Freiheitsordnung, welche die individuelle Freiheit der abhängig Beschäftigten in den bürokratisierten und technisierten Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen schützen sollte. 77 Die Programmatik Heimanns stand zeitgeschichtlich in einem engen Kontext zur programmatischen Erneuerung der sozialistisch orientierten Gewerkschaftsbewegung, die auf ihrem Kongreß 1928 in Hamburg das Thema „Wirtschaftsdemokratie" 78 zum gesellschaftspolitischen Leitbild erhob. Direkte Anknüpfungen an die Arbeiten Naumanns lassen sich in diesem Zusammenhang nicht nachweisen, allerdings kann von einer gewissen programmatischen Kontinuität gesprochen werden. Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise in der Endphase der Weimarer Republik konnten diese Konzeptionen keinen Einfluß auf die politischen Entscheidungsträger ausüben, sie spielten jedoch bei der Begründung der Mitbestimmungsregelungen in der frühen Bundesrepublik eine nicht unerhebliche Rolle. 79 Friedrich Naumann hat den Liberalismus und den Protestantismus in Deutschland für die Aufgabe der Sicherung von Freiheitsrechten und Partizipationsmöglichkeiten in der industrialisierten Arbeitswelt sensibilisiert und eine entsprechende Reformkonzeption erarbeitet. Dieses Erbe gilt es, produktiv in heutige Auseinandersetzungen um die Gestaltung der sich stark verändernden Arbeitsbeziehungen einzubringen.

77

„Denn der Arbeiter soll frei sein; nicht das Kapital - und die hinter ihm Stehenden, von dem Geist seiner Dynamik erfaßten Menschen - sollen frei sein, die Freiheit des arbeitenden Menschen zu zerstören." Eduard Heimann: Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt 1 9 8 0 (Neuauflage von 1 9 2 9 ) , S. 1 6 3 .

7(1

Vgl. F. Naphtali: Wirtschaftsdemokratie - ihr Wesen, Weg und Ziel. Mit einem Vorwort von L. Rosenberg und einer Einführung von O. Brenner, Frankfurt 1 9 6 6 (Neuauflage von 1 9 2 9 ) .

79

Vgl. U. Borsdorf, Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung. Historische Stufen der Annäherung an den Kapitalismus, in: WSI-Mitteilungen, Heft 3 / 1 9 8 6 , S. 2 6 4 2 7 8 . Kritisch zu dieser Einschätzung, H. Grebing, Mitbestimmung von Arbeitnehmern, a.a.O., S. 194f.

„Maschine und Persönlichkeit". Friedrich Naumann als Kritiker des Willhelminismus GANGOLF HÜBINGER

Naumann als Kritiker des sozialen Systems und der wilhelminischen Politik vor dem Ersten Weltkrieg wird hier auf zwei Ebenen vorgestellt. Der erste Teil erfaßt eine konkrete sozialpolitische Situation: die Art, in der Naumann als aktiver Kulturprotestant, aber Noch-Nicht-Liberaler, mit dem von ihm maßgeblich gesteuerten Nationalsozialen Verein gegen die etablierten Parteien seiner Zeit Politik machte. Hier handelt es sich um den geschichtspolitischen Versuch, nach der Ära des Liberalismus und dem marxistischen Sozialismus, den Naumann historisch für überlebt hielt, mit einer neuen christlichen Synthese aus Nationalismus und Sozialismus in das festgefügte Parteiensystem des Kaiserreichs einzudringen. 1 Der zweite Teil erfaßt generelle Aspekte der verzweigten publizistischen und parlamentspolitischen Tätigkeit als linksliberaler Reichstagsabgeordneter. Hier kommt es stärker auf die bei Naumann so typische Vermischung von wilhelminischer Prägung einerseits und der kritisch gewonnenen Distanz zum herrschenden Zeitgeist andererseits an. 2 Die sozialen Reformbewegungen aller Industriestaaten um 1 9 0 0 waren stark personengebunden, mit labilen Institutionenen, das betont James Kloppenberg in der bisher einzigen Vergleichsstudie, die auch das amerikanische progressive movement mit einbezieht. Kloppenberg spricht von einer unkonventionellen „intellectual community", die jeweils diese Bewegung praktisch in Gang gesetzt habe. 3 Im Industrialisierungsprozeß des Deutschen Kaiserreichs spielte Friedrich Naumann

1

Dieser Teil basiert auf meinem Eröffnungsvortrag zur Tagung „ 1 0 0 Jahre Nationalsozialer Verein" im Oktober 1 9 9 6 in der Friedrich-Naumann-Stiftung, Theodor-Heuss-Akademie Gummersbach.

2

Beitrag zur Tagung anläßlich des vierzigjährigen Bestehens der Friedrich-Naumann-Stiftung im Oktober 1 9 9 8 in Lauenburg; der Vortragsstil wurde im wesentlichen beibehalten.

3

James T . Kloppenberg: Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1 8 7 0 - 1 9 2 0 , New York 1 9 8 9 , S.7.

168

Gangolf Hübinger

hierzu eine führende Rolle. Er politisierte die protestantischen Mittelschichten und bot dabei eine Alternative sowohl zu fundamentalistischen Strömungen wie der Stoeckerbewegung als auch zum integralen Nationalismus eines Evangelischen Bundes. Er machte die Verfachlichung bzw. die Verwissenschaftlichung ökonomischen und sozialen Denkens, die vom Verein für Socialpolitik oder vom Evangelisch-sozialen Kongreß forciert wurden, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Und schließlich für die Geschichte des Liberalismus einschneidend, er trug dazu bei, die Spannung zu überbrücken zwischen dem autoritären Gouvernementalismus der Bismarckzeit 4 und der pluralistischen Selbstorganisation einer modernen Industriegesellschaft. Naumann und seine Anhänger haben im reformblockierten Kaiserreich mit ihrem „liberalen Revisionismus" (Theodor Barth) politische Gegeneliten zum wilhelminischen Grundkonsens der „adelig-bürgerlichen Amtsaristokratie" 5 gebildet. I. Am 23. November 1 8 9 6 kamen in Erfurt knapp 120 Delegierte aus Reichstagswahlkreisen mit christlich-sozialen Vereinigungen zu ihrer nationalen Gründungsversammlung zusammen. Erfurt, die alte thüringische Metropole und jetzt im südlichsten Winkel der preußischen Provinz Sachsen war ein beliebter Versammlungsort politischer Opposition und sozialer Reformgruppen. 1891 legte sich hier die sozialdemokratische Partei auf einen streng marxistischen Kurs fest. Im Juni 1 8 9 6 spaltete sich auf der Jahrestagung des Evangelisch-sozialen Kongresses ebenfalls in Erfurt die bürgerliche sozialprotestantische Reformbewegung in ein konservatives Lager um den preußischen Hofprediger Adolf Stoecker und in ein vom Ansatz her liberales Lager um den 36jährigen Frankfurter Vereinsgeistlichen der inneren Mission Friedrich Naumann. Das politische Produkt dieser Spaltung war fünf Monate später der Nationalsoziale Verein, in Erfurt repräsentiert durch 41 Pfarrer und Vikare, 13 Professoren der Sozial- und Geisteswissenschaften, 11 Unternehmer und 21 Handwerker und Arbeiter. Die Erwartungen der um das sprichwörtliche protestantische Bildungsbürgertum zentrierten Partei waren hoch. 4

Vgl. Lothar Machtan (Hg.): Bismarcks Sozialstaat. Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialpolitischen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M . 1994.

5

Werner Conze: Konstitutionelle Monarchie - Industrialisierung - Deutsche Führungsschichten um 1 9 0 0 , in: Η. H. Hofmann und G. Franz (Hg.): Deutsche Führungsschichten der Neuzeit, Boppard 1 9 8 0 , S. 1 7 3 - 2 0 1 , bes. S. 1 7 7 , 1 9 3 .

Maschine und Persönlichkeit"

169

Man wollte nicht weniger als in ein festgefügtes Parteiensystem aus Sozialdemokratie, katholischem Zentrum, Konservativen und dem seit gut zehn Jahren in einer Dauerkrise steckenden Liberalismus einbrechen. Das Programm dazu war schillernd, mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen und Prioritäten, wie das veröffentlichte Protokoll über die erste Vertreter-Versammlung aller Nationalsozialen dokumentiert. In seiner Eröffnungsrede bündelte Friedrich Naumann etwas eigenmächtig den Stand der Satzungsdebatte in sechs Programmpunkte. Punkt 1: „Wir stehen auf nationalem Boden, indem wir die wirtschaftliche und politische Machtentfaltung der deutschen Nation für die Voraussetzung aller größeren sozialen Reformen im Innern halten". Punkt 2 erklärt sich „für eine angemessene Vermehrung der deutschen Kriegsflotte und für Erhaltung und Ausbau unserer Kolonien". Punkt 3 wünscht „ein kräftiges Zusammenwirken der Monarchie und der Volksvertretung" und fordert dazu, verfassungspolitisch einschneidend, das demokratische Reichstagswahlrecht auch in den Landtagen, dem preußischen vor allem, und in den Städteparlamenten. Dazu die „Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Vereinsfreiheit und ungeschmälerte Erhaltung der staatsbürgerlichen Rechte aller Staatsbürger." Gemeint ist hier auf dem Höhepunkt des politischen Antisemitismus besonders die politische Gleichstellung der Juden. Punkt 4 verlangt „eine Vergrößerung des Anteils, den die Arbeit (...) an dem Gesamtertrage der deutschen Volkswirtschaft hat". Punkt 5 erwartet die Parteinahme der „Vertreter deutscher Bildung" für die Arbeiterbewegung, und Punkt 6 erklärt den „Glauben an Jesus Christus, der nicht zur Parteisache gemacht werden darf", zur allgemeinverbindlichen, Konsens stiftenden politischen Ethik. 6 Das Programm ist dort ganz auf politischen Konsens und Klassenharmonie gestimmt, wo skeptischere Zeitanalytiker Konflikt und Interessenkampf zur Grundlage moderner politischer Theorie machen. Unter dem großen Dach eines expansiven Nationalismus versöhnen sich Stadt und Land, Arbeit und Kapital, Kaiser und Volk, Bildung und Handwerk. Der vierte Redner, der in dieser ersten Versammlung auf Naumann antwortet, ein „Professor Max Weber (Freiburg)", seziert den kulturprotestantischen Versöhnungsoptimismus, der in Erfurt zutagetritt, bis in die Grundstrukturen. Eine Partei der „Mühseligen und Beladenen" finde sich hier zusammen. „Ein bis zum Hals verschuldeter 6

Protokoll über die Vertreterversammlung aller National-Sozialen in Erfurt vom 23. bis 25. November 1896, Berlin 1896; siehe allgemein immer noch Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München 1972.

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Gutsbesitzer kann der Ihrige sein, ein Bauer, der aufsteigt und seinen Besitz mehrt, aber nicht (...). Aber vergegenwärtigen Sie sich, daß eine Partei, die kein anderes Prinzip kennt, als: nieder mit den wirtschaftlich Starken, die Karikatur einer Partei ist". Weber steigert sich in scharfe Polemik: „Alle aufsteigenden Schichten des Volkes" werden zu Gegnern, nur „der Bodensatz der Bevölkerung bleibt bei Ihnen", die Partei werde nichts sein als „politische Hampelmänner". 7 Weber überzeichnete bewußt und strategisch, weil er selbst für eine neue Parteigründung präzise Zielvorstellungen hatte, die er ein gutes Jahr vorher, bei seiner spektakulären Antrittsrede als Nationalökonom in Freiburg, wissenschaftlich umrissen hatte.8 In Erfurt besaß er das Forum, um politisch zuzuspitzen: „Jede aufstrebende neue Partei steht vor der Entscheidung, ob sie die bürgerliche Entwicklung oder unbewußt die feudale Reaktion stützen will". Und, „wenn Ihnen die Zukunft der Bewegung am Herzen liegt (müssen Sie) die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung wählen". Webers Zorn rührte daher, daß zwei ursprüngliche Programmpunkte, die er persönlich im Sommer noch mitberaten hatte, inzwischen gestrichen worden waren: die politische und ökonomische Emanzipation der Frau, aber mehr noch die Machtbegrenzung der Großgrundbesitzer in Ostelbien und die staatlich gelenkte „innere Kolonisation" dieser Gebiete durch deutsche Bauernansiedlungen und zur Abdrängung der polnischen Saisonarbeiter. Webers Diskussionsbeitrag mündete in einen nationalistischen Ausfall: „Man hat gesprochen von einer Herabdrückung der Polen zu deutschen Staatsbürgern zweiter Klasse. Das Gegenteil ist wahr: wir haben die Polen aus Tieren zu Menschen gemacht". Hinter der Drastik dieser Sprache steckte Berechnung, die für die kurze politische Dauer wie für die lange Wirkungsgeschichte des Nationalsozialen Vereins von nachhaltiger Bedeutung war: Die gesinnungspolitischen Wortführer des Vereins wie Hellmut von Gerlach oder der durch seinen Erfahrungsbericht „Drei Monate als Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" reichsweit bekannt gewordene Paul Göhre sollten isoliert und der irenische Friedrich Naumann sollte machtpragmatisch aufgebaut werden. „Landgraf werde hart", Schloß Weber seinen Beitrag. Das Protokoll vermerkt: „vereinzelter Beifall". Paradigmatisch zeigen sich hier die Pole, zwischen denen sich die spannungsvolle aber für den bürgerlichen Liberalismus als Sozialliberalismus signifikante Geschichte des Nationalsozialen Vereins ent7

"

M a x Weber: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1 8 9 2 - 1 8 9 9 , hg. von Wolfgang J . Mommsen und Rita Aldenhoff, Tübingen 1 9 9 3 ( M W G 1/4), S. 6 1 2 - 6 2 2 . Ebd., S. 5 3 5 - 5 7 4 .

M a s c h i n e u n d Persönlichkeit"

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wickeln läßt. Zuerst ist nach den Problemfeldern zu fragen, die alle europäischen Industriestaaten an der Schwelle der Hochindustrialisierung um 1900 zu bewältigen hatten und nach den deutschen Besonderheiten, die als historische Startbedingungen für die gewagte Parteigründung des Nationalsozialen Vereins zu veranschlagen sind. So ergibt sich ein analytischer Bezugsrahmen im Dreieck von nationalstaatlicher Integration, politischer Partizipation und sozialer Verteilungsgerechtigkeit. Das sind die drei Eckpunkte, die für die religiös motivierte Gründungsgeschichte 9 in ihren konkreten Verknüpfungen zu untersuchen sind. Im Anschluß daran ist Naumanns schwieriger Weg vom nationalen Sozialismus zum freisinnigen Liberalismus zu verfolgen. 10 Der Nationalsoziale Verein bestand bekanntlich als politisch selbständige Partei nur sieben Jahre. Auf Erfurt folgten zwei deprimierende Reichstagswahlkämpfe, 1898 und 1903 mit jeweils 27.000 Wählern, das sind 0,3 % aller Stimmen, und lediglich Hellmut von Gerlach errang ein Abgeordnetenmandat. Die Konsequenz war die sofortige Selbstauflösung und der Übertritt der meisten Delegierten zur liberalen Freisinnigen Vereinigung. Was wie eine kleine Episode in der deutschen Parteiengeschichte erscheint, läßt sich aber auch als eine entscheidende Endphase in einem langfristigen europäischen Transformationsprozeß aufschlüsseln, als ein Indikator für die auch im Deutschen Reich auf ihre Weise zu einem Abschluß kommende „hundertjährige Revolution" (Eric J. Hobsbawm) aller Lebensbedingungen im Durchbruch zur hochindustrialisierten Massengesellschaft. Alle europäischen Industriegesellschaften hatten im Verlauf des 19. Jahrhunderts in etwa die gleichen Grundprobleme zu lösen. Es war ganz generell das Verhältnis zu den vorindustriellen Herrschaftsschichten neu zu bestimmen. Es waren für alle Mitglieder der Gesellschaft gleiche Rechtsgrundsätze zu gewähren. Die dazu notwendige politische Herrschaftsform war durch Wahlrechtsordnungen zu legitimieren. Eine Verfassungsordnung hatte die allgemeinen Staatsbürgerrechte zu garantieren, die wiederum einen einheitlichen nationalen Geltungsraum verlangten. Eine Reihe von Integrationsproblemen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in diese Ordnung und ihre Teilhabe an den materiellen und ideellen Zivili-

9

10

Dazu Walter Göggelmann: Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich Naumanns 1860-1903, BadenBaden 1987. Ausführlich dargestellt und in die allgemeine politische Geschichte des Wilhelminismus einbezogen bei Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919), 1983.

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sationsgütern war zu regeln. Mit Blick auf Naumann und den Nationalsozialen Verein nenne ich nur zwei: Die Neubestimmung der sozialen Funktionen der Kirchen, und dann natürlich die Eingliederung der Arbeiterschaft in die politische unnd soziale Ordnung eines Nationalstaates. Von diesem generellen Rahmen her sind die besonderen Bedingungen des deutschen Transformationsprozesses für den Handlungsspielraum des Nationalsozialen Vereins zu betrachten. Denn das ist der zentrale Punkt: Im Deutschen Reich verdichten sich alle diese Probleme auf eine krisenträchtige Weise. Die nationalstaatliche Einigung des Deutschen Reiches unter dem jetzt als großen Charismatiker entdeckten Bismarck11 besaß einige gravierende Geburtsfehler für die tatsächliche Integration einer vielfach segmentierten Gesellschaft. Symbolisch war sie inszeniert als militärisch abgeschirmter Fürstenbund, bürgerliche Parlamentarier fehlten in Anton von Werners Prachtgemälde von Versailles. Geistig war sie gedacht als Bündnis von Thron und Altar. „Welche Wendung durch Gottes Fügung", so der preußische König nach der Schlacht von Sedan; „welche Wendung durch Gottes Führung", machten daraus die protestantischen Eliten auf dem Transparent zum Sedanstag über dem Brandenburger Tor. Politisch war das Reich ein Rechtsstaat, aber mit wechselnder Identifizierung von „Reichsfeinden" und polizeistaatlicher Verfolgung; es war föderalistisch, aber mit einer übermächtigen Hegemonie Preußens. Preußens Dreiklassenwahlrecht gehört deshalb zu den erheblichsten Beeinschränkungen einer Parlamentarisierung und Demokratisierung des Deutschen Reiches. Sozialpolitisch war das Reich patriarchalisch organisiert, von Bismarcks Sozialgesetzen bis zu den Gesellschaftsentwürfen der Kathedersozialisten in den Beratungsstäben der Beamtenschaft. In der Gegenreaktion formierte sich in Deutschland anders als in England oder Frankreich eine geschlossene Arbeiterbewegung, bevor sich ein bürgerlicher Liberalismus in ähnlicher Stoßkraft überhaupt konstituieren konnte. Nicht zuletzt war, kulturell gesehen, die Spaltung in zwei große Konfessionen ebenso hoch zu veranschlagen wie die Klassenspaltung. Protestanten entwickelten einen extremen Nationalismus und fühlten sich als zivilreligiöse Wächter der Reichsidee. Katholiken waren entweder ausgegrenzt oder grenzten sich teilweise auch selbst aus. Juden wurden akzeptiert, sofern sie sich bedingungslos assimilierten. Protestanten definierten einen humanistischen

"

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3. Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1 8 4 9 - 1 9 1 4 , München 1995, S. 368ff., 849ff.

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Bildungskanon und prämierten berufliche Karrieren. Katholiken wahrten bei allem nachholenden Nationalismus ihr eigenes europäisches Kommunikationssystem und verweigerten sich dem protestantisch imprägnierten Bildungsethos. Juden paßten sich einerseits überidentifiziert diesem Bildungsethos an oder bildeten andererseits neue intellektuelle Avantgarden. Obwohl Liberale die juristische und ökonomische Infrastruktur des Kaiserreiches nachhaltig bestimmt haben, hat „der Liberalismus" der 1870er Jahre das Ziel einer wirklichen inneren Reichsgründung verfehlt. Und der Liberalismus der 1880er Jahre konnte nach Bismarcks antiliberaler Fusion von Rittergut und Hochofen keine entscheidenden Weichen stellen. Derartige Selbstblockierungen motivierten Naumann zu seinem parteipolitischen Experiment. Für Protestanten aller politischen Richtungen bestand dringender Handlungsbedarf durch die nahezu gleichzeitige Abschaffung der Kulturkampfgesetze von 1 8 8 7 und des Sozialistengesetzes von 1890. Mit dem Jahr 1 8 9 0 konkurrierten alle sozialmoralischen Milieus frei auf dem politischen Massenmarkt um neue Reformziele und Reformwege. Während bei den Reichstagswahlen dieses Jahres die Sozialdemokraten sprunghaft von ca. 8 % auf 1 4 % anstiegen und nach Stimmenzahlen stärkste Partei wurden, sanken die Liberalen von 2 9 % auf 2 4 % . 1 2 Die Fundamentalpolitisierung aller Gesellschaftsgruppen dieser Zeit schlug sich in einer großen vereinspolitischen Gründungswelle nieder, die mir für die politische Kultur noch wichtiger zu sein scheint als die Parteientwicklung selbst. Ende 1 8 8 6 wurde der Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen gegründet, ein nationalistischer, militant antikatholischer Massenverband, der auf eine halbe Million Mitglieder anwuchs. 1890 erfolgte die Gründung des Volksvereins für das katholische Deutschland, der sozialkatholische Massenverband mit über 8 0 0 . 0 0 0 Mitgliedern vor dem Ersten Weltkrieg. Ebenfalls 1890 konstituierten sich gleichzeitig der Gesamtverband evangelischer Arbeitervereine und der schon genannte Evangelisch-soziale Kongreß. Beide standen unter der Leitung der hochkonservativen und antisemitischen Christlich-sozialen Bewegung um Adolf Stoecker - bis zu dem Zeitpunkt 1896, zu dem die Stoeckergruppe den ESK verließ und die progressiveren jüngereren Christlich-sozialen, die Freunde der Hilfe um Friedrich Naumann, sich zum Nationalsozialen Verein zusammenschlossen. Dichte und Gleichzeitigkeit der sozialpolitischen Aufbruchstimmung von 1 8 9 0 in allen politischen Lagern kommen in dieser

12

Karl Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt am Main 1 9 9 2 , S. 2 7 0 .

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Gangolf Hübinger

Gründungswelle zum Ausdruck.13 Das liberale protestantische Bürgertum mit seinem Vertrauen in die Regulierungskraft des freien Handels geriet dadurch stark in die Defensive. An die Spitze der sozialpolitischen Bewegung setzte sich spektakulär mit seinen Erlassen vom Februar 1890 Wilhelm II. selbst, für den Freiherr von Berlepsch die Sozialgesetzgebung weiterführen sollte. Schon vier Jahre später wechselte der sprunghafte Kaiser jedoch von Berlepsch als sozialpolitischen Berater gegen den Großindustriellen Freiherrn von Stumm-Halberg aus, einen patriarchalischen Gegner aller Reform. „Politische Pastoren sind ein Unding" lautete jetzt die neue Devise des Kaisers, und aus Sozialreform wurde wieder Repression.14 Politische Pastoren stellten in Gegenreaktion dann die Hauptgruppe des Nationalsozialen Vereins, den Friedrich Naumann in seiner geschichtsphilosophisch unterlegten Fundamentalkritik an der Sozialverfassung des Kaiserreichs zur politischen Speerspitze des deutschen Protestantismus formen wollte. Der Nationalsoziale Verein erlangte seine Bedeutung nicht durch politische Wahlerfolge, sondern durch sein zeitkritisches Analysepotential. Er wurde auf besondere Weise ein Spiegel des verdichteten Transformationsprozesses, völlig schwach als selbständige politische Partei, aber durchaus wirkungsmächtig als Verein, als Teil einer umfassenden bürgerlichen Sozialreformbewgung, die vom Volksverein für das katholische Deutschland bis zum radikal antikirchlichen Monistenbund reichte.15 Naumann versammelte im Nationalsozialen Verein einen Per13

Z u den jeweiligen Vereinen siehe Armin Müller-Dreier: Konfession in Politik, Gesellschaft und Kultur des Kaiserreichs. Der Evangelische Bund 1 8 8 6 - 1 9 1 4 , Gütersloh 1 9 9 8 ; Horstwalter Heitzer: Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1 8 9 0 - 1 9 1 8 , Mainz 1 9 7 9 ; Harry Liebersohn: Religion and Industrial Society: The Protestant Social Congress in Wilhelmine Germany, Philadelphia 1 9 8 6 .

14

Klaus Erich Pollmann: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1 8 9 0 , Berlin 1 9 7 3 . Pollmann kann überzeugend darlegen, wie sich über dem sozialpolitischen Dissens die Gegensätze zwischen dem konservativ-„orthodoxen" und dem liberalen „freien" Protestantismus weiter verhärten. Dem äußeren Feindbild im Weltanschauungskampf gegen Katholiken und Sozialdemokraten entsprach eine „innere Front: die vom Glauben abgefallenen Protestanten auf der einen, die modernitätsunfähige Orthodoxie auf der anderen Seite", Klaus Erich Pollmann: Weltanschauungskampf an zwei Fronten. Der Sozialprotestantismus 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , in: Jochen-Christoph Kaiser und Wilfried Loth (Hg.): Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart 1 9 9 7 , S. 5 6 - 7 8 .

'5

Als Überblick siehe Rüdiger vom Bruch (Hg.): Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1 9 8 5 .

Maschine und Persönlichkeit"

175

sonenkreis, der bis in die frühe Bundesrepublik und bis zu Theodor Heuss erheblich an der Steuerung politisch-kultureller Vergesellschaftungsprozesse, an der Festigung des Sozialstaatsprinzips in der Verfassungsordnung, beteiligt war. 16 Wie sollte aus dem nationalsozialen Programm Politik werden? Wer trug das Programm? Wie sah ein typischer Nationalsozialer aus? Es war wohl das umfassendste Integrationsprogramm zur Erreichung der immer noch ausstehenden „inneren Reichsgründung", das im wilhelmischen Deutschland formuliert wurde. Erinnert sei an die in Erfurt definierten Leitziele: Machtexpansion, Kolonienerwerb, rechtliche, auch wahlrechtliche Gleichheit aller Staatsbürger, Ausgleich von Kapital und Arbeit, Integration von Bürgertum und Arbeiterschaft durch Bildung, Emanzipation der Frau, Integration durch Religion. Der bekannteste wilhelminische Spötter, Maximilian Harden, hat nach der Fusion von 1903 die linksintellektuelle Freisinnige Vereinigung dazu „beglückwünscht", jetzt dieses ungenießbare „Ragout" aus „Evangelium, Exportindustrie, kriegerischer Expansion, Sozialismus" 17 parteipolitisch inkorporieren zu müssen. Liberalismushistoriker wissen, das ist sogar gegen alle ursprünglichen Bedenken des Parteivorsitzenden Karl Schräder dank Naumanns Persönlichkeit relativ gut gelungen. Verwiesen wird darauf, daß Naumann von seinem sozialpolitischen Ursprung her antiliberalen Gemeinschaftsidealen und einem caesaristischen „sozialen" Kaisertum den Vorzug gab. 18 Gab es gleichwohl eine Stringenz der politischen Handlungsorientierung im Nationalsozialen Verein, die auch dessen Disposition zum Linksliberalismus nach 1903 erkennen läßt? Die Naumann-Forschung hat sich diese Frage bislang nicht präzise gestellt. Den über direkte politische Parteiprogramme hinausweisenden Zusammenhang sehe ich in der von Kulturprotestanten wie Naumann, Martin Rade oder Theodor Barth geforderten aktiven Welterfassung durch individuelle Bildung, durch „Selbstbildung" und damit, wie es in der „Christlichen Welt" Martin Rades unterschieden wird, der Prämierung der „Individualmoral" vor der „Gemeinschaftsmoral". Es handelt sich um ein ethisches Prinzip kultureller Vergesellschaftung, das weder konservative Protestanten, noch die katholische Soziallehre, erst recht nicht die sozialdemokratische Klassentheorie teilen konnten. Hier greift auch die von manchen

16

Vgl. den Beitrag von Ursula Krey in diesem Band.

17

Zitiert nach Jürgen Kuczynski: 1 9 0 3 . Ein normales Jahr im imperialistischen Deutschland, Köln 1 9 8 8 , S. 5 1 .

18

Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 6Iff.

176

Gangolf Hübinger

P r o t e s t a n t i s m u s f o r s c h e r n f a v o r i s i e r t e 1 9 politische T h e o r i e des

„Drei-

l a g e r s y s t e m s " n i c h t , eine g e g e n M . R . L e p s i u s ' U n t e r s c h e i d u n g v o n vier s o z i a l m o r a l i s c h e n M i l i e u s g e r i c h t e t e n T h e o r i e eines g r o ß e n n a t i o n a l e n B l o c k s , der m i t seinen h a n d l u n g s l e i t e n d e n W e r t v o r g a b e n u n d g r a t i o n s m e c h a n i s m e n alle P r o t e s t a n t e n u m s c h l i e ß e n s o l l . "

20

Inte-

D i e kriti-

s c h e D i s t a n z v o n N a u m a n n u n d seinen A n h ä n g e r n zur a n g e b l i c h h o m o g e n i s i e r e n d e n B i n n e n m o r a l eines s o l c h e n „ L a g e r s " h a t bereits der britische H i s t o r i k e r H u g h M c l e o d t h e m a t i s i e r t , w e n n er u n t e r B e t o n u n g religiöser F a k t o r e n die linksbürgerlichen Freisinnigen z u

den

„Outsider g r o u p s " z ä h l t , die ihre „ c o u n t e r - i n s t i t u t i o n s " bilden. 2 1 V o m Nationalsozialen

Verein

bis z u r F o r t s c h r i t t l i c h e n

Volkspartei

hat

N a u m a n n bei allem i h m eigenen N a t i o n a l i s m u s , a u f den n o c h n ä h e r e i n z u g e h e n ist, a n s o l c h e n G e g e n i n s t i t u t i o n e n m i t g e a r b e i t e t . 2 2 N a c h d e m kulturelle F r a g e s t e l l u n g e n die s o z i a l s t r u k t u r e l l e n R e k o n s t r u k t i o n e n erheblich e r g ä n z t u n d u m g e w i c h t e t h a b e n , w e r d e n die F a k t o r e n „ R e l i g i o n " u n d „ B i l d u n g " für die M e n t a l i t ä t s g e s c h i c h t e a u c h des späten 1 9 . Jahrhunderts inzwischen wieder höher veranschlagt. W e n n ,

19

Frank-Michael Kuhlemann: Glaube, Beruf, Politik. Die evangelischen Pfarrer und ihre Mentalität in Baden 1 8 6 0 - 1 9 1 4 , in: Luise Schorn-Schütte / Walter Spam (Hg.): Evangelische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 98-127, hier S. 102. Zum kultursoziologischen Aspekt, der bei Lepsius' Milieuunterscheidungen im Anschluß an M a x Weber eine zentrale Rolle spielt, bleibt die explizit auf „sozialhistorische Perspektiven" konzentrierte methodische Einführung von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann referierend blaß: Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus, in: dies., (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, besonders S. 22ff.

20

Rohe, Wahlen und Wählertraditionen, S. 98ff. Unverständlicherweise meidet die an Rohe anknüpfende Diskussion wie bei Kuhlemann, mit der eine Gegenposition aufgebaut wird, die systematisch auf das Deutsche Kaiserreich bezogene Auseinandersetzung mit M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: ders., Demokratie in Deutschland: soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 25-50, insbesondere mit der These, daß sozialkulturell das „protestantische Deutschland (...) in die traditionelle Dichotomie Konservative - Liberale gespalten" ist (ebd. S. 41). Hugh McLeod: Protestantism and the Working Class in Imperial Germany, in: European Studies Review 12 (1982), S. 3 2 3 - 3 4 4 , hier S. 335. Von einer in Planung begriffenen umfangreichen Friedrich-Naumann-Gesamtausgabe ist demnächst die Dokumentation der einzelnen biographischen Stationen und Naumanns Positionierung im „intellektuellen Feld" (Pierre Bourdieu) der wilhelminischen Epoche zu erwarten.

21

22

M a s c h i n e u n d Persönlichkeit"

177

wie der Verfassungsrechtler Böckenförde es schlüssig formuliert hat, „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann", 23 dann haben Kulturprotestanten mit ihrem Bildungsideal sich auf besondere Weise um diese zivilreligiösen Voraussetzungen gesorgt,24 wie es auch in Naumanns Schriften kontinuierlich zu verfolgen ist. Deutschland besaß anders als Frankreich keine laizistische politische Tradition. Dafür besaß das deutsche Bürgertum eine unvergleichlich hohe Bildungsemphase, geradezu Bildungsreligiosität. Sofern hier die individualmoralische Selbstprägung den Maßstab abgab, wurde ideologisch die Nähe zum politischen „Freisinn", so die zeitgenössische Selbstbezeichnung, und institutionell zu den liberalen Vereinen und Parteien gesucht. 25 Reinhart Koselleck spricht von einem anthropologisch-semantischen Fundament auch der modernen Welterfassung: „Die neuzeitliche Bildung zeichnet sich also, von ihren semantischen Grundzügen her typisiert, dadurch aus, daß sie religiöse Vorgaben umgießt, in Herausforderungen persönlicher Lebensführung, daß sie, die Autonomie der Individualität generierend, offen und anschlußfähig ist in alle Lebenslagen hinein, und daß sie, als Arbeit begriffen, das integrierende Element der arbeitsteiligen Welt ist." 26 Unter diesen Vorzeichen agierte auch noch der Nationalsoziale Verein, vielleicht als letzter im Zerfallsprozeß des Bildungsbürgertums in immer neue intellektuelle Zirkel, lebensreformerische Subkulturen oder religiöse Sekten der Jahrhundertwende. Dies brachte zwangsläufig Probleme der politischen Strategie. Dem Verein gelang es nie, alle politischen Kräfte zu bündeln. Im Gegenteil. Der Mitbegründer Rudolf Sohm verfolgte einen bildungselitären, konservativen Kurs. Paul Göhre, der zweite Vorsitzende, wollte umgekehrt die Bildung ganz in den Dienst des Klassenkampfes stellen und wechselte 1899 zur Sozialdemokratie. Der Pfarrer und studierte Nationalökonom Max Maurenbrecher, der letzte Vereinssekretär, strebte nicht weniger als eine Versöhnung von Marx und Nietzsche an, wurde kurzzeitig Sozialdemokrat und bewegte sich im Ersten Weltkrieg auf einen extremen neuen Nationalismus zu. Wenn auf diese Weise auch der Weg vom Nationalsozialen Verein zu Beginn dieses Jahrhunderts in alle Parteien führen konnte, folgte die breite

23 24

25 26

Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976, S. 60. Ausführlicher Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1984, S. 170ff. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 142ff. Koselleck, Einleitung zu ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, S. 34.

178

Gangolf Hübinger

Mehrheit dem Weg Naumanns in den linksbürgerlichen Liberalismus. Die Konsequenzen waren sowohl für den religiösen als auch für den politischen Liberalismus erheblich. Liberale Kulturprotestanten akzeptierten auf der von Naumann gekennzeichneten Bahn mehr und mehr den Prozeß der Industrialisierung und die Pluralisierung der Lebensformen als Strukturprinzipien moderner Gesellschaftsverfassung und entwarfen alternative Ordnungen zum lutherischen Obrigkeitsstaat. Liberale Parteipolitiker wiederum überwanden ihre zu simplen Freihandelsdoktrinen 27 und beschäftigten sich erstmals strukturell mit den Folgekosten der Industrialisierung und der Notwendigkeit sozialstaatlicher Interventionen. Bismarcks berühmte Sozialversicherungsgesetzgebung mit ihren noch sehr begrenzten Unterstützungsprogrammen sollte der Entfremdung der Arbeiter von ihrer politischen Organisation, der Sozialdemokratischen Partei, dienen und das patriarchalische System stabilisieren helfen. Die großen Konfessionen, Katholiken mit dem Volksverein für das katholische Deutschland und der 1897 begründeten Caritas, konservative und liberale Protestanten mit Evangelisch-sozialem Kongreß und Nationalsozialem Verein, führten die Debatte einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie den Übergang von der punktuellen Fürsorge in strukturelle Daseinsvorsorge auf die Tagesordnung der bürgerlichen Parteien setzten. Friedrich Naumann zählt hier als liberal-protestantischer Kritiker der wilhelminischen Staats- und Sozialverfassung zu den wichtigsten Vordenkern. Auf Voraussetzungen und Eigenart von Naumanns Zeitkritik, die mit der Auflösung des Nationalsozialen Vereins nicht mehr an einer christlichen Sozialutopie ausgerichtet ist, vielmehr unter Max Webers großem Einfluß der Diagnose und Gestaltung machtpolitischer Wirklichkeit dient, ist im folgenden zweiten Teil einzugehen.

II. Mit Beginn der wilhelminischen Ära ist das Deutsche Kaiserreich endgültig in den Kreis der führenden Industrienationen eingetreten. Aus Naumanns Sicht steht die Epoche des Wilhelminismus unter dem Vor27

Der Vorsitzende der Freisinnigen Vereinigung, Karl Schräder, verhielt sich zum Beitritt des ca. 3 . 0 0 0 Mitglieder starken Naumann-Flügels der Nationalsozialen erst einmal ablehnend. Er wolle nicht die liberale „individuelle Richtung gegen eine sozialistische tauschen". Durch die Initiativen von Lujo Brentano und Theodor Barth kam der Beitritt dann doch zustande, vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 151ff., Düding, Der Nationalsoziale Verein, S. 175ff., Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 11 Off.

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zeichen, die kapitalistische Dynamik begreifen, die politischen Institutionen transformieren. Es geht um die sozial-ethische und institutionelle Verarbeitung des grundstürzenden Strukturwandels von der Agrargesellschaft in die voll entwickelte industriekapitalistische Massengesellschaft. De facto ist dieser Prozeß um 1890 abgeschlossen. Inlandsinvestitionen, Verkehrssystem, die Wachstumsbranchen der Chemie und Elektroindustrie, Aktiendividenden und Kommunikationsmedien sprechen eine eindeutige statistische Sprache. Mentalitätsgeschichtlich begannen aber jetzt erst die Kontroversen. Fromme Protestanten wollten nicht von „Geld", sondern nur von „Mammon" sprechen. Die Selbstaufklärung der wilhelminischen Gesellschaft über die Anatomie des Industriekapitalismus ist bis in ihre nationalökonomischen Experten hinein gebrochen durch die Wunschbilder einer organischen Agrarkultur mit überlegenen Lebenswerten. Das bildete den Ausgangspunkt für Naumanns Karriereweg vom politischen Pastor zum Berufspolitiker und linksliberalen Parteiführer. Ein politisches Paradox kommt zum wirtschaftlichen hinzu. Die herrschende politische Kultur ist „wilhelminisch", so wie sie Heinrich Mann mit dem Typus des Diederich Heßling, alias Diederich Hahn vom Vorstand des Bundes der Landwirte, nicht schlecht karikiert hat. 28 Autoritätsfixierung, nationale Assimilation, Harmoniestreben und Aggressivität, 29 oder bei Shulamit Volkov Virilität und Antisemitismus30, gelten leicht holzschnittartig auch in der Forschung als typisch wilhelminische „kulturelle Codes". Es ist aber auch zu fragen, wie viele Diederich Heßlings es in der 60-Millionen-Bevölkerung im Sinne dieses Paradebeispiels eines „Untertanen" gegeben hat, und wo überall Kritik-Potentiale am Wilhelminismus zu finden sind, selbst wenn dessen Habitus

28

Zu Hahn, dessen Konturen sich in Heinrich Manns Roman „Der Untertan" von 1918 wiederfinden, siehe George Vascik: Agrarian Conservatism in Wilhelmine Germany: Diederich Hahn and the Agrarian League, in: Larry Eugene Jones and James Retallack: Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1 7 8 9 to 1945, Providence/Oxford 1993, S. 229259; hiernach konnte selbst der einfache Mann aus der Provinz im rigiden wilhelminischen Gesellschaftssystem durch folgende Qualitäten Spitzenstellungen erringen: als bürokratischer Organisator und populistischer Agitator, durch die Effizienz als mittelständischer Verbandsfunktionär und durch die aggressive Verkörperung der „anti-modern, anti-democratic, hypernationalistic Wilhelmine politicians" (ebd., S. 259f.).

29

Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim 1986, S. 29. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code, in: dies.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 13-36.

30

180

Gangolf Hübinger

und Geschmackskultur geteilt werden, die opulente Historienmalerei, der Plüschdekor, das Klavier als „bürgerliches Möbel" oder die Uniformen der Reserveoffiziere und Couleurstudenten. Die großen soziokulturellen Milieus und die kleinen Subkulturen sind durch äußerst starke Segmentierung und Wertekollision gekennzeichnet. Sie bilden eine breite Typenpalette der Kritik am „System" aus, in der auch Friedrich Naumann sein politisches Handlungsfeld findet. Zu dieser Palette, die einmal systematisch darzustellen wäre, gehören die Fundamentalkonservativen mit ihrer preußischen Standes- und Sozialethik ebenso wie die völkisch-idealistische Jugendbewegung, die spätere antidemokratische Elite der Weimarer Republik. Dazu gehören die als papsthörig und damit national unzuverläßig gebrandmarkten Katholiken trotz aller nachholenden Kaisergeburtstagsadressen ebenso wie natürlich die von Kautsky auf weltanschaulichen Marxismus getrimmte Sozialdemokratie. Hinzu kommen die vielen Gruppierungen einer antikapitalistischen Agrarromantik und der mehr oder weniger davon beeinflußten Lebensreformbewegungen, der Vegetarismus als politischer Protest beispielsweise.31 W o steht nun Naumann? Friedrich Naumann und sein kleiner Zirkel 32 prägten einen eigenen originellen Typus der Kritik aus, in der Werte- und Normendiskussion, in der Fixierung politischer Handlungsmuster, nicht zuletzt in der politischen Semantik und in der Verwissenschaftlichung politischen Wissens 33 . Ich lasse hier die implizite Kritik des christlich-sozialen Vereinsgeistlichen und „jungen M a n n " Adolf Stoeckers beiseite. Die Stoßrichtung der nationalsozialen Kritik in der „Sozialen Frage", dem wichtigsten Problemkomplex vor 1 9 0 0 , ist im ersten Teil aufgezeigt worden. Zwei Texte, die ein verfassungspolitisches Dauerthema Naumanns explizit behandeln, dienen mir im folgenden als Eckdaten: Erstens die entscheidend veränderte dritte Auflage von „Demokratie und Kaisertum" aus dem „Jahre eins" nach Beitritt zur '

An diesem Beispiel entwickelt bei Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt 1 9 9 6 .

32

Untersucht bei Ursula Krey: Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1 9 9 6 , S. 3 5 0 - 3 8 1 .

11

Vgl. zu Naumanns Versuch, mit einem „Deutschen Staatslexikon" in der intellektuellen Allianz „von Bassermann bis Bebel", also von den Nationalliberalen bis zur Sozialdemokratie, unter Federführung der kulturprotestantischen Linksliberalen eine politikwissenschaftliche Enzyklopädie zu erstellen, Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 303ff. Siehe jetzt auch den Beitrag von Helen Müller in diesem Band.

3

M a s c h i n e und Persönlichkeit"

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intellektuellen Kleinpartei der Freisinnigen Vereinigung, also von 1904. Hier findet Naumann zum Leitmotiv seiner kulturellen und politischen Publizistik: „Unsere Parole heißt: Maschine und Persönlichkeit". Der vollständige Satz in dem 1904 völlig neu eingefügten Kapitel „Demokratie und Industriepolitik" lautet: „Maschine und Persönlichkeit! Das ist der Gesinnungsinhalt, der hinter aller politischen Betätigung im Urgründe der Geister auf der linken Seite liegt." 34 Der zweite Text, „Der Kaiser im Volksstaat", stammt aus dem welthistorischen Zäsurjahr 1917. Durchgängig also geht es um die Synergien von „Monarchie" und „Demokratie, um Kaisertum und parlamentarische Verfassungsordnung in der hochtechnisierten Industriegesellschaft. 1 9 0 0 um die Chancen der gesellschaftspolitischen Integration auch der neuen sozialen Klassen, 1917 um die Neugestaltung einer politischen Nachkriegsordnung. Zwischen diesen Texten liegt Naumanns historische Selbstreflexion der kapitalistischen Globalisierung. Einen kleinen Beitrag für die „Neue Rundschau" betitelte Naumann 1911 mit „Kulturgeschichte und Kapitalismus": „Es rollt etwas Unerhörtes über die Erde, eine überstaatliche Lebensgemeinschaft, ein neues System Mensch zu sein (...). Es kommt eine neue Gesellschaftsordnung. Ihr Kommen ist der eigentliche Inhalt der Kulturgeschichte." 35 In solchen Sätzen steckt mehr als eine Kritik an den Fachhistorikern, sich nicht kompetent mit ökonomischer Zeitgeschichte zu befassen. Es ist eine Generalkritik an den wilhelminischen Eliten, sich selbst nicht zureichend über die Strukturbedingungen ihrer konservativen Politik aufzuklären. Es ist eine Kritik, die, wie bekannt, auf M a x Webers Verdikt der Bismarck-Epigonen und ihrer Regierungsunfähigkeit unter einem dilettantischen Monarchen aufruht. 36 34

Naumann, Werke, Bd. 2, S. 5 7 .

35

Friedrich Naumann: Kulturgeschichte und Kapitalismus, in: Die neue Rundschau 2 2 ( 1 9 1 1 ) , S. 1 3 3 7 - 1 3 4 8 , Zitat S. 1 3 4 2 ; vgl. ausführlicher Gangolf Hübinger: Kapitalismus und Kulturgeschichte, in: Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1 9 0 0 . Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1 9 8 9 , S. 2 5 - 4 3 .

36

Die Kritik an Kaiser und höfischen Beratern anstelle von verfassungspolitischen Institutionen und verantwortungsethischem Handeln, hauptsächlich gemünzt auf berechenbare machtstaatliche Außenpolitik, durchzieht die gesamten politischen Schriften Webers. Sie ist Teil seiner Freiburger Antrittsrede von 1 8 9 5 , „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik" ( M W G 1/4, S. 5 3 5 - 5 7 4 ) , wie auch seiner wichtigsten Schrift zur Transformation der wilhelminischen Verfassungsordnung von 1 9 1 8 , „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, in: M a x Weber: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , hg. von Wolfgang J. Mommsen und Gangolf Hübinger, Tübingen 1 9 8 4 ( M W G 1/15) S. 4 2 1 - 5 9 6 .

182

Gangolf Hübinger

Analytisch sind zu Naumanns Auseinandersetzung mit wilhelminischen Personen, Institutionen und Strukturen drei Ebenen der Kritik zu trennen: 1.), der Namensgeber selbst, die Kritik an Wilhelm II. und den Kaisermechanismen der höfischen Kultur; 2.), der Wilhelminismus als Fehlform politischer und sozialer Institutionen und Ordnungsmuster; 3.), Wilhelminismus als kulturelle Codierung, als Ensemble von symbolischen Handlungs- und Deutungsmustern. 1.) Die Haltung zum Kaiser. Hier dominiert eine für die Freunde befremdliche Zustimmung zum „persönlichen Regiment" Wilhelms II. Naumann kritisierte ihn als Preußenkönig, der die Prärogative der alten Aristokratie verteidigt. Aber er schätzte ihn als modernen Monarchen, offen gegenüber der „Diktatur des Industrialismus" und von hoher sozialer Integrationsfähigkeit. Dafür sah er ihm die „Hunnenrede" nach und die Ausschaltung christlicher Ethik zugunsten der Eigenmoral imperialistischer Machtpolitik. 37 Er stelle sich nur zu gut mit dem politischen Katholizismus. Max Weber, in dessen Haus und Garten der Name Wilhelms II. nicht ausgesprochen werden durfte, warnte Naumann: Die „Hilfe" solle unbedingt auf die Formulierung „für den Kaiser, gegen das machtlüsterne Zentrum" verzichten. „Dieses Regime dieses Mannes" gefährde die Weltstellung des Reiches wie nichts sonst.38 Naumann hielt aber auch das höfische Umfeld für offen zu neuer Elitenbildung. „Die Umgebung Kaiser Wilhelms II. ist gar nicht in der Weise konservativ, wie es bei früheren preußischen Königen der Fall war (...) Es gab eine Zeit, wo Stumm viel am Hofe verkehrte, es gab eine andere Zeit, wo Krupp mehr zu gelten schien, niemals aber gab es eine Zeit, in der man von besonders nahem Verkehr agrarischer oder klerikaler Größen etwas gehört hat." 39 2.) Naumanns Geduld mit dem wenig berechenbaren Monarchen, von dem er für die eigene freisinnige Parteipolitik nichts erwarten konnte, hatte aber einen einsichtigen verfassungstheoretischen Grund: Die Institution des sozialen Kaisertums. Die Figur des Industriekaisers. Nau-

37 38

19

Peter Theiner: Sozialer Liberalismus, S. 62-75. Brief an Naumann vom 14. Dezember 1906, in: M a x Weber: Briefe 1 9 0 6 - 1 9 0 8 , hrsg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 1990 (MWG II/5), S. 2 0 2 . Naumann, Demokratie und Kaisertum, S. 287. Gemeint ist der saarländische Schwerindustrielle Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, der seit 1895, in der Gründungsphase des Nationalsozialen Vereins, für eine scharf konservative Wende in der Sozialpolitik steht (die „Ära Stumm"), und der rheinische Schwerindustrielle Friedrich Alfred Krupp.

Maschine und Persönlichkeit" m a n n sieht in ihr d e n G a r a n t e n einer k o n f l i k t e n t s c h ä r f e n d e n

183 Indu-

strialisierungspolitik. E s ist ein Z u f a l l , d a ß die g e n a n n t e dritte A u f l a g e v o n „ D e m o k r a t i e u n d K a i s e r t u m i m gleichen J a h r w i e M a x

Weber,

„ D i e p r o t e s t a n t i s c h e E t h i k u n d der Geist des K a p i t a l i s m u s "

(1904),

e r s c h i e n , w ä h r e n d die erste A u f l a g e zeitgleich m i t G e o r g S i m m e l , „ D i e P h i l o s o p h i e des G e l d e s " ( 1 9 0 0 ) , e r s c h i e n e n w a r . K e i n Z u f a l l w a r es, d a ß die K u l t u r b e d e u t u n g der kapitalistischen I n d u s t r i e w i r t s c h a f t für die f ü h r e n d e n Intellektuellen u m 1 9 0 0 , in d e r e n K r e i s e n N a u m a n n verk e h r t e , d a s v o r r a n g i g s t e P r o b l e m darstellte. G e o r g Simmel, der N a u m a n n allerdings u n b e k a n n t w a r , 4 0 h a t Geld als „ S y m b o l aller m e n s c h lichen O b j e k t i v a t i o n s p r o z e s s e " g e s e h e n . 4 1 W e r n e r S o m b a r t , der a u c h d a s S c h l a g w o r t v o m „ m o d e r n e n K a p i t a l i s m u s " g e p r ä g t h a t , h a t die „ M o t i v a t i o n lebendiger M e n s c h e n " , a l s o eine p s y c h o l o g i s c h e B e g r ü n dung, zur Erklärung kapitalistischer Akkumulationsprozesse herangez o g e n , u m die sich M a r x zu w e n i g g e k ü m m e r t h a b e . 4 2 M a x

Weber

schließlich h a t für d a s m o d e r n e W i r t s c h a f t s h a n d e l n n a c h u n i v e r s a l g e s c h i c h t l i c h e n V o r a u s s e t z u n g e n in den g r o ß e n R e l i g i o n e n g e s u c h t . 4 3 N a u m a n n h a t d a s g r o ß e T h e m a in seinem „ H a n d b u c h der i n n e r e n P o -

40

„Simmel, mir unbekannt. Was war oder ist er?" Brief Friedrich Naumanns an seinen politischen Mitarbeiter und Freund Gottfried Traub vom 27. 12. 1900, Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Traub. In diesem Brief wird eine frühe Manuskriptfassung von Traubs Buch „Ethik und Kapitalismus. Grundzüge einer Sozialethik" diskutiert. Gegen Traub und wohl auch gegen den ursprünglichen Geist des nationalsozialen Parteiprogramms erweist sich Naumann hier als Verfechter eines ethischen Pluralismus: „Man muß grundsätzlich aufhören, ,die Ethik' als Einheit zu betrachten. (...) So ist Christentumsethik und Aufklärungsethik, antike Staatsethik und moderne Nationalethik, aristokratische und demokratische Gesellschaftsethik u.s.w. zu einem ethischen Stilchaos zusammengeflossen, das sich der genauen Analyse fast entzieht. Es steht Ethik gegen Ethik. Die leichteste Lösung wäre nun, daß der Mensch nur einen ethischen Stil haben sollte, etwa den christlichen = Evangelium. Diese Lösung ist Rückfall in überwundene Einzelperiode." Gerd Fesser danke ich sehr dafür, mir diesen Brief zugänglich gemacht zu haben.

41

Klaus Lichtblau: Zum metadisziplinären Status von Simmeis „Philosophie des Geldes", in: Simmel News Letter 4 (1994), S. 103-110, Zitat S. 104; vgl. ders., Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt am Main 1996. Zu Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, Leipzig 1902, folge ich hier der Interpretation von Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994, S. 121ff. Darauf können sich so konträr zueinander stehende Weberinterpreten wie Wolfgang Schluchter und Wilhelm Hennis verständigen, siehe Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, 2 Bände, Frankfurt am Main 1988; Wilhelm Hennis: M a x Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996, S. 214ff.

42

43

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Gangolf Hübinger

litik", wie der Untertitel zu „Demokratie und Kaisertum" 1904 neu eingefügt wurde, politisch kleingearbeitet. Der fundamentale Demokratisierungsschub des neuen Massenzeitalters brauche cäsaristisch-plebiszitäre Herrschaftsformen. Darin liegt eine zentrale Selbstkritik und Modernisierung liberalen Verfassungsdenkens. Das traditionelle liberale Verfassungsdenken nämlich beruhte eher auf subsidiären und genossenschaftlichen Modellen, dem etwas willkürlich aus der englischen Geschichte umgedeuteten Prinzip des „Selfgovernment". Hugo Preuß mit „Stadt und Staat" gehört hier zu den einflußreichsten Vordenkern. 44 Das Kaisertum garantierte Naumann der Idee nach die Versöhnung von Verfassungs- und Machtprinzip. Ab 1908, nach der Daily-Telegraph-Affäre, die eine Staatskrise erster Ordnung war, sah er jedoch in der wilhelminischen Realität hierfür keine Erfolgschancen mehr. Entsprechend wurde der Ton seiner politischen Kritik schärfer. Ich greife hier nur ein Beispiel aus einer signifikanten innerliberalen Kontroverse auf, das die Sollbruchstellen zwischen Nationalliberalen und Linksliberalen erkennen läßt. 1911 wurde im Reichstag die elsässisch-lothringische Landesverfassung diskutiert. Das „Reichsland" sollte durch sie ein gleichberechtigter Gliedstaat des Deutschen Reiches werden. Ernst Bassermann und Friedrich Naumann führten im Reichstag die typischen Denkmuster ihrer Parteien vor. Einig waren sie über die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, den Schlüssel zur Parlamentarisierung. Naumanns Forderungen gingen weiter und betrafen die beiden Herzstücke der Reichsverfassung, ihren föderalistischen Charakter und ihr Maß an partizipatorischer Demokratie. Naumann monierte, das Gesetz komme nicht nach Regeln föderativer Selbstbestimmung zustande. Und die Gleichheitsrechte seien nicht erweitert und die Frauen nicht in das gleiche Wahlrecht einbezogen worden. Naumann und die von ihm 1910 mitbegründete Fortschrittliche Volkspartei, mit der er seinem Ziel eines reformoffensiven Gesamtliberalismus einen großen Schritt näher kam, steckten in solcher Weise Felder weiterführender Demokratisierung ab, die sie zum Teil mit den Sozialdemokraten, zum Teil auch mit dem katholischen Zentrum verbanden. 45 Naumanns Biographie zeigt sozial- und innenpolitisch eine stetig wachsende Entfernung von der politischen Kultur des auf patriarchalischen Lebensformen gründenden Wilhelminismus.

44 45

Vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 43. Ausführlicher bei Gangolf Hübinger: „Machtstaat, Rechtsstaat, Kulturstaat". Liberale Verfassungspolitik im Deutschen Kaiserreich, in: Hans Mommsen und Jiri Koralka (Hg.): Ungleiche Nachbarn. Demokratische und nationale Emanzipation bei Deutschen, Tschechen und Slowaken, Essen 1993, S. 4 9 - 6 3 , bes. S. 61f.

Maschine und Persönlichkeit"

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3.) Wilhelminische Kultur. Aber was ist spezifisch wilhelminisch? Und was ist Teil der europäischen Moderne im Durchsetzungsprozeß der Hochindustrialisierung ganz allgemein? Das läßt sich nicht einfach beantworten. "Waren die Deutschen um 1900 nervöser als Briten oder Franzosen, wie das Buch von Volker Ullrich nahelegt, und ist Neurasthenie eine deutsche Kulturkrankheit?46 Ist Walther Rathenau, der Kritiker städtischer Parvenuementalität, gleichwohl „mit Grund" als Exponent des Wilhelminismus zu betrachten, wie es Rüdiger vom Bruch sieht,47 dann trägt auch Naumann stärker die Züge des wilhelminischen Zeitgeistes als es die soeben referierte politische Kritik am System erscheinen läßt. Hinter mein Thema gehört dann ein Fragezeichen. Die über wilhelminische Repräsentationseitelkeiten hinausweisenden Energien des „system builders" Rathenau mit manchen Parallelen zu Naumann können hier nicht näher thematisiert werden.48 Naumanns politische Biographie, seine dadurch verdeckte ästhetische Sensibilität wie seine religiös-ethische Grundierung zeigen eine Gratwanderung zwischen wilhelminischer Rhetorik der deutschen Weltgeltung und Kritik an deren autoritärer Korporalsmentalität, die er im Parlament bei den Deutschkonservativen entschieden bekämpfte. Seit der Pariser Weltausstellung von 1900 war Naumann mehr denn je überzeugt, daß der weltweite technische Fortschritt der Rettung des protestantischen Persönlichkeitsideals dienen könne. Dem habe auch die Ästhetik zu dienen; die Deutschen sollen „ein künstlerisch durchgebildetes Maschinenvolk" werden.49 Das hat nichts zu tun mit den bei europäischen Künstlern, Publizisten und Architekten der Zwischenkriegszeit beliebten Utopien der formierten Massengesellschaft. Naumann förderte politisch die „Individualmoral" der liberalen Protestanten gegenüber der „Gemeinschaftsmoral" der sogenannten Orthodoxen. Das spaltete weit über die Soziale Frage hinaus politisch den Protestan46

Für die deutsche Geschichte des 19. und frühen 2 0 . Jahrhunderts betont wird dies bei Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht, Frankfurt am Main 1 9 9 7 ; Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1 9 9 8 , auch Wolfgang U. Eckart: „Die wachsende Nervosität unserer Z e i t " . Medizin und Kultur um 1 9 0 0 am Beispiel einer Modekrankheit, in: Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch und Friedrich Wilhelm Graf: Kultur und Kulturwissenschaften II. Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1 9 9 7 , S. 2 0 7 - 2 2 6 .

47

Rüdiger vom Bruch: Wilhelminismus. Z u m Wandel von Milieu und politischer Kultur, in: Uwe Puschner, Walther Schmitz und Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung" 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , München 1 9 9 6 , S. 3 - 2 1 , Zitat S. 7.

48

Vgl. Tilmann Buddensieg (Hg.): Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin 1 9 9 0 .

49

Friedrich Naumann: Ausstellungsbriefe, Berlin 1 9 1 3 , S. 1 5 1 .

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Gangolf Hübinger

tismus im „Kampf um die Leitkultur" um 1900, so die treffende Formulierung bei Kurt Nowak. 5 0 Auf dem Deutschen Protestantentag von 1909 hielt Naumann ein Hauptreferat „Religiöser und politischer Liberalismus". Er entwickelte deren inneren Zusammenhang vor der Folie von Georg Jellineks umstrittener These der Entstehung der Bürger- und Menschenrechte, wandelte sie aber in liberalprotestantischem Geiste entschieden ab. Nicht die unbeugsame Bekenntnishaltung der Dissidenten, sondern das klassische Humanitätsideal, das ohne Frage auch einen einseitigen Rassenstandpunkt verbiete, liefere für Deutschland die notwendige Voraussetzung liberal gesteuerter Reformen: „politischer Liberalismus braucht den religiösen Liberalismus als Vorbedingung seines Wirkens". 5 1 Naumann bezog damit eindeutig Stellung im innerprotestantischen Kampf um die wilhelminische Leitkultur. Er hielt den „religiösen Individualismus" für die unabdingbare mentale Voraussetzung des politischen Liberalismus. 52 Wie christlich imprägniert blieben vor diesem theoretischen Hintergrund Naumanns nationalistische und imperialistische Weltdeutung? 53 Vielfach teilte er den Sozialdarwinismus seiner Zeit: „Die Weltgeschichte (...) muß fortfahren, Nationen zu zerstören. (...) Wir scheuen uns gar nicht, Polen, Dänen, Suaheli, Chinesen nach Kräften zu entnationalisieren." In der imperialistischen Rivalität könne das Deutsche Reich nur als „politischer Großbetrieb" überleben. Mit dieser Variante und den Widersprüchen zu seiner Theologie war Naumann nicht anders als sein Freund M a x Weber ganz Kind seiner Zeit. Friedrich Naumann ist kein Klassiker der modernen Politik- und Kulturgeschichte wie Alexis de Tocqueville oder M a x Weber. Seine Zeitkommentare und politisch-religiösen Betrachtungen sind zu eklektisch, zu weitschweifig und zu unscharf. 54 Aber er besaß auch nicht den 50

Kurt N o w a k : Geschichte des Christentums in Deutschland, München 1 9 9 5 , S. 149ff. Z u r Kritik anderer Auffassungen siehe oben, S. 59f.

51

Friedrich Naumann: Religiöser und politischer Liberalismus, in: Protestantische Freiheit. Verhandlungen des 14. Deutschen Protestantentages in Bremen vom 2 1 . - 2 4 . September 1 9 0 9 , S. 9 7 - 1 1 7 , Zitat S. 1 1 1 ; vgl. auch Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 2 4 6 f .

52

Ebd., S. 1 1 8 .

53

Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: Karl Holl und Günther List (Hg.): Liberalismus und imperialistischer Staat, Göttingen 1 9 7 5 , S. 1 0 9 - 1 4 7 , bes. S. 128ff.

54

Dies macht theoriegeschichtliche Rekonstruktionen schwierig. Gleichwohl überaus anregend: Stefan Georg Schnorr: Liberalismus zwischen 19. und 2 0 . Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel von Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1 9 9 0 .

Maschine und Persönlichkeit"

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gelehrtenpolitischen Freiraum wie Max Weber, der die Gegensätze intellektuell auf die Spitze trieb,55 sondern war Berufspolitiker, der zu kämpfen und Kompromisse zu schließen hatte. Als politische Persönlichkeit wie als Publizist, der schnell zu allen Zeitfragen Stellung nahm, gehört Naumann zu den Schlüsselfiguren der Erfahrungs- und Verarbeitungsgeschichte seiner Epoche, besonders was die Sisyphusaufgabe betraf, politische Steuerungsregeln für den ökonomischen Transformationsprozeß durchzusetzen. Er teilte nicht Max Webers grundsätzliche Zweifel an der Konvergenz von humanem und technischem Fortschritt unter industriekapitalistischen Erwerbsbedingungen - „dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben." 56 Naumanns Grundton liegt für die „neudeutsche Wirtschaftspolitik" zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf optimistischeren Erwartungen an „Maschine und Persönlichkeit".

55

56

Das ist prägnant herausgearbeitet worden bei Wolfgang J. Mommsen: Die antinomische Struktur des politischen Denkens Max Webers, in: HZ 233 (1981), S. 35-64. Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920 u.ö., S. 204.

Im Zeitalter der Sammelwerke Friedrich Naumanns Projekt eines „Deutschen Staatslexikons" (1914) HELEN MÜLLER

Wer es unternimmt, über ein literarisches Vorhaben zu schreiben, welches nie realisiert wurde, begibt sich auf unsicheren Boden. Es gibt jedoch Bücher, die haben ein Schicksal, auch wenn sie nie geschrieben wurden. Für lexikalische bzw. enzyklopädische Sammelwerke gilt dies um so mehr, als sie aufgrund ihrer integrierenden Funktion in bezug auf eine bestimmte wissenschaftliche, politische, sprachliche oder ästhetische Ordnungsvorstellung seit jeher Gegenstand intellektueller Reflexion waren, an der Herausgeber, die beteiligten Autoren und das Publikum selbst beteiligt sein konnten. Scheitert ein solches Projekt, so ist zugleich auch der damit verbundene Versuch einer Ordnung des zu vermittelnden Wissens in Frage gestellt. Friedrich Naumanns Deutsches Staatslexikon hat es als Buch nie gegeben. Als Archiv des liberalen Wissens geplant und als solches - zumindest stichwortartig - überliefert 1 , sollte es den Wissensstand des Liberalismus innerhalb seiner Epoche dokumentieren. Für Naumann selbst war dieses Projekt eine „Lebensaufgabe" 2 , die über viele Monate hinweg seine intellektuellen Energien und seine Arbeitszeit in Anspruch nahm. Um so bedauerlicher erscheint es zunächst, daß seinen Plänen, denen seiner Mitarbeiter und Verleger mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein jähes Ende gesetzt wurde. Obwohl die Vorbereitungen, an die man hätte anknüpfen können, recht weit fortgeschritten waren, wurde das Vorhaben - im Gegensatz zu den Plänen für eine „Staatsbürgerschule" - nach

Die wichtigsten D o k u m e n t e zur Entstehungsgeschichte sowie die Stichwort- und Autorenlisten finden sich im N a c h l a ß Friedrich N a u m a n n s , Bundesarchiv, Außenstelle Lichterfelde (im folgenden zitiert als N L N a u m a n n ) . So der Eindruck Walter de Gruyters nach einem Gespräch mit N a u m a n n im Februar 1 9 1 4 : „Dr. N a u m a n n erblickt in der Schaffung eines solchen Werkes, s o glaubte ich aus seinen Mitteilungen lesen zu können, eine Lebensaufgabe, die er nur höchst ungern länger hinausschöbe (...)." Gesprächsprotokoll v o m 25. Februar 1 9 1 4 , Verlagsarchiv Walter de Gruyter & Co. (im folgenden zitiert als VA) Briefarchiv R2 (Naumann).

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Helen M ü l l e r

1918 nicht wieder aufgegriffen. Das Deutsche Staatslexikon geistert seitdem als eine der großen Ideen Naumanns im Kampf um die liberale Einigung immer wieder durch die Literatur3, ohne daß die vorhandenen Quellen einer genaueren Sichtung unterzogen worden wären.4 Gerade als Torso ist das Staatslexikon jedoch in mehrfacher Hinsicht interessant. Zunächst spiegelt die systematische Anordnung der Stichworte eine bestimmte, von Friedrich Naumann favorisierte staatlichliberale Ordnungsvorstellung wieder, deren inhaltliche Ausprägung jedoch nur vage unter Zuhilfenahme anderer (staats-)lexikalischer Standardwerke seiner Zeit und mit Blick auf die mitarbeitenden Autoren rekonstruiert werden kann. Darüber hinaus lenkt jedoch gerade diese zwangsläufige Konzentration auf die Form eines Lexikons das Augenmerk auf die Veränderungen im liberalen literarischen Feld der Jahrhundertwende. Robert Darnton hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß neue oder veränderte literarische Formen, welche in der Regel auch auf eine veränderte inhaltliche Repräsentation verweisen, naturgemäß in einem engen Verhältnis zu der Erschließung ihres Publikums stehen und damit nicht von ihrer kommerziellen Nutzung getrennt betrachtet werden können.5 Ein entscheidender Faktor für publizistischen Erfolg ist dabei eine gewisse Aktualität im Hinblick auf den gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen, den inhaltlich und formal zu erfassen die Aufgabe alles modernen, d.h. auf die „Idee einer informierten Gesellschaft" 6 gerichteten enzyklopädischen Arbeitens ist. Eine eingehendere Untersuchung der am Staatslexikon beteiligten Verlage im 3

Zumeist im Anschluß an die Ausführungen zum „Staatslexikon" bei Theodor Heuß: Friedrich Naumann, Der Mann, das Werk, die Zeit, München 1 9 6 8 , S. 3 2 3 , s. auch ders., Friedrich Naumann als politischer Pädagoge, in: Ernst Jäckh (Hg.): Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, Berlin 1 9 3 1 , S. 1 2 1 - 1 3 3 ; vgl. Antonio Missiroli: Die Hochschule für Politik, St. Augustin 1 9 8 8 , S. 2 4 , sowie Monika Hildegard Faßbender-Ilge: Liberalismus, Wissenschaft, Realpolitik, Untersuchung des „Deutschen Staats-Wörterbuchs" von Johann Caspar Bluntschli und Karl Brater als Beitrag zur Liberalismusgeschichte zwischen 4 8 e r Revolution und Reichsgründung, Frankfurt a . M . 1 9 8 1 , S. 8.

4

Eine Ausnahme bildet: Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Z u m Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1 9 9 4 , S. 303ff.

5

Vgl. Robert Darnton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyklopedie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn, Berlin 1 9 9 3 (Die englische Originalausgabe erschien 1 9 7 9 unter dem Titel: The Business of Englightenment. Α Publishing History of the Encyclopedic 1 7 7 5 - 1 8 0 0 ) . Zuletzt in: Der Kuß des Lamourette, München 1 9 9 8 .

6

Jürgen Mittelstraß, Art. Enzyklopädie, in: Enzyklopädie, Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Mannheim u.a. 1 9 8 0 , S. 5 5 7 - 5 6 2 , Zitat S. 5 6 0 .

Im Zeitalter der Sammelwerke

191

Beziehungsgeflecht von Herausgeber, Autoren und der mittels eines enzyklopädischen Großprojektes zu gewinnenden liberalen Öffentlichkeit kann so Aufschluß geben über allgemeine politisch-publizistische Strategien dieser Epoche: Nicht umsonst ließen die jeweiligen Bemühungen um Ordnung innerhalb einer weltanschaulich fragmentierten Gesellschaft die Zeit zwischen Jahrhundertwende und Ausbruch des Krieges in den Augen der Zeitgenossen mitunter als ein „Zeitalter der Sammelwerke" erscheinen.7 Friedrich Naumann spielte in diesem publizistischen Kampf um politische wie kulturelle Einheit eine nicht nur von seinen liberalen Parteigenossen beachtete Rolle, und seine vielfachen publizistischen Tätigkeiten wurden noch zu seinen Lebzeiten öffentlich thematisiert.8 Daß er selbst seine im August 1914 bereits im fortgeschrittenen Stadium der Realisierung sich befindende Idee nach dem Ersten Weltkrieg nicht wieder aufnahm, ist daher erklärungsbedürftig. Einerseits läßt dies natürlich Rückschlüsse auf die veränderten politischen Rahmenbedingungen zu, die eine komplette inhaltliche Überarbeitung erfordert hätten, welche Naumann jedoch zugunsten der für die Heranziehung des liberalen Nachwuchses wichtigeren Hochschule für Politik zurückstellte. Andererseits verdeutlicht ein genauer Blick auf die Stichwortliste bzw. auf das vom Schriftführer Erich Schairer geführte Protokoll9 die bereits in der Planungsphase auftretenden konzeptuellen Schwierigkeiten. Diese „Unstimmigkeiten" in der systematischen Anordnung spiegeln letztlich das anhand enzyklopädischer Literatur besonders deutlich analysierbare Phänomen einer „in Theorie und Praxis zerfallenden politischen Bildung'" wieder.10 Das Staatslexikon sollte, wie auch einer seiner Verleger Walter de Gruyter etwas vage bemerkte, „Erziehungsmittel" sein, und zwar „ein Erziehungsmittel im Geiste einer nach weiten Gesichts-

7

So der Verlagslektor Artur Buchenau in seiner Rezension zu dem von Wilhelm Dilthey 1 9 1 1 herausgegebenen Band „Weltanschauung, Philosophie und Religio n " , in: Kantstudien, Bd. 16 ( 1 9 1 1 ) , S. 4 6 2 - 4 6 4 , Zitat S. 4 6 2 .

8

Zu den publizistischen Tätigkeiten Naumanns: Helene Raff, Friedrich Naumann als Schriftsteller, in: Das literarische Echo, 5. Jahrgang, Heft 11 (1. März 1 9 1 3 ) , Sp. 7 4 5 - 7 5 0 ; vgl. auch Johannes Herz, Friedrich Naumann als Schriftsteller, in: Die Hilfe, Jg. 3 6 ( 1 9 3 0 ) , S. 2 9 9 - 3 0 9 sowie die Dissertation von Carl Schneider, Die Publizistik der national-sozialen Bewegung 1 8 9 5 - 1 9 0 3 , Wangen i. Allgäu 1934.

9

N L Naumann, Bd. 5 0 , Bl. 1 - 1 3 . Im folgenden zitiert als Protokoll (Schairer).

10

Vgl. für das Brockhaus'sche Konversationslexikon: Utz Haltern, Politische Bildung und bürgerlicher Liberalismus, Zur Rolle des Konversationslexikons in Deutschland, in: H Z , Bd. 2 2 3 ( 1 9 7 6 ) , S. 6 1 - 9 7 , Zitat S. 6 2 ; vgl. auch FaßbenderIlge, Liberalismus, bes. S. 7f.

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und Grenzpunkten eingestellten und historisch verstrebten Auffassung, wie sie Dr. Naumann vertritt". 11 Welcher Art diese Auffassung war und inwieweit sie in ihrer kategorialen Umsetzung 1914 ebenso wie 1918 mit den historischen Gegebenheiten und Ansprüchen kollidierte, wird nun im folgenden zu klären sein. Es ist jedoch wichtig, hier die Vermittlungswege miteinzubeziehen, die die Möglichkeit für eine effektive liberale Bildungsarbeit eröffneten. Man befand sich eben auch im Zeitalter einer weit fortgeschrittenen Fragmentierung des Liberalismus, und aus den Korrespondenzen um das Staatslexikon geht deutlich hervor, daß mit diesem Projekt die Möglichkeiten, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung und Differenzierung des publizistischen Massenmarktes herausgebildet hatten 12 , für die eigenen politischen Zwecke nutzbar gemacht werden sollten. Die Gründe dafür, warum dies nicht gelang, lagen wiederum nicht allein - so die Annahme für die folgenden Ausführungen - am Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dessen Folgen für den publizistischen Markt. Sie lagen ebenso an der inhaltlichen Bearbeitung des Projektes.

I. Zur Organisation eines lexikalischen Projektes Es war Anfang Februar 1912, als Friedrich Naumann erstmals auf den Verleger Paul Siebeck zuging, um „den Gedanken eines Staatslexikons auf liberaler Grundlage" mit ihm zu besprechen. Nicht nur aus „politischen Gründen" hielt er ein solches Lexikon „für wünschenswert", auch aus organisatorischer Perspektive sah er den Zeitpunkt als günstig an: Mitarbeiter seien zweifellos vorhanden und seien für ihn, Naumann, verhältnismäßig leicht gewinnbar. 13 Siebeck lehnte zunächst ab, nahm aber den Plan zwei Jahre später wieder auf. Um das verlegerische Risiko zu mindern zog man den Berliner Wissenschaftsverleger Walter de Gruyter hinzu, den Inhaber des alteingesessenen Georg Reimer Verlags und anderer Verlagshäuser, welcher wenige Monate zuvor Friedrich Naumann als Autor in seinen Verlag genommen hatte. 14 Die entschei11

Gesprächsprotokoll v. 2 5 . Februar 1 9 1 4 (wie Anm. 2).

12

Vgl. das Kapitel „Der literarisch-publizistische Markt und der Übergang zur modernen Kommunikationsgesellschaft" bei Hans-Ulrich Wehler: Von der deutschen Doppelrevolution bis zum ersten Weltkrieg 1 8 4 9 - 1 9 1 4 . Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1 9 9 5 , S. 1232ff.

13

Naumann an Siebeck, Schreiben vom 5. Februar 1 9 1 2 , N L Naumann, Bd. 2 2 5 , Bl. 1 0 8 .

14

Z u r Verlagsgeschichte vgl. Gerhard Lüdtke: Der Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin 1 9 2 4 .

Im Zeitalter der S a m m e l w e r k e

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dende Besprechung zwischen den Verlegern und Naumann fand im März 1914 im mondänen Hotel Marquardt in Stuttgart statt, in ihr wurden der Arbeitsplan, die ideologische Ausrichtung sowie die Finanzierung dieses für die Verleger nicht ohne Bedenken aufgenommenen Vorhabens festgelegt.15 Das stichwortartige Protokoll dieser Unterredung gibt bereits den straffen Organisationscharakter wider, der dem Unternehmen von Beginn an anhaftete. Die inhaltliche Verantwortung lag ganz bei Naumann, der jedoch den Verlegern gegenüber die Unterstützung der HilfeRedaktion geltend machte: In seinem Sekretär Erich Schairer sowie in den Redakteuren Gertrud Bäumer und Wilhelm Heile fand Naumann „diejenigen Persönlichkeiten vereinigt (...), mit deren Beistand er sich zur Durchführung eines solchen Unternehmens stark fühle". 16 Während Bäumer und Heile schon seit einigen Jahren zum engsten Mitarbeiterkreis gehörten, war der studierte Theologe Erich Schairer erst im November 1912 auf Empfehlung Wilhelm Ohrs vom National-Verein für das liberale Deutschland in München zu der Berliner Hz7/e-Redaktion gestoßen, wo er seitdem als „Privatsekretär" Naumanns tätig war.17 Ihm kam als ein vom finanziellen Fonds des Lexikons bezahlter Schriftführer18 dann auch die wichtigste Rolle bei den redaktionellen Vorbereitungen zu: Schairer war mit Naumann zusammen für die Korrespondenz verantwortlich und führte ab Mai 1914, als das Projekt in seine heiße Phase eintrat, fast täglich Protokoll über die Unterredungen mit den Autoren, deren Zu- oder Absagen bzw. inhaltlichen Anregungen. Im Gegensatz zur schnell gefundenen äußeren Form des Staatslexikons - es sollte zweibändig in Oktavformat hergestellt und in Fraktur gedruckt werden, die Erstauflage sollte 6000 Exemplare betragen wurde die inhaltliche Tendenz mit „deutsche Linke" nur vage festgehalten. Unter diese Bezeichnung fielen neben den linksliberalen Autoren laut Gesprächsprotokoll auch Mitglieder der nationalliberalen Partei; doch war auch „die Zugehörigkeit zur sozialistischen Partei nach seiner [Naumanns, H.M.] Ansicht kein Hemmnis, unter die Mitarbeiter aufge-

15

Protokoll der Besprechung vom 8. März 1 9 1 4 , N L Naumann, Bd. 2 6 , Bl. 253ff.

16

Gesprächsprotokoll Walter de Gruyters (wie Anm. 2).

17

Vgl. Schreiben Naumanns an Schairer v. 16. bzw. 2 0 . März 1 9 1 2 , N L Naumann, Bd. 4 , Bl. 1 3 5 u. 1 3 3 ; zum Bildungsgang Schairers vgl. den in seiner Tübinger Dissertation abgedruckten Lebenslauf (Zitat ebd.). Erich Schairer: Christoph Friedrich Daniel Schubart als politischer Journalist, Tübingen (Druck bei H. Laupp) 1 9 1 4 .

18

Schairers Gehalt belief sich auf 4 0 0 0 Μ im Jahr. Vgl. Protokoll v. 8. März 1 9 1 4 (wie Anm. 15).

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nommen zu werden."19 Dieses Spektrum wurde, soweit aus der Korrespondenz und aus den Autorenlisten ersichtlich, auch konsequent eingehalten. Bereits die ersten Listenversionen spiegeln die Ausrichtung im Sinne der „parteipolitischen Allianz von Bassermann bis Bebel" 20 wider, in dem die Namen von Gustav Stresemann und Eduard Bassermann ebenso ihren Platz hatten wie die der sozialistischen Revisionisten Eduard Bernstein oder Albert Südekum. Die meisten Autoren kamen jedoch aus dem kulturprotestantischen Umfeld Friedrich Naumanns, der „mit den meisten in Betracht kommenden Herren persönlich bekannt oder befreundet" war.21 Als Leitidee galt, eine „Darstellung aller Zweige des öffentlichen staatlichen Lebens [zu] geben und zwar unter dem Gesichtspunkte der Einwirkungen, die der Staat auf sie nehme und nach liberaler Anschauung zu nehmen habe." 22 Unter dieser Prämisse, ohne daß man jedoch in Parteiagitation verfallen wollte, wurden auch die liberalen Geldgeber angeschrieben, mit deren Hilfe Naumann sich verpflichtete, 25000 Reichsmark über die von den Verlegern aufzubringenden Herstellungskosten hinaus für das Unternehmen aufzubringen. Mit der Unterstützung des Berliner Bankiers Julius Stern (4000 M.), des Direktors der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes Bernhard Dernburg (1000 M.), der Unternehmer James Simon und Robert Bosch (jeweils 5000 M.) sowie des Hamburger Rechtsanwalts Carl Petersen (10000 M.) war dieser Betrag spätestens bis Juli 1914 aufgebracht worden, so daß man sich über die Finanzierung des Lexikons fortan keine Sorgen mehr zu machen brauchte.23 Mit Ausnahme von Bosch und Dernburg, welche erst seit kurzem zum Umfeld Naumanns gestoßen waren24, gehörten Simon, Stern und Petersen seit vielen Jahren zum Gesellschafterkreis der Fortschritts GmbH, welche von Naumann 1903 unter der Mitwirkung von Franz Schneider als Buchverlag der Hilfe gegründet worden war.

19

Gesprächsprotokoll Walter de Gruyters über eine Unterredung mit Naumann v. 10. Februar 1 9 1 4 , N L Naumann, Bd. 2 6 , Bl. 1 6 5 .

20

Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 3 0 3 .

21

Naumann an Siebeck, Schreiben vom 5. Februar 1 9 1 2 , N L Naumann, Bd. 2 2 5 , Bl. 1 0 8 .

22

Gesprächsprotokoll Walter de Gruyters (wie Anm. 19), Bl. 165f.

23

Vgl. Schreiben Naumanns an Dernburg v. 11. Juli 1 9 1 4 , N L Naumann, Bd. 2 5 , Bl. 7 9 ; vgl. Bd. 5 6 , Bl. 19.

24

Z u m Verhältnis des Unternehmers Robert Bosch zu Friedrich Naumann s. Joachim Scholtyseck, Robert Bosch: Liberaler Widerstand gegen Hitler 1 9 3 3 bis 1 9 4 5 , München 1 9 9 9 .

Im Zeitalter der Sammelwerke

195

Die Anordnung der Stichworte erfolgte schließlich in 2 5 Inhaltsgruppen 25 , denen sogenannte „Gruppenführer" vorstanden. Diese fungierten als „Vertrauensmänner" oder „Berater" der Redaktion, wurden zunächst jedoch noch nicht festgelegt, so daß sie auch heute für die einzelnen Gruppen nicht namentlich genannt werden können. Die Gruppenführer sollten über das übliche Autorenhonorar von 5 D M pro Spalte ( = 1 6 0 Μ pro Druckbogen) hinaus bezahlt werden. Dieser Satz war endlich ein Kompromiß gewesen zwischen Paul Siebeck, der analog zu den in seinem Verlag erscheinenden Lexika weniger zahlen wollte, und Friedrich Naumann, der zur Gewinnung geeigneter Autoren den Honorarsatz sogar noch höher veranschlagt hatte. Insgesamt sollte der „Ton des Buches [...] wissenschaftlich und geschichtlich sein", wobei den politisch umstrittenen Gewerben besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Unter diese fielen, ohne daß man dies weiter erklärte, neben anderen die Stichworte „Berg-" bzw. „Seerecht", „Tabak", „Petroleum", „Salz", „Gefrierfleisch" sowie - auf ausdrücklichen Wunsch der Verleger - „Autorenrecht".

II. Die Stichworte Überschlägt man die zahlreichen Artikel, 6 - 7 0 0 sollten es schließlich insgesamt sein, so kommt das Bemühen zum Ausdruck, durch Einbeziehung von bekannten und kompetenten Autoren die Qualität der einzelnen Abschnitte zu garantieren. Die Einteilung orientierte sich konsequent an allen Bereichen staatlicher Ordnung und Tätigkeit: an staatlichen Konstituierungsbedingungen wie staatlicher Identität („Wer und was ist der Staat?"), an staatlichem Handeln („Was tut der Staat?") und schließlich an staatlicher Organisation wie Funktionsweisen („Wie funktioniert der Staat?"). 2 6 Mit dem sich hieraus ergebenden Schwerpunkt auf dem Staats- und Verwaltungsrecht sowie auf den Inhaltsgruppen Sozialpolitik und Gewerbe, die eine große Anzahl von Stichworten vereinten und zusammengenommen gut die Hälfte des „vorläufigen Stich25

Diese waren laut einer vorläufigen Inhaltsübersicht, die sich mit anderen im Nachlaß befindenden Stichwortlisten allerdings nicht ganz deckt: „Staatspolitik", „Weltpolitik", „Heer, Flotte, Kolonien", „Bevölkerung", „Frauen", „Justiz", „Finanzen, Zölle", „Landwirtschaft", „Gewerbe", „Handel", „Sozialpolitik", „Parteien", „Kommunen, Selbstverwaltung", „Kirchenpolitik", „Schule", „Armenpflege", „Verkehr", „Verwaltung", „Gesundheitspflege", „Kunstpolitik", „Deutsche Einzelstaaten", „Auslandsstaaten", „Presse und Literatur", „Prinzipielles", „Politische Biographien". N L Naumann, Bd. 2 2 5 , Bl. 4 8 .

26

So der Entwurf zu einer systematischen Inhaltsübersicht, s. Abdruck.

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Wortverzeichnisses" ausmachten27, knüpften viele Artikel an den auch in älteren liberalen Staatslexika überlieferten „Sachbezug der ,Politik' zum Ganzen der öffentlichen Angelegenheiten eines Gemeinwesens an." 28 Darüber hinausweisende Artikel wie „Selbstverwaltung" und „Bürgerstand" waren mit Hugo Preuss allerdings hervorragend besetzt. Neben der Auswahl der Autorenschaft spiegelte sich die eigentlich liberale Grundtendenz jedoch vor allem in der ebenfalls mit zahlreichen Artikeln versehenen Gruppe „Parteien, Organisationen" wider, unter die neben allen wichtigen politischen Vereinigungen, Wirtschafts-, Gewerkschafts- und Genossenschaftsverbänden merkwürdigerweise auch die Stichworte „Zeitungswesen" (Martin Wenck) und der sozialutopistische „Zukunftsstaat" (Eduard David) subsumiert wurden.29 Eine spezifisch Naumannsche Prägung erhielt das Konzept des Staatslexikons schließlich durch den großen Block der Gruppe „Kirche", in dem die wichtigsten religionspolitischen Stichworte vereint waren: Von den Artikeln über die großen Religionsgemeinschaften bzw. deren institutionellen Ausprägungen („Evangelische" bzw. „Katholische Kirchen", „Jüdische Religions-Gemeinschaft", „Freikirchen") über kirchenrechtliche Begriffe („Patronatsrecht", „Konkordat") zu ganz allgemeinen konfessionspolitischen Stichworten („Kulturkampf", „Religionsstatistik", „Jesuitengesetz") war hier das Spektrum, über das man sich aus staatspolitischer Perspektive dem Komplex „Kirche" zu nähern versuchte, relativ weit gefaßt.30 Innerhalb dieses Rahmens hatte Naumann zweifellos die „wissenschaftlichen, politischen und publizistischen Eliten"31 auf seinen Listen vereint, und die meisten der angeschriebenen Autoren signalisierten spontan ihre Bereitschaft zur Mitarbeit. Lediglich einige wenige sagten ab, darunter allerdings der Vorsitzende des Vereins für Sozialpolitik Heinrich Herkner, der das Stichwort über den Verein verfassen sollte, sowie Georg Bernhard, auf dessen Zusage für die Artikel „Börse" und „Aktiengesellschaften" man als Wirtschaftsjournalist und Plutus-Her-

27

Bezugnahme hier auf das offizielle, gedruckte und an die potentiellen Mitarbeiter verschickte „vorläufige Stichwortverzeichnis", N L Naumann, Bd. 2 2 5 , Bl. 7 6 - 8 3 .

28

Rolf Grawert, Die Staatswissenschaft des Rotteck-Welcker'schen „Staats-Lexik o n " , in: Der Staat, 1 9 9 2 , Heft 1, S. 1 1 4 - 1 2 8 , hier. S. 1 1 7 Zitat.

29

Mitarbeiterliste vom 3. Juli 1 9 1 4 , N L , Bd. 2 2 5 , Bl. 7 6 - 8 3 .

30

Vgl. das „vorläufige Stichwortverzeichnis" (wie Anm. 2 7 ) . Zu den Mitarbeitern in der Gruppe „Kirche" vgl. die Aufzählung bei Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 3 0 4 , Anm. 5.

31

Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 3 0 3 .

Im Zeitalter der Sammelwerke Entwurf zu einer systematischen Inhaltsübersicht für das Deutsche Staatslexikon Einteilung I.

W e r und was ist der Staat?

Gruppen

197

32

Beispiele von Stichworten

Staats- u. Ges.-Theorie

M o n a r c h i e , Freiheit, Adel, Nation, Verfassung, Gesetz Sozialismus

Deutsches Staatsrecht

Kaiser, Bundesrat, Reichstag

Reich und Bundesstaaten Bayern, Waldeck, Lippe II. W a s tut der Staat? A. nach innen a. ordnend (Rechtsstaat)

b. fürsorgend (Kulturstaat)

c. unterstützend (Wirtschaftsstaat)

B. nach außen

Gerichtsverfassung

Schwurgericht, Richter

Bürgerl. Recht

Dienstvertrag, Erbrecht

Strafrecht

Landfriedensbruch / Strafanstalten

Wissensch, u. Kunst

Archive, Baukunst, Presse

Schule

Einheits-, Mädchenschule

Kirche

Religionsfreiheit, Papst

Gesundheitspflege

Tuberkulose, Ärzte

Armenpflege

Wanderarbeitsstätten

Sozialpolitik

Wohnungen, Arbeiterschutz

Bevölkerung

Geburtenrückgang, Großstädte

Landwirtschaft

Hafer, Vieh, Jagd, Fischerei

Gewerbe (Bergbau)

Eisen, Hausindustrie, Elektrizität

Handel

Börse, Banken, Geld

Verkehr

Eisenbahn, Binnenschiffahrt

Auslandsstaaten

Frankreich, Japan

Diplomatie u.

III. W i e funktioniert der Staat?

32

Weltpolitik

Dreibund, Kolonien

Heer und Flotte

Miliz, Dienstzeit, Bewaffnung

Staatliche Verwaltung

Beamte, Polizei

Selbstverwaltung

Gemeinde, Provinz

Berufsständische Org.

Handelskammer, Gewerbeverein

Finanzen

Schulden, Zölle, Steuern

Biographien

Hegel, Bismarck, Lassalle

Q u e l l e : B A r c h , Ν 3 0 0 1 ( N L N a u m a n n ) , B d . 2 2 5 , Bl. 4 7 a .

198

Helen M ü l l e r

ausgeber besonderen Wert gelegt hatte.33 Angesichts der umfangreichen, mit großer Sorgfalt initiierten Stichwortgruppe „Sozialpolitik", als deren Autoren viele praktisch tätige Sozialpolitiker aufgenommen wurden34, fällt zudem das Fehlen des Namens Lujo Brentano auf der Autorenliste ins Auge. Der Münchener Nationalökonom hatte einst den Zusammenschluß der Nationalsozialen mit der Freisinnigen Vereinigung gefördert und war einer der frühesten Mitkämpfer Naumanns im „Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands" gewesen. Brentano hatte sich jedoch im Zuge eines grundsätzlichen Konfliktes um den § 7 des 1907 im Reichstag unter Zustimmung Naumanns verabschiedeten Vereinsgesetzes von diesem distanziert, was vielleicht dazu geführt haben mag, daß er bei der Konzipierung des Staatslexikons nicht hinzugezogen wurde.35 Im Gegensatz dazu legte man auf die Einbeziehung Max Webers („Agrarpolitik"; „Monarchie") als intellektueller Autorität besonderen Wert 36 , während viele praktische Hinweise zur Aufnahme nicht berücksichtigter Stichworte vom Berliner Nationalökonomen Ignaz Jastrow gegeben wurden, dessen konstruktives Engagement in dieser Sache aus dem Protokoll Erich Schairers hervorgeht. So waren es Jastrows Vorschläge, die Gruppe „Arbeitsvertrag" bzw. „Arbeitsrecht" an den Frankfurter Sozialpolitiker Karl Flesch zu übergeben, die Aufnahme bildungspolitischer Kategorien wie „Bibliotheken" bzw. „Archive" zu veranlassen sowie vor allem ein eigenes Stichwort „Staatslexika" aufzunehmen, zu dem er Naumann im Juli mitteilen konnte: „Betreffend ,Staatslexika' zähle ich, zu meinem eigenen Erstaunen, in meinem Besitz nicht weniger als 10. Viel mehr wird es in deutscher Sprache gar nicht geben." 37

33

Für Heinrich Herkners Absage gibt das Protokoll keine Begründung. Herkner schlug statt seiner selbst für den Artikel „Verein für Sozialpolitik" den Nationalökonomen H . Gehrig vor. Georg Bernhard hatte grundsätzlich seine Kooperation signalisiert, brauchte allerdings die „Genehmigung seiner Firma (Ullstein), die ihm in anderen Fällen eine solche Arbeit untersagt hat." Protokoll (Schairer), Bl. 18. Bernhard sagte schließlich wegen großer „Verpflichtungen" seinem Verlage gegenüber ab. N L , Bd. 2 5 , Bl. 17.

34

So neben anderen Karl Flesch („Armenwesen"; „Gewerbe- u. Kaufmannsgerichte"), Hugo Sinzheimer („Arbeitsvertrag"), Ignaz Jastrow („Arbeitslosenversicherung", „Arbeitsvermittlung") sowie Ernst Francke („Arbeiterschutz, „Gesellschaft für soziale Reform"). Das Stichwort „Sozialpolitik" selbst wurde an Kessler vergeben.

35

Vgl. die Darstellung bei Lujo Brentano, Mein Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1 9 3 1 , S. 276ff.

36

Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 3 0 4 .

37

Jastrow an Naumann, Schreiben vom 7. Juli 1 9 1 4 , N L , Bd. 2 5 , Bl. 1 6 2 .

Im Zeitalter der S a m m e l w e r k e

199

Der streitbare Ignaz Jastrow war es schließlich auch, der eine intensive intellektuelle Diskussion über den ganzen Komplex der Frauenfragen anstieß, die zugleich auch die einzige überlieferte inhaltliche Auseinandersetzung in diesem frühen Stadium der Realisierung darstellte, in dem es zunächst galt, geeignete Autoren für die einzelnen Artikel ausfindig zu machen. Naumann hatte die betreffenden Stichworte38 ausschließlich in die Hände von Mitgliedern der bürgerlichen Frauenbewegung gelegt, Mitarbeiterinnen waren neben Gertrud Bäumer noch Marianne Weber, Helene Lange und Alice Salomon - die übrigens die einzigen Autorinnen an dem ganzen Projekt darstellten. Für Jastrow, der sich selbst gemeinsam mit seiner Frau Anna in der Gesellschaft für Ethische Kultur für Frauenfragen engagierte, war diese Ausrichtung zu einseitig. Mit durchaus modern wirkender Argumentation beanstandete er, daß bei den Frauenfragen „ebensoviel Männerrechte und Männerpolitik" betroffen seien. Die die weiblichen Themen betreffenden Artikel wollte er daher an Männer übergeben, die Frauen sollten hingegen bisher den Männern vorbehaltene Stichworte übernehmen können, wobei die von Jastrow vorgeschlagenen Beispiele - „Proviantmargarine" oder „Kommandogewalt" - heute etwas kurios anmuten. In liberaler Selbstkritik wies er jedoch darauf hin, daß so „der Anschein erweckt würde, als stehe der ganze Liberalismus auf dem Boden der Frauenbewegung, was keineswegs der Fall sei, weder bei Männern noch bei Frauen." 39 Hier klingt zwischen den Zeilen bereits durch, was sich als generelles Problem des Staatslexikons erwies: nämlich welche Auffassung von „Liberalismus" überhaupt vermittelt werden sollte. Da keiner der Artikel schließlich geschrieben wurde, können hierüber nur sehr vage Vermutungen angestellt werden. Die Stichwortliste liest sich jedoch eher als ein Denkmal liberalen Wissens und staatlich-liberaler Ordnungsvorstellungen, als daß sie sich - wie einst das Rotteck-Welckersche Urbild als „Werk einer Umbruchzeit" 40 auszeichnete. Mehrfach wies Naumann die Autoren darauf hin, daß er es als seine Aufgabe in der Redaktion ansähe, „die Zusammenhänge mit dem älteren Liberalismus und seiner Theorie zu pflegen". 41 Methodisch hielt er sich daher eng an die bereits

38

39 40 41

Unter die Stichwortgruppe „Frauen" fielen die Artikel „Frauenarbeit", „Frauenbildung", „Frauenbewegung", „Frauenstimmrecht", „Hebammen", „Krankenpflegerinnen", „Lehrerinnen" und „Mutterschutz". Protokoll (Schairer), S. 22. Grawert, Staatswissenschaft, S. 115. So an den sozialdemokratischen Schriftsteller Gerhard Hildebrand, Schreiben v. 6. Februar 1912: „Etwas schwieriger liegt natürlich die Sache, wenn es sich um Redaktion handelt. Was nun die Begriffsunterschiede von .liberal' und ,soziali-

200

Helen Müller

bestehenden Vorbilder, aus deren handschriftlich kopierten Stichwortlisten er die Begriffe zum Teil übernahm: natürlich aus Bluntschlis Staats-Wörterbuch und Gustav Fischers Handwörterbuch der Staatswissenschaften sowie aus dem von Max Fleischmann herausgegebenen Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, dessen dritter und letzter Band bei Mohr-Siebeck in Bearbeitung war.42 Auch dem katholischen Gegenstück und ausdrücklich als Konkurrenzunternehmen bezeichneten Staatslexikon der Görres-Gesellschaft wurden Begriffe entlehnt. Dessen vierte Auflage war 1912 gerade abgeschlossen worden und stellte nach Naumanns Ansicht vom theoretischen wie wissenschaftlichen Anspruch die „einzige ähnliche Arbeit" dar.43 Hilfe in bezug auf die Erfassung und Ordnung eines spezifisch liberalen Wissensbestandes konnte man jedoch von diesem Lexikon nicht erwarten, war es doch einst ausdrücklich gegen den Liberalismus als Weltanschauung konzipiert worden.44 Analog zu der umfangreichen Erfassung aller Bereiche staatlicher Ordnung und Tätigkeit sticht daher bei Naumanns Konzeption ins Auge, daß ein systematischer Zugriff auf liberal geprägte sozialwissenschaftliche bzw. gesellschaftspolitische Kategorien weitgehend vermieden wurde. So waren liberale Fundamentalartikel wie „Gesellschaft" oder „Freiheit" gar nicht vorhanden - das Fehlen des letzteren wurde prompt von Ignaz Jastrow bemängelt45; Begriffe wie „Modernismus bzw. Modernität", „Bildung" oder „Meinung, öffentliche", die in anderen zeitgenössischen Nachschlagewerken schon durchaus zu finden waren46, tauchten im Naumannschen Staatslexikon nicht auf. Überhaupt befand man sich in großer Distanz zur staatstheoretisch durchaus stisch' anbetrifft, so wissen wir ja beide, dass der Unterschied unserer Denkweise nicht so groß ist als es nach dem Gebrauch der verschiedenen W o r t e scheinen möchte. Ich habe naturgemäß die Aufgabe, die Zusammenhänge mit dem älteren Liberalismus und seiner Theorie zu pflegen, während auf Ihrer Seite es notwendiger ist, an den Sprachgebrauch von M a r x anzuknüpfen." Bd. 2 6 , Bl. 46f. 42

Diese Listen aus den verschiedenen enzyklopädischen Sammelwerken finden sich im Nachlaß, Bd. 2 6 .

43

Naumann an Hildebrand, Schreiben vom 3 0 . Januar 1 9 1 2 , Bd. 2 6 , Bl. 5 0 .

44

Vgl. Hermann Sacher, Das neue Staatslexikon. Ein Programm, in: Görres-Gesellschaft, Jahresbericht für 1 9 2 2 , Köln 1 9 2 2 , S. 3 - 4 4 , hier S. 11.

45

Protokoll (Schairer), Bl. 11.

46

So findet sich ein ausführlicher Artikel „Bildung" bereits in der ersten Auflage des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons; „Meinung, öffentliche" wurde als Stichwort in der dritten Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft ( 1 9 1 0 ) berücksichtigt; „Modernismus bzw. Modernität" findet sich schließlich in der sich im Nachlaß Naumanns befindenden Stichwortliste des „Handwörterbuchs für Soziologie" (vgl. Anm. 6 3 ) .

Im Zeitalter der Sammelwerke

201

begründbaren Leitfunktion der Wissenschaft, der Staatswissenschaften ebenso wie der Philosophie. Vielleicht stellte Naumann sich hier in bewußten Gegensatz zum Staats- Wörterbuch von Bluntschli und Brater, dem Robert von Mohl einst aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausrichtung die weitreichende Wirkung des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons abgesprochen hatte.47 Auch wurde das im Gustav Fischer Verlag in Jena erscheinende Handwörterbuch der Staatswissenschaften als „Fachwerk vorausgesetzt und zitiert"48. Dennoch war es mit einem liberalen Wissenschaftsbegriff im Staatslexikon nicht weit her: Unter die lediglich siebzehn Stichworte, die unter die Gruppe „Staats- und Wirtschaftsphilosophie" subsumiert wurden, fielen Werner Sombart mit dem Stichwort „Kapitalismus", Alfred Weber mit dem Stichwort „Soziologie" und Robert Michels mit dem Artikel „Anarchie". Zwar fielen liberal konnotierte Begriffe wie „Fortschritt" (Gertrud Bäumer), „Demokratie" (Friedrich Payer) und der bereits erwähnte, eher historisch wirkende „Bürgerstand" (statt Bürgertum?) unter diese Rubrik, vergeblich sucht man hingegen einen Artikel „Staatswissenschaft", ebenso wie viele rechtsphilosophische Kategorien („Gleichheit", „Menschenrechte", „Selbstbestimmung"). Der Blick des Staatslexikon, so verdeutlicht dieser kurze Überblick, war eindeutig auf konkrete staatliche Handlungsweisen beschränkt. Der enzyklopädische Zugriff auf den „Staat" besteht hier aus einem Überblick der einzelnen Gewerbe, der (Staats-) Verwaltung und Finanzen sowie der ihn tragenden Parteien und Organisationen. Insofern blieb Naumann seiner systematischen Übersicht treu, ging aber auch an keiner Stelle darüber hinaus. III. Die Verlage und das Konkurrenzfeld Faßt man das Deutsche Staatslexikon als ein organisationspolitisches Instrument Naumanns zur Straffung und Einigung des Liberalismus auf49, so lassen sich über die inhaltliche Interpretation der Stichworte hinaus aus der formalen Organisation des Projektes noch Hinweise

47

Z u m Wissenschaftsbegriff im „Staats-Wörterbuch" vgl. Faßbender-Ilge, Liberalismus, S. 98ff. sowie S. 108ff.; dort ausführlich zitiert: Robert von Mohl, Drei deutsche Staatswörterbücher, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 2 ( 1 8 5 8 ) , S. 2 4 4 - 2 6 7 .

48

Protokoll vom 8. März 1 9 1 4 (wie Anm. 15).

49

Vgl. Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik, Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland ( 1 8 6 0 - 1 9 1 9 ) , Baden-Baden 1 9 8 3 , S. 140ff.

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herausarbeiten, die Aufschluß über seine Entstehungsbedingungen, besonders aus dem Umfeld der beteiligten Verlage geben können. Durch seine eigene Verlagsarbeit mit den Entwicklungen auf dem politischen bzw. wissenschaftlichen Buchmarkt wohlvertraut, hatte Naumann zwei überaus erfolgreiche, nicht nur aufgrund ihrer Reputation als alteingesessene, solide Wissenschaftsverlage besonders geeignete Verlagshäuser für sein Deutsches Staatslexikon gewonnen: Sowohl der J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag in Tübingen als auch der von Walter de Gruyter geführte Berliner Georg Reimer Verlag hatten im liberalen literarischen Feld der Jahrhundertwende eine Schlüsselposition eingenommen, ohne daß sie jedoch als politische „Agitationsverlage" im eigentlichen Sinne bezeichnet werden könnten.50 Für ein im wesentlichen auf ein bildungsbürgerliches Publikum zielendes Lexikon, dessen Verbreitung über den engen linksliberalen Leserkreis hinaus betrieben werden sollte, schienen sie daher besonders passend zu sein, obwohl sie in ihrer Verlagspolitik keineswegs übereinstimmten. Während Paul Siebeck sich besonders der liberalen Theologie widmete und hier mit großen Reihen-Projekten, aber auch einschlägigen Lexika bis zum Ersten Weltkrieg große Verkaufserfolge erzielte51, stand Walter de Gruyter den bei Georg Reimer ursprünglich stark vertretenen liberalen Wissenschaften, aber vor allem der politischen Tagesliteratur zunehmend reserviert gegenüber. Obwohl im Wahlverein der Liberalen für den Kreis des Berliner Westens politisch aktiv und als ehemaliger Verleger von Theodor Barths Nation im liberalen Milieu weitgehend bekannt, überwog bei dem Unternehmer in Bezug auf politische Literatur unternehmerisches Kalkül vor persönlicher Neigung.52 Vor allem die schwierige Finanzierung der Nation, die bis 1907 nur unter großen Anstrengungen zu halten gewesen war53, bewogen ihn zum Rückzug aus dem ehemals von sozialliberalen Autoren bestimmten liberalen Verlagsprogramm.54 50

Vgl. dazu demnächst: Gangolf Hübinger/Helen Müller, Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage, in: Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 1: Kaiserreich, erscheint Frankfurt a.M. 2 0 0 0 .

51

Die Rolle des Siebeck-Verlags innerhalb des Kulturprotestantismus eingehend untersucht bei Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 190ff.; über die Verlagspolitik, auch in und nach dem Ersten Weltkrieg werden von der demnächst erscheinenden Tübinger Dissertation von Silke Knappenberger weitere Aufschlüsse erwartet.

52

Schreiben de Gruyter an Naumann v. 2 3 . Mai 1 9 1 2 sowie die an diesen Brief angefügten handschriftlichen Notizen de Gruyters, VA, Briefarchiv R 2 (Naumann).

53

Vgl. die sich im Verlagsarchiv befindende Korrespondenz mit Theodor Barth, BA R 2 .

54

Autoren waren Franz Oppenheimer, Heinrich Herkner (bei dem den de Gruyterschen Unternehmen angegliederten Guttentag-Verlag), Ignaz Jastrow und Theodor Barth.

I m Zeitalter der S a m m e l w e r k e

203

Auch Naumann hatte in seinem Verlag, der 1903 aus dem „HilfeVerlag" hervorgegangenen Firma Fortschritt (Buchverlag der „Hilfe") GmbH, erfahren müssen, daß man „mit politischen Büchern kein Geschäft machen kann." 55 Daß sich seine Fortschritt GmbH überhaupt bis 1912 hatte halten können, lag zu einem großen Teil an den Verkaufserfolgen der eigenen Werke, welche jedoch die langfristigen finanziellen Schwierigkeiten nicht hatten ausgleichen können, in die der Verlag unter der Geschäftsführung des umstrittenen Franz Schneider hineingeraten war.56 Für Friedrich Naumann als Verleger wie als Autor fiel die Konzipierung des Staatslexikons daher in eine Zeit des Umbruchs. Nachdem nach ersten Sondierungen klar wurde, daß kein Verleger das Verlagsprogramm der Fortschritt GmbH komplett übernehmen würde, war er seit der Jahresmitte 1912 damit beschäftigt, für die Autoren neue Publikationsorte zu finden. Er selbst entschloß sich nach Verhandlungen mit anderen Verlagshäusern schließlich dazu, mit seinen Hauptwerken zum Verlag Georg Reimer zu gehen. Dessen Inhaber de Gruyter erklärte sich zunächst nur zögernd und entgegen seiner eigentlichen Verlagspolitik bereit, den politischen Autor in sein Programm aufzunehmen, weil er das Potential, das in diesem steckte, letztlich durchaus erkannt hatte. Wenn er auch nicht zum engeren Naumann-Kreis zählte, so empfand der Verleger nach Theodor Heuss „warme Verehrung" für seinen Autor57 und hatte sich im Zuge seines politischen Engagements auch persönlich an diesen angenähert. Dieses persönliche Verhältnis ebnete den Boden für eine enge Zusammenarbeit, welche - durch große publizistische Erfolge begünstigt - bis zu Naumanns Tod im Jahr 1919 andauerte. Vom Staatslexikon waren jedoch weder Paul Siebeck noch Walter de Gruyter zunächst überzeugt. Siebeck, an den Naumann mit seiner Idee bereits im Mai 1912 herangetreten war, lehnte zunächst ab, nahm den Vorschlag auf Anraten seines Sohnes Oskar Anfang 1914 jedoch wieder auf unter der Bedingung, den inzwischen als Verleger von Naumann gewonnenen Walter de Gruyter hinzuzuziehen. Dieser zeigte sich ebenfalls skeptisch, hegte aber seinerseits großes Vertrauen zu der verlegeri55

Angeblicher Ausspruch Karl Robert Langewiesches, zitiert vom Geschäftsführer der „Fortschritt G m b H " Franz Schneider, Schreiben vom 14. März 1 9 1 0 , N L , Bd. 5 6 , Bl. 2 0 0 .

56

Korrespondenz Naumanns mit Franz Schneider über die Auflösung der Fortschritt-GmbH: N L , Bd. 5 6 , Bl. 58ff.; vgl. auch die offenbar etwas geschönte Darstellung des Verhältnisses zwischen Schneider und Naumann in dem von einem unbekannten Autor verfaßten Vorwort zu: Theodor Heuß. Das war Friedrich Naumann, München (Franz Schneider Verlag) 1 9 2 3 .

57

Heuss, Naumann, S. 3 2 3 .

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sehen Erfahrung seines Tübinger Kollegen, dessen großangelegte und langfristige Verlagsprojekte in der wilhelminischen Verlagswelt Erfolgsgeschichte schrieben. Wie die Verkaufs- und Auflagenzahlen der religionsgeschichtlichen Enzyklopädie Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) wie auch der theologischen und religionswissenschaftlichen Reihen zeigen, bediente der J.C.B. Mohr Verlag ein über den engen wissenschaftlichen Leserkreis hinausgehendes bildungsbürgerliches Publikum 58 , ein Markt, den auch Walter de Gruyter sich allmählich erschließen wollte. 59 Was den Abnehmerkreis für das Staatslexikon anbetraf, zeigte sich der Berliner Verleger jedoch überaus realistisch. In einem Protokoll vom Februar 1914 hielt er seine Naumann gegenüber geäußerte Einschätzung fest: „Auf die Kreise der Wissenschaft könnten wir nur wenig, auf die Zwecke der akademischen Lehrtätigkeit gar keine Hoffnung haben; wir seien ganz vornehmlich angewiesen auf die Angehörigen der einschlägigen politischen Parteien und es sei mir fraglich, ob die Zahl derer, die sie für den Absatz des Werkes zu stellen vermöchten, für seine Existenz ausreiche." 60 Obwohl jeder „Fraktionsgeist" aus dem Lexikon herausgehalten werden sollte, zielte es nach Meinung seiner Verleger letztlich wohl doch auf ein politisches (liberales) Publikum, dessen Breite sie aber keineswegs überschätzten. Mit Hilfe der akquirierten Gelder und nach den bisher anhand der R G G gemachten Erfahrungen ging man allerdings auch kein großes finanzielles Risiko ein, zumal die Qualität der Autoren - dies zeigten ähnliche Vorhaben in anderen Verlagen - einen gewissen Mindestabsatz in bildungsbürgerlichen Kreisen garantierte. Tatsächlich schienen Siebeck und de Gruyter sich mit einem Sammelwerk dieser Größenordnung ganz im verlegerischen Trend der Zeit zu befinden. Die ausdrücklich als vorbildlich zitierten Werke - eben jene R G G sowie das im Gustav Fischer Verlag in Jena erschienene Handwörterbuch der Staatswissenschaften61 - waren zwei überaus erfolgrei58

Von der 1. Auflage der R G G wurden bis zum Ersten Weltkrieg 7 5 0 0 Exemplare abgesetzt; die Auflagenzahlen der popularisierenden Schriftenreihen betrugen bis zu 1 0 0 0 0 Exemplare, was weit über die üblichen Auflage im Wissenschaftsverlag hinausging. Vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 190ff.

59

1 9 1 1 kaufte de Gruyter den Leipziger Göschen-Verlag, dessen populärwissenschaftliche Reihe, die „Sammlung-Göschen", auf eben diesen populären Markt zielte. Gesprächsprotokoll vom 10. Februar 1 9 1 4 (wie Anm. 19).

"

Das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" als formales Vorbild für das „Staatslexikon" nennt Naumann in einem Brief an Ferdinand Avenarius v. 3 0 . Juni 1 9 1 4 , N L , Bd. 2 5 , Bl. 11. Gegenüber Hugo Borst, dem Privatsekretär von Robert Bosch, erwähnt er hingegen die RGG, Schreiben v. 2 0 . Juli 1 9 1 4 , N L , Bd. 2 6 , Bl. 13.

Im Zeitalter der Sammelwerke

205

che, jeweils von ihren Verlagen angestoßene und organisierte Projekte. Das gleiche galt für das in den Korrespondenzen um das Staatslexikon mehrfach erwähnte, in seinem Aufbau jedoch nicht alphabetisch, sondern systematisch angelegte Handbuch der Politik, das im Berliner Verlag Dr. Walther Rothschild unter der Mitarbeit vieler bekannter Staatsrechtslehrer 1913 herausgegeben worden war. 62 Zur Kenntnis nahm auch Naumann das sich im Leipziger Verlag Veit & Comp, in Vorbereitung befindende und von Robert Michels herausgegebene Handwörterbuch für Soziologie.63 Mit großer Spannung wurde schließlich das ganz im Geist kommunaler Sozialpolitik gehaltene Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften 64 erwartet, bei dem, ähnlich wie auch beim Staatslexikon, liberale und sozialdemokratische Sozialpolitiker bzw. Wissenschaftler als Herausgeber wie als Autoren gleichermaßen mitwirkten. Keines dieser Werke sahen die Mitarbeiter des Staatslexikons allerdings als eine ernsthafte Konkurrenz an. 65 Hier kämpfte man eher gegen das als regelrechte „Marktmacht" empfundene Staatslexikon der Görres-Gesellschaft. Diese Ausrichtung wurde durch einzelne, an Paul Siebeck gerichtete Anfragen noch bestätigt, welche die Meinung zum Ausdruck brachten, die Görres-Gesellschaft und der Herder-Verlag hätten den „Nichtkatholiken mit dem bekannten Staatslexikon in gewissem Sinne den Rang abgelaufen" 66 . Es ging um eine Art von intellektueller Vormachtstellung, die man dem Liberalismus wieder erringen wollte, und man meinte, durch die Wahl sowohl der Autoren als auch der Verleger die besten Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben. Dennoch fehlte dem Staatslexikon offenbar die intellektuelle Attraktivität, die es benötigt hätte, um seine Weiterführung nach dem Krieg zu garantieren. Im Gegensatz zu den genannten Sammelwerken, die nach dem Krieg, z.T. in neuen Auflagen, weitergeführt wurden, gibt es weder aus dem Umfeld Naumanns noch aus dem Kreis der Verleger einen Beleg für den Versuch, dieses Projekt wieder aufzugreifen. Mit einem nochmaligen Blick auf das Konkurrenzfeld können vielleicht die Gründe für diese Verhinderungsgeschichte herausgearbeitet 62

63

64

65 66

Zur Anlage dieses inhaltlich beachtenswerten und überaus erfolgreichen Verlagsprojektes: Otto Bettmann: Staat und Menschheit, Ideengeschichte des Verlags Dr. Waither Rothschild, Berlin-Grunewald, Berlin 1930, S. 70ff. NL, Bd. 26, Bl. 54-58. Auch dieses Projekt wurde nach dem Krieg nicht wieder aufgegriffen. Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, 4 Bände, hrsg. v. Albert Südekum, Hugo Preuß u.a., Jena (Gustav Fischer Verlag) 1914ff. Vgl. Gesprächsprotokoll de Gruyters v. 10. Februar 1914 (wie Anm. 19). Schreiben des Münchener Staatsrechtslehrers Robert Piloty, angehängt an ein Schreiben Siebecks an Naumann v. 28. Mai 1912, Bd. 26, Bl. 2 1 2 - 2 1 5 .

206

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werden. Den genannten, zwischen 1890 und 1910 neu konzipierten Sammelwerken war etwas zu eigen, was weder von Naumann noch von den Verlegern erkannt wurde: Sie waren allesamt Ausdruck einer Neuorientierung oder Umordnung des zeitgenössischen Wissensbestandes. Vor allem ihr Inhalt bestimmte ihren innovativen Charakter und damit auch den ökonomischen Erfolg. Am deutlichsten kommt dies am Beispiel des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften zum Ausdruck, an dessen verschiedenen Auflagen die wissenschaftstheoretischen und -politischen Verschiebungen innerhalb der universitären Leitdisziplin der Nationalökonomie abgelesen werden können.67 Aufgrund der herausragenden Rolle, die die Nationalökonomie vor allem im Hinblick auf die soziale Frage in der Öffentlichkeit spielte, stieß es inhaltlich auf hohe Akzeptanz. In seiner Form fungierte es später als Vorbild für weitere Handwörterbücher in verschiedenen Wissenschaftsbereichen, die jedoch alle nicht diesen Erfolg verbuchen konnten.68 Dieses innovative Moment fehlte dem liberalen Staatslexikon Naumanns. Es umfaßte weder eine sich neu konstituierende Wissenschaftsdisziplin, noch brachte es, so weit man aus den vorhandenen Stichwortlisten ersehen kann, wirkliche Impulse für einen durch innere Grabenkämpfe ohnehin schwer gebeutelten Liberalismus. Als Mittel zu dessen Organisation reichte seine intellektuelle Stoßkraft nicht aus, zumal von Beginn an nicht klar war, inwieweit es sich inhaltlich von den bereits bestehenden Lexika abgrenzen sollte. Das Deutsche Staatslexikon war eine interessante Idee, deren Umsetzung jedoch an dem scheiterte, was sich als generelles Problem des deutschen Liberalismus vor und erst recht nach 1914 erwies. Ein Vergleich mit dem Editionsbericht zur fünften Auflage des Staatslexikon der Görres-Gesellschaft von 1922, das in vielerlei Hinsicht eine neue Ära des Staatslexikons einleitete, soll dies abschließend verdeutlichen: Auf philosophischer Grundlage wird hier vielen gesellschaftspolitischen Fragen Raum gegeben, die man im Naumannschen Staatslexikon vermißt: Fundamentalartikel wie „Autorität", „Freiheit", „Gleichheit", „Wille" und „Willensfreiheit" sind in die Stichwortliste ebenso eingereiht wie ausdrücklich als problematisch gekennzeichnete Begriffe wie 67

Zur Funktion des „Handwörterbuchs der Staatswissenschaften" im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit s. Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland, Husum 1 9 8 0 , S. 318ff.

68

So das „Handwörterbuch der Naturwissenschaften", 1 0 Bde., Jena (Gustav Fischer) 1 9 1 2 - 1 5 ; das „Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften", 4 Bde., Jena (Gustav Fischer) 1 9 1 4 - 1 9 1 8 ; das „Handwörterbuch der Rechtswissenschaften", 6 Bde., Berlin (Walter de Gruyter &c Co.) 1 9 2 5 - 2 9 sowie das „Handwörterbuch der Sexualwissenschaft", Bonn (A. Marcus &C Weber) 1 9 2 5 .

Im Zeitalter der Sammelwerke

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„ M a s s e " , „Fortschritt" oder „ M a c h t " . Schließlich widmet man sich Sozialerscheinungen wie „ M o d e " , „ S p o r t " , „ T a n z " , „Spiel" und „Lux u s " , dies alles seien Stichwörter - wie es ausdrücklich heißt - „die allein durch die Tatsache ihres Vorhandenseins einen gewissen Reiz auf den Buchinteressenten ausüben, dem Inhalte nach aber mehr sein wollen als ein L o c k r u f . " 6 9 Zeigte die 1 9 1 4 von N a u m a n n vorgelegte Stichwortliste schon eine erheblich eingeschränkte Sicht auf den Staat, so war sie als liberales staatspolitisches Programm nach dem Krieg erst recht nicht mehr zu verwirklichen. Es wäre ein ganz neues Projekt geworden, das Friedrich Naumann, seine Mitarbeiter und Verleger in der Nachkriegszeit aus dem Boden hätten stampfen müssen. Z u einem solchen Vorhaben war offenbar jedoch niemand bereit. Es war das Zeitalter der Sammelwerke und der Lexika, aber die Zeit der liberalen Enzyklopädisten war nun endgültig vorbei.

69

Sacher, S t a a t s l e x i k o n (wie A n m . 4 4 ) , Z i t a t S. 2 5 f .

IV. Transformationen in Weltkrieg und WeimarerRepublik

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich." Friedrich Naumann und die deutsch-französischen Beziehungen (1899-1919) PHILIPPE ALEXANDRE

Mit der Gründung der Wochenschrift Die Hilfe im Dezember 1894 und, beinahe zwei Jahre später, des Nationalsozialen Vereins gewann Friedrich Naumanns öffentliches Wirken an Kraft und Resonanz. Damals hatte sich das Deutsche Reich schon seit längerer Zeit zu einer politischen und wirtschaftlichen Weltmacht entwickelt. Es war seit 1871 eine Macht im Aufstieg, mit der die anderen Staaten Europas nun rechnen mußten. Dank seiner Diplomatie und seiner persönlichen Autorität war es Bismarck gelungen, diese wachsende Macht außenpolitisch zu behaupten, wobei er immer bemüht blieb, das neue Reich nicht der Gefahr von Koalitionen auszusetzen. Seine Nachfolger standen aber vor neuen und komplexen Aufgaben. Was Bismarck erreicht hatte, blieb ein labiles Gleichgewicht, das die Spannungen zwischen den europäischen Staaten immer mehr gefährdeten, bis im Sommer 1914 ein Krieg ausbrach, der einer Selbstzerstörung Europas gleichkommen sollte. Viele, zu denen Naumann gehörte, glaubten, daß die Kriegsgefahr und somit eine europäische Katastrophe durch den bewaffneten Frieden und ein System von Allianzen und Rückversicherungsverträgen abzuwenden waren. Einige, nicht zuletzt in den pazifistischen Kreisen, warnten aber vor den Folgen des Rüstungswettlaufs unter den Weltmächten1. 1914 stellte sich heraus, daß das „europäische Gleichgewicht"

Karl Holl: Pazifismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1 9 8 8 ; bes. S. 2 6 - 4 1 und S. 4 1 - 1 0 2 . 1 8 7 9 , bei einer Debatte über die Möglichkeit eines europäischen Abrüstungskongresses, hatte der württembergische Abgeordnete von Bühler, der der linksliberalen Deutschen Volkspartei nahestand, vor seinen Kollegen im Reichstag gesagt: „Wir sitzen auf einem Pulverfaß. Wir treiben unaufhaltsam dem Kriege zu. Meine Herren, ich bitte Sie, im Interesse des Wohles von Europa und ehe die Katastrophe losbricht, ein W o r t des Friedens zu sprechen." Reichstagsverhandlungen. 2 7 . Sitzung, vom 1 0 . 4 . 1 8 8 0 , S. 637f. Philippe Alexandre: Haller für den Frieden. Ein Beitrag zur Geschichte der bürgerlichen Friedensbewegung im Württemberg der Kaiserzeit, in: Württembergisch Franken. Jahrbuch des Hi-

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nicht lebensfähig war. Die Regierenden mochten in ihren offiziellen Reden die Öffentlichkeit glauben lassen, daß sie in der Lage waren, den Frieden zu sichern; die verhängnisvolle Entwicklung blieb unabwendbar. Der Rüstungswettlauf war nicht die einzige Ursache des Ersten Weltkrieges, der aus einer komplexen Situation resultierte. Die Kolonialkonflikte, von denen einige allerdings vertraglich beigelegt werden konnten, fanden eine ungeheure Resonanz in der Öffentlichkeit der europäischen Staaten. Je mehr sie von der Presse als Fragen der nationalen Ehre hochgespielt wurden, desto mehr trugen diese Konflikte dazu bei, das Mißtrauen zwischen den Völkern zu steigern. Die Hetzartikel der chauvinistischen Presse unterhielten überhaupt diese Stimmungslage. Die sich beschleunigenden Entwicklungsprozesse in der modernen Gesellschaft wie die Verstädterung, die Vermassung und die Mechanisierung in der industriellen Produktionsweise oder im Verkehrswesen, die Anfänge des Weltwirtschaftsbetriebs und dessen Folgen, die wiederholten Wirtschaftskrisen, alle diese Faktoren vermochte der Einzelne geistig um so schwieriger zu verarbeiten, als die überlieferten religiösen und moralischen Werte - vor allem in der Großstadt - verlorengingen. Der orientierungslose Massenmensch sollte im Sommer 1914 der Kriegspsychose zum Opfer fallen. Wollen wir Friedrich Naumanns Denken und Wirken gerecht werden, seine Haltung Frankreich gegenüber in ihrer vollen Bedeutung einschätzen, so müssen wir diesen Kontext im Gedächtnis behalten. In seinem Aufsatz Friedrich Naumanns Erbe schrieb Theodor Heuss 1959: „Es wäre, glaube ich, verkrampft, eine kontinuierliche außenpolitische Konzeption Naumanns rekonstruieren zu wollen. Sicher ist dies, daß durch sein Grundgefühl als wichtigste Aufgabe die faire Bereinigung der Beziehung zu Frankreich ging; dort ist er gerne gereist, hat sich menschlich wohl gefühlt, die politische Begegnung mit Jean Jaures hat ihn freudig gemacht." 2 Theodor Heuss' Aussage wird unser Ausgangspunkt sein. Wir werden zunächst die Frage stellen: Welche Wesenszüge und Eigenschaften des französischen Volkes, welche Elemente seiner Kultur und welche Kapitel seiner Geschichte betrachtete Naumann als relevant, insbesondere in Hinsicht auf die deutsch-französischen Beziehungen? Damit fragen wir auch: Welches Bild Frankreichs hat Naumann durch seine Schriften in Deutschland vermittelt ? Wir werden zweitens versuchen, die Kontinuität von Naumanns Wunsch nach einer Aussöhnung und

storischen Vereins für Württembergisch Franken. Schwäbisch Hall, Historischer Verein für Württembergisch Franken, 1 9 9 8 , Bd. 8 2 , S. 1 9 8 - 3 2 4 ; hier bes. S. 225ff. 2

Theodor Heuss: Friedrich Naumanns Erbe. Tübingen 1 9 5 9 , S. 3 7 .

„Unser W u n s c h ist ein befreundetes F r a n k r e i c h . "

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Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, aber auch die realpolitischen Gründe dieses Wunsches zu zeigen. Wir werden drittens schildern, wie er sich als Publizist und Politiker für diese Idee eingesetzt hat. Der Krieg sollte zwar Naumann in seiner mitteleuropäischen Orientierung bestärken, er konnte ihn aber nicht die Hoffnung einer künftigen Annäherung mit Frankreich aufgeben lassen. Wir werden zum Schluß sehen, wie der „Gewaltfriede" von Versailles seine Vision der europäischen Zukunft verändert hat. Das Land der Gotik und des Napoleonismus: Zu einer Charakteristik des französischen Volkscharakters Aus den Pariser Briefen, die Naumann gelegentlich seines Besuchs auf der Weltausstellung von 1900 in Der Hilfe veröffentlichte3, ging ein ambivalentes Bild Frankreichs hervor als Land der Gotik und des Napoleonismus. Vom „Land der Gotik" fühlte sich Naumann angezogen, in seiner Vergangenheit und in seinem Wesen fand er eine ursprüngliche Lebensfreude und eine geistige Erneuerungskraft; das Land des Napoleonismus sollte seine Überlegungen über das eigene Land und die deutsch-französischen Beziehungen ziemlich stark prägen. In Naumanns Versuch, das Nachbarvolk zu „begreifen"4 und zu charakterisieren, wird immer wieder eine implizite Frage gestellt, die ihm am Herzen lag: Ist eine Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen und somit ein Zusammengehen der beiden Kulturvölker möglich? Durch diese Frage kam in besonderem Maße die Sorge um die deutsche Zukunft zum Ausdruck. In seinem 6. Pariser Brief stellte Naumann fest: „Zwischen uns und den Franzosen bestehen keine sehr tiefen Unterschiede, soweit es sich um Nordfranzosen handelt. [...] Wir sind trotz verschiedener Sprache und Geschichte im Grunde Glieder desselben Menschenschlages." Dies schrieb er allerdings unter dem Eindruck, den die bunte Menge der aus

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Mit seinen Pariser Briefen knüpfte Naumann an eine alte Tradition an, die 1 7 9 0 mit den Briefen aus Paris des Braunschweiger Pädagogen Campe begonnen hatte und die der Frankfurter liberale Publizist Ludwig Börne, der württembergische Demokrat Ludwig Pfau und manche andere fortgesetzt hatten. „Pariser Briefe" waren oft der geistige Beitrag von Deutschen, die sich als Mittler und Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich engagierten. Naumann tritt unzweifelhaft in diese Reihe ein.

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„Die Franzosen einigermaßen zu begreifen" versuchen: dies war ein Anliegen Naumanns, das besonders im 6. Pariser Brief zum Ausdruck kommt. Pariser Briefe. VI., in: Die Hilfe, Nr. 2 8 , 1 9 0 0 , S. 5f.; Werke, Köln und Opladen 1 9 6 4 , 6. Bd., S. 3 8 7 - 3 9 3 .

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allen Weltteilen kommenden Besucher der Ausstellung auf ihn machte. Mit der Ironie desjenigen, der Abstand genommen hat und alte Zwistigkeiten zu relativieren weiß, bemerkte er aber: „Der alte Erbfeind, der ,Franzmann', ist so sehr unser Bruder, daß es Mühe macht, mit festen, bestimmten W o r t e n zu sagen, worin er anders ist als w i r . " Das Franzosentum, in dem er eine Mischung aus deutschem und italienischem Blut sah, hatte, meinte er, keine Grenzen; dies war für ihn ein Grund, dieses Volk zu lieben. „Unser älterer Bruder, der Franzose, ist von Haus aus talentvoller als wir, er hatte mehr Glück, mehr Glanz, mehr Liebe", hieß es weiter im 6. Pariser Brief. „Er besitzt noch heute den Ring, der die Menschen zwingt, ihm freundlich zu sein." W a s konnten die Franzosen und die Deutschen einander bringen? N a c h d e m die ersteren lange Zeit Lehrmeister und Erzieher für die Deutschen gewesen waren, schien nun die Zeit näher zu rücken, in der das Verhältnis des „geistigen Gebens und N e h m e n s " ein gegenseitiges werden würde. N a u m a n n dachte, daß die Franzosen von der „festeren Konsequenz des Denkens" und v o m technologischen Können der Deutschen etwas lernen konnten 5 . Im Jahre 1 9 0 7 unternahm N a u m a n n eine Reise nach Westfrankreich, in die Bretagne und die Normandie. In den Aufsätzen, die er dieser Reise widmete, verband er die Anekdoten und die persönlichen Eindrücke bald mit politischen Gedanken, bald mit längeren Überlegungen über den französischen Volkscharakter 6 . Der Berg Saint-Michel 5

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Pariser Briefe. VI., in: Die Hilfe, Nr. 28, 1900, S. 5f.; Werke, 6. Bd., S. 387-393. Paris übte auch auf Naumann eine Anziehungskraft aus. Als er im Frühling 1914 Paris wiedersah, schrieb er begeistert: „Ist es nicht wahr? Man freut sich jedes Mal wieder, wenn man nach Paris kommt! Die Stadt hat ihre ganz eigene Radioaktivität. Im einzelnen zwar sind die Dinge kleiner, winkliger, auch staubiger als in Berlin, und trotzdem, die alte Stadt hat eine alte wunderbare Seele. Europa hat hier am eindringlichsten gelebt, hier war und ist alles: Wissenschaft, Kirche, Politik, Revolution, Kunst, Liebe, Küche, Salon und Mode. [...] Aber gerade wir Deutschen haben gar keine Veranlassung, hinter dem lustigen und sündigen Paris das arbeitende, große Finanzen und fremde Erdteile verwaltende Paris etwa nicht zu sehen. Wenn Frankreich mehr Kinder hätte, was wäre dann dieses Paris!" Reims, 4. April, in: Im Lande der Gotik. Nordfranzösische Wanderungen von Friedrich Naumann. Berlin 1915, S. 12; Werke, 6. Bd., S. 513-518. Auf der Fahrt von Jersey nach Saint-Malo beeindruckten ihn die Festungen, die beiderseits an frühere Konflikte zwischen England und Frankreich erinnerten. „Ob man sich später einmal diese Grenzwälle wird ersparen können?", bemerkte Naumann. „Jetzt sind sie offenbar noch nötig." In dem Gasthof, in dem er eingekehrt war, fiel ihm die Mischung aus alter französischer Kultur und englischem Einfluß auf, eine Mischung, die er nicht ohne Ironie betonte, als wollte er zeigen, daß der ständige geistige und kulturelle Austausch zwischen den Völkern etwas Natürliches ist und daß die Grenzen und die Politik die Menschen künstlich trennen. Von Jersey nach St. Malo. I., in: Die Hilfe, Nr. 25, 23.6.1907, S. 393f.

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war der Anlaß zu Bemerkungen über den Konflikt zwischen Staat und Kirche in Frankreich. Naumann bedauerte, daß der französische Staat, selbst wenn er ein weltlicher war, diesen Ort den Priestern nicht zur Verfügung stellte. Die Wiederherstellung mittelalterlicher Gotik ohne Gesang und Messe ist eine Halbheit, die niemanden freut, schrieb er. Dieser Appell an die Toleranz zeigte, daß er den Geist höher stellte als die Form, und gerade dieser Geist der Gotik, das Sakrale, war es, was er hier nach der Entfernung seiner natürlichen Bewohner, der Priester, auf dem Berg Saint-Michel zu vermissen schien7. Naumanns Betrachtungen über die Gotik gingen weit über das Studium eines architektonischen Stils hinaus. Er sah einen engen Zusammenhang zwischen den Merkmalen eines Stils und dem Charakter der Bevölkerung, die früher diesen Stil gepflegt hatte. Indem er die Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Gotik hervorhob, versuchte er sich in einer Art Anthropologie dieses Baustils. Das „Hinterland der gotischen Normandie und Bretagne" war seiner Ansicht nach sehr geeignet, „den Sinn für Gotik zu verfeinern". „Es scheint mir, daß wir in Deutschland nichts Ähnliches haben", meinte Naumann in den Seiten, zu denen ihn der Mont Saint-Michel inspirierte. In einem anderen Aufsatz vertrat er die These: „Hier ist die Gotik kein fremdes Element wie bei uns in Deutschland." 8 „Als wir jung waren und zuerst die Augen öffneten für die Schönheit architektonischer Gestaltungen, hat man uns gesagt, Gotik sei die eigentlich germanische Bauform. Das ist sicher falsch, denn überall dort, wo das Deutschtum sich als Heimatkunst entwickelt hat, ist es fern von Gotik." Die Gotik betrachtete Naumann als eine „verfeinerte Kultur des Westens", die in die germanischen Gegenden hinübergekommen war. Im Kölner Dom sah er einen Luxusbau, der nach nordfranzösischen Mustern entstanden war. Die Deutschen hatten sich zwar in diesen „fremden" Stil gut hineingefunden, sie hatten ihm vielfach eine deutsche Besonderheit zu geben verstanden, besonders im gotischen Ziegelbau Norddeutschlands, erklärte er, aber die Gotik des harten Steines, die erste Gotik, gehörte den Gebieten, in denen die Germanen früh „romanisiert" worden waren. Indem er die in Deutschland überlieferte Darstellung der Gotik als „eigentlich germanische Bauform" in Frage stellte, stützte sich Naumann nicht nur auf die Geschichte, sondern auf Argumente der Völker-

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Auf dem Berge St. Michel. II., in: Die Hilfe, Nr. 26, 3 0 . 6 . 1 9 0 7 , S. 409f.; Werke, 6. Bd., S. 500-504. Französische Gotik, in: Die Hilfe, Nr. 28, 14.7.1907, S. 4 4 1 f . ; Werke, 6. Bd., S. 5 0 4 - 5 0 9 .

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Psychologie. „Es gehört zur Gotik etwas anderes als die Natur der Deutschen, eine größere Freude an der Zierlichkeit, an der Miniatur im Stein", erklärte er weiter. „Gerade diesen Grundcharakter der Gotik haben die Deutschen vielfach verändert, als sie die neue Kunst bei sich einführten. In Deutschland gibt es Gotik mit Wandflächen. Hier kann sie vorkommen, ist aber etwas, was zu überwinden versucht wird." Naumann beobachtete, daß die französischen Schlösser des 18. Jahrhunderts, wie die französische Gotik, „fast flächenlos" waren. Diese Kontinuität in der Architektur mußte der Ausdruck eines Charakters sein. Den seiner Auffassung nach gotischen Charakter der Franzosen schilderte er auf die Weise: „Wo ist das Leben so nett und klein und individuell wie hier? Wo ist die Politik so persönlich? Wo gibt es so viel Gesetze und so viel Ausnahmen von der Gesetzlichkeit? Und jeder einzelne und jede einzelne will etwas für sich sein, nichts Großes, aber etwas Apartes." Die Franzosen kennzeichnete Naumann als „im Grunde gotisch", weil er in ihnen „ein Volk der Vereinzelung und Zergliederung" sah, dessen Gabe es ist, „in der Zergliederung harmonisch und heiter zu bleiben"9. Der französischen Gotik widmete Naumann im Frühling 1914 eine Reise, die für ihn eine Art kulturelle Pilgerfahrt war. Seine Aufsätze, betitelt Im Lande der Gotik, erschienen zuerst in der Hilfe. Was Naumann in der Gotik bewunderte, war die „Kunst der Überbietung des vorhandenen Könnens". Hatte er 1907 in der Gotik die Kunst der Zergliederung gesehen, die er dem „Mathematisch-Napoleonischen" an den offiziellen Gebäuden Frankreichs gegenüberstellte10, schrieb er 1914: „Die Gotik ist sozusagen eine mathematische Erfindung." „Die Mauermasse wird nach außen geworfen", erklärte er. „Erst nachdem man diese Erfindung gemacht hat, erkennt man ihre wunderbaren Nebenwirkungen, die Möglichkeit der weiten, hohen Fenster und überhaupt die dekorative Bildsamkeit aller der Teile, die nun nach der neuen Verteilung nichts mehr zu tragen haben." 11 9 10

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Ebenda. Das „eigentliche Franzosentum" sah Naumann nicht in den offiziellen Justizgebäuden, auch nicht in den Stadthäusern oder in den Revolutionsdenkmälern Frankreichs. Diese fand er „mathematisch-napoleonisch". Sie gleichen den großen Generalideen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!, die zum Franzosen gehören, um die er sich aber im Tagesleben kaum kümmert, erklärte er. Ebenda. Reims, 4. April, in: Im Lande der Gotik. Nordfranzösische Wanderungen von Friedrich Naumann. Berlin 1915, S. 11; Werke, Bd. 6, S. 509-513. Auch in dem Eiffelturm, der ihm als ein Symbol der Zukunft und der Modernität erschien, wollte Naumann Gotik sehen, eine Neugotik im Sinne einer „Überbietung aller bis dahin vorhandenen Größenverhältnisse", einer revolutionären Ästhetik und

Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich."

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Der junge Goethe, den das Straßburger Münster 1 7 7 3 zu Betrachtungen über die „deutsche Baukunst" inspirierte, zeigte sich von jener „Ganzheit" beeindruckt, die sich „aus tausend harmonirenden Einzelheiten" aufbaut. Er begegnete durch die Gotik einem künstlerischen „Genie", das dank seiner „ K r a f t " das Mannigfaltige in eine Einheit verwandelt 1 2 . N a u m a n n lebte in einer ganz anderen Epoche, der Epoche der Modernität, des technischen Fortschritts und der Mechanisierung. W a s er in der französischen Gotik entdeckte, das war ein Geist, eine „Poesie" und eine Harmonie, die er in seiner Zeit zu vermissen schien 1 3 . Er hatte das Gefühl, einer Generation anzugehören, die nach Neuem suchte und die bei dieser Suche aus der Gotik manches lernen konnte. N a u m a n n , der aus der französischen Gotik neue Kräfte geschöpft hatte, schloß seinen letzten Reisebericht mit Tönen, die an Nietzsche erinnern können: „Und so kommen wir wieder vom Lande der Gotik zur Gegenwart, gestärkt durch das, was kleine Menschen an unvergänglichen Werken schaffen konnten. Und wer es möglich machen kann, der fahre denselben W e g ! " 1 4 Auch Napoleon I. und sein geistiges Erbe erschienen N a u m a n n als die Quelle einer Kraft, an der sich die Deutschen ein Beispiel nehmen konnten, vor der sie sich aber zugleich in acht nehmen mußten. In Napoleon sah er den „letzten, größten Vorkämpfer des Kontinentes gegen das

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einer „Verständigkeit". Die „Logik" des gotischen Baustils, wie er ihn verstand, erläuterte er am Beispiel der Kathedrale von Bourges. „Was ist es, was ich die Logik nenne?", schrieb er. „Es sind die Denkgesetze, nach denen bei Annahme des gotischen Rippenaufbaues und Streberpfeilersystems der Baumeister ein Ding nach dem anderen dieser Grundanlage anpassen mußte." Diese Einheit, diese Logik, die Naumann auch in der modernen Eisen- und Gewerbekunst feststellte, lag seiner Auffassung nach daran, daß der Aufbau, das Skelett sozusagen zutage liegt, daß die Bauprobleme sich dem Beschauer aufdrängen; die zur Selbstverständlichkeit gewordene Konstruktion verschwindet dann unter anmutenden Formen. Orleans, 7. April, ebenda, S. 18ff.; Werke, Bd. 6, S. 519-528. J. W. von Goethe: Von Deutscher Baukunst. D.M. Ervini a Steinbach. 1773, in: Von deutscher Art und Kunst. (Universal-Bibliothek; Nr. 7497.) Stuttgart 1981, S. 93ff. Diese „Poesie" vermißte er im Kölner Dom, den er am Ende seiner französischen Reise am 17. April 1914 wiedersah und über den er schrieb: „Nichts Fremdes reicht an die Durcharbeitung seiner Türme heran. Da ist kein falscher Zug, keine Lücke, kein beliebiger Einfall. Und keine Kathedrale ist so gepflegt, so treulich behütet.". Hier schienen ihm aber die Steine „wie Soldaten (zu) gehorchen"; den Kölner Dom betrachtete er in seinen meisten Teilen als „eine späte korrekte Nachbildung einer längst vergangenen Poesie". Köln, 17. April, in: Im Lande der Gotik ..., S. 44ff., 47; Werke, Bd. 6, S. 540-542. Köln, 17. April, ebenda, S. 44ff., 47; Werke, Bd. 6, S. 542.

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Angelsachsentum" 1 5 , der zwei große „Geschichtsprobleme" erkannt hatte: das „römische Kaiserproblem" und das „moderne Weltmachtproblem" 1 6 . Die moderne Weltgeschichte ist von dem Kampf um die Weltherrschaft beherrscht, erklärte Naumann. Treitschke und Sybel haben Napoleons Größe und Modernität nicht eingesehen. In ihrer einseitigen Betrachtungsweise erschien die geschichtliche Auseinandersetzung zwischen Deutschtum und Franzosentum als das wesentliche Problem, was aus deutscher Sicht schon verständlich war. Für den „Riesen" handelte es sich dabei „nur um ein Stück eines viel größeren geschichtlichen Dramas" 1 7 ; er handelte „unter dem Gesichtspunkt der Weltpolitik". Die Tragik seines Handelns bestand darin, daß er nicht über das Instrument, das für seine Politik erforderlich war, verfügte, nämlich über eine hinreichend große, wohlgeübte und unerschöpfliche Flotte. Deshalb war er nicht in der Lage, „die neue englische Weltmacht" zu brechen 18 . Der Fall Napoleon machte in Naumanns Augen die Notwendigkeit des „Mystischen" in der Politik deutlich. Napoleon hat im französischen Volk einen Glauben erweckt, erklärte er, den Glauben, es sei und müsse eine einheitliche Nation bleiben und es brauche zu diesem Zweck eine starke Armee. Aus der heldenhaften napoleonischen Vorgeschichte ist ein Patriotismus geschmiedet worden, der Frankreich stark gemacht hat 19 . Napoleon war der „Gestalter der Stimmungen der Nation": Er wußte den Willen der Nation, die eben einen langen inneren Kampf um die demokratische Gestaltung des Landes durchgelebt hatte, auf die Probleme der äußeren Politik zu wenden und die Energie der demokratischen Revolution, jenen „Willen zur Herrschaft", die das Grundele15

„Wenn jemand im Stande ist, seine Weltaufgabe fortzusetzen, dann sind es die Deutschen, die gerade er zertreten hat, soweit er konnte", schrieb Naumann 1 9 0 0 in seinem ersten Pariser Brief. Pariser Briefe. I., in: Die Hilfe, Nr. 2 3 , 1 9 0 0 , S. lOff.; Werke, Bd. 6, S. 352ff.

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Im Oktober 1 9 1 0 , gelegentlich des 100jährigen Jubiläums der Völkerschlacht, schilderte Naumann in Napoleon, dem „erhabenen Ungeheuer", den Willen zur Macht. Die Deutschen hatten ihn erst überwinden können, als sie sich innerlich von ihm frei gemacht hatten. Die geistige Überwindung Napoleons, in: Die Hilfe, Nr. 4 1 , 9 . 1 0 . 1 9 1 3 , S. 647ff.

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Naumann wies hier auf die Schriften von Hans Delbrück und seinem Schüler Roloff hin, die den „großen Napoleon" in Deutschland in einem neuen Licht erscheinen ließen.

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Napoleon. I., in: Die Hilfe, N r . 4 7 , 2 5 . 1 1 . 1 9 0 6 , S. 2f. Dieser Aufsatz, der in den zwei folgenden Nummern fortgesetzt wurde, war eine Rezension des Buches Napoleon I. (2 Bände) des Engländers John Holland Rose, das von Prof. Dr. K . W . Schmidt übersetzt worden war und das 1 9 0 6 bei Greiner und Pfeiffer in Stuttgart erschienen war.

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Das Wesen der politischen Macht, in: Die Hilfe, Nr. 3 2 , 1 0 . 8 . 1 9 0 2 , S. 2f.

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ment aller demokratischen Bewegungen ist, in nationalistische Stimmung umzusetzen 20 . Dem napoleonischen Frankreich schenkte Naumann ein besonderes Interesse, weil er in ihm eine Bestätigung für seine Parole „Demokratie und Kaisertum" sah. Er vertrat nämlich die Ansicht, die staatliche Macht bestehe nicht nur aus berechenbaren Dingen wie die Bevölkerungszahl, die Geldwirtschaft, die Heeresverfassung und das Recht, sondern auch aus der „Leidenschaft" des Volkes. „Auch bei uns wird die nationalpolitische Leistung nur in dem Maße weltumgestaltende Kraft besitzen, als unsere berechenbaren Besitzstände und Verfassungen erfüllt werden mit der unberechenbaren Flutung einer volkstümlichen Bewegung", erklärte Naumann. In seinem großen Kampf um die Weltherrschaft gegenüber den Engländern besaß Napoleon zwar keine Flotte, aber jenen „geistigen Zustand seiner Nation, ohne den Weltgeschichte im großen Stil nicht gemacht werden kann". „Bei uns arbeitet man in umgekehrter Richtung", fuhr Naumann fort. „Man vermehrt die Militärziffern, bessert die Finanzen, baut Schiffe, aber man mißachtet die Bedeutung der Bewegungen, die in der Masse des Volkes vorhanden sind." Diese Gedanken, zu denen ihn das „napoleonische" Frankreich inspirierte, zeugen von der pessimistischen Grundhaltung, mit der Naumann die deutsche Zukunft ins Auge faßte 21 . Im Kontext der Marokko-Krise und außenpolitischer Erfolge Frankreichs klangen sie wie ein Appell an die politischen Führer Deutschlands. Wollten sie die Zukunft ihrer Nation sichern, dann mußten sie sich fähig zeigen, „den Willen und die Phantasie der Masse den Machtproblemen der Nation näher zu bringen" und die Entwicklung einer „demokratischen Nationalstimmung" zu ermöglichen 22 . 20

Seine Betrachtungen über Napoleon sind charakteristisch für Naumanns naturwissenschaftlich geprägte Geschichtsauffassung. „Auch bei den politischen Kräften existiert etwas, was dem physikalischen Lehrsatz von der Erhaltung der Kraft und der Veränderung der Erscheinungsform entspricht", erklärte er. Napoleon hatte die von der Französischen Revolution erzeugte Energie für seine Ziele genutzt. Ebenda.

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Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, (2. Ausgabe.) Stuttgart, Tübingen 1 9 4 9 , S. 102f. M a x Weber hatte einen starken Einfluß auf Naumanns Weltsicht. Die Grundfrage war: Wie kann Deutschland seine Macht bewahren und seine Zukunft sichern? Wie seine Freiburger Antrittsrede zeigt, vermißte M a x Weber bei den deutschen politischen Führern den „Hauch der gewaltigen nationalen Leidenschaft und die Energie der T a t " , „die großen Machtinstinkte einer zur politischen Führung berufenen Klasse". Ebenda, S. lOOf. Eine ähnliche Sorge kam 1 9 0 2 und 1 9 0 6 in den Napoleon-Aufsätzen Naumanns zum Ausdruck.

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Napoleon. II,, in: Die Hilfe, Nr. 4 8 , 2 . 1 2 . 1 9 0 6 , S. 2f.; Napoleon. III., in: Die Hilfe, N r . 4 9 , 9 . 1 2 . 1 9 0 6 , S. 6f.

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Naumann bewunderte die patriotische Kraft der Franzosen, in der Entwicklung ihrer politischen Institutionen, vermochte er aber nicht ein Ideal für die Deutschen zu sehen. Die deutsche Demokratie war zwar ohne französische Vorbilder kaum denkbar: Börne, Heine, Marx, Lassalle - es waren die Beispiele, die er anführte - hatten in Paris ihre politische Auffassung gebildet; fast alle Forderungen des radikalen Liberalismus waren von Franzosen formuliert worden; die großen Denker des Sozialismus waren fast alle Franzosen; die deutsche Revolution von 1848 hatte unter französischem Einfluß gestanden. Auch Bismarck hatte seine Muster aus Paris bezogen; nach Naumanns Ansicht war die Reichsgründung von 1871, die das Kaisertum und das allgemeine gleiche Wahlrecht verband, ohne den „Napoleonismus" nicht verständlich 23 . Die politische Einwirkung Frankreichs auf Deutschland hatte aber, dachte er, mit dem Jahre 1871 ein Ende genommen 24 . Seit 1871 hatte sich ein deutsches Selbstbewußtsein herausgebildet, und insofern sich ein ausländischer Einfluß in Deutschland immer merkbarer machte, so war es eher der Einfluß englischer Vorbilder. Naumann schenkte auch den skandinavischen Experimenten eine besondere Aufmerksamkeit 25 . Was er im Sinne hatte, war eine moderne Großmonarchie, die der Demokratisierung und der Vergesellschaftung des Lebens Rechnung tragen würde. Unter dem Eindruck der Ergebnisse der Reichstagswahl von 1912 - über 7 Millionen Wähler hatten den Wunsch nach einer „anderen Regierung" geäußert - betonte Naumann noch einmal die Notwendigkeit einer Demokratisierung der politischen Verhältnisse im Deutschen Reich, die einen Fortschritt in der Selbstbestimmung des Volkes bringen würde. Welche Muster sollten die Deutschen bei sich verwenden? Die Augen waren auf 23

Naumann sah Bismarcks Größe darin, daß er „das napoleonische M u s t e r " auf den neudeutschen Nationalstaat angewendet hatte, soweit es damals möglich und nötig war. Die ganze Anfangszeit des Deutschen Reiches erschien ihm von den bewußten Nachwirkungen des napoleonischen Systems geprägt. Die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für die Reichstagswahlen war nach seiner Ansicht der Akt eines „Schülers" des ersten und des dritten Napoleon. Die Zukunft der deutschen Nation erschien ihm von der Fähigkeit der politischen Verantwortlichen abhängig, den Willen und die Phantasie der Masse den Machtproblemen der Nation näher zu bringen und die Entwicklung einer „demokratischen Nationalstimmung" zu ermöglichen.

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„Heute ist keine deutsche Partei und kein deutscher Staatsmann von Frankreich her beeinflußt", behauptete Naumann im März 1 9 0 2 . „Natürlich verfolgt man bei uns die französischen Vorgänge und beobachtet insbesondere jede Wendung des französischen Militarismus, aber der Glanz und Zauber ist hinweg." Deutschland und Frankreich, in: Die Hilfe, Nr. 11, 1 6 . 3 . 1 9 0 2 , S. 2f.

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Ebenda. S. auch Friedrich Naumann: Das Königtum, in: Die Hilfe, Nr. 2 , 3 und 4, 1 9 0 9 ; Neue Rundschau, 2 0 . Jg. der Freien Bühne, Bd. 1, 1 9 0 9 , S. Iff.; Werke, 2. Bd., S. 4 0 7 f f .

„ U n s e r W u n s c h ist e i n b e f r e u n d e t e s F r a n k r e i c h . "

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Frankreich, England und Nordamerika, auf die „politisch früher entwickelten Westmächte", gerichtet. Auch die Deutschen sollten eine Volksvertretung haben, die „sich zur Höhe einer staatsleitenden Macht emporheben" würde; auch in Deutschland war das Ziel „die Regierungsfähigkeit der Volksmehrheit". Naumann vertrat die Ansicht, daß keine der fremden Verfassungen von den Deutschen einfach abgeschrieben werden solle und könne. Das Muster für ein „Programm des gesetzlichen Fortschritts", für „eine nicht revolutionäre Demokratie" im Deutschen Reich sah er nicht in Frankreich, sondern eher in England26. Während er dachte, die Deutschen hätten von der inneren Politik Frankreichs nicht viel zu gewinnen 27 , blieb Naumann überzeugt, man müsse sich hüten, die Franzosen zu niedrig zu schätzen und zu glauben, man könne von ihnen nichts mehr lernen. Was er bei ihnen „großartig" und „bewundernswert" fand, war ihre „Opferbereitschaft für äußere Politik". Obwohl sie ein Volk ohne Kinderzuwachs waren, strengten sie sich an, die „große Nation" zu bleiben. Landheer, Flotte und Kolonialausdehnung waren in Frankreich „Volkssache" geworden. Die Parteien mochten wechseln, die Regierung von rechts nach links gehen, die Wehrkraft des Landes wurde mit Sorgfalt gestärkt; die Ministersessel mochten unsicher bleiben, aber Frankreich hatte sein Kolonialgebiet in Afrika ständig ausgedehnt. In Paris war es kein fürstlicher Imperialismus, der die Weltpolitik populär machte; auch ohne Monarchen hatte das französische Volk „Sinn und Kraft für seine Größe" 28 . Diesen Franzosen gegenüber empfahl Naumann ein taktvolles Benehmen29. 26

Er schrieb: „Das beste Vorbild für diesen Vorgang bietet die englische Geschichte v o n 1 8 3 0 bis jetzt. In ihr muß noch viel fleißiger studiert werden als bis jetzt." Demokratie und Monarchie, in: Die Hilfe, Nr. 6 , 1 9 1 2 ; Werke, 2. Bd., S. 4 3 9 - 4 4 4 .

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„Die Franzosen stehen nicht - wie wir - direkt vor dem Ubergang v o m Agrarstaat zum Industrialismus", erklärte er 1 9 0 2 , „sondern sie stehen fest mitten drin im Agrarzustand. Bei ihnen finden sich daher die Fragen, die bei uns die wichtigsten sind, nur als Nebenfragen." Deutschland und Frankreich, in: Die Hilfe, Nr. 11, 1 6 . 3 . 1 9 0 2 , S. 2f.

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Darauf machte er die deutschen Demokraten aufmerksam, die die hohen Militärausgaben kritisierten. Ebenda.

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Im ersten seiner Pariser Briefe schrieb er 1900: „Wir haben nicht die Aufgabe, durch irgendwelche Art herausfordernden Stolzes die Wunde zu vergrößern, nachdem im großen Würfelspiel der Weltgeschichte der letzte Wurf zu unseren Gunsten war, aber ein Gefühl eigenartiger Befriedigung ist es doch, daß das Stiefkind der westeuropäischen Kulturfamilie [also Deutschland] endlich auch seine Ruhmestage fand." In Versailles, w o die Proklamation des deutschen Kaisers am 18. Januar 1871 stattgefunden hatte, sah N a u m a n n vor allem eine Warnung für die Herrschenden, eine Warnung vor allzugroßer Sicherheit. Pariser Briefe. I., in: Die Hilfe, Nr. 2 3 , 1 9 0 0 , S. 10ff.; Werke, Bd. 6, S. 3 5 8 f .

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Frankreich ein Verbündeter Deutschlands gegenüber den Flügelmächten Rußland und England Theodor Heuss hat gezeigt, daß die Angst um die deutsche „nationale Zukunft" Naumanns außenpolitisches Denken beherrschte30. Die Geschichte verstand er als einen gottgewollten „Kampf ums Dasein", die Weltpolitik als einen Komplex von Machtfragen. Viele unter seinen Zeitgenossen teilten diese pessimistische, darwinistisch geprägte Weltanschauung. Ihnen erschien die Macht als eine Notwendigkeit31. Den Sozialdemokraten, die ihn „Revolverchrist" nannten, antwortete er zu Weihnachten 1901: „Überall in aller Welt sind verborgene oder offene Kriegsgefahren. Um jede Insel wird lauernd gestritten und wir sind mitten in diesen Streiten selber drin, haben genommen und werden nehmen, haben gerüstet und werden es weiter tun. Um unser Land legen sich die Festungen und um unsere Küste übt man mit Torpedos. [...] Wer glaubt jetzt daran, daß wir einer Friedensperiode entgegengehen? Wer sieht sie kommen? [...] Das Christentum hat den Kampf ums Dasein zwischen den Völkern nicht aus der Welt schaffen können und, wenn wir recht sehen, auch nicht aus der Welt schaffen wollen." 32 Militärische Macht und nationalen Zusammenhalt brauchte das Deutsche Reich gegenüber den angelsächsischen Völkern, die den „Weltwirtschaftsbetrieb" beherrschten, und dem zaristischen Rußland, dessen Expansionspolitik das europäische Gleichgewicht gefährdete. Daher betrachtete Naumann auch eine Aussöhnung und ein Zusammengehen mit Frankreich als einen notwendigen Bestandteil einer einsichtigen deutschen Außenpolitik. Er begrüßte, allerdings mit Vorsicht, den Stimmungsumschwung, den er in Paris zu beobachten glaubte. Als zu Beginn des Jahres 1899 von einem möglichen Besuch des Kaisers auf der Pariser Weltausstellung von 1900 die Rede war, schrieb er in Der 30 31

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Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 1949, S. 103. Anfang 1895 schrieb Naumann in der Hilfe: „Wer mich schlägt, den schlag' ich wieder, Haß dem, der hassen will, Kampf dem, der angreift! Es wäre doch, menschlich geredet, zu dumm, auch den noch lieben zu wollen, der uns das Leben stört. Wir müßten ja dann die reinen Lämmer sein, geduldig uns scheeren und schlachten lassen. [...] Ob es Gott will, daß wir uns alles sollen gefallen lassen ? Es wäre doch wunderlich, wenn derselbe Gott, der in der ganzen Natur alles auf den Kampf angelegt hat, der, soweit Augen sehen, nur demjenigenn Fortschritte verleiht, welcher streitet, wenn der dann sagen wollte: Keinen Kampf, nur Gelduld ! Kann Gott wollen, daß heute oder morgen unter den Menschen aller Kampf aufhört ? Damit würde der Gang der Kultur, die Entwicklung der Menschheit, die .Weltgeschichte' aufhören. Um den Fortschritt muß gerungen werden, das ist ein ewiges Gesetz. Feindesliebe, in: Die Hilfe, Nr. 3, 2 0 . 1 . 1 8 9 5 , S. 1. Christentum und Krieg, in: Die Hilfe, Nr. 50, 15.12.1901, S. 6f.

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich."

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Hilfe: „Wenn es nicht eben Franzosen wären, um die es sich handelt, würde man schon sagen können: die neue Gruppierung beginnt. Da es aber Franzosen sind, so muß man sich etwas Geduld anschaffen und abwarten, ob die neue Denkweise bleibt." Naumann bezog die psychologischen Momente in seine außenpolitischen Überlegungen mit ein. Die militärische Niederlage von 1871 und der Verlust der Provinzen Elsaß und Lothringen blieb in Frankreich eine schmerzliche Erinnerung. Das wußte er. Er hatte auch seine Vorstellung des französischen Volkscharakters. „Frankreich ist eine Dame, elegant, leidenschaftlich, schwer berechenbar", fügte er hinzu. „Man hüte sich, den ersten warmen Blick aus ihren schwarzen Augen für Liebe zu uns zu halten, er kann auch nur den Zweck haben, alte Zuneigungen jenseits des Kanals wieder zu wekken. Durch Eifersucht wankende Treue wieder zu festigen, gilt ja als französische Methode." 33 Naumann wollte doch an eine Aussöhnung glauben, weil es im Interesse Frankreichs lag, auf eine Außenpolitik, die er als aussichtslos betrachtete, zu verzichten und sich für ein Zusammengehen mit Deutschland zu entscheiden. Den Versuch Frankreichs, eine Annäherung an England anzubahnen, sah Naumann als widernatürlich an. Im Krimkrieg, sowie 40 Jahre früher gegen China, waren Briten und Franzosen zwar Mitstreiter gewesen. „Wo aber waren sonst die westeuropäischen Nationen' wirklich ein Herz und eine Seele?", fragte er rhetorisch. Die Fakten führten ihn zu dieser Betrachtung: Wenn die Franzosen eine Weltkarte betrachten, können sie feststellen, wo die Engländer sie schon verdrängt haben und wo sie ihnen jetzt im Wege stehen34. Überall stößt Frankreich an den Engländer, wenn es Weltmacht bleiben will. Naumann dachte andererseits, daß Frankreich von Rußland, mit dem es Anfang der 90er Jahre ein Bündnis geschlossen hatte, gar nichts zu erwarten hatte. „Niemand hilft [Frankreich]", stellte er fest, „denn was ist dem Zaren Saigun, Faschoda, Madagascar oder Shangai? Der Zar will gern ein Heer bei Beifort und eine Flotte bei Toulon unter seinem telegraphischen Kommando haben, aber Russen opfern für Franzosen, daran denkt er nicht, denn so nötig braucht er sie ja nicht. Er ist als Inhaber der zweiten Macht des Erdballes umworben genug, und augenblicklich ist er ja auch der Friedenszar!"35 33

Deutschland und Frankreich, in: Die Hilfe, Nr. 5, 2 9 . 1 . 1 8 9 9 , S. 2f.

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In Nordamerika, Hinterindien und Ägypten waren die Franzosen Verlierer gewesen, nun waren ihre Interessen in Hinterindien, Mittelafrika und China durch England bedroht.

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Naumann beurteilte sehr skeptisch die Initiative des Zaren, der 1 8 9 8 den Vorschlag einer internationalen Konferenz gemacht hatte. Diese Konferenz sollte eine

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Neben den zwei großen Weltmächten England und Rußland erschien Frankreich nur noch als eine Mittelmacht. Rache an Deutschland nehmen und Elsaß-Lothringen zurückerobern, das ist sein großes außenpolitisches Ziel, erklärte N a u m a n n . Es ist aber zu schwach geworden, um es allein zu erreichen. Deutschland hat es 1 8 7 1 „von seiner H ö h e gestürzt", ihm „den letzten harten Stoß" versetzt und es „endgültig in die zweite Reihe" geschoben. Für Frankreich gibt es nur noch eins: ElsaßLothringen aufgeben, „um an Deutschland eine Stütze für lange Zeit zu finden". O b es nun in diesen sauren Apfel beißen würde, w a r wohl die zentrale Frage in den deutsch-französischen Beziehungen 3 6 . Welcher Vorteil konnte für beide Seiten aus einem Zusammengehen resultieren? N a u m a n n dachte, daß die „Seevölker zweiten Grades", also Deutschland und Frankreich, einen gemeinsamen Gegner hatten: das englische Riesenreich 3 7 . D e m Gedanken eines deutsch-französischen Zusammengehens standen die Nationalisten kritisch gegenüber, weil sie befürchteten, daß die Deutschen sich Frankreich unterordneten. N a u mann dachte anders: Das Deutsche Reich würde durch seine Volkszahl und seine Industriekraft dem Partner überlegen sein. Das neue Verhältnis zu Frankreich würde dem Verhältnis zu Österreich gleichen, und es würde um so wertvoller sein, als die Lebensfähigkeit des österreichischen Staates sich als zweifelhaft erweisen sollte 3 8 . In den Pariser Briefen39 bezeichnete N a u m a n n eine Aussöhnung Frankreichs mit Deutsch-

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schiedsrichterliche Instanz zur friedlichen Regelung von Konflikten zwischen den Staaten einrichten. „[Der Zar] braucht Ruhe für seine Eisenbahnen, Finanzen, Fabriken und Rüstungen", kommentierte Naumann. „Um dieser Ruhe willen steht er mit seinem Palmenzweige am Ende des kriegsgeröteten Jahrhunderts." Deutschland und Frankreich, in: Die Hilfe, Nr. 5,29.1.1899, S. 2ff.; Der Friedenszar, in: Die Hilfe, Nr. 6, 5.2.1899, S. 3-5. Deutschland und Frankreich, in: Die Hilfe, Nr. 5, 29.1.1899, S. 2f. „Überall, wo wir sind, sind auch die Engländer, denn sie sind eben an allen Stellen der Erde", erklärte Naumann 1899. „Ihren Bann zu brechen, ist für die Seevölker zweiten Grades die schwerste Aufgabe des neuen Jahrhunderts. Unsere industrielle und kommerzielle Entwicklung drängt uns in diese Richtung. Man kann gar keine industrielle deutsche Politik treiben, ohne das jetzige Herrenvolk des Welthandels zu hemmen." Ebenda. Diese Überlegungen über ein deutsch-französisches Zusammengehen beleuchten die Formel, mit der Theodor Heuss die Grundthese der auswärtigen Konzeption Naumanns um die Jahrhundertwende zusammenfaßte: „Wo und wie immer es möglich sei, die Verständigung mit Frankreich suchen." Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 1949, S. 298. Die Pariser Briefe wurden in der Zeit verfaßt, als die Europäer gemeinsam gegen den Boxeraufstand in China vorgingen. Die deutsch-französische Waffenbrüderschaft erschien, nicht zuletzt in der (links)liberalen Presse als eine Aussicht auf eine Aussöhnung zwischen beiden Völkern.

„ U n s e r W u n s c h ist ein befreundetes F r a n k r e i c h . "

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land als entscheidend für beide Seiten. „Das ist'eben jetzt die geistige Lebensfrage für die Franzosen und für uns, ob wir aus der Entfremdung herauskommen können", erklärte er. „Der Bund zwischen Russen und Franzosen ist unnatürlich, da er den Franzosen nur militärisch, aber nicht kulturell etwas bietet. Anschlußbedürftig sind sie infolge ihrer geringen Volkszahl und schweren politischen Gesamtlage. Sollten sie mit uns Einheit finden, sollten sie lernen Deutschtum und Franzosentum als einen Kulturkörper betrachten, so würde für sie und für uns der Umkreis des nationalen Seelenlebens ungeheuer erweitert. Wir ergänzen uns." Selbst wenn das Mißtrauen gegenüber Deutschland die Politik der regierenden Kreise in Paris noch weitgehend bestimmte, blieb Naumann zuversichtlich 40 . Die Erfolge des französischen Außenministers Theophile Delcasse sollten diese Aussichten verdunkeln. Ihm gelang es, das französischrussische Bündnis zu festigen und eine Annäherung Frankreichs an England und Italien herbeizuwirken 41 . Im Jahre 1904 zeigte sich Naumann besorgt über die Entwicklung der europäischen Politik, die weitgehend von dem deutsch-französischen Gegensatz bestimmt blieb. Wir dürfen unsere nationale Macht nicht in der Mitte Europas isolieren, erklärte er damals. Der Dreibund reicht weder militärisch noch politisch aus, uns unabhängig zu machen. Deshalb betrachtete er ein Bündnis mit Rußland als eine „sachlich notwendige Politik", selbst wenn er sie als „für das moralische Gefühl fast unerträglich" bezeichnete. Deshalb erschien ihm das Bismarcksche System der russischen Rückversicherung als unabwendbar, mochte es noch so unpopulär sein. Das hatte ja auch die französische Linke erkannt. „Solange ein deutsch-französisches Bündnis unmöglich ist, kann es nicht anders sein", erklärte Naumann. „Das ist der Angelpunkt der ganzen Lage. Der Gegensatz von Deutschland und Frankreich treibt beide Staaten, sich bei den Rus40

Pariser Briefe. VI., in: Die Hilfe, Nr. 2 8 , 1 9 0 0 , S. 5f.; Werke, Bd. 6, S. 3 8 7 - 3 9 3 .

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Theophile Delcasse war von 1 8 9 8 bis 1 9 0 5 Außenminister Frankreichs. Um die französischen Interessen gegenüber der Politik Wilhelms II. zu wahren, ergänzte er das russisch-französische Bündnis, den „Zweiverband", mit einer dreifachen Garantie. Er Schloß 1 9 0 2 ein Abkommen mit Italien, in dem jede der beiden Mächte sich zu einer Neutralität bei dem Angriff einer dritten Macht verpflichtete; somit distanzierte sich Italien vom Dreibund. Delcasse erreichte 1 9 0 4 ein Abkommen mit England, das alle Kolonialstreitigkeiten zwischen beiden Mächten beseitigte und die Grundlage der künftigen Entente cordiale bilden sollte. Dem französischen Außenminister gelang es auch, eine Annäherung zwischen England und Rußland herbeizuführen, die später die Bildung der Triple Entente, des Dreibundes zwischen England, Frankreich und Rußland, ermöglichte. Im Juni 1 9 0 5 , während der Marokkokrise und zu Beginn der Algeciras-Krise mußte Delcasse auf Druck Wilhelms II. von seinem Amt zurücktreten.

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sen als gute Freunde an die Tür zu stellen. [...] Wir müssen mit dem Rußland rechnen, wie es ist, wenn wir unsere eigene nationale Zukunft schützen wollen. Das heißt noch nicht, daß wir es nötig haben, freiwillige Konzessionen zu machen. Trotz des Grauens vor den inneren Zuständen des Barbarenstaates sind wir vorläufig politisch an ihn gebunden. Leider!" 4 2 Die vernichtende Niederlage, die im Russisch-Japanischen Krieg (1904-05) der Flotte des Zaren zugefügt wurde, brachte eine gewisse Veränderung im europäischen Kräfteverhältnis. Naumann sah in dieser russischen Niederlage eine Schwächung Deutschlands gegenüber England: Deutschland befand sich nun in einer ähnlichen Lage wie Frankreich gegenüber Deutschland hinsichtlich der Heeresstärke zu Lande. Delcasses Plan war, die deutsche „maritime Schwäche" durch ein Bündnis mit England auszunutzen. Naumann glaubte aber nicht, daß der französische Außenminister diesen Plan durchsetzen würde. Von dem Tage an, wo es durch England siegen wird, wird Frankreich auf Tod und Leben an England verkauft sein, erklärte er. Indem er diese Folge mit in Kauf nimmt, entfernt sich Delcasse von der „altfranzösischen und napoleonischen Tradition". Darin kann er nicht bei den Franzosen auf Verständnis rechnen, und die anderen französischen Minister wollen nicht das Risiko eingehen, „den Rest von Großmachtstellung ihrer Nation zu verlieren". Aus Delcasses Politik zog Naumann für Deutschland diese Lehre: Ein starkes Heer ist eine Sicherung des Friedens und eine produktive Anlage 43 . Ein starkes Heer reichte aber nicht aus, um die Lage des Deutschen Reiches in der Welt zu festigen. Das Vertrauen in den Reichskanzler von Bülow wankte, denn er zeigte sich nicht geschickt genug, wo sich die außenpolitische Lage des Deutschen Reiches verschlechterte. „Was wir sehen, ist, daß sich ein gemeinsames Vorgehen der Weltmächte anbahnt, dessen Ziel gar kein anderes sein kann, als Deutschlands Demütigung, sobald dazu der Zeitpunkt geeignet erscheint", warnte Naumann 1 9 0 4 , das heißt noch bevor Delcasse zurücktreten mußte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß die Deutschen einmal - unter erschwerten Umständen - „den Ertrag von 1 8 7 0 " zu verteidigen haben würden. Wer würde ihnen helfen wollen? „Gern hilft uns niemand", behauptete er, „nicht nur weil jede politische Macht ihre eigene berechtigte Selbstsucht hat, sondern auch weil unsere Nation es so gar wenig versteht, sich die Sympathie der Nachbarn zu erwerben. Das ist nicht Schuld mangelnder

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Deutschland und Rußland, in: Die Hilfe, Nr. 3 1 , 3 1 . 7 . 1 9 0 4 , S. 2 .

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Der Plan Delcasses, in: Die Hilfe, Nr. 2 9 , 2 3 . 7 . 1 9 0 4 , S. 3f.

„Unser W u n s c h ist ein befreundetes Frankreich."

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Höflichkeit. An dieser haben es weder der Kaiser, noch sein Kanzler fehlen lassen, es liegt viel tiefer. Wir sind den anderen unbequem als Konkurrenten und wir erwecken nirgends das Gefühl, daß es eine Freude sein könne, mit uns geschichtliche Gemeinschaft zu haben. Das ist traurig zu sagen, aber es ist leider doch wahr." 44 Gerade das machte nach Naumanns Ansicht eine Annäherung an Frankreich für Deutschland wertvoll. Mit Delcasses Rücktritt war aber, wie ihm schien, das eigentliche Hindernis aus dem Weg dazu nicht beseitigt worden. Den Stil von Bülows beurteilte er kritisch45. Der Reichskanzler hatte „sich die Rücksichtslosigkeit, die Bismarck zeigen konnte, angeeignet" und somit den deutsch-französischen Beziehungen Abbruch getan. Delcasse hatte sich allerdings geirrt, indem er glaubte, er könne Deutschland als „Macht zweiten Ranges" behandeln; darüber war er auch gefallen. Worauf sollte sich nun 1905, nach der schweren Algeciras-Krise, die Hoffnung auf eine deutsch-französische Annäherung gründen? Frankreich und Deutschland konnten noch zu einem Ausgleich kommen, wenn Frankreich einsah, daß seine Bündnisse ihm in Wirklichkeit nichts nützten. Deutschland mußte seinerseits die französische Position erleichtern, denn es hatte gar kein Interesse an der politischen Demütigung Frankreichs 46 . Dies war Naumanns Sehweise in der Zeit, als der Marokko-Konflikt einen Höhepunkt erreicht hatte. Die von ihm herbeigewünschte Annäherung sollte aber ausbleiben, trotz des friedlichen Ausgangs dieses Konfliktes. Wohl deshalb gründete er später seine Hoffnung auf den Frieden auf die europäische Ordnung, die durch Grundverträge und Rückversicherungsverträge entstanden war. Deutschland, ÖsterreichUngarn und Italien hatten den Dreibund gebildet, Frankreich und Großbritannien ihrerseits die Entente Cordiale, der sich Rußland 1907 angeschlossen hatte. 1911 sah Naumann in diesen Staatenverbänden die Vorstufe zu einer langfristigen Entwicklung. Die bisher aufgebaute Konstellation betrachtete er als eine Grundform, die sich durch künftige

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Bülows Weltpolitik, in: Die Hilfe, Nr. 19, 8.5.1904, S. 21. Fürst Bülow im Reichstag, in: Die Hilfe, Nr. 50, 17.12.1905, S. 3. Als Delcasse auf Betreiben Wilhelms II. vom Präsidenten Rouvier entlassen worden war, schrieb Naumann: „Es ist nichts, was wir von Frankreich wollen, als daß es den im Jahre 1871 geschaffenen Zustand als endgültig anerkennt. Gelingt es, die Revanchebedrohung wirklich zu beseitigen, so ist das höchste erreicht, was unsere Diplomatie von Frankreich je wünschen kann. Wir wollen kein gebrochenes Frankreich! Darüber sind alle deutschen Parteien einig. Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich." Minister Delcasse, in: Die Hilfe, Nr. 24, 18.6.1905, S. 2f.

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Verträge zwischen den Einzelstaaten beider Gruppen weiterentwickeln würde 4 7 . V o n diesem Prozeß erhoffte er eine Entspannung in E u r o p a , die das Deutsche Reich von der Einkreisungsgefahr befreite 4 8 . 1 9 0 7 w a r N a u m a n n v o m württembergischen Wahlkreis Heilbronn in den Reichstag gewählt worden 4 9 . Er hatte sich a m Z u s a m m e n s c h l u ß der Linksliberalen und 1 9 1 0 an der Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei maßgeblich beteiligt. Die engere Z u s a m m e n a r b e i t mit den frankophil und pazifistisch gesinnten Linksliberalen Süddeutschlands w a r wohl nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung von N a u m a n n s außenpolitischen Konzeptionen. Die Friedens- Warte, das O r g a n der deutschen bürgerlichen Pazifisten, bemerkte, daß ein W a n d e l bei ihm eingetreten w a r . In der Zeit des Nationalsozialen Vereins w a r er entschieden für einen deutschen Imperialismus eingetreten; jetzt betonte er die Interdependenz der Staaten und ihr wachsendes gemeinsames Sicherheitsbedürfnis, w a s die Friedens-Warte als „unbewußten Pazifismus" kennzeichnete 5 0 . N a u m a n n blieb nichtsdestoweniger bei seiner unsentimen47

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Frankreich hatte z.B. seinen besonderen Vertrag zur Dreibundmacht Italien, seine Marokko-Abmachung mit Deutschland, versuchte eine engere Anknüpfung an Österreich und besaß darüber hinaus Verträge mit Spanien, Japan und anderen Staaten. Es wächst eine Schicht von Nebenverträgen über den Grundverträgen, und diese Nebenverträge machen die Grundverträge tatsächlich mehr oder weniger unwirksam, erklärte er 1911. In diesem Sinne ist die russisch-französische Allianz zwar unveränderlich und sozusagen ewig, aber sie bedeutet keine einfache Frontstellung mehr. Die Periode der einfachen Zweckverbände wird abgelöst durch eine Periode sehr verwickelter Gegenseitigskeitsabmachungen, und die Folge davon ist die „Entspannung" Der europäische Friede, in: Die Hilfe, Nr. 3, 19.1.1911, S. 34. Diesen Wahlsieg verdankte er nicht zuletzt seinem jungen Freund Theodor Heuss, der im selben Jahr die Redaktion der Hilfe übernommen hatte. Theodor Heuss: Erinnerungen. 1905-1933. Tübingen 1963. Hier bes. S. 55-64. Die Friedens- Warte begrüßte einen „Hilfe"-Aufsatz (Die Hilfe, Nr. 44, 1909), in dem Naumann erläutert hatte, warum die Engländer keinen Krieg herbeiführen würden: Sie hatten erkannt, daß der Krieg immer ein Wagnis ist, selbst wenn man die beste Rüstung besitzt, und daß der Krieg eine Störung des Wirtschaftslebens ist; nun wollten sie keine Störung ihres Wirtschaftslebens. Dazu bemerkte er: „Wir leben nicht mehr in der alten Zeit, da jedes Volk für sich existierte. Diese alte Zeit ist vorbei und sinkt mit jedem Tage mehr in die Vergangenheit." Friedrich Naumanns Wandlung zum Pazifismus, in: Die Friedens-Warte, Nov. 1909, S. 215f. Im Jahre 1911 empfahl Naumann Abrüstungsverträge in Form von einem „Rüstungssyndikat" zwischen den Staaten, die die Konkurrenz in der Rüstung überwinden würde, ohne die formelle Beseitigung der Selbständigkeit. Er begrüßte das System der Schiedsgerichtsverträge, das im Wachsen war. „Je mehr es wächst, desto leichter werden später die Rüstungsverträge herzustellen sein", schrieb er damals, wobei er doch bei der Formel: si vis pacem para bellum, blieb. Er meinte nämlich: Verträge sind möglich, insoweit man stark ist; Kontingentlose

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich."

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talen Weltsicht. Ende 1 9 1 1 schrieb er: „Der deutsche Liberalismus ist immer Freund und Vertreter des Friedens mit England 51 und Frankreich gewesen und wird nicht aufhören, alle ernsthaften Friedensbestrebungen zu unterstützen, solange es irgend möglich ist. Dabei aber weiß er, daß der Kampf ums Dasein noch nicht aus der Welt geschafft ist. Die sozialdemokratische Zeit, in der die Völker sich gegenseitig alles Gute gönnen, ist noch nicht da. Noch ist es nötig, gerüstet zu bleiben, und zwar um des Friedens willen. Wer das nicht begreift, kann zwar ein braver Mensch sein, aber er hat keine Augen für den Gang der Weltgeschichte." 5 2

Naumanns Eintreten für eine deutsch-französische Aussöhnung Die Wahl Naumanns in den Reichstag gab ihm ein politisches Gewicht, das er auch in den Dienst dieser friedensorientierten Realpolitik und einer deutsch-französischen Annäherung stellte. Publizistisch trat er nun warnend gegen den Chauvinismus auf. Der regen Tätigkeit des französischen Sozialisten Jean Jaures, der in Frankreich einen Kampf für eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich und für den Frieden in Europa führte, schenkte er eine besondere Aufmerksamkeit. Ein Höhepunkt in seiner politischen Karriere war seine Teilnahme an dem deutsch-französischen Abgeordnetentag, der zu Pfingsten 1 9 1 4 in Basel stattfand. sind vertragsunfähig. Das Prinzip, das zu gelten hatte, war daher folgendes: „Halte dich so, daß es für die andern wichtig ist, mit dir verbündet zu sein." (Die Hilfe, Nr. 1 4 , 1 9 1 1 . ) Friedrich Naumann über das Rüstungssyndikat, in: Friedens-Warte, M a i 1 9 1 1 , S. 1 4 8 f . Diese Auffassung der englischen Politik beeinflußte Naumanns Beurteilung der französischen Politik gegenüber England, vor allem seitdem England sich dem Zweiverband angeschlossen hatte. 51

Die Stellung Naumanns gegenüber der englischen Weltmacht hatte sich geändert. In ihr hatte er zunächst einen Faktor gesehen, der die Entwicklung des Deutschen Reiches aufhielt, und sich daher für eine entschiedene Allianzpolitik gegen sie ausgesprochen. Nun begrüßte er alle Schritte, die auch eine Annäherung an England herbeiführen konnten.

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Die Hilfe, Nr. 4 9 , 7 . 1 2 . 1 9 1 1 , S. 7 7 0 f . Naumann glaubte nicht an eine friedliche Vorzeit. Keine Zeit erschien ihm friedlicher als die Gegenwart. Diese Tatsache resultierte aus der steigenden Größe der Gewaltherrschaften und ließ ihn denken, daß die ganze Menschheit sich einmal in einen „Friedensorganismus" verwandeln könnte, allerdings unter der Voraussetzung, daß alle Menschen unter einen „ Z w a n g " gebracht würden. Das heißt: Eine solche Einheit hielt er nicht für denkbar ohne den Sieg einer M a c h t über alle anderen, einer Nation, die so viel Gewalt, Klugheit und Mäßigung besitzen würde, um allen anderen überlegen zu sein. Nun war ein solcher Zustand noch nicht in Sicht. Deshalb blieb Naumann skeptisch gegenüber jedem Internationalismus, der der Realität des „Kampfes ums Dasein" fremd blieb. Der Zwang zum Frieden, in: Die Hilfe, Nr. 1 7 , 2 5 . 4 . 1 9 1 2 , S. 2 5 8 f .

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Naumanns Stellung zur elsaß-lothringischen Frage blieb unverändert: jede Revision des Frankfurter Friedens von 1871 betrachtete er als ausgeschlossen. „Wir haben gesiegt, wir behalten den Ertrag des Friedens", hatte er 1899 erklärt. „Erst wenn die Franzosen sich damit abgefunden haben, beginnt das neue Verhältnis [zwischen unseren beiden Ländern]. Sobald sie aber soweit sind, dann kann es auch sofort beginnen, denn was uns, abgesehen vom Elsaß, trennt, ist klein im Vergleich mit den großen gemeinsamen Interessen." Alle Parteien waren sich, wie ihm schien, über „einen engeren Anschluß der Franzosen an Deutschland" einig. Der politische Realismus diktierte aber die größte Vorsicht. Zum einen waren Garantien erforderlich; zum zweiten mußte man abwarten: Deutschland war es nicht, das den ersten Schritt zu tun hatte 53 . In der Zeit, als Delcasse auf eine englisch-französische Annäherung hinarbeitete, hatte sich Naumann noch einmal zur elsaß-lothringischen Frage geäußert. Für ihn stand außer Zweifel, daß der „Plan" des französischen Außenministers die Rückgewinnung Elsaß-Lothringens bezweckte. Dies würde der ungeheuren Opfer nicht wert sein, die gebracht werden müßten, erklärte er damals, denn der Besitz von Elsaß-Lothringen nützt an sich den Franzosen sehr wenig. Der Verlust dieser Provinzen war deswegen schmerzlich, weil er das offene Zugeständnis einer militärischen Schwäche war. Erstens würde der Gewinn nur dann von großem Wert sein, wenn er das Zeichen wäre, daß Frankreich seine militärische Übermacht behaupten kann, was nicht der Fall ist. Zweitens würde Frankreich seine historische Größe nicht mehren und seine allgemeine Leistungsfähigkeit nicht unter Beweis stellen, indem es Elsaß-Lothringen mit der Hilfe Englands zurückerobern würde 54 . Als 1910 im Reichstag die elsaß-lothringische Verfassungsfrage debattiert wurde, trat Naumann mit einer Rede hervor, in der er den liberalen Standpunkt darlegte. Er plädierte nicht nur für eine verfassungsrechtliche Gleichstellung, für eine bundesstaatliche Selbständigkeit Eslaß-Lothringens im Reich. Er betonte auch, daß die Integration des Reichslandes ins deutsche Vaterland eine „moralische Eroberung" sein müsse. Treitschke hatte die Wiedereroberung des Elsaß und Lothringens, die Rückkehr des verlorengegangenen Bruderlandes, als die Erfüllung einer langgehegten Sehnsucht begrüßt, er hatte dabei die Gefühle der deutschen Bevölkerung zum Ausdruck gebracht. Dann hatte man aber Elsaß-Lothringen als „erobertes Land" und als „Glacis" behandelt, anstatt sich ihm gegenüber entgegenkommend zu zeigen. Die

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Deutschland und Frankreich, in: Die Hilfe, Nr. 5, 2 9 . 1 . 1 8 9 9 , S. 2f. Der Plan Delcasses, in: Die Hilfe, Nr. 29, 2 3 . 7 . 1 9 0 4 , S. 3f.

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich."

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Folgen dieser verfehlten Entwicklung faßte Naumann mit dieser Formel zusammen: „Wenn im Elsaß irgend etwas französisch gesprochen wird, hört man es in Paris. Wenn aber etwas deutsch gesprochen wird, hört man es in Berlin nicht." Naumann meinte, daß die wirtschaftlichen Vorteile, die der „Übergang zum Deutschtum" den Elsässern und den Lothringern gebracht hatte, für eine völlige Integration nicht ausreichten. Sie sollten auch „mit einer gewissen historischen Gerechtigkeit" behandelt werden; das bedeutete, daß man nicht einfach über die französische Zeit hinweggehen konnte, mit anderen Worten, daß man das Spezifische in der Kultur der Elsässer und der Lothringer achten mußte. Die Demokratie, die sie in der französischen Zeit gekannt hatten, vermißten sie seit 1871. Deshalb forderte Naumann für sie ein Wahlrecht, das sie als gerecht empfinden würden 55 . Die Brüder Wolf, mit denen Naumann eng befreundet war 56 und die zu den Führern der Liberalen Landespartei in Elsaß-Lothringen gehörten, vertraten die Ansicht, daß auf der Grundlage der gegebenen Tatsachen eine deutsch-französische Verständigung und eine neue europäische Friedensordnung herbeigeführt werden müsse. Dies betrachteten sie57 als die Voraussetzung für die Lösung der elsaß-lotrhingischen Frage als deutsch-französisches Problem, sowie für die Überwindung der Spannung zwischen Deutschland und Frankreich. Angesichts seiner historischen und geographischen Stellung konnte Elsaß-Lothringen eine Brückenfunktion zwischen beiden Ländern erfüllen. In diesem Sinne wollten sie Pazifisten sein58. 1913 wuchs in Frankreich die Agitation zugunsten einer Verstärkung der militärischen Präsenzstärke; von Poincare, dem neuen Präsidenten der Republik, wurde vielfach erwartet, daß er die „Größe" Frankreichs erhielt. Naumann beobachtete besorgt diese Stimmungslage jenseits des Rheins. Die Franzosen wollen nicht wahrhaben, daß sie angesichts ihrer Bevölkerungszahl nicht mehr imstande sind, eine genügende Heeresstär-

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Die Elsaß-Lothringische Verfassungsfrage. Reichstagsrede des Abgeordneten Fr. Naumann am Montag, den 14. März 1910 (Nach dem amtlichen Stenogramm), in: Sonderbeilage der Hilfe zu Nr. 12, 2 7 . 3 . 1 9 1 0 , S. 187-190. Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 1949, S. 286. Die süddeutschen Linksliberalen, denen die Brüder Wolf und die elsässischen Linksliberalen und Demokraten nahestanden, vertraten weitgehend diesen Standpunkt. Philippe Alexandre: Une conquete morale. La question d'Alsace-Lorraine dans la revue liberale „Die Hilfe", in: Michel Grunewald (Hrsg.): Le probleme d'AlsaceLorraine vu par les periodiques (1871-1914) - Die Elsaß-Lothringische Frage im Spiegel der Zeitschriften (1871-1914). Bern, Berlin 1998, S. 149-172.

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ke zu haben, schrieb er in der Hilfe. Doch wollen sie noch an den Sieg über Deutschland glauben; deshalb halten sie am russisch-französischen Bündnis fest. Sollten die Franzosen einmal siegen, dann würden sie „nur durch die Russen siegen". Kennzeichnend fand Naumann, daß gleich nach der Wahl Poincares Delcasse als Botschafter nach Sankt Petersburg berufen worden war. In diesem Klima war für Deutschland nur eine Politik möglich: Es mußte stark sein und zeigen, daß es imstande war, einen gemeinsamen Angriff Frankreichs und Rußlands abzuwehren; dabei durfte es nichts unternehmen, was von den anderen Staaten als eine Herausforderung oder eine Verletzung interpretiert werden konnte 59 . Während der Reise, die er im Frühling 1914 in Nord- und Mittelfrankreich machte, zeigte sich Naumann vom Militarismus der Franzosen beeindruckt; er fand ihn „fast auffälliger" als den der Deutschen. An den verschiedensten Orten sah er neue militärische Bauten; er beobachte, wie die jungen Burschen, die jetzt drei Jahre unter der Fahne stehen mußten, „frisch und fröhlich" exerzierten 60 . Frankreich stand allerdings mitten in der Wahlagitation. Die deutsche Bedrohung wurde „in den allergrellsten Farben" geschildert. Naumann war es aber schwer verständlich, daß angesichts der Lage, in der sich Europa befand, der politische Diskurs so aufreizend sein konnte. Die Presse goß Öl ins Feuer. Die militärischen Zeitungen beiderseits des Rheins überboten sich gegenseitig in „immer neuen Bosheiten". Vieles, was in Deutschland „nur mit halbem Auge" gelesen wurde, wurde von französischen Zeitungen abgedruckt und übertrieben. Die Ursache dieser Situation erkannte Naumann in der Tatsache, daß die Völker wenig voneinander wußten und daher im Mißtrauen und in der Angst lebten. In dem Fall galt es nach seiner Ansicht, die Franzosen aufzuklären und sie zu überzeugen, daß die Deutschen den Krieg nicht wollten. „Könnte man der Menge des französischen Volkes auf irgendeine Weise die Gesinnung der Menge des deutschen Volkes zeigen, so würde alles viel einfacher aussehen!", erklärte er. „Aber zwischen Völker schiebt sich die Agitation der nationalistischen Parteien und das Aufregungsbedürfnis der militaristischen Zeitungen. Nicht etwa so, als ob ohne diese Zwischenglieder alles von selber harmonisch sich entwickeln würde, aber die Nervosität könnte um vieles gemindert werden." 6 1 59

Stimmungen an der Westgrenze, in: Die Hilfe, Nr. 9, 2 7 . 2 . 1 9 1 3 , S. 130f.

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Naumann der starke Vaterland Hilfe, Nr.

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Naumann erklärte auch die Resonanz, die die chauvinistische und militaristische Presse in Frankreich fand, mit der Tatsache, daß den Franzosen die Erinnerung an

schrieb: „Trotz aller Zeitungs- und Parteikämpfe wird sicher im Lande Soldatendienst für nötig gehalten, denn der Gedanke, daß man für das alles nur Mögliche tun müsse, ist Gemeingut.". Aus Frankreich, in: Die 18, 3 0 . 4 . 1 9 1 4 , S. 2 8 2 f .

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich."

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Etwas mußte getan werden, um diese Nervosität zu vermindern und somit die Kriegsgefahr abzuwenden. Diese Erkenntnis bewog deutsche und französische Abgeordneten, die der Interparlamentarischen Union angehörten, diese wichtige Frage gemeinsam zu beraten. Zu diesem Zweck waren sie schon 1913 in Bern zusammengetreten. Zu Pfingsten 1914 fand in Basel ein zweiter deutsch-französischer Abgeordnetentag statt, an dem sich Naumann beteiligte. Hier wurde beschlossen, einen gegenseitigen Besuch zu veranstalten, „um den Friedenswillen der gewaltigen Volksmehrheit in beiden Ländern ins volle Licht zu rücken"62. Naumann war aus mehreren Gründen nach Basel gegangen. Er wollte die friedliche Politik des deutschen Auswärtigen Amtes, das „zu allen Zeiten den Frieden mit Frankreich gesucht" hatte63. Er verurteilte die Äußerungen von „unverantwortlichen" Generälen und von Zeitungen, die mehr oder weniger mit Krupp verwandt zu sein schienen; diese Äußerungen wurden in Frankreich auf Rechnung der offiziellen deutschen Politik gesetzt. Das Zeugnis deutscher Abgeordneter sollte verhindern, daß in Zukunft deutsche Zeitungen und Kriegsredner den fran-

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63

1870/71 lebendig blieb und daß die „Vergeltungsidee" nicht einschlafen wollte. Die klerikalen Parteien arbeiten mit dieser Vergeltungsidee, fügte er hinzu. Die katholische Kirche unterhält den „romantisch-militärischen Geist"; überall mehren sich die Standbilder der Jungfrau von Orleans, die bald in Rom heiliggesprochen werden soll. Naumann sah darin „eine päpstliche Segnung der nationalistischen Bewegung in der französischen Politik. Ebenda. In der Friedens-Warte hieß es: „Am 30. Mai 1914 traten zu Basel [...] die vereinigten Friedensausschüsse der Parlamente von Paris und Berlin zusammen, um das Werk weiterzuführen, das an Pfingsten 1913 in Bern begonnen wurde. Daß die Franzosen für den Gedanken der deutsch-französischen Annäherung eine erhebliche Kammermehrheit haben, war längst bekannt und wurde durch die Wahlen bekräftigt. Neu und bedeutsam ist aber, daß die Deutschen dieses Jahr als die Vertreter einer starken Reichstagsmajorität sprechen durften. [...] Das deutschfranzösische Komitee ist entschlossen, seine Anstrengungen zu verdoppeln, um den Friedenswillen der gewaltigen Volksmehrheit in beiden Ländern ins volle Licht zu rücken." L. Fr.: Der deutsch-französische Abgeordnetentag in Basel, in: Die Friedens-Warte, Juni 1914, S. 205f. Naumann bedauerte, daß in Deutschland die außenpolitischen Fragen ausschließlich das Gebiet der Regierung und der Geheimdiplomatie blieben und daß der Reichstag als Vertretung des Volkes vor Entscheidungen, die sich als lebenswichtig erweisen konnten, nicht zu Rate gezogen wurde. Dieser Mißstand lag an der Beschaffenheit der konstitutionellen Monarchie. „Die französischen Abgeordneten sind ein Stück der Regierung, wir Deutschen sind nur ein Stück der öffentlichen Meinung", erklärte Naumann. „Auch wenn die Mehrheit von uns für ein deutsch-französisches Abkommen stimmt, so haben wir kein Mittel in der Hand, den Reichskanzler oder das Auswärtige Amt zu nötigen, unseren Mehrheitsbeschluß zu beachten." Deutsch-französische Annäherung, in: Die Hilfe, Nr. 24, 11.6.1914, S. 378f.

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zösischen Kriegspolitikern immer wieder die Gelegenheit boten, zu behaupten, das deutsche Volk plane einen Angriff auf Frankreich. Naumann wollte die französische Linke unterstützen. Die Parteien des Friedens hatten gerade in Frankreich einen schönen Wahlsieg errungen, sie blieben aber den Verdächtigungen der Rechten ausgesetzt. Der Plan der Abgeordneten der Parlamentarischen Union, Friedenskundgebungen in beiden Ländern zu veranstalten, mußte tatkräftig gefördert werden. Wenn eines Tages fünfzig oder hundert deutsche Abgeordnete als verfassungsmäßiger Ausdruck der öffentlichen Meinung nach Frankreich gingen, um dort zu sagen, daß sie die Eintracht wünschen, wenn die französischen Parlamentarier das gleiche erklärten, dann müßte das eine Wirkung haben64. Es war aber schon zu spät. Der Krieg brach Ende Juli 1914 aus. Am 31. wurde Jean Jaures, mit dem sich Naumann in Basel befreundet hatte, ermordet. An den Führer der französischen Sozialdemokratie, der das französisch-russische Bündnis bekämpft und sich für eine deutschfranzösische Aussöhnung eingesetzt hatte, hatte er große Erwartungen geknüpft65. In einem Artikel der Hilfe hieß es Anfang August: „Ein wild gewordener Anhänger der dreijährigen Kriegszeit hat den besten Freund Deutschlands in Frankreich niedergestreckt. Wenn jetzt nicht alle Welt mit dem Krieg beschäftigt wäre, so würden auch die Nichtsozialisten Deutschlands den Charakter und die einzigartige Größe dieses Mannes besser würdigen, als es leider im großen Getöse der Mobilmachung geschehen kann. [...] Mit wem sollen jetzt die Deutschen Frieden machen, wenn es einmal soweit ist? Trotz des Krieges legen wir im Geist einen Kranz auf das Grab gerade dieses Franzosen."66

64

Naumann begrüßte die Tätigkeit der Interparlamentarischen Union, weil er dachte, daß sie mehr erreichen konnte als die „zünftlerischen Geheimkrämer" der auswärtigen Politik. Die bisherige Geheimdiplomatie hatte sich als unfähig erwiesen, in der deutsch-französischen Frage einen Fortschritt zu erreichen. Überhaupt erschien, daß die Fragen, die die Völker trennten, sich nicht mehr bloß als „Korrespondenz zwischen zwei Amtsstellen" behandelt werden konnten. Die Völker wollten selber miteinander reden. Neben der unpersönlichen Presse hatten sie kein anderes Mittel dazu als die Stimme ihrer Vertreter. Auf ihnen beruhte die Hoffnung, daß einmal eine Wende in den internationalen Beziehungen eintrat

65

Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 1 9 4 9 , S. 3 0 4 .

66

Jean Jaures f , in: Die Hilfe, N r . 3 2 , 6 . 8 . 1 9 1 4 , S. 5 1 0 . Naumann würdigte das Wirken Jean Jaures', in dem er „den Märtyrer seiner deutsch-französischen Friedensliebe" sah. Deutschland und Frankreich. Von Friedrich Naumann, Mitglied des Reichstages. (= Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften. Hrsg. von Ernst Jäckh; 2. Heft.) Stuttgart/Berlin 1 9 1 4 , 2 7 Seiten; hier S. 12ff.

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich."

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Frankreichs Irrtümer oder die verpaßte Chance Der Krieg war für viele Nachdenkende die Gelegenheit, die Bilanz aus den vergangenen Jahrzehnten zu ziehen und schon in die Zukunft zu blicken. Für Naumann lagen die Ursachen des bewaffneten Konflikts auf der Hand. „Der Krieg mit Frankreich ist die Folge des Friedens von 1871, bei dem sich Frankreich nicht beruhigte", erklärte er. „Der Krieg mit Rußland ist die Folge des Schutzvertrages mit Österreich vom Jahre 1879. Der Krieg mit England ist die Folge der Kolonial- und Flottenpolitik von 1884 und 1890." 6 7 Naumann gehörte zu denjenigen, die sehr früh erkannten, daß die bisherige „verwickelte Menschenwelt" in Ordnung gebracht werden mußte. Im „Großbetriebszeitalter" beobachtete er eine Tendenz zum „Verbandsanschluß" und zur „Gegenseitigkeitsversicherung". Weltpolitik bedeutete nun seiner Auffassung nach Einordnung in die entstehende Internationalität. Das deutsche Volk wollte in diesem Vorgang nicht beiseite geschoben werden, es wollte die Menschheitsorganisation „nicht dem Syndikat der älteren Kolonisatoren" überlassen, es wollte nicht zwischen Romanen und Slaven isoliert und zerdrückt werden. Darum mußte es sich wehren und seine Söhne in die Schlacht senden. In diesem Sinne trieb Deutschland nachbismarcksche Politik auf bismarckscher Grundlage68. Die Nachfolger des Reichsgründers haben seine Friedenspolitik fortgesetzt, weil sie den Krieg nicht wollen konnten, erklärte Naumann weiter. Der Franzose „hat nicht gemerkt, daß Deutschland inzwischen ganz andere Weltwirtschaftsaufgaben und Machtkämpfe vor sich liegen hatte, so daß wir am allerliebsten jeden Tag mit Frankreich Frieden gemacht hätten, um sonst freie Hände in der Welt zu haben." 69 Seit Beginn des Krieges benutzten die Westmächte alle Mittel der Propaganda, um die deutschen Soldaten und die deutsche Bevölkerung systematisch zu demoralisieren. Mit zwei Schriften beteiligte sich Naumann an der Abwehr dieses Angriffs, der nicht unterschätzt werden durfte. Mit der Veröffentlichung der Aufsätze Im Lande der Gotik in Form einer Broschüre, die er an die deutschen Frontsoldaten in Nordfrankreich richtete, wollte Naumann zeigen, daß die Deutschen sich nicht als „kunstfremd und barbarisch" herabwürdigen lassen durften. „Von beiden Völkern sterben dort [in Nordfrankreich] tapfere, hoff-

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68 69

Bismarck und unsere Weltpolitik, in: Die Hilfe, Nr. 53, 1914; Werke, 4. Bd., 449ff. Ebenda. Der Krieg, in: Die Hilfe, Nr. 32, 6.8.1914, S. 51 lf.; Werke, 5. Bd., S. 5 2 5 - 5 2 9 .

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nungsvolle junge Männer", schrieb er im Vorwort, „und die Geschosse sausen über Dörfer und Städte und können es nicht immer vermeiden, die Kunstdenkmäler der Vergangenheit zu verwunden. So wie in ganz Westdeutschland die alten schönen Bauten Spuren früherer französischer Kriege tragen, wie Heidelberg als Ruine liegt, so und nicht anders werden auch von diesem Kriege baugeschichtliche Verluste bleiben sowohl in Reims wie anderswo."70 Eine andere Broschüre, betitelt Deutschland und Frankreich, erschien in der Reihe „Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften", die von Ernst Jäckh in Stuttgart und Berlin herausgegeben wurde71. Die Propaganda der Westmächte schob Deutschland die Schuld am Krieg zu und betonte, daß seine Truppen in ihrem Vormarsch die belgische Neutralität gebrochen hatten. Für Naumann handelte es sich bei diesem bewaffneten Konflikt ohne Zweifel um einen Verteidigungskrieg, in dem die Deutschen um ihre Selbsterhaltung kämpften. Er wies auf die Irrtümer Frankreichs hin, das die von Deutschland gewünschte Aussöhnung verhindert und somit eine Chance verpaßt hatte, zusammen mit ihm eine andere europäische Ordnung zu errichten. Von der Idee der „Revanche" besessen, wollten die Franzosen „an die Weltgeschichte noch einmal appellieren". Sie waren mit Rußland, in dem sie „den Rächer" sahen, ein Bündnis eingegangen und hatten ihm Milliarden geborgt. Nun wußte aber niemand, wieviel diese Milliarden noch wert waren, und große Schuldner sind immer mächtiger als große Gläubiger, bemerkte Naumann, dem die Franzosen als „Opfer der moscowitischen Politik" erschienen. Ein Irrtum war auch der Bund, den sie trotz alter und neuer Gegensätze mit den Engländern geschlossen hatten, um den Sieg über Deutschland zu sichern. Mit der Schrift Deutschland und Frankreich beteiligte sich auch Naumann an der Debatte über die Kriegsziele. Bei Beginn des Krieges, nach den schnellen Siegen der deutschen Truppen, wollte er an die Möglichkeit eines Sonderfriedens mit Frankreich glauben. Die Voraussetzung war, daß angesichts ihrer schwierigen militärischen Lage die Franzosen es als ihr Interesse erkannten, auf ihre „verhängnisvolle Bündnispolitik zu verzichten. Sie sollten sich aber vor dieser „Schicksalsfrage" schnell entscheiden, das heißt solange ein Separatfriede auch für Deutschland einen Wert hatte und bevor eine eine völlige Niederlage sie ihre Irrtümer einsehen ließ72.

70

An den Leser! Schöneberg bei Berlin, Februar 1 9 1 5 , in: Im Lande der Gotik, S. 3 ff.

71

Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 1 9 4 9 , S. 3 6 3 .

72

Zur Frage der „Revanche" schrieb Naumann: „Um dieses eines Zwecks willen taten sie alles, gössen ihre Geschütze, führten die dreijährige Dienstzeit ein, exer-

„Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich."

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Dieser Hoffnung gab sich Naumann auf dem Höhepunkt der Friedenserwartung hin. Die unversöhnliche Haltung Frankreichs und das Festlaufen des deutschen Angriffs zeigten, wie unrealistisch sie war. Das Deutsche Reich blieb also dem Druck der Flügelmächte Rußland und England ausgesetzt. Die Entwicklung des Krieges verstärkte bei ihm das Bewußtsein, daß diese Situation nun einmal überwunden werden mußte. In dieser Stimmungslage reiften Naumanns Überlegungen über „Mitteleuropa", die schon lange vor dem Krieg begonnen hatten73. Die Deutschen sollten die organisierende Kraft eines mitteleuropäischen Raums sein, in dem sie ihre Lebensinteressen wahren könnten. Dies war die Grundidee, die nicht nur von Naumann verfochten wurde und die bekanntlich in der Öffentlichkeit wie in den Regierungskreisen eine große Resonanz fand. Im August 1914 hatte er unter dem Eindruck der Kriegserklärung geschrieben: „Deutschland und Österreich-Ungarn haben sich gegenseitig nötig auf Tod und Leben." 74 In seiner Schrift Mitteleuropa, die 1915 erschien, ging es weitgehend darum, eine Lösung zu finden, um die Gefahr des angelsächsischen Imperialismus und der russischen panslawistischen Machtpolitik in Südosteuropa zu beseitigen. Mochte Frankreich in seiner unversöhnlichen Haltung verharren, Naumann glaubte noch an die Möglichkeit einer Aussöhnung, nun aber unter anderen Bedingungen. In Mitteleuropa schrieb er nämlich: „Als der Krieg begann, haben viele von uns, auch ich, gedacht, es könnte noch eine Verständigung mit Frankreich eintreten, denn auf deutscher und auf österreichischer und auf ungarischer Seite besteht keine Feindschaft gegen Frankreich. Sobald die Franzosen es wollen, können wir ihnen die Hand reichen." Jeder weitere Kriegsmonat hatte aber die gegenseitige Annäherung erschwert. Naumann bedauerte, daß die Franzosen ihr Schicksal an Englands Seite gewählt hatten und nun von diesem benutzt wurden. Ließ er deswegen die Franzosen in seinen mitteleuropäischen Überlegungen aus dem Spiel, so wollte er doch noch hoffen, daß sie sich in ferner Zukunft einmal zu Mitteleuropa rechnen würden." 75 zierten in den Vogesen, lernten Deutsch. Kaum je hat ein großes Volk so sehr einen politischen Lebenszweck gehabt. Und wir waren es, gegen die sich diese ganze Energie vergeblich sammelte." Deutschland und Frankreich ... 1 9 1 4 , S. 9. 73

Siehe besonders Deutschland und Österreich, in: Werke, 4. Bd., S. 4 0 1 - 4 4 1 .

74

Der Krieg, in: Die Hilfe, N r . 3 2 , 6 . 8 . 1 9 1 4 , S. 51 lf.

75

Mitteleuropa, in: Werke, 4. Bd., S. 4 9 0 . Naumanns Sorge um die deutsche Zukunft beruhte weitgehend auf der Feststellung, daß das Deutsche Reich für sich gegenüber Rußland zu klein sei. Deshalb schrieb er noch: „Das Bündnis mit Frankreich würde, wie schon gesagt, für uns und die Franzosen sehr nützlich sein, aber welche französische Regierung kann es jetzt noch schließen?" Ebenda, S. 506f.

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Die Abgeordneten der Reichstagsfraktion der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei zeigten sich zwar gespalten in der Erörterung der Kriegsziele, aber die Mehrheit forderte keine Annexion, aber dafür in der Zeit des siegreichen Vormarsches der deutschen Truppen eine Entschädigung. Der Württemberger Conrad Haußmann, der zu Pfingsten 1914 in Basel war, und Naumann betätigten sich maßgebend an den Aktionen, die einen Verständigungsfrieden herbeiführen würden 76 . Im Namen der großen Masse der Bevölkerung bezeichnete Naumann im Frühjahr 1918 ein Hinausziehen des Krieges bis 1919 als „etwas kaum Erträgliches". Die deutsche Offensive konnte nach seiner Ansicht nur durchgeführt werden, wenn das Volk darin „einen wirklich unentrinnbaren Verteidigungsakt gegen den Eroberungswillen der Feinde" erkannte 77 . Unter den Fortschrittlern zählte Naumann zu denjenigen, die sich gegen Annexionen und sehr früh für einen Verständigungsfrieden aussprachen 78 . Seine Stellungnahmen diktierten ihm vor allem das, was er als das Wohl und das Interesse der Deutschen erkannte. Sich auf die Erfahrung der Geschichte stützend, beschäftigte er sich mit der Frage des bestmöglichen Friedens. Ende 1915 schrieb er, es gebe eine „Kunst, den Frieden zu schließen". Auch unter günstigen Verhältnissen kann ein Friede nicht unbedingt vollkommen sein, erklärte er. Den Frieden muß man möglichst dann machen, wenn man noch gut bei Kraft und Atem ist, aber selbst dann ist es nicht möglich, alle „Weltgeschichtswünsche" auf einmal durchzudrücken. In allen Fällen ist die Voraussetzung, daß die Gegner zu derselben Erkenntnis kommen: der Friede ist ein Willensakt von beiden Seiten79. Betrachtete er die Stimmungslage in Frankreich, so kam Naumann zu dem Schluß, daß die Franzosen den Frieden eben nicht wollten. Vielen 76

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78

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Hermann Ostfeld: Die Haltung der Reichstagsfraktion der Fortschrittlichen Volkspartei zu den Annexions- und Friedensfragen in den Jahren 1914-1918. (Dissertation.) Kallmünz 1934, S. 11, 38. Ebenda, S. 53. Nach L. Schwertfeger: Die politischen und militärischen Verantwortungen im Verlaufe der Offensive von 1918. Ebenda, S. 57. In der Zusammenfassung seiner Dissertation schreibt Hermann Ostfeld: „Es ist festzustellen, daß bei Meinungsverschiedenheiten über Annexionsund Friedensfragen in der Reichstagsfraktion der Fortschrittlichen Volkspartei die Trennungslinien nicht so liefen, wie früher die Grenzen der drei Fusionsparteien waren. So entstammten z.B die Abgeordneten Dove, Gothein, Naumann und Waldstein, die während des Krieges zu den entschiedenen Gegnern jeglicher Annexionen gehört hatten, der am meisten militärfreundlichen der drei Fusionsparteien, der Freisinnigen Vereinigung. Die Kunst, Frieden zu schließen, in: Die Hilfe, Nr. 48, 2.12.1915, S. 772ff.

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Deutschen scheint es sehr einfach zu sein, die Franzosen für einen verständigen Frieden willig zu machen, schrieb er Anfang 1917. Die französische Nation hat bei weiterer Dauer des Krieges doch nichts mehr zu gewinnen, sie gerät immer nur tiefer in englische Abhängigkeit. Für viele Deutsche ist es eine schmerzliche Überraschung: die leitenden Kreise in Frankreich sind noch immer „kriegseifrig und hoffnungstrunken" und wollen nicht aufhören, „an den Tag der Rache und des Triumphes zu glauben" 80 . Kennzeichnend für den Geisteszustand der nationalistischen und revanchelustigen Kreise in Frankreich fand er das Buch des kürzlich verstorbenen Sekretärs der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft A. Delaire: Am Tage nach dem Siege oder das neue europäische Gleichgewicht, das Maurice Barres 1916 mit einem Vorwort herausgegeben hatte 81 . Dieses Buch verbreitete die Idee der deutschen Schuld, es schilderte das Deutsche Reich als einen Machtapparat ohne Moral, der nur herrschen wollte. A. Delaire erklärte, Frankreich sei entschlossen, nicht zu gehorchen und den deutschen Imperialismus unschädlich zu machen. Dazu müsse das Deutsche Reich und ganz Mitteleuropa zergliedert und unter Kontrolle gestellt werden. Naumann bemerkte, daß es auch in Deutschland eine solche Literatur gebe, die über fremde Gebiete verfügen zu können glaubte, daß die Denkweise aber hier vom gesunden praktischen Geist der Volksmehrheit innerhalb gewisser Grenzen der Spekulation gehalten werde. In Frankreich hatte die Kriegsnot und die Erregung einen seelischen Zustand geschaffen, den Naumann um so mehr bedauerte, als er in ihm einen der Hauptursachen der Verlängerung des Krieges sah. „Der Haß gegen die Deutschen ist in Frankreich zur phantastischen Religion geworden", schrieb er Anfang 1917. „Was sollen wir tun? Ruhig und fest weiterkämpfen, immer durch Tatsachen reden, dabei aber uns hüten, irgendwie in dieselbe Krankheit zu verfallen." 82 Naumann rechnete mit der Kriegsmüdigkeit und der Vernunft. Wie er aber selber betonte, war dieser Krieg nicht nur ein materieller Krieg, er war auch ein „Kampf von Ansprüchen, Ideen und Träumereien" geworden. „Der jetzige Zustand der besterzogenen Weltvölker ist eine Unvernunft", bedauerte er im Mai 1918. „Dies bedarf keines besonderen Beweises." Er sah den Ertrag von Jahrhunderten aufs Spiel gesetzt. „Ganz Europa ist krank, von Rußland bis nach England, ein großes Lazarett voll von Wunden, Seufzern und schlaflosen Nächten", fügte er 80 81

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Französische Trugbilder, in: Die Hilfe, Nr. 1, 4.1.1917, S. 4f. Au lendemain de la victoire ou le nouvel equilibre europeen. Paris 1916, 370 Seiten. Französische Trugbilder, in: Die Hilfe, Nr. 1, 4.1.1917, S. 4f.

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hinzu. „Einen solchen europäischen Zustand zu dulden, wenn man ihn vermeiden kann, ist das Gegenteil der Weisheit, die dem Menschen vom Schöpfer verliehen wurde." 8 3 Naumann sah den Weg aus diesem Krieg heraus weder in den militaristischen noch in den pazifistischen Theorien; die Vernunft lag seiner Ansicht nach „im Gefühle der durchschnittlichen Menge aller kämpfenden Völker, die tapfer kämpfen, solange es nötig ist, sich dann aber eines Tages gegen die nutzlose Verlängerung [des Krieges] sträuben". Dies war auch der Sinn der Friedensresolution, die dem Reichstag vorgelegt worden war, und der Friedensangebote, die die deutsche Regierung trotz der deutschen Siege im Westen gemacht hatte. Dies war „praktische Vernunft"; diese nützte aber nichts, wenn die anderen Völker sich nicht zu ihr wendeten.

Die Deutschen als Ferment einer neuen Weltordnung Schon zu Beginn des Krieges hatte Naumann behauptet, der Krieg würde eine neue europäische Ordnung herbeiführen, die die „Nationalitätsfragen des 19. Jahrhunderts" überwinden müßte 84 . In seiner Reichstagsrede vom 2 5 . Juni 1 9 1 8 „über die Kriegslage und den Weg zum Frieden", in der er sich für eine baldige Beendigung des Krieges aussprach, erklärte er in der Perspektive der Nachkriegszeit, die Zukunft Europas hänge davon ab, zu welchem Zeitpunkt es Schluß mit dem Krieg machen würde. Naumann appellierte an das Verantwortungsbewußtsein der Regierenden. „Was nützt es der Menschheit des Erdteils, wenn wir uns in Europa gegenseitig aufzehren?", sagte er. „Das ist das Erzittern unseres lieben, alten Erdteils. Aus dem Erdteil der alten Kultur steigt jetzt etwas wie ein hunderttausendfältiges Bitten an die Staatslenker auf: ihr sollt kämpfen, solange ihr kämpfen müßt, aber ihr sollt nicht glauben, daß mit den militärischen Mitteln allein alles gemacht werden kann! Neben das militärische Mittel, das in seiner gewaltigen Wucht wirkt, gehört der Geist, der Gedanke, das Gewissen der Völker, der Wille und Verstand, der in die Zukunft hineinblickt." 85 Trotz der Haltung von Clemenceau und Lloyd George wollte Naumann Anfang September 1918 noch an die Möglichkeit eines Ver83

Der Tag der Vernunft, in: Die Hilfe, Nr. 18, 2 . 5 . 1 9 1 8 , S. 2 0 0 f .

84

Bismarck und unsere Weltpolitik, in: Die Hilfe, Nr. 5 3 , 1 9 1 4 ; Werke, 4 . Bd., S. 4 4 9 - 4 5 3 .

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Reichstagsrede über die Kriegslage und den Weg zum Frieden vom 2 5 . Juni 1 9 1 8 . Stenographische Berichte des Reichstags, XIII. Legislatur-Periode, 2. Session, Band 3 1 3 , S. 5 6 4 2 Β bis 5 6 4 8 A; Die Hilfe, Nr. 2 7 , 4 . 7 . 1 9 1 8 , S. 315ff.; Werke, 5. Bd., S. 6 0 9 - 6 2 5 , hier S. 6 2 5 .

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ständigungsfriedens glauben. Seiner Überzeugung nach war die große Mehrheit des deutschen Volkes bereit, einen solchen Frieden anzunehmen. Das „allgemeine staatliche Pflichtgefühl" durfte aber nicht erlöschen, denn, sollte die Nation unter die Grenze des Selbsterhaltungswillens heruntersinken, dann würde keine genügende Verhandlungsmacht mehr da sein zum Verhandeln. Um die Voraussetzungen für einen Verständigungsfrieden zu schaffen, erklärte Naumann, müssen wir die materielle und geistige Waffenrüstung tapfer sowie das Vertrauen zur Heeresleitung erhalten, dabei können wir der Welt sagen, daß wir ehrlich friedensbereit sind. Nur so wird Unterwerfung abgewehrt und Verständigung erreicht 86 . Seine Überlegungen über einen Verständigungsfrieden führten Naumann zu einer Kritik der politischen Zustände in den demokratischen westlichen Ländern. Anfang Mai 1918 hatte er die Friedensangebote der deutschen Regierung als den Ausdruck des Willens des Volkes interpretiert und gesagt: „Das Volk, von dessen Knechtsseligkeit die Welt da draußen redet, ist in großen Dingen freier als alle anderen." 8 7 Im September bemängelte er den Kriegswillen der Regierungen der Westmächte, der dem Friedenswillen der Völker nicht entsprach und die größte Weltgefahr bedeutete 88 . Er gab zu, daß es auch in Deutschland dieselbe Sorte von Unversöhnlichen gab, bemerkte aber, daß hier der Fanatismus nicht an entscheidender Stelle waltete. Nach vier Kriegsjahren predigte Naumann unter anderen Umständen wieder für eine Form des Internationalismus, die er nach seiner Rückkehr von Basel als notwendig hingestellt hatte. Die internationalen Beziehungen werden zu sehr von den Kabinetten bestimmt, erklärte er jetzt, sie leiden darunter, daß die Völker nicht miteinander sprechen können. Die „Lüge" und den „Fanatismus" wird man nur überwinden können, indem man trotz aller Grenzmauern und Hindernisse mit den feindlichen Völkern ins Gespräch zu kommen versucht 89 . Die schweren Bedingungen, die die Sieger in Rethondes diktierten, wirkten in Deutschland wie ein Trauma. Nach dem 11. November 1918 86

Wie kommt man zum Frieden?, in: Die Hilfe, N r . 3 6 , 5 . 9 . 1 9 1 8 , S. 423ff.; Werke, 5. Bd., S. 6 3 0 - 6 3 4 .

87

Der T a g der Vernunft, in: Die Hilfe, Nr. 18, 2 . 5 . 1 9 1 8 , S. 2 0 0 f .

88

„In den Westmächten wird die Massenstimmung nicht von den Regierungen verwirklicht", schrieb er. „Auch in sehr demokratischen Ländern gestaltet sich das Regieren im Krieg sehr undemokratisch, und die Menge ist abhängig von dem, was sie durch die Zeitungen erfahren darf. W a s weiß die Mehrzahl der Franzosen vom wahren Geiste des deutschen Volkes?" Wie kommt man zum Frieden?, in: Die Hilfe, Nr. 3 6 , 5 . 9 . 1 9 1 8 , S. 423ff.; Werke, 5. Bd., S. 6 3 3 .

89

Ebenda.

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beschäftigte Naumann, der seine Hoffnung auf einen Verständigungsfrieden begraben mußte, eine einzige Frage: die Erhaltung der Einheit des Reiches. Er warnte vor der Politik der Sieger. „Es werden sehr starke Versuche gemacht, einen neuen Rheinbund zu gründen; man wird die Süddeutschen mit Versprechungen und Erleichterungen zu ködern suchen", schrieb er nach dem Waffenstillstand. "Was er besonders befürchtete, war die Besetzung des linksrheinischen Gebiets durch die Franzosen. Angesichts der Gefahren, die daraus resultieren konnten, betonte er die Notwendigkeit, die Zustände in der Reichshauptstadt in Ordnung zu bringen. Unter dem Eindruck von anhaltenden Wirren konnte die Bevölkerung gewisser Teile des Reiches geneigt sein, ihre eigene Selbsterhaltung zu sichern und sich vor den Folgen einer Niederlage zu retten, die vielfach als „preußische Schuld" bezeichnet wurde 90 . Zeigte sich Naumann um die Einheit des Reiches besorgt, so war es nicht zuletzt wegen der sicherheitspolitischen Ziele der französischen Nationalisten, die ihre Landsleute in der Idee bestärkten, Deutschland müsse geschwächt und zergliedert werden. Naumann, der den „Anschluß der österreichischen Deutschen" befürwortete, protestierte auch dagegen, daß die Sieger den Deutschen untersagen wollten, „sich untereinander zu vereinigen". „Es ist leider ein offenes Geheimnis, daß Frankreich unsere endgültige Zerstörung will", schrieb er Ende November 1918. „Mögen sozialistische und pazifistische Kreise anders denken, so ist das offizielle Frankreich, das militärische und zivile, brutal und unversöhnlich bis zum äußersten." Weil er von der Befürchtung, ein „Rheinbund" könne entstehen, geradezu besessen war, empfahl Naumann einen „schnellen Frieden". „Er mag kosten, was er will", meinte er, „er ist immer besser als der Verlust der nationalen Einheit" 91 . Vor dem Krieg hatte Naumann mit den süddeutschen Linksliberalen die Überzeugung geteilt, daß eine deutsch-französische Aussöhnung zur Entspannung, also zu einer neuen Ordnung in Europa beitragen würde. Er hatte aber immer den Streit als „Naturzustand des Menschen" betrachtet. 1904 hatte er in den Süddeutschen Monatsheften zu dem großen Projekt der Pazifisten Stellung genommen, die eine Menschheitsorganisation zur Vermeidung der Kriege, d.h. zur schiedsrichterlichen Regelung der internationalen Streitigkeiten schaffen wollten 92 . Er dachte damals, daß ein solcher Gedanke jede verständige Überlegung übersteige. Für ihn war Friede eine Machtfrage: Europa hatte Ruhe „nicht

91

Die deutsche Einheit, in: Die Hilfe, Nr. 4 8 , 1 9 1 8 ; Werke, 5. Bd., S. 6 4 5 - 6 4 8 . Der Haltung der Franzosen stellte er die der Deutschen nach dem Frieden von Brest-Litowsk gegenüber Rußland und Ukraine gegenüber. Ebenda.

92

Was ist Friede?, in: Süddeutsche Monatshefte, Nr. 6, 1 9 0 4 (1. Jg.).

90

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trotz der Kanonen, sondern durch die Kanonen". Naumann faßte die Geschichte des Friedens wie die „Geschichte der Konzentration der Souveränitäten" auf. Er vertrat die Ansicht, Friede sei die „Verallgemeinerung des einheitlichen Zwanges über die Erdoberfläche". In diesem politischen Großbetrieb, in der Bildung „großer Syndikate der Großstaaten", durfte Deutschland nicht untergehen. Kurz vor seinem Tod, im Sommer 1919, stellte Naumann fest, daß seine „pessimistische" Gesamtauffassung der Friedensfrage doch recht behalten hatte 93 . Protestierte er gegen den „Pariser Gewaltfrieden", so führte ihn sein Realismus und seine Ehrlichkeit dazu, am eigenen Vaterland Kritik zu üben. „Ob es so kommen mußte, weiß ich nicht", schrieb er, „oft aber denke ich, daß es anders hätte gehen können, wenn die Deutschen sich der [...] Gefahren mehr bewußt gewesen wären und darum vorsichtiger gehandelt hätten." 1919 erkannte er die Unentrinnbarkeit einer Weltorganisation. Deutschland erschien ihm als das Musterbeispiel der Erdrückung, die die „Syndikatsbildung der Großmächte", die er 1904 geschildert hatte, mit sich bringen mußte. Er fügte hinzu: „Wir sind unter die Räder gekommen, während wir bei anderer Leitung und bei anderer historischer Gesinnung mit zu den Organisatoren der neuen Weltform gehören konnten!" Selbstkritisch gab Naumann auch zu, daß er früher die staatsrechtliche und militärische Seite der Friedensfrage einseitig betrachtet habe. Aus dieser Erfahrung zog er den Schluß, daß er jetzt den moralischen Einfluß pazifistischer Gesinnungsbewegungen, von dem er wenig erwartet hatte, stärker in Rechnung stellen würde. Er wollte hoffen, daß sich in den Wörtern Völkerbund und Weltfriede „etwas wie Menschheitspatriotismus" abzeichnete 94 . Von einer Weltorganisation, die so schnell fortzuschreiten schien, erwartete er, daß sie den Gesinnungen, die sie voraussetzte, gegenüber „brutalen Siegern" zum Durchbruch verhalf. Naumann nahm die vom Gewaltfrieden geschaffenen Tatsachen als geschichtliche Notwendigkeit hin. Davon ausgehend, wies er der deutschen Außenpolitik der Zukunft eine neue Aufgabe zu. Die Deutschen konnten nicht hoffen, wieder Weltmacht im alten Sinne zu werden. Was sie aber als erstes der „unterworfenen Völker" in der „imperialistischen Weltorganisation" mit allen Kräften erstreben muß-

93

Er bemerkte, daß bei diesem Frieden noch einmal „die wirklichen Friedenshersteller interessierte und rücksichtslose Rechner" gewesen seien. W a s ist Friede ?, in: Die Hilfe, Nr. 2 7 , 1 9 1 9 ; Werke, 5. Bd., S. 6 4 8 - 6 5 3 .

94

Dem Willen des amerikanischen Präsidenten Wilson entsprechend wurde die Völkerbundssatzung als Teil I allen Pariser Friedensverträgen von 1 9 1 9 vorangestellt.

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ten, war Gleichberechtigung und Mitwirkung im kommenden Völkerbund. Dieser würde, wie sich schon herausstellte, als Syndikat der Großmächte fungieren. Es galt gegen diesen Tatbestand zu protestieren, den Grundsätzen, die die Grundlage des Friedens sein sollten, Geltung zu verschaffen und gleiches Recht für alle zu fordern. Angesichts ihrer Zahl und ihrer Arbeit würden die Deutschen langsam unentbehrlich werden; selbst wenn sie vorläufig außerhalb standen, würde man eines Tages zwangsweise ihre Mitwirkung brauchen. Wollten die „proletarisierten" Deutschen ihre Zukunft sichern, und dies war vielleicht immer Naumanns größte Sorge gewesen, so mußten sie Kämpfer für den Menschheitsgedanken werden und dazu beitragen, die Menschheit von unten her zu organisieren 95 .

95

Was ist Friede?, in: Die Hilfe, Nr. 2 7 , 1919; Werke, 5. Bd., S. 6 4 8 - 6 5 3 .

Friedrich Naumanns „Mitteleuropa" Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen JÜRGEN FRÖLICH

An der Wende vom dritten zum vierten Kriegsjahr eröffnete das 15. Heft der Reihe „Perthes' Schriften zum Weltkrieg" mit folgender Feststellung: „Mitteleuropa ist in unseren Tagen zu einem verheißungsvollen Schlagwort geworden, das weit über den Kreis der politisch Denkenden hinaus eine eigentümliche Anziehungskraft ausübt." Der Autor, der damals in Heidelberg lehrende Historiker Hermann Oncken, war sich auch im Klaren, wem diese Zugkraft von „Mitteleuropa" zu verdanken war: „Seine warmherzige und bewegliche Geistigkeit war wie geschaffen, für den elementaren Drang des Völkerempfindens einen wahlverwandten Ausdruck zu finden." 1 Gemeint war damit Friedrich Naumann, dessen Buch mit dem lakonischen Titel „Mitteleuropa" kurz zuvor, im Oktober 1915, bei Georg Reimer in Berlin - heute Teil des Walter de Gruyter-Verlags - erschienen war.

I. Ein umstrittenes W e r k Die Mitteleuropa-Schrift war zweifellos Friedrich Naumanns größter publizistischer Erfolg, zugleich stellte sie ebenso unbezweifelbar sein umstrittenstes Werk dar, wie sich an den Urteilen dazu unmittelbar bei Erscheinen oder aus späterer Zeit absehen läßt. So bekannte der österreichische Historiker Richard Charmatz, das Buch „in athemloser Spannung" gelesen zu haben, und sein Kollege Heinrich Friedjung beglückwünschte Naumann dazu, „daß Sie der Nation die reifste Frucht des Weltkriegs geschenkt haben". 2 Etwas zurückhaltender fiel die Reaktion des großen Gelehrten Adolf von Harnack aus; immerhin

1

Hermann Oncken: Das alte und das neue Mitteleuropa. Historisch-politische Betrachtungen über deutsche Bündnispolitik im Zeitalter Bismarcks und im Zeitalter des Weltkrieges, Gotha 1 9 1 7 , S. I X u. 9 6 .

2

Bundesarchiv Berlin Ν 3 0 0 1 , Nachlaß Fr. Naumann Nr. 8 3 , Bl. 15 u. 2 2 .

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konzedierte er in einem Schreiben an Naumann: „jedenfalls ist Ihr Buch eine energische politische Leistung auf einer konkreten Linie". 3 Der bereits zitierte Hermann Oncken bewunderte zwar den „Schwung" der Schrift, bemängelte aber, daß dieser „nicht durchweg ein volles Gegengewicht in seiner politischen Klarheit" fand. 4 Der ebenfalls berühmte Lujo von Brentano befand zumindest im Rückblick, Mitteleuropa sei ein „glänzende(s), aber unsinnige(s) Buch", es habe „uns unendlich geschadet". 5 Dieses Urteil stammt schon aus dem Beginn der 30er Jahre, also aus der Rückschau nach dem verlorenen Weltkrieg. Zu Beginn des nächsten, noch erfolgreich scheinenden Krieges kam dann Wilhelm Mommsen, der Naumann zumindest zeitweise politisch durchaus verbunden gewesen war, wie er auch in diesem Artikel bekannte, zu der heute vermutlich überraschenden Auffassung: Unter Naumanns „größeren Büchern ist dies Mitteleuropabuch das bekannteste, aber in der Gesamthaltung am wenigsten tiefe gewesen". Mommsen vermißte darin vor allem die Berücksichtigung des „völkischen" Standpunktes; möglicherweise deshalb erschien ihm ,Mitteleuropa' als „vielleicht das liberalste seiner Bücher". 6 Während also in der Zwischenkriegszeit die zunächst zum Teil euphorische Hochschätzung von Naumanns „Mitteleuropa" abnahm, spaltete sich das Urteil nach dem Zweiten Weltkrieg vollends auf. Numerisch sind dabei wohl diejenigen Betrachter in der Minderheit gewesen, die das Buch - wie Paul Kluke - für die „wichtigste politische Broschüre aus deutscher Feder während des Weltkrieges" gehalten oder - wie Barthold C. Witte - es zumindest als „heute noch lesenswert" empfohlen haben. 7 Überwiegend ist das Buch nach 1945 eher negativ beurteilt worden, wobei vor allem politische Gründe im Vordergrund standen und man sich dabei schon auf das Verdikt von Arthur Rosenberg aus dem Jahre 1 9 3 0 berufen konnte, für den das Buch der „objektiv ... größte Annexionsplan, der in Deutschland während des Krieges entstanden ist", war. 8 Dem sind dann viele 3

Ebd. Nr. 3 8 , Harnack an Naumann, 2 6 . 1 0 . 1 5 .

4

Oncken (wie Anm. 1), S. 9 6 .

5

L. Brentano: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1 9 3 1 , S. 3 2 5 .

6

W . Mommsen: Z u r Biographie Friedrich Naumanns. In: H Z 1 6 1 ( 1 9 4 0 ) , S. 5 4 4 .

7

P. Kluke: Deutschland und seine Mitteleuropapolitik. In: Bohemia 6 ( 1 9 6 5 ) , S. 3 8 1 ; B.C. Witte: Nachdenken über Mitteleuropa. In: liberal 3 4 ( 1 9 9 2 ) , Η . 1, S. 11.

*

Zitiert nach Z . Jindra: Der Plan der deutschen Hegemonie in Mitteleuropa, in: Ders./J. Krizek: Beiträge zur neuesten Geschichte der mitteleuropäischen Völker. Prag 1 9 6 0 , S. 5 0 .

Friedrich Naumanns „Mitteleuropa"

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Kritiker Naumanns und der deutschen Politik von vor 1918 gefolgt, für die das Mitteleuropa-Buch entweder ein „typisches Produkt des verschleierten Annexionismus" oder eine politische Konkretisierung des „ethischen Imperialismus" war. 9 Da half auch kaum das Verdikt von Naumanns bekanntestem politischem Schüler gegen die „anspruchlosen Literaten, die Quellen nicht lesen, sondern zeitpolemische Kommentare abschreiben" und deshalb Mitteleuropa fälschlicherweise zur „Fibel eines deutschen Imperialismus" machten. 10 Im Gegenteil, mit der weltpolitischen Wende von 1989/90 wuchs wieder die Zahl derjenigen, die vor Naumanns „Mitteleuropa" als „praktischer imperialistischer Politik-Konstruktion" warnten und dabei noch jüngst auch einen so erfahrenen Politiker wie Eberhard Busek in gewisser Weise ansteckten. 11 Die hier zitierten Stimmen sind natürlich nicht alle typisch für die seriöse historische Forschung und geben auch nicht alle Nuancen der inzwischen unübersehbaren Literatur zum Thema „Mitteleuropa" wieder, soweit sie sich auf Naumann bezieht. Sie zeigen aber deutlich, daß das Mitteleuropa-Buch bis in die jüngste Vergangenheit, möglicherweise auch gerade wieder in unseren Tagen ein Stein des Anstosses ist, obwohl der bereits zitierte Wilhelm Mommsen schon 1 9 4 0 feststellen wollte, daß selbst unter seinen Geschichtsstudenten kaum jemand noch etwas mit dem Namen Naumann anfangen konnte. 12 Diese gegensätzliche Wahrnehmung deutet auch auf Konjunkturen hin, die Naumanns Werke zu unterschiedlichen Zeiten durchlaufen haben. All dies ist genügend Anlaß, einige Fakten über „Mitteleuropa" erneut ins Gedächtnis zu rufen und damit endlich zu einer „Historisierung" der Debatte über Naumanns „Mitteleuropa" beizutragen. Dabei sollen die folgenden Punkte berührt werden: Zunächst soll etwas zu den Umständen der Entstehung gesagt, dann kurz der Inhalt skizziert sowie auf die Debatte beim Erscheinen und die weitere Entwicklung von Naumanns Mitteleuropa-Konzept im Laufe des Ersten Weltkrieges eingegangen werden. Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung sollen schließlich eine Einordnung aus heutiger Sicht versucht und nebenbei auch mögliche Perspektiven für die Forschung

9

J . Zindra, ebenda S. 7 2 u. R. Opitz, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals, Köln 1 9 7 7 , S. 3 2 .

10

Th. Heuss: Friedrich Naumanns Erbe. Tübingen 1 9 5 9 , S. 4 0 .

"

M . Bennhold: Mitteleuropa - eine deutsche Politiktradition, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 7 ( 1 9 9 2 ) , S. 9 8 3 ; vgl. E. Busek: Mitteleuropa. Eine Spurensicherung, Wien 1 9 9 7 , S. 8 u. 1 6 9 . Mommsen (wie Anm. 6), S. 5 3 9 .

12

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aufgezeigt werden, für die eine Edition des Naumann-Nachlasses sehr hilfreich sein könnte.

II. Zur Entstehung von „Mitteleuropa" „Mitteleuropa ist Kriegsfrucht", hat Friedrich Naumann selbst am Ende seines Buches lakonisch bemerkt. 13 Das ist insofern zunächst völlig zutreffend, als das Buch während des ersten Kriegsjahres entstanden ist, genauer gesagt, zwischen Mai und August 1 9 1 5 in der produktiven Abgeschiedenheit Potsdams niedergeschrieben wurde, wie Theodor Heuss berichtet. 14 Die weitaus wichtigere Frage ist aber, ob „Mitteleuropa" eine Wende in Naumanns politischem Denken bedeutete, die - das wäre dann unschwer zu folgern - durch den Ausbruch des großen Krieges ausgelöst wurde, oder ob sich damit eine langfristig angelegte Konzeption verband bzw. sich „Mitteleuropa" nahtlos in Naumanns bisherige außenpolitische Vorstellungen einfügte. Etliche Autoren haben Naumanns zitierte Aussage für falsch gehalten und ihm gewissermaßen das Legen falscher Fährten unterstellt. Diesem Interpretationsansatz zufolge war „Mitteleuropa" eben nicht „Kriegsfrucht", sondern nur „ein getarnter Ausdruck der grundlegendsten Tendenz des deutschen Imperialismus zur Expansion, zur Abgrenzung der Einfluß-Sphären, der Absatzgebiete und Rohstoffquellen in allernächster europäischer Nähe Deutschlands." 15 Für diese Interpreten war „Mitteleuropa" eindeutig Teil und Konsequenz des deutschen Imperialismus vor 1914. Dieser, vor allem von orthodox-marxistischen Autoren vertretenen Auffassung ist insofern Beachtung zu schenken, als sie auch Eingang in die „seriöse" westliche Forschung gefunden hat. Fritz Fischer etwa hat ihr in seinem berühmtem Buch „Griff nach der Weltmacht" offensichtlich auch zugeneigt, indem er nämlich die deutschen Kriegsziele - und dazu gehört „Mitteleuropa" für ihn auch - nicht als Reaktion auf den Kriegsausbruch, sondern als Ergebnis der deutschen Politik seit 1904 verstand. 16 13

Fr. Naumann: Mitteleuropa. In: ders.: Werke Bd. 4 , Köln/Opladen 1 9 6 4 (im folgenden zitiert als Naumann, Werke 4), S. 7 6 7 ; vgl. auch ebenda S. 4 9 2 : „Der Krieg wurde zum Schöpfer einer mitteleuropäischen Seele, . . . " .

14

Th. Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann - das Werk - die Zeit, 2. Aufl. Stuttgart/Tübingen 1 9 4 9 , S. 3 3 5 .

15

Z . Jindra (wie Anm. 8), S. 8 9 ; vgl. R. Opitz: Vorwort (wie Anm. 9), S. 2 8 , 3 1 u. M . Bennhold (wie Anm. 11), S. 9 7 8 .

16

Fr. Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland, 3. Aufl., Düsseldorf 1 9 6 4 , S. 14.

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Träfe dies auch auf Naumann zu, setzte es voraus, daß entweder der Begriff „Mitteleuropa" oder zumindest in seinem MitteleuropaBuch verkündete Gedanken schon vor 1914 irgendwo in seiner Publizistik oder sonstwo aufgetaucht sein müßten. Dafür gibt es aber bisher keinen Beleg: „Mitteleuropa" als Begriff wird nach meiner Kenntnis erstmals an hervorgehobener Stelle von ihm im November 1914 verwendet, nämlich in dem Hilfe-Aufsatz „Mitteleuropäische Zukunftsgedanken". 17 Das schließt natürlich nicht aus, daß es in Naumanns Oeuvre bereits eine frühere Verwendung gegeben hat; sie dürfte aber keineswegs von herausragender Bedeutung gewesen sein. Naturgemäß schwerer läßt sich der Nachweis über konkrete Teile der Mitteleuropa-Konzeption führen. Allerdings ist es schon auffällig, daß sich Naumann in der „Hilfe" oder separat nur zwei Mal vor Kriegsausbruch mit der Donaumonarchie, dem neben Deutschland wichtigsten Teil von" Mitteleuropa", ausführlich beschäftigt hat, beidesmal bezeichnenderweise unter dem Stichwort „Deutschland und Österreich", nämlich im Jahre 1900 nach seiner ersten großen Österreich-Reise mit einer Broschüre und dann nochmals 1905 in der „Hilfe". 18 Der zweite, eher kurze Artikel berichtet über die inneren Spannungen in der Donaumonarchie zwischen Deutsch-Österreichern und Ungarn. Naumann warnt vor einer aktiven Teilnahme am Desintegrationsprozeß des Habsburgerstaates, weil nach dessen Auflösung dort „drüben an der Donau alles in eine unheimlich verworrene Nacht" versinken würde, und schließt mit dem Appell an die Reichsdeutschen, „in ihrer wohlwollenden und brüderlichen Neutralität gegenüber dem schwer ringenden Nachbarstaat" zu bleiben. Eine Linie zum späteren Mitteleuropa-Buch läßt sich von hier nur sehr schwer ziehen. Dagegen taucht der Gedanke einer Zollunion zwischen den beiden zentraleuropäischen Kaiserreichen in der erwähnten Broschüre bereits auf, ebenso der Gedanke, daß der „Nationalitätenhader" von den „Alpen bis zu den kurdischen Bergen" wohl nur durch eine mehr oder deutliche Hegemonie einer oder mehrerer Großmächte eingedämmt werden könnte. 19 Dies sind aber nicht die zentralen Gedanken. Denn Naumann ging es hier vor allem darum zu erklären, warum trotz all 17

18

19

Naumann: Werke 4, S. 442-446; auch A. Milatz: Friedrich-Naumann-Bibliographie, Düsseldorf 1957, S. 147 führt keinen früheren einschlägigen Titel auf. Vgl. aber das Zitat aus der Patria von 1 9 1 0 bei H. C. Meyer: Mitteleuropa in German Thought and Action 1 8 1 5 - 1 9 4 5 , Den Haag 1955, S. 92 Vgl. Fr. Naumann: Deutschland und Österreich, in: ders.: Werke 4, S. 4 0 2 - 4 4 1 , u. ders.: Deutschland und Österreich, in: Die Hilfe 26 v. 2 . 7 . 1 9 0 5 Naumann: Werke 4, S. 4 1 3 , 4 1 7 (Zitat).

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ihrer inneren und äußeren Schwächen die k.u.k. Monarchie überhaupt noch existierte. Der Grund lag für ihn in dem europäischen Mächteparallelogramm, insbesondere dem deutsch-russischen Gegensatz, der derzeit aber nur latent ausgetragen würde, obwohl die Beteiligten in Petersburg und Berlin wüssten, „daß in der Weltgeschichte noch ein todesblutiger Streit zwischen Germanentum und Slawentum ausgefochten werden wird". 2 0 Dies war, nebenbei bemerkt, eine Einschätzung, die Naumann später rigoros zurückweisen sollte. Zu diesem Zeitpunkt ging er noch von einer mittelfristigen Fortexistenz des südöstlichen Nachbarstaates aus, der nach seiner Auffassung nur innerhalb eines „europäische(n) Weltkrieg(es) mit allen seinen Unberechenbarkeiten" zerfallen würde. 21 Natürlich setzte Naumann damals schon eine besondere Verantwortung und ein besonderes Interesse der Reichsdeutschen für die Doppelmonarchie voraus; dies war zu diesem Zeitpunkt für ihn aber vor allem vom gemeinsamen Deutschtum und vom Mächtegleichgewicht in der östlichen Hälfte unseres Kontinents geprägt. Ein besonders inniges Verhältnis zwischen dem Reich und Österreich-Ungarn zeichnete sich bei dieser Gelegenheit aber noch keineswegs als Mittelpunkt seiner außenpolitischen Konzeption ab. Im Gegenteil, gerade der konfessionelle Gegensatz ließ Naumann im Hinblick auf die deutsche Innenpolitik eher vor einem allzu engen Verhältnis zurückschrecken. Wie man sieht, gab es also in dieser Schrift aus der Jahrhundertwende gewisse Ansätze, die später auch in das Mitteleuropa-Buch eingeflossen sind. Aber daß sich schon jetzt eine zentrale Bedeutung derartiger Überlegungen für Naumanns außenpolitische Auffassungen andeutete, läßt sich nicht ersehen. Da stand mit Sicherheit die Wilhelminische Weltpolitik weitaus mehr im Zentrum, noch seine letzte Reichstagsrede im Frieden hielt Naumann bekanntermaßen zur Kolonialpolitik. Damit scheint Naumanns eigene Aussage von der mitteleuropäischen „Kriegsfrucht" doch zutreffend zu sein, die große Mehrheit der Interpreten und Autoren ist ihm dabei auch gefolgt. 22

20

Ebenda, S. 4 0 6

21

Ebenda, S. 4 4 0

22

Vgl. Th. Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14), S. 333ff, M . Enste: Das Mitteleuropabild Friedrich Naumanns und seine Vorgeschichte, Marburg 1 9 4 1 , S. 16 u. 3 4 , W . Schieder, Einleitung, in: Naumann, Werke 4 , S. 3 8 I f f , P. Kluke (wie Anm. 7), S. 3 7 6 f , Chr. Weimer: „Mitteleuropa" als politisches Ordnungskonzept? Darstellung und Analyse der historischen Ideen und Pläne sowie der aktuellen Diskussionsmodelle. Diss. (MS) Würzburg 1 9 9 2 , S. 8 3 , Chr. Weseloh: Friedrich Naumann und die Mitteleuropa-Idee. Magister-Arbeit (MS), Würz-

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III. Naumanns Mitteleuropa-Konzeption Wir können also davon ausgehen, daß die Erfahrungen der ersten Kriegsmonate, das Wirksamwerden des Zweibundes, der Zweifrontenkrieg, die englische Seeblockade und der weitgehende Verlust der deutschen Kolonien, den Anstoß dazu gaben, daß Naumann sich außenpolitisch umorientierte und seinen Blick auf Mitteleuropa richtete. Hinzu kamen seine Vermutungen hinsichtlich des weiteren Ablaufs und des Ausgangs dieses Krieges. Schon früh ist er offensichtlich davon ausgegangen, daß er nicht mit einem deutschen Sieg, sondern wahrscheinlich „remis" enden würde. 23 Jedenfalls setzte im Winter 1914/15 eine ausführliche publizistische Beschäftigung mit der neuen Lage und den daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen ein, bei dem sich immer mehr als Ausweg für Naumann „ein Rückzug auf die kontinentale Stellung" herauskristallisierte, 24 die sich auf einen engeren Bund mit Österreich-Ungarn stützen sollte, dessen Details insbesondere bei der politischen Abstimmung aber ihm selbst noch nicht recht klar waren: „Wir wünschen, daß eine Lösung gefunden wird, aber bis zur Stunden kennen wir sie nicht." 2 5 Naumanns Publizistik dieser Zeit zeigt deutlich, wie er sich allmählich an eine neue Konzeption herantastete, die der Situation für das Deutsche Reich, wie er sie empfand, Rechnung trug und zugleich eine Perspektive öffnete. Die Frage, woher Naumann die Anregungen dazu bekommen hatte, ist schon mehrfach behandelt worden und kann hier weitgehend übersprungen werden. 26 Allerdings sollte dabei nicht nur auf die großen bekannten Mitteleuropa-Pläne von Friedrich List, Konstantin Frantz und Paul de Lagarde geblickt werden, sondern insbesondere auch ein Vergleich zwischen Naumanns MitteleuropaBuch und den frühen in Deutschland und Österreich kursierenden bürg 1 9 9 5 , S. 6 0 , J . LeRider: Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes, Wien 1 9 9 4 , S. 1 2 3 , M . Rauchensteiner: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, 2 . Aufl., Graz/Wien/Köln 1 9 9 4 , S. 3 1 1 , vgl. auch P. Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im wilhelminischen Deutschland ( 1 8 6 0 - 1 9 1 9 ) , Baden-Baden 1 9 8 3 , S. 2 3 9 f u. 2 4 3 . 23

Th. Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14), S. 3 3 4 über ein Gespräch vom Januar 1 9 1 5 .

24

Ebenda.

25

Naumann: Werke 4, S. 4 4 6 .

26

Vgl. dazu allgemein H . C. Meyer (wie Anm. 17), J. LeRider (wie Anm. 2 2 ) , P. Stirk, The Idea of Mitteleuropa, in: ders. (Hrsg.): Mitteleuropa. History and Prospect, Edinburgh 1 9 9 4 , S. 1 - 3 5 , u. P. Theiner (wie Anm. 2 2 ) , S. 2 3 9 f sowie speziell M . Enste (wie Anm. 2 2 ) .

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Denkschriften von Walther Rathenau oder Heinrich Friedjung und anderen gezogen werden. Diese waren Naumann zumindest zum Teil bekannt. 27 Dann wird man vielleicht auch die Frage beantworten können, inwieweit Naumann gerade mit den österreichischen Anhängern von „Mitteleuropa" eine konzertierte Aktion versucht hat, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Letzteres ist ihm, sofern es in seiner Absicht lag, mit seinem Mitteleuropa-Buch mit Sicherheit gelungen. Denn von all den anderen Denkschriften zum gleichen Thema unterschied es sich durch seinen enormen publizistischen Erfolg. Man hat deshalb die Meinung vertreten, daß von einer öffentlichen Mitteleuropa-Diskussion zumindest in Deutschland erst nach dem Erscheinen von Naumanns Buch die Rede sein kann. 28 Aber ehe auf die Resonanz eingegangen wird, soll kurz der Inhalt von „Mitteleuropa" bzw. die diesbezügliche politisch-stategische Konzeption skizziert werden. „Das, wovon ich reden will, ist das Zusammenwachsen derjenigen Staaten, die weder zum englischen-französischen Westbunde gehören noch zum russischen Reiche, vor allem aber ist es der Zusammenschluß des Deutschen Reiches mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, denn alle weiteren Pläne über mitteleuropäische Völkerverbindungen hängen davon ab, ob es gelingt, zuerst die zwei Zentralstaaten selber zusammenzufassen." 29 Mit diesen Worten hat Naumann selbst sein Anliegen umschrieben. Hierin werden schon Naumanns - wenn man so will - geostrategische Voraussetzungen deutlich, nämlich seine Überzeugung, daß die Mitte Europas in einem langfristigen Gegensatz zum Westteil und zum Osten des Kontinents stand und daß die Mitte auf Dauer einem doppelten Druck ausgesetzt sein würde, dem sie nur durch einen engeren Zusammenschluß begegnen könne. Die Alternative dazu, also die Anlehnung an eine der beiden Seiten, hat Naumann in seinem Mitteleuropa-Buch auch erörtert, aber sogleich verworfen, vor allem weil Deutschland dabei jeweils der Juniorpartner sein und mittelfristig in politische Abhängigkeit geraten würde: „So etwas tut ein großes Volk nicht, das einen Aufstieg hinter sich hat wie das Deutsche Reich im letzten

27

Vgl. dazu P. Kluke (wie Anm. 7), S. 3 7 7 , P. R. Sweet: Germany, AustriaHungary and Mitteleuropa, August 1915-April 1 9 1 6 , in: Festschrift für Heinrich Benedikt, hrsg. v. H . Hantsch u. A. Novotny. Wien 1 9 5 7 , S. 184ff; M . Rauchensteiner (wie Anm. 2 2 ) , S. 3 1 3 sowie die editorische Vorbemerkung in: Naumann, Werke 4 , S. 4 8 5 .

28

P. R. Sweet (wie Anm. 2 7 ) , S. 1 9 1 , vgl. J. LeRider (wie Anm. 2 2 ) , S. 8f u. die einleitend zitierte Feststellung von H. Oncken (wie Anm. 1), S. 9 6 .

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Jahrhundert." 30 Stattdessen sah Naumann zwar die „Dreiteilung des Erdteils" als eine „unvermeidliche" an, vermeinte darin aber zugleich auch eine große Chance für die Deutschen zu erblicken, nämlich „selber Mittelpunkt zu werden". 31 Ihm ging es allerdings nicht nur darum, sich in dem abzeichnenden militärischen Patt einzurichten, da es auch nach einem eventuellen Kriegsende, besser ist wohl von einem vorläufigen Waffenstillstand zu sprechen, keine Rückkehr zu normalen Verhältnissen wie etwa vor 1914 geben würde; Naumanns Terminus für diese Art der internationalen Konstellation ist die „Politik des Schützengrabens". 32 Diese wohl kaum verlockende Perspektive eines latent zwischen kaltem und heißem Krieg schwankenden Zustandes lockerte sich für ihn dadurch auf, daß Deutschland das Zentrum einer vierten oder fünften „Weltwirtschaftsmacht", ein weiterer „Weltmittelpunkt" neben London, Moskau/Petersburg, New York und einem möglichen ostasiatischen Zentrum sein konnte. 33 Aber auch Naumanns Optimismus ließ ihn nicht übersehen, daß angesichts der Dimensionen, die die Konkurrenten hatten, das Deutsche Reich allein zu schwach war, um das dazu notwendige Gewicht zu entwickeln. Einen solchen „Weltmittelpunkt" konnte, wenn überhaupt, nur ein vereintes Mitteleuropa bilden. In seinem MitteleuropaBuch hat Naumann dann versucht darzulegen, wie eine solche Vereinigung des Gebietes, „das von der Nord- und Ostsee bis zu den Alpen, dem adriatischen Meere und dem Südrande der Donau reicht, ... was zwischen Weichsel und Vogesen liegt, was zwischen Galizien und Bodensee lagert", 34 aussehen könnte. Schon mit seinem ersten Mitteleuropa-Artikel hatte er die Richtung gewiesen, in der ein Zusammenschluß zunächst zwischen den beiden Kaiserreichen sich entwickeln könnte, und von drei Ebenen gesprochen: „Staatenbund, Wehrverband und Wirtschaftsverband". 35 Auffälligerweise ist bei dieser Aufzählung die Reihenfolge so, daß das größte Problem am Anfang und die für ihn einfachste Option am Ende steht. Denn eine Intensivierung der wirt-

29 30 31 32 33

34 35

Naumann: Werke 4, S. 489f Ebenda S. 674ff, Zitat S. 675 Ebenda S. 496f u. 676 Vgl. ebenda S. 4 6 8 - 4 7 2 , 495f Ebenda S. 6 7 7 u. 6 6 4 (Zitate); vgl. auch ebenda S. 475; ganz ähnlich H. Oncken (wie Anm. 1), S. 68f, 95 Ebenda S. 4 9 1 Ebenda S. 4 4 4 , in Anlehnung an A. Ritter (= K. von Winterstetten): Nordkap Badgad, das politische Programm des Krieges, Frankfurt/M. 1914, vgl. ebenda S. 4 4 2

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schaftlichen Beziehungen war für ihn am leichtesten zu realisieren, der Wehrverband schon „viel schwerer" und hinsichtlich des Staatenbundes fiel dann das bereits oben zitierte Bekenntnis zu der erwünschten, aber noch nicht sichtbaren Lösung. 36 Im Mitteleuropa-Buch selbst ist dann zwar die Reihenfolge in der Abhandlung genau umgekehrt, zuerst wird über die Wirtschaft, dann das Militär und schließlich über eine gemeinsame Außenpolitik gesprochen. Bezeichnenderweise werden aber die inneren Verfassungsfragen noch eher im Zusammenhang mit den Wirtschaftsfragen behandelt, Militär und Außenpolitik - unter den waltenden Umständen wohl kaum ganz nebensächliche Dinge - nur äußerst kurz am Ende. Den Hauptteil des Buch macht neben der historischen Herleitung die Behandlung wirtschaftlicher Aspekte des Zusammenschlusses aus, denen fast die Hälfte des Buches gewidmet wird. Erstes Ziel des Autors war dabei die „Herstellung eines gemeinsamen Wirtschaftsgeistes"; 37 dieser würde sich aber quasi schon von selbst einstellen, denn Deutschen, Österreichern und Ungarn wäre gemeinsam, daß sie aufgrund der alliierten Blockade „zusammen im Wirtschaftsgefängnis" säßen. 38 Doch Naumann begnügte sich nicht allein mit dieser durch die Umstände erzwungenen Gemeinsamkeit der mitteleuropäischen Völker, sondern suchte diese auch noch historisch zu fundieren. Daß er dabei auf das alte mittelalterliche Reich zurückgriff, war sicherlich naheliegend, aber auch wohl kaum historisch haltbar, etwa wenn die „deutschen Kaiser der früheren Zeit" zu „mitteleuropäischen Gestalten im vollen Sinne des Wortes" werden. 39 Problematischer noch für Naumanns eigentliches Anliegen war aber die Berufung auf Bismarck, den man seines Erachtens heute auch in Österreich als „Meister Mitteleuropas" ansehen würde. 40 Unabhängig davon, ob man Bismarck eine mitteleuropäische Perspektive unterstellen - Theodor Heuss hielt das offensichtlich für durchaus plausibel 41 - und den Zweibund von 36 37 38 39

40

41

Ebenda S. 4 4 5 f , vgl. oben S. 281. Ebenda S. 628. Ebenda S. 632. Ebenda S. 531; Naumann war sich seiner geschichtsklitterischen Argumentation offenkundig bewußt, vgl. P. Theiner (wie Anm. 22), S. 242. Fr. Naumann: Werke 4, S. 527; vgl. auch ders.: Bismarck und unsere Weltpolitik, in: ebenda S. 4 4 9 - 4 5 3 . Die Niederschrift des Mitteleuropa-Buches begann unmittelbar nach den Zentenarfeiern für den Reichsgründer. Th. Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14) , S. 338; auch H. Oncken (wie Anm. 1), S. 16ff, 38 hat ein ähnliches Bismarck-Bild gezeichnet, vgl. dagegen die Kritik bei H. C. Meyer (wie Anm. 17), S. 209.

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1879 zum Vorläufer von Mitteleuropa erklären konnte, die Berufung auf den Reichsgründer für eine neue Gemeinsamkeit zwischen den beiden Nachfolgestaaten des alten Reiches mußte an der Donau doch sehr merkwürdig klingen und dürfte vor allem auf die innerdeutsche Diskussion gezielt haben. Allerdings ist bisher über die Resonanz des historisches Teils im Mitteleuropa-Buch noch wenig bekannt. Die wirtschaftliche Notwendigkeit von Mitteleuropa war für Naumann sicherlich auch allemal wichtiger. Sie ergab sich schon allein aus der gegenwärtigen und zukünftigen internationalen Konstellation, wo er von einer Fortsetzung der Blockade ausging. Auch ließ er keinen Zweifel, daß die mitteleuropäische Wirtschaft auf mittlere Sicht eine gelenkte sein würde, bei der die Vorsorge „für künftige Kriegssorgen" ein wesentlicher Aspekt sein müßte. 42 Den ersten Schritt bei der Bildung einer mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft sollte eine Zollunion sein, die Analogie zur Gründung des Deutschen Reiches liegt auf der Hand und wurde von Naumann auch angesprochen. Doch damit allein wäre es nicht getan, das hatte bereits die Vorgeschichte der Reichsgründung gezeigt, als der Zollverein seine Mitglieder nicht vom Kriegführen untereinander hatte abhalten können. Deshalb müßten weitere Schritte schnell folgen, Naumann dachte hier an eine möglichst vereinheitlichte Wirtschaftsgesetzgebung, an ein gemeinsames Patentamt, an eine gemeinsame Kriegsschuldenkasse, an eine Zentralstelle für Vorratswirtschaft. Diese Wirtschaftsinstitutionen schließlich sollten in einer „mitteleuropäische(n) Zentralverwaltung" zusammengefaßt werden, deren Sitz geschickt über das Gemeinschaftsgebiet verteilt werden müßte und die keinesfalls nur in einer oder beiden Hauptstädten angesiedelt werden dürften. 43 Bei allem Optimismus, den das Buch ausstrahlt, wollte aber Naumann nicht die möglichen Widerstände und Probleme veschweigen. Obwohl er meinte, daß Mitteleuropa „kein Fürstengeschenk..., sondern ein Völkerwille" sein würde 44 , verkannte er doch nicht die mangelhafte demokratisch-parlamentarische Fundamentierung eines Zusammenschlusses, der von der Wirtschaft her seinen Anfang nehmen sollte. Dem suchte er mit der Schaffung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsausschusses sowie einem Aufruf zur Bildung mitteleuropäischer Standes- und Interessenvertretungen zu begegnen, was aber nicht 42 43

44

Fr. Naumann: Mitteleuropa, in: ders.: Werke 4, S. 638ff., Zitat S. 647. Ebenda S. 744, auf die auffallende Bedeutung Prags für Naumanns Konzeption hat Th. Heuss später hingewiesen, vgl. ders.: Die mitteleuropäische Problematik. In: Die Hilfe 5 vom 5.3.1938, S. 104f. Naumann: Werke 4, S. 732.

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verdeckt, daß er einem mitteleuropäischen Parlament, auch in Form eines Wirtschaftsparlaments, unter den waltenden Umständen eher skeptisch gegenüberstand. 45 Ein solches ließ sich für ihn wohl auch deshalb verschmerzen, weil „unter der Überschrift Mitteleuropa keine neuer Staat geschaffen, sondern ein Bund existierender Staaten geschlossen" würde. 46 Zentrale innenpolitische Fragen hinsichtlich der Kultur, Verwaltung oder Konfessionen sollten weiterhin souverän von den Einzelstaaten und -parlamenten entschieden werden, was sicherlich - diskussionstechnisch gesehen - kein schlechter Schachzug war. Wie bereits erwähnt, kam Naumann erst ganz zum Schluß auf andere als wirtschaftliche Aspekte des neuen Zusammenschlusses zu sprechen. Verglichen mit dem bisherigen waren seine Ausführungen zum gemeinsamen Heer und zur gemeinsamen Außenpolitik karg: Hier verwies er auf ein „mitteleuropäisches Heeresstatut", in dem die „allgemeinen Heeresverpflichtungen der verbündeten Staaten", aber auch ihre jeweiligen „Sonderrechte und Staatshoheiten" in Bezug auf Landheer und Kriegsflotte festgelegt werden sollten. Wie daraus der angestrebte „geschlossene Verteidigungskörper" hervorgehen sollte, wurde nicht detailliert erörtert, 47 vielleicht weil sich dieses Problem durch den Krieg von selbst, d. h. im Sinne einer Übernahme der preußischen-deutschen Heeresorganisation und Heerführung, lösen würde. Noch unklarer bleibt die Frage der einheitlichen Außenpolitik, so wünschenswert sie für Naumann war. Aber für ein gemeinsames Auswärtiges Amt sah er weder die Voraussetzungen noch die Notwendigkeit. Im Grunde lief es hierbei auf ein sich immer mehr verstärkendes Abstimmen zwischen Wilhelmstraße und Ballhausplatz heraus, das Naumann bereits im ersten Kriegsjahr ausgemacht haben wollte. 48 Damit stand Naumanns mitteleuropäisches Haus in seinen Grundzügen fest. Daß ein Flügel des Gebäudes, nämlich der „Wirtschaftstrakt" in seinen Grundrissen sehr viel klarer war, als die geplanten Anbauten „Militärzentrale" und „Außenamt" hat - soweit wir wissen - weder den Autor sonderlich gestört noch dem Erfolg des Buches Abbruch getan. Allerdings konnte und wollte Naumann nicht verhehlen, daß es bei der Errichtung des Baus erhebliche Probleme zu überwinden galt. Eines bestand in dem Verhältnis des zahlen- und ressourcenmäßig stärksten Volkes in Mitteleuropa zu seinen gewünschten Partnern. 45 46 47 48

Vgl. ebenda S. 753ff. Ebenda S. 735. Ebenda S. 760. Ebenda S. 763.

Friedrich N a u m a n n s „Mitteleuropa"

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Hier befand sich Naumann in einem offenkundigen Dilemma, denn einerseits mußte er ja dem deutschen Publikum seine MitteleuropaPläne schmackhaft machen, und das erwartete davon mehrheitlich so etwas wie die Fortsetzung der „Weltpolitik" mit anderen Mitteln. Genau dies würden aber die Befürchtungen sein, die die anderen Mitteleuropäer mit einem um Deutschland konzentrierten „Mitteleuropa" verbanden und die Naumann gleichzeitig zerstreuen wollte. Dies führt dann zu einer Argumentationslinie, die man durchaus als doppelbödig verstehen konnte und die wohl hauptsächlich der kontroversen Debatte um sein Buch Nahrung gab. Denn einerseits stellte er kategorisch fest: „Mitteleuropa wird im Kern deutsch sein, wird von selbst die deutsche Welt- und Vermittlungssprache gebrauchen," um dann andererseits im gleichen Atemzug fortzufahren: Es „muß aber vom ersten Tage an Nachgiebigkeit und Biegsamkeit gegenüber allen mitbeteiligten Nachbarsprachen zeigen, weil nur so die große Harmonie emporwachsen kann, die für einen allseitig umkämpften und umdrängten Großstaat nötig ist." 49 Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich dann Naumanns Konzept, zwischen einer Art informelle Hegemonie des Reiches bzw. des Deutschtums auf der einen und dem Versuch von Flexibilität und Integration gegenüber den übrigen Völkern auf der anderen Seite. Das beinhaltete die Absage an die „einfache Formel der Selbstregierung aller Stämme und Nationalitäten", weil damit „die verwickelte Menschenwelt nicht in Ordnung gebracht werden kann". 50 Den kleineren Staaten bliebe sowieso nur die Wahl zwischen „Isoliertheit oder Anschluß" an „eine der großen Weltfirmen". 51 Es waren wohl Passagen wie diese, die selbst einen so wohlwollenden Betrachter wie Lujo von Bretano im Hinblick auf das Mitteleuropa-Buch bemerken ließen, Naumann sei „sein Alldeutschtum niemals ganz losgeworden". 52 Urteile wie dieses haben aber geflissentlich übersehen, daß im Mitteleuropa-Buch auch von der „Loslösung vom Germanisierungszwang" und zuvor schon davon die Rede war, daß die Deutschen „nach dem Krieg genötigt , viel österreichischer über Nationalitäten zu denken als vorher". 53 Mitteleuropa sollte also auf dem natürlichen 49

50 51 52 53

Ebenda S. 595; vgl. auch das ähnlich gelagerte Plädoyer bei H. Oncken (wie Anm 1), S. 118. Fr. Naumann: Bismarck und unsere Weltpolitik, in: Werke 4, S. 453. Ebenda S. 678. L. Brentano (wie Anm. 5), S. 276. Naumann: Werke 4, S. 568 u. ders.: Zwischen National und International, in: ebenda S. 474.

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Übergewicht der Deutschen und nicht auf militärischem oder politischem Zwang aufgebaut werden: „Als internationale Macht reichen wir den kleineren mitteleuropäischen Nachbarvölkern die Hand und schlagen ihnen vor, den Gang in die Zukunft mit uns zu wagen und nicht mit den Engländern und nicht mit den Russen. Dabei müssen wir ihnen ehrliche Freunde werden wollen, weil sie sonst gar nicht bei uns bleiben können." 5 4 In diesem Zusammenhang sind dann auch die bereits erwähnte Abkehr Naumanns vom säkularen Gegensatz zwischen Germanen- und Slawentum sowie seine Befürwortung eines kulturellen Förderalismus zu sehen. Hinsichtlich der politischen Realisierung von „Mitteleuropa" tauchen im Laufe des Buches drei Probleme auf: a. wer diese vorantreiben soll, b. wie diese international durchgesetzt werden könnte und c. wer schließlich dazu gehören soll. Hinsichtlich des ersten Punktes wollte Naumann in Deutschland Reichskanzler und Reichstag in die Pflicht nehmen; er war auch optimistisch, daß dort jeweils ein politischer Wille für Mitteleuropa vorhanden wäre. 55 Problematischer erschien ihm die Situation mit Blick auf Österreich-Ungarn, weil es dort eben keine gemeinsame Reichsleitung gebe, die beiden führenden Völker selbst nicht miteinander im Reinen seien und dort insbesondere bei der nichtdeutschen Bevölkerung Widerstände zu erwarten seien." Aber mittelfristig, so war Naumann überzeugt, würde sich an der Donau die Vernunft durchsetzen. Widerstände sah er allerdings auch bei den Kriegsgegnern und bei neutralen Staaten voraus. Deshalb plädierte er dafür, daß die Weichen bereits vor einem allgemeinen Friedenskongreß gestellt würden, damit Mitteleuropa dort nicht mehr torpediert werden konnte. 57 Hier tat sich dann aber ein eklatanter Widerspruch auf: Während Naumann in seinem Bemühen, bald konkrete Schritte einzuleiten, sich weise darauf beschränkte, „die ersten Abmachungen nur zwischen Deutschland, Österreich und Ungarn sich auszudenken", 58 und vor uferlosen Grenzziehungsdebatten warnte, warf er nur knapp 2 0 Seiten später seine eigene Erkenntnis schlicht über den Haufen und skizzierte vorgeblich aus wirtschaftlichen Gründen eine mittelfristige Perspektive, die der Spekulation so oder so Nahrung geben mußte: „Das Weltwirt-

54

Ebenda S. 4 7 5 .

55

Ders., Werke 4 , S. 745ff.

56

Ebenda S. 747ff. u. 5 0 8 .

57

Ebenda S. 731ff. u. 7 6 5 .

58

Ebenda S. 7 3 2 .

Friedrich Naumanns „Mitteleuropa"

259

schaftsgebiet Mitteleuropa muß größer werden als der bisherige Staatsumfang von Deutschland, Österreich und Ungarn." 5 9 Problematisch war dies nicht nur, weil Naumann hier wohl bewußt nicht konkret wurde, sondern diese Perspektive indirekt von der weiteren militärischen Entwicklung abhängig machen wollte und dies dann auch in seinen nachfolgenden Publikationen getan hat. Damit waren dann natürlich sowohl annexionistische Bestrebungen als auch antihegemoniale bzw. antideutsche Stimmen zur Diskussion regelrecht herausgefordert. Naumanns Buch fand dann auch ein lebhaftes und - wie wir eingangs gesehen haben - keineswegs einhelliges Echo.

IV. Das Echo auf „Mitteleuropa" Das Buch wurde zu einem Renner und brachte für Naumann wie erwähnt den größten publizistischen Erfolg. Es erscheint zwar etwas zweifelhaft, ob tatsächlich innerhalb von sechs Monaten 1 0 0 . 0 0 0 Exemplare verkauft worden sind, wie Theodor Heuss angibt. 60 Aus der Korrepondenz mit dem Verleger ist aber ersichtlich, daß bis zum Jahresende 1915 vier Auflagen erschienen. Da Naumanns Werke in der Regel mit 10.000 Exemplaren aufgelegt wurden, war das schon eine sehr beachtliche Anzahl. Und das Interesse, nicht zuletzt durch Besprechungen in 65 Zeitungen geweckt, hielt an, so daß 1916 und 1 9 1 7 mehrere Neuauflagen, zum Teil als „Volksausgabe" und in erweiterter Form, auf den Markt geworfen wurden. Erst im Mai 1918 stellte de Gruyter die Werbung für das Buch ein, nachdem im ersten Quartal 1918 immerhin noch gut 1 2 0 0 Exemplare einen Abnehmer gefunden hatten. Wie kann man diese große Resonanz erklären, die laut Theodor Heuss im Kaiserreich bei den politischen Büchern nur von Bismarcks Erinnerungswerk übertroffen wurde? Dabei hat sicherlich die wogende Kriegszieldebatte in Deutschland und - in abgeschwächter Form in Österreich eine wichtige Rolle gespielt. Aber, wie schon Henry C. Meyer festgestellt hat, das Mitteleuropa-Thema war nur in Teilen eine Frage der anzuvisierenden Kriegsziele, andererseits griff es weit darüber hinaus. 61 Denn hier ging es subjektiv zumindest nicht nur um 59

Ebenda S. 7 5 2 .

60

Th. Heuss: Naumann (wie Anm. 1 4 ), S. 3 3 6 ; Naumann selbst (Werke 4, S. 8 3 7 ) bezieht diese Zahl auf den Mai 1 9 1 6 ; vgl. dazu insgesamt auch Nachlaß Naumann (wie Anm. 2) Nr. 2 7 .

61

H. C. Meyer (wie Anm. 17), S. 1 3 6 .

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Grenzveränderungen und das Gewinnen von strategischen Vorteilen, sondern auch um Ideale und um eine generelle Neuorientierung. Naumanns Erfolg mit „Mitteleuropa" beruhte nicht zuletzt auf dem optimistisch-idealistischen Grundzug, der seiner Konzeption innewohnte. Naumann wie auch andere Mitteleuropa-Propheten gaben damit der Frage nach dem Sinn der vielen und großen Opfer eine Antwort, die auch anspruchsvollere Geister befriedigen konnte. 62 Dies legt die sehr wohlwollende Aufnahme, die das Mitteleuropa-Buch gerade in den Kreisen der Gebildeten und der Intelligenz in Deutschland und Deutschösterreich fand, nahe. Naumanns nach außen unerschütterlicher Optimismus, aber auch sein Bemühen, auf die Frage nach dem Sinn dieses Krieges aus deutscher Sicht eine liberale Antwort geben zu wollen, riefen natürlich auch zahlreiche Gegner auf den Plan. Jedoch trug auch die Gegnerschaft zur Verbreitung des Buches bei, da beispielsweise in Böhmen das Werk als abschreckendes Beispiel für die deutsche Hegemonie und Hybris unter die Leute gebracht wurde. 63 Wie lassen sich nun Befürworter und Gegner von Naumanns Konzeption verorten? Obwohl dieser Frage bisher noch nie systematisch nachgegangen worden ist, gibt es doch klare Anhaltspunkte für die politischen Kampflinien. Ablehnung erfuhr Naumanns Mitteleuropa hauptsächlich von den politischen Extremen auf beiden Seiten. So warf ihm der österreichische Sozialdemokrat Rudolf Hilferding die „Schaffung eines Gebildes" vor, „in dem alle Nationen die politischen und wirtschaftlichen Hintersassen der Deutschen würden, das deutsche Volk aber selbst das Instrument einer Politik, die die herrschenden Klassen Deutschlands bestimmen würden." 64 Auf der anderen Seite polemisierte der Alldeutsche Georg v. Below gegen Naumanns Neigung, sich „mit nicht deutschen Elementen zu fraternisieren". 65 Diese Kritik war nun sicherlich nicht überraschend. Denn mit seinem Versuch, Verständigung mit den Nachbarn und handfeste Kriegsgewinne gegenüber den rivalisierende Großmächten miteinander in Einklang zu bringen, konnte es Naumann natürlich weder den Ver-

61

" 64

65

Vgl. ebenda u. Rauchensteiner (wie Anm. 22), S. 310. Rauchensteiner (wie Anm. 22), S. 328, H. C. Meyer (wie Anm. 17), S. 2 1 5 berichtet ähnliches für britische Kriegsgefangenenlager. Zitiert nach Z. Jindra (wie Anm. 8), S. 85; vgl. Heuss: Fr. Naumann (wie Anm. 14), S. 340. Zitiert nach P. Kluke (wie Anm. 7), S. 383; zur Rezeptionsgeschichte allgemein vgl. W. Schieder, in: Fr. Naumann, Werke 4, S. 389f u. H. C. Meyer (wie Anm. 17), S. 206ff.

Friedrich Naumanns „Mitteleuropa"

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fechtern eines Siegfriedens noch den Anhängern eines reinen Verständigungsfriedens recht machen. Allerdings war weder im sozialdemokratischen Lager noch bei den Nationalisten die Einstellung zu „Mitteleuropa" einhellig, fanden doch beide im Mitteleuropa-Buch Auffassungen, mit denen sie leben konnten, natürlich jeweils andere. Dieses, wenn man so will, „Konzept der Diagonale" hat den Erfolg des Buches sicherlich eher befördert als behindert. Jedoch war die Meinung unter denjenigen, die Naumann politisch näher standen, wiederum auch nicht einheitlich. Ablehnende Äußerungen von Gesinnungsfreunden wie Lujo v. Brentano sind schon zitiert worden. Dazu paßt auch die Auffassung von Friedrich v. Payer, dem Naumanns Vorstellungen „mannigfach über das Erstrebbare und Erreichbare hinaus" gingen, für ihn wie auch für Brentano hatte das Buch vor allem außenpolitisch sehr negative Wirkungen gehabt. 66 In eine ähnliche Kerbe wie diese, allerdings aus der Rückschau angebrachte Kritik hieben Stimmen aus dem hansestädtischen Großbürgertum, für die eine mitteleuropäische Ausrichtung per se wenig anziehendes hatte. 67 Gleiches gilt auch für einen Vertreter der rheinisch-westfälischen Industrie wie Hugo Stinnes, der einer Orientierung auf Österreich und Südosteuropa wenig abgewinnen konnte. Gerade im Hinblick auf eine von ihm gewollte zukünftige Rückkehr Deutschlands auf den Weltmarkt hielt Stinnes Naumanns „Mitteleuropa" für „nichts Anderes, als das Ergebnis unserer einfältigen Polit i k - nämlich die Einkreisung - zur Permanenz zu erklären", wo es doch galt, in einem Friedensschluß „den Ring zu sprengen". 68 Im bürgerlich-liberalen Lager gab es aber auch Stimmen, denen Naumanns Mitteleuropa als Kriegsergebnis zu bescheiden war. So stellte Ernst Jäckh im Sommer 1916 dem „kleineren Mitteleuropa im Sinne Friedrich Naumanns" ein „größeres Mitteleuropa" entgegegen, das auch Bulgarien und die Türkei einschließen sollte.69

66

67

68

69

Fr. v. Payer: Von Bethmann Hollweg bis Ebert. Erinnerungen und Bilder, Frankfurt/M 1924, S. 260f., L. Brentano (wie Anm. 5), S. 325. Vgl. C. Petersen an Naumann, 5.10.17, N1 Naumann (wie Anm. 2) Nr. 28, Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14), S. 3 4 0 u. W. Schieder, in: Naumann, Werke 4, S. 389, vgl. auch die Warnung von H. Oncken (wie Anm. 1), S. 101 davor, Mitteleuropa „in einen Gegensatz zu unseren weltwirtschaftlichen Gesamtinteressen zu bringen". Zitiert nach G. D. Feldman: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 18701924, München 1998, S. 462; vgl. auch ebenda S. 401f. Zitiert nach R. Opitz: Mitteleuropa-Strategien (wie Anm. 7), S. 367.

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War also im Reich die Aufnahme des Buches schon durchaus kontrovers, im Ganzen wohl aber eher wohlwollend, so stellte sich die Situation in der Donaumonarchie „widerspruchsvoll", wenn nicht „verwirrend" dar. 70 Am enthusiastischen war die Rezeption unter den Deutschösterreichern, es sei an die beiden oben zitierten Stellungnahmen von Heinrich Friedjung und Richard Charmatz erinnert; dies war angesichts der Konfliktlagen in der Donaumonarchie sehr verständlich. Gustav Stolper wurde dann auch zum engagiertesten Propagandisten von Naumanns Mitteleuropa-Idee. Stresemann, der alles andere als ein Anhänger der Mitteleuropa-Idee war, hat dann auch in seinem Nachruf auf Naumann gemeint: „So ist im Kriege wohl kein deutscher Politiker in Österreich gefeiert worden wie Naumann." 7 1 Aber auch unter dieser Gruppe fehlte es nicht an Skepsis, die Tagebücher Josef Redlich sprechen da eine deutliche Sprache 72 und Hugo von Hoffmansthal vermeinte nach anfänglicher Begeisterung in Mitteleuropa einen Anschlag auf die österreichische Identität zu erkennen. 73 Sehr viel negativer war naturgemäß die Aufnahme unter den Nichtdeutschen der Donaumonarchie, insbesondere und sicherlich zum Leidwesen von Naumann bei den Tschechen und den Ungarn. Aus dem tschechischen Exil in London meldete sich Thomas Masaryk mit einem Gegenentwurf „New Europe" zu Wort 7 4 , der dann die Diskussion unter den Alliierten stark beeinflußte. Am schlimmsten für Naumanns Absicht war aber der Widerstand gegen Mitteleuropa, der aus Budapest kam und der nicht nur intellektueller Natur war, so daß ein Kenner der Szene noch jüngst zu dem Schluß kam: „Mitteleuropa war über Ungarn gestolpert und schließlich gab es weder einen Ausgleich noch ein Mitteleuropa im deutschen oder österreichischen Sinne." 75 Sehr ernst genommen wurde das Mitteleuropa-Buch auch auf Seiten der Kriegsgegner im Westen, wo schon bald nach Erscheinen unautorisierte Übersetzungen herauskamen. Man führte dort sogar Konferenzen zum Thema durch und drohte mit

70

Th. Heuss: Erinnerungen 1 9 0 5 - 1 9 3 3 . 3. Aufl., Tübingen 1 9 6 3 , S. 2 2 4 .

71

G. Stresemann: Reden und Schriften. Bd. 1, Leipzig 1 9 2 6 , S. 2 4 8 .

72

Vgl. Fr. Fellner (Bearb.): Das politische Tagebuch Josef Redlichs. Bd. II: 1 9 1 5 1 9 1 9 , Graz/Köln 1 9 5 4 , S. 7 1 , 7 3 , 9 7 u. 1 0 7 sowie 2 5 8 u. K. Hansen: Albrecht Graf von Bernstorff. Diplomat und Bankier zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. u. a. 1 9 9 6 , S. 7 8 .

73

Vgl. LeRider (wie Anm. 2 2 ) , S. 56ff.

74

Vgl. P. Kluke (wie Anm. 7), S. 3 8 4 f u. Meyer (wie Anm. 17), S. 2 1 5 f .

75

M . Rauchensteiner (wie Anm. 2 2 ) , S. 3 1 6 , vgl. Th. Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14), S. 3 7 6 f .

Friedrich Naumanns „Mitteleuropa"

263

Sanktionen nach dem Kriegsende, falls in Mitteleuropa eine Schutzzoll-Zone entstehen sollte.76 V. Die Weiterentwicklung der Mitteleuropa-Diskussion Das spätere Scheitern war aber für Naumann im Sommer 1916 noch nicht abzusehen. Vielmehr erblickte er in der Kriegsentwicklung eher eine Unterstützung seines Konzeptes und machte sich daran, dieses dem neuen militärischen Geschehen anzupassen. Mitteleuropa bekam deshalb mehrfach einen neuen Zuschnitt, dessen Einzelheiten hier nicht alle dargelegt werden können. Es waren vor allem zwei Gebiete, die nun aufgrund des militärischen Erfolges der Mittelmächte an der östlichen Front in Naumanns Blick gerieten: Polen und Bulgarien. Naumanns Probleme wurden damit wahrlich nicht einfacher, denn es tauchten zwei weitere Juniorpartner auf, deren Beziehung zu Mitteleuropa alles andere als klar war. Insbesondere um die zukünftige Stellung des neuen oder wiedergeborenen Polen hat sich Naumann viele Gedanken gemacht, denn das war aus reichsdeutscher bzw. preußischer Sicht ein sehr heikles Problem. Naumann sah schließlich die Antwort in der sogenannten „austropolnische Lösung", also der Bildung eines polnischen Staates - natürlich ohne die preußisch-polnischen Gebiete - in Personalunion mit der Habsburger Monarchie. 77 Dies soll hier nicht vertieft werden, weil Naumanns Einstellung zur polnischen Frage wohl eine eigene Untersuchung wert wäre. Festzuhalten ist aber, daß Naumanns „Mitteleuropa" durch die Kriegslage beachtliche Weiterungen erfuhr und, nachdem die Landverbindung zur Türkei gewaltsam von den Mittelmächten geöffnet worden war, dann in den Zusammenhang der „Linie Hamburg-Suez, die wir uns von niemandem dürfen sperren lassen", gestellt wurde. 78 Diese geographische Ausweitung hat aber einerseits verdeckt, daß es Naumann auch in den späteren Kriegsjahren immer noch vor allem um das Verhältnis zwischen den beiden Kaiserreichen ging: „Die militärische, politische und wirtschaftliche Annäherung der beiden Reiche ist die

76

77

78

Vgl. dazu Fr. Fischer (wie Anm. 16), S. 320, H.C. Meyer (wie Anm. 17), S. 240ff. u. P. Kluke (wie Anm. 7), S. 384f. Fr. Naumann: Die österreichisch-polnische Lösung, in: ders.: Werke 4, S. 9629 6 7 u. Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14), S. 371 ff. Fr. Naumann: Bulgarien und Mitteleuropa, in: ders: Werke 4, S. 829; eine ähnliche Ausdehnung hatte übrigens zur selben Zeit Onckens „neues Mitteleuropa", vgl. H. Oncken (wie Anm. 1), S. 114ff.

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Grundlage der künftigen Sicherheit des Erdteils, ..." 7 9 Und sie hat andererseits die „imperialistische" Interpretation seiner Schrift unter den Zeitgenossen und in der Nachwelt noch verstärkt. Entgegen seiner publizierten Auffassung, die trotz allem verhalten optimistisch blieb, auch wenn ihm gerade die Entwicklung Polens ganz offenkundig Sorgen bereitete, waren ihm persönlich die Probleme bei der Realisierung der Konzeption natürlich nicht verborgen geblieben. Bei einer Sitzung des „Arbeitsausschusses für Mitteleuropa" gestand Naumann Anfang Oktober 1916 ein: „Das Allgemein-Interesse ist zwar gestiegen, aber damit auch die Kompliziertheit der Fragestellung und zum Teil auch die Heftigkeit des Widerstandes". 80 Dennoch warb er bis weit ins Jahr 1918 für seine Idee. Erst nach dem Zusammenbruch Österreichs bekannte er gegenüber seiner engen Mitarbeiterin Gertrud Bäumer: „Alles zerfließt mit einem Male: Türkei, Bulgarien, Mitteleuropa, Imperialismus; es ist für uns, die ältere Generation sind, eine Götterdämmerung." 8 1 Zum Jahresende 1918 nahm er dann ganz offiziell „Abschied" von Mitteleuropa, allerdings sollte es nur ein „vorläufiger" sein. 82 Und in der Tat sah er bereits wenige Monate später erneut eine Chance, Mitteleuropa zumindest ein Stückchen näher zukommen: Natürlich war Naumann ein eifriger Befürworter des Anschlusses von Rest-Österreich an die neue deutsche Republik, den er sogar in der Verfassung festschreiben wollte. Als viele Mitteleuropa-Anhänger sich von der Idee abwandten, meinte Naumann dagegen, darin auch weiterhin eine Perspektive erblicken zu können. Zumindest hatte er, wie er im Frühjahr 1 9 1 9 an den Geographen Hermann Rüdiger schrieb, „nicht das Gefühl, mit ,Mitteleuropa' vergeblich gekämpft zu haben". 8 3 Egal wie man den konkreten politischen Erfolg oder Mißerfolg von Naumanns Mitteleuropa-Kampagne bemißt, in übertragenem Sinne ist dieser Aussage sicherlich zuzustimmen, denn seit dem Mitteleuropa-Buch und wohl auch noch für längere Zeit ist fast jede Mitteleuropa-Debatte irgendwie und irgendwann immer mit seinem Namen verbunden.

79

Ders.: Mitteleuropa und deutsche Weltpolitik, in: Fr. Naumann: Werke 4, S. 8 5 2 .

80

Nachlaß Naumann (wie Anm. 2), Nr. 2 9 , Bl. 3 5 .

81

Naumann an Bäumer, 6 . 1 0 . 1 9 1 8 , zitiert nach Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14), S. 4 2 9 .

82

Fr. Naumann: Vorläufiger Abschied, in: ders.: Werke 4, S. 9 7 4 - 9 7 7 .

83

Naumann an H . Rüdiger, 2 3 . 3 . 1 9 1 9 , zitiert nach Heuss: Friedrich Naumann (wie Anm. 14), S. 4 8 6 , vgl. auch Heuss: Die mitteleuropäische Problematik (wie Anm. 4 3 ) , S. 102f.

Friedrich Naumanns „Mitteleuropa"

265

VI. Fazit Es bleibt noch der Versuch einer zusammenfassenden Einordnung und Bewertung des Mitteleuropa-Buches. Dabei muß vornehmlich danach gefragt werden, inwieweit es sich wirklich um eine realistisches Politik-Konzeption handelte, die damals und später Aussicht auf Erfolg hatte. Man kann es sich bei der Beantwortung einfach machen und auf das gänzliche Scheitern der Mitteleuropa-Pläne spätestens im Jahre 1918 hinweisen. Damit würde man aber nicht erklären können, warum das Konzept auch später dann und wann auf Freund und Feind eine neuerliche Attraktion ausgeübt hat, es sei denn, man unterstellt, daß es dabei jeweils nur um eine politische Instrumentalisierung ging, die zwar Naumann sagte, aber tatsächlich auf ganz andere politische Kreise in Deutschland zielte. Unter der Perspektive der Entstehungszeit von „Mitteleuropa" muß man zunächst feststellen, daß sich das Konzept nicht von den durch Ersten Weltkrieg gegebenen Umständen lösen läßt. Es setzte gemeinsame politische und wirtschaftliche Interessen in Deutschland und in der Donaumonarchie, vor allem aber das Fortbestehen des Habsburgerstaates voraus. Das ist vor allem im Hinblick auf die Folgewirkungen wichtig, weil man dann nämlich auch konstatieren muß, daß mit dem Untergang des Habsburgerstaates eben auch Naumanns Vorstellung von Mitteleuropa endgültig die Basis entzogen war.Welche Chancen auf Realisierung bestanden nun um die Mitte des Ersten Weltkriegs? Die Antworten darauf sind auch in der späteren Forschung nicht eindeutig und die Einschätzungen reichen von „ein bemerkenswertes, aber doch recht unrealistisches Gedankegebäude" 84 bis zur Auffassung, daß in der Kriegszieldebatte „sich Naumann als einer der meistbeachteten Autoren durchsetzte". 85 Mehrheitlich wird ihm allerdings eher geringer Einfluß unterstellt 86 , wenn nicht gar Instrumentalisierung durch die deutsche Führung. 87 Allerdings beruhen diese Einschätzun84 85 86

87

Fr. Fischer (wie Anm.16), S. 256. J. LeRider (wie Anm. 22), S. 128. P. Kluke (wie Anm. 7), S. 383, P. Theiner (wie Anm. 22), S. 2 4 8 f , Chr. Weimer (wie Anm. 22), S. 73, B. C. Witte (wie Anm. 7), S. 12; am zutreffendsten scheint die zwischen Einfluß auf die politisch Handelnden und die öffentliche Meinung differenzierende Auffassung bei H. C. Meyer (wie Anm. 17), S. 2 1 7 zu sein. So St. Verosta, The German Concept of Mitteleuropa, 1 9 1 6 - 1 9 1 8 , and its contemporary critics, in: The Habsburg Empire in World War I, hrsg. v. R. A. Kann u. a., N e w York 1977, S. 208; vgl. dagegen aber H. C. Meyer (wie Anm. 16), S. 2 1 6 zur ablehnenden Haltung der preußischen Ministerien und Reichsstellen.

266

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gen vornehmlich auf eher impressionistischen Eindrücken und weniger auf systematischer Analyse, obwohl sie zumindest in Bezug auf den Einfluß Naumanns nicht von der Hand zu weisen sind. So gesehen, wäre es sicherlich lohnend, wenn man Naumanns vielfältiger Einbindung in die verschiedenen Diskussionszirkel einmal genauer nachging, um den Einfluß seiner „Mitteleuropa"-Konzeption, über die er 1917 sogar im großen Hauptquartier mit Ludendorff sprach, 88 genauer umreißen zu können. Mit Sicherheit kommt man aber nicht umhin, Naumann - zumindest in seiner öffentlichen Haltung - allzu großen Optimismus unterstellen zu müssen. Wie viele andere in Berlin hat auch er trotz seiner Reisen an die Donau die Probleme für eine mitteleuropäische Konstruktion gewaltig unterschätzt und zwar sowohl in Bezug auf Probleme innerhalb der Donaumonarchie als auch im Verhältnis zwischen Wien und Berlin. Gerade jüngst sind die großen Schwierigkeiten, die jedem Versuch einer „mitteleuropäischen" Integration fast unüberwindbar entgegenstanden, von Manfred Rauchensteiner anschaulich und ausführlich dargestellt worden. 89 Vor diesem Hintergrund liest sich das Mitteleuropa-Buch im Nachhinein wie eine Utopie ohne viel Realitätsbezug. 90 Wenn überhaupt, wäre eine Realisierung von Naumanns Traum wohl nur langfristig zu bewerkstelligen gewesen. Mit dem Untergang der Donaumonarchie war ihm jegliche Grundlage entzogen; einige Autoren sehen hingegen die Mitteleuropa-Pläne aufgrund der politischen Haltung in den Wiener und Berliner Führungen eigentlich schon Ende 1915 als von den Ereignissen überholt an. 91 Wie dem auch sei, jedenfalls hatte Naumanns Konzept m. E. keinerlei Relevanz über den Ersten Weltkrieg hinaus; der Autor hat das wohl auch selbst so gesehen. Insofern kann man auch die modischen Warnungen nach den Ereignissen vonl989/90 vor einer Wiederauferstehung 88 89

90

91

Nachlaß Naumann (wie Anm. 2), Nr. 307. Rauchensteiner (wie Anm. 22); zur mangelhaften Einsicht in Berlin vgl. ebenda S. 305f. Interessanterweise ist Helmut Rumpf 1942 (!) zu einer völlig gegenteiligen Einschätzung gelangt; für ihn trachtete Naumann danach, „den realpolitischen Gegebenheit seiner Zeit weise Rechnung zu tragen". Dagegen sieht er Naumanns Schwäche in der Analyse der staats- und völkerrechtlichen Probleme „Mitteleuropas", vgl. H. Rumpf: Mitteleuropa. Zur Geschichte und Deutung eines politischen Begriffs, in: HZ 165 (1942), S. 522ff, Zitat S. 525. Vgl. Rauchensteiner (wie Anm. 22), 315f, P. Kluke (wie Anm. 7), S. 386; für H. C. Meyer (wie Anm. 17) ist allerdings erst 1916 „the Year of Culmination", so die Überschrift des zehnten Kapitels seiner nach wie vor grundlegenden Mitteleuropa-Untersuchung.

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von Naumanns „Mitteleuropa", das heißt vor einer irgendwie gearteten politischen Hegemonie des wiedervereinigte Deutschland in Ostmittel- und Südosteuropa nicht für allzu ernst annehmen. Und insofern erscheint es auch müßig, eine Verbindungslinie von Naumanns mitteleuropäischem Integrationsversuch zur späteren EWG zu ziehen. 92 Denn viele Grundlagen, von denen Naumann ausging, existieren schon seit längerem nicht mehr, man muß dabei nicht nur an den Habsburgerstaat und an die Völkerverschiebungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs denken. Vor allem ist das Verhältnis der Deutschen zu ihren westlichen Nachbarn und den Weltmächten ein völlig anderes, als es sich Naumann damals vorstellte. Wer hätte heute noch Interesse an einer „Schützengrabengemeinschaft"? Mitteleuropa im Naumannschen Sinn ist eine Episode geblieben und schon die Umstände seines Auftauchens im Rahmen eines Weltkrieges lassen eine irgendwie geartete Wiederbelebung wohl kaum wünschbar erscheinen.

91

Dies tut - unter negativen Vorzeichen - Jindra (wie Anm. 8), S. 89.

Wohin sollen wir gehen?": Liberalismus und Weltkrieg H A N S CYMOREK

Etwas nimmt Abschied: „In der Tat, das liberale Zeitalter Europas war ein großes Zeitalter, aber es ist zu Ende. Das ist eine der wichtigsten Tatsachen, die der Krieg nicht erst bewirkt, aber in ihrer ganzen Tragweite deutlich gemacht hat". 1 Einer der scharfsichtigsten Zeitdiagnostiker des Jahrhundertbeginns, Ernst Troeltsch, konstatiert 1916 das Ende einer Epoche - nicht mit dem pathetischen Castus d e r Totenklage, sondern in jenem „Geist grundsätzlicher Nüchternheit", den er angesichts der Brandredner ringsum für das Gebot der Stunde hielt.2 Was da im Getöse der Material- und Propagandaschlachten unterging, das war weit mehr als bloß ein politischer Traditionszusammenhang, das war, nach Troeltsch, ein wirkungsmächtiger Ideenkomplex, war, „aufs Ganze gesehen, ein verweltlichter Nachhall der christlichen Periode Europas, stark versetzt mit Elementen der Aufklärung und der Renaissance, ein grundsätzlicher Individualismus mit der metaphysischen Überzeugung, daß aus der freien individuellen Bewegung die Harmonie der menschlichen Welt sich von selbst herstelle, eine Zusammenziehung der persönlichen Privatmoral mit allgemeinen Kulturwerten der Wissenschaft und Kunst, [...] darum international und der kulturellen Völkergemeinschaft zugewendet, wie vorher das Christentum den Staat nur als unentbehrliches Ordnungsmittel betrachtend und ihn wesentlich vom Standpunkt allgemeingültiger, absoluter Kulturwerte aus behandelnd". 3 Endzeitstimmung des Individualismus', Kulturdämmerung - doch zur gleichen Zeit bereiteten sich Liberale auch darauf vor, „bei den kommenden Reichstagswahlen und ebenso bei den Landtagswahlen in

1

2

3

E. Troeltsch, Privatmoral und Staatsmoral, in: Die neue Rundschau 2 7 , 1 9 1 6 , S. 164. Vgl. bes. E. Troeltsch, Politik des Mutes und Politik der Nüchternheit, in: Das neue Deutschland 4 , 1 9 1 5 / 1 6 , S. 376; ebd., S. 3 7 7 : „Dieser Krieg ist seltsam nüchtern und verträgt bei seinem heiligen Ernst kein rhetorisches Pathos". E. Troeltsch, Privatmoral (wie Anm. 1), S. 157.

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Preußen dem entschiedenen Liberalismus die Zahl der Mandate und damit die Macht und den Einfluß zu sichern, die er nach der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedeutung seiner Anhänger beanspruchen kann. Für das Jahr 1918 gilt für die Fortschrittliche Volkspartei noch mehr als je der Satz: ,Bereit sein ist alles'". 4 Hier die notorische Formelsprache der Parteipolitik, dort - bei Troeltsch - noch einmal ein Nachklang der großen, um die Reflexionszentren Individualität', .Kultur' und ,Staat' kreisenden Debatten der Vorkriegszeit: Diese Gegenüberstellung deutet an, daß die suggestive Schlichtheit der Titelformulierung „Liberalismus und Weltkrieg" unmißverständlich dazu auffordert, das wenig spektakuläre Geschäft der Differenzierung zu betreiben. Zerlegt sich ,der' Weltkrieg dabei dann nahezu von selbst in allerlei Abschnitte, Phasen und Themenfelder von der (auch von Liberalen) immer wieder beschworenen, immer wieder instrumentalisierten August-Euphorie 1914 bis hin zur Agonie des Kaiserreiches im Herbst 1 9 1 8 - , so zerfällt auch der imposante Begriffsblock ,Liberalismus' in die unübersichtliche Vielfalt sich als liberal verstehender Reflexionsmuster und Verhaltensweisen. Gelehrten-, Interessenten- und Parteipolitik sind zu unterscheiden, Sorgen und Sehnsucht der ,Basis' und die Ausschußroutine, das Taktieren der Funktionäre; Provinz und Berlin, Gemeinde-, Länder- und ReichsEbene, auch Einzelgänger - Ludwig Quidde als prominentes, profiliertes Beispiel - , Gesprächskreise und die Fülle der Verbände, Gruppierungen und Vereine, von der Liberalen Landarbeiterbewegung über den so ambitionierten wie erfolglosen Deutschen National-Ausschuß bis hin zum Volksbund für Freiheit und Vaterland; nicht zuletzt die veröffentlichte Meinung, unüberhörbar in Frankfurter Zeitung und Berliner Tageblatt, und die Stimmen der Unbekannten, deren Briefe an liberale Politiker sich erhalten haben; der Ingrimm M a x Webers, die sarkastisch grundierten Analysen eines Hugo Preuß und die verzweifelte Ratlosigkeit des Postsekretärs Görschner vom Liberalen Kreiswahlverein Neubrandenburg, der Friedrich Naumann im September 1918 um Wegweisung geradezu anfleht: „wohin sollen wir gehen?". 5 All diese Facetten aber, all diese untereinander vielfach vernetzten, auch konkurrierenden Foren und Formen liberaler Politik und PolitikKommentierung (und gewiß noch manch andere dazu) muß sich vergegenwärtigen, wer „Liberalismus und Weltkrieg" sagt - und sich dabei stets bewußt bleiben, wie sehr die Wahl der Beobachtungsebene, 4

Die Fortschrittliche Volkspartei im Jahre 1 9 1 7 . Berlin [o. J.], S. 16.

5

Vgl. R. Görschner an Friedrich Naumann, 1 2 . 9 . 1 9 1 8 , Bundesarchiv [BA] Berlin, Nachlaß [NL] Naumann, Ν 3 0 0 1 , Nr. 11, Bl. 134f.

W o h i n sollen w i r gehen?": Liberalismus u n d Weltkrieg

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wie sehr die Akzentuierung der vorgeführten Beispiele und Zitate die Urteilsfärbung bestimmt. Zwei Gefahren wären dann immerhin leichter zu umgehen: zum einen die Verführungskraft von Untergangsszenarien, wie sie die Liberalismusdeutung für das erste Jahrhundertdrittel in Deutschland lange bereithielt;6 zum anderen die Neigung, den Gestaltungsoptimismus versierter Politikbegleiter und visionärer Vordenker gleichzusetzen mit dem gültigen Ausdruck liberalen Zeitbewußtseins schlechthin. Im folgenden werden nun zunächst die Handlungsspielräume liberaler Politik in der Ausnahmesituation des Weltkriegs grob skizziert, danach die Möglichkeiten, die Wege und die Umwege liberaler Selbstvergewisserung vor dem Hintergrund der eingangs angedeuteten Gleichzeitigkeit von Umbruchsbewußtsein und Alltagsorientierung angedeutet. Beidem, der Aktion wie der Reflexion, liegt dabei, so die These, ein Phänomen zugrunde, das sich vorläufig wohl als Gegenwartsverlust kennzeichnen ließe. Handlungsspielräume also: Sie waren für das liberale Lager, jedenfalls jenseits der kommunalen Ebene, 7 am Vorabend des Weltkriegs bescheiden genug, in einem Klima der Stagnation, ja des - so Gerhard Anschütz - „hoffnungslosen politischen Stillstandes" 8 und angesichts der nachgerade unendlichen Spaltungsgeschichte des organisierten Liberalismus. Das Ergebnis der Reichstagswahlen von 1912 hatte den Hoffnungshorizont weiter verengt, und auch das süddeutsche Großblock-Experiment verlor rasch an Tragfähigkeit, an Verheißungs- und Bindekraft. So bot das Handlungsfeld Innenpolitik auf Reichsebene wenig Gestaltungsmöglichkeiten, wenig Raum für überraschende Züge und Rochaden, ganz gleich, ob die Akteure klientelorientierte Interessenpolitik im Windschatten mächtiger Verbände trieben oder sich einer status-quo-kritischen, moderaten Reformorientierung verpflichtet 6

Zur Überwindung dieses Deutungsmodells zuletzt T. Kühne, Das Deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 und seine politische Kultur: Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: Neue Politische Literatur 43, 1998, S. 2 3 3 - 2 3 5 .

7

Wie unabdingbar diese Einschränkung ist, zeigen eindringlich etwa D. Langewiesche: Liberalismus in Deutschland. Frankfurt 1988, S. 200-211; Κ. H. Pohl, „Einig", „kraftvoll", „machtbewußt". Überlegungen zu einer Geschichte des deutschen Liberalismus aus regionaler Perspektive, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 7, 1994, S. 61-80, sowie die Literaturberichte von T. Kühne (wie Anm. 6), S. 2 3 3 - 2 3 5 , und Κ. H. Pohl, Liberalismus und Bürgertum 1 8 8 0 - 1 9 1 8 , in: L. Gall (Hg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert. München 1997, S. 2 7 0 - 2 8 3 G. Anschütz, Bespr. von H. Preuß: Das deutsche Volk und die Politik. Jena 1915, in: Preußische Jahrbücher 164, 1916, S. 340.

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fühlten. 9 Hinzu kam das gemeinsame Eingebundensein von Nationalund Linksliberalen in den außen- und machtpolitischen Grundkonsens eines mehr oder minder martialisch verkündeten imperialistischen Programms 10 - wenig Profilierungschancen auch hier. Gewiß, nur die Fortschrittliche Volkspartei zählte prominente Mitglieder in ihren Reihen, die Kundgebungen des organisierten Pazifismus und der internationalen Verständigung wohlwollend unterstützten - doch ohne sich dessen mit Nachdruck zu rühmen, dem „Grundgedanken", wie Friedrich Naumann, zwar treu, vom Erfolg ihres Tuns aber keineswegs überzeugt. 11 So schrieb Martin Rade, effektvoll pointiert, 1913: „Trotz meines Pazifismus sage ich: lieber einen Krieg um einer großen Idee willen, als dieser Mangel an Initiative, an Großzügigkeit, an Fühlung mit den Staaten und Nationen, an Wagemut und Zukunftsplänen!". Der Folgesatz darf freilich nicht unterschlagen werden: „Aufgeschlossenheit aber will ich von meinem Staat und Entgegenkommen, wo das Gewissen der Kulturvölker sich regt [...]". 1 2 Im August 1914 regte sich dann jedoch auch in den meisten liberalen' Köpfen, Herzen und Federn zunächst vor allem der patriotische Impuls. Sogar in der „absoluten Situation", wie Georg Simmel sie begrüßte, 13 blieb individuelles Reagieren möglich, wurden Reflexionsdistanz und Relativierungsbereitschaft in je unterschiedlicher Weise preisgegeben oder bewahrt. Weithin verbreitet aber war das Gefühl der Erleichterung, nicht länger am unbehaglichen Ende einer ominösen .Diagonale' piaziert zu sein, sondern inmitten der nationalen Wagenburg. Doch das Glück der Ununterscheidbarkeit im - so Nau-

9

Letztere Ausrichtung habe vor dem Krieg, so versichert Ignaz Jastrow im Herbst 1 9 1 5 , die Wünsche der ,,große[n] Mehrzahl der politisch denkenden Deutschen" bestimmt, I. Jastrow, Momentbild aus Wien [ 1 9 . 1 1 . 1 9 1 5 ] , Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [PAAA] Bonn, N L Stresemann, Bd. 1 4 9 , Η 1 2 8 2 9 2 (S. 5).

10

Vgl. K. Holl, Krieg und Frieden und die liberalen Parteien, in: ders./G. List (Hgg.): Liberalismus und imperialistischer Staat. Der Imperialismus als Problem liberaler Parteien in Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 1 4 . Göttingen 1 9 7 5 , S. 7 2 - 8 8 ; W . J . Mommsen, Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Liberalismus, in: ebd., S. 1 0 9 - 1 4 7 .

"

Vgl. Friedrich Naumann an Ludwig Quidde, 1 3 . 9 . 1 9 1 2 , BA Berlin, N L Naumann, Ν 3 0 0 1 , N r . 4 , Bl. 9 6 .

12

M . Rade, Unsere Pflicht zur Politik [ 1 9 1 3 ] , in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Religion, Moral und Politik, hrsg. v. Chr. Schwöbel. Gütersloh 1 9 8 6 , S. 1 7 2 . Zu dieser Spannung in Geschichtsverständnis und Gegenwartsdeutung liberaler Politiker nach 1 9 1 4 vgl. L. Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Düsseldorf 1 9 7 2 , S. 1 9 7 - 2 1 0 .

13

G. Simmel, „Aufklärung des Auslands", in: Frankfurter Zeitung, 1 6 . 1 0 . 1 9 1 4 .

Wohin sollen wir gehen?": Liberalismus und Weltkrieg

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mann 14 - ,,grosse[n] Gottesfrieden" zwischen den Parteien, dieses prekäre Glück schwand rasch, aller Perpetuierungsrhetorik zum Trotz. Die Gegenwart entzog sich, blieb nicht länger Erfüllung der Zeiten, sondern mutierte gleichsam zur Vor-Geschichte, zum bloßen Ausgangspunkt ,νοη kommenden Dingen'. Zwei Fragen richtete das Zentralbüro der Fortschrittlichen Volkspartei im Oktober 1914 per Rundschreiben an die Parteisekretäre im Land: „1. Betreiben die anderen Parteien politische Agitation? 2. Ist für die Fortschrittliche Volkspartei politische Agitation möglich und eventuell welche?" Die Antworten spiegeln Verunsicherung: In Niederschlesien etwa, so klagt der Sekretär vor Ort, führten sich die Nationalliberalen „am unangenehmsten" auf und würden zudem nach dem Kriege gewiß alles versuchen, „um aus der patriotischen Welle Kapital zu schlagen". Die eigene, also linksliberale Parteiarbeit sei indes sehr schwierig, da jede ungeschickte Äußerung „schwere Schäden anrichten" könne. Waren in ganz Mecklenburg alle Parteien angeblich noch „vollständig untätig", so bittet der Thüringer Parteisekretär darum, die Wahlvereinsvorstände doch daran zu erinnern, „dass dem Liberalismus nach dem Kriege grosse Aufgaben bevorstehen. Dieser Hinweis sei nötig, da sich hier und da eine gegenteilige Ansicht eingeschlichen und zur politischen Gleichgültigkeit geführt" habe. 15 Keineswegs Gleichgültigkeit, vielmehr die Sorge, daß das „konservative Princip" nach „glücklich beendetem Feldzug" seine Position stärken könne, trieb zur gleichen Zeit den Iserlohner Fabrikanten Heinrich Husemann zu einem Mahnschreiben an die Redaktion der „Hilfe": Er und seine „liberalen Freunde" sähen mit Besorgnis den in aller Stille wachsenden Einfluß des Zentrums; „wir Liberalen dagegen können auch jetzt unsere Position nur im offenen Kampfe halten, belastet mit dem Odium des Friedensstörers". 16 Gegen wen sich dieser durchaus eigennützige Kampf zu richten hatte, war dabei für die Nationalliberale Partei mehrheitlich leichter zu beantworten als für ihre linksliberale Konkurrentin: die Regierung Bethmann Hollweg, Person wie Politik des Reichskanzlers, gaben hier ein nahezu ideales Feindbild ab. Verkörperte Bethmann den Gegensatz zu alldeutschem Annexionsfuror, stand er für das Versprechen innenpolitischer Neuorientierung', ja - nach Ernst Jäckh - für die Absicht, 14

15 16

Vgl. Friedrich Naumann an Dr. Scheffer, 22.8.1914, BA Berlin, NL Naumann, Ν 3001, Nr. 6, Bl. 159. Alle Zitate aus: BA Berlin, 60 Vo 3, Nr. 27, Bl. 17-26. Heinrich Husemann an „Die Hilfe", 8.9.1914, BA Berlin, NL Naumann, Ν 3001, Nr. 6, Bl. 54.

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„liberal" zu regieren, 17 so legte sich nationalliberale Politik früh auf den Grundsatz „erst siegen - dann reformieren" fest. 18 Und sie übernahm dabei weithin ohne Vorbehalte noch die extremsten der außerparlamentarisch propagierten Kriegszielpläne. Ernst Bassermanns Stoßseufzer im Januar 1915 - „Ich sehe Erntezeit, aber die Schnitter fehlen. [...] mit Bethmann und Wahnschaffe werden wir die Welt nicht erobern" gewann gleichsam programmatische Qualität. Auch Bassermann sah freilich die Perspektivlosigkeit einer kompromißlos reaktionären Innenpolitik: „man wird Rechte geben müssen". 19 Reichte diese Einsicht aber aus zur Abgrenzung von konservativer Konkurrenz, die, wie Gustav Stresemann früh befürchtete, in der öffentlichen Meinung „mehr und mehr Oberwasser" zu gewinnen schien? 20 Die innenpolitische Kursänderung hin zu entschiedener Reformbereitschaft in der preußischen Wahlrechtsfrage und zu einer tastenden Annäherung an das einst perhorreszierte parlamentarische System' sollte 1 9 1 7 fraglos neuen Handlungsspielraum für die Zukunft schaffen. In der Gegenwart des vierten Kriegsjahres aber, vor dem Hintergrund von Kanzlersturz, Friedensresolution und fulminanter Agitation der ,Vaterlandspartei', verschärfte die neue Ausrichtung vor allem die Spaltungstendenzen und Orientierungsnöte innerhalb des Rechtsliberalismus. 21 Das Jubiläumsjahr der Nationalliberalen lenkte die Blicke auf Vergangenheit und Zukunft; nichts jedoch lud Festredner ein, dem Liberalismus eine Kriegsgegenwart auszumalen. 22 17

Vgl. Gustav Stresemanns Notiz nach einer Unterredung mit Jäckh am 1 6 . 2 . 1 9 1 5 , PAAA Bonn, N L Stresemann, Bd. 1 4 5 , Η 1 2 7 4 3 2 ; Stresemann kommentiert: „Jäckh versteht unter .liberal' allerdings mehr fortschrittlich-sozial".

18

So Robert Friedberg am 2 . 3 . 1 9 1 5 im Preußischen Abgeordnetenhaus, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 2 2 . Legislaturperiode, II. Session 1 9 1 4 / 1 5 , Bd. 7, Sp. 8 5 8 3 ; daran erinnert wird in der Sitzung des Zentralvorstandes der Partei am 2 3 . 9 . 1 9 1 7 , in: Von Bassermann zu Stresemann. Die Sitzungen des nationalliberalen Zentralvorstandes 1 9 1 2 - 1 9 1 7 , bearb. v. K.-P. Reiß. Düsseldorf 1 9 6 7 , S. 3 6 6 .

"

Ernst Bassermann an Gustav Stresemann, 5 . 1 . 1 9 1 5 , PAAA Bonn, N L Stresemann, Bd. 1 3 4 , Η 1 2 5 8 7 0 - 1 2 5 8 7 6 .

20

Gustav Stresemann an Ernst Bassermann, 2 8 . 1 . 1 9 1 5 , PAAA Bonn, N L Stresemann, Bd. 1 3 4 , Η 1 2 5 8 8 5 - 1 2 5 8 8 8 .

21

Vgl. die Sitzung des Zentralvorstandes der Nationalliberalen Partei am 2 3 . 9 . 1 9 1 7 , in: Von Bassermann zu Stresemann (wie Anm. 18), S. 2 9 1 - 4 3 2 ; H . Thieme: Nationaler Liberalismus in der Krise. Die nationalliberale Fraktion des Preußischen Abgeordnetenhauses 1 9 1 4 - 1 8 , Boppard 1 9 6 3 .

22

Vgl. Gedenkfeier zum fünfzigjährigen Bestehen der Nationalliberalen Partei Deutschlands [ 2 8 . 2 . 1 9 1 7 ] . Berlin [o.J.]. Vielsagend auch, daß in Erich Brandenburgs offiziöser Jubiläumsschrift - 5 0 Jahre Nationalliberale Partei 1 8 6 7 - 1 9 1 7 .

W o h i n sollen wir g e h e n ? " : Liberalismus und W e l t k r i e g

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„Liberale wollten den Staat, in dem sie lebten, verändern" 23 : Dieter Langewiesches lapidare Feststellung trifft insbesondere den Kern linksliberalen Selbstverständnisses im Kaiserreich. Seit August 1914 freilich wollten Liberale jeglicher Couleur den Staat, in dem sie lebten, bevor sie ihn veränderten, erst einmal erhalten helfen. Nur: Würde das nach dem Krieg auch honoriert werden? So sprach vieles auf linksliberaler Seite dafür, sich zunächst - bei demonstrativer Bethmann-Unterstützung - die beiden wichtigsten, nicht allein parteitaktischen Optionen offenzuhalten, also weder der Abneigung gegen dröhnende nationalliberale ,Siegfrieden'-Rhetorik nachzugeben, noch die weitere Annäherung an die Sozialdemokratie kategorisch auf ferne Friedenstage zu verschieben. In der Außenwirkung war dieser Kurs - auf Reichsebene dann jedoch von einem vorsichtigen Wegducken, einem kaum verhüllten ,Willen zur Ohnmacht', nicht immer leicht zu unterscheiden. Gewiß, es gab profilierte Flügelmänner, Georg Gothein etwa, die sich früh mit griffigen Forderungen - wie dem Verzicht auf Annexionen - exponierten; es gab erfahrene Partei-Organisatoren, die sich immer aufs neue in Schadensbegrenzung übten, es gab Solisten, wie Naumann, die ambitionierte Zukunftsprojekte vorantrieben, Verbindungen zu alten und neuen Verbündeten jenseits der Parteien- und Landesgrenzen pflegten und sich damit den Vorwurf einhandeln konnten, die Sorgen liberaler .Normalwähler' aus den Augen zu verlieren, 24 kurz: es gab viele Stimmen, aber keine einprägsame Melodie. Das störte indes weniger die mit vielerlei Plänen und Projekten beschäftigten Akteure in Berlin oder deren akademische Diskussionspartner, viel eher dagegen Liberale ,draußen im Lande', die sich dann beispielsweise fragten, ob nicht, als „Zeichen starker Lebenskraft", wenigstens in Württemberg, am Dreikönigstag 1916, eine Landesversammlung abgehalten werden solle. Alles, nur das nicht, antwortet umgehend Friedrich v. Payer, eine der Schlüsselfiguren nicht nur des .liberalen Südwestens': Es sei falsch, „wenn über Nacht wir, eine immerhin kleine Gruppe, den Burgfrieden zwischen den Parteien im Reich kündigen würden"; bei einem öffentlichen Großauftritt müsse man ja nicht allein den politischen Gegner - Konservative, Agrarier, All-

Berlin 1 9 1 7 - der Begriff .Liberalismus' nur in der Vorgeschichte Platz findet, für die Zeit nach 1 8 6 7 aber konsequent vermieden wird. 23

D. Langewiesche, Liberalismus und Region, in: L. Gall/ders. (Hg.): Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert. München 1 9 9 5 [Beihefte der H Z , N . F., Bd. 19], S. 7.

24

Vgl. Friedrich Naumann an Gottfried Traub, 2 7 . 3 . 1 9 1 7 , BA Koblenz, Traub, Ν 1 0 5 9 , Nr. 6 6 , Bl. 1 1 6 .

NL

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deutsche, Nationalliberale - attackieren, nein: „müssen wir nicht gerade in diesem Winter gegen den Reichskanzler und die Reichsregierung wegen ihrer schwächlichen Haltung auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung scharf vorfahren? Unsere Leute müssen das ja verlangen. Die Bekundung unseres Misstrauens in dieser vorübergehenden Frage beeinträchtigt aber die sehr feierlich abgegebene Bekundung unseres Vertrauens in der Hauptfrage. Eigentlich sollten wir froh sein, wenn uns gerade jetzt eine öffentliche Stellungnahme auf diesem Gebiet erspart wird." 25 Agierten so die Träger, die Hoffnungsträger einer - mit Peter Theiners Formulierung - „latenten Systemalternative"? 26 Oder bestätigt sich hier nicht eher Bethmann Hollwegs Einschätzung seiner freisinnigen' Hilfstruppen: „Es sind brave Leute, aber doch Mumien"? 27 In jedem Fall: Gerade die ,braven Leute', die Hintergrundaktivitäten der Payer, Haußmann und Naumann waren es ja, die den zähen Prozeß der Parlamentarisierung vorantrieben - zwar auf ein durchaus diffuses Ziel zu, aber eben doch voran. Hieße das Thema ,Liberale im Ersten Weltkrieg', so wären all diese Pläne, Aktionen und Initiativen hier detailliert nachzuzeichnen. 28 Nicht zuletzt das Engagement von Liberalen installierte Ausschüsse, den Interfraktionellen zumal, erprobte Koalitionen, lotete Möglichkeiten und Grenzen reformorientierter Mehrheitsbildung aus, als Gegenentwurf zu Militärdominanz und Herrschaft der Exekutive. Andererseits - und damit richtet sich der Blick nun auf die Frage nach dem liberalen Selbstverständnis und seinen Verwerfungen - erscheint die tagespolitische Aktivität im Weltkrieg seltsam abgelöst von jeglicher Bereitschaft zu einer Ortsbestimmung des Liberalismus, zur Beantwortung der vor 1914 so präsenten Frage ,Was ist liberal?'. Und: War die 25

26

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28

Friedrich v. Payer an Hugo Elsas, 2 8 . 1 0 . 1 9 1 5 , BA Koblenz, N L Payer, Ν 1020, Nr. 10, Bl. 146f. - Zu den Schwierigkeiten liberaler Selbstverständigung und Selbstdarstellung während des Krieges vgl. auch L. Albertin, Liberalismus (wie Anm. 12), S. 2 3 6 - 2 5 0 . P. Theiner, Friedrich Naumann und M a x Weber. Stationen einer politischen Partnerschaft, in: W. J. Mommsen/W. Schwentker (Hg.): M a x Weber und seine Zeitgenossen. Göttingen, Zürich 1988, S. 4 3 2 , bezogen auf Naumanns „Konzeption eines politischen Bündnisses der linken Mitte". Th. Wolff: Tagebücher 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , Teil I, hrsg. v. B. Sösemann. Boppard 1984, S. 160 [9.2.1915]. Vgl. zusammenfassend D. Langewiesche, Liberalismus (wie Anm. 7), S. 2 2 7 - 2 3 2 (Kap. IV. 8.: „Kriegsziele und Reformziele: Liberale im Ersten Weltkrieg"); für Naumann grundlegend: P. Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919). BadenBaden 1983, S. 2 2 5 - 2 8 2 .

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Reichstagsmehrheit, wie sie sich im Juli 1917 zusammenfand, wirklich eine Gestaltungsmehrheit für liberale Politik? Drohte sich nicht vielmehr eben diese Leerformel .liberale Politik' vollends aufzulösen, sei es in Aktivismus, sei es in Apathie, gleichsam katalytisch beschleunigt von der .Deutschen Vaterlandspartei',29 die mit ihrer Sogkraft die Gegenwartslosigkeit eines Liberalismus bloßlegte, dessen Existenzberechtigung je länger, desto mehr an nationale Bekenntnisformeln gebunden schien? So jedenfalls sah es der Archäologe Ludwig Curtius, glühender Naumannianer wenn nicht der ersten, so doch der zweiten Stunde, jetzt, im Sommer 1917, als Leutnant stationiert am Ende der Welt, in Albanien, und nachgerade verzweifelnd an den Nachrichten aus der Heimat: „Zu meinem Schrecken sehe ich", so schreibt er an Friedrich Naumann, „dass Freunde und Kollegen, die bisher in freiheitlicher Gesinnung uns angehörten, in ihrem durch die Bethmannsche Planlosigkeit geängstigten Herzen nach rechts abschwenken. Gehen aber, im Streit um nationale Machtfragen die Gebildeten wieder der Freiheitsbewegung verloren, dann kommen wir wieder in die Verhaeltnisse der Aera Bismarck hinein". Gerade die Volkspartei müsse deutlich erkennen lassen, daß sie sich „in nationalen Dingen" von der Sozialdemokratie unterscheide. Der Friedensresolution zustimmen? „Wir durftens nicht! Meinetwegen die alten Herren der Volkspartei und des Freisinns, die von ihren Ideen von 48 innerlich nie ganz los kamen, aber wir national-sociale!! " 3 0 Hier war .Vergangenheitspolitik' im Spiel und Sorge um die Zukunft. Die Fragen der verunsicherten Anhänger durchzieht, jenseits von Parteitaktik und Tagespolitik, immer wieder das Leitmotiv der Identitätssuche: War ,der' Liberalismus (die Fragenden schreiben in der Regel ganz unbefangen im Singular), war der Liberalismus also Bestandteil einer verschwommenen Gemeinschaft der .bürgerlichen Parteien', ging er, bei fortschreitender Polarisierung, in einer überparteilichen „Verschwörung für das Gute" 31 auf, unter Preisgabe von Profil und Erbe? 29

Z u m Verhältnis der liberalen Parteien zur Vaterlandspartei jetzt H. Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches. Düsseldorf 1 9 9 7 , S. 2 9 4 - 3 1 2 .

30

Ludwig Curtius an Friedrich Naumann, 5 . 8 . 1 9 1 7 , BA Berlin, N L Naumann, Ν 3 0 0 1 , Nr. 3 1 0 , Bl. 2 3 6 f .

31

So wollte sich die 1 9 1 6 auch auf Initiative prominenter Linksliberaler (u. a. Friedrich Wilhelm Foerster, Samuel Saenger, Werner Weisbach; Vorsitz: Friedrich Curtius) als Abwehrinstrument gegen alldeutsche Agitationsüberlegenheit entstandene „Vereinigung Gleichgesinnter" verstanden wissen, vgl. die Erläuterung ihrer programmatischen Leitsätze im Mai 1 9 1 7 (hier: S. 11), Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Best. 5 1 , F II a) 6.

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Oder war er lediglich ein Teil der ,einen deutschen Linken'? 3 2 Kein Zweifel: Das Gefühl der Verunsicherung war älter als der Weltkrieg, der die Sinnkrise dann einerseits zuspitzte, andererseits zu verdrängen half. Die Frage: für wen treiben wir Politik, begleitet Liberale durch das Kaiserreich, genauso wie die Sorge, nur Ideen, Impulse für andere zu liefern, säen, aber nicht ernten zu dürfen, ja - paradox genug - nur im Mißerfolg eine Überlebenschance zu finden. 3 3 Auch hier ließ sich, mit Naumann, manches in milderes Licht setzen: „liberale Gesinnung" sei eben „nicht wie Mathematik", sie wachse „in und mit den Zeitverhältnissen". 3 4 Nicht selten aber wuchs zugleich eine gewisse Unschärfe der Außenwahrnehmung von Liberalismus'. Gustav Schmoller etwa beginnt 1916 seine Rezension von Hans Delbrücks „Regierung und Volkswille" und H u g o Preuß' „ D a s deutsche Volk und die Politik" mit der Feststellung: „beide Verfasser kann man als liberal bezeichnen". 3 5 Das zielte, über die Personen hinaus, nicht zuletzt auf ein, nach Schmoller, ganz generell gewachsenes ,,gemeinsame[s] Verständnis für die Staatsnotwendigkeiten", 3 6 jenseits politischer Lager und tradierter Abgrenzungsreflexe. Doch nicht ohne Neid sah man unter Liberalen die Weltanschauungskonkurrenz von scheinbar zerbröckelungsresistenter Basis aus als Wählermagnet wirken, während die eigene Klientel - der schimärenhafte Kollektivsingular ,Bürgertum' - endgültig in das Stadium der Fragmentierung, wenn nicht der Auflösung eingetreten war. 3 7 32

33

34 33

36 37

Vgl. Conrad Haußmann an Georg Gothein, 7.4.1917, BA Koblenz, N L Gothein, Ν 1006, N r . 2 2 ; auch diese Konstellation ließ sich verkomplizieren: So wollte Aby Warburg N a u m a n n nahelegen, gerade im Krieg sei „der psychologische Moment für die Linke gekommen [...], um sich als Gewissensorgan der wirklich conservativen Gesinnung vor aller Augen zu erweisen", Warburg an N a u m a n n , 2 0 . 3 . 1 9 1 6 , BA Berlin, N L N a u m a n n , Ν 3 0 0 1 , Nr. 9, Bl. 151. Z u diesem Dilemma G. Hübinger, Die liberale Paradoxie. Veralltäglichung liberaler Ideen und Niedergang der liberalen Bewegung, in: F. W. Graf (Hg.): Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung (Troeltsch-Studien, Bd. 7). Gütersloh 1993, S. 52-64. F. N a u m a n n , Freiheitskämpfe. Berlin 1913, S. 7. G. Schmoller, Obrigkeitsstaat und Volksstaat, ein mißverständlicher Gegensatz, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 4 0 , 1916, S. 2 0 3 1 . Ebd., S. 2 0 4 1 . Vgl. H. Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 2 8 8 - 3 1 5 ; D. Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: J. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989, S. 112f.

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Auf wen sich ausrichten? Auf die ,Gebildeten', wie es Curtius nahelegte, auf „neue Kreise", die gewonnen werden könnten, „die Unterbeamten, die Gewerkvereinler, die Arbeiter- und Angestelltenverbände", die irgendwann einmal aus dem Krieg heimkehrenden „Bauernsoldaten", wie es linksliberale Abgeordnete in einer Lagebesprechung im März 1918 forderten? 38 „Die kleinen Bürger in den Städten", so hieß es da, „wissen jetzt nicht mehr, ob sie an uns dieselbe Stütze haben wie früher. Früher wusste die Industrie, dass sie sich auf uns verlassen konnte, heute schwanken wir hin und her zwischen Sozialismus und Liberalismus". 39 Und immer wieder werde fatalerweise die Agitation eingestellt auf „Wähler, die uns nie gewählt haben und uns nie wählen werden". 4 0 Nur: Jedes liberale Regional-, jedes Lokalmilieu lebte - wie die Forschungen der letzten Jahre in Ansätzen bereits gezeigt haben 41 unter seinen je eigenen Bedingungen; und wie sich ,die kleinen Bürger in den Städten', wie sich die landwirtschaftlichen Vereine, wie sich Frauenbewegung und Bildungsbürgertum, zumal dessen jüdische Angehörige, wie sich all diese Trägergruppen des liberalen Kommunikationsnetzes während des Krieges orientierten, umorientierten, das wäre erst noch im einzelnen zu untersuchen - etwa mit Blick auf die Beteiligung an Vaterlandspartei oder Volksbund, oder auf Wahlvereinsebene, wo ja die Versammlungen, die Gespräche, die ganz alltäglichen Kontakte fortbestanden. Man müsse den alten Anhängern klarmachen, verlangt der Abgeordnete Weinhausen im März 1918, daß neue Zeiten auch neue Gedanken erforderten; man dürfe nicht einfach immer die alten Geschichten erzählen. 42 Die .alten Geschichten': Das zielte auf betagte Dauerkontroversen um Freihandel oder Schutzzoll, zu ,alten Geschichten' aber schienen vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung mehr und mehr auch jene Zentralelemente des tradierten liberalen Credos zu werden, wie sie unlängst Gangolf Hübinger pointiert herausgearbeitet hat: die „Idee der autonomen Persönlichkeit", der „Glaube an menschliche Lernfortschritte in der Geschichte", das „Vertrauen" schließlich „in

38

BA Berlin, 6 0 Vo 3, Nr. 2 9 ( 1 7 . 3 . 1 9 1 8 ) , Bl. 10 (Abg. Weinhausen); 17 (Abg. Siehr).

39

Ebd., Bl. 1 2 (Abg. Mugdan).

40

Ebd., Bl. 7 (Abg. Kopsch).

41

Vgl. die Beiträge in: L. Gall/D. Langewiesche (Hg.): Liberalismus und Region (wie Anm. 2 3 ) ; ferner Κ. H. Pohl, „Einig" (wie Anm. 7); ders.: Liberalismus (wie Anm. 7), S. 2 6 2 - 2 9 1 .

42

Vgl. BA Berlin, 6 0 Vo 3, Nr. 2 9 ( 1 7 . 3 . 1 9 1 8 ) , Bl. 10.

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verfassungsrechtliche Regulierung und Institutionalisierung von politischer Herrschaft". 43 All diese Eckpfeiler wankten. „Im Krieg lernt der Staat, wie er sein sollte", verkündete Friedrich Naumann 44 - und das sollte durchaus keine Drohung sein, sondern Verheißung. Wer wollte, wer konnte sich inmitten einer militarisierten, vielfältig reglementierten, vom Zensor kontrollierten und von mancherlei staatssozialistischen Experimenten durchzogenen Umgebung dem neuen, zeitbeherrschenden und dezidiert anti-individualistischen Kult der Organisation' entziehen,45 zumal, wenn er mehrheitsorientierte Wirkungsmöglichkeiten trotz allem zu wahren versuchte? Mehr noch: Auch die für Liberale letztlich unverzichtbare Selbstvergewisserung im Medium des ,Kultur'-Diskurses bot im Weltkrieg kaum Halt. Kein Verstummen, das nicht: Gertrud Bäumers ,Heimatchronik' in der .Hilfe' etwa sendet mit schöner Regelmäßigkeit bildungsbürgerliche Verständigungssignale aus; ,Die neue Rundschau' bewährt sich wie nur je als Forum für „Geist, Willen, Wahrheitsmut und Haß gegen denkfaule Routine", als Orientierungspunkt für „Reflexionsmenschen", so Samuel Saenger.46 Am Ende der Reflexion steht dann freilich wenig mehr als die selbstgenügsame Erkenntnis, „der deutsche Bau" sei, „staatlich und gesellschaftlich, noch nicht fertig", der Tag noch nicht reif, die Fragen eben dieses Tages zu beantworten. 47 Friedrich Naumann wollte während des Krieges nicht über Kunst oder Kunstgewerbe schreiben48 und auch zum Thema ,Der Krieg und 43

44 45

G. Hübinger, Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum, in: Zeitschrift für Politik 4 0 , 1 9 9 3 , S. 6 0 ; vgl. auch ders., Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen 1 9 9 4 , S. 7f. F. Naumann, Der Kriegszwang, in: Die Hilfe 2 1 , 1 9 1 5 , S. 6 1 0 ( 2 3 . 9 . 1 9 1 5 ) . Ignaz Jastrow versucht es 1 9 1 5 mit milder Ironie: man habe bereits Anlaß, „auf ein Gegengewicht gegen den Organisationsdrang bedacht zu sein, wenn wir nicht einem Zustande entgegensteuern wollen, in dem es schließlich an Individualitäten, die zu organisieren lohnt, fehlen würde", I. Jastrow, Momentbild aus Wien (wie Anm. 9), Η 1 2 8 2 9 1 (S. 4). Boshafter Hugo Preuß: dem „obrigkeitlichen Befehl [zur Lebensmittelrationierung; H. C.] fügt man sich nicht nur ohne Murren, sondern mit einem Jubelruf der Erleichterung; ein Unterschied der Parteien tritt höchstens darin hervor, daß die Liberalen am lautesten jubeln", H. Preuß: Das deutsche Volk und die Politik. Jena 1 9 1 5 , S. 7 6

S. Saenger, Bemerkungen zu einigen hilfreichen Büchern, in: Die neue Rundschau 2 8 , 1 9 1 7 , S. 3 9 8 . 4 7 Vgl. S. Saenger, Bemerkungen (wie Anm. 46), S. 4 0 9 ; davor: ders., „Das Ziel", in: Die neue Rundschau 2 7 , 1 9 1 6 , S. 4 1 0 . 4* Vgl. Friedrich Naumann an Käte Stresemann, 1 4 . 1 . 1 9 1 6 , BA Berlin, NL Naumann, Ν 3 0 0 1 , Nr. 9, Bl. 1 1 9 . 46

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die deutschen Kulturideale' keinen Vortrag halten. Denn: „Diejenigen Kulturideale", für die etwa Karl Schräder und Theodor Barth eingetreten seien, „sind durch diesen Krieg endgültig vernichtet. Der Gedanke des humanen Individualismus bei Freihandel und Verständigung der Nationen ist in der alten Weise nicht wieder lebendig zu machen". 4 9 In welcher neuen Weise dann aber? In der „Organisation der Freiheit" sah etwa Leonard Nelson, der Göttinger Philosoph, die große Herausforderung eines „durch Verinnerlichung erstarkten Liberalismus". 5 0 Doch der, dem er die Lösung oder doch wenigstens die Inangriffnahme dieser Zukunftsaufgabe zutraute, war tot, gefallen an der Somme, Wilhelm Ohr, der Vordenker des freilich schon vor 1914 eher glücklos agierenden .Nationalvereins für das liberale Deutschland'. 5 1 Verbreiteter aber war wohl zunächst die Stimmung Adolf v. Harnacks, „daß alle prinzipiellen und zusammenfassenden Erwägungen und Ermahnungen während des Kriegs als curae posteriores zurückzudrängen sind und daß man im Leiblichen und Geistigen zur Zeit nur für Brot zu sorgen hat". Mehr noch: Harnack empfand „sogar die Integration unserer Kulturund Christentumsgedanken in dieser Epoche wie eine verwundende Unzartheit". 5 2 Das war 1915: Und Gegenwartsverlust des Liberalismus im Weltkrieg meint eben nicht zuletzt eine solche - womöglich generationsbedingte, gewiß noch gruppenspezifisch und regional zu differenzierende - Grundstimmung, die im ganzen dazu tendierte, jede programmatische Anstrengung auf die Zeit des kommenden ,Volksstaates' zu vertagen und die Vagheit der Neuorientierung', die Unscharfe von Schlüsselbegriffen wie Parlamentarismus' oder .Demokratisierung' geradezu dankbar in Kauf nahm. 5 3 Der suggestiven

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51

52

53

Friedrich N a u m a n n an Margarete Henschke, 1 2 . 1 2 . 1 9 1 4 , BA Berlin, N L N a u m a n n , Ν 3 0 0 1 , Nr. 28, Bl. 160. Die Zitate aus Nelsons Entwurf für die Rede auf der „Dr.-Ohr-Gedächtnisfeier" in München (14.1.1917), BA Berlin, N L Nelson, 90 Ne 1, Nr. 2 1 1 , Bl. 33; 26. Z u m Profil des Nationalvereins vgl. W. Link, Der Nationalverein für das liberale Deutschland (1907-1918), in: Politische Vierteljahresschrift 5, 1964, S. 422444. Adolf v. Harnack an Martin Rade, 12.2.1915, in: J. Jantsch (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt. Berlin, N e w York 1996, S. 725. Vgl. statt vieler den Vorschlag des Abg. David Felix Waldstein, „ruhig abzuwarten und auch nicht vor der Zeit programmatische Erörterungen zu beginnen", BA Berlin, 60 V o 3, Nr. 36, Bl. 2 1 5 (Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der Fortschrittlichen Volkspartei, 21.2.1915); ähnlich gestimmt, noch in der Sitzung a m 7 . 5 . 1 9 1 8 , Hermann Pachnicke, vgl. BA Berlin, 60 Vo 3, Nr. 36, Bl. 292.

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Propagandakraft der,Ideen von 1914', des von Max Weber verhöhnten ,,Literatenprodukt[s]", 54 setzten viele den tastenden Griff in den Ideenfundus von einst entgegen. Das eine, sinnstiftende, gemeinschaftsstiftende Datum war dort indes nicht zu finden: Gottfried Traub, Naumanns abtrünniger Weggefährte und Freund, beschwört noch kurz vor der Trennung den Geist von 1813; 55 Ernst Bassermann erinnert in seinem politischen Testament' an „ unsere [ ] Geburtsstunde, in der liberale Männer aus nationalen Gründen der Demokratie absagten und ihre eigenen nationalliberalen Wege gingen"; 56 Leopold v. Wiese dagegen beginnt seine Musterung des liberalen Ideenhaushalts mit dem Jahr 1789, um schließlich dem „modernen Liberalismus der Zukunft" 57 (notabene: nicht der Gegenwart...) das Ziel zu bestimmen: „die Totalität des einzelnen Menschen für ihn selbst, seine Mitmenschen und die Nachwelt fruchtbarer zu verwerten als bisher". 58 Gewandt und geistreich, nicht kämpferisch-aggressiv, vielmehr argumentativ-konziliant entwickelt Wiese seine liberalen Leitgedanken, werbend und nicht ganz frei von jener Melancholie, wie sie das Wissen um die Vergeblichkeit des eigenen Tuns verleiht. Denn sein Schlüsselsatz lautet: „Liberalismus ist in erster Linie Vertrauen" 59 - und dies Vertrauen in menschlichen Fortschritt, in die Zukunft einer primär vom Individuum, nicht vom nationalen Machtstaat her gedachten Freiheit, auch in die Überzeugungskraft der eigenen Ideen nach dem ideologischen Gezeitenwechsel, eben dies Vertrauen schwand. Noch einmal, der Kreis schließt sich, sei der Postsekretär Görschner zitiert, den an seinem Schreibtisch in Neubrandenburg der Gedanke quält, es müsse doch eigentlich so ganz anders stehen um den deutschen Liberalismus im vierten Kriegsjahr: Wo liegt der Grund für die Gleichgültigkeit der Menschen? Görschner findet ihn in dem „unklaren Begriff Liberalis-

54

M . Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit" der ökonomischen und soziologischen Wissenschaften [ 1 9 1 7 ] , in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. J . Winckelmann. 7. Aufl. Tübingen 1 9 8 8 , S. 5 4 0 .

55

Vgl. Gottfried T r a u b an Friedrich Naumann, 2 8 . 1 2 . 1 9 1 5 , BA Berlin, Naumann, Ν 3 0 0 1 , Nr. 1 0 7 , Bl. 1 5 4 .

56

Vgl. Bassermanns Aufzeichnung, Bad Kissingen, Sommer 1 9 1 7 , PAAA Bonn, N L Stresemann, Bd. 1 3 1 , Η 1 2 5 4 8 5 - 1 2 5 4 8 8 , hier: Η 1 2 5 4 8 5 .

57

Vgl. L. v. Wiese: Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft. Berlin 1 9 1 7 , hier: S. 1 2 0 .

58

L. v. Wiese, Liberalismus (wie Anm. 5 7 ) , S. 2 3 0 ; ebenso ders., Der Liberalismus der Zukunft, in: Die neue Rundschau 2 8 , 1 9 1 7 , S. 8 6 5 .

59

L. v. Wiese, Staatssozialismus. Berlin 1 9 1 6 , S. 1 1 7 .

NL

W o h i n sollen w i r gehen?": Liberalismus u n d Weltkrieg

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mus. Einst war er ein Festes, fast Greifbares. Jetzt nicht mehr". Dabei müsse der Liberalismus gerade heute „eine feste Konstruktion des Systems" haben - „wie ein moderner Eisenbau im Technischen" - oder seine Daseinsberechtigung sei dahin: „Wo ist der Geist, der gestaltet, bildet und baut?" 60 Bezeichnend der niichtern-distanzierte Ton von Naumanns Antwort: Kern seiner einmal gewählten Aufgabe sei nach wie vor „die richtige, durchführbare Vereinigung von nationalen, liberalen und sozialistischen Elementen zum Zweck der Führung der deutschen Politik von der linken Seite". Und Naumann fährt fort: „Ob man das theoretisch als Liberalismus im alten Sinne bezeichnen will oder nicht, macht mir nicht viel aus". 61 Was bleibt, am Ende dieser knappen Vergegenwärtigung liberaler Zeit- und Selbstkommentare, ist der Eindruck gedämpfter Polyphonie: Auch Liberale intonierten im Weltkrieg eher vaterländische Gesänge als garstige politische Lieder. Doch ,sangen' sie aus vielerlei Motiven: um sich Mut zu machen; um nicht schweigend abseits zu stehen; um Leistungen der Vergangenheit nicht erinnerungslos untergehen zu lassen im Lärm des Tages; nicht zuletzt auch, um die Stimmführerschaft für die Zukunft anzumelden. Die nachlassende soziomentale Bindungskraft eines sich über vorpolitische Wahrnehmungsmuster, sozial-moralische Wertorientierungen und kulturelle Kommunikationsstrategien definierenden .liberalen Milieus' war unter den Bedingungen des Krieges freilich nicht zu erneuern. Es waren, nicht zu vergessen, die Bedingungen der .illiberalen' Situation schlechthin,62 einer Situation, in der die Lebenschancen des einzelnen von Staats wegen auf ganz extreme Weise minimiert wurden, einer Situation auch, in der das - nach Werner Maihofer - „oberste liberale Prinzip", der Grundsatz: „Im Zweifel für die Freiheit!", 63 als gefährlicher Anachronismus erscheinen konnte. So ließen sich Handlungsspielräume für spezifisch liberale Politik jenseits der Bekenntnisse zu Staat, Gemeinwohl und ,deutscher Freiheit' nicht wirklich erweitern, mochten liberale Politiker und Publizisten auch

60

62

63

R. Görschner an Friedrich Naumann, 12.9.1918, BA Berlin, N L Naumann, Ν 3 0 0 1 , Nr. 11, Bl. 134f. Friedrich Naumann an R. Görschner, 18.9.1918, BA Berlin, N L Naumann, Ν 3 0 0 1 , Nr. 11, Bl. 133. Vgl. dazu pointiert L. v. Wiese, Liberalismus (wie Anm. 57), S. 164 („Aller Liberalismus ist ein System des Friedens, nicht des Krieges"); 192. W. Maihofer, Grundprinzipien liberaler Wertorientierung, in: liberal 3 9 (2), 1997, S. 7.

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tagespolitische Etappensiege verbuchen, einzelne ihre Überzeugungen so vehement wie in Friedenszeiten verfechten. Unerfüllt aber blieb der Wunsch nach Wegweisung, der die liberale Basis vielfach umtrieb, sofern sie sich nicht ohnehin in den Nebeln der Nationalrhetorik verlor. Denn die Chiffren des Neuen, der Reform - Demokratisierung, Neuorientierung, gleiches Wahlrecht - waren keine genuin liberalen Leitvokabeln mehr. Liberales Selbstverständnis drohte so aufzugehen in vaterländischen Sammlungsappellen oder eingeschmolzen zu werden in der vagen Hoffnung auf die Zukunft der geeinten deutschen Linken. Bildungsbürgerlicher Führungsanspruch zerschliß sich in der Ausarbeitung konkurrierender Landnahmestrategien und Kriegsdauerprognosen. Fortschrittsglaube schließlich und metaphysisch überhöhte Weltbeherrschungszuversicht, Bildungsoptimismus, Kulturprimat und Individualitätsideal verloren ihre Integrationskraft vor dem Erlebnis des Zeitbruchs. „Wie wir uns im Kriege verändern": diesen Vortrag hielt Friedrich Naumann 1916 in Wien; im Jahr darauf sammelte und publizierte er seine „Kriegsgedanken zur Welt- und Seelengeschichte". Man könnte wohl beide Texte als tastende Versuche lesen, sich einer Antwort anzunähern auf die Frage: Wie kann .Persönlichkeit' erhalten, wie kann sie gerettet werden im Zeitalter der Materialschlacht? Und wie wird der einzelne sich arrangieren mit den auftrumpfenden Ansprüchen des Staates, in der „Windstille der Menschheit", die Naumann ahnt, wenn die Waffen schweigen? 64 In beiden Schriften - nur das sei hier abschließend festgehalten - kommt der Begriff .Liberalismus' nicht vor. So steht auch für Friedrich Naumann Gegenwartswahrnehmung in Zeiten des Krieges zuweilen im Zeichen des Abschieds und der Verlusterfahrung. Im Oktober 1917 schreibt er an Gottfried Traub: „Der alte Kreis zerspaltet sich immer mehr - das muß wohl Schicksal sein". 6 5 Doch eine Chance war es auch, eine Chance für den Neubeginn. Daß der Liberalismus im Weltkrieg ohne Gegenwart schien, schärfte das Bewußtsein für die Lebensfragen seiner Zukunft. Solche Reflexion konnte in Ratlosigkeit münden, in Resignation, gar Verzweiflung. Sie konnte aber auch die Hoffnungen auf das Kommende stärken, ja mehr noch: sie konnte auf das Ende aller Illusionen im November 1918 jenes

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F. Naumann, Wenn die Kanonen nicht mehr dröhnen, in: Die Hilfe 2 2 , 1 9 1 6 , S. 7 8 1 ( 3 0 . 1 1 . 1 9 1 6 ) .

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Friedrich Naumann an Gottfried Traub, 9 . 1 0 . 1 9 1 7 , BA Koblenz, N L Traub, Ν 1 0 5 9 , N r . 6 6 , Bl. 1 1 4 .

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G e f ü h l f o l g e n lassen, d a s die e i n d r u c k s v o l l e Präsenz u n d d e n k o n s t r u k t i v e n E l a n d e s d e u t s c h e n L i b e r a l i s m u s a m B e g i n n der W e i m a r e r R e p u blik m i t z u erklären v e r m a g : d a s „ g r o ß e G e f ü h l der E r l e i c h t e r u n g " . 6 6

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So Gerhard Anschütz an Friedrich Meinecke, 9.11.1918, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 92, NL Meinecke, Nr. 332 („,nun ist's entschieden, nun ist's gut ...' [...] Über mich ist ein großes Gefühl der Erleichterung gekommen durch die Kunde von der Abdankung und vor allem durch den Ausblick auf die kommende deutsche Nationalversammlung"); vgl. auch G. Anschütz: Aus meinem Leben, hrsg. v. W. Pauly. Frankfurt a. M. 1993, S. 233.

Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen Ein Beitrag zum Verhältnis des Protestantismus zur Weimarer Republik MATTHIAS W O L F E S

Das Verhältnis des deutschen Protestantismus zur Weimarer Republik ist in den letzten zwanzig Jahren vielfach Gegenstand eingehender historischer Forschung geworden. Dabei wurde vor allem die kirchenpolitische Seite der Thematik umfassend analysiert. 1 Für den Bereich der Theologie der zwanziger und frühen dreißiger Jahren ist die Forschungslage ungleich ungünstiger. Zur Zeit liegen detaillierte Untersuchungen zu den prominentesten Vertretern der antiliberalen Aufbruchstheologien und zu einzelnen neulutherischen Theologen vor, dazu zu diversen theologischen Einzelgestalten. Eine umfassende theologiegeschichtliche Rekonstruktion ist sowohl in biographischer wie auch in systematisch-theologischer Hinsicht bisher nicht erfolgt. 2 Nahezu völlig außerhalb des Blickfeldes der Theologiegeschichtsschreibung blieb die liberale Theologie der zwei Jahrzehnte nach 1918. Immerhin wurden in jüngster Zeit den beiden prominentesten älteren Vertretern des liberalen Protestantismus, Martin Rade und Otto Baumgarten, deren Wirkungszeit auch die gesamten vierzehn Jahre der Weimarer Republik mit umfaßt, sehr materialreiche Studien gewidmet. 1

Grundlegend ist nach wie vor das Buch von Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1 9 1 8 und 1 9 3 2 (Arbeiten zur Kirchengeschichte. Band 7), Göttingen und Weimar 1 9 8 1 (2. Aufl., Göttingen und Weimar 1 9 8 8 ) . Vgl. etwa die Studie von Friedrich Wilhelm Graf zu Friedrich Gogarten: Friedrich Gogartens Deutung der Moderne. Ein theologiegeschichtlicher Rückblick, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1 0 0 ( 1 9 8 9 ) , S. 1 6 9 - 2 3 0 . Siehe daneben vor allem Kurt Nowak: Gottesreich - Geschichte - Politik. Probleme politisch-theologischer Theoriebildung im Protestantismus der Weimarer Republik: Religiöse Sozialisten - Deutsche Christen im kritischen Vergleich, in: Pastoraltheologie 7 7 ( 1 9 8 8 ) , 7 8 - 9 7 , sowie: Ders.: Kirchengeschichte und Politik. Heinrich Boehmer als politischer Publizist, in: Theologische Versuche 14 ( 1 9 8 5 ) , S. 6 5 - 7 4 . Z u Rade vgl. Anne Christine Nagel: Martin Rade - Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie (Religiöse Kulturen der Moder-

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Untersuchungen zu liberalprotestantischen Publikationsorganen, vor allem zur Christlichen Welt oder zum Protestantenblatt, zu theologischen Vereinigungen wie dem Freundeskreis der Christlichen Welt und dem „Protestantenverein" bzw. dem von beiden getragenen „Bund für Gegenwartchristentum", stehen, ebenso wie Untersuchungen zur Fakultätsgeschichte, noch aus. Dies gilt bisher auch noch für die meisten jüngeren, also um 1880 geborenen Repräsentanten der liberalen Theologie.4 An dieser Stelle soll aus dem komplexen Themenfeld ein einzelner, gleichwohl zentraler Aspekt herausgehoben werden. Der Beitrag geht folgenden Leitfragen nach: In welchem Maße haben liberale Theologen in der Weimarer Zeit sich für den demokratischen Staat eingesetzt? Wie sah die spezifisch theologische Argumentationsform aus, mit der sie gegebenenfalls ein solches Engagement an ihre theologische Theoriebildung zurückgebunden haben? Und welche Konsequenzen ergaben sich daraus für die Einschätzung des Nationalsozialismus in den frühen dreißiger Jahren? Mit dieser Fragestellung wird eine bisher viel zu wenig beachtete Facette im Erscheinungsbild des Liberalprotestantismus jener Zeit thematisiert. Es wird zugleich aber auch ein Aspekt aus der vielschichtigen Wirkungsgeschichte Friedrich Naumanns beleuchtet. In einem ersten Teil soll der Hintergrund skizziert werden, vor dem eine prodemokratische Einstellung nach 1918 sich in Theologie und Kirche ausweisen mußte. Liberale Theologen, die sich zur Demokratie bekannten, standen immer in einer doppelten Frontstellung, da sie sowohl in theologischer wie auch in politischer Hinsicht in eine Außenseiterposition gedrängt wurden. In den Ausführungen zum Thema soll dann zunächst auf Martin Dibelius und Hermann Mulert eingegangen werden. Diese beiden Theologen gehören zu den wichtigsten Vertretern des liberalen Protestantismus der Weimarer Zeit. Sie sind beide im Rahmen der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) parteipolitisch aktiv gewesen und haben sich in der Tagespublizistik intensiv mit politischen Themen beschäftigt. In einer etwas eingehenderen Darstellung soll anschließend die staatsethische Theorie des Tübinger Theologen

ne. Band 4), Gütersloh 1 9 9 6 ; zu Baumgarten vgl. vor allem Hasko von Bassi: Otto Baumgarten. Ein „moderner Theologe" im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Europäische Hochschulschriften. Reihe X X I I I . Band 3 4 5 ) , Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1 9 8 8 ; Wolfgang Steck (Hg.): Otto Baumgarten Studien zu Leben und Werk (Veröffentlichungen des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. Reihe II. Band 4 1 ) , Neumünster 1 9 8 6 . 4

Zu der hier vorausgesetzten Generationeneinteilung vgl. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1 9 8 8 , S. 2 2 7 - 2 4 0 , und: Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1 9 8 7 , S. 2 6 .

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Georg Wehrung erörtert werden. Wehrungs Theorie dient als Beispiel für ein politisches Argumentationsmodell, das in seinen Grundanschauungen von einer positiven Haltung gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat getragen wurde und das sich in diesem Sinne auch als Beleg dafür beibringen läßt, inwieweit der deutsche Protestantismus nach 1 9 1 8 , und zwar sogar noch in den späten Krisenjahren der Republik, zu einer affirmativen Einstellung gegenüber der Demokratie imstande war.

1. Die Stellung von Kirche und Theologie zum demokratischen Staat Wenn hier auf demokratische Einstellungsmuster unter protestantischen Theologen der Zeit nach 1918 hingewiesen werden soll, so steht dies im Kontrast zu einem in Kirche und Theologie weithin vertretenen politischen Standpunkt: Während der gesamten Dauer der Weimarer Republik waren auf allen Ebenen der evangelischen Kirche in Deutschland die Zurückweisung demokratischer Verfassungsgrundsätze, die Ablehnung der parteipolitischen Organisation politischer Willensbildung und sogar auch Ansätze zu einer Obstruktion der parlamentarischen Beratungsund Gesetzgebungspraxis vorherrschend. Die generelle Ablehnung der Demokratie ist hier von Anfang an als legitime politische Position akzeptiert worden - und zwar um so stärker, je mehr die Demokratiekritik zusätzlich noch durch eine idealisierende Bezugnahme auf die autoritären gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des wilhelminischen Obrigkeitsstaates gestützt wurde. Schon seitdem sich die militärische Niederlage als unausweichlich abzeichnete, bekundeten Kirchenvertreter und Theologen ihre Distanz zu einer möglichen Demokratisierung des Staates. Auch liberale Theologen bildeten hier keine Ausnahme. Zu erinnern ist etwa an den Aufruf der Kirchlich-Sozialen Konferenz und der Evangelisch-Sozialen Vereinigung Sachsens vom 11. November 1918, unterzeichnet von Alfred Jeremias und Johannes Herz, in dem argumentiert wird, daß, wenn schon keine Rettung der Monarchie mehr gelingen könne, man sich aus dem Kampf um die Staatsform lieber ganz heraushalten wolle. Was es jetzt zu tun gelte, sei der Aufbau einer möglichst umfassenden Sammlung evangelischer Christen, um die Kirchen in der Stunde der Not von innen heraus gegen die zu erwartenden Angriffe kirchen- und religionsfeindlicher Sozialdemokraten in Staatsämtern zu wappnen. 5 5

Vgl. hierzu Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, S. 1 8 - 1 9 .

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In der Folge waren alle wichtigen kirchlichen Verlautbarungen von einem tiefen antidemokratischen Affekt bestimmt. Dies gilt für die Diskussionen um die Regelung der Kirchenfrage in der Reichsverfassung, wo hochrangige Kirchenvertreter das Idealbild einer gesellschaftlich einflußreichen Kirche als einer autoritären Gegenmacht zum demokratischen Staat propagierten, es gilt für die erbitterten Auseinandersetzungen um die Wahl des Reichspräsidenten im März und April 1925 bis hin zur kirchlichen Haltung zum preußischen Staatsstreich, und es gilt erst recht für die kirchlichen Verlautbarungen aus den letzten Monaten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme. Symptomatisch für eine Vielzahl antidemokratischer Stellungnahmen sind die Kundgebungen des ersten (vorbereitenden) Deutschen Evangelischen Kirchentages vom September 1919. Die Versammlung fand Gelegenheit, Erklärungen über die bedauerliche Entfremdung weiter Kreise des Volkes, über die, wie es hieß, „Aburteilung" des Deutschen Kaisers durch die feindlichen Mächte, über das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen, über die evangelischen Gemeinden in den abzutretenden Gebieten und über die Interessen der deutschen evangelischen Heidenmission zu formulieren. Eine Aussage zu den gerade erst entstehenden demokratischen Verfassungsorganen, etwa gar ein Aufruf, sich als evangelische Christen an der Arbeit dieser Institutionen zu beteiligen, lag den weit mehrheitlich konservativ-nationalistisch eingestellten Kirchenrepräsentanten völlig fern. Statt dessen beklagte der Kirchentagspräsident Reinhard Moeller in seiner Eröffnungsrede: „Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreichs, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin. Mit ihr der hohe Träger der deutschen Macht, der Herrscher und das Herrscherhaus, das wir als Bannerträger deutscher Größe so innig liebten und verehrten." 6 Die weiteren kirchenamtlichen Stellungnahmen blieben im wesentlichen genau in den Bahnen dieser an einem über die militärische Katastrophe hinweg konstruierten Mythos des Wilhelminischen Zeitalters orientierten politischen Denk- und Urteilsweise befangen. Auch in den einflußreichen Vereinen und Großorganisationen im evangelischen Raum herrschte eine solche Einstellung bei weitem vor. So war etwa die Rede des Bundespräsidenten (und ehemaligen Hofpredigers) Bruno Doehring vor der 30. Generalversammlung des Evangelischen Bundes vom 9. bis 13. September 1926 in Dresden von einer Idealisierung des 6

Die Verhandlungen des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Dresden 1 9 1 9 . Hrsg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, Berlin-Steglitz o.J. [ 1 9 2 0 ] , S. 5 7 . - Vgl. auch Martin Greschat: Der deutsche Protestantismus im Revolutionsjahr 1 9 1 8 / 1 9 , Witten 1 9 7 4 .

Die Demokratiefähigkeit liberaler T h e o l o g e n

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Kaiserreiches und einer schroffen Verurteilung der politischen Gegenwartslage bestimmt. Der Berichterstatter in der Christlichen Welt konnte angesichts dieser Haltung nur sehr eingeschränkt erkennen, inwiefern der Bund „die Zeichen der Zeit" erkannt und sich auf „die neue Zeit und die neuen Aufgaben" eingestellt habe.7 Einen Höhepunkt in der antidemokratischen Propaganda der Kirche bildete die Vaterländische Kundgebung des Königsberger Kirchentags vom Juni 1927. Die Kundgebung selbst war durch einen Vortrag des Erlanger Systematischen Theologen Paul Althaus zum Verhältnis von Kirche und Volkstum geprägt und in Teilen direkt vorweggenommen worden. Der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die Liebe zum Vaterland und die Hochschätzung des deutschen Volkstums bildeten die Leitmotive in den Ausführungen von Althaus. Die Kundgebung des Kirchentages nahm diese Motive auf und verband sie zu einem Komplex völkisch-antidemokratischer Aussagen, die die Kooperation der Kirche mit dem republikanischen Staat zusätzlich belasteten.8 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang aber auch, daß durch den Vortrag von Althaus eine demokratiekritische Position in den Vordergrund gerückt wurde, die andernfalls die Diskussionen des Kirchentages wohl kaum in der dann erfolgten Weise dominiert hätte. So vertrat etwa der Delegierte Wilhelm Kahl, Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses und DVP-Reichstagsabgeordneter, eine Haltung, die die Rechtmäßigkeit der neuen Staatsform anerkannte und zur Loyalität der evangelischen Christen mit der Republik von Weimar aufforderte.

7

Vgl. Otto Michaelis: Die 3 0 . Generalversammlung des Evangelischen Bundes in Dresden, in: Die Christliche Welt 4 0 ( 1 9 2 6 ) , S. 9 6 6 - 9 6 8 , hier: S. 9 6 6 . Was Michaelis forderte, war eine entschiedene Abkehr von jener „politischen Instinktlosigkeit, die als böses Erbe einer der Entwicklung staatsmännischer Fähigkeiten nicht günstigen Geschichte gerade den deutschen Protestantismus auf Schritt und Tritt hemmt, so daß Millionen und Abermillionen deutscher Protestanten keinen Anstoß nehmen an einer Politik, die lieber sich selbst von der Regierung ausschaltet und tausendfältige Möglichkeiten kulturpolitischer Einwirkung im Sinne des Protestantismus preisgibt, als daß man sich bereit erklärte, mit Männern, die in Fragen der Staatsform und der Sozialpolitik anders stehen, die politische Macht zu teilen". Koalitionsfähigkeit setze jedoch zunächst eine Anerkennung des für alles politische Parteistreben gleichermaßen verbindlichen formalen Rahmens, eben der Demokratie, voraus. Jener Obstruktionskurs spiele hingegen „nur dem an politischem Witterungsvermögen und realpolitischer Klugheit überlegenen Gegner in die H ä n d e " (Ebd., S. 9 6 6 ) .

8

Vgl. den T e x t der Kundgebung in: Die Verhandlungen des 2. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Königsberg 1 9 2 7 . Hrsg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, Berlin 1 9 2 7 , S. 3 3 8 - 3 4 0 ; dort findet sich auch der Wortlaut des Vortrages von Paul Althaus.

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Antisemitische Töne, wie Althaus sie anschlug, waren Kahl fremd. Auf der Grundlage eines gouvernementalen Staatsverständnisses appellierte er statt dessen an die Einheit des Volkes, dessen Interessen die evangelische Kirche am besten durch eine konsequente Fortführung ihrer bisherigen, vom Wechsel der Staats- und Verfassungsform unabhängigen Arbeit vertrete. 9 In der Folge dieses Standpunktes lag es, wenn in einem Entwurf für die abschließende Kundgebung des Kirchentages davon gesprochen wurde, daß „die jetzige deutsche Staatsform auf Grund der Verfassung zu Recht besteht" und es insofern „Christenpflicht" sei, „sich ihr unter- und einzuordnen". Ausgerechnet die Intervention von Johannes Herz, dem Generalsekretär des Evangelisch-Sozialen Kongresses, führte zur Streichung dieser Formulierung. Es sei, so seine Begründung, nicht erforderlich, in der Kundgebung über Recht bzw. Unrecht einer Staatsform zu urteilen, wenn lediglich die Loyalitätspflicht des Christen festgestellt werden solle. 10 Gegen Ende der Weimarer Zeit verschafften sich die Sympathien für den Nationalsozialismus innerhalb der evangelischen Kirche einen immer bestimmenderen Ausdruck. Ein besonders aussagekräftiges Dokument ist in diesem Zusammenhang die Erklärung des mecklenburgischen Landesbischofs Heinrich Rendtorff in der Mecklenburgischen Zeitung vom 24. April 1931 - also knapp eine Woche, nachdem mit erheblichem publizistischem Aufwand der Chemnitzer Pfarrer Willibald Hase die erste NS-Pfarrerarbeitsgemeinschaft gegründet hatte. In Rendtorffs Erklärung hieß es in einer charakteristischen Mischung aus pastoralem Pathos und politischer Argumentation: „Viele Glieder der evangelischen Kirche leben heute mit ihrem ganzen Denken und Fühlen in der nationalsozialistischen Bewegung. Die evangelische Kirche ist also durch ihren Beruf, den einzelnen zu suchen und ihm zu dienen, verpflichtet, sie in ihrem Lebenskreis zu suchen, daß heißt eben in der nationalsozialistischen Bewegung. So ist die evangelische Kirche verpflichtet, um ihres Berufes willen, die nationalsozialistische Bewegung in ihrem Wollen zu würdigen. [...] Die nationalsozialistische Bewegung bejaht mit Leidenschaft den sozialen Gedanken, den Brudergedanken. Damit vertritt sie ein Anliegen, das auch ein solches der evangelischen Kirche ist. [...] Die evangelische Kirche muß um ihres Berufes willen aus

9

Vgl. hierzu: Ebd., S. 2 4 5 - 2 4 9 .

10

Der Entwurf zur Kundgebung findet sich in der Verhandlungsniederschrift des DEKA vom 1 4 . / 1 5 . Juni 1 9 2 7 in Königsberg/Preußen, Archiv der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bestand A 2 / 4 8 9 ; vgl. Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, S. 1 7 6 - 1 7 7 .

Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen

293

der nationalsozialistischen Bewegung das große Wollen heraushören und dankbar begrüßen [...]." Gegenüber diesem Standpunkt wirkt die Einschränkung, es müsse aber immer auch „der heilige Wille Gottes verkündigt" werden, wie die nachgeschobene Absicherung eines seiner Sache nicht sicheren theologischen Gewissens. 11 Andere Stimmen dieser Art lassen sich in Fülle beibringen. Eine ganz ähnlich Argumentation findet sich vor allem in der zweiten Hälfte des Jahres 1931 und im Frühjahr 1 9 3 2 auch bei zahlreichen Theologen. Fast bis in den Wortlaut hinein stimmt etwa der Leipziger liberale Theologe Horst Stephan in seinem Beitrag für die von Leopold Klotz veranstaltete Sammlung theologischer Stellungnahmen zum Nationalsozialismus in der Einschätzung der NS-Bewegung mit Rendtorff überein. 12 Als Fazit bleibt festzuhalten: Während der gesamten Zeit der Weimarer Republik, vor allem in den krisenhaften Phasen von 1918/19 und 1930 bis 1933, war eine geradezu prinzipielle Ablehnung demokratischer Verfassungsgrundsätze sowohl in den kirchenleitenden Behörden als auch unter der Pfarrerschaft weit verbreitet. Von dieser Gegnerschaft war auch die universitäre evangelische Theologie in großen Teilen geprägt. Über den ansonsten in der Regel erbittert geführten Kampf um die Grenzmarkierungen zwischen den theologischen Fraktionen hinweg, waren sich hierin die meisten Vertreter des konservativen Luthertums, der theologischen Aufbruchsbewegungen und der diversen kulturprotestantischen Strömungen einig. Gerade auch die liberalen Theologen spiegeln in ihren Stellungnahmen die Skepsis, später die offene Ablehnung der demokratischen Verfassungsgrundsätze wider. Immerhin stand hier zumindest in den ersten Monaten der Republik oftmals noch das Bemühen im Vordergrund, die Neugestaltung der staatlichen, insbesondere der verfassungsrechtlichen Verhältnisse im Sinne der eigenen kirchenpolitischen Forderungen positiv zu beeinflussen. Aus diesem Interesse heraus nahm eine ganze Reihe liberaler Pfarrer, Kirchenvertreter und Theologen auch an dem politischen Gründungsprozeß der Weimarer Republik aktiven Anteil. Wenn gleichwohl nach 1920 auch unter den liberalen Theologen antidemokratische Ressentiments bestanden, so hatte dies seinen Grund vornehmlich in der Enttäuschung eben jener kirchenpolitischen Hoffnungen. Dieser Zusammenhang läßt sich wiederum an der Haltung Horst Stephans exemplarisch nachweisen. 11

Vgl. Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 3 1 5 - 3 1 6 ; siehe dort auch die scharfe Kritik des religiösen Sozialisten Heinrich Schwartze.

12

Vgl. Horst Stephan: [Beitrag], in: Leopold Klotz (Hg.): Die Kirche und das dritte Reich. Bd. 2 , Gotha 1 9 3 2 , 1 1 6 - 1 2 4 .

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Stephan steht schließlich auch, ebenso wie etwa der enge Vertraute Rades Erich Foerster, für die Abkehr vom demokratischen Verfassungsstaat in der letzten Phase der Weimarer Republik. Problematisch ist zudem die Haltung liberaler Theologen und Kirchenvertreter zum Antisemitismus. Zwar haben Stephan und besonders Erich Foerster mit ihren Mitteln versucht, dem schon vor 1933 offen propagierten nationalsozialistischen Antisemitismus entgegenzutreten. 13 Sie sind dabei auch keineswegs so naiv vorgegangen, wie dies für Martin Rade gilt. Aber es zeigte sich doch rasch, daß diese Mittel unzulänglich und nicht einmal dazu geeignet waren, auch nur eine Schärfung der Wahrnehmung des Problems in Theologen- und Kirchenkreisen herbeizuführen. Insofern treffen die Ergebnisse der Analyse, die Rita Thalmann kürzlich im Blick auf den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" über die Schwäche des Kulturprotestantismus bei der Bekämpfung des Antisemitismus vorgenommen hat, auch für diese, an dem Verein nicht beteiligten liberalen Theologen zu.14

2. Die liberale Theologie und der demokratische Staat. Demokratische Einstellungsmuster unter protestantischen Theologen Bisher wenig beachtet wurde von der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung, daß trotz des massiven antidemokratischen Affektes in Theologie und Kirche selbst noch in den späten zwanziger und den frühen dreißiger Jahren einzelne liberale Theologen und Kirchenvertreter zu einer positiven Einstellung zur Demokratie fanden und an ihr, trotz der Kritik, der sie sich aussetzten, auch festhielten. Dabei wurde allerdings nicht selten zwischen der politisch-parlamentarischen Seite des demokratischen Verfassungsstaates einerseits und einem, als solchem nicht immer klar artikulierten Ideal des Demokratie-Gedankens unterschieden. Von dieser Unterscheidung aus kam es auch von hier aus zu einer bisweilen recht weitgehenden Kritik am Weimarer Politiksystem; doch verdankte sich auch diese Kritik noch einem Interesse an der Erhaltung der Demokratie selbst.

13

14

Zu Foersters Kritik am Antisemitismus der NS-Bewegung vgl. Matthias Wolfes: Foerster, Erich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 16, Herzberg 1999. Vgl. Rita R. Thalmann: Die Schwäche des Kulturprotestantismus bei der Bekämpfung des Antisemitismus, in: Kurt N o w a k / Gerard Raulet (Hg.): Protestantismus und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main / N e w York / Paris 1994, S. 147-165.

Die D e m o k r a t i e f ä h i g k e i t liberaler T h e o l o g e n

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Es soll zunächst auf zwei der bekanntesten liberalprotestantischen Theologen der Weimarer Zeit eingegangen werden, nämlich auf den Heidelberger Neutestamentier Martin Dibelius und auf den Kieler Systematischen Theologen Hermann Mulert. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert - und auch erklärungsbedürftig - , daß in den neueren Forschungen zur politischen Haltung des Protestantismus nach 1918 zwar nicht selten gerade auf Dibelius und Mulert hingewiesen wird, daß aber selbst für diese Theologen eine konzentrierte Rekonstruktion und Analyse der politischen Grundüberzeugungen bisher nicht vorgenommen wurde. 2.1. Martin Dibelius Martin Dibelius (1883-1947), einer der weltweit angesehensten Theologen der zwanziger und dreißiger Jahre, stellt allein schon insofern einen Sonderfall innerhalb der zeitgenössischen Theologenschaft dar, als er sich immer wieder unbefangen und mutig zu politischen Fragen geäußert hat. Als Zwanzigjähriger, noch vor jenem schweren Mißerfolg Naumanns bei den Reichstagswahlen von 1903, trat er dem Nationalsozialen Verein bei. Die persönliche Bekanntschaft mit dem liberalen Parteiführer stammt aus dem Jahr 1905. Naumann war ein enger Freund des Vaters Franz Dibelius, dem späteren Vizepräsidenten des sächsischen Landeskonsistoriums. In einer bisher nicht veröffentlichten Lebensbeschreibung aus dem Jahr 1946 geht Martin Dibelius auch auf weitere Verbindungslinien zu Naumann ein. 15 Aus dem von Naumann mitgegründeten „Verein Deutscher Studenten" allerdings trat er wegen der dort herrschenden Judenfeindschaft nach kurzer Mitgliedschaft und unter Protest wieder aus. Von besonderem Interesse für die hier zu erörternde Fragestellung ist der umfangreiche Einsatz von Dibelius für die DDP. Sogleich nach Gründung der Partei trat er ihr bei. In Heidelberg und in zahlreichen weiteren nordbadischen Orten betätigte er sich als Wahlredner; in den zwanziger Jahren gehörte Dibelius als DDP-Abgeordneter dem Heidelberger Stadt15

Nachlaß Martin Dibelius. Universitätsbibliothek Heidelberg. Bestand I. C. 2: Lebensbeschreibung (Typoskript), Bl. 3. - Zur Biographie vgl. Werner Georg Kümmel: Martin Dibelius, in: Theologische Realenzyklopädie. Band 8, Berlin / N e w Y o r k 1 9 8 1 , 7 2 6 - 7 2 9 ; Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung zu: Martin Dibelius über „Die Zerstörung des Bürgertums". Ein Vortrag im Heidelberger Marianne Weber-Kreis 1 9 3 2 , in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology 4 ( 1 9 9 7 ) , S. 1 1 4 - 1 5 3 ; Friedrich Wilhelm Graf: N a c h w o r t des Herausgebers, zu: Martin Dibelius: Selbstbesinnung des Deutschen. Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf, Tübingen 1 9 9 7 , S. 5 1 - 7 5 .

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rat an. Zumindest im Blick auf den badischen Raum wird man feststellen dürfen, daß Dibelius nach 1 9 1 8 einer der wichtigsten Sprecher der Partei gewesen ist. Diese Aussage zum parteipolitischen Engagement unterliegt allerdings der Einschränkung, daß es bisher nicht gelungen ist, detaillierte Angaben über ausgeübte Ämter oder Funktionen innerhalb der DDP zu ermitteln. Immerhin läßt sich anhand eines Briefes vom Oktober 1 9 3 0 belegen, daß Dibelius dem badischen Landesausschuß der DDP und auf Reichsebene ihrem Kulturausschuß angehört hat. 1 6 Bereits im letzten Kriegsjahr trat Dibelius wiederholt für ein politisches Demokratisierungsprogramm ein. Organisatorisch schloß er sich der Fortschrittlichen Volkspartei an; auch beteiligte er sich an der Arbeit des Volksbundes für Freiheit und Vaterland. 17 Wiederholt kritisierte er die Kriegsführung der deutschen Heeresleitung sowie die passive Haltung der Kirchen. 18 Entgegen der offiziellen Darstellung über die Kriegsursachen sah Dibelius die behauptete Notwehr-Situation im August 1 9 1 4 keineswegs als unbezweifelbaren historischen Sachverhalt an. Gegen Ende des Krieges stand Dibelius in starker Abhängigkeit von Naumanns innen- und sozialpolitischer Konzeption, - ein Umstand, dessen er sich bewußt war und den er auch in einem späteren autobiographischen Rückblick entsprechend reflektiert hat. 1 9 Aus der Beziehung zu Naumann ergab sich der Anstoß, der DDP beizutreten. Doch sein politisches Engagement ging über die Parteiarbeit hinaus, denn Dibelius nahm auch in der Presse, darunter den beiden wichtigsten überregionalen Tageszeitungen, der Vossischen ZeitungunA der Frankfurter Zeitung, häufig das Wort zu tagespolitischen Fragen. Im Mittelpunkt sowohl seiner politischen Reden wie auch seiner Zeitungsbeiträge standen die zentralen Themen der aktuellen politischen Diskussion: Bereits im Frühjahr 1 9 1 9 forderte Dibelius einen Ausgleich

16

Es handelt sich um einen Brief von Dibelius an den Heidelberger Stadtrat Oskar Hofheinz vom 2 1 . Oktober 1 9 3 0 . Vgl. hierzu Karl-Heinz Fix: Universitätstheologie und Politik. Die Heidelberger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte. Band 7), Heidelberg 1 9 9 4 , S. 9 7 . Das ausführliche Schreiben wird im Anhang zu diesem Aufsatz mitgeteilt.

17

Vgl. Heidelberger Tageblatt. Nr 4 0 . vom 16. Februar 1 9 1 8 , 5. Neben Dibelius unterzeichnete aus der Heidelberger Theologischen Fakultät lediglich der Praktische Theologe Otto Frommel den Gründungsaufruf des Volksbundes.

18

Vgl. Martin Dibelius: Im vierten Kriegsjahr, in: Frankfurter Zeitung. Nr. 3 3 2 vom 2 1 . November 1 9 1 7 , S. 1-2.

19

Vgl. Martin Dibelius: [Selbstdarstellung], in: Erich Stange (Hg.): Die Religionswissenschaft in Selbstdarstellungen. Band 5, Leipzig 1 9 2 9 , S. 1 - 3 7 , hier: S. 2 7 .

Die Demokratiefähigkeit liberaler T h e o l o g e n

297

Deutschlands mit den ehemaligen Kriegsgegnern, die Integration des Landes in einen Bund demokratischer Staaten sowie die Orientierung der noch immer einseitig autoritätsfixierten Verfassungsdiskussion am Modell des demokratischen Staates. Zugleich hob Dibelius wiederholt hervor, daß die Bereitschaft der Bevölkerung, einen verständigungsorientierten Kurs durch ihre Wahlentscheidung zu tragen, abhängig sei von einem Entgegenkommen Frankreichs und Englands. Durch die materiellen Forderungen, die Gebietsbesetzungen und die kompromißlose Haltung in der Kriegsschuldfrage werde jedoch die deutsche Seite in einem nicht erträglichen M a ß belastet. Ein weiteres Motiv kehrt in den Stellungnahmen von Dibelius besonders aus der Frühzeit der Republik immer wieder: die Aufforderung zur Mitwirkung in den neuen politischen Gremien des republikanischen Staatswesens sowie die Ermutigung zur Teilnahme an dem allgemeinen gesellschaftlichen Diskussionsprozeß um politische Fragen. Dibelius sah die größte Gefahr für die Demokratie in der Fremdheit der Bevölkerung gegenüber den politischen Entscheidungsinstanzen des Staates. Sie würde zu einer Flucht vor der Verantwortung führen und so den Bürger erneut politisch entmündigen. Im Gegenzug beschrieb Dibelius ein Ideal des bewußt sich seine politische Ansicht bildenden Staatsbürgers. Wahlentscheidungen werden hier nicht gefühlsbestimmt, sondern als Ergebnis einer bewußt erfolgten Meinungsbildung getroffen. Zur Mitte der zwanziger Jahre gehörte Dibelius zu den aktivsten Vertretern der DDP in Heidelberg. Er unterstützte die Partei bei der Reichstagswahl 1924 und scheute auch nicht davor zurück, sich in den Auseinandersetzungen um die Reichspräsidentenkandidatur des Katholiken Wilhelm Marx zu exponieren. 20 Das Programm einer „Erziehung" zu staatsbürgerlicher Handlungskompetenz stand auch jetzt noch im Mittelpunkt von Dibelius' politischem Wirken. So sollte bereits die Schule zu Völkerverständigung und Toleranz anleiten, das im Geschichtsunterricht vermittelte Bild von der europäischen Geschichte von nationalistischen, kriegsverherrlichenden und antisemitischen Urteilen befreit und überhaupt der militaristische Geist im deutschen Ausbildungswesen beseitigt werden. Positive Ziele waren „die Menschheitsidee, der Völkerbundsgedanke, die Internationalität". 21 Auch als Rektor der Heidelberger Universität, im Studienjahr 1927/ 2 8 , nahm Dibelius mehrfach zu politischen Fragen Stellung. In seine 20

Siehe hierzu die Darstellung von Karl-Heinz Fix: Universitätstheologie und Politik, S. 1 0 0 - 1 0 2 .

21

Martin Dibelius: Die Aufgabe der Schule im Dienste der Volks- und Völkerversöhnung, in: Badische Schulzeitung 6 7 ( 1 9 2 9 ) , S. 2 2 9 - 2 3 2 , S. 2 4 5 - 2 4 7 , hier: S. 2 4 6 .

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Amtszeit fielen die Ehrenpromotionen von Gustav Stresemann und Jacob G. Schurman, dem Botschafter der Vereinigten Staaten. Bei Gelegenheit seiner Ansprache legte Dibelius ein Bekenntnis zum demokratischen Staat und zur Westorientierung Deutschlands ab, wie sie durch die Politik Stresemanns und das Engagement des anwesenden Botschafters repräsentiert wurden. Dibelius nutzte die feierliche Zeremonie, um vor einer einseitigen Beschäftigung mit der „vaterländischen Vergangenheit" zu warnen; vielmehr sollte auch durch die Universität die gegenwärtige gesellschaftliche Situation stärker in den Blick genommen werden. 22 Diesem Zweck diente auch Dibelius' umstrittene Initiative vom Juli 1929, als er die Studenten - und zwar in seiner Eigenschaft als Prorektor der Universität - per Anschlag dazu aufforderte, des zehnten Jahrestages der Weimarer Reichsverfassung zu gedenken. Die Verfassung sei ein Gemeinschaftswerk der demokratischen Parteien und mit Notwendigkeit aus der historischen Situation nach 1918 erwachsen. Ein besonderes Gewicht legte Dibelius dabei auf die kulturpolitischen Aussagen der Verfassung; durch sie werde die Freiheit von Kultur und Religion garantiert. 23 Das Plädoyer von Dibelius für die parlamentarische Demokratie und eine aktive Staatsbürgerschaft blieb jedoch nicht ungetrübt. Der wiederholt vorgetragenen Aufforderung zur Mitwirkung in den demokratischen Institutionen korrespondierte, je länger, desto mehr, eine Kritik an den Parteien. Als Reaktion auf den erbitterten Parteienkampf der zwanziger Jahre vertrat Dibelius die Auffassung, daß die demokratischen Parteien Gegenstand eines weltanschaulichen Vergeistigungsprozesses sein müßten. Trotz seiner Mitwirkung in der DDP und der engagierten Teilnahme am politischen Meinungsstreit schienen ihm die Erfordernisse einer auf Kompromiß und Ausgleich angelegten politischen Praxis durch die den Staat faktisch tragenden Parteien immer weniger erfüllt zu werden. Um dem drohenden Scheitern der Republik entgegenzuwirken, sollten daher die Parteien sich erneut auf die Prinzipien des demokratischen Staatsgedankens zurückbesinnen. 24 Versitt22

23

24

Begrüßungsansprache des Rektors, in: Reden bei dem Akte der Ehrenpromotionen des Reichsaußenministers Dr. Stresemann und des Botschafters der Vereinigten Staaten Dr. Schurman, Heidelberg 1928, S. 5-7, hier: S. 6; vgl. auch KarlHeinz Fix: Universitätstheologie und Politik, S. 106-107. Martin Dibelius: Aufruf an die Kommilitoninnen und Kommilitonen die zehnte Wiederkehr des Tages der neuen Reichsverfassung betreffend [Flugblatt], Heidelberg 1929. Die Veröffentlichung erfolgte bereits am 25. Juli 1929; vgl. auch: Vossische Zeitung. Ausgabe vom 28. Juli 1929. Vgl. etwa Martin Dibelius: Der Held und die Politik, in: Frankfurter Zeitung. Ausgabe 292 vom 17. April 1924, S. 3.

Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen

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lichung und Vergeistigung waren die Leitmotive, die Dibelius wie für die Ausbildung einer politischen Urteilsfähigkeit unter den Staatsbürgern so auch im Blick auf die Parteien forderte. 25 Die Führersehnsucht weiter Kreise auch der bürgerlichen Bevölkerung hingegen lehnte Dibelius ab. Den Nationalsozialismus und seine Idee vom totalitären Staat sah er zu keinem Zeitpunkt als mögliche Alternative zum demokratischen Rechtsstaat von Weimar an. 2.2. Hermann Mulert Hermann Mulert (1879-1950) hat sich, ebenso wie Dibelius, schon früh dem Nationalsozialen Verein angeschlossen. Bis 1918 folgte er jeder parteipolitischen Bewegung Naumanns, und auch der DDP schloß er sich unmittelbar nach deren Gründung an. Bereits für den Januar 1907 ist eine Reihe von Wahlkampfeinsätzen bezeugt. Mulert war Mitglied der Freisinnigen Vereinigung und der Fortschrittlichen Volkspartei. Während des Krieges stand er zeitweise, ebenso wie Horst Stephan, der Nationalliberalen Partei nahe. Der Krieg selbst erschien ihm als eine dem deutschen Volk aufgezwungene Auseinandersetzung, in der es weniger um die politische oder militärische Stellung Deutschlands in Europa oder der Welt ging als vielmehr um die Sicherung der deutschen Kultur schlechthin. Die militärische Niederlage erlebte Mulert als schwere Enttäuschung, doch findet sich bei ihm kein Bedauern über den Sturz der Monarchie. Der Demokratie wandte Mulert sich, wie er selbst formulierte, als ein hierauf „innerlich längst vorbereiteter" zu.26 Gemeinsam mit einigen weiteren liberalen Theologen schloß Mulert sich zur Jahreswende 1918/19 der DDP an. Diese Partei blieb Mulerts politische Heimat während der Zeit der Weimarer Republik. Jahrelang gehörte er neben Otto Baumgarten und dem späteren Rade-Biographen Johannes Rathje dem Vorstand des Landesverbandes von SchleswigHolstein an, und selbst noch die von ihm an sich abgelehnte organisatorische und programmatische Neuorientierung der Partei im September 1930 vollzog Mulert mit. Zwar gibt es Hinweise darauf, daß Mulert in dieser kritischen Situation zeitweise an einen Wechsel zur SPD gedacht hat, doch schien es ihm letztlich ein von ihm verlangter Akt der Solidarität zu sein, auch in der Stunde des parteipolitischen Niedergangs der liberalen Partei treu zu bleiben. Nach der Selbstauflösung der 25

26

Martin Dibelius: Die Aufgabe der Schule im Dienste der Volks- und Völkerversöhnung, S. 2 4 6 - 2 4 7 . Hermann Mulert: Baumgarten als Sozialpolitiker, in: Soziale Praxis 42 (1933), S. 139-140, hier: S. 140.

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Staatspartei am 28. Juni 1933 zog Mulert sich aus allen politischen Bindungen zurück und widmete sich, nunmehr von seinem sächsischen Heimatort Niederbobritzsch aus, allein noch der theologischen und publizistischen Arbeit. Die Leistung, die Mulert gerade in der Herausgabe der Christlichen Welt vollbracht hat, ist für die Geschichte des Liberalprotestantismus in den Jahren des Dritten Reiches kaum hoch genug zu schätzen. Trotz aller Repressionen, darunter sogar dem Auslieferungsverbot, und unter Inkaufnahme zahlreicher Selbstbeschränkungen blieb hier bis zum Mai 1941, als auch diese Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen mußte, der theologischen und kirchenpolitischen Diskussion ein Ort vergleichsweise freier Aussprache erhalten. 27 Mulert faßte seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei als Verpflichtung zur aktiven politischen Betätigung auf. Diesen Grundsatz befolgte er auch während seiner Zugehörigkeit zur DDP. Mulert scheute nicht davor zurück, sich an den Alltagsgeschäften der Parteiarbeit zu beteiligen; er war Schriftführer im DDP-Landesvorstand, er nahm als Redner an Wahlkampfveranstaltungen teil und er engagierte sich als Verfasser von politischen Beiträgen für die regionale und überregionale Tagespresse. Neben der Mitgliedschaft in der Partei gehörte Mulert dem Reichsbanner, dem Politischen Club (Leipzig) und dem Liberalen Verein in Kiel an. 28 Wie Dibelius trat auch Mulert bei der Reichspräsidentenwahl 1925 für den demokratischen Kandidaten ein. 29 Mulert hat sich jedoch nicht nur zu tagespolitischen Fragen geäußert, sondern in einer Reihe von Texten grundsätzlich zur staatstheoretischen Problematik Stellung genommen. Ein wichtiges Thema waren für Mulert in diesem Zusammenhang die durch das demokratische Staatsmodell mit seinem parteipolitisch-parlamentarischen Entscheidungsmechanismus gesetzten Anforderungen an die politische Handlungskompetenz der gesellschaftlichen Trägergruppen. So plädierte er etwa in einem

27

Der Umstand, daß zu Mulerts politischem und kirchenpolitischem Einsatz während der Weimarer Zeit zulängliche Untersuchungen bis jetzt nicht vorliegen, ist um so bedauerlicher, als Mulert einen sehr umfangreichen Nachlaß hinterlassen hat, der auch eine breite Korrespondenz einschließt (Universitätsarchiv Leipzig: Nachlaß Hermann Mulert [wissenschaftlicher Nachlaß]).

28

Nähere Auskünfte über Mulerts parteipolitisches Engagement und seine Mitgliedschaft in republikanischen Vereinen gibt eine umfangreiche biographische Schilderung, die von den beiden Kindern Mulerts auf der Grundlage zahlreicher Dokumente zusammengestellt wurde: Hermann Mulert. Biografische Notizen - Daten Erinnerungen. Zusammengestellt von Theodor Mulert-Busch und Gisela Mulert [Typoskript], o . 0 . 1 9 9 5 . - Ein Exemplar dieses Textes befindet sich in der Sammlung Hermann Mulert an der Schleiermacher-Forschungsstelle der Universität Kiel.

29

Vgl. Mulerts Erklärung zur Wahl in: Die Christliche Welt 3 9 ( 1 9 2 5 ) , S. 5 1 0 .

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ausführlichen Beitrag für die Christliche Welt unter dem Titel: „Staatsgesinnung und Staatskunde" für eine stärkere Inanspruchnahme der politischen Mitwirkungsrechte. 30 Die in Deutschland weit verbreitete Distanziertheit gegenüber dem Staat erklärt sich nach Mulert in erster Linie aus historischen Gründen. Die verzögerte Ausbildung eines Nationalstaates war dafür verantwortlich, daß „unser Volk mehr dem Reich der Gedanken zugewandt, für Fragen der Weltanschauung, für Wissenschaft und Dichtung begabter schient als für Weltbeherrschung und Politik". „Begeisterung" für den Staat, der Wille zur Ausübung politischer Verantwortung und die „Freude an selbstgeschaffenen Schicksalen" konnte nicht aufkommen, wenn sich staatliches Handeln primär in der Verfolgung partikularer territorialer und dynastischer Interessen präsentiert. Untertanentreue galt jahrhundertelang mehr denn Staatsgesinnung. 31 Auch nach 1918 änderte sich nach Mulert an dieser Haltung wenig. Die Einstellung gegenüber dem demokratischen Staat blieb, und zwar selbst da, wo die Demokratie zunächst begrüßt worden war, gebrochen durch jene Fremdheit und Distanziertheit. Besorgniserregend war nach Mulert in diesem Zusammenhang, daß auch unter der Arbeiterschaft, die in den Tagen des Kapp-Putsches und des Hitler-Putsches gezeigt habe, daß sie fest zur deutschen Republik steht, „wir mehr den Willen [finden], die neue Staats form festzuhalten, und nicht etwa eine durch Geschlechter hindurch stark gewordene Staatsgesinnung". Ein den Staat in seiner demokratischen Verfassung bejahender „Staatsbürgersinn", wie Mulert ihn forderte, wurde auch hier nicht ausgebildet. Im Blick auf die Parteien hielt Mulert gegen Ende der zwanziger Jahre, ebenso wie Dibelius, ihren faktischen Zustand für dringend korrekturbedürftig. Überhaupt schien ihm vom „Parteiwesen" eine Gefahr für die politische Willensbildung auszugehen, und auch der 30

31

Hermann Mulert: Staatsgesinnung und Staatskunde, in: Die Christliche Welt 4 2 (1928), S. 1004-1008. Ebd., S. 1004-1005. „Noch das Geschlecht, das zwischen 1870 und 1890 heranwuchs, hat zum großen Teil das Gefühl gehabt, sich nicht viel Sorge um den Staat machen, sich wenig um politische Probleme kümmern zu müssen; es stand im Schatten Bismarcks. Und die Gewöhnung, uns regieren zu lassen, haben wir dann unter Wilhelm II. beibehalten, obwohl wir es so nicht gedurft hätten. Man freute sich an dem Herrscher oder ärgerte sich über ihn (ohne Letzterem viel Folge geben zu können), aber wie Wenige empfanden Verantwortung für den Staat als unseren Staat!" (S. 1005). Diese Aussage Mulerts, der selbst 1879 geboren wurde, ist auch insofern interessant, als die wichtigsten Träger der Weimarer Republik in Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft gerade aus dieser sogenannten „Gründerzeitgeneration" stammten.

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Parlamentarismus habe seine Mängel in den zurückliegenden Jahren nur allzu deutlich offenbart. Und doch blieb seine zentrale Forderung die nach einem staatsbürgerlichen Bewußtsein in der Bevölkerung. Denn hier entscheide sich, ob das politische System der Weimarer Republik imstande sei, derartigen institutionellen Schwächen zu widerstehen und sie zu überwinden oder ob es ihnen letztlich erliegen werde. Die verbreitete Neigung zur Steuerhinterziehung etwa wird von Mulert als Ausdruck einer verhängnisvollen, den Staat, bezogen auf die privaten Interessen, allein als fremdes Gegenüber betrachtenden Haltung gewertet. Erforderlich sei daher eine regelrechte „Erziehung zur Staatsgesinnung": „Heute haben wir Staatsgesinnung und politisches Interesse weitester Kreise im Volke doppelt nötig, weil ohne das unsere jetzige Verfassung, die dem Volke selbst die Entscheidung über seine Schicksale in die Hand gibt, zur leeren Form würde." 32 Anders als Dibelius, der die Schule zum wichtigsten Ort eines staatsbürgerlichen Unterrichts erklärte, sah Mulert eher die politisch relevanten Vorgänge im gesellschaftlichen Leben, beispielsweise die Rechtsprechung oder den parlamentarischen Meinungsstreit, als zentrale Agenten eines solchen „Unterrichtes" an. Die Schule erreiche ohnehin weite Teile der Jugend nur bis zum 14. Lebensjahr. Zudem sei ein offizieller Staatsbürgerkunde-Unterricht selbst mit allen Problemen der Wertevermittlung verknüpft. Welche Lehrerschaft stünde im übrigen für einen derartigen Unterricht zur Verfügung? „Worauf es vielmehr ankommt, ist, daß [...] die Rechtsordnungen unseres Staates immer gerechter gestaltet und von immer weiteren Kreisen unseres Volkes als gerecht empfunden werden; einen Staat, der wirklich Hort des Rechts ist, ehrt man". Hinzu müsse kommen, daß „viele Männer und Frauen in unserem Volke dem Staat Interesse und Wertschätzung weiter Kreise gewinnen durch Pflichttreue und Selbstlosigkeit, mit der sie ihr Amt im Dienste des Staates führen, oder daß sie solche Pflichttreue und Selbstlosigkeit zeigen bei einer Tätigkeit, die politisch ist, ohne daß sie doch Beamte wären, also namentlich als Abgeordnete". Der demokratische Staat werde, wie Mulert 1928 noch hoffnungsvoll äußerte, „dem deutschen Volke am sichersten wertvoll durch zähe und treue politische Pflichterfüllung vieler Einzelner". 33 Der evangelischen Kirche kam in diesem Zusammenhang nach Mulert eine wichtige Aufgabe zu. Sie sollte durch eine offene Haltung gegenüber dem Staat zur Anerkennung des demokratischen Verfassungs-

12

»

Ebd., S. 1006. Ebd.

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modells beitragen. Die Schwierigkeiten, die einer solchen Forderungen aufgrund der autoritätsfixierten Grundeinstellung zahlreicher Kirchenführer entgegenstanden, sah Mulert wohl. Gleichwohl appellierte er wiederholt, und zwar besonders auch in der Schlußphase der Weimarer Republik, an die kirchlichen Entscheidungsträger, ihr Verhalten nach dem Grundsatz der Loyalität auszurichten und von jeder Obstruktion abzusehen. 34 Auch für Mulert war die Ablehnung des Nationalsozialismus eine aus der politischen Überzeugung unmittelbar sich ergebende Konsequenz. Auch ihm, wie Dibelius, schien die NS-Ideologie und ihre Staatsauffassung keine akzeptable Lösung für die aktuellen politischen und sozialen Probleme zu bieten. Im Blick auf die kulturelle und konfessionelle Gespaltenheit der Bevölkerung befürchtete er schon geraume Zeit vor der Machtübernahme durch Hitler, daß eine nationalsozialistische Politik sich der „Waffen des Zwangs" bedienen und eine Herrschaft der Gewaltsamkeit errichten werde. 35

3. Georg Wehrung: Theologische Staatsethik als staatsbürgerliche Handlungstheorie Nur sehr wenige liberale Theologen haben sich in derart intensiver Weise der Ausarbeitung einer theologischen Staatsethik gewidmet wie Georg Wehrung. Sein staatsethischer Entwurf stellt einen aufschlußreichen Beitrag zur ethischen Theoriebildung des liberalen Protestantismus in der Weimarer Zeit dar. Ihr soll daher, ungeachtet des Umstandes, daß Wehrungs Argumentation von den Zeitgenossen nur in geringem Maße rezipiert wurde, der folgende Abschnitt gewidmet sein. Georg Wehrung wurde am 6. Oktober 1880 im elsässischen Dorlisheim geboren. Nach dem Studium der Theologie und der Philosophie in Straßburg (hier vor allem bei Emil Walter Mayer), Jena und Berlin promovierte er auf eine Anregung Troeltschs hin 1907 mit einer Arbeit zu 34

35

Vgl. Hermann Mulert: Der heutige Staat und unsere evangelischen Landeskirchen, in: Protestantenblatt. Wochenschrift für den deutschen Protestantismus 63 (1930), S. 578-581, S. 597-602; Parlamentarische Mehrheitsbildung und protestantische Interessen, in: Die Wartburg. Deutsch-Evangelische Monatsschrift 30 (1931), S. 45-52; Volkskirche und Parteipolitik, in: Die Christliche Welt 46 (1932), S. 370-375; Christliche Politik?, in: Die Christliche Welt 46 (1932), 863-864; Konfession und politische Parteistellung in Deutschland, in: Zeitschrift für Politik 21 (1932), S. 3 3 4 - 3 4 5 . Vgl. Hermann Mulert: [Beitrag], in: Leopold Klotz (Hg.): Die Kirche und das dritte Reich. Bd. 2, Gotha 1932, S. 74-78.

304

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Schleiermachers geschichtsphilosophischem Standpunkt. Seit 1906 leitete Wehrung - als Nachfolger Albert Schweitzers - das traditionsreiche Straßburger Thomasstift, ein theologisches Studienhaus. 1913 wechselte er als Pfarrer in den kirchlichen Dienst. Auf der Grundlage eines Werkes über Schleiermachers „Dialektik" wurde Wehrung zum Sommersemester 1920 auf einen Lehrstuhl für Systematische Theologie an die Universität Münster berufen. 36 Zum Sommersemester 1927 nahm er einen Ruf nach Halle als Nachfolger Horst Stephans und zum Sommersemester 1931 einen Ruf nach Tübingen, hier in der Nachfolge Friedrich Traubs, an. In Tübingen lehrte Wehrung bis zu seiner Emeritierung im Herbst 1946. Wehrung ist insbesondere durch zahlreiche Studien zu Schleiermacher hervorgetreten. 37 In der Hauptsache galt seine theologische Arbeit aber der Auseinandersetzung mit dem Historismus. Sein Werk „Geschichte und Glaube" von 1933 stellt einen der intensivsten Versuche zur Überwindung jener Krise dar, in die die protestantische Theologie durch das religionsgeschichtliche Forschungsprogramm gestürzt wurde. Zugleich lassen sich seine aus dieser Auseinandersetzung gewonnenen methodologischen und theologietheoretischen Überlegungen als konsequente, wenn auch eigenwillige Fortführung des liberaltheologischen Verständnisses von Wesen und Aufgabe der Theologie auffassen. 38 3.1. „Das Evangelium und der Staat" Die Grundlage der Rekonstruktion von Wehrungs staatsethischer Theorie bildet eine kleine Anzahl einschlägiger Texte aus den frühen dreißiger Jahren. Unter ihnen tritt vor allem ein Text aus dem Jahr 1931 hervor, 36 37

38

Georg Wehrung: Dialektik Schleiermachers, Tübingen 1920. Vgl. neben den bereits genannten Titeln vor allem: Die philosophisch-theologische Methode Schleiermachers. Eine Einführung in die Kurze Darstellung und die Glaubenslehre, Göttingen 1911; Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, Gütersloh 1927; Der Durchgang Schleiermachers durch die Brüdergemeine, in: Zeitschrift für systematische Theologie 4 (1926/27), S. 192-210; Schleiermacher unser Zeitgenosse, in: Die Christliche Welt 4 9 (1934), S. 240-244; Religion als Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit, in: Friedrich Wilhelm Schmidt u.a. (Hg.): Luther, Kant, Schleiermacher in ihrer Bedeutung für den Protestantismus. Forschungen und Abhandlungen Georg Wobbermin zum 70. Geburtstag dargebracht, Berlin 1939, S. 505-529; Schleiermacher, in: Calwer Kirchenlexikon. Band 2, Stuttgart 1941, S. 853-857. Georg Wehrung: Geschichte und Glaube. Eine Besinnung auf die Grundsätze theologischen Denkens, Gütersloh 1933. - Zur theologischen Position Wehrungs vgl. vorläufig Matthias Wolfes: Glaube und Geschichte. Liberale Theologie nach 1918, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 9 (1995/96), S. 59-70.

Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen

305

der unter dem Titel: „Das Evangelium und der Staat" in der Zeitschrift Die Tatwelt erschienen ist.39 Dieser umfangreiche Aufsatz ist der Frage gewidmet, „was [...] das Wesen des Staates vom Evangelium aus gesehen" sei. Wehrungs Anspruch ging dahin, eine „eigentlich christliche Auffassung" vom „Wesen des Staates" zu entwickeln, die „heute" vertreten werden könne, und zwar zum einen angesichts der konkreten staatlichen Verhältnisse, zum anderen angesichts der Forderungen an den Staat, wie sie sich aus den religiösen Grundüberzeugungen ergeben. Wehrung setzt ein mit einer Untersuchung des Staatsverständnis im Neuen Testament. Sein Ergebnis lautet: Das „neutestamentliche Ethos" ist primär als eine von der Idee des Reiches Gottes her motivierte Entgegensetzung zum antiken Staatsethos zu verstehen. Mit diesem „Durchbruch" sei „eine gewaltige Befreiung und Überhöhung des Menschenwesens verbunden". Jedoch nicht nur die Begründung der personalen Identität, d. h. der Individualität, des Menschen, sondern auch seine Sozialität werde durch dieses Ethos geleistet. So bezeichne Paulus die Gemeinde als ein Staatswesen, dessen Gestaltung sich vor dem Evangelium als würdig zu erweisen habe (Phil 1, 27; 3,20). In Bezug auf die staatliche Macht des römischen Reiches kennzeichne eine zweiseitige Haltung das Neue Testament. Einer grundsätzlichen Anerkennung der vorgegebenen Staatsmacht, die sich insbesondere in der Leistung von Steuerzahlungen ausdrückt, die aber auf eine „innere Teilnahme und Mitarbeit am Staat" verzichtet, steht eine latent immer vorhandene Bereitschaft zum „Protest" gegenüber, die sich - wie in Apk 13 dargestellt - gegen den „dämonisierten Staat" wendet und die unter Umständen bis zu „Widerstand" und „völliger Verwerfung" reichen kann. „Diese Haltung möchte ich für den Protestantismus auch in Anspruch nehmen, sofern er auf neuem Boden die Staatsgewalt als Dienerin Gottes zu würdigen weiß, aber nie vergessen darf, daß gegen den sich selbst vergötzenden Staat Protest nötig ist." 40 Die Grundtendenz der lutherischen Staatsauffassung, die aufgrund der Unterscheidung von Christusreich und Weltreich zu einer „Entkirchlichung" der weltlichen Staatsgewalt und insofern zu einer Säkularisierung des Staatsbegriffes entscheidend beigetragen habe, wird von Wehrung als sachgemäße Fortführung der neutestamentlichen Aussagen aufgefaßt. Luther habe das „Weltreich entkirchlicht", es aber „nicht der Profanität preisgegeben". Vielmehr stellte er es nach Wehrung „unmittelbar, ohne Vermittlung der Kirche, unter Gott". Diese theologische Würdigung des Staa-

35 40

Georg Wehrung: Das Evangelium und der Staat, in: Die Tatwelt 7 (1931), S. 17-25. Ebd., S. 18.

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tes, die ausschließlich in einer ursprünglichen Idealität des Staatsgedankens so etwas wie eine „Ur- und Schöpfungsordnung" sieht, bleibt nach Wehrung auch für eine moderne Staatstheorie verbindlich. Auch hier sei es als direkter Ausdruck des göttlichen Willens zu verstehen, wenn die Aufgabe des Staates, unter Inanspruchnahme seines „Rechtes des Schwertes", darin besteht, „die Gerechtigkeit in der Welt des Bösen zu vertreten und das Böse zu strafen." Neben das Staatsethos tritt bereits bei Luther „das evangelische Ethos". Maßstab christlichen Handelns habe danach das in der Bergpredigt zum Ausdruck gebrachte Sittlichkeitsideal zu sein. 41 Dieser Grundsatz bringt in Wehrungs Staatsethik eine wichtige Begrenzung der staatlichen Handlungskompetenz zum Ausdruck; denn „die Obrigkeit hat keine Gewalt über die Gewissen". „Die Seele" des Menschen entziehe sich der Verfügungsmacht irdischer Herrschaftsordnung. Dies bedeute aber auch, daß eine endgeschichtliche Auflösung staatlicher Autorität in einer allgemeinen Verwirklichung des christlichen Liebesethos nicht denkbar sei. 3.2. Der Christ und der Staat - Loyalität und Protest Wehrung hebt in seiner Darstellung der lutherischen Staatstheorie insbesondere den Gedanken hervor, daß die Staatsgewalt sich nicht auf „das zufällige Wollen der Menschen" beziehe, sondern auf die „Gerechtigkeit" irdischer Lebensverhältnisse. Hieraus erwächst in der weiteren Argumentation ein Kriterium zur Beurteilung staatlicher Maßnahmen, das jeden Anspruch auf deren selbstzweckliche Geltung bestreitet. Im Kontext dieser Anknüpfung an Luther wendet Wehrung ein, daß in der spätmittelalterlichen Perspektive des Reformators der wandelbare Charakter staatlicher Ordnungen noch nicht hinreichend erkennbar gewesen sei. „Stetige Erneuerung und innere Umwandlung" nach Maßgabe der zu überwindenden „Ungleichheit im Volksleben" seien heute als Aufgabe staatlichen Handelns der allgemeinen Anschauung selbstverständlich. Vor allem aber betont Wehrung in einer Weise, die die politische Entwicklung der kommenden Jahre fast prophetisch vorwegzunehmen scheint, die Gefahr „der stets möglichen Dämonisierung des Staates". Deutlicher als bei Luther müsse trotz der „schuldigen Anerkennung" staatlicher Handlungen der „Protest gegen die Vergötzung

41

Vgl. zur theologischen Einschätzung der Bergpredigt Wehrungs spätere Ausführungen in: Die Eigenart des christlichen Ethos, in: Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik, herausgegeben von Emil Abderhalden, 13. Jg., September 1936-September 1 9 3 7 , S. 1 0 9 - 1 1 7 , hier insbesondere: S. 1 1 0 - 1 1 4 .

Die D e m o k r a t i e f ä h i g k e i t liberaler T h e o l o g e n

307

des Staates" ausdrücklich vorbehalten bleiben. Wehrung weist für diesen Gedanken auf den „imperialistischen Machtrausch im Völkerleben" hin, der vor allem um 1910 „in seiner ganzen Furchtbarkeit an den Tag getreten sei" und in dem er einen der Hauptfaktoren in der Vorgeschichte des Krieges sah. Sogar die Haltung der schwärmerischen Gegner Luthers, die ihr Mißtrauen gegen die obrigkeitliche Autorität gerade mit dieser Gefahr der Verabsolutierung des Staates begründet hatten, findet Wehrungs Anerkennung: Man müsse „das christliche Herz" ehren, „das bei allem vaterländischen Verantwortungsbewußtsein in einem seiner Winkel das schwarmgeistige Fremdgefühl gegen die Staatsmacht nicht los wird". 4 2 Diese spezifische Einschränkung staatlicher Macht bedingt nun nach Wehrung auch, daß ihre Träger immer nur in zeitlicher Befristung zur Machtausübung beauftragt werden dürfen. Eine solche Beauftragung müsse von der Gesamtheit der Staatsbürger bzw. im Konfliktfall durch die Entscheidung ihrer Mehrheit ausgesprochen werden. Wehrung hat daher wiederholt hervorgehoben, daß die Inanspruchnahme der politischen Partizipationsmöglichkeiten, vor allem im Falle der Wahlentscheidung, eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer Demokratie sei. Die entscheidende Differenz des modernen demokratischen Verfassungsstaates zum autoritären Obrigkeitsstaat bestehe gerade in den politischen Teilnahmerechten. So wie es im Obrigkeitsstaat nicht legitim gewesen sei, unter Berufung auf staatliche Interessen an Verantwortungsbereitschaft oder Gewissenhaftigkeit zu appellieren, da der Einzelne dem Staat in voller persönlicher Unselbständigkeit unterworfen gewesen sei, so ist hier nun die politische, durch Wahlausübung oder Amtsübernahme definierte Mitwirkung die primäre Aufgabe und zugleich das wichtigste Kennzeichen des Staatsbürgers im demokratischen Staat. Das Verhältnis des Christen zu der jeweils vorgegebenen realen Staatsgestalt wird von Wehrung als dialektisches Beziehungsgefüge beschrieben. Einerseits sieht der Christ den gegebenen Staat getragen von dem göttlichen Willen zu einer geordneten Gestaltung menschlichen Lebens. 43 Andererseits aber hat er die tatsächliche politische und gesellschaftliche Verfassung dieses Staates immer auch an dem ihm im Glau-

42

Georg Wehrung: Das Evangelium und der Staat, S. 18.

43

Immer wieder bezieht Wehrung sich in diesem Zusammenhang auf Albrecht Ritschi. Die von Ritsehl vorgetragene Auffassung einer das Reich Gottes „vorbereitenden" Funktion derjenigen Rechtsverhältnisse, die mit dem Staat gesetzt sind, wird von Wehrung als Ausdruck einer theologischen Sanktionierung des Staates gewertet. Die Zweckbestimmtheit, die Ritsehl mit dem Bestehen rechtlich ver-

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M a t t h i a s Wolfes

ben erkennbaren Maßstab des „wahren Willens Gottes" kritisch zu messen. Diese Ambivalenz im Verhältnis zum vorfindlichen Staat erzeugt nach Wehrung im günstigsten Fall ein eigentümlich erhöhtes Engagement der christlichen Staatsbürger für eine Fortentwicklung des Staates in Richtung auf seinen „objektiven Sinn", das heißt in Richtung auf die Realisierung seiner von Gott intendierten und gegen die „schlechte Vergangenheit" historischer Staatenbildung gerichteten Idealgestalt.44 Von hier aus ergibt sich dann auch eine charakteristische Präzisierung des Staatsgedankens: Um dem an ihn gestellten Anspruch genügen zu können, müsse der Staat notwendigerweise drei Dimensionen umfassen; er müsse zum einen „Sozialstaat" sein, zum anderen „Nationalstaat" und zum dritten „Kulturstaat". Alle drei Begriffe stehen in der Weise, wie Wehrung sie verwendet, in einem bestimmten theologischen Überlieferungszusammenhang. Im einzelnen lassen sie sich bereits aus den staatstheoretischen Diskussionen innerhalb des Protestantenvereins herleiten. Für die aktuelle staatstheoretische Diskussion ist nach Wehrung entscheidend, daß sich erst mit dem kulturstaatlichen Element, das die beiden anderen Aspekte in sich schließt, die protestantische Staatsauffassung vollendet: „Es ist protestantisch-christlich, eine mittelbare

44

bindlicher Regularien verbindet, führt nach Wehrung zwangsläufig zu einer Position, derzufolge „das himmlische Reich" in seiner Bedeutung als, wie Ritsehl sagt, „Gattungseinheit" der weltimmanenten Ausrichtung menschlicher Sozialität letztlich „den Staat bestätige" (Georg Wehrung: Zur theologischen Begründung des Staates, in: Zeitschrift für systematische Theologie 12 (1935), S. 555-608, hier: S. 558-559). - Vgl. Albrecht Ritsehl: Rechtfertigung und Versöhnung. Band III: Die positive Entwicklung der Lehre. 4. Aufl., Bonn 1894, § 38: „Die Voraussetzung der menschlichen Rechtsgemeinschaft für das Reich Gottes" (S. 288-301); dort: „[...] das Ergebnis [ist], daß das Recht und der Staat überhaupt die Voraussetzung des Gottesreiches sind" (S. 300); siehe auch: Ebd., S. 292-293: „Ich meine [...], daß die Geltung des Gedankens vom Reiche Gottes [...] dadurch vorbereitet wird, daß die sittliche Gemeinschaft der Familie und die des Volkes im Staat, endlich die Verbindung mehrerer Völker im Weltreiche vorhergeht." Vgl. hierzu Georg Wehrung: Zur theologischen Begründung des Staates, S. 592. Ganz ähnlich hatte auch Ritsehl schon argumentiert. Insofern nämlich „die Ordnung des Staates als Mittel für das Reich Gottes erkannt [wird] und nicht umgekehrt als der von Gott aus geltende Maßstab für die Möglichkeit des Reiches Gottes anzusehen ist", kann der normative Gehalt des Reich-Gottes-Gedankens sein kritisches Potential gerade im Blick auf die gegenwärtige reale Staatsgestaltung entfalten: Aus dem Charakter des Reiches Gottes als der bestimmungsmäßigen sittlichen Gemeinschaft der Menschen und darin als dem Endzweck der Welt folgt für den Prozeß einer „Erziehung des Menschengeschlechtes" „die absolute Verbindlichkeit des Sittengesetzes für die Glieder des Gottesreiches" (Albrecht Ritsehl: Ebd., S. 301-303; zur Vorstellung einer „Erziehung des Menschengeschlechtes" vgl.: Ebd., S. 288 und 290-296).

D i e D e m o k r a t i e f ä h i g k e i t liberaler T h e o l o g e n

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Verbundenheit des Staates mit dem geistigen Leben nachdrücklich zu vertreten." So erst sei er wahrer Kulturstaat, der dem vollen Wachstum der geistigen Kräfte des Volkes angemessen diene.45

4. Theologische Staatsethik und d e m o k r a t i s c h e r Staat Wehrungs staatsethische Theorie ist ihrer Intention nach nichts anderes als eine Theorie politischen Handelns. Sie weist dem praktischen Verhalten des einzelnen Staatsbürgers die entscheidende Bedeutung für die Adäquatheit der bestehenden staatlichen Verhältnisse im Blick auf den dem Staatsgedanken immanenten ethischen Anspruch zu. Es ist eines der wichtigen Verdienste dieser Version liberalprotestantischer Staatsethik, daß sie einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem religiös begründeten Mißtrauen gegen alle Tendenzen zu einer „staatlichen Selbstvergötzung", wie es ansatzweise schon von Luther, deutlicher von seinen linksreformatorischen Widersachern und zuletzt unmißverständlich von der kalvinistischen Theorie formuliert worden war, und der Entstehung der „bürgerlichen Freiheitsgedanken der Neuzeit" hergestellt hat. Wehrung hat denn auch den Staatsgedanken entgegen einer die Geschichte der protestantischen Staatstheorie prägenden Traditionslinie gerade nicht aus der anthropologischen Fundamentalbestimmung eines peccatum originale, einer ursprünglichen Sündhaftigkeit, hergeleitet.46 „Macht und Recht" haben vielmehr in einer legitimen staatlichen Ordnung so zueinander zu stehen, daß „die Macht [...] ihre Würde und Aufgabe darin [erkennt], das Recht zur Geltung zu bringen". „Recht und Gerechtigkeit sollen aufgerichtet werden, Gerechtigkeit im Innern und damit Lebenssicherheit [...]; Recht nach außen, denn der Staat ist kein Räuber, er ist berufen, sich in Gottes Schöp-

45 46

Georg Wehrung: Das Evangelium und der Staat, S. 25. Vgl. z.B. Martin Luther: Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle (1530), in: Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Band X X X . Zweite Abteilung, Weimar 1909, S. 508-588, hier: S. 554-555: „Aber dennoch ists [sei/.: das weltliche Regiment] eine herrliche Göttliche Ordnung und eine treffliche gäbe Gottes, der es auch gestifft und eingesetzt hat und auch wil erhalten haben, als des man aller ding nicht emperen [= entbehren] kan, Und w o es nicht were, kundte kein mensch fur dem andern bleiben, Es mußte einer den andern fressen, wie die unvernunfftigen thier unternander thun, Darumb gleich wie des predig ampts werck und ehre ist, das es aus sundern eitel heiligen [...] macht, Also ist des welltlichen regiments werck und ehre, das es aus wilden thieren menschen macht und menschen erhellt, das sie nicht wilde thiere werden."

310

M a t t h i a s Wolfes

fung einzugliedern, nicht sie zu mißhandeln." 4 7 Erst diese Zielrichtung, die nach Wehrung jeder staatlichen Machtausübung als N o r m zu gelten habe, sei der Grund dafür, daß vom Staat ein Anspruch auf Loyalität seinen Organen und Vertretern gegenüber berechtigterweise erhoben werden könne. Nur solche staatliche Autorität, der eine „Synthese von Macht und Recht" zugrundeliege, könne als legitime Wahrnehmung der „Verantwortung für das Ganze" gelten. 48 Im Ergebnis legt sich folgende Feststellung nahe: Die theologische Theoriebildung des liberalen Protestantismus hat eine positive Einschätzung demokratischer Verfassungsgrundsätze prinzipiell zugelassen. Dabei wurde die Verbindung einer theologischen Auslegung des religiösen Verhältnisses und der ihm korrespondierenden Sozialgestalt menschlichen Lebens über die Vorstellung einer sich verwirklichenden Gottesherrschaft hergestellt. Ausdruck dieser Gottesherrschaft ist das die Würde individueller Existenz achtende, die unveräußerlichen Rechte des Einzelnen respektierende und auf dem Prinzip diskursiver Entscheidungsfindung beruhende Staatsmodell. In diesem Sinne ist die kommende Gottesherrschaft zwar nicht das Ziel, wohl aber der Maßstab praktischer politischer Staatsgestaltung.

47 48

Georg Wehrung: Das Evangelium und der Staat, S. 21. Unter dem Eindruck der totalitären Staatsideologie des Dritten Reiches hat Wehrung diesen Gedanken in folgender Weise formuliert: „Nicht die Notwendigkeit der Staatsgewalt gründet in der Sünde, sondern nur die Möglichkeit und die Erscheinung ihrer Ungerechtigkeit" (Theologische Literaturzeitung 63 (1938), S. 91). Eine objektive Kategorie für Recht und Unrecht staatlicher Maßnahmen, z.B. in der Konfrontation mit einem anderen Staat, läßt sich nach Wehrung einer rein immanenten Begründungstheorie nicht entnehmen. Ihr muß in der theologischen Staatsethik eine Begründung des Staates „von oben, von Gott her" entsprechen, die die faktische Korrumpiertheit des von Gott intendierten „wahren Wesens" des Staates in die Voraussetzung einer ungetrübten Geltung dieser Intention aufhebt und so den in seiner historischen Gestalt „von der Sünde bestimmten Staat [...] zugleich in der ewigen Wahrheit Gottes gründen" läßt (Zur theologischen Begründung des Staates, S. 587-588). Auch diese theologische Figur des reformatorischen „Zugleich" greift Wehrung primär mit Blick auf ihren ethischen Gehalt auf. Eine in diesem Sinne „von oben" konzipierte Staatsbegründungstheorie versteht ihren Gegenstand von dem ihm immanenten Endzweck, also von der Gottesherrschaft her. Der Begriff der Gottesherrschaft selbst realisiert sich in dieser Perspektive in einem „tätigen Verhältnis Gottes zur Welt". Ein solches Verhältnis stellt die qualitative Begrenztheit der im Geschichtsvollzug wirksamen Wertsetzungen dar. In der vollendeten Gottesherrschaft, der endgültigen „Aufhebung der Geschichte", wird „auch das von der Weltsünde verzerrte staatliche Leben [...] zu urbildlicher Reinheit befreit" werden (Ebd., S. 589).

Die D e m o k r a t i e f ä h i g k e i t liberaler T h e o l o g e n

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Anhang: Brief von Martin Dibelius an Oskar Hofheinz vom 21. Oktober 1 9 3 0 Vorbemerkung Die Quellenlage für eine nähere Rekonstruktion der parteipolitischen Tätigkeit von Martin Dibelius ist nicht günstig. Im Nachlaß haben sich hierzu keine Materialien erhalten. Auch unter den bis jetzt gesichteten Archivalien der diversen Parteiorganisationen, denen Dibelius angehört hat, insbesondere dem - allerdings nur in geringem Umfang überhaupt erhaltenen - Archiv der DDP, liegen keine relevanten Unterlagen vor. Das offizielle „Organisationshandbuch" der DDP, letztmals erschienen im Januar 1926, gibt gleichfalls keine entsprechenden Hinweise. 49 Das wichtigste zur Zeit bekannte biographische Dokument für Dibelius' Aktivitäten im badischen Landesverband der DDP ist ein Brief an Oskar Hofheinz vom 21. Oktober 1930. Dieser bisher unveröffentlichte Brief wird hier in vollem Wortlaut mitgeteilt. 50 Oskar Hofheinz (1873-1946) war einer der führenden DDP-Politiker in Baden. Bereits 1912 wurde er Mitglied des Heidelberger Bürgerausschusses. Von 1921 bis 1933 gehörte er dem Badischen Landtag an; seit 1 9 2 9 war er Vorsitzender der DDP- bzw. der Staatspartei-Landtagsfraktion. Als Mitglied des Stadtrates vertrat Hofheinz die DDP in Heidelberg von 1919 bis 1930. Neben diesen Funktionen übte er eine Reihe weiterer kommunaler und landespolitischer Ämter aus, unter anderem war er von 1919 bis 1931 Obmann des Badischen Lehrervereins. Überdies gehörte er der Landessynode der evangelischen Kirche Badens an. 1931 berief der Heidelberger Stadtrat Hofheinz zum Leiter des städtischen Schulwesens. Im Frühjahr 1933 wurde er als einer der ersten badischen Beamten aus dem Staatsdienst entlassen. 51 49

Organisationshandbuch der Deutschen Demokratischen Partei. Herausgegeben von der Reichsgeschäftsstelle der Deutschen Demokratischen Partei. Abgeschlossen 3 0 . Januar 1 9 2 6 , Berlin 1 9 2 6 .

50

Ich danke Herrn Dr. Karl-Heinz Fix, Augsburg, der dieses Schreiben für die hier vorliegende Darstellung zur Verfügung gestellt hat. Er hat den Brief im Zuge seiner umfangreichen Recherchen nach Zeugnissen für das politische Engagement von Dibelius im Nachlaß von Oskar Hofheinz aufgefunden (vgl. Karl-Heinz Fix: Universitätstheologie und Politik, S. 9 7 ) .

51

Für biographische Hinweise zu Oskar Hofheinz danke ich Frau Diana Weber vom Stadtarchiv der Stadt Heidelberg. - Z u Hofheinz vgl. [gez.: B.]: Oskar Hofheinz zum Gedenken, in: Rhein-Neckar-Zeitung. Ausgabe vom 2 4 . April 1 9 4 6 , S. 3 ; Hans-Georg Merz: Oskar Hofheinz, in: Badische Biographien. Neue Folge. Band III, Stuttgart 1 9 9 0 , S. 1 3 0 - 1 3 2 ; Friederike Reutter: Heidelberg 1 9 4 5 - 1 9 4 9 . Zur

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Matthias Wolfes

Professor Dibelius Heidelberg, den 21. Oktober 1930 Herrn Stadtrat Oskar Hofheinz Heidelberg, Bismarckstraße 17. Verehrter und lieber Herr Hofheinz, damit keine Mißverständnisse über meine künftige Haltung zur Staatspartei und zur Parteiarbeit entstehen, möchte ich Ihnen Folgendes vortragen. Wie Sie wissen, bin ich den Weg von der Deutschen Demokratischen Partei zur Staatspartei nicht mitgegangen und mußte schon aus diesem Grunde den mich ehrenden Antrag, die Führung der hiesigen Staatspartei zu übernehmen, ablehnen. Meine Bedenken lassen sich etwa dahin zusammenfassen: 1. Das Experiment war sachlich wie persönlich verkehrt angefangen und mußte darum, wie ich mir schon im Landesausschuß vor der Wahl auszuführen erlaubte, zum Mißerfolg führen, d. h. nicht zu der breiten Basis, um derentwillen alle möglichen Opfer erlaubt gewesen wären. Auch ich wäre bereit gewesen, um einer großen Neubildung willen ideelle Bedenken gegen Programmsätze zurückzustellen. Wenn aber statt einer neuen großen Partei aus der ganzen Umwandlung nur wieder eine politische Sekte herauskommt, dann muß es wenigstens eine Sekte meines Glaubens sein, wenn ich ihr angehören soll. So schrieb ich Ihnen schon Ende August aus der Schweiz; nun ist die Sekte leider noch kleiner geworden als ich dachte; und so besteht für mich kein Grund, mich ihr im Widerspruch zu meiner Überzeugung anzuschließen. 2. Dieser Widerspruch aber scheint zu bestehen. Um von anderem abzusehen, empfinde ich den Gegensatz vor allem bei dem Punkt „Auswärtige Politik", dessen Behandlung im Manifest der Staatspartei durchaus auf der Bekämpfung der Kriegsschuldlüge aufgebaut ist. Auch die Staatspartei macht sich also mitschuldig an der großen Täuschung unseres Volkes, als ob bei Abbau des Schuldparagraphen irgend eine materielle Erleichterung eintreten würde. Ich habe diese Politik seit Jahren in Wort und Schrift bekämpft, habe auch als Rektor mehrfach im Kampf dagegen meine Haut zu Markt getragen.52 Auch bei meiner ökumenischen Arbeit im Ausland kann ich diese Politik nicht vertreten, sondern

52

politischen Geschichte einer Stadt in den Nachkriegsjahren, Heidelberg 1994, S. 62-63. 2 2 2 - 2 2 6 . Dibelius übte das Amt des Rektors der Universität Heidelberg vom 1. Oktober 1927 bis zum 30. September 1928 aus.

Die Demokratiefähigkeit liberaler Theologen

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muß die Diskussion der moralischen Frage völlig frei halten von der Klarstellung unserer wirtschaftlichen Lage - und umgekehrt! 53 3. Ich erwarte aber gar nichts von einer Rückwärtsrevision des Manifestes oder einer Rückverwandlung zur alten DDP. Denn man kann solche Schritte nicht zurücktun, ohne jegliches Vertrauen zu verlieren. Ich bin vielmehr als Zuschauer der Meinung, daß die Partei weiter auf dem Wege der Basisverbreiterung gehen sollte. Leute von meiner Gesinnung dürfen dabei nicht hindern, dürfen aber auch nicht dreinreden. Das ist der Grund für mein Fehlen in Offenburg wie in der letzten Ausschußsitzung. 4. Ich möchte aber auch für die nächsten Wahlen, die bei uns ja unmittelbar bevorstehen, meine eigene Freiheit der Entschließung mir vorbehalten. 54 Denn es könnte doch sein, daß es einem zur Zeit politisch Heimatlosen wie mir richtig erschiene, unter diesen Umständen von den großen Parteien die ihm nächststehende zu wählen, das wäre in meinem Falle die SPD, der ich mich aber durchaus nicht anzuschließen beabsichtige. Ich beabsichtige also meinen Austritt aus der Partei zu erklären, wollte dies aber in aller Stille tun, um der weiteren Entwicklung der Partei nicht mit einer Demonstration zu schaden. Herr Oberforstrat Zircher hat mich aber überzeugt, daß mein Austritt nicht geheim bleiben würde und angesichts von Hellpachs Austritt, der ja in einer ganz anderen Tendenz erfolgt ist, sicher falsch gedeutet werden müßte. Ich bleibe also vorläufig nach Herrn Zirchers ausdrücklichem Wunsch bis zur Klärung der Dinge in Reserve, bitte aber hiermit meinen Austritt aus dem Großen Ausschuß der Heidelberger Partei vollziehen zu dürfen; Herr Zircher hat bereits meine Streichung im Landesausschuß veranlaßt; im Kulturausschuß der Gesamtpartei werde ich gleichfalls meine Streichung veranlassen. 55

53

54

55

Zu Dibelius' Engagement in der ökumenischen Bewegung siehe Reinhard Frieling: Die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung 1910-1937 unter besonderer Berücksichtigung des Beitrages der deutschen evangelischen Theologie und der evangelischen Kirchen in Deutschland (Kirche und Konfession. Band 16), Göttingen 1970, S. 170-175. Z u m politischen Kontext vgl. Hans Georg Zier: Politische Geschichte von 1918 bis 1933, in: Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart. Von Josef Becker, Lothar Gall [u.a.]. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. 2. Aufl., Stuttgart 1987, S. 143-167. Z u den hier angesprochenen parteiinternen Vorgängen vgl. die Quellensammlung zur Geschichte der DDP bzw. der Staatspartei: Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918-1933. Eingeleitet von Lothar Albertin. Bearbeitet von Konstanze Wegner in Verbindung mit Lothar Albertin (Quellen zur Geschieh-

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Matthias Wolfes

Ich brauche nicht erst zu betonen, daß mir der Entschluß, politisch heimatlos zu werden, nicht leicht fällt. Ich wünsche dringend, daß sich der Prozeß der Neubildung bald und glückhaft vollziehe; dann werde ich in der Lage sein, mich endgültig zu entscheiden. Bei diesem Prozeß darf ich nicht mitwirken, denn er geht notwendig in eine Richtung, die mir nicht zusagt - und darum ziehe ich mich von der Parteiarbeit zurück. Ich möchte aber diesen Prozeß auch nicht stören - und darum trete ich zur Zeit nicht aus. Wenn diese Reservestellung, die mir von Seiten des Herrn Zircher nahe gelegt wurde, der Partei unerträglich scheinen sollte, so bedarf es nur eines kleinen Fingerzeigs; ich würde dann sofort austreten. Mein gegenwärtiges Zögern bitte ich nur als Ausdruck der Loyalität gegen die Partei zu verstehen, der ich in langjähriger Arbeit sehr eng verbunden war. Ich rechne auf Ihr freundschaftliches Verständnis meiner Gesinnungen und verbleibe mit herzlichem Gruß Ihr ergebener Martin Dibelius.

te des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Dritte Reihe: Die Weimarer Republik. Bd. 5), Düsseldorf 1980. - Willy Hellpach (1877-1955) war 1 9 2 2 bis 1925 badischer Kultusminister und 1924/25 gleichzeitig badischer Staatspräsident. Seit 1926 lehrte er als Psychologe an der Universität Heidelberg.

V.

Werk und Wirkung

„Kein spiegelglattes, problemloses Christentum" 1 . Über Friedrich Naumanns Theologie und ihre Wirkungsgeschichte H A R T M U T RUDDIES

I.

Trotz einer über hundertjährigen Rezeptions- und Interpretationsgeschichte gehört der Theologe, Kulturpolitiker und Politiker Friedrich Naumann auch heute noch zu den theologisch wenig anerkannten und in ihrer spezifisch religiösen Bedeutung oft unterschätzten liberalen Protestanten der Kaiserzeit. 2 Eine Ursache dafür ist natürlich die Entwicklung Naumanns zum Politiker, bei der er den Theologen in einem mehrschichtigen Prozess angeblich hinter sich gelassen hat. 3 Daß Naumann dabei sogar einen „theologischen Widerruf" 4 aus primär politischen

1

Friedrich N a u m a n n : Briefe über Religion ( 1 9 0 3 ) , 7 . Aufl. mit N a c h w o r t „ N a c h 1 3 J a h r e n " , Berlin 1 9 1 7 , S. 4 ; ähnlich S. 1 1 5 . - Der T e x t war vorher im 9 . J g . der „ H i l f e " erschienen und wurde bald auch ins Französische übersetzt: F. N a u m a n n , Lettre sur la Religion, in: R T H P h 3 7 ( 1 9 0 4 ) , S. 4 4 9 - 4 7 4 und 3 8 ( 1 9 0 5 ) S. 7 6 - 1 0 4 ; 1 2 9 - 1 5 4 ; vgl. H a r t m u t Ruddies: Art. N a u m a n n , Friedrich, in: Encyclopedic du protestantisme. Ed. Pierre Gisel. Paris/Geneve 1 9 9 5 , S. 1 0 6 7 s.

2

D a s W e r k N a u m a n n s und die wichtigste Sekundärliteratur bis 1 9 5 6 sind unvollständig verzeichnet in: Alfred Milatz (Hg.): Friedrich-Naumann-Bibliographie. Düsseldorf 1 9 5 7 ; weitere Schriften können nun über den N a c h l a ß k a t a l o g erschlossen werden: N a c h l a ß Friedrich N a u m a n n . Bestand Ν 3 0 0 1 . Bearbeitet von Ursula Krey und T h o m a s T r u m p p . Koblenz 1 9 9 6 (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs Bd. 5 5 ) . - Die wesentlichen Schriften sind gesammelt in: Friedrich Naum a n n , W e r k e Bd. I-VI, Köln-Opladen 1 9 6 4 f f . ( = N W )

3

Vgl. das Schlußkapitel „ N a u m a n n als T h e o l o g e seiner Z e i t " bei Ingrid Engel: Gottesverständnis und sozialpolitisches Handeln. Eine Untersuchung zu Friedrich N a u m a n n . Göttingen 1 9 7 2 ( S T h G G 4 ) , S. 1 0 1 - 1 0 5 . - Wilhelm M a u r e n b r e c h e r : V o m Pfarrer zum Politiker, in: C h W 1 4 ( 1 9 0 0 ) , N r . 2 0 , Sp. 4 6 6 - 4 7 2 .

4

H e r m a n n T i m m : Friedrich N a u m a n n s theologischer Widerruf. Ein W e g protestantischer Sozialethik im Übergang von 19. zum 2 0 . Jahrhundert. M ü n c h e n 1 9 6 7 ( T E H 1 4 1 ) . Der T e x t ist - mit vielen nachdenkenswerten Beobachtungen - eine theologische Abqualifizierung der religiösen Schriften N a u m a n n s , die 1 9 6 4 als Bd. I. der sechsbändigen W e r k a u s g a b e von W a l t e r Uhsadel neu hrsg. worden waren.

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Hartmut Ruddies

Gründen geleistet oder den „Bankrott des Christentums" 5 ausgerufen oder eingeleitet habe, ist die Überzeugung vieler Theologen aus ganz unterschiedlichen religiösen Lagern und konkurrierenden theologischen Milieus. W a s man dem jungen christlich-sozialen Pfarrer und Theologen selbstverständlich zugesteht 6 , bestreitet man dem national-sozialen und liberalen Politiker: daß auch er bei seiner politischen Tätigkeit von einem religiös-theologischen Fundament bestimmt war, das bei all seiner publikumswirksamen Form auch bedenkenswerte Gehalte hatte. 7 Die Frage nach Friedrich Naumanns theologischen Wirkungen hat deshalb ohne Zweifel einen provokativen Akzent, weil sie das gängige Naumannbild problematisiert. Sie ist zunächst in zwei Richtungen zu präzisieren: Ist man einem reduzierten Naumannbild gefolgt, als man das Ende seiner Tätigkeit als Pfarrer und Theologe auch als den Abschluß seiner religiös-theologischen Wirksamkeit gedeutet hat? 8 Und wie steht es mit Naumanns theologischen Wirkungen: ist er wirklich ohne Spuren in der protestantischen Theologie geblieben, was ein Blick in die gängigen Theologiegeschichten nahelegt 9 , oder verbergen sich Naumanns theologische Wirkungen im Geflecht der inneren Differenzierungsgeschichte des modernen Protestantismus? Die Frage nach Naumanns theologischen Wirkungen hat also einen komplexen Zuschnitt: Eine rezeptionsgeschichtliche Betrachtung seiner

5

So ζ. B. Wilhelm von Schnehen: Friedrich Naumann vor dem Bankrott des Christentums. Leipzig 1907; E. Steudel: Friedrich Naumann vor dem Bankrott des Christentums, in: Blaubuch, 2. Jg. Nr. 29. Berlin 1907.

6

Walter Göggelmann: Christliche Weltverantwortung zwischen sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich Naumanns 1 8 6 0 - 1 9 0 3 . Baden-Baden 1987. Diese präzise Studie zum Frühwerk Naumanns bietet auf den Seiten 3353 4 3 auch eine knappe, aber sehr anregende Gesamtdeutung Naumanns. In diesem Zusammenhang gehört auch der Rubrifizierungsvorschlag von Theodor Heuß, der Naumanns Wirkungen - beim ersten öffentlichen Auftritt der FriedrichNaumann-Stiftung am 14. November 1958 - so beschrieb: „Vermutlich ist er, der vor allem die Arbeiten von Troeltsch, Deißmann, Weinel, Bousset lebhaft verfolgte, nicht in die Geschichte der deutschen Theologie eingegangen, aber, wenn es so etwas gibt, gehört er in die Geschichte der deutschen Frömmigkeit." Zit. in Theodor Heuß: Friedrich Naumanns Erbe. Tübingen 1959, S. 19.; präziser nun Irene Dingel: Art. Naumann, Friedrich, in: T R E 24 (1994), S. 2 2 5 - 2 2 9 , bes. 2 2 9 . So u. A. Ingrid Engel: wie Anm 3, S. 97: „Nach den „Briefen" schweigt Naumann theologisch". Diese Aussage ist entweder die Folge eines normativen Theologiebegriffs oder mangelnder bibliographischer Kenntnisse. Eine gewichtige Ausnahme bieten die Beobachtungen zu Naumann bei Heinrich Hermelink, in: Ders.: Das Christentum in der Menschheitsgeschichte von der französischen Revolution bis zur Gegenwart. Bd. III: Nationalismus und Sozialismus 1870-1914. Stuttgart/Tübingen 1955, S. 308f. und passim.

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„Kein spiegelglattes, problemloses Christentum"

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Theologie kann die überwiegend marginale und polemische Präsenz seiner religiös-theologischen Schriften in der protestantischen Theologie seit dem Jahrhundertbeginn nicht übersehen 10 ; sie kann aber auch eine solche heuristische Position einnehmen, von der aus die Rezeption von Naumanns Theologie auf die innere Komplexität des modernen Protestantismus bezogen wird. Zu seiner Signatur gehörte es, Standortbestimmungen des modernen Christentums mit Distanzierungsleistungen gegenüber traditionellen theologischen Positionen zu verbinden. Die Frage nach Naumanns theologischen Wirkungen findet dann ihre Zuschärfung, wenn seine Position im Spektrum dieses modernen Protestantismus verortet wird. Der aber sah seine zentrale Aufgabe darin, eine zeitgenössisch verantwortbare religiöse Transformation des tradierten Christentums einzuleiten, um die aktuelle Lebensdienlichkeit des überkommenen christlichen Glaubens zu unterstreichen und um in der Gegenwartskultur religiöse Zeitansagen zu machen. 11

II. Naumanns Standortbestimmung des zeitgenössischen Christentums hat ihren historischen Ort in der staatskirchlich geprägten Gesellschaft des Kaiserreichs, in der es in der deutschen Geschichte erstmals und unumkehrbar zu massiven Entfremdungsprozessen vom Christentum kam. In seiner Arbeit als christlicher Theologe, evangelischer Pfarrer, religiöser Schriftsteller und politischer Publizist hat Naumann diese Entfremdungsprozesse auf dem Hintergrund der religiösen und intellektuellen Krise und im Blick auf die sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Kaiserreichs analysiert 12 ; er verband diese Analysen mit einem willensstarken und tatkräftigen Plädoyer für ein Christentum, das sich den gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit stellt und sich dabei an die Bildung der ethisch-religiösen Persönlichkeit gebunden weiß. Naumann setzte auf ein subjektiv überzeugendes Christentum, das sich in den sozialen, politischen und weltanschaulichen Kämpfen seiner Zeit 10

In nahezu allen gegenwärtigen Theologiegeschichten ist Naumann nicht erwähnt, wohl aber mit steigender Tendenz in Porträtsammlungen bedeutender protestantischer Persönlichkeiten.

11

Hartmut Ruddies: Liberale Theologie. Zur Dialektik eines komplexen Begriffs, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung. (Troeltsch-Studien Bd. 7) Gütersloh 1 9 9 3 , S. 1 7 6 - 2 0 3 .

12

Grundlegend dazu Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im wilhelminischen Deutschland ( 1 8 6 0 - 1 9 1 9 ) . Baden-Baden 1983.

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Hartmut Ruddies

bewährt, indem es den Christen religiös-praktische Weltorientierungen ermöglicht. Das implizierte sowohl den Widerspruch zu einer objektiven Religion des Kirchenglaubens, die für Naumann die praktische Orientierungskraft für die Selbstdeutung und Lebensführung der Menschen verloren hatte 13 als auch ein Plädoyer für die Autonomie der Glaubensüberzeugungen und für eine gegenwartserschließende Hermeneutik der christlichen Traditionen. 14 Die Standort- und Aufgabenbestimmung seiner Theologie hat Naumann mit Reflexionen auf die veränderte Öffentlichkeit in der Gesellschaft des Kaiserreichs verbunden: Die moderne Gesellschaft ist vor allem eine Massengesellschaft mit der Tendenz zu einer „wachsende(n) Uniformierung des Lebens" 15 , und so ging es Naumann zentral darum, die „Menschwerdung der Masse" 1 6 auf allen Ebenen von Kultur, Politik und Gesellschaft mit der Zielsetzung zu proklamieren, daß der Mensch vom Objekt zum Subjekt in der Ökonomie, der Politik, der Kultur und eben auch in der Religion wird. In diesem Zusammenhang bestimmte er den Protestantismus programmatisch als „Kulturmacht zur Anerkennung der Menschlichkeit im heutigen Geschlecht". 17 Die Aufgaben, die die Religion und die Theologie dabei haben, hat Naumann unterschiedlich beurteilt.18 Der cantus firmus seiner Ausführungen wurde aber immer wieder durch plastische Formulierungen ver-

13

Das wird insbesondere an Naumanns Andachten deutlich, die er in den Jahren 1 8 9 5 - 1 9 0 2 in der „Hilfe" veröffentlich hat und die er 1902 unter dem Titel „Gotteshilfe" in Göttingen gesammelt publizierte. Zur Interpretation vgl. Wilhelm Grab: Die Predigt liberaler Theologen um 1900, in: Friedrich Wilhelm Graf/ Hans Martin Müller (Hg.): Der deutsche Protestantismus um 1900. Gütersloh 1996, S. 103-130, zu Naumann: S. 123-125.

14

Vgl. Hartmut Ruddies: Friedrich Naumann - Christ und Sozialliberaler, in: Evangelische Persönlichkeiten in Frankfurt am Main. Zur 1200-Jahrfeier der Stadt Frankfurt am Main. Hrsg. von Joachim Proescholdt. Frankfurt am Main 1995, S. 59-76. Friedrich Naumann: Die Moral der Masse, In: Süddeutsche Monatshefte 5. Jg (1898) 2. Bd., S. 4 9 3 - 5 0 1 , hier: S. 5 0 0 (Auch in: NW Bd. I. Hg. von W. Uhsadel. Köln/Opladen 1964, S. 719-730) Zit. nach Friedrich Naumann: Zeugnisse seines Wirkens. Lebensbild und Auswahl von Kurt Oppel. Stuttgart 1961, S. 65. Friedrich Naumann: Rückblick, in: Evangelisch-Sozial 3 (1906) S. 91f. Vgl. auch die wichtige Debattenrede Naumanns zum Kongreßthema „Der Christ im öffentlichen Leben", in: Verhandlungen des 28. Kongresses für innere Mission in Posen vom 23.- 26. September 1895. Posen 1895, S. 43-47; der Text ist bei Milatz (wie Anm. 2) nicht verzeichnet.- Der Kongreßband ist durch die Beiträge vieler prominenter Theologen (u. a. A. Stoecker, R. Sohm, F. Naumann) nahezu ein Leitfaden der Ethik in der Jahrhundertwende.

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„ K e i n spiegelglattes, p r o b l e m l o s e s C h r i s t e n t u m "

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deutlicht, mit denen N a u m a n n seinen Zeitgenossen die Differenz zwischen der christlichen Urzeit und der gesellschaftlichen Gegenwart verdeutlicht hat: „Der Glaube muß in das Verkehrszeitalter hinein und muß seine alten Begriffe noch einmal wieder flüssig werden lassen." 1 9 Dies hat N a u m a n n exemplarisch in seinen Andachten getan, die er unter dem Titel „Gotteshilfe" 1902 gesammelt publiziert hat. 2 0 Sie vollzogen eine dogmatische Entsicherung der Religion, um mit ihr das gesellschaftliche Leben aufzuschließen. Dabei war für N a u m a n n seit seinen Anfängen die dogmatische Qualifizierung der gelebten Religion weniger wichtig als eine religiös vermittelte Deutung und Gestaltung des individuellen Lebens in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen. 2 1 Der Forderung nach einer Gegenwartshermeneutik des christlichen Glaubens, die die alte Religion in der neuen Welt der technikgeprägten Zivilisation zum Leuchten bringt, ist N a u m a n n selber nicht mit einer theologischen Programmatik nachgekommen. Im August 1902, als er seine regelmäßigen Andachten in der „ H i l f e " zunächst 2 2 einstellte, schrieb er an Gottfried Traub, der nun die regulären Hilfe-Andachten bis 1 9 1 7 - übrigens auf Naumanns Wunsch hin ohne Anschluß an Bibelworte - fortsetzte: „Ich selber werde sie nicht schreiben, weil ich nicht mehr genug in der Religion drin lebe. Du verstehst: ich bin Laie geworden, nicht Unchrist... Ich gebe der naturalistischen Betrachtungsweise immer größeren Raum, bin in keiner Weise mehr orthodox und halte doch von der Ritschlschen Theologie je länger desto weniger. Sie ist für mich nichts als eine pietistische Form der Auflösung des Kirchenglaubens. Eine andere Theologie aber habe ich nicht studiert und kann ich neben meiner sonstigen Arbeit nicht studieren. Nun würde ja diese Verschwommenheit meiner theologischen Begriffe nichts schaden, wenn ich ihrer weniger bewußt wäre. Da ich sie aber kenne, so heißt es: entweder neu studieren oder nicht mehr schreiben. Schon jetzt muß der

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Zit. nach Friedrich Naumann (wie Anm. 16), S. 49. Eine der eindrucksvollsten Andachten Naumanns in diesem Zusammenhang ist die Pfingstbetrachtung „Die alten Begriffe" in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt. N r . 154. Erstes Morgenblatt. Sonntag, 4. Juni 1911, S. 1. Der Text ist in der Naumann-Bibliographie (vgl. Anm. 2) nicht nachgewiesen. Schon in Briefen des Theologiestudenten N a u m a n n an seinen Vater beklagt er seine theologische Unfertigkeit, die Spannungen zwischen Kirchenglauben und theologischer Erkenntnis, zwischen Pfarramt und Wissenschaft und zwischen Dogmatik und Ethik für sich zu lösen. Dabei erlebte Naumann nur beispielhaft, was man das theologische Dilemma seiner Generation nennen kann. Er hat sie dann bald nach dem Kriegsausbruch in unregelmäßiger Form wieder aufgenommen, was in der Naumann-Literatur oft übersehen wird. Vgl. aber Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit. Stuttgart 1973, S. 189ff.

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durchgebildete Theolog meine Schreiberei für schlechten Dilettantismus halten, über den nur die schöne Form der Darstellung hinwegtäuscht." 23 Naumanns kritische und selbstkritische Haltung galt nicht der Religion; sie galt der protestantischen Theologie und Kirche und seinem eigenen persönlichen Unvermögen, die „Verschwommenheit (s)einer theologischen Begriffe" aufzulösen. Aber die Mängel und Unfertigkeiten seiner Theologie haben ihn nicht daran gehindert, religiöse Gegenwartsschriften zu verfassen. Naumann hatte für sich die sachliche und soziale Differenz von zünftiger Theologie und protestantischer Religion entdeckt. Aus dieser Differenz resultierten letztlich die Faktoren, die seine Wirkungen in der protestantischen Theologie begrenzten. Seine auf die individuelle Lebensführung und die soziale Weltgestaltung konzentrierte religiös-theologische Position war mit der professionell-akademischen Theologie zusammengestoßen und fand in ihr außerhalb des liberalen Lagers wenig positive Resonanz und im liberalen Lager im ganzen nur eine geteilte Zustimmung. Dabei bremste die Verehrung der Persönlichkeit Naumanns im zeitgenössischen liberalen Protestantismus nicht selten die sachliche Kritik an seinen religiös-theologischen Ausführungen und die schwache Position des religiösen Liberalismus im Kaiserreich ließ die liberalen Kombattanten oft enger zusammenrücken als es den von ihnen erkannten innerliberalen Differenzen dienlich war. 24 In der liberalen religiösen und kulturellen Öffentlichkeit des Kaiserreichs aber galt Naumann spätestens seit seiner Frankfurter Zeit als rhetorisch und literarisch glänzender 25 „religiöser Führer zu einer wahrhaft deutschen und wahrhaft modernen Kultur". 26 Diese Divergenz zwischen dem anerkannten religiösen Führer und dem in akademischer und kirchlicher Perspektive eigenwilligen Theologen trat noch einmal hervor, als die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg Naumann 1903 die Würde eines Ehrendoktors ver23

Friedrich Naumann an Gottfried Traub am 2. August 1902, in: Gottfried Traub, Erinnerungen. In: Die Hilfe. 50. Jg. Nr. 15, 5. August 1944, S. 2 3 0 - 2 3 4 . Der Text enthält 12 Auszüge aus Briefen Naumanns an Traub aus den Jahren 1 9 0 2 - 1 9 1 7 und einen Antwortbrief Traubs vom 18. Oktober 1917; er ist bei Milatz (wie Anm. 2) nicht nachgewiesen.

24

Hartmut Ruddies: Liberale Theologie. Zur Dialektik eines komplexen Begriffs, in: Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung. Troeltsch-Studien Bd. 7. Hg. von Friedrich Wilhelm Graf. Gütersloh 1993, S. 176-203, hier: 195f. Vgl. Albrecht Grözinger: Friedrich Naumann als Redner. Politisch-rhetorische Analyse eines Liberalen. Baden-Baden 1978. Heinrich Meyer-Benfey: Art. Naumann, Friedrich, in: RGG 2. Aufl. Bd. IV. Tübingen 1930, Sp. 4 6 8 - 4 7 0 , hier: 470.

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lieh. 27 Unter dem Dekanat Adolf Deißmanns, unterstützt von Ernst T r o e l t s c h 2 8 , fanden sich liberale Universitätstheologen bereit, den unzünftigen Theologen Naumann zu ehren. Daß dies nicht ohne Schwierigkeiten gelang, hat Troeltsch in seinem Kondolenzbrief an die Witwe N a u m a n n s erwähnt: Die Ehrung geschah, obwohl N a u m a n n „aus guten Gründen eigentlich gerade kein Theologe, sondern ein praktischer Held des Glaubens und des Opfers gewesen ist, da er in die weltliche Mission seine reine und herrliche Glaubens- und Liebeskraft einströmen ließ." 2 9 N a u m a n n s Ehrung, die sich auf die Summe seiner religiös-literarischen Lebenstätigkeit bezog, wurde nicht nur von O t t o Baumgarten 3 0 und anderen, sondern auch von ihm selbst zentral auf das W e r k bezogen, mit dem er sich kurz zuvor auf eine ganz eigentümliche und stark befremdlich empfundene Weise der protestantischen Öffentlichkeit präsentiert hatte: Auf seine „Briefe über Religion". 3 1 Diese Briefe enthielten das in glänzender, aber auch in populärer und ζ. T. drastisch deutlicher Sprache aufbereitete Konzentrat seines theologischen Wandlungsprozesses seit seiner „Frankfurter W e n d e " vom christlich-sozialen evangelischen Vereinsgeistlichen zum zunächst nationalsozialen und dann liberalen Berufspolitiker 32 ; und sie bildeten den Anlaß zu kritischen und

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Vgl. Theodor Kappstein: Ehrendoktor Friedrich Naumann in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung. Nr. 443. X X X I I . Jg. Dienstag, den 1. September 1903, Abend-Ausgabe. Vgl. auch die spätere Würdigung durch Troeltsch: Ders., Friedrich Naumann. Zu seinem 50. Geburtstag am morgigen 25. März, in: Neckar-Zeitung. Heilbronner Tageblatt. Neue Neckar-Zeitung. 167. Jg., Nr. 69. Donnerstag, 24. März 1910, S. 2. Ernst Troeltsch: Brief an Frau Dr. /Magdalene/ Naumann vom 9. September 1919, in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst. Hg. von Anton Erkelenz und Gertrud Bäumer. Nr. 16. 15. August 1919, S. 4 0 2 . - Zum Verhältnis Naumanns zu Troeltsch vgl. Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann. Grundprobleme der christlichen Ethik bei der Legitimation der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf/Trutz Rendtorff (Hg.): Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation. (Troeltsch-Studien Bd. 7). Gütersloh 1993, S. 258-275. Otto Baumgarten: Notizen /Rezension zu Naumanns „Briefe über Religion", in: M K P 3 (1903), S. 342 f., dann auch in: Die Hilfe 11. Jg. Nr. 4. 29. 1. 1905, S. 1. F. Naumann: wie Anm. 1. Zum Hintergrund vgl. Hartmut Ruddies: Friedrich Naumanns Frankfurter Wende, in: Matthias Benad (Hg.): Gott in Frankfurt? Theologische Spuren in einer Metropole. Frankfurt am Main 1987, S. 95-106 (Lit.); Otto Lewerenz: Zwischen Reich Gottes und Weltreich. Friedrich Naumann in seiner Frankfurter Zeit. Diss, theol. Heidelberg 1993.

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polemischen Reaktionen vor allem aus der akademischen und kirchlich gebundenen Theologie. Denn mit seinen „Briefen über Religion" hatte Naumann nicht nur durch ihre literarische Form, sondern vor allem durch die materialen Retraktationen am überkommenen christlichen Glauben seinen Ort in der protestantischen Theologie problematisiert und seine dortige Wirkungsgeschichte - Zumindestens an der Oberfläche - selber begrenzt. Seine „Briefe" mit ihrem provozierenden Religionsverständnis, das Naumann vor allem in seinem Kontrast zu den harten politischen Notwendigkeiten zur Darstellung brachte, wurden und werden immer noch als Ausdruck eines vollzogenen oder als Anstiftung zu einem befürchteten „Bankrott des Christentums" gelesen.33 Naumanns „Briefe über Religion" waren der Ausdruck eines persönlichen Konflikts, in den der Politiker Naumann als Christ geraten war; und da Naumann christliche Traditionen niemals ohne seine eigene Welterfahrung aktualisieren wollte, deutete er diesen persönlichen Konflikt exemplarisch als ethischen Fundamentalkonflikt, in den das Christentum in der Moderne geraten war: Gibt es im Erfahrungshorizont der Moderne für ihn und überhaupt noch Möglichkeiten zu einem christlichen Denken und Handeln? 34

III. In diesen weithin bekannt gewordenen „Briefe(n) über Religion" 35 , einer Standardlektüre für kirchlich und politisch liberale Kreise im Kaiserreich36, hat Naumann den Abschied von seiner christlich-sozialen Phase 1903 theologisch, ethisch und politisch gerechtfertigt. Sie gelten als sein letzter großer Diskussionsbeitrag zur protestantischen Deutung der zeitgenössischen Lage von Religion, Kirche und Theologie und zugleich als der wichtigste Text zu seiner Selbstverortung im Freien Protestantismus. Harnack hat die „Briefe" deshalb ein „kirchengeschichtliches Dokument" für die Ausprägung der evangelischen Frömmigkeit im 33 34 35

36

Wilhelm von Schnehen: wie Anm. 5. So präzis W. Göggelmann: wie Anm. 6, S. 267. Friedrich Naumann: wie Anm. l . - D i e „Briefe" erschienen erstmals in der „Hilfe" (Jg. 1903) und erreichten dann zu seinen Lebzeiten sieben Buchauflagen. Vgl. nun die rezeptionsgeschichtliche Pionierstudie von Hartmut Kramer-Mills: Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wirkungsgeschichte von Friedrich Naumanns „Briefe über Religion". Neukirchen 1 9 9 7 . - Hinweise auf die andauernde Wirkung der „Briefe" in politischen Kreisen der Jugendbewegung in der Weimarer Republik finden sich bei Hans-Joachim Schoeps: Friedrich Naumann als politischer Erzieher, in: ZRGG Bd. X X (1968), S. 3-13, bes. S. 4ff.

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Ausgang des 19. Jahrhunderts genannt. 37 Sie lassen sich einerseits thematisch in die große Zahl der Schriften einordnen, die - wie auch Harnacks „Wesen des Christentums" - eine populäre Reformulierung der christlich-protestantischen Grundideen im Zeitalter ansteigender Religionskritik und zunehmender Kirchenaustritte versuchten. Und sie sind andererseits unübersehbar ein Dokument für den Prozeß der theologischen Ernüchterung, in den Naumann seit seiner „Frankfurter Wende" nicht zuletzt durch die Kritik M a x Webers an seiner christlichsozialen und dann nationalsozialen Position geraten war. 3 8 N a u m a n n s „Briefe über Religion" entstanden aus dem Versuch, die an ihn gerichtete dreiteilige Vexierfrage zu beantworten, „wie Sie gleichzeitig Christ, Darwinist und Flottenschwärmer sein können." 1 9 Naumann nutzte den Anlaß - wie er dreizehn Jahre später schrieb - zu einer confession epistolaire: für ihn waren die „Briefe" einerseits das Dokument des „Abschied(s) von meiner Theologenzeit" 40 und andererseits „Bekenntnisse eines einfachen Christenglaubens mitten aus der anderen Arbeit heraus". 4 1 Es ist - im Gegensatz zu anderen Naumanndarstellungen - daran zu erinnern, daß Naumanns Verzicht auf sein theologisches Amt im Jahre 1896 42 und die von ihm erklärte „Beendigung (s)einer Theologenzeit" im Jahre 1902 nicht identisch waren mit der Preisgabe seiner theologischen Kompetenz. Diese Kompetenz wollte er nun aber als „Laie" ausüben 43 . Und so hat Naumann auch nach dem selbstproklamierten Abschied von seiner Theologenzeit immer wieder mit religiös-theologischen Reden, Aufsätzen und Traktaten in die innerprotestantische Diskussion 37 38

39 40 41 42 43

Zit. nach Theodor Kappstein wie Anm. 27. Vgl. Andreas Lindt: Friedrich Naumann und M a x Weber. Theologie und Soziologie im Wilhelminischen Deutschland. München 1973 (TEH 174); Wilhelm Spael: Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber. Sankt Augustin 1985; Peter Theiner: Friedrich Naumann und Max Weber. Stationen einer politischen Partnerschaft, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hg.): M a x Weber und seine Zeitgenossen. Göttingen 1988, S. 4 1 9 - 4 3 3 . - Die Analyse von Naumanns Abhängigkeit von M. Weber muß m. E. um eine Reflexion ergänzt werden, in der die konstruktive Verarbeitung Webers in Naumanns eigener weltanschaulichen Programmatik thematisiert wird. Ansätze dazu bei W. Göggelmann: wie Anm. 6, S. 277ff. F. Naumann: wie Anm. 1, S. 8. F. Naumann: A. a. O., Nachwort von 1916, S. 92. F. Naumann: A. a. O., S. 7. H. Ruddies: wie Anm. 20, S. 104. F. Naumann: wie Anm. 1, S. 7.

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eingegriffen und bis zu seinem Todesjahr 1919 bedeutsame Beiträge zur gesellschaftlichen Lage von Religion und Kirche verfaßt. 44 In all diesen Beiträgen hat er seine Position in den „Briefen über Religion" immer neu umschrieben, aber nie mehr verlassen; sie haben deshalb eine prinzipielle Bedeutung für Naumanns Verhältnis zur Theologie, weil in ihnen der Prozeß der theologischen Ernüchterung zu einem gewissen Abschluß kam und die Frage nach dem Weltverhältnis des christlichen Glaubens neu gestellt und beantwortet wurde.

IV. Naumanns „Briefe über Religion" werden gemeinhin als Dokument seines Abschieds vom traditionellen Christentum gelesen, weil sie die Religion nicht mehr als absolute Vorgabe des ethischen und politischen Handelns verstehen: der christliche Glaube ist nicht länger der Leitfaden sozialer und politischer Veränderungen. Daß die „Briefe" aber auch ein Dokument einer innovativen protestantischen Theologie sind, die den durchschnittlichen Widersprüchen der Geschichte standhalten, die gewöhnlichen Ambivalenzen des Lebens aushalten und die Spannungen zwischen Religion, Ethik und Politik produktiv aufgreifen wollen, machen sie zu einem immer noch anregenden Text für eine Theologie, die an einem Austausch zwischen der Erbschaft der christlichen Urzeit und den religiös-theologischen und ethischen Aufgaben in der europäischen Neuzeit interessiert ist. Es ist - wie Naumann selber sagte - ein „undogmatisches Christentum" 45 , das sich in diesen „Briefen" ausspricht. Im Blick auf die gärende Situation des deutschen Protestantismus um die Jahrhundertwende wird man durchaus sagen können, daß Naumann hier auch Grundzüge einer Theologie auf Standortsuche vorgelegt hat. Bei diesem theologischen Experiment hat Naumann deutlich auch das zentrale christliche Kriterium benannt, nach dem diese Standortsuche organisiert werden soll. Er schreibt im 20. Brief, am Übergang vom theologisch-naturwissenschaftlichen zum ethisch-politischen Argumentationsgang in seinen „Briefen": „Erst habe ich mich bemüht, das Christentum entwicklungsgeschichtlich zu betrachten, wie es ein Ge44

Vgl. nun die Studie von H . Kramer-Mills: wie Anm. 3 6 , S. 4 2 - 5 0 . - Ich nenne nur die wichtigsten religiös-theologischen Aufsätze Naumanns nach 1 9 0 3 wie „Religion und Darwinismus" ( 1 9 0 9 ) , jetzt in: N W . Bd. 1. Hg. von W . Uhsadel. KölnOpladen 1 9 6 4 , S. 7 3 1 - 7 5 3 : „Liberalismus und Protestantismus" (Rede am 2 2 . September 1 9 0 9 auf dem Deutschen Protestantentag in Bremen), jetzt in: A. a. O., S. 7 7 3 - 8 0 1 .

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Friedrich Naumann: wie Anm. 1, S. 2 2 .

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wordenes und ein Werdendes ist, in dem wir leben und atmen, dann ging ich dazu über, in dem breiten historischen Christentum das aufzuzeigen, was uns, den Leuten unseres Landes und unserer Bildung, am Christentum das Wesentliche bleibt. Das war die Person Jesu Christi. An dieser Person bewegt uns vor allem sein Evangelium der Armen. Ob dieses Evangelium ... die einzige maßgebende Lebensform für uns sein kann, das ist es, was uns beschäftigt."46 Mit beiden Blickrichtungen hat Naumann in seinen „Briefen" eine These aufgestellt, die zum Gemeingut vieler liberaler Theologen gehörte: die Absolutheit der christlichen Religion ist dogmatisch und ethisch relativiert. Denn die Entwicklungsgeschichte des Christentums zeigt seine Doppelkonditioniertheit durch Glaube und Geschichte und läßt keine dogmatische Absolutheit mehr zu; und die Geschichte und Struktur der christlichen Ethik verweisen überall auf bleibende ethische Spannungsverhältnisse, die nicht in dogmatisch-ethischen Handstreichverfahren aufzulösen sind, sondern die auf die Kompliziertheit und Unabgeschlossenheit der ethischen Urteilsbildung zu allen Zeiten des Christentums aufmerksam machen. In beiden Blickrichtungen kommt sicherlich eine Krisenerfahrung, aber eben auch ein Epochenbewußtsein zum Ausdruck, für das der Dissenz zum tradierten Kirchenchristentum nicht nur und nicht zu allererst Last und Beschwernis ist, sondern auch Ansporn zur eigenen theologischen Kreativität und zu einer am geschichtlichen Ort des individuellen Subjektes verantworteten Theologie und Christlichkeil;.47 Damit hat Naumann unterstrichen, daß die religiöse Produktivität in der Moderne zur primären Tradierungsinstanz des Christentums geworden ist. Dem alten christlichen Gedanken vom Dienst am Wort entspricht in der Moderne die jeeigene Selbstverpflichtung zur religiösen Produktivität.48 Aber diese Selbstverpflichtung kann nicht ohne Rücksicht auf ihren empirisch-historischen Ort und ihre historische Zeitlage vollzogen 46

A. a. O., S. 6 6 .

47

Der Auftrag zu einer in geschichtlicher Eigenverantwortung zu leistenden protestantischen Theologie wurde Naumann insbesondere bei seiner großen Orientreise deutlich, als er die historisch-kulturelle Standortgebundenheit der Verkündigung Jesu entdeckte und sie kritisch mit den Aufgaben einer modernen Sozialpolitik konfrontierte. Vgl. das Kapitel „Religiöse Ergebnisse" in Naumanns Bericht über seine Orientreise: „Asia". Athen-Konstantinopel-Baalbek-Damaskus-Nazaret-Jerusalem-Kairo-Neapel. Berlin-Schöneberg 1 8 9 9 , 3. Aufl. 1 9 0 0 , S. 1 0 2 - 1 2 0 , jetzt auch in: N. W . , Bd. I, S. 5 3 5 - 5 5 1 . - N a u m a n n s historische Reflexionen spiegeln auch sein eigenes Fremdheiterlebnis zwischen der Jesusreligion und den Konflikten des Politikers.

48

Ebenda, S. 115f.

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werden. Darum hat Naumann in den „Briefen" die geschichtliche Lage im Kaiserreich zwar nicht durchgängig zur verpflichtenden Instanz, aber doch mit Entschlossenheit zum historisch-hermeneutischen Ort seiner religiös-ethischen Ausführungen gemacht. Die empirische Präsenz der christlichen Religion im Kaiserreich war unübersehbar groß, ihre subjektive Aneignung aber schwankte - je nach Bildungsstand - zwischen einer blockhaften Übernahme des Traditionsgutes, einer selektiven Auswahl aus ihren Beständen und produktiven Umdeutungen ihrer leitenden Begriffe und Gehalte. Das galt insbesondere für das Zentrum der christlichen Religion, den Glauben an Jesus Christus: „Es scheint, daß die Geschichte im großen in dieselbe Richtung geht: Jesusreligion mit Resten des altkirchlichen Lehrsystems. Das Wachsende in dieser Zusammensetzung ist die Jesusreligion, das Abnehmende ist der kirchliche Gedankenvorrat." 49 Den produktiven Aneignungsvorgang der Person Jesu im Glauben vollzog Nauman „mit den Mitteln unserer Psychologie" 50 , worunter er weniger die fachspezifische Wissenschaft als vielmehr eine auf geschichtliche Einfühlung und individuelle innere Anschauung begründete Lebensbewegung verstand, die Jesus „durch die Fenster seiner Worte in sein Inneres" hineinschaut. 51 Und bei diesem Aneignungsvorgang ereignete sich dann das, was für Naumanns Theologie und ihre Wirkungen ebenso wichtig wie hinderlich war: die Erkenntnis, daß der „gefühlte", „in seinem Inneren" angeschaute Jesus keine Botschaft hat, die gegenwärtige soziale Probleme lösen hilft. Und das hatte zur Folge, daß für Naumann die ethischen und politischen Fragen der Gegenwart nicht allein mit christlichen Maßstäben gemessen und beantwortet werden können. Der Christ, wie Naumann ihn sieht, hat ein gespaltenes Herz, weil seine ethischen und politischen Erkenntnisse ihn auch über die Schranken des Christentums hinausführen. Diese Erkenntnis, daß der moderne Mensch, auch wenn er unter den Bedingungen des Christentums lebt und denkt, nur bedingt christlich sein kann, war für Naumann auch der Entdeckungszusammenhang für die Differenzen zwischen der Person Jesu und den Weltanschauungen, 49

F. Naumann: wie Anm. 1, S. 2 0 .

50

Ebenda, S. 4 9 . - Naumanns Rekurs auf die „Mittel unserer Psychologie" lag das Eingeständnis zugrunde, daß der Weg zum historischen Jesus in seiner Zeit und für ihn selbst (noch) nicht gangbar war: „Die protestantische Theologie steht vor einer Zwangslage: sie muss vorwärts zum historischen Jesus und doch hat sie nicht Kraft genug, so an die Berge Palästinas zu schlagen, dass sie Wasser geben." (F. Naumann: wie Anm. 4 7 , S. 1 1 6 ) .

51

F. Naumann: wie Anm. 1, S. 50.

„Kein spiegelglattes, problemloses Christentum"

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die sich seit der christlichen Urzeit mit seinem Bild verbunden haben. Die neue Zeit, die Moderne, verlangt den Austausch der alten Weltanschauungen durch neue und zeitgemäßere; und das Christentum ermöglicht ihn.52 Naumann präzisierte diese hermeneutische Grundthese seiner „Briefe" wieder in einem plastischen Bild: „Wir finden das Christentum wie einen Weinstock, der sich an einer Wand emporgerankt hat, die zum Abbruch bestimmt ist. Die alte Wand ist das alte Weltbild der europäischen Völker. Jeder Zweig und jede Ranke des Weinstocks hat sich bisher irgendwo an einem Stein der alten Wand angehalten und festgeklammert, Wand und Weinstock schienen ein gemeinsames Leben zu haben. Nun wird die alte Wand stückweise durch ein neues Gemäuer ersetzt. Rebe für Rebe muß abgelöst werden und ganze Hälften des Weinstocks liegen zeitweise wie verlorenes Laub am Boden. Das alles übersteht der Weinstock, wenn nur die Wurzel noch triebkräftig ist. Die Wurzel ist Jesus. (...) Der Darwinismus ist ein Stück der neuen Mauer, ... ein Teil der neuen Weltanschauung, die sich an die Stelle der alten schiebt." 53 Naumann identifizierte seine Zeit, in der Teile des Weinstocks wie verlorenes Laub am Boden liegen, als die Zeit der „heimatlosen religiösen Gefühle."54 In ihr kommt zugleich „die Lage der Religion innerhalb unserer modernen Welt überhaupt, dieser Welt gesteigerter Einzelempfindungen"55, zum Ausdruck. Eine Beheimatung der „heimatlosen religiösen Gefühle" in den Kirchen aber hängt davon ab, ob die Volkskirchen religionsfähig werden und Deutungsangebote für die vagierende moderne Religiosität machen, die den religiös Suchenden plausibel, akzeptabel und lebensdienlich sind. Naumann schließt diesen Gedankenkreis mit einer Warnung an die Kirchen: Wenn sie nicht religionsfähig werden, dann sterben die „heimatlosen religiösen Gefühle" - und die Kirche wird zum Religionsbestatter, zum Totengräber der Religion.56 52

In Naumanns religiöser Weltanschauungshermeneutik gibt es Parallelen und Differenzmomente zum Entmythologisierungsprogramm R. Bultmanns, auf die ich hier nicht näher eingehen kann; vgl. Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung ( 1 9 4 1 ) . ND hg. von Eberhard Jüngel. 3. Aufl. Gütersloh 1 9 8 8 .

53

F. Naumann: wie Anm. 1, S. 2 2 f . - Z u Naumanns Darwinismusrezeption: E. Dennert: Darwinistisches Christentum. Eine kritische Untersuchung von Friedrich Naumanns „Briefen über Religion". Stuttgart 1 9 0 4 ; W . Göggelmann: wie Anm. 6 , S. 2 8 5 - 2 9 1 ; H . Kramer-Mills: wie Anm. 3 6 , S. 1 0 1 - 1 0 6 .

54

F. Naumann: wie Anm. 1, S. 2 4 .

55

Ebenda, S. 2 7 .

56

Ebenda.

330

H a r t m u t Ruddies

Naumann hat sich also keineswegs seit seiner „Frankfurter Wende" sukzessiv von der Religion und der Theologie verabschiedet; sondern dieser Zeitraum markiert einen Wendepunkt in seinem Denken, der den Auftakt zu einer zivilreligiösen Umdeutung des Protestantismus bildete. Sie fand dann einen Höhepunkt in der religiösen Kriegspublizistik Naumanns, in der er die im Krieg mit elementarer Wucht aufbrechende deutsche Nationalreligion mit religiös-theologischen Regulativen zu begleiten und auch zu begrenzen versuchte. Im Rückblick auf seine theologische Wende um 1900 schrieb Naumann 1916 im Nachwort zur Neuauflage der „Briefe über Religion", daß sich seine religiös-theologische Grundentscheidung einer Trennung zwischen Religion und Politik gerade auch im Blick auf die nationalprotestantische Kriegspredigt bewährt habe. 57 In m. W. allen religiösen Texten aus der Kriegszeit beruft er sich ausdrücklich auf die von ihm 1903 proklamierte Trennung zwischen der Religion, die der Sphäre der Innerlichkeit angehört, und dem staatlichen und politischen Leben, das den Kampf ums Dasein nun unter den Bedingungen des Krieges organisieren muß. Diese Trennungsintention führte Naumann im Krieg einerseits zur Kritik an dem nationalreligiösen Protestantismus mit seiner „aus Bethlehem und Potsdam gemischten Predigt". 58 Andererseits betonte er die Legitimität einer aus dem Kriegserlebnis geborenen Religiosität, die weder partiell noch komplett auf den christlichen Glauben abgebildet werden kann, die aber als „Kriegsglaube" ihre eigene, situativ und ideell bestimmte Würde hat, weil sie einerseits „echter Glaube" im Sinne eines Für-Wahr-Haltens dessen ist, was man nicht sieht, und andererseits die Erhaltung der Nation im Völkerkampf zum Ziel hat, die Gott hat werden lassen.59 Und drittens hat er die Hoffnung ausgesprochen, daß in der Friedenszeit sich der Geist des Christentums wieder so instaurieren wird, daß der Kriegsglaube als Etappe eines spezifischen zivilreligiösen Aufbruchs historisch überholt ist und nun auch religiös integriert werden kann. 60 Aber auch diese neue Stufe der religiösen Entwicklung ist Teil des „evangelischen Entwicklungsprozesses", der von Naumann in institu57

58 59

60

Friedrich Naumann: N a c h 13 Jahren. Nachwort zur 7. Aufl. der „Briefe über Religion", in: wie Anm. 1, S. 92-130, jetzt auch in N W . Bd. 1, S. 856-888. In diesem Nachwort akzentuiert Naumann die Kontinuität seiner theologisch-politischen Anschauungen von 1902 bis 1917. A. a. O., S. 125. Friedrich Naumann: Der Kriegsglaube (1915), jetzt in: N W Bd. I. Hg. von W. Uhsadel. Köln/Opladen 1964, S. 848-851. F. Naumann: wie Anm. 1, S. 125f.

„Kein spiegelglattes, p r o b l e m l o s e s Christentum"

331

tioneller Perspektive als „Übergang vom Staatskirchentum zum Freien Protestantismus" und in religiös-theologischer Hinsicht als Übergang von der dogmatischen zur zivilreligiösen Interpretation des christlichen Glaubens beschrieben wurde. Auch seine Mitarbeit an der Weimarer Reichsverfassung geschah im Bewußtsein, daß „insbesondere Artikel 134 und 135 der Aufgabe gewidmet sind, diesem evangelischen Entwicklungsprozeß zu dienen." 61

V. Was Naumanns Wirkungen in der protestantischen Theologie und Kirche begrenzte, war vor allem seine Verhältnisbestimmung von Politik, Ethik und Religion, die - und das ist nicht Konsens in der NaumannForschung - nicht nur das verunglückte Resultat einer unzulässigen Rezeption eines autonomem Politikbegriffs in die Theologie, sondern auch das Ergebnis einer religiösen Wandlung war. Der Vorgang der Entdifferenzierung von Religion, Ethik und Politik war für Naumann gerade kein „theologischer Widerruf", sondern er markiert einen Wendepunkt in seinem an Wendepunkten reichen religiös-theologischen Denken. Bekanntlich hat Naumann in den „Briefen" eine Trennung von Politik und Ethik vertreten: „Wer die Politik wesentlich zu einer Art angewendeter Ethik machen will, der kennt sie nicht genügend. Sie hat keine Möglichkeit, eine über allem Kampf stehende ideale Ethik zu verwirklichen. Das einzige, was der Einzelne zusagen kann, ist, daß er den Machtkampf ethisch führen wolle, und daß er Machtausübung ... ohne Barbarei und Bosheit erstrebe." 62 Die Politik hat ihre eigenen Gesetze, aber der Politiker bringt seine ethische Prägung in der Politik so zur Geltung, daß er der autonomen Politik seine Seele aufprägt. Und nachdem Naumann die Politik auf diese Weise von der Ethik getrennt hatte, ist er zur religiös-theologischen Reflexion des Problems gekommen: das kirchlich vermittelte

61

62

Diese Spätposition Naumanns läßt sich aus seinen Beiträgen und Voten in der Verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung gut erheben; vgl. insbesondere: F. Naumann, Staat und Kirche. Rede in der Nationalversammlung vom 17. Juni 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Natinalversammlung Bd. 328. Berlin 1920, S. 1651 A - 1655 C, Zitat: S. 1652 C. Zit. nach Ludwig Vietor: Friedrich Naumanns Politik und Religion. 1. Naumanns Politik, in: Evangelisches Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen. 20. Jg. Nr. 35. Bonn, 28. August 1904, Sp. 273-275, hier: Sp. 275.

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Verständnis des Christentums reicht nicht aus, um politische und ethische Handlungen zu begründen, weil es die autonomen Sphären der Ethik und der Politik in Abhängigkeit von der Religion halten will. Erst wenn die Religion aus ihrer kirchlichen Einhegung und Engführung herauskommt, dann gelangt sie zu ihrer Erfüllung: sie wird dann die Instanz der Selbst- und Weltdeutung, die die Wirklichkeit im Ganzen erschließen hilft. 63 In einer Gleichführung von historischer und theologischer Argumentation, dem charakteristischen Schema liberaltheologischer Erörterungen zum Standort und zur Aufgabe der Theologie in der Neuzeit, hat Naumann dies im 28. Brief dargelegt: „Einst war Religion das ganze Geistesleben überhaupt. Die ganze mittelalterliche Kultur war theologisch. Das hat aufgehört. Ein Zweig des Wissens nach dem anderen hat sich seine eigene Art des Arbeitens geschafffen. Die Religion wird je länger desto mehr eine innerliche Seelenfrage. Als Seelenfrage ist sie unserem Zeitalter ebenso klar wie nur irgendeinem früheren. Die Seele sucht Unabhängigkeit von der Welt durch Anschluß an Gott, Freiheit von der Endlichkeit durch Anklammerung an den Unendlichen. Diesen unendlichen Gott sucht sie mit sehnender Liebe und findet ihn in dem Kampf ums Dasein ebenso wie in der Geschichte Jesu von Nazareth und seiner Jünger. Nie kann sie sagen, daß sie fertig ist mit einer Erkenntnis, aber gerade dieses rastlose Greifen und Suchen nach dem Lebendigen gehört von alters her zur wirklichen Religion." 64 Religion und Politik treten bei Naumann scharf auseinander, aber sie finden sich auch wieder. Die Befreiung der Politik von der Religion kommt der Politik zugute, die nun nach Sachgesichtspunkten urteilen kann; und die Befreiung der Religion von der Politik kommt der Religion zugute, weil sie nun nicht mehr unter fremden Zwecksetzungen steht und ihre eigene Wahrheit leuchten lassen kann. Ihre eigene Wahrheit aber ist von der Art, daß sie andere Wahrheiten erschließt, ohne sie zu dominieren. Wenn Religion aber „andere" Wahrheiten erschließen kann, dann gibt es einen Superioritätsaspekt der Religion und er ist auch in Naumanns theologischem Konzept vorhanden.65 Diese Behauptung eines Superioritätsaspektes der Religion steht freilich in einer grundlegenden Spannung zur Erkenntnis der sektoralen Differenz zwischen den religiösen und politischen Wertsphären und diese Spannung wird von Naumann weder prinzipiell aufgehoben noch prinzipiell begründet. 6·'

Ludwig Vietor: Friedrich Naumanns Politik und Religion. 2 . Naumanns Religion, in: A. a. O., Nr. 3 6 . Bonn, 4. September 1 9 0 4 , Sp. 2 8 1 - 2 8 4 , bes. Sp. 2 8 3 f .

64

F. Naumann: wie Anm. 1, S. 90f.

65

L. Vietor: wie Anm. 6 3 , Sp. 2 8 3 .

„Kein spiegelglattes, problemloses Christentum"

333

Und das bedeutet für das Verhältnis von Religion und Politik bei Naumann, daß er neben der Figur der regionalen Trennung auch noch die Figur einer fundierten Einheit von Religion und Politik vertreten kann, ohne daß er hier m. W. zu systematischer Klarheit gelangt ist. „Das Leben braucht beides: die gepanzerte Faust und die sanfte Hand Jesu, beides je nach Ort und Zeit." 66 Das Leben stiftet okkasionell, immer wieder und insofern auch dauerhaft die Einheit von Politik und Religion. Naumanns theologische und religiöse Interessen waren nichtsystematischer Art. Er wollte die Schwierigkeiten und Probleme benennen, die das Christentum in der Moderne hat. Die Lösung dieser Schwierigkeiten hat er nicht gefunden, weil für ihn in der Moderne die Probleme des christlichen Umgangs mit der Welt auf Dauer gestellt sind. Die Moderne - so hat Adolf von Harnack Naumanns Position in den „Briefen über Religion" beschrieben - nötigt den Christen zum „Dualismus einer doppelten Lebens- und Buchführung" mit der Folge, daß die „Einheit des Denkens" bedroht ist.67 Und in den Worten Otto Baumgartens hieß das: Der Christ hat nach Naumann in seinem Handeln nicht nur christliche Motive; er muß das öffentliche Zugeständnis machen, „dass es Dinge gibt, die sich einer christlichen Regelung entziehen." 68 Diese Problemsicht und vor allem die Problemlösung Naumanns für die moderne Lage des Christentums wurden und werden in der protestantischen Theologie weithin einfach als elementare Unklarheit, als theologisch nicht geklärte Koexistenz von heterogenen Motiven bestimmt. 69 Mit seiner dogmatisch unqualifizierten Religionsauffassung habe Naumann keine Theologie, sondern einen „Religionismus" vertre-

66 67

68

65

Friedrich Naumann: Briefe über Religion, wie Anm. 1, zit. n. N W I, S. 619. Adolf Harnack: Naumanns Briefe über Religion, in: Die Nation (20) 1903, S. 810f. dann auch in: Ders., Aus Wissenschaft und Leben. 2. Bd. Gießen 1911, S. 75-80, hier: S. 78. Otto Baumgarten: Notizen /Rez. Naumann, Briefe über Religion/, in: MKP 3 (1903), S. 342f., hier: S. 343. Zu Baumgartens komplexem Verhältnis zu Naumann auf dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte vgl. Hasko von Bassi: Otto Baumgarten. Ein „moderner Theologe" im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1988, S. 58ff. und H. Kramer-Mills: wie Anm. 36, S. 79-84. So als einer der ersten Rudolf Otto: Moderne Religionen. 1. Friedrich Naumann: Briefe über Religion, in: ChW 18 (1904), Sp. 100-105, der von Naumann einforderte, „daß an die Stelle des Rhapsodischen und der Skizze erschöpfende Ausführung und gründliche Belehrung treten müßte." (a. a. O., Sp. 105). Otto kritisierte mit hoher Sachkompetenz insbesondere die Ausführungen Naumanns zum Darwinismus.

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ten. 70 Und mit der Figur einer gespaltenen Moralauffassung - für den Christen als Privatperson gilt das Liebesgebot, im öffentlichen Leben folgt er den Eigengesetzlichkeiten der Politik, der Wirtschaft und des Rechts71 - hat sich Naumann der Theologiegeschichtsschreibung als Vertreter eines Resignationschristentums imponiert, das seinen verpflichtenden religiösen Grund nicht mehr auf seinen entwickelten historischen Stand beziehen kann oder beziehen will. Aber seine Auffassungen haben auch produktive Folgen gehabt, weil Naumann den Kern der modernen Debatte um die theologische Form der Vernunftautonomie getroffen hat. Er hat diesem Problem mit dem Renomee eines religiösen Volksschriftstellers und als eine der bedeutendsten politischen Persönlichkeiten seiner Zeit, aber auch mit der Deutlichkeit und Drastik seiner plastischen Sprache, eine Schubkraft gegeben, die es durch die theologische Zunft allein niemals erhalten hätte. Nicht die Unbefangenheit, mit der er die Probleme des Christentums in der Moderne sah, nicht die Schärfe und Weitsicht, mit der er die moderne Gesellschaft analysierte, und auch nicht die Suchbewegung, mit der er der Theologie und der Kirche einen neuen Standort und eine neue Sprache geben wollte, haben das Interesse der protestantischen Zunfttheologen gefunden. Sondern die Rezeption seiner Theologie war und ist davon bestimmt, daß Naumann die moderne Differenzierung des Protestantismus so zu einem öffentlichen Thema gemacht hat, daß die protestantische Identität sich von ihr entweder bedroht, herausgefordert oder bestätigt fühlte. Die Wirkungsgeschichte Naumanns in der Theologie läßt sich formal in diesen drei Reaktionsmustern erfassen.

VI. Innerhalb eines etwas grob schematisierenden Überblicks lassen sich fünf verschiedene Rezeptionstypen der Theologie Naumanns unterscheiden, die jeweils um bestimmte theologische und politische Interessenlagen gruppiert sind. 1. Naumann gab der bildungsbürgerlichen Distanz zum Christentum ein gutes theologisches Gewissen. Ernst Troeltsch konnte diesen Sach70

71

So Friedrich Brunstäd nach einer Mitteilung von Theodor Heuß in: Ders.: Friedrich Naumanns Erbe. Tübingen 1959, S. 19. Der Terminus „Eigengesetzlichkeit" findet sich m. W. bei Naumann nicht; er ist aber durch Begriffe wie „Sachgerechtigkeit" faktisch präsent.

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335

verhalt positiv als Legitimation einer distanzierten Christlichkeit deuten, die sich ihrer historisch-religiösen Bedingtheit gewiß geworden ist.72 Emil Fuchs deutete ihn negativ als selbst-ruinöse Einwilligung in den Bedeutungsverlust der christlichen Religion.73 Und auch die jüngste theologiegeschichtliche Studie von Hartmut Kramer-Mills sieht in Naumanns Ausführungen in den „Briefen über Religion" vor allem einen gewichtigen Schritt zur Selbstsäkularisierung des modernen Protestantismus, weil Naumann Säkularisierungsprozesse einerseits positiv in die Theologie rezipierte, dadurch aber andererseits neue Säkularisierungsprozesse auslöste, die er theologisch dann nicht mehr einfangen und bewältigen konnte.74 2. Naumann führte in der Theologie die Erkenntnis durch, daß der christliche Glaube kein Monopol mehr für die Wirklichkeitsdeutung hat, sondern mit seiner Wahrheit in den Streit um die Wahrheit eintreten muß.7S Adolf von Harnack ζ. B. interpretierte Naumanns „Briefe über Religion" mit ihrem religiös-politischen Dualismus auch als Reaktion auf den erfahrenen Bedeutungsverlust der Religion in der Moderne.76 Auf dieser Spur konnte man Naumanns theologische Position als den Versuch lesen, die klassischen religiösen Unterscheidungspotentiale wie „göttlich" und „menschlich", „absolut" und „relativ" nun im Interesse einer Steigerung der Freiräume des Individuums zu reformulieren. 3. Naumanns Unterscheidung von Glaube und Ethik ist eine unzulässige Radikalisierung einer richtigen Erkenntnis. Aus der Unterscheidung von Glaube und Ethik folgt nicht notwendig auch der Dualismus von Glaube und Ethik und aus der notwendigen Unterscheidung von Glaube und Politik folgt auch nicht notwendig die Preisgabe der christlichen Religion als Grundlage des politischen Handelns. Diese zugleich anknüpfende und kritische Interpretationslinie gegenüber Naumann wurde von Wilhelm Herrmann77 initiiert und vom frühen Otto Baumgarten

72

Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel. 1 9 0 1 - 1 9 2 3 . Mit einer Einleitung hg. von Karl-Ernst Apfelbacher und Peter Neuner. Paderborn 1 9 7 4 , S. 3 0 .

73

Emil Fuchs: Christentum und Kampf ums Dasein, in: ZThK 14 ( 1 9 0 4 ) , S. 4 6 5 506.

74

H. Kramer-Mills: wie Antn. 3 6 , S. 213ff.

75

H. Ruddies: wie Anm. 14, S. 70f.

76

A. von Harnack: wie Anm. 6 7 , S. 7 5 .

77

Wilhelm Herrmann: Die sittlichen Gedanken Jesu in ihrem Verhältnis zu der sittlich-sozialen Lebensbewegung der Gegenwart, in: Die Verhandlungen des vierzehnten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Darmstadt am 3. und

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aufgenommen;™ sie wird in der Gegenwart ζ. B. von Wolfgang Huber 7 9 und Martin Honecker 8 0 auf dem Hintergrund neuer Verhältnisbestimmungen von theologischer Erkenntnis und sachorientiertem Vernunfturteil modifiziert weitergeführt. 4. Naumann hat wie kaum ein anderer Theologe in seiner Zeit nach einer Synthese des Christentums mit der Gegenwartskultur auf der Basis einer ethischen Grundlagenreflexion gesucht. Naumanns grundsätzliche These, daß die Elemente des christlichen Glaubens nur in einer Synthese mit der Zeitgeschichte leben können 81 , wurde vor allem von Werner Eiert daraufhin untersucht, ob sich die synthetische Struktur seines Werks einem christlichen Indikativ oder eher Imperativen des Zeitgeistes verdankt. Eiert kam zu dem Resultat, daß Naumann seine großen Synthesenbildungen auf dem Boden einer „Synthese aus Resignation" 8 2 vollzog, weil er nur noch den Gedanken ausführte, daß die Ethik Jesu nicht mehr in vollem Umfange für die Gegenwart verbindlich sein könne. Naumanns Synthesen des Christentums mit der Gegenwartskultur standen für Eiert und andere lutherische Theologen im Zeichen und unter dem Diktat einer Anpassung der Religion an den Zeitgeist. 83 5. Naumann hat den christlichen Glauben verraten, indem religiöse Mimikry der bestehenden Verhältnisse betrieb. Es einigen religiös-konservativen Theologen, die Naumann Entartung" vorwarfen 8 4 , und Religiösen Sozialisten wie

er nur die war neben „religiöse Leonhard

4. Juni 1903. Göttingen 1904, S. 9 - 2 9 . - Herrmann hat hier Naumanns Verzicht darauf, alle ethischen Fragen nach christlichen Grundsätzen zu entscheiden, als „Aufkündigung des Gehorsams" gegen Jesus bezeichnet (a.a.O., S. S. 27) und hat gleichwohl selber versucht, Naumanns Dualismus gesinnungsethisch und geschichtlich aufzufangen. 78 79 80

81

n

83

84

Otto Baumgarten: wie Anm. 68. Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit. Stuttgart 1973, S. 189ff. Martin Honecker: Einführung in die theologische Ethik. Berlin/New York 1990, 5. 274f; S. 316f. Friedrich Naumann: Rez. A. Harnack: Wesen des Christentums, in: Die Hilfe. 6. Jg. 1900. Nr. 38, S. 10: „ (D)ie christlichen Urelemente ... (können) nicht ohne zeitgeschichtliche Verbindungen existieren". Werner Eiert: Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel. München 1921, S. 423ff. Johannes Stier: Gedanken über christliche Religion. Eine Abweisung Friedrich Naumanns. Leipzig 1905, S. 50f. Carl Stange: Rez. Naumann, Friedrich: Briefe über Religion, in: ThLBl 2 5 (1904), Sp. 3 6 9 - 3 7 1 .

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337

Ragaz 85 vor allem Karl Barth, der 1913 86 und dann vor allem 1919 in seinem Nachruf auf Naumann 87 diesen Vorwurf erhoben hat. In Barths Frühwerk, vor allem im Tambacher Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft" 88 vom September 1919, und dann bis zur „Christlichen Dogmatik" von 1927 89 war die Theologie Naumanns die negative Folie, von der er seine eigene werdende Theologie absetzte.90 Naumanns - wie Barth meinte - prinzipiell dualistische Verhältnisbestimmung von Religion und Politik verrät die christliche Wahrheit, weil sie das politische Handlungsziel vom religiösen Handlungszweck grundsätzlich ablöst und damit das Evangelium vom absoluten und lebendigen Gott preisgibt. 91 Barths Naumannkritik, die große Folgen für das Naumannbild im deutschen Protestantismus hatte, war nicht zufällig auch in direkter religiöser Rede formuliert. So schrieb Barth in seinem Nachruf auf Naumann: „Der stürmische Konflikt zwischen Religion und Leben, zwischen Gott und Welt, löste sich auf in ein verständiges SchiediichFriedlich, So-wohl-Als auch, das beiden Seiten ihr Recht gab.(...) Er ist, nachdem sich das Neue Testament endgültig vor ihm verschlossen hatte, einer der Einflußreichsten des neuen Deutschland ... geworden, ... das geistige Haupt des deutschen Linksliberalismus. Sein Name wurde letzten Herbst genannt als es sich um die Besetzung des Reichspräsidentenstuhls handelte. ,Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest'." 92 Naumanns Theologie war für Barth in dieser Perspektive auch - Götzendienst.

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Zur Naumann-Kritik von Ragaz vgl. Markus Mattmüller: Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie. Zollikon-Zürich 1957, Bd. 1, S. 94100. Karl Barth: „Die Hilfe" 1913, in: ChW 28 (1914), Sp. 774-778. Karl Barth: Vergangenheit und Zukunft. Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt (1919), jetzt in: Anfänge der dialektischen Theologie I. Hg. von Jürgen Moltmann. München, 4. Aufl. 1977, S. 37-49. Karl Barth: Der Christ in der Gesellschaft, jetzt in: wie Anm. 55, S. 3-37. Karl Barth: Die christliche Dogmatik im Entwurf. 1. Band: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena. München 1927, S. 445f. Hartmut Ruddies: Karl Barth und Ernst Troeltsch. Aspekte eines unterbliebenen Dialogs, in: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien Bd. 4) Gütersloh 1987, S. 2 3 0 - 2 5 8 . In diesem Beitrag habe ich die Naumann-Deutung Barths als Folie für seine Wahrnehmung Troeltschs dargestellt. Karl Barth: wie Anm. 86, Sp. 776. Karl Barth: wie Anm. 87, S. 42.

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VII. Dieses Spektum der Naumannrezeption im deutschen Protestantismus zeigt nicht nur die große Spannweite, in der Naumann hier wahrgenommen werden konnte, sondern auch die Konstanz der Anfragen an seine religiös-theologische Position. Diese Position selber ist bislang deshalb eher fragmentarisch beschrieben worden, weil sein Abschied von der Theologie als Ende der religiösen Produktivität im Werk und Wirken Naumanns verstanden wurde. Die faktischen Präsenzen von Theologie und Religion in seinem Werk nach 1903 verdienen deshalb eine neue Aufmerksamkeit, denn Naumann hat bis zu seinem Todesjahr immer wieder zur Lage und zur Aufgabe des Protestantismus im Kaiserreich Stellung genommen 93 und dabei seine Position in den „Briefen über Religion", durch die jeweiligen geschichtlichen Anlässe modifiziert, beibehalten. Neben all den praktischen Problemen, die Naumann in dieser Zeit im Blick hatte, neben der gewiß nicht beiläufigen Frage, welche religiöse Grundierung sein Beitrag zu den Religionsartikeln der Weimarer Verfassung hatte, die kaum modifiziert auch noch die Religionsartikel des Grundgesetzes sind94 - neben all diesen kleinen und großen Fragen hat Naumann der protestantischen Theologie, der zünftigen und der unzünftigen, vor allem zwei Fragen hinterlassen, deren Aktualität auf der Hand liegt: Wie steht es um die theologische Verarbeitung der modernen Vernunftautonomie? Wie leben die Protestanten ihren christlichen Glauben zwischen objektivem Kirchenglauben und subjektiver Religion?

VIII. Naumanns Weg in die Politik war kein einfacher Bruch mit seiner theologischen Herkunft, sondern er war von einem theologischen Wandel begleitet, der den Konflikt zwischen der christlichen Ethik und ihrem Liebesgebot und der politischen Ethik und dem von ihr zentral vertretenen Machtanspruch jeder Staatlichkeit auffangen wollte. Wo der Christ politische Verantwortung übernimmt, ist dieser Konflikt unvermeidbar; darum hat Naumann ihn nicht abstrakt erörtert, sondern er hat ihn in den politischen Debatten der Gesellschaft des Kaiserreichs so 93 94

Vgl. Anm. 44. Harald Boldt: Friedrich Naumann und die Grundrechte in der Weimarer Reichsverfasung, in: Liberalismus und Revolution. 2. Rastatter Tag zur Geschichte des Liberalismus am 16./17. September 1989.

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konkretisiert, daß im Konflikt zwischen der ethischen Sachgesetzlichkeit und den ethischen Idealen zugleich die Frage nach der Modernitätstauglichkeit des Christentums zur Sprache kam. Naumanns ethischer Konflikt zwischen der Radikalität der Bergpredigt auf der einen und der sachgerechten Verantwortung in allen Bereichen des modernen Lebens auf der anderen Seite war historisch an der Bruchstelle von kulturprotestantischem Christentum und moderner Industriegesellschaft entstanden: die religiös fundierten gesellschaftlichen Gesamtentwürfe im Kulturprotestantismus und die historische Dynamik der modernen Industriegesellschaft ließen sich immer weniger miteinander verbinden. Der Konflikt hat sich dann bei Naumann sachlich und systematisch in den Extrempositionen zwischen einer von der Sachgesetzlichkeit beherrschten Moderne und einem akosmistischen Verständnis der Bergpredigt so fixiert, daß der christliche Glaube sowohl gegenüber seinen eigenen Traditionen wie auch gegenüber der modernen Lage in eine Nullpunktsituation geriet. Für Naumann freilich war es charakteristisch, daß er sich zeitlebens nie nur auf das eine Ufer dieses garstigen ethischen Grabens begeben konnte: Wich er nach der einen Seite aus, dann hatte er die Bergpredigt gegen sich, wich er nach der anderen Seite aus, dann ging er den Realitäten der Moderne aus dem Weg: „So erleidet er in vorderster Front paradigmatisch das Schicksal der theologischen Ethik seiner Zeit, in die „Zange" von christlich-ethischem Akosmismus und „Eigengesetzlichkeit" der einzelnen Verantwortungsbereiche genommen zu werden." 95 Die Schärfe des Konflikts, in den Naumann geraten war, ergab sich daraus, daß zwei miteinder in Konkurrenz stehende materiale ethische Prinzipien sich in einer zum politischen Handeln gezwungenen Person trafen. Naumanns ethischer Konflikt reflektierte in historischer wie in sachlicher Hinsicht die elementare Erfahrung des Abstandes zwischen der biblisch-christlichen Tradition und der aus Kampf und Kompromiß entstandenen, durch Sachgerechtigkeit vermittelten rationalen Moral der Moderne. Im Blick auf die vormodernen, trüben Vermischungen von religiösen und politischen Ordnungsvorstellungen war es Naumanns Ziel, die Eigenständigkeit und Berechtigung dieser rationalen Moral der Moderne so darzulegen, daß sie zugleich als eine neue Entwicklungsstufe der Ethik und auch als eine externe Implementierung der Bergpredigt verstanden werden kann. Dabei stehen sich in diesem Konflikt nicht mehr nur zwei konkurrierende Bereiche gegenüber, sondern zwei mit den gleichen ethischen

95

W. Göggelmann: wie Anm. 6, S. 272.

340

Hartmut Ruddies

„Absolutheitsansprüchen" auftretende Wertkomplexe. Damit aber ist der Konflikt nicht mehr durch eine Rangordnung zu lösen, sondern nur noch durch eine solche Reflexion, die die beiden als gleichrangig und konkurrierend empfundenen Wertkomplexe auf einem Fundament, das jenseits ihrer selbst liegt, in Beziehung setzt.96 Um diese Beziehung herzustellen, rekurrierte der in beiden Wertkomplexen agierende christliche Politiker Naumann auf den Gottesgedanken: „Wir haben eine Welterkenntnis, die uns einen Gott der Macht und Stärke lehrt, und eine Offenbarung, einen Heilsglauben, der von dem selben Gott sagt, daß er Vater sei. Die Nachfolge des Weltgottes ergibt die Sittlichkeit des Kampfes ums Dasein, und der Dienst des Vaters Jesu Christi ergibt die Sittlichkeit der Barmherzigkeit. Es sind aber nicht zwei Götter, sondern einer. Irgendwie greifen ihre Arme ineinander. (...) Der einzelne Mensch ist beständig zwischen beide gestellt, und zwischen beiden sucht er sich mühsam und um Klarheit ringend seinen Weg. Das ist es, was ich früher sagen wollte, wenn ich schrieb, daß die christliche Sittenlehre nicht allein alles beherrscht. Nicht als ob ich oder sonst jemand dieses alte, harte Problem endgültig lösen könnte! Es genügt mir zu sagen, daß ich es kenne und daß ich deshalb die Zwiespältigkeit als notwendig begreife, die unser Handeln erfüllt. Das ist ein Schmerz, Religion ohne Schmerz aber gibt es nicht, hat es nie gegeben." 97 Die theologische Reflexion der Gottesfrage hat bei Naumann keine über die Frage nach dem politischen Handeln hinausgehende Bedeutung; der Gottesbegriff wird nicht nicht um seiner selbst willen, sondern zur Lösung einer ethischen Aporie bemüht. Naumanns Gottesbegriff hat als theologische Grenzreflexion seinen Ort innerhalb des ethischen Konflikts. 98 Dabei wird der Gottesbegriff zum Spiegelbild der in der Welterfahrung enthaltenen Konflikte und die in der Welterfahrung enthaltenen Konflikte werden zum hermeneutischen Konstituens für den Gottesbegriff. Auf diese Weise ist der Gottesgedanke nicht Grund-, sondern Schlußstein seiner Reflexionen zur politischen Ethik: Die subjektiv empfundenen Absolutheitsansprüche, denen der politisch handelnde Christ begegnet, nötigten ihn zu einer theologischen Reflexion, in der er den ethischen Konflikt erst im Gottesgedanken aufgehoben sein läßt. Damit ist der Gottesgedanke zugleich eine Funktion des politischen Handelns u n d das Fundament für das Verständnis der Geschichte im ganzen. 96 97 98

F. Naumann: wie Anm. 1, S. 74. F. Naumann: wie Anm. 1, S. 72. So auch W. Göggelmann: wie Anm. 6, S. 308f.

„Kein spiegelglattes, problemloses Christentum"

341

Wenn Gott der Herr der Geschichte ist, dann gibt die Geschichte Auskunft darüber, wer Gott ist. Durch die Welterkenntnis kommt Naumann zu einem Gottesverständnis, in dem Gott primär Macht ist; die durch Jesus vermittelte Erkenntnis, daß Gott Liebe ist, ist nun nicht mehr eine echte christologische Korrelaterkenntnis 99 , sondern sie verdankt sich der kulturellen Existenz und dem religiösen Deutungspotential von „Willensgemeinschaften ... auf unserer menschenbewohnten Erde" 100 , die den gütigen Gott in der Natur, in der Unendlichkeit des Universums, im Sonnenstrahl und im Regenbogen erkennen und preisen.101 Naumann hat immer wieder betont, daß seine Zeit „keine schöpferische Zeit in der Religion" ist102 und daß das Reden von Gott zu allen Zeiten stets nur ein „Lallen von Kindern (war), die dunkel von gewaltiger Melodie ergriffen werden und nicht Worte wissen, um das Zittern ihrer Seelen zum Ausdruck zu bringen. Gott war stets das große Unbekannte." 103 Das Gottesverhältnis des Menschen „war immer das eines Meerfahrers zum Meer, nur mit dem Unterschied, daß hier der Meerfahrer mit der Tiefe zu reden beginnt, die ihn trägt." 104 Es ist die Allpräsenz Gottes in der Natur und in der Geschichte105, die Menschen so Naumann - zur Rede von Gott nötigt und bewegt.106

IX. Sich „für den Staat und seine Machtmittel" einzusetzen „und dabei Christ zu sein" ist die kürzeste und prägnanteste Selbstaussage Nau-

99

Naumanns theologisches Denken war ursprünglich von einer wechselseitigen Konfrontation von Religion und Welterfahrung geprägt; seit etwa der Jahrhundertwende schiebt sich in seinem Denken die Welterfahrung so vor die Religion, daß sie zur Krise der Religion wird. So wird auch nicht die Bergpredigt zur Krise der Welt, sondern die Welt wird zur Krise der Bergpredigt, weil der Welt- und Realitätsgehalt der Bergpredigt Naumann zum Problem wurde.- Vgl. auch I. Engel: wie Anm. 3, S. 99f. 100 ρ N a u m a n n : w i e Anm. 1, S. 73. 101

102 103 104 105 106

Vgl ζ. B. Naumanns Andacht „Sonnenblicke", in: Gotteshilfe: wie Anm. 13, S. 352f.: „... Gott aber im Sonnenstrahl zu finden, ist wahre, echte Frömmigkeit." F. Naumann: wie Anm. 1, S. 18. Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 34. F. Naumann: Andacht „Stille Vertiefung", in: Gotteshilfe: wie Anm. 13, S. 418f. Naumanns pantheistisches Gottesverständnis ist schon von den Zeitgenossen ζ. T. heftig kritisiert worde; vgl. vor allem den lutherischen Theologen Johannes Stier: wie Anm. 83, S. 63f.

342

H a r t m u t Ruddies

manns über seine religiös-theologische Existenz.107 Der Theologe Naumann hat, durch politische Erfahrung immer neu zur ethischen Reflexion genötigt, die Schicksalsfrage „Christentum und Politik" bzw. „Christentum und Welt" bis zur Aporie durchreflektiert und sie dabei, nach eigener und fremder Ansicht108, nicht befriedigend beantworten können: „Für mich als Einzelnen ist diese Frage genauso ein immer unfertiger Konflikt wie für die Christenheit im Ganzen. Es ist aber gut, daß es Dinge gibt, mit denen wir nie fertig werden, damit wir unser Leben lang zu suchen und zu schaffen und zu ringen haben, wie wir vorwärts kommen als einzelne und als Volk, und zwar nicht nur materiell, sondern als Menschen und als Christen im ganzen." 109 Das Problem einer theologischen Begründung des politischen und sozialen Handelns ist das Kontinuum in der Entwicklung des Theologen Naumann. 110 Es hat darin seine Eigentümlichkeit, daß Naumann gerade nicht auf auf die Möglichkeit rekurriert, die Bereiche Religion und Politik zu trennen und den Staat und die Gesellschaft in die Säkularität zu entlassen. Dann wären Naumann die Aporien seines theologisch-ethischen Dualismus genau so erspart geblieben wie das lebenslang ausgeprägte Bewußtsein von seiner Unfertigkeit, in dem er sich immer wieder in Lessingscher Manier als religiöser Sucher stilisiert hat. 111 Sondern Naumann hat - über seine „Briefe über Religion" hinaus - an der Grundstruktur seiner politisch-ethischen Reflexion festgehalten: Die politischen Realitäten werden als Herausforderungen verstanden, die der ethischen Reflexion neue Sinnantworten, Zielvorstellungen und Handlungsweisen abnötigen. Und politische und soziale Entwicklungen sind mit religiösen Sinndeutungen zu vermitteln, die in der Lage sind, der rasanten gesellschaftliche Entwicklung standzuhalten. Dabei kristallisierten sich aus der politischen Aktivität Naumanns von seinen Anfängen bis zu seinem Tod immer neue synthetische Versuche aus, die er mit dem Stichwort „protestantisch-idealistisch" zusammenfaßte. 112 Dieses Stichwort vertrat keinen richtungweisenden theologischen Ansatz, wohl aber benannte es Eckwerte für eine prozessorientierte Reflexion, in der die theologische Ethik vor allem durch die Permanenz

107

F. Naumann: wie Anm. 1, S. 8. ίο» v g l . vor allem den instruktiven Nachruf auf Naumann von Adolf Deißmann in: Die Hilfe 25. Jg. 1919, S. 486f. 109 F. Naumann: Die Bibel und die reichen Leute, Ev. soz. Nr. 7/8. 1907, S. 151f. 110 So auch W. Göggelmann: wie Anm. 6, S. 329. 11 ' F. Naumann: wie Anm. 1, S. 92ff. 1,2 F. Naumann: wie Anm. 1, S. 7 ; vgl W. Göggelmann: wie Anm. 6. S. 339.

Kein spiegelglattes, problemloses Christentum"

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ihrer gesellschaftlichen Mitverantwortung und die Dignität ihrer Problemlösungsvorschläge, aber eben auch durch eine schonungslose Darstellung ihrer eigenen Konflikte, Gestalt annehmen kann. Mit dem Werk Friedrich Naumanns und seiner theologischen Wirkungsgeschichte verbinden sich Fragen und Antworten, mit denen der Protestantismus im Zentrum tangiert und verunsichert wurde, an denen er sich aber auch die Problemhorizonte verdeutlichen kann, auf die er in der modernen Gesellschaft gestoßen ist. Es gibt spätestens seither „kein spiegelglattes und problemloses Christentum" mehr, aber einen mit Risiken und Chancen versehenen Weg, auf dem er seine Selbstdeutung produktiv mit der Spannung zur modernen Kultur verbinden kann: „Ist es nicht schließlich eine Pflicht der Frömmigkeit, offen über schwierige Dinge des Glaubens zu reden? Wir sind Protestanten, wir haben keine bindende Tradition. Als Protestanten sind wir Suchende, die auch das als eine Gnade Gottes ansehen, wenn er ihnen einiges zerbricht, woran sie gehangen haben. Er hat seine Diener nie geschont, sondern sie in Zweifel und Konflikte hineingeworfen, wenn er sie fördern wollte." 113 Auch wenn Naumann seine Existenz als Christ und Politiker nicht mit Hilfe einer dogmatisch konsistenten Theologie geführt hat, wenn er in seinen politischen Stellungnahmen dem Zeitgeist verhaftet blieb, so orientierte sich sein Werk dennoch an dem Ziel, die Gegenwartskultur mit dem christlichen Glauben und seiner Ethik zu imprägnieren. Die Art und Weise, wie er das in seinen religiösen, ethischen und politischen Schriften versuchte, muß auch Gegenstand theologischer Reflexion und Forschung sein. Die Theologie „wird ihn als einen Christen sehen müssen, der unabhängig von allen Lehrmeinungen mit der Verwirklichung christlicher Existenz in seiner Zeit im Kleinen und im Großen ernst zu machen suchte." 114

113 114

F. Naumann: Asia, wie Anm. 4 7 , S. 103. W. Uhsadel: Einleitung zu N W I, wie Anm. 2, S. XXX.; I. Dingel, wie Anm. 7, S. 2 2 9 .

Friedrich Naumann und die politische Bildung N O R B E R T FRIEDRICH

Anläßlich des 125. Geburtstages Friedrich Naumanns fand 1985 in der Friedrich-Naumann-Stiftung in Gummersbach eine Gedenkveranstaltung statt, auf der der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäkker und der Soziologe Ralf Dahrendorf die historische Bedeutung Friedrich Naumanns würdigten. Richard von Weizsäcker betonte in seiner Begrüßung: „Es ging ihm (d.i. Friedrich Naumann, N.F.) darum, junge Menschen an die Demokratie heranzuführen und in der Demokratie verantwortungsstark zu machen." 1 Und Ralf Dahrendorf wies in seinem Referat zum Thema „Friedrich Naumann - Politik und politische Bildung" ebenfalls auf Naumanns Leistungen für die Entwicklung einer demokratischen Kultur hin: „Der Kern der Bedeutung Friedrich Naumanns liegt in seinem Wirken als politischer Volkserzieher. ... Der Volkserzieher nahm Analysen auf, vereinfachte sie, ohne sie zu verfälschen, stellte sie in den Zusammenhang eines deutlichen Sinns für notwendige Richtung und brachte das Ergebnis in Wort und Schrift gleich wirksam unter die Leute." 2 Diese Interpretationen des Lebens und Wirkens Friedrich Naumanns nehmen einen Gedanken auf, den Theodor Heuss, enger Mitarbeiter Naumanns und dessen Biograph, immer wieder in das Blickfeld gerückt hat. Heuss hat auf das „erzieherische Grundelement, das in aller politischen Publizistik Naumanns enthalten war" 3 hingewiesen und dadurch,

Richard v o n Weizsäcker: Ansprache im Margaretenhof der Friedrich-NaumannStiftung, in: liberal. Vierteljahresschrift für Politik und Kultur 2 7 (1985), Nr. 2, S. 2 7 - 2 9 , Zitat S. 2 8 . Ralf Dahrendorf: Friedrich N a u m a n n - Politik und politische Bildung, a.a.O., S. 3 1 - 3 9 , hier S. 3 7 . T h e o d o r Heuss: Friedrich N a u m a n n als politischer Pädagoge, in: Ernst Jäckh (Hg.): Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, Berlin 1 9 3 0 , S. 1 2 1 - 1 3 3 , hier S. 121; ders., Friedrich N a u m a n n . Der M a n n . Das Werk. Die Zeit, Stuttgart 2 1 9 4 9 (1. Auflage 1937), S. 2 0 6 (Naumanns „erzieherische Absicht"); ders.: D a s war Friedrich N a u m a n n , München 1 9 7 4 (1. Auflage 1 9 2 3 ) , S. 18 („Der pädagogische Grundakzent seiner religiösen Haltung wie seiner seelsorgerlichen Übung scheint uns schlechthin entscheidend.")

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im Blick auf die politische Gegenwart (Endphase der Weimarer Republik, Zeit des Nationalsozialismus), die Gegenwartsrelevanz betont. Diese einleitenden Bemerkungen zeigen an, daß das hier zu behandelnde Thema sich nicht auf ein besonderes Arbeitsfeld oder eine herausgehobene Zeitspanne in Naumanns Leben beschränkt, sondern vielmehr ein Grundaxiom des Naumannschen Lebens und Denkens betrifft. Der vorliegende Beitrag gliedert sich in drei Teile: Am dichtesten und klarsten hat Naumann seine pädagogischen Gedanken, die sich auf den Bereich einer Erziehung zum verantwortungsbewußten, mündigen Staatsbürger konzentrierten, in der Artikelserie „Vier Reden an junge Freunde" vom Frühjahr 1918 formuliert. Dieser Text soll im ersten Teil analysiert werden. Ergänzt werden diese Ausführungen mit Hinweisen auf den Volkserzieher Friedrich Naumann, wie er uns in seinem gesamten publizistischen Werk begegnet. Naumanns „Reden" von 1918 zielten bereits auf die Praxis: seine Mitarbeit an Initiierung und Ausbau der Staatsbürgerschule in den Jahren 1918/19. Diese Gründungsgeschichte soll im zweiten Teil skizziert werden. Ein dritter Teil ist der Rezeptionsgeschichte der Impulse gewidmet. Als vor 4 0 Jahren die FDP eine politische Stiftung gründete, erinnerte sie mit der Namensgebung „Friedrich-Naumann-Stiftung", die auf Theodor Heuss zurückgeht, explizit an den politischen Pädagogen Friedrich Naumann. Zuvor muß jedoch der Begriff der politischen Bildung näher bestimmt werden. Es handelt sich um einen Begriff, der trotz mancher Übereinstimmung in „Wissenschaft und Politik mehr oder minder kontrovers" diskutiert wird. 4 Nun gilt diese Feststellung für die Situation der Bundesrepublik Deutschland und meint die plurale Diskussion über Sinn, Ziel und Methode einer politischen Bildung im demokratischen Staat, sie spiegelt aber zugleich auch die politische Diskussionslage des Wilhelminischen Deutschlands und der Weimarer Republik wider. Auf einer sehr allgemeinen Ebene können zwei Arten politischer Bildung unterschieden werden: Gemeint sind einmal „Prozesse ... die auf jeden Menschen als Mitglied einer sozialen und politischen Ordnung über unterschiedliche Gruppen, Organisationen, Institutionen und Medien politisch prägend einwirken." Zum andern ist „politische Bildung" eine „Sammelbezeichnung für alle bewußt geplanten und organi-

4

So Peter Massing in dem Artikel „Politische Bildung" in: Uwe Andersen/Wichard W o y k e (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1 9 9 2 , S. 4 3 3 - 4 4 2 , hier S. 4 3 3 ; zum Bildungsbegriff vgl. auch Rudolf Vierhaus: „Bildung", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1 9 7 2 , S. 5 0 8 - 5 5 1 .

Friedrich N a u m a n n und die politische Bildung

347

sierten, kontinuierlichen und zielgerichteten Maßnahmen ... um Jugendliche und Erwachsene mit den zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben notwendigen Voraussetzungen auszustatten." 5 Die Unterscheidung von zielgerichteter und beiläufiger politischer Erziehung verzichtet zunächst auf eine normative Festsetzung eines Erziehungsund Bildungsziels. M a n kann jedoch sagen, daß der Bedarf an politischer Bildung im Zuge des Modernisierungsprozesses der Neuzeit entstanden und gerade im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umbruchsituationen besonders virulent ist. 6 Zentral ist somit der enge Zusammenhang zwischen politischer Bildung und Demokratisierung. 7 Dies betonten auch schon die Zeitgenossen Naumanns, etwa Georg Kerschensteiner, dessen Schriften als „Klassiker der Theorie der politischen Bildung" 8 gelten. Für Kerschensteiner war staatsbürgerliche Erziehung 9 „die Erziehung zum Willen und zur Fähigkeit, an der Entwicklung des gegebenen Staates zum vollendeten Rechts- und Kulturstaat seinen Teil beizutragen . . . " 1 0 Den liberalen Kerschensteiner verband eine politische Freundschaft mit Friedrich Naumann. 1 1

5 6

7

8 9

10

11

Massing, a.a.O, S. 4 3 3 . „Ein Bedarf ... entsteht vor allem dann, wenn sich das politische System grundlegend verändert oder eine solche Veränderung angestrebt, bzw. versucht wird, zu verhindern". Ebd. Vgl. dazu auch Dietrich Hoffmann: Politische Bildung 1890-1933. Ein Beitrag zur Geschichte der pädagogischen Theorie, Berlin u.a. 1970, S. 49. Ebd., S. 135, dort S. 135-151 eine Darstellung seines Ansatzes. Die Begriffe „politische Bildung" und „staatsbürgerliche Erziehung" werden hier synonym benutzt, obwohl in der zeitgenössischen Literatur hier unterschieden wurde, vgl. dazu z.B. Erich Weniger im Jahr 1929: „Andererseits ist staatsbürgerliche Erziehung nicht gleich politischer Bildung. Politische Bildung geht auf Vergegenwärtigung der politischen Lebensform, des sachgemäßen, politischen Verhaltens und Handelns und ihrer Bedingungen und Möglichkeiten. Die staatsbürgerliche Erziehung übermittelt dem politischen Handeln die Inhalte und vor allem die Bindungen; aber sie wird auch für den gefordert, der über den Kreis seiner staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht tätig ist.", zitiert nach Hoffmann, a.a.O., S. 38. Georg Kerschensteiner: „Staatsbürgerliche Erziehung", in: Die deutsche Schulreform. Ein Handbuch für die Reichsschulkonferenz, hg. vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht Berlin, Leipzig 1920 (Nachdruck Vaduz 1987), S. 108116, hier: S. 109. Vgl. dazu Heuss, a.a.O, S. 2 9 0 ; Theodor Wilhelm, Die Pädagogik Kerschensteiners. Vermächtnis und Verhängnis, Stuttgart 1957, S. 202f, Auszug aus einer Naumann-Gedächtnisrede Kerschensteiners aus dem Jahr 1919.

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N o r b e r t Friedrich

I. Friedrich N a u m a n n und die „Erziehung zur Politik" Naumanns Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung - er selbst spricht auch von der „politischen Bürgerbildung" - zielt innerhalb des Vorgestellten ab auf einen intentionalen Prozeß, er ist zudem, dies wird noch zu belegen sein, in seiner zielgerichteten Ausprägung elitär. Dies wird deutlich, wenn man sich Naumanns Programmschrift „Vier Reden an junge Freunde" anschaut, die die Gründung der Staatsbürgerschule vorbereiten und begründen sollte. Im Frühjahr 1918, in einer Zeit als Naumann und andere noch auf einen Verständigungsfrieden hofften, erschien in der Naumannschen Zeitschrift „Die Hilfe" eine mehrteilige Serie: „Vier Reden an junge Freunde". 12 Naumann wollte mit diesen Artikeln zwei Fragen beantworten: „Ihr wollt von mir hören, ob Politik lehrbar und lernbar ist, denn es ist euch eine dringende Angelegenheit, tätige deutsche Staatsbürger zu werden. Dabei bewegt euch der Gedanke, ob wir nicht nach dem Krieg eine freie deutsche Hochschule für Politik gründen sollen." 13 Naumann bemüht sich nun, diese selbst gestellten Fragen konstruktiv zu beantworten, er lenkt seinen Blick dabei auf die Zeit nach dem Krieg, verdeutlicht somit seinen politischen Gestaltungswillen. Die Reden sind insgesamt sorgfältig aufgebaut, sie widmen sich jeweils, in einer appellativen und gleichzeitig argumentierenden Form, einem bestimmten Fragenkomplex. Systematisch beginnt er in der ersten Rede beim Begriff der Politik. Unter dem Aspekt der Lehr- und Lernbarkeit von Politik unterscheidet er zwei Politikbegriffe: 1) Politik als Staatsbürgerkunde: die Vermittlung von Wissen, Grundbegriffen und Kenntnissen (Gesetze, Haushalte etc.) ist möglich, eine solche Form der Politk ist lernbar. Naumann vergißt aber nicht, auf die Schwierigkeiten zu verweisen, die sich bei der Auswahl der Schwerpunkte, beim Lernstoff ergeben. Didaktisch bezieht er sich auf das Prinzip des lebenslangen Lernens. So kann er Politik in diesem Verständnis definieren als „Lebenskenntnis in bezug auf den Staat." 1 4 2) Naumann erweitert dieses Verständnis nun, da diese Begriffsbestimmung das Wesen der Politik nicht hinreichend widerspiegeln kann. Politik ist mehr: „sie ist kein Wissen, sondern ein Können und Wollen, das weit tiefer in der menschlichen Natur begründet sein muß, als nur 12

Friedrich Naumann: Vier Reden an junge Freunde, in: Werke. Bd. 5, Schriften zur Tagespolitik, S. 7 0 9 - 7 3 5 , nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert.

13

Ebd., S. 7 0 9 f .

14

Ebd., S. 7 1 6 .

Friedrich N a u m a n n und die politische Bildung

349

durch Unterrichtsstunden." 15 Im folgenden nennt Naumann Politik eine „Kunst", für die man „geboren" sein müsse; Politiker müßten einen „Trieb zur Gestaltung menschlicher Gemeinschaft" besitzen. Die Frage der Lehr- und Lernbarkeit von Politik ist also nicht allgemein zu beantworten, sondern nur differenziert: „es ist die Frage, ob und wie sie den dazu Befähigten gelehrt werden soll." 1 6 Naumanns Konzept läßt sich in die verschiedenen Versuche einordnen, eine „pädagogische Elitebildung" (Joachim H. Knoll), eine „Führungsauslese" zu erreichen, die sich insbesondere im politisch organisierten Liberalismus finden. 17 Friedrich Naumann hatte bereits in seinem Buch „Demokratie und Kaisertum" (1900) die entsprechenden Konsequenzen für die praktische Politik beschrieben. Für ihn korrespondierte das demokratische Prinzip notwendigerweise mit der Herausbildung eines staatstragenden, eigenständigen, selbstbewußten und zielstrebigen Politikertyps. Diese Elite sollte dann den gesellschaftlichen und politischen Wandel initiieren und begleiten. 18 Naumanns Interesse galt somit in der politischen Situation 1917/18 weniger der theoretischen Fundamentierung seiner Gedanken als der praktischen Planung und Konzeptionierung. In diesem Sinne entwickelt er in der Rede knapp einige pädagogische Grundprinzipien, die für eine erfolgreiche Erziehung zur Politik unverzichtbar erscheinen: A) Das Prinzip des lebenslangen Lernens: (nicht nur) politisches Lernen ist ein immerwährender Prozeß, praktische Erfahrung und theoretische Reflexion gehören dabei immer zusammen. B) Lernen vollzieht sich vielfach an Vorbildern: mit dem entsprechenden Vorwissen können Vorbilder von großem exemplarischen Wert sein, an ihnen kann praktische Politik erfahrbar werden; ohne Vorwissen (politisches Systeme etc.) freilich erschließt sich eine historische Gestalt, wie beispielweise Otto von Bismarck, nicht. C) Lernen geschieht praxisbezogen: das Handwerkszeug des erfolgreichen Politikers ist nicht theoretisch erlernbar, sondern nur durch eigene Handlungen, durch sie kann man das politische Handwerkszeug verfeinern und weiterentwickeln. 15

Ebd., S. 7 1 1 .

16

Ebd., S. 7 1 3 .

17

Vgl. dazu Joachim H. Knoll: Führungsauslese in Liberalismus und Demokratie. Z u r politischen Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre, Stuttgart 1 9 5 7 ; ders., Pädagogische Elitebildung. Pädagogische Versuche zur politischen Führungsbildung am Beginn des 2 0 . Jahrhunderts, Heidelberg 1 9 6 4 , zum Liberalismus bes. S. 60ff.

18

Vgl. dazu Friedrich Naumann: Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, Berlin 1 9 0 0 , bes. S. 34ff; eine Skizzierung der Position Naumanns bei Knoll, Führungsauslese, S. 130ff.

350

N o r b e r t Friedrich

D) Politische Lehrer müssen selber aus der Praxis kommen, sie müssen „in der Politik leben und weben". 19 E) Der erfolgreiche Politiker muß in einem immerwährenden Prozeß der Selbstreflexion stehen, seine eigenen Handlungen immer wieder kritisch hinterfragen. In den zwei folgenden Reden beschäftigt sich Naumann mit der überragenden Bedeutung der politischen Rede20, sieht er doch in der Vermittlung des entsprechenden Handwerkszeugs eine zentrale Aufgabe der zukünftigen „politischen Volkshochschule" 21 , sowie mit der Organisation der politischen Parteien22, wobei er sein Interesse an praktischer Organisation zu erkennen gibt. Mit der vierten und letzten Rede wendet er sich dann auf einer sehr allgemeinen Ebene konkreten politischen Fragen zu („Politik nach dem Kriege"), um zu Position und Aufgabe der Hochschule Stellung nehmen zu können. Diese praktischen Gesichtspunkte werden im zweiten Teil behandelt werden. Naumanns „Reden", mit denen er sich an die Jugend wandte, sind insgesamt Ausdruck seines volkserzieherischen Ansatzes. Man kann sagen: „Er wirkte als politischer Redner und Schriftsteller für die Politische Bildung." 23 Dieser pädagogische Impuls seiner Arbeit ist immer wieder spürbar. Sein informativer, aufklärender und gleichzeitig aufrüttelnder Arbeiterkatechismus von 1889 oder auch der National-soziale Katechismus von 1897 belegen dies hinlänglich. 24 Für Naumann hatte die Kategorie Bildung zentrale Bedeutung, wobei er in seinen Schriften und Reden eher einen materiellen, pragmatischen Bildungsbegriff zugrundelegte. In einer großen Rede auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß in Essen im Jahr 1912 beschäftigt er sich so eingehend mit dem Thema „Religion und Bildung". Hier konzentriert er sich innerhalb des durchaus schillernden Begriffs der „Bildung", auf die „Mitte dessen, was wir Bildung nennen ... die Erweiterung und Ausweitung des menschlichen Erkennens." 25 Bildung führt hierbei zu

" 20

21 22 23 24 25

Naumann: Vier Reden, a.a.O., S. 716. Ebd., S. 717-722; Naumann greift hier auf ältere Überlegungen zurück, vgl. dazu ders., Die Kunst der Rede, a.a.O., S. 660-706, Schrift von 1914. Ebd., S. 717. Ebd., S. 7 2 2 - 7 2 8 . Hoffmann, a.a.O., S. 87. Beide Texte finden sich in Band 5 der Werkausgabe. Friedrich Naumann: „Religion und Bildung", in: Die Verhandlungen des 23. Evangelisch-sozialen Kongresses abgehalten in Essen am 28.-30. Mai 1912, Göttingen 1912, S. 62-80, hier S. 63.

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351

einer freiheitlichen Fortentwicklung der Gesellschaft, oder, wie Naumann sagt, „Welterkenntnis" führt zur freiheitlichen „Weltgestaltung". Im Mittelpunkt stehen bei ihm Überlegungen zur Erziehung zur Demokratie, zur politischen Bildung, die unabtrennbar zur ,echten' Bildung dazugehört. Schon in seinem Buch „Demokratie und Kaisertum" weist er auf die Bedeutung des allgemeinen Wahlrechts hin: „Das allgemeine Wahlrecht ist nichts als der Anfang für die Selbsterziehung eines Volkes zur Majoritätsbildung." 2 6 Der Begriff der „politischen Selbsterziehung" korrespondiert dabei mit dem oben beschriebenen Prinzip der Selbstreflexion als pädagogisches Prinzip staatsbürgerlicher Erziehung. Naumanns Ziel ist, daß sich durch die politische Bildung demokratische Strukturen entwickeln, es zu einer Gemeinschaft im Volk kommt, oder wie Naumann sagt, zu einem freien „Volksstaat". Politische Bildung im demokratischen Staat setzt somit notwendigerweise politische Freiheit voraus. 27 Der Adressat seiner Ideen war die Bildungsschicht: „Ein Gedanke, der die Bildungsschicht noch nicht ergriffen hat, besitzt noch keine durchschlagende Kraft." 2 8 In diesem Sinne sind seine Gedanken auch als elitär zu bezeichnen, erhoffte er sich doch so einen gesellschaftlichen Fortschritt. 29 Es kann daher nicht überraschen, daß Naumann beispielsweise in einer Kontroverse mit Werner Sombart bereits 1 9 0 7 dezidiert für den „Berufspolitiker" eingetreten war. Sombarts Kritik an der Massendemokratie und sein Herausstellen eines Bildungsbegriffs, der jede Form der politischen Bildung ausklammerte, war für Naumann eine ästhetische Form der Flucht vor der Wirklichkeit. 3 0 Während Naumann in dieser Auseinandersetzung sehr pragmatisch das Profil

26

Ders., Demokratie und Kaisertum, a.a.O., S. 37f.

27

Auf diesen Aspekt weist auch Hoffmann, a.a.O., S. 86f ausdrücklich hin.

28

Naumann, Demokratie und Kaisertum, a.a.O., S. 2 2 7 .

29

Es wäre freilich ein Mißverständnis zu behaupten, Naumann habe eine möglichst breite Partizipation des Volkes an politischen Entscheidungsprozessen abgelehnt. Er argumentiert beispielsweise in „Demokratie und Kaisertum" ausgesprochen pragmatisch, auf die Realität des Kaiserreichs bezogen; sein Ziel einer umfassenden Demokratisierung blieb bestehen.

30

Vgl. dazu Friedrich Lenger: Werner Sombart 1 8 6 3 - 1 9 4 1 . Eine Biographie, München 1 9 9 4 , S. 1 5 7 - 1 6 0 ; Lawrence A. Scaff: „Sombart's Politics", in: Jürgen G. Backhaus (Hrsg.), Werner Sombart ( 1 8 6 3 - 1 9 4 1 ) - Social Scientist, Vol. I: His Life and W o r k , Marburg 1 9 9 6 , S. 1 5 1 - 1 7 2 , bes. 166f, hier sind auch die einzelnen Beiträge Naumanns und Sombarts verzeichnet; vom Bruch, a . a . O . , S. 188f. Naumann hatte seine Position in einem offenen Brief „An Herrn Professor W . Sombart" (in: Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur, Nr. 13, 6. September 1 9 0 7 , S. 3 8 3 - 3 8 7 ) formuliert.

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N o r b e r t Friedrich

eines Politikers beschrieb, der sich in Wahlkämpfen, in politischen Gremien etc. zu behaupten hatte, konzentrierte er sich in der Situation des Krieges auf den erzieherischen Aspekt, der Heranbildung einer zukunftsfähigen Jugend. Insofern berühren sich auch Naumanns Bemühungen um eine „Erziehung zur Politik" und M a x Webers berühmter Vortrag „Politik als Beruf", für den Weber im Vorfeld Naumann als den geeigneteren Referenten vorgeschlagen hatte. 31 Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung ihrer Gedanken - Weber bemühte sich in seinem Vortrag um eine grundsätzliche Reflexion des Begriffes der Politik - berühren sich beide in der Zielrichtung. Sie wollen sich in einer Zeit des Umbruchs am Neuaufbau des Staatswesen beteiligen. So erklärt sich auch die intensive Mitwirkung Naumanns, und auch Webers, an den Verfassungsdebatten. 32

II. Die Staatsbürgerschule und die Deutsche Hochschule für Politik Naumann richtet seine „Reden" an die Jugend, auf die er seine ganzen Hoffnungen für die Nachkriegszeit setzt, sie soll „im politischen Sinne des Wortes gärender Wein" 3 3 von einer „Lust am Verneinen" der bestehenden Verhältnisse bestimmt sein. Da jedoch die bloße Negation nicht ausreicht, möchte er die politische „Bürgerbildung" der zukünftigen Generationen fördern. So greift er auf ältere Überlegungen und Planungen zurück und schlägt die Errichtung einer „freien deutschen Hochschule für Politik" vor. Aufgabe dieser Hochschule sollte sein: „Der guten Jugend wollen wir helfen, daß sie über uns hinauswächst." 3 4 Naumann möchte so politische Talente fördern, ihnen Zeit zur Entwicklung und Ausbildung der politischen Kompetenz geben. Besonders virulent ist dabei die Frage nach dem politischen Standort der Hochschule. Naumann gibt eine sehr konkrete Antwort: „Daß wir mit beiden Füßen auf dem Boden des Vaterlandes und der Freiheit stehen, ist von vornherein klar." Die Formulierung greift auf den Volksbund für Freiheit und Vaterland zurück, der, im Herbst 1 9 1 7 gegrün31

Vgl. dazu M a x Weber: Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 17: Wissenschaft als Beruf. Politik als Beruf, Tübingen 1 9 9 2 , S. 113f.

32

Vgl. dazu auch Wilhelm Spael, Friedrich Naumanns Verhältnis zu M a x Weber, (Schriften der Friedrich-Naumann-Stiftung. Liberale Texte), Sankt Augustin 1 9 8 5 , S. 168ff.

33

Naumann, Vier Reden, a.a.O., S. 7 2 9 .

34

Ebd.

Friedrich N a u m a n n u n d die politische Bildung

353

det, ein Gegengewicht zur Vaterlandspartei bilden sollte und der in seinem Aufruf u.a. eine Demokratisierung des Reiches gefordert hatte. 15 Naumann setzt nun, auch dies ganz im Grundtenor des Aufrufs des .Volksbundes', gegen den Beamtenstaat des Kaiserreichs einen „deutschein) Volksstaat auf geschichtlicher Grundlage" 36 , seine Parole lautet: „Freideutschland, freies Vaterland, Volksstaat." So positioniert Naumann die zu gründende Hochschule innerhalb der „deutschen Linken", wobei er zur parteipolitischen Orientierung die Fortschrittliche Volkspartei, die Nationalliberale Partei und „gesinnungsverwandte Sozialdemokraten" nennt. 37 Naumann möchte die Hochschule nicht parteipolitisch definieren, sie soll gerade keine Parteischule sein, wie sie die Sozialdemokraten hatten, sondern von den politischen Zielen bestimmt sein, ohne in parteipolitische Verengungen zu verfallen. Naumann signalisierte mit der Veröffentlichung seiner „Vier Reden", daß er nun im Frühjahr 1918 mit der Realisierung schon länger von ihm selbst und von anderen vorbereiteter Pläne beginnen wollte. Insbesondere seit 1917 hatte sich Naumann intensiv mit der Konzipierung einer Freien deutschen Hochschule für Politik, die ihre Pforten nach dem Krieg öffnen sollte, beschäftigt. Theodor Heuss betonte später, daß die Pläne „für Naumanns Denken die Fortsetzung des großen Buchplans" des Deutschen Staatslexikons gewesen seien, welche durch den Krieg nicht realisiert worden waren. 38 Die Hochschule selbst sollte ihre Arbeit auch erst nach dem Krieg aufnehmen, quasi als Vorläuferinstitution konnte im Herbst 1918 die Staatsbürgerschule ihren Lehrbetrieb beginnen. Dort wurden dann die Ideen und Konzepte umgesetzt, die Naumann gemeinsam mit Wilhelm Heile in der Broschüre „Erziehung zur Politik" niedergelegt hatte, die 1918 u.a. mit den „Vier Reden" Naumanns erschienen war. Die dort geplanten und z.T. durchgeführten Kurse für verschiedene Zielgruppen (Lehrer, Studenten, Beamten etc.) verwirklichten dann die Idee einer „freien politischen Volkshochschule" 39 . Die Referenten für die unter35

36 37

38

39

Naumann hatte den Aufruf ebenfalls unterzeichnet; der Aufruf ist leicht zugänglich in: M a x Weber: Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 15: Zur Politik im Weltkrieg, ( M W G 1/15) Tübingen 1984, S. 772f. Naumann, Vier Reden, a.a.O., S. 731, dort auch die folgenden Zitate. Naumann bezieht sich hier wohl primär auf auf Teile des gewerkschaftlichen, revisionistischen Flügels der Sozialdemokratie. Heuss, Friedrich Naumann als politischer Pädagoge, a.a.O., S. 129; zum Staatslexikon vgl. auch den Beitrag von Helen Müller in diesem Band. So Naumann in einem Artikel „Die nächsten Aufgaben der „Staatsbürgerschule' in der Broschüre Friedrich Naumann/Wilhelm Heile, Erziehung zur Politik, (Der Deutsche Volksstaat. Schriften zur inneren Politik 5), Berlin 1918, S. 33-37, Zitat

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N o r b e r t Friedrich

schiedlichen Kurse kamen im Regelfall von außen, es waren die Vertreter des liberalen Bürgertums. Die Themenpalette war breit, wobei die Information, also der als lehrbar bezeichnete Bereich der politischen Bildung, im Vordergrund stand. 40 Naumann wollte die Schule im Grundsatz politisch offen halten, auch wenn er sich mit seinen Plänen grundsätzlich an den politischen Liberalismus wandte. 41 Die Staatsbürgerschule hat 1919 den Charakter einer Parteischule für die Deutschen Demokratischen Partei. Diesen Charakter erhielt die Schule v.a. durch Wilhelm Heile; der Mitstreiter Naumanns organisierte als erster Rektor den Aufbau der Staatsbürgerschule und positionierte sie im sich wandelnden Parteienspektrum. Bei Betonung der prinzipiellen Offenheit der Schule für alle Interessierten betonte dieser die enge Verbindung der Schule zum parteipolitischen Liberalismus.42 Da die Schule ihren Betrieb erst im Herbst/Winter 1918/19 aufnahm, eine Zeit, in der Naumann zunächst Wahlkampf für die DDP machte und dann in Weimar an den Verfassungsberatungen teilnahm, war sein praktischer Einfluß auf die innere Gestaltung der Staatsbürgerschule gering. Theodor Heuss berichtet so auch nur von einer Teilnahme am ersten Kurs. 43 Organisiert und durchgeführt wurden die Kurse statt dessen von Naumanns Parteifreund Wilhelm Heile.44 Finanziert werden konnte das Projekt durch die Unterstützung des Stuttgarter Industriellen Robert Bosch, der den Ankauf der alten Bauakademie am Kronprinzenufer in Berlin finanzierte, dort sollte später auch die Hochschule einziehen.45 S. 36. Die Autorenschaft Naumanns erschließt sich zweifelsfrei aus einem Manuskript Naumanns im Archiv des Verlages Walter de Gruyter, Berlin mit dem Titel „Politische Volkshochschule" (Fn2), aus dem Jahr 1917, in dem Naumann stärker als in dem endgültigen Plan der Staatsbürgerschule den dezentralen, temporären Charakter der zu gründenden Institution betont. Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, (Schriften der Friedrich-Naumann-Stiftung. Liberale Texte), Sankt Augustin 1988, S. 2 4 ordnet diesen Text irrtümlich Heile zu. 40 41

42

43 44

45

Vgl. dazu die verschiedenen Pläne in: Erziehung zur Politik, a.a.O., S. 38ff. Vgl. ebd., S. 33: „Es fehlt dem Liberalismus an geeigneten Kräften für Organisation und Agitation, an Redakteuren, Partei- und Berufsverbandssekretären usw." So Wilhelm Heile in seinem Beitrag „Nutzen und Notwendigkeit einer politischen Volkshochschule" in der Broschüre „Erziehung zur Politik", a.a.O., S. 29-33. Heuss, a.a.O., S. 125. Zu Heile vgl. Ludwig Luckemeyer: Wilhelm Heile 1881-1981. Föderativer Rebell in D D P und FDP und erster liberaler Vorkämpfer Europas in Deutschland, Wiesbaden 1981, bes. S. 54f. Der Ankauf erfolgte bereits, wohl auf Naumanns Vorschlag, 1917, vgl. Theodor Heuss: Robert Bosch. Leben und Leistung, Tübingen 1 9 5 4 (1. Auflage 1946), S. 312.

Friedrich N a u m a n n und die politische Bildung

355

Naumanns Tod im August 1919 verhinderte ein aktives Eingreifen seinerseits in die sich anschließende Gründung der Deutschen Hochschule für Politik, eine Namensgebung, die auf Ernst Jäekh, den ersten Rektor, zurückgeht und die sich anlehnt an die Formulierung von Friedrich Naumann, der von einer „freien deutschen Hochschule für Politik" gesprochen hatte. Die Institutionalisierung der Einrichtung, die Orientierung an der sich ausbildenden und ausdifferenzierenden politischen Wissenschaft und die sich in der Zeit der Weimarer Republik anbahnende Internationalisierung der Ausbildung war insbesondere das Verdienst von Ernst Jäckh. 4 6 Jäckh, ein politischer Weggefährte Naumanns 4 7 , war es auch, der die Bedeutung Friedrich Naumanns für die Deutsche Hochschule für Politik hervorgehoben hat, als er als erster Rektor bei der Eröffnung der Hochschule sagte: „Neben diesen und anderen gedanklichen Anregungen von Männern aus allen Parteien muß heute besonders gedacht werden der ersten Tat eines mutigen Versuchs in einer ,Staatsbürgerschule', des ersten Bausteins zu unserer ,Hochschule für Politik', des späten Versuchs einer politischen Persönlichkeit, wie des über alle Parteienge hinausgewachsenen und in seiner Universalität unerreichten Friedrich Naumann, dessen fernsichtige Prophetie von .Kaisertum und Demokratie' einst tauben Ohren gepredigt hat." 4 8 Das Verdienst, eine parteipolitische Verengung vermieden zu haben und eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der Weimarer Demokratie zur Basis der Arbeit an der Hochschule gemacht zu haben, kommt dabei Männern wie Friedrich Naumann, Ernst Jäckh aber auch dem langjährigen Dozenten Theodor Heuss 49 zu. Anders als von Naumann geplant, der auf die finanzielle Unabhängigkeit („frei") besonderen Wert gelegt hatte, bekam die Hochschule später auch Zuwendungen vom preußischen Staat.

46

Vgl. zur Hochschule, dem heutigen Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, insgesamt Missiroli, a.a.O., vgl. auch Ernst Jäckh: Weltsaat. Erlebtes und Erstrebtes, Stuttgart 1 9 6 0 , S. 79ff.

47

Vgl. dazu Friedrich Henning: Theodor Heuss. Sein Leben vom Naumann-Schüler zum Bundespräsidenten, Gerlingen 1 9 8 4 , S. 4 7 , zur Freundschaft Friedrich Naumanns, Ernst Jäckhs und Theodor Heuss'.

48

Ernst Jäckh: Zur Gründung und Entwicklung der Deutschen Hochschule für Politik, in: ders. (Hg.), Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, Berlin 1 9 3 0 , S. 1 7 5 - 2 0 2 , hier S. 1 8 0 .

49

Z u Heuss vgl. Theodor Heuss. Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden, ausgewählt und kommentiert von Martin Vogt, Tübingen 1 9 8 4 , S. 1 2 3 - 1 2 7 (Die deutsche Hochschule für Politik).

356

N o r b e r t Friedrich

In seiner parteipolitischen Unabhängigkeit unterschied sich die Hochschule von dem rechtskonsvervativen Gegenstück, dem „Politischen Kolleg", zu der ein gespanntes Verhältnis bestand. 5 0 Bei der Konzeptionierung einer politischen Volkshochschule konnte N a u m a n n auf einige Vorbilder und eigene Erfahrungen zurückgreifen. Politische und sozialpolitische Bildungsarbeit wurde im Kaiserreich von einer Reihe von Organisationen gemacht. Hier sollen nur die liberale Bildungsarbeit sowie die Bildungsarbeit des sozialen Protestantismus knapp vorgestellt werden, nicht jedoch die immer wieder von N a u m a n n selbst ins Gespräch gebrachten Beispiele der sozialdemokratischen Parteischule oder der Bildungsarbeit des katholischen Volksvereins. Die vorgestellten Beispiele repräsentieren gleichzeitig ein Stück N a u m a n n s eigener Lebensgeschichte. Sucht man nach Beispielen für liberale staatsbürgerliche Erziehungsarbeit im Kaiserreich, so muß man zunächst an den „Nationalverein für das liberale Deutschland" erinnern, der 1907 maßgeblich auf Anregung Friedrich N a u m a n n s gegründet worden ist. 51 Wenn dieser auch sein ursprüngliches Ziel der organisatorischen Vereinigung des Liberalismus in Deutschland nicht erreichen konnte, entfaltete er doch unter der Arbeit seines Generalsekretärs Wilhelm Ohr (1877-1917) 5 2 eine intensive bildungspolitische Arbeit mit Schulungskursen, Konferenzen und Aufklärungsschriften. Es hatte in der Vorkriegszeit immer wieder Überlegungen gegeben, eine politische Akademie im Sinne einer liberalen Parteischule zu gründen. 5 3 Sicher ist, daß bei der Konkretisierung der Idee einer Hochschule die Erfahrungen dieser Arbeit eingeflossen sind. 5 4 50

51

"

53

54

Z u m deutschnationalen „Politischen Kolleg", welches mit Unterstützung Alfred Hugenbergs vom sog. „Juni-Club" ebenfalls 1920 errichtet worden war, vgl. Klaus-Peter Hoepke: „ D a s Politische Kolleg", in: Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig 11(1975), Nr. 2, S. 20-25; Gabriele Clemens, Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, (VKZ.B, 37), Mainz 1983, S. 152-154. Vgl. dazu Werner Link: Der Nationalverein für das liberale Deutschland (19071918), in: Politische Vierteljahresschrift 1964, S. 4 2 1 f f ; vgl. auch die Bemerkungen bei Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914 (Historische Studien 435), H u s u m 1980, S. 182f, der den Nationalverein in den Kontext der Wahlbewegung des Jahres 1 9 0 7 stellt. Zur Person vgl. Leonard Nelson: „Wilhelm Ohr als politischer Erzieher", in: ders. Die Reformation der Gesinnung, Leipzig 2 1 9 2 2 , S. 169-204; Knoll, Elitebildung, a.a.O., S. 66ff. Vgl. dazu Link, a.a.O., S. 4 4 4 , der die Hochschule als das „einzige Erbe des Nationalvereins" bezeichnet. Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Theodor Heuss: Friedrich Naumann, a.a.O., S. 41 Of.

Friedrich N a u m a n n und die politische Bildung

357

Auch der soziale Protestantismus hat die Bedeutung der Schulung der eigenen Anhänger, die Bedeutung von Fachkompetenz und eigener Profilbildung früh erkannt. Dabei sollen weniger die Schulungskurse des Evangelisch-sozialen Kongresses angesprochen werden, die doch, dem Charakter des ESK entsprechend, im wesentlichen das Bildungsbürgertum als Klientel ansprachen, sondern stärker die Arbeit der Arbeitervereine, die gerade nach der Jahrhundertwende Schulungskurse für Arbeiter anboten. Diese Kurse erwiesen sich, trotz der vielfältigen Diskussionen und Konflikte, als ausgesprochen wirkungsvoll, auch wenn es in der Regel nur gelang, christlich-national gesinnte Arbeiter zu erreichen. 55 In Tradition der sozialkonservativen Bildungsarbeit, die für Naumann bis zu seinem Ausscheiden aus der Arbeitervereinsbewegung 1902 prägend war und die er auch danach noch durchaus mit Sympathie verfolgt hat, steht auch die 1912 in Bethel bei Bielefeld gegründete Evangelisch-soziale Schule.56 Immer stand die Vermittlung von Sachkompetenz im Vordergrund, wobei der Aspekt des praktischen Lernens (etwa durch Exkursionen) und der Vermittlung des Stoffes von ausgewiesenen Fachleuten und Praktikern besonders betont wurde, alles Dinge, die wir bei Naumann wiederfinden können. Naumann konnte so bei der Gründung der Staatsbürgerschule an eine ältere Tradition der Erwachsenenbildung anknüpfen. 57

III. Politische Bildung im Geiste Friedrich Naumanns? Die Friedrich-Naumann-Stiftung Der Name Friedrich Naumann verbindet sich in der Geschichte des Bundesrepublik Deutschland mit der 1958 gegründeten politischen Friedrich-Naumann-Stiftung. 58 Es ist insbesondere das Verdienst von 55

Vgl. dazu Norbert Friedrich: „Die christlich-soziale Fahne e m p o r ! " Reinhard M u m m und die christlich-soziale Bewegung, (Konfession und Gesellschaft 14), Stuttgart 1 9 9 7 , S. 171ff; vom Bruch, a.a.O., S. 2 6 4 .

56

Vgl. dazu Christian Homrichhausen: Die Evangelisch-soziale Schule, (Archivbericht N r . 9), Berlin 1 9 9 8 .

57

Vgl. dazu auch Paul Röhrig: „Erwachsenenbildung", in: Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, München 1 9 9 1 , S. 4 4 1 - 4 7 1 , bes. S. 455ff; zu denken ist auch an weitere Bildungseinrichtungen, etwa die „Beamten-Fortbildungskurse" (vgl. dazu vom Bruch, a.a.O., S. 258ff) oder auch die Volksbildungseinrichtungen der Religiösen Sozialisten.

58

Vgl. zur Gründung der Naumann-Stiftung Werner Stephan: „Die FriedrichNaumann-Stiftung. Entstehung und Entwicklung", in: Kulturpolitik und Men-

358

N o r b e r t Friedrich

Theodor Heuss, auf die Bezeichnung zurückgeht, so die Person Friedrich Naumann im politischen Bewußtsein Deutschlands verankert zu haben. Indem Naumann als Namenspatron für die liberale Parteistiftung diente, erhielt er einen festen Platz in der politischen Kultur, im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Erinnerung an Friedrich Naumann verbanden die Stiftungsgründer im Jahr 1958 konkrete politische und gesellschaftliche Vorstellungen. Sie sorgten gleichzeitig dafür, daß die Impulse Naumanns zur politischen Erwachsenenbildung nun unter bestimmten Prämissen institutionalisiert wurden. Zwei Aspekte, die eine Instrumentalisierung Naumanns erkennen lassen, sollen hierbei hervorgehoben werden: 1) Nachdem die Gründung einer eigenen Stiftung Mitte der fünfziger Jahre von liberalen Persönlichkeiten ins Gespräch gebracht worden war, wobei man sich an der bereits seit 1925 bestehenden Friedrich-EbertStiftung orientierte, machte sich der damalige Bundespräsident Theodor Heuss dieses Anliegen zueigen. Ziel der Stiftung sollte es sein, eine Erwachsenenbildung im Sinne der liberalen Freien Demokraten aufzubauen. Heuss und seine Mitarbeiter im Bundespräsidialamt organisierten dann die Stiftungsgründung. Stiftungsziel und Namensgebung gehen dabei eindeutig auf Theodor Heuss zurück, der sich als Verwalter der Ideen Friedrich Naumanns verstand. In der Stiftungsurkunde vom Mai 1958 heißt es so in der Formulierung von Theodor Heuss: „Das Gedankengut, das Friedrich Naumann der Nachwelt hinterlassen hat, wird im Bereich des politischen Lebens unabhängig vom Wandel der Zeiten seinen Wert behalten. In dem Bestreben, dieses Gedankengut dem deutschen Volk nahezubringen und dadurch zur Stärkung der liberalen, sozialen und nationalen Ideen beizutragen, wird die FriedrichNaumann-Stiftung errichtet." 59 Wenn auch die direkten Bezüge zu Naumanns Lebenwerk vage bleiben, so wurde doch deutlich, daß man sich insbesondere der Idee der Staatsbürgerschule und Naumanns Konzept einer „Erziehung zur Politik" verpflichtet fühlte. Die Namensnennung bereitete der Stiftung in den letzten vierzig Jahren häufiger Probleme, die nicht nur in der schillernden und teilweise widersprüchlichen Natur Naumanns liegen. Interessanterweise wurde so 1967 auch noch die „Theodor-Heuss-Akade-

59

schenbildung. Beiträge zur Situation der Gegenwart, Festschrift für Paul Luchtenberg, Neustadt/Aisch 1965, S. 81-97; Henning von Vieregge: Parteistiftungen. Zur Rolle der Konrad-Adenauer-, Friedrich-Ebert-, Friedrich-Naumann- und Hanns-Seidel-Stiftung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, (Schriftenreihe zum Stiftungswesen 11), Baden-Baden 1977, S. 133ff. Zitiert nach Stephan, a.a.O., S. 83f.

Friedrich N a u m a n n und die politische Bildung

359

mie" gegründet, eine „,Staatsbürgerschule' im Sinne von Friedrich Naumann und seinem Schüler Theodor Heuss." 6 0 2) Die von Theodor Heuss vorgenommene Namensauswahl war aber noch in einem anderen Sinne wegweisend. Die Stiftungsgründung erfolgte kurze Zeit nachdem die FDP eine schwere innerparteiliche Krise überwunden hatte, sich in der Partei die nationalliberalen Kräfte auf dem Rückzug befanden und sie zu einer organisatorischen Geschlossenheit fand. Die Namensnennung sollte so auch ein Signal sein für einen weltoffenen Liberalismus und eine Absage an eine einseitige Betonung des Rechtsliberalismus. 61 Die politische Instrumentalisierung von Person und Werk Naumanns setzten sich in den nächsten Jahren noch fort, so wurde Naumanns Name in den sechziger und siebziger Jahren für viele ein wichtiger historischer Garant der sozialliberalen Koalition, verstanden als eine Verwirklichung von Naumanns Ziel der Verbindung von Bürgertum/Liberalismus und Arbeiterschaft. 62

IV. Zusammenfassung Nach Ralf Dahrendorf enthält „Naumanns Wirken ... manche Lehre für das, was politische Bildung vermag und politische Teilnahme soll." 6 3 Dabei denkt er nicht an die als Selbstverständlichkeit bezeichnete „Grundausstattung an Bildung in einer Staatsbürgergesellschaft", an der jeder Bürger einen Anspruch besitzt, sondern ebenso daran, daß „die ständige Teilnahme aller an allem ... das politische System rasch zum Stillstand bringen" würde. Dahrendorf stellt damit besonders die elitären Elemente in Naumanns Konzept heraus, die wiederum getragen sind von einem pragmatischen Geist. Es erscheint aber fraglich, ob Dahrendorfs Interpretation tatsächlich dem historischen Anliegen Naumanns gerecht wird. Denn Naumann postuliert ausdrücklich einen Grundanspruch auf politische Bildung für jeden, dies ist für eine demokratische Bürgergesellschaft unabdingbar. In diesem Sinne ist auch Dahrendorfs Feststellung, Naumann sei ein

60

Friedrich-Naumann-Stiftung (Hg.): Rückblick. Überblick. Ausblick. Jahresbericht 1 9 9 7 , Königswinter 1 9 9 7 , S. 5 6 .

61

Dieser Aspekt wird von Vieregge, a.a.O., S. 1 4 4 f besonders betont.

62

Vgl. dazu Peter Lösche/Franz Walter: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftsangst, Darmstadt 1 9 9 6 , S. 3 3 . 8 7 .

i3

Dahrendorf, a.a.O., S. 3 8 , dort auch das folgende Zitat.

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Norbert Friedrich

„politischer Volkserzieher", 64 zu verstehen. Schließlich hat Naumann mit seinem Konzept einer Staatsbürgerschule das Beispiel einer offenen demokratischen Erziehung geliefert; welchen Wert dies hatte, kann man dann am Wirken der Deutschen Hochschule für Politik ablesen. Den Kontrast dazu bildeten beispielsweise die parteilich ausgerichteten Kurse der Evangelisch-sozialen Schule Spandau (die auch thematisch enger gefaßt waren) oder die Kurse des Politischen Kollegs. Und dennoch muß gefragt werden, ob dieses idealistische Konzept unter den Bedingungen der Weimarer Republik aufgehen konnte. Die politische Erziehung als eine Erziehung zur Demokratie befand sich in einer Position der Defensive, sie konnte ihre Wirksamkeit nicht in einem offenen, demokratischen Diskurs entfalten. Die Hoffnungen auf die erzieherischen Kräfte einer (politischen) Bildung trogen. Die Stärke und Faszination des Naumannschen Ansatzes offenbart zugleich die Schwäche: die Problematik einer tatsächlich bewußtseinbildenden demokratischen politischen Erziehung. Und dennoch hat Naumann gerade in seinen didaktischen Hinweisen Grundsätze aufgestellt, die verschiedene Dimensionen des Lernens ansprechen: Die Verbindung von Theorie und Praxis, das Lernen an Vorbildern und das Lernen durch Erfahrung und Reflexion. Zugleich hat Naumann in Rechnung gestellt, daß nicht jeder Mensch Begabung für und Interesse an Politik hat. Naumann wollte stattdessen gegenwärtige und zukünftige Funktionseliten und Multiplikatoren (Beamte, Studenten) ansprechen. Zugleich hat die „Erziehung zur Politik", so wie sie in der Staatsbürgerschule und später in der Deutschen Hochschule für Politik umgesetzt worden ist, zur Politisierung der Gesellschaft beigetragen.

64

Ebd., S. 37.

Theodor Heuss und Naumanns Nachleben in der Bundesrepublik Deutschland BARTHOLD C . W I T T E

1. Die öffentliche Erinnerung an Friedrich Naumann, seinen verehrten, ja geliebten politischen und menschlichen Mentor, hat Theodor Heuss zeitlebens gepflegt. Das begann unmittelbar nach Naumanns Tode, als Theodor Heuss unter dem Titel „Gestalten und Gestalter" eine Sammlung von „lebensgeschichtlichen Bildern", also historisch-biographischen Skizzen, aus Naumanns Feder herausgab. Im Vorwort evoziert Heuss die sprachliche Ausdruckskraft dieser Texte und ihre Besonderheit im Werk Naumanns, weil sie nämlich nicht von Sachen handeln, sondern von Menschen. Theodor Heuss: „Indem Naumann ihnen ins Auge blickt und mit ihnen redet, leuchtet der Adel seines eigenen Wesens: die starke Ehrfurcht vor Größe und historischer Leistung, die auch fremder Welt gerecht wird, der warme Sinn für bürgerliche Tüchtigkeit, die liebenswürdige Laune, die gerne und mit Anmut dankbar ist". Da wird schon sichtbar, daß Theodor Heuss an den ganzen Naumann zu erinnern gedachte, nicht bloß an den Politiker. Solche Absicht prägte erst recht die große Naumann-Biographie, welche Heuss im Jahre 1937 veröffentlichte. Unter wie großen Schwierigkeiten diese Publikation zustande kam, hat Werner Stephan, erster Geschäftsführer der Friedrich-Naumann-Stiftung, als beteiligter Zeitzeuge in einem einleitenden Aufsatz zur 1968 erschienenen Taschenbuchausgabe der Naumann-Biographie lebhaft geschildert. Heuss sah das Gelingen dieses Werks, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, als eine der Beglückungen seines Lebens: „die Pflicht meines Seins schien mir mit dieser Leistung erfüllt". Den ganzen Mann in seiner Zeit, das ganze Werk wollte Heuss schildern. Freilich war seine Perspektive auf den Politiker Naumann auch von der damaligen Zeit geprägt, vom Zusammenbruch der von Naumann mitbegründeten Weimarer Republik und vom Sieg Hitlers und seiner Bewegung. Nicht der anscheinend gescheiterte Politiker steht also im Vordergrund. Naumanns „geschichtliche Mächtigkeit", resümiert Heuss am Schluß, „ist geistiger und moralischer Art", als solche indes,

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Barthold C. Witte

wie der aufmerksame Leser schon damals unschwer erkennen konnte, erst recht ein Gegenbild zur nationalsozialistischen Gegenwart. Naumann habe, so Heuss weiter, „seinen Auftrag erfüllt, indem er das schlichte Beispiel der Hingabe und der Wahrhaftigkeit hinterließ ... Die letzte Rangordnung, die ihm gemäße, ist die sittliche. Vor ihr schweigt die Ehrfurcht". Bemerkenswerter Schluß einer 1937 in Deutschland publizierten Biographie! Daran war nach der großen Katastrophe von Krieg und totaler Niederlage ohne Bruch anzuknüpfen. Und so erinnerte der frisch gewählte Bundespräsident der gerade erst gegründeten Bundesrepublik Deutschland nach seiner Wahl, in seiner ersten Ansprache am 12. September 1949, bewußt an zwei Männer, die ihn, sein Denken und Wirken geformt hatten: an seinen Vater, der die demokratische Tradition von 1848 verkörperte, und an Friedrich Naumann, „der das wachsende Leben gestaltet hat und ohne den ich nicht wäre, was ich bin". Ihm verdanke er „das Wissen, daß die Nation nur leben kann, wenn sie von der Liebe der Massen des Volkes getragen wird." Und er zitierte einen der bekannten Kernsätze Naumanns: „Das Bekenntnis zur Nationalität und zur Menschwerdung der Masse sind für uns nur die zwei Seiten einer und derselben Sache". Ein solcher Satz käme heute wohl nur schwer über Politikerlippen. Man muß erinnern, in welche Situation er hineingesprochen wurde: zerstörte Fabriken und Städte, entwurzelte Menschen, Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit, heftige soziale Spannungen, vollzogene Teilung Deutschlands. Die Furcht vor großen Unruhen, gar vor Krieg war bei den meisten größer als die Hoffnung auf friedlichen Aufbau. Dagegen nun Heuss nach seiner Wahl: „Wir haben die Aufgabe im politischen Raum, uns zum Maß, zum Gemäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde neu zu bilden, die wir im Innern der Seele nie verloren". Nur auf dieser Meta-Ebene, jenseits des zaghaft wieder wachsenden Wohlstands, würde, davon war Heuss überzeugt, die Gesundung der Deutschen gelingen. Friedrich Naumann, der vom christlichen Glauben geprägte Realist, der vom Ethos des Mitleidens erfüllte Arbeiterpfarrer, der um die Versöhnung der Klassen kämpfende Reformer, der auf menschliche Bereitschaft zur Besserung bauende Volkserzieher sollte dazu hilfreich sein.

2. Mit dieser Hoffnung, überhaupt mit dem Rückgriff auf den Reformer Naumann stand Heuss nicht allein. Die erste Naumann-Renaissance

Theodor Heuss und Naumanns Nachleben

363

fand schon sehr bald nach dem Ende von Krieg und Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands statt. Die zum Entsetzen der deutschen Kommunisten und der Besatzungsmacht überaus erfolgreiche Liberaldemokratische Partei erkor ihn zu einem ihrer Vorväter. Hatte nicht N a u m a n n das Soziale in den deutschen Liberalismus wieder eingeführt? Ihn zu zitieren, hieß sich zum modernen Liberalismus zu bekennen, sich aber zugleich von der kapitalistischen Entartung liberaler Auffassungen abzusetzen und damit den Besatzern ein Stück weit entgegen zu kommen. Was der Ost-CDU ihr „christlicher Sozialismus", das war der LDP ihr Bekenntnis zur Sozialreform a la N a u m a n n und zur Bodenreform seines Mitstreiters Damaschke. Unzählige nach Naumann benannte Straßen in vielen Städten der DDR zeugen davon. Sie wurden allerdings später, im Zeichen des „entwickelten Sozialismus" und der vollzogenen Block-Integration der LDP, zumeist wieder umbenannt. Der Sozialreformer Naumann als Zeuge für einen „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus - das gab es auch im deutschen Westen. Zwei führende Protestanten bekannten sich in diesem Sinn während der fünfziger und sechziger Jahre zu seinem Erbe: Eugen Gerstenmaier und Erhard Eppler. Der eine unternahm 1958 in einer programmatischen Rede auf dem Kieler Bundesparteitag der CDU den Versuch, durch den Rückgriff auf Naumann die christlich-soziale Position seiner Partei zu legitimieren. Der andere publizierte 1961, nachdem er der SPD beigetreten war, eine Auseinandersetzung mit dem Erbe N a u m a n n s unter dem kennzeichnenden Titel „Liberale und soziale Demokratie". Beiden lag, so verschieden sie sich parteipolitisch orientierten, das soziale Engagement am Herzen, begründet in der evangelisch-sozialen Tradition, zu welcher Naumann ganz gewiß gehört, vor allem in der ersten Phase seiner öffentlichen Wirkung. Von Naumanns späterer Hinwendung zu liberaler Politik ist darum bei beiden weniger die Rede. In den Rang eines der sozusagen kanonisierten Vorväter der neuen Republik wurde Friedrich Naumann indessen durch Theodor Heuss erhoben, und zwar durch die Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung im Jahre 1958. Die Geschichte dieser Gründung, überhaupt der Stiftung, muß zwar erst noch geschrieben werden (ein dringendes Desiderat!). Doch kann ich dazu als ein Zeitzeuge schon jetzt einiges beitragen. Im Jahr zuvor, am 15. September 1957, hatten die Bürger der Bundesrepublik, als sie den dritten deutschen Bundestag wählten, Konrad Adenauers christlich-demokratisches Parteienbündnis mit einer absoluten Mehrheit der Stimmen und Sitze ausgestattet, die oppositionelle FDP dagegen durch deutliche Stimmverluste gestraft. Die liberale Partei

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war im Frühjahr 1956, übrigens gegen Heuss' Willen, aus der Regierung ausgeschieden, hatte sich darüber gespalten und sah nun, mit 7,7 Prozent der Stimmen, einer fortdauernden Existenzkrise entgegen. Wie sie überwinden? Wie vor allem die junge Generation wiedergewinnen? Einige Nachdenkliche, unter ihnen der FDP-Bundesgeschäftsführer Werner Stephan und sein potentieller Nachfolger Karl-Hermann Flach, antworteten: Durch politische Bildungsarbeit und durch programmatisches Nachdenken. Darunter war zweierlei zu verstehen. Einmal sollte der jungen Generation politisches Wissen vermittelt werden, um sie zum politischen Engagement fähig zu machen. Zugleich wollte man eine umfassende Debatte über die geistigen Grundlagen und die politischen Ziele liberaler Politik ins Werk setzen. Das eine sollte das andere befruchten. Systematische Bildungsarbeit und Bestimmung langfristiger Ziele hatte es bis dahin im nach 1945 mühsam wiedererstandenen liberalen Umfeld nicht gegeben. Das „Berliner Programm" der FDP von 1957, ihr erstes umfassendes Programm überhaupt, war kaum mehr als eine Zusammenfassung schon vorhandener Positionen. Schulungsseminare gab es nur in Ansätzen, begrenzt auf die Vorbereitung von Wahlkämpfen. Beides, Bildungs- und Programmarbeit, war mithin neu zu begründen. Beides aber sollte von den Zwängen der Parteidisziplin frei sein, vielmehr offen und darum attraktiv, auch für Menschen, die keiner Partei angehörten. Diese Unabhängigkeit war, so sahen es die Gründer, am besten zu sichern, wenn die beiden Aufgaben einer Stiftung übertragen würden. Die Friedrich-Ebert-Stiftung war das Vorbild, wenn diese sich auch inzwischen als eingetragener Verein organisiert hatte. Theodor Heuss, von Stephan aufgrund ihrer jahrzehntelangen Verbindung darauf angesprochen, reagierte zustimmend. Ihm war nicht gleichgültig, was aus dem politisch organisierten Liberalismus werden würde, obgleich ihn sein Präsidentenamt zur öffentlichen Neutralität verpflichtete. Er nutzte seine vielfältigen Verbindungen in das geistige, wissenschaftliche und politische Leben, um einen Kreis angesehener Persönlichkeiten als Gründungskuratorium, Vorstand und Beirat der Stiftung zu versammeln. Liberal sollten sie sein, mit oder ohne Parteibuch. Die Liste der Gründer reicht denn auch von den Professoren Walter Erbe und Paul Luchtenberg, den führenden Kulturpolitikern der FDP, über den Historiker Hermann Heimpel und Bischof Hermann Kunst bis zu Richard von Weizsäcker, damals noch parteilos. Heuss war es auch, welcher der Stiftung ihren Namen gab. Er selbst wollte nicht ihr Namenspatron sein; erst nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt stimmte er zu, der ersten, nach seinem Tode 1967 eröffneten Bildungsstätte der Stiftung seinen Namen zu geben. Er wies

Theodor Heuss und Naumanns Nachleben

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auf Friedrich Naumann hin und vor allem auf die von diesem kurz vor seinem frühen Tode begründete „Staatsbürgerschule", aus welcher die Berliner Hochschule für Politik hervorgegangen war. Heuss hatte an ihr gewirkt, bis ihn die Nazis 1933 aus dem Lehramt entfernten. KarlHermann Flach hatte an der wiederbegründeten Hochschule als Flüchtling aus der Sowjetzone seine ideell-politische Formung erfahren, angeleitet durch Hans Reif, der nun zum Gründerkreis der Stiftung gehörte. So bedeutete die Namensgebung auch einen bewußten Akt der Kontinuität. Zudem war die Aufgabenstellung nach 1945 so verschieden nicht von dem, was Naumann 1918 seiner - übrigens von Robert Bosch finanzierten - Gründung mit auf den Weg gegeben hatte. Beide Male fiel die Demokratie den Deutschen nach einem verlorenen Kriege zu. Was in anderen Ländern lange Tradition oder ein revolutionärer Aufbruch bewirkt hatten, nämlich die Verankerung der liberalen Demokratie im Volke, mußte bei uns durch eine wahre Volkserziehung nachgeholt werden. „Erziehung zur Politik" lautete darum die Überschrift zu Naumanns letzter Schrift, mit der er seiner Staatsbürgerschule die Ziele setzte. In vier Reden an junge Freunde legte N a u m a n n dort dar, wie die Politik nach dem Kriege aussehen müsse und daß sie lehrbar sei, freilich auch eine Kunst - insbesondere die der Rede und die der Organisation. Schon früher, 1914, hatte er, der als Redner so erfolgreich war wie als Publizist, sich in nicht weniger als hundert Punkten über die Kunst der Rede verbreitet, weniger über ihre Theorie als vielmehr über ihre Praxis. Das ist noch heute lesenswert.

3. Als Theodor Heuss der am 19. Mai 1958 in seinem Amtssitz förmlich gegründeten Friedrich-Naumann-Stiftung ein halbes Jahr später auf ihrer ersten öffentlichen Tagung durch einen Vortrag abermals sein Gewicht lieh, konnte der Titel des Vortrags nicht anders lauten als „Friedrich Naumanns Erbe". Er bot indessen alles andere als Heiligenverehrung. Vor den Zuhörern, unter denen sich Eugen Gerstenmaier befand, zeichnete er das Bild eines leidenschaftlichen Zeitgenossen der wilhelminischen Ära, eines Mannes, der sich im Laufe seines öffentlichen Wirkens mehrfach wandelte und dabei stets in der unaufhebbaren Spannung zwischen dem christlichen Liebesgebot und dem Machtanspruch jeglicher Staatlichkeit lebte. Heuss warnte davor, Naumann „in einen Liberalen aus dem deutschen Bilderbuch umzumalen", und ebenso davor, dessen politische Ideen, zum Beispiel Mitteleuropa, für noch

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verwendbar zu halten. „Seine Werke", fügte Heuss hinzu, „geben kein Losungsbüchlein für gegenwärtige Verhaltensform". Sein eigentliches Erbe sei vielmehr, „daß dieser Mann, der in so großartiger Weise ein Lehrender gewesen ist, immer ein Lernender vor den Wirklichkeiten blieb, um sich ihnen in der Freiheit einer sittlichen Entscheidung zu stellen". Dies darf auch heute noch gelten, unter seit vierzig Jahren abermals gründlich veränderten Umständen im Lande und in der Welt. Daß Friedrich N a u m a n n schon damals und erst recht jetzt in das Dämmer der Vergangenheit zurückgetreten ist, hat natürlich nicht gehindert, daß die Friedrich-Naumann-Stiftung es als ihre Ehrenpflicht ansah, die Werke ihres Namenspatrons neu und gesammelt herauszugeben. Das geschah freilich nur in einer Auswahl, aber immerhin in sechs Bänden, die ab 1964 beim Westdeutschen Verlag erschienen, wissenschaftlich von Heinz Ladendorf, Alfred Milatz, Theodor Schieder und Walter Uhsadel betreut. Das Geleitwort aus der Feder von Theodor Heuss ist auf den November 1963 datiert, wenige Wochen vor seinem Tode. Ergänzend veranlaßte die Stiftung eine dritte Auflage der Heuss'schen N a u m a n n Biographie, 1968 mit einleitenden und erläuternden Texten von Alfred Milatz und Werner Stephan in der Reihe der Siebenstern-Taschenbücher publiziert. Nachwirkungen großer Persönlichkeiten gehen manchmal seltsame Wege. Im Falle Naumanns ist zu vermelden, daß er in der öffentlichen politischen Debatte der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gern als ein Vorläufer der sozialliberalen Koalition zitiert wurde. Hatte er nicht unter dem Stichwort „Von Bassermann bis Bebel" einst vor dem ersten Weltkrieg für eine solche Koalition gefochten? War er nicht unter dem Stichwort „Fabrikdemokratie" ein früher Verfechter der betrieblichen Mitbestimmung? Aus solcher Sicht mußte das Freiburger Programm der FDP von 1971 als eine geradlinige Fortsetzung der von N a u m a n n betriebenen Reform des deutschen Liberalismus erscheinen. Ich bekenne, an dieser Sicht nicht unschuldig zu sein. Doch wissen die hier versammelten Naumann-Kenner, daß sie nicht den ganzen Naumann in den Blick nimmt - nicht den frühen Anhänger von Stöckers christlich-sozialem Konservatismus, nicht den späten Mitautor der „großen Koalition" von 1917 gegen die Militärherrschaft und für einen Verständigungsfrieden, welche in die Weimarer Koalition aller staatstragenden Parteien mündete. So ist das eben, wenn große Namen zu politischen Zwecken genutzt werden. Im Falle Naumanns führte dieser Gebrauch dazu, daß der große Mann nach der Koalitionswende von 1982 unter vielen Liberalen kaum mehr zitierfähig war. Selbst die nach ihm benannte Stiftung ließ zeitweise verlauten, man könne mit seinem

Theodor Heuss und Naumanns Nachleben

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Namenspatron gar nichts mehr anfangen. Wie diese Tagung beweist, hat sie sich inzwischen zu ihrem eigenen Vorteil eines Besseren besonnen. Aufgabe des Historikers unter solchen, auch sonst wohlbekannten Umständen ist, wie Lichtenberg einst sagte, die Fackel der ganzen Wahrheit ins Gedränge zu halten, auch wenn der eine oder andere Bart an ihr versengt wird. Zwar ist damit die politische Ausbeutung der Vergangenheit zu gegenwärtigen politischen Zwecken nicht zu verhindern. Aber der nötigen historischen Fundierung der zweiten deutschen Demokratie ist besser gedient, wenn ihre Vorgänger, zu denen Friedrich Naumann gehört, in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit zum Nachleben erweckt werden. Das vermag gute Geschichtsschreibung zu leisten. Darum schließe ich mit einem Wunsch und einer Hoffnung. Der Wunsch: Es möge die geplante vollständige Edition der Werke Friedrich Naumanns und möglichst auch der Briefe von und an Naumann bald Wirklichkeit werden. Die Hoffnung: Daß mehr als sechzig Jahre nach der Naumann-Biographie von Theodor Heuss ein wissenschaftlich und schriftstellerisch begabter Historiker - oder eine Historikerin - die seit langem bestehende Herausforderung aufnimmt und Leben und Werk Friedrich Naumanns in seiner Zeit nun für unsere Zeit, für unsere Kinder und Enkel schildert. Friedrich Naumann als ein lebendiges Beispiel demokratischer politischer Kultur und ihrer sittlichen Fundierung, die auch für Theodor Heuss so entscheidend war - kann es ein reizvolleres Thema geben? Quellen: Erhard Eppler, Liberale und soziale Demokratie. Zum politischen Erbe Friedrich Naumanns, Villingen 1961. Friedrich Naumann, Gestalten und Gestalter. Lebensgeschichtliche Bilder, hg. v. Theodor Heuss, Berlin und Leipzig 1919. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 3. Aufl. München und Hamburg 1968. Theodor Heuss, Friedrich Naumanns Erbe, Tübingen 1959. Theodor Heuss, Die grossen Reden. Der Staatsmann, Tübingen 1965. Peter Juling, Programmatische Entwicklung der FDP 1946 bis 1969, Einführung und Dokumente, Meisenheim 1977. Heinz Ladendorf, Alfred Milatz, Theodor Schieder, Walter Uhsadel (Hrsg.), Friedrich Naumann, Werke in sechs Bänden, Opladen 1964.

Personenregister Aufgenommen wurden nur im Text und nicht in den Anmerkungen angeführte Personen. Auf einen Eintrag „Naumann, Friedrich" wurde verzichtet.

Alexandre, Philippe 6 Althaus, Paul 291 f. Anschütz, Gerhard 2 7 1 Arndt, Franz 56 Baden, Prinz M a x v. 62 Baeck, Leo 91 Bäumer, Gertrud 5 5 , 144, 193, 199, 201, 264, 280 Barge, Hermann· 136 Barres, Maurice 2 3 9 Barth, Karl 3 3 7 Barth, Theodor 38, 115, 117f., 168, 175, 2 0 2 , 2 8 1 Bassermann, Heinrich 93, 101f., 108, 184, 194, 2 7 4 , 2 8 2 Battenberg, Friedrich Wilhelm 133 Baumgarten, Otto 4 8 , 5 8 , 61f., 136, 164, 2 8 7 , 2 9 9 , 3 2 3 , 3 3 3 , 335 Baur, Ferdinand Christian 93, 95 Bebel, August 93, 108, 194 Below, Georg v. 2 6 0 Berlepsch, Hans Hermann Freiherr v. 174 Bernhard, Georg 196 Bernstein, Eduard 156, 194 Bethmann Hollweg, Theobald v. 4 5 , 273ff. Bismarck, Otto v. 1 , 1 7 , 69f., 72, 138, 172f., 178, 181, 2 1 1 , 2 2 0 , 2 5 4 Bluntschli, Friedrich Caspar 200f. Börne, Ludwig 2 2 0 Bonhoeffer, Dietrich 91 Bornemann, Ludwig 138 Bosch, Robert 136, 194, 354 Bothmer, Graf Felix Ludwig v. 137 Bousset, Wilhelm 95, 136 Brater, Karl 2 0 1 Braun, Theodor 5 0 Breitscheid, Rudolf 121, 143

Brentano, Lujo 6, 136, 138, 163, 198, 2 4 6 , 2 5 7 , 261 vom Bruch, Rüdiger 185 Bruckmann, Peter 136 Bülow, Bernhard v. 226f. Busek, Eberhard 2 4 7 Calwer, Richard 163 Cauer, Minna 141 Charmatz, Richard 2 4 5 , 2 6 2 Cesar, August 144 Clemenceau, George 2 4 0 Conze, Werner 118 Curtius, Ludwig 116, 120, 136, 2 7 7 , 279 Cymorek, Hans 7 Dahrendorf, Ralf 1 1 5 , 3 4 5 , 3 5 9 Damaschke, Adolf 121, 145 Darnton, Robert 190 Darwin, Charles 39, 58 David, Eduard 196 Deißmann, Adolf 95, 136, 323 Delaire, A. 2 3 9 Delbrück, Hans 31, 33, 52, 2 7 8 Delcasse, Theophile 225ff., 2 3 0 , 2 3 2 Dernburg, Bernhard 194 Dibelius, Franz 2 9 5 Dibelius, Martin 2 8 8 , 2 9 5 - 3 0 3 , 31 Iff. Doehring, Bruno 2 9 0 Drews, Paul 58 Düring, Ernst v. 136 Ebertz, Michael 126 Eiert, Werner 3 3 6 Engels, Friedrich 130 Eppler, Erhard 145 Erzberger, Matthias 4 5 Fischer, Fritz 2 4 8

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Personenregister

Fischer, Gustav 200 Fleischmann, M a x 200 Flesch, Karl 23, 198 Foerster, Erich 294 Frank, Franz Hermann Reinhold 100 Frantz, Konstantin 251 Frenssen, Gustav 91 Friedjung, Heinrich 245, 252, 262 Friedrich, Norbert 7 Frölich, Jürgen 7f. Gerlach, Helmut v. 1 2 1 , 1 3 0 , 1 4 3 , 1 7 0 f . Gerstenmaier, Eugen 145 Gnauck-Kühne, Elisabeth 54, 141 Göhre, Paul 33, 49f., 52ff., 56, 121, 129, 143, 177 Görschner, R. 270, 282 Goethe, Johann Wolfgang v. 217 Goetz, Walter 136 Gothein, Georg 275 Gregory, Caspar Rene 35 de Gruyter, Walter 191f., 202ff., 259 Gunkel, Hermann 95 Haag, Paul 134 Hackenberg, Albert 57 Hackmann, Heinrich 95 Haeckel, Ernst 58, 158 Hahn, Diederich 129, 179 Hallgarten, Charles 23 Hamm-Brücher, Hildegard 145 Harden, Maximilian 175 Harnack, Adolf v. 5, 27-48, 49, 57-60, 135f., 245, 281, 324f., 333, 335 Harnack, Theodosius 27 Hase, Willibald 292 Haußmann, Conrad 238, 276 Heile, Wilhelm 144, 193, 354 Heimann, Eduard 166 Heine, Heinrich 220 Heinemann, Gustav 145 Hellpach, Willy 1 1 6 , 3 1 3 Herkner, Heinrich 196 Herrmann, Wilhelm 335 Herding, Georg Graf v. 45 Herz, Jeremias 289 Herz, Johannes 2 8 9 , 2 9 2 Heuss, Theodor 2 , 1 0 4 , 1 1 6 , 1 1 8 f . , 121, 138,140f., 1 7 5 , 2 0 3 , 2 1 2 , 2 2 2 , 2 4 8 , 254, 259, 345, 353, 355, 358f.

Hildebrand, Gerhard 143 Hilferding, Rudolf 260 Hitler, Adolf 301, 303 Hobsbawm, Eric J. 171 Hofheinz, Oskar 311-314 Hofmann, Johann v. 95 Hofmansthal, Hugo v. 262 Honecker, Martin 336 Huber, Wolfgang 336 Hübinger, Gangolf 279 Husemann, Heinrich 273 Jäckh, Ernst 136, 236, 261, 273, 355 Jähnichen, Traugott 6 Jastrow, Anna 199 Jastrow, Ignatz 136, 198ff. Jatho, Carl 104 Jaures, Jean 212, 229, 234 Jellinek, Georg 186 Jordan, Hans 136 Kaftan, Julius 50 Kahl, Wilhelm 291f. Kaiser, Jochen-Christoph 4 Kant, Imanuel 103 Katz, Eugen 121 Kautsky, Karl 180 Kayser, Conrad 22 Kerschensteiner, Georg 347 Kippenberg, Katharina 141 Kloppenburg, James 167 Klotz, Leopold 293 Kluke, Paul 246 Knapp, Elly 121, 138ff. Knapp, Georg Friedrich 138 Knoll, Joachim H. 349 Koselleck, Reinhard 177 Kramer-Mills, Hartmut 335 Krey, Ursula 5 Krupp, Friedrich Alfred 1 8 2 , 2 3 3 Kuhlemann, Frank-Michael 5 Lagarde, Paul de 251 Lamprecht, Karl 136 Lange, Helene 54, 199 Langewiesche, Dieter 65, 275 Längin, Georg 111 Lassalle, Ferdinand 220 Lehmann, Ernst 108 Lemme, Ludwig 95

Personenregister Lepsius, Μ . Rainer 123, 176 Liebermann, Max 117 Liebster, Georg 60 List, Friedrich 251 Liszt, Franz v. 136 Lloyd George, David 240 Lohmann, Theodor 17, 21, 25 Lötz, Walther 136 Ludendorff, Erich 266 Lueken, Emil 133f. Luther, Martin 107, 134, 305ff., 309 Maihofer, Werner 283 Malo, Elisabeth 54 Mann, Heinrich 179 Martin, Marie 141 Marx, Karl 156, 158, 177, 183, 220 Marx, Wilhelm 297 Masaryk, Thomas 262 Maurenbrecher, M a x 121, 129, 143, 177 Mayer, Emil Walter 303 McLeod, Hugh 176 Merton, Wilhelm 23 Meyer, Henry C. 259 Michaelis, Georg 45 Michels, Robert 201, 205 Moeller, Reinhard 290 Mohl, Robert v. 201 Mommsen, Wilhelm 246f. Mommsen, Wolfgang J. 6 Müller, Helen 6 Mulert, Hermann 288, 295, 299-303 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 217f. Nathusius, Martin v. 50, 54, 56 Naumann, Elisabeth 130 Naumann, Johannes 142 Naumann, Magdalene 117, 130 Nelson, Leonhard 281 Nietzsche, Friedrich 40, 158, 177, 217 Nipperdey, Thomas 118 Nobbe, Moritz August 33, 52ff., 57 Nowak, Kurt 5, 142, 186 Nuschke, Otto 116 Ohr, Wilhelm 1 9 3 , 2 8 1 , 3 5 6 Oncken, Hermann 245f. Paulus, Eberhard Gottlob 93 Payer, Friedrich v. 201, 261, 275f.,

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Petersen, Carl 194 Peukert, Detlev J. K. 128 Philipps, Wilhelm 130 Pohl, Karl Heinrich 5 Poincare, Raymond 231 f. Pollmann, Klaus Erich 5 Posadowsky-Wehner, Arthur Graf v. 58 Preuß, Hugo 184, 196, 270, 278 Quidde, Ludwig 83, 136, 270 Rade, Martin 13, 28f., 31, 33f., 36, 48, 51, 53f., 59, 128f., 175, 272, 287, 294 Ragaz, Leonhard 337 Rathenau, Walther 136, 185, 252 Rathgen, Karl 135 Rathje, Johannes 299 Rauchensteiner, Manfred 266 Redlich, Josef 262 Reimer, Georg 245 Rendtorff, Heinrich 292 Richter, Eugen 115 Ritsehl, Albrecht 152 Rohrbach, Paul 121, 129 Rosenberg, Arthur 246 Rothe, Richard 93, 95, 104f. Rotteck, Karl Wenzeslaus v. 199 Ruddis, Hartmut 7 Rüdiger, Hermann 264 Salomon, Alice 199 Schairer, Erich 191, 193, 198 Schenkel, Daniel 93 Schieder, Theodor 118 Schiller, Friedrich 103 Schlaikjer, Erich 136 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 40, 93f., 104, 304 Schmoller, Gustav (v.) 1 1 6 , 2 7 8 Schneemelcher, Wilhelm 56 Schneider, Franz 194, 203 Schräder, Karl 1 7 5 , 2 8 1 Schubert, Hans v. 15 Schubring, Wilhelm 136 Schulze-Gaevernitz, Gerhart v. 58, 135f., 163 Schurman, Jacob G. 298 Schweitzer, Albert 304 Seeberg, Reinhold 4 7

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Personenregister

Siebeck, Oskar 203 Siebeck, Paul 192, 195, 202ff. Simmel, Georg 183, 272 Simon, James 194 Sohm, Rudolf 24, 108, 116, 125, 136, 177 Sombart, Werner 152, 163, 183, 200, 351 Sonnemann, Leopold 24 Steinhausen, Wilhelm 23 Stephan, Horst 293f., 299, 304 Stephan, Werner 117 Stern, Julius 194 Stinnes, Hugo 261 Stoecker, Adolph 4, l l f . , 16f., 23,25f., 3Iff., 35f., 49f., 52f., 56, 60, 129f., 137, 168, 173, 180 Stolper, Gustav 262 Strauß, David Friedrich 93 Stresemann, Gustav 75, 79, 194, 262, 274, 298 Stumm-Halberg, Karl Freiherr v. 52, 137, 145, 174, 182 Südekum, Albert 194 Sülze, Emil 13 Susmann, S. 135 Sybel, Heinrich v. 218 Thalmann, Rita 294 Theiners, Peter 276 Thoma, Hans 23, 111 Tillich, Paul 166 Tocqueville, Alexis de 186 Todt, Rudolf 25 Tönnies, Ferdinand 136 Traub, Gottfried 56, 103f., 282, 284, 304, 321 Treitschke, Heinrich v. 2 1 8 , 2 3 0 Troeltsch, Ernst 45, 48, 58f., 95, 124, 163f., 269, 303, 323, 334 Ullrich, Volker 185

Voigt, Waldemar 136 Volkov, Shulamit 179 Wagner, Adolf 49, 53, 57, 59 Wahnschaffe, Arnold 274 Webb, Beatrice 16 Webb, Sidney 16 Weber, Alfred 200 Weber Ludwig 56 Weber, Marianne 141, 199 Weber, Max 6, 5 0 , 1 0 8 , 1 1 7 , 1 2 5 , 1 2 7 , 130, 135ff., 151, 155, 163, 169f., 178, 18Iff., 186f., 198, 270, 282, 325, 352 Wehrung, Georg 289, 303, 306f. Weinhausen, Friedrich 121, 129, 279 Weizsäcker, Richard v. 345 Welcker, Karl Theodor 199 Wellhausen, Julius 95 Wenck, Martin 121, 129, 196 Werner, Anton v. 172 Wichern, Johann Hinrich 4, 12ff., 25, 130 Wichern, Johannes 12 Wiese, Leopold v. 59, 282 Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König von Preußen 172 Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen 1, 42, 44, 1 7 4 , 1 8 2 Witte, Barthold C. 7 , 2 4 6 Witti, Sebastian 85 Wolf, Georg 231 Wolf, Karl Alfred 231 Wolfes, Matthias 7 Wrede, William 95 Zedlitz-Neukirch, Octavio Freiherr v. 43 Zimmermann, Elizabeth 130 Zimmermann, Magdalene 130 Zircher 313f.

Autorenverzeichnis

Dr. phil., geb. 1953, Professor für deutsche Geschichte an der Universität Nancy II (Frankreich).

PHILIPPE A L E X A N D R E ,

Publikationen u.a.: Friedrich Stoltze 1816-1891. Ein satirischer Publizist der Bismarckzeit, 1992; Neues aus alten Zeitungen, 1990; (Hrsg. zusammen mit Egil Pastor): Pensee pedagogique. Enjeux, continuites et ruptures en Europe du XVIe au X X e siecle, 1999. Forschungsschwerpunkte: Ideengeschichte und Öffentlichkeit in Deutschland und in Frankreich 18.-20. Jahrhundert. Dr. phil., geb. 1 9 4 4 , Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

RÜDIGER VOM BRUCH,

Publikationen u.a.: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im wilhelminischen Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , 1 9 8 0 ; Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1982; (Hrsg. zusammen mit Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger): Kultur und Kulturwissenschaften um 1 9 0 0 , 2 Bde., 1989/97; (Hrsg. zusammen mit Björn Hofmeister): Kaiserreich und Erster Weltkrieg 18711918. Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 8, 2 0 0 0 . Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Wissenschaftsgeschichte 18.-20. Jahrhundert. Dr. phil., geb. 1965, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Projekt „Edition von Werk und Nachlass Friedrich Naumanns" an der HumboldtUniversität zu Berlin.

HANS CYMOREK,

Publikation: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, 1998. Dr. phil., geb. 1962, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

N O R B E R T FRIEDRICH,

Publikationen: „Die christlich-soziale Fahne empor!" Reinhard Mumm und die christlich-soziale Bewegung, 1997; (Hrsg. zusammen mit Wolfgang Belitz und Günter Brakelmann): Aufbruch in soziale Verantwortung. Die Anfänge kirchlicher sozialer Arbeit in Westfalen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, 1998; (Hrsg. zusammen mit Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen): Auf dem Weg zum Grundgesetz. Beiträge zum Verfassungsverständnis des neuzeitlichen Protestantismus, 1999. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte 19./20. Jahrhundert, Kirchliche Zeitgeschichte.

3 7 4

Autorenverzeichnis

Dr. phil., geb. 1955, Referent für historische Liberalismus-Forschung beim Archiv des Deutschen Liberalismus, Gummersbach.

JÜRGEN FRÖLICH,

Publikationen u.a.: Die Berliner „Volks-Zeitung" 1853-1867. Preußischer Linksliberalismus zwischen Reaktion und „Revolution von oben", 1990; (Hrsg.): „Bürgerliche" Parteien in der SBZ/DDR, 1994; Mitherausgeber „Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung" . Dr. phil., geb. 1 9 5 0 , Professor für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina, Frankurt an der Oder. Publikationen u.a.: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im Wilhelminischen Deutschland, 1994; Mitherausgeber der kritischen Gesamtausgabe der Werke von Ernst Troeltsch. Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts-, Intellektuellen-, Verlagsgeschichte, Geschichte des politischen und religiösen Liberalismus.

GANGOLF HÜBINGER,

Dr. theol., geb. 1 9 5 9 , Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen u.a.: Vom Industrieuntertan zum Industriebürger. Der soziale Protestantismus und die Entwicklung der Mitbestimmung, 1993; Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, 1994; (Hrsg. zusammen mit Günter Brakelmann): Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 1998; Protestantismus und soziale Frage. Profile in der Zeit der Weimarer Republik, 2000. Forschungsschwerpunkte: Organisations- und Wirtschaftsethik, Theologische Sozialethik, Kirchliche Zeitgeschichte.

TRAUGOTT JÄHNICHEN,

Dr. phil., geb. der Philipps-Universität Marburg.

JOCHEN-CHRISTOPH KAISER,

1948,

Professor für Kirchengeschichte an

Publikationen u. a.: Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert, 1989; geschäftsführender Herausgeber „Konfession und Gesellschaft". Forschungsschwerpunkte: Arbeiterbewegung, Historische Frauenforschung, Konfessions- und Kirchengeschichte 19./20. Jahrhundert. Dr. phil., geb. 1 9 5 9 . Publikationen u.a.: Vereine in Westfalen ( 1 8 4 0 - 1 8 5 5 ) , 1 9 9 3 ; Frauengeschichte(n) aus Ostwestfalen-Lippe, 1998. Forschungsschwerpunkte: Religions-, Politik- und Geschlechtergeschichte.

URSULA K R E Y ,

Dr. phil., geb. 1955, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld.

FRANK-MICHAEL KUHLEMANN,

Publikationen u.a.: Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des Preußischen Volksschulwesens 1794-1872, 1992; (Hrsg. zusammen mit Olaf Blaschke): Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, 1996. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Religionsgeschichte, Sozial- und Kulturgeschichte 18.-20. Jahrhundert. M.A., geb. 1 9 6 6 , wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Forschungsprojekt „Intellektuelle und Politik in der Entstehung der Massenkommunikationsgesellschaft" an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder. Dissertation zum Thema „Strukturwandel im wissenschaftlichen Verlagswesen um

HELEN MÜLLER,

1900".

Autorenverzeichnis

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KURT NOWAK, Dr. theol. Dr. phil, geb. 1942, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig. Publikationen u.a.: Euthanasie und Sterilisierung im Dritten Reich, 1978; Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 1981; Schleiermacher und die Frühromantik, 1986; Geschichte des Christentums in Deutschland, 1995; (Hrsg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse, 1996; Vernünftiges Christentum?, 1999. KARL HEINRICH POHL, D r . phil., geb. 1 9 4 3 in Schweidnitz (Schlesien). Professor für

Geschichte und ihre Didaktik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Publikationen u.a.: Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1 8 9 0 bis 1 9 1 4 , 1 9 9 2 ; Adolf Müller. Geheimagent und Gesandter in Kaiserreich und Weimarer Republik, 1995; (Hrsg.): Historiker in der D D R , 1997; (Hrsg.): Regionalgeschichte heute, 1997; (Hrsg.): Wehrmacht und Vernichtungskrieg, 1999. Prof. Dr. phil., geb. 1 9 4 0 , Professor für Geschichte der Neuzeit an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

KLAUS ERICH POLLMANN,

Publikationen u.a.: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, 1973; Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 0 , 1985. Forschungsschwerpunkte: Parlaments-, Parteien- und Verfassungsgeschichte im 19./20. Jahrhundert, Geschichte des deutschen Protestantismus im 19./20. Jahrhundert. Dr. theol., geb. 1 9 4 7 , Lehrbeauftragter für Systematische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle.

HARTMUT RUDDIES,

Publikationen: Ernst-Troeltsch-Bibliographie 1982; (Zusammen mit F. W. Graf): Wahrheit und Versöhnung. Theol. u. phil. Beiträge zur Gotteslehre 1989; (Zusammen mit D. Korsch): Karl Barth und die liberale Theologie, 1994. Forschungsschwerpunkte: Ernst Troeltsch, Karl Barth, Theologie-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 19./20. Jahrhunderts. BARTHOLD C . W I T T E , D r . p h i l . D r . h . c . , g e b . 1 9 2 8 , 1 9 6 4 - 1 9 7 1

Geschäftsführer

der

Friedrich-Naumann-Stiftung, 1 9 7 1 - 1 9 9 2 im diplomatischen Dienst, zuletzt als Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts. Geschäftsführender Herausgeber der Vierteljahreshefte für Politik und Kultur „liberal". Publikationen u.a.: Was ist des Deutschen Vaterland?, 1967; Der preußische Tacitus, 1979; Dialog über Grenzen, 1988; Von der Freiheit des Geistes, 1998. MATTHIAS WOLFES, Dr. theol., geb. 1 9 6 1 , Wissenschaftlicher Angestellter an der Schleiermacher-Forschungsstelle der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Publikationen u.a.: Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918, 1999; Hermann Mulert 1 8 7 9 - 1 9 5 0 . Ein Kieler liberaler Theologe, 2 0 0 0 . Forschungsschwerpunkt: Neuere Theologiegeschichte.

Wissenschaftsgeschichte bei de Gruyter Adolf von Harnacks Protokoll buch der Kirchenväter-Kommission

1897-1928

berühmten

Kirchenhistorikers

wird

sowohl als Faksimile des Originals dargeboten als auch in einer diplomatischen Umschrift

zugänglich

gemacht.

Einleitung von Christoph

Die

Markschies

Herausgegeben von Stefan Reben ich

skizziert den wissenschaftlichen und his-

2000. 23 X 15,5 cm. Ca. VIII, 256 Seiten.

Sicht.

torischen

Kontext

von

Adolf

von

Harnacks Protokollbuch aus heutiger

Davon ca. 96 Seiten Faksimile. Leinen. Ca. D M 6 8 - /EUR 34,77 /öS 4 9 6 , - / sFr 6 2 , - /approx. US$ 34.00 • ISBN 3-11-016764-6 Faksimilierte Reproduktion von Adolf

Stefan Rebenich

Theodor Mommsen und Adolf Harnack

diplomatischer Umschrift.

Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Der Band gibt einen weitreichenden

Mit einem Anhang:

von Harnacks Protokollbuch der Kirchenväter-Kommission

1897-1928 mit

Einblick in die Arbeit der KirchenväterKommission, die seit 1891 an der Preußischen Akademie der Wissenschaften die Edition der Griechischen Schriftsteller ihre

Christlichen

betreute und die bis heute

Publikations-

und

Forschungs-

tätigkeit im Rahmen der Berlin-Branden-

Edition und Kommentierung des Briefwechsels 1997. 23 χ 15,5 cm. XXI, 1.018 Seiten. Mit zwei Faksimiles. Ganzleinen. D M 3 4 8 , - /öS 2 . 5 4 0 , - /sFr 3 1 0 , • ISBN 3-11-015079-4

burgischen Akademie der Wissenschaften

Edition der umfangreichen Korrespon-

fortsetzt. Der Herausgeber präsentiert das

denz zwischen Mommsen und Harnack

Protokollbuch, das Adolf von Harnack

mit ausführlichen

1897 bis 1928 für die Kirchenväter-

Auswertung und Erschließung von

Kommentierungen.

Kommission führte und in dem er die

weiterem Archivmaterial (u.a. zur

Diskussionen und Ergebnisse ihrer Sit-

Geschichte der Kirchenväterkommis-

zungen festhielt.

sion).

Das für die Geschichte der Patristik aufschlußreiche historische Dokument des

Preisänderungen vorbehalten.

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de Gruyter Zeitschriften Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology (ZNThG / JHMTh) Herausgegeben von Richard E. Crouter, Friedrich Wilhelm Graf, Günter Meckenstock 2000. Band 7 (2 Hefte pro Band mit einem Gesamtumfang von ca. 320 Seiten). Bandpreis: D M 1 8 8 - /EUR 96,12 /öS 1372,- /sFr 1 6 7 Einzelheftpreis: D M 104,- /EUR 53,17 /öS 759,- /sFr 93,• ISSN 0943-7592 Die Zeitschrifi für Neuere Theologiegeschichte (ZNThG) / Journal for the History of Modern Theology (JHMTh) ist eine interdisziplinäre akademische Fachzeitschrift. Sie wendet sich an Theologen, Historiker, Philosophen, Religionswissenschaftler und Vertreter anderer kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Die Zeitschrift enthält Beiträge zur Geschichte der Theologie seit der Aufklärung. Theologiegeschichte wird in einem weiten Sinne verstanden. Es geht zunächst um die kritische Reflexion der überlieferten dogmatischen wie ethischen Lehrbestände der einzelnen Konfessionen, wie sie in Universitäten und Hochschulen der verschiedenen Religionsgemeinschaften institutionalisiert ist. Daneben werden die vielfältigen Gestalten von Glaubensbewußtsein in den Blick genommen, etwa die (impliziten und expliziten) theologischen Konzepte

von Frömmigkeitsbewegungen, kirchlichen Gruppen, Verbänden etc. Neben den verschiedenen Richtungen protestantischer Theologie und Religionsphilosophie finden auch die theologischen und religionsphilosophischen Strömungen im römischen Katholizismus und im Judentum Berücksichtigung. Die Zeitschrift ist dabei nicht auf die Theologiegeschichte im deutschen Sprachraum beschränkt. Sie erfaßt auch Beiträge zu den theologiegeschichtlichen Transformationsprozessen in anderen europäischen Ländern sowie in Nordamerika. Die Beiträge sind in deutscher oder englischer Sprache verfaßt. Eine Zusammenfassung (Abstract) in der jeweils anderen Sprache ermöglicht einen raschen Überblick. Preisänderungen vorbehalten.

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